Skip to main content

Full text of "Kant-Studien; philosophische Zeitschrift"

See other formats


r 


KANT- 
STUDIEN. 


PHILOSOPHISCHE  ZEITSCHRIFT 

UNTER  MITWIRKUNG  VON 

E.  ADICKES,  E.  BOUTROUX,  EDW.  CAIRD,  C.  CANTONI, 

J.  E.  CREIGHTON,  W.  DILTHEY,  B.  ERDMANN,  R.  EUCKEN,  M.  HEINZE 

A.    RIEHL,     W.    WINDELBAND 

UND   MIT   UNTERSTÜTZUNG    DER    „KANTGESELLSCHAFT' 

HERAUSGEGEBEN  VON 


D»-    HANS    VAIHINGER    und    D«    BRUNO    BAUCH 

PROFESSOR  IN  HALLE.  PRIVATDOCENT  IN  HALLE. 

ZEHNTER     BAND. 


BERLIN, 

VERLAG  VON  REUTHER  &   REICHARD 


WILLIAMS  &  NORGATK, 
LONDON. 

H,  LE  SOUDIER, 
PARIS. 


1905. 


LEMCKE  A  BUECHNER, 
NEW  TORK. 
CARLO  CLAUSEN, 
TORINO. 


INHALT. 

Seit» 

Immanuel  Kant  seine  geographischen  und  anthropologischen 

Arbeiten.     I.     Von  G.  Gerland       i 

Der  Gegenstand  der  Wahrnehmung.    Von  Franz  Stauding-er      44 

Ber  Begriff  der  sittlichen  Erfahrung.     Von  Hugo  Renner  .       59 

Hamlet  und  der  Melancholiker  in  Kants  ,, Beobachtungen  über 

das   Gefühl    des  Schönen    und   Erhabenen".     Von  Dr. 

Tim  Klein 76 

Euckens   philosophische  Aufsätze.     Besprochen   von   Bruno 

Bauch 81 

Renouvier  und  der  französische  Kritizismus.    Von  M.  Ascher      92 

Der    IV.    Band    der    Berliner    Kant -Ausgabe.      Von    Ernst 

von  Aster 96 

Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.    Von  H.  Vaihiug:er    .    .     105 
Kants  Tod,   seine   letzten  Worte   und   sein  Begräbnis.    Eine 

synoptische  Studie  von  Dr.  Franz  Jünemann    ...      156 

In  Schillers  Garten.    Zur  Erinnerung   an   den  9.  Mai  1805. 

Von  Otto  Liebmann 249 

Was  können  wir   heute  aus  Schiller  gewinnen?    Einleitende 

Erwägungen.     Von  Rudolf  Eucken 253 

Schiller    als    theoretischer    Philosoph.       Von    Friedrich 

Alfred  Schmid 261 

Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.    Schillers 

philosophischer  Einfluss  auf  Goethe.    Von  Jonas  Cohn     286 
Schiller  und  die  Idee  der  Freiheit.    Von  Bruno  Bauch  346 

Zwei  Quelienfunde  zu  Schillers  philosophischer  Entwickelung. 

Von  H.  Vaihinger 373 

I.  Eine  Disputation  in  der  Karlsschule  im  November  1786. 
n.   Ein  Freimaurerliederbuch   als  Quelle   des  Liedes  an  die 
Freude  ? 

Karl  Rosenkranz  über  Schiller.    Von  Dr.  Maximilian  Kunze     390 

Schillers  letztes  Bildnis.    Von  F.  A.  Schmid 392 

Das  Schillerporträt  von  Gerhard  v.  Kügelgen.     Von  H.  Vai- 
hinger    396 

Schillers  transscendentaler  Idealismus.  Von  W.  Windelband  398 

Kant  und  Schiller.    Von  Tim  Klein 412 

Immanuel  Kant,  seine  geographischen  und  anthropologischen 

Arbeiten.     (Schluss.)    Von  G.  Gerland 417 

Karl  Rosenkranz'  Verdienste  um   die   Kant-Forschung.    (Mit 

Bild.)     Von  Maximilian  Kunze        548 


Inhalt.  in 

Seit* 

Recensionen: 

Windelband,  Wilhelm,  Über  Willensfreiheit.    Von  A.  Messer      163 
Kaiweit,  Paul,  Kants  Stellung  zur  Kirche     Von  E.  Troeltsch       166 

Simmel,  Georg,  Kant.     Von  Hugo  Renner    . 170 

Seailles,    Gabriel,    Das    künstlerische    Genie.      Übersetzt   von 

Marie  Borst 177 

Görland,    A.,    Paul   Natorp    als    Pädagoge.  —  Natorp,    Paul, 

Sozialpädagogik.     Von  K.  Vorländer 177 

Sidgwick,  Henry,   Philosophy,   its  Scope   and  Relations.     Von 

J.  W.  Hickson 182 

Schlapp,  ^tto,  Kants  Lehre    vom  Genie    und    die  Entstehung 

der  Kritik  der  Urteilskraft.     Von  PaulMenzer    .     .     .     .       185 
Dreyer,  Friedrich,  Studien  zur  Methodenlehre  und  Erkenntnis- 
kritik.    Von  H.  Vaihinger 190 

Löwenberg,  Adolf,  Friedr.  E.  Benekes  Stellung  zur  Kantischen 

Moralphilosophie.    Von  A.  Thomsen 193 

Boucher,  M.,  Essai  sur  l'hyperespace,  le  temps,  la  matifere  et 

l'energie.     Von  Dr.  W.  Reinecke 200 

Duboc,  Dr.  J.  und  Wiegler,  P.,  Zur  Geschichte  der  deutschen 

Philosophie  im  XIX.  Jahrhundert,     Von  Raoul  Richter  .      204 
Erdmann,  B.,   Historische   Untersuchungen  über  Kants  Prole- 

gomena.     Von  E.  v.  Aster 205 

V.  Aster,  E.,   Über   Aufgabe   und  Methode   in   den  Beweisen 

der  Analogien  der  Erfahrung  in  Kants  Kritik  d.  r.  V.    Von 

Bruno  Bauch 207 

Schrader,  Ernst,  Zur  Grundlegung  der  Psychologie  des  Urteils. 

Von  E.  V.  Aster 209 

Marcus,    Ernst,    Kants    Revolutionsprinzip    (Kopernikanisches 

Prinzip).     Von  E.  v.  Aster 210 

Koppelmann,    Wilhelm,    Kritik    des    sittlichen   Bewusstseins. 

Von  A.  Messer 213 

Mellin-Goldschmidt,  Marginalien  und  Register  zu  Kants  Kritik 

des   Erkenntnisvermögens.     2.  Teil.     Von  Raoul  Richter      217 
Vorländer,  Karl,  Geschichte  der  Philosophie.   Von  R.  Hönigs- 

wald 118 

Wandschneider,    Albrecht,    Die    Metaphysik    Benekes.     Von 

Hugo  Renner 223 

Cassirer-Buchenau:   Leibniz,  Hauptschriften  zur  Grundlegung 

der  Philosophie.    Von  Hugo  Renner 224 

Siebert,    Otto,    Was  jeder  Gebildete   aus   der  Geschichte  der 

Philosophie  wissen  muss  ?     Von  F.  Medicus 558 

Kalischer,    A.  Chr..    Immanuel  Kants  Staatsphilosophie.     Von 

Emil  Lask 560 

Bargmann,  H.,    Der  Positivismus  in  Kants  Rechtsphilosophie. 

Von  Emil  Lask 561 

Stern,    Br.,    Positivistische    Begründung   des    philosopliischen 

Strafrechts.    Von  Emil  Lask 561 

Grisebach,  Eduard,    Schopenhauer.     Neue   Beiträge    zur   Ge- 
schichte seines  Lebens.     Von  BrunoBauch 562 

Valentiner.  Theodor,    Kant   und    die  platonische  Philosophie. 

Von  Felix  Kuberka 563 

Ludwig,  A.  Fr.,    Weihbischof   Zirkel   in   seiner    Stellung   zur 

theologischen  Aufklärung.     Von  G.  Huber 565 

Siegel,  Carl,    Zur   Psychologie   und  Theorie   der   Erkenntnis. 

Von  Ernst  Schrader 566 

Strong,  C.  A.,  Why  the  Mind  has  a  Body.     Von  J.  W.  H  i  c k s  o n      567 


IV  Inhalt. 

Seit» 

Selbstanzeigen: 

Elsenhans,  Kants  Rassentheorie  und  ihre  bleibende  Be- 
deutung. S.  223.  —  Honigs wald,  Über  die  Lehre  Humes 
von  der  Realität  der  Aussendinge.  S.  226.  —  Meyer-Benf  ey, 
Herder  und  Kant.  S.  227.  —  Franck,  Der  Primat  der  prak- 
tischen Vernunft  in  der  frühnachkantischen  Philosophie. 
S.  227.  —  Heim,  Das  Weltbild  der  Zukunft.  S.  228.  — 
Lipsius,  Kritik  der  theologischen  Erkenntnis.  S.  229.  — 
Döring,  Der  Anhang  zum  analytischen  Teile  der  Kritik  der 
reinen  Vernunft  über  die  Amphibolie  der  Reflexionsbegriffe. 
S.  230.  —  Hey  maus,  Einführung  in  die  Metaphysik  auf 
Grundlage  der  Erfahrung.  S.  232.  —  Drexler,  Die  doppelte 
Affektion  des  erkennenden  Subjekts  im  Kantischen  System. 
S.  232.  —  Kleinpeter,  Die  Erkenntnistheorie  der  Natur- 
forschung der  Gegenwart.  S.  233.  —  Veronnet,  L'Infini- 
Cat^gorie  et  realite.  S.  233.  —  Chapman,  Die  Teleologie 
Kants.  S.  234.  —  Steckelmacher,  Der  transscendentale  und 
der  empirische  Idealismus  bei  Kant.  S.  235. 
Kaminsky,  Über  I.  Kants  Schriften  zur  physischen  Geo- 
graphie. S.  573.  —  Jerusalem,  Der  kritische  Idealismus 
und  die  Logik.  S.  574.  —  Jerusalem,  Gedanken  und  Denker. 
S.  575.  —  Schrader,  Elemente  der  Psychologie  des  Urteils. 
S.  575.  —  Geisler,  Was  ist  Philosophie?  Was  ist  Geschichte 
der  Philosophie?  S.  575.  —  Kr  am  er,  Fries  in  seinem  Ver- 
hältnis zu  Jacobi.  S.  577.  —  Knothe,  Kants  Lehre  vom 
Innern  Sinn  und  ihre  Auffassung  bei  Reininger.  S.  578.  — 
Richter,  Kants  Auffassung  des  Verhältnisses  von  Glauben 
und  Wissen  und  ihre  Nachwirkung  besonders  in  der  neueren 
Theologie.  S.  579.  —  Rudolph,  Über  die  Unzulässigkeit  der 
gegenwärtigen  Theorie  der  Materie.  S.  580.  —  Schultz,  Die 
Bilder  von  der  Materie.  S.  580.  —  Palme,  Sulzers  Psycho- 
logie und  die  Anfänge  der  Dreivermögenslehre.  S.  582.  — 
Ewald,  Nietzsches  Lehre  in  ihren  Grundbegriffen.  S.  583. 
—  Geissler,  Die  Kegelschnitte  und  ihr  Zusammenhang  durch 
die  Kontinuität  der  Weitenbehaftungen.  S.  583.  —  Kuberka, 
Kants  Lehre  von  der  Sinnlichkeit.  S.  584.  —  Guastella, 
Saggi  sulla  teoria  della  conoscenza.    S.  586. 

Mitteilungen: 

Die  Mattersbergersche  Kantbüste.  —  Kantgesellschaft:  Erster 
Jahresbericht  (für  das  Jahr  1904);  Satzungen  der  Kantgesell- 
schaft; Preisaufgabe  der  Kantgesellschaft.  S.  236.  —  Beschluss 
der  Generalversammlung  der  KantgeseUschaft  betr.  Erhöhung 
des  Preises  für  die  Lösung  der  Preisaufgabe.  S.  415.  — 
Kantgesellschaft.  S.  589.  —  Redaktionelles.  S.  590.  —  Rudolf 
Reicke  f.  S.  591.  —  An  die  Mitglieder  der  „Kantgesellschaft" 
und  die  Abonnenten  der  „Kantstudien".    S.  592. 

Register: 

Sach-Register 593 

Personen-Register 595 

Besprochene  Kantische  Schriften 598 

Verfasser  besprochener  Novitäten 599 

Verzeichnis  der  Mitarbeiter 599 


J.  Jl.ittersberger  Fes.   l.il.'i. 


IMMANUEL"^  KANT. 


Kantstudien  X. 


/  ._ 


Immanuel  Kant, 
seine  geographischen  und  anthropologischen  Arbeiten. 


Von  G.  Gerland. 


Vorwort. 

Die  folgenden  zwölf  Vorlesungen  sind  im  Sommersemester 
1901  an  hiesiger  Universität  gehalten  worden;  sie  erscheinen  hier 
in  etwas  erweiterter  Form,  wobei  das  gleiche  Mass  der  einzelnen 
Vorlesungen  nicht  eingehalten  ist.  Es  kam  mir  besonders  darauf 
an,  nichts  zu  sagen,  was  ich  nicht  direkt  mit  Kant's  eigenen 
Worten  belegen  konnte ;  daher  die  vielen  und  ausgedehnten  Citate, 
welche  allein  es  dem  Leser  ermöglichen,  den  Gedanken-  und  Ent- 
wickelungsgaug  Kant's  mit  unabhängigem,  selbständigem  Urteil  zu 
folgen;  auch  litterärgeschichtlich  halte  ich  sie  für  unentbehrlich. 
Das  etwas  ausführlichere  Eingehen  auf  die  Geschichte  der  Erd- 
kunde sowie  auf  die  Kulturgeschichte  schien  mir  für  das  Ver- 
ständnis Kant's  sowie  für  die  Derlegung  der  ihm  zukommenden 
Stellung  in  Wissenschaft  und  Leben  der  Menschheit  gleichfalls 
notwendig.  In  den  Citaten  ist  die  Schreibung  der  Originale  mög- 
üchst  gewahrt. 

Strassburg  i.  E.,  Palmsonntag  1904. 

G.  Gerland. 

1.  Vorlesung. 
Einleitung.     Kant's  Wesen  und  Weltauffassung. 

Meine  Herren!  Ich  gedenke  in  zwölf  Vorlesungen  über  Im- 
manuel Kant  zu  sprechen.  Der  Geograph  über  den  Philosophen 
—  ein  Unternehmen,  welches  befremdlich  erscheinen  könnte.  Aber 
Kant,  der  Philosoph,  hat  in  den  41  Jahren  seiner  akademischen 
Lehrthätigkeit  mindestens  47  mal,  und  zwar  mindestens  29  mal 
vierstündig,    physische    Geographie    gelesen  i)    —    nur   Logik    und 


1)  K.  Fischer,  Imm.  Kant,  Jubil.-Ausg.  I,  67. 

Kantgtudiea  X. 


2  G.  Gerland, 

Metaphysik  las  er  noch  öfter  —  er  hat,  vom  Winter  1772/3  an, 
in  24  Wintersemestern  Vorlesung-en  über  Anthropologie,  ebenfalls 
vierstündig,  gehalten;  er  hat  ferner  über  beide  Wissenschaften 
Bücher  und  Abhandlungen  geschrieben,  von  denen  einige  noch 
heute  in  hohem  Ruhme  stehen.  Da  hat  doch  auch  der  Geograph 
das  unbestreitbare  Recht,  oder  richtiger,  die  strenge  Pflicht,  sich 
ein  möglichst  sicheres  Urteil  über  den  Geographen  Kant  zu 
bilden.  Und  dies  um  so  mehr,  als  die  Urteile  gerade  über  seine 
Leistungen  auf  naturwissenschaftlichem,  erd-  oder  menschen- 
geschichtlichem Gebiet  noch  weit  auseinander  gehen;  als  ferner 
auch  die  Methoden  des  Studiums  und  der  Beurteüung  dieser 
Leistungen  keineswegs  übereinstimmen,  also  auch  keineswegs  für 
ganz  einwandfrei  gelten  können. 

Aber  indem  ich  mich  dieser  Pflicht  unterziehe,  thue  ich  dies 
nicht  ohne  ernste  Bewegung.  Kant,  der  Mann,  der  uns  die  Welt 
der  Erscheinungen  begreifen  lehrte,  wie  Niemand  ausser  ihm;  der 
hinter  dieser  Welt  eine  zweite,  die  intelHgible  Welt^)  unabhängig 
von  Raum  und  Zeit  aufbaute  und  hinter  dieser  uns  eine  dritte, 
durchaus  unbegreifliche  AVeit  wenigstens  ahnen  liess;  der  Mann, 
der  uns  über  unser  eigenes  Wesen  und  Vermögen  aufklärte  ganz 
ohne  subjektiv- willkürliche  Ideen  und  Einfälle,  bloss  der  reinen 
Offenheit  und  Kraft  seines  Blickes  folgend:  ein  solcher  Mann  hat 
das  Anrecht  auf  hohe,  besondere  Verehrung.  Denn  während  wir 
bei  den  anderen  Philosophen  über  die  Sache  nie  das  Individuum 
vergessen  dürfen  und  können ;  während  wir  stets  daran  festhalten 
müssen:  dies  sagt  Fichte,  Schelling,  Hegel,  Schopenhauer:  so  ist 
Kant's  Sachlichkeit  eine  so  reine  und  tiefe,  dass  wir  die  Natur 
selbst,  die  Realität  —  zwar  nicht  der  Dinge,  aber  doch  aller  un- 
serer Verhältnisse  zu  den  Dingen  direkt  erkennen  und  darüber 
den  Philosophen  selbst  ausser  Acht  lassen  dürfen.  Die  Anschauung 
ist  es,  von  der  Kant  ausgeht;  aber  die  Anschauung  genügt  ihm 
nicht,  er  sucht  die  Wirklichkeit  und  nie  sich  selbst  im  Weg 
stehend  dringt  er  bis  zur  Grenze  des  Erkennbaren  vor.  Er  deutet 
nicht,  er  erfindet  nicht,  er  sieht  nur  mit  einer  genial  naiven,  d.  h. 
völlig  unbefangenen  Anschauung;  sein  Blick  hat  daher  keine  indi- 
viduellen, sondern  nur  die  menschhch-generellen  Schranken  des 
Sehens.     Darin  liegt  seine  Bedeutung  für  das  Individuum,  für  das 


1)  De    mimdi    sensibilis    atque    intelligibilis    forma  et  principiis  1770 
Sectio  III  u,  IV.  —  Kuno  Fischer,  Iitim.  Kaut,  I,  356  f. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.  3 

ganze  Geschlecht  der  Menschen.  Die  Tiefe,  die  Wahrheit  seiner 
geistig-en  Anschauung  überträgt  er  auf  uns;  daher  ist  die  nach- 
kantische  Menschheit  eine  ganz  andere  als  die  vorkantische  war; 
und  niemals  kann  sie  die  von  Kant  gewonnenen  Grundlagen 
wieder  aufgeben. 

Wie  kommt  es  aber,  dass  ein  solcher  Mann,  dessen  un- 
vergängliche Hauptwerke  und  Hauptwirkungen  auf  einem  ganz 
anderen  Gebiete  liegen,  von  der  Geographie  gleichsam  seinen  Aus- 
gang nahm?  Dass  er  später  noch,  als  er  auf  der  Höhe  seiner 
philosophischen  Thätigkeit  stand,  sich  mit  geographischen  und 
namentlich  mit  anthropologischen  Arbeiten  beschäftigte?  Dass  er 
unablässig  Vorlesungen  über  Geographie  und  Anthropologie  hielt, 
vierstündige  Vorlesungen?  Was  bedeuten  diese  Studien  für  Kant 
und  seine  Philosophie  ?  Aber  auch  umgekehrt :  was  bedeutet  Kant 
für  die  Wissensgebiete  der  Geographie  und  Anthropologie?  Das 
sind  Fragen,  die  sich  uns  so  lebhaft  aufdrängen,  dass  wir  uns 
gleich  hier  wenigstens  einigermassen  orientieren  müssen. 

Kaufs  Blick  war  schon  seiner  Naturanlage  nach  ein  weiter; 
er  war  durch  seine  akademischen  Studien  und  nicht  zum  wenig- 
sten durch  den  Einfluss  Martin  Knutzen's,  durch  den  Kant 
mit  Newton's  Werken  bekannt  wurde, i)  und  den  Physiker  Teske«) 
auch  auf  naturwissenschaftlichem  Gebiet  immer  umfassender  ge- 
worden. Aber  auch  Kant's  Freude  an  der  Welt  war  gross;  er  las 
besonders  gern  Reisebeschreibungen  und  seine  Vorlesungen  über 
physische  Geographie  beweisen,  dass  er  seinen  Zuhörern  ein  Ge- 
samtbild des  Erdlebens  mit  vielen  Einzelnheiten  zu  geben  beab- 
sichtigte. Doch  hat  er  nie  direkt-sachliche  Forschungen,  Experi- 
mente u.  s.  w.  angestellt;  auch  nie  Objekte  nach  der  Natur  be- 
schrieben. Es  kam  ihm  auf  die  Vorstellung,  nicht  auf  die  sinnliche 
Wahrnehmung  an,  und  so  entnahm  er,  was  er  mitteilte,  seiner  Lek- 
türe. Dabei  hatte  er  eine  grosse  Kraft  der  Phantasie,  wie  wir  in 
seineu  Schilderungen  der  brennenden  Sonne  sehen;  ein  anderes, 
sehr  merkwürdiges  Beispiel  giebt  K.  Fischer :  '^)  einst  schilderte 
er  die  Westminsterbrücke  nach  Gestalt  und  Maassen  so  deutlich, 
dass  ein  zuhörender  Engländer  ihn  für  einen  Architekten  hielt, 
der  einige  Jahre  in  London  gelebt  habe.     Auch  darf  hier  wohl  an 


1)  K.  Fischer,  Kant  I,  48. 
'^)  Reicke,  Kantiana  S.  31. 
3)  I,  68. 

1* 


4  G.  Gerland, 

den  oft  sehr  prägnanten  bildlichen  Ausdruck  erinnert  werden,  den 
Kant  in  späteren  Werken  öfters  anwendet.  Schiller  zeigt  hierin, 
wie  in  manchem  anderen,  Ähuliclikeit  mit  Kant. 

Und  hier  ist  noch  eine  merkwürdige  Thatsache  hervorzuheben. 
Die  Eiuzeldinge,  die  Kant  im  Gebiet  der  Aussenwelt  sah  und 
wusste,  haben  für  ihn  nur  individuellen,  keinen  selbständig- 
wissenschaftlichen  Wert;  es  ist  für  seine  geographisch-anthropolo- 
gische Thätigkeit  charakteristisch,  dass  er  solche  Eiuzelgedankeu 
über  Einzeldinge,  die  er  einmal  ausgesprochen  hat,  nicht  weiter 
verfolgt  und  entwickelt,  wohl  aber  sie  festhält  und  auch  in  seinen 
späteren  Werken  meist  ganz  unverändert  weiter  benutzt.  Hatte 
er  sich  einen  Gegenstand  gedanklich  angeeignet,  so  war  er  für 
ihn  abgethan,  fertig  und  in  der  Hauptsache  fest.  So  machtvoll 
er  auf  philosophischem  Gebiet  sich  weiter  entwickelte,  so  wenig 
that  er  es  auf  dem  Gebiet  der  Erdkunde.  Auch  sind  die 
meisten  seiner  hierhergehörigen  Schriften  durch  äussere  Um- 
stände oder  Anregungen  veranlasst  und  also  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grad  Gelegenheitsschriften,  selbst  die  Naturgeschichte  des 
Himmels. 

Daher  ergiebt  sich  gleich  noch  eine  andere  für  unser  Ver- 
ständnis Kant's  wichtige  Gedankenreihe :  jeder  Prioritätsstreit,  der 
sich  an  solche  einzelne  Gedankenfunde  anknüpft,  hat  höchstens  nur 
individuellen  Wert.  Daher  liegt  es  mir  sehr  fern,  Ihnen  nachzu- 
weisen, von  welchen  Tieren,  Sternen,  Völkern,  Naturvorgängen 
Kant  gewusst,  welche  Dinge  er  schon  erwähnt  hat,  die  Andere 
auch  gesehen  und  vielleicht  als  grosse  Funde  gepriesen  haben. 
Jeder  gescheite  Mensch  sieht  eine  Menge  Dinge  und  erwähnt  sie 
oder  erwähnt  sie  nicht,  viele  Andere  sehen  sie  auch  —  das  sind 
Selbstverständlichkeiten,  bei  denen  jeder  Streit  um  die  Priorität 
lächerlich  ist.  Nicht  auf  das  erste  Sehen  kommt  es  an:  sondern 
auf  die  Gedankenarbeit  des  ersten  begrifflichen  Festlegens,  Be- 
weisens,  mit  welcher  der  Einzelne  sich  das  Gesehene  aneignet, 
mit  welcher  er  es  zum  geistigen  Gesamtbesitz  der  Menschheit  er- 
hebt. Und  nur  wer  letzteres  vermocht  hat,  besitzt  das  Recht  der 
Priorität:  denn  für  die  Geschichte  des  menschlichen  Geistes  haben 
die  besten  Funde  keinen  Wert,  wenn  sie  nicht  auf  diese  Weise 
zu  unserem  Gemeingut  erhoben  werden.  Nicht  in  den  Einzel- 
gedanken, den  Einzelfunden  liegt  Kant's  Bedeutung,  wie  man  wohl 
öfters  gemeint  hat.  Bei  Kaut  ist  Grösseres  zu  thun,  als  Priori- 
täten nachzuspüren. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.  5 

Denn    die  Auschauung    der   einzelnen  Ding-e   als   solcher  ge- 
nügt ihm    nicht,    auch  in  ihrer  Vielheit  nicht,    die    eher   verwirrt 
und  für  die  Grundfragen  der  Philosophie:    was  ist  die  Welt?  was 
ich?   was  mein  Verhältnis  zur  Welt?   keine  Lösung  bringt.     Hier 
kam  ihm  nun  die  Geographie  zu  Hülfe;  sie  war,  richtig  gefasst  — 
er  übernahm  sie,  wie  wir  seten  werden,  hauptsächlich  in  Varen's  Auf- 
fassung, nach  welcher  auch  die  Anthropologie  zu  ihr  gehört  — ,  die 
Wissenschaft,  die  ihm  für  seine  Anfänge  den  Boden  bereiten  konnte, 
wie  sie  ja  von  Thaies'  und  Pythagoras'  Zeiten  her  die  Anfangs-  und 
Grundwissenschaft    der    Philosophie,    der  Welterkenntnis    gewesen 
war.      Weil    die  Geographie,    besser    gesagt    die    Erdwisseuschaft 
im  wahren    und  weitesten  Sinne,    eine   so  unendliche  Tiefe,    Fülle 
und    Erhabenheit   hat,    gerade    deshalb    zog  sie  Kant  an,    bot  sie 
ihm,  was  er  bedurfte.     Weil  sie,    in  ihrer  richtigen  Entwickelung, 
eine  Methode    verlangt,    die    allen  Erscheinungen   des   tellurischen 
Seins    und  Werdens    gerecht    wird   und  auch  die  unendlichen  kos- 
mischen Vorgänge    in    festgeschlossenem   Zusammenhang   mit    den 
kleinsten  Zügen  des  täglichen  Geschehens  nachweist,  die  Welt  also 
frei    von    aller  scheinbaren  „Verworrenheit"  0    als    grosse  Einheit 
und  einheitliche  Grösse  zu  zeigen  vermag;  weil  diese  Methode  die 
ganze  Fülle  der  Erscheinungen  mit  der  sicheren  Unwiderleglichkeit 
mathematisch-physikalischer  Gewissheit  zu  umschliesseu  die  Pflicht 
und  die  Fähigkeit  hat:    deshalb  fühlte  sich  Kaut  dauernd  von  ihr 
gefesselt.     „Es    ist   das  Geschäft   der  Weltweisheit,"    sagt    er  an 
der  angeführten  Stelle,  „Begriffe,  die  als  verworren  gegeben  sind, 
zu  zergliedern,    ausführlich  und  bestimmt  zu  machen;    der  Mathe- 
matik   aber,    gegebene  Begriffe  von  Grössen,    die  klar  und  sicher 
sind,  zu  verknüpfen  und  zu  vergleichen."     Denn  mit  festem  Klar- 
und  Tiefblick    sah  er,    wie  Geister  seiner  Art  immer,    die  für  uns 
erkennbaren    Realitäten    anders    als    wir.      Nicht    die    verworrene 
Vielheit,  er  sah  die  Zusammenhänge,   die  Summe   der  Dinge  und 
Bedingtheiten;    er    vermochte    diese   Summe   zur  Einheit   zu  er- 
heben, auf  die  es  ihm  ankam  und   die  in  seinem  Sinne  noch  nicht 
gefunden  war.    Das  Einzelne  hat  für  ihn  nur  als  Teil  des  Ganzen, 
nur    durch    und    für    das  Ganze    Bedeutung;    es    sind  die  grossen 
Ganzheiten     der   Erscheinungswelt,    die    er    kennen,     erkennen 
will,    das  Weltall,    die   Menschheit.     Die  Erdwissenschaft   umfasst 


1)  Untersuchung    über   die  Deutlichkeit    der    Grundsätze   der  natür- 
lichen Theologie  und  Moral,  S.  1.  1764.    Hartenst.  2,  286. 


6  G.  Gerland, 

alle  tellurischeii  und  alle  tellurisch-kosmischen  Wechselbeziehungen ; 
die  Wissenschaft  vom  Menschen  die  Allheit  des  menschlichen 
Wesens  mit  seineu  sämtlichen  Kräften,  Seiten,  zeitlichen  und 
räumlichen  Zuständen;  in  der  tiefst  gefassten  Einigung  beider 
'  All-  oder  Ganzheiten  besteht  die  Kantische  Philosophie.  Sie  lehrt 
uns  Wesen  und  Wert  der  gesamten  Welt  in  Beziehung  zu  Wert 
und  Wesen  des  Menschen,  der  Menschheit  begreifen.  Sie  fasst 
diese  Einigung  als  letzte  menschlich  erreichbare  Ganzheit  —  jen- 
seits derselben  das  Ding  an  sich,  Gott.  Indem  wir  also  Kant's 
Geographie  und  Anthropologie  kenneu  lernen,  erfassen  wir  damit 
die  äusseren  Elemente  oder  Grundlagen  seiner  Philosophie;  er- 
kennen wir  aber  zugleich  auch  die  tiefste,  die  ganze  Bedeutung 
der  Erdwissenschaft.  Kant's  Philosophie  heisst  kritische  Philoso- 
phie: sie  ist  in  Wahrheit  nach  Leibniz  die  einzig  schöpferische, 
das  heisst  denn  doch  mit  vollendeter  Kritik  des  Erkennens  aufge- 
baute, objektive,  in  ihren  Grundlagen  menschlich-generelle  Philo- 
sophie; nirgends  ist  die  Grundfrage  nach  Mensch  und  Welt, 
Denken  und  Sein  unbefangener  und  dadurch  rückhaltloser  und 
erschöpfender  beantwortet,  als  von  ihr.  Wenn  ich  also  ange- 
kündigt habe:  „Kant  als  Geograph  und  Anthropolog",  so  war  dies, 
wie  sich  jetzt  zeigt,  keine  nur  äusserliche  Zusammenstellung; 
beides  gehört  auf  das  engste  zusammen;  beides  müssen  wir  be- 
trachten. 

Die  für  unsere  Kantbetrachtung  wichtigsten  Werke  sind: 
K.  Fischer,  Imm.  Kant  und  seine  Lehre,  4.  Aufl.  (Jubiläums- 
ausgabe), Heidelberg  1898/9.  Wilh.  Windelband,  Geschichte 
der  neueren  Philosophie,  2  Bde.,  Leipzig  1899.  Friedr.  Paulsen, 
Imm.  Kant,  sein  Leben  und  seine  Werke,  Stuttgart  1898.  AI.  Riehl, 
Der  philosophische  Kritizismus  und  seine  Bedeutung  für  die  posi- 
tive Wissenschaft,  2  Bde.,  Leipzig  1876—1887.  Em.  Arnoldt, 
Kritische  Exkurse  zur  Kantforschung,  Königsberg  1894.  Eisler, 
Wörterbuch  der  philosophischen  Begriffe  und  Ausdrücke,  Berlin 
1899.     Anderes  wird  beiläufig  genannt. 

Von  Ausgaben  sind  benutzt:  Kant's  sämtliche  Werke.  In 
chronologischer  Reihenfolge  herausgegeben  von  G.  Hartenstein, 
neue  Ausgabe  1867  f.  —  Kant's  Werke,  Akademie-Ausgabe,  Bd.  1, 
Berlin  1902,  Bd.  4,  1903. 

Ich  gebe  nun  zunächst  ein  Verzeichnis  der  Werke  Kant's, 
welche  für  unsere  Betrachtung,  für  die  Beantwortung  der  beiden 
soeben    gestellten     Fragen     unerlässlich    sind.      Die   beigefügten 


Immanuel  Kant,  seine  geograpli.  und  anthropolog.  Arbeiten.  7 

Jahreszahlen  geben  uns  einen  chronologischen  Überblick  über 
Kant's  naturwissenschaftliche  Thätigkeit;  sie  sind  für  die  Ent- 
wickelimgsgeschichte  Kant's  sowie  für  die  Bedeutung  der  geogra- 
phischen und  anthropologischen  Studien  für  ihn  von  Wichtigkeit, 
deren  erstere  ihn  vorzüglich  in  seiner  Vorbereitungszeit  beschäftigten, 
deren  letztere  der  Epoche  der  Kritiken,  also  seinen  späteren 
Jahren  angehören. 

1747.  Gedanken  von  der  wahren  Schätzung  der  leben- 
digen Kräfte  und  Beurteilung  des  Beweise,  deren  sich 
Herr  v.  Leibnitz  und  andere  Mechaniker  in  der  Streitsache 
bedient  haben,  nebst  einigen  vorhergehenden  Betrachtungen, 
welche  die  Kraft  der  Körper  überhaupt  betreffen.  Harten- 
stein Bd.  1,  I;  S.  Vni;  3—177.0 
1754.  Untersuchung  der  Frage,  ob  die  Erde  in  ihrer  Um- 
drehung um  die  Achse,  wodurch  sie  die  Abwechselung 
des  Tages  und  der  Nacht  hervorbringt,  einige  Veränderung 
seit  den  ersten  Zeiten  ihres  Ursprungs  erlitten  habe.  Eb. 
1,  II;  S.  IX;  181-186. 

1754.  Die  Frage:  ob  die  Erde  veralte?  physikalisch  erwogen. 
Eb.  1,  HI;  S.  IX;  189—206. 

1755.  Allgemeine  Naturgeschichte  und  Theorie  des 
Himmels  oder  Versuch  von  der  Verfassung  und  dem  me- 
chanischen Ursprung  des  ganzen  Weltgebäudes  nach  New- 
tonischen Grundsätzen  abgehandelt.  Eb.  1,  IV;  S.  X; 
209—345.  Separatausgabe  von  A.  J.  v.  Oettingen  (Ostwald's 
Klassiker  der  exakten  Wissenschaften  No.  12,  Leipzig  1898). 

1756.  Von  den  Ursachen  der  Erderschütterungen  bei  Ge- 
legenheit des  Unglücks,  welches  die  westlichen  Länder 
Europas  gegen  Ende  des  vorigen  Jahres  betroffen  hat. 
Hartenstein  1,  VII;  S.  XIV;  403—411. 

1756.  Geschichte  und  Naturbeschreibung  der  merkwür- 
digen Vorfälle  des  Erdbebens,  welches  an  dem  Ende  des 
1755sten  Jahres  einen  grossen  Teil  der  Erde  erschüttert 
hat.     Eb.  1,  VHI;  S.  XII;  415-445. 

1756.  Fortgesetzte  Betrachtung  der  seit  einiger  Zeit  wahr- 
genommenen Erderschütterimgen.  Eb.  1,  IX;  S.  XV; 
449-456. 

1)  Bd.  1,  I  =  Band  1  No.  I;  S.  VIII  =  Seite  VIII  der  Vorrede  des 
des  Bandes,  Die  arabischen  Ziffern  geben  die  Seitenzahl  des  Bandes  nach 
Beginn  und  Ende  des  Kantischen  Textes. 


8  G.  Gerland, 

1756.  Neue  Anmerkungen  zur  Erläuterung-  der  Theorie 
der  Winde.     Eb.  1,  XI;  S.  XV;  475-487. 

1756.  Motaphysicae  cum  geometria  junctae  usus  in  phi- 
losophia  naturali,  specimen  I:  Monadologia  physica. 
El).  1,  X;  S.  XV;  459—472. 

1757.  Entwurf  und  Ankündigung  eines  Collegii  der  phy- 
sischen Geographie,  nebst  dem  Anhange  einer  kurzen 
Betrachtung  über  die  Frage:  ob  die  Westwinde  in  unseren 
Gegenden  darum  feucht  seien,  weil  sie  über  ein  grosses 
Meer  streichen.     Hartenstein  2,  I;  S.  III;  3 — 11. 

1758.  Neuer  Lehrbegriff  der  Bewegung  und  Ruhe  und  der 
damit  verknüpften  Folgerungen  in  den  ersten  Gründen  der 
Naturwissenschaft.     Eb.  2,  II;  S.  IV;  15-25. 

1762.  Versuch,  die  negativen  Grössen  in  die  Weltweisheit 
einzuführen.     Eb.  2,  VII;  S.  V;  71—106. 

1763.  Der  einzig  mögliche  Beweisgrund  zu  einer  De- 
monstration für  das  Dasein  Gottes.  Eb.  2,  VIII; 
S.  V;  109—205. 

1765.  Nachrichten  von  der  Einrichtung  seiner  Vor- 
lesungen im  Winterhalbjahre  von  1765-1766.  Eb.  2,  XIII; 
313—321. 

1771.  Recension  der  Schrift  von  Moscati  über  den  Unterschied 
der  Menschen  und  Tiere.     Eb.  2,  XVII;  S.  IX;  429—31. 

1775.  Von  den  verschiedenen  Racen  der  Menschen. 
Eb.  2,  XVm;  S.  X;  435—51. 

1784.  Idee  zu  einer  allgemeinen  Geschichte  in  weltbürger- 
licher Absicht.     Hartenstein  4,  III;  S.  V;  142—57. 

1785.  Recensionen  von  J.  G.  Herder's  Ideen  zur  Philosophie 
der  Geschichte  der  Menschheit.     Eb.  4,  V;  S.  V;  171—191. 

1785.    Über  die  Vulkane  im  Mond.    Eb.  4,VI;  S.  V;  195—202. 

1785.  Bestimmung      des     Begriffs      einer     Menschenrace. 

Eb.  4,  VHI;  S.  VI;  217-231. 

1786.  Muthmasslicher  Anfang  der  Menschengeschichte. 
Eb.  4,  X;  S.  VII;  315—329. 

1786.  Metaphysische  Anfangsgründe  der  Naturwissen- 
schaft.    Eb.  4,  XIII;  S.  VII;  357—462. 

1788.  tiber  den  Gebrauch  teleologischer  Prinzipien  in 
der  Philosophie.    Eb.  4,  XV;  S.  VHI;  471-496. 

1794.  Etwas  über  den  Einfluss  des  Mondes  auf  die 
Witterung.     Hartenstem  6,  VI;  S.  V;  349—356. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.  9 

1796.    Zu  Söramering,  über  das  Organ  der  Seele.    Eb.  6,  X; 

S.  Vir,  457—61. 
1798.    Authropolog-ie    in    pragmatischer   Hinsicht.      Eb.  7, 

VI;  S.  VII;  481-658. 
1802.    I.  Kant's    physische    Geographie.     Auf  Verlangen  des 
Verfassers    aus    seiner    eigenen    Handschrift   herausgegeben 
und    zum  Teil    bearbeitet  von  Dr.  Friedr.  Theod.  Riuk.  — 
Supplemente    zur    physischen   Geographie    aus    dem    hand- 
schriftlichen Nachlasse  Kant's.     Hartenstein  8,  11;  S.  III— 
Vni:  147—435.  —  Suppl.  S.  436—52. 
Hier   ist  nun   gleich  ein  Doppeltes  zu  bemerken.     Erstlich, 
dass    die   für   uns    in  erster  Linie  stehenden  Werke  im  Vergleich 
zu  den  philosophischen  Arbeiten  Kant's  sehr  kurz  sind  —  begreif- 
lich   für    Gelegenheitsschriften;    die    Originalausgabe    der    Natur- 
geschichte   des  Himmels    ist    ein  Buch    von    200  Seiten    in  Klein- 
Oktav;    in    der    Anzeige    der  Vorlesungen    von    1765    nimmt    die 
physische    Geographie    eine    Seite    ein    (320   f.).      Die    physische 
Geographie    aus    1802    ist  nicht  von  Kant  herausgegeben,    kommt 
also  hier  nicht  in  Betracht.    Dieser  Umstand  ist  wohl  zu  beachten, 
ebenso  aber  zweitens  die  wichtige  Erscheinung,  auf  welche  auch 
Kuno    Fischer    aufmerksam    macht,    dass    Kaut   in  seinen  philoso- 
phischen Werken    sich    mit  Vorliebe   geographischer  Beispiele  und 
Nachweise    bedient.     In    der  Kritik   der   reinen  Vernunft  wird  die 
Geographie  oft  herbeigezogen. 

Diese  Erscheinung,  auf  die  wir  zurückkommen,  beweist, 
welchen  Wert  die  kosmologisch-geographischen  Thatsachen  und 
Begriffe  für  Kant  hatten.  Auch  auf  die  „naturphüosophen"  Ar- 
beiten Kant's,  welche  sich  auf  die  Physik  der  Materie  beziehen, 
ist  hier  nochmals  hinzuweisen. 

Und  so  sei  diese  Einleitung  abgeschlossen  mit  Wiederholung 
der  beiden  schon  vorhin  gestellten  Fragen,  deren  erste  und  wich- 
tigste lautet: 

Was  bedeutet  Geographie  und  Anthropologie  für  Kant? 
und  die  zweite,    bisher  schon  oft  gestellte,    aber  minder  wichtige : 

Was  bedeutet  Kant  für  Geographie  und  Anthropologie? 
Beide    Fragen    scheinen    mir   bisher    noch    nicht    genügend  beant- 
wortet.    Ihre  Lösung  soll  im  Folgenden  versucht  werden. 


10  G.  Gerland, 

2.  Vorlesung-. 
Enhvickeliing  der  Erdwissenschaft  bis  Kant. 

Wollen  wir  die  Stellung-  Kant's  zur  Geographie  beg-reifen,  so 
müssen  wir  fragen,  wie  war  der  Kntwickelungsstand  dieser  Wissen- 
schaft, den  Kant  überkam '?  Die  eingehende  Beantwortung  dieser 
Frag-e  ist  wichtig  für  die  Geschichte  der  Philosophie  überhaupt. 
Betrachten  wir  zunächst  das  17.  Jahrhundert. 

Neben  der  ursprünglich  vorwiegend  mathematisch-astro- 
nomischen Erdkunde  hatte  sich  aus  und  neben  dieser  eine 
vorwiegend  historische  entwickelt.  Geographia,  so  definiert 
Ph.  Clüver, ')  est  terrae  .  .  .  universae  descriptio.  Differt  Geo- 
graphia a  Cosmographia  ut  pars  a  toto;  a  Chorographia,  ut  totum 
a  parte.  Cosmographia  est  totius  universi  seu  mundi  tam  elemeu- 
taris  quam  aetherei  descriptio.  Aber  diese  desci'iptio  terrae  wird 
von  ihm  (auch  in  seinen  Spezial werken,  Germania,  Italia  antiqua, 
de  tribus  Rheni  alveis  et  ostiis),  so  wie  von  anderen,  wie  von 
dem  seiner  Zeit  berühmten  J.  Chr.  Becmann  in  seiner  Historia 
orbis  terrarum  geographica  et  civilis,  2)  auf  topographischer  Grund- 
lage nur  historisch  genommen,  mit  Einschiebung  einer  Beschreibung 
des  Meeres,  seiner  Teile,  Buchten,  Inseln  u.  s.  w'.  sowie  der  Schiff- 
fahrt. Ausserdem  werden  die  Flüsse  (und  die  an  ihnen  gelegenen 
Städte)  genauer  beschrieben,  von  Becmann,  der  auch  den  Winden 
ein  Kapitel  wddmet,  in  einer  besonderen  Hydrographia. 

Wie  nun  Clüver  und  Becmann  und  ebenso  noch  viele  andere 
Schriftsteller  ihre  Erdkunde  w'euigstens  mit  einer  mathematischen 
(bei  Clüver  besonders  dürftigen)  Einleitung  beginnen:  so  schieben 
ihrerseits  auch  die  Verfasser  mathematisch-geographischer  Werke 
ein  Kapitel  über  Hydrographie,  über  geographische  Topographie  ihren 
mathematischen  Darstellungen  ein.  So  der  als  Astronom  berühmte.Tesuit 
Joh.Bapt.  Riccioli:  denn  seine  Geographia  et  Hydrographia  reformata, 
selbständig  in  einem  Folioband  erschienen,^)  war  bestimmt,  einen 
Teil  des  2.  Bandes  des  mathematisch-astronomischen  Almagestum 
110 vum  zu  bilden,  w^elcher  Band  des  übergross  angelegten  Werkes 
aber  ebensowenig  wie  der  dritte  erschien.    Auch  diese  wie  andere 


1)  Ph.  Chiverii  introductionis  in  universam  geographiam  libri  VI, 
1.  Ausgabe    1624,    S.  1. 

-)  Erste  Ausgabe  1673;  zweite  1667;  dritte  1702.  J.  Fr.  Reimmann,  Ein- 
leitung in  die  historiam  literariam  derer  Teutsclien  III,  2.    S.  448,  Halle  1710. 

3)  Erste  Ausgabe  1661;  zweite  1667;  dritte  1672.  cf.  Weidlerus,  bist. 
astron.     Gap.  XV.  §  75. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.         11 

Hydrographien  der  Zeit  (ich  nenne  nur  einige  typische  Werke)  ist 
nur  beschreibend* oder,  in  Betreff  der  Flüsse,  aufzählend;  ein  um- 
fassender liber  onomaticus  folgt  ihr!  Auch  sie  geht,  wie  die 
meisten  übrigen,  sehr  genau  auf  die  Schiffahrt  ein ,  in  ganz 
mathematischer  Behandlung,  namentlich  der  Loxodromie.  Eine 
nicht  zu  übersehende  Eigenschaft  aller  dieser  Werke  des  17.  Jahr- 
hunderts ist  ferner,  dass  sie  ganz  in  der  antiken  Litteratur 
wurzeln. 

Wie  kommen  nun  diese  mathematischen  oder  historisch-topo- 
graphischen Werke  zu  einer  solchen  Vorliebe  für  das  Meer?  Zu- 
nächst aus  praktischen  Gründen;  sind  doch  die  meisten  dieser 
Werke  von  seefahrenden  Nationen,  Niederländern,  Italienern, 
Franzosen  ausgegangen.  Die  grosse  Hydrographie  des  Jesuiten 
G.  Fournier  ^)  bezeichnet  sich  sehr  mit  Eecht  als  contenant  la 
Theorie  et  la  pratique  de  toutes  les  parties  de  la  navigätion;  sie 
ist  nur  praktisch,  mit  zufällig  eingestreuten  mehr  wissenschaft- 
lichen Notizen;  Geographisches  enthält  sie  trotz  des  Abschnittes 
über  die  Gezeiten  so  gut  wie  gar  nicht. 

In  fast  allen  diesen  Werken  findet  sich  nichts  weiter  als 
Länder-  und  Meeresbeschreibung,  die  ganz  auf  dem  Stand  der 
damaligen  Kartographie  beruht:  ein  Umstand,  der  sehr  zu 
beachten  ist.  Daher  ist  alle  Beschi'eibung  des  Geländes  auf 
die  Herzählung  der  Flüsse  beschränkt;  Gebirge  werden  kaum  er- 
wähnt (wie  z.  B.,  interessant  genug,  der  Harz  bei  Clüver  und 
Varen),  wie  sie  ja  auch  auf  den  Karten  nur  höchst  schematisch  dar- 
gestellt wurden;  und  so  besprechen,  meist  ebenfalls  rein  topographisch, 
die  geographischen  Schriftsteller  auch  das  Meer,  welches  und  weil 
es  ja  topographisch  einen  so  gi"ossen  Raum  einnimmt.  So  ist  diese 
Art  der  Geographie  kaum  von  solchen  Werken  verschieden,  welche 
mehr  w^eniger  ausführliche  Erläuterungen  zu  Lokalkarten  geben, 
Pubikationen,  die  im  17.  Jahrhundert  sehr  beliebt  waren.  2)  In- 
teressanter für  uns  und  wertvoller  sind  die  rein  topographischen 
Werke  und  ihre  Städtebilder,  deren  schönste  wir  in  Merian's 
Chronik  finden. 

Wichtig  und  auch  für  uns  noch  von  oft  hohem  Quellenwert 
ist  jedoch  die  ausgedehnte  Reiselitteratur,  die  vom  16.  Jahrhundert 
an    in    frischer  Beobachtungskraft    reiche  Originalnachrichten    von 

1)  Paris  1643. 

2)  z.  B.  Bertius  1603;  Gerh.  Mercator  a  I.  Hondio  auctus  1607. 
Ortelius,  Sanson  ec. 


12  G.  Gerland, 

Läiulürii  iiiul  Völkorii  bi-achten,  deren  viele  ebeu  erst  entdeckt 
waren.  ReichhaRig-e  Sammliuig-en  solcher  Reiseberichte  wurden  vom 
16.  Jahrhundert  an  veröffentlicht  und  viel  gelesen.  Sie  wirkten 
als  mächtiges  Ferment  auf  die  Völker,  auf  die  Wissenschaft. 

Unter  ihrem  Einfluss  hatte  sich  seit  der  Mitte  des  17.  Jahr- 
hunderts eine  wirklich  wissenschaftliche,  nicht  bloss  sammelnd 
gelehrte  Erdkunde  (entwickelt,  die  methodisch  durchdacht  und  ab- 
gegrenzt von  Bernhard  Varenius  man  kann  wohl  sagen  ge- 
schaffen war,  in  seiner  1650  zu  Amsterdam  erschienenen  Geogra- 
phia  generalis.')  Neu  ist  in  ihr  die  eingehende  Darstellung  der  Erd- 
oberfläche, die  nach  ihren  natürlichen  Erscheinungsformen  behandelt 
von  der  blossen  Anschauung  zu  wissenschaftlichem  Verständnis  er- 
hoben werden  soll.  Das  merkwürdige  Buch  erlebte  nach  Varen's 
frühzeitigem  Tode  noch  mehrere  Auflagen  und  wurde  1672  und 
1681  von  Js.  Newton  mit  einigen  Verbesserungen  und  Zusätzen 
neu  herausgegeben.  Die  letzte  Ausgabe  besorgte  1712  James 
Jurin  mit  Appendix  von  54  Seiten  und  der  Windkarte  Halley's;^) 
Übersetzungen,  englische,  holländische  und  französische  folgten 
1738,  1750,  1755.  Das  Buch  ist  also  viel  gelesen;  auch  Riccioli 
hat  es  reichlich  benutzt;  doch  blieb  es  ein  ganzes  Jahrhundert 
lang  in  seiner  Art  das  einzige  wenn  uuch  grundlegende,  was 
wohl  zu  beachten  ist.     Doch  blieben  auch  hier  Beschränkungen. 

Geographia,  so  lautet  Varen's  Definition,  =*)  dicitur  scientia 
Mathematica  mixta,  quae  Telluris  partiumque  illius  affectiones  a 
quantitate  dependentes,  nempe  figuram,  locum,  magnitudinem, 
coelestes  apparentias  atque  alias  proprietates  affines  docet.  —  Ob- 
jectum  Geographiae,    sive    subjectum  circa  quod,  est  Tellus,  impri- 

1)  Über  B.  Varenius  bringt  die  Akademie- Ausgabe  der  gesammelten 
Schriften  Kant's,  Bd.  1,  S.  571  (zu  S.  444  2)  recht  falsche  Daten.  B.  Waren 
(Varenius)  wurde  1622  zu  Hitzacker  geboren  und  in  Ülzen  erzogen,  wohin 
sein  Vater  1627  als  Probst  versetzt  wurde.  Er  lebte  seit  1647  als  Dr.  med. 
zu  Amsterdam,  wo  er  1650  starb.  In  demselben  Jahre  erschien  die  erste 
Ausgabe  der  Geographia  generalis  in  12^,  eine  zweite,  ebenfalls  in  12", 
nur  in  Format  und  Paginierung  etwas  verschieden,  1664,  die  dritte,  zur 
zweiten  stimmend,  1671,  alle  bei  Elzevir;  die  späteren  von  Newton  be- 
sorgten Ausgaben  sind  in  8*^  und  zu  Cambridge  erschienen,  alle  so  genau 
zu  den  früheren  stimmend,  dass  selbst  noch  die  letzte  Ausgabe,  die  von 
J.  Jurin,  den  fehlerhaften,  zu  Anfang  der  1.  Ausgabe  stehenden  Index  bei- 
behielt. Das  Werk  war  also  von  Anfang  an  in  Wahrheit  ein  Standard 
Work  und  verdiente  es  zu  sein. 

2)  Aus  Philos.  transactions  Bd.  16  für  1686|7  (London  1688). 

3)  S.  1  f. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.         13 

mis  superficies  ejus  et  partes.  So  beginnt  das  Buch  mit  „an- 
gewandter" (mixta)  Mathematik:  de  geometricis  praecognitis,  de 
telluris  figura,  dimensione,  magnitudine,  motu;  de  loco  telkiris 
in  mundi  systemate.  Nachdem  dann  die  Naturbeschaffenheit  der 
Erde,  des  Meeres,  der  Atmosphäre  in  der  erwähnten  Art  und 
Ausführlichkeit  geschildert  ist,  geht  das  zweite  und  dritte  Buch 
wieder  zur  mathematisch-astronomischen  Geographie  zurück,  indem 
daselbst  Breite,  Polhöhe,  Taglänge,  die  Schatten  in  den  verschie- 
denen Erdzonen,  die  Zeitbestimmungen  u.  s.  w.,  dann  Länge, 
Kartographie,  Berechnung  der  Lage,  Horizont  und  endlich  die 
Schiffskunst,  die  Histiodromie  u.  s.  w.  abgehandelt  werden.  Auch 
das  100  Jahre  später  erschienene  Werk  von  Lulof,  die  „Ein- 
leitung zu  der  mathematischen  und  physikalischen  Kenntnis  der 
Erdkugel"  zeigt  genau  dasselbe  und  nicht  anders  1749  die  Histoire 
naturelle  Büffon's :  die  Theorie  der  Erde,  die  Gesamtgeschichte  der 
Erde  ist  die  Hauptsache,  an  welche  als  „Beweise"  sich  zunächst 
die  Bildungsgeschichte  der  Planeten,  die  Darlegung  der  wichtigsten 
Erdtheorien  anderer  Gelehrten  und  hierauf  die  Besprechung  der 
fih'  die  Erdeutwickelung  wichtigsten  Thatsachen  der  Gesamterde 
anreihen,  eine  kurze  Schilderung  der  Kontinentalbilduug,  der 
Schichtenbildung,  der  ubiquitären  Meeresüberreste,  der  Gebirge, 
Flüsse,  Meere,  Winde  etc.,  des  Wechsels  der  Meere  und  Fest- 
länder: denn  Büffon  führt  die  Bildung  der  Gesamtoberfläche  der 
Erde  auf  die  Wirkung  des  Wassers  zurück,  welches  früher  die 
ganze  Erde  umhüllend  bedeckte.  Sein  Programm  ist:  Theorie  de 
la  Terre,  Formation  des  Planetes,  Generation  des  Animaux.  i)  Die 
Gesamtfragen  nach  Form,  Grösse,  kosmischer  Stellung  der  Erde 
beherrschten  die  Erdkunde  in  direktem  Anschluss  an  die  Frage 
nach  der  Natur  des  Himmelsgewölbes,  der  Himmelskörper;  dieselben 
Fragen  und  Anschauungen  also,  welche  die  griechische  Wissenschaft 
beherrschten;  welche  herrschen  mussten,  so  lange  die  Erde  kosmischer 
Mittelpunkt  war.  Sie  blieben,  vielfach  noch  in  ihrer  antiken  Form, 
Grundlage  der  Erdwissenschaft  bis  tief  in  das  achtzehnte,  in  Kaut's 
Jahrhundert  hinein;  sie  hatten  nicht  wenig  zu  den  grossen  Entdeck- 
ungen des  15.  und  16.  Jahrhunderts  beigetragen;  sie  waren  es,  welche 
Coppernikus  und  Kepler  leiteten.  Auch  Bernhard  Varen  steht  noch 
im  Banne  dieser  Gedankenkreise,  in  welche  sich  das  Neue,  was  er 


1)  Hist.  natur.  1749,  4",  1,  62.  Die  Generation  des  animaux  (Bd.  2 
und  namentlich  Bd.  4)  führt  auf  ein  anderes  Gebiet,  welches  uns  hier  nicht 
beschäftigen  kann. 


14  G.  Gerland, 

zuerst,   was  Robert  Boyle  und  Andere  brachten  zunächst  nur  ein- 
schiebt, wie  der  frisch  austreibende  Keim  in  die  Samenschale. 

Diese  Fragen,  welche  die  gTiechischen  Forscher  zuerst  in 
mehr  spekulativ-metaphysischer  Fassung-,  später  in  streng-  wissen- 
schaftlicher Einfachheit  beschäftig-t  hatten,  waren  auf  das  Mittelalter 
übergeg-angon,  welches  sich  fast  noch  ausschliesslicher  von  ihnen  be- 
herrscht zeig-t  und  seine  Auffassungen  unter  dem  Zwang  kirchlicher 
Autorität  weiter  vererbte.  Das  dürftig  trockene  Büchlein,  die  Sphaera 
von  Sakro  Bosko  (Joh.  v.  Holywood,  um  1250  in  Paris  lehrend), 
welches  in  einen  computus  ecclesiasticus  ausläuft,  ist  der  Ausdruck 
der  wissenschaftlichen  Erdkunde  des  Mittelalters  und  wurde  noch 
im  Beginn  des  16.  Jahrhunderts  von  Melanthon  als  Schulbuch  mit 
ausführlichen  Einleitungen  neu  ausgegeben;  es  giebt  Ausgaben 
noch  aus  dem  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  und  wohl  kein  Buch 
des  Mittelalters  hat  sich  so  lange  und  in  solcher  Verbreitung 
lebend  erhalten,  als  die  Sphaera.  — 

Die  Geschichte  der  Erdkunde,  von  der  wir  soeben  gleichsam  als 
einen  vergrösserteu  Querschnitt  die  Geschichte  des  17.  Jahrhunderts, 
des  Jahrhunderts  vor  Kant,  betrachteten,  ist  deshalb  so  merkwürdig 
und  so  wichtig,  weil  sie  die  Geschichte  des  geistigen  Ein- 
lebens  der  Menschheit  in  die  Welt  darstellt,  d.h.  weil  sie  uns 
die  Entwickelung  des  Sehens  und  Bemerkenleruens,  des  Auffassens, 
also  die  Entwickelung  der  wichtigsten  Funktionen  des  psycho- 
physischen  Apparates  vorführt,  nicht  bloss  für  den  Einzelnen, 
sondern  für  die  ganze  menschliche  Gesellschaft.  Zugleich  zeigt 
sie  uns  sehr  klar  die  Gesetzmässigkeit  der  Grenzen,  der  Art  des 
Sehens  und  Auffassens,  bei  welchem  jede  Zufälligkeit  ausge- 
schlossen ist,  für  jede  ihrer  Eutwickelungsstufen. 

Dieser  Stufen  giebt  es  vier.  Aber  auch  hier  tritt  ein  sonderbarer 
Umstand  ein.  Die  erste  dieser  vier  Stufen  hat  keinen  Anfang  und 
für  jetzt  und  für  noch  viele,  vielleicht  für  alle  kommende  Jahrhunderte 
auch  kein  Ende.  Diese  erste  Stufe  ist  die  vor  aller  geschicht- 
lichen Entwickelung  liegende,  vielfach  noch  ganz  unbewusste, 
blind  unter  dem  Zwang  des  Haupteindrucks  und  des  Projektions- 
gesetzes stehende,  die  es  nie  zu  anderen  als  anthropomorphisti- 
schen,  mythischen,  mehr  oder  weniger  distinkten  Vorstellungen 
bringt.  Auch  auf  jener  ersten,  anfanglosen  Stufe,  zu  der  wir 
über  Griechenland,  Egypten,  Babylonien  in  die  allerältesten  Zeiten  der 
sich  eben  entwickelnden  Menschheit  zurückgehen  müssen,  handelt 
es   sich   schon    um  eine  Summe  von  Kenntnissen,   allerdings  nicht 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.         15 

um  ein  Wissen,  sondern  um  ein  psych ophysisch  notwendiges 
System  von  fest  gehaltenen  Sinneswahruehmungen,  Empfindungen 
und  Projektionen,  welches  sich  zunächst  auf  den  Himmel,  dann 
aber  auch  auf  die  Haupterscheinungen  der  Erde  bezieht  und  überall 
über  die  Erde  hin  bei  allen  Völkern  das  gleiche  ist. 

Das  begreift  sich  wohl.  Denn  die  Allheit  der  übereinstim- 
menden Eindrücke,  welche  jedes,  auch  das  roheste  Volk  empfing, 
musste  überall  die  gleiche  Deutung  des  unscharf,  aber  stark  und 
unablässig  Empfundenen,  die  gleiche  Antwort  auf  die  unbewusste 
Frage:  was  sehen  wir?  auslösen.  Mit  diesen  urältesten  dumpfen, 
ebenfalls  unfreiwilligen,  rein  anthropomorphistischen  Beantwort- 
ungen dieser  Frage  stehen  aber  die  klarbewussten,  hellen,  my- 
thischen Auffassungen  der  Babylonier  in  direktem  Zusammenhang; 
ebenso  die  ersten  mythischen  Auffassungen  der  griechischen  Phi- 
losophen und  nicht  zum  wenigsten  auch  die  vielfach  mystischen 
Auffassungen  des  Neuplatonismus. 

Denn  diese  erste  Stufe  der  Entwickelung  menschlicher  Welt- 
kenntnis, also  der  noch  untrennbaren  Erd-  und  Himmelskunde,  ist 
die  Stufe  der  Naturvölker  und  ihre  Auffassungen  leben  zu- 
nächst mit  den  Naturvölkern  selbst  bis  in  die  Gegenwart  fort. 
Aber  auch  unter  den  Kulturvölkern,  in  jedem  einzelnen  Kultur- 
menschen bleiben  sie  in  zahlreichen  Relikten  bewahrt  —  Volks- 
glauben, Aberglauben  u.  s.  w.  —  denn  sie  gehören  zu  der  psychö- 
physischen  Uranlage,  zum  ältesten  und  innersten  Eigentum  der 
Menschheit.  Naturgemäss  zeigen  sie  sich  jedesmal  dann  be- 
sonders stark,  wenn  Naturvölker  in  den  Kreis  der  Kulturvölker 
eintreten.  Eine  solche  soziale  Assimilation  bedarf  für  das  innerste, 
oft  kaum  bewusste  geistige  Leben,  für  die  Überwindung  uralt 
vererbter  Apperceptioneu  lange  Zeit.  Dass  auch  auf  etwas  ab- 
liegenden, aber  doch  verwandten  Gebieten  die  gleiche  Erscheinung 
auftritt,  beweist  eine  hochinteressante  Veröffentlichung  von  G. 
Hellmann, »)  in  welcher  auch  der  Wetteraberglaube  der  „zwölf 
Nächte"  auf  Alt-Babylonien  zurückgeführt  wird  —  wenn  er  nicht 
in  noch  ältere  Zeiten  zurückgeht. 

Die  zweite  Stufe  dieser  geographischen  Entwickelung  um- 
fasst  das  Altertum,  die  dritte  das  Mittelalter,  die  vierte  die 
Neuzeit.  Alle  vier  Stufen  stehen  unter  der  strengen  Herrschaft 
eines    ebenso    wichtigen    als    durchgreifenden    psychologischen  Ge- 

1)  Neudruck  von  Schriften  und  Karten  über  Meteorologie  und  Erd- 
magnetismus. No.  5.    Die  Bauern-Praktik  1508.  Berl.  1896.  S.  64  f. 


16  G.  Gerland, 

setzes:  je  unentwickelter  der  Mensch  ist,  um  so  mehr  steht  er, 
einzeln  oder  als  Sozietät,  unter  dem  Zwang  der  Gesamteindrücke, 
um  so  weniger  vermag  er  Eiuzelnheiten  als  solche  aufzufassen; 
er  vermag  das  nur  bei  Dingen,  auf  welche  er  sein  Gefühl  und 
Empfinden  projicieren,  in  welchen  er  also  sich  selbst  sehen  und 
empfinden  kann;  die  er  also  teils  aus  sich  selbst  begreift,  teils  zu 
sich  selbst  hin,  weil  er  sie  braucht,  weil  er  sie  benutzen  muss.  Diese 
Projektionen  sind  soziale  Thaten;  sie  werden  also  auch  durch 
die  Sozietät  in  Summa  vererbt.  Aber  mit  der  Entwickelung  der 
Menschheit  bildet  sich  ihre  Freiheit,  ihr  Reichtum  an  sicheren 
Vorstellungen,  die  nun  vom  Menschen  beherrscht  werden,  nicht 
mehr  er  von  ihnen. 

Daher  herrschte  im  Altertum  zunächst  die  unwillkürliche 
Gesamtvorstellung  der  Erde,  des  Himmelgewölbes,  des  Verhält- 
nisses beider  zu  einander,  welche  Vorstellung  immer  mehr  in  rein 
verstandesgemässe  Eiuzelbegriffe,  Erde,  Meer,  Himmel,  Himmels- 
körper, auseinanderging.  Neben  ihr  aber  hatte  sich  mit  der  zu- 
nehmenden Aufnahmefähigkeit  eine  zweite  Art  der  Erdbetrachtung 
entwickelt,  die  von  der  Anschauung  der  Einzeldinge  ausgegangen, 
sich  immer  mehr  zu  einer  neuen  Gesamtauffassuug  erhob;  wir 
haben  sie  im  Zauber  der  höchsten  Poesie  bei  Homer,  in  wissen- 
schaftlicher Behandlung  bei  Aristoteles  und  in  der  Länderbeschrei- 
bung des  Strabo.  Wirkte  bei  den  Homeriden  zunächst  noch  der 
Reiz  des  Schönen,  die  Weltfreude,  in  den  Zeiten  und  der 
Schule  des  Aristoteles  das  Streben  nach  Weltbegreifen,  bei 
Strabo  nach  Welterschliessuug,  so  rückte  bei  den  Römern  das 
praktische,  das  politisch-militärische  Bedürfnis,  die  Weltnutzung, 
immer  mehr  in  den  herrschenden  Mittelpunkt. 

Beides,  die  Freude  am  Leben,  an  der  Erde,  und  das  Streben 
nach  wissenschaftlicher  Erschliessung  der  letzteren  vereinte  sich 
in  Griechenland  mit  jeuer  älteren,  mit  der  mathematisch-astrono- 
mischen Gesamtauffassung,  zu  höchster  wissenschaftlicher  Höhe 
im  Zeitalter  Alexander  des  Grossen.  Das  beweist  das  Beispiel 
des  grössten  Erderforschers  des  Altertums,  Pytheas,  beweist  ferner, 
wenn  auch  in  anderer  Art,  das  Beispiel  Plato's,  des  grössten  Phi- 
losophen Griechenlands. 

Es  ist  soziologisch  merkwürdig,  wie  die  Änderungen,  die 
Fortschritte  dieser  grossen  Auffassungskreise  entstehen  und  sich 
ausbreiten.  Es  fehlt  nicht  an  einer  Inkubationszeit,  die  zunächst 
durch  das  Auftreten  einzelner  bedeutender  Individuen,  welche  das 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.         17 

Neue  verkündig-eu,  begründet,  dann  durch  oft  ung'emein  rasche 
allgemeine  Annahme  des  Neuen  beendet  wird.  Die  Zahl  der 
Jahrhunderte  schon  bestehender  Kultur  ist  von  äusserster  Be- 
deutung für  die  Kulturfähigkeit,  d.  h.  für  die  Fähigkeit  der 
Völker,  Kultur  aufzunehmen  und  weiter  zu  entwickeln;  es  ergiebt 
sich  der  soziologisch  wichtige  Satz:  die  Länge  der  Inkubations- 
zeit steht  in  umgekehrtem  Verhältnis  zur  Länge  der  Zeit  vorhan- 
dener Kultureinflüsse.  Es  ist  erstaunlich,  um  wie  viel  länger  die 
Inkubationszeit  im  Altertum  und  namentlich  im  Mittelalter,  als  in 
späteren  Zeiten  ist,  wo  sie  sich  immer  mehr,  oft  bis  zur  Unkennt- 
lichkeit verkürzt;  erstaunlich,  wie  sich  heute  das  Neue  rasch 
durch  die  ganze  Masse  der  Völker,  der  Menschheit  ausbreitet 
gegenüber  der  Engigkeit  der  Verbreitung  in  jenen  früheren 
Epochen.  Ja  das  Mittelalter,  im  Vergleich  mit  dem  Altertum  von 
roheren,  weit  weniger  lange  und  weit  weniger  mannigfaltig  mit 
der  Kultur  in  Berührung  stehenden  Völkern  getragen,  kann  ge- 
radezu als  die  Inkubationsperiode  zwischen  Altertum  und  Neuzeit 
betrachtet  werden. 

Die  beiden  natürlich  gegebenen  Ströme  der  antiken  geogra- 
phiscben  Auffassung  blieben  bestehen;  aber  in  dem  einen  der- 
selben, in  der  Gesamt-uiffassung  der  Welt,  trat  jener  uralte 
mythisch-religiöse  Zug,  den  auch  das  Griechentum  nie  völlig  über- 
wunden hatte,  wieder  in  neuer  Kraft  und  Ausdehnung  hervor  zu- 
nächst durch  das  Eintreten  unkultivierterer,  aber  kraftvoller 
Völker  in  die  Geschichte.  Nirgends  drängen  sich  dem  unent- 
wickelten Menschen  religiös-mythische  Vorstellungen  mit  stärker 
zwingender  Kraft  auf,  als  bei  der  Vorstellung  des  Himmels,  des 
VTeltganzen,  die  stets  mit  dem  Gefühl  des  Erhabenen  verbunden 
ist.  Die  psychische  Roheit  namentlich  des  früheren  Mittelalters 
zwang  ferner  stets  zu  anthropomorphistischer  Auffassung,  die  um 
so  stärker  und  bleibender  war,  je  stärker  und  bleibender  die  mit 
den  Eindrücken  verbundenen  Gefühle  auftraten. 

Aber  auch  die  kulturellen  Überlieferungen  lehrten  und  ver- 
stärkten durch  ihre  Lehre  die  Vergötterung  des  Himmels.  Denn 
die  Kultur  des  Altertums  wurde  vornehmhch  durch  die  Kirche 
verbreitet;  die  Kirche  aber  lehrte  direkt  die  Göttlichkeit  des 
Himmels,  zunächst  beeinflusst  von  babylouisch-jüdisch-orientalischen 
Auffassungen,  die  eine  sehr  grosse  Verbreitung  und  Geltung 
hatten,  dann  aber  und  fast  noch  mehr  durch  das  Eindringen 
der    spätgriechischen    Philosophie,    der    Lehre   vom    persönlichen, 

Kautstudieu   X,  2 


18  G.  Gerland, 

göttlichen,    schaffenden  Logos,    wie   dies  Harnack')  sehr  gut  her- 
vorhebt.    Die  Zeitrechnung,  die  neuen  Feste,  welche,  im  Anschluss 
an    die   jahreszeitlichen    Götterfeste    des    Heidentums,    in    neuer, 
machtvollerer  Heiligkeit  das  ganze  Leben  ordneten  und  beherrschten, 
wurden  durch  die  Bewegungen  der  Himmelskörper  bestimmt  —  die 
Sphaera  schloss  mit  dem  computus ;    um  das  Weihnachtsfest  grup- 
pierte sich  der  Wetteraberglaube.     Und    dabei  wirkte  Sozietät  auf 
Sozietät,    die  Kirche,    die  Vertreterin  der  kultivierten  Sozietät,  in 
ihrer  Ganzheit    auf    die  Sozietäten    der  heidnischen  Völker;    nicht 
einzelne  Individuen,  die  Summe  der  Individuen  wurde  gleichzeitig 
und   gleich    mächtig    erfasst.      Denn    die  Kirche  erstrebte  —  und 
liierin    liegt    ihre    ungeheure  soziale  Macht  —  die  Gesamtheit  der 
Seelen  zu  gewinnen,  zu  retten,  zu  vereinen;  und  zugleich  kam  die 
Kultur   der  Religionsbringer,    deren    Person    selber    geheiligt  war, 
als    eine    ungemein   reiche,    schöne,    allen    imponierende,  allen  be- 
gehrenswerte  und  doch  zunächst  —  auch  klimatisch,  was  wichtig 
ist  —  nicht   völlig    erreichbare  herüber.     Gerade  diese  Unerreich- 
barkeit der  Kulturhöhe  und  der  geographische  Gegensatz  zwischen 
Nord  und  Süd  ist  von  hoher  Bedeutung.     Beides  gab,    durch  leib- 
liche wie  geistige  Einwirkungen,  der  Kirche  und  ihrer  Lehre  neue 
Macht,    der    Weltauffassung   des    Mittelalters    den    Charakter    des 
Sentimentalischen  dem  naiven  Altertum  gegenüber  und  musste  ihn 
geben,   auch  wenn   die  Lehre  der  neuen  Religion  nicht  mitgewirkt 
hätte.     Denn    sentimentalische    Geistesrichtungen    entwickeln    sich 
immer    da,    wo    ethisch    begehrenswerteren,    in    sich    fertigen  Zu- 
ständen unfertige  und  als  solche  empfundene  gegenüberstehen. 

Alles  dies  bedingte  die  Ausschliesslichkeit  und  verstärkte  die 
Macht  der  religiösen  Auffassung  der  Welt,  die  Leben  und  Weltall 
in  lückenlosem  Zusammenhang  erfüllte,  erklärte,  ordnete,  leitete, 
ohne  Anspruch  an  individuelle  Geistesarbeit  der  Gläubigen  zu  er- 
heben. Aber  gerade  wegen  ihrer  festen,  überindividuellen  Gleich- 
mässigkeit  wurde  die  religiöse  Auffassung  der  Welt  zur  stärksten 
Gemütsmacht,  die  alles  um  so  fester  beherrschte,  als  sie  zum 
grossen  Teil  unbewusst  war.  Jedem  schallte  sie  von  Jedem  ent- 
gegen. Niemand  also  konnte  an  der  Göttlichkeit,  der  göttlichen 
Individualität  des  Himmels  zweifeln  und  wer  dies  dennoch  that, 
der  löste  sich  von  der  Weltauffassung  aller  Mitlebenden,  welche 
Auffassung   selber,    eben   weil    sie    so  allgemein  und  ein  äusserer 

1)  Das  Wesen  des  Christentums.    Leipzig  1900. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.         19 

Grund  für  sie  nicht  vorhanden  war,  von  Gott  stammen  musste. 
Die  alten  Tabubegriffe  menschlicher  Urzeiten  lebten  in  der  Kirche 
kräftig-  weiter.  Auch  der  Himmel,  als  Wohnsitz  Gottes,  war  tabu 
im  strengsten  Sinne  dieses  uralten  Begriffes  und  jede  Verletzung 
dieses  Tabu,  wie  sie  die  neuen  Auffassungen  so  vielfach  mit  sich 
brachten,  war  schwerer  Frevel  gegen  das  höchste  Tabu,  gegen 
Gott  selbst.  Alles,  was  vom  Himmel  kam,  konnte  nur,  ja  musste 
von  Gott  bestimmt  sein:  Gott  also  sandte  den  Regen,  den  Wind, 
das  Wetter,  Gott  hatte  die  Bewegungen  des  Himmels,  der  Ge- 
stirne angeordnet;  die  Erde  war  ganz  vom  Himmel  abhängig,  es 
war  also  alles,  was  von  Naturereignissen  auf  der  Erde  geschah,  gutes 
und  böses  Wetter,  Blitzschlag,  Erdbeben,  Überschwemmungen 
u.  s.  w.  direkt,  als  Strafe  oder  Lohn,  von  Gott  angeordnet  und 
„Gottes  Finger"  beherrschte  und  betrieb  alles.  Es  war  aber  nicht 
eine  grosse  gewaltige  Gottesauffassung  die  vorherrschende:  es 
war  der  Gott  des  kleinen  Mannes,  der  hausbackene  Gott,  der  sich 
in  alles  einmischte  und  zugleich  stark  mit  dem  Teufel  und  dessen 
Anhängern  zu  kämpfen  hatte.  Natürlich  herrscht  der  Anthropo- 
morphismus  wie  im  Leben,  so  auch  in  der  Kunst:  kleinlich  im 
Leben,  in  der  Kunst  grossartig.  Diese  Gesamtauffassung  der 
Welt,  die  vom  Volk,  von  den  Laien  überall  geglaubt,  gesehen, 
aber  nur  sehr  selten  und  dann  stets  mit  Lebensgefahr  in  eigener 
Denkarbeit  geprüft  und  begriffen  wurde,  beherrschte  das  Mittel- 
alter ganz ;  sie  wurde  mit  dem  sinkenden  Mittelalter  immer  platter 
und  roher  in  der  Masse  des  Volkes ;  sie  stammt  ganz  und  gar  aus 
den  Anschauungen  der  Naturvölker. 

Daneben  lebte  in  voller  Kraft  nun  auch  die  Freude  an  den 
Einzeldingen,  der  Gegenwart,  der  Umgebung,  dem  Leben,  aber 
nur  im  Bereich  der  persönlichen  Projektion,  des  Wohlgefallens, 
des  Nutzens.  Was  darüber  hinausging,  fehlte  dem  Gesamtgeist 
des  Mittelalters  noch  mehr,  als  dem  des  Altertums.  Daher  z.  B. 
auch  die  rohe  Art  der  mittelalterlichen  Landkarten,  die  noch  in 
späteren  Jahrhunderten,  obgleich  unendlich  verbessert,  über  eine 
schematischleere  Darstellung  des  Terrains  nicht  hinauskommen 
und  nur  auf  die  Darstellung  der  politischen  Grenzen,  der  Handels- 
und der  Verkehrsstrassen,  der  Flüsse,  auf  die  Angabe  der  Städte 
ausging,  ein  Zustand,  der  sich  völlig  erst  in  der  ersten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts  auslebte.  So  war  nach  keiner  Seite  hin  eine 
wirkhche  Auffassung  der  Erdnatur  und  ihrer  Thätigkeit  und  Viel- 
heit als  eines  Ganzen  im  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  vorhanden. 


20  G.  Gerland, 

im  Anfang    des    18.    ein    wissenschaftliches  Begreifen   der  Einheit 
der  Erdnatur  noch  keineswegs  verbreitet. 

Aber  im  17.  Jahrhundert  ging  die  Inkubationszeit  für  das 
richtige  Erfassen  dessen,  was  man  sah  und  was  aus  dem  Alter- 
tum überliefert  war,  zu  Ende,  nachdem  das  Mittelalter  durch  Re- 
formation und  Renaissance  zu  Grabe  gebracht  war;  und  so  ent- 
wickelte sich  in  der  neuen  Zeit  eine  neue  Welt  des  Geistes.  Wie 
klar  spiegelt  auch  dies  die  Geschichte  der  Erdkunde  —  der  Erd- 
und  Weltauffassung  der  Völker! 

Ich  kann  hier  nur  einiges  Wichtigste  hervorheben.    In  erster 
Linie    ist    abermals    Varen    und    seine    Geographia    generalis    zu 
nennen;    sodann    die    einschlagenden  Einzelarbeiten,    wie  Gilbert's 
berühmtes    Buch    über    die    magnetische  Kraft   der  Erde,    wie  die 
Abhandlungen    des  Grafen  Robert  Boyle,    des  Freundes  Newton's. 
Und  welche  Fülle  von  neuen  Auffassungen  brachte  Leibniz,  dessen 
für   die    Erdkunde    so    besonders    wichtige  Protogäa   fi'eilich    erst 
1749    ganz    veröffentlicht    wurde,    deren    Grundgedanken    Leibniz 
schon  1693  bekannt  gemacht  und  in  seiner  praktischen  Thätigkeit, 
der  er  sie  verdankte,  und  gewiss  auch  sonst  verwertet  hatte.    Von 
grosser   Bedeutung   waren    ferner    die    ebenfalls    dem   praktischen 
Leben    angehörigen  Kolouiegründungen,    die    von  England,  Frank- 
reich, den  Niederlanden   sich  über  die  verschiedenen  Erdteile  ver- 
breiteten.    Die  Völker    sahen    immer    mehr;    sie  mussten  das  Ge- 
sehene,   um    es    richtig    zu    verwerten,    immer  richtiger  auffassen, 
auch    wieder    aus  praktischen  Gründen,  die  in  der  Geschichte  der 
Wissenschaften    und  namentlich   der  Erdkunde  eine  so  bedeutende 
Rolle  spielen.     Naturgemäss  trat  das  Neuerrungene  mit  dem  Alten 
in    lebhaften    Kampf,    dessen    Wirkungen   wir  auch  bei  Kant,    bei 
Newton    und   anderen  deutlich  erkennen.     In  Folge   dieser   neuen, 
schärferen  Auffassungen  trat  auch  die  Wissenschaft  vom  Menschen 
in   ein   neues    Stadium.      Auch    hier    schlug   Bernhard  Varen    als 
erster    die    neuen  Wege  ein.     Freilich  hatte  sich  auch  der  vielge- 
reiste   Abt    Giovanni    Botero    in    seinem    merkwürdigen    Relationi 
universalis)  ganz    frei  von  Mathematik  gehalten   und    von  Geogra- 
phie   nur   soviel    gebracht,  als  für  seine  an  sich  wertvollen  histo- 
risch-politischen Schilderungen  der  Völker  unentbehrlich  war,  wenn 
wir  von  der  aufzählenden  Besprechung  der  Inseln  sowie  von  seinem 


1)  1596.  1640.     Deutsche  Übersetzung:  Allgemeine  Weltbeschreibung 
etc.    Kühl  1596. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.         21 

Bericht  über  das  Meer  ^  absehen.  Auch  steht  er  nicht  in  jener 
corapilatorischeu  Abhängigkeit  vom  Altertum.  Varenius,  der  jeden- 
falls Botero's  Werke  kannte,  hat  nur  eine  ethnologisch-historische 
Arbeit  geschrieben,  seine  Descriptio  Regni  Japonici,  mit  einer  Ein- 
leitung über  die  verschiedenen  Staatsformen  der  Völker,  2)  aber  in 
wissenschaftlicher  Methode,  in  allseitiger  Durchdringung  und 
wissenschaftlicher  Beherrschung  des  Stoffs  steht  er  schon  auf 
einem  Standpunkt,  den  man  w^ohl  den  modernen  nennen  kann 
und  weit  über  Botero. 

Ein  sehr  beachtenswerter  Zug  aller  dieser  Kosmographien  ist 
das  Interesse,  welches  sie  für  die  Religionen  der  Staaten  und 
Völker  zeigen.  Öfters  geschieht  dies  in  Folge  der  durch  die  Re- 
formation geschaffenen  Gegensätze;  mit  Leidenschaftlichkeit  z.  B. 
bei  dem  in  Frankreich  zum  Katholizismus  übergetretenen  Holländer 
Peter  Bertius.^)  Meist  aber  wurzeln  diese  Angaben  in  dem  alle 
Gemüter  beherrschenden  religiös-biblischen  Sinn,  von  welchem  aus 
Riccioli,  Paulus  Merula*)  und  Andere  die  ganze  Geographie  nach 
den  Darstellungen  der  Genesis  auffassten.  Lebhaft  beschäftigte 
sich  auch  Botero  mit  der  Religion  der  christlichen  wie  der  heid- 
nischen Völker,  mit  der  Einführung  des  Christentums  in  Indien, 
in  Japan  u.  s.  w.,  der  Gottesidee  der  Indianer  Amerikas  und  der  Aus- 
breitung des  Christentums  unter  ihnen  widmet  er  vier  Bücher .s)  Auch 
Varen  hat  einige  religionsgeschichthche  Abhandlungen  geschrieben, 
von  welchen  das  soeben  über  ihn  Gesagte  gleichfalls  gilt:  seinen 
tractatus  de  religione  in  regnis  Japoniae,  welcher,  der  Königin 
Christine  von  Schweden  gewidmet,  über  die  Religion  der  Japaner 
sowie  über  die  Einführung  und  spätere  Ausrottung  des  Christentums 
in  Japan  handelt,  mit  einem  Anhang  über  die  Religion  Slams;  und 
ferner  seine  brevis  informatio  de  diversis  gentium  religionibus,  die 
erste  vergleichende  Zusammenstellung  möglichst  vieler  Religionen 
der  Erde,  die  von  wissenschaftlichen  Gesichtspunkten  ausgeht. 

Wie  stand  es  aber  bei  so  vielem  Neuem  mit  der  alten  Grund- 
wissenschaft der  Erdkunde,  mit  der  Wissenschaft  von  der  Gesamt- 


1)  Relatione    del    mare   1599.    1649.  —    cf.   C.   Gioda,   la   vita   e   le 
opere  di  Giov.  Botero.     3  Bde.     Mailand  1894|5. 

2)  Amsterdam    1649.     16«.      Der   tractatus   de   Japanorum   religione 
ebend.  im  gleichen  Jahr. 

3)  Breviarium  Totius  orbis  terrarum.    Paris  1626. 

*)  Cosmographiae  generalis  libri  tres  ec.  Amsterdam  1636. 
5)  Relationi  univ.  1640.  Teil  4,  Buch  1—4. 


22  G.  Gerland, 

erde,  ihrer  Gestalt  und  ihren  Beziehung-eu  zum  Himmelsgewölbe, 
mit  der  mathematisch-astronomischen  Geographie?  Kurz  sei  nur 
der  „Eratüsthenes  Batavus'',  Willibrord  Suellius,  sein  neues  Maass- 
verfahren und  der  daran  sich  kuiii)fende  Streit  über  die  Abplattung 
der  Erde  erwähnt,  wie  er  sich  zwischen  Cassini  und  Newton  er- 
hob und  vor  allem  des  Siegers  in  diesem  Streit  Mewton's  Haupt- 
werk, die  1686.  1713  und  in  3.  Auflage  1726  erschienenen  princi- 
})ia  mathematica  philosophiae  naturalis  —  in  welchem  freilich  die 
religiöse  Heiligkeit,  das  Tabu  des  Himmels,  das  direkte  Eingreifen 
Gottes  noch  deutlich  weiter  lebt.  Varen  blieb  in  seiner  wissen- 
schaftlichen Darstellung  gänzlich  frei  von  dieser  Auffassung ;  allein 
noch  hundert  Jahre  nach  dem  Erscheinen  der  geographia  naturalis, 
noch  1750  tadelt  ihn  Lulof  wegen  seiner  Abweichungen  von  den 
mosaischen  Berichten  sehr  ernstlich. 

Auch  an  Cassini's  Namen  knüpft  sich  der  Ruhm  einer  ge- 
waltigen That  auf  geographischem  Gebiet,  die  für  das  praktische 
Leben,  man  kann  wohl  sagen,  gleich  hohen  Wert  hat,  wie  Newton's 
principia  für  die  Theorie;  einer  That,  die,  ebenfalls  auf  den  von 
Willibrord  Snellius  gelegten  Grundlagen  beruhend,  mit  ihrer  Aus- 
führung das  ganze  18.  Jahrhundert  ausfüllt.  Diese  That  war  die 
Schaffung  der  wissenschaftlichen,  naturwahren  Topographie.  Durch 
die  wissenschaftlichen  Fortschritte  seit  1650,  durch  die  unter 
Ludwig  XIV.  sich  neu  entwickelnde  Kriegskunst  hatte  sich  ein 
richtiges  Sehen  auch  der  natürlichen  Bodenbeschaffenheit  der 
Länder  entwickelt :  und  dies  technisch,  ja  man  kann  sagen  künst- 
lerisch richtig  wiedergegeben  zu  haben,  anstatt  der  alten  ganz 
willkürlich-schematischen  Art  der  Zeichnung,  ist  das  unsterbliche 
Verdienst  der  Cassini.  Ihre  Karte  ist  die  Grundlage  unserer  mo- 
dernen Terrainzeichnung. 

Und  dazu  kam  noch  ein  anderes,  welches  den  grossen  Kreis 
der  Erdwissenschaft  abschloss,  indem  es  neue,  freilich  erst  später, 
in  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  betretene  Wege  eröffnete:  auch 
die  ungeheure  Formenfülle  der  gesamten  organischen  Welt  lernte 
man  sehen,  wissenschaftlich  auffassen  und  festlegen.  Hier  sind 
zwei  grösste  Namen  zu  nennen:  Büffon,  der  im  Anschluss  an 
seine  Theorie  de  la  terre,  vom  Menschen  ausgehend  auch  die 
histoire  naturelle  der  Tiere  gab,  indem  er  die  Arten  der  Tiere, 
ihre  Festigkeit,  ihre  Veränderlichkeit,  ihr  Werden  und  Vergehen 
wissenschaftlich  untersuchte  und  weithin  wirkende  Ideen  ent- 
wickelte;  indem  er  zugleich  die  zahllosen  Spezies  zum  erstenmale 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.         23 

mit  eingehendster  Genauigkeit  beschrieb.  Und  ferner  und  vor 
Allen  Liune,  der  die  Fülle  der  vorhandenen  Pflanzen-  und  Tier- 
formen mit  festem  Blick  einteilte,  zusammenordnete  und  dadurch 
erst  zugänglich  und  begreiflich  machte  —  eine  herrlich  geniale, 
nie  genug  zu  verdankende  That! 

So  liegt  ein  ungemeiner  Glanz  des  geistigen  Lebens  über 
dem  17.,  dem  18.  Jahrhundert,  eine  Fülle,  eine  Grösse  der  erd- 
wissenschaftlichen Leistungen,  die  den  Betrachter  stets  zu  neuer 
bewundernder  Freude  erhebt.  In  der  Entwickelung  dieses  Lebens, 
dieser  Ideen  stehen  auch  wir  noch,  wenn  wir  auch  durch  die 
Länge  der  verflossenen  Zeit,  durch  die  Erschliessung  der  Erde 
und  nicht  zum  wenigsten  durch  die  unbeschränkte  Zahl  der  Mit- 
arbeiter eine  neue  Stufe  erreicht  haben.  Im  17.,  auch  noch  im 
18.  Jahrhundert  waren  es  nur  die  wenigen  Grössten,  welche  dies 
neue  Licht  sahen  und  zu  verbreiten  anfingen;  die  Thäler  lagen 
noch  im  Schatten.  Aber  unaufhaltsam  drang  das  Licht  vor;  und 
in  diese  Welt  hinein  ward  am  22.  April  1724  Immanuel  Kant  ge- 
boren. 


3.  Vorlesung. 
Stellung  Kant's  zur  naturwissenschaftlichen  Forschung 

seiner  Zeit. 

Es  war  eine  Zeit  des  Übergangs,  in  die  er  eintrat.  In  der 
Erd-  und  Himmelskunde  konnte  unmöglich  die  leichtfertige  Viel- 
wisserei  eines  Athanas.  Kircher  oder  Compilationen  wie  die  Becmann's 
oder  der  veraltete  Standpunkt  Riccioli's  neben  Varen  und  Boyle 
und  Newton  Geltung  behalten;  doch  wurde  Becmann  und  nament- 
lich Kircher  noch  viel  gebraucht,  i)  Die  Geographie  war  noch 
immer  eine  Art  von  methodelosem  Gesamtwissen,  aus  mathema- 
tischen, historischen,  topographischen,  nautischen  Materialien  zu- 
sammengehäuft, eine  in  Worte  übertragene  Kartographie,  den 
Verkehrsbeziehungen  dienend.  Zur  Wissenschaft  war  sie  durch 
Varen,    durch   Newton    erhoben.     Die  mathematisch-physikalischen 


1)  Z.  B.  von  Lulof,  der  gegen  Kircher  zwar  Bedenken  ausspricht, 
aber  Varen  mit  ihm  auf  gleiche  Stufe  stellt !  (Vorrede  S.  7.)  Kircher  wird 
am  besten  von  Morhof,  dem  Freunde  und  öfteren  Gast  Rob.  Boyle's,  ge- 
schildert durch  den  kurzen  Ausspruch  im  Polyhistor  I,  S.  357:  saltavit  et 
in  hoc  theatro  (ars  Lulliana)  Athanasius  Kircherus,  centum  ille  doctor 
artium. 


24  G.  Gerland, 

Lehreu  des  letzteren  verbreiteten  sich  rasch,  die  telhirische  Ge- 
samtauffassung Varen's  viel  langsamer:  brachte  sie  doch  etwas 
ganz  Neues,  das  Auffassungs-  und  Denkvermögen  der  Menschheit 
völlig  Umformendes. 

So  war  die  Zeit  des  Übergangs  auch  eine  Zeit  der  Gegen- 
sätze, der  A\'idersi)rüche.  Neues  und  Altes  standen,  oft  freilich 
feindselig  —  Riccioli  veröffentlicht  im  Almagestum  novum  Bd.  I 
Teil  II,  S.  497—500  die  Abschwörung  Galiläi's  mit  den  Anklagen 
der  Kardinäle  gegen  ihn;  und  auch  Büffon  musste  sich  über  ver- 
schiedene Punkte  mit  den  Deputes  und  dem  Syudic  der  Pariser 
Theologischen  Fakultät  auseinandersetzen  — ,  meist  aber  in  mehr 
oder  weniger  unbewusster  Naivität  einander  gegenüber. 

Die  Betrachtung  und  Erklärung  von  Himmel  und  Erde  stand 
noch  ganz  in  Abhängigkeit  von  den  Lehreu  der  Kirche,  von  den 
Erzählungen  der  „Offenbarung",  dem  Schöpfungsbericht,  dem  Sint- 
flutmythus der  Genesis  und  diese  herrschende  Gesamtauffassung  der 
Welt,  welche  sich  über  alle  Gebiete  des  Lebens  erstreckte,  bildete 
den  grössten  Widerspruch  zunächst  zur  erwachenden  Erdwissenschaft, 
w'elche  ja  die  mechanische  Abhängigkeit  der  grossen  Erderschein- 
ungen, der  Winde,  der  Strömungen,  der  Sternbewegungen  immer 
deutlicher  sah  und  lehrte;  sodann  zu  der  sich  immer  mehr  auf- 
drängenden und  unentbehrlicher  werdenden  Kenntnis  der  Einzel- 
dinge, welche  die  Welt  erfüllen,  der  Naturgesetze,  welche  die 
Welt  beherrschen.  Die  Bedeutung  der  Erdkunde  auch  für  diese 
Zeit  liegt  klar  auf  der  Hand.  Die  Welt,  Himmel  und  Erde  zeigten 
sich  immer  klarer  in  ihren  Einzelerscheinungen,  hier  lag  das 
Neue;  das  Alte  lag  in  dem  Tabubegriff,  in  der  platt  anthropo- 
morphischen  Auffassung  Gottes  und  der  Erdvorgänge  in  ihrer 
direkten  Abhängigkeit  von  Gott,  Avie  sie  noch  überall  herrschte. 
Auch  in  der  Philosophie:  Descartes,  Spinoza,  auch  noch  Leibniz 
haben  ruhig  den  alten  Gottesbegriff  herübergenommen  und  an  die 
Spitze  oder  an  das  Ende  ihrer  Phüosophie  gestellt.  Die  Dichter 
thaten  ihrerseits  das  Gleiche :  man  lese  die  von  Kant  selbst  in  der 
Naturgeschichte  des  Himmels  zitierten  platten  Überschwenglichkeiten 
Pope's,  Addisson's,  v.  Haller's,  die  freilich  schon  auf  einen  Um- 
schwung deuten,  der  sich  in  Klopstock  vollzogen  hat.  Auch  die 
Naturforschung  hielt  sich  noch  auf  der  alten  Strasse  des  her- 
kömmlichen Gottesbegriffs :  das  beweist  Newton,  Büffon  und  ebenso 
jener  Wright,  dessen  „Neue  Theorie  des  Weltalls"  für  Kant  so 
bedeutsam  wurde. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.  25 

Diese  Widersprüche,  dies  Neue  zum  Alten  war  von  ^össter 
Wichtigkeit.  Zunächst  entwickelte  sich  ein  ungeheurer  Reichtum 
von  Vorstellungen  und  Begriffen,  die  nicht  mehr  das  Eigentum 
Weniger  bleiben  konnten,  die  übergingen  auf  die  Geister  aller 
Lebenden,  die  zu  bewältigen,  aufzufassen,  unterzubringen  die  Ar- 
beit aller  Denkenden  verlangte.  Dazu  kam  die  Gedankenfülle  der 
Renaissance,  der  Reformation.  Wie  passte  dieser  so  rapid  an- 
wachsende neue  Inhalt  der  Welt  zu  jener  alten  Form,  wie  sie  in  der 
bisherigen  Gesamtauffassung  dem  bisherigen  Gedankenvorrat  genügt 
hatte?  Das  Neue  musste  begriffen  und  mit  dem  Alten  in  Ein- 
klang gebracht,  das  Alte  an  dem  Neuen  gemessen  werden:  eine 
kritische  Zeit  also  musste  kommen,  auf  allen  Gebieten,  um  dieser 
Aufgabe  gerecht  zu  werden.  Wo  aber  war  in  der  allgemeinen  Be- 
wegung ein  fester  Punkt,  der  Ruhe  und  Kraft  und  Freiheit  genug 
bot,  um  diese  Kritik,  welche  doch  nur  durch  ruhige  Kraft  und 
freien  Blick  geschaffen  werden  konnte,  zu  ermöglichen? 

Nachdem  Italien  im  15.  und  16.  Jahrhundert  die  Renaissance  ge- 
schaffen, gingen  später  die  neugestaltenden  Ideen  hauptsächlich  von 
England,  den  Niederlanden  und  Frankreich  aus,  von  den  Nationen, 
deren  Schiffe  am  meisten  mit  der  ganzen  Welt  in  Berührung 
kamen.  Im  18.  Jahrhundert  war  Frankreich  Träger  und  Mittel- 
punkt der  geistigen  Bewegung,  die  sich  von  hier  aus  überallhin 
verbreitete,  namentlich  aber  Deutschland  beeinflusste,  und  zwar, 
in  Folge  des  lebhaften  Interesses,  welches  ihr  Friedlich  der  Grosse 
entgegenbrachte,  den  Norden  fast  noch  mehr  als  den  Süden  des  Reichs. 
Dies  wissenschaftiiche  Milieu  herrschte  auch  in  Königsberg.  Die 
Lage  der  Stadt  war  günstig;  hier  konnte,  ja  musste  alles,  was 
die  Welt  bewegte,  ruhiger  und  objektiver  aufgefasst  werden.  Hier 
lebte  der  Mann,  der  in  der  Ruhe  seiner  Heimat  das  immer  mehr 
erschlossene  Leben  der  Welt  zunächst  aus  Reiseberichten  und 
erdwissenschaftlichen  Studien  mit  weitem  Blick  und  tiefer  Geistes- 
kraft in  sich  aufnahm  und  durch  das  unablässige  Studium  des 
Weltlebens  zu  jener  Kritik  emporstieg,  welche  zum  ersten 
Male  in  der  Geschichte  der  Menschheit  auf  dem  Ge- 
biete des  Geistes,  der  Welterkenntnis  und  Weltauf- 
fassung, das  Alte,  Uranfängliche,  welches  die  Mensch- 
heit seit  ihrem  Anbeginn  beherrscht  hat,  als  unwahr 
und  unbrauchbar  erkannte,  der  es  beseitigte  und 
ein  neues  Leben  heraufführte.  Dieser  Mann  war 
Kant. 


26  G.  Gerland, 

Kant  studierte  hauptsächlich  Philosophie,  Mathematik  und 
Naturwissenschaften,  daneben  auch  lateinische  Philologie  und 
Theologie,  letztere,  wie  er  selbst  sagte,»)  „aus  Wissbegierde". 
Es  blieb  gewiss  nicht  ohne  Einfluss  auf  ihn,  dass  sein  Lehrer 
Martin  Knutzen  nicht  nur  das  Verhältnis  von  Leib  und  Seele, 
sondern  überhaupt  die  Wechselwirkung  der  Dinge  auf  mechanische 
Prinzipien  zurückführte.  2)  Diese  mechanische  Weltauffassung 
machte  auch  Kant  immer  mehr  zu  der  seinen;  von  ihren  beiden 
grössten  Vertretern,  von  Leibniz  und  Newton,  nahm  er  seinen 
schriftstellerischen  Ausgang;  und  dass  ihn  in  dieser  Weltansicht 
seine    geographischen     Studien    immer    mehr    befestigen    mussten, 

leuchtet  ein. 

Diese  physikalisch-philosophischen  Studien  (neben  denen  die 
mathematischen  sehr  zurücktreten)  zu  seinem  1746  vollendeten 
Erstlingswerk,  den  „Gedanken  von  der  wahren  Schätzung  der 
lebendigen  Kräfte"  beschäftigten  ihn,  wie  Aruoldt  gewiss  sehr 
richtig  annimmt,  3)  schon  in  den  letzten  Semestern  seiner  Stu- 
dentenzeit. Mit  dem  Studium  Newton's  waren  auch  astronomische 
Betrachtungen  gegeben,  um  so  mehr,  als  auch  Knutzen  dieselben 
eifrig  betrieb.*)  Zu  diesen  Studienkreisen  trat  in  den  9  Jahren 
der  Hauslehrerzeit  Kant's  (1746—55)  ein  neues  Element,  welches 
vielleicht  auch  schon  den  Studenten  Kant  beschäftigte,  ohne  dass 
wir  es  nachweisen  können :  das  Studium  der  Einzeldinge  der  Erde, 
von  den  Kontinenten  und  Meeren  an  bis  zu  den  kleinsten  Orga- 
nismen. Hierfür  beweisend  und  auch  sonst  sehr  merkwürdig  ist 
der  1757  geschriebene  kurze  Artikel  „Entwurf  und  Ankündigung 
eines  CoUegii  der  Physischen  Geographie"  u.  s.  w.,"^)  welches 
Kolleg  Kant  auch  schon  1756«)  las.     Die  Vorrede  dieses  Entwurfs 


1)  K.  Fischer  1,  52;  vgl.  Heilsberg's  Erzählung  über  Veranlassung 
und  Beantwortung  dieses  Ausspruchs  bei  Reicke,  Kantiana  50. 

2)  B.  Erdmann,  Martin  Knutzen  u.  seine  Zeit,  S.  103  f.  S.  143.  146. 
K.  Fischer  1,  48  f. 

3)  E.  Arnoldt,  Kant's  Jugend  und  die  fünf  ersten  Jahre  seiner  Pri- 
vatdozentur, Altpreuss.  Monatsschr.  XVIII,  1881,  S.  646. 

4)  Die  Behauptung,  die  Schrift  Knutzen's  über  die  Kometen  habe 
Kant  wohl  erst  zu  seinen  kosmologischen  Studien  geliracht  (Kraus  in 
Reicke,  Kantiana  8.  7,  Anm.  11),  ist  völüg  irrig.  Man  vgl.  die  Besprechung 
von  Knutzen's  „Vernünftige  Gedanken  von  den  Kometen"  (1744)  bei  B. 
Erdmann  S.  122  f. 

5)  S.  oben  S.  8. 

6)  E.  Arnoldt,  kritische  Exkurse,  284  f. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.         -^7 

ist  für  uns  sehr  wichtig-.  Sie  lautet:')  „der  vernünftige  Geschmack 
unserer  aufgeklärten  Zeiten  ist  vermutlich  so  allgemein  geworden, 
dass  man  voraussetzen  kann,  es  werden  Wenige  gefunden  werden, 
denen  es  gleichgiltig  wäre,  diejenigen  Merkwürdigkeiten  der  Natur 
zu  kennen,  die  die  Erdkugel  auch  in  anderen  Gegenden  in  sich 
fasst,  welche  sich  ausser  ihrem  Gesichtskreise  befinden.  Es  ist 
auch  für  keinen  geringen  Vorzug  anzusehen,  dass  die  leichtgläubige 
Bewunderung,  die  Pflegerin  unendlicher  Hirngespinnste,  der  behut- 
samen Prüfung  Platz  gemacht  hat,  wodurch  wir  in  den  Stand  ge- 
setzt werden,  aus  beglaubigten  Zeugnissen  sichere  Kenntnisse  ein- 
zuziehen, ohne  in  Gefahr  zu  sein,  statt  der  Erlangung  einer  rich- 
tigen Wissenschaft  der  natürlichen  Merkwürdigkeiten  uns  in  einer 
Welt  von  Fabeln  zu  verwirren." 

„Die  Betrachtung  der  Erde  ist  vornehmlich  dreifach.  Die 
mathematische  sieht  die  Erde  als  einen  beinahe  kugelförmigen  und 
von  Geschöpfen  leeren  Weltkörper  an,  dessen  Grösse,  Figur  und 
Cirkel,  die  auf  ihm  müssen  gedacht  werden,  sie  erwägt;  die  poli- 
tische lehrt  die  Völkerschaften,  die  Gemeinschaft,  die  die  Menschen 
unter  einander  durch  die  Regierungsform,  Handlung  und  gegen- 
seitiges Interesse  haben,  die  Religion,  Gebräuche  u.  s.  w.  kennen; 
die  physische  Geographie  erwägt  bloss  die  Naturbeschaffenheit  der 
Erdkugel  und  was  auf  ihr  befindlich  ist;  die  Meere,  das  feste 
Land,  die  Gebirge,  Flüsse,  den  Luftkreis,  den  Menschen,  die  Tiere, 
Pflanzen  und  Mineralien.  Alles  dieses  aber  nicht  mit  derjenigen 
Vollständigkeit  und  philosophischcMi  Genauigkeit  in  den  Teilen, 
welche  ein  Geschäft  der  Physik  und  Naturgeschichte  ist,  sondern 
mit  der  vernünftigen  Neugierde  eines  Reisenden,  der  allent- 
halben das  Menkwürdige,  das  Sonderbare  und  Schöne  aufsucht, 
seine  gemachten  Beobachtungen  vergleicht  und  seinen  Plan  über- 
denkt." 

„Ich  glaube  bemerkt  zu  haben,  dass  die  ersten  zwei  Gat- 
tungen der  Erdbetrachtung  Hilfsmittel  genug  für  sich  finden, 
wodurch  ein  Lehrbegieriger  auf  eine  so  bequeme  als  hinreichende 
Art  fortzukommen  im  Stande  ist;  allein  eine  vollständige  und 
richtige  Einsicht  in  der  dritten  führt  mehr  Bemühung  und  Hinder- 
nisse mit  sich.  Die  Nachrichten,  die  hierzu  dienen,  sind  in  vielen 
und  grossen  Werken  zerstreut,  und  es  fehlt  noch  an  einem  Lehr- 
buche,   vermittelst    dessen    diese  Wissenschaft    zum   akademischen 


')  Hartenstein,  2,  3  f. 


28  G.  Gerland, 

Gebrauche  geschickt  g-emacht  werden  könne.  Daher  fasste  ich 
gleich  zu  Anfang  meiner  akadunüschen  Lehrstunden  den  Entschhiss, 
diese  Wissenschaft  in  besonderen  Vorlesungen  nach  Anleitung  eines 
summarischen  Entwurfes  vorzutragen.  Dieses  habe  ich  in  einem 
halbjährigen  Kollegium  zur  Geuugthuung  meiner  Zuhörer  geleistet. 
Seitdem  habe  ich  meinen  Plan  ansehnlich  erweitert.  Ich  habe  aus 
aUen  Quellen  geschöpft,  allen  Vorrat  aufgesucht  und  ausser  dem- 
jenigen, was  die  Werke  des  Varenius,  Büffon  und  Lulof  von  den 
allgemeinen  Gründen  der  physischen  Geographie  enthalten,  die 
gründlichsten  Beschreibungen  besonderer  Länder  von  geschickten 
Reisenden,  die  allgemeine  Historie  aller  Reisen,  die  Göttingsche 
Sammlung  neuer  Reisen,  das  Hamburgsche  und  Leipziger  Maga- 
zin, die  Schriften  der  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Paris  und 
Stockholm  u.  a.  m.  durchgegangen  und  aus  Allem,  was  zu  diesem 
Zweck  gehörte,  ein  System  gemacht.  Ich  gebe  hiervon  einen 
kurzen  Entwurf.  Man  wird  urteilen  können,  ob  es,  ohne  dem 
Namen  eines  Gelehrten  Abbruch  zu  thun,  erlaubt  sei,  in  diesen 
Dingen  unwissend  zu  sein." 

Die  genannten  Werke  und  Sammlungen  kann  Kant  nicht  aber 
erst  nach  seiner  ersten  Vorlesung  über  phj^sikalische  Geographie 
gelesen  haben.  Er  hat  sie  gewiss  eine  Reihe  von  Jahren  noch 
als  Student,  dann  als  Hauslehrer  benutzt  und  hierzu  stimmt  die 
Art,  wie  Kant  zu  lesen  pflegte,  ^)  sehr  gut.  Nach  Prof.  Pörschke's 
Mitteilung''*)  las  er  Reisebeschreibungen  besonders  gern.  Seinen 
Studienplan  aber  hat  er  nach  der  ersten  Vorlesung  ansehnlich  er- 
weitert: Docendo  discimus.  „Mit  der  vernünftigen  Neubegierde 
eines  Reisenden"  hat  er  über  die  ganze  Erdkugel  hin  das  Merk- 
würdige, das  Sonderbare  und  Schöne  aufgesucht  und  gesammelt, 
nicht  zu  wissenschaftlichen  Detailstudien,  sondern  vergleichend, 
nach  einem  festen  Plan  überdenkend,  alles  in  ein  System  zusam- 
menfassend. Diese  Worte  sind  sehr  merkwürdig.  Kant  sagt  sie 
ohne  besondere  Betonung,  schlicht  und  anspruchslos :  aber  in  dieser 
Schlichtheit  hat  er  vieles  Wichtigste  ausgesprochen,  sie  gehört  zu 
seiner  ganzen  Art  zu  sprechen,  zu  seinem  ganzen  Wesen.  Bei 
ihm  hat  man  auf  jedes  Wort  Acht  zu  geben.  Von  Newton  aus- 
gehend kam  er  wohl  durch  diesen  zunächst  zu  Varen,  den  er  in 
der  letzten  von  .Turin  besorgten  Ausgabe  benutzte ;  denn  die  Karte,  für 


1)  Reicke,  Kantiana  S.  16.  18. 

2)  Ebendas.  S.  16. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.         29 

die  er  sich  in  den  „neuen  Anmerkungen  zur  Theorie  der  Winde" 
auf  Varen  beruft,  ^)  findet  sich  nur  in  dieser  Ausgabe.  Varen  war 
der  erste,  welcher  auch  physisch,  geophysikahsch  die  Erde  als 
eine  wissenschaftliche  P^inheit  auffasste.  Wir  haben  von  ihm  nur 
den  ersten  Teil  der  von  ihm  geplanten  Erdkunde,  die  Geographia 
generalis,  vom  zweiten,  der  Geographia  specialis,  nur  den  Plan  2) 
einer  erschöpfenden,  vortrefflichen  Landes-  und  Bevölkerungskunde. 
Durch  beide  Forscher,  Newton  und  Varen,  musste  Kant  zu  einer 
neuen  Weltauffassung  kommen,  welche  das  Studium  kaum  Lulof's, 
wohl  aber  Büffon's  sowie  der  Reisewerke  mit  dem  unentbehrlichen 
Detail  versah.  Die  „allgemeine  Historie  der  Reisen"  ist  aus  des 
Abbe  Prevost  französischer  Übersetzung  des  englischen  Originals 
ins  Deutsche  übersetzt,  in  21  reich  illustrierten  Quartbänden,  von 
1747—1774,  die  wichtigsten  Reisen  vom  16.  Jahrhundert  an  um- 
fassend; 1757  erschien  der  15.  Band.  Die  „Göttiugsche  Sammlung 
neuer  Reisen"  ist  wohl  die  „Sammlung  neuer  und  merkwürdiger 
Reisen  zu  Wasser  und  zu  Lande",  die  in  11  (illustrierten)  Teilen 
von  1750—1755  in  Göttiugen  erschienen.  Das  „Hamburgische 
Magazin  oder  gesammelte  Schriften  zum  Unterricht  und  Ver- 
gnügen aus  der  Naturwissenschaft  und  den  angenehmen  Wissen- 
schaften überhaupt"  3)  erschien  von  1748—1763  (Hamburg  S^; 
1756  Bd.  16)  und  brachte  Mitteilungen  aus  dem  Gebiet  der  Geo- 
graphie, Kosmologie,  Zoologie,  Botanik,  Physik,  Chemie,  sodann 
philosophische  und  technischpraktische  Aufsätze;  auch  Gedichte 
fehlen  nicht.  Das  „Leipziger  Magazin"  ist  wohl  das  in  Leipzig  seit 
1753  (bis  1767)  herausgegebene  „Allgemeine  Magazin  der  Natur, 
Kunst  und  Wissenschaften"  gleichen  Inhalts.  Die  Schriften  der  Aka- 
demie zu  Stockholm  benutzte  Kant  sicher  in  der  Übersetzung  A.  G. 
Kästner's:  der  Königlich  Schwedischen  Akademie  der  Wissenschaften 
Abhandlungen,  aus  der  Naturlehre,  Haushaltungskunst  und  Mecha- 
nik,   aus    dem    Schwedischen    übersetzt;    der   erste  Band    auf  die 


1)  Hartenstein  1,  477.     Ak.  Ausg.  1,  493. 

2)  Geogr.  gener.  Kap.  1,  propos.  9. 

3)  Ein  Band  mit  dreifachem  Register  über  alle  26  Bände  erschien 
1767,  doch  lautet  hier  der  Titel  anders  als  der  oben  angeführte  aller  26 
einzelnen  Bände,  nämlich:  Hamburgisches  Magazin  oder  gesammelte 
Schriften  aus  der  Naturforschung,  der  Ökonomie  und  den  nützlichen 
Wissenschaften.  Noch  anders  giebt  ihn  Kayser  im  Bücherlexikon  Bd.  2, 
wo  er  lautet:  Hamb.  Mag.  oder  ges.  Sehr.  a.  d.  Naturforschung,  der  Vor- 
sehung und  den  gesamten  Wissenschaften. 


30  G.  Gerland, 

Jahre  1739  und  1740  erschien  1749,  1756  der  15.  und  16.  Band 
auf  die  Jahre  1753  und  1754,  der  erläuternde  Zusatz  des  Titels 
ist  von  Kästner;  die  Übersetzung  gieU  das  schwedische  Original 
vollständig  wieder,  welches  mancherlei  naturwissenschaftliche  und 
geographische  Abhandlungen  enthält,  unter  diesen  meteorologische 
Arbeiten  von  Celsius. 

Solche  Mühe  gab  sich  Kant  um  die  physische  Geographie, 
um  die  Erdwissenschaft.  Und  doch  hat  er  nur  Vorlesungen  über 
sie  gehalten,  kein  grosses  Werk,  nur  einzelne  mehr  zufällige  Ab- 
handlungen über  sie  geschrieben.  TTnd  seine  geographischen  wie 
seine  athropologischen  Vorlesungen  waren  die  besuchtesten  von 
allen,  die  er  las.  i)  Diese  Wissenschaft  war  ihm  für  ihn  selbst, 
er  hielt  sie  für  Andere  unentbehrlich.  Sie  war  ihm  nicht  bloss 
das  Feld  seiner  Erholung,  seiner  wissenschaftlichen  Phantasie, 
aus  welchem  er  ja  gern  Vergleichungeu,  Anspielungen  entnahm: 
er  brauchte  sie  zu  viel  grösserem,  er  konnte  sie  nicht  entbehren, 
da  er  die  Welt  und  unser  Verhältnis  zur  Welt  erkennen  wollte. 
Er  war  von  der  äusseren  Grösse  der  Welt  der  Erscheinung  und 
von  der  inneren  Grösse  der  Weltorduung  so  ergriffen,  dass  er 
diesen  Eindruck  in  seiner  Ganzheit  und  zugleich  in  seiner  Fülle 
bewältigen  musste:  bewältigen  musste  aber  auch  nach  der  ihm 
eigenen  ganzen  Kraft,  also  nicht  bloss  in  der  äusseren  Form, 
sondern  im  innersten  Wesen  der  Erscheinung.  Hier  kommt  eben 
Kant  als  Kant  zur  Geltung.  Es  ist  wichtig,  hier  einen  Augenblick 
stehen  zu  bleiben. 

Was  heisst  einen  Eindruck  bewältigen?  Jeder  Eindruck  be- 
ruht auf  einem  Reiz,  einer  Aktion  von  aussen;  er  bringt  stets 
eine  psychophysische  Reaktion  hervor,  die  in  einer  inneren  Thätig- 
keit  und  zugleich  in  einer  Kraftwirkuug  nach  aussen  besteht;  es 
giebt  keinen  Reiz,  der  nicht  zugleich  auch  eine  solche  Aussen- 
wirkung hervorriefe,  eine  Projektion;  der  Projektionszwang  ist 
eine  der  tiefstwurzelnden,  bedeutungsvollsten  Thatsachen  in  der 
gesamten  Entwickelungsgeschichte  der  Organismen.  Die  Bewäl- 
tigung eines  jeden  Reizes  oder  Eindrucks  geschieht  durch  die  psycho- 
physische Umsetzung  desselben  in  eine  mehr  weniger  feste  gedächtnis- 
starke  Vorstellung  der  inneren  unbewussten  Aktion,  und  zugleich 
einer  mehr  weniger  bewussten  Aktion,  Wirkung  nach  aussen,  der 
Projektion.    Diese  kann  sehr  verschieden  sein:   sie  kann  bestehen 


1)  K.  Fischer  1,  66. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.         31 

in  der  Hiiiausverleg'ung'  der  durch  die  Empfindungen  bewirkten 
(einfachen  oder  komplizierten)  Vorstellung;  in  Tönung,  in  Hand- 
lung (Schlag  gegen  Schlag),  in  Wiedervergeltung,  Rache,  die  nur 
eine  lang  zurückgehaltene  Projektion  summierter  Empfindungs- 
reize ist.  Zunächst  werden  Eiuzelreize  empfunden;  die  Reaktion 
gegen  Einzelempfiudungen  besteht  in  der  Tönung  —  Weinen, 
Jauchzen,  Singen,  Schreien  u.  s.  w.  Summieren  sich  die  Einzel- 
reize zu  Vorstellungen  von  Einzeldingen,  so  bringen  auch  diese 
Vorstellungen  Lautungen  hervor,  wie  die  Sprechversuche  der  heran- 
wachsenden Säuglinge  beweisen.  Nun  lebt  der  Mensch  nicht 
allein,  er  ist  ein  soziales  Wesen;  es  ist  leicht  nachzuweisen,  dass 
es  auch,  unter  anfangs  möglichst  gleich  empfindenden  und  gleich 
reagierenden  Wesen,  durch  die  Summation  der  Individuen  eine 
soziale  Projektion  der  summierten  Einzelvorstellungen  geben 
muss.  Das  Hauptmittel  der  sozialen  Projektion  dieser  letzteren 
ist  der  geregelte  Ton,  die  Sprache.  So  hat  die  Menschheit 
sich  die  Gesamtwelt  mit  allen  ihren  Verhältnissen  projizierend 
umgeschaffen  in  ein  System  von  luftigen  Klängen,  die  Sprache, 
durch  24  Mundstellungen  alles  Vorhandene  von  Dingen  und  Be- 
ziehungen wiedergebend;  die  wunderbarste  Leistung,  die  ich 
kenne. 

Handelt  es  sich  hier  um  eine  Summe  von  Einzelvor- 
stellungen, die  erst  nach  und  nach  zu  einem  System  sich 
zusammenschliessen,  so  gilt  es  doch  auch  Totalauffassungen 
des  gesaraten  Weltbildes,  die  freilich  jünger  sind.  Jeder 
Mensch  bewältigt  psychisch  die  Welt  nach  seiner  Art  durch 
eine  mehr  oder  minder  scharfe  Zusammenfassung  alles  von 
ihm  Empfundenen;  natürlich  nur  in  einer  ihm  allein  ange- 
hörigeu  Partialauffassung.  Aber  er  lebt  ja  nicht  allein;  er 
lebt  mit  anderen  zusammen  in  einer  Sozietät  mit  gleicher 
Umgebung,  gleichen  Eindrücken,  im  beständigen  Empfindungs- 
austausch: so  bildet  sich  aus  der  Summe  der  an  sich  schon 
sehr  gleichmässigen  Partialauffassungen  mit  Ausmerzung  aller 
individuellen  Abweichungen  eine  soziale  Totalauffassung  der  Welt. 
Diese  der  Sozietät  angehörige  Totalauffassung  wird  dadurch, 
dass  sie  jeder  bei  jedem  vorfindet,  dass  auch  sie  von  Allen  gleich- 
massig  projiziert  wird,  eine  auch  für  den  Einzelnen  um  so  grössere 
Macht,  mit  um  so  festerer  Vererblichkeit,  je  einfacher  die  Vor- 
stellungen, je  unentwickelter  die  Vorstellenden  sind.  In  Folge 
dieser    Festigkeit    und    Vererblichkeitskraft    leben,     uns    selber 


32  G.  Gerland, 

imbewusst,    die    Urvorstellimgeu    der    Naturvölker    noch    in    uns 
weiter. 

Diese  Totalauffassungeu  der  Welt  sind  nun,  in  der  Sozietät 
und  im  Individuum,  von  doppelter  Art.  Entweder  das  Aufge- 
fasste  ist  die  Hauptsache,  völlig-  die  Auffassenden  (Individuum 
oder  Summe  von  Individuen)  überwältig:end,  ja  knechtend.  Die 
Gesamterscheinung-  wird,  unwillkürlich  durch  die  Empfindung  auf- 
genommen, zur  Gemütsmacht,  sie  beherrscht  ganz  das  Gemüt  in 
der  Form,  welche  die  unbewussten,  durch  das  Milieu  gegebenen 
Gemütsbedüiiuisse  diesen  übermächtigen  P^indrücken  geben.  Der 
Weg  ist  hier  von  aussen  nach  innen;  die  Welt  Avird  durch  diese 
Auffassung  harmonisiert,  d.  h.  als  Ganzes  aufgefasst  und  zugleich 
diesen  Gemütsbedürfnisseu  angepasst,  ja  untergeordnet.  Aber  auch 
bei  dieser  von  aussen,  vom  äusseren  Schein  nach  innen,  in  das 
Gemütslebeu  dringenden  Auffassung  tritt,  je  nach  dem  Entwicke- 
lungszustand  der  Aufnehmenden,  ein  Doppeltes  ein:  zunächst  das 
völlige  Überwältigt-werden  durch  die  Naturübermacht,  die  ohne  Beach- 
tung und  Souderung  der  Einzelerscheinungen  als  ungeheures  völlig 
übermächtiges  Ganzes  auf  Empfindung  und  Gemüt  wirkt.  Hierdurch 
entsteht  ein  religiöses  Harmonisieren,  eine  religiöse  Weltauffassuug, 
mit  völliger  Unterordnung  des  Aufnehmenden  (Sozietät  wielndividuum) 
in  Folge  der  Weltfurcht.  Die  Projektionsform  dieser  Totalauffas- 
sung ist  der  anthropomorphische,  die  Welt  durchdringende,  im 
Himmel  lokalisierte  Gottesbegriff.  Sodann  aber,  bei  weiter  fort- 
geschrittener Entwickelung,  bei  welcher  neben  dem  Weltganzen 
die  Einzeldinge  in  ihrer  Fülle  und  Uneutbehrlichkeit  aufgefasst 
werden,  aber  immer  abhängig  von  jener  anthropomorphisch-reli- 
giösen  Auffassung,  erfolgt  die  Harmonisierung  dieser  Welt,  der 
Fülle  der  nützlichen  und  schädlichen  Kräfte,  auf  ästhetischem  Weg 
in  Folge  der  Weltfreude,  die  künstlerische  Weltauffassung;  beide 
Auffassungen  in  völliger  Naivität  die  Welt  abschliessend  als  ob- 
jektive Einheit.  In  beiden  nimmt  der  Mensch  die  Welt  passiv 
auf,  unselbständig;  er  empfindet  sie  nur  und  seine  Eeaktion  ist 
sein  Weltbegriff  und  dessen  Projektion. 

Völlig  verschieden  ist  die  zweite  Totalauffassung  der  Welt 
in  späteren,  entwickelteren  Zeiten,  in  denen  die  Vorstellungen  der 
Einzeldinge  über  die  Gesamtvorstellung  wohl  eher  vorherrschen, 
letztere  wenigstens  erst  aus  jenen  resultiert.  Diese  Weltauffassung 
nimmt  den  umgekehrten  Weg  von  innen  nach  aussen,  ausgehend 
von  den  Bedürfnissen  des  menschlichen  Verstandes  und  vermittelst 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten,         33 

dieser  „Spontaneität  der  Erkenntnis"')  die  „Gesetze  der  Natur 
und  mithin  die  formale  Natur'"'')  darstellend.  Sie  ist  die  begriff- 
lich erklärende,  die  Erscheinungsform  den  menschlichen  Ver-' 
staudesbegriffen  und  Verstandesbedürfuisseu  unterordnend,  das 
Weltganze  aber  dem  Menschen  überordnend,  da  es  nicht 
mehr  durch  einen  Gefühlsakt  harmonisch  zu  bewältigen  ist. 
Sie  ist  reproduzierend  und  zugleich  grundlegend  für  die  all- 
gemeine Weiterentwickelung  des  Menschengeschlechts.  Sie  ent- 
wickelt sich  sehr  laugsam  und  allmählich,  giebt  auch  nie  das  in 
jener  ersten  sozialen  Totalauffassung  Errungene  ganz  auf,  die  sie 
auch  nie  in  allgemeiner  Gleichheit  und  gleicher  Allgemeinheit  er- 
reicht. Sie  ist  die  Gesamtauffassung  des  Denkers,  des  Philo- 
sophen, die  Auffassung,  welche  Kant  immer  mehr  in  sich  ausge- 
bildet hat.  Dass  es  daneben  noch  eine  dritte  Gesamtauffassung 
der  Welt  giebt,  die  beides  im  höchsten  Sinne  vereinigt,  sei  nur 
kurz  erwähnt.  Das  ist  die  dichterische,  die  ideale  Weltauffassung 
der  Vernunft,  wie  sie  bei  Schiller,  Goethe,  Shakespeare  herrscht. 
Auch  Kant  streift  an  sie,  obwohl  ihm  freilich  die  innere,  die  lo- 
gisch-begriffliche, die  Hauptauffassuug  bleibt.  Aber  ein  genialer 
Mensch  ist  nicht  einseitig;  so  hat  auch  Kant  die  künstlerische 
Auffassung  der  Welt,  sie  zeigt  sich  bei  ihm  in  der  Freude  an  den 
Dingen  und  den  Formen  der  Welt,  in  seinen  geographischen 
Studien.  Der  intellektuellen  Auffassung  dagegen  angehört  die 
Kritik  der  reinen  Vernunft,  der  dichterischen  vieles  in  der  Kritik 
der  Urteilskraft. 

Gerade  bei  der  Bewusstseinsenge  muss  jede  Gesamtauffassung 
der  Weltmasse  besonders  drückend  empfunden  werden.  Die  Welt- 
auffassung von  aussen  nach  innen  konnte  von  innen  nach  aussen 
leicht  projiziert  werden:  ihr  Gesamteiudruck  ging  über  in  den 
Gottesbegriff,  der  seinen  Sitz  fand  in  dem  stets  leuchtenden  un- 
endlich ausgedehnten  Himmel.  Anders  aber  die  Weltauffassung 
von  innen  nach  aussen,  die  auf  den  heterogenen  Projektionsmassen 
gleich  stark  entwickelter  Nervenfasern  beruht,  die  Weltauffassung 
des  Denkers,  des  Philosophen. 

Zunächst  kann  sie,  auf  ganz  andere  Weise  zu  Stande  kommend 
als  jene  erste  naive,  auch  das  Endergebnis  dieser  letzteren,  jenen  alles 


1)  Kant,  Krit.  d.  r.  Vernunft  1781,  Ak.  Ausg.  Bd.  4.  S.  50.  Die  an- 
gegebenen Seitenzahlen  sind  die  der  Originalausgabe,  welche  in  der 
Akademie-Ausgabe  als  Randzahlen  beigegeben  sind. 

2)  Ebenda  S.  127. 

Kantstudien    X,  3 


84  Ö.  Grerland, 

beherrschenden  Gottesbeo^riff,  nicht  annehmen,  Kant  lehnte  ihn  ab. 
Diese  Weltauffassung  nach  Verstandsbeg-riffen  kann  sich  überhaupt 
nur  stufenweis  vollziehen.  Niclit  die  bunte  Summe  der  Einzel- 
dinge, wohl  aber  die  Summe  aller  Beziehungen  lässt  sich  in  eine 
Vorstellung  zusammenfassen.  Das  hatte  schon  Newton  gethan, 
wenn  auch  nicht  in  letzter  Vollendung.  Was  ist  die  Welt?  er  ant- 
wortet: ein  gewaltiger  Mechanismus.  Diese  Antwort  nahm  Kant  auf. 
Aber  er  fragte  weiter :  was  ist  dieser  Weltmechanismus?  eine  unge- 
heure P^inheit,  antwortete  Wright  und  diese  neue  Hypothese  vom 
Weltall,  die  wir  gleich  kennen  lernen  wollen,  traf  Kant  wie  ein 
zündender  Blitz.  Jetzt  konnte  er  dem  von  Newton  gefassten  Be- 
griff die  noch  fehlende  Vollendung  geben.  Wie  ist  die  Welt  ge- 
worden? mechanisch  aus  den  in  ihr  zusammengehäuften  materiellen 
Elementen.  Was  wissen  wir  von  ihr?  gar  nichts,  was  über  das 
menschlich-Subjektive,  d.h.  also  das  Generell-objektive  hinausginge; 
und  so  bildete  die  Naturgeschichte  des  Himmels  und  die  physi- 
kalische Erdbetrachtung,  zunächst  ganz  unbewusst,  die  natürliche 
Vorstufe  zur  Kritik  der  reinen  Vernunft,  so  dass  sich  letztere 
auf  das  engste  mit  seinen  geographischen  Studien  verbindet.  Sie 
sind  das  Aussengewand  der  ersten  Phase  seiner  philosophischen 
Entwickelung. 

TTnd  dafür  spricht  noch  eins.  Kant  war  sich  über  den  Gang 
durch  die  Welt,  den  er  vor  hatte,  schon  beim  Anfang  desselben 
sehr  klar.  In  seiner  ersten  Schrift,  die  er  1746,  22  Jahre  alt, 
vollendete,  in  den  „Gedanken  von  der  wahren  Schätzung  der 
lebendigen  Kräfte  und  Beurteilung  der  Beweise,  deren  sich  Herr 
V.  Leibnitz  und  andere  Mechaniker  in  dieser  Streitsache  bedient 
haben,  nebst  einigen  vorhergehenden  Betrachtungen,  welche  die 
Kraft  der  Körper  überhaupt  treffen",  sagt  er  die  berühmten 
Worte:')  „ich  stehe  in  der  Einbildung,  es  sei  zuweilen  nicht  un- 
nütz, ein  gewisses  edles  Vertrauen  in  seine  eigenen  Kräfte  zu 
setzen.  Eine  Zuversicht  von  der  Art  belebt  alle  unsere  Be- 
mühungen und  erteilet  ihnen  einen  gewissen  Schwung,  welcher 
der  Untersuchung  der  Wahrheit  sehr  beförderlich  ist. 
Wenn  man  in  der  Verfassung  steht,  sich  überreden  zu  können, 
dass  man  seiner  Beobachtung  noch  etwas  zutrauen  dürfe,  und 
dass    es    möglich    sei,   einen  Herrn  v.  Leibnitz  auf  Fehlern  zu  er- 


1)  Hartenstein    1,1  —  176;    Vorrede  VII.     Ak.-Ausg.  I,  1—181.     Sper- 
rungen im  Citat  niclit  von  Kant. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.         35 

tappen,  so  wendet  man  alles  an,  seine  Vermutung-  wahr  zu 
machen.  Nachdem  man  sich  nun  tausendmal  bei  einem 
Unterfangen  verirrt  hat,  so  wird  der  Gewinnst,  der 
hierdurch  der  Erkenntnis  der  Wahrheit  zugewachsen 
ist,  dennoch  viel  erheblicher  sein,  als  wenn  man  nur  die 
Heerstrasse  gehalten  hätte. 

Hierauf  gründe  ich  mich.  Ich  habe  mir  die  Bahn 
schon  vorgezeichnet,  die  ich  halten  will.  Ich  werde 
meinen  Lauf  antreten,  und  nichts  soll  mich  hindern, 
ihn  fortzusetzen".  Mau  kann  uumög-lich  diese  merkwürdigen 
Worte  auf  sein  Verhalten  gegen  Leibniz  beziehen,  auch  nicht  auf 
seine  „Naturgeschichte  des  Himmels",  deren  Plan  ihm  erst  durch 
Wright's  Schrift  1750  aufging.  Um  so  merkwürdiger  sind  sie. 
Er  will  nicht  die  Heerstrasse  halten.  Er  will  dadurch  die  Wahr- 
heit fördern.  Sein  Entschluss  bewegt  ihn  selbst  sehr,  erscheint 
ihm  selbst  sehr  wichtig,  es  ist  ein  schwerer,  kühner  Entschluss, 
der  ihn  auf  neue  unbetretene  Bahnen  führt:  die  Worte  sind  so 
wuchtig,  dass  sie  nur  auf  den  ganz  neuen  Lebensplan  der  Natur- 
studien, der  Weltbetrachtung  und  Welterschliessung,  die  er  plante, 
deuten  können.  Wenn  er  auch  den  ganzen  Weg  erst  später  er- 
kannte: der  Plan  der  Abweisung  jener  falschen,  nur  von  aussen 
kommenden  älteren  Weltauffassung,  der  geistigen  Bewältigung  des 
Weltganzen,  wie  Leibniz,  Newton,  Varen  dasselbe  darlegten,  von 
dem  er  einzelne  Etappen  (z.  B.  die  mechanische  Weltauffassung) 
klar  vor  sich  sah,  bewegte  ihn,  durchdrang  ihn  ganz;  ihm  galten 
diese  Worte. 

Die  Ausführung  dieses  Planes  wird  durch  die  Reihenfolge 
seiner  Veröffentlichungen  dargelegt,  die  trotz  mancher  äusseren 
Einwirkungen  keine  bloss  zufällige  ist. 


Vierte  Vorlesung. 
Kani's  ersie  naturwissenschaftliche  Arbeiten. 

Gleich  das  Erstlingswerk  Kant's,  seine  „Gedanken  von  der 
wahren  Schätzung  der  lebendigen  Kräfte",  ist  für  uns  von  Be- 
deutung, da  es  uns  ja  die  ersten  wohlüberlegten  Schritte  jener 
langen  Bahn  zeigt,  welche  Kant  zu  gehen  entschlossen  war.  Er 
will  Wesen  und  Entstehung  der  Bewegungen  in  der  Natur  kennen 
lernen,  und  findet  zwei  Arten:  erstlich  diejenige,  welche  sich, 
einmal    mitgeteilt,    selbst    erhält   ins  Unendliche,    im  leeren  Raum 


36  G.  Gerland, 

in  Ewigkeit,  die  Bewegung,  von  der  Kant  eigentlich  reden  will, 
die  freie  Bewegung,  angeregt  durch  die  lebendigen  Kräfte;  und 
zweitens  die  unfreie  Bewegung,  durch  tote  Kräfte  mitgeteilt  und 
mit  ihnen  aufhörend.  -)  Letztere  entsprechen  der  mathematischen 
Auffassung  des  Cartesius,  erstere  der  dynamischen  (physikalischen) 
des  Leibniz.  Allein  nicht  bloss  die  letztere,  auch  die  erstere,  die 
lebendige  Kraft,  wird  von  Leibniz  als  eine  unselbständige  aufge- 
fasst.  „Es  ist  nämlich  zu  einer  Grundlehre  in  der  Naturlehre  ge- 
worden, dass  keine  Bewegung  der  Natur  entstehe,  als  vermittelst 
einer  Materie,  die  auch  in  wirklicher  Bewegung  ist ;  und  dass  also 
die  Bewegung,  die  in  einem  Teile  der  Welt  verloren  gegangen, 
durch  nichts  anderes,  als  entweder  durch  eine  andere  wirkliche 
Bewegung,  oder  die  unmittelbare  Hand  Gottes  könne  hergestellt 
werden."  2)  Die  Anhänger  dieser  Ansicht  „müssen  eine  Hypothese 
auf  die  andere  bauen",  .  .  .  „anstatt  dass  sie  uns  endlich  zu  einem 
solchen  Plan  des  Weltgebäudes  führen  sollten,  der  einfach  und 
begreiflich  genug  ist,  um  die  zusammengesetzten  Erscheinungen 
der  Natur  daraus  herzuleiten".^) 

So  ist  aber,  behauptet  Kant,  die  Entstehung  und  Ordnung 
eines  Weltgebäudes  nicht  möglich.  „Es  kommt  alles  darauf  an, 
fährt  er  fort,^)  dass  ein  Körper  eine  Bewegung  ei-halten  könne 
auch  durch  die  Wirkung  einer  Materie,  welche  in  Ruhe  ist.  Hier- 
auf gründe  ich  mich.  Die  allerersten  Bewegungen  in  diesem 
Weltgebäude  sind  nicht  durch  die  Kraft  einer  bewegten  Materie 
hervorgebracht  worden;  denn  sonst  würden  sie  nicht  die  ersten 
sein.  Sie  sind  aber  auch  nicht  durch  unmittelbare  Gewalt  Gottes, 
oder  irgend  einer  Intelligenz  verursacht  worden,  so  lange  es  noch 
möglich  ist,  dass  sie  durch  Wirkung  einer  Materie,  welche  im 
Ruhestande  ist,  haben  entstehen  können;  denn  Gott  erspart  sich 
so  viele  Wirkungen,  als  er  ohne  den  Nachteil  der  Weltmaschine 
thun  kann,  hingegen  macht  er  die  Natur  so  thätig  und  wirksam, 
als  es  nur  möglich  ist.  Ist  nun  die  Bewegung  durch  die  Kraft 
einer  an  sich  toten  und  unbewegten  Materie  in  die  Welt  zu  aller- 
erst hineingebracht  worden,  so  wird  sie  sich  auch  durch  dieselbe 
erhalten  und,  wo  sie  eingebüsset  hat,  wieder  herstellen  können." 
Unter  der  Kraft  der  an  sich  toten  Materie  ist  nur  die  Anziehungs- 

1)  Gedanken  etc.  §  17.  §  15.    Hartenstein  1,  26  f. 

2)  Gedanken  §  51.    Hartenstein  1,  57. 

3)  Hartenstein  58. 

4)  Hartenstein  1,  59  f.    Gedanken  §  51. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.         37 

kraft  Newton's  g-emeint;  und  hieraus  ergiebt  sich  uns  die  Bedeu- 
tung- und  Wichtig-keit  dieser  Vorstudie,  ferner  aus  der  Art,  wie 
die  Thätig-keit  Gottes  in  derselben  besprochen  wird,  sowie  endlich 
aus  dem  Bestreben,  die  Entstehung  und  Ordnung-  des  Weltgebäudes 
einfach  und  begreiflich  zu  erklären. 

Die  Abhandlung  ist  aber  auch  deshalb  wichtig,  weil  sie  den 
jungen  Kant  ganz  auf  dem  Standpunkt  der  Leibnizischen  Kraft- 
lehre zeigt,  indem  auch  er  die  natürlichen  Körper  mit  selbstän- 
diger Kraft  begabt,  als  Kraftcentren  auffasst  und  ihm  eine  Ant- 
wort auf  die  dunkle  Frage:  wie  kann  die  Seele  auf  die  Materie 
und  umgekehrt  diese  auf  jene  wirken,  von  hier  aus  möglich 
scheint.')  Die  Frage  nach  dem  Verhältnis  von  Mensch  und  Welt 
bewegt  ihn  also  auch  hier;  sie  ist  es,  welche  ihn  an  dem  Streit 
der  Philosophen  sich  beteiligen  lässt.  Welche  Kräfte  gelten  in 
der  Welt  und  wie  gelten  sie?  Die  Körper  der  Natur  bringen, 
einmal  angeregt,  die  anregende  Kraft  stets  von  neuem  und  ver- 
grössert  hervor,  sie  haben  eigene  Realität:  nicht  so  die  bloss 
gedachten  Körper,  die  mathematischen. 2)  Den  Begriff  der  leben- 
digen Kräfte  will  er  nach  ihrer  Wirklichkeit,  wie  sie  sich  in 
der  Natur  vorfinden,  auffassen  und  abschätzen  lernen;  er  will  in 
ihnen  die  Welt  und  die  Natur  ihrer  Kräfte  erkennen.  Der  eigen- 
tümliche Gedanke  der  Vivifikation  toter  Kräfte,  3)  die  Möglichkeit 
ihres  Übergangs  in  lebende  Kräfte,  würde  allerdings,  wenn  Kant 
ihn  mechanisch  genommen  hätte,  so  absurd  und  ungeheuerlich  sein, 
wie  Dühring  behauptet;^)  allein  Kant  geht  ohne  Zweifel  von  der 
Definition  beider  Kräfte  als  soUicitatio  (vis  mortua,  vis  elemen- 
taris)  und  als  impetus  (vis  viva,  ordinaria)  aus,  welche  Leibniz 
giebt;5)  und  diese  Auffassung,  wie  sie  Kant  z.  B.  in  §  124  dar- 
legt, kann  sehr  wohl  auf  das  Seelenleben  angewendet  werden. 
Im  §  124  heisst  es  unter  2),  „dass  der  Körper  diese  Kraft  nicht 
von  der  äusserlichen  Ursache  her  habe,  die  ihn  in  Bewegung  ge- 
setzt, sondern  dass  sie  nach  der  äusserlichen  Anreizung"  (soUici- 
tatio!) „aus  der  inneren  Naturkraft  des  Körpers  selbst  entspringe". 
Und  wenn  wir  §  124  unter  1  lesen,  dass  der  sich  frei  bewegende 
Körper  den  Grund  in  sich  enthalten  muss,   „in  einem  nicht  wider- 


1)  Gedanken  §  5.  §  115. 

2)  Ebendas. 

3)  Ebendas.  §  123. 

*)  Geschichte  der  Prinzipien  der  Mechanik  S.  389. 
5)  Vgl.  Lasswitz,  Ak.  Ausg.  1,  523. 


38  G.  Gerland, 

steheuden  Raum  seine  Bewegung  gleichförmig,  frei  und  immer- 
während zu  erhalten",  so  ist  damit  ein  wichtiger  Satz  für  die 
Erkenntnis  der  Bewegungen  im  Weltall  gewonnen. 

Andere  Vorstudien  Kaufs  über  Wesen  und  Verhalten  der 
Materie  seien  hier,  trotz  ihres  grossen  Interesses,  nur  genannt: 
die  Meditationen  über  die  Natur  des  Feuers  (1755),  die  Habili- 
tationsschrift: neue  Darlegung  der  Grundprinzipien  der  metaphy- 
sischen Erkenntnis  (1755),  die  physische  Monadologie  (Metaphysi- 
cae  cum  geometria  junctae  usus  in  philosophia  naturali  1756), 
welche  mit  der  Erstliugsarbeit  Kaut's  und  ebenso  mit  der  Natur- 
geschichte des  Himmels  in  nahem  Zusammenhang  steht,  sowie 
endlich  der  „neue  Lehrbegriff  der  Bewegung  und  Ruhe  und  der 
damit  verknüpften  Folgerungen  in  den  ersten  Gründen  der  Natur- 
wissenschaft", i)  mit  welcher  Kant  seine  Vorlesungen  für  den 
Sommer  1758  ankündigte.  Ich  verweise  für  sie,  abgesehen  von 
den  Ausgaben,  auf  Kuno  Fischer  und  namentlich  auf  die  scharf- 
sinnige Darlegung  ihres  Inhalts  durch  Windelband.  2)  Schon  da- 
mals fasste  Kant  den  Raum  nicht  wie  Newton  als  etwas  Absolutes, 
sondern,  wie  Leibniz,  als  etwas  Relatives  auf.  ^) 

Dagegen  sind  einige  direkt  geographische  Abhandlungen  et- 
was ausführlicher  zu  besprechen.  Zunächst  die  „Untersuchung 
der  Frage,  ob  die  Erde  in  ihrer  Umdrehung  um  die  Achse,  wo- 
durch sie  die  Abwechselung  des  Tages  und  der  Nacht  hervorbringt, 
einige  Veränderungen  seit  den  ersten  Zeiten  ihres  Ursprungs  er- 
litten habe,  und  woraus  mau  sich  ihrer  versichern  könne?  welche 
von  der  Königl.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Preise  für  das 
jetzt  laufende  Jahr  aufgegeben  worden"  (1754).  Kant  hat  seine 
Abhandlung,  die  in  den  „Königsberger  Frage-  und  Anzeigungs- 
nachrichten" erschien,  nicht  zur  Preisbewerbung  eingesandt,  weil 
er  „nur  die  physikalische  Seite  des  Vorwurfs"  erwogen  und  ein- 
gesehen habe,  dass  derselbe  „seiner  Natur  nach  auf  dieser  Seite 
unfähig"  sei,  zu  demjenigen  Grad  der  Vollkommenheit  gebracht 
zu  werden,  welche  eine  Arbeit,  um  den  Preis  zu  erringen, 
haben  muss.^)  Und  hierin  ist  Kant  nur  beizustimmen.  So  richtig 
und  beachtenswert  der  Gedanke  war,  den  er  zuerst  aussprach, 
dass    „die    beständige  Bewegung    des  Oceans    von   Morgen    gegen 


1)  Hartenstein  2,  15  f. 

2)  Geschichte  der  neueren  Philosophie  2,  18  f. 

3)  Ebend.  19.    K.  Fischer  1,  141  f. 
*)  Hartenstein  1,  181. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.         39 

Abend  der  Achsendrehimg-  der  Erde  entg-egeugesetzt"  in  Folge 
des  Anschlageus  au  die  Ostküsten,  in  Folge  der  Reibimg  am 
Meeresgründe  eine  verzögernde  Wirknng  auf  die  Umdrehung  der 
Erde  ausüben  müsse,  welche  fortwährend  weitergehend  endlich  die 
Erde  zum  Stillstand  bringen  werde:  so  wenig  genügt  doch  seine 
x\usführung.  Die  ungefähre  Berechnung  der  Wasserkraft  ist  nicht 
sehr  überzeugend,  die  eigentlich  mathematische  Behandlung  ist  bei 
Seite  gelassen ;  das  ganze  ist  mehr  für  ein  allgemeines,  denkendes 
Publikum  ausgesprochen,  als  für  den  Kreis  der  Gelehrten,  der 
Forscher.  So  ist  die  wenig  umfangreiche  Arbeit,  die  noch 
dazu  in  einem  unbekannten  Lokalblatt  erschien,  von  der  da- 
maligen Wissenschaft  begreiflicher  Weise  nicht  beachtet  worden, 
auch  nicht  ihr  Schluss,  die  schöne  Darlegung  der  Entstehung  und 
allmählichen  Verlangsanuing  des  Mondes  bis  zu  der  Art  seines 
heutigen  Umlaufs ;  die  Berliner  Akademie  hat  die  Beantwortung 
der  Preisfrage  durch  den  Pisaner  Professor,  den  Abbe  Paul  Frisi, 
welcher  Veränderungen  in  der  Umdrehungszeit  verneinte,  1756 
mit  dem  Preis  gekrönt.  Frisi  reichte  eine  im  gleichen  Sinn  ge- 
schriebene Arbeit  bei  einer  Preisbewerbung  in  Petersburg  1783 
ein,  ebenso  der  Leidener  Professor  Joh.  Friedr.  Hennert,  dessen 
Arbeit  die  des  Frisi  bei  weitem  übertrifft.  Beide  erhielten  den 
Preis,  aber  keiner  erwähnt  Kant,  offenbar,  weil  sie  seine  Arbeit 
nicht  kannten.  Erst  die  spätere  Kantforschung  hat  sie  wieder  in 
das  Leben  gerufen.  Und  doch  enthielt  sie  Gedanken,  wie  sie  nur 
eine  geniale  Anschauung  zu  geben  vermag;  Gedanken  aber, 
mit  denen  sich  ihr  Urheber  einmal  eingehend  beschäftigt,  dann 
aber,  als  er  von  ihnen  überzeugt  war,  sich  ein  für  allemal  mit 
ihnen  abgefunden  hatte,  ohne  sie  wissenschaftlich  streng  zu  be- 
weisen. Schon  bei  Varen  wird  eine  westöstliche  Bewegung  der 
Oceanischeu  Gewässer  erwähnt»)  und  zu  ihrer  Erklärung  die 
Winde  oder  die  Gezeiten  herbeigezogen.  Büffon^)  spricht  be- 
sonders lebhaft  von  diesem  ostwestlichen  Strom  und  seiner  mäch- 
tigen Wirkung  an  den  Westküsten  der  Meere ;  er  schreibt  ihn 
ganz  auf  Rechnung  der  Gezeiten.  Kant  studierte  Büffon  eifrig; 
die  Lektüre  der  betreffenden  Kapitel  und  die  Frage  der  Aka- 
demie mussten  in  ihm  jene  Auffassung  und  Antwort  auslösen, 
die   er    mehr    sich    als  Anderen    gab.     Später   in    einer  Notiz  aus 


1)  Geogr.  natur.  XIV,  VII. 

2)  Histoire  natur.  I,  Art.  XU. 


40  G.  Gerland, 

dem  Nachlass,  die  Schubert ')  der  Handschrift  nach  zwischen 
1780—1790  niedergeschrieben  glaubt,  nahm  Kant  an,  dass  die 
Erde  durch  Verdichtung,  sei  es  in  Folge  des  Aneinanderrückens 
ihrer  Teile,  sei  es  durch  centrales  Absinken  schwererer  Massen, 
im  Durchmesser  etwas  abnehme.  Ich  kann  darin  keinen  Wider- 
spruch gegen  die  Annahme  der  Verlangsamung  durch  die  Gezeiten- 
reibung sehen,  wie  Schöne  2)  ihn  behauptet,  denn  beides  verträgt 
sich  recht  wohl  mit  einander.  Auch  glaube  ich  nicht,  dass  Kant 
früher  ein  „überzeugter  Neptunist"  war  und  später  ein  Plutonist 
geworden  sei.  Solche  Stellungnahmen  lagen  dem  Philosophen 
Kant,  der  in  der  Geographie  keineswegs  selbständig  war,  sehr 
fern.  Die  Annahme  einer  Beschleunigung  der  Achsendrehung  ging 
(nach  Kant,  Hart.  8,  439)  von  Euler  aus;  ihre  Erklärung  durch 
Verdichtung,  also  durch  Zusammenziehung  der  Erde,  gehört  wohl 
Kant  an. 

Dies  bew^eist  die  zweite,  ebenfalls  1754  in  einigen  spä- 
teren Nummern  der  Königsberger  Frag-  und  Anzeigenachrichten 
erschienene  Abhandlung,  „die  Frage,  ob  die  Erde  veralte,  physi- 
kalisch erwogen",  die  zwar  kein  so  bedeutendes  Resultat  bringt, 
wie  die  erste,  aber  zur  Charakteristik  der  Kantischen  Forschung 
besonders  wichtig  ist.  Die  Erde,  heisst  es,  3)  war,  als  sie  sich 
aus  dem  Chaos  erhob,  unfehlbar  in  flüssigem  Zustande,  mit  all- 
mählicher sich  härtender  Oberfläche;  unter  ihr  schuf  das  „unter- 
mengte" „elastische  Luftelement"  des  Innern  „weite  Höhlen", 
deren  Einsturz  das  feste  Land,  die  Gebirge,  den  Meeresgrund 
hervorbrachten.  Zum  Schluss  sagt  Kant; 4)  „in  dem  Inw^endigen 
der  Erde  scheint  selber  das  Reich  des  Vulcans  und  ein  grosser 
Vorrat  entzündeter  und  feuriger  Materie  verborgen  zu  sein,  welche 
unter  der  obersten  Rinde  vielleicht  immer  mehr  und  mehr  über- 
hand nimmt,  die  Feuerschätze  häuft,  und  an  der  Gruudfcste  der 
obersten  Gewölbe  nagt,  deren  etwa  verhängter  Einsturz  das 
flammende  Element  über  die  Oberfläche  führen  und  ihren  Unter- 
gang im  Feuer  verursachen  könnte". 

Hervorzuheben  sind  die  Worte,  mit  welchem  die  Abhandlung 
nach  kurzer  Einleitung  beginnt  i'^)    „wir  haben  keine  Merkmale  in 


1)  Rosenkr.  und  Schubert  6,  782  f.     Hartenst.  8,  436  f. 

2)  Dr.  G.  H.  Schöne,  die  SteUung  I.  Kant's  innerhalb  der  geograph. 
Wissenschaft.     Altpreuss.  Monatsschr.  33  (1897)  S.  262  f. 

3)  Hartenstein  1,  192. 

4)  Ebend.  1,  206.  ^)  Ebend.  189  f. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.         41 

der  Offenbarung-,  woraus  wir  abnehmen  können,  ob  die  Erde 
anjetzt  jung  oder  alt,  als  in  der  Blüte  ihrer  Vollkommenheit  oder 
in  dem  Verfall  ihrer  Kräfte  begriffen,  könne  angesehen  werden. 
Sie  hat  uns  zwar  die  Zeit  ihrer  Ausbildung  und  den  Zeitpunkt 
ihrer  Kindheit  entdeckt,  aber  wir  wissen  nicht,  welchem  von  den 
beiden  Endpunkten  ihrer  Dauer,  dem  Punkte  ihres  Anfanges  oder 
Unterganges,  sie  anjetzt  näher  sei.  Es  scheint  in  der  That  ein  der 
Untersuchung  würdiger  Vorwurf  zu  sein,  zu  bestimmen,  ob  die 
Erde  veralte  und  sich  durch  eine  allmähliche  Abnahme  ihrer 
Kräfte  dem  Untergang  nähere,  ob  sie  jetzt  in  der  Periode  ihres 
abnehmenden  Alters,  oder  ob  ihre  Verfassung  annoch  im  Wohl- 
stande sei,  oder  wohl  gar  die  Vollkommenheit,  zu  der  sie  sich 
entwickeln  soll,  noch  nicht  erreicht,  und  sie  also  ihre  Kindheit 
vielleicht  noch  nicht  überschritten  habe?"  Den  Begriff  des  Ver- 
altens  bestimmt  Kant  dahin,  dass  das  Veralten  eines  Wesens  in 
dem  Ablauf  seiner  Veränderungen  ohne  äussere  und  gewaltsame 
Ursachen  eintrete.  „Ebendieselben  Ursachen,  durch  welche  ein 
Ding  zur  Vollkommenheit  gelangt  und  darin  erhalten  wird,  bringen 
es  durch  unmerkliche  Stufen  der  Veränderungen  seinem  Untergang 
wieder  nahe  .  .  .  Alle  Naturdinge  sind  diesem  Gesetze  unter- 
worfen, dass  derselbe  Mechanismus,  der  im  Anfange  an  ihrer 
Vollkommenheit  arbeitete,  ...  sie  dem  Verderben  mit  unmerk- 
lichen Schritten  endlich  überliefere."  So  Pflanzen,  Tiere,  der 
Mensch;  so  auch  die  Erde.  Doch  wird  die  letztere  nicht  in  allen 
ihren  Teilen  gleichmässig  von  dem  Verfall  betroffen.  Einige 
Teile  sind  jung  und  frisch,  andere  roh  und  nur  halb  gebildet. 
Die  höchsten  Teile  der  Erde  sind  die  ältesten;  sie  nähern  sich 
dem  Verderben  zunächst;  die  Menschen  sind  in  die  tieferen,  jetzt 
blühenden  Gegenden  gezogen,  die  früher  noch  Moräste  und  Meer- 
busen waren.  Das  Wasser  zog  sich  zurück  und  nur  die  Flüsse 
blieben.  Ihre  Bildung  und  Thätigkeit,  die  Uferbildung  u.  s.  w. 
setzt  Kant  dann  sehr  klar  und  auch  für  heute  noch  völlig  brauch- 
bar in  kurzer  Übersicht  auseinander,  die  klarer  und  besser  ist, 
als  das,  was  die  Supplemente  aus  dem  Nachlass^)  enthalten.  Vier 
Gründe  werden  für  das  Veralten  der  Erde  angeführt:  1.  die  Ab- 
nahme des  Salzes  auf  den  Festländern  durch  Einschwemmung  des- 
selben in  das  Meer;  2.  die  zunehmende  Ausfüllung  der  Meere 
durch    eingeführten    Schlamm    und    dadurch  bewirkte  Überflutung 


1)  Hart.  8,  440—444.    Schubert  6,  787—94.     Vgl.  Schöne  S.  271. 


42  G.  Gerland, 

des  Festlandf^s;  8.  Austrocknen  der  Meere,  Verzehrimg  des  flüs- 
sig-eu  Elements  durch  eine  Art  der  Transformation  in  einen  festen 
Zustand;  4.  Verbrauch  eines  gewissen  allgemeinen  Weltgeistes, 
einer  allgemein  wirksamen  Kraft  des  Lebens  in  der  Natur,  der  bei 
allen  Zeugungen  und  der  Ökonomie  aller  drei  Naturreiche  ge- 
schäftig ist.  Gemeint  ist  der  Sauerstoff:  und  Kant  denkt  daran, 
ob  nicht  die  im  Vergleich  zum  Altertum  grössere  Kaltsinnigkeit 
der  modernen  Zeiten  auf  diesem  Verbrauch  beruhe.  Die  3  ersten 
Gründe  lehnt  er  ab,  obwohl  er  die  Möglichkeit  zugiebt,  dass 
durch  die  beständige  Nivellierung  und  Durchweichung  des  Erd- 
reiches seitens  der  Niederschläge  die  Bewohnbarkeit  der  Erde 
nach  und  nach  vernichtet  werden  könne:  gerade  deshalb  aber,  so 
schliesst  er  diese  Betrachtung,  wird  dies  vielleicht  niemals  er- 
reicht, „weil  die  Offenbarung  der  Erde  ein  plötzliches  Schicksal 
vorher  verkündigt"',  welches  ihr  zu  einem  natürlichen  Tod  „nicht 
Zeit  lassen  soll."  Auch  den  vierten  Grund  bezweifelt  er  in  Folge 
der  sozialen  Eutwickelung  der  Völker.  Aber  er  betont,  „dass  die 
Vollendung  des  Veraltens  der  Erde,  ob  sie  gleich  in  langen  Zeiten 
kaum  merklich  werden  kann,  dennoch  ein  gegründeter  und 
wissenswürdiger  Vorwurf  der  philosophischen  Betrachtung  sei".i) 
Und  so  hat  er  die  Frage  „nicht  entscheidend,  sondern  prüfend, 
wie  es  die  Beschaffenheit  des  Vorwurfs  selber  mit  sich  bringt, 
abgehandelt"  und  „den  Begriff  richtiger  zu  bestimmen  gesucht, 
den  man  sich  von  dieser  Veränderung  zu  machen  hat".  2) 

In  der  philosophischen  Bedeutung,  welche  Kaut  dieser  Unter- 
suchung beilegt,  liegt  für  uns  die  hauptsächliche  Bedeutung  dieser 
Schrift,  die  zugleich  Kaut's  Gasamtauffassung  der  Erde  darlegt,  wäh- 
rend sie  sonst  auch  für  die  damalige  Zeit  nichts  eigentlich  neues, 
wissenswertes  bringt.  Die  Erde  als  Ganzes,  die  Gesaratbeschaffenheit, 
die  Gesamtthätigkeit  derselben,  die  grossen  Veränderungen,  welche 
sich  in  Folge  ihrer  Gesamtnatur  an  ihr  vollziehen;  das  sind  die 
Fragen,  die  Kant  beschäftigen  und  alle  Einzelnheiten,  so  richtig 
und  neu  er  auch  einige  behandelt,  interessieren  ihn  nur  durch 
ihren  Zusammenhang  mit  dem  Gesamtleben  des  Planeten. 

So  auch  die  an  die  Berliner  Preisfrage  sich  anschliessende 
Untersuchung  über  die  Veränderung  der  Achsendrehung  der  Erde. 
Kant    war,    als    er  beide  Abhandlungen  schrieb,  im  Begriff,    seine 


1)  H.  1,  204. 

2)  S.  206. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  nnd  anthropolog.  Arbeiten.         43 

Natiu'geschichte  und  Theorie  des  Himmels  abzuschliessen.  Man 
begreift  aus  der  ganzen  Art  der  Fragestellung  und  Behandlung, 
warum  er  diese  kleineren  Abhandlungen  gerade  damals  unter- 
nahm: es  sind  Vorstudien  für  die  kosmologischen  Betrachtungen, 
die  ihn  beschäftigten.  Dies  spricht  er  am  Schluss  der  Abhandlung 
über  die  Achsendrehuug  auf  das  klarste  aus :  *)  „Man  kann  die 
letztere  Beuierkung-'  (dass  der  Mond  ein  späterer  Himmelskörper 
sei,  der  schon  verfesteten  Erde  beigegeben,  die  er,  wenn  sie  noch 
flüssig  gewesen  wäre,  seinerseits  zu  langsamerer  Umdrehung  ge- 
zwungen haben  würde)  „als  eine  Probe  der  Naturgeschichte  des 
Himmels  ansehen,  in  welcher  der  erste  Zustand  der  Natur,  die 
Erzeugung  der  Weltkörper  und  die  Ursachen  ihrer  systematischen 
Beziehungen,  aus  den  Merkmaleu,  die  die  Verhältnisse  des  Welt- 
baues an  sich  zeigen,  mussten  bestimmt  werden.  Diese  Be- 
trachtung, die  dasjenige  im  Grossen  oder  vielmehr  im 
Unendlichen  ist,  was  die  Historie  der  Erde  im  Kleinen 
enthält,  kann  in  solcher  weiten  Ausdehnung  ebenso 
zuverlässig  begriffen  werden,  als  man  sie  in  Ansehung 
unserer  'Erdkugel  in  unseren  Tagen  zu  entwerfen  be- 
müht geweseu.2)  Ich  habe  diesem  Vorwurf  eine  lange  Reihe 
Betrachtungen  gewidmet  und  sie  in  ein  System  verbunden, 
welches  unter  dem  Titel :  Kosmogonie,  oder  Versuch,  den  Ursprung 
des  Weltgebäudes,  die  Bildung  der  Himmelskörper  und  die  Ur- 
sachen ihrer  Bewegung,  aus  den  allgemeinen  Bewegungsgesetzen 
der  Materie,  die  Theorie  des  Newton  gemäss  herzuleiten,  in 
kurzem  öffentlich  erscheinen  wird."  [Fortsetzung  folgt.] 


1)  Hartenstein  1,  186. 

2)  Sperrung  nicht  im  Original. 


Der  Gegenstand  der  Wahrnehmung. 

Von   Franz   Staudinger. 


In  Bd.  VIII  Heft  2/3  der  Kantstudien  (S.  321—335)  hat 
A.  Messer  in  Giessen  meine  im  ersten  Hefte  (S.  21)  enthaltene 
Behauptung  bestritten,  dass  Kant  die  psycholog-ische  mit  der  kri- 
tischen Betrachtungsweise  vermenge.  Worauf  der  Fehler  Kants 
beruht,  das  glaubte  ich  trotz  aller  Kürze  doch  deuthch  dargethan 
zu  haben.  Messers  Entgegnung  aber  zeigt  mir,  dass  dem  nicht 
so  gewesen  sein  muss.  Denn  ich  werde  au  einem  Punkte  ange- 
griffen, den  ich  gar  nicht  in  die  Diskussion  gezogen  habe  und 
mit  Gründen,  die  zum  Teil  gerade  das  enthalten,  was  ich  be- 
streite, die  mir  gegenüber  also  ihrerseits  zu  erweisen  wären,  aber 
nichts  beweisen  können.  So  muss  ich  denn  versuchen,  den  Stein 
nochmals  aufwärts  zu  wälzen,  hoffentlich  diesmal  mit  besserem 
Erfolge.  Es  geschehe  die  neue  Erörterung  zunächst  in  An- 
knüpfung an  solche  Sätze  von  Messer,  an  denen  diejenigen  Unter- 
scheidungen, auf  die  ich  Wert  lege,  am  leichtesten  zu  ent- 
wickeln sind. 

Auf  S.  321  sagt  Messer,  „zwischen  Wahrnehmung')  und 
Gegenstand"  werde  in  gewöhnlicher  Auffassung  nicht  unter- 
schieden. Komme  etwa  infolge  einer  Sinnestäuschung  oder  eines 
Irrtums  „die  Thatsache  der  Wahrnehmung  und  der  Erkenntnis" 
als  solche  zum  Bewusstseiu,  so  werde  „ohne  weiteres  vorausge- 
setzt", dass  „in  der  Erkenntnis,  der  richtigen  wenigstens,  die 
Aussenwelt  so  aufgefasst  wird,  wie  sie  an  sich  ist". 

In  diesen  Sätzen  müssen  wir  zunächst  den  einen  Gedanken  her- 
vorheben und  festhalten:    Dann,    wenn    wir  uns  eines  Irrtums  be- 

1)  Ich  bemerke,  was  schon  in  meiner  Kritik  Cohens,  VIII,  H.  1,  betont 
wurde,  dass  ich  unter  Wahrnehmung  nicht  die  einzelne  sinnliche  Anschau- 
ung, sondern  die  Gesamtheit  dessen  verstehe,  was  dem  natürlichen  Be- 
wusstseiu den  Gegenstand  als  wahr  bestimmt.    (Wahr-Nehmung.) 


Der  Gegenstand  der  Wahrnehmung.  45 

wusst  werden,  kommt  die  Thatsache  der  Wahrnehmung  und  der 
Erkenntnis  als  solcher  zum  Bewusstsein.  Es  wird  somit  ganz  in- 
stinktiv zwischen  Gegenstand  und  Vorstelhing  unterschieden. 
Lassen  wir  einmal  zunächst  die  folgende  Behauptung  Messers  un- 
angefochten und  nehmen  wir  an,  in  der  für  richtig  gehaltenen 
Erkenntnis  fasse  das  naive  Bewusstsein  die  Aussenwelt  so  auf, 
wie  sie  an  sich  ist.  Dann  unterscheidet  doch  ebendies  Bewusst- 
sein in  dem  Momente,  wo  es  einen  Irrtum  konstatiert,  zwischen 
solchen  Inhalten,  die  es  richtigerweise,  und  solchen,  die  es  fälsch- 
licherweise auf  einen  bestimmten  Gegenstand  bezogen  hat.  Indem 
er  dies  thut,  verändert  es  aber  instinktiv  den  Gesichts- 
punkt der  Betrachtung.  Es  bezieht  nicht  mehr  unmittel- 
bar auf  den  Gegenstand,  sondern  reflektiert  auf  diese  Be- 
ziehung als  auf  seine  eigene  Bewusstseinsthätigkeit.  Noch 
deutlicher  tritt  dies  hervor  im  Augenblicke  des  Zweifels;  wenn 
ich  z.  B.  schwanke,  ob  ein  heller  Streif  am  Berge  da  drüben 
Schnee  oder  eine  GeröUehalde  bedeutet.  Da  treten  die  beiden 
Beziehungsarten  auf  den  Gegenstand  reihum  hervor.  Jeder  der 
psychischen  Inhalte  versucht  sich  an  den  Gegenstand  anzu- 
knüpfen. Eeflexion  in  Bezug  auf  den  Gegenstand  und  Reflexion 
inbezug  auf  die  Psj'che  gehen  da  hin  und  her.  Und  sobald  die 
Sache  durch  irgend  ein  Merkmal  entschieden  ist,  so  wird  sofort 
der  eine  der  beiden  Gedanken  fest  auf  den  Gegenstand  bezogen, 
der  andere  —  als  „falsche  Vorstellung"  —  in  die  Psj'che  reflek- 
tiert. Wir  achten  jetzt  nicht  mehr  darauf,  dass  wir  eben  noch 
versucht  hatten,  sie  auf  den  Gegenstand  zu  beziehen  und  ebenso 
achten  wir  betreffs  der  Vorstellung,  die  wir  jetzt  auf  den  Gegen- 
stand beziehen,  nicht  mehr  darauf,  dass  wir  diese  Beziehung  eben 
erst  in  Zweifel  gestellt,  und  gefragt  hatten,  ob  nicht  eine  gegen- 
standlose Vorstellung  vorliege.  So  beweist  gerade  die  Beobach- 
tung des  Irrtums  und  des  Zweifels,  dass  auch  das  naive  Bewusst- 
sein beide  Beziehungsarten  durchaus  zu  unterscheiden  weiss.  Es 
unterscheidet  sie  durch  die  That,  indem  es  die  Vorstellung  so 
oder  so  bezieht.  Eine  Reflexion  über  diese  That  übt  es  freilich 
nicht  so  ohne  weiteres.  Es  liegt  aber  zweifellos  eine  zwiefache 
Gegenstandsbeziehung  zu  Grunde,  die  auf  den  Wahrnehmungs- 
gegenstand und  die  auf  die  Psyche,  wie  wir  diesen  Gegenstand 
späterhin  nennen. 

Nach    dieser  Feststellung   aber    müssen  wir  auch  den  vorhin 
vorläufig   zugegebenen   Gedanken   Messers    anzweifeln,    dass   das 


46  F.  Staudinger, 

naive  Bewusstsein  die  farbige  und  tönende  Welt  der  Wahrnehniung' 
als  die  Welt  „wie  sie  au  sich  ist",  auffasse  und  glaube,  es  bilde 
sie  einfach  in  sich  ab.  —  So  ist  es  keineswegs.  Wir  müssen  hier 
weiter  unterscheiden  zwischen  der  uatüilichen  Wahrnehmung  und 
der  naiven  Reflexion  über  diese  Wahrnehmung.  In  bezug  auf 
letztere  mag  Messer-s  Satz  oft  zutreffen.  Eine  genauere  Betrachtung 
der  wirklichen  Wahrnehmung  z.  B.  der  „farbigen  und  tönenden" 
Glocke  selbst  aber  zeigt,  das  solche  Reflexion  eine  Selbst- 
täuschung ist. 

Die  Gesamt- Wahrnehmung  als  solche  unterscheidet  nämlich 
ganz  unmittelbar  und  ganz  instinktiv  zwischen  dem,  was  die 
Sinnesempfindung  giebt,  und  dem,  was  dem  „Ding  an  sich"  zu- 
gewiesen wird.  Das  ergiebt  sich  deutlich  schon  daraus,  dass  sie 
Töne,  Tastempfindungen  etc.  von  vorn  herein  nicht  als  Bestand- 
teile, sondern  als  Wirkungen  des  Dinges  auffasst.  Bei  den  Ge- 
sichtsempfiudungen  scheint  freilich  bei  oberflächlicher  Betrachtung 
die  Farbe,  die  Helligkeit  am  Dinge  selbst  zu  haften.  Aber  man 
beachte  nur  Folgendes:  Die  Wahrnehmung  erklärt  die  Glocke,  die 
im  Sonnenschein  glänzt,  die  bei  wolkigem  Himmel  schwarz  her- 
unterleuchtet, die  in  der  Dämmerung  kaum  die  Umrisse  erkennen 
lässt,  die  dann  ganz  unsichtbar  wird  und  am  Morgen  wieder 
sichtbar  ist —,  für  dieselbe  Glocke.  Sie  abstrahiert  also  ganz 
instinktiv  von  den  Farben  als  von  Modifikationen,  die  nur  unter 
bestimmten  Bedingungen  auftreten.  Der  Komplex  von  Grössen- 
beziehuugen  allein,  das  ist  schon  für  die  Wahrnehmung  „die 
Glocke",  w'ie  sie  es  auch  für  das  wissenschaftliche  Bewusstsein 
ist.  Von  den  Anschauungen  bezw.  Empfindungen  wird  ganz  in- 
stinktiv und  unmittelbar  in  der  Wahrnehmung  das  losgelöst,  was 
blosses  Kennzeichen  ist,  bezw^  was  bloss  macht,  dass  wir  ein 
Ding  wahrnehmen,  das  uns  sonst  verborgen  bliebe.  Dass  dagegen 
die  Glocke  an  dem  bestimmten  Ort,  von  der  bestimmten  Grösse 
ist,  dauernd  da  oben  hängt,  das  erklärt  die  Wahrnehmung  un- 
mittelbar für  Bestimmungen,  die  der  Glocke  an  sich  zukommen, 
auch  wenn  sie,  wie  bei  Nacht,  gar  nicht  wahrgenommen  wird,  ja 
wenn  sie  überhaupt  nicht  wahrgenommen  würde. 

In  der  Sprache  sagen  wir  freilich  ebensowohl  die  Glocke 
„ist"  schwarz,  glänzend,  wie  wir  sagen  die  Glocke  „ist"  so  und 
so  gross,  so  und  so  schwer.  Die  Sprache  drückt  nicht  die  Wahr- 
nehmung als  solche,  sondern  schon  Reflexionen  über  die  Wahr- 
nehmung aus,  die  uns  mit  ihr  verschmelzen  und  erst  wieder  durch 


Der  Cregenstand  der  Wahrnehmung.  47 

sorgsame  Analyse  g-esondert  werden  müssen.  Bei  genannter  ganz 
einfacher  Analyse  aber  tritt  die  wirkliche  Aussage  der  Wahr- 
nehmung auf  das  deutlichste  hervor.  Es  tritt  daher  auch  eben- 
sodeutlich hervor,  dass  die  Empfindungen  als  Wirkungen,  als  Be- 
ziehungen der  Gegenstände  zu  .  .  .  —  ja  zu  was?  .  .  .  aufgefasst 
werden.  In  der  Wahrnehmung  offenbar  zu  nichts  anderem  als  zu 
dem  ebenfalls  im  Raum  wahrgeuommenen  Selbst,  dem  empi- 
rischen Ich.  Was  in  diesem  als  Bewusstsein  zu  unterscheiden  ist, 
das  sagt  die  Wahrnehmung  selbst  nicht.  Diese  Reflexion  eröffnet 
uns,  wie  Messer  richtig  gesagt  hat,  der  Irrtum,  oder  wie  oben 
erörtert,  schon  der  Zweifel,  nicht  aber  die  Wahrnehmung. 

Wir  haben  also  dreierlei  zu  unterscheiden:  1.  die  natürliche 
Wahrnehmung  in  ihrer  unmittelbaren  Beziehung  auf  ihren  Gegen- 
stand, auf  die  in  ihr  als  an  sich  bestehend  vorgestellte  Natur,  2.  die 
Wahrnehmung  für  sich  als  Gegenstand  genommen,  3.  die  Wahr- 
nehmung als  Bewusstseinsfaktor,  d.  h.  in  ihrer  Beziehung  zum 
Ich.  —  Diese  drei  Arten  der  Gegeustandsbeziehung,  die  sich  im 
Akte  des  Wahrnehmens  fortwährend  verbinden  und  ablösen,  sind 
in  der  Reflexion  darüber  auf  das  schärfste  auseinanderzuhalten. 

Das  ist  der  analytische  Sachverhalt,  der  uns  zunächst  vor- 
liegt, den  wir  weiter  verfolgen  müssen,  ehe  wir  uns  an  so  weit- 
ausgreifende Fragen  wagen,  auf  welchem  „Grunde"  diese  Be- 
ziehungen alle  „ruhen".  Ehe  wir  an  Nebenreflexionen  über  die 
Beziehungen  herantreten,  müssen  wir  die  Beziehungen  selbst 
einmal  sondern  und  feststellen.  Hier  liegt  freilich  die  eigentliche 
Schwierigkeit.  Während  wir  in  der  thatsächlichen  Wahrnehmung 
jene  Unterscheidungen  und  Beziehungen  instinktiv  vornehmen, 
schweift  bei  der  reflektierenden  Betrachtung  der  Blick  leicht  ein- 
mal ordnungslos  auf  den  Inhalt  der  Wahrnehmung  als  solcher, 
einmal  auf  eine  Seite  von  ihr,  einmal  darauf,  dass  Wahrnehmen 
eine  Handlung  des  Bewusstseins  ist  etc.  Das  heisst  aber:  Der 
„Gegenstand"  der  Betrachtung  selbst  wird  verändert. 
Während  in  der  aktiven  Wahrnehmung  „der  Berg",  „das  Haus"  etc. 
Gegenstand  ist,  wird  sod*inn  die  Wahrnehmung  des  Berges,  des 
Hauses  ihrerseits  zum  Gegenstand  neuer  Betrachtung,  oder  es  wird 
gar  das  Bewusstsein  selbst  der  Gegenstand,  auf  den  die  Wahrnehmung 
bezogen  wird.  Indem  der  Blick  so  von  einem  Gesichtspunkt  auf 
den  anderen  herüberspringt,  womöglich  noch  an  allerlei  Zwischen- 
beziehungen haften  bleibt,  gerät  gerade  das,  worauf  alles  an- 
kommt,   der  „Gegenstand",  in  Verwirrung.      Der  Gegenstand    der 


48  F.  Staudinger, 

einen  Betrachtungsart  wird  mit  dem  der  anderen  Betraclitungsart 
vermengt,  und  es  werden  daraus  allerlei  voreilige  Schlüsse  ge- 
zogen. 

Es  ist  vielleicht,  damit  das  folg;ende  leichter  erfasst  werde, 
gut,  da  gleich  einige  Proben  zu  geben.  Wenn  wir  den  Gegenstand 
aktiv  wahrnehmen,  so  sondern  sich,  wie  gezeigt,  die  in  verschie- 
denen Momenten  auftauchenden,  verschwindenden,  ja  wechselnden 
Empfindungen  unmittelbar  von  den  Bestimmungen  des  Gegen- 
standes als  solchen  ab.  Wenn  wir  uns  nun  aber  reflektierend 
etwa  eine  Einzelanschauung,  d.  i.  eine  Teilwahrnehmung  selbst 
zum  Gegenstande  machen,  so  merken  wir  von  jenem  Thatbestande 
nichts.  Von  dieser  Einzelbetrachtung  aus  scheinen  die  Empfin- 
dungen und  die  Raumzeitbestimmungen  in  ein  ununterscheidbares 
Ganzes  zusammenzufliessen.  Und  —  auch  der  Gegenstand,  auf 
den  die  aktive  Wahrnehmung  ohne  weiteres  als  auf  etwas  von  ihr 
Verschiedenes,  als  auf  etwas  Unabhängiges  bezieht,  tritt  bei  dieser 
reflektierenden  Betrachtung  weit  ab,  bezw.  er  wird  Ei'inneruug  an 
ein  Etwas,  das  die  Anschauung  bezw.  Empfindung  hervorgerufen 
hatte.  Erst  dadurch,  dass  wir  die  Gesamtwahruehmung  scharf  ins 
Auge  fassen,  verschwindet  dieser  Schein  wieder  und  der  richtige 
Sachverhalt  kommt  zum  Bewusstsein. 

Wenn  wir  ferner  derart  reflektieren,  dass  wir  die  Wahr- 
nehmung oder  gar  den  gesamten  Wahrnehmungszusammenhang 
als  Bewusstseinsfaktor  ins  Auge  fassen,  also  zum  Bewusst- 
sein, der  Psyche,  dem  Ich  oder  wie  man  es  nennen  will,  in  Be- 
ziehung setzen,  so  erscheint  er  als  ein  wundersamer,  in  sich 
geschlossener  Zusammenhang,  als  eine  Einheit  der  Apperception, 
in  der  der  Gegenstand  nunmehr  weiter  gar  nichts  ist,  als  der 
Einheitsgedanke.  Der  Zusammenhang  des  Einzeldings  wie  der 
Zusammenhang  des  Ganzen  ist  hier  der  Gegenstand  selbst.  — 
Wir  müssen  uns,  um  die  Täuschung  aufzuheben,  wieder  an  die 
aktive  Wahrnehmung  zurückerinnern.  Sonst  wird  uns  von  hier 
aus  unrettbar  die  ursprüngliche  Beziehungsrichtung  verdunkelt. 

Die  letzte  Beziehungsrichtung  ist  nun  aber  gerade  diejenige, 
von  welcher  Kant  ausgeht.  Auf  sie  kommt  er  stets  wieder  als 
auf  die  Gruudbeziehung  zurück.  Gerade  diesen  Gesichtspunkt 
spricht  er  als  den  „transscendentalen"  heilig.  Und  in  der  That, 
er  hätte  kein  passenderes  Wort  wählen  können.  Denn  während 
die  wirkliche  Wahrnehmung  schlankweg  die  transscendente 
Behauptung  aufstellt,   ihre  Bestimmungen  hätten  für  einen  Gegen- 


Der  Gegenstand  der  Wahrnehmung.  49 

stand  Geltung,  der  gänzlich  unabhängig  von  ihr  besteht,  so 
sagt  jener  Gesichtspunkt,  sie  bezeichneten  wohl  ein  Objekt,  aber 
dieses  Objekt  sei  doch  nur  Einheit  in  der  Erscheinung. 

Dieser  Anschauung  habe  ich  in  meinem  früheren  Aufsatz  das 
Urteil  der  Wahrnehmung  gegenübei'gestellt  und  das  Recht  des 
Wahrnehmungsurteils  verteidigt,  indem  ich  dessen  Unerlässlichkeit 
zeigte.  Hier  ist  also  anzusetzen,  wenn  man  widerlegen  will.  Es 
muss  bewiesen  werden,  dass  der  sog.  transscendeutale  Gesichts- 
punkt richtig  und  leistungsfähig,  der  trausscendeute  Gesichtspunkt 
der  Wahrnehmung  irrig  und  leistungsunfähig  ist.  Aber  dieser  Be- 
weis darf  nicht  von  vorn  herein  aus  dem  bestrittenen  Standpunkte 
heraus  und  mit  dessen  Argumenten  geführt  werden.  Denn  dann 
nimmt  man  ja  schon  als  erwiesen  an,  was  zu  erweisen  ist. 

In  letzterer  Weise  aber  argumentiert  Messer  gegen  mich. 
Schon  auf  S.  322,  also  noch  fast  im  Anfang  seiner  Erörterung 
stehend,  redet  er  von  der  Beziehung  des  Gegenstandes  zu  uns. 
„Diejenigen  Momente,  so  sagt  er,  die  den  Gegenstand  selbst  kon- 
stituieren, sind  uns  nicht  durch  die  Dinge  an  sich  unmittelbar  ge- 
geben." Man  könnte  da  freilich  gleich  sagen :  Nun,  wenn  nicht 
unmittelbar,  so  doch  vielleicht  mittelbar.  Aber  wir  sind  ja  hier 
noch  gar  nicht  an  der  Beziehung  eines  Dinges  an  sich  zum  Be- 
wusstsein.  Wir  sind  noch  lange,  lange  nicht  an  die  von  Messer 
hier  schon  vorgelegte  „Kantische  Problemstellung",  nicht  „an  die 
schwierige  Frage"  gelangt:  „Auf  welchem  Grund  beruht  die 
Beziehung  unserer  Vorstellungen  auf  den  Gegenstand?"  Eine 
solche  Frage  habe  ich  in  der  Kritik  Cohens  gar  nicht  mehr  er- 
örtert, bloss  von  ferne  angedeutet.  Denn  sie  ist  die  aller-aller- 
letzte  Frage,  an  die  wir  erst  dann  herantreten  können,  wenn  der 
Thatbestand  selber  gänzlich  klargelegt  ist.  In  einem  Aufsatz 
über  den  „Streit  um  das  Ding  an  sich"  etc.  (KSt.  IV,  164  f.) 
hatte  ich  selbst  etwas  voreilig  diese  Frage  angeschnitten 
und  habe  nur  den  Erfolg  gehabt,  dass  niemand  wusste,  was  ich 
eigentlich  wollte.  Das  musste  zur  Vorsicht  mahnen.  Es  muss 
daher,  ehe  die  genannte  Frage  auch  nur  augetupft  wird,  erst  ein- 
mal klar  gestellt  sein,  was  Beziehung  der  Vorstellung  auf  den 
Gegenstand  besagt,  was  insbesondere  diejenige  Vorstellungsbe- 
ziehung, die  wir  Wahrnehmung  nennen,  thatsächlich  enthält. 
Die  Frage,  was  von  den  Gegenstandsbestimmungen  der  Wahr- 
nehmung im  Geiste  geschaffen  sein  mag  und  was  nicht,  hat  darum 
zunächst  ganz  wegzubleiben. 

Kantstvdien  X.  A 


50  F.  Staudinger, 

Messer  seinerseits  stellt  dageg-en  ohne  weiteres  —  frei- 
lich auch  im  Anschluss  an  Kant  —  die  Behauptung  auf,  „dass 
die  Welt  von  räumlicli-zeitlichcMi  Dingen  und  Vorgängen  als 
Gegenstand  für  uns  erst  im  Geiste  geschaffen  wird".  Das  ist 
aber  eine  mehrdeutige  Behauptung.  Man  muss  sie  vielleicht  in 
einer  Hinsicht  gelten  lassen:  darin,  dass  die  Wahrnehmungs eie- 
rn ente  erst  im  Geiste  geordnet  werden;  man  hat  sie  aber  viel- 
leicht in  einer  anderen  Beziehung  sehr  lebhaft  zu  bestreiten,  darin 
nämlich,  dass,  wie  Kant  meint,  durch  die  P^mpfindungeu  bloss  an- 
geregt, Raum,  Zeit,  Kategorien  gleichsam  vermöge  einer  Epigene- 
sis  vom  Geiste  geschaffen  werden.  Auf  alle  Fälle  aber  gehört 
die  Erörterung,  oder  gar  die  Entscheidung  dieser  Frage  noch 
lange  nicht    hierher. 

So,  wie  sie  nur  allzurasch  bei  Kant  entschieden  wird,  ruht 
sie  auf  den  oft  wiederholten  Sätzen :  Wir  haben  doch  nichts  als 
unsere  eigenen  Bestimmungen,  unsere  Vorstellungen.  Diese  ge- 
statten uns  nicht,  aus  uns  herauszulaugen.  Also  ist  es  ganz 
ausser  unserer  Erkenntnissphäre,  von  Dingen  an  sich  etwas  aus- 
sagen zu  wollen.  --  Wir  sehen  hier  deutlich,  dass  Kant  einfach  die 
faktische  Aussage  der  Wahrnehmung  für  nichts  erachtet  und  sich 
einseitig  und  voreilig  an  die  Beziehung  der  Wahrnehmung  zum 
bewussten  Ich  heftet.  Wenn  das  keine  Vermengung  des  psycho- 
logischen Gesichtspunkts  mit  der  kritisch  alle  Gesichtspunkte  unter- 
scheidenden und  in  gleicher  Weise  prüfenden  Betrachtung  ist,  so 
muss  ich  allerdings  blind  sein. 

Demgegenüber  aber  ist  zu  sagen :  Mit  dem  aus  einem 
einzelnen  Gesichtspunkte  erst  reflektiert  herausgeholten  Ar- 
gumente kann  mau  die  völlig  entgegengesetzte  direkte  Aussage, 
die  von  einem  anderen  Gesichtspunkte  aus  stattfindet,  nicht  so 
ohne  weiteres  widerlegen.  Wenn,  um  das  an  einer  Analogie  zu 
zeigen,  die  Sinueswahrnehmung  die  Sonne  um  die  Erde  gehen 
lässt  und  die  Kopernikanische  Anschauung  die  Erde  um  die  Sonne 
führt,  so  stehen  sich  da  zunächst  zwei  Gesichtspunkte  gegenüber. 
Welcher  richtig  ist,  ist  nicht  dadurch  zu  entscheiden,  dass  man 
sofort  für  einen  von  beiden  Partei  ergreift,  sondern  nur  dadurch, 
dass  einer  von  beiden,  oder  in  anderen  Fällen  ein  dritter,  die 
sämtlichen  widerstreitenden  Aussagen  aufklärt.  Wenn  wir  nicht 
die  abweichende  Sinneswahrnehmung  gerade  auf  Grund  der  Koper- 
nikanischen  Vorstellung  erklären  könnten,  so  würden  wir  stets 
noch  an  der  Richtigkeit  der  letzteren  zweifeln  müssen.    Kant  und 


Der  Gegenstand  der  Wahrnehmung.  51 

der  Kantianismiis  hat  aber  mit  seiner  vermeintlich  Kopernikani- 
schen  Behauptung,  dass  Raum,  Zeit,  Kategorien,  als  vom  Geiste 
beigeschaffen,  nicht  für  Dinge  an  sich  gelten  können,  die  abwei- 
chende, in  der  Wahrnehmung  wurzelnde  Aussage  des  Realismus 
bis  jetzt  nicht  erklären  können.  Er  hat  uns  im  Gegenteil  in 
immer  tiefere  Labyrinthe  geführt. 

Umgekehrt  hat  freilich  auch  der  naive  Realismus  bis  jetzt 
das  Bedenken  nicht  lösen  können,  das  in  dem  von  Messer  allzu- 
früh, abei'  doch  richtig  gestellten  Kantischen  Problem  steckt:  „Auf 
welchem  Grunde  beruht  die  Beziehung  unserer  Vorstellungen  auf 
den  Gegenstand?"  Daraus  ergiebt  sich,  dass  wir  von  neuem 
bohren  und  die  richtige  Stelle  suchen  müssen,  aus  welcher  der 
Quell  fliesst.  Diese  Stelle  sehe  ich  nun  nicht,  wie  Cohen,  in  einer 
Idee,  von  der  alles  abzuleiten  wäre,  und  ebensowenig  in  dem  Ge- 
samtzusammenhang der  wahrgenommenen  Gegenstände,  den  wir 
Welt  nennen.  Letzterer  Gegenstand  ist  der  Gegenstand  der 
Naturwissenschaft.  Aber  diese  Naturwissenschaft  ebenso,  wie 
schon  die  geraeinen  Urteile  über  die  Welt,  beruhen  auf  der  Wahr- 
nehmung dieser  Welt.  Also  ist  diese  Wahrnehmung  als  solche 
zum  Gegenstande  der  philosophischen  Untersuchung  zu  machen. 
In  ihr  finden  sich  dann  vielleicht  die  Fäden,  die  uns  einerseits 
die  Welt,  andererseits  die  Idee  wenigstens  soweit  verständlich 
machen,  dass  wir  den  Zusammenhang  zwischen  ihnen  erfassen. 

In  dieser  Hinsicht  glaubte  ich  denn,  trotz  aller  Kürze  schon 
in  der  Kritik  Cohens  die  Frage  wenigstens  ein  Stückchen  gefördert 
zu  haben.  Ich  zeigte  nämlich  —  in  Fortführung  der  in  den 
„Analogien  der  Erfahrung"  angestellten  Analyse,  dass  die  Wahr- 
nehmung thatsächlich  Beziehungen  zu  einem  Gegenstande  ent- 
hält, der  von  ihr  jenseits  ihrer  selbst  verlegt  wird.  Sie  sagt 
thatsächlich  aus,  dass  die  von  ihr  bezeichneten  Grössenzusammen- 
hänge  in  einer  transscendenten  Welt  „an  sich"  existieren.  Und 
ich  zeigte,  dass  die  Wahrnehmung  selbst  in  sich  zusammenstürzt, 
sobald  man  diese  Urteile  aus  ihr  entfernt.  Der  sog.  Idealismus  ist  also 
unmöglich,  wenn  man  die  Wahrnehmung  auch  nur  als  Wahr- 
nehmungszusammenhang anerkennt.  Denn  man  muss  nicht  bloss 
ihre  Aussagen,  sondern  ihren  Zusammenhang  selbst  vernichten, 
wenn  man  auf  dem  Idealismus,  sei  es  dem  Kants,  sei  es  dem 
Berkeleys  bestehen  will.  Die  in  ihr  enthaltenen  instinktiven  Ur- 
teile sagen  aus,  dass  die  raumzeitlichen  Bestimmungen  für  unab- 
hängig vom  Bewusstsein  bestehende  Verhältnisse  Geltung  haben 


'o'o 


52  F.  Staudinger, 

und  sie  machen  ebendadurch  die  Wahrnehmung  zur  Wahrnehmung. 
Wie  dies  zugehen  mag,  woher  Raum,  Zeit,  Kategorien  stammen, 
woraus  die  Befugnis  zu  jenen  Urteilen  erklärt  werden  möge,  das 
ist  eine  Frage  für  sich,  die  späterhin  erledigt  werden  mag.  Vor 
der  Frage  ([uid  juris,  kommt  die  Fi-age  quid  facti.  Und  das 
Faktum  ist,  1.  dass  die  in  der  Wahi'uehmung  enthalteneu  Urteile 
unzweideutig  Geltung  für  eine  jenseits  des  Bewusstseius  liegende 
Welt  beanspruchen,  2.  dass  der  Wahrnehmungszusaiumenhang 
selbst  zerstört  werden  muss,  wenn  man  die  Giltigkeit  seiner  Ur- 
teile für  einen  transscendenten  Weltzusannuenhang:  bestreitet. 


'fc> 


An  diesen  Thatsachen  sollte  die  Philosophie  doch  nicht  so 
leichthin  vorbeigehen  und  mit  phänomenalistischen  Umdeutungs- 
versuchen  kommen,  deren  Grundlage  einem  ganz  anderen  Gesichts- 
punkt entspringt.  Will  man  widerlegen,  so  rauss  man  nachweisen, 
dass  der  Wahrnehmungszusammenhang  jene  Urteile  nicht  uner- 
lässlich  enthält,  oder  aber,  dass  er  als  Ganzes  ein  Blendwerk  ist, 
und  dass  wir  uns  ohne  ihn  behelfen  können  und  müssen.  Jst 
beides  unmöglich,  so  ist  auch  eine  Widerlegung  unmöglich. 

Von  diesen  Feststellungen  aus  wird  es  nun  verhältnismässig 
geringer  Mühe  bedürfen,  um  Messer  sowie  die,  welche  von  gleichen 
Gesichtspunkten  ausgehen,  wenigstens  dahin  zu  überzeugen,  dass 
die  aus  Kant  entnommenen  Gegenbehauptungen  gegen  meine  Auf- 
stellungen unmöglich  stichhaltig  sein  können.  Oben  sahen  wir, 
dass  wir  dann,  wenn  wir  nicht  dem  Gesichtspunkte,  den  die 
Wahrnehmung  direkt  auf  ihren  Gegenstand  hat,  nachgehen,  son- 
dern die  Wahrnehmung  als  Bewusstseinsfaktor  behandeln,  in  natüi"- 
lichster  Weise  einen  ganz  anderen  Gegenstandsbegriff  bekommen, 
als  den,  der  in  der  Wahrnehmung  selber  enthalten  ist.  Es  ist 
hier  genau  so,  wie  wenn  wir  in  der  Natur  z.  B.  den  Blick  vom 
beleuchteten  Gegenstand  auf  die  Lichtquelle  werfen,  in  deren 
Schein  er  so  oder  so  beleuchtet  ist.  Da  wird  unser  ganzes  Unter- 
suchungsobjekt verändert.  Im  ersten  E'alle  betrachten  wir  den 
Gegenstand  selbst;  das  Licht,  das  darauf  fiel,  war  uns  Voraus- 
setzung; im  zweiten  Falle  wird  die  Erscheinung  des  Gegenstands 
zur  Voraussetzung;  die  Natur  der  Beleuchtung  zu  studieren,  ist 
das  Problem.  AVas  die  Erscheinung  für  ihren  Gegenstand  be- 
deutet, tritt  dabei  völlig  aus  der  Blicklinie  heraus.  Er  ist  jetzt 
nur  das  im  übrigen  gänzlich  irrelevante  x  auf  dem  die  Lichtquelle 
in  den  oder  den  bestimmten  Lichtern  spiegelt. 


Der  Gegenstand  der  Wahrnehmung.  53 

Nun  ist  es  allerdings  eine  bedeutsame  Aufgabe,  die  durch 
die  Lichtquelle  hervorgerufenen  Modi  der  Erscheinung  von  denen 
zu  sondern,  die  sich  auf  den  Gegenstand  selbst  beziehen,  damit 
nicht  etwa  eine  Bestimmung,  die  der  I-iichtquelle  zukommt,  dem 
Gegenstände  zugeschrieben  werde.  Aber  auch  umgekehrt. 
Den  ersten  Gesichtspunkt  fasst  Kant  auf  dem  Gebiete  der  Er- 
kenntnislehre ins  Auge.  Den  zweiten  Gesichtspunkt  aber  hat  er 
darüber  ganz  ausser  Acht  gelassen.  Hätte  er  sich  freilich  damit 
begnügt,  den  ersten  Gesichtspunkt  scharf  abzusondern  und  zu 
sagen,  er  wolle  einmal  sehen,  in  welchem  Zusammenhange  der 
Gegenstand  erscheine,  wenn  man  ihn  bloss  in  seiner  Bedeutung 
als  Bewusstseinsfaktor  betrachte,  so  Aväre  nicht  das  mindeste  da- 
gegen zu  sagen.  Eine  mit  vollem  Bewusstsein  unter  einem  be- 
stimmten Gesichtspunkte  durchgeführte  Analyse  ist  zweifellos  stets 
sehr  wertvoll.  Aber  der  Gesichtspunkt  muss  dann  auch  fest- 
gehalten werden.  Es  dürfen  dann  nicht  Bestimmungen  hinzu- 
treten, die  unvermerkt  auf  einen  anderen  Gesichtspunkt  hinüber- 
greifen, und  sagen  wollen,  was  die  Erscheinung  bedeutet. 

Das  aber  ist  bei  Kant  leider  durchweg  der  P'all.  Wollte  er 
die  Weltvorstelluug  bloss  als  Bewusstseinsfaktor  behandeln,  so 
waren  die  bezeichnenderweise  in  der  zweiten  Auflage  der  Kr.  d. 
r.  V.  weggebliebenen  Abschnitte  über  Apprehension,  Reproduktion 
und  Rekognition  durchaus  am  Platze,  ebenso  die  Erörterung  über 
Anschauung  und  Begriff,  über  die  Einheit  der  Apperception  u.  dgl. 
mehr.  Dann  aber  musste  die  Weltvorstellung  bezw.  Natur  Wahr- 
nehmung in  ihren  Aussagen  über  ihren  Gegenstand  entweder 
als  abgethan  oder  als  ein  später  zu  erörterndes  Problem  behandelt 
Averden.  Keinenfalls  aber  konnten  beide  Untersuchungsarten  der- 
art ineinandergemengt  werden,  dass  der  ersten  ohne  weiteres  die 
führende,  der  zweiten  die  untergeordnete  Rolle  zukam.  Da  das 
Kant  that,  und  den  Gegenstand  der  Wahrnehmung  aus  dem  Ge- 
sichtspunkte der  transscendentalen  Einheit  bestimmen  wollte,  so 
musste  gerade  der  Zentralbegriff  der  Erkenntniskritik,  der  Begriff 
vom  Gegenstand  in  ein  Schwanken  und  Schillern  geraten,  dadurch 
er  kaum  noch  greifbar  erschien. 

Da  entstand  zunächst,  indem  man  die  Einzelvvahrnehmung 
bezw.  ein  Moment  in  ihr,  die  Empfindung,  herausnahm  und  ge- 
sondert vor  Augen  führte,  die  genannte  Vorstellung,  dass  diese 
Empfindung  ihrerseits  nichts  von  uns  Gemachtes,  sondern  etwas 
Gegebenes  sei,    das  also  auf  etwas  hinweise,    was    ausserhalb  des 


54  F.  Staudinger, 

Bewusstseins  liegt,  was  „Ursache"  der  Erscheinimgen  ist.  Dieser 
Geg-enstand  aber  kann  nunmehr,  da  ja  bei  Kant  Raum,  Zeit, 
Kategorien  einzig  als  Bewusstseinsfaktoren  auftreten,  nicht  be- 
stimmt werden.  p]r  bleibt  also  „unbekannte"  Ursache  der  Er- 
scheinungen, ein  blosses  x. 

Aber  diesem  x'  tritt  ein  x^^  zur  Seite,  das  jede  Reminiscenz 
an  einen  auswärtigen  Ursprung  der  Empfindungen  verloren  hat 
und  reines  Erzeugnis  der  Einheit  der  Apperception  ist.  Wenn 
wir  Wahrnehmung  bloss  als  Bewusstseiusfaktor  behandeln,  so  tritt 
ja  in  der  That  der  Gegenstand,  was  Messer  (S.  324)  merkwürdiger- 
weise gegen  mich  ins  Feld  führt,  bloss  als  Etwas  auf,  was  da- 
wider ist,  dass  unsere  Erkenntnisse  nicht  aufs  Geratewohl  .  .  . 
bestimmt  seien,  d.  h.  als  „die  formale  Einheit  des  Bewusstseins 
in  der  Sjmthesis  des  Mannigfaltigen  der  Vorstellungen"  (I.  A. 
S.  104  f.).  Dieser  Gegenstandsbegriff,  der  transscendentale  Gegen- 
stand spielt  auch  in  der  s,  Z.  von  mir  hervorgehobenen  Stelle 
(II.  A.  S.  236)  die  allein  massgebende  Rolle.  Von  diesem  Ge- 
sichtspunkte aus  gesehen  bildet  er  die  Einheit,  darin  sich  alle 
Bestimmungen  des  Gegenstandes  verbinden.  Wenn  wir  nun  aber 
—  immer  den  vorliegenden  Gesichtspunkt  festhaltend  —  die  zu- 
gehörigen Bestimmungen  in  Gedanken  wegthun,  so  geht  es  uns 
genau  so,  wie  wenn  wir  vom  Zentrum  einer  Kugel  alle  Kugel- 
bestandteile entfernen.  Es  bleibt  nur  der  imaginäre  Punkt  übrig, 
um  dt'U  die  Kugelbestandteile  sich  gruppiert  hatten.  Das  ist  ein 
zweites  x,  das  bei  Kant  stets  mit  dem  ersten  x,  das  ganz  ver- 
schiedenen Ursprungs  ist,  durcheinanderläuft,  der  Grenzbegriff,  der 
positiv  gefasst,  zu  einem  gespenstischen  Gegenstande,  dem  Nou- 
menou  werden  würde. 

Wenn  man  sich  einmal  die  genannten  verschiedenen  Gesichts- 
punkte vor  Augen  führt,  so  wird  die  vorher  so  verworrene  Sache 
ganz  klar  und  verständlich  und  wir  können  au  der  Hand  dieser 
verschiedenen  Gesichtspunkte  das  Gewebe  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft  ziemlich  klar  durchschauen.  Und  wenn  man  da  bemerkt, 
wie  der  empirische  Gegenstand,  der,  z.  B.  in  der  Widerlegung  des 
Idealismus,  ziemlich  deutlich  als  der  gemeine  „unmittelbare"  Wahr- 
nehmungsgegenstand hervortritt,  „bewiesen"  werden  soll,  so  hat 
man  im  Grunde  den  Schlüssel  zum  Ganzen.  Statt  die  unmittel- 
bare Beziehung  zu  analysieren  und  ihrem  Gesichtspunkt  min- 
destens einmal  dem  „trausscendentalen"  gleichwägend  gegenüber- 
zustellen, wird  sogar  diese  vom  trausscendentalen  aus  „bewiesen", 


Der  Gegenstand  der  Wahrnehmung.  55 

damit  aber  ihres  imniittelbaren  luhalts  entleert.  Und  so  wird 
dann  nicht  bloss  der  Wahrnehmungsinhalt  als  psychischer  Inhalt, 
sondern  auch  dessen  Bedeutung  unter  den  transscendentalen 
Gesichtspunkt  gestellt  und  die  Wahrnehmung  wird  auch  in  letz- 
terer Hinsicht  zur  blossen  Erscheinung,  der  dann,  jenachdem  die 
Empfindung  oder  das  Denken  mehr  in  den  Vordergrund  der  Be- 
trachtung rückt,  bald  die  uul)ekanute  Ursache  x\  bald  der  blosse 
Einheitsbegriff  X'^  korrespondiert.  Das  hat  Messer  noch  nicht 
durchschaut,  und  so  erklärt  sich,  dass  er  mich  mit  Gründen 
widerlegen  will,  die  dem  von  mir  bestritteneu  Gebiet  ent- 
nommen sind. 

Es  trifft  sich  nun  gut,  dass  in  demselben  Hefte,  in  dem 
Messers  Entgegnung  erscheint,  eine  eingehende  Abhandlung  von 
A.  Thomsen  über  den  gleichen  Gegenstand  veröffentlicht  wird, 
und  dass  darin  ebenfalls  —  im  Anschluss  an  ältere  Kritiker  — 
der  Widerspruch  zwischen  dem  „transscendentalen  Ding  an  sich" 
und  dem  „empirischen  Ding  an  sich"  dargelegt  wird.  Letzteres 
ist  für  Thomsen  freilich  nicht  jenes  x>,  d.  h.  nicht  der  aus  der 
Pistole  geschossene  unbekannte  Grund  der  Erscheinungen,  sondern 
das  „phänomenale  objektive  Substrat",  das  aus  Grössen  besteht. 
Dies  nenne  Kant  freilich  nicht  Ding  an  sich,  ziehe  aber  seine 
Bestimmungen  mit  in  den  Begriff  des  Dinges  au  sich  herein,  und 
darauf  beruhe  seine  Grund  Verwechselung.  Das  ist  wohl  im  Kern 
der  Sache  richtig,  aber  in  der  Argumentatiousart  schief.  Hätte 
Kant  dieses  Objekt  —  das  Thomsen  ganz  richtig  als  aus  Grössen 
bestehend  bezeichnet,  selbst  als  Ding  an  sich  anerkannt,  d.  h.  als 
ein  Ding,  dessen  Bestimmungen  unabhängig  vom  Bewusstsein 
gelten,  so  wäre  viel  Streit  vermieden.  Als  solches  Ding  be- 
zeichnet es  die  Wahrnehmung  freilich  thatsächhch,  indem  sie  be- 
hauptet, der  eben  geschaute  Baum  sei  derselbe,  wie  der  gestrige. 
Damit  aber,  dass  Kant  dies  Ding  an  sich  bloss  zur  Einheit  unter 
unseren  Vorstellungen  verflüchtigt,  dass  er  also  die  objektive 
Giltigkeit,  die  er  doch  behaupten  muss,  psychologisch  auflöst,  liegt 
der  Fehler. 

Dass  Thomsen  hier  fehl  geht,  liegt  daran,  dass  auch  er  die- 
Gesichtspunkte  nicht  scharf  scheidet,  unter  denen  wir  die  Wahr 
nehmung  betrachten  können:  Wahnehmung  als  Erscheinung  im 
Bewusstsein,  als  ein  Gegenstand,  den  wir  für  sich  vorstellen 
können  und  als  die  unmittelbare  Beziehung  zu  äusseren  Gegen- 
ständen.    Diese    drei  Gesichtspunkte   gilt   es   aiü's  klarste  ausein- 


56  F.  Staudinger, 

audei"  zu  halten.  Der  dritte  erg-iebt  die  natürliche  (wirkliche) 
Wahnehmiiug-,  der  zweite  Gesichtspunkt  nimmt  diese  Wahrnehmung- 
als  Gegenstand  der  Analyse,  der  erste  ist  der  psycholog^ische,  ver- 
meintlich „transscendeutale"  Gesichtspunkt.  Springt  nun  im  ge- 
ring-steu  die  Betrachtungsweise  von  einem  auf  den  anderen  Ge- 
sichtspunkt über,  ohne  dass  man  sich  dessen  klar  bewusst  bleibt, 
so  giebt  es  ähnliche  Vermeugung-eu,  wie  wenn  wir  im  Auge  be- 
findliche mouchcs  volantes,  und  auf  dem  Hintergrund  beweg-te 
Gegenstände  durcheinandermengen. 

Wenn  Thomseu  mit  Lichtenberg,  Helmholtz  u.  a.  behauptet, 
der  konsequente  Idealismus  sei  unwiderleglich,  so  betrachtet  er 
von  vorn  herein  die  Wahrnehmung  unter  bloss  psychologischem 
Gesichtspunkt  und  projiziert  die  Reflexion  aus  ihm  auf  den  naiven 
Gesichtspunkt.  Wenn  wir  dagegen  diesen  naiven  Gesichtspunkt 
selbst  unter  dem  zweiten  Gesichtpunte  kritisch  betrachten,  so  er- 
giebt  sich,  wie  oben  gezeigt,  handgreiflich  die  Unmöglichkeit  so- 
wohl des  Kantischen,  wie  des  Berkeleyschen  Idealismus.  Bliebe 
nur  noch  der  Idealismus  übrig,  der  wie  Hegel  und  wie  neuerdings 
Cohen  alles  Erkennen  aus  der  Idee  ableiten  und  die  Wahr- 
nehmungsbestaudteile  einschliesslich  der  Empfindung  thatsächlich 
von  hier  aus  auflösen  will.  Dieser  Idealismus  kann  nur  leider 
seinen  Ikarusflug  nicht  vollenden;  denn  er  stürzt  bei  der  ersten 
besten  Gelegenheit  doch  wieder  herab  in  die  sinnliche  Wahr- 
nehmung, die  aufzulösen  er  nicht  im  Stande  ist.  Aber  er  ist  in 
sich  jedenfalls  folgerichtiger  als  derjenige  Idealismus,  der  in 
einem  Atem  behauptet,  das  empirische  Haus  von  gestern  sei  das 
empirische  Haus  von  heute,  und  doch  sei  diese  Identität  im  „trans- 
scendentalen  Sinne"  nur  ein  Zusammenhang  blosser  Vorstel- 
lungen von  Etwas,  das  uns  gänzlich  unbekannt  sei.  Diese  Be- 
hauptung gleicht  der  des  Eastenpredigers,  der  nach  einem  guten 
Mahle  die  Güter  dieser  Welt  für  Staub  und  Moder  erklärt. 

Da  Thomsen  die  notwendigen  grundlegenden  Unterscheidungen 
der  verschiedenen  Gegenstandsgesichtspunkte  so  wenig  wie  Messer 
vornimmt,  so  gerät  auch  ihm  die  Kritik  nicht  durchgreifend. 
Wohl  hat  er  durchaus  recht,  wenn  er  z.  B.  S.  217  ff.  die  Ver- 
mengung zwischen  transscendentalem  und  empirischem  Ding  an 
sich  zerfasert;  aber  er  sieht  die  Vermengung  unvollständig;  sonst 
würde  er  merken,  dass  es  sich  keineswegs  um  eine  blosse  Ver- 
mengung von  Empirisch  und  Transscendental,  sondern  um  eine 
Vermengung  zwischen  jenem  x^  und  x*-*  bandelt,   dass  dagegen  der 


Der  Gegenstand  der  Wahrnehmung.  57 

empirische,  d.  h.  der  iu  der  Wahrnehmung:  nicht  bloss  bezeichnete, 
sondern  bestimmte  Geg-enstand  bei  Kaut  zu  einer  psychologischen 
mouche  volante  geworden  ist,  oder  besser  zu  einem  Schatten,  der 
von  seinem  Urgründe,  dem  nun  unbekannten  x' ,  getrennt  ist,  wie  die 
Schatten  des  Hades  vom  Dasein,  zu  dem  für  sie  kein  Nachen, 
keine  Brücke  mehr  herüberführt. 

Vorstehende  Erörterung  hat  nun  hoffentlich  deutlich  uud  klar 
gezeigt,  auf  welche  Fragen  und  auf  welche  Gesichtspunkte  für 
ihre  Beantwortung  es  ankommt.  Gleich  zu  Anfang  zeigte  sich, 
dass  von  der  Wahrnehmung  aus  und  schon  in  ihr  sich  der  Gegensatz 
zwischen  Wahrnehmung  und  Gegenstand  entwickelt,  dass  erstere 
Bestandteile  in  sich  enthält,  die  sie  unmittelbar  und  instinktiv, 
nicht,  wie  die  gemeine  Reflexion  meint,  dem  Gegenstände  zumisst, 
sondern  als  dessen  Wirkungen  auf  das  empirische  Ich  bezeichnet. 
Und  weiter  ergab  sich,  dass  da,  wo  Wahrnehmungsbeziehungen 
als  irrig  oder  zweifelhaft  bezeichnet  werden,  eine  weitere  Schei- 
dung, die  Scheidung  zwischen  Bewusstsein  und  Gegenstand  zu 
Tage  tritt.  So  haben  wir  ganz  unmittelbar  in  der  Wahrnehmung 
jene  drei  Gesichtspunkte:  Beziehung  der  Wahrnehmung  auf  ihren 
Gegenstand,  Beziehung  auf  die  Wahrnehmung  als  Gegenstand  und 
Beziehung  der  ^^'ahruehnu^ng  auf  das  Bewusstsein  (ihre  Betrach- 
tung als  blossen  Bewusstseinsfaktor)  vorbereitet  gefunden.  Um- 
gekehrt aber  hat  sich  gezeigt,  dass  wir  dann,  wenn  wir  von  vorn 
herein  von  letzterem  Gesichtspunkt  ausgehen,  nicht  nur  den 
ganzen  Gegenstaudsbegriff  iu  Unklarheit  bringen,  sondern  auch 
von  hier  aus  die  Brücke  zur  Wahrnehmungsaussage  abbrechen. 

Also  muss  von  der  Wahrnehmung  ausgegangen 
werden!  Das  ist  die  Folgerung,  die,  sollte  ich  denken,  aus  alle- 
dem gezogen  werden  muss.  Zur  Anahse  der  Wahrnehmung  hat 
Kant  selbst  ja  die  wertvollste  Vorarbeit  geliefert,  die  vom  ge- 
wöhnlichen Empirismus  noch  gar  wenig  beachtet  wird. 

Erst  dann,  wenn  wir  diese  Arbeit  geleistet  haben,  dann  erst 
und  nicht  früher  ist  auf  die  von  Kant  und  ihm  nach  von  Messer 
in  den  Anfang  gestellte  Frage  einzugehen:  Auf  welchem 
Grunde  beruht  die  Beziehung  unserer  Vorstellung  auf  den 
Gegenstand?  Hier  wird  dann  die  andere  Frage  zur  Entscheidung 
zu  bringen  sein,  ob  wirklich  Raum,  Zeit,  Kausalität  auf  Grund 
der  Sinneseindrücke  bloss  epigeuetisch  als  Vorstellungen  zu 
Stande  kommen.  Aber  wie  diese  Frage  auch  selöst  werden  muss: 
zu  betonen  ist,    dass  die  Frage  nach  der  Bedeutung  jene)-  Vor- 


58  F.  Staudinger,  Der  Gegenstand  der  Wahrnehmung. 

stelliingeu  nicht  vou  ihr  abhäugip:  zu  machen  ist.  Sollte  die 
Frage  in  Kants  Sinn  zu  beantworten  sein,  so  würde  dessen  Frage, 
wie  subjektive  Bedingungen  des  Anschauens  und  Denkens  objektive 
Bedeutung  hab(Mi  können,  allerdings  von  neuem  auftauchen.  Aber 
die  Frage  w'ürde  dann  doch  viel  genauer  bestimmt  sein.  Wir 
wissen  jetzt,  was  das  Wort  „objektiv"  vom  Gesichtspunkte  der 
Wahrnehmung  aus  zu  bedeuten  hat  und  lassen  uns  nicht  mehr 
mit  einer  Deduktion  aus  der  transscendentalen  Kinheit  der  Apper- 
ception  abspeisen.  Wir  müssen  vielmehr  in  jedem  Falle  fragen, 
wie  die  Aussagen,  die  vom  Gesichtspunkte  dieser  transscendentalen 
Einheit  stattfinden,  mit  dem  unvertilgbaren  Geltuugsanspruch  der 
Wahrnehmung  zusammenhängen. 

Das  ist  das  Problem,  an  dem  wir  arbeiten  müssen.  Die 
Frage,  an  der  das  letzte  Jahrhundert  sich  abquälte,  ob  Raum, 
Zeit  und  Kategorien  für  Dinge,  die  unabhängig  vom  Bewusstsein 
bestehen,  Geltung  haben,  ist  gegen  Kant  entschieden,  sobald 
wir  die  Wahrnehmung  einmal  unbeeinflusst  vom  „transscenden- 
talen" Gesichtspunkt  analysieren.  Dann  müssen  wir  uns  klar 
werden,  dass  diese  Wahrnehmung  jenen  Geltungsanspruch  uot- 
w^endig  enthält,  und  dass  sie  für  uns  in  keiner  Weise  zu  ent- 
fernen ist. 


Der  Begriff  der  sittlichen  Erfahrung. 

Von  Hugo  Renner. 


I. 

Eine  interessante  Deutung-  hat  Kants  Lehre  vom  katego- 
rischen Imperativ  in  Bruno  Bauchs  Schrift  „Glückselig-keit  und 
Persönlichkeit  in  der  kritischen  Ethik"  (Stuttg-art  1902)  erfahren, 
die  er  trotz  Vaihingers  Kritik  in  dieser  Zeitschrift  auch  neuer- 
dings in  seiner  Jubiläumsschrift  zu  Kuno  Fischers  80.  Geburts- 
tage „Die  Ethik"  (in  der  von  Windelband  herausgegebenen 
Festschrift:  Die  Philosophie  im  Beginn  des  20.  Jahrhunderts)  fest- 
zuhalten scheint.  Er  folgert  aus  seinen  Ausführungen,  „dass  der 
Inhalt  der  Handlung  selbst  ganz  gleichgültig  gegen  ihren  Wert, 
absolut  wertindifferent  ist,  dass  der  Wille,  das  Wollen  allein,  die 
reine  Form  des  Willens,  der  sich  um  der  Pflicht  willen  selbst  be- 
stimmt, das  allein  Wertentscheidende  ist"  (S.  91).  Der  katego- 
rische Imperativ  bezieht  sich  auf  die  Art  des  WoUens,  nicht  aber 
auf  die  Inhalte  des  Wollens. 

Mit  Recht  hat  meines  Erachtens  Vaihinger  darauf  hinge- 
wiesen, dass  dieser  Standpunkt  nicht  eigentlich  Kantisch  ge- 
nannt werden  könne,  dass  er  dem  Subjektivismus  Fichtes  ent- 
spricht, der  den  kategorischen  Imperativ  in  ein  „Handle  aus  dem 
Bewusstsein  deiner  Pflicht"  verflüchtigte,  eine  Fortbildung,  die 
nur  die  eine,  die  subjektive  Seite  der  Kantischen  Morallehre  zum 
Ausdruck  bringt.^)     Windelband  hat  diese  Fortbildung  in  seinen 


1)  Ich  bemerke  hier,  dass  sich  meine  Einwendungen  gegen  Bauch 
nicht  auf  dessen  Gesamttendenz,  sondern  nur  auf  einen  für  mich  wichtigen 
Punkt  richten.  Zudem  hatte  Bauch  die  Liebenswürdigkeit,  mir  durch 
schriftliche  Mitteihing  zu  zeigen,  dass  wir  auch  hier  nicht  allzuweit  in 
unseren  Ansichten  auseinander  stehen.  Immerhin  könnte  seine  Ethik 
leicht  eine  bloss  subjektive  Auffassung,  wie  sie  ja  in  neuester  Zeit  öfter 
vertreten  Wird,  begünstigen.  Der  objektive  Charakter  des  Sittengesetzes 
und    des  Verhältnisses    des    kategorischen  Imperativs  dazu  schien  mir  des- 


60  H.  Renner, 

Präludien  aufofeDommeu  uud  vou  ihm  haben  sie  seine  Schüler 
überkommen.  Vaihing-er  scheint  mir  daher  durchaus  im  Rechte 
zu  sein,  wenn  er  bei  den  Ausführung-en  Bauchs  mehr  den  Geist 
Fi  cht  es  als  die  Einwirkung  Kants  spürte. 


halb  schärfer  betont  werden  zu  müssen,  als  Bauch  das  gethan  hat.  Nichts- 
destoweniger rede  auch  ich  einer  formalen  Etliik  das  Wort,  wie  später 
ersichtlich  werden  wird,  und  insofern  teile  ich  selbst  den  allgemeinen  kri- 
tischen Standpunkt  mit  Bauch.  Ich  niuss  das  umsomehr  hervorheben,  als 
die  bereits  erwähnte  Ethik  Bauchs,  die  ich,  nebenbei  bemerkt,  für  die 
beste  wissenschafthche  Einleitung  in  die  Behandlung  dieser  Disziplin  halte, 
die  ich  kenne,  im  Litt.  Centralblatt  von  einem  sich  Drng  nennenden  Re- 
censenteurin  einer  Weise  besproclien  wurde,  dass  ich  damit  meine  Einwen- 
dungen nicht  gern  auf  eine  Stufe  stellen  möchte,  was  ich  glaube  be- 
tonen zu  müssen,  weil  man  sonst  in  ihnen  vielleicht  eine  Begünstigung 
gewisser  „heteronomer  Gedankengewohnheiten"  erblicken  könnte,  die 
ernsthaft  zu  verkünden  heutigentags  doch  eine  allzu  grosse  wissenschaft- 
liche Naivität  voraussetzen  würde. 

Redaktionelle  Bemerkung.  Ich  will  mich  hier  nicht  eingehend  mit 
Renner  auseinandersetzen,  zumal  noch  ein  zweiter  Artikel  folgt.  Ich  komme 
vielleicht  später  darauf  zurück.  —  Noch  weniger  will  ich  meinem  von  Renner 
erwähnten  Recensenten  hier  schon  die  gebührende  Antwort  geben.  Auch  dazu 
findet  sich  vielleicht  später  einmal  Gelegenheit.  Wie  köstlich  der  Recen- 
sent  selbst  seine  —  seien  wir  mild!  —antikritische  Geistesverfassung  durch 
seine  Stellung  zu  Kant  charakterisiert,  möchte  ich,  da  er  nun  einmal  überhaupt 
erwähnt  ist,  doch  nicht  gern  unbemerkt  lassen.  Die  Vernichtung  meiner,  wie 
der  an  Kant  anknüpfenden  kritischen  Ethik  überhaupt  gipfelt  in  der  grotesken 
Erklärung,  dass  „Kant  es  nicht  zu  einer  wirklichen  Ethik  ge- 
bracht hat",  und  dass,  was  Renner  dem  Recensenten  schon  heimgegeben 
hat,  Kants  vermeintliche  Ethik  „aus  einem  anklebenden  Reste 
heteronomer  Gedankengewohnheiten  entsprungen  ist".  Eine 
Kritik  dieser  an  eine  Urteilslosigkeit  des  Publikums,  für  die  sich  wohl 
auch  die  Leser  des  Litt.  Centralblattes  bedanken  möchten,  appellierenden 
Erklärung  ist  eigentlich  für  den  denkfähigen  Sachkenner  überflüssig. 
Darum  begnüge  ich  micli  damit,  zu  bemerken,  dass  auf  der  anderen 
Seite  —  das  darf  aus  Billigkeitsgründen  ebenfalls  nicht  verschwiegen 
werden  —  mein  Recensent  auch  Kant  gegenüber  sehr  wohlwollend 
sein  kann.  Er  bemüht  sich  nämlich,  eine  „Entschuldigung"  — 
nicht  für  jene  seine  Erklärung,  sondern  —  für  Kants  ethische  Anschau- 
ungen zu  suchen  und  glaubt  sie  im  „Transscendentalismus"  gefunden 
zu  haben.  Wie  war  doch  der  vermeintlich  so  bescheidene  Kant  in  Wahr- 
heit unbescheiden !  Ihm  ist  es,  unseres  Wissens,  niemals  in  den  Sinn  ge- 
kommen, .sich  wegen  seiner  Ethik,  die  „nicht  eine  wirkliche  Ethik" 
ist,  zu  „entsciiuldigen".  Es  ist  nur  gut,  dass  es  heute  so  einsichtige  und 
edle  Menschen  giebt,  die  diese  seine  Schuld  tilgen  und  bei  der  Nachwelt 
für  Kants  Werk  um  „Entschuldigung"  bitten.  Bruno  Bauch. 


Der  Begriff  der  sittlichen  Erfahrung.  61 

Es  lässt  sich  für  den  Standpunkt  anführen,  dass  in  der  That 
sittlich  oder  unsittlich  nur  die  Wolhing-en  sind,  die  Vorg-änge  aber, 
die  erst  durch  die  Verbindung-  mit  WoUung-en  zu  Handhingen 
werden,  an  und  für  sich  sittlich  indifferent  sind ;  und  ich  glaube, 
man  wird  diese  Auffassung-  um  so  eher  festzuhalten  haben,  weil 
der  Naturalismus  der  Gegenwart  und  die  äusserliche  Beurteilungs- 
weise der  Gegenwart  sich  mehr  au  die  That  als  an  den  Thäter 
hält.  Sieht  man  doch  sogar  in  der  Strafe  nur  eine  Reaktion 
der  Gesellschaft  gegen  bestimmte  ihr  schädliche;  Thaten,  eine  Be- 
griffsverschleiernng,  an  der  nur  der  mode  gewordene  Naturalismus 
die  Schuld  trägt.  „So  wenig,  wie  irgend  ein  anderes  Wesen,  kann 
der  Mensch  für  Eigenschaften,  Umstände,  Handlungen",  so  drückt 
sich  ein  Anhänger  der  ethischen  Kultui-  aus,  einer  Bewegung,  die, 
wie  kaum  eine  zweite,  an  der  Verwirrung  der  ethischen  Grund- 
begriffe arbeitet  und  einige  sentimentale  Modethorheiten,  wie 
z.  B.  Frauenemanzipation,  Antivivisektion  etc.  etc.  als  ethische 
Aufgaben  der  Gegenwart  hinstellt.  Und  etwas  pathetischer  drückt 
derselbe  Autor  seine  Weisheit  noch  in  den  Worten  aus :  „In  diese 
Welt  hineingeboren  mit  einem  bestimmten  Kostüm,  einer  be- 
stimmten Maske,  einer  bestimmten  Rolle,  hängen  wir  als  Helden 
und  Feiglinge,  als  Tugendhafte  und  Verbrecher,  als  Kluge,  Dumme, 
Reiche,  Arme  an  den  Drähten  unserer  Beschaffenheit  im  Puppen- 
theater der  irdischen  Komödie.  Alle  Marionetten  sind  zugleich 
Schauspieler  und  Zuschauer.  Schon  an  den  Kleidern  erkennt  mau 
die  Guten  und  die  Bösen,  die  anständigen  Menschen  und  die 
Lumpen  (so  nach  ihrer  selbstgewählten  Tracht  genannt).  Stets 
herrscht  wildes  Gewühl  durcheinander  drängender,  stossender 
Puppen".  Es  ist  „nur  seine  That  und  nicht  der  Verbrecher 
hassenswert".  Ich  würde  mich  darnach  nicht  mehr  wundern, 
wenn  man  im  Deichbau  eine  Strafe  für  die  Überschwemmungen 
sehen  würde. 

Gegen  diesen  flachen  Naturalismus  ist  die  Betonung  dieser 
subjektiven  und  für  den  individuellen,  persönlichen  Menschen  auch 
wichtigsten  Seite  durchaus  angebracht,  auch  ist  dieses  Gebiet  noch 
immer  nicht  so  abgegrast,  dass  jede  weitere  Arbeit  auf  ihm  zweck- 
los wäre. 

In  Kants  Ethik  ist  diese  Seite  in  der  Lehre  enthalten,  dass 
der  sittlich  handle,  der  zu  seiner  Handlung  durch  seine  Achtung 
vor  dem  Sittengesetz  bestimmt  werde.  Fichtes  „Handle  aus 
dem    Bewusstsein    deiner   Pflicht"    scheint   mir  damit  im  Wesent- 


62  H.  Renner, 

liclieu  übereinzustimmen.  Ich  kann  Bauch  darin  aber  nicht  zu- 
stimmen, dass  hierin  der  Begriff  der  sittlichen  Autonomie  schon 
umschrieben  wäre,  hierzu  möchte  ich  als  Geg-eniustanz  anführen, 
dass  auch  die  rehgiösen  Moralen,  die  doch  in  der  Regel  ausge- 
sprochen heteronom  sind,  auch  jene  ethische  Gesinnung  erheischen, 
wenn  sie  einigermassen  kulturell  entwickelt  sind.  Sie  verlangen 
auch  Gehorsam  gegen  die  Pflicht  und  sehen  nur  in  solchen  Hand- 
lungen sittlich  vollkommene,  die  eben  aus  jener  Gesinnung  ent- 
springen, das  stoische  xaT6QÜo)f.ia  ist  z.  B.  auch  in  das  Christen- 
tum aufgegangen,  das  xaifijxov  ist  eine  unvollkommene  Handlung; 
das  erstreckt  sich  bis  zur  vollkommenen  und  unvollkommenen  Reue, 
von  denen  die  erste  der  ethischen  Gesinnung,  die  zweite  der 
Furcht  vor  Strafe  entspringt. 

Diese  Ethik  ist  vom  Standpunkte  Kants  ebenso  zweifellos 
heteronom,  wie  sie  von  dem  Bauchs  autonom  ist. 

Das  Letztere  ist  sie,  denn  sie  verlegt  den  Wert  in  die  Ge- 
sinnung der  handelnden  Person,  in  die  QuaUtät  der  Wollung  aus 
der  die  Handlung  hervorgeht;  nur  dass  sie  dieser  —  jedem  Inhalt 
ja  gleich  zugänglichen  —  den  Inhalt,  also  die  objektive  Pflicht 
bestimmt.  Ethisch  richtig  würde  dann  der  handeln,  der  sich  pure 
durch  das  Bewusstsein  zu  seiner  Handlung  bestimmt,  dass  etwas 
seine  Pflicht  ist. 

Das  aber  ist  nach  Kant  erst  autonom,  dass  man  sich  nicht 
einfach  sagen  lässt,  dieses  oder  jenes  ist  deine  Pflicht  —  wie  es 
die  religiösen,  die  utilitaristischen  etc.  überhaupt  alle  Inhalts- 
m oralen  behaupten,  die  irgend  welchen  möglichen  Handlungen 
dogmatisch  den  Wert  festsetzen  —  sondern  dass  man  sich  durch 
vernünftige  Überlegung  selbst  entscheidet,  was  denn 
nun  im  Einzelfall  und  damit  objektiv  als  sittliche  Pflicht  zu 
gelten  habe,  ganz  analog  dem,  dass  ich  auf  dem  Gebiete  der  Er- 
kenntnis nicht  das  für  Wahrheit  halten  soll,  was  mir  als  Wahr- 
heit gepredigt  wird,  sondern  das,  was  ich  als  wahr  einzusehen 
vermag. 

Deshalb  ist  Kants  Moralprinzip  kein  Individuahsmus  in  dem 
Sinne,  dass  die  persönlichen  Optionen  auch  schon  als  sittliche 
Gebote  gelten  dürften;  die  „Vernünftigkeit"  der  Überlegung 
schliesst  zwar  nicht  den  Irrtum  und  damit  ethische  Meinungsver- 
schiedenheiten, wohl  aber  die  Willkür  a  limine  aus.  Der  katego- 
rische Imperativ  scheint  mir  nun  ausschliesslich  dazu  da  zu  sein, 
den    Begriff    des    sittlichen    Inhalts,     der    objektiven    sittlichen 


Der  Begriff  der  sittlichen  Erfahrung.  63 

Pflicht  ZU  bestimmeD.  Bauchs  Auffassung  des  kategorischen  Im- 
perativs: „Nur  auf  die  Verallgemeineruugsfähigkeit  der  Maxime, 
nicht  etwelchen  Handlungs-  und  Willensinhaltes  kommt  es  dieser 
Formel  des  ethischen  Prinzipes  an"  (Ethik  S.  9)  scheint  mir  daher 
unzutreffend  zu  sein ;  den  Grund  zu  seinem  IiTtum  glaube  ich  aber 
darin  sehen  zu  müssen,  dass  er  die  Verallgemeinerungsfähigkeit, 
die  der  kategorische  Imperativ  —  wie  wir  ihn  vertreten  —  fordert, 
nicht  als  eine  ethische,  sondern  als  eine  begriffliche  Allge- 
meinheit auffasst  und  wir  werden  später  zu  zeigen  haben,  dass 
diese  Interpretation  —  in  die  Kant  vielfach  selbst  verfallen  ist  — 
durchaus  irrig  ist. 

Lehnt  man  aber  diese  Seite  in  der  Ethik  zu  behandeln  ab, 
erklärt  man  sie  vielleicht  gar  für  sinnlos,  so  giebt  es  vielleicht 
noch  immer  sittliches  Handeln,  aber  gewiss  keine  sittlichen  Hand- 
lungen. Es  Hesse  sich  nicht  bestimmen,  was  man  wollen  soll, 
was  nicht.  Gerade  dies  scheint  mir  aber  das  Hauptbestreben  der 
Ethiker  gewesen  zu  sein.  Über  die  subjektive  Ethik  war  mau 
sich  verhältnismässig  einig,  bei  der  Bestimmung  des  objektiv  Rich- 
tigen fangen  erst  die  Schwierigkeiten  an.  Die  Feststellung  dessen, 
was  objektiv  richtiges  Verhalten  ist,  nenne  ich  nun  die  sittliche 
Erfahrung.  Es  ergeben  sich  daher  folgende  Fragen,  kann  man 
sich  mit  einer  rein  subjektiven,  nur  auf  die  Art  des  Wollens 
gehenden  Ethik  begnügen?  (II);  diese  Frage  ist  zu  verneinen, 
wenn  es  möglich  ist,  (III)  den  Begriff  eines  objektiv  richtigen  Ver- 
haltens zu  begründen  und  damit  kommen  wir  dann  zu  unserem 
speziellen  Problem,  über  das  die  Ethiker  zumeist  stillschweigend 
hinwegzugehen  pflegen,  wie  bestimme  ich  im  Einzelfalle,  w^elches 
Verhalten  unter  den  verschiedenen  möglichen  das  objektiv  richtige 
sei.  (IV.) 


II. 

Zwei  metaphysische  Richtungen  der  Gegenwart  sind  es  vor 
allem,  denen  eine  wissenschaftliche  Ethik  zu  begegnen  hat:  der 
Naturalismus  und  der  Historismus.  Dass  beide  auch  ver- 
schwistert  vorkommen,  ist  bei  den  vielen  Verwirrungen,  die  der 
Darwinismus,  diese  Vereinigung  von  Natui-alismus  und  Historismus 
par  excellence,  auch  sonst  angerichtet  hat,  nicht  wunderbar.  Ich 
werde  zu  zeigen  haben,  dass  die  blosse  Gesiunungsethik  diesen 
metaphysischen    und    destruierenden  Tendenzen  nicht  zu  begegnen 


64  H.  Renner, 

weiss,  wenigstens  nicht  hinreichend  zu  beg-egnen  weiss.  Doch  das 
wäre  noch  kein  innerer  Fehler,  erscheint  wenigstens  vorläufig 
nicht  als  solcher,  wenn  auch  letzten  Endes  solange  nicht  die 
Möglichkeit  der  Feststellung  eines  Reiches  der  Zwecke  neben  und 
trotz  dem  Reiche  der  Naturgesetzlichkeit  und  damit  die  Möglich- 
keit der  Feststellung  von  etwas  Beharrlichem  dem  Strom  der  Ent- 
wickelung  sich  begründen  Hesse,  sich  von  einer  Ethik  als  der 
Wissenschaft  vom  Sollenden,  nicht  nur  in  Betracht  der  Handlungen, 
sondern  auch  des  Handelns  nicht  reden  Hesse;  denn  die  subjektive 
Ethik  weist  über  sich  hinaus  und  erheischt  eine  objektive  Ethik, 
will  sie  nicht  Dogmatismus  oder  nihilistischei-  Skeptizismus  werden. 
Um  diese  Behauptung  zu  beweisen,  will  ich  mich  an  die  Formel 
Fichtes  halten:  „Handle  aus  dem  ßewusstseiu  deiner  PfHcht". 

Das  gebe  ich  ohne  weiteres  zu,  dass  nur  ein  solches  Handeln 
sittHch  gewertet  werden  kann,  für  das  ein  solches  Bewusstsein 
als  Motiv  in  Frage  kommt.  Thatsächlich  ist  nur  solches  Handeln 
sittlich,  das  aus  dem  Bewusstsein  der  Pflicht  entsprungen  ist. 
Aber  schon  das  wird  man  sehr  in  Zweifel  ziehen  dürfen,  ob  nur- 
solches  Handeln  unsittlich  ist,  das  gegen  unsei-  Pflichtbewusstsein 
voHzogen  wird.  Oft  ist  das  xadT^xor  unsittlich,  wie  das  Wohlthun 
um  eines  guten  Naciens  willen,  nicht  bloss  weil  man  dabei  auf 
seinen  Nutzen  ausgeht,  bei  gewissen  Handlungen  macheu  keines- 
wegs nicht-sittliche  Motive  das  Handeln  unsittlich,  sondern  vor 
allem,  weil  man  dabei  heuchelt.  Doch  gestehe  ich  gern,  dass 
man  durch  eine  Erweiterung  des  Begriffes  der  Handlung  diesem 
Dilemma  wohl  begegnen  kann. 

Es  erhebt  sich  aber  nunmehr  die  Frage,  was  ist  denn  dieses 
Bewusstsein  der  Pflicht:  Ist  es  eine  besondere  Art  von  Bewusst- 
sein, und  wenn,  welche  Art,  oder  wird  damit  nur  ein  besonderer 
Inhalt  unseres  Bewusstseius  bezeichnet.  So  wie  es  ein  Bewusst- 
sein von  Wahrheiten  gäbe,  d.  h.  so  wie  wir  wissen,  dass  dieses 
oder  jenes  wahr  sei,  ebenso  gäbe  es  auch  ein  Pflichtbewusstsein, 
d.  h.  wir  wären  uns  bewusst,  dieses  oder  jenes  wäre  unsere 
PfHcht  und  zwar  in  unserem  spezieHen  Fall  unsere  sittliche  Pflicht, 
da  die  Berufspflichten.  Bürgerpflichten  etc.  für  uns  vorderhand  nicht 
in  Frage  kommen.  Da  nun  etwas  deshalb  nicht  schon  wahr  ist, 
weil  man  es  für  wahr  hält,  so  braucht  uns  das  noch  nicht  Pflicht 
zu  sein,  was  man  dafür  hält,  —  oder  wir  haben  es  hier  mit  einer 
besonderen  Bewusstseinsart  zu  thun,  worüber  wir  nachher  reden 
woHeu. 


Der  Begriff  der  sittlichen  Erfahrung.  65 

Woran  erkenne  ich  mm,  dass  etwas  „Pflicht"  sei.  Entweder 
doch  nur  dadurch,  dass  mir  etwas  befohlen  wird,  z.  B.  von  Gott 
—  heteronomer  Staudpunkt,  oder  aber,  dass  ich  auf  Grund  eigener 
Erwägung  prüfe  uud  feststelle,  was  meine  sittliche  Pflicht  sei  — 
autonomer  Staudpunkt. 

Der  heteronome  Standpunkt  ist  letztlich  immer  dogmatisch, 
er  steht  und  fällt  mit  dem  Dogma,  auf  dem  er  basiert;  der  auto- 
nome ist  zetetisch.  Mit  dem  heteronomen  Standpunkt  fällt  die 
Ethik  in  ihrer  Eigenart  hinweg. 

Welchen  Standpunkt  man  auch  einnimmt,  ist  das  Pflicht- 
bewusstsein  nur  das  Bewusstsein  von  einem  besonderen  Inhalt,  so 
liegt  in  einer  solchen  Auffassung  implicite  das  Zugeständnis,  dass 
die  subjektive  Ethik  dringend  einer  objektiven  zur  Ergänzung  be- 
darf, welche  auf  Grund  einwandfreier  Gründe  mich  lehrt,  wie  ich 
bestimme,  was  im  Einzelfall  meine  sittliche  Pflicht  sei.  Und 
hierin  hat  meines  Erachtens  das,  was  Bauch  die  Erfolgsethik 
nennt,  seinen  Grund,  dass  mau  nämlich  irgend  ein  Prinzip  an- 
geben kann,  auf  Grund  dessen  man  im  Einzelfall  die  sittliche 
Entscheidung  fällen  kann. 

Der  Historismus  wird  diese  Möglichkeit  ja  sicher  ableugnen, 
vor  allem,  weil  er  in  der  schwankenden  Sitte  den  einzig  und 
allein  auffindbaren  Ausdruck  der  objektiven  Sittlichkeit  sieht. 
Sieht  man  des  fernereu  in  der  moralischen  Entscheidung  einen 
begrifflich  (theoretisch)-  allgemeinen  Satz,  statt  einen  ethisch-all- 
gemeinen, sieht  man  also  in  den  moralischen  Entscheidungen  auch 
schon  Gesetze  der  W^ollungen,  d.  h.  erklärt  man  eine  einmalige 
sittliche  Entscheidung  für  alle  Zeiten  und  alle  Umstände  gefällt, 
dann  wird  uns  die  Geschichte  durch  die  Belehrung,  wie  wechsel- 
reich die  Bewertung  eines  Inhaltes  stets  gewesen  ist,  von  unserem 
Irrtum  befreien,  der  im  wesentlichen  ja  darauf  beruht,  dass  wir 
die  ethische  Allgemeinheit  im  Sinne  eines  Naturgesetzes  oder  eines 
allgemeinen  Naturbegriffes  auffassen.  Bauch  hat  ganz  Recht: 
„Aller  auf  den  äusseren  Erfolg  abzielende  Dogmatismus  mit  seiner 
gleichmacherischen  Tendenz  scheitert  an  der  absolut  individuellen 
Bestimmtheit  alles  Wirklichen.  Gegen  ihn  hat  der  Individualismus 
vollkommen  recht,  seine  Einsicht  zur  Geltung  zu  bringen,  dass  es 
in  der  ganzen  Wirklichkeit  nicht  zwei  gleiche  Handlungen,  weil 
nicht  zwei  gleiche  Individuen  giebt,  dass  wu*  immer  etwas  Ein- 
maliges sind  und  daher  auch  nur  Einmaliges  thun,  dass  es  also 
einfach    ungereimt  ist,   inhaltlich  gleiche  Handlungen  als  sittliches 

Kautatudiea  X,  5 


66  H.  n 


enner 


Gebot  zu  fordern,  da  sich  ein  solches  Gebot  doch  sowieso  niemals 
realisieren  lässt."  (Ethik  S.  97.)  Bauch  hat  darin  völlig-  recht,  so 
sehr  dies  auch  alle  und  jede  heterononie  Ethik  bestreiten  mag, 
eben  weil  deren  Auffassung-  strikt  aus  einem  der  Ethik 
fremden  Gesichtspunkte,  nämlich  dem  theoretischen  Verhältnis 
der  Begriffe,  also  einem  für  die  Ethik  metaphysischen  Gesichts- 
punkte entnommen  ist.  Dieses  Argument  ist  aber  noch  nicht  hin- 
reichend, weil  z.  B.  des  Aristoteles  richtige  Mitte  diese  individu- 
ellen Momente  hinreichend  berücksichtigt,  also  an  sich  doch  wohl 
zur  Bestimmung  des  objektiv  Sittlichen  dienlich  sein  könnte. 
Dass  dessen  Prinzip  dennoch  dazu  nicht  dienlich  sein  kann,  hängt 
von  einem  anderen  Moment  ab;  aber  dieser  Hinweis  genügt  doch 
schon,  um  zu  zeigen,  dass  nicht  jede  objektive  Bestimmung  des 
Sittlichen  gleichmacherische  Tendenzen  in  sich  bergen  muss. 

Um  irgend  eine  objektive  Bestimmung  des  Sittlichen  wird 
letztlich  eine  Ethik  nicht  herumkommen.  Es  wird  schliesslich  die 
Art  der  Wollung  —  die  ethische  Gesinnung  —  selbst  als  ein 
objektives  ethisches  Gebot,  also  als  ein  ethischer  Inhalt  hingestellt 
werden  können.  Ist  die  ethische  Gesinnung  das  allein  Wertent- 
scheidende und  sittlich  Wertvolle,  dann  ist  damit  gesagt,  dass 
man  diese  Gesinnung  haben  oder  in  sich  erwecken  soll.  Fasst 
man  Kants  kategorischen  Imperativ  so  auf,  dass  die  Allgemeinheit, 
die  er  ausdrückt,  auf  die  ethische  Gesinnung  geht,  so  ward  damit 
doch  nur  ein  näher  zu  charakterisierender  psychologischer  Vorgang 
als  sittlich  wertvoll  herausgeschält  und  damit  zu  einem  inhaltlich 
genau  so  gut  bestimmten  sittlichen  Gebote  gemacht,  wie  wenn 
ich  die  Nächstenliebe,  die  Treue  oder  sonst  etwas  als  sittliche 
Pflicht  hinstelle.  Wenn  diese  Gesinnung  auch  mit  sehr  verschieden- 
artigen Handlungen  verknüpft  sein  kann,  so  wird  sie  doch  dadurch 
keineswegs  zur  Form,  so  wenig  wie  die  Lust  dadurch  bloss  et- 
was Formales  wird,  dass  ihr  Inhalt  ein  sehr  verschiedener  ist. 
Man  kann  den  formalen  Charakter  des  Fichteschen  Prinzips  ( — 
mit  Kants  kategorischem  Imperativ  ist  es  —  wie  wir  sehen 
werden,  etwas  ganz  anderes  — )  auch  damit  nicht  retten,  dass 
man  ihn  als  das  Prinzip  hinstellt,  durch  das  die  an  sich  indiffe- 
renten Handlungen  erst  einen  sittlichen  Wert  erhielten.  Denn  das 
wäre  von  diesem  Standpunkte  aus  gar  nicht  einmal  wahr,  die 
Handlungen  müssen  auch  dann  noch  indifferent  bleiben,  an  dem 
ganzen  Komplex,  den  wir  Handlung  nennen,  ist  nur  der  enge  Be- 
zirk  sittlich    in    Frage    zu    stellen^    den    wir    etliische    Gesinnung 


Der  Begriff  der  sittlichen  Erfahrung.  67 

nennen;  denn  nicht  ein  bestimmter  Erfolg-,  sondern  eine 
bestimmte  Gesinnung  wird  gefordert;  diese  ist  damit  ein 
bestimmter  sittlicher  Inhalt  —  ein  objektiver  ethischer 
Wert  und  indem  Fichtes  Formel  die  Realisierung  dieses  AVertes 
heischt,  ist  sie  kein  formales  Prinzip,  sondern  ein  mate- 
riales  ethisches  Urteil  (eine  mögliche  sittliche  Erfahrung), 
oder  ich  weiss  nicht,  was  Foroi,  was  Materie  in  der  Philosophie 
Kants  zu  bedeuten  hat. 

Sehr  wohl  kann  etwas  nach  Stammlers  Lehre  —  was  ja 
in  etwas  anderem  Sinne  schon  Aristoteles  behauptete  —  in 
einer  Betrachtung  formal,  in  anderer  aber  material  sein.  Fordert 
Fichte  für  sein  Bewusstsein  der  Pflicht  auch  keinen  bestimmten 
mit  ihm  verbundenen  äusseren  Vorgang,  so  ist  sie  doch  auch 
diesen  gegenüber  nicht  Form;  da  bestimmte  Vorgänge  für  diese 
rein  subjektivistische  Ethik  überhaupt  nicht  gefordert  werden  und 
in  Frage  kommen,  können  sie  auch  zu  diesem  Prinzip  gar  keine 
Beziehung  haben.  So  erhebt  sich  auch  gegenüber  Fichtes  mate- 
rialem  Urteil  die  ethische  Doppelfrage:  Mit  welchem 
Rechte  darf  ich  überhaupt  von  objektiven  ethischen 
Werten  reden  (kritische,  von  Kant  gestellte  Frage)  und:  mit 
welchem  Recht  darf  ich  —  die  Möglichkeit  objektiver  ethischer 
Werte  zugegeben,  in  dem  Prinzip  Fichtes  nicht  nur  eine 
mögliche  —  den  kritischen  Voraussetzungen  entsprechende  — 
sondern  auch  eine  wirkliche  —  den  positiven  ethischen  That- 
sachen,  Solkingen  entsprechende  —  ethische  Erfahrung 
sehen?  So  lange  ich  diese  Fragen  nicht  beantworte,  muss  diese 
Formel  für  die  Wissenschaft  in  Schwebe  bleiben.  Der  Naturalis- 
mus, der  die  Teleologie  überhaupt  leugnet  und  die  Heraushebung 
ethischer  Werte  überhaupt  negiert,  wie  der  Historismus,  der  nur 
relative  Werte  zugiebt,  objektive  aber  überhaupt  leugnet,  lässt 
den  Dogmatismus  nicht  zu.  Was  gegen  den  Dogmatismus  über- 
haupt gilt,  gilt  auch  vom  Dogmatismus  Fichtes. 

Hier  möchte  ich  nun  den  Satz  betonen,  dass  die  Ethik 
keineswegs  die  Aufgabe  hat,  die  Sittlichkeit  zu  schaffen.  Es 
kann  ihr  auch  nicht  einmal  der  Beweis  dafür  zugeschoben  werden, 
dass  es  so  etwas  wie  Sittlichkeit  überhaupt  gebe.  Analog  dem, 
dass  die  theoretische  Philosophie  die  Erfahrungen  nicht  erst 
schafft,  oder  Sätze  aufstellt,  aus  dem  die  wii'klichen  Erfahrungen 
abf Hessen,  sondern  vielmehr  die  Thatsache  der  Erfahrung  inter- 
pretiert  und   einen    begründeten   Begriff   von  ihr  aufstellt  — 

5* 


68  H.  Renner, 

begründet  im  Sinne  von  der  wirklichen  Erfahrung  entsprechend 
und  auf  die  Berechtigung-  seiner  Voraussetzungen  geprüft  —  ana- 
log und  genau  ebenso  setzt  die  Ethik  die  Tbatsache  der  Sittlich- 
keit voraus,  setzt  voraus,  dass  es  ein  sittliches  Sollen  giebt.  Be- 
stände diese  Thatsache  nicht,  so  wäre  jeder  Versuch  einer  Ethik 
ebenso  sinnlos,  wie  der  Vei-such  einer  Erkenntnistheorie  ohne  die 
Thatsache  der  Erfahrung.  Nur  darin  hat  die  Ethik  ihren  Wert 
und  ihre  Berechtigung,  dass  sie  dem  subjektiven  Etwas-für-ein- 
ethisches-Sollen-Halten  abhilft  und  dafür  zur  Erkenntnis  der  ob- 
jektiven Pflicht  führt;  ihre  Aufgabe  ist  die  doppelte,  den  Begriff 
der  objektiven  Pflicht  oder  besser,  des  kategorischen  Zwecks  fest- 
zustellen und  zu  begründen,  und  anzugeben,  wie  ich  im  Einzelfall 
zur  Bestimmung  eines  objektiven  ethischen  Zweckes  komme.  Die 
subjektive  Gesinnung  müsste  selbst  als  ein  objektiver  ethischer 
Zweck  sich  erweisen.  Ich  denke,  das  ist  ganz  im  Sinne  Kants 
geredet,  der  ja  an  der  ethischen  Erfahrung  des  guten  Willens  — 
der  Feststellung,  dass  der  gute  Wille  einen  objektiven  ethischen 
Pluswert  besitzt,  selbst  ein  Beispiel  gegeben  hat.  Dass  der  gute 
Wille  etwas  Psychologisches,  also  theoretisch  Subjektives  ist,  be- 
streite ich  nicht,  aber  nur  dadurch,  dass  Fichte  ihre  ethische 
Objektivität  nicht  erkannte,  konnte  er  der  Kantischeu  Lehre 
eine  Fortbildung  geben,  die  von  seinem  nicht-ethischen  Ausgang 
her  den  Charakter  eines  formalen  Prinzips  gewinnen,  der  im 
Sinne  einer  objektiven  Ethik  materialer  Dogmatismus  ist,  weil  ein 
einzelner  positiver  ethischer  Wert  zur  Norm  aller  positiven 
Werte  gemacht  wird,  oder  vielleicht  auch  der  einzige  bleibt.  Da- 
bei will  ich  aber  gern  zugeben,  dass  der  Nachweis  immer  interes- 
sant bleibt,  wie  in  sich  widerspruchsvoll  der  ethische  Skeptizismus 
ist.  Die  Ausführungen,  die  Bauch  darüber  in  seinen  beiden  er- 
wähnten Arbeiten  bringt,  sind  der  Beachtung  wohl  wert.  Doch 
würde  ich  darauf  nie  den  Nachdruck  legen;  der  Skeptizismus 
scheint  mir  eben  auch  eine  falsche  Auffassung  von  der  Aufgabe 
der  Ethik  zu  haben.  Er  scheint  zu  glauben,  dass  der  Philosoph 
ethische  Werte  erst  zu  schaffen,  statt  vorgefunden  zu  erklären 
habe  —  ein  Fehler,  der  bei  Fichte  zum  Prinzip  wird. 

Durch  den  Nachweis  der  Aufweisbarkeit  des  Pflichtbewusst- 
seins  würde  zudem  der  Skeptizismus  weder  in  objektiver  noch  in 
subjektiver  Hinsicht  beseitigt  sein.  Um  jedoch  den  Anhängern  Fichtes 
nicht  Unrecht  zu  thun,  will  ich  nur  betonen,  dass  deren  Pflicht- 
bewusstsein   nicht   ein   psychologisches  Bewusstsein    von    Normen, 


Der  Begriff  der  sittlichen  Erfahrung.  69 

sondern  ein  normatives  Bewusstsein  ist.  Der  Relativismus,  der 
vom  Psychologismiis  lierf Hessen  muss,  würde  sie  nicht  umfassen. 
Der  Begriff  eines  normativen  Bewusstseins  ist  aber  m.  E.  eine 
metaphysische  Fiktion;  will  man  ihm  einen  Inhalt  anweisen,  wird 
man  die  Bestimmungen  nur  der  empirischen  Psychologie  entnehmen 
können.  Dennoch  darf  der  Unterschied  in  der  Absicht  nicht  über- 
sehen werden. 

Ich  resümiere  also:  fasst  mau  das  Prinzip  , Handle  aus  dem 
Bewusstsein  der  Pflicht',  so  auf,  dass  damit  die  Gesinnung  allein 
ethisch  gewertet  werde,  der  Versuch  der  Bestimmung  einer  ethischen 
Pflicht,  eines  Inhalts  aber  abgelehnt  wird,  so  wird  man  unmöglich 
eine  objektive  Ethik  im  Sinne  Kants  erhalten.  In  dem  Begriff  eines 
normativen  Bewusstseins  hat  zwar  anscheinend  die  Fichte  sehe 
Schule  ein  Mittel,  das  objektiv-sittlich  als  das  dem  normativen  Be- 
wusstsein entsprechenden  zu  bestimmen.  Aber  eben  nur  anscheinend. 
Da  nämlich  das  normative  Bewusstsein  das  psychologische  Bewusst- 
sein nicht  sein  soll,  nach  Rickerts  Bestimmungen  sogar  über- 
haupt nichts  Wirkliches,  sondern  nur  ein  Begriff  ist,  kann  es  nichts 
anderes  als  eben  derselbe  Begriff  sein,  den  wir  als  den  der 
ethischen  Erfahrung  —  der  objektiv  richtigen  Handlung  ansehen,  sein. 
Der  Ausdruck  „normatives  Bewusstsein  oder  Bewusstsein  über- 
haupt" ist  nur  eine  andere  Bezeichnung,  keineswegs  aber  der  er- 
klärende Begriff  für  die  ethische  Erfahrung.  Nur  der  Doppelsinn, 
etwas  Seiendes  oder  ein  Begriff  zu  sein,  konnte  den  Glauben  er- 
wecken, dass  mit  diesem  Terminus  etwas  für  die  Lösung  unseres 
Problems  geleistet  wäre.  Durch  diese  bloss  terminologische  Ver- 
schiebung wird  die  Erklärung  unseres  Problems  nicht  ersetzt. 

Das  Bewusstsein  hiervon  mag  wohl  die  Fichte  sehe  Schule 
veranlasst  haben,  die  Betonung  der  Gesinnung  unter  Vernachläs- 
sigung des  Versuchs,  den  sittlichen  Inhalt  zu  bestimmen,  als  Kar- 
dinalpunkt der  kritischen  Ethik  hinzustellen.  Es  liegt  durchaus 
in  dieser  Richtung,  wenn  Bauch  Kants  kategorischen  Imperativ 
auf  die  Verallgemeinerungsfähigkeit  der  Gesinnung,  nicht  des  In- 
halts, anwendet,  damit  wnrd  implicite  der  Begriff  des  objektiv 
Richtigen  eliminiert  und  doch  glaube  ich,  ist  Bauch  bei  allem 
Scharfsinn,  den  seine  Arbeit  zeigt,  in  eine  Schhnge  geraten,  die 
ihn  selbst  genötigt  hat,  aus  seinem  eingeengten  Standpunkte  her- 
auszutreten. Seite  50  ff.  seines  Buches  Glückseligkeit  etc.  sucht 
er  z.  B.  das  Verhältnis  zwischen  Pflichtbewusstsein  und  Neigung 
in    der   ethischen  Wertung    zu  bestimmen.     Beide  können  zufällig 


70  H.  Renner, 

zusammenkommen,  „dann  kann  die  Neigung  für  sich  zu  einer 
Handlung  führen,  die  zwar  auch  das  Sittengesetz  gebietet  (!),  die 
aber  das  handelnde  Subjekt  nicht  auf  dieses  Gebot  hin  (!),  sondern 
unter  dem  Antriebe  seiner  Neigungen  vollbracht  hat.  Diese 
Handlung  ist  weder  moralisch  noch  unmoralisch.  Wertungen,  die 
ja  nur  in  Rücksicht  auf  das  Sittengesetz  Sinn  haben  — ,  sondern 
nach  Kants  Bezeichnung  bloss  legal.  Sie  kommt  der  gleich,  die 
ohne  alle  Beziehung  auf  das  Sittengesetz  geschieht,  denn  ihre 
Übereinstimmung  mit  diesem  ist  ja  nur  zufällig."  Was  heisst 
hier,  ein  Sittengesetz  gebiete  eine  Handlung?  Heisst  es,  der  ka- 
tegorische Imperativ  steht  in  Beziehung  zu  den  Inhalten  der 
Handlungen,  er  drücke  den  Begriff  eines  objektiven,  inhaltlich  be- 
stimmten sittlichen  Zweckes  aus?  Ist  also  eine  bestimmte 
Handlung  sittlich  gefordert,  dann  und  nur  dann  kann 
ich  sagen,  ihre  Realisierung  sei  legal,  wenn  sie  nicht 
der  sittlichen  Gesinnung  entsprungen  ist.  Nur  durch 
eiuen  ungenauen  Gebrauch  der  Worte  können  die  Gesinnungs- 
ethiker  von  legalen  Handlungen  sprechen.  Sie  sollen  das  Wort 
Handlung  ganz  aus  dem  Spiele  lassen  und  nur  von  Handeln 
reden,  nicht  in  dem  Sinne  einer  noch  nicht  vollendeten  Hand- 
lung, —  diese  kommt  für  sie  nicht  in  Frage  —  sondern  von 
einer  logisch  angebbaren  und  abgrenzbaren  Bestimmtheit  eigener 
Art;  nicht  insofern  sie  ein  Vorgang  ist,  —  der  stets  einen  mög- 
lichen objektiven  Wert  darstellt  — ,  sondern  nur  mit  Rücksicht 
auf  die  ihn  bedingende  Gesinnung,  also  ganz  subjektiv.  Ist  die 
Bestimmung  eines  objektiven  sittlichen  Inhalts  unmöglich  oder 
vielleicht,  ist  ein  Inhalt  sittlich,  dessen  Realisierung  aus  der  sitt- 
lichen Gesinnung  fliesst,  dann  kann  man  nicht  sagen,  der  sittliche 
Inhalt  sei  aus  Neigung,  nicht  aus  dem  Pflichtbewusstsein  realisiert 
worden.  Genau  ebenso  könnte  man  nicht  von  unsittlichen  Hand- 
lungen reden,  da  es  ja  stets  nur  auf  die  Art  des  Handelns,  nicht 
auf  den  Inhalt,  den  zu  realisierenden  Zweck  ankommt. 

Man  kann  noch  weiter  gehen.  Lässt  sich  das  Recht  objek- 
tiver Zwecke  nicht  nachweisen,  so  kann  man  auch  nicht  einmal 
von  einer  Gesinnungsethik  reden.  Sie  hat  selbst  einen  objektiven 
ethischen  Inhalt  zum  Grunde.  Lassen  sich  die  Rechtsame  einer 
objektiven  ethischen  Teleologie  positiv  nicht  begründen,  —  der 
negative  Nachweis,  dass  die  Leugnung  ethischer  Werte  wider- 
spruchsvoll ist,  reicht  nicht  aus,  da  der  Widerspruch  nur  die 
Existenz    ausschliesst,    die    obendrein   noch  einen  positiven  Grund 


Der  Begriff  der  sittlichen  Erfahrung.  71 

voraussetzt,  —  dann  lässt  sich  dem  konsequenten  Naturalismus 
nichts  einwenden,  wenn  er  alle  teleologische  Wertung  ablehnt. 
Die  ethische  Gesinnung  ist  dann  nur  ein  psychologisch  beschreib- 
barer Vorgang,  die  ethische  Wertung  derselben  —  so  sehr  sie 
auch  im  Gebrauche  ist  — ,  wäre  innerlich  nicht  gerechtfertigt, 
sondern  allenfalls  ein  aus  der  inneren  Motivation  sich  ergebender 
Zwang.  Der  ethische  Idealismus  wäre  damit  ein  psychologischer 
des  subjektiven  Scheins,  und  er  würde  sich  von  dem  moral  sense 
wohl  dem  bestimmten  Objekte  nach,  nicht  aber  dem  logischen 
Charakter  nach  unterscheiden. 


III. 

Kants  kategorischer  Imperativ  scheint  mir  also  ausge- 
sprochen den  Zweck  zu  haben,  den  Begriff  eines  möglichen  sitt- 
lichen Inhaltes  zu  bestimmen.  Seine  Ethik  scheint  mir  eine  seiner 
Erkenntniskritik  durchaus  analoge  Aufgabe  zu  haben.  Wie  diese 
den  Begriff  eines  möglichen  Objektes  der  Erfahrung 
aufstellt  und  begründet,  so  soll  in  erster  Instanz  die  Kritik  der 
praktischen  Vernunft  dazu  dienen,  den  Begriff  eines  möglichen 
Objektes  des  sittlichen  Handelns,  also  eines  möglichen 
sittlichen  Inhaltes  festzustellen  und  zu  begründen.  Dass 
es  ihm  durchaus  angängig  erschien,  mögliche  sittliche  Inhalte 
zu  bestimmen,  dafür  ist  sein  ganzes  Buch :  „Metaphysische  An- 
fangsgründe der  Tugendlehre"  der  beste  Beweis.  Doch  schon  in 
der  Schrift,  die  am  reinsten  den  Charakter  der  ethischen  Gesin- 
nung betont,  und  herausarbeitet,  in  der  Grundlegung  zur  Meta- 
physik der  Sitten  findet  sich  diese  Tendenz;  so  in  einer  schönen 
Stelle  IL  Aufl.  S.  36 :  „Ein  jedes  Ding  der  Natur  wirkt  nach  Ge- 
setzen. Nur  ein  vernünftiges  Wesen  hat  das  Vermögen,  nach 
der  Vorstellung  der  Gesetze,  d.  i.  nach  Prinzipien  zu  handeln, 
oder  einen  Willen.  Da  zur  Ableitung  der  Handlungen  von  Gesetzen 
Vernunft  erfordert  wird,  so  ist  der  Wille  nichts  anderes  als 
praktische  Vernunft.  Wenn  die  Vernunft  den  Willen  unausbleib- 
lich bestimmt,  so  sind  die  Handlungen  eines  solchen  Wesens,  die 
als  objektiv  notwendig  erkannt  werden,  auch  subjektiv  notwendig, 
d.  i.  der  Wille  ist  ein  Vermögen,  nur  dasjenige  zu  wählen,  was 
die  Vernunft  unabhängig  von  der  Neigung  als  praktisch  notwendig, 
d.  i.  als  gut  erkennt.     Bestimmt  die  Vernunft  aber  für  sich  allein 


72  H.  Renner, 

den  Willen  nicht  hinlänglich,  ist  dieser  noch  subjektiven  Beding- 
ungen   (gewissen  Triebfedern)    unterworfen,    die   nicht   immer  mit 

den  objektiven  übereinstimmen, so  sind  die  Handlungen,  die 

objektiv  als  notwendig  erkannt  werden,  subjektiv  zufällig,  und 
die  Bestimmung  eines  solchen  Willens,  objektiven  Gesetzen  gemäss, 
ist  Nötigung." 

Von  der  folgenden  Stelle  spricht  geradezu  jedes  einzelne 
Wort  für  unsere  Auffassung:  „Die  Vorstellung  eines  objektiven 
Prinzips,  sofern  es  (—  nicht  sie  — )  für  einen  AVillen  nötigend 
ist,  heisst  ein  Gebot  (der  Vernunft)  und  die  Formel  des  Gebotes 
heisst  Imperativ."  Schon  hieraus  darf  ich  schliessen,  dass  der 
kategorische  Imperativ  der  Begriff  der  objektiven  sittlichen  Pflicht 
ist.  Die  ethische  Gesinnung  fällt  unter  ihn  und  steht  damit  unter 
der  Forderung  der  ethischen  Verallgemeinerungsfähigkeit,  weil  sie 
selbst  ein  objektiver  ethischer  Wert  ist. 

Ich  könnte  die  Belege  für  meine  Ausführung  noch  häufen: 
S.  37  „Alle  Imperative  werden  durch  ein  Sollen  ausgedrückt  .  .  . 
Sie  sagen,  dass  etwas  zu  thun  oder  zu  unterlassen  gut  sein 
würde."  S.  39:  „Der  kategorische  Imperativ  würde  der  sein, 
welcher  eine  Handlung  als  für  sich  selbst,  ohne  Beziehung  auf 
einen  anderen  Zweck  als  objektiv-notwendig  vorstellte."  0  •  •  • 
Weil  jedes  praktische  Gesetz  eine  mögliche  Handlung  als  gut  und 
darum  für  ein  durch  Vernunft  bestimmbares  Subjekt,  als  notwendig 
vorstellt  ...  S.  40:  „Der  Imperativ  sagt  also,  welche  durch 
mich  mögliche  Handlung  gut  wäre  und  stellt  die  praktische  Regel 
im  Verhältnis  auf  einen  Willen  vor,  der  darum  nicht  sofort  eine 
Handlung  thut,  weil  sie  gut  ist,  teils  weil  das  Subjekt  nicht  immer 
weiss,  dass  sie  gut  sei,  teils  weil,  wenn  es  dies  auch  wüsste,  die 
Maximen  desselben  doch  den  objektiven  Prinzipien  einer  praktischen 
Vernunft  zuwider  sein  könnte."  Das  mag  genügen  zum  Schluss: 
S.  51  Maxime  ist  das  subjektive  Prinzip  zu  handeln  und  muss 
vom  objektiven  Prinzip,  nämlich  dem  praktischen  Gesetze,  unter- 
schieden werden.  Jene  enthält  die  praktische  Regel,  die  die  Ver- 
nunft den  Bedingungen  des  Subjekts  gemäss  (öfters  der  Unwissen- 
heit oder  auch  den  Neigungen  desselben)  bestimmt,  und  ist  also 
der    Grundsatz,    nach    welchem    das  Subjekt   handelt;    das  Gesetz 


1)  Eine  treffliche,  damit  völlig  übereinstimmende  Auffassung  finde 
ich  bei  Lipps  Eth.  Grundfragen  und  in  seinem  Kant-Artikel  in  „Deutsch- 
land." 


Der  Begriff  der  sittlichen  Erfahrung.  73 

aber    ist    das    objektive    Prinzip,     gültig    für    jedes    vernünftige 
Wesen,    und    der  Grundsatz,    nach    dem   es  handeln  soll,    d.  i.  ein 

Imperativ. 

Hieraus  entsprang  Kant  das  Grund problem  aller  Philosophie, 
die  Frage  nach  der  Zusammenstimmung  des  Reiches  der  Freiheit 
mit  dem  Reiche  der  Natur,  der  teleologischen  Ordnimg  mit  der 
mechanischen. 

Wenn  die  Sittlichkeit  Forderungen  aufstellt,  so  müssen  sie 
zwar  erfüllbar  sein,  aber  es  muss  sich  nicht  verstehen,  dass  sie 
durch  die  natürliche  Ordnung  der  Dinge  eo  ipso  erreicht  werden, 
oder  gar  erreicht  werden  müssen.  Das  sittliche  Sollen  würde 
seinen  ethischen  Charakter  verlieren,  es  würde  sich  als  ein  blosses 
Endglied  eines  naturnotwendigen  Entwickelungsprozesses  charak- 
terisieren lassen,  wenn  es  anders  wäre.  Es  hätte  alsdann  nicht 
den  geringsten  Sinn,  Zwecke  als  schlechthin  zu  realisierende  Auf- 
gaben hervorzuheben:  was  ohnehin  gethan  wird,  zu  befehlen,  ist 
überflüssig,  was  nicht  erreicht  wird,  unvernünftig.  Der  Natui-a- 
lismus,  der  alles  als  in  seinen  gegebenen,  natürlichen  Bedingungen 
enthalten  ansieht,  darf  keine  Imperativische  Ethik  kennen:  selbst 
seine  heteronome  Ethik  ist,  abgesehen  von  dem  ethischen  Dogma- 
tismus, der  ihr  zu  gründe  liegt,  nur  durch  einen,  wenn  auch  noch 
so  künstlich  verkleisterten  Widerspruch  gegen  das  naturalistische 
Prinzip,  möglich.  Ein  Problem  braucht  aber  nicht  vorzuliegen, 
wenn  man  die  Ethik  nur  in  rein  subjektivistischem  Sinne  auffasst, 
wenn  man  einfach  nur  solches  Handeln  sittlich  nennt,  das  aus  dem 
einfachen  Pflichtbewusstsein  entspringt,  d.  h.  im  psychologischen 
Sinne;!)  ^eun  eine  solche  Auffassung  würde  nichts  anderes  als 
eine  naturalistische  Vergewaltigung  der  Thatsache  des  sittlichen 
Lebens  sein.  Eine  Erklärung  und  Würdigung  der  sittlichen  Auf- 
gaben würde  sie  nicht  sein.  Sie  würde  zudem  Dogmatismus  sein, 
wenn  sie  sich  nicht  der  Forderung  einer  objektiven  wissenschaft- 
lichen Prüfung  unterwerfen  würde.  Damit  kämen  wir  zur  For- 
derung objektiver  Zwecke  und  ihrem  Verhältnis  zur  Naturordnung 
zusammen.  Dieses  Kardinalproblem  hat  Kant,  wie  den  Begriff 
der  Natur,  so  den  des  sittlichen  Zwecks  gegeben.     Wie  die  Natur 


1)  Wenn  ich  Bauch  recht  verstehe,  fasst  er  das  Pflichtbewusstsein 
logisch  auf,  d.  h.  als  Einsicht,  dass  etwas  Pflicht  ist,  womit  er  mit 
meiner  Auffassung  trotz  einiger  Differenzen  im  Einzelnen  übereinstimmen 
würde. 


74  H.  Renner, 

ihrem  formalen  Begriffe  nach  nichts  anderes  ist,  als  der  Aus- 
drnck  der  P^inheit  des  Selbstbewusstseins,  der  sich  im 
Erkennen  realisiert,  so  ist  g-enau  ebenso  das  Reich  der  Frei- 
heit, der  sittlichen  Zwecke  nur  der  Ausdruck  der  Einheit 
des  Selbstbewusstseins,  der  sich  im  Wollen  realisiert. 
In  dem  Ur[)hänomen  der  Einheit  des  Ich  ist  die  Sittlichkeit  ihrem 
Begriffe  nach  erklärt  und  begründet.  Wie  dieses  Ich  als  er- 
kennendes Ich  ohne  die  Gesetzmässigkeit  der  Natur  als  seinem 
Wechselbegriff  nicht  bestehen  könnte,  so  könnte  es  als  wollendes 
Ich  nicht  sein,  ohne  eine  Gesetzmässigkeit  und  Ordnung  der  sitt- 
lichen Aufgaben  als  dessen  Wechselbegriff,  und  wie  Wollen 
und  Erkennen  zusammen  bestehen,  ohne  die  Einheit  des  Selbst- 
bewusstseins aufzuheben,  genau  so  können  das  Reich  der  Natur 
und  das  Reich  der  Zwecke,  Notwendigkeit  und  Freiheit  ohne  sich 
aufzuheben,  miteinander  bestehen;  denn  Freiheit  ist  Kant  nicht 
psychologische  Indeterminiertheit,  sondern  die  Fähigkeit  des 
Willens,  die  Realisierung  der  Gesetze  der  praktischen  Vernunft  — 
und  Wille  und  praktische  Vernunft  sind  ihm  dasselbe  —  zu 
wollen.  Indem  wir  uns  auf  diese  Leistungen  Kants  berufen, 
können  wir  es  uns  ersparen,  noch  einen  eigenen  Beweis  für  diese 
unsere  Behauptung  von  der  Notwendigkeit  objektiver  ethischer 
Aufgaben  zu  erbringen.  Wir  hätten  deren  Richtigkeit  für  unsere 
eigentliche  Aufgabe  ja  auch  dogmatisch  voraussetzen  können, 
da  unsere  Absicht  mehr  eine  positive  denn  eine  metalogische 
ist,  wenn  nicht  die  Eigenart  ethischer  Untersuchungen  die  obigen 
Erinnerungen  nötig  gemacht  hätten. 

Wir  haben  gezeigt,  dass  zum  Begriff  der  sittlichen  Handlung 
es  nicht  nur  gehört  gut  zu  handeln,  sondern  auch  gutes  zu 
handeln;  selbst  das  gut  handeln  stellte  sich  als  das  Thun  von  et- 
was Gutem,  d.  h.  möglicherweise  Gutem  heraus.  Aber  wir  sind 
nur  zur  Anerkennung  des  allgemeinen  Begriffs  des  Sittlichen  ge- 
kommen. Aus  diesem  lassen  sich  jedoch  bei  dem  Widerstreit  der 
sittlichen  Urteile  die  positiven  sittlichen  Werte  anscheinend 
ebensowenig  ableiten,  wie  die  Sätze  der  Naturwissenschaft  aus 
dem  allgemeinen  Begriff  der  Natur. 

Gerade  hier  erhebt  sich  eine  wichtige  Aufgabe  für  die 
wissenschaftliche  Ethik,  das  Verfahren  festzustellen,  an  dem 
man  im  Einzelfall,  bei  der  nicht  wogleugbaren  Verschiedenheit  der 
sittlichen  Urteile,  bestimmen  kann,    welches  die  sittliche  Entschei- 


Der  Begriff  der  sittlichen  Erfahrung.  75 

diing  sein  soll;  d.  h.  eine  Art  luduktiouslehre  der  sittlichen 
Erfahrung-  festzustellen.  Hier  ist  auch  der  Punkt  gegeben, 
von  dem  aus  —  neben  der  Verschiedenartig-keit  der  metalo- 
gischen ßetrachtung-sweise  (kritische,  genetische  mit  allen  Ab- 
arten) —  die  Abweichungen  der  Ethiker  von  einander  verständ- 
lich werden. 

(Ein  zweiter  Artikel  folgt.) 


Hamlet  und  der  Melancholiker  in  „Kants  Beobachtungen 
über  das  Gefühl  des  Schönen  und  Erhabenen'^ 


Von  Dr.  Tim  Klein. 


Nicht  um  die  berufene  „empfindliche  Lücke"  auszufüllen, 
welche  sich  in  der  Reihe  der  Erklärungen  des  Hamletcharakters 
etwa  noch  fände,  sondern  nur  um  einen  kleinen  Beitrag  zur  Be- 
W'ährung  des  von  Kant  in  den  „Beobachtungen  über  das  Gefühl 
des  Schönen  und  Erhabenen"  aufgestellten  melancholischen  Typus 
zu  liefern,  sind  diese  Zeilen  geschrieben.  Sie  wollen  zeigen,  wie 
glücklich  und  scharf  Kant  dort  das  melancholische  Temperament 
aufgefasst  und  dargestellt  hat.  Kant  hält  ebenso  wie  Shakespeare 
die  alte  Bestimmung  und  Einteilung  der  Temperamente  für  zu- 
treffend. Hamlet  ist  —  mag  er  im  übrigen  was  sonst  sein,  etwa 
das  Genie  schlechthin  —  auf  jeden  Fall  Melancholiker.  Sein 
Selbstzeugnis  (Akt  H,  Scene  2,  Ende)  spricht  klar  aus,  was  das 
ganze  Stück  verrät.  Wenn  auch  Hamlets  Individualität,  wie  dies 
gewiss  ist,  über  jenen  Typus  weit  hinausragt,  so  wird  man  doch 
in  Erstaunen  versetzt  über  die  frappante  Ähnlichkeit  des  Indivi- 
duums Hamlet  mit  dem  Typus,  wie  ihn  Kant  gezeichnet  hat. 
Verzichtet  man  für  einen  Augenblick  auf  metaphysische  Ausdeu- 
tungen und  hält  sich  ausschliesslich  au  die  psychologische  Analyse, 
so  wird  man  finden,  dass  aus  dem  Kantischen  Typus  —  nicht 
über  das  ganze  Antlitz  —  aber  in  scharfen  Hauptzügen  und  in 
manchen  schwächeren  Nebenlinien  Hamlet  hervorschaut.  Ein  merk- 
würdiges Zusammentreffen  der  Konzeption  des  Philosophen  mit 
der  des  Dichters! 

Zuvörderst  beschreibt  Kaut  im  Eingang  seiner  Schilderung 
des  MelanchoUkers  (1.  Druck  1771  S.  27)  sogleich  den  allgemeinen 
Habitus  und  den  Spezialfall  Hamlets.  „Ein  innigliches  Ge- 
fühl für  die  Schönheit  und  Würde  der  menschlichen 
Natur,    und   eine    Fassung  und  Stärke  des  Gemüths  hierauf,    als 


Hamlet  und  der  Melancholiker  etc.  77 

auf  einen  allgemeinen  Grund,  seine  gesamte  Handlungen  zu  be- 
ziehen, ist  ernsthaft,  und  gesellet  sich  nicht  wohl  mit  einer 
flatterhaften  Lustigkeit,  noch  mit  dem  Unbestande  eines  Leicht- 
sinnigen. Es  nähert  sich  so  gar  der  Schwerniuth,  einer 
sanften  und  edlen  Empfindung,  in  so  fern  sie  sich  auf  das- 
jenige Grausen  gründet,  das  eine  eingeschränkte  Seele 
kühlt  (fühlt!),  wenn  sie,  von  einem  grossen  Vorsatze 
voll,  die  Gefahren  sieht,  die  sie  zu  überstehen  hat,  und 
den  schweren,  aber  grossen  Sieg  der  Selbstüberwindung  vor 
Augen  hat."  „Der,  dessen  Gefühl  ins  Melancholische  einschlägt, 
wird  nicht  darum  so  genannt,  weil  er,  der  Freuden  des  Lebens 
beraubt,  sich  in  finsterer  Schwermuth  härmet,  sondern  weil  seine 
Empfindungen,  wenn  sie  über  einen  gewissen  Grad  vergrössert 
würden,  oder  durch  einige  Ursachen  eine  falsche  Richtung 
bekämen,  auf  dieselbe  leichter  als  auf  einen  anderen  Zustand 
auslaufen  würden." 

Vor  allem  aber  ist  der  klaffende  Gegensatz,  der  Hamlets 
Seele  spaltet,  mit  der  Bestimmung:  „Er  hat  vorzüglich  ein 
Gelühl  für  das  Erhabene"  gegeben,  wenn  nun  dieses  Gefühl 
bei  Hamlet  niedergeschlagen  wird  durch  die  sich  in  seiner  nächsten 
Umgebung  offenbarende  Niedrigkeit  der  Triebe:  neben  seinem  er- 
habenen Vater,  Apollo  —  Claudius  der  Satyr  u.  s.  w. 

Die  feine  Unterscheidung  Kants,  dass  Melancholie  unter 
besonderen  Umständen,  nicht  notwendig,  auf  Schwermut 
hinausläuft,  trifft  durchaus  auf  Hamlet  zu.  Am  nächsten 
kommt  Kants  Auffassung  des  Melancholikers  der  Goe theschen 
Deutung  des  Hamlet.  Die  „eingeschränkte"  Seele,  von  einem 
grossen  Vorsatz  voll  und  im  Angesichte  der  grossen  Gefahren 
von  Grausen  erfüllt,  stimmt  zu  dem  köstlichen,  aber  engeren  Ge- 
fässe,  das  nur  liebliche  Blumen  in  seinem  Schoss  hätte  aufnehmen 
sollen  und  das  der  Eichbaum  auseinandersprengt. 

Die  souveräne  Selbständigkeit,  mit  welcher  Hamlet  der 
Welt  gegenübersteht,  forschend,  grübelnd,  ja  gewissermassen  ex- 
perimentierend (die  Pantomime!)  findet  sich  beim  Melancholiker 
Kants  mit  den  Worten  ausgedrückt:  „Der  Mensch  von  melancho- 
lischer Gemüthsverfassung  bekümmert  sich  wenig  darum,  was  andere 
urtheilen,  was  sie  für  gut  oder  wahr  halten,  er  stützet  sich  des- 
falls  bloss  auf  seine  eigene  Einsicht.  Weil  die  Bewegungsgründe 
in  ihm  die  Natur  der  Grundsätze  annehmen:  so  ist  er  nicht  leicht 
auf  andere  Gedanken  zu  bringen;  seine  Staudhaftigkeit  artet  auch 


78  T.  Klein, 

bisweilen  iu  Eig-ensinn  aus."  So  ist  Hamlet  von  dem  Motiv  der 
Rache  wie  von  einer  Idiosynkrasie  beherrscht,  im  Buche  seiner 
Seele  ist  ganz  allein  das  Racheg-ebot  eingeschrieben,  es  ist  ihm 
alleinige  Losung,  heiliger  Schwur. 

„Freundschaft  ist  erhaben  und  daher  für  sein  Gefühl  .  .  . 
Selbst  das  Andenken  der  erloschenen  Freundschaft  ist 
ihm  noch  ehrwürdig."  Man  braucht  sich  hier  nur  der  Freundschaft 
Hamlets  mit  Horatio  und  der  herrhchen  Worte  an  diesen  Freund 
zu  erinnern  (III.  Akt,  2.  Scene,  Vers  59 — 79)  und  der  überschweng- 
lichen Worte,  mit  denen  er  der  Liebe  zu  Ophelien  gedenkt  (IH,  1, 
Vers  292 — 94),  um  in  Kants  Worten  mehr  als  eine  vage  Ähnlich- 
keit zu  sehen. 

„Gesprächigkeit  ist  schön,  gedankenvolle  Verschwiegenheit 
erhaben.  Er  ist  ein  guter  Verwahrer  seiner  und  anderer  Ge- 
heimnisse." Man  vergleiche  die  Verachtung  des  Schwätzers 
Polonius  und  Akt  III,  Scene  6,  9  —  13,  ferner  I,  5.  Scene. 

„Wahrhaftigkeit  ist  erhaben,  und  er  hasset  Lügen  oder 
Verstellung,"  Hamlets  Verstellung  entspringt  dem  Zweifel  über 
die  Wahrhaftigkeit  des  Geistes,  ebenso  die  Inseenieruug  der  Pan- 
tomime dem  Bedürfnis,  vollkommene  Klarheit  zu  bekommen  ;  der 
Falschheit,  die  ihn  ausholen  will  (Rosenkranz  und  Güldenstem), 
begegnet  er  mit  Verachtung  und  Stolz. 

„Er  hat  ein  hohes  Gefühl  von  der  Würde  der  mensch- 
lichen Natur."  Die  klassische  Stelle  hiefür  ist  die  Äusserung 
gegen  Rosenkranz  und  Güldenstern:  „Welch  ein  Meisterstück  ist 
der  Mensch!"  u.  s.  f. 

„Er  duldet  keine  verworfene  ünterthänigkeit,  und  athmet 
Freyheit  in  einem  edlen  Busen.  Alle  Ketten,  von  denen  ver- 
goldeten au,  die  man  am  Hofe  trägt,  bis  zu  dem  schweren  Eisen 
des  Galeerensclaven  sind  ihm  abscheulich;"  —  Dänemark  ist  dem 
Hamlet  ein  Gefängnis,  weil  in  ihm  die  Gewalt  herrscht,  die  durch 
Mord  zur  Herrschaft  kam.  Sein  königlich  offener  Sinn  verhöhnt 
die  Liebedienerei  des  Polonius,  der  in  einem  Atem  die  Wolke 
für  ein  Kameel  und  ein  Wiesel  erklärt. 

„Er  ist  ein  strenger  Richter  seiner  selbst  und  anderer, 
und  nicht  selten  seiner  so  wohl,  als  der  Welt  überdrüssig." 
Dieser  Zug  ist  so  offenkundig  hamletisch,  dass  er  keines  Beleges 
bedarf,  so  wenig  wie  die  folgenden: 

„In  der  Ausartung  dieses  Charakters  neiget  sich  die  Ernst- 
haftigkeit   zur   Schwermuth,    die    Andacht  zur  Schwärmerey, 


Hamlet  und  der  Melancholiker  etc.  79 

der  Freyheitseifer  zum  Enthusiasmus,  Beleidigung-  und  Un- 
gerechtigkeit zünden  in  ihm  Rachbegierde  an.  Er  ist 
dann  sehr  zu  fürchten."  Hamlet:  „Denn  ob  ich  schon  nicht  jäh 
und  heftig  bin,  So  ist  doch  was  Gefährliches  in  mir,  Das  ich  zu 
scheun  Dir  rate."  Und  wie  Hamlet  sich  tollkühn  in  die  Gefahr 
stürzt,  so  der  Melancholiker:  „Kr  trotzet  der  Gefahr,  und 
verachtet  den  Tod."  Endlich:  „Bey  der  Verkehrtheit 
seines  Gefühls  und  dem  Maugel  einer  aufgeheiterten 
Vernunft  verfällt  er  aufs  Abentheuerliche."  —  —  Soweit 
die  sich  aufdrängenden  Ähnlichkeiten. 

Es  will  uns  im  übrigen  scheinen,  als  sei  mit  dem  Umschlag 
der  optimistischen  in  die  entgegengesetzte  pessimistische  Weltauf- 
fassung, wie  sie  besonders  Hermann  Türck  und  Kuno  Fischer  be- 
tonen, nicht  das  Richtige  gesagt  —  so  blendend  die  Antithese 
auch  ist.  Obwohl  natürlich  Kant  nicht  entfernt  auf  den  Hamlet 
exemplificiert  hat,  so  giebt  er  doch  einen  entscheidenden  Hinweis 
durch  die  Bemerkung:  „er  hat  vorzüglich  ein  Gefühl  für  das  Er- 
habene." Der  Optimist  glaubt  in  der  besten  der  Welten  zu 
leben,  der  Pessimist  in  der  schlechtesten;  anders  der  Mensch, 
welchen  die  Grundstimmung  des  Erhabenen  beseelt.  Er  weiss, 
dass  die  erscheinende  Welt  schlecht  ist,  aber  er  glaubt  auch,  dass 
sich  das  Grosse  und  Erhabene  in  ihr  offenbart.  Er  steht  von 
vornherein  —  wie  dies  bei  Schiller  z.  B.  klar  hervortritt  —  in 
einem  satirischen  Grund  Verhältnis  zur  erschehienden  Welt.  Das 
trifft  auf  Hamlet  zu.  Seine  Sarkasmen  sind  die  Pfeile  des  er- 
habenen Satirikers.  Liesse  er  in  dieser  Grundstimmung  einen 
Augenblick  nach,  dann  wäre  der  quälende  Dorn  des  Widerspruchs 
aus  seiner  Seele  gezogen.  Aber  das  geschieht  nicht.  Er  hält  am 
Erhabenen  fest,  nur  erscheint  ihm  nicht  eben  Claudius  oder 
seine  Mutter  oder  Polonius  so.  —  Aber  sein  Vater  bleibt  ihm 
gleich  gross,  Horatio  gleich  gut,  Fortinbras  in  seiner  erhabenen 
Gesinnung  gleich  bewunderungswürdig.  Dem  wirklich  Erhabenen 
gegenüber  also  verhält  er  sich  durchaus  positiv,  bejahend.  Die 
Antithese:  Optimismus  und  Pessimismus  setzt  einen  radikalen 
Bruch  im  Charakter  Hamlets  voraus,  einen  vollständigen  Um- 
schlag. Gerade  die  Bewunderung  des  naiven  Helden  Fortinbras 
ist  bei  einem  gebeizten  Pessimisten  eine  bare  Unmöglichkeit. 
Welche  Worte  findet  er  der  Mutter  gegenüber,  um  den  Segen 
der  Übung  im  Guten  zu  preisen,  mag  auch  die  satirische  Grund- 
stimmung wieder  durchbrechen!  —  das  thut  kein  Pessimist.    Der 


80  T.  Klein,  Hamlet  und  der  Melancholiker  etc. 

Optimist  denkt  wohlwollend  vom  Menschen,  sein  Element  ist 
der  Humor.  Der  Pessimist  denkt  schlecht  vom  Menschen,  sein 
Element  ist  die  Verachtung,  der  Hass.  Der  Mensch  mit  er- 
habener Gesinnung  denkt  gross  vom  Menschen,  sein  Element  ist 
positiv  Enthusiasmus,  negativ  Satire;  ist  er  Melancholiker, 
dann  tritt  hinzu  der  Schmerz  als  Stimmung,  die  Schwermut.  Und 
so  ist  Hamlet  beschaffen.  Was  ihn  zerstört,  ist  nicht  ein  kom- 
pleter Bruch  seiner  Natur,  sondern  sein  dem  Grossen,  Erhabenen  zu- 
geneigtes Wesen  —  und  eben  dies  ist  tragisch  in  einer  Welt  der 
Niedertracht.  —  Damit  soll  keineswegs  Shakespeares  Wunderwerk 
„erklärt"  sein  —  sondern  von  Kant  ausgehend  ist  vielleicht  ein 
Wink  zu  empfangen,  um  die  oben  genannte  Antithese  zu  über- 
winden, die  vor  allem  auch  noch  den  Fehler  in  sich  schlichst,  dass 
sie  die  Verzweiflung  voraussetzt.  Es  ist  keine  Frage,  dass 
Hamlet  am  Abgrund  der  Verzweiflung  umhertaumelt;  der  verstellte 
Wahnsinn  verstärkt  noch  diesen  Eindruck.  Aber  da  es  eben  ver- 
stellter Wahn  ist,  muss  dieser  Eindruck  von  seinem  wirklichen 
Zustand  abgezogen  werden.  Und  endlich  setzt  jene  Auffassung 
an  die  Stelle  der  Ent Wickelung  des  Charakters,  die  bei  der 
satirischen,  verneinenden  Grundstimmuug  des  Erhabenen  möglich 
und  notwendig  so  ist,  wie  sie  ist,  —  den  Bruch,  den  vollstän- 
digen Umschlag  des  Charakters,  das  heisst  im  Grunde  eine 
psychologische  Unmöglichkeit. 


Euckens  philosophische  Aufsätze/^ 

Besprochen  von  Bruno  Bauch. 


Die  freudig  zu  begrüssende  Sammhmg  von  Euckens  Aufsätzen  zer- 
fällt in  zwei  Hauptteile,  deren  erster  „Zur  Moral  und  Lebensanschauung", 
und  deren  zweiter  „Zum  religiösen  und  religionsphilosophischen  Probleme" 
Stellung  nimmt.  Der  erste  gliedert  sich  wiederum  in  zwei  Unterabteilungen, 
deren  eine  „Allgemeines"  behandelt,  während  die  andere  „Auf  Persönlich- 
keiten bezüglich"  ist. 

Den  Schluss  bildet  ein  kurzer  Anhang,  der  zum  Gegenstande  die 
Frage  hat:    „Was  sollte  zur  Hebung   philosophischer  Bildung  geschehen?" 

Die  Zerfahrenheit  und  Zerrissenheit,  die  uns  heute  in  „Moral  und 
Lebensanschauung"  begegnen,  nötigen  dem  Philosophen  wahrhaft  „Ein  Wort 
zur  Ehrenrettung  der  Moral",  wie  Eucken  den  ersten  Aufsatz  überschreibt, 
ab.  Die  Verflachung  und  Veräusserlichung,  die  auf  der  einen  Seite  die 
Sucht  nach  dem  äusseren  Massenerfolg,  auf  der  anderen  Seite  einen  radi- 
kalen Subjektivismus  in  der  heutigen  Ethik  gezeitigt  haben,  würdigen 
diese  selber  herab. 

Da  ist  ein  energisches  Wort  aus  der  Feder  eines  gewichtigen 
Denkers  immer  höchst  erfreulich,  und  es  ist  dankbar  hinzunehmen,  wenn 
der  Verfasser  mit  einem  erhellenden  Blick  auf  die  Geschichte  zeigt,  welche 
Würde  im  Wesen  der  Moral  wurzelt,  mögen  viele  einzelne  Moraltheorien 
heutigentags  auch  noch  so  würdelos  sein.  Dass  „echte  Grösse"  und  kraft- 
volle That  die  wahren  Vorzeichen  der  Moral  sind,  so  wenig  man  das 
auch  nach  dem  allgemeinen  Stande  der  heutigen  Ethik  erwarten 
dürfte,  das  zu  zeigen  ist  die  Aufgabe  von  Euckens  erstem  Aufsatz,  der  in 
erster  Linie  historischer  Natur  sein  will.  Mit  den  erfreulichsten  Lichtern 
weiss  er  dem  Leser  die  Geschichte  zu  erhellen,  um  an  der  Hand  eben  der 
Geschichte  ihn  zu  belehren.  Die  erhabenste  Grösse  zeigt  sich  hier  mit 
der  kräftigsten  Sittlichkeit  geeint.  Ein  Piaton,  ein  Luther,  ein  Kant,  die 
ersten  Heldengestalten  der  Menschheit  sind  zugleich  sittliche  Heroen,  und 
die  tiefsten  sittlichen  Probleme,  über  die  unsere  leichte  Zeit  leicht  hinweg- 
eilt, bewegen  ihre  grossen  Seelen  mit  innerlichster  Gewalt. 

Schon  der  grosse  Grieche  erkennt  in  der  Idee  des  Guten  die  allge- 
meingiltige  sittliche  Bestimmung  an,  und  doch  beugt  sich  der  Weise 
nicht  unter  bloss  allgemeine,  nicht  allgemeingiltige  menschliche  Satzungen, 


1)  Gesammelte  Aufsätze  zur  Philosophie  und  Lebensanschauung  von 
Rudolf  Eucken.     Leipzig  1903.     Verlag  der  Dürrschen  Buchhandlung. 

Hlantstudieu   X.  6 


8ä  B.  Bauch, 

verwirft  vielmehr  als  elende  Schwäche  jene  materialistische  Richtung,  die 
sich,  nach  dem  äusseren  Erfolg  schielend,  an  den  „Durchschnitt  des  Lebens" 
klammert.  „Der  Mensch  fragt  nicht  mehr,  ob  er  den  anderen  und  seiner 
Umgebung,  sondern  ob  er  sich  selbst  und  der  Gottheit  gefalle."  So  for- 
muliert Eucken  treffend  die  Grösse  der  platonischen  Moral.  Und  wie  hier 
schon  die  materiale  Ethik  überwunden  erscheint,  so  liegt  auch  bereits  der 
schrankenlose  Subjektivismus  unserer  Zeit  hinter  ihr  im  wesenlosen 
Scheine.  „Wo  ist  nun  mehr  Kraft  und  Leistungsfähigkeit :  bei  einer 
solchen  von  der  Hoheit  der  Moral  erfüllten  Persönlichkeit  oder  bei  unseren 
neu-romantischen  oder  sophistischen  Bekrittlern  der  Moral?"  Diese  Frage 
Euckens  scheint  nach  meiner  Meinung  gerade  den  crudesten  Subjektivis- 
mus unserer  Zeit  glänzend  zu  treffen. 

Die  sittliche  Verinnerlichung  vollzieht  sich  weiter  in  der  Lehre  der 
Stoiker,  die  auch  auf  das  alte  Christentum  übergreift.  Nur  wandelt  sich 
hier  die  „Tapferkeit"  „in  ein  standhaftes  Ausharren",  nicht  also  in  „eine 
stumpfe  Passivität",  sondern  in  eine  „heldenhafte  Gesinnung". 

Erhöht  ward  diese  noch  durch  die  Reformation.  Luther  selbst,  bei 
aller  Kindlichkeit  und  Schlichtheit  seines  Gemütes,  eine  edle  Heldennatur, 
trägt  einen  grösseren  Ernst  in  das  menschliche  Leben,  steigert  „das  Be- 
wusstsein  der  persönlichen  Verantwortlichkeit".  Ebenso  schön,  wie  treffend 
sagt  Eucken :  „Tradition  und  Autorität,  äussere  Formeln  und  heilige 
Werke,  alles  verblasst  vor  der  grossen  wesensbewegenden  Wendung  in 
das  Innere."  Wer  Luthem  auch  nur  flüchtig  kennt,  mag  er  vielleicht  nur 
mit  vorurteilslosem  Ernste  sich  in  die  „Freiheit  eines  Christenmenschen" 
oder  in  die  Schrift  „Von  zweierlei  Menschen,  wie  sie  es  im  Glauben 
halten"  vertieft  haben,  der  wird  Euckens  Auffassung  nur  voll  und  ganz 
zustimmen  können.  Um  wieviel  mehr  jeder,  dem  das  Lebenswerk  des 
Reformators  in  seiner  Totalität  zu  ernst  würdigendem  Bewusstsein  ge- 
langt ist! 

„Eine  neue  Epoche"  auch  in  der  Moral  sieht  Eucken  durch  die 
Kantische  Philosophie  herbeigeführt.  Überall  treffend  ist  sein  Urteil;  und 
wie  gebührend  er  mit  wenig  Worten  all  die  entstellenden  Verzerrungen 
und  die  vagen  Missverständnisse  zurückweist,  die  Kants  autonome  Ethik 
von  gegnerischer  Seite  erfahren  hat,  das  kann  alle,  die  Kants  Ethik  wirk- 
lich verstanden  haben,  und  die  leider  auch  heute  noch  zu  zählen  sind, 
nur  herzlich  erfreuen.  So  weist  Eucken  an  der  Hand  der  Geschichte  von 
der  Moral  nach :  „An  den  Gipfelpunkten  erschien  sie  deutlich  als  ein  Ver- 
mögen nicht  der  Erniedrigung,  sondern  der  Erhöhung,  nicht  der  Unter- 
drückung, sondern  der  Befreiung"  .  .  .  „Wo  ist  denn  mehr  echte  Kraft : 
bei  unseren  neumodischen  Romantikem  mit  ihren  schwelgenden  Stim- 
mungen und  ihrem  Sich-Einreden  eines  grossen  Vermögens,  oder  bei  jenen 
Helden,  Männern,  wie  Piaton,  Luther,  Kant,  die  freilich  viel  zu  sehr  von 
der  Schwere  der  Aufgabe  erfüllt  waren,  um  einen  Überschuss  von  Kraft 
zu  empfinden  und  darüber  viel  zu  reden,  deren  Vermögen  aber  ein  grosses 
Lebenswerk  besiegelte  ?" 

Diente  die  jetzt  besprochene  Abhandlung  mehr  den  moralischen 
Prinzipienfragen  in  ihrer  historischen  Entfaltung,  so  behandelt  die  zweite 
„die  moralischen  Triebkräfte  im  Leben  der  Gegenwart" ;  wie  dieser  ihr  Titel 


Euckens  philosophische  Aufsätze.  83 

besagt.    Sie  wendet  sich  also  weniger  den  moralischen  Prinzipien  unserer  Zeit 

—  wenn  man  dieser  im  allgemeinen  überhaupt  die  Ehre,  solche  zu  haben, 
lassen  will  —  als  den  „moralischen  Triebkräften"  selbst,  d.  h.  der  that- 
sächlichen  Entfaltung,  ihrem  Werden  und  Wachsen  innerhalb  des  mensch- 
lichen Kreises"  zu ;  und  zwar  eben,  ihrem  Vorhaben  gemäss,  innerhalb  des 
engen  Kulturkreises  unserer  Zeit.  Im  Leben  der  Gegenwart  ist  der  her- 
vorstechendste Zug  die  Verneinung:  „Die  Abweisung  aller  unsichtbaren 
Zusammenhänge  und  übernatürlichen  Ordnungen."  Über  den  unleugbaren 
oft  ausser-,  ja  un-moralischen  Wirkungen  der  Religion  werden  deren  ebenso 
unleugbaren  moralischen  Wirkungen  übersehen  und  geleugnet.  Das  Un- 
genügen  des  gegenwärtigen  Religionszustandes  sucht  unsere  Zeit  „durch 
eine  energische  Erfassung  der  unmittelbaren  Wirklichkeit"  zu  ersetzen. 
Die  Entfaltung  sozialer  Arbeit  greift  Platz  und  wirkt  bestimmend  auf  die 
Moral.  Man  möchte  die  Ethik  durch  eine  allgemeine  Gesellschaftslehre, 
eine  Sozialethik,  ersetzen.  So  wenig  gewisse  Vorzüge  solchen  Strebens  zu 
verkennen  sind,  ebenso  wenig  ist  die  Gefahr  allgemeiner  Verflachung  zu 
unterschätzen,  die  für  die  Moral  aus  solchen  Gegenwartsbestrebungen  er- 
wächst. Das  Leben  wird  veräusserlicht,  äussere  Güter,  Glück,  Vermögen, 
gesellschaftliche  Stellung  werden  gierig  ergriffen.  Die  „inneren  Probleme", 
die  Schätze,  die  nicht  Rost  und  Motten  fressen,  werden  vernachlässigt. 
Danach  macht  sich  breit  eine  schrankenlose  Willkür,  ein  extremer  Subjek- 
tivismus. Auch  ihn  durchschaut  Eucken  bis  auf  den  tiefsten  Grund  in 
seiner  Haltlosigkeit. 

Aber  gerade  ihm  müssen  wir  jener,  sehr  stark  materialistisch  be- 
stimmten, auf  den  äusseren  Erfolg  gerichteten  Tendenz  der  Sozialethik 
einen  gewissen  Relativitätswert  anerkennen.  Auch  Eucken  bleibt  das 
keineswegs  verborgen.  Er  erkennt  gar  wohl  die  in  ihm  schlummernden 
moralischen  Potenzen,  seine  latenten  Energien :  Von  der  materialistisch 
bestimmten  Ethik  lässt  sich  für  die  Innerlichkeit  der  Persönlichkeit  nichts 
erhoffen.  Aber  der  Subjektivismus,  in  so  falsche  Bahnen  er  auch  heute 
lenkt,  weist  doch  die  Persönlichkeit  wenigstens  mittelbar  auf  ihr  Innerstes 
und  lässt  eher  „auf  die  Wendung  von  aussen  nach  innen  vertrauen". 

An  uns  ist  es,  die  Wendung  faktisch  zu  vollziehen,  das  Unhaltbare 
unserer  Zeit  zu  überwinden,  und  ihre  wertvollen  Potenzen  aus  der  Latenz 
in  Wirksamkeit  umzusetzen.  Die  Reformation  und  die  kritische  Philo- 
sophie haben  uns  allen,  denen  an  den  ewigen  Werten  gelegen  ist,  die 
Wege  gewiesen. 

„Die  innere  Bewegung  des  modernen  Lebens",  die  Euckens  nächste 
Abhandlung  zum  Gegenstande  hat,  weist  dieselbe  Zerfahrenheit  und  Zer- 
rissenheit auf,  wie  sie  in  den  moralischen  Triebkräften  der  Gegenwart 
wirksam  sind.  Denn  diese  greifen  auf  jene  über.  „Die  Lösung  lässt  sich 
nur  in  der  Richtung  suchen,  dass  im  menschlichen  Kreise  selbst  eine  Welt 
aufgedeckt,    im  Menschen   selbst    etwas  Übermenschliches  ergriffen  wird". 

—  Dazu  aber  „bedarf  es  der  Erschliessung  einer  neuen  Wirklichkeit  durch 
Leistung  und  That,  es  bedarf  einer  Erhöhung  unseres  Lebens  und  Wesens", 
die  sich  erhebt  über  die  Anschauungsweise  der  Gegenwart,  „welche  die 
vorhandenen  Verwickelungen  und  Gegensätze  vollauf  anerkennt,  aber  über 
sie    hinaus   zu    einer   Tiefe    vordringt,    wo    der  Lebensprozess    aus  innerer 

6* 


Si  B.  Bauch, 

Festigkeit  die  Kluft  überspannt  und  in  sich  selbst  einen  Weltcharakter 
gewinnt."  Für  den  nach  dieser  Richtung  hin  einzuschlagenden  Weg  ver- 
weist Eucken  auf  seine  Werke:  „Der  Kampf  um  einen  geistigen  Lebens- 
inhalt" und  „Der  Wahrheitsgehalt  der  Religion". 

Einen  hochbedeutsamen,  ebenso  lehrreichen,  wie  interessanten  Aus- 
blick auf  die  Complikation  dieser  Probleme,  auf  ihr  Entstehen  aus  einer 
reichen  Vergangenheit  für  unsere  Zeit  bietet  uns  die  „Festrede  zur  Jahr- 
hundertfeier" :  Die  gigantische,  gewaltige  Organisation  der  Arbeit,  in  deren 
gesellschaftlichem  Zusammenschluss  selbst  die  Indi\ädualtendenz  zum 
Durchbruch  gelangt,  wird  ebenso,  wie  diese  selbst,  dem  Verständnis  in 
klarstes  Licht  gerückt.  Die  Bedeutung  der  nationalen  Ideen,  das  Er- 
wachen des  Geschichtsverständnisses,  die  wissenschaftlichen  und  künstlerischen 
Errungenschaften  werden  uns  mit  lebendiger  Anschaulichkeit  und  tief- 
dringender Schärfe  zu  ebenso  eindrucksvollem  Verstehen  gebracht,  wie  die 
Kehrseite,  die  diese  Erfolge  haben :  die  Gefahr  der  persönlichen  Ver- 
flachung, die  in  den  gesellschaftlichen  Zusammenschlüssen  liegt.  Und  zu- 
gleich wird  uns  auch  hier  wieder  die  Überwindung  dieser  Gefahr,  in  die 
unsere  Zeit  eng  verstrickt  ist,  als  die  Aufgabe  eben  unserer  Zeit  eindring- 
lich zum  Bewusstsein  gebracht.  Für  uns  Deutsche  bedeutet  die  Einigung 
unseres  Vaterlandes,  das  kostbarste  Geschenk  des  verflossenen  Jahrhunderts, 
selbst  den  Hinweis  auf  die  Erfüllung  dieser  Aufgabe,  und  zugleich  die 
Möglichkeit,  sie  zu  lösen.  Im  Staate  vollzieht  sich  ja  die  Einigung  des 
Allgemeinen  mit  dem  Besonderen.  Unter  diesem  Betracht  erwächst  auch 
die  hohe  sittliche  Bedeutung  der  nationalen  Idee,  der  Nation,  nicht  nur 
die  des  grossen  mächtigen  Staates,  sondern  auch 

„die  Bedeutung  der  kleinen  Nationen",  die  von  Eucken  in  einem 
besonderen  Aufsatz  behandelt  wird.  Eine  reiche  Fülle  feinster  Bemerk- 
ungen ist  geeignet,  vielfach  übliche,  vorgefasste  Meinungen  zu  zerstreuen. 
Bei  aller  Anerkennung  des  Wertes  extensiver  Staatenbedeutung  sichern 
wir  uns  vor  Unterschätznng  der  kleinen  Nationen,  wenn  wir  die  Wertbe- 
trachtung hier  in  das  intensive  Staatsleben  verlegen.  „Dass  in  ihnen  das 
Interesse  an  den  grossen  Weltkämpfen  mit  ihren  Leidenschaften  nicht  so 
direkt  erregt  wird,  muss  der  Ruhe  der  Betrachtung  und  der  Gerechtigkeit 
des  Urteils  zu  gute  kommen ;  es  lässt  sich  von  hier  aus  zur  Verständigung 
und  Ausgleichung  der  Gegensätze  wirken,  auch  können  hier  die  rein 
menschlichen  Probleme  mit  besonderer  Kraft  durchlebt  und  gefördert 
werden.  Eine  Mannigfaltigkeit  individueller  Bildungen  wird  sich  hier 
eher  neben  einander  vertragen,  als  da,  wo  alles  zu  grosser  gemeinsamer 
Leistung  zusammendrängt;  endlich  sind  Versuche  zu  Neugestaltungen  in 
günstigerer  liage,  als  da,  wo  es  ungeheure  Massen  zu  bewegen  gilt." 
Freilich  sind  das  nur  Möglichkeiten,  und  wieviel  von  ihnen  „zur  Wirklich- 
keit wird,  das  liegt  an  den  einzelnen  Völkern  selbst."  Aber  für  die  Kul- 
tur sind  eben  auch  Möglichkeiten,  sofern  sie  reale,  historische  Möglichkeiten 
sind  —  und  das  sind  die  von  Eucken  dargestellten  —  doch  reale  Potenzen 
und  darum  selbst  Realitäts werte.  Durch  einen  glücklichen  Hinweis  auf  die 
Schweiz  und  die  Niederlande  illustriert  Eucken  seine  Thesen  in  treffender 
Weise.  Und  die  Art,  das  Schicksal  Finnlands  zu  beleuchten,  ist  sachüch 
ebenso  fein,  wie  menschlich  anziehend  und  sympatisch. 


Euckens  philosophische  Aufsätze.  85 

An  die  Abhandhingen  allgemeineren  Inhaltes  schliessen  sich  die 
Aufsätze  über  einzelne  Persönlichkeiten  an,  aber  derart,  dass  sie  mit  jenen 
in  fortlaufender  innerer  Beziehung  bleiben.  Es  ist  die  Stellung  eben 
dieser  Persönlichkeiten  zu  den  gleichen  oder  ähnlichen  Problemen,  was 
uns  im  weiteren  vorgeführt  wird. 

„Aristoteles'  Urteil  über  Menschen"  gelangt  an  erster  Stelle  zu  an- 
ziehender und  fesselnder  Darstellung.  Es  steht  in  gewisser  Rücksicht 
ausserhalb  seiner  centralen  Lehre.  Das  stark  persönliche  Moment  und  die 
in  ihm  zur  Geltung  gelangende  zeitliche  Bestimmtheit,  die  plastisch  und 
lebendig  aus  Euckens  Darstellung  herausspringen,  geben  ihm  einen  ganz 
besonderen  Reiz.  Freilich  tritt  der  Eudaimonismus  der  griechischen  Ethik 
auch  in  der  persönlichen  Äusserung  des  Aristoteles  zu  Tage.  Aber  ebenso 
sicher  grenzt  sich  in  seinem  Wesen  dieser  Eudaimonismus  ab  gegen  den 
flachen  und  platten  Hedonismus  und  Utilismus;  strebt  kraftvoll  über  sie 
hinaus.  Die  gemeine  Selbstliebe,  das  steht  zwar  für  den  grossen  Griechen 
in  seinem  Urteile  über  die  Menschen  fest,  treibt  den  Einzelnen  zu  seiner 
Gattung,  den  Menschen  zu  Menschen,  wie  das  Tier  zum  Tiere  seines 
Gleichen.  Allein  die  menschliche  Gemeinschaft  selbst  schafft  unter  der 
Bestimmung  des  göttlichen  Gesetzes  selbst  an  dessen  Verwirklichung. 
Und  in  der  Art,  in  der  ein  jeder  sein  Glück  sucht,  in  der  sich  die  Selbst- 
liebe auswirkt,  statuiert  Aristoteles  den  grossen  Wertunterschied  der 
Menschen.  Nach  diesem  hochbedeutsamen  Gesichtspunkte  weiss  er  gar 
wohl  den  Helden  vom  Frevler,  den  Tüchtigen  vom  Ehrgeizigen  und  vom 
Gewinnsüchtigen  zu  unterscheiden,  sie  alle  einer  wohlgeordneten  Wert- 
skala einzugliedern;  sodass  die  persönliche  Wertung  in  letzter  Linie  doch 
aus  dem  Vernunftideale  fliesst. 

Der  folgende  Aufsatz  behandelt  „Goethe  und  die  Philosophie".  Der 
Titel  weist  schon  darauf  hin,  dass  es  Eucken  nicht  darauf  ankommt,  ein 
Bild  von  Goethes  Philosophie  im  Sinne  seiner  allgemeinen,  wenn  auch 
nur  in  den  schärfsten  Zügen  umrissenen  Weltanschauung  zu  geben,')  nicht 
Goethes  Philosophie,  sondern  die  persönliche  Eigenart  des  Dichters,  zur  Philo- 
sophie Stellung  zu  nehmen,  zu  beleuchten.  Dieses  Verfahren  hat  natürlich 
eben  wegen  der  durchaus  individuellen  Bestimmtheit  des  Gegenstandes 
seine  volle  Berechtigung.  Nur  tritt  da  die  Einheit  der  Totalität  des  ob- 
jektiven Gehaltes  eben  der  Weltanschauung  etwas  sehr  in  den  Hintergrund. 
Gegen  den  Aufsatz  Euckens  bedeutet  das  natürlich  nicht  den  leisesten 
Vorwurf,  da  sein  Problem  eben  von  vornherein  anders  gestellt  und  ge- 
kennzeichnet ist,  da  er  nicht  Goethes  Philosophie,  sondern  sein  Verhältnis 
zur  Philosophie,  seine  persönliche  Stellungnahme  zu  dieser  behandeln  will; 
nicht  wie  aus  seiner  Seele  seine  Gesamtanschauung  von  Welt  und  Leben 
herauswächst,  sondern  wie  der  Dichter  an  diese  herantritt.  Es  gewährt 
zwar  gerade  einen  ganz  besonderen  Genuss,  zu  sehen,  wie  sich  für  die 
subjektive  Individualität  Goethes  die  Einheit  und  Totalität  des  Weltbildes 
objektiviert,  und  es  wäre  ferner  interessant  zu  beobachten,  in  welcher 
Weise  ein  Denker,  wie  Eucken,  jene  objektivierte  Totalität  rekonstruieren 


1)  Ähnlich  wie  ich  es  selbst  einmal  versucht  habe;  vgl.  meine  An- 
trittsvorlesung „Über  Goethes  philosophische  Weltanschauung"  in  den 
„Preussischen  Jahrbüchern"  Bd.  115,  DI.  Heft. 


86  B.  Bauch, 

möchte.  Aber  gerade  durch  die  Art,  wie  Eucken  sein  Problem  stellt  und 
behandelt,  wie  er  mehr  nach  der  subjektiven  Richtimg'  des  Persönlichen 
in  Goethes  Philosophie,  als  nach  deren  objektiven  Gehalt  tendiert,  ge- 
winnt seine  Untersuchung  auch  einen  ganz  besonderen  Reiz:  eben  den 
Reiz  des  Individuellen,  des  Persönlichen.  Dieses  darf  natürlich  auch  von 
der  auf  den  einheitlichen  Gesamtinhalt  gerichteten  Betrachtung  nicht 
übersehen  werden,  weil  jener  selbst  durchaus  persönlich  bestimmt  ist, 
muss  für  sie  aber  mehr  als  eine  stillschweigende  Voraussetzung  hinge- 
nommen werden  und  vor  dem  allgemeinen  Inhalt  der  Weltanschauung  in 
den  Hintergrund  treten,  sofern  man  es  nicht  auf  eine  umfassende  und  um- 
fangreiche Arbeit  absieht,  genau  wie  Eucken  seinerseits  neben  der  subjek- 
tiven Analyse  in  dem  Rahmen  eines  Aufsatzes  wohl  kaum  noch  hätte 
den  Umriss  des  objektiven  Totalinhaltes  von  Goethes  Philosophie  geben 
können. 

Was  er  nun  in  dieser  subjektiven  Analyse  bietet,  ist  so  überaus  fein 
gedacht  und  fein  gefühlt,  so  scharf  und  klar  herausgearbeitet,  so  schön 
dargestellt,  wie  man  es  nur  erwarten  kann;  mag  es  sich  nun  um  Goethes 
Stellungnahme  zur  Natur,  zum  Leben,  zur  Ethik,  zur  Religion,  zur  Kunst 
handeln. 

Nicht  minder  reizvoll  ist  der  nächste  Aufsatz  über  „Pichte  und  die 
Aufgaben  unserer  Zeit".  Die  Ideale  unseres  nationalen  Philosophen  im 
besten  Sinne  des  Wortes  werden  „mit  den  Erfahrungen  des  Jahrhunderts 
und  den  Aufgaben  der  lebendigen  Gegenwart  zusammengehalten". 

Mit  persönlicher  Wärme  wird  Fichtes  warmes  und  energisches 
Leben  für  die  vaterländische  Idee,  für  die  deutsche  That  und  Kraft,  für 
das  „deutsche  Gemüt",  die  deutsche  Innerlichkeit  und  Religiosität  —  mit 
einem  treffenden  Hinblick  auf  Fichtes  Auffassung  vom  Wesen  und  Wirken 
Luthers  —  und  für  die  deutsche  Philosophie,  das  deutsche  Staats-  und 
Gesellschaftsleben  kurz  und  präcis  gekennzeichnet,  wird  gezeigt,  wie  er 
in  diesen  Erscheinungen  des  deutschen  Geistes  „sichere  Beweise  einer  un- 
vergleichlichen Grösse  und  Tiefe"  eben  dieses  „deutschen  Geistes  sah", 
die  dieser  „in  der  Vergangenheit  gegeben  und  die  die  Seele  der  neueren 
Geschichte"  bilden.  Sie  sichern  zugleich  den  Grund  seines  festen  Ver- 
trauens in  der  schwersten  Zeit  seines  Vaterlandes,  um  eine  neue  kraftvolle 
Lebensentfaltung  in  der  Zukunft  erwarten  zu  können.  Seine  Erwartungen 
haben  ihn  nicht  getäuscht;  seine  Hoffnungen  sind  Wirklichkeit  geworden. 
Aber  die  Geschichte  ist  auch  über  sie  hinausgegangen.  Das  nationale 
Leben  sucht  sich  zu  erdumspannender,  extensivster  Macht  auszudehnen. 
Und  wenn  es  auch  in  diesem  Streben  sich  wird  notwendig  begrenzen 
müssen,  wenn  es  für  dieses  Streben  wird  gewisse  Schranken  anerkennen 
müssen,  so  wird  doch  der  deutsche  Geist  durch  intensive  Wirksamkeit  er- 
setzen, was  ihm  extensiv  vielleicht  nicht  beschieden  ist.  „Dann  wird  sich 
die  deutsche  Art  innerlich  als  eine  Weltmacht  erhalten,  auch  wenn  sie 
äusserlich  zurückstehen  sollte.  Schliesslich  ist  das  Stärkste  der  Geist,  er 
kann,  er  wird  sich  behaupten  gegen  alle  blosse  Ausdehnung."  Dazu  aber 
darf  über  der  Sorge  um  die  materielle  Existenz  —  die  Gefahr  unserer 
Zeit!  —  der  selbsteigene  Wert  des  geistigen  Lebens  nicht  vergessen 
werden. 


Euckens  philosophische  Aufsätze.  87 

Im  Anschhiss  an  die  beiden  Geistesgewaltigen,  an  Goethe  und 
Fichte,  werden  einige  zwar  erheblich  minder  bedeutende,  in  ihrer  Eigen- 
art doch  ungemein  anziehende  Persönlichkeiten,  interessante  und  gehalt- 
volle Charaktere  behandelt.  Und  da  erweist  Eucken  seine  Darstellungs- 
kunst in  neuer  trefflicher  Art.  Mit  Innigkeit  ergreift  er  das  Wesen  der 
Individualität  dieser  Männer,  mit  Sicherheit  erfasst  er  das  Bedeutsame  ihrer 
Eigenart  und  weiss  ihren  Wert  in  das  sympathische  Licht  liebevoller 
Teilnahme  und  edler  Gerechtigkeit  zu  rücken;  mag  es  sich  um  „Friedrich 
Fröbel  als  Vorkämpfer  innerer  Kultur"  handeln,  der  die  Weltanschauung 
teilt,  die  die  Denker  und  Dichter  unserer  klassischen  Zeit  vereinigte, 
dessen  ganzes  Wesen  auf  kraftvolle  Eigenbethätigung  drang,  und  der  auf 
sie  und  die  Bildung  der  Menschen  von  Innen  her  auch  die  Erziehung  an- 
gelegt wissen  wollte;  —  mag  Eucken  „Zur  Erinnerung  an  Immanuel  Her- 
mann Fichte"  schreiben.  Ein  Aufsatz,  der  bei  aller  Kürze  uns  ganz  be- 
sonders liebenswürdig  anmutet.  Dem  auf  die  gerechte  Würdigung  aller 
philosophischen  Leistungen  bedachten  jüngeren  Fichte,  —  mit  seinem  auf 
Versöhnung  der  Systeme  und  auf  die  harmonische  Vereinigung  der  philo- 
sophischen Disziplinen  der  Erkenntnistheorie  und  der  Metaphysik,  sowie 
endlich  der  Philosophie  selbst  mit  der  Religion    gerichteten    edlen    Geiste 

—  ist  hier  eine  ganz  besonders  innige,  aus  Gesinnungsverwandtschaft  ent- 
sprungene Erinnerung  geweiht;  —  mögen  wir  mit  des  finnländischen 
Dichters,  des  Idealisten  „Runebergs  Lebensanschauung",  der  Kunst  und 
Leben,  Sittlichkeit  und  Religion  aufs  Innigste  vereint,  bekannt  gemacht 
werden,  —  oder  mag  der  Autor  das  ungemein  reiche  Lebensbild  des  un- 
ermüdlich wirksamen,  thätigkeitsfrohen  „Moritz  Seebeck"  vor  uns  entrollen, 

—  oder  mag  er  uns  endlich  „Zur  Erinnerung  an  Karl  Steffensen"  dessen 
stilles  Schaffen  und  Wirken,  dessen  philosophische  Bethätigung  nach  der 
Richtung  der  Schellingschen  Religions-  und  Geschichtsphilosophie  mit 
seiner  innigen  Anlehnung  an  Piaton  vor  Augen  führen,  und  uns  die  Be- 
sonderheit seines  Denkens  in  der  innigen  Beziehung  der  Philosophie  zum 
Reinraenschlichen  erschliessen.  Überall  finden  wir  das  gleiche,  liebevolle 
Eingehen  auf  die  Persönlichkeit  und  das  glücklichste  Ergreifen  ihres 
Wesens,  das  auch  das  Bild  ihres  Wirkens  in  lichte  Klarheit  zu  heben 
vermag. 

Der  zweite  Teil  von  Euckens  Buch,  an  Umfang  nur  ein  Drittel 
desselben,  nimmt  Stellung  „Zum  religiösen  und  religionsphilosophischen 
Probleme".  Der  erste  seiner  Aufsätze  behandelt  „die  Stellung  der  Philo- 
sophie zur  religiösen  Bewegung  der  Gegenwart" :  Die  Zeit  der  Äusserlich- 
keit  und  Veräusserlichung,  als  welche  sich  die  letzten  Jahrzehnte  trotz 
der  grossen  äusseren  Erfolge  auf  Einzelgebieten,  ja  in  gewissem  Zusammen- 
hange mit  diesen  Erfolgen  charakterisieren,  hat  den  inneren  Menschen  leer 
gelassen.  Die  Persönlichkeit  sehnt  sich  nach  Innerlichkeit.  Das  ist  die 
Wendung  zur  Religion. 

Die  überlieferten  Religionssysteme  aber  können  dem  Menschen  kein 
Genüge  thun.  Ihre  herkömmlichen  Vorstellungsformen  widersprechen  den 
geistigen  Errungenschaften  und  den  neuen  geschichtlichen  Werten  unserer 
Zeit.  Aufgabe  dieser  Zeit  aber  ist  es,  die  religiösen  Werte  mit  denen 
unserer   Kultur  zur   Einheit   zu   bringen.    Darum   darf   die  Religion  „die 


88  B.  Bauch, 

lebendigen  Probleme  nicht  fliehen".  Deren  Werte  aber  gar  zu  leugnen 
wäre  selbst  Unglaube;  es  ist  „ein  Unglaube  an  die  Macht  des  Göttliclien 
in  der  Geschichte,  anzunehmen,  dass  die  tiefen,  geistigen  Wandlungen 
und  die  schweren  Erschütterungen  der  letzten  Jahrhunderte  ganz  frucht- 
los geblieben  sind  für  die  innerste  Seele  des  Menschen  und  für  sein  Ver- 
hältnis zum  Göttlichen",  Die  Pliilosophie  ihrerseits  hat  entschieden  die 
Zeitlosigkeit  der  ewigen  Wahi-heit  anzuerkennen  und  sie  nicht  an  die 
Sprache  dieser  oder  jener  Epoche  gebunden  zu  denken.  Sie  selbst  aber 
kann  die  Religion  nicht  erneuern.  Diese  Erneuerung  hat  von  der  Reli- 
gion selbst  auszugehen.  Aber  die  Philosophie  kann  sie  unterstützen;  nicht 
für  den  Einzelnen  zwar,  sondern  für  „das  Ganze  der  Menschheit".  Die 
religiöse  Wendung  zur  Innerlichkeit  und  die  philosophische  Wendung  zum 
Subjekt  kommen  sich  da  trefflich  entgegen.  Beide  weisen  auf  überindivi- 
duelle Zusammenhänge  hin,  um  dem  Einzelnen  einen  allgemeingiltigen 
Wert,  dem  Historischen  einen  Ewigkeitsgehalt  zu  sichern,  hoch  erhaben 
über  jedes  individuelle  Belieben  und  subjektive  Willkür,  geläutert  von 
aller  unedlen  und  veräusserlichenden  Nützlichkeitsrücksicht  auf  den  sinn- 
fälligen Erfolg,  die  in  unserer  Zeit  eine  hochbedeutende  Rolle  spielen. 

„Der  moderne  Mensch  und  die  Religion"  in  ihrer  Wechselbeziehung, 
die  der  zweite  dieser  Aufsätze  behandelt,  zeigen  das.  Der  Naturalismus 
und  der  Subjektivismus  treten  heute  der  Religion  noch  entgegen;  jener, 
weil  er  den  Menschen  lediglich  und  ausschliesslich  in  seiner  phänomenalen 
Verstricktheit  in  die  mechanischen  Zusammenhänge  der  Natur  zu  be- 
trachten weiss,  dieser,  weil  er  allgemeingiltige,  übersubjektive  Bestim- 
mungen der  menschlichen  Innerlichkeit  nicht  gelten  lassen  will  und  die 
Unterordnung  der  Persönlichkeit  unter  jene  als  eine  menschliche  Schwäche 
verspottet.  Aber  ihnen  zum  Trotz  beginnt  die  Religion  zu  erstarken,  und 
dafür  kann  sie  selbst  Kraft  ziehen  aus  den  Errungenschaften  imserer  Zeit. 
Dem  Naturalismus  gegenüber  verweist  eine  vertiefte  Erkenntnis  den 
Menschen  auf  übermenschliche  Zusammenhänge,  wie  sie  ihn  dem  Subjek- 
tivismus gegenüber  auf  allgemeine  Werte  verweist,  indem  selbst  der 
Wert  des  Individuellen,  des  Subjektiven  auf  solche  rekurriert. 

Das  geschichtliche  Bild  eines  grossen  ernst  und  ehrlich  ringenden 
Zweiflers,  der  auch  für  unsere  Zeit  von  ganz  hervorragendem  Interesse 
ist,  bietet  uns  der  nächste  Aufsatz :  „Pierre  Bayle,  der  grosse  Skeptiker"  dar. 
Eine  künstlerisch  feinsinnige  Analyse  entwickelt  uns  die  Eigenart  dieses  oft 
verdächtigten,  weil  schwer  verständlichen  Mannes,  der  in  Wahrheit  nur 
um  der  Wahrheit  willen  zweifelt,  die  überkommenen  Vorstellungsweisen 
mit  unnachlässlicher  Zähigkeit  und  unerbittlicher  Kritik  zersetzt,  der  im 
ewigen  Sehnen  nach  Erkenntnis  an  der  Erkenntnis  verzweifelt,  der  da 
meint,  dass  wir  nie  sicher  sind  „die  Wahrheit  zu  haben,  sondern  nur  des 
Glaubens,  sie  zu  haben".  Dieser  Subjektivismus  im  Theoretischen  findet 
sein  Analogon  bei  ihm  im  Praktischen.  Die  allgemeinen  Werte  weichen 
der  Eigenliebe,  dem  Glückseligkeitstriebe,  der  sehr  treffend  in  seiner  Un- 
fähigkeit zum  allgemeinen  Prinzip  zu  dienen,  weil  in  seinem  Wechsel, 
erkannt  wird. 

Aber  dieser  eigentlich  „vorwissenschaftliche"  Skeptizismus  erhält 
eine  höhere,   positive  Bedeutung   durch  seine  Wendung  zum  Wissenschaft- 


Euckens  philosophische  Aufsätze.  89 

liehen  Skeptizismus.  Denn  dieser  besinnt  sich  darauf,  dass  selbst  alle 
Skepsis,  die  etwas  bedeuten  und  nicht  bloss  leeres  Geschwätz  sein  will, 
„das  Wirken  einer  Vernunft  im  Menschen  anerkennen"  muss.  Nur  auf 
dieser  Voraussetzung,  „auf  Grund  von  Vernunft  und  Wissenschaft"  kann 
ein  höherer  Skeptizismus  entstehen,  der  sich  bewusst  wird,  dass  bei  aller 
Anerkennung  der  formalen  Vernunftgesetzmässigkeit  doch  das  Vernunft- 
streben nach  inhaltlicher  Wahrheit  auf  unüberwindliche  Schwierigkeiten 
stösst.  Nach  Bayle  zeigt  sich,  wie  Eucken  das  treffend  formuliert,  „un- 
sere Vernunft  unvermögend,  auszuführen,  was  sie  begonnen  hat  und  be- 
ginnen musste".  So  ergeht  es  der  Vernunft  nicht  minder,  wenn  sie  sich 
ein  Gesamtbild  der  in  Zeit  und  Raum  befassten  Welt  entwerfen  will,  als 
wenn  sie  in  das  Seelenleben  des  Menschen  oder  des  Tieres  einzudringen 
versucht.     Überall  gerät  sie  in  antithetische  Verwickelungen. 

Etwas  ganz  Ähnliches  findet  auch  für  die  wissenschaftliche  Skepsis 
in  praktischer  Beziehung  statt.  Auch  hier  giebt  es  eine  höchste,  un- 
zweifelhafte Gewissheit:  das  innere  moralische  Gesetz.  Aber  auch  hier 
gewahrt  Bayle  eine  tiefgehende  Gegensätzlichkeit:  nämlich  zwischen  der 
Wirklichkeit  und  den  Forderungen  dieses  Gesetzes ;  ein  Gegensatz  viel 
tieferer  Art,  als  ihn  die  vorwissenschaftliche  Skepsis  kannte,  da  diese  den 
Menschen  ja  viel  mehr  als  Naturwesen,  denn  in  seiner  moralischen  Anlage 
betrachtete,  und  so  das  Höhere  in  ihm  nicht  fasste. 

Von  der  Religion  erhofft  und  erwartet  Bayle  Überwindung  dieses 
Zwiespaltes.  Aber  die  Wirklichkeit  zeigt  auch  da  ein  erschütterndes 
Bild :  Die  Religionen  widersprechen  der  Religion.  Und  der  Unterschied 
des  Bekenntnisses  thut  hier  nicht  das  Geringste ;  überall  besteht  das 
gleiche  Missverhältnis.  Der  Wert  des  Menschen  ist  unabhängig  von  seinem 
Glaubensbekenntnis. 

Anstatt,  dass  die  Religion  das  Leben  zu  gestalten  vermöchte,  zieht 
das  Leben  die  Religion,  in  der  Form  der  Religionen,  in  seinen  verwelt- 
lichenden und  veräusserlichenden  Dienst.  Anstatt  den  Frieden  der  Reli- 
gion bringt  das  Leben  religiösen  Unfrieden.  Die  Seele  des  Menschen 
leidet  Schaden  durch  den  dogmatischen  Streit  der  Parteien,  die  sich  in 
blindem  Sektenwahn  befehden. 

Unermüdlich  ringt  sich  der  Mann  mit  den  Problemen  in  ernster 
Arbeit  ab.  Bis  in  die  einzelnen  Dogmen,  soweit  ihr  Kern  ein  moralischer 
ist,  versenkt  sich  sein  heissestes  Bemühen.  Aber  „in  aller  unermesslichen, 
staunenswerten  Beweglichkeit  fehlt  dem  Manne  die  eigentliche  Thatkraft 
des  Denkens,  w^elche  den  Kampf  gegen  die  Widersprüche  aufnimmt  und 
sie  schliesslich  in  irgend  einer  Weise  heroisch  überwindet". 

Unter  dem  Titel  „Ein  neuer  Durchblick  der  Weltgeschichte"  be- 
schliesst  eine  recht  ausführliche  Besprechung  von  Willmanns  Geschichte 
des  Idealismus  den  religionsphilosophischen  Teil .  des  Werkes.  Um  hier 
nicht  eine  Besprechung  der  Besprechung  zu  geben,  wollen  wir  uns  kurz 
fassen,  und  nur  das  bemerken :  Euckens  Aufsatz  ist  als  edle,  vornehme 
Streitschrift  geradezu  vorbildlich.  Dass  seine  moderne  Weltanschauung 
von  der  mittelalterlichen  Willmanns  durch  unendliche  Kluften  getrennt 
bleibt,  das  tritt  mit  ebensolcher  Deutlichkeit  an  den  Tag,  wie  die  Achtung 
der  persönlichen  Überzeugung  des  anderen.  In  der  Bewertung  von  Willmann  s 


90  B.  Bauch, 

Werk  kann  ich  allerdings  Eiicken  nicht  ganz  zustimmen.  Dass  Willmanns  Ge- 
schichte des  Idealismus  „keine  Tendenzschrift"  sei,  —  dies  Urteil  scheint 
mir  einer  starken  Einschränkung  bedürftig.  Wir  dürfen  vielleicht  zugeben, 
dass  das  Werk  nicht  ganz  in  der  Tendenz  aufgeht,  dass  es  nicht  ganz  und 
gar  Tendenzschrift  ist.  Seine  ersten  Teile  mögen  immerhin  den  Anspruch 
auf  tendenzfreie  Sachlichkeit  erheben  dürfen,  so  gilt  doch  das  nicht  von 
der  Darstellung  der  Neuzeit.  Namentlich  sehen  wir  die  Behandlung  des 
kritischen  Idealismus,  insonderheit  die  Kants  von  einer  so  beklagenswerten 
Tendenz  erfüllt,  dass  der  Gesamtwert  des  Buches  erhebliche  Einbusse  er- 
leidet. Gerade  darum  ist  uns  Euckens  durch  und  durch  vornehmer  und 
immer  treffender  von  einem  hohen  Bewusstsein  der  allgemeinen  kulturellen 
Werte  getragener  Protest  aus  der  Seele  geschrieben. 

Im  Anhang  beantwortet  Eucken  noch  kurz  die  Frage:  „Was  sollte 
zur  Hebung  philosophischer  Bildung  geschehen?"  und  giebt  eine  Fülle 
beherzigenswerter  Richtpunkte  sowohl  für  die  philosophische  Belehrung 
auf  der  Schule  als  auch  für  die  Arbeit  auf  der  Universität.  Um  nur  das 
Wichtigste  hervorzuheben,  machen  wir  auf  den  glücklichen  Hinweis  auf- 
merksam, den  er  für  den  philosophischen  Schulunterricht  giebt:  „ein  Ver- 
trautwerden mit  den  grossen  Helden  des  Denkens,  namentlich  mit  solchen, 
die  von  starker  Bewegung  erfüllt  sind",  hält  Eucken  in  diesem  Betracht 
für  sehr  wertvoll.  Und  dass  er  neben  Piaton  auch  Kant  zur  Geltung  ge- 
bracht wissen  will,  findet  unseren  vollen  Beifall. 

Für  den  Universitätsunterricht  fordert  Eucken  mit  Recht  mehr  Be- 
rücksichtigung der  allgemeinen  Weltanschauungsprobleme  gegenüber  der 
heute  zu  hoher  Geltung  gelangten  naturwissenschaftlichen  (psychologischen) 
Richtung  und  auch  der  rein  historischen  Behandlung,  so  wertvoll  diese 
immerhin  an  und  für  sich  sein  mögen.  Sehr  riclitig  sieht  Eucken  eine 
starke  Schädigung  in  der  „unseligen  Verschärfung  des  konfessionellen 
Gegensatzes". 

Auch  macht  er  eine  Reihe  von  höchst  annehmbaren  Vorschlägen, 
wie  Abschaffung  des  philosophischen  Promotionszwanges,  Einrichtung  von 
Übungen  und  Repetitorien  neben  den  Seminarien. 


Mit  dem  Gefühle  der  Dankbarkeit  gegen  den  Schriftsteller  legen 
wir  sein  Werk  aus  der  Hand.  Eine  Fülle  von  Belehrung  und  Anregung 
geht  von  diesen  vortrefflichen,  in  durchgehendem  Zusammenhange  stehen- 
den Aufsätzen  aus.  Ihr  wissenschaftlicher  Wert  verbindet  sich  aufs  glück- 
lichste mit  jener  vornehmen  Popularität,  von  der  Schiller  meinte,  sie  würde 
der  Philosophie  die  weitesten  Kreise  erobern.  Und  wir  sind  der  Überzeugung 
und  der  Hoffnung,  dass  die  Sammlung  dieser  Aufsätze  philosophisches 
Interesse  wirklich  in  den  weitesten  Kreisen  finden  und  erwecken  werde. 
Es  wächst  und  regt  sich  ja  allenthalben,  und  eine  reiche  Popularlitteratur 
bietet   sich  ja   auch   bereits   an,   es  zu   befriedigen,   leider  aber   meist  in 


Euckens  philosophische  Aufsätze.  91 

Schriften  jener  populären  Art,  die  hätten  ebensogut  oder  besser  unge- 
schrieben bleiben  können.  Im  Gegensatz  zu  dieser  Art  von  Popularlitte- 
ratur  ist  nun  gerade  ein  Buch,  wie  Euckens  Aufsatzsammlung,  das  in 
gleicher  Weise  die  Wissenschaftlichkeit  auf  das  sorgfältigste  wahrt,  wie 
es  doch  durchaus  für  jeden  Gebildeten  verständlich  ist,  um  so  freudiger 
zu  begrüssen.  Hier  kann  jeder  philosophisch  Interessierte  wirklich  Gewinn 
und  Belehnmg  finden.  Die  schöne,  klare  Sprache  macht  es  ihm  leicht,  den 
ernsten,  philosophischen  Gedanken  zu  folgen ;  die  edle  Form  bietet  ihm 
den  gediegenen  Gehalt  aufs  gefälligste  dar;  und  so  hoffen  und  wünschen 
wir  für  dieses  Buch  allseitige  Verbreitung. 


Renouvier  und  der  französische  Kritizismus.'^ 

Von  M.  Ascher. 


Am  1.  September  1903  starb  im  89.  Lebensjahre  Charles  Renouvier, 
der  Begründer  des  französischen  Neu-Kritizismus.  Unter  den  philosophi- 
schen Lehrgebäuden  nimmt  der  Renouviersche  Kritizismus  eine  hervor- 
ragende Stellung  ein  und  vermutlich  wird  dies  System  in  den  kommenden 
Jahren  noch  weit  mehr  Anhänger  gewinnen  als  es  heute  schon  besitzt. 

Renouvier  hat,  auf  Kantische  Prinzipien  gegründet,  ein  vollständiges 
System  von  philosophischem  Phänomenalismus  geschaffen.  Kant  hatte  die 
Metaphysik  als  wissenschaftliche  Erkenntnis  allerdings  verworfen,  aber  als 
vernünftiges  Denken  über  den  mundus  intelligibilis  hatte  er  sie  gelten 
lassen,  ja  in  gewisser  Beziehung  als  notwendig  befunden.  Der  von  Re- 
nouvier gegründete  Neu-Kritizismus  hat  es  sich  zur  Aufgabe  gemacht, 
innerhalb  der  Grenzen  menschlichen  Erkennens  einzig  die  Wirklichkeit 
zu  erklären,  und  jede  Existenz,  welche  man  sich  in  einer  anderen  Sphäre 
vorstellt,  als  der  der  sinnlichen  Erfahrung,  ist  für  ihn  nur  Chimäre.  Die 
noumenale  Welt  Kants  entzieht  sich  den  Regeln  der  Erkenntnisthätigkeit, 
weshalb  sie  von  einer  wahrhaft  kritizistischen  Methode  nicht  gebilligt 
werden  kann. 

Der  Renouviersche  Kritizismus  knüpft  sowohl  an  Hume  wie  an 
Kant  an.  Er  versöhnt  beide,  indem  er  beide  sich  gegenseitig  ergänzen 
lässt.  Kant  hatte  Humes  Lehre  verbessert,  indem  er  die  Kategorien  darin 
einführte  und  bewies,  dass  kategoriale  Bestimmungen  a  priori  unentbehr- 
lich seien.  Renouvier  aber  verbessert  wieder  Kants  Lehre,  indem  er  mit 
Humes  Belegen  aus  den  Kantischen  Verstandesgesetzen  die  Idee  der  Sub- 
stanz streicht.  —  Renouvier  selbst  hat  bei  jeder  Gelegenheit  betont,  dass 
er  das  Werk  Kants  nur  habe  fortsetzen  resp.  vollenden  wollen.  Renouvier 
will  den  Kantianismus  verbessern,  die  Thesen  Kants,  wo  es  not  thut,  um- 
arbeiten, ohne  jedoch  die  Grundideen  Kants  zu  bestreiten.  Es  wird  wohl 
niemand  geben,  der  mit  der  Kantischen  Einteilung  der  Kategorien  völlig 
einverstanden  ist  und  dieselbe  für  unanfechtbar  hält  Doch  mit  Recht 
hat  schon  in  der  Revue  de  Metaphysique  et  de  Morale  Mai  1904,  in  seinem 
Artikel  „La  critique  des  categories  kantiennes  chez  Charles  Renouvier" 
der  Verfasser  D.  Parodi  manche  der  Renouvierschen  Einwürfe  gegen  Kant 

1)  Mit  Rücksicht  auf:  Janssens,  „Le  Neo-Criticisme  de  Charles  Renou- 
vier"   und    besonders    auf:    Prat,   ,,Les  Derniers  Entretiens  de  Charles  Re- 


Renouvier  und  der  französische  Kritizismus.  93 

entkräftet,  wenn  auch  vom  logischen  Standpunkt  aus  die  Renouviersche 
Kritik  ihre  Kraft  beibehält.  Auch  in  dem  kürzlich  erschienenen  vortreff- 
lichen Werke  über  Renouvier  „Le  Neo-Criticisme  de  Charles  Renouvier", 
Paris,  Felix  Alcan,  1904,  ist  es  dem  Verfasser  E.  Janssens  zuweilen  ge- 
lungen, Kant  gegen  Renouvier  in  Schutz  zu  nehmen.  —  Übrigens  geben 
selbst  die  Gegner  der  Renouvierschen  Philosophie  zu,  dass  man  über  den 
imposanten  Charakter  dieses  grossartigen  philosophischen  Lehrgebäudes 
staunen  muss. 

Den  Widerspruch  vermeiden,  das  ist  für  Renouvier  das  Bedeut- 
samste bei  allem  Forschen.  Da  handelt  es  sich  für  den  Kritizismus  in 
vorderster  Reihe  um  die  Widerlegung  des  Unendlichkeitsbegriffs.  Es 
liegt  ein  grosser  Widerspruch  in  dem  Begriff  einer  unendHchen  Zahl.  Zu 
jeder  Zahl,  wie  gross  sie  auch  sei,  ist  es  immer  möglich,  eine  noch  grössere 
Zahl  hinzuzudenken.  Gäbe  es  nun  ein  Unendliches,  so  wäre  es  eine  Zahl, 
die  grösser  ist  als  jegliche  denkbare  Zahl,  was  an  und  für  sich  etwas  Un- 
sinniges ist.  Deshalb  auch  muss  die  Welt  zeitlich  einen  Anfang  gehabt 
haben,  denn  es  kann  nicht  eine  unendliche  Anzahl  von  Augenblicken  oder 
Jahren  verflossen  sein.  AUe  Dinge  müssen  einmal  begonnen  haben  und 
vor  diesem  Anfang  war  nichts.  Es  wird  uns  niemals  gelingen,  die  Uran- 
fänge zu  ergründen,  und  niemals  werden  wir  bis  an  die  Quelle  des  Flusses 
gelangen,  dessen  Lauf  uns  mit  sicli  zieht. 

Kants  Lehre,  „man  kennt  nur  Phänomena",  besagt  allerdings,  dass  es 
uns  unmöglich  ist,  die  Metaphysik  zu  begreifen,  aber  sie  giebt  die  Mög- 
lichkeit einer  Metaphysik  zu.  Renouviers  Lehre,  „es  giebt  nur  Phänomena'-, 
bestreitet  eine  Metaphysik  überhaupt.  Man  könnte  nun  glauben,  dass  Re- 
nouvier alle  jene  Begriffe  verneint,  die  man  im  allgemeinen  als  metaphy- 
sisch versteht  und  deshalb  auch  sich  veranlasst  sieht,  die  Religion  zu 
negieren.  Keineswegs!  Renouvier  stützt  vielmehr  die  Metaphysik  nur 
auf  die  Forderung  des  sittlichen  Bewusstseins,  und  es  giebt  wohl  keine 
Philosophie,  die  sich  so  sehr  mit  den  Grundprinzipien  der  Religion  deckt, 
als  der  französische  Neu-Kritizismus.  Das  moralische  Gesetz  drängt  sich 
nach  Renouvier  den  Individuen  sowohl  wie  den  Gesellschaften  auf  und 
befiehlt  die  Pflichten  gegen  sich  selbst,  die  Tugend  und  die  Pflichten  den 
Mitmenschen  gegenüber,  die  Gerechtigkeit.  Nach  Renouvier  hat  der 
Mensch  das  Recht,  ja  die  Pflicht  zu  behaupten,  dass  er  frei  sei,  dass  seine 
Seele  unsterblich  sei,  und  dass  es  einen  Gott  giebt.  Wenn  nämüch  von 
Freiheit  die  Rede  ist,  so  meint  man  damit  die  Freiheit  des  in  der  Zeit 
und  im  Räume  befindlichen  Menschen,  also  die  Freiheit  in  der  realen 
Welt  und  nicht  die  transscendentale  Freiheit.  Wenn  die  mit  jedem  Wesen 
verbundenen  Zwecke  in  Realisierung  gehen  sollen  und  die  Aufrechthaltung 
der  moralischen  Ordnung  der  Welt  sicher  gestellt  sein  soll,  so  müssen  wir 
zu  dem  Glauben  an  ein  höchstes  Wesen  gelangen.  Es  ist  unnütz,  über  die 
Natur  Gottes  in  Beziehung  zu  Raum,  Zeit  und  Kausalität  Betrachtungen 
anzustellen,  da  nach  dem  Kritizismus  sich  unser  Wissen  nur  auf  das  Gebiet 
der  Phänomena  und  ihrer  Gesetze  erstrecken  darf.  Es  ist  deshalb  unmög- 
lich, sich  die  Natur  Gottes  anders  vorzustellen  als  in  Beziehung  zu  der 
Schöpfung.  Wir  müssen  Gott  als  Ursache  der  Welt  begreifen,  welche  er 
durch  einen  Willensakt   geschaffen.    Das  Geheimnis  des  ersten  Ursprungs 


94  M.  Ascher, 

des  göttlichen  Wesens  vermögen  wir  nicht  zu  durchdringen.  Und  wenn 
für  uns  Gott  existiert,  so  ist  damit  auch  klar,  dass  wir  nicht  leere  Natur- 
produkte imd  die  höheren  Bestrebungen  unseres  Geistes  nicht  leere  Phan- 
tasien sind,  sondern  dass  wir  nach  einer  Seite  unseres  Wesens  über  jede 
Natur  uns  erheben.  Wenn  wir  an  Freilieit,  Gott  und  Unsterblichkeit 
glauben,  so  thun  wir  nichts  anderes,  als  durch  vernunftgemässen  Glauben 
Verhältnisse  zu  bejahen,  die  uns  in  der  phänomenalen  Welt  gegeben 
werden.  Ohne  dieselben  würden  wir  der  im  Bewusstsein  sich  vorfinden- 
den Idee  der  mensclilichen  Bestimmung  nicht  zu  genügen  vermögen. 

Vor  einigen  Monaten  erschien  im  Verlag  von  Armand  Colin,  Paris, 
„Les  Derniers  Entretiens"  de  Charles  Renouvier,  recueillis  par  L.  Prat. 
Dies  sehr  bemerkenswerte  Buch  hat  —  was  man  von  einem  philosophischen 
Buch  gewiss  selten  sagen  kann  —  neben  seinem  tiefen  philosophischen 
und  moralischen  Gehalt  noch  den  Vorzug,  dass  es  überaus  spannend  ist. 
Der  alte  Meister  Renouvier  liegt  im  Sterben  und  vermacht  seinem  besten 
Freund  und  Mitarbeiter  Prof.  Louis  Prat  sein  philosophisches  Testament. 
Der  grosse  Philosoph  fühlt  es,  dass  es  ihm  nur  noch  vergönnt  ist,  höchstens 
einige  Tage  zu  leben  und  fühlt  sich  bewogen,  die  Quintessenz  seines 
ganzen  Systems  in  die  knappste  Form  zu  giessen  und  alle  grossen  welt- 
bewegenden Gedanken,  die  ihm  am  Herzen  liegen,  kurz  zusammenzufassen. 
Mit  grossen  Zügen  giebt  er  noch  einmal  die  hauptsächlichsten  Thesen 
seines  Systems  an.  Ganz  besonderes  Interesse  bieten  die  herrlichen  Be- 
trachtungen des  Philosophen  über  das  Mitleid,  die  Gerechtigkeit,  das 
Schicksal,  die  Ziikunft  der  Philosophie,  die  Zukunft  der  Demokratie  etc. 
Der  auf  dem  Sterbelager  liegende  Philosoph  unterhält  sich  so  eifrig  mit 
seinem  Freund  über  die  bedeutsamsten  Fragen  der  Philosophie,  dass  er 
ganz  sein  Leiden  und  die  Nähe  des  Todes  vergisst.  Doch  allmählich  macht 
auch  ihm  eine  immer  grösser  werdende  Schwäche  sich  bemerkbar.  Indes 
leidet  nur  sein  Körper  an  den  Folgen  der  Schwäche,  sein  Geist  jedoch  ist 
noch  so  klar  wie  ehedem.  Renouvier  ist  bei  so  vollem  Bewusstsein,  dass 
er  selbst,  während  sein  Körper  schon  den  eisigen  Hauch  des  Todes  ver- 
spürt, noch  Betrachtungen  über  die  letzten  Stunden  des  Menschenlebens 
und  über  den  Tod  anzustellen  vermag.  Es  ist  ihm,  „als  ob  er  sanft  über 
einen  Abhang  gleite,  und  das  Reich  des  Unbekannten  übt  grossen  Zauber 
auf  ihn  aus."  Er  glaubt  in  innigster  Überzeugung  an  die  Güte  Gottes, 
und  dass  er  in  einer  anderen  Welt  unter  anderen  Verhältnissen  zu  einem 
neuen  Leben  erwachen  wird.  Mit  berechtigtem  Stolz  gestellt  er  sich  ein, 
dass  er  stets  viel  gearbeitet  und  in  aufrichtigster  Weise  stets  nach  Wahr- 
heit geforscht  habe.  Als  Renouvier  merkt,  dass  er  nur  noch  mit  der 
grössten  Mühe  zu  sprechen  vermag,  da  rafft  er  noch  einmal  alle  Kraft  zu- 
sammen, um  von  den  höchsten  Problemen  zu  reden.  Er  wünscht  allen 
Menschen  eine  vernunf  tgemässe  Religion,  wie  sie  der  Kritizismus  erheischt : 
eine  Religion  ohne  Dogma,  ohne  Priester,  ohne  Kirche,  —  eine  pliiloso- 
phische  Religion,  deren  Gegenstand  darin  besteht,  das  Problem  des  Übels 
zu  lösen.  Und  wie  er  beginnen  will,  die  Begriffe  Gott  und  Unsterblichkeit 
zu  klären  und  sein  klarer  Geist  eben  sich  anschickt,  Dinge  zu  enthüllen, 
die  kein  Sterblicher  bisher  zu  enträtseln  vermochte,  da  entschwindet  seine 
Seele  in  die  lichten  Sphären  einer  schöneren  Welt. 


Renouvier  und  der  französische  Kritizismus.  95 

Selbst  diejenigen,  welche  in  Renouviers  Philosophie  nicht  die  end- 
gültige wahre  Philosophie  erblicken  und  nicht  daran  glauben,  dass  es  dem 
französischen  Neu-Kritizismus  gelingen  wird,  das  moderne  Bewusstsein  in 
seine  Gefolgschaft  zu  ziehen,  werden  immerhin  eingestehen  müssen,  dass 
diese  Philosophie  in  der  Geschichte  des  menschlichen  Geistes  eine  bedeut- 
same Etappe  nach  vorwärts  darstellt  und  dass  der  vornehme  Geist  dieser 
Lehre  das  moderne  Bewusstsein  läutern  und  veredeln  muss.  Das  gross- 
artige philosophische  Lehrgebäude  Renouviers,  das  in  der  Schweiz,  in 
Frankreich,  Dänemark,  England  und  Amerika  schon  viele  Anhänger  ge- 
funden, —  diese  Philosophie,  von  der  kein  Geringerer  als  Ueberweg-Heinze 
(Grundriss  der  Geschichte  der  Philosophie)  sagt,  dass  sie  in  Frankreich 
seit  Malebranche  das  einzige  vollständige  System  sei  —  verdient  in  der 
That,  dass  auch  die  deutsche  Gelehrtenwelt  sich  eingehend  damit  be- 
schäftigt. 


Der  IV.  Band  der  Berliner  Kant-Ausgabe. 

Von  Ernst  v.  Aster. 


Der  IV.  Band  der  Werke  Kants,  der  noch  im  vergangenen  Jahr  zur 
Ausgabe  gelangt  ist,  umfasst  652  Seiten,  von  denen  565  auf  den  Kantischen 
Text  entfallen.  Er  enthält  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  in  der 
Fassung  der  1.  Auflage  bis  zu  den  Paralogismen  einschl.  (der  vollständige 
Text  der  2.  Auflage  ist  dem  III.  Bande  vorbehalten),  die  Prolegomena, 
die  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten  und  die  Metaphy- 
sischen Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft.  Herausgeber  der 
ersten  beiden  Schriften  ist  Benno  Erdmann,  der  Grundlegung  Paul  Menzer, 
der  metaphysischen  Anfangsgründe  Alois  Höfler.  Wie  im  I.  Band  ist 
jeder  Schrift  eine  Einleitung  und  ein  Bericht  über  die  „Lesarten"  aus  der 
Feder  des  Herausgebers,  ausserdem  ein  Abschnitt  über  „Orthographie, 
Interpunktion  und  Sprache"  von  dem  germanistischen  Mitarbeiter  E.  Frey 
beigegeben  ;  von  sachlichen  Erläuterungen  hat  man  dagegen  bei  den  Schriften 
rein  philosophischen  Inhalts  aus  leicht  verständlichen  Gründen  Abstand 
genommen,  nur  die  metaphysischen  Anfangsgründe  sind  damit  versehen. 
Dagegen  nimmt  die  Einleitung  der  Herausgeber  einen  erheblich  breiteren 
Raum  ein,  weil  hier  die  Aufgabe  vorlag,  in  kurzen  Zügen  eine  Ge- 
schichte der  betreffenden  Schriften  zu  geben.  Diese  Geschichte  kann 
natürlich  von  vorn  herein  nur  eine  „äussere"  sein,  d.  h.  eine  Angabe  der 
für  die  Abfassung  der  Schrift  in  Betracht  kommenden  Daten ;  eine  Ent- 
wickelungsgeschichte  der  kritischen  Philosophie  kann  nicht  als  zum  Ge- 
schäft des  Herausgebers  gehörig  betrachtet  werden.  Auch  bei  dieser 
„äusseren  Geschichte"  hat  man  sich  nach  Möglichkeit  des  Eingehens  auf 
den  Inhalt  der  Schriften  enthalten  —  ein  Umstand,  der  namentlich  für 
die  Einleitung  der  Prolegomena  seine  Konsequenzen  gehabt  hat  —  absolut 
ist  dies  freilich  schon  aus  dem  Grunde  nicht  möglich  gewesen,  weil  viel- 
fach die  gewünschte  Terminbestimmung  sich  erst  aus  der  Vergleichung 
einer  Reihe  von  brieflichen  u.  dgl.  Äusserungen  ergab.  Hervorzuheben 
ist,  dass  in  diesen  historischen  Excursen  zum  ersten  Mal  das  gesamte  Ma- 
terial des  Kantischen  Briefwechsels,  wie  es  im  X.,  XI.  und  XII.  Bande 
der  Akademie-Ausgabe  schon  gesammelt  vorliegt,  zur  Verwendung  ge- 
kommen ist.  Dies  ist  natürlich  beim  Vergleich  mit  den  Resultaten  der 
bisherigen  Forschung  in  dieser  Richtung,  namentlich  mit  Bezug  auf  die 
vielumstrittene  Geschichte  der  Kritik  der  reinen  Vernunft,  in  Rechnung 
zu  ziehen. 


Der  IV.  Band  der  Berliner  Kant-Ausgabe.  97 

Erdmanns  Einleitung  zur  1.  Auflage  der  Kritik  'giebt  die  Ge- 
schichte des  Werkes  „von  der  ersten  Konzeption  des  kritischen  Gedankens" 
bis  zum  Jahre  1781  (S.  569 — 587).  Genauer  betrachtet  Erdmann  als  Aus- 
gangspunkt das  Jahr  1765,  mit  Rücksicht  auf  Äusserungen  Kants  in  Briefen 
an  Reccard  und  BernouUi  1781.  In  einem  dieser  Briefe  teilt  Kant,  indem 
er  die  Gründe  angiebt,  die  seinen  Briefwechsel  mit  Lambert  zu  jener  Zeit 
(1764)  ins  Stocken  geraten  Hessen,  mit,  er  habe  damals  angefangen,  „die 
Natur  desjenigen  Vernunftgebrauchs,  den  man  Metaphysik  nennt,  zu  ent- 
wickeln", sei  dabei  aber  in  immer  weitere  Gedankenreihen  geraten,  die 
die  schriftliche  Fixierung  verhinderten,  bis  er  endlich  zu  dem  „Aufschluss" 
gelangt  sei,  dessen  „Resultat  in  der  Kritik  d.  r.  Vernunft  vorgetragen 
worden".!)  Danach  scheint  Kant  selbst  die  ganze  Zeit  von  1765 — 81  als 
mehr  oder  minder  einheitliche  Entwickelung  zum  Kritizismus  anzusehen 
und  wenn  er  zu  gleicher  Zeit  in  einem  Briefe  an  Lambert  2)  von  dem 
Plan  spricht,  eine  Schrift  über  die  eigentümliche  Methode  der  Metaphysik 
zu  verfassen,  so  erscheint  dieses  Projekt  als  erste  Vorstufe  der  Kritik 
d.  r.  V. 

Die  ganze  Entwickelung  von  1765 — 81  teilt  Erdmann  in  3  Perioden : 
1765 — 69,  69—76,  76—81.  Die  erste  Periode  wird  in  wörtlicher  Anlehnung 
an  eine  in  den  „Reflexionen"  veröffentlichte  Bemerkung  Kants  in  seinem 
Handbuch  von  Baumgartens  Metaphysik  als  die  „Dämmerungsperiode  der 
Idee"  bezeichnet.  Als  ihren  Repräsentanten  betrachtet  Erdmann  den 
Plan  zu  der  erwähnten  Schrift  über  die  eigentümliche  Methode  der  Meta- 
physik. Das  Jahr  1769  ist  bekanntlich  mehrfach  von  Kant  selbst  als  be- 
sonders bedeutungsvoll  für  die  Entwickelung  seiner  Gedanken  genannt 
worden  (vgl.  die  eben  erwähnte  Stelle  der  Reflexionen  und  den  Brief  an 
Lambert  vom  2.  September  1770  —  X.  S.  93).  In  der  That  haben  wir 
zweifellos  dieses  Jahr  als  den  Zeitpunkt  anzusehen,  von  dem  ab  für  Kant 
die  Unterscheidung  der  sinnlichen  und  begrifflichen  Erkenntnis  und  damit 
auch  des  mundus  sensibilis  und  intelligibilis  im  spezifisch  Kantischen 
Sinn,  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  auch  die  Einsicht  in  die  Antinomieen 
datiert. 

Die  zweite  Periode,  von  1769—76,  nennt  Erdmann  die  Periode  der 
„definitiven  Entwickelung  der  Idee".  Sie  zerfällt  nach  ihm  in  zwei 
Phasen.  Die  erste,  von  69 — 71  gerechnet,  wird  durch  die  „Scheidung  des 
Sinnlichen  vom  Intellektuellen"  charakterisiert,  ein  Ausdruck,  der  schon 
durch  die  eben  kurz  erwähnten  Ergebnisse  des  Jahres  1769  genügend  ge- 
rechtfertigt ist.  Als  Repräsentant  dieses  Abschnitts  findet  natürlich  in 
erster  Linie  die  Inauguraldissertation  aus  dem  Jahre  70  ihre  Stelle.  Vor 
ihr  hätte  vielleicht  noch  als  Eingang  zu  der  ganzen  Entwickelung  dieser 
Phase  der  kleine  Aufsatz  über  den  Unterschied  der  Gegenden  im  Raum 
genannt  werden  können,  wenn  auch  seine  Entstehung  noch  in  das  Jahr 
68  fällt,  ist  doch  sein  Zusammenhang  mit  der  wichtigen  Wendung  von 
1769  deutlich  genug.  Dagegen  macht  Erdmann  ausdrücklich  aufmerksam 
auf   den  Plan    zu    einer    Sclirift   über  „Die  Grentzen  der  Sinnlichkeit  und 


1)  Akademie-Ausgabe  Bd.  X.     S.  25314. 

2)  a.  a.  0.  S.  53. 

Kantstudien  X. 


98  E.  V.  Aster, 

der  Vernunft",  über  den  sich  Kant  in  Briefen  an  M.  Herz  aus  dem  Jahre 
1771,1)  also  nach  dem  Erscheinen  der  Inauguraldissertation,  äussert,  einer 
Schrift,  die,  wie  aus  den  Worten  Kants  hervorgeht,  das  ganze  System 
der  Philosophie  einschliesslich  der  Ethik  umfassen  sollte.  Die  Arbeit  an 
diesem  Werk  dürfte  es  dann  gewesen  sein,  die  in  Kant  die  Frage  wach- 
gerufen hat,  über  die  er  sich  in  dem  bekannten  Brief  an  Marcus  Herz 
ausspricht,  die  Frage:  „Auf  welchem  Grunde  beruhet  die  Beziehung  des- 
jenigen, was  man  in  uns  Vorstellung  nennt,  auf  den  Gegenstand?"  oder 
mit  noch  speziellerem  Hinweis  auf  das  Problem  der  Deduktion  der  Kate- 
gorien: woher  kommt  die  Übereinstimmung,  die  unsere  Begriffe  mit 
Gegenständen  haben  sollen,  die  doch  durch  sie  nicht  hervorgebracht  sind  ? 
Mit  dieser  Frage  ist  für  Kant  eine  „bedeutsame  Voraussetzung  seines 
Denkens  problematisch  geworden"  (Erdmann):  Die  Möglichkeit  einer  Er- 
kenntnis der  Noumena;  es  ist  ein  neues  Problem  für  ihn  entstanden  und 
„in  den  Mittelpunkt  seines  Denkens  gerückt":  Das  Problem  der  Kritik  der 
reinen  Verstandeserkenntnis;  ein  neues  Glied  der  Gedankenkette,  die  seit 
1769  den  Philosophen  beschäftigte  und  zwar  „ein  Glied  aus  dem  Material 
des  eigenen  Denkens,  geformt  aus  dem  Zusammenhang  der  Idee,  nicht 
von  aussen  her  angefügt".  Mit  dieser  Wendung,  die  1771 172  anzusetzen 
ist,  haben  wir  daher  die  zweite  Phase  der  „Periode  der  definitiven  Ent- 
wickelung  der  Idee"  zu  beginnen.  Als  Ziel  der  Untersuchung  bezeichnet 
Erdmann  hier  die  Frage  nach  dem  Ursprung  des  Intellektuellen  —  ich 
weiss  nicht,  ob  das  Wort  „Ursprung"  unzweideutig  genug  ist,  um  das  Kan- 
tische Problem  wiederzugeben,  der  Ausdruck  „Kritik"  des  Intellektuellen 
würde  mir  eher  angebracht  erscheinen  und,  wie  ich  glaube,  weniger  Be- 
denken erregen.  FreiHch  hat  Erdmann  seine  Bezeichnung  einem  Brief  an 
BernouUi  entnommen,  in  dem  Kant  mitteilt,  nach  dem  Abschluss  der  Dis- 
sertation habe  „der  Ursprung  des  Intellektuellen  ihm  neue  und  unvorher- 
gesehene Schwierigkeiten"  bereitet;  das  zweifellos  berechtigte  Streben, 
sich  möglichst  objektiv  an  die  eigenen  Ausdrücke  Kants  anzuschliessen, 
hat  den  Herausgeber  wohl  veranlasst,  die  Bezeichnung  zur  Charakteristik 
der  ganzen  Periode  hier  beizubehalten. 

1776  steht  nach  Erdmann  für  Kant  die  leitende  Idee  der  Kritik  der 
reinen  Vernunft  endgiltig  fest  und  ist  die  Gliederung  des  Werkes  —  be- 
reits unter  Ausschluss  der  Ethik  —  in  den  allgemeinsten  Zügen  gegeben. 
Als  „leitende  Idee"  bestimmt  Erdmann  genauer  den  „Grundgedanken  für 
die  Ableitung  und  Beziehung  der  Kategorieen  auf  ihre  Gegenstände  im 
reinen  Denken,  sowie  im  Erkennen  als  Lösung  des  Problems  von  1772". 
Genauer  wird  jener  Endtermin  nach  brieflichen  Äusserungen  (Brief  an 
M.  Herz  im  November  1776)  auf  das  Ende  des  Sommers  1776  festgelegt. 

Die  Jahre  1766—81  haben  wir  als  die  Zeit  der  schriftlichen  Fixierung 
des  Werkes  anzusehen.  Natürlich  hat  auch  währenddem  der  Plan  noch 
mannigfache  Änderungen  erfahren,  im  Besonderen  will  Erdmann  mindestens 
zwei  Entwürfe,  einen  ausführlicheren  und  einen  gekürzten,  unterscheiden 
—  an  welchen  Zeitpunkten  dieselben  anzusetzen  sind,  kann  nicht  mit 
Sicherheit    entschieden    werden.     Auf   die    letzte    überarbeitende    Schluss- 


»)  X,  S.  117  und  124. 


Der  IV.  Band  der  Berliner  Kant-Ausgabe.  99 

redaktion,  von  der  nicht  zu  sagen  ist,  ob  sie  mit  dem  zweiten  der  letzt- 
genannten Entwürfe  zusammenfällt  oder  noch  eine  eigene  Stufe  darstellt, 
ist  dann  die  bekannte  Äusserung  Kants  zu  beziehen,  er  habe  die  Nieder- 
schrift in  4—5  Monaten  zu  Stande  gebracht.  Als  sicher  ist  anzunehmen, 
dass  schon  vor  dieser  Schlussredaktion  dem  Philosophen  eine  grössere 
Zahl  schriftlich  fixierter  Materialien  vorlag,  die  dann  in  das  endgiltige 
Manuskript  der  Kritik  hineingearbeitet  wurden.  Die  Vorrede  ist  im  April 
1781  abgeschlossen  worden. 

Soviel  zur  Charakteristik  der  Erdmannschen  Einleitung,  von  der  im 
Vorstehenden  natürlich  nur  die  wichtigsten  Resultate  angedeutet 
werden  konnten.  Es  ist  zu  hoffen,  dass  der  Rahmen,  den  Erdmann  hier 
durch  seine  „äussere"  Geschichte  der  Vernunftkritik  gegeben  hat,  auch 
die  Untersuchung  der  Probleme  der  „inneren"  Entwickelung  der  kritischen 
Philosophie  neu  in  Fluss  bringen  wird,  zumal  er  ihnen  einen  nach  Mass- 
gabe der  erhaltenen  Nachrichten  sicheren  Ausgangspunkt  verspricht. 

Im  Verzeichnis  der  Lesarten  sind  sämtliche  Veränderungen  aufge- 
führt, denen  der  Text  des  Originals  unterworfen  wurde,  doch  sind  text- 
kritische Bemerkungen  nur  beigefügt,  wo  es  sich  um  Stellen  handelte, 
die  nur  der  ersten  Auflage  angehören,  die  übrigen  sind  dem  III.  Bande 
vorbehalten.  Es  wird  sich  also  hier  Gelegenheit  bieten,  auf  die  wichtigsten 
Änderungen  zurückzukommen.  Verbesserungen,  die  Kant  in  der  zweiten 
Auflage  angebracht  hat,  haben  natürlich  nur  Aufnahme  gefunden,  soweit 
sie  sich  auf  offenbare  Schreib-  und  Druckfehler  bezogen. 

Konnte  eine  äussere  Geschichte  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  fast 
vollständig  geschrieben  werden,  so  ist  diese  Aufgabe  dagegen  nach  B. 
Erdmann  für  die  Prolegomena  nicht  in  gleicher  Weise  lösbar,  da  wir 
es  hier  mit  einem  Werke  zu  thun  haben,  dessen  Textbestand  auffallende 
innere  Ungleichheiten  aufweist.  Um  eine  Geschichte  des  Buches  zu  liefern, 
ist  es  daher  in  erster  Linie  erforderlich,  den  Text  auf  diese  Verschieden- 
heiten hin  zu  analysieren  und  ihrem  Ursprung  nachzuspüren:  Eine  Auf- 
gabe, die  ohne  ganz  spezielles  Eingehen  auf  den  Inhalt  und  die  Ziele  der 
kleinen  Schrift  nicht  möglich  ist.  Aus  dieser  Überzeugung  heraus  begnügt 
sich  Erdmann  hier  mit  dem  Abdruck  einiger  Brief  stellen,  die  er  selbst 
als  isolierte  Materialien  zur  Geschichte  der  Prolegomena  bezeichnen  will. 
Die  angezogenen  Stellen  (die  sich  über  die  Zeit  vom  Januar  1779  bis  zum 
Februar  1784  erstrecken)  beziehen  sich  auf  die  Absichten  Kants,  eine  po- 
puläre Bearbeitung,  einen  Auszug  aus  der  Kritik,  eine  Behandlung  der 
Probleme  nach  analytischer  Methode,  endlich  eine  Antwort  auf  die  Miss- 
verständnisse der  Garve-Federschen  Recension  zu  verfassen;  alles- Dinge, 
die  bei  der  Abfassung  der  Prolegomena  eine  Rolle  gespielt  haben.  —  Be- 
kanntlich hat  sich  Erdmann  selbst  wissenschaftlich  mit  der  Entstehung  der 
Prolegomena  beschäftigt,  eine  Untersuchung,  die  ihn  zu  seiner  Theorie 
einer  zweifachen  Redaktion  der  Schrift  geführt  hat  (Ausgabe  der  Proleg. 
1878).  Diese  Theorie  ist  von  ihm  auf  der  Grundlage  des  vollständigeren 
Materials  neu  begründet,  erweitert  und  in  einzelnen  Punkten  berichtigt 
worden  in  einem  im  Anfang  dieses  Jahres  bei  Niemeyer  in  Halle  erschie- 
nenen Buch:    „Historische  Untersuchungen  über  Kants  Prolegomena",   das 

7* 


100  E.  V.  Astet, 

demnach  zu  der  „Einleitung"  im  vorliegenden  Band  der  Kant-Ausgabe  die 
gewünschte  Ergänzung  bildet. 

Auf  die  Briefauszüge  folgt  eine  mühsame  Untersuchung,  die  vom 
Herausgeber  selbst  als  unerfreuliche  Kärrnerarbeit  bezeichnet  wird.  Schon 
Hartenstein  hatte  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  verschiedene  Drucke 
—  er  spricht  von  zwei  —  der  Prolegomena  mit  gleicher  Bezeichnung  des 
Verlags  und  gleicher  Jahreszahl  vorliegen.  Unter  Zugrundelegung  von  10 
Original-Exemplaren  ist  nun  eine  genaue  Untersuchung  dieser  Verschieden- 
heiten vorgenommen  und  bei  dieser  Gelegenheit  eine  ganze  Reihe  ver- 
schiedener Drucke  konstatiert  worden.  Als  Resultat  der  langwierigen 
Untersuchung  hebe  ich  hervor,  dass  wir  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit 
4  Auflagen  der  Prolegomenen  annehmen  dürfen  und  zwar  haben  wir  in 
diesen  Auflagen  Originaldrucke,  keine  unbefugten  Nachdrucke  zu  sehen. 
Bis  auf  ganz  unwesentliche  Veränderungen  sind  die  späteren  einfache 
Wiederholungen  der  ersten  Auflage,  augenscheinlich  ist  aus  diesem  Grunde 
auch  die  Jahreszahl  auf  dem  Titelblatt  nicht  geändert  worden.  Über  den 
wahren  Zeitpunkt  der  Auflagen  lässt  sich  schwer  etwas  ausmachen,  die 
ersten  drei  sind  wahrscheinlich  schnell  aufeinander  gefolgt. 

Die  Textkritik  der  Prolegomenen  ist  bei  der  grossen  Anzahl  von 
Fehlern  des  Satzes  eine  nicht  minder  mühsame  Arbeit.  Allgemein  wird 
man  finden,  dass  der  Herausgeber  sehr  vorsichtig  arbeitet,  er  legt  überall 
den  grössten  Wert  darauf,  dass  der  überlieferte  Text  sich  leicht  aus  den 
vorgeschlagenen  Konjekturen  herleiten  lässt  und  giebt  lieber  eine  korrum- 
pierte Stelle  unverändert,  als  dass  er  Veränderungen  einschiebt,  die  will- 
kürlich erscheinen  könnten.  Nur  auf  zwei  Punkte  möchte  ich  in  diesem 
Zusammenhang  etwas  näher  eingehen,  weil  sie  mir  geeignet  scheinen, 
einige  Bedenken  zu  erregen. 

Am  Ende  des  12.  Absatzes  des  §  57  (Ak.-Ausg.  S.  356)  spricht  Kant 
von  der  versuchsweise  vorgenommenen  Bestimmung  der  Noumena  —  als 
Beispiel  wird  der  Gottesbegriff  gebraucht  —  durch  Inhalte  der  Sinnenwelt, 
Der  Schlusssatz  heisst  wörtlich:  „Eben  das  widerfährt  mir  auch,  wenn  ich 
dem  höchsten  Wesen  einen  Willen  beilege:  denn  ich  habe  diesen  Begriff 
nur,  indem  ich  ihn  aus  meiner  Innern  Erfahrung  ziehe,  dabei  aber  meiner 
Abhängigkeit  der  Zufriedenheit  von  Gegenständen,  deren  Existenz  wir 
bedürfen,  und  also  Sinnlichkeit  zum  Grunde  liegt,  welches  dem  Begriffe 
des  höchsten  Wesens  gänzlich  widerspricht".  Erdmann  hat  die  sinnlose 
Wendung  „meiner  Abhängigkeit  der  Zufriedenheit  von"  stehen  lassen,  wie 
er  bemerkt,  aus  Mangel  an  geeigneten  Verändenmgen,  die  mit  dem  über- 
lieferten Text  in  Einklang  zu  bringen  wären.  Ich  meinesteils  sehe  nicht 
recht  ein,  warum  man  sich  nicht  der  doch  im  Grunde  recht  nahe  liegen- 
den Konjektur  Hartensteins  bedienen  und  einfach  „Abhängigkeit  meiner 
Zufriedenheit  von  . . ."  lesen  soll,  der  sich  auch  Erdmann  in  seiner  fmheren 
Ausgabe  der  Prolegomenen  angeschlossen  hat  (1878;  S.  115).  Merkwürdig 
ist,  dass  im  Verzeichnis  der  Lesarten  die  Korrektur  gar  keine  Erwähnung 
findet,  sondern  anstatt  dessen  Hartenstein  die  sinnlose  Verändenmg  zuge- 
schrieben wird  „meiner  Abhängigkeit  aber  Zufriedenheit  von  .  .  ."  Es 
muss  hier  wohl  ein  Versehen  oder  ein  Druckfehler  vorliegen.  Erdmann 
neigt   am   ersten   dazu,   das  Wort  „Zufriedenheit"  ganz  auszumerzen  oder 


Der  IV.  Band  der  Berliner  Kant-Ausgabe.  101 

durch  ein  ganz  anderes  zu  ersetzen  („Einfluss  von").  In  der  That  ist  der 
Text  ja  auch  ohne  Weiteres  verständlich,  wenn  man  liest  „dabei  aber 
meine  Abhängigkeit  von  Gegenständen  zum  Grunde  liegt".  Indessen 
scheint  mir  das  doch  schliesslich  nicht  nötig  zu  sein,  da  das  Wort  Zu- 
friedenheit in  Verbindung  mit  dem  Willen  gebraucht  einen  guten  Sinn 
giebt.  Unser  Wollen,  so  wie  wir  es  allein  kennen,  setzt  Abhängigkeit 
unserer,  der  Wollenden,  Zufriedenheit  oder  unseres  Wohlbefindens  von 
der  Erreichung  der  gewollten  Gegenstände  oder,  Kantisch  ausgedrückt, 
von  der  Materie  des  Wollens  voraus;  anders  gesagt:  Unser  Wollen  ent- 
steht stets  aus  einem  gefühlten  Bedürfnis  heraus,  ein  Moment,  das  dem 
göttlichen  Wollen  fremd  sein  muss.  Nur  um  zu  zeigen,  dass  diese  Inter- 
pretation nicht  unkantisch  ist,  eitlere  ich  eine  Stelle  aus  der  Kritik  der 
praktischen  Vernunft,  deren  Vergleich  mit  dem  obigen  Satz  aus  den  Pro- 
legomenen  ich  wohl  dem  Leser  überlassen  darf.  „Nun  ist  freilich  unleug- 
bar, dass  alles  Wollen  auch  einen  Gegenstand,  mithin  eine  Materie  haben 
müsse;  aber  diese  ist  darum  nicht  eben  der  Bestimmungsgrund  der 
Maxime;  denn  ist  sie  es,  so  lässt  diese  sich  nicht  in  allgemein  gesetz- 
gebender Form  darstellen,  weil  die  Erwartung  der  Existenz  des  Gegen- 
standes alsdann  die  bestimmende  Ursache  der  Willkür  sein  würde,  und  die 
Abhängigkeit  des  Begehrungsvermögens  von  der  Existenz  irgend  einer 
Sache  dem  Wollen  zum  Grunde  gelegt  werden  müsste  ...  So  wird 
fremder  Wesen  Glückseligkeit  das  Objekt  des  Willens  eines  vernünftigen 
Wesens  sein  können.  Wäre  sie  aber  der  Bestimmungsgrund  der  Maxime, 
so  müsste  man  voraussetzen,  dass  wir  in  dem  Wohlsein  Anderer  nicht 
allein  ein  natürliches  Vergnügen,  sondern  auch  ein  Bedürfnis  finden  .  .  . 
Aber  dieses  Bedürfnis  kann  ich  nicht  bei  jedem  vernünftigen 
Wesen  (bei  Gott  gar  nicht)  voraussetzen.  (Anm.  I.  zu  §  8,  Ausg. 
von  Kehrbach  S.  40.) 

An  der  anderen  Stelle  handelt  es  sich  nicht  um  eine  Korrektur, 
sondern  um  eine  Interpretation,  wie  sie  Erdmann,  um  dem  Leser  zu  Hilfe 
zu  kommen,  einige  Male  beigefügt  hat,  wo  die  Kantische  Satzkonstruktion 
besonders  undurchsichtig  ist.  Von  den  Analogieen  der  Erfahrung  heisst 
es  in  §  26  (S.  309|310) :  „.  .  .  weil  diese  nicht  ...  die  Erzeugung  der  An- 
schauungen, sondern  die  Verknüpfung  ihres  Daseins  in  einer  Erfahrung 
betreffen,  diese  aber  nichts  andres,  als  die  Bestimmung  der  Existenz  in 
der  Zeit  nach  notwendigen  Gesetzen  sein  kann,  unter  denen  sie  allein  ob- 
jektiv-gültig, mithin  Erfahrung  ist:  so  geht  der  Beweis  nicht  auf  die  syn- 
thetische Einheit  der  Dinge  an  sich  selbst,  sondern  der  Wahrnehm- 
ungen, und  zwar  dieser  nicht  in  Ansehung  ihres  Inhalts,  sondern  der 
Zeitbestimmung  und  des  Verhältnisses  des  Daseins  in  ihr  nach  allgemeinen 
Gesetzen."  Erdmann  fügt  hinzu  „Man  interpretiere:  und  zwar  auf  diese 
Einheit  nicht  in  Ansehung  der  in  ihr  enthaltenen  Wahrnehmungen,  sondern 
...  in  dieser  Einheit  (ihr)"  (S.  617) ;  er  interpretiert  also  „das  Verhältnis 
des  Daseins  in  ihr"  als  „d.  V.  d.  D.  in  dieser  synthetischen  Ein- 
heit". Mir  scheint  dagegen,  das  einzige  Hauptwort,  auf  das  sich  das  „in 
ihr"  beziehen  kann,  ist  die  Zeit.  Das  ist  grammatisch  nicht  ganz  richtig 
—  es  geht  nicht  Zeit,  sondern  Zeitbestimmung  vorher  —  aber  sachlich 
giebt  es,  meine  ich,  einen  sehr  viel  ungezwungeneren  Sinn.    Auf  die  syn- 


102  E.  V.  Aster, 

thetische  Einheit  in  der  Verknüpfung  der  Wahrnehmungen  in  Ansehung 
des  Verhältnisses  ihres  Daseins  in  der  Zeit  geht  der  Beweis.  Die  Verhält- 
nisse des  Daseins  in  der  Zeit  sind  die  „Modi"  der  Zeit.  Im  Übrigen  ver- 
gleiche man  den  durchaus  entsprechenden  Satz  aus  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft  (Kelirbach  S.  171).  „Da  aber  Erfahrung  ein  Erkenntnis  der  Ob- 
jekte durch  Wahrnehmungen  ist,  folglich  das  Verhältnis  im  Dasein 
des  Mannigfaltigen  .  .  .,  wie  es  objektiv  in  der  Zeit  ist  .  .  ."  u.  s.  w. 
und  ebenso  die  Formulierung  des  „allgemeinen  Grundsatzes"  der  Analogieen 
in  der  1.  Auflage. 

Paul  Menzers  Einleitung  der  Grundlegung  zur  Metaphysik 
der  Sitten  (S.  623 — 630)  giebt  zunächst  eine  Zusammenstellung  der  vor- 
handenen schriftlichen  Dokumente,  die  auf  die  Abfassung  der  Schrift  Be- 
zug haben,  danmter  Mitteilungen  aus  bisher  ungedruckten  Briefen  Ha- 
manns, die  dem  Herausgeber  durch  A.  Warda  mitgeteilt  wurden.  Dann 
folgt  auf  der  Grimdlage  dieses  Materials  eine  kurze  Rekonstruktion  des 
Entwickelungsganges,  soweit  er  urkundlich  festgelegt  werden  kann.  Da- 
nach liegen  bestimmte  Mitteilungen  darüber  vor,  dass  Kant  schon  1765  an 
einer  Schrift  ethischen  Inhalts  arbeitete.  Er  scheint  dann  die  Absicht  ge- 
habt zu  haben,  diese  Arbeiten  mit  den  Vorstudien  zur  Grundlegung  der 
theoretischen  Metaphysik  zu  verschmelzen  in  dem  geplanten  umfassenden 
Werk  über  die  Grenzen  der  Sittlichkeit  imd  der  Vernunft,  von  dem  schon 
in  der  Erdmannschen  Einleitung  zur  Kritik  der  reinen  Vernunft  die  Rede 
war.  Nachdem  die  Idee  der  Kritik  dann  in  ihren  Grundzügen  feststand, 
sind  die  ethischen  Arbeiten  wahrscheinlich  bis  zum  Abschluss  der  Trans- 
scendentalphilosophie  zurückgelegt  worden,  dagegen  haben  wir  aus  dem 
Anfang  des  Jahres  83  die  sichere  Nachricht,  dass  Kant  sie  wieder  aufge- 
nommen hat,  der  Gegenstand  seiner  Schrift  wird  direkt  als  „Metaphysik 
der  Sitten"  genannt  (Brief  Hamanns  an  Hartknoch,  Januar  83).  Endlich 
nimmt  Menzer  an,  dass  Kant  zu  Anfang  84  den  Entschluss  einer  vorbe- 
reitenden Schrift  in  ethischer  Absicht  fasste.  Was  den  Titel  angeht,  so 
erscheint  die  Schrift  zuerst  als  Antikritik  gegen  Garve,  angeknüpft  an 
dessen  Cicero,  dann  als  Prodromus  zur  Moral,  doch  lässt  sich  nach  einem 
bisher  ungedruckten  Briefe  Hamanns  an  Herder  vermuten,  dass  die  Kritik 
Garves  überhaupt  nur  als  Anhang  gedacht  war.  In  einem  Brief  Hamanns 
vom  19.  September  84  wird  dann  zum  ersten  Mal  der  jetzige  Titel  ge- 
nannt. Was  Kant  zu  dem  Entschluss  gebracht  hat,  der  Metaphysik  der 
Sitten  diesen  Auftakt  vorauszuschicken,  lässt  sich  nicht  mit  Sicherheit 
entscheiden,  der  später  ganz  fallen  gelassene  Gedanke  der  Kritik  gegen 
Garve  mag  mitgewirkt  haben,  doch  wird  wohl  die  Schwierigkeit  der 
Probleme  und  das  Bewusstsein,  dem  er  gelegentlich  Ausdruck  gegeben 
hatte,  dass  hier  eine  gewisse  Popularität  möglich  und  notwendig  sei,  aus- 
schlaggebend gewesen  sein.  Ebenso  lässt  sich  nicht  sagen,  wie  weit  der 
Gedanke  einer  Kritik  der  praktischen  Vernunft,  deren  Notwendigkeit  für 
Kant  schon  damals  feststand,  wie  die  einleitenden  Worte  der  „Grund- 
legung" zeigen,  einer  Ausführung  nahe  gerückt  war. 

Von  den  erschienenen  4  Auflagen  ist  die  zweite  als  die  korrekteste 
und  sicherlich  noch  von  Kant  selbst  bearbeitete  zu  Grunde  gelegt  worden ; 
die  3,  und  4.  Auflage  sind  nach  Menzer  als  blosse  Wiederholungen  der  2.  zu 


Der  IV.  Band  der  Berliner  Kant-Ausgabe.  103 

betrachten.  Der  Text  selbst  wird  —  im  Vergleich  zu  andern  Kantdrucken 
—  als  ein  korrekter  bezeichnet,  Ändeningen  sind  nur  in  geringer  Zahl 
notwendig  gewesen. 

Aus  den  wenigen  Nachrichten,  die  wir  über  die  Abfassung  der 
„Metaphysischen  Anfangsgründe"  besitzen,  erfahren  wir,  dass  die  (1786 
erschienene)  Schrift  wesentlich  im  Sommer  1785  entstanden  ist.  Im  Üb- 
rigen hebt  der  Herausgeber  hervor,  dass  sich  dem  Historiker  der  Schrift 
gegenüber  zwei  Fragen  aufdrängen :  „Erstens,  inwieweit  die  mitten  in  die 
kritische  Zeit  fallende  Schrift  doch  Bestandteile  aus  der  vorkritischen  in 
sich  aufgenommen  haben  mag,  so  dass  etwa  das  Kategorieenschema,  wie 
vermutet  worden  ist,  nur  äusserlich  angeheftet  wäre.  Zweitens,  inwie- 
weit gleichzeitig  mit,  ja  schon  vor  den  „Metaphj'sischen  Anfangsgründen 
der  Naturwissenschaft"  auch  an  dem  nicht  mehr  zum  Abschluss  gelangten 
„Übergang  von  den  Metaphysischen  Anfangsgründen  der  Naturwissenschaft 
zur  Physik"  gearbeitet  worden  sei."  Die  Beantwortung  dieser  Fragen 
geht  natürlich  über  den  Rahmen  der  „Einleitung"  hinaus,  Höfler  begnügt 
sich  damit,  auf  die  Stellen  hinzuweisen,  die  für  eine  Untersuchung  in 
dieser  Hinsicht  in  Betracht  kommen  würden. 

Dass  die  metaphysischen  Anfangsgründe  im  vorliegenden  Bande 
allein  mit  sachlichen  Erläuterungen  versehen  sind,  erwähnte  ich  schon 
zu  Anfang.  Vielleicht  kann  man  der  Meinung  sein,  dass  diese  Erläuter- 
ungen (auf  S.  638—649)  speziell,  soweit  sie  auf  die  moderne  Mechanik  Be- 
zug nehmen,  etwas  weiter  ausgedehnt  sind,  als  es  das  Bedürfnis  des 
Lesers  erfordert.  Höfler  ist  freilich  als  Spezialist  auf  diesem  Gebiete  be- 
kannt, wie  es  ja  auch  seine  frühere  Ausgabe  der  metaphysischen  Anfangs- 
gründe (mit  einem  Nachwort:  Studien  zur  gegenwärtigen  Philosophie  der 
Mechanik  —  Leipzig  1900)  gezeigt  hat.  Besonders  hinweisen  möchte  ich 
zunächst  auf  die  ausführliche  Anmerkung  über  die  Recension  der  „institu- 
tiones  logicae  et  metaphysicae"  von  Ulrich  (1785)  in  der  Allgemeinen 
Litt.  Zeitung,  mit  deren  Einwänden  gegen  die  Kategorientafel  sich  Kant 
in  einer  längeren  Anmerkung  der  Vorrede  (S.  474)  auseinandersetzt.  Die 
Behauptung  Kants,  dass  der  Blutumlauf  eines  kleinen  Vogels  viel  ge- 
schwinder sei,  als  der  eines  Menschen,  wird  an  der  Hand  von  Aussprüchen 
moderner  Physiologen  geprüft  und  im  Grossen  und  Ganzen  bestätigt  ge- 
funden; eine  kürzere  Anmerkung  orientiert  über  die  Stellung  des  „Unab- 
hängigkeitsprinzips" (das  die  einem  Körper  erteilten  verschiedenen  Be- 
schleunigungen als  von  einander  unabhängig  betrachtet  —  in  Kants 
FormuKerung,  „dass  der  Körper  mit  der  ersten  Geschwindigkeit  in  freier 
Bewegung  sich  erhalte,  indem  die  zweite  hinzukommt")  in  der  modernen 
Physik.  —  Für  den  Historiker  und  Kantleser  von  besonderem  Interesse 
ist  die  Anmerkung,  die  sich  mit  der  Äusserung  Kants  beschäftigt  (S.  507; 
2.  Zusatz  zum  IV.  Lehrsatz  des  IL  Hauptstücks),  in  der  er  auf  einen  Vor- 
gänger seiner  Raumlehre  hinweist,  ohne  dessen  Namen  zu  nennen.  („Ein 
grosser  Mann,  der  vielleicht  mehr,  als  sonst  jemand  das  Ansehen  der  Ma- 
thematik in  Deutschland  zu  erhalten  beiträgt,  hat  mehrmals  die  meta- 
physischen Anmassungen,  Lehrsätze  der  Geometrie  von  der  unendlichen 
Teilbarkeit  des  Raumes  umzustossen,  durch  die  gegriindete  Erinnerung 
abgewiesen:   dass    der  Raum    nur   zu  der  Erscheinung  äusserer  Dinge  ge- 


104  E.  V.  Aster,  Der  IV.  Band  der  Berliner  Kant-Ausgabe. 

höre;  allein  er  ist  nicht  verstanden  worden.")  Vaihinger  hat  die  Stelle 
auf  Leibniz,  Kirchmann  auf  Wolff  bezogen,  Höfler  führt  aus,  dass  ausser- 
dem noch  Euler,  Lambert  und  Kästner  in  Betracht  kommen  könnten. 
Doch  geht  meiner  Meinung  nach  auch  aus  seiner  Darlegung  hervor,  dass 
Vaihingers  Deutung  weitaus  die  grösste  Wahrscheinlichkeit  für  sich  bean- 
spruchen kann.  —  Sehr  dankenswert  ist  es  endlich,  dass  zu  den  auf  New- 
ton bezüglichen  Stellen  in  den  Erläuterungen  der  entsprechende  Passus 
der  Newtonschen  Schriften  lateinisch  wiedergegeben  ist. 

Die  in  den  Text  gedruckten  Figuren  sind  der  Verweisungen  halber 
mit  Nummern  versehen  worden. 


7 

■Vi 

"ii 


Das  Kantjubiiäum  im  Jahre  1904. 

Von  H.  Vaihinger. 


Die  hundertste  Wiederkehr  des  Todestages  von  Immanuel  Kant  ist  in 
und  ausser  Deutschland  in  vielfacher  Weise  gefeiert  worden.  Es  sind  zur 
Feier  des  12.  Februars  eine  grosse  Anzahl  von  festlichen  Veranstaltungen 
getroffen  worden.  Es  sind  dabei  Gedächtnisreden  gehalten  worden  ;  es 
sind  Festartikel  und  Pestschriften  in  Hülle  und  Fülle  erschienen.  Die- 
jenigen, die  den  Philosophen  in  dieser  Weise  ehrten,  haben  sich  damit 
zugleich  selbst  ein  ehrenvolles  Zeugnis  ausgestellt.  Es  wird  auch  für 
kommende  Zeiten  von  kulturhistorischem  Wert  sein,  wenn  wir  hier  eine 
Übersicht  über  all  das  geben,  was  zu  diesem  Tage  geschehen  ist.  Absolute 
Vollständigkeit  kann  freilich  hierbei  nicht  garantiert  werden.  Es  ist  wohl 
der  Redaktion  der  KSt.  sehr  Vieles  direkt  oder  indirekt  bekannt  geworden ; 
aber  vieles  wird  derselben  entgangen  sein.  Wir  werden  deshalb 
dankbar  sein  im  Interesse  der  Sache,  wenn  wir  auf  dasjenige, 
was  wir  übersehen  haben,  aufmerksam  gemacht  werden.  Ein 
Na  chtrag  soll  dann  all  dieses  zusammenstellen.  Aber  auch  schon  das  bisher 
Zusammengestellte  beweist,  dass  Kant  heutzutage  eine  Macht  ist. 

I.     Festfeiern. 

A.    Pestfeiern  in  Königsberg. 

Naturgemäss  ist  die  grösste  und  umfassendste  Festfeier  in  Königsberg 
selbst  zustande  gekommen.  Universität,  Stadt,  Provinz  wetteiferten,  um 
ihrem  grossen  Landsmann  zu  huldigen.  Natürlich  war  das  Rauch'sche 
Kantdenkmal  in  den  Anlagen  vor  der  Universität  mit  Fahnen  und  Guir- 
landen  geschmückt;  auch  dasjenige  Haus  in  der  Prinzessinstrasse,  an  dessen 
Stelle  das  leider  im  Jahre  1893  niedergerissene  Kantische  Wohnhaus  stand 
und  das  jetzt  eine  eherne  Gedächtnistafel  daran  trägt,  war  geschmückt. 
Auch  sonst  zeigten  manche  Häuser  und  besonders  Läden  charakteristischen 
Schmuck.  Die  Königsberger  Feier  wurde  noch  erhöht  durch  die  Einladung 
auswärtiger  Gäste.  Eine  besondere  Bedeutung  erhielt  sie  durch  die  persön- 
liche Teilnahme  des  Kultusministers  Dr.  Studt,  der  mit  zweien  seiner 
Räte,  Geh.  Reg.-Rat  Dr.  R.  Schmidt  und  Reg.-Rat  Eilsberger  der  Feier 
beiwohnte.  Ausserdem  waren  eine  Anzahl  von  Freunden  der  Kantischen 
Philosophie  eingeladen  worden,  von  denen  freilich  nur  wenige  angesichts 
der  Jahreszeit  und  der  entlegenen  Lage  nach  Königsberg  gekommen  waren. 


106  H.  Vaihinger, 

Als  Delegierter  der  Akademie  der  Wissenschaften  in  Berlin  erschien 
Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr.  Stumpf;  ausserdem  waren  anwesend  u.  A.  Prof. 
Cohen  aus  Marburg,  Prof.  Stammler  und  Prof.  Vaihinger  aus  Halle. 

Einen  kurzen  Bericht  über  die  Feier  gab  Professor  L.  Busse  in  der 
Zeitschrift  f.  Philos.  u.  ph.  Kr.,  Bd.  124,  H.  1.,  S.  121—123. 

Ausführliche  Schilderungen  der  Feier  finden  sich  natürlich  in  den 
gleichzeitigen  Königsberger  Zeitungen.  (Hartung'sche  Zeitung,  No.  71  ff., 
Allgemeine  Zeitung,  No.  71  ff.,  Ostpreussische  Zeitung,  No.  41  ff.)  Von 
Berichten  auswärtiger  Organe  seien  erwähnt  der  Bericht  der  Vossischen 
Zeitung  (von  Prof.  A.  Klaar)  in  No.  74,  sowie  der  in  echt  französischem 
Esjn-it  gehaltene  Bericht  des  bekannten  Pariser  Schriftstellers  und  Reporters 
Gaston  Leroux  im  „Matin"  (No.  7297,  Paris  17  Fevrier  1904,  nebst  Porträt 
Kants).  —  Im  übrigen  glaubte  die  Presse,  bei  der  Anweisung  von  Plätzen 
nicht  genügend  berücksichtigt  worden  zu  sein.  Vgl.  speziell  die  Kontro- 
verse der  Vossischen  Zeitung  in  ihrer  Nummer  86  (vom  20.  Februar)  mit 
dem  Rektor  Jeep.  Vgl.  auch  Berl.  Tagebl.  No.  84,  „Nachklänge  zur  Kant- 
feier". 

1.  Gedächtnisfeier  in  der  Stoa  Kantiana.  Am  Freitag,  dem 
12.  Februar,  fand  um  9  Uhr  an  der  Grabstätte  Kants  in  der  wirkungsvoll 
geschmückten  Stoa  Kantiana  eine  ernste  Feier  statt,  zu  der  sehr  viele 
Teilnehmer  erschienen,  welche  durch  eine  Allee  von  Tannenbäumen,  Guir- 
landen  und  Flaggen,  wie  durch  eine,  dem  grossen  Philosophen  eigens  erbaute 
Via  triumphalis  vom  Domplatz  bis  zum  Eingang  der  Kapelle  schritten.  Es 
wurden  Kranzspenden  niedergelegt,  mehrfach  in  Verbindung  mit  kurzen 
Ansprachen.  Im  Namen  der  Stadt  Königsberg  legte  der  Oberbürgermeister 
Körte  einen  Lorbeerkranz  auf  die  steinerne  Grabtafel  zur  Erinnerung  „an 
den  welterleuchtenden  Geist".  Im  Namen  der  Universität  sprach  der 
Rektor  Prof.  Dr.  Jeep;  im  Namen  der  Berliner  Akademie,  welche  die 
Werke  des  Philosophen  eben  neu  herauszugeben  im  Begriff  steht,  sprach 
Prof.  Dr.  Stumpf  zu  Ehren  Kants,  der  „der  deutschen  Philosophie  Kraft 
und  Tiefe  wiedergewonnen  habe". 

2.  Enthüllung  einer  Kant-Gedenktafel  an  der  „Zyklopen- 
mauer" des  Schlosses.  Gegen  10  Uhr  hatte  sich  an  dieser  Stelle  eine 
zahlreiche  Festversammlung  zusammengefunden,  in  welcher  die  Spitzen 
der  Zivil-  und  Militärbehörden  und  fast  alle  Notabilitäten  der  Stadt  ver- 
treten waren.  Magistrat  und  Stadtverordnete  waren  m  corpore  anwesend, 
da  die  Gedenktafel  eine  Stiftung  der  Stadt  ist.  Ein  verborgener  Chor 
sang  die  Beethovensche  Hymne  „Die  Himmel  rühmen  des  Ewigen  Ehre", 
worauf  der  Oberbürgermeister  Körte  eine  längere,  schwungvolle  Ansprache 
hielt.  „Uns  galt  es,  da  wohlgelungene  Bildwerke  sein  äusseres  Bild  der 
Nachwelt  überliefert  haben,  auch  dem  unsterblichen  Wesen  unseres 
grössten  Bürgers  ein  würdiges  Denkmal  zu  errichten.  Besteht  aber  die 
Unsterblichkeit  des  Menschen  in  der  Unverlöschlichkeit,  in  dem  Fortwirken 
seines  Geisteslebens,  dann  wird  der  Gedanke,  eines  der  schönsten  und  be- 
zeichnendsten Worte  eines  Geistesheroen  der  Nachwelt  zu  täglichem 
Nachdenken  vor  Augen  zu  halten,  nicht  unbedingt  zu  tadeln  sein."  Die 
Hülle  fiel  unter  den  Klängen  des  Mozartschen  Weiheliedes:  „O  Isis  und 
Osiris",  und  man  erblickte  eine  schöne  blanke  Erztafel.   Auf  der  sich  nach 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  107 

oben  verjüngenden  Tafel,  unter  den  Strahlen  einer  aufgehenden  Sonne  im 
oberen  Felde,  zeigt  sich  in  grosser  lateinischer  Schrift  der  Name  des 
Philosophen  und  darunter  unter  einem  Kranzgehänge  im  Stile  der  Frideri- 
zianischen  Zeit  Geburts-  und  Todesjahr  sowie  der  bekannte  Spruch  aus 
der  Kr.  d.  prakt.  V.  Die  Inschrift  der  hohen,  fast  die  ganze  Höhe  der 
Mauer  einnehmenden,  2V2Meter  grossen  Tafel  präsentiert  sich  in  folgender 
Weise  • 

IMMANUEL 
KANT 

1724  *  t  1804 

Zwei  Dinge  erfüllen 
das    Gemüt   mit    immer   neuer 
und  zunehmender  Bewunde- 
rung und  Ehrfurcht,  je  öfter 
und  anhaltender  sich  das  Nach- 
denken damit  beschäftigt: 
Der  bestirnte  Himmel  über  mir 
und  das  moralische 
Gesetz  in  mir. 

Von  der  ganzen  Enthüllungsfeier  wurde  natürlich  auch  eine  Moment- 
aufnahme gemacht  (von  dem  photographischen  Institut  „Kopernikus"). 
Dass  diese  Aufnahme  nachher  in  der  Wochenschrift:  „Die  Woche"  repro- 
duciert  wurde,  ist  in  unserer  „fortgeschrittenen  Jetztzeit"  ebenso  selbst- 
verständlich, als  dass  auch  in  Königsberg  eine  illustrierte  Postkarte  mit 
der  Abbildung  der  Tafel  zu  haben  war,  wie  auch  ausserdem  natürlich  ver- 
schiedene Ansichtspostkarten,  teilweise  mit  guten  Reproduktionen  von 
Kantporträts,  zu  haben  waren. 

3.  Der  Gedächtnisakt  in  der  Universität.  Der  Hauptfestakt 
spielte  sich  um  11  Uhr  ab  im  Auditorium  maximum,  das  die  glänzende 
und  zahlreiche  Versammlung  kaum  zu  fassen  vermochte.  Palmen  und 
Lorbeerarrangements  schmückten  die  Kathedra,  vor  welcher  die  Schadow- 
sche  Kantbüste  aufgestellt  war.  Der  Chor  „Ewiger,  mächtiger,  gütiger 
Gott"  aus  Haydns  „Jahreszeiten"  leitete  die  Hauptfeier  ein.  Hierauf  hielt 
der  Rector  magnificus,  Prof.  Dr.  Jeep,  eine  kurze  Ansprache,  in  welcher 
er  den  Kultusminister  Studt  begrüsste  „als  den  Hort  deutscher  Wissen- 
schaft und  deutscher  Bildung  auf  hoher  Warte".  Der  Kultusminister  Dr. 
Studt  begrüsste  die  Versammlung  im  Namen  Sr.  Majestät  des  Kaisers  und 
Königs,  welcher  an  diesem  Ehrentage  der  Albertina  herzlichst  Anteil 
nehme.  „In  Kant  ging  uns  ein  neues  Licht  im  Osten  auf,  das  heute  noch 
leuchtet  und  die  suchende  Menschenseele  mit  neuem  Hoffen  erfüllt  .  .  . 
Wissen  und  Glauben,  wie  viel  Unruhe  imd  Not  hat  beides  im  wechsel- 
seitigen Widerstreit  dem  Deutschen  schon  gebracht !  Da  hat  Kant  Beides 
seiner  Kritik  unterzogen,  er  hat  zwischen  ihnen  die  Grenze  aufgedeckt, 
und  jedem,  soweit  menschliches  Vermögen  reicht,  Weg  und  Ziel  gewiesen. 
.  Aus  dem  Streite  der  Meinungen  ertönt  auch  heute  noch  Allen  ver- 
nehmlich der  klärende  Ruf:  Zurück  zu  Kant!  Ist  doch  auch  noch  so 
Manches  zu  erforschen    und    zu  ergründen  in   seinem  umfassenden  Geiste: 


108  H.  Vaihinger, 

wie  er  selbst  einmal  gesagt  hat,  dass  man  ihn  erst  nach  100  Jahren  werde 
recht  verstehen  können."  In  Erinnerung  an  Kant,  „der  so  gerne  die  Wohl- 
thätigkeit  pflegte",  übergab  der  Minister  der  Witwenhilfskasse  der  Uni- 
versität ein  Kapital  von  10000  Mark.  Die  Festrede  hielt  hierauf  Professor 
Dr.  Walter.  Seine  Festrede  ist  gedruckt  (Königsberg,  Gräfe  &  Unzer, 
1904),  und  die  KSt.  haben  über  sie  im  vorigen  Hefte  IX.  519  berichtet, 
worauf  wir  unsere  Leser  verweisen.  Der  Redner  gab  im  knappen  Rahmen 
eines  einstündigen  Vortrags  ein  Gesamtbild  der  Kantischen  Philosophie 
in  klarer  Übersicht  und  gemeinverständlicher  Sprache.  „Kant  hat  unsere 
Heimat  ihrer  weiteren  Volksgemeinschaft  dadurch  erst  recht  zugeeignet, 
dass  er  sie  aus  einer  wesentlich  noch  empfangenden  geistigen  Kolonial- 
existenz zu  selbstbewusst  schöpferischer  Mitarbeit  an  jener  Erhebung  des 
deutschen  Geistes  berief,  in  der  er  selbst,  auch  andere  bald  nach  sich 
ziehend,  den  Grössten  ebenbürtig  an  die  Seite  trat."  „Dass  jeder  philo- 
sophische Denker  in  selbsteigenem  Gebrauche  der  Vernunft  sozusagen  auf 
den  Trümmern  eines  anderen  sein  Werk  erbaue,  hat  Kant  als  das  unter- 
scheidende Gesetz  seiner  "Wissenschaft  geltend  gemacht.  Aber  auch,  dass 
die  Geschichte  dieser  Wissenschaft  nicht  nur  von  Trümmern  Nachricht 
giebt,  sondern  sie  ihrer  Gestalt  und  ihrem  Zusammenhalte  nach  einem 
Aufbau  höherer  Ordnung  einzufügen  weiss,  hatte  sich  dem  Tiefsinn  Kants 
zuerst  in  voller  Klarheit  erschlossen."  Auch  in  der  Auffassung  der  Lehren 
Kants  herrsche  durchaus  keine  Einhelligkeit.  Aber  „je  verschiedener  die 
Gesichtspunkte  sind,  unter  denen  diese  Ideen  eine  Beleuchtung  erfahren, 
um  so  allgemeiner  auch  spricht  sich  das  Bewusstsein  der  Notwendigkeit 
aus,  sich  mit  ihnen  auseinanderzusetzen."  Im  übrigen  gliederte  er  die 
Übersicht  über  die  Kantische  Philosophie  nach  den  bekannten  drei  Ge- 
sichtspunkten :  Was  kann  ich  wissen  ?  Was  soll  ich  thun  ?  Was  darf  ich 
hoffen  ?  Hierauf  sprach  im  Namen  der  Berliner  Akademie  Prof.  Dr.  Stumpf. 
„In  der  Vereinigung  der  Tiefe  der  Forschung  mit  der  Genauigkeit  bleibt 
Kant  unser  Vorbild,  wie  das  seine  darin  einst  Leibniz  gewesen  ist.  Eifer- 
süchtig wollen  wir  darüber  wachen,  dass  diese  beiden  Eigenschaften 
bleiben;  dann  wird  es  gut  stehen  um  die  deutsche  Philosophie."  Hierauf 
verlas  der  Oberbürgermeister  Körte  eine  Adresse,  welche  die  städtischen 
Kollegien  an  die  Universität  richteten,  und  in  welcher  sie  der  Universität 
ein  Kapital  von  10000  Mark  überwiesen  „mit  der  Bestimmung,  dass  die 
Zinsen  dieses  Kapitals  jedesmal  am  Todestage  Kants  demjenigen  Studie- 
renden der  hiesigen  Universität  zufallen  sollen,  welcher  die  nach  dem  Ur- 
teil der  philosophischen  Fakultät  beste  Ai'beit  über  ein  freigewähltes 
Thema  eingereicht  hat."  Der  Rektor  nahm  die  Stiftung  mit  einigen 
Dankesworten  an,  mit  dem  Ausdruck  der  Freude,  dass  sich  die  Kant-Stadt 
in  so  engem  Verhältnis  mit  der  Kant-Universität  fühle.  Die  Dekane  der 
Fakultäten  verlasen  sodann  die  zu  diesem  Tage  vollzogenen  Ehrenpromo- 
tionen. Zu  Ehrendoktoren  der  Theologie  wurden  ernannt  u.  a.  Professor 
Dr.  Dilthey-Berlin,  Professor  Dr.  Günther  Thiele-Berlin,  Pastor  Dr.  Ernst 
Wyneken-Edesheim ;  zum  juristischen  Ehrendoktor  Professor  Dr.  Kuno 
Fischer-Heidelberg,  zu  Ehrendoktoren  der  philosophisclien  Fakultät  Pro- 
fessor Carlo  Cantoni-Pavia,  Professor  Dr.  Rudolf  Stammler-Halle,  Professor 
Dr.  Edward  Caird-Oxford.    AnlässHch   der  Kantfeier   wurden  ferner  durch 


Das  Itautjubiläum  im  Jahre  1904.  109 

den  Kultusminister  die  bekannten  Kantforscher  Oberbibliothekar  Dr. 
R.  Reicke  und  Privatgelehrter  Dr.  E.  Arnoldt  zu  Professoren  ernannt. 
(Letzterer  hat  die  Ernennung  abgelehnt.)  Händeis  Chor  „Hallelujah"  aus 
dem  „Messias"  beschloss  die  erhebende  Feier  würdig. 

4.  Festbankett  in  der  Palaestra.  Nachmittags  4  Uhr  fand  im 
Festsaal  der  Palaestra  Albertina  ein  Festessen  statt,  welches  die  Universi- 
tät ihren  Gästen  gab,  das  durch  Ausschluss  der  Presse  einen  ganz  privaten 
Charakter  trug.  Es  wurden  natürlich  verschiedene  Reden  gehalten,  u.  a. 
vom  Minister  Studt,  Rektor  Jeep  u.  s.  w.  Auch  Begrüssungstelegramme 
liefen  ein,  u.  A.  von  der  „Kantgesellschaft"  in  Wien. 

5.  Festkommers.  Sonnabend,  den  13.  Februar,  abends,  fand  in 
dem  festlich  geschmückten  grossen  Saale  der  Palaestra  Albertina  ein 
grosser  Kommers  statt,  der  vor  allem  den  Studierenden  der  Universität 
Gelegenheit  geben  sollte,  auch  ihrerseits  in  grösserer  Anzahl  an  den  Kant- 
feierlichkeiten teilnehmen  zu  können,  da  die  Aula  zu  wenig  Raum  geboten 
hatte.  Es  waren  wohl  nahezu  1000  Personen  anwesend,  Gäste,  Dozenten, 
Studierende  und  alte  Herren  u.  s.  w.  Die  Ansprache  an  die  Studierenden 
hielt  der  zweite  Ordinarius  der  Philosophie,  Professor  Busse.  Er  führte 
den  Gedanken  aus,  dass  Kant  als  „Lehrer  im  Ideal"  der  studierenden 
Jugend  zum  Vorbild  für  ihre  wissenschaftlichen  Bestrebungen  dienen  könne 
und  solle.  Die  Rede,  in  welcher  Gedanken  mitklingen,  welche  in  den 
KSt.  I,  154  f.  in  Bezug  auf  den  „Lehrer  im  Ideal"  ausgeführt  sind,  wurde 
ausserordentlich  beifällig  aufgenommen,  da  sie  in  der  That  in  sehr  wir- 
kungsvoller Weise  Kants  Lehre  und  Persönlichkeit  den  Studierenden  vor- 
führte. Sie  findet  sich  abgedruckt  in  der  Ztschr.  f.  Philos.  u.  philos.Kr.,  Bd.l24, 
Heft  1,  S.  1—9  (vgl.  die  Besprechung  der  auch  separat  erschienenen  Rede  im 
vorigen  Heft  der  KSt.  IX,  3  4,  S.  519).  An  diese  Rede  schloss  sich  ein  von  Prof. 
Uhl  verfasstes,  den  Manen  Kants  huldigendes  Gedicht,  und  dieses  bildete  den 
Übergang  und  die  Einleitung  zu  einem  nach  dem  Entwurf  von  Kunstmaler 
Prof.  Knorr  gestellten  lebenden  Bilde:  die  überlebensgrosse  Büste  Kants, 
umgeben  von  den  ihm  huldigenden  Figuren  der  Albertina  und  der  Philo- 
sophie nebst  Professoren  in  Talar,  Studenten  in  Wichs  u.  s.  w.  Selbstver- 
ständlich wurden  ausserdem  noch  viele  Ansprachen  gehalten,  u.  A.  vom 
Minister  Dr.  Studt,  vom  kommandierenden  General  Dr.  von  der  Goltz, 
von  Prof.  Stammler  u.  s.  w.  Ein  Teil  der  Teilnehmer  des  Kommerses 
machte  am  Sonntag  noch  einen  gemeinsamen  Ausflug  an  die  Samländische 
Küste  —  jedenfalls  Kants  äusserstes  Reiseziel,  wenn  es  überhaupt  so  weit 
gekommen  ist 

6.  Festschrift  der  Universität.  Eine  offizielle  Sammlung  von 
Abhandlungen  von  15  Mitgliedern  des  Lehrkörpers  war  zum  12.  Februar 
geplant.  Dieselbe  wurde  aber  zu  diesem  Tage  nicht  fertig  und  erschien 
erst  im  Oktober  des  Jahres.  Der  Inhalt  des  stattlichen  Bandes  (374  S.) 
ist  daher  nicht  hier,  sondern  unten  bei  den  Festschriften  angegeben. 

7.  Kantausst eilung.  Die  Firma  Gräfe  &  Unzer  (früher  Kanter- 
sche  Buchhandlung,  mit  welcher  ja  Kant  in  Verbindung  gestanden  hat) 
veranstaltete  eine  Kantausstellung,  welche  einen  offiziellen  Charakter  er- 
hielt nicht  bloss  dadurch,  dass  die  kommunalen,  provinzialen  und  staat- 
lichen   Behörden     die    in    ihrem    Besitz    befindlichen    Kantiaua    hergaben, 


110  H.  Vaihinger, 

sondern  auch  dadurch,  dass  die  Ausstellung  durch  den  Rektor  mit  einer 
Ansprache  eröffnet  worden  war,  und  zwar  schon  am  Donnerstag,  dem 
11.  Februar.  Die  Ausstellung  war  sehr  gelungen  arrangiert  und  sehr 
reichhaltig.  Sie  umfasst  1.  die  Gräfe  &  Unzersche  Sammlung  von  Kant- 
Porträts,  2.  die  Manuskripte,  Buchausgaben,  Reliquien  und  bildlichen  Dar- 
stellungen aus  dem  Besitze  der  Königl.  Universitätsbibliothek,  3.  den  Be- 
sitz des  Prussia-Museums,  4.  der  Stadtbibliothek  und  5.  des  Stadtmuseums, 
sowie  6.  Stücke  aus  Privatbesitz.  Abbildungen  des  Philosophen  waren 
vorhanden  in  Form  von  Stichen,  Radierungen,  Zeichnungen,  Gemälden, 
Silhouetten,  Gipsbüsten  u.  s.  w.,  im  Ganzen  weit  über  hundert.  Auch  das 
Originalgemälde  von  Döbler  aus  dem  Besitz  der  Totenkopfloge  war  da. 
Ferner  vor  allem  das  ausgezeichnete  Kantporträt  aus  dem  städt.  Museum, 
welches  die  Stadt  Königsberg  im  Jahre  1897  angekauft  hat  und  das  in 
Dresden  aufgefunden  wurde.  [Die  KSt.  haben  eine  Abbildung  dieses 
Porträts  gebracht  im  Bande  III,  Heft  12,  sowie  im  Festheft,  IX,  1/2. 
Dieses  weitaus  beste  Porträt  Kants  wird,  nebenbei  bemerkt,  in  Königs- 
berg selbst  zum  Teil,  wie  es  scheint,  nicht  in  seiner  ganzen  Bedeutung 
gewürdigt.]  Ausserdem  war  eine  Reihe  moderner  Kantbilder  in  verschie- 
denen Variationen  und  Ausführungen  zu  sehen.  Auch  die  von  uns  im 
Festheft  reproduzierte  Plakette  von  A.  Heinrich  „Kant  und  Friedrich  der 
Grosse"  war  in  grosser  Bronzeausführung  da;  ferner  Abbildungen  von 
Kants  Wohnhaus  u.  s.  w.;  dann  das  grosse  Gemälde  von  Dörstling,  Kant 
und  seine  Tischgenossen,  das,  wie  wir  in  den  KSt.  VI,  112  f.  erwähnt 
haben,  von  Stadtrat  Professor  Dr.  Walter  Simon  veranlasst  und  der  Stadt 
geschenkt  worden  ist;  ferner  viele  Originaldrucke  der  Werke  Kants,  Ma- 
nuskripte und  Briefe  desselben,  nachgeschriebene  Kollegienhefte,  sowie 
eine  Anzahl  sonstiger  interessanter  Reliquien.  Es  waren  auch  die  ver- 
schiedenen, in  den  KSt.  erschienenen  Abbildungen  vertreten.  Die  Firma 
Gräfe  &  Unzer  Hess  einen  ausführlichen  Katalog  der  Ausstellung  drucken, 
welcher  auch  durch  den  Buchhandel  zn  beziehen  ist  und  der  auch  für 
solche,  die  die  Ausstellung  nicht  gesehen  haben,  sehr  vieles  wertvolles 
und  noch  nicht  ausgenütztes  Material  enthält.  Der  Katalog  umfasst  auf 
39  Seiten  über  200  Nummern. 

8.  Schulfeiern.  In  den  meisten  der  höheren  Schulen  fanden  Ge- 
denkfeiern statt,  wobei  mehrere  auf  die  Bedeutung  Kants  und  den  Tag 
bezügliche  Reden  gehalten  wurden.  In  einigen  höheren  Lehranstalten 
wurde  der  Vormittagsunterricht  abgekürzt,  um  den  Schülern  Gelegenheit 
zu  geben,  Kants  Begräbnisstätte  zu  besuchen. 

9.  Gedächtnisfeier  des  Goethebundes.  Der  Königsberger 
Goethebund  feierte  am  Mittwoch,  dem  10.  Februar,  im  Festsaale  der 
Palaestra  Albertina  den  Erinnerungstag  in  zahlreicher  Versammlung.  Den 
Festvortrag  hielt  Direktor  a.  D.  Richard  Schultz.  Er  entwarf  ein  Lebens- 
bild Kants,  um  zum  Schlüsse  Kant  als  „Welterzieher"  zu  feiern.  Redak- 
teur Dr.  Goldstein  las  Stellen  aus  Kants  Schriften  vor,  u.  a.  aus  den  „Be- 
obachtungen über  das  Gefühl  des  Schönen  und  Erhabenen"  sowie  aus  der 
Abhandlung  „von  der  Macht  des  Gemüts"  u.  s.  w. 

10.  Feier  im  evangelischen  Arbeiterverein.  Die  Festrede 
hielt    Herr    Prediger    Konschell.       Er     führte    aus,    wenn    auch    zunächst 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  111 

zwischen  einem  Arbeiter  und  dem  grossen  Denker  ein  ungeheurer  Abstand 
vorhanden  zu  sein  scheine,  so  dürfe  der  Verein  doch  nicht  an  der  Feier 
vorübergehen,  da  Kants  Wirksamkeit  für  unser  Vaterland  und  für  unsere 
Kirche  von  grösster  Bedeutung  gewesen  sei.  Angriffe,  wie  sie  z.  B.  auf 
dem  Ärzte-  und  Naturforscherkongress  gegen  die  Religion  gerichtet  worden 
seien  (von  Ladenburg),  wären  unmöglich,  wenn  die  Redner  nur  ein  wenig 
von  Kant  wüssten  u.  s.  w. 

11.  Kantfeier  des  Arbeiter-Bildungsvereins.  Freitag  Abend 
hatte  sich  dieser  Verein  in  der  Phönixhalle  versammelt,  um  auch  seiner- 
seits den  Manen  Kants  zu  huldigen.  Dr.  Siegfried  Stern  berührte  dabe 
den  Konflikt  Kants  mit  WöUner  und  führte  dann  weiterhin  aus,  dass  die 
konsequente  Befolgung  von  Kants  kategorischem  Imperativ  notwendig 
zum  Sozialismus  führe ;  denn  Kant  habe  die  Forderung  erhoben,  den 
Menschen  niemals  als  Mittel  zu  benützen,  sondern  in  ihm  stets  die  ganze 
Menschheit  zu  achten  u.  s.  w.  „Genosse"  Gottschalk  bestritt  diese  Aus- 
führungen mit  Recht:  denn  sehr  viele  konsequente  und  wahre  Kantianer 
seien  durchaus  nicht  Sozialisten  und  brauchten  es  nicht  zu  sein. 

12.  Festartikel  der  Königsberger  Zeitungen.  Die  be- 
merkenswerteste Huldigung  für  Kant  in  dieser  Hinsicht  bietet  die 
„Sondernummer  zum  Gedächtnis  des  100.  Todestages  Immanuel  Kants" 
der  Königsberger  „Hartungschen  Zeitung"  (10  Folioseiten)  mit  den  Bildern 
Kants  von  Becker  und  von  Döbler,  seinem  Wohnhaus,  sowie  mit  der  Ab- 
bildung der  am  12.  Februar  enthüllten  Gedenktafel  (nebst  einem  erläutern- 
den Artikel  von  Prof.  Dr.  Busse) ;  vgl.  oben  No.  2.  Otto  Schöndörffer 
schildert  zuerst  in  einem  scliwungvoUen  Artikel  Kants  Leben,  Kants 
Charakter  und  Kants  Philosophie.  Emil  Arnoldt  lieferte  eine  scharfsinnige 
Untersuchung  „über  die  drei  Formeln  des  kategorischen  Imperativs  in 
der  ,Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten'".  Professor  der  Geschichte 
Franz  Kühl  schildert  Kant  als  Geschichtsphilosophen.  Redakteur  Dr.  Lud- 
wig Goldstein  schildert  in  einem  Artikel  „Vor  hundert  Jahren"  Kants  Tod 
und  Begräbnis.  Hierauf  folgen  „Stimmen  der  Gegenwart  über  Kant",  zu- 
nächst aus  dem  Inland,  wo  wir  folgenden,  teilweise  sehr  interessanten 
Beiträgen  und  Aussprüchen  begegnen:  Reichskanzler  Graf  Bülow,  Staats- 
sekretär Posadowsky,  Präsident  des  Reichsbank-Direktoriums  Dr.  Koch, 
Wilhelm  Oncken,  Albert  Ladenburg,  Richard  Maria  Werner,  Friedrich 
Paulsen,  Otto  Liebmann,  Ludwig  Goldschmidt,  Houston  Stewart  Chamber- 
lain,  Max  Nordau,  Robert  Schweichel,  L.  Passarge,  Max  Grube,  Ernst 
V.  Possart,  Josef  Lewinsky.  Hierzu  kommen  noch  einige  grössere  Aus- 
führungen, so  von  Eduard  v.  Hartmann,  welcher  Kant  nur  als  Moralphilo- 
sophen gelten  lassen  will,  von  Dr.  Richard  M.  Meyer-Berlin  über  „Kant 
und  die  deutsche  Dichtung",  von  Paul  Schienther- Wien  über  die  Sattler- 
gasse in  Königsberg  (Kants  Geburtsstätte).  Last  not  least  seien  noch  er- 
wähnt zwei  schwungvolle  Gedichte  von  Felix  Dahn  und  Rudolf  v.  Gott- 
schall „An  Immanuel  Kant".  Es  folgen  dann  weiterhin  „Stimmen  der 
Gegenwart  über  Kant  aus  dem  Auslande",  voran  ein  Ausspruch  des  eng- 
lischen Premierministers  Lord  Arthur  J.  Balfour.  Die  Äusserung  des  fran- 
zösischen Unterrichtsministers  Chaumie,  resp.  seines  Kabinettchefs  de 
Monzie  über  „Kant  in  Frankreich"  traf  zu  spät  ein  und  ist  abgedruckt  iu 


112  H.  Vaihinger, 

der  No.  72  der  Königsberger  Hartungschen  Zeitung.  Einen  weiteren 
Nachtrag  bietet  No.  74  der  Hartungschen  Zeitung  in  einer  ziemlich  aus- 
führlichen Äusserung  des  Prof.  Feiice  Tocco-Florenz  über  Kant  und 
Spencer.  In  der  Festnummer  selbst  aber  finden  wir  Aussprüche  von 
M.  Berthelot-Paris,  Alfred  Fouillöe-Menton,  SuUy  Prudhomme-Chätenay, 
Jules  Claretie-Paris,  Albert  Sorel-Paris,  d'Estouruelles  de  Constant-Paris, 
Charles  Beauquier,  Joseph  Reinach,  Charles  Richet-Paris,  Gabriel  Söailles- 
Paris,  Yves  Guyot,  Frederic  Passy.  Den  Schluss  bilden  briefliche  Äusser- 
ungen von  Heinrich  Prinz  Schönaich-Carolath,  Friedrich  Spielhagen,  J.  V. 
Widmann  und  Paul  Heyse  über  die  Kantfeier.  Ein  Teil  dieser  Aussprüche 
sind  von  vielen  Zeitungen  nachgedruckt  worden.  —  Die  No.  70  der  Har- 
tungschen Zeitung  enthielt  ferner  einen  kleinen  Artikel  „Unbekanntes 
über  Kant",  Mitteilungen  aus  dem  Handexemplar  von  Wasianskis  Werk 
„Kant  in  seinen  letzten  Lebensjahren",  das  handschriftliche,  bisher  noch 
niclit  publizierte  Mitteilungen  über  Kant  enthält. 

Im  Besitz  der  Hartungschen  Zeitung  befindet  sich  auch  das  „Königs- 
berger Tageblatt,  Volksblatt  für  Ostpreussen",  das  ebenfalls  zum  12.  Februar 
eine  Gedächtnisnunini  er  mit  Abbildung  herausgab.  Dieselbe  enthält  ein 
Gedicht  von  Oskar  Schwender  an  die  Manen  Kants,  einen  (auch  von  vielen 
anderen  Zeitungen  abgedruckten)  Artikel  von  Paul  Pasig  „Der  Weise  von 
Königsberg",  sowie  einige  Mitteilungen  über  Kants  Tod  und  Begräbnis. 

Auch  die  „Ostpreussische  Zeitung"  veranstaltete  eine  Sonderbeilage 
„Zu  Kants  Gedächtnis"  mit  drei  Abbildungen.  Dr.  phil.  Karl  v.  Flotow 
entwickelt  in  einem  Fest-Artikel  Kants  Bedeutung  und  Grösse.  Paul  Sohr 
giebt  Schilderungen  „aus  Kants  Leben".  Den  Schluss  bilden  eine  Anzahl 
von  Kant-Aussprüchen. 

Die  Königsberger  „Allgemeine  Zeitung"  feierte  den  Tag  durch  einen 
grossen  feierlichen  Leitartikel  von  Prof.  Hermann  Baumgart-Königsberg; 
in  ihrer  No.  76  brachte  sie  zwei  amüsante  Feuilletons  „Kant  und  die  Tafel- 
freuden", und  „Kant  und  die  Königsberger  Studenten". 

Auch  das  sozialdemokratische  Organ  für  Ost-  und  Westpreussen,  die 
„Königsberger  Volks-Zeitung",  feierte  Kant  in  ihrer  Weise.  Sie  brachte 
schon  am  11.  Februar  ein  kurz  gefasstes  Lebensbild  Kants  und  eine  ge- 
drängte Gesamtdarstellung  seines  philosophischen  Denkens  und  führte  in 
ihrem  Leitartikel  zum  12.  Februar  „Kant  und  Wir"  aus,  dass  die  Sozial- 
demokratie die  wahre  Erbin  Kants  sei.  „Sie  werde  ihm  das  herrlichste 
Monument  errichten,  das  einem  Menschen  errichtet  werden  kann:  Sie 
wird  seinen  Willen  vollstrecken,  seine  Ideen  verwirklichen,  indem  sie  sein 
soziales  Ideal:  die  Gemeinschaft  gleichberechtigter,  sich  selbst  verwalten- 
der, freiwollender  Menschen  zu  schaffen  sich  zum  Ziele  setzt."  Diese 
Äusserung  eines  „gelegentlichen  Mitarbeiters"  wurde  jedoch  am  13.  Februar 
durch  die  Redaktion  selbst  desavouiert  und  es  wurde  mit  Recht  konsta- 
tiert, dass  der  Sozialismus  an  und  für  sich  in  seiner  wissenschaftlichen 
Begründung  nichts  mit  Kant  zu  thun  habe. 

13.  Nachfeier  der  Kantgesellschaft.  Die  Königsberger  Kant- 
gesellschaft hatte  am  Todestage  Kants  in  der  Stoa  Kantiana  einen  Kranz 
niederlegen  lassen,  sonst  aber  keine  Gelegenheit  gefunden,  an  der  offi- 
ziellen  Festlichkeit   teilzunehmen.     Dieselbe    benützte  den  22.  April,   den 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  113 

Geburtstag  Kants,  den  sie  alljährlich  feiert  {vgl.  unsere  Berichte  in 
früheren  Jahren),  dazu,  das  Jubiläum  des  100jährigen  Todestages  Kants 
nachträglich  zu  begehen.  Der  verdiente  Förderer  der  Kantforschung, 
Herr  Dr.  Emil  Amoldt,  übernahm  in  diesem  Säkularjahre  die  Festrede. 
Er  sprach  über  den  ersten  Teil  der  ersten  Antinomie  aus  Kants  Kr.  d.  r. 
V.  Der  Vortrag  ist  gedruckt  in  der  Altpreuss.  Monatsschrift,  Bd.  XLI, 
H.  3  u.  4,  S.  234—256.  Die  Anregung  zu  der  Feier  gab  der  „Bohnenkönig"  Dr. 
S.  Cohn;    neuer   Bohnenkönig   wurde  Oberlehrer  Prof.  Dr.  Alfred  Döring. 

Arnoldt  will  in  seiner  Rede  die  Kantische  Antinomienlehre  gegen- 
über den  auf  sie  erhobenen  Augriffen  rechtfertigen.  „Wenn  es  mir  ge- 
lingt, im  Sinne  Kants  und  im  Anschlüsse  an  ihn  auch  nur  den  ersten  Teil 
der  ersten  Antinomie  in  der  Art  zu  rechtfertigen,  dass  ich  seine  Beweise 
für  die  Thesis  wie  für  die  Antithesis,  wie  er  behauptet  hat,  als  einleuchtend 
und  unwiderstehlich  darthue,  so  darf  m.  E.  mit  Recht  das  Präjudiz  ent- 
stehen, dass  auch  seine  Beweise  für  den  zweiten  Teil  jener  Antinomie, 
wie  seine  Beweise  für  die  übrigen  Antinomien  bündig  seien."  So  tritt  er 
zunächst  den  Beweis  für  den  ersten  Teil  der  Thesis  der  ersten  Antinomie 
an :  die  Welt  hat  einen  Anfang  in  der  Zeit,  sowie  für  den  ersten  Teil  der 
entsprechenden  Antithesis :  die  Welt  hat  keinen  Anfang  in  der  Zeit  oder 
sie  ist  in  Ansehung  der  Zeit  unendlich.  Arnoldt  weist  dann  auf  ein  „bis- 
her nicht  genug  beachtetes  Faktum"  hin,  „welches  Kants  Ansicht  von  der 
Antithetik  der  reinen  Vernunft  in  merkwürdiger  Weise  bestätigt.  Denn 
Herbart  und  Schopenhauer  stellten  über  die  Antinomien  diametral  einander 
entgegengesetzte  Behauptungen  auf,  und  zwar  so,  dass  Herbart  im  Allge- 
meinen die  Thesen  und  deren  Beweise,  Schopenhauer  dagegen  die  Anti- 
thesen und  deren  Beweise  in  Schutz  nahm".  Die  „Dogmatiker"  Herbart 
und  Schopenhauer  bestätigen  so  indirekt  die  Richtigkeit  der  Antinomien 
des  Kritikers  Kant.  Der  Redner  schloss  mit  einer  Aussicht  auf  den 
22.  April  1924,  den  200jährigen  Geburtstag  Kants,  und  hofft,  „dass  die 
dann  wohl  verstandene  und  dann  neu  erstandene  Philosophie  Kants  in  dem 
Geistesleben  zunächst  der  deutschen  Nation  ein  Ferment  bilde,  das  sich 
in  den  wissenschaftlichen  Forschungen,  den  religiösen  Bekenntnissen,  den 
staatlichen  Einrichtungen  und  den  sozialen  Bildungen  wohlthätig  und 
machtvoll  auswirkt". 

14.  Eine  weitere  Nachfeier  bildet  der  Festvortrag  des  Prof.  Dr. 
L.  Busse  auf  der  Deutschen  Lehrerversammlung  in  Königsberg, 
Pfingsten  1904.  Seine  Ansprache  (gedruckt  in  der  „Pädagogischen  Zeit- 
schrift"j  feiert  vor  dieser  Lehrerversammlung  Kant  als  den  Lehrer  der 
Menschheit,  welcher  theoretisch  die  Begründung  und  die  Grenzen  der 
wissenschaftlichen  Erkenntnis  festgesetzt  und  durch  seine  praktische  Phi- 
losophie die  Sicherung  einer  idealen  Welt-  und  Lebensanschauung  voll- 
zogen habe.  V^or  allem  sei  nie  eine  erhabenere  Begründung  des  L^nsterb- 
lichkeitsgedankens  in  der  Philosophie  gegeben  worden.  Die  Hervorkehrung 
des  Begriffs  der  Persönlichkeit  sei  gerade  für  Lehrer  von  besonderer 
Wichtigkeit:  denn  der  Lehre)'  müsse  seine  ganze  Persönlichkeit  einsetzen, 
um  aus  dem  Kinde  eine  Persönlichkeit  zu  machen.  Vor  allem  der  Lehrer 
könne  den  Kantischen  Satz  würdigen,  den  Menschen  niemals  als  Mittel, 
sondern  immer  nur  als  Selbstzweck  zu  betrachten. 

Kantstudien  X.  g 


114  H.  Vaihini2:er, 


B.    Festfeieru  ausserhalb  Königsberg. 

1.  In  Berlin  hat  die  Universität  selbst  keine  offizielle  Feier  veran- 
staltet, wie  verlautet  angesichts  des  Mangels  einer  geeignet  grossen  Aula. 
Eine  solche  Universitätsfeier  wurde  jedoch  ersetzt  durch  die  Feier,  welche 
die  Berliner  Philosophische  Gesellschaft  im  Berliner  Rathause 
veranstaltet  hat,  und  zu  welcher  eine  Anzahl  von  Universitätsprofessoren 
nebst  dem  Rektor  erschienen  war  und  bei  welcher  auch  die  Regierung 
sich  hatte  vertreten  lassen.  Die  Feier  wurde  durch  Musik  eingeleitet  und 
beschlossen  (Erkscher  Chor).  Die  Denkrede  hielt  Universitätsprofessor 
Adolf  Lasson.  Die  Rede  ist  im  Druck  erschienen:  Immanuel  Kant  zu 
seinem  100jährigen  Todestage,  Berlin,  Weidmann ;  auch  wieder  abgedruckt 
in  den  Philosophischen  Aufsätzen,  herausg.  von  der  Philos.  Gesellschaft  zu 
Berlin  zur  Feier  ihres  60jährigen  Bestehens,  BerUn,  Weidmann  1904.  Die 
KSt.  werden  voraussichtlich  auf  die  Rede  näher  eingehen,  weshalb  nur 
einige  Gedanken  erwähnt  seien.  Der  greise  Redner  begann,  man  habe 
gerade  ihm  als  einem  der  Ältesten  die  Rede  auf  Kant  übertragen,  weil  er 
mit  den  Anfängen  seiner  philosophischen  Bildung  noch  in  die  Zeit  zurück- 
reiche, wo  der  Streit  um  Kant  noch  ein  lebendiges  Interesse  hatte,  während 
für  die  jüngeren  Geschlechter  Kant  schon  geschichtlich  geworden  sei. 
Aber  auch  heute  herrsche  der  grosse  Philosoph  noch  als  ein  Lebender 
überall  da,  wo  Wissenschaft  getrieben  werde.  Wir  verdanken  Kant  das 
Wesentlichste :  unsere  Selbstbehauptung.  Kant  hat  auf  ganz  neuem  Boden 
ein  neues  Verhältnis  des  Menschen  zur  Welt  begründet:  die  Herrschaft 
des  Geistes.  Darin  bestehe  der  Idealismus.  (Vgl.  Vossische  Zeitung 
No.  73,  Berl.  Tageblatt  No.  79.) 

Der  Berliner  Zweigverein  des  evangelischen  Bundes  veran- 
staltete eine  Gedächtnisfeier  in  der  Aula  des  Friedrich  Wilhelm-Gymna- 
siums. Der  Vorsitzende,  Prof.  Schmidt,  betonte  die  Pflicht  des  Protestan- 
tismus, auch  das  Gedächtnis  der  grossen  Geisteshelden  zu  pflegen,  welche 
vom  Ultramontanismus  bitter  gehasst  werden.  Den  Festvortrag  hielt  Pro- 
fessor D.  Dr.  Kaftan  über  „Kant  als  Philosoph  des  Protestantismus". 
Über  die  im  Verlag  von  Reuther  &  Reichard  in  Berlin  erschienene  fein- 
sinnige Rede  haben  die  KSt.  berichtet  IX,  521.  Der  Redner  schilderte 
Aristoteles  als  den  Philosophen  der  römisch-katholischen  Kirche,  Piaton 
als  den  geistigen  Führer  der  griechisch-katholischen  Kirche  und  sagt  von 
Kant :  er  gehört  zu  den  grossen  Lehrern  der  Kirche :  denn  er  hat  dem 
Kultursystem  des  Protestantismus  die  ihm  entsprechende  Philosophie  ge- 
geben.    (Vgl.  Vossische  Zeitung  No.  73.) 

Die  psychologische  Gesellschaft  versammelte  ebenfalls  ihre 
Mitglieder  zu  einer  Kantfeier.  Unter  den  Erschienenen  befand  sich  Pro- 
fessor Zeller,  einer  der  Erneuerer  der  Kantischen  Philosopliie  in  den 
60er  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts,  dessen  körperliche  Frische  nicht 
vermuten  Hess,  dass  er  eben  seinen  90.  Geburtstag  gefeiert  hatte.  Der 
Vorsitzende,  Dr.  A.  Moll,  entwickelte  zunächst  die  Bedeutung  Kants  für 
das  deutsche  Geistesleben.  Den  Festvortrag  hielt  Professor  Dr.  Max 
Dessoir  über  Kant  und  die  Psychologie.  Bei  aller  Würdigung  für  Kants 
gewaltige,  unsterbliche  Verdienste  glaubte  er  darauf  hinweisen  zu  müssen, 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  115 

dass  Kant    für    die  Psychologie  nicht  diejenige  Bedeutung  besitze  wie  für 
die  übrigen  Geisteswissenschaften.     (Vgl.  Vossische  Zeitung  No.  73.) 

Die  Humboldt-Akademie  veranstaltete  in  der  Aula  des  König- 
städtischen Realgymnasiums  eine  Festfeier.  Dozent  Dr.  Maximilian  Runze 
hielt  die  Festrede.  Im  Anschluss  an  den  Satz  von  Kuno  Fischer  „Kant 
richtig  verstehen,  heisst,  ihn  historisch  ableiten",  schilderte  er  zunächst 
Kants  Entwickelung  und  die  Entstehung  der  „Grundfrage  der  Kantischen 
Philosophie":  so  lautete  das  Thema  des  Vortrags,  Die  Grundfrage  „Wie 
sind  synthetische  Urteile  a  priori  möglich?"  gliedert  sich  bekanntlich  in 
3  Unterfragen.  In  der  ersten  „Wie  ist  reine  Mathematik  möglich?"  hat 
das  „Wie"  explikative  Bedeutung.  Ebenso  in  der  zweiten  „Wie  ist  reine 
Naturwissenschaft  möglich?"  Bei  der  dritten  Unterfrage  „Wie  ist  Meta- 
physik möglich  ?"  hat  das  „Wie"  skeptische  Bedeutung  im  Sinne  von  „ob". 
Der  Redner  schloss  mit  den  Worten  Kants:  „So  viel  ist  aber  gewiss:  wer 
einmal  Kritik  gekostet  hat,  den  ekelt  auf  immer  alles  dogmatische  Ge- 
wäsche."    (Vgl.  National-Zeitung  No.  104.) 

In  der  Lessing-Gesellschaf t  sprach  Professor  Dessoir  über 
„Kants  Bedeutung  für  die  Gegenwart". 

In  der  Treptower  Sternwarte  hielt  Direktor  Dr.  Archenhold 
einen  Vortrag  über  das  Thema  „Die  Kant-Laplacesche  Entstehungshypo- 
these unseres  Planetensystems". 

Bei  der  Kantfeier  des  Berliner  Handwerker- Vereins  sprach  Dr. 
Apel  über  „Kants  Persönlichkeit  und  Denken". 

2.  Dresden.  Die  Königl.  technische  Hochschule  veranstaltete 
eine  offizielle  Feier  in  der  Aula,  welche  nach  den  Intentionen  des  Profes- 
sors Schumacher  künstlerisch  ausgeschmückt  war.  Die  Festrede  hielt 
Professor  Dr.  Fritz  Schnitze,  welcher  bekanntlich  schon  seit  vielen 
Jahren  in  Dresden  den  Neukantianismus  energisch  vertritt  und  dessen 
kräftigem  Eintreten  auch  die  „Kantstiftung"  einen  sehr  namhaften  Beitrag 
aus  Dresden  verdankt.  Die  Rede  ist  zum  Teil  abgedruckt  in  der  Sonn- 
tagsbeilage zum  Dresdener  Anzeiger  vom  14.  Februar.  Der  Redner  unter- 
scheidet Systeme  der  Schwäche,  in  denen  der  Mensch  als  ein  wertloses 
Objekt  der  stofflichen  Welt  betrachtet  wird,  wodurch  der  Wille  geschwächt 
wird ;  und  andererseits  Systeme  der  Kraft,  in  denen  der  Mensch  als  wert- 
volles Subjekt  einer  geistigen  Welt  betrachtet  wird.  Jene  betrachten  den 
Menschen  vorzugsweise  quantitativ,  diese  vorzugsweise  qualitativ.  Der 
qualitativ  denkende  Leibniz  erhebt  die  Individualität  zum  Urprinzip  des 
Weltalls,  während  der  quantitativ  denkende  Spinoza  ihr  gänzlich  ratlos 
gegenüberstehe.  Kants  System  gehört  zu  den  Systemen  der  Kraft. 
Redner  entwickelt  dann  zunächst  Kants  naturwissenschaftliche  Bedeutung 
(kosmologische  Hypothese,  Begriff  der  Entwickelung,  energetische  Natur- 
anschauung u.  s.  w.)  und  behandelt  dann  Kants  Lösung  der  6  Haupt-  und 
Grundfragen:  der  erkenntnistheoretischen,  der  moralischen,  der  religiösen, 
der  rechtsphilosophischen,  der  teleologischen  und  der  ästhetischen.  Die 
Lösung  aller  dieser  Fragen  habe  Kant  bewirkt  durch  Unterscheidung  des 
individuellen  Selbst  und  des  wie  ein  oberes  Stockwerk  sich  darüber  er- 
hebenden überindividuellen  allgemeinen  Selbst  (Gattungsselbst,  Gattungs- 
vernunft).    In    diesem    überindividuellen    Ich    liegen    die  allgemeingiltigen 

8* 


116  H.  Vaihingen, 

logischen,  sittlichen,  ästhetischen  Normen.  Kant  habe  damit  das  Reich 
der  kritischen  Vernunftherrschaft  begründet.  Der  Redner  schloss  mit 
Humboldts  Wort  auf  Kant:  „Er  hat  eine  Reform  gestiftet,  wie  sie  die 
Geschichte  der  Menschheit  nie  wieder  aufweist." 

Die  Litterarische  Gesellschaft  veranstaltete  im  Musenhaus  eine 
Festfeier,  bei  welcher  Professor  Dr.  Simmel  aus  Berlin  die  Rede  hielt. 
Er  stellte  die  Persönlichkeit,  dass  Ich,  als  den  festen  Pol  in  der  Vielheit 
der  Erscheinungen  in  dreifacher  Hinsicht,  in  erkenntnistheoretischer,  sitt- 
licher und  religiöser  Beziehung  hin. 

Der  Litterarische  Verein  veranstaltete  „zum  Besten  der  Kant- 
stiftung" mit  grossem  Erfolg  Sonntag,  den  7.  Februar,  eine  Matinee :  „Feier 
zur  Erinnerung  an  Immanuel  Kants  Todestag".  Der  Vorsitzende,  Professor 
Dr.  Zschalig,  sprach  einleitende  Worte.  Die  Festrede  hielt  Privatdozent 
der  Philosophie  Dr.  Bruno  Bauch  aus  Halle.  Der  Titel  des  Vortrags  war: 
„Kant  und  unsere  Dichterfürsten".  Die  Rede  ist  abgedruckt  in  der  Bei- 
lage z.  AUg.  Zeitung,  No.  47,  Freitag,  26.  Februar.  Während  die  Dichter 
Klopstock,  Gleim  und  Herder  im  Gegensatz  zu  Kant  standen,  stellten  sich 
unsere  grössten  Dichter  Goetlie  und  Schiller  positiv  zu  dem  Königsberger 
Weisen.  Allerdings  assimilierte  Goethe  nur  dasjenige  von  Kants  Lehre, 
was  sich  in  seine  wesentlich  spinozistische  Lebensanscliauung  ohne  Zwang 
fügte.  Wenn  aber  Goethe  die  Persönlichkeit  als  höchstes  Glück  der 
Erdenkinder  preist,  so  ist  das  weniger  Spinozistisch  als  Kantisch  em- 
pfunden und  gedacht.  Am  längsten  verweilte  der  Redner  natürlich  bei 
Schiller,  wobei  er  besonders  die  Lehre  Kants  vom  Mechanismus  des  Natur- 
geschehens einerseits  und  der  Zweckmässigkeit  andererseits  und  damit  zu- 
sammenhängend die  Lehre  Kants  von  Notwendigkeit  und  Freiheit  be- 
handelte. Zum  Schluss  berührte  der  Redner  noch  die  Verwandtschaft 
Kants  und  der  Klassiker  in  der  Auffassung  des  Genies  und  der  Kunst- 
philosophie überhaupt.  Anschliessend  wurden  „Kantische  Dichtungen" 
Schillers  sowie  einige  philosophische  Gedichte  Goethes  von  Hofschauspieler 
A.  Winds  deklamiert  Der  Verlagsbuchhändler  Heinrich  Minden  hatte  in 
dem  Saale  eine  Sammlung  von  Kantreliquien  ausgestellt. 

3.  In  Meiuel  fand  in  der  Aula  des  Luisengymnasiums  eine  Feier 
statt,  bei  welcher  Oberlehrer  Dr.  Lagenpusch  die  Rede  hielt.  Es  folgten 
darauf  Deklamationen,  u.  a.  die  „Worte  des  Glaubens"  von  Schiller  und 
das  Gedicht  Johannes  Kant  von  Schwab.  Die  Rede  ist  gedruckt  in  der 
2.  Beilage  zu  No.  50  des  „Memeler  Dampfboot".  Die  Rede  nimmt  zu- 
nächst Bezug  darauf,  dass  Kants  Vater  in  Memel  geboren  ist,  und  schliesst 
sich  im  Übrigen  teilweise  an  Paulsen  und  Chamberlain  an.  Von  Kants 
Persönlichkeit  heisst  es  u.  a. :  „Er  gehört  zu  den  wenigen  Männern,  die  es 
verstehen,  alles  von  sich  fern  zu  halten,  was  ihre  innere  Harmonie  stören 
könnte  —  auch  eine  grosse  Weisheit."  Kant  habe  das  bien  raisonner 
Friedrichs  des  Grossen  zur  Geltung  gebracht.  Er  habe  darunter  ver- 
standen, dass  die  Jugend  nicht  zu  frühe  „vernünfteln  lernen  solle  ohne 
genaue  historische  Kenntnisse",  und  habe  deshalb  vor  Allem  Wert,  gelegt 
auf  Verbreitung  naturwissenschaftlicher,  geographischer,  anthropologischer 
Kenntnisse,  um  „der  Ausbildung  der  Talente  die  einzig  zweckmässige 
Richtung   zu  geben".    Als  Schriftsteller  zeige  Kant  juristischen  Verstand : 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  117 

er  gebe  seinen  Problemen  eine  juristische  Fassung,  er  formuliere  sie  als 
streitige  Rechtsfragen  und  erörtere  sie  in  dieser  Weise.  Gegenüber 
fremden  Systemen  zeige  Kant  wie  alle  echten  Genies  ein  herrisches 
Wesen.  Er  biege  sie  zu  seinen  Zwecken  um.  Über  seinen  Schriften  seit 
1781  liege  ein  furchtbarer,  tiefer,  Ehrfurcht  gebietender  Ernst  ausgebreitet. 
Im  Übrigen  hebt  der  Verfasser  die  Ähnlichkeit  von  Kants  Lehre  mit  der 
von  Sokrates  und  von  Christus  hervor.  Die  Rede  schliesst  mit  den 
Worten:  „Vielleicht  rüttelt  diese  Kantfeier  unsere  Generation  aus  dem 
dogmatischen  Schlummer  auf.  Erreicht  das  diese  Gedenkfeier,  dann  hat 
sie  ihren  Zweck  erreicht." 

4.  In  Tilsit  veranstaltete  der  Litterarische  Verein  eine  Feier,  bei 
welcher  Frau  Professor  Krüger  ein  Lebensbild  Kants  entwarf,  worauf 
eine  Erläuterung  verschiedener  Kantischer  Begriffe  folgte. 

5.  In  Weblau  in  Ostpreussen  feierte  das  Gymnasium  den  Tag  durch 
eine  Gedenkrede  des  Oberlehrers  Scheibert. 

6.  In  Graz  feierte  nicht  die  Universität  als  solche  den  grossen 
Denker;  aber  Universitätsprofessor  Dr.  Spitzer  sprach  in  seiner  Vor- 
lesung über  Psychologie  ausführlich  über  Kants  Bedeutung  für  die  Philo- 
sophie und  insbesondere  für  die  Psychologie.  Kant  stehe  zwar  dem  ganz 
ferne,  was  man  Psychologismus  nenne;  er  habe  aber  die  Psychologie  zu- 
nächst als  empirische  Seelenforschung  wesentlich  gefördert,  zunächst  durch 
seine  Theorie  des  Bewusstseins,  sodann  durch  seine  neue  Klassifikation  der 
Seelenvorgänge  in  Vorstellungen,  Gefühle  und  Begehrungen;  endlich  habe 
er  auch  psychologische  Spezialfragen  durch  seinen  Scharfsinn  gefördert, 
z.  B.  die  Affektenlehre  in  seiner  Anthropologie.  Noch  wichtiger  sei  aber 
seine  Bedeutung  für  die  spekulative  Psychologie,  indem  er  den  Monismus 
in  der  einzig  haltbaren  Form  begründet  habe :  die  Materie,  die  bloss  die 
Eigenschaften  der  Ausdehnung,  Bewegung  und  Grösse  habe,  könne  als 
solche  Vorstellungen,  Gefühle  und  den  Willen  nicht  hervorbringen,  sei 
aber  auch  nur  Erscheinung  eines  Dinges  an  sich,  welches  sehr  wohl  zu- 
gleich Träger  oder  Erzeuger  unseres  Bewusstseins  sein  könne.  Der  Ur- 
heber der  kritischen  Philosopliie  habe  sich  um  die  Wissenschaft  von  der 
menschlichen  Seele  die  grössten  Verdienste  erworben. 

7.  In  Wien  veranstaltete  die  Philosophische  Gesellschaft 
welche  auch  der  „Kantstiftung"  einen  namhaften  Beitrag  zugewendet  hat, 
im  Festsaale  der  Universität  eine  Gedächtnisfeier,  welche  durch  die  An- 
wesenheit des  Rektors  und  des  Senates  zugleich  einen  offiziellen  Charakter 
erhielt  und  zur  Universitätsfeier  gestempelt  wurde.  Zuerst  sprach  Pro- 
fessor Jodl  einleitende  Worte  zu  Ehren  Kants  und  seines  Jüngers  K.  L. 
Reinhold,  eines  Wieners,  der  als  Erster  1787  Kantische  Philosophie  an  einer 
deutschen  Hochschule  lehrte.  Die  Festrede  hielt  sodann  Professor  Dr. 
Wilh.  Jerusalem  über  „Kants  Bedeutung  für  die  Gegenwart".  Die  Rede, 
welche  im  Druck  erschienen  ist  (Wien,  W.  Braumüller),  ist  auszugsweise 
wiedergegeben  in  den  KSt.  IX,  530  f. 

Die  Wiener  Kantgesellschaft  (gegründet  80.  Dezember  1902, 
Obmann  Ingenieur  Dr.  phil.  Otto  Bryk,  Obmann-Stellvertreter,  früher  Dr. 
0.  Weininger,  jetzt  Dr.  O.  Ewald,  Sekretär  Emil  Lucka)  veranstaltete  eine 
Kantfei^r   am  6.  Februar;    zuerst   redete   Dr.  Bryk   über   „Kant  und  die 


118  H.  Vaihinger, 

Naturwissenschaft",  und  sodann  Herr  Dr.  Ewald  über  „Kants  Bedeutung 
für  die  Gegenwart". 

In  der  Grillparzer-Gesellschaft  sprach  Privatdozent  Dr.  Emil 
Reich  über  den  Einfluss  Kants  auf  Grillparzer, 

Die  Sozial-wissenschaftliche  Vereinigung  veranstaltete 
eine  Nachfeier,  bei  welcher  Oberlehrer  Dr.  Vorländer  aus  Solingen  einen 
Vortrag  hielt  über:  „Marx  und  Kant". 

Im  „Sozialwissenschaftlichen  Bildungsverein"  fand  am  9.  Februar 
eine  Feier  statt.  Die  Gedenkrede  hielt  Dr.  Max  Adler.  Dieselbe  ist  im 
Druck  erschienen :  „Immanuel  Kant  zum  Gedächtnis !"  (Wien,  Deuticke 
1904,  47  S.  als  Sonderausgabe  aus  dem  Februarheft  der  von  Engelbert 
Pernerstorfer  herausgeg.  Monatshefte:  „Deutsche  Worte".) 

Im  „Wiener  Volksheim"  hielt  am  13.  Februar  Privatdozent  Dr.  Ro- 
bert Reininger  eine  Gedächtnisrede  auf  Kant.  Dieselbe  findet  sich  ge- 
druckt in  dem  „Wissen  für  Alle.  Volkstümliche  Vorträge  und  populär- 
wissenschaftliche Rundschau",  Jahrg.  IV,  No,  9  und  10. 

8.  In  Tübingen  veranstaltete  die  philosophische  Fakultät  eine  Feier, 
bei  welcher  Professor  Dr.  Heinrich  Maier  die  Gedächtnisrede  hielt.  Die- 
selbe ist  nicht  gedruckt.  Wir  berichten  über  sie  nach  dem  „Schwäbischen 
Merkur"  No.  73.  In  Kants  philosophischer  Entwickelung  habe  Newton  im 
Laufe  der  Zeit  über  Wolff  den  Sieg  davongetragen.  In  der  Kr.  d.  r.  V. 
habe  Kant  einen  neuen  Wirklichkeitsbegriff  begründet.  Sein  Hauptver- 
dienst sei,  trotzdem  er  selbst  noch  teilweise  im  Banne  der  Aufklärung  ge- 
standen habe,  die  Überwindung  des  Intellektualismus  der  Aufklärung 
durch  den  praktischen  Primat.  Das  Ergebnis  der  Erkenntniskritik  Kants 
habe  etwas  Niederdrückendes,  worein  wir  uns  aber  finden  müssen:  eine 
letzte  abschliessende  Lösung  der  Welträtsel  ist  uns  versagt.  Allein  ein 
sicheres  Bewusstsein  um  die  Grenzen  unserer  Kraft  ist  zugleich  eine 
Quelle  der  Kraft.  Denn  es  richtet  unser  Streben  auf  erreichbare  Ziele, 
und  dieses  Bewusstsein  hat  uns  Kant  gegeben. 

9.  In  Frankfurt  a.  M.  veranstaltete  das  Freie  deutsche  Hoch- 
stift eine  akademische  Feier  im  Saale  des  Hochschen  Konservatoriums. 
Die  Festrede  hielt  Professor  Dr.  A dickes  aus  Münster  (jetzt  Tübingen) 
über  „Kant  als  Ästhetiker".  Die  Rede  ist  nicht  gedruckt.  Einen  Auszug 
enthält  der  Frankfurter  „General-Anzeiger"  No.  39.  Kants  Einfluss  sei 
gegenwärtig  noch  grösser  als  vor  100  Jahren.  Die  Grösse  Kants  zeige 
sich  vor  allem  darin,  dass,  obgleich  er  selbst  den  schönen  Künsten  ziem- 
lich fremd  gegenübergestanden  sei,  er  doch  der  Ästhetik  neue  Anstösse 
gegeben  habe.  Ja,  erst  durch  "Kant  habe  die  Ästhetik  sich  ein  Heimat- 
recht in  der  Philosophie  erworben. 

10.  In  Darmstadt  veranstaltete  der  Zweigverein  der  Deutschen 
Gesellschaft  für  ethische  Kultur  eine  Gedächtnisfeier,  bei  welcher 
Professor  Dr.  Staudinger  die  Rede  hielt.  Sie  ist  nicht  gedruckt;  einen 
Auszug  giebt  der  Darmstädter  tägliche  Anzeiger  No.  38.  Kant  habe  nicht 
Philosophie,  sondern  Philosophieren  lehren  wollen;  er  habe  eine  Methode 
geben  wollen,  nicht  die  Sache.  Die  jetzige  Zeit  habe  diese  Methode  auf 
neue  Probleme  angewendet,  speziell  auf  die  ethisch-politisch-juristischen. 
Kant  selbst  habe  übrigens  schon  wichtige  Verfassungsprobleme  theoretisch 


Das  Kantjubilänm  im  Jahre  1904.  ^19 

behandelt.     Hoffentlich    gehe    man  jetzt  in  Staat  und  Recht  auf  Kant  zu- 
rück, so  dass  sein  Todestag  ein  Tag  der  Auferstehung  für  ihn  werde. 

Der  Verein  für  Kunst,  Wissenschaft  und  Litteratur  ver- 
anstaltete eine  Feier  zum  Gedächtnis  Kants,  bei  welcher  Privatdozent  Dr. 
Schrader  den  Festvortrag  hielt. 

11.  In  Löbau  in  Sachsen  veranstaltete  der  Humboldt-Verein 
eine  Kantfeier.  An  zwei  Abenden  sprach  Pastor  primarius  Dr.  Katzer, 
welcher  auch  früher  schon  in  Löbau  vielbesuchte  Kantvorträge  gehalten 
hat,  über  Kant  und  die  moderne  Weltanschauung.  Am  ersten  Abend  ent- 
wickelte der  Redner  Kants  theoretische  Weltanschauung,  am  zweiten 
Abend  Kants  praktische  Philosophie.  Detaillierte  Berichte  liegen  nicht 
vor ;  einen  kurzen  Bericht  schliesst  eine  dortige  Zeitung  mit  den  charakte- 
ristischen Worten:  „So  erscheinen  die  Vorträge  des  Herrn  Dr.  Katzer 
über  Kant  geradezu  als  eine  sittliche  That.  Die  Geschichte  unserer  Tage 
wird  bemerken,  wie  mit  dem  Auftreten  des  Herrn  Primarius  Dr,  Katzer 
in  der  Lausitz  die  religiösen  Vorstellungen  daselbst  eine  glückliche  Läu- 
terung erfahren  haben  und  zwar  in  dem  Geiste  Kants.  Mit  Kant  wird  es 
gelingen,  die  materialistischen  Anschauungen  der  Sozialdemokraten  und 
Spiritisten  ebenso  zu  überwinden  wie  die  Dogmen  der  Buddhisten." 

In  Löbau  i.  S.  veranstaltete  ferner  die  Lehrerschaft  des  Lö- 
bauer  Schulaufsichts-Bezirks  eine  Feier,  bei  welcher  Pastor  prim. 
Dr.  Katzer  über  Kant  und  seine  Bedeutung  für  die  Pädagogik  sprach. 
Die  Rede  ist  nicht  gedruckt;  wir  berichten  über  sie  nach  der  Oberlausitzer 
Dorfzeitung  No.  ß.  Der  Redner  entwickelte  zunächst,  was  Kant  geleistet 
habe  in  Beziehung  auf  die  Erziehung  der  Menschheit  durch  seine  Kr.  d. 
r.  V.  und  die  Kr.  d.  prakt.  V.  „Hat  sich  der  Mensch  der  Welt  denkend 
bemächtigt,  so  muss  er  danach  trachten,  sich  durch  sein  Handeln  siegreich 
über  sie  emporzuheben."  Zu  diesem  Zweck  empfiehlt  Kant  3  Stufen  der 
Erziehung:  1.  dem  Zögling  ein  Urteil  darüber  beizubringen,  was  gut  und 
böse  ist ;  2.  der  Zögling  lerne  die  allgemeine  Gesetzmässigkeit  kennen, 
unter  der  die  ganze  Menschheit  steht;  3.  der  Zögling  lerne  das  moralische 
Gesetz  in  seiner  Brust  verstehen,  die  Pflicht.  Man  rede  freilich  heute 
viel  zu  viel  von  einem  Kampf  ums  Recht,  aber  zu  wenig  von  der  Pflicht. 
„So  lange  der  Mensch  eine  Pflicht  erfüllt,  so  lange  ist  er  stark  genug,  alle 
Misshelligkeiten  zu  überwinden." 

12.  In  Plauen  i.  V.  veranstaltete  der  Zweigverein  des  Evangeli- 
schen Bundes  eine  Feier  im  Freundschaftssaal,  bei  der  Pastor  prim.  Dr. 
Katzer  aus  Löbau  i.  S.  den  Festvortrag  hielt,  über  den  wir  nach  dem 
„Vogtländischen  Anzeiger"  No.  25  kurz  berichten.  Der  Redner  sprach 
über  die  beiden  Geisteshelden  Luther  und  Kant;  er  zeigte  zunächst  im 
ersten  Teile  manche  Ähnlichkeiten  des  Lebens  und  Charakters  beider  in 
kleinen  Zügen  und  Episoden;  andererseits  die  wesentlichen  Unterschiede 
in  Leben  und  Charakter.  Beide  waren  „Kampfnaturen  in  des  Wortes 
schönster  Bedeutung".  Im  zweiten  Teile  schilderte  der  Redner  die  innere 
Verwandtschaft  der  beiden  Geistesheroen.  „Beide  Männer  waren  einzig  in 
den  Grundideen  ihrer  Geistesrichtung,  in  der  Anschauung  über  die  mensch- 
liche Vernunft  und  der  Betonung  des  Willens.  Luther  und  Kant  haben 
uns  grosse  Aufgaben  hinterlassen,  an  deren  Erfüllung  wir  arbeiten  müssen." 


120  H.  Vaihinger, 

13.  In  Pirna  veranstaltete  die  Ephoralversammlung  der  Geist- 
lichen der  Umgebung  eine  Feier,  bei  welcher  Pastor  prim.  Dr,  K  atz  er 
aus  Löbau  i.  S.,  der  auch  Mitglied  der  „Kantgesellschaft"  ist,  über  die 
Philosophie  Kants  gesprochen  hat.     Ein  Bericht  liegt  nicht  vor. 

14.  In  Bonn  veranstaltete  die  Universität  eine  Feier,  w^elcher  auch 
der  Prinz  Eitel  Friedrich  anwohnte.  Die  Festrede  hielt  Professor  Dr. 
Benno  Erdmann.  Sie  ist  gedruckt  erschienen  im  Verlag  von  F.  Cohen 
in  Bonn;  die  KSt.  haben  über  dieselbe  berichtet  IX,  523.  Wir  heben  da- 
raus den  Gedanken  hervor :  entgegen  der  auf  Grund  der  heutigen  mate- 
rialistischen wirtschaftlichen  Geschichtsauffassung  entstandenen  Anschauung, 
der  zufolge  die  Geistesarbeit  selbst  der  hervorragendsten  Denker  nichts 
weiter  sei  als  der  Ausdruck  der  geistigen,  sozialen,  schliesslich  sogar  wirt- 
schaftlichen Bewegung  der  breiten  Volksmasse,  haben  wir  gerade  in  Kant 
den  überragenden  Geist  zu  verehren,  der  wie  kaum  ein  zweiter  aus  ori- 
ginaler Gedankenarbeit  heraus  auf  das  Kulturleben  der  Menschheit  ge- 
wirkt habe. 

15.  In  Kiel  veranstaltete  die  Christiana-Albertina  eine  Gedächtnis- 
feier, bei  welcher  Professor  Dr.  Götz  Martins  (Mitglied  der  „Kantge- 
sellschaft") die  Rede  hielt.  Sie  ist  gedruckt  erschienen  (bei  Lipsius  & 
Tischer  in  Kiel) ;  die  KSt.  berichten  über  sie  IX,  529  f.  Kant  habe  mit 
Recht  gesagt,  dass  er  hundert  Jahre  '^u  früh  aufgetreten  sei.  Selten  habe 
sich  ein  Wort  so  bestätigt  wie  diese  Behauptung.  Das  Dauernde  in  Kants 
Ideenwelt  komme  erst  jetzt  voll  zur  Geltung.  Kant  sei  Vollender  und 
zugleich  Zerstörer  des  Rationalismus.  Nach  Kants  Auffassung  ist  das 
Sittengesetz  nicht  von  Gott  stammend,  aber  zu  Gott  hinführend.  Alle 
Schöpfungsgeschichte  ist  Mythe;  aber  der  Schöpfungsgedanke  sei  not- 
wendig. Kant  trifft  hierin  mit  dem  Geist  des  Protestantismus  zusammen. 
Die  Kantische  Philosophie  sei  eine  Philosophie  des  Friedens,  in  der  Wissen 
und  Glauben  sich  vereinigen.  Wenn  man  sich  frage,  wie  sich  Kant  zu 
den  modernen  sozialen  Problemen  gestellt  haben  würde,  so  ist  gewiss, 
er  würde  jede  Bevorzugung  eines  Standes  nachdrücklich  verurteilt  haben. 
Aber  ebenso  sicher  hätte  er  die  positiv  sozialistischen  Ideen  abge- 
wiesen. 

16.  In  Erlangen  veranstaltete  die  Universität  eine  Feier,  bei  welcher 
Professor  Dr.  Richard  Falckenberg  (Mitglied  der  „Kantgesellschaft") 
die  Rede  hielt  (gedruckt  von  Jung  &  Sohn  in  Erlangen).  Einen  ausführ- 
lichen Bericht  brachten  die  KSt.  IX,  531  f.  Falckenberg  schildert  bes. 
eingehend  die  Vielseitigkeit  der  Impulse,  die  für  unser  ganzes  gegen- 
wärtiges Geistesleben  von  Kant  ausgegangen  sind,  und  berührte  auch 
dessen  Beziehungen  zur  Erlanger  Universität. 

17.  In  Jena  versammelte  sich  die  Universität  in  der  Kollegienkirche, 
um  den  Festvortrag  von  Professor  Dr.  Otto  Liebmann  (Mitglied  der 
„Kantgesellschaft")  zu  hören.  (Der  Vortrag  ist  erschienen  in  Strassburg 
bei  Trübner;  die  KSt.  berichten  über  ihn  IX,  525  f.)  Der  Redner  sprach 
zunächst  von  der  Bedeutung  Jenas  als  der  eigentlichen  Kantischen  Uni- 
versität und  ihrem  hervorragenden  Anteil  an  der  Ausbreitung  und  Weiter- 
fortbildung der  Kantischen  Philosophie.  Er  führte  in  die  Gedankenwelt 
Kants    ein    an    der    Hand    seiner    Hauptwerke.      Einen    stimmungsvollen 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  J21 

Schluss  gab  der  Redner  seinem  Vortrag  durch  eine  poetische  Huldigung 
für  den  grossen  Toten,  indem  er  das  in  dem  Festheft  der  KSt.  zum  Ein- 
gang   abgedruckte    Festgedicht    auf    den    12,  Februar    1904    wirkungsvoll 

vortrug. 

18.  Die  Heidelberger  Carolo-Ruperta  hielt  eine  Festfeier  am 
12.  Februar,  Abends  7  Uhr.  Die  Festfeier  wurde  eingeleitet  durch  Bachs 
Passacaglia.  Die  Festrede  hielt  Professor  Dr.  Windel  band.  Sie  ist  er- 
schienen in  Heidelberg  bei  C.  Winter;  die  KSt.  berichten  über  sie  IX, 
520  f.  In  der  Erkenntnistheorie  habe  Kant  nach  mancherlei  Umkippungen 
Stellung  gefunden  zu  dem  fundamentalen  Gegensatz  der  sinnlichen  und 
der  übersinnlichen  Welt.  In  der  Ethik  kehre  ein  ähnlicher  Gegensatz 
wieder  zwischen  Neigung  und  Pflicht.  Mit  der  Aufstellung  des  katego- 
rischen Imperativs  wird  Kant  der  siegreiche  Gegner  jener  billigen  Moral, 
die  gern  und  willig  ihren  Tugenddienst  verrichtet,  dabei  aber  die  Hand 
ausstreckt,  ob  dabei  vielleicht  noch  etwas  von  Glück  abfällt.  Niemand 
hat  vorher  höher  von  der  Würde  der  Persönlichkeit  gedacht,  und  niemals 
ist  das  Leben  der  Persönlichkeit  strenger  unter  ein  unpersönliches  Gesetz 
gebeugt  worden.  Kant  versteht  alles  wirkliche  Menschenleben  als  die  Ar- 
beit des  sittlichen  Willens,  sich  in  dem  widerstrebenden  Reiche  der 
Sinnenwelt  zu  verwirklichen.  Für  ihn  bleibt  das  Menschenlos  ein  nie 
endendes  Ringen,  kein  freudloses  Thun  oder  seufzendes  Tragen,  sondern 
die  vom  Errungenen  zu  neuem  Erringen  rastlos  fortschreitende  Selbstbe- 
thätigung.  Das  Endziel  ist  die  Gestaltung  der  Sinnenwelt  nach  den 
Zwecken  der  Vernunft  oder,  wie  Kant  sich  ausdrückt,  die  Verwirklichung 
des  Reiches  Gottes  auf  Erden. 

19.  In  Halle   feierte   die  Universität   den  Tag   durch   eine  Pestrede 
von   Professor   Dr.    Alois   Riehl    (Mitglied   der   „Kantgesellschaft")   (er- 
schienen  bei    Max   Niemeyer    in    Halle    a.  S.).      Einen    Auszug    der   Rede 
brachten    die   KSt.    IX,    526  f.     Kant  habe  noch  in  seinen  letzten  Lebens- 
tagen,   als    ihm   sein    Gedächtnis    geschwunden    sei,    neue  Werke  geplant, 
und  „tantalisch"    war   sein  Schmerz,    nicht   mehr   die  Kraft  zu  ihrer  Aus- 
führung zu  besitzen.     Aber  durch  das,    was  er  uns  hinterlassen,    ist  er  ein 
unsterblicher  Lehrer    der  Menschheit  geworden.     Was  er  selbst  einst  pro- 
phetischen Geistes  vorausgesehen  hat:  jetzt,  nach  100  Jahren,  wird  er  erst 
recht  verstunden.     Der  Ruf    „Zurück   zu  Kant!"  begann  auf  die  Anregung 
eines  Helmholtz,    der    versuchte,    die  Portschritte  des  Naturerkennens  mit 
der  Lehre  Kants  zu  verbinden.     Diese  Rückkehr  war  ein  Fortschritt,  kein 
Rückschritt.      So   wurde    der    Faden    geknüpft,    der   Naturerkenntnis    und 
Philosophie  wieder   verbinden   sollte.     Kant  habe  selbst  als  Naturforscher 
eine    Fülle    neuer    Gedanken    entwickelt.     Er  wagte  den  zweiten  Versuch 
einer   physischen  Kosmogonie    nach    Descartes.     Er  hat  die  Welt,    wie  sie 
sich  den  Sinnen    darstellt,    zuerst  geschaut,  ehe  er  die  Form  der  Anschau- 
ung  entdeckte.     In    seiner   Kr.  d.  r.  V.    kämpft    er   gegen    zwei  Fronten, 
gegen    reine  Empirie    und    gegen  Metaphysik.      Durch    die    Form    seiner 
Fragestellung   ist    er  im  Stande,    nach  beiden  Seiten  zu  siegen.    Kant  hat 
das  rechte  Verhältnis  der  Philosophie  zur  Wissenschaft  gezeigt:  die  Philo- 
sophie ergänzt   die  wissenschaftliche  Forschung,  aber  sie  ersetzt  sie  nicht. 
In  der  Autonomie  des  mit  der  Vernunft  identischen  Willens  findet  er  die 


122  H.  Vaili  inger, 

Selbstgesetzgebung.  Diese  Freiheit  der  Vernunft  bedeutet  nicht  Indeter- 
minismus, sondern  Abhängigkeit  von  objektiven  Gründen.  Im  geistigen 
Reiche  der  Sittlichkeit  waltet  das  Moralgesetz  imabhängig,  da  es  sich 
selbst  Zwecke  schafft.  Hier  kann  der  Mensch  sich  über  die  Sinnenwelt 
erheben ;  er  zwingt  sie  zu  seinen  Füssen  durch  die  sittliche  Persönliclikeit, 
die  ihm  allein  durch  die  Vernunft  zukommt.  Diese  Persönlichkeit  ist  der 
wahre  Wille  zur  Macht.  Die  Moralphilosophie  eines  Nietzsche,  die  wie 
ein  Gewitter  sich  über  veraltete  Anschauungen  entlade,  lenke  die  Blicke 
zurück  zur  Erforschung  des  sittlichen  Bewusstseins,  zurück  zu  Kant. 

Die  Philosophische  Gesellschaft  zu  Halle  a.  S.  (Akad.  Verein) 
veranstaltete  an  demselben  Abend  eine  Feier,  bei  welcher  Privatdozent 
Dr.  Bruno  Bauch  (Mitglied  der  „Kantgesellschaft")  den  Festvortrag 
hielt  über  die  Persönlichkeit  Kants.  Der  Vortrag  ist  gedruckt  erschienen 
in  der  Festschrift  der  KSt.  IX,  196-210. 

Eine  Nachfeier  veranstaltete  die  Lateinische  Hauptschule  der 
Franck eschen  Stiftungen,  indem  bei  der  Feier  zur  Entlassung  der  Abitu- 
rienten am  27.  Februar  Direktor  Dr.  Rausch  (Mitglied  der  „Kantgesell- 
schaft") eine  Rede  hielt,  in  welcher  er  den  scheidenden  Jünglingen  die 
Lebensbilder  der  grossen  Philosophen  „Sokrates  und  Kant"  vorführte.  Die 
Rede  ist  gedruckt  in  den  „Deutsch-evangelischen  Blättern",  Mai  1904  und 
auch  separat  erschienen  im  Verlag  von  E.  Strien  in  Halle  a.  S.  In  knappen 
Zügen  wies  Rausch  auf  den  Parallelismus  in  Leben  und  Lehre  dieser  Männer 
hin.  Er  verglich  die  Perikleische  Zeit,  in  welcher  Sokrates  erstand,  mit 
der  Fridericianischen,  welcher  Kant  entstammte.  Er  verglich  den  Prozess 
gegen  den  70jährigen  Sokrates  mit  dem  Zensurkonflikt  Kants  und  dem 
Einschreiten  des  Ministers  Wöllner  und  des  Königs  Friedrich  Wilhelm  II. 
gegen  Kant  und  wies  auch  darauf  hin,  wie  beide  im  Einklang  mit  ihrer 
Lehre,  ohne  sich  etwas  zu  vergeben,  sich  willig  der  Aiitorität  des  Staates 
fügten,  führte  weiter  aus,  wie  beide  mit  den  scharfen  Waffen  der  Kritik 
das  Schein-  und  Halbwissen  ihrer  Zeit  bekämpften.  In  beiden  zeigt  sich 
endlich  der  Gegensatz  von  Wissenschaft  und  Religion  versöhnt,  so  dass 
sie  auch  der  heutigen  Jugend  treue  Führer  durchs  Leben  sein  können. 

Eine  weitere  Nachfeier  des  100jährigen  Todestages  Kants  fand  in 
HaUe  statt  am  22.  April,  dem  Geburtstage  Kants.  An  diesem  Tage  wurde 
die  konstituierende  Versammlung  der  Kantgesellschaft  abgehalten,  zu 
welcher  im  Festheft  der  KSt.  IX,  1|2,  S.  344  ff.  ein  Aufruf  „An  die 
Freunde  der  Kantischen  Philosophie"  ergangen  war.  Die  Festfeier  begann 
mit  einer  Begrüssungsrede  von  Professor  Vaihinger,  in  welcher  derselbe 
auf  die  nahen  Beziehungen  zwischen  Kant  einerseits  und  HaUe  anderer- 
seits hinwies.  Er  erinnerte  zunächst  an  die  rein  äusserlichen  Zufälle,  dass 
Kant  zweimal  durch  den  Minister  von  Zedlitz  nach  Halle  berufen  wurde, 
ohne  diesem  Rufe  zu  folgen,  sowie  daran,  dass  die  Kr.  d.  r.  V.  in  Halle 
in  der  Gebauer-Schwetschkeschen  Buchdruckerei  gedruckt  worden  ist. 
In  HaUe  erstand  der  Kantischen  Philosophie  zunächst  ihr  heftigster 
Gegner,  der  Vertreter  des  Leibnizschen  Dogmatismus,  Eberhard.  Aber 
nach  kurzem  Kampfe  siegte  auch  in  Halle  wie  anderwärts  die  Kantische 
Philosophie  und  fand  in  Jakob,  Maass,  Beck,  Niemeyer  und  Anderen  ener- 
gische und  einflussreiche  Vertreter,  und  jetzt  ist  in  Halle,  nachdem  schon 


Das  Kantjubilänm  im  Jahre  1901.  l2o 

Haym  immer  auf  Kant  hingewiesen  hatte,  die  Kantische  Philosophie  mehr- 
fach vertreten.  —  Nach  dem  Vortrag  der  Sonate  op.  1  von  J.  Fr.  Herbart, 
dem  Nachfolger  auf  Kants  Lehrstuhl  in  Königsberg,  wurde  der  bis  dahin 
gesammelte  Fonds  der  Kantstiftung  in  der  Höhe  von  15000  M.  an  den 
Kurator  der  Universität  Halle,  Geh.  Reg. -Rat  G.  Meyer  übergeben.  Es 
folgte  darauf  der  Festvortrag  von  Privatdozeut  Dr.  B.  Bauch  ,,Kant  und 
die  deutschen  Dichterfürsten".  Über  die  darauf  erfolgte  Konstitution  der 
KantgeseUschaft  haben  die  KSt.  IX,  3/4,  S.  568  ff.  berichtet.  Mit  der 
Feier  war  eine  Kantausstellung  verbunden :  Kantautographen,  Kantbilder, 
Kantbüsten,  erste  Drucke,  Festschriften  u.  s.  w.  (vgl.  den  Bericht  über 
dieselbe  in  der  Saale-Zeitung  vom  25.  April  1904,  No.  192). 

Noch  eine  dritte  Nachfeier  fand  schliesslich  am  Ende  des  Jubiläums- 
jahres in  Halle  statt,  indem  der  Vortragsclub  „Vespertina"  sich  am  9.  De- 
zember durch  Professor  Dr.  Uphues  entwickeln  Hess,  „Was  wir  von  Kant 
lernen  können".    Die  Rede  erscheint  im  Druck. 

20.  In  Würzburg  veranstaltete  die  Alma  Julia-Universität  einen 
Festaktus,  bei  welchem  zunächst  der  Prorektor  Professor  Dr.  Kunkel  eine 
einleitende  Ansprache  hielt.  Die  Festrede  war  Professor  Dr.  Külpe  über- 
tragen. Beide  Reden  liegen  gedruckt  vor  (Würzburg,  H.  Stürtz);  s.  den 
Bericht  der  KSt.  IX,  529.  Es  wurde  bei  der  Gelegenheit  daran  erinnert, 
dass  an  der  Würzburger  Universität  zuerst  die  Kantische  Erkenntnislehre 
zum  Gegenstand  einer  eigenen  Disziplin  gemacht  wurde.  Der  Fürstbischof 
Franz  Ludwig  von  Erthal,  ein  begeisterter  Anhänger  der  Kantischen  Phi- 
losophie, entsandte  im  Jahre  1792  eigens  den  Prof.  Matern  Reuss  (vom 
Orden  der  Franziskanerminoriten)  nach  Königsberg,  um  die  Kantische 
Lehre  an  der  Quelle  zu  studieren  und  später  in  Würzburg  vorzutragen. 
Später  wirkte  in  Würzburg  im  Sinne  des  Kantischen  Rationalismus  der 
Philosoph  Paulus. 

21.  Die  Universität  Marburg,  an  welcher  seit  Jahrzehnten  das  Kant- 
studium durch  den  Einfluss  Friedrich  Albert  Langes,  Cohens  und  Natorps 
ja  besonders  blüht,  veranstaltete  eine  Feier,  bei  welcher  Professor  Cohen, 
eilig  von  der  Königsberger  Feier  zurückkehrend,  die  Festrede  hielt.  Die- 
selbe ist  gedruckt  (Marburg,  Elwert),  einen  Auszug  brachten  die  KSt. 
IX,  527. 

22.  Die  Universität  Breslau  veranstaltete  eine  Feier,  bei  welcher 
die  Festrede  dem  Professor  Dr.  Freudenthal  übertragen  war.  Die  Fest- 
rede liegt  gedruckt  vor  (Breslau,  Marcus);  die  KSt.  haben  über  sie  be- 
richtet IX,  524. 

23.  Die  Universität  München  feierte  den  Tag  durch  eine  Rede  von 
Professor  Dr.  Lipps,  welche  in  der  Monatsschrift  „Deutschland"  II,  673  ff . 
gedruckt  vorliegt.    Vgl.  den  Bericht  der  KSt.  IX,  522  f. 

24.  In  Posen  veranstaltete  die  Akademie  eine  Feier,  bei  welcher 
der  Rektor,  Professor  Dr.  Eugen  Kühne  mann  (Mitglied  der  „Kantgesell- 
schaft"), den  Vortrag  hielt.  Derselbe  ist  abgedruckt  im  „Kunstwart"  XVII, 
Heft  11,    S.  618-627.    Vgl.    den  Bericht   in  den  KSt.  IX,  522.     Die  Feier 

,  begann  mit  dem  Trauermarsch  aus  der  Eroica  imd  schloss  mit  dem  Largo 
von  Händel. 


124  H.  Vailiinger, 

25.  In  Leipzig  veranstalteten  die  Geistlichen  der  Ephorie  Leipzig  II 
auf  ihrer  Jahreskonferenz  am  13.  Juni  1904  eine  Art  Nachfeier,  indem 
Pfarrer  Dr.  F.  Schnedermann  einen  Vortrag  hielt:  „die  bleibende  Be- 
deutung Kants,  in  einigen  Hauptpunkten  gezeichnet*'.  Der  Vortrag  ist 
im  Verlag  der  J.  C.  Hinrichschen  Buchhandlung  in  Leipzig  erschienen. 

26.  In  Wittenberg  veranstaltete  der  Vorstand  des  Paul  Gerhard- 
Stiftes  am  14.  Januar  in  der  Aula  des  Melanchthon-Gymnasiums  eine  Ver- 
sammlung, in  welcher  Professor  D.  Reischle  (Mitglied  der  „Kantgesell- 
schaft") aus  Halle  einen  populären  Vortrag  hielt  über  das  Thema  „Kant 
und  unsere  Zeit".  Er  betrachtete  den  Satz  „Erkenne  dich  selbst"  als  das 
Grundthema  der  Kantischen  Philosophie  und  berührte  zum  Schluss  die 
Beziehungen  zwischen  Kant  und  Luther. 

27.  In  Chemnitz  wurde  am  iß.  April  auf  der  sächs.  kirchlichen  Kon- 
ferenz ein  Gedächtnisvortrag  von  Professor  D.  Reischle  aus  Halle  a.  S. 
gehalten :  Kant  und  die  Theologie  der  Gegenwart,  wobei  sich  an  der  De- 
batte nachher  Pastor  prim.  Dr.  Katzer  und  D.  Mehlhorn  beteiligten.  Der 
Vortrag  ist  gedruckt  in  der  Zeitschrift  f.  Theol.  u.  Kirche,  hrsg.  von  Prof. 
D.  Gottschick  XIV,  5,  357-388. 

28.  In  Braunschweig  veranstaltete  die  Ulrici-Gemeinde  einen  Ge- 
meindeabend zur  Säkularfeier,  bei  welcher  Professor  Dr.  Alexander 
Wernicke  (Mitglied  der  „Kantgesellschaft)  einen  populären  Vortrag  hielt. 

29.  In  Görlitz  veranstaltete  die  naturforschende  Gesellschaft  eine 
Feier,  bei  welcher  dem  Dr.  W.  Lorey  der  Festvortrag  übertragen  war. 
„Zur  Erinnerung  an  Kant".  Der  Vortrag  liegt  im  Druck  vor  in  den  Abh. 
d.  naturf.  Ges.  zu  Görlitz,  Bd.  XXIV. 

30.  In  Paris  veranstaltete  die  Societe  fran^aise  de  Philosophie  (Ad- 
ministrateur :  M.  Xavier  Leon,  Secretaire  general ;  M.  Andre  Lalaude)  am 
20.  März  in  der  Sorbonne  im  „Amphitheätre  Descartes"  eine  „Seance  com- 
memorative  sous  le  pati'onage  du  conseil  de  l'universite  de  Paris  et  sous 
la  presidence  de  M.  L.  Liard,  Vice-Recteur".  Auf  diese  Weise  erhielt  die 
Sitzung  „une  sorte  de  consecration  officielle".  M.  Liard  eröffnete  die 
Sitzung  mit  einigen  Worten  und  bemerkte  u.  a.:  „Comme  notre  Descartes, 
Kant  a  ete  un  de  ces  genies  dont  l'action  franchit  vite  les  limites  de  leur 
pays  d'origine,  pour  s'etendre  ä  tous  les  pays  oü  l'on  pense,  et  se  faire 
sentir  dans  tous  les  domaines  de  la  philosophie  et  de  la  science".  Die 
Gesellschaft  hatte  ihre  Mitglieder  Couturat,  Boutroux  und  Delbos  beauf- 
tragt, „d'etudier  la  portee  de  la  Critique  de  la  Raison  pure  speculative, 
de  la  Critique  de  la  Raison  pratique,  de  la  Critique  de  la  Faculte  de 
juger,  d'examiner  ainsi  la  triple  assise  de  la  philosophie  critique  qui  a 
penetre  au  XIXe  siecle  la  conscience  intellectuelle  et  la  conscience  morale 
de  l'humanite,  qui  a  exerce  en  particulier  une  influence  decisive  sur  l'evo- 
lution  de  la  pensee  fran^aise".  Infolge  dessen  sprachen  Couturat  über 
„Kant  et  la  Mathematique  moderne",  Boutroux  (Mitglied  der  „Kantge- 
sellschaft") über  „La  Morale  de  Kant  et  le  temps  present"  und  Delbos 
(Mitglied  der  „Kantgesellschaft")  über  „Les  Harmonies  de  la  pensee 
kantienne  d'apres  la  Critique  de  la  Faculte  de  juger".  Die  Reden  sind 
gedruckt  in  dem  „Bulletin  de  la  Societe  fran^aise  de  Philosophie"  IV, 
No.  5,  Mai  1904  (Paris,  Armand  Colin). 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  125 

Auch  die  Pariser  Friedensgesellschaft  benützte  die  Gelegen- 
heit ihres  jährlichen  Banketts  am  22.  Februar  im  Hotel  des  Societes 
savantes  unter  dem  Vorsitz  von  Frederic  Passy,  Mitglied  derAcademie 
des  Sciences  morales  et  politiques,  „um  den  Arbeiten  und  dem  Gedächt- 
nis Kants  eine  Ehrung  zu  erweisen,  der  vor  nunmehr  einem  Jahrhundert 
der  hauptsächlichste  Vertreter  der  Ideen  war,  die  vertreten  zu  haben  wir 
uns  zur  Ehre  anrechnen". 

31.  In  Brüssel  stellte  am  12.  Februar  in  der  belgischen  Kammer 
der  Professor  Denis  einen  Antrag  zu  einer  Ehrung  Kants  seitens  der 
ganzen  belgischen  Kammer,  indem  er  auf  die  universelle  Bedeutung  Kants 
und  speziell  auf  sein  Werk  „Zum  ewigen  Frieden"  hinwies.  Der  Sozialist 
van  der  Velden  unterstützte  den  Antrag.  Der  klerikale  Kammerpäsident 
Woeste  widersprach  dem  Antrag,  da  Kant  ein  Feind  der  Religion  gewesen 
sei.  Infolge  dessen  fiel  der  Antrag  durch  die  Gegnerschaft  der  Kleri- 
kalen durch. 

Dagegen  hielt  in  derselben  Stadt  Professor  G,  Dwelshauvers  in 
der  unter  den  Brü.sseler  höheren  Lehranstalten  am  meisten  besuchten 
„Universite  populaire"  der  Stadt  eine  zweistündige  Rede  über  Kant.  Das 
Publikum  war  sehr  zahlreich,  der  Andrang  grösser  als  der  verfügbare 
Raum.  Eine  Zusammenfassung  des  Vortrags  hat  der  Redner  in  der 
Jugendzeitschrift  „La  Jeunesse  Laique"  (Tournai)  gegeben,  in  der  „Nu- 
mero de  Floreal",  No.  11,  unter  dem  Titel:  „Kant  et  le  rationalisme". 

32.  In  Kopenhagen  hielt  Professor  Hoff  ding  in  der  königl.  däni- 
schen Gesellschaft  der  Wissenschaften  einen  Vortrag  zur  Erinnerung  an 
Kant,  welcher  in  den  Abhandlungen  der  Gesellschaft  vom  Jahre  1904, 
Heft  1,  S.  13-21,  abgedruckt  Ist.  Einen  Auszug  der  Rede  brachten  die 
KSt.  IX,  535. 

Ferner  hielt  in  Kopenhagen  Privatdozeut  Dr.  A.  Thomsen  (Mitglied 
der  „Kantgesellschaft")  einen  Festvortrag,  welcher  in  der  Teologisk  Tids- 
skrift  V,  273  f.  gedruckt  ist.     Vgl.  den  Bericht  der  KSt.  IX,  536  f. 

33.  In  Genf  veranstaltete  die  Universität  eine  offizielle  Feier,  bei 
welcher  Professor  Th.  Flournoy  die  Festrede  hielt. 

84.  In  Lemberg  wurde,  wie  schon  im  vorigen  Heft  S.  568  berichtet 
worden  ist,  am  12.  Februar  zur  Feier  des  Tages  die  „Polnische  Philoso- 
phische Gesellschaft"  begründet.  Nach  der  Eröffnungsrede  durch  den 
Vorsitzenden  Professor  Dr.  Twardowski  hielt  Professor  Dr.  Chmie- 
lowski  die  Festrede:  „Kant  in  Polen". 

35.  In  Ithaca  (N.  Y.)  veranstaltete  die  Cornell  University  ein 
Commemorative  meeting.  Professor  Ernest  Albee  sprach  über  Kants 
Leben  und  Werk,  Professor  J.  E.  Creighton  (Mitglied  der  „Kantgesell- 
schaft") über  die  Prinzipien  der  kritischen  Philosophie  und  Professor 
MacGilvary  über  Kants  Beitrag  zur  Ethik. 

36.  In  Berkeley  veranstaltete  an  der  University  of  California 
die  Philosoph ical  Union,  „desiring  to  join  in  this  general  recognition 
of  the  important  Services  rendered  to  the  cause  of  philosophy  by  the 
greatest  philosopher  of  the  modern  world"  ein  „special  meeting"  in  dem 
„Philosophy  Building"  unter  dem  Vorsitz  von  Professor  Gayley.  Professor 
Howison,   Mitglied   der   „Kantgesellschaft",    hielt    die   „commemoration 


126  H.  Vaihinger, 

address"  über  Kants  Vermächtlnis  an  die  Philosophie  in  Resultaten  und 
Problemen.  Die  „Philosophical  Union",  welche  dieses  Meeting  veranstaltet 
hat,  ist  infolge  dieser  Kantfeier  nachher  selbst  auch  als  Korporation 
Dauermitglied  der  „Kantgesellschaft"  geworden. 

37.  In  St.  Louis  (Mo.)  veranstaltete  die  1886  gegründete  Ethical 
Society  eine  grosse  Kantfeier.  Der  Lecturer  W.  L.  Sheldon  gab  eine 
kurze  Biographie  Kants;  ausser  ihm  sprachen  folgende  Herren:  Professor 
Frank  Thilly  (University  of  Missouri),  Professor  0.  A.  Lovejoy 
[Washington  University),  Dr.  Max  Hempel,  Rev.  George  R.  Dodson, 
Rev.  James  W.  Lee,  Professor  F.Louis  Soldan.  Am  Schluss  wurde  eine 
Sammlung  veranstaltet  für  unsere  Hallische  Kantstiftung  (the  Kant  Me- 
morial Fund)  durch  Professor  Lovejoy.  Diese  Sammlung,  an  der  sich  12 
Beitragende  beteiligten,  gab  ein  sehr  erfreuliches  Resultat  (vgl.  den  Be- 
richt über  die  Kant-Gesellschaft  am  Schluss  dieses  Heftes). 

38.  In  Washington  (D.  C.)  widmete  die  Society  for  Philoso- 
phical Inquiry  ihr  „Meeting"  vom  16.  Februar  to  the  Kant  Centennial. 
Vorträge  wurden  gehalten  von  dem  Vorsitzenden  der  Gesellschaft,  Pro- 
fessor J.  Macbride  Sterrett  über  den  Neukantianismus,  von  Mr.  Wm.  M. 
Coleman  über  Kants  politische  Lehren,  von  Professor  Edw.  S.  Steel e 
über  Kants  Logik,  von  Red.  Dr.  Frank  Sewall  über  Kants  transscenden- 
talen  Idealismus. 

39.  Die  Universität  von  Alabama  in  Tuscaloosa  hielt  in  dem 
physikalischen  Laboratorium  unter  dem  Vorsitz  des  President  Abrecrombie 
als  Chairman  folgende  „exercises"  ab:  Professor  Dr.  E.  F.  Buchner, 
welcher  durch  sein  1896  erschienenes  Werk  über  Kants  Psychologie  sowie 
durch  sein  vor  kurzem  erschienenes  Buch  über  Kants  Pädagogik  sich  als 
Kenner  Kants  erwiesen  hat,  sprach  über  das  Leben  Kants  und  über  seinen 
Einfluss  auf  die  Philosophie;  Dr.  H.  A.  Sayre  sprach  über  Kants  Anteil 
an  der  Astronomie  und  der  Naturwissenschaft;  Dr.  J.  Y.  Graham  be- 
handelte Kants  Beitrag  zur  Entwickelungstheorie ;  Prof.  T.  W.  Palm  er 
erörterte  Kants  Verhältnis  zur  Entwickelung  der  Mathematik;  Mrs.  J.  Y. 
Graham  endlich,  eine  geborene  Deutsche,  fand  grosses  Interesse  für  ihren 
Vortrag  über  Kant  als  Faktor  in  der  deutschen  Litteratur.  Vgl.  den  Be- 
richt der  Tuscaloosa-Times-Gazette  vom  13.  Februar  1904,  welche  einen 
Artikel  enthält  zu  Ehren  des  „master  thinker"  als  „the  most  brilliant 
figure  in  that  group  of  men  who  made  the  inner  life  of  man  capable  of 
profound  analysis." 

40.  In  Warschau  ist  die  Kantfeier  durch  den  an  der  Universität 
bestehenden  Verein  für  Geschichte,  Philologie  und  Rechtswissenschaft 
begangen  worden.  Am  13.  Februar  fand  eine  besondere  Festsitzung  statt. 
Prof.  Bobroff  sprach  über  das  Leben  und  die  Werke  Kants  und  über 
das  Schicksal  seiner  Philosophie;  Herr  Flaksberge r  über  Kants  philo- 
sophische und  naturwissenschaftliche  Ansichten ;  Privatdozent  Spectorski 
über  die  Bedeutung  der  Philosophie  Kants  für  die  GesellschaftSA\ässenschaft 
und  Privatdozent  Taranowski  über  historische  Beziehungen  der  Theorien 
Kants  und  des  „Rechtsstaates". 

41.  In  London  hielten  die  Mitglieder  der  Britischen  Akademie  eine 
Gedächtnisfeier   ab.     Vorsitzender   war   Lord   Reay.     Die  Festrede   hielt 


Das  Kantjubiläutn  im  Jahre  1904.  127 

Shadworth  Hodgson.  Verschiedene  Männer  von  hohem  Rang  waren 
zugegen;  der  deutsche  Botschafter  hatte  sein  Bedauern  ausgesprochen, 
wegen  Abwesenheit  von  London  nicht  teilnehmen  zu  können. 

42.  In  Chicago  veranstaltete  die  Universität  einen  Festakt,  der  die 
Bedeutung  Kants  für  die  verschiedensten  Zweige  des  Kulturlebens  illust- 
rieren sollte.  Ein  Theologe,  Dr.  Foster,  sprach  über  Kants  Einfluss 
auf  die  Theologie;  Dr.  Moore  von  der  naturwissenschaftlichen  Abteilung 
über  Kants  Einfluss  auf  die  Naturwissenschaft;  Dr.  Schnitze,  Vertreter 
der  deutschen  Litteratur,  über  Kants  Ästhetik;  Dr.  Merriam  von  der 
Abteilung  für  politische  Wissenschaften  über  Kants  Bedeutung  für  dieses 
Gebiet;  Dr.  Dewey  endlich  über  Kants  Bedeutung  für  die  Pliilosophie. 
Die  Feier  verlief  sehr  eindrucksvoll,  um  so  mehr,  als  sämtliche  Redner  in 
ihrer  Hochschätzung  Kants  übereinstimm.ten,  so  dass  sich  durch  die  Ver- 
schiedenheit der  Gesichtspunkte  hindurch  ein  einheitliches  Bild  ergab. 

43.  In  New-York  hielt  an  der  Columbia  University  Professor  Felix 
Adler  eine  Gedächtnisrede  über  Kants  Leben  und  Philosophie. 

44.  In  Kasan  veranstaltete  die  (zur  Universität  gehörige)  Physico- 
mathematische  Gesellschaft  am  13.,  26.  März  eine  öffentliche  Feier.  Die 
Festrede  hielt  Privatdozent  Dr.  Wl.  Iwanovsky  (Mitglied  der  „Kantge- 
sellschaft") „I.  Kant  zum  Gedächtnis".  Die  Rede  ist  gedruckt  in  den 
„Nachrichten  der  Physico-mathematischen  Gesellschaft  an  der  Kaiserl. 
Universität  zu  Kasan". 

45.  In  Strassburg  1.  E.  hielt  der  naturwissenschaftlich-medizinische 
Verein  im  Juni  eine  Sitzung,  in  welcher  Sanitätsrat  Dr.  med.  H.  Kröll 
„die  Grundzüge  der  Kantischen  und  der  physiologischen  Erkenntnistheorie" 
entwickelte.  Die  Rede  ist  u.  d.  T.  im  Druck  erschienen  bei  L.  Beust  in 
Strassburg  i    E. 

46.  In  Neapel  hielt  in  der  „Reale  Academia  di  Scienze  morali  e 
politiche"  deren  Mitglied  Professor  Dr.  Filippo  Masci  einen  „Discorso 
commemorativo,  pronunciato  nella  ricorrenza  dei  primo  centenario  Kan- 
tiana".  Der  Vortrag  ist  (mit  dem  Döblerschen  Kantbild  geschmückt)  im 
Druck  erschienen  in  den  Atti  chella  Academia  etc.,  Vol.  XXXV,  und  ist 
auch  separat  erschienen  (59  Seiten). 

47.  In  Lauban  in  Schlesien  veranstaltete  der  „Wissenschaftliche 
Verein"  eine  Feier,  bei  welcher  Gymnasialoberlehrer  Otto  Richter  über 
Kants  Lehre  von  „Glauben  und  Wissen"  sprach.  Der  Vortrag  ist  gedruckt 
in  Webskys  Protestantischen  Monatsheften,  8.  Jalirg.,  Heft  3. 


II.     Festpublikationen. 

Es  sind  aus  Anlass  des  Jubiläums  sowohl  in  Verbindung  mit  den 
oben  geschilderten  Festfeiem  als  unabhängig  davon  eine  Reihe  von  Publi- 
kationen erschienen,  teils  Sammelschriften,  teils  Einzelschriften,  teils  Zeit- 
schriften- und  Zeitungsartikel.  Diejenigen  Publikationen,  welche  mit  Fest- 
feiern in  Verbindung  stehen,  sind  schon  oben  aufgezählt,  und  meistens 
kurz  charakterisiert  worden.     Über  die  meisten  Anderen  werden  die  KSt, 


128  H.  Vaihingen, 

voraussichtlich  noch  später  eingehende  Berichte  bringen,  weshalb  hier  vor- 
läufig nur  ihre  Titel  aufgezählt  werden.  Von  Anderen  dagegen  werden 
schon  jetzt  Auszüge  gegeben ;  es  gilt  dies  speziell  von  den  33  Artikeln  in 
Tageszeitungen,  mit  deren  Aufzählung  begonnen  wird.  Gerade  diese 
Kinder  der  Tageslitteratur,  welche  gestern  empfangen  sind,  heute  geboren 
werden,  um  morgen  wieder  in  dem  Alles  vei'schlingenden  Orkus  zu  ver- 
sinken, geben  ein  anschauliches  Bild  der  allgemeinen  Beteiligung  an  der 
Festfeier  in  allen  Kreisen  und  Teilen  Deutschlands,  und  der  Gedanken, 
welche  in  verschiedenartigster  Ausprägung  an  den  Jubiläumstag  geknüpft 
worden  sind,  sowie  auch  überhaupt  des  geistigen  Höhenstandes  der  deut- 
schen Journalistik.  Unter  diesen  Tageserzeugnissen,  von  denen  aber  natur- 
gemäss  nur  die  wenigsten,  aber  doch  wohl  die  bedeutendsten  der  Redak- 
tion der  KSt.  bekannt  geworden  sind,  sind  z.  Tl.  sehr  bemerkenswerte 
Äusserungen  bekannter  und  auch  weniger  bekannter  Autoren ;  diese 
Stimmen  würden  für  immer  verrauschen,  wenn  sie  nicht  hier  dauernd 
fixiert  würden,  um  auch  ferneren  Zeiten  ein  Bild  unserer  Tage  und  spe- 
ziell jenes  Jubiläumtages  zu  geben.  Anders  ist  es  mit  den  in  Zeitschriften 
sowie  in  Buchform  erschienenen  Äusserungen,  welche  naturgemäss  mehr 
Chancen  haben,  auf  die  Nachwelt  zu  kommen,  über  welche  die  KSt.  aber 
auch,  wie  gesagt,  thunlichst  noch  speziellere  Referate  bringen  werden, 
soweit  der  Raum  dazu  vorhanden  ist. 

A.    Festartikel  in  Tageszeitungen. 

Achelis,  Th.  Zum  Andenken  Kants.  Hamburgischer  Correspondent 
No.  71  [wiederholt  im  Sonntagsblatt  der  New-Yorker  Staatszeitung 
7.  Februar  1904.     Mit  Abbildung]. 

Bartning,  A.  Kant,  sein  Werk  und  seine  Bedeutung  für  die  Gegen- 
wart.   Grazer  Tagespost  No.  43. 

Bauch,  B.  Kant  und  unsere  Dichterfürsten.  Beil.  zur  Allg.  Zeitung 
No.  47.     München,  26.  Februar  1904. 

[Gar ring.]  Kant.  "Volksblatt  für  Harburg,  Wilhelmsburg  und  Umgegend 
No.  36. 

Clemens,  F.  Der  Weise  von  Königsberg.  Minden-Lübbecker  Kreis- 
Blatt  No.  35  [wiederholt  im  3.  Beiblatt  z.  d.  Düsseldorfer  Neuesten 
Nachrichten  No.  36.     Mit  Abbildung]. 

Dessoir,  M.     Kant.     „Der  Tag",  1904,  No.  71  (mit  Abbildung  in  No.  73). 

Drill,  R.  Der  Weise  von  Königsberg.  Mit  6  Abbildungen.  Tägliches 
Unterhaltungsblatt  zur  Dortmunder  Morgenpost.     12.  Februar  1904. 

Frick,  A.  Kant.  Gladbacher  Zeitung,  78.  Jahrg.,  No.  35  [wiederholt  in 
der  Ostdeutschen  Volkszeitung,  Insterburg,  12.  Februar  1904,  sowie  im 
Leerer  Anzeigeblatt,  13.  Februar  1904]. 

Frisch,  H.  Der  Lehrer  der  reinen  Vernunft.  Ein  Gedenkblatt.  Allge- 
meine Zeitung,  Wittenberg,  12.  Februar  1904. 

Frommel,  O.     Immanuel  Kant.     Hallesche  Zeitung,  Jahrg.  197,  No.  71. 

Gensch,  B.  Der  Philosoph  von  Königsberg.  „Für  Alle",  Beilage  z. 
General-Anzeiger  für  Mülheim  a.  d.  Ruhr.     19.  Februar  1904. 

Grimm.  Immanuel  Kant  und  sein  Werk.  Wiss.  Beilage  der  Leipziger 
Zeitung  No.  18. 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  129 

Goldschmidt,  L.     Immamiel  Kant.    Frankfurter  Zeitung  No.  40  und  41. 
Goldstein,  L.  Kants  Wohnhaus  in  Königsberg.  Frankfurter  Zeitung  No.  41. 
Hoff  mann,  A.    Immanuel  Kant.     Saale-Zeitung,  Halle  a.  S.  No.  72. 
Joel,  K.     Zu  Kants  Gedächtnis.     Basler  Nachrichten  No.  38. 
Kappstein,  Th.     Immanuel  Kant.     Heilbronner  Unterhaltungs-Blatt,  Bei- 
lage zur  Neckar-Zeitung,  11.  Februar  1904  [wiederholt  im  Frankfurter 
General-Anzeiger  No.  36  (mit  Bildnis),  sowie  in  der  Breslauer  Morgen- 
Zeitung  No.  71  (mit  Bildnis)]. 
—  Kant  und  wir.    N.  Hamburger  Zeitung  No.  70. 

Kleinpeter,  H.     Immanuel  Kant.     Linzer  Tagespost,  14.  Februar  1904. 
Kreus ebner,    K,  R.     Immanuel  Kant.     Chemnitzer  Neueste  Nachrichten 

No.  32  und  34. 
Lagenpusch,  Emil,  Dr.,  Über  Kants  Leben  undLehre.    Rede.    Memeler 

Dampfboot  No.  50  (2,  Beil.). 
Lasson,  A.     Immanuel  Kant.     Berliner  National-Zeitung  No.  95. 
Lasswitz,    Kurd.     Kant    und    Goethe.      Eine  Betrachtung   zur  Weltan- 
schauung  zur  100.  Wiederkehr  von  Kants  Todestag.     „Der  Zeitgeist", 
Beiblatt  zum  „Berliner  Tageblatt",  8.  Februar  1904. 
Mauthner,    F.    Nach    der  Kant-Feier.     Aus  den  neuen  Totengesprächen. 

Berliner  Tageblatt  1904,  No.  160  (28.  März). 
Ortner,    M.     Kant    in  Österreich.     Ein  Gedenkblatt.     Wiener  Neue  Freie 

Presse,  No.  14178. 
Rudolph,  F.     Immanuel  Kant.     Baseler  National-Zeitung,  12.  Febr.  1904. 
Sc  heier,    M.     I.  Kant  und  die  moderne  Kultur.     Ein  Gedenkblatt.     Beil. 

z.  AUg.  Zeitung,  München,  12.  Februar  1904. 
Schmid,    F.  A.     Kant  und  seine  Zeitgenossen.     Beilage  z.  Allg.  Zeitung, 

München,  13.  Mai  1904. 
Schultze,   F.    Kants  letzte  Stunden  und  Begräbnis.    Dresdner  Anzeiger, 

174.  Jahrg.,  No.  41. 
Schultze,    Fritz,    Professor,    Über   Kants    philosophische  That  und  ihre 
Bedeutung   für   unsere    Zeit.      Festrede   im  Dresdener  Polytechnikum. 
Sonntagsbeilage  zum  Dresdener  Anzeiger  1904,  No.  7  (14.  Februar). 
Simmel,    G.      Kant    und    der   Individualismus.      Vossische  Zeitung  1904, 

No.  7  (6.  Januar). 
Simon,    Th.     Immanuel   Kant.      Unterhaltungsbeil.    z.    Tägl.    Rundschau, 

Berlin,  11.,  12.,  15.  Februar  1904. 
Tocco,  F.     Kant  und  Spencer.     Königsberger  Hartungsche  Zeitung  No.  74. 
Wenck,    M.     Immanuel    Kant.     Mit   2  Abbildungen.     General-Anzeiger  f. 

Leipzig  und  Umgebung,  No.  43. 
Werner,  E.     Kants  Witz  und  Humor.     Grazer  Tagespost  No.  42. 
Ziegler,  Th.     Kant.     Münchener  Neueste  Nachrichten,  No.  69  und  70. 

Hierzu  kommen  noch  die  Festartikel  der  5  Königsberger  Tages- 
zeitungen, welche  schon  in  No.  I  (S.  111—112)  aufgezählt  und  zum  Teil 
kurz  charakterisiert  worden  sind. 

Achelis  erhebt  die  Frage :  Was  kann  uns  Kant  sein  gegenüber  dem 
Zerfallen  der  Wissenschaften  in  einzelne  auseinanderstrebende  Tendenzen  ? 
Was  bedeutet  er  ganz  allgemein  für  unsere  Weltanschauung  und  Kultur? 

Kantstudien  X.  9 


130  H.  Vaihin^ef ,  \ 

Der  entscheidende  Punkt,  welcher  Erkenntnistheorie,  Ethik  und  Ästhetik 
Kants  mit  einander  verknüpf  t,  ist  der:  alle  Wirklichkeit,  von  einer  letzten, 
umfassenden  Warte  aus  gesehen,  bildet  ein  in  sich  zusammenhängendes 
Stufenreich  von  Zwecken,  auf  deren  höchster  Staffel  die  volle  sittliche 
Persönlichkeit  des  Menschen  steht.  Kant  hat  gegenüber  der  schlaffen 
Moral  des  18.  Jahrhunderts  die  Unvergänglichkeit  allgemeiner  Werte  ent- 
deckt, die  Sphäre  des  Ideals,  dessen,  das  freilich  noch  nicht  ist  und  nie 
so  werden  wird,  wie  wir  es  uns  vorstellen,  der  Werte,  die  all  unser  Thun 
regeln,  oder  in  seiner  Schulsprache  :  den  Primat  der  praktischen  Vernunft 
vor  der  theoretischen,  den  Vorrang  des  Ethischen  vor  dem  Logischen. 
Ihm  ist  die  Welt  der  Werte  das  wichtigste  und  kostbarste  Stück  des 
ganzen  Seins,  während  wir  uns  heute  so  gerne  von  falschen  Propheten 
vorreden  lassen,  wir  stünden  jenseits  von  Gut  und  Böse. 

Bartning  meint,  in  Kants  Persönlichkeit  ist  Mensch  und  Denker 
nicht  zu  trennen.  Wie  seinem  Leben  bedeutende  Ereignisse,  so  fehlt 
seinen  Schriften  alles,  was  glänzen,  überreden,  hinreissen  kann.  Er  schreibt 
wohl  einen  Stil  von  hoher  Kraft  und  Eigenart ;  aber  dieser  empfängt  seine 
Überzeugungsgewalt  doch  nur  aus  dem  grimmigen  Ernst,  womit  die  Pro- 
bleme aufgefasst,  und  der  unerbittlichen  Schärfe,  womit  alle  Gedanken 
bis  zu  Ende  gedacht  werden.  Gewiss  zeigt  auch  Kant  eine  gewisse  Pe- 
danterie, aber  ohne  ein  gewisses  Mass  derselben  ist  noch  nie  und  nirgends 
etwas  Dauerhaftes  geleistet  worden.  Kants  Leben  ist  in  anderem,  aber 
nicht  geringerem  Sinne  wie  das  Goethes,  ein  Kunstwerk.  In  ihren  beiden 
Namen  liegt  die  höchste  Steigerung  deutschen  Geistes  beschlossen.  Alle 
Werke  Goethes  sind  freilich  Selbstbekenntnisse.  Dagegen  ist  in  Kants 
Arbeit  das  Persönliche  völlig  ausgeschaltet.  In  diesem  Sinne  ist  der  Satz 
aus  dem  Motto  Bacons  in  der  Kr.  d.  r.  V.  zu  verstehen :  De  nohis  ipsis 
silemus.  Die  Kr.  d.  r.  V.  ist  das  tiefste  und  scharfsinnigste  Buch,  das  die 
Menschheit  besitzt.  Rückkehr  zu  Kant  ist  Rückkehr  zur  Klarheit,  Ehr- 
lichkeit und  Gründlichkeit. 

Bauch :  Kant  selbst  gehörte  in  seiner  nordischen  Abgeschlossenheit 
mit  seinen  künstlerischen  Neigungen  einer  bereits  untergehenden  Zeit  an, 
als  das  aufsteigende  Zweigestirn  unserer  Dichterfürsten  sein  Licht  ver- 
breitete. Nicht  bloss  die  äussere  lokale  Abgeschlossenheit  in  Ostpreussen, 
sondern  das  innere  Abgeschlossenhaben  hinderte  Kant,  die  neu  aufkom- 
mende Jugend  voll  zu  verstehen.  Ganz  anders  aber  wie  er  zu  Schiller 
und  Goethe,  standen  sie  zu  ihm.  Schiller  entnahm  sein  Bestes  von  Kant. 
Goethe  freilich  war  von  Kants  durch  und  durch  kritischer  Denkweise 
durch  seine  dogmatische  getrennt.  Aber  er  assimiliert  doch  durch 
Schillers  Vermittlung,  was  seiner  starken  Individualität  gemäss  ist  und 
sich  frei  und  leicht  in  seine  stets  kontinuierlich  sich  entwickelnde  An- 
schauungsweise fügt.  Sein  und  Sollen,  Notwendigkeit  und  Freiheit,  me- 
chanische Natur  und  Zweckmässigkeit:  das  sind  die  Pole,  um  die  sich  die 
Kantische  Philosophie  bewegt.  Als  Teile  der  Natur  sind  wir  den  Gesetzen 
derselben  unterworfen ;  aber  diese  Gesetze,  sie  bezeichnen  nicht  eine 
Herrschaft  des  Objekts  über  das  Subjekt,  sondern  gerade  das  Gegenteil: 
die  Herrschaft  des  Subjekts  über  das  Objekt,  d.  h.  des  Subjekts,  das 
selbst    niemals  Objekt    ist.     Das    Subjekt    in    diesem    Sinne    ist   nicht    die 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  131 

Person,  sondern  die  Persönlichkeit,  oder  vielmehr  das  Überpersönliche,    in 
welchem   der  Grund  sowohl  der  Naturgesetze,  als  der  Sittengesetze  liegt. 
In  diesem  Sinne  schreibt  Schiller  an  W.  v.  Humboldt :  „Am  Ende  sind  wir 
doch  beide  Idealisten   und   würden  uns  schämen,  uns  nachsagen  zu  lassen, 
dass  dieDinge  uns  formten  und  nicht  wir  dieDinge."     In  diesem 
Sinne  trägt  die  Persönlichkeit  die  Norm  des  Sollens  in  sich,  um   das  Sein 
danach  zu  bilden,  das  Ideal,  um  danach  das  Leben  zu  gestalten,  um  in  die 
Welt  der  Notwendigkeit  nach  Zwecken  einzugreifen.     Aber  diese  Zwecke 
sind   nicht  Sache    der  persönlichen  Willkür,    sondern  der  überpersönlichen 
Vernunft,  die  wir  in  uns  selbst  finden.    Dies  drückt  Goethe  trefflich  aus: 
Sofort  nun  wende  dich  nach  innen, 
Das  Zentrum  findest  du  da  drinnen, 
Woran  kein  Edler  zweifeln  mag. 
Wirst  keine  Regel  da  vermissen. 
Denn  das  selbständige  Gewissen 
Ist  Sonne  deinem  Sittentag. 
Und  Schillers  Wort:  „In  deiner  Brust  sind  deines  Schicksals  Sterne",    das 
gilt  auch    vom    sittlichen  Schicksal  der  Persönlichkeit.    Jenes  Überpersön- 
liche in  uns,  das  ist  nicht  der   gesunde  Menschenverstand  der  Aufklärung, 
sondern   die   gesunde   Vernunft,    von   der  Schiller  sagt:    „Kant,   dem 
unsterblichen  Verfasser   der  Kritik,    gebührt  der  Ruhm,    die  gesunde  Ver- 
nunft aus  der   philosophierenden   wiederhergestellt  zu  haben."     Diese  „ge- 
sunde Vernunft"    zeigt   sich   vor    allem    in  der  freien  Unterordnung  unter 
das  Gesetz  :   denn    „des  Gesetzes  Fessel    bindet   nur  den  Sklavensinn,    der 
es   verschmäht".     Darin    ist   Kants  Prinzip    der   freien  Autonomie    ausge- 
sprochen,   das    auch    nicht    schöner    und    klarer    zum  Ausdruck    gebracht 
werden  kann  als  durch  Goethes  Worte: 

Nach  seinem  Sinne  leben  ist  gemein, 
Der  Edle  strebt  nach  Ordnung  und  Gesetz. 
Dieses  Prinzip  ist  das  Göttliche  im  Menschen,  von  welchem  Schiller  sagt: 
Nehmt  die  Gottheit  auf  in  euren  Willen, 
Und  sie  steigt  von  ihrem  Weltenthron. 
Wenn    Schiller   gegenüber   diesem    sittlichen   Energismus    andrerseits    das 
Ideal  der   schönen  Seele  aufstellt,   so  ist  es  nur  eine  Idee,   welche  in  der 
empirischen  Wirklichkeit  von  keinem  Menschen  erfüllt  werden  kann.    Der 
empirische  Mensch  muss  seine  subjektive  Willkür  unterdrücken;    er   muss 
dieser    zweckwidrigen    Willkür    absterben,     um    in    zweckvoller    Freiheit 
wahrhaft    zu    leben :    dies    macht    das  Leben    überhaupt    erst   lebenswert. 
Dies  ist  auch  der  Sinn  des  Goetheschen  Wortes 

Und  so  lang  du  das  nicht  hast. 
Dieses :  Stirb  und  werde ! 
Bist  du  nur  ein  trüber  Gast 
Auf  der  dunklen  Erde. 
Stirb    der  Willkür   und   werde    frei!    Dies   ist   auch   der   wahre  Sinn  des 
Goetheschen  Wortes,  dass  wir  nur  frei  sind,  wenn  wir  uns  beschränken : 
Wer  Grosses  will,  muss  sich  zusammenraffen, 
In  der  Beschränkung  zeigt  sich  erst  der  Meister, 
Und  das  Gesetz  nur  kann  uns  Freiheit  geben. 

9* 


132  H.  Vaihinger, 

Carring  wiederholt  die  schon  so  oft  von  sozialistischer  Seite  aufge- 
stellte Behauptung :  wenn  Kant  lehre,  der  Mensch  als  sittliches  Wesen  ist 
von  unvergänglichem  Wert,  er  darf  nie  zum  blossen  Mittel  für  irgend 
einen  Zweck  gemacht  werden,  so  sei  dies  die  Grundlage  der  sozialistischen 
Gesellschaftsauffassung.  Auf  eine  Widerlegung  dieser  auf  gänzlichem 
Missverständnis  der  Kantischen  Ethik  beruhenden  Meinung  köinien  wir 
hier  nicht  eingehen. 

Clemens  bemerkt  u.  a.  folgendes :  Die  grosse  Masse  der  Gebildeten 
weiss  von  Kant  nicht  viel  mehr  als  den  Ausdruck  „kategorischer  Impera- 
tiv" und  den  Titel  „Kritik  der  reinen  Vernunft".  Sie  ahnen  aber  nicht, 
wie  innig  sein  Werk  noch  verkettet  ist  mit  allem  Grossen,  Schönen, 
Guten  und  Erhabenen,  was  noch  heute  die  Menschheit  hervorbringt  und 
besitzt.  Und  doch  ist  vielleicht  eben  Kant  der  eigentliche  Urheber  so 
mancher  gewaltiger  Idee  und  mancher  grossen  Handlung. 

Dessoir:  Es  müsse  freilich  vom  Kantischen  System  viel  Schulstaub 
weggeblasen  werden,  aber  es  bleibt  zweierlei :  Kants  Erkenntniskritik  hat 
die  eigentliche  Arbeit  der  wissenschaftlichen  Philosophie  dauernd  beein- 
flusst  und  seine  idealistische  Weltanschauung  ist  zu  einer  allgemein 
menschlichen  Macht  geworden.  In  erster  Hinsicht  hat  Kant  die  Be- 
dingungen unseres  Bewusstseins  entwickelt,  durch  die  Erfahrungswissen 
zustande  kommt;  er  nennt  die  Gesamtheit  der  Mittel,  durch  die  wir  die 
Erfahrung  konstruieren,  das  Apriori.  Wenn  er  in  der  zweiten  Hinsicht 
den  kategorischen  Imperativ  aufstellt,  so  ist  zu  beachten,  dass  dieser 
zwar  durchaus  nicht  immer  dem  Handeln,  wohl  aber  immer  der  mora- 
lischen Beurteilung  des  eigenen  und  fremden  Handelns  zugrunde  liegt. 
In  der  sittlichen  Freiheit  und  Verantwortlichkeit  besitzt  der  Mensch  den 
Schlüssel,  der  ihm  das  An-sich  aufschliesst. 

Drill :  Wenn  wir  heute  mit  Kant  uns  beschäftigen,  so  ist  sein  Todes- 
tag nur  ein  äusserer,  gleichsam  zufälliger  Anlass,  und  der  tiefere  Grund 
die  Überzeugung,  dass  man  erst  in  den  Anfängen  der  richtigen  Würdigung 
Kants  steht,  dass  er  der  Gegenwart  viel  mehr  bedeuten  könnte,  dass  er 
der  Zukunft  noch  viel  mehr  bedeuten  wird,  ja  dass  es  sein  Geist  ist,  an 
dem  die  Kulturmenschheit  noch  einmal  genesen  wird.  Wenn  es  möglich 
wäre,  heute  zu  sehen,  wie  Kant  im  Jahre  2004  dastehen  wird :  ich  glaube, 
sogar  das  Jahr  1904  würde  sich  schämen.  Drill  weist  dann  des  weiteren 
darauf  hin,  dass  es  ein  Missverständnis  sei,  dass  durch  die  Einführung  des 
Kollektivismus  der  absolute  Rechtsstaat  im  Kantischen  Sinne  erreicht 
werden  würde. 

Frommel:  Kant  hat  uns  auf  seine  Weise  gezeigt,  und  darin  offen- 
bart er  sich  als  ein  echter  Sohn  der  Reformation  Li;thers,  dass  von  der 
persönlichen  That  der  Freiheit,  vom  Charakter  aus  sich  in  erster  Linie  die 
rechte  Weltanschauung  bildet. 

Goldschmidt:  Kant  ist  der  Hauptvertreter  jener  grossen  Epoche,  in 
der  sich  die  Menschheit  mündig  sprach.  In  Kant  vollendet  sich  die  Auf- 
klärung, die  vom  historischen  Vorurteil  frei  macht  und  nur  von  mystisch 
erleuchteten  Schwärmern  oder  von  Liebhabern  des  geistreichen  Unsinns 
der  Seichtigkeit  geziehen  wird.  Kant  vei'nichtet  die  Geltung  der  bis- 
herigen  Autoritäten.     Auch   auf  jede   persönliche  Autorität   seiner  selbst 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  13^ 

verzichtet  er  zu  Gunsten  der  Gründe.  „Von  mir  selbst  schweige  ich"  ist 
der  Vemunftkritik  vorgeschrieben,  die  alle  Anmassungen  der  Metaphysik 
mit  dem  Probierstein  der  Vernunft  prüft.  So  wird  selbst  Kants  Polemik 
in  der  Regel  von  den  Personen  frei.  Allgemeine  Fehler  der  Urteilskraft 
werden  gerichtet,  negative  Kritik  durch  Aufdeckung  des  Irrtums  in 
fruchtbare  Belehrung  verwandelt.  Der  Erfolg  des  Denkers  im  abgelau- 
fenen Jahrhundert  war  freilich  mehr  laut  als  wahrhaft.  In  der  alle  Rich- 
tungen umspannenden  Totalität  seiner  Philosophie  liegt  eine  ähnliche 
Gefahr,  wie  sie  die  früheren  Anstrengungen  getroffen  hatte:  Teile  setzen 
sich  an  Stelle  des  Ganzen  und  kämpfen  mit  einander,  als  ob  sie  das 
Ganze  wären:  auf  die  That  des  Prometheus  folgte  der  Unsegen  der 
Pandora.  Kants  Prinzip  ist,  die  Vernunft  überall  zur  Geltung  zu  bringen. 
Überall  hat  die  Vernunft  die  Führung  zu  übernehmen,  zuerst  in  der  Phi- 
losophie selbst.  In  diesem  Sinne  ist  Kants  Hauptfrage:  Wie  lässt  sich  in 
der  Metaphysik  der  Streit  schlichten?  Alle  metaphysischen  Irrtümer 
kommen  daher,  dass  der  denkende  Mensch  bei  den  Anstrengungen  seines 
grübelnden  Verstandes  sich  selbst  ausschaltet,  um  zu  ergründen, 
was  die  Welt  an  sich  selbst  bedeuten  möchte.  Auf  Dinge  jenseits  unserer 
Erkenntnissphäre  lassen  Raum,  Zeit  und  Kategorien  sich  nicht  erstrecken ; 
sie  bezeichnen  vielmehr  deren  Grenze  selbst.  Die  Metaphysik  sonderte 
von  den  Kategorien  bei  deren  Anwendung  auf  das  Transscendente  jeden 
sinnlichen  Inhalt  ab,  glaubte  nach  ihrer  Einbildung  damit  die  Dinge  und 
die  Welt  an  sich  zu  beschreiben,  beschrieb  aber  in  Wahrheit  nur  die 
Leistungen  des  eigenen  Verstandes  auf  einer  Grenze,  in  der  es  für  uns 
Nacht  wird.  Seit  Kant  darf  man  Ideen  nicht  mehr  mit  Objekten,  Fragen 
nicht  mehr  mit  Antworten  verwechseln. 

Goldstein  schildert  die  Königsberger  Stätten,  die  der  grosse  Mann 
betrat,  welche  nun  alle  leider  von  der  Erde  verschwninden  sind:  das  Ge- 
burtshaus in  der  Sattlergasse,  das  Wohnhaus  in  der  Prinzessinstrasse  und 
den  Philosophendamm,  auf  dem  Kant  spazieren  ging.  Im  Jahre  1844,  im 
Jubiläumsjahr  der  Universität  Königsberg,  hat  der  Nachfolger  auf  Kants 
Lehrstuhl,  der  geistvolle  Karl  Rosenkranz,  die  Idee  vertreten,  aus  dem 
Kantischen  Wohnhaus  ein  Kantmuseum  zu  machen.  Leider  hat  diese  Idee, 
die  damals  sich  sehr  gut  hätte  ausführen  lassen,  keinen  Anklang  gefunden ; 
[während  das  Wohnhäuschen  von  Spinoza  pietätvoll  erhalten  wird,  wäh- 
rend die  Wohnhäuser  der  viel  früher  lebenden  deutschen  Heroen  Luther, 
Melanchthon,  Dürer  erhalten  sind  und  gepflegt  werden,  hat  die  Stadt 
Königsberg,  die  Geburtsstadt,  Wirkungsstadt  und  Sterbestadt  des  grössten 
Philosophen  der  Neuzeit,  es  geduldet,  dass  Kants  Wohnhaus  im  Jahre 
1893  vernichtet  wurde.     Hätte  eine  andere  Stadt  dies  zugelassen?] 

Grimm  :  Zum  Ziele  der  Philosophie  kann  nur  ein  viel  überblickender, 
Welt  und  Gewissen  gleichmässig  überschauender,  vorsichtig  scheidender 
und  auch  stark  zusammenfassender  Genius  leiten.  Als  solcher  steht  Kant 
vor  uns.  Er  hat  zuerst  die  grosse,  dann  die  kleine  Welt  durchmessen, 
er  war  aber  kein  Geist,  der  bloss  verneinte;  seine  Sittenlehre  ist  in  der 
That,  wie  man  mit  Recht  gesagt  hat,  die  wahre  Herrenmoral.  Wie  er 
als  Kind  einmal,  da  er,  auf  schwankendem  Balken  ein  Gewässer  über- 
schreitend,   vom  Schwindel   erfasst   wurde,   diese  Anwandlung   überwand, 


134  H.  Vaihinger, 

indem  er  einen  festen  Punkt  am  sicheren  Ufer  fixierte,  so  hat  er  sein 
ganzes  Leben  hindurch  und  durch  seine  ganze  Philosophie  hindurch  den 
Blick  nach  festen  Richtpunkten  gerichtet,  die  ihm  kein  Toben  und  Brausen 
unter  und  neben  ihm  verrücken  konnte.  So  hat  er  im  18.  Jahrhundert 
eine  Reform  der  Philosophie  herbeigeführt,  in  einer  Zeit,  der  längst  ein 
mächtig  zwingender  Gedankenzug  fehlte,  wie  ihn  einst  die  Reformation 
mit  sich  gebracht  hatte:  einen  solchen  schuf  er. 

Hoffmann,  bekannt  und  verdient  durch  seine  neue  Ausgabe  der 
Kantbiographien  von  Jachmann,  Borowski,  Wasianski,  weist  darauf  hin, 
dass  Kants  Ethik  nicht,  wie  manche  meinen,  zur  Knechtung,  sondern  zur 
Befreiung  der  Geister  gewirkt  hat.  Erst  die  Kantische  Auffassung  der 
Moral  befreit  die  Menschen  von  jedem  drückenden  Zwange,  wandelt  den 
Knechtsgehorsam  in  sittliche  Freiheit,  sichert  dem  Menschen  seine  innere 
Würde  und  Hoheit,  macht  ihn  zur  sittlichen  Persönlichkeit. 

Joel:  Kant  ist  der  Philosoph  des  Nordens,  dem  Wolken  den  Hori- 
zont begrenzen  und  den  Himmel  abschneiden,  und  der  im  Nebel  kämpfend 
sich  den  Weg  bahnt.  Seit  100  Jahren  heisst  „philosophieren":  zu  Kant 
Stellung  nehmen.  Kant  ist  die  Grenzscheide  des  Toten  und  Lebendigen 
in  der  Philosophie.  Er  hat  dem  denkenden  Geiste  nicht  nur  Mut  ge- 
macht, sondern  auch  Grenzen  gewiesen.  Die  erste  Phase  des  Neukantia- 
nismus (F.  A.  Lange)  hat  die  erkenntnistheoretische  Seite  Kants  betont; 
aber  dieser  erste  Neukantianismus  verblasste  als  eine  blosse  theoretische 
Philosophie  der  kritischen  Vorsicht,  der  Defensive.  Das  erneute  Studium 
hat  einen  anderen,  positiveren  Kant  entdeckt  als  jenen  erkenntnistheore- 
tischen Grenzwächter:  vor  den  erwachenden  ethischen  Tendenzen  des 
Zeitgeistes  steigt  riesengross  jener  Kant  empor,  der  die  Moral  rein  auf 
sich  selbst  gestellt  und  weiterhin  auf  die  Moral  die  Religion  begründet. 
Man  hat  den  theoretischen  Kant  zuerst  erneuert  und  dann  den  praktischen : 
man  wird  jetzt  vielleicht  die  dritte  Kritik  Kants  emporheben  und  in 
seinem  subjektiven  Formalismus  z.  B.  die  grosse  neue  Kunstlehre  von 
Hüdebrands  Problem  der  Form  angelegt  finden.  Ja,  Simmel  sehe  sogar 
den  Impressionismus  durch  Kants  Erscheinungslehre  begründet.  Wie 
ferner  vor  100  Jahren  die  grossen  Extreme  der  theoretischen  Hauptrich- 
tungen, so  werde  Kant  auch  heute  die  praktischen  Extreme  Nietzsches 
und  des  Sozialismus  in  sich  vereinigen  und  richten  :  Kant  der  Sieger  über 
scholastische  Restauration,  über  Materialismus  und  Sozialismus,  über  Hegel 
und  Nietzsche,  Kant  der  Überwinder  des  19.  Jahrhunderts.  Wenn 
Nietzsche  die  Überhebung  des  Willens  über  den  Intellekt  lehrt,  so  habe 
Kant  das  in  richtigerer  Form  schon  gethan. 

Kappstein :  Kants  nächster  Geisteserbe,  J.  G.  Fichte,  hat  einmal  die 
Lebensarbeit  des  grossen  Königsberger  Denkers  dahin  charakterisiert,  sie 
haben  ganz  neue  tiefe  Schachte  des  Gedankens  eröffnet:  sie  habe  Fels- 
massen von  Gedanken  geschleudert,  aus  denen  die  zukünftigen  Zeitalter 
sich  Wohnungen  erbauen.  Heute,  hundert  Jahre  nach  Kants  Tode,  em- 
pfinden wir  es  mit  besonderer  Lebhaftigkeit,  wie  viel  edler  Steinbruch 
noch  ungenützt  da  üegt  in  den  FeLenschluchten  dieses  Geistesheroen. 
Und  wie  viel  hätte  gerade  Kant  unserem  Geschlechte  zu  bieten?  Freiheit 
als  Unabhängigkeit  des  Geistes  von  dem  Materiellen  und  Humanität  sind 


Das  Kantjubilätim  im  Jahre  1904.  135 

die  hervorstechendsten  Merkmale  im  Denken  und  Leben  Kants.  Es 
kommt  in  beides  dadurch  ein  antik  heroischer  Zug.  —  In  einem  Satz  ist 
das  Entscheidende  gesagt,  was  uns  heutige  („Kant  und  wir")  für  immer 
mit  Kant  verbinden  wird :  er  hat  uns  aus  dem  mittelalterlichen  gebundenen 
Denken  endgiltig  zur  Würde  unserer  Vernunft  zurückgeführt.  Kant  ist 
der  bahnbrechende  Aufklärer.  Das  befreite  Denken,  ohne  das  wir  nicht 
mehr  zu  atmen  vermöchten,  blickt  mit  Stolz  auf  ihn  als  einen  seiner 
grössten  Wohlthäter.  Kant  vertritt  in  erkenntnistheoretischer  Hinsicht 
einen  konsequenten  Skeptizismus,  und  der  Glaube  ist  für  ihn  eine  ledig- 
lich moralische  Angelegenheit.  Den  Kantischen  Gedanken  der  sittlichen 
Autonomie  hat  Nietzsche  in  neuer  Weise  ausgeführt.  Indem  aber  Kant 
der  Pflicht  jenen  bekannten  erhabenen  Hymnus  widmet,  huldigt  der  sonst 
so  nüchterne  Philosoph  seiner  Gottheit.  Kant  bildet  dauernd  einen  Damm 
gegen  Veräusserlichung  und  Verweichlichung  des  Lebens. 

Kleinpeter:  Wir  finden  in  Kant  eine  Reihe  einflussreichster  Ge- 
danken vereinigt,  von  denen  sich  aber  keiner  bis  jetzt  definitiv  behaupten 
konnte.  Worin  liegt  nun  das  Geheimnis  seines  Erfolges?  Die  Lösung 
des  Rätsels  liegt  einzig  und  allein  in  der  wunderbaren  Macht  der  wissen- 
schaftlichen Methode.  Kant  kann  als  Vorläufer  der  wissenschaftlich 
methodischen  Arbeitsweise  des  19.  Jahrhunderts  gelten.  Er  hat  durch 
unermesslichen  Fleiss  und  peinlichste  Sorgfalt  die  Fäden  zwischen  den 
heterogensten  Gebieten  gesponnen,  und  mag  auch  die  Art  der  Ver- 
knüpfung nicht  immer  die  richtige  sein,  so  kann  er  doch  den  Ruhm  für 
sich  in  Anspruch  nehmen,  eine  solche  als  erster  gewollt  und  durch  be- 
harrliche Arbeit  vollführt  zu  haben. 

Kreuschner:    Kant    wurde    für   die    deutschen    Denker  und  Dichter 
der  Führer   zur   geistigen  Freiheit  der  Menschheit,    die  in  dem  modernen 
Hellenentum  Goethes,    Schillers    und    auch    schon  Herders    ihre  genialsten 
Vertreterfand.     Der  Verfasser  schUesst  mit  den  folgenden  Versen  Herders : 
Wenn  Zeit,  einst  nach  zertrümmertem  All, 
Du  deiner  Brust  tief  deinen  Liebling  eingräbst. 
Dann  mit  den  Phönixschwingen  dir  ein  Feuer  anfachst, 
So  brenne,  der  Ewigkeit  Nacht  unüberglänzbar  zu  leuchten, 
Auch  dein  Name,  Kant! 
Lasson:    Im  Todesjahre  Kants   schrieb  Schelling,    Kants  Philosophie 
werde    ausserhalb  Deutschlands    keinen   bedeutenden    Erfolg  haben;    denn 
in  Kant   habe    sich    der   deutsche  Geist  in  seiner  Totalität  lebendig  ange- 
schaut.    Diese  Voraussage  ist    durch  die  Folgezeit  nicht  bestätigt  worden. 
Im  Gegenteil,    es    giebt   keinen  Geist,    der  die  Forscher  und  Denker  aller 
Kultumationen    fortwährend    mit    noch    grösserer   Macht   in  seine  Bahnen 
zwänge  als  Immanuel  Kant.     Was  ist  das  Neue,   was  die  Deutschen  durch 
das   Medium    Kants    zu    der   ästhetischen  Kultur  Italiens,    den  ritterlichen 
Idealen  Spaniens,  der  entfesselten  Persönlichkeit  Englands,    der  rationalen 
Formensprache  Frankreichs  hinzugebracht    haben?     Vielleicht  darf  man  es 
in   der   kurzen  Formel   zusammenfassen:    das  eigentümlich  Deutsche,    was 
durch   Kant   zum    Ausdruck    gekommen    ist,    ist   die  Erfüllung   der  freien 
Persönlichkeit   mit    einem    objektiven    Gehalte,    den    sich  eben  diese  freie 
Persönlichkeit   selbstthätig    gewinnt.     Es   ist   die   Subjektivität,   die  sich, 


136  H.  Vaihinj^er, 

frei  mit  allen  überkommenen  Ideen  schaltend  und  durch  keine  gebunden, 
allgemeingiltigen  Gehalt  aus  den  eigenen  Kräften  der  Innerlichkeit  zu 
geben  vermag.  Indem  Kant  in  seiner  Erkenntnistheorie  zeigt,  dass  wir 
die  Natur  nach  unserer  Form  schaffen,  befreit  er  uns  von  der  Natur. 
Nicht  die  Natur,  die  bloss  die  Welt  der  Erscheinung  ist,  sondern  die  Ge- 
schichte, die  "Welt  der  sittlichen  Thaten,  ist  unseres  Geistes  wahre  Heimat, 
unsere  wirkliche  Welt.  Männer  von  unausmessbarer  Art  wie  Kant  werden 
jedesmal  einem  neuen  Geschlecht  ein  neues  Antlitz  zeigen.  Ihre  Be- 
deutung lässt  sich  zu  keiner  Zeit  ausschöpfen.  Ein  Gestirn  wie  Kant 
mag  vielleicht  einmal  vorübergehend  verdunkelt  werden  können;  aber  es 
kann  seine  lichtspendende  Kraft  für  die  geistige  Bewegung  der  Mensch- 
heit niemals  mehr  verlieren.  Jahrzehnte  lang  ist  jener  Idealismus  Kants 
bei  uns  in  den  Hintergrund  getreten.  „Man  hört  wohl  die  Leute  sagen: 
Im  19.  Jahrhundert  ist  der  Idealismus  zusammengebrochen.  O  nein!  Der 
Idealismus  ist  nicht  zusammengebrochen,  nur  die  Leute  sind  zusammen- 
gebrochen." Im  Gegensatz  gegen  Schopenhauer  und  Nietzsche  u.  s.  w. 
soll  uns  Kant  für  immer  der  Führer  zum  ethischen  Idealismus  sein.  Einer 
Gestalt  wie  derjenigen  Kants  gegenüber  ist  die  Gefahr  der  Überschwäng- 
lichkeit  im  Lobe  weit  weniger  zu  befürchten  als  die  der  Kleinlichkeit  in 
der  Beurteilung, 

Lagenpusch.  Vgl.  den  Bericht  oben  S.  116. 

Lasswitz:  Kant  und  Goethe,  zwei  Männer,  wie  ich  meine,  die 
grössten,  die  der  Erde  geschenkt  waren,  der  eine  als  Denker,  der  andere 
als  Dichter.  Man  hört  manchmal  den  Ruf:  Hie  Kant!  Hie  Goethe!  Als 
ob  der  Genius  der  Menschheit  gegen  sich  selbst  streiten  könnte.  Nein  ! 
Ihr  Gegensatz  ist  nur  der,  dass  derselbe  Grundgedanke  sich  verschieden 
darstellen  muss  in  der  zergliedernden  Stärke  des  Denkers  und  in  der  an- 
schaulich hinstellenden  Kraft  des  Künstlers.  Daraus  entsteht  ein  Gegen- 
satz der  Methode,  nicht  der  Gesinnung  beider  Männer.  Ihre  Gedanken 
sind  geboren  aus  derselben  Schöpfermacht  der  Neuzeit,  aus  der  Selbstbe- 
sinnung der  menschlichen  Vernunft  auf  ihre  Freiheit.  Ihre  Wege,  wie  sie 
von  einem  Punkte  ausgehen,  von  der  Eigenkraft  der  Persönlichkeit,  treffen 
wieder  in  einem  Ziele  zusammen,  in  der  Idee  der  Menschheit.  Ihre  Per- 
sönlichkeiten ergänzen  sich.  Das  Verständnis  unserer  Kultur  und  die 
Fähigkeit  der  Persönlichkeit,  sie  voll  zu  durchleben,  werden  wir  nur 
haben,  wenn  wir  den  Ruf  erfassen:  Hie  Kant  und  Goethe!  Wer  meint, 
einen  unversöhnlichen  Gegensatz  zwischen  der  Grundanschauung  Kants 
und  Goethes  konstruieren  zu  können,  unterschätzt  den  verschiedenen  Ge- 
brauch der  Worte  bei  beiden  Männern,  speziell  des  Wortes  „Natur".  Das 
Wort  Natur  hat  bei  Goethe  eine  ganz  andere  Bedeutung  als  bei  Kant. 
Die  Allnatur  bei  Goethe  bezeichnet  jene  Bedingung  der  Möglichkeit  aller 
Erfahrung,  auf  der  sowohl  die  Gesetze  des  individuellen  Bewusstseins,  als 
die  Entwicklung  der  Natur,  die  Gegenstände,  wie  die  Vorstellungen  davon 
beruhen,  jene  Bedingung  etwa,  für  welche  Kant  den  Ausdruck  „Bewusst- 
sein  überhaupt"  geprägt  hat.  Das  eine  wie  das  andere  ist  das  allgemeine 
Gesetz,  das  allem  Individuellen  übergeordnet  ist.  Um  unbefangen  zu 
sehen,  wie  weit  die  Goethesche  Auffassung  von  den  Bedingungen  der 
Erfahrung,    von    dem  Zusammenhang    des   menschlichen  Erlebens  und  Er- 


Das  Kautjubiläum  im  Jahre  1904.  137 

kenneiis,  von  dem  individuellen  Geiste  und  von  den  allgemeinen  Bildungs- 
gesetzen der  Natur  mit  den  Grundgedanken  Kants  übereingeht,  müssen 
w^ir  uns  von  der  beiderseitigen  Terminologie  frei  machen.  Beide  sagen 
uns:  wir  als  Einzelbewusstsein  sind  selbst  Natur,  leben  mitten  in  ihr  und 
unter  den  Gegenständen,  sind  der  sich  selbst  erlebende  Weltinhalt ;  aber 
zugleich  finden  wir  in  unserem  Ich  vereinigt  mit  der  denknotwendigen 
Natur  die  realisierbare  Forderung  der  Sittlichkeit  und  Schönheit.  Das 
Recht  der  Freiheit  der  menschlichen  Vernunft  haben  uns  Kant  und 
Goethe  erobert.  Was  uns  Kant  aus  der  Zergliederung  der  Begriffe  ge- 
wann, die  Selbständigkeit  der  Wirklichkeitsgebiete  in  Wissenschaft,  Kunst 
und  Moral  und  ihren  Zusammenschluss  in  der  Persönlichkeit,  das  setzte 
Goethe  in  künstlerische  Anschauung  um.  Dass  eine  solche  einheitliche 
Wirkung  der  beiden  —  nicht  im  Inhalt,  nur  in  der  Form  verschiedenen  — 
grössten  Genien  nicht  nur  möglich  ist,  sondern  wirklich  besteht,  dass  sie 
bereits  vollzogen  wurde,  dafür  liegt  der  historische  und  lebendige  Beweis 
in  der  ihnen  ebenbürtigen  Persönlichkeit  Schillers.  In  Schiller  leben  Kant 
und  Goethe  gemeinsam  als  die  grossen  Kulturträger  des  philosophischen 
und  künstlerischen  Bewusstseins.  Gegenüber  all  den  vorübergehenden 
oberflächlichen  Strömungen  der  Gegenwart  bleibt  die  Tiefenströmung, 
durch  die  unsere  Kultur  getragen  wird,  die  gleiche.  Sie  geht  nach  dem 
Ziele,  das  uns  Kant  und  Goethe  gesetzt  haben. 

Mauthner :  Witzeleien  des  bekannten  Satirikers  über  lauten  Nach- 
ruhm und  stille  Nachwirkung  in  Form  eines  Lucianischen  Totengesprächs 
zwischen  Sokrates,  Piaton,  Aristoteles,  Epikuros,  Hobbes,  Spinoza,  Leibniz, 
Kant  und  Schopenhauer.     „Schauplatz  :  eine  himmlische  Kegelbahn". 

Ortner.  Über  die  Stellung  der  Kantischen  Philosophie  in  dem 
Geistesleben  Österreichs  am  Ausgang  des  18.  und  Anfang  des  19.  Jahr- 
hunderts hat  in  Österreich  in  der  letzten  Zeit  eine  heftige,  aber 
sehr  interessante  Debatte  stattgefunden  zwischen  dem  Wiener  Gymnasial- 
professor Wotke  und  dem  Klagenfurter  Bibliothekar  Ortner.  Über  diese 
ausgedehnte  Kontroverse  werden  die  KSt.  eingehend  in  einer  besonderen 
Mitteilung  sich  äussern  und  müssen  sich  für  heute  darauf  beschränken,  den 
auf  dieses  Thema  bezüglichen  Festartikel  Ortners  zum  12.  Februar  hier 
kurz  zu  erwähnen.  Ortner,  welcher  sich  um  die  Aufhellung  dieser  Ver- 
hältnisse sehr  grosse  Verdienste  erworben  hat  und  einer  schiefen  Auf- 
fassung derselben  durch  Wotke  vorgebeugt  hat,  erinnert  in  diesem  Artikel 
an  die  Hauptdaten,  welche,  wie. er  sagt,  von  Anfang  an  für  die  vorherr- 
schende geistige  Verfassung  Wiens  und  der  Monarchie  um  jene  Zeit  be- 
schämend sind.  Franz  JI.  und  seine  Regierung  suchte  mit  allen  Mitteln 
die  kurze  Blütezeit  des  josefinischen  Geistes  der  Aufklärung  zu  unter- 
drücken, und  dazu  gehörte  auch  die  Bekämpfung  der  Kantischen  Philo- 
sophie. Dieselbe  hatte  zuerst  (wahrscheinlich  durch  die  Beziehungen  von 
Reinhold  zu  Wien)  einigen  Anklang  gefunden  schon  bei  Pepermann  und 
Andreas  Richter,  als  im  Jahre  1793  Lazar  Bendavid  aus  Berlin  nach  Wien 
kam,  um  über  die  Kantische  Philosophie  in  einem  Hörsaal  der  Universität 
Vorlesungen  zu  halten.  Dieselben  wurden  aber  bald  verboten  und  gleich- 
zeitig wurde  die  freisinnige  ,,Österreichische  Monatsschrift"  von  Josef 
Schreyvogel    unterdrückt.      „Die    kritische    Philosophie    ist   in    der    öster- 


138  H.  Yaihinger, 

reichischen  Monarchie  als  Feindin  erklärt,  und  wehe  dem,  der  sie  lehren 
will";  so  berichtet  der  Würzburger  Conrad  Stang,  der  Freund  des  Pro- 
fessors Matern  Reuss  an  Kant  am  22.  Oktober  1796.  Der  Kaiser  selbst  sei 
dagegen  eingenommen,  und  als  der  Studiendirektor  v.  Birkenstock  ihm  in 
einem  Vortrag  das  kritische  System  anpries,  habe  sich  der  Kaiser  herum- 
gedreht und  gesagt:  .,Ich  will  ein  für  allemal  von  diesem  gefährlichen 
System  nichts  wissen".  Es  wurden  infolgedessen  denn  auch  mehrere  Ver- 
treter desselben  einfacli  abgesetzt  „propter  pennciosum  systema  ad  scepticis- 
mum  dncens".  Im  Jahre  1798  wies  eine  eigens  dazu  eingesetzte  „Studien- 
Revisions-Hof-Kommission"  den  Gedanken  der  Einführung  der  Kantischen 
Philosophie  ziemlich  unverblümt  zurück.  So  mussten  die  Ansätze  der 
Verbreitung  der  Kantischen  Philosophie  in  Österreich  bald  verkümmern, 
und  so  ging  auch  der  bekannte  begeisterte  Kantianer  Frhr.  v.  Herbert, 
der  sein  Haus  zu  einem  Tempel  der  Kantischen  Philosophie  umgestaltet 
hatte,  zugrunde,  da  er  als  Anhänger  der  „neuphilosophischen  Richtung" 
verdächtigt  wurde.  Er  fiel  als  Märtyrer  der  Kantischen  Philosophie  im 
vormärzlichen  Österreich,  als  Kämpfer  für  Selbstbestimmungsrecht  und 
Selbstverantwortlichkeit,  für  Denk-  und  Forschimgsfreiheit.  Das  Licht, 
das  Ende  des  18.  Jahrhunderts  von  Königsberg,  Jena,  Weimar  aus  über 
die  deutschen  Gaue  sich  ergoss,  verlor  seine  Wirkung  in  den  dunklen 
Gebieten  des  jesuitisch  beherrschten  Österreich. 

Rudolph:  „Wir  vermögen  fast  nicht  zu  glauben,  dass  Kant  tot  sei: 
denn  unserem  Denken  ist  er  so  lebendig  wie  nur  irgend  etwas."  Gerade 
in  der  jüngsten  Vergangenheit  und  in  der  Jetztzeit  übte  Kants  Gedanken- 
welt einen  so  mächtigen  Einfluss  auf  die  Geister  aus,  dass  wir  diesen 
nicht  hoch  genug  werten  können.  Durch  Kant  wurde  Königsberg  ein 
Leuchtturm  im  fernen  Norden,  wohin  die  Geister  zusammenströmten,  oder 
wonach  sie  wenigstens  sich  in  ihrem  Kurs  orientierten.  Man  wird  immer 
wieder  über  Kant  hinausgehen  müssen ;  aber  ebenso  sicher  wird  man 
immer  wieder  zu  ihm  zurückkehren. 

Scheler:  Es  gab  keinen,  der  Dasein  und  Leben  gerechter  ange- 
schaut hat,  als  I.  Kant.  Was  uns  überwindet,  indem  es  uns  erhebt  und 
frei  macht,  das  ist  die  königliche  Art  seiner  grenzrichterlichen  Thätigkeit 
in  der  Absteckung  der  Provinzen  des  geistigen  Lebens.  Kant  hat  nicht 
eine  neue  Philosophie  zu  den  historisch  vorhandenen  hinzugefügt,  sondern 
den  Begriff  der  Philosophie  grundlegend  verändert.  Er  hat  das  Gesamt- 
gebiet der  Vernunftthätigkeit  kritisch  durchschritten,  um  deren  willen  es 
ihm  allein  wert  schien,  dass  Völker,  Nationen,  die  Menschheit  leben. 
Dieser  Gesichtspunkt  ist  freilich  heute  verloren  gegangen  im  geistreicheln- 
den  Übermenschentum,  im  zielbewussten  Anbeten  autoritärer  Fetische 
aller  Art,  in  dem  Tosen  der  Masseninstinkte.  Aber  ein  Denker  wie  Kant 
richtet  die  Zeit,  nicht  die  Zeit  ihn.  Soll  allgemein  gesagt  werden:  was 
macht  die  Philosophie  Kants  zum  philosophischen  Bewusstsein  der  Neu- 
zeit? so  würde  ich  antworten:  es  ist  die  das  Gesamtwerk  Kants  durch- 
dringende Einsicht,  dass  vor  dem  Richtspruch  der  Vernunft  die  gesamte 
Welt,  das  Reich  der  Natur  und  das  Reich  der  Sittlichkeit  nicht  eine  ge- 
gebene fertige  Ordnung  ist  oder  überhaupt  etwas  schlechthin  in  sich  Be- 
gründetes,  sondern   eine    unvollendete  Grösse,  eine  ewige  Aufgabe.    Was 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  139 

immer  als  unüberwindbare  Gewalt  uns  entgegen  tritt,  sei  es  die  Empfin- 
dung der  Sinne  oder  irgend  eine  beherrschende  Autorität:  es  muss  vorbei 
an  einer  unsichtbaren  Rieht-  und  Messtelle,  an  der  entschieden  wird, 
welche  objektive  Bedeutung,  welcher  Realitätswert  ihm  zukommt.  Kurz, 
es  ist  das  Übergewicht  und  die  Souveränität  des  Geistes  über  alles,  was 
mit  blosser  Macht  ausgerüstet,  durch  seine  force  majeure  uns  zwingen  will, 
was  Kant  als  die  Lebenswurzel  der  neueren  Kultur  zum  Bewusstsein  der 
Menschheit  gebracht  hat :  das  Herrenrecht  der  Vernunft  auf  theoretischem 
und  praktischem  Gebiet.  So  lange  Vernunft  Spielball  einer  sich  nach 
ihrem  eigenen  Rechte  bewegenden  Natur  ist,  so  lange  ist  auch  aller  Ver- 
such, die  praktische  Welt  nach  Gesetzen  der  Vernunft  einzurichten,  nur 
ein  willkürliches  Sich-Aufblähen.  Welches  ist  das  prinzipielle  Verhältnis 
von  Vernunft  und  Natur?  Das  ist  die  Grundfrage  der  Kantischen  Philo- 
sophie. Im  Zusammenhang  damit  führt  nun  Scheler  einen  Gedanken  aus, 
der  in  ähnlicher  Weise  schon  von  Windelband  in  seinen  „Präludien",  in 
seinem  „Piaton",  in  seiner  „Geschichte  der  Philosophie"  kurz  ausgesprochen 
worden  ist:  der  gesamten  griechisch-mittelalterlichen  Kultur  ist  der  mo- 
derne, und  erst  durch  Kants  Philosophie  der  modernen  Zeit  zum  Bewusst- 
sein gebrachte  Gedanke  eines  schöpferischen  Denkens  verschlossen 
geblieben,  d.  h.  der  Gedanke,  dass  das  Denken  eine  gegebene  Natur 
nicht  abbildet,  sondern  durch  seine  aktive  Synthese  in  diese  Natur 
erst  Sinn  und  Zusammenhang  hineinbildet.  Unter  der  Herrschaft  des 
Budes  vom  „Bilde"  stand  alles  und  jedes  philosophische  Nachdenken  bis 
zu  Kant.  Man  setzte  der  Erkenntnis  die  Aufgabe,  eine  Realität  abzu- 
bilden, d.  h.  etwas  irgendwie  Gegebenes  und  vom  Geiste  Unabhängiges 
zu  erfassen,  zu  erreichen  Aber  für  uns  ist  seit  Kant  die  Anschauung  nur 
ein  Anreiz,  eine  Erkenntnis  zu  suchen :  ich  verhalte  mich  aktiv  zu  ihm, 
nicht  abbilden  will  ich  ihn,  sondern  ihn  bilden,  bis  er  mir  Rede  steht. 
Aus  der  Idee  einer  abbildenden  Wissenschaft  floss  konsequenter  Weise 
der  Mangel  des  antiken  Wissenschaftsbetriebes,  der  Mangel  des  Experi- 
ments. Moderne  Wissenschaft  ist  bildende,  schöpferische  Wissenschaft  im 
Gegensatz  zur  abbildenden  kontemplativen  Wissenschaft  der  Griechen,  in- 
sofern sie  es  nicht  als  ihre  Aufgabe  ansieht,  eine  vorausgesetzte  Ordnung 
von  Gedankendingen  wiederzugeben,  sondern  vielmehr  Natur  erst  ver- 
nünftig zu  machen,  besser:  einen  geschlossenen  Zusammenhang  von  Be- 
griffen und  Gesetzen  zu  dem  Ende  zu  schaffen,  dass  die  diskontinuierlichen 
Zusammenhangs-  und  gesetzlosen  Sinneswahmehmungen  eine  „Natur" 
bilden.  Nur  wenn  Wissenschaft  Schöpfung  ist,  rechtfertigt  sich  das  der 
modernen  Wissenschaft  eigentümliche  Bewusstsein,  stets  eine  unendliche 
Aufgabe  noch  vor  sich  zu  haben.  Dieser  Grundgedanke  ist  erst  von  Kant 
als  berechtigt  erwiesen  und  zugleich  nach  seiner  Möglichkeit  erklärt 
worden.  Griechisch  denken  heisst  femer:  unter  der  Herrschaft  der  Ding- 
kategorie denken;  dies  ist  die  letzte  Konsequenz  der  Idee  griechischer 
Wissenschaft,  d.  h.  des  Bildcharakters  der  Erkenntnis.  Modern  denken 
heisst:  alles  unter  der  Herrschaft  der  Beziehungskategorie  denken.  Be- 
ziehungen lassen  sich  aber  nicht  abbilden:  sie  sind  Akte  des  Geistes,  Er- 
gebnisse thätigen  Beziehens.  vSie  sind  nur  in,  nicht  vor  dieser  That. 
Dies   ist    die   moderne  Wissenschaft,    die  nicht  abbilden  will,    sondern  aus 


140  H.  Vaihinger, 

Anlass  von  Empfindungen  ein  gesetzmässiges  Gedankenreich  aufbauen.  — 
Analog  ist  es  in  der  Ethik.  Von  Sokrates  bis  zu  Plotin  bleibt  dies  der 
felsenfeste  Glaube  der  griechischen  Philosophie,  dass  die  sittliche  Aufgabe 
des  Menschen  aus  seiner  unwandelbaren  Naturorganisation  herauswächst 
und  durch  ewige  grosse  Ordnungen  des  Kosmos  beschränkt  ist,  welche  die 
sittliche  Persönlichkeit  binden  und  begrenzen.  Erst  seit  und  mit  der 
Lehre  Kants  giebt  es  eine  unendliche  sittliche  Aufgabe,  die  nicht,  wie 
es  griechische  Weltbetrachtung  wollte,  von  Natur  als  äusserem  Kosmos 
und  innerem  Triebsystem,  d.  h.  von  der  menschlichen  Natur  begrenzt 
ist:  erst  in  ihr  ist  der  Erweis  der  Überlegenheit,  des  Herrenrechtes  des 
Geistes  auch  über  alle  Formen  praktischer  Autorität  erbracht;  erst  in  ihr 
ist  ein  „Reich  Gottes  in  uns,  das  nicht  von  dieser  Welt  ist",  in  des 
Wortes  Wahrhaftigkeit  philosophisch  bezeugt.  So  sind  Natur  und  Frei- 
heit nur  2  verschiedene  methodische  Richtungen  meines  Verhaltens.  Beide 
Ordnungen  gehen  den  gesetzmässigen  Verknüpfungsakten  der  Vernunft 
nicht  vorher,  sondern  existieren  nur  durch  sie  und  werden  fort  und  fort 
durch  sie  getragen.  Der  folgende  Weltzustand  ist  noch  unbestimmt,  so 
lange  ich  mich  noch  nicht  entschloss,  aus  Anlass  des  Empfindungs- 
komplexes (E)  entweder  ein  gesetzmässiges  Objekt  der  Natur  (O)  zu 
bilden  oder  ihn  zum  Anlass  einer  sittlichen  Zwecksetzung  (Z)  zu  machen. 
So  ist  in  dieser  doppelten  Hinsicht  unser  Geist  das  die  wahre  Wirklich- 
keit erst  in  unendlicher  Fortsetzung  Schaffende,  nicht  ein  Gegebenes  als 
Fertiges  Hinnehmende.  Auch  Kants  Lehre  selbst  ist  nicht  etwas  Fertiges. 
Wie  Sokrates,  mit  dem  man  ihn  oft  treffend  verglich,  hat  er  vielmehr  ein 
Prinzip  von  unabsehbarer  Entwickelungskraft  in  die  Geschichte  des 
Geistes  geworfen.  Es  gehört  zum  Inhalt  seiner  Philosophie,  dass  Welt- 
erkenntnis nur  eine  „Idee"  ist,  welche  die  Richtung  unserer  Forschung 
regelt.  Insofern  hat  Kant  selbst  jeden  voreiligen  Abschluss  unseres 
Wissens  abgewehrt  und  damit  die  Entwickelungsfähigkeit  seiner  Lehre  zu 
einem  Teilgedanken  der  eigenen  Theorie  gemacht.  So  wird  sein  Andenken 
fortgetragen  werden  in  die  noch  ungelebten  Jahrhunderte  der  Menschheit. 

F.  A.  Schraid:  Kant  und  seine  Zeitgenossen.  Eine  äusserst  fein- 
sinnige Studie,  die  sich  sehr  eng  mit  dem  Aufsatz  desselben  Autors  in 
unserer  Festschrift  berührt. 

F.  Schnitze:  Auszüge  aus  den  Werken  von  Jachmann,  Borowski  und 
Wasianski  (neu  hrsg.  durch  A.  Hoffmann,  im  Verlag  v.  H.  Peter  in  Halle  a.  S. 
1902)  betr.  Kants  Sterbestunden.  Über  die  schöne  Festrede  F.  Schultzes  am 
Dresdener  Polytechnikum  haben  wir  schon  oben  S.  116  eingehend  berichtet. 

Siramels  Aufsatz  bildet  einen  Teil  seiner  Monographie  über  Kant, 
welche  zum  Jubiläumstage  erschien,  und  über  welche  die  KSt.  noch  be- 
sonders berichten  werden.  Doch  seien  aus  diesem  Aufsatz  selbst  speziell 
einige  Gedanken  angeführt :  Die  prinzipiellen  Lebensprobleme  der  Neuzeit 
bewegen  sich  im  Wesentlichen  um  den  Begriff  der  Individualität:  wie 
sich  ihre  Selbständigkeit  gegenüber  der  Macht  der  Natur  einerseits  und 
dem  Recht  der  Gesellschaft  andererseits  gewährleisten  lässt,  ist  das 
Problem.  Auch  Kants  gesamtes  Denken  dreht  sich  um  den  Individualitäts- 
begriff, und  die  Art  und  Weise,  wie  die  Kantische  Philosophie  dieses 
Problem   beantwortet,   ist   einer  der  grossen  Menschheitsgedanken,   deren 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  141 

Auftreten  in  einer  Einzelepoche  nur  wie  das  zeitliche  Bewusstwerden 
eines  überzeitlichen  Besitzes  unseres  Geistes  erscheint.  Grundmotiv  Kants 
ist,  dass  in  jedem  Individuum  ein  Kern  enthalten  ist,  der  das  Wesentliche 
an  ihm,  und  der  zugleich  in  allen  Menschen  derselbe  ist.  Dieses  allge- 
meine überindividuelle  Ich,  durch  welches  die  Einheit  unseres  Denkens, 
wie  seines  Gegenstandes  erst  geschaffen  wird,  ist  aber  qualitätslos:  denn 
jede  bestimmte  Qualität  dieses  allgemeinen  Menschen  würde  unvermeidlich 
die  Allgemeinheit  aufheben.  Dieses  allgemeine  Ich  ist  in  allen  gleich  und 
durch  seine  Freiheit  charakterisiert.  Die  politischen  Ideen  der  Freiheit 
und  Gleichheit  erscheinen  hier  in  philosophisch  feinster  Sublimierung. 
Der  zufällige  Einzelmensch,  den  Kant  als  unser  empirisches  Ich  bezeichnet, 
interessiert  ihn  ebenso  wenig  als  der  historische,  variable  und  qualitativ 
individualisierte  Mensch.  Ihm  ist  es  nur  um  das  reine  Ich  zu  thun,  und 
für  dieses  reine  allgemeine  Ich,  und  insofern  für  alle  Menschen,  ist  die 
Welt  ein  und  dieselbe.  So  sind  wir  im  Sinne  Kants  eigentlich  nicht  In- 
dividualitäten, sondern  wir  haben  nur  als  empirische  Darstellungen  des 
allgemeinen  Ich  nebenbei  auch  Individualität.  Dasjenige,  was  man  die 
charakterologische  Einheit  der  Persönlichkeit  nennen  kann,  das  Unver- 
tauschbare  an  jeder  einzelnen  Persönlichkeit,  findet  bei  Kant  sein  Recht 
nicht.  Erst  nach  Kant  entsteht  ein  ganz  neues  Ideal  der  Individualität, 
das  dem  18.  Jahrhundert  noch  ganz  fern  lag,  das  den  „empirischen 
Charakter"  in  seiner  Eigentümlichkeit  in  den  Vordergrund  stellt,  und  das 
die  Romantiker  und  Goethe  entdeckt  haben.  Diesen  Begriff  der  Indivi- 
dualität hat  dann  Nietzsche  in  eigentümlicher  Weise  weiter  gebildet. 
Während  die  Kantische  Auffassung  der  wesentlich  gleichen  Menschen- 
natur zu  einem  allgemeinen  nivellierenden  Moralismus  führt,  handelt  es 
sich  bei  der  anderen  Richtung  darum,  das  individuelle  Handeln  der  Ein- 
zelnen in  ihrer  Mannigfaltigkeit  zu  rechtfertigen.  Mag  Nietzsches  Ver- 
such gelungen  sein  oder  nicht:  es  ist.  damit  der  Absicht  nach  das  Indivi- 
duum für  seine  innerlichsten  Werte  von  der  zweiten  grossen  Potenz, 
gegen  die  seine  Selbsterhaltung  sich  wehrt,  von  der  Gesellschaft  losge- 
bunden, wie  es  durch  Kant  von  der  anderen,  der  Natur  geschehen  war. 
So  enthüllt  sich  diejenige  Lehre,  die  als  der  schärfste  Gegensatz  der 
Kantischen  auftrat,  schliesslich  als  die  Portsetzung  ebenderselben  geistes- 
geschichtlichen Lebenstendenz,  deren  erste  Aufgabe  in  Kant  ihr  prinzi- 
pielles Bewusstsein  gewonnen  hatte. 

Simon:  Man  feiert  heute  Kant  nicht  bloss,  so  weit  die  deutsche 
Zunge  klingt,  sondern  jenseits  der  Meere  in  der  ganzen  Welt,  so  weit  sie 
überhaupt  in  die  geistige  Bewegung  der  Neuzeit  hineingezogen  ist  — 
Beweis,  dass  Kants  Werk  noch  nicht  der  geschichtlichen  Vergangenheit 
angehört,  sondern  eine  wirksame  Gegenwart  besitzt.  Wie  Kant  in  seinem 
Leben  sich  die  Freiheit  nach  allen  Seiten  hin  zu  bewahren  suchte,  wie  er 
seine  eigenen  ökonomischen  Verhältnisse  nur  auf  gesicherten  Boden  stellen 
wollte,  so  vertritt  er  auch  auf  geistigem  Gebiete  die  Freiheit  und  will 
auch  unser  geistiges  Besitztum  auf  gesicherte  Basis  stellen.  Wer  seine 
persönliche  Lebensführung  Philistrosität  schilt,  fasst  sie  selbst  vom  Stand- 
punkt eines  engherzigen  Philistertums  auf,  ebenso  wie  derjenige,  der  seine 
Pedanterie   in    der   Terminologie   u.    s.   w.   zum    Gegenstand   des   Spottes 


142  H.  Vaihin^er, 

macht.  —  Alles  Erkennen  ist  im  letzten  Grunde  bloss  ein  Bewusstwerden 
der  Gesetze,    nach    denen    die  Welt   nach    Massgabe    unserer    Sinnlichkeit 
und  unseres  Verstandes  sich  für  uns  aufgebaut  hat.    Aber  unsere  Vernunft 
strebt    aus    der  Enge    in    die    Weite.     Die    Vemunftideen    sind    gleichsam 
Sterne,    die    uns    im    grossen   Stil   Richtung   und   Weg    anzeigen    können. 
Aber   wer   einen  Stern    irriger  Weise  für  ein  Licht  hält,  das  ihm  auf  der 
Erde  etwa  aus  einer  menschlichen  Wohnung  entgegenschimmert,    gerät  in 
die    Irre:    die    Idee  Gottes    darf   nicht  wie  der  Begriff  eines  Einzeldinges 
aus  der    anschaulichen  Erfahrungswelt  behandelt  werden.     Nicht  auf  Ver- 
standesgründen   beruht    die  Geltung   der    Ideen,  sondern  auf  dem  Grunde 
der   praktischen  Vernunft.     Kant   hat  den  Begriff  der  Vernunft  unendlich 
tiefer    erfasst,    als    es    die    Flachheit    seines  Zeitalters    bis    dahin    gethan 
hatte.     Nicht  die  Vernunft  des  durchschnittlichen  W  eltbürgers  ist  berufen, 
Wert  und  Anspruch  der  Religion  zu  beurteilen,  sondern  die  Vernunft,  die 
das    Sittengesetz    in    sich    selbst    als    das    höchste    findet   und   gewillt  ist, 
seinen    Forderungen    ohne    Rückhalt   Raum    zu  geben.     Die  Vernunft,   die 
für   Kant    autonom    ist,  ist  ihm  nicht  die  Willkür  des  Einzelnen,    sondern 
steht   über   dem    Einzelnen.     Der  Menschengeist  ist   in   diesem   Sinne  ein 
Teil  des  göttlichen  Geistes.     Die  Sprache  der  christlichen  Religion  drückt 
jenes    von  Kant   gemeinte  Verhältnis    der  Einzelvernunft   zur  allgemeinen 
Vernunft  mit  dem  Worte  aus:  Gottes-Ebenbildlichkeit.     In  der  Kantischen 
Betonung    der   autonomen  Selbstbestimmung  erkennen  wir  den  Pulsschlag 
des  Protestantismus,     Und  wie  den  Begriff  der  Vernunft,  so  hat  Kant  den 
der  Freiheit   tiefer   gefasst.     Welcher  Unterschied   zwischen    der  Freiheit, 
der   im  Westen    die  Festbäume    errichtet   werden,    und   der   Freiheit,    die 
Kant  meint!     Dort  Zügellosigkeit,  hier  die  Fähigkeit,  sich  vernunftgemäss 
zu  bestimmen.  Infolge  dieser  Verdienste  ist  Kant  bis  auf  diesen  Tag  im  Kampfe 
der  Geister  Schild,  Schutzwehr  und  Schlachtruf.     Ja,  Kant  kämpft  zuweilen 
selbst  gegen  Kant.     Dies  ist  aber  nur  ein  Beweis  der  Tiefe  seiner  Wirkung. 

Tocco's  kleiner  Aufsatz  über  Kant  und  Spencer  ist  leider  sehr 
schlecht  übersetzt,  so  dass  wir  nur  weniges  mit  Sicherheit  daraus  hervor- 
heben können:  Die  Kantische  Philosophie  ist  mehr  als  ein  System,  sie  ist 
vielmehr  die  Kritik  eines  jeden  Systems  oder  Dogmas,  und  sofern  Spencer 
eben  ein  solches  System  oder  Dogma  vertritt,  steht  die  Kantische  Philo- 
sophie über  ihm.  Allerdings  weht  uns  aus  dem  ersten  Teil  der  „First 
Principles"  ein  Hauch  Kantischer  Kritik  entgegen.  Aber  die  ganze  Dar- 
stellung Spencers  ist  doch  so,  als  ob  das  Werk  Humes,  das  den  Königs- 
berger Denker  aus  seiner  Lethargie  erweckte,  nie  existiert  hätte.  Dieser 
Mangel  an  kritischer  Haltung  zeigt  sich  auch  in  demjenigen  Teil  der 
„First  Principles",  der  sich  der  Kantischen  Philosophie  am  meisten  nähert : 
sein  Innehalten  vor  der  Grenze,  die  zu  überschreiten  den  menschlichen 
Gedanken  nicht  gegeben  ist,  ist  mehr  scheinbar  als  wirklich;  er  spielt 
mehr  mit  dem  Agnostizismus,  als  dass  er  ihn  vertritt;  denn  er  ist  selbst 
Vertreter  eines  dogmatischen  Monismus. 

Wenck  hofft,  dass  auch  in  den  Kreisen  unseres  Volkes,  wo  sonst 
kein  Interesse  für  Philosophie  vorhanden  ist,  durch  das  Jubiläum  ein  Ver- 
ständnis für  die  Grösse  des  Mannes  erwachen  werde,  den  wir  seit  100 
Jahren  zu  den  grossen  Toten   unseres  Volkes  zählen,  der  aber  als  ein  Re- 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  143 

volutionär  des  Geistes  in  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  ewig  fortlebt. 
Er  wurde  auch  deshalb  von  seiner  Regierung  als  Ketzer  verunglimpft  von 
dem  damaligen  Minister  WöUner.  Heute,  nach  100  Jahren  aber  reist  der 
preussische  Kultusminister  zu  Ehren  Kants  nach  Königslierg  und  beweist 
damit  abermals,  wie  so  mancher,  der  einst  als  gefälirlicher  Revolutionär 
verfolgt  wurde,  dann  von  der  Nachwelt  in  der  Grösse  seines  geistigen 
und  sittlichen  Werkes  anerkannt  und  als  Bahnbrecher  neuer  Ideen  ge- 
priesen wird,  in  denen  niemand  mehr  etwas  Staatsgefährliches  sieht. 

Werner  weist  darauf  hin,  wie  es  psychologisch  in  der  Natur  Kants 
gewissermassen  angelegt  sei,  dass  er  ein  Freund  des  Witzes  und  des 
Humors  gewesen  sei,  und  belegt  dies  mit  einer  Reihe  mehr  oder  minder 
bekannter  Anekdoten,  speziell  auch  aus  den  Gebrauchsspuren,  welche  in 
dem  Kantischen  Handexemplar  der  Aphorismen  Lichtenbergs  enthalten 
sind  (im  Besitz  des  Dresdener  Verlagsbuchhändlers  Minden). 

Ziegler  weist  darauf  hin,  wie  Kant  durch  den  kategorischen  Impe- 
rativ seinem  preussischen  Volke  Eisen  in  das  Blut  gegeben  habe.  Er 
wurde  wie  damals,  so  auch  jetzt  von  den  Vertretern  der  Riickständigkeit 
verfolgt  und  gilt  für  die,  deren  Denken  durch  kirchliche  Voraussetzungen 
gebunden  ist,  als  Zerstörer  des  Glaubens.  Keiner  ist  übler  mit  ihm  um- 
gesprungen als  der  ultramontane  O.  Willmann  in  seiner  geradezu  tra- 
gischen Geschichte  des  Idealismus,  in  der  alles  Grosse  klein  und  vieles  ganz 
Kleine  gross  gemacht  wird.  Übrigens  seien  in  Kants  Philosophie  selbst 
mystische,  ja  mythologische  Elemente  enthalten,  speziell  in  seiner  Lehre 
von  der  transscendentalen  Freiheit.  Im  Übrigen  habe  Kant  mit  seiner 
Religionsphilosophie  nichts  anderes  gewollt  als  das  christliche,  speziell 
das  protestantische  Bewusstsein  philosophisch  rechtfertigen.  In  seinem 
Kampf  gegen  blossen  Religionswahn  und  Afterdienst  berühre  sich  Kant 
mit  den  tiefsten  und  feinsten  Gedanken  Lessings.  Mit  Goethe  dagegen 
dürfe  man  Kant  nicht  zusammenbringen,  resp.  nicht  Goethe  mit  Kant. 
Es  giebt  zwei  Arten  zu  philosophieren  und  die  Welt  anzuschauen,  die 
Kants  und  die  Goethes:  sie  sind  prinzipiell  und  diametral  verschieden. 
Man  darf  diejenigen  nicht  schelten,  die  lieber  mit  Goethe  zusammen- 
schauen, als  mit  dem  grossen  Scheidekünstler  trennen  und  isolieren  wollen. 
Kant  war  ein  Sohn  des  rationalistischen  und  individualistischen  18.  Jahr- 
hunderts; unsere  Zeit  ist  für  das  Denken  realistischer,  für  das  Wollen 
sozialistischer.  Wir  werden  uns  daher  im  20.  Jahrhundert  nicht  ohne 
weiteres  in  den  Bannkreis  des  Kantischen  Idealismus  und  Individualismus 
schlagen  lassen.  Auch  den  Kantischen  Schulen,  von  denen  jede  ihren 
eigenen  Kant  hat  und  verehrt,  spürt  man  diesen  Einfluss  der  modernen 
Zeit  an.  Aber  dennoch  muss  der  Ruf  „Zurück  zu  Kant!",  richtig  ver- 
standen, das  Motto  unserer  Philosophie  sein. 


Den  vorstehend  charakterisierten,  mit  dem  Autornamen  versehenen 
Artikeln  in  Tageszeitungen  seien  noch  folgende  uns  bekannt  gewordenen, 
nicht  unterzeichneten  Artikel  der  Tagespresse  hinzugefügt,  zum  Beweis, 
wie  weitgehend  die  Teilnahme  an  dem  Erinnerungstage  des  Philo- 
sophen  gewesen    ist,    und    wie    sehr   demnach    das    Interesse   an  Kant    in 


144  H.  Vaihinger, 

Kreisen  verbreitet  ist,  denen  sonst  Philosophie  ferner  steht.  Selbst  wenn 
man  von  solchen  Erzeugnissen  der  Tagespresse  geringer  denkt,  als  recht 
und  billig  ist,  muss  man  doch  anerkennen,  dass  der  gute  Wille  —  und 
dieser  ist  ja  nach  Kant  das  allein  Ausschlaggebende  —  vorhanden  ist, 
dem  grossen  Philosophen  gerecht  zu  werden.  Und  dies  ist  doch  immerhin 
ein  sehr  erfreuliches  Zeichen.  Kein  Land  der  Erde  besitzt  einen  Philo- 
sophen, der  trotz  seiner  streng  wissenschaftlichen,  ja  esoterischen  Sprache 
und  Richtung  doch  in  diesem  Masse  populär  geworden  ist,  wie  Kant  in 
Deutschland.  Und  dabei  wolle  man  bedenken,  dass  unsere  Übersicht  der 
Tageszeitungen  naturgemäss  ganz  lückenhaft  ist.  Es  ist  in  dieser 
Übersicht  nur  dasjenige  berücksichtigt,  was  der  Redaktion  der  KSt.  zu- 
gesandt worden  ist.  Es  fehlen  in  dieser  Übersicht  auch  noch  die  zahl- 
reichen Artikel,  welche  in  den  sozialdemokratischen  Tageszeitungen  bei 
dieser  Gelegenheit  erschienen  sind. 

Fränkischer  Kurier,  Nürnberg,  No.  79,   12.  Februar  1904.     Immanuel  Kant. 
Vossische  Zeitung,  Berlin,  No.  72,  12.  Februar  1904.     Kant  als  Politiker. 
Der  Gesellige,  Graudenz,  No.  35,  36,  37,    11.,  12.,  13.  Februar  1904.     Imma- 
nuel Kant.     Gedenkblätter  zum  lOOjähr.  Todestage  des  grossen  Königs- 
berger  Philosophen.     Mit    Abbildung.     Dazu    noch   Auszüge    „Aus  der 
Philosophie  Kants"  im  Unterh.-Blatt  zu  No.  36. 
Lüneburgsche  Anzeigen,  No.  36,  12.  Februar  1904.     Zum  Gedächtnis  Kants. 
General-Anzeiger,    Halle  a.  S.,    No.  31,    6.  Februar    1904.     Der  Weise    von 

Königsberg.     Mit  Abbildung. 
Heidelberger  Tageblatt,  No.  36,  12.  Februar  1904.     Zum  lOOjähr.  Todestage 

Immanuel  Kants.     Mit  Abbildung. 
Jenaische    Zeitung,    Sonntagsbeilage    No.  7,    14.  Februar   1904.     Immanuel 

Kant. 
Coburger  Tageblatt,  No.  36,  12.  Februar  1904.     Immanuel  Kant. 
Dorf  Zeitung,  Hildburghausen,  Sonntagsblatt  No.  6,  7.  Februar  1904.     Kant. 

Mit  Bildnis. 
General-Anzeiger,    Nürnberg,    No,  35,    11.  Februar  1904.     Immanuel  Kant. 

Zu  seinem  lOOjähr.  Todestage.     Mit  2  Abbildungen, 
Schwäbischer    Merkur,     Sonntagsbeilage    (Schwäbische    Kronik),     No.    60, 

6.  Februar  1904.     Zu  Kants  100.  Todestag. 
Schwäbischer  Merkur,  No.  70 :  „Zum  Todestage  Kants". 
Dresdner  Journal,   No.  35,    12.  Februar  1904.     Zum    Gedächtnis   Immanuel 

Kants. 
Volksblatt,  Halle  a.  S.,  No.  36,  12.  Februar  1904.    Kant.  —  In  der  Beilage: 

Kant  unter  der  Knute. 
Lüneburgsche     Anzeigen,    No.  38,     14.    Februar    1904.      Vom   Büchertisch 

(Romundt). 
Neue   Preussische    (Kreuz-)    Zeitung,    No.  77,    Morgenausg.,    2.  Beil.   „Wie 

Kant  Professor  wurde".  (C.  B.) 
Hamburgischer   Correspondent    vom   13.  Februar  1904    „Der  Hamburgische 

Correspondent  im  Jahre  1804  über  I.  Kant". 
Breisgauer   Zeitung,    Unterhaltungsblatt   vom    12.  Februar  1904  „Zum  100. 

Todestage  Kants".  (A.  M.) 
Berliner  Tageblatt,  No.  73  (10.  Februar  1904).    Ein  Brief  Kants. 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  145 

Kieler  Zeitung,  No.  22060:  „Eine  Kantreliquie". 

Memeler   Dampfboot,   No.  34:    „Kants  Vorfahren    in    und  bei  Memel"  und 

No.  37,  Beil.:  „Erinnerungen  an  Kant". 
Tageblatt  der  Stadt  St.  Gallen,  No.  36,  12.  Februar  1904.     Vom  Tage  (der 

100.  Todestag  Immanuel  Kants). 
Utrechtsch    Provincial    en    Stedelijk    Dagblad,    No.  97,  16.    Februar    1904. 

Kants  Sterfdag. 


Zum  Schlüsse  dieser  Übersicht  sei  noch  erwähnt,  dass  die  „Wiener 
Feuilleton-  und  Notizen-Correspondenz"  (von  Ludwig  Wiener)  eine  Enquete 
(„passives  Interview")  bei  verschiedenen  Gelehrten  veranstaltete,  um  „eine 
kleine  Anzahl  ausgewählter  Urteile  über  die  fortwirkende  Bedeutung 
Kants  zu  erhalten".  Professor  Deussen  (Kiel),  E.  v.  Hartmann  (Berlin)  und 
Professor  Jodl  (Wien)  haben  ihre  Urteile  eingesandt:  Das  erstere  ist  un- 
bedingt anerkennend,  das  zweite  ist  so  ziemlich  ablehnend,  das  dritte 
nimmt  eine  vermittelnde  Stellung  ein.  Deussen  führt  aus,  dass  Kant 
nicht  bloss  die  „Kartenhäuser"  der  alten  Metaphysik  umgestürzt,  sondern 
auch  selbst  eine  neue  metaphysische  Anschauung  begründet  habe,  welche 
für  alle  Zukunft  das  Fundament  echter  Philosophie  bleiben  wird.  Kant 
habe  streng  wissenschaftlich  bewiesen,  was  die  tiefsten  Denker  bis  dahin 
nur  ahnten;  dass  die  Welt  in  Raum,  Zeit  und  Kausalverknüpfung  nur  unser 
„Bewusstseinsphänomen"  sei.  Aber  eben  dadurch  sei  nun  eine  religiöse 
Auffassung  des  Daseins  erst  wieder  möglich,  nachdem  sie  durch  die  Ent- 
deckung des  Copernikus  verloren  gegangen  war,  dass  der  Raum,  in  welchem 
unsere  Körperwelt  sich  bewegt,  unendlich  sei.  Ist  der  Raum  nur  Phä- 
nomen, so  giebt  es  eine  raumlose  absolute  Realität  und  göttliche  Ordnung 
der  Dinge,  die  freilich  unserem  Intellekt  nicht  begreiflich  sei,  da  dieser 
nur  für  diese  empirische  Welt  bestimmt  sei.  —  Während  E.  v.  Hartmann 
dagegen  leugnet,  dass  Kant  „Resultate  geschaffen  habe,  die  in  aller  Folge- 
zeit anerkannt  werden  müssen",  ist  Jodl  der  Meinung,  dass  Kant  den 
„Typus  einer  Weltansicht  geschaffen  hat,  welcher  sich  dem  menschlichen 
Denken  unverlierbar  einprägen  wird"  —  es  wird,  wie  es  seit  Aristoteles 
immer  Aristoteliker,  seit  Spinoza  immer  Spinozisten  gegeben  hat,  so  auch 
nach  Kant  stets  Kantianer  geben.  Die  Kr.  d.  r.  V.  mit  ihrem  „unge- 
heuren Reichtum  an  Gedanken  und  Problemen"  wird  stets  eines  der  be- 
wunderungswürdigsten Gebilde  menschlichen  Scharfsinns  bleiben,  aber 
eben  darum  wird  sie  niemals  populär  werden  können.  Von  den  drei 
grossen  kritischen  Hauptwerken  enthält  die  „Kritik  der  Urteilskraft"  die 
„grösste  Fülle  solcher  Gedanken,  welche  auch  für  denjenigen,  der  nicht 
Kantianer  ist,  unmittelbar  verwertbar  sind,  wie  sie  ja  auch  auf  Goethe 
vorzugsweise  gewirkt  hat". 

Diese  Urteile  sind  in  verschiedenen  Tageszeitungen  zum  Abdruck 
gelangt;  wir  entnehmen  die  Urteile  speziell  der  „Kieler  Zeitung", 
No.  22051. 


Kantstadien  X.  10 


146  H.  Vaihinger, 

B.    Artikel  in  Zeitschriften. 

A dickes,  E.,  Kant  als  Mensch.  Zu  Kants  lOOjähr.  Todestag:.  Deutsche 
Rundschau  XXX,  Heft  5,  S.  195—221.  (Zum  Teil  wieder  abgedr.  in 
der  Saale-Zeitung,  Beil.  No.  41.) 

—  Auf  wem  ruht  Kants  Geist?  Eine  Säkvxlarbetrachtung.  Arch.  f.  syst. 
Philos.  X  (1904),  1—19. 

—  Kant  als  Denker.  Eine  Betrachtung  zu  seinem  lOOjähr.  Todestage 
(12.  Februar  1904).  „Deutsche  Monatsschrift"  (Berlin,  AI.  Duncker), 
III,  Heft  5,  S.  651-674. 

Baeumker,  C,  Immanuel  Kant.  (Zum  100.  Todestage),  „Hochland"  I, 
Heft  5.    (17  S.)    Kempten,  J.  Kösel,  1904. 

Basch,  V.,  Le  Centenaire  de  Kant.  „La  Renaissance  Latine"  III,  2 
(15.  F6vr.  1904),  p.  289-261.     Paris  1904. 

Braig,  K.,  „Kant,  der  Philosoph  des  Protestantismus".  [Mit  Beziehung 
auf  Kaftan.]  „Hist.-polit.  Blätter  f.  d.  kath.  Deutschland".  Bd.  134, 
Heft  2,  S.  81—103. 

Busse,  L.,  Zum  Gedächtnis  Kants.  Festvortrag  auf  der  Deutschen  Lehrer- 
vers, in  Königsberg,  Pfingsten  1904.    Abdr.  a.  d.  „Pädag.  Zeitung".   8  S. 

—  Die  Königsberger  Kantfeier  (12.  und  13.  Februar  1904).  Ztschr.  f. 
Philos.  u.  philos.  Kr.,  Bd.  124,  S.  121  -123. 

Cantoni,  C,  Nel  primo  Centenario  della  Morte  di  Emanuele  Kant. 
Estr.  dalla  Rivista  Filos.    Pavia,  Bizzoni,  1904.    8  p. 

—  Un  capitolo  d'introduzione  alla  Critica  della  Ragione  Pnra.  Rivista 
Filosofica,     Jan.-Febr.  04. 

Cohn,  J.,  Le  Centenaire  de  Kant.  La  Belgique  Contemporaine,  Mai, 
S.  140—147. 

Dorner,  A.,  Zu  Kants  Gedächtnis.  Prot.  Mtshfte.  (Websky)  VIII,  2, 
S.  49—65.     Berlin,  Schwetschke. 

Drews,  A.,  Der  transscendentale  Idealismus  der  Gegenwart.  „Preuss. 
Jahrbücher",  Bd.  117,  Heft  2,  S.  193-224. 

Dwelshauvers,  G.,  Kant  et  le  rationalisme.  „La  Jeunesse  laique", 
Revue  de  la  jeunesse  laique  beige  (Dir.:  N.  Barthelemy).  Tournai, 
Avril  1904.    (p.  232-237.) 

Pastenrath,  Joh.,  Imm.  Kant  in  der  Illustracion  Espanola  y  Americana, 
Madrid,  Febr.  1904. 

Friedländer,  S,  Kants  Vermächtnis.  „Neue  Metaph.  Rundschau«  XI, 
1—12.     Gr.  Lichterfelde,  Paul  Zillmann. 

Gebert,  K.,  Kants  Philosophie,  ein  sicherer  Weg  zu  geistiger  Verinner- 
hchung  und  Vertiefung.  Ein  Gedenk-  und  Mahnwort.  „Das  20.  Jahr- 
hundert" (München,  St.  Bernhards- Verlag)  IV,  No.  10,  S.  105-107. 

Harden,  Max.,  Satirische  Bemerkungen  über  die  Kantfeier.  Zukunft, 
No.  21  und  Nachtrag  dazu  von  Dr.  Fr.  Jünemann,  in  No.  25. 

Herrmann,  W.,  Unsere  Kantfeier.     Christi.  Welt  XVIII,  7. 

Höffding,  Harald,  Professor,  Til  minde  om  L  Kant.  Abhandlungen 
der  Kön.  Dan.  Ges.  d.  Wiss.     Kopenhagen  1904,  No.  1,  S.  13—21. 

Jacobi,  M.,  Ein  Vorläufer  der  Kant-Laplaceschen  Theorie  von  der  Welt- 
entstehung.    [Thomas  Wright].     Preuss.  Jahrb.,  Bd.  117,  244—254. 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  147 

Jacobi ,  M.,  Über  Kant  und  seinen  Vorgänger  Thomas  Wright.  „Prometheus", 
(Berlin,  R.  Mückenberger),  Jahrg.  XV,  No.  754. 

—  Immanuel  Kant  als  Alpenfreund.  Mitteilungen  des  deutschen  und 
österr.  Alpenvereins.     München- Wien,  31.  Jänner  1904. 

Jünemann,    F.  Dr.,    Über   Kants   politische    Anschauungen.      „Zukunft", 
No.  21  und  23. 

—  Pädagogische  Aussprüche  Kants.  Chronologisch  zusammengestellt, 
eingeleitet  und  erläutert.  „Aus  der  Schule  —  für  die  Schule«,  heraus- 
gegeben von  A.  Falcke,  XVI.  Jahrg.,  No.  8  und  9. 

Jugend,  No.  6  und  8. 

Katzer,    E.,    Immanuel  Kant.     Zur  Hundertjahrfeier   seines  Todestags  — 

am  12.  Februar  1904.     Neues  Sächsisches  Kirchenblatt   XI,  6,    Leipzig, 

7,  Februar  1904. 

—  Kantiana  (Übersicht  über  die  neueste  Kantlitteratur).  Die  christliche 
Welt,  vom  11.  Februar  1904. 

Keferstein,  H.,  Zum  Gedächtnis  Immanuel  Kants;  gest.  am  12.  Februar 
1804.     Ztschr.  f.  d.  physik.  u.  ehem.  Unterricht  XVII,  Heft  2,  S.  65— 68. 

Kohnt,  A.,  Immanuel  Kants  Lieblingsspeisen  und  Getränke.  Ein  Ge- 
dächtnisblatt zu  seinem  100.  Todestage.  „Der  Weinkenner"  (Berlin, 
Verl.  Ph.  Brand  &  Co.),  VI,  No.  5,  S.  52—54.  Wieder  abgedruckt  in 
der  Beil.  zum  „Sammler",  Beil    zur  Augsburger  „Abendzeitung",  No.  44. 

Klein,  Tim  Dr.,  Kants  Tischgewohnheiten.  Entgegnung  zu  dem  vor- 
stehenden Aufsatz,  „Sammler",  No.  49. 

Kronenberg,  M.,  Kant  und  die  Aufklärung.  Zum  lOOjähr.  Todestage 
Kants  am  12.  Februar  1904.  „Das  freie  Wort",  Frankfurt  a.  M.,  III, 
No.  22,  S.  864-873. 

Kühnemann,  E.,  Kant.  Kunstwart  XVII,  11.  München,  Callwey, 
März  1904.     (S.  618-627.) 

Lasswitz,  K.,  Der  kritische  Gedanke.  „Die  Nation"  (Berlin,  Verl.  G. 
Reimer),  XXI,  No.  19,  S.  290-292. 

Lipps,  Th.,  Zur  Jahrhundertfeier  des  Todestages  Immanuel  Kants. 
„Deutschland,  Monatsschr.  f.  d.  ges.  Kultur"  (herausgeg.  von  Graf 
von  Hoensbroech),  No.  18.  Berlin,  Schwetschke,  März  1904.  (S.  673-689.) 

Lorey,  W.,  Zur  Erinnerung  an  Kant.  Vortrag,  gehalten  am  5.  Februar 
1904  in  der  Naturforschenden  Gesellschaft.  S.-A.  aus  den  Abhandl. 
d.  Naturf.  Gesellsch.  zu  Görlitz,  Bd.  XXIV,  1904.     (11  S.) 

Münch,  Imm.  Kant  zum  100.  Todestage.  Über  Land  und  Meer,  1904, 
No.  26  (nebst  dem  Döblerschen  Kantbild). 

Pfleiderer,  Otto,  Prof.  der  Theologie,  Berlin.  Herder  und  Kant  in 
ihrer  Bedeutung  für  die  Gegenwart.     Preuss.  Jahrb.,  Juni  1904. 

Reinke,  J.,  Kants  Erkenntnislehre  und  die  moderne  Biologie.  Halb- 
monatshefte der  Deutschen  Rundschau  (Berlin,  Paetel),  Bd.  III,  S.  459 
—467  (15.  Juni  1904). 

Reininger,  R.,  Kant  (Zum  100.  Todestage).  „Das  Wissen  für  Alle" 
(Wien,  Verl.  M.  Perles),  IV  (1904),  No.  9,  S.  129—131  und  No.  10, 
S.  147—149. 

Reischle,  M.,  Kant  und  die  Theologie  der  Gegenwart.  S.-A.  a.  Ztschr. 
f.  Theol.  u.  Kirche  XIV,  5,  S.  367—388.    Tübingen,  Mohr,  1904. 

10* 


148  H.  Vaihinger, 

R.  M.  [Reischle,    M.],   Kant.     Zum    12.  Februar  1904.     Beilage  zu  No.  9 

der  Korrespondenz  für  Innere  Mission.     1904. 
Richter,    Otto,    Gymnasialoberlehrer.      Kants    Lehre    vom  Glauben   und 

Wissen.     Protest.  Monatsh.  (Websky),  Jahrg.  8,  Heft  X 
Richter,    Raoul,    Professor,    Zum    hundertjährigen    Todestage    I.  Kants. 

(Mit  7  Abbildungen.)     Leipziger  Illustrierte  Zeitung  No.  .3163. 
Rossig noli,  G.,  Torniamo  a  Kant?     Scuola  Cattolica.     März  1904. 
Rost,    G.,    Kant.      „Es    werde    Licht",    35.    Jahrg.,    Heft  5,    S.  144-154. 

München,  O.  Th.  Scholl. 
Simon,  The  od.,  Kant  als  Bibelausleger.     Neue  kirchl.  Ztschr.  XV,  Heft  2, 

113—138. 

—  Kant   und    die   Frauen.     „Westermanns    illustr.  deutsche  Monatsliefte" 
(Braunschweig,  Westermann).     Märzheft  1904,  S.  810-815. 

Staudinger,  F.,  Kant  und  der  Sozialismus,  Ein  Gedenkwort  zu  Kants 
Todestage.     Sozialistische  Monatshefte,  Februar  1904,  S    103—114. 

Stein,  L.,  Prof.,  Hat  Kant  Hume  widerlegt?  Zukunft,  XII,  No.  46 
(6.  August  1904). 

Thomsen,  A.,  Privatdozent,  Kant.    Teologisk  Tidsskrift.    Kopenhagen  V, 

S.  273  ff. 
Tschirn,    G.,    Kant.      Sonntags-Blatt    (Freireligiöses    Familien-Blatt)   für 

freie   Gemeinden   und   deren  Freunde.    Jahrg.  VH!,  No.  11.    Breslau, 

13.  März  1904,  S.  81—86. 
Weis,  L.,  Prof.,   Was  kann  Kant  dem  bibelgläubigen  Christen  im  Beginn 

des  20.  Jahrlumderts    sein?     Kons.  Monatsschrift   für  Stadt  und  Land. 

März  1904. 

—  Der   spekulative   und   der   praktische   Gottesbegriff   Kants.     Theolog. 
Studien  u.  Kritiken  (Gotha,  Perthes),  Jahrg.  1904,  Heft  4,  S.  554—692. 

W^ellmer,    Aug.,    Pa.stor,   Imm.  Kant.      Ein    Gedenkblatt.    Daheim    1904, 

No.  19  (6.  Februar  1904). 
Wendland,    J.,    Die  Philosophie  Kants  und  der  Neukantianismus  unserer 

Zeit.    Deutsch-evang.  Blätter  XXIX,  Heft  4,  S.  271-287. 


.1 


C.    Einzelachriften. 

Adler,  Max  Dr.,  Immanuel  Kant  zum  Gedächtnis!  In  den  „Vorträgen 
und  Abhandlungen,  herausgeg.  vom  Sozialwissenschaftlichen  Bildungs- 
verein in  Wien".    Wien  und  Leipzig,  Deutinger.     (47  S.) 

Arnoldt,  Emil,  Über  den  ersten  Teil  der  ersten  Antinomie  der  speku- 
lativen Vernunft.  [Endlichkeit  und  Unendlichkeit  der  Welt  in  An- 
sehung der  Zeit.]  Sep.-Abdr.  a.  d.  Altpr.  Monatsschr.  XLI.  Königs- 
berg, Leupold.     (23  S.) 

Apel,  Max,  Immanuel  Kant.  Ein  Bild  seines  Lebens  und  Denkens.  Ein 
Gedenkblatt  zum  lOOjähr.  Todestage  des  Weltphilosophen.  Berlin, 
C.  Skopnik  (VIII  u.  102  S.) 

Bilharz,  Alfons,  Mit  Kant  -  über  Kant  hinaus.  Ein  Nachtrag  zur 
Centenarfeier.    Wiesbaden,  J.  F.  Bergmann  1904.    (61  S.) 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  149 

Brix,  Th.,  Wider  die  Halben  im  Namen  der  Ganzen  oder:  die  Vernich- 
tung Kants  durch  die  Entwicklungslehre.  Ein  Protest  gegen  die 
Kantverehrung.     Berlin,  Herm.  Walther.     (51  S.) 

Busse,  L.,  Immanuel  Kant.  Ansprache  an  die  Königsberger  Studenten- 
schaft.    Leipzig,  R.  Voigtländer.     (11  S.) 

Cohen,  H.,  Immanuel  Kant.  (Marburger  akad.  Reden.  1904.  No  10) 
Marburg,  N.  G.  Elwert.     (31  S.) 

Cresson,  A.,  La  morale,  de  Kant.     2e  edition.     Paris,  Alcan  1904. 

Elsenhans,  Th.,  Kants  Rassen theorie  und  ihre  bleibende  Bedeutung. 
Ein  Nachtrag  zur  Kant-Gedächtnisfeier.     Leipzig,  Engelmann.     (53  S ) 

Erdmann,  B,  Immanuel  Kant.     Bonn,  Friedr.  Cohen.     (39  S.) 

Ewald,  Oskar  Dr ,  Romantik  und  Gegenwart.  [Bd  I.  Die  Probleme  der 
Romantik  als  Grundfragen  der  Gegenwart]  Den  Manen  1.  Kants 
zum  hundertsten  Todesjahre.     Berlin,  E.  Hofmann  &  Cie.     (227  S.) 

Falckenberg,  R.,  Gedächtnisrede  auf  Kant.  Erlangen,  Junge  &  Sohn. 
23  S.    4«. 

Freudenthal,  J.,  Immanuel  Kant.     Breslau,  M.  &  H.  Marcus.  (32  S.) 

Goldschmidt,  L.,  Kant  über  Freiheit,  Unsterblichkeit,  Gott.  Gemein- 
verständliche Würdigung.     Gotha,  Thienemann,  1904.     (40  S.) 

Güttier,  Wissen  und  Glauben.     2.  Aufl.     München,  Beck  1904. 

Huber,  G.,  Benedikt  Stattler  und  sein  Anti-Kant.  Ein  Beitrag  zur  Ge- 
schichte der  Kantischen  Philosophie  und  zur  100jährigen  Gedächtnis- 
feier des  Todestages  Kants.  I.  Teil:  Stattler  und  seine  Kritik  der 
transsc.  Ästhetik  und  Kategorienlehre  Kants.  Diss.  München,  Lentner 
(XII  u.  109  S.). 

Iwanowski,  Wladimir,  I.  Kant  zum  Gedächtnis  (Russisch).  Kasan 
1904.     (22  S.) 

Jerusalem,  W.,  Kants  Bedeutung  für  die  Gegenwart.  Wien,  W.  Brau- 
müller 1904.     (51  S.) 

Kaftan,  J.,  Kant,  der  Philosoph  des  Protestantismus.  Berlin,  Reuther 
&  Reichard.     (34  S  ) 

Kai  weit,  Paul,  Lic.  Dr.,  Kants  Stellung  zur  Kirche.  Schriften  der  Sy- 
notalkommission  für  ostpreussische  Kirchengeschichte.  Heft  2.  Königs- 
berg i.  Pr.,  Ferd.  Beyer,  1904.    (88  S.) 

Katalog  zu  der  anlässlich  des  100.  Todestages  von  der  Gräfe  &  Unzer- 
schen  Buchhandlung  veranstalteten  Kantausstellung.  Königsberg  i.  Pr. 
Gräfe  &  Unzer.     (39  S.) 

Kr 0 eil,  H.,  Sanitäts-Rat  Dr.,  Die  Grundzüge  der  Kantischen  und  der 
physiologischen  Erkenntnistheorie.     Strassburg,  Beust,  1904.     (48  S.) 

Kronenberg,  M.,  Dr.,  Kant.  Sein  Leben  und  seine  Werke.  2.  neu  be- 
arbeitete und  verm.  Auflage  [mit  Vorrede  zum  100.  Todestage(. 
München,  C.  H.  Beck,  1904. 

Külpe,  O.,  Festrede  in  Kant-Feier  der  Würzburger  Universität.  Würz- 
burg, H.  Stürtz.     (23  S.) 

Labanca,  Baldassare,  La  religione  cristiana  secondo  E.  Kant  (nel  suo 
centenario).     Estratto  della  Nuova  Parola.    Roma  04. 

Lasson,  A.,  Immanuel  Kant.     Berlin,  Weidmann.     (.32  S.) 

LVebmann,  0.,  Immanuel  Kant.    Strassburg,  Trübner.    (18  S.) 


1 

150  H.  Vaihinger,  *' 

Martins,  G.,  Kant.    Kiel,  Lipsius  &  Fischer.    (27  S.) 

Masci,  F.,  Emanuele  Kant.     Napoli,  Stab.  Tip.  della  Universitä.     (59  p.) 

Meyer-Benf ey,    H.,    Herder    und    Kant.      Der    deutsche  Idealismus   und 

seine  Bedeutung  für  die  Gegenwart.    Halle  a.  S.,  Gebauer-Schwetschke. 

(114  S.) 
Natorp,  P.,  Zum  Gedächtnis  Kants.    S.-A.  a.  „Deutsche  Schule",  Heft  II, 

1904.    Leipzig,  J.  Klinkhardt.     (23  S.) 
Pacaut  et  Tremesaygues,  Traduction  de  la  Critique  de  la  Raison  pure. 

Avec  notes.     Paris,  Alcan  1904. 
Paulsen,  Friedr.,  Imm.  Kant.    Sein  Leben  und  seine  Lehre.    4.  Auflage 

[mit  Vorrede  zum  hundertsten  Todestage].    Stuttgart,  Frommann  1904. 
Rausch,  A.,  Sokrates  und  Kant.    Halle  a.  S.,  E.  Strien.    (10  S.) 
Riehl,  A.,  Immanuel  Kant.    Halle  a.  S.,  Niemeyer.    (30  S.) 
Rom  und  t,  H.,  Kants  „Widerlegung   des  Idealismus".    Ein  Lebenszeichen 

der   Vernunftkritik    zu   ihres   Urhebers    lOOjähr,    Todestage.      Gotha, 

Thienemann.    (24  S.) 
Rupp,   J.,    Kants  Stellung   zur  Reform   des  Christentums.    Aufs  neue  ab- 
gedruckt  aus   der  „Religiösen  Reform"    von  1873.    Königsberg  i.  Pr., 

W.  Koch.    (23  S.) 
Schade,   Rod.,   Dr.,    Kant   e   le   Donne.      Tradutto  del  tedesco  di  Adele 

Davidsohn.     Roma,  Tip.  Marghera  1904. 
Schnedermann,    F.,  Dr.  Pfarrer,   Die   bleibende   Bedeutung  I.  Kants   in 

einigen  Hauptpunkten  gezeichnet.     Leipzig,  Hinrichs  1904.     (19  S.) 
Simmel,    G.,   Kant.     Sechzehn   Vorlesungen,    gehalten   an   der   Berliner 

Universität.    Leipzig,  Duncker  &  Humblot,    (VI  u.  181  S.) 
Simon,    Th.,    Immanuel    Kant.      Ein    Umriss   seines   Lebens   und   seiner 

Lehre.      (=  Zeitfragen  des  christl.  Volkslebens  XXIX,  2.)      Stuttgart, 

Belser.    (58  S.) 
Struve,   H.,   Kant  und  die  historische  Tragweite  seines  Kritizismus  (Pol- 
nisch).   Warszawa,  Bibljoteki  Warszawskiej  1904. 
Troilo,  E.,   La  dotfrina  della  conoscenza  nei  moderni  precursori  di  Kant. 

Torino,  Bocca  1904. 
Uphues,   K.  G.,    Professor,   Was   wir   von   Kant   lernen  können.     Oster- 

wieck,  Zickfeld  1905. 
Walter,  J.,   Zum  Gedächtnis  Kants,     Königsberg  i.  Pr.,   Gräfe  &  Unzer. 

(24  S.) 
Wernicke,  A.,  Die  Theorie  des  Gegenstandes  und  die  Lehre  vom  Dmge 
an     sich     bei    Immanuel    Kant.      Oberrealschul-Progr.    Braunschweig. 
(32  S.  40.) 
Windelband,  W.,  Immanuel  Kant  und  seine  Weltanschauung.    Gedenk- 
rede.   Heidelberg,  Winter. 
Zahn,   H.,    „Das  Schöne"  nach  Kants  Kritik  der  Urteilskraft.    Programm 
der    Unterrichts-Anstalten     des    Klosters    St.    Johannes.      Hamburg. 
(31  S.  40.) 


Das  Kantjiibilänm  im  Jahre  1904.  151 

D.     Sammelschriften. 

Zur  Erinnerung-    an  Immanuel    Kant.     Abhandlungen  aus  An- 
lass  der  hundertsten  Wiederkehr  des  Tages  seines  Todes,    herausgeg.    von 
der  Universität    Königsberg.     Halle  a.  S.,  Buchhandlung  des  Waisen- 
hauses, VIU  und  374  S. 
Walter,  J.,  Zum  Gedächtnis  Kants. 
Busse,     L.,     Kants    erkenntnis-theoretischer    Standpunkt    in    der    „Nova 

Dilucidatio". 
Dorner,  A.,  Über  die  Entwickelimgsidee  bei  Kant. 
Hahn,  F.,  Einige  Gedanken  über  Kant  und  Peschel. 
Franke,  O.,  Kant  und  die  altindische  Philosophie. 
Manigk,  A.,  Über  Rechtswirkungen  und  juristische  Thatsachen. 
Uhl,  W.,  Wortschatz  und  Sprachgebrauch  bei  Kant. 
Gradenwitz,   O.,    Der  Wille    des    Stifters:    1.  Kant    und  die  Stiftungen, 

2.  Eine  Stiftungsverhandlung  unter  Kants   Mitwirkung,   3.  Ausblick  in 

die  Zukunft. 
Baum  gart,    H.,     Die    Grundlagen    von    Kants    Kritik    der    ästhetischen 

Urteilskraft. 
Bezzenberger,  A.,  Die  sprachwissenschaftlichen  Äusserungen  Kants. 
Kohlrausch,   E.,   Über   deskriptive    und    normative  Elemente    im    Ver- 
geltungsbegriff des  Strafrechts. 
Jeep,    L.,    Die  Kantischen   Kategorien    und  die  Behandlung    der    antiken 

Grammatik. 
Weiss,     O.,     Die     Synergie     von    Akkomodation     und     Pupillenreaktion. 

Mit  3  Figuren. 
Meyer,  F.,  Kant  und  das  Wesen  des  Neuen  in  der  Mathematik. 
Kowalewski,    A,,   Kants  Stellung   zum  Problem  der  Aussen weltexistenz. 


Altpreussische   Monatsschrift.     Herausgeg.    von   R.   Reicke. 
Bd.    41,    1.    u.    2.  Heft,    Jan.-März    1904,   S.    1—136:    Kant    gewidmet. 
Königsberg  i.  Pr.,  Thomas  &  Oppermann  1904. 
Zum  100.  Todestage  (12.  Februar)  Immanuel  Kants.    Facsimile  des  ältesten 

im  Original  vorhandenen  Kantbriefes. 
Marcus,  E.,  Ein  Weg  zur  widerspruchsfreien  Auslegung  der  Kr.  d.  r.  V., 

S.  1—60. 
Warda,   A.,    Kants    „Erklärung   wegen    der   v.  Hippeischen  Autorschaft", 

S.  61—98. 
Kossmann,    E.  F.,    Ein   unbekannter   Brief   Kants   an  Biester  über  Dirk 

van  Hogendorp,  S.  94 — 100. 
Goldschmidt,  L.,  Kantorthodoxie  wider  Kantorthodoxie,  S.  101—125. 
Thiele,    G.,   Bemerkungen   zum   1.  Bande  der  von  der  Preuss.  Akademie 

herausgeg.  Schriften  Kants,  S.  126 — 130. 
Warda,  A.,  Zur  Frage:  Wann  hörte  Kant  zu  lesen  auf?    S.  131—135. 
Ortner,  M.,  Für  Kant-Liebhaber,  S.  136. 


152  H.  Vaihinger, 

Zu  Kants    Gedächtnis.     Zwölf  Festgaben  zu  seinem  100jährigen 

Todestage.      Herausgeg.    von    H.    Vaihinger   und    B.    Bauch.     Mit    vier 

Beilagen.     Berlin,   Reuther   &   Reichard    1904.     350   S.      (Kantstudien 

IX,  12.) 

Lieb  mann,  0.,  Kant.    Gedicht  zur  Erinnerung  an  den  12.  Februar  1804. 

Windelband,  W.,  Nach  hundert  Jahren. 

Troeltsch,  E.,  Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  Zugleich 
ein  Beitrag  zu  den  Untersuchungen  über  Kants  Philosophie  der  Ge- 
schichte. 

He  man,  F.,   Immanuel  Kants  philosophisches  Vermächtnis.    Ein  Gedenk- 
.blatt  zum  hundertjährigen  Todestag  des  Philosophen. 

Bauch,  B.,  Die  Persönlichkeit  Kants. 

Staudinger,  F.,  Kants  Bedeutung  für  die  Pädagogik  der  Gegenwart 
Zum  Streite  Natorps  mit  den  Herbartianern.  ' 

Kühne  mann,  E.,  Herder  und  Kant  an  ihrem  100jährigen  Todestage. 

Riehl,  A.,  Helmholtz  in  seinem  Verhältnis  zu  Kant.  JL 

Paulsen,  F.,  Zum  hundertjährigen  Todestage  Kants.  * 

Kunze,  G.,  Emerson  und  Kant. 

Schmid,  F.  A.,  Kant  im  Spiegel  seiner  Briefe. 

V.  Aster,  P.,  Die  Neue  Kant-Ausgabe  und  ihr  erster  Band.  | 

Vaihinger,  H.,  Erklärung  der  vier  Beilagen. 
—  An  die  Freunde  der  Kantischen  Philosophie.  Bericht  über  die  Begründung 
einer  „Kantgesellschaft"  und  die  Errichtung  einer  „Kantstiftung". 


Philosophische  Aufsätze.  Herausgeg.  von  der  Philoso- 
phischen Gesellschaft  zu  Berlin  zur  Feier  ihres  GOjährigen  Be- 
stehens und  zugleich  den  Manen  Immanuel  Kants  zur  100jährigen  Gedenk- 
feier seines  Todestages  gewidmet.  Berlin,  Weidmann,  1904.  XII  u.  257  S. 
Lasson,  A.,  Immanuel  Kant.    Zu  seinem  100jährigen  Todestage. 

—  Festrede,  gehalten  bei  der  Kantfeier  im  Jahre  1904. 

Döring,  A.,  Zum  Begriff  der  Philosophie  und  zu  ihrer  Stellung  im  Ge- 
samtsysteme der  Wissenschaften. 

Wenzel,  A.,  Der  Humor  als  Weltanschauung. 

Stern,  W.,  Über  den  Begriff  der  Handlung. 

Ulrich,  G.,  Denken  und  Sein. 

Kahle,  E.,  Über  den  Begriff  des  Bewusstseins  mit  Berücksichtigung  der 
Ansichten  Ferdinand  Jacob  Schmidts. 

Lasson,  A.,  Kausalität. 

Lew  in,  F.,  Die  Wege  zur  Wahrheit. 

Schubart,  J.,  Hegels  ReUgionsphilosophie. 

Jacobsen,  E.,  Energie  und  Entelechie. 

—  Naturphilosophische  Psalmen. 


Wartburgstimmen.  Monatsschrift  für  deutsche  Kidtur.  Heraus- 
geber: Hans  K.  E.  Buhmann.  I.  Jahrg.,  10.  Heft,  Januar  1904.  Thürin- 
gische Verlagsanstalt  Eisenach  und  Leipzig.    Das  Heft  ist  dem  Andenken 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  153 

Kants   gewidmet;    spezielle   Berücksichtigung    findet   Kant    in   folgenden 

Beiträgen : 

C lausen,  E.,  Deutscher  Gruss,  S,  237—239. 

Pfleiderer,  0.,  Die  Religionsphilosophie  Kants,  S.  240—250, 

V.  Schnehen,    W.,    Religion    und    Unerkennbarkeit    des    Übersinnlichen, 

S.  250-258. 
Goldschmidt,  L.,  Immanuel  Kant  und  unsere  Zeit,  S,  288—299. 


Die  Wartburg.  Deutsch-evangelische  Wochenschrift.  München. 
J.  F.  Lehmann,  III.  Jahrg.,  Xo.  6,  5.  Februar  1904.  Kant-Nummer.  Mit 
einem  Bilde  Kants  (farbige  Steinzeichnung  von  Schaupp  in  Anlehnung  an 
Veit  Schnorr). 

Paulsen,  F.,  Wochenspruch. 
Eucken,  R.,  Kant  und  der  Protestantismus. 

Kaftan,  J.,  Das  Verdienst  Kants  um  die  evangelische  Theologie. 
Reinke,  J.,  Kaut  und  der  Zweckbegriff  in  der  Natur. 


Revue  de  Metaphysique  et  de  Morale  (Secretaire  de  la  Re- 
daction:  M.  Xavier  Leon).  Paris,  Armand  Colin,  12e  Annöe,  No.  3,  Mai 
1904.  Numero  specialement  consacre  au  centenaire  de  la  mort  de  Kant. 
Avec  une  Heliogravüre  d'apr^s  une  plaquette  inedite  de  Mademoiselle 
Louise  Staudinger.  Page  279-620  (4  27  P.  Supplement). 
Natorp,  P.,  A  la  memoire  de  Kant. 
Paulsen,  F.,  Pour  le  centenaire. 

Cantoni,  C„  Sur  l'apriorite  de  l'espace  et  du  temps. 
Couturat,  L.,  La  philosophie  des  mathematiques  de  Kant. 
Milhaud,  G.,  La  connaissance  mathematique  et  Tidealisme  transcendental. 
Hannequin,    A.,    Les    principes    de    l'entendement   pur,    leur  fondement, 

leur  importance. 
Basch,  V.,  L'imagination  dans  la  theorie  kantienne  de  la  connaissance. 
Eucken,  R.,  L'äme  teile  que  Kant  l'a  depeinte. 
Erdmann,  B.,  La  critique  kantienne  de  la  connaissance  comme  synthese 

du  rationalisme  et  de  Tempirisme. 
Blunt,  H.,  La  refutation  kantienne  de  l'idealisme. 
Fouillee,  A.,  Kant  a-t-il  etabli  l'existence  du  devoir? 
Boutroux,  E.,  La  morale  de  Kant  et  la  conscience  moderne. 
Ruyssen,  Th.,  Kant  est-il  pessimiste? 
Delbos,  V.,    Les  harmonies  de  la  pensee  kantienne  d'apres  la  critique  de 

la  faculte  de  juger. 
Delacroix,  H.,  Kant  et  Swedenborg. 
Riehl,  A.,  Helmholz  et  Kant. 
Parodi,  D.,  La  critique  des  categories  kantiennes  chez  Charles  Renouvier. 


Bulletin  de  la  Societe  fran^aise  de  Philosophie.     4e  Annee, 
No.  5,  Mai  1904.     Seance  commemorative  du  Centenaire  de  la  Mort  de  Kant. 


154  H.  Vaihinger, 

üellios,  V,,  la  „Critique  de  la  Faciüte  de  juger".  P.  117-124. 
Couturat,  L.,  Kant  et  la  Mathematique  moderne.  P.  125—134. 
Boutroux,  E.,  La  Morale  de  Kant  et  le  temps  present.     P.  135—144. 

Przeglad     Filozoficzny.       Polnische    Philosophische    Zeitschrift. 

HeraiLsgeg.    von    Dr.    W.    Weryho-Warschau.    Jahrg.  VII   (1904),  Heft  4. 

Kant  gewidmet.     Mit  Bildnis. 

Chmielowski,  P.,  Kant  in  Polen. 

Kodis,  J.,  Die  Rolle  Kants  in  der  Philosophie  der  Gegenwart. 

Woroniecki,  A,,  Jean  Sniadeckis  Abhängigkeit  von  D^gerando.  (Ein 
Beitrag  zum  Studium  der  Beziehungen  zwischen  Sniadecki  und  Kant.) 

Kozlowski,  W.  M.,  Kant  und  die  Fragen  .'^einer  Zeit  (Kant  als  Publizist). 

Struve,  H.,  Selbstanzeige  über  „Kant  und  die  historische  Tragweite 
seines  Kritizismus".  * 

Nebst    weiteren    Selbstanzeigen,  Recensionen,  Mitteilungen  und  No- 
tizen (auf  Kant  bezüglich). 

Auch    das    im    März    erscheinende    nächste   Heft   der  Zeitschrift   ist 

Kant  gewidmet  und  wird  folgende  Studien  enthalten: 

Wartenberg,  M.,  Kants  Verhältnis  zur  Metaphysik. 

Twardowski,  K.,  Über  die  Übersetzung  der  philosophischen  Termino- 
logie Kants 

Lewkowicz,  J.,  Über  Kants  Lehre  von  Gott. 

Wasserberg,  J.,  Einige  Bemerkungen  über  den  Kritizismus  Kants  (über 
seine  Genesis  und  über  seine  Bedeutung  dem  Materialismus  gegen- 
über). 


Nachlese. 

An  der  Universität  Charkow,  welche  im  Todesjahre  Kants  gegründet 
worden  ist,  und  an  welcher  der  Hallesche  Kantianer  L.  H.  v,  Jakob  von 
1807 — 1815  Philosophie  und  Staatswissenschaften  gelehrt  hat,  veranstaltete 
der  Verein  „Russische  Versammlung"  eine  Feier,  bei  welcher  Herr  Stra- 
chow,  Professor  am  geistlichen  Seminar,  einen  Vortrag  über  „Kant  als 
Sittenlehrer"  hielt. 

In  Philadelphia  veranstaltete  die  „University  of  Pensylvania",  welche 
im  Verein  mit  der  ,.John  Hopkins  University"  zu  Baltimore  die  „Southern 
Society  for  Philosophy  and  Psychology"  bildet,  Ende  Dezember  1904  das 
erste  „Annual  Meeting"  dieser  Gesellschaft  („in  conjunction  with  the  Ame- 
rican association  for  the  Advancement  of  Science  and  affiliated  Societies"). 
Die  Sitzung  am  28.  Dezember  wurde  („in  Cooperation  with  the  American 
Philosophical  Association")  zu  einer  Nachfeier  für  Kant  gestaltet,  bei 
welcher  u.  A.  Professor  J.  Mark  Baldwin  und  Professor  Edward  Frank- 
lin Buchner  sprachen.  Die  Rede  des  letzteren  hatte  zum  Thema:  „Kants 
attitude  towards  Idealism  and  Realism". 

Zur  Kantfeier  ist  auch  die  deutsche  Kunst  mit  verschiedenen  Er- 
zeugnissen auf  dem  Plan  erschienen.  Es  sind  uns  folgende  bekannt  ge- 
worden : 


Das  Kantjubiläum  im  Jahre  1904.  155 

1.  Plakette  von  Fräulein  Louise  Stau  ding  er  in  Darmstadt: 
Kopf  Kants  im  Anschluss  an  das  Dresden-Königsberger  Kantbild  modelliert 
(Abgüsse  in  Bronze,  12X12  cm,  ä  50  M.).  Näheres  über  dieses  ausgezeich- 
nete Kunstwerk  s.  KSt.  IX,  S.  567. 

2.  Radierung  von  Fräulein  Clara  Meilin  in  Berlin:  Halbfigur 
Kants  im  Anschluss  an  Rauchs  Statue  (Abdrücke  12X29  cm,  ä  3  M.). 
Näheres  über  diese  wohlgelungene  Darstellung  s.  KSt.  IX,  S.  566. 

.'{.  Medaille  von  A.  M.  Wolff  in  BerHn;  Avers:  Kopf  Kants  in 
Anlehnung  an  das  Döblersche  Bild;  Revers:  Allegorische  Figur  zur  Ver- 
sinnlichung  der  Worte :  ..der  bestirnte  Himmel  über  mir  und  das  mora- 
lische Gesetz  in  mir"  (Abgüsse  in  Bronze  oder  Silber  zu  41/2  oder  12  M. 
in  der  Medaillenmünze  von  A.  Werner  &  Söhne  in  Berlin).  Näheres  über 
die  Medaille  s.  KSt.  IX,  567. 

4.  Relief  von  A.  Heinrich  in  Berlin:  Kant  und  Friedrich  d.  Gr. 
nebst  einem  Ausspruch  von  Kuno  Fischer  über  das  Verhältnis  beider.  Das 
ReHef  ist  auf  Veranlassung  von  Herrn  John  A.  Leber  verfertigt  (Ab- 
güsse des  Reliefs,  24i'2X20  cm,  in  Bronze  zu  60  M.  in  der  Bildgiesserei 
von  H.  Gladenbeck  &  Sohn  in  Friedrichshagen).  Abbildung  des  Reliefs 
nebst  Text  s.  im  Festheft-  der  KSt.  IX,  S.  343. 

5.  Ausserdem  hat  die  Firma  Gräfe  &  Unzer  in  Königsberg  nach 
der  in  ihrem  Besitz  befindlichen  Collinschen  Paste  eine  Reproduktion 
(in  Gyps  und  in  Porzellan)  herstellen  lassen,  da  die  früheren  Abgüsse  seit 
vielen  Jahren  vergriffen  waren.  Die  Collinsche  Paste,  von  der  die  KSt. 
im  1.  Heft  des  VH.  Bandes  eine  Avohlgelungene  Abbildung  gebracht  haben 
(vgl.  KSt.  VU,  S.  168,  382  ff.,  505),  ist  im  Jahre  1782  verfertigt  worden 
und  ist  eines  der  besten  Kantbilder. 

6.  Bemerkenswert  ist  noch  die  (schon  oben  S.  153  erwähnte)  Bei- 
lage zu  No.  6  der  ,, Wartburg "  :  eine  farbige  Steinzeichnung  von  Schaupp, 
in  Anlehnung  an  das  Kantbild  von  Veit  Schnorr  (Abzüge  des  Kunst- 
druckes, 22X29  cm  zu  60  Pf.  durch  den  Verlag  von  J.  F.  Lehmann  in 
München). 

7.  Die  übrigen  Reproduktionen  von  Kantbildern  in  Zeitschriften 
u.  s.  w.  brachten  nur  bekannte  Bilder ;  das  einzig  bisher  unbekannte  Kant- 
bild, das  bei  dieser  Gelegenheit  zum  Vorschein  kam,  brachten  die  „Kant- 
studien" in  ihrem  Festheft:  eine  sehr  gelungene  Silhouette  Kants, 
welche  seitdem  das  ständige  Emblem  der  „Kantstudien"  geworden  ist. 

Erwähnt  seien  hier  endlich  noch  mehrere  mit  Kantbildern  ge- 
schmückte Buchhändlerkataloge  (von  Alfred  Lorentz  in  Leipzig, 
J.  Ricker  in  Giessen  und  E.  Kantorowicz  in  Berlin),  in  welchen  sehr 
viele  antiquarische  Kantiana  enthalten  sind.  Da  die  älteren  Kantiana 
immer  seltener  werden,  seien  Liebhaber  darauf  aufmerksam  gemacht. 

Endlich  —  Jasf,  not  least  —  sei  noch  erwähnt,  dass  Herr  Konsul 
Bernhard  Brons  in  Emden  (Mitglied  der  „Kantgesellschaft"),  ein 
schwungvolles  Erinnerungsgedicht  auf  Kant  in  einem  Privatdruck  hat  her- 
stellen lassen. 


Kants  Tod,  seine  letzten  Worte  und  sein  Begräbnis. 

Eine  synoptische  Studie. 
Von    Dr.    Franz    Jünemann. 


Nach  der  Bibel;  „Unser  Leben  währet  siebzig  Jahr,  und 
wenn'g  hoch  kommt  achtzig  Jahr,  und 
wenn 's  köstlich  war,  ist  es  Mühe  und 
Arbeit  gewesen." 

Kant  iu  seinem  MerkbUchlein 
unter  dem  aO.  April  1803. 

Am  12.  FeVtruar  1904,  wo  wir  uns  all  das  Grosse  und  Unsterbliche 
vergegenwärtigten,  was  der  gewaltigste  Denker  deutscher  Nation  ge- 
schaffen hat,  wo  wir  uns  aber  auch  liebevoll  versenkten  in  den  Menschen 
Kant,  in  die  edle  Einfalt  und  stille  Grösse  seiner  Persönlichkeit  nicht 
minder  wie  in  all  das  Zufällige,  Kleine  und  manchmal  Kleinliche  des 
trotz  hoher  Triumphe  doch  vielleicht  von  stiller,  herber  Tragik,  von 
schmerzlicher  Resignation  durchbebten')  äusseren  Lebens  .  .  .,  wo  wir 
Zwiesprache  hielten  mit  den  Geisteni  jener  Zeit,  wo  die  vergilbten  Blätter, 
vom  Hauche  des  Unsterblichen  berührt,  neues  Leben  atmen,  —  da  war  es  be- 
sonders ein  Symbol,  das  mich  erinnerungsmächtig  an  die  Stunde  seines  Heim- 
ganges gemahnte:  Reusch,  einer  der  letzten  Tischgenossen  des  Philo- 
sophen, berichtet  uns:  „Der  Tag,  an  welchem  Kant  verschieden,  war  so 
klar  und  wolkenlos,  wie  es  bei  uns  nur  wenige  giebt;  nur  ein  kleines, 
leichtes  Wölkchen  im  Zenith  schwebte  am  azurblauen  Himmel.  Man  er- 
zählte, ein  Soldat  habe  auf  der  Schmiedebrücke  die  Umstehenden  darauf 
aufmerksam  gemacht  mit  den  Worten:  Sehet,  das  ist  die  Seele  Kants,  die 
gen  Himmel  fliegt"  ...  2)  Und  auch  am  säkularen  Gedächtnistage  und  in 
Jena,  wo  ich  ihn  zubrachte,  in  Jena,  wo  die  Seele  des  Denkers  Kant, 
seine  Philosophie,  ihre  reichste,  ihre  fruchtbarste  Wirkung  entfaltet, 
wo  sie  während  eines  Jahrhunderts  ihr  bestes  Leben  gelebt  hat,  ange- 
fangen ven  Reinhold  und  Schiller  und  Fichte  bis  zur  Gegenwart,  —  auch 
liier  strahlte  die  Sonne  am  blauen  Himmel,  an  dem  sich  nur  wenige  lichte 
Wölkchen  blicken  Hessen,  und  sie  ergoss  ihren  milden,  wärmenden  Schein 
über  Berge  und  Stadt. 

Die  gebrechliche  Hülle  jedoch,  die  solch  unermessenes  Geistes-  und 
Kulturwerk  barg,  sie  musste  der  ehernen  Notwendigkeit  ihren  Tribut  ent- 
richten. Spät  zwar,  erstaunlich  spät  für  ihre  Schwäche  und  erst  nach 
langen  Kämpfen  mit  dem  sich  dawider  aufbäumenden  Herrn ;  doch  endlich, 
am  12.  Februar  vor  hundert  Jahren  um  11  Uhr  Vormittags,  da  war  auch 
ihre  Zeit  abgelaufen,  da  stand  ihr  Herz  im  Tode  still. 

1)  Vgl.  die  feinsinnige  Studie:  Kant  im  Spiegel  seiner  Briefe  von 
F.  A.  Schmid  (in:  Zu  Kants  Gedächtnis;  12  Festgaben  zu  seinem  hundert- 
jährigen Todestage,  herausgeg.  von  H.  Vaihinger  und  B.  Bauch,  1904). 

~)  Kant  und  seine  Tischgenossen,  S.  11.  (Vgl.  Schopenhauer,  Sänitl. 
W.,  herausgeg.  von  E.  Grisebach,  V.  Band,  S.  693.) 


Kants  Tod,  seine  letzten  Worte  und  sein  Begräbnis.  157 

Verg-änglichkeit !  —  Erloschen  ist  das  Licht, 
Erstarrt  das  Auge,  das  die  Welt  durchdrungen, 
Geknickt  der  Flügel,  der  im  Angesicht 
Der  Menschheit  sich  zum  Himmel  aufgeschwungen 
Ein  Sonnenuntergang  — ,  und  Xacht  umflicht 
Den  Geist,  der  sich  zum  Tag  emporgerungen. 

Otto  Liebmann,    Kant;   zur  Erinnerung  an  den 
12.  Februar  1804  (Zu  Kants  Gedächtnis). 
1797  war  Kant  von  dem  akademischen  Lehramte  zurückgetreten,  i)  Die 
Kräfte   seines    Körpers,    der   von    Xatur   ungemein    zart   gebaut    und    nur 
durch  streng   geregelte  und  befolgte  Diät  so  lange  erhalten  war,    nahmen 
mit    wachsender  Schnelligkeit   ab.     Schon  1799  erklärte  der  Greis:    Meine 
Herni,  ich  bin  alt  und  schwach;  Sie  müssen  mich  wie  ein  Kind  betrachten. 
Dem  Tode    blickte    er  jetzt  nicht  nur  gefasst,    sondern  selbst  freudig  ent- 
gegen.    Er,    daran  gewöhnt,    um  zehn  Uhr  zu  Bett  zu  gehen  und  um  die 
fünfte  Stunde    sicli    wieder   zu  erheben,  sah  sich  genötigt,    der  Nachtruhe 
immer  längere  Zeit  zu  widmen ;   dabei  erschreckten  ihn  aber  häufig  phan- 
tastische   Träume,    und    er   glaubte    sich    noch    im    wachen    Zustande    von 
Räubern    und  Mördern    umgeben.     Die    täglichen  Spaziergänge    fielen    all- 
mählig    ganz    fort,    da   ihn    die  Füsse    kaum    noch    zu  tragen  vermochten. 
Auch    die  Esslust   verminderte   sich.     Am  22.  April  1803  feierte  eine  fröh- 
liche Tafelrunde  zum  letzten  Male   bei  ihm  seinen  Geburtstag.     Kant,   der 
sich    auf   das  Fest  sehr   gefreut  hatte,    machte  jedoch  an  dem  Tage  selbst 
einen  matten  und  abgestumpften  Eindruck.     Die  Sinnes-  und  Geistesfähig- 
keiten   begannen    ebenfalls    zu  schwinden;    namentlich  litt  das  früher  aus- 
gezeichnete Gedächtnis.     Er   legte    sich  deshalb  kleine  Erinnerungsbücher 
an,    in    die    er   in   rapsodischer  Form  eintrug,  was  für  ihn  interessant  und 
zu   merken  2)    war.     So    verzeichnet    er   zwei  Tage  nach  dem  80.  Geburts- 
feste das  oben  als  Motto  benutzte  Bibelwort.     Sein  körperlicher  Scliwäche- 
zustand,  der  ihn  oft  zu  Falle  kommen  Hess,  wuchs  derartig,  dass  er  um  die 
Mitte    des  Jahres  I8(f3    ausser   dem  Diener    und    dem    ehemaligen  Schüler 
und     getreuen    Freunde    Wasianski     noch     einer    beständigen    weiblichen 
Pflegerin  bedurfte.     Man  wählte  dazu  seine  allein  noch  lebende  Schwe.ster, 
Frau  Theuerin  mit  Namen,  die  Wittwe  eines  Handwerkers,  der  ihr  Bruder 
eine    lebenslängliche  Rente    ausgesetzt    hatte.     Sechs  Jahre  jünger  als  er, 
war  sie  noch  im  Vollbesitz  ihrer  Körper-  und  Geisteskräfte.  —  Aus  dieser 
Zeit    besitzen    wir    eine  Schilderung  Jachmanns,   die  so  schlicht  und  doch 
so  ergreifend,  so  packend  und  so  innerlich  lebenswahr  ist,   dass  ich  nichts 
kenne,    was    den    Leser   so    unmittelbar   in    die    damalige  Verfassung    des 
Greises    versetzen    möchte.     Ich  denke  daher,    er  wird  mir  für  eine  mög- 
lichst   vollständige    Widergabe    Dank    wissen.      „Am    1.  August,"    erzählt 
Jachmann,    „sah    ich  zum  letzten  Mal  meinen  grossen  Lehrer  und  Freund. 
Aber  welch  eine  traurige  Veränderung  hatte  sich  mit  dem  grossen  Manne 
zugetragen!     Meine    Freunde    in  Königsberg   hatten    mich  zwar  schon  auf 
einen    schmerzhaften    Anblick    vorbereitet,   ja   sie    hatten    mir   selbst   von 
einem    Besuche    abgeraten,    aber   ich  konnte  meinem  Herzensdrange  nicht 

1)  Das  Folgende  in  der  Hauptsache  nach.  C.  A  Ch.  Wasianski,  Imm. 
Kant  in  seinen  letzten  Lebensjahren,  1804  (vgl.  die  Zusammenfassung  bei 
Schubert,  Leben  Kants,  1842,  S.  170  ff.)  und  F.  Bessel-Hagen.  Die  Grab- 
stätte 1mm.  Kants  u.  s.  w.,  1880.  Ferner  weise  ich  hin  auf  die  Notizen 
der  Königsberger  „Königlich  Preussischen  Staats-,  Krieges-  und  Friedens- 
Zeitungen"  vom  13.,  16.,  23.  und  26.  Februar  1804,  sowie  auf  die  ausführ- 
liche Schilderung  des  Leichenbegängnisses  ebenda  in  der  Nummer  vom 
1.  März.  (Wieder  abgedruckt  in  der  Festnummer  der  „Königsberger  Har- 
tungschen  Zeitung"  zum  verflossenen  Kant-Jubiläum.) 

2j  Schubert  a.  a.  0.  S.  161,  Anmerkung,  berichtet,  dass  er  in  einem 
solchen  Büchlein,  das  etwa  4  Wochen  gereicht  habe,  fünfmal  verzeichnet 
fand:  „Mein  Barbier  heisst  Rogall!" 


158  F.  Jünemann', 

widerstehen  .  .  .  Mit  einer  nie  gehabten  Empfindung  öffnete  ich  das  Stu- 
dierzimmer  des  Weltweisen,    wo    ich    sonst  in  dem  engeren  Kreise  seiner 
Freunde    das  Glück    seines    besonderen  Unterrichts    und   seiner  vertrauten 
Freimdschaft  genoss.     Aber  denken  Sie  sich  mein  Gefühl!     Kaum  war  ich 
ins  Zimmer  getreten,  so  erhob  sich  der  gebückte  Greis  von  seinem  Stuhle 
und    kam    mit   schwankendem    Tritte    mir    entgegen.      Ich    flog   mit  weh- 
mütigem Herzen  an  seine  Brust,  ich  drückte  ihm  meinen  kindlichen  Kuss 
auf  die  Lippen.     Ich  bekannte  ihm  meine  Freude,    ihn  wiederzusehen  und 
er,  —  er  blickte  mich  mit  mattem,  forschendem  Auge  an  und  fragte  mich 
mit   freundlicher  Miene,    wer   ich    wäre.     Mein    Kant    kannte    mich    nicht 
mehr !    Er  bat  sogleich  darauf  um  die  Erlaubnis,  sich  setzen  zu  dürfen,  . . . 
nötigte     mich    gleichfalls    mit    seiner    gewöhnlichen    Freundlichkeit    zum 
Sitzen    und    erkundigte    sich    von    neuem,    wer   ich  wäre.     Ich  führte  ihm 
verschiedene,    ihm    sonst   wohlbekannte  Umstände    aus  meinem  Leben  an, 
aber  sie  waren  gänzlich  aus  seinem  Gedächtnis  verwischt.    Ich  nannte  ihm 
verschiedene  wichtige  Dinge,  bei  welchen  wir  gemeinschaftlich  thätig  ge- 
wesen   waren,    aber    sie    hatten    in   seiner  Seele  keine  Spur  mehr  zurück- 
gelassen.    Ich    machte   ihn    auf   Orte    und  Personen  aufmerksam,    wo  und 
mit   welchen    wir    öfter  zusammen  gewesen  waren,    ich  führte  ihm  Hand- 
lungen   an,    die    er   selbst   für  mich  mit  so  vieler  Teilnahme  verübt  hatte, 
aber  auch  diese  konnten  mich  ihm  nicht  mehr  in  Erinnerung  bringen.     Es 
war  schmerzhaft  zu  sehen,  wie  der  schwache  Greis  sich  anstrengte,  um  in 
die  Vergangenheit    von    wenigen   Jahren    zurückzublicken  und  die  gegen- 
wärtige Anschauung  von  mir  mit  vormals  gehabten  Vorstellungen  zu  ver- 
knüpfen, und  doch  gelang  es  ihm  nicht.     Um  das  Gespräch  nicht  gänzlich 
sinken    zu   lassen,    erkundigte  ich  mich  bei  ihm  nach  solchen  körperlichen 
Umständen,    über  welche  er  sonst  gewöhnlich  zu  sprechen  pflegte,    und  es 
schien  ihm  angenehm  zu  sein,  dass  ich  ihn  in  seinen  engen  und  vertrauten 
Gedankenkreis  zurückführte.     Er  sprach  nun  dieselben  Sachen  und  Worte, 
die  ich    schon    sonst  öfter  aus  seinem  Munde  gehört  hatte;    aber  auch  bei 
diesem,    ihm    so    vertrauten  Gespräche    blieben  ihm  die  Gedanken  stehen, 
und    er   konnte   zu    manchem   kleinen  Satze  nicht  das  Schlusswort  finden, 
sodass  seine  hochbejahrte  Schwester,  welche  hinter  seinem  Stuhle  sass  und 
dasselbe    Gespräch    vielleicht   schon    oft   gehört   hatte,    ihm    das   fehlende 
Wort   vorsprach,    was    er   dann    selbst    hinzufügte.     Während  unseres  Ge- 
sprächs,   bei    welchem  er  mich  ununterbrochen  ansah,    rief  er  einige  Male 
mit    einer    Äusserung   von    Freude    aus:    ,Ihr   Blick    wird   mir   immer  be- 
kannter!'    Ich    hoffte   mit  Entzücken   bei    diesem    frolien  Ausruf,    dass  er 
sich    meiner   vielleicht    doch    noch    erinnern    würde,    aber   vergebens.     Es 
blieb  bei  diesem   sich    aufhellenden  Sinnenbilde,  das  in  keinen  Verstandes- 
begriff melir   umgeformt  werden  konnte.     Ich  musste  ihn  verlassen,    ohne 
von    ihm    wiedererkannt    worden   zu    sein.      Der  Greis    selbst  schien  über 
sein    geschwächtes   Erinnerungsvermögen    einige    Rührung   zu  empfinden. 
Als    ich   mich   zum  Abschied    anschickte,    bat   er   mich    einige    Male:    ich 
möchte    mich    doch    nur   seiner  Schwester   umständlich    erklären,    wer  ich 
wäre;    sie    würde  es  ihm  dann  wohl  gelegentlich  beibringen.     Ich  that  es, 
und  das  gute  Mütterchen  kannte  mich  auch  aus  früherer  Zeit  noch  genug, 
um  mich  ihm  womöglich  noch  einmal  ins  Gedächtnis  zurückzurufen.    Hier- 
auf umarmte  ich    meinen    grossen  Lehrer  zum  letzten  Mal  und  schied  von 
ihm  mit    wehmütigem  Herzen    und    mit    thränenden    Augen",  i)  .  .  .    Eine 
gewaltige  Tragik    spricht  aus  dieser  Schilderung;    die  gesamte  Geschichte 
von  Menschengrösse   und  Menschenkleinheit   ist  hierin  zusammengedrängt. 
Der  Mann,    der   eine    neue  Welt   in    seinen  Begriffen  geschaffen  und  ge- 
tragen,   er    musste    sich  von  der  einfachen  Schwester,    von  der  Armut  im 
Geiste  belehren  lassen.  —  Seine  Augen,   die  ehemals  durch  ihr  Feuer  und 
durch  ihr  tiefes  Blau  so  faszinierend  wirkten,    wurden    täglich  schwächer; 
während    er   mit  dem  linken  schon  seit  20  Jahren  nicht  mehr  sah,    büsste 

1)  Jachmann,    Imm.  Kant   geschildert   in  Briefen    an    einen    Freund, 
1804;  17.  Brief. 


Kants  Tod,  seine  letzten  Worte  und  sein  Begräbnis.  159 

nun  auch  das  rechte  die  Sehkraft  allmählig:  ein.  Im  Oktober  befiel  ihn 
eine  ernstere  Krankheit.  Bisher  hatte  er  weder  Doktoren  noch  Medika- 
mente gebraucht,  teils  weil  er  ihrer  nie  wirklich  bedurfte,  zum  Teil  auch, 
weil  er  nichts  von  ihnen  hielt.  Jetzt  freilich  wird  das  anders.  Als  er 
nach  fünf  Tagen  von  der  Krankheit  wieder  ziemlich  genesen  war,  besass 
sein  Gemüt  die  frühere  Heiterkeit  nicht  mehr.  Zu  Anfang  des  Jalires 
1804  wurde  er  für  jede  Bescliäftigung,  selbst  für  das  Essen,  gänzlich  teil- 
nahmslos. Nur  mit  Mühe  vermochte  er  sich  noch  auf  dem  hochgepolsterten 
Sessel  zu  halten  Am  .3.  Februar  besuchte  ihn,  wie  in  der  letzten  Epoche 
alltäglich,  sein  Arzt,  Professor  Eisner.  Kant  geht  ihm  zur  Begrüssung 
entgegen.  Von  Eisner  wird  er  aufgefordert,  sich  wieder  zu  setzen:  er 
zaudert  aber,  obwohl  er  vor  Schwäche  fast  hinsinkt.  Wasianski,  der 
hierin  die  weltmännische  Feinheit  des  Philosophen  erkennt,  sucht  den 
Arzt  zu  überzeugen,  dass  sich  der  Kranke  nicht  setzen  wolle,  bevor  sein 
Besucher  Platz  genommen.  Der  Professor,  dem  dies  kaum  glaublich  er- 
scheint, ist  doch  beinahe  zu  Thränen  gerührt,  als  Kant  nun  mit  An- 
strengung aller  Kräfte  erklärt:  Das  Gefülü  für  Humanität  hat  mich  noch 
nicht  verlassen!  „Das  ist  ein  edler,  feiner  und  guter  Mann!  riefen  wir 
wie  aus  einem  Munde  uns  zu",  so  schliesst  der  Biograph  die  hübsche 
Episode. 

Am  8.  Februar  legte  sich  der  gebrechliche  Greis  auf  sein  Sterbe- 
lager. Die  Bewusstlosigkeit,  die  schon  am  folgenden  Tage  eintrat,  wich 
teilweise  am  10.  wieder.  Am  11.  fand  ihn  Wasianski  beim  Besuche  mit 
gebrochenen  Augen  vor.  Kant  bot  ihm  die  Lippen  zum  Kusse  dar,  womit 
er  dem  Treuen  wohl  für  so  ergebene  Freundschaft  und  so  langjährige 
Dienste  danken  wollte.  In  der  Nacht  vor  seinem  Tode  wünschte  er  noch- 
mals etwas  zu  trinken.  Wasianski  reichte  ihm  eine  Mischung  von  Wein 
und  Wasser.  Als  der  Sterbende  den  Durst  gelöscht  hatte,  sagte  er  mit 
leiser,  aber  vernehmlicher  Stimme:  „Es  ist  gut."  Das  war  sein  letztes 
Wort.  Um  ^  ^4  Uhr  Morgens  legte  er  sich  gleichsam  entgültig  zu  dem 
Schlussakte  zurecht,  und  er  behielt  diese  Lage  bis  zum  Tode  bei.  Der 
Körper  ist  schon  schwer  erkaltet,  als  um  10  Uhr  Vormittags  die  letzten 
Zeichen  der  Auflösung  nahen :  das  Auge  wird  völlig  starr,  die  Lippen  ent- 
färben sich,  Totenblässe  bedeckt  das  Gesicht.  Die  Schwester  steht  am 
Fussende  des  Bettes,  ein  Neffe  an  der  gegenüberliegenden  Seite.  Wa- 
sianski kniet  zur  bessern  Beobachtung  nieder,  um  keinen  Zug  dieses 
grossen  Dramas  zu  verlieren.  Ein  Freund  Kants  und  der  Diener  betreten 
das  Zimmer  noch  im  letzten  Augenblick.  Schon  wird  der  Atem  schwächer, 
schon  wird  er  unregelmässig.  Da .  .  .,  die  Oberlippe  zuckt  ein  wenig,  ein 
leiser,  letzter  Atemzug  .  .  .,  der  Genius  ist  entflohen.  Maschinenartig 
geht  der  Puls  noch  einige  Sekunden,  dann  stockt  auch  dieser  Mechanismus 
für  immer  .  .  .  Ein  Sonntag  ists  und  gerade  schlägt  die  Uhr  elf.  —  Kants 
Tod  war,  wie  der  Augenzeuge  urteilt,  kein  gewaltsamer  Akt  der  Natur ; 
er  glich  dem  langsamen  Erlöschen  eines  flackernden  Lichtes. 

Trotzdem  man  in  der  Stadt  längst  auf  alles  gefasst  war,  machte  die 
blitzartig  sich  verbreitende  Nachricht  von  dem  Hinscheiden  des  Grossen 
doch  einen  gewaltigen  Eindruck  auf  die  Gemüter.  Jeder  fühlte  den  Ver- 
lust dessen,  der  fast  drei  Menschenalter  mit  der  Heimat  aufs  Innigste 
verwachsen  und  seit  einem  Vierteljahrhundert  der  Ruhm  und  Stolz  seiner 
Mitbürger  gewesen  war.  —  An  dem  darauf  folgenden  Montage  brachte 
die  dortige  Staats-,  Kriegs-  und  Friedenszeitung  an  ihrer  Spitze  folgende 
Notiz:  „Königsberg,  den  Id.  Februar.  Heute  Mittag  um  11  Uhr  starb  hier 
an  völliger  Entkräftung  im  80sten  Jahr  seines  Alters  Immanuel  Kant. 
Seine  Verdienste  um  die  Revision  der  speculativen  Philosophie  kennt  und 
ehrt  die  Welt.  Was  ihn  sonst  auszeichnete,  Treue,  Wohlwollen,  Recht- 
schaffenheit, Umgänglichkeit  —  dieser  Verlust  kann  nur  an  unserm  Orte 
ganz  empfunden  werden,  wo  also  auch  das  Andenken  des  Verstorbenen 
am  ehrenvollsten  und  dauerhaftesten  sich  erhalten  wird."  Die  wenigen, 
aber  würdig  gehaltenen  Zeilen  entstammen  vielleicht  der  Feder  Wasianskis. 
Einige  Tage  später,   am  16.  und  nochmals  am  20.  Februar,    veröffentlichte 


160  F.  Jünemann, 

er  in  demselben  Blatte  die  Todesanzeige.  Sie  besagt:  „Den  12.  Februar  c. 
Mittags  um  11  Uhr  starb  Herr  Professor  Immanuel  Kant,  alt  79  Jahre 
10  Monathe,  ohne  vorhergegangene  Kranklieit  an  der  eigentlichen  Ent- 
kräftung vor  Alter.  Im  Namen  seiner  hiesigen  und  abwesenden  Ver- 
wandten meldet  diesen  Todesfall  seinen  gesamten  Freunden  der  Diakonus 
Wasianscki  als  Cur.[ator]  Fun  [eris]  und  Executor  Testament!".  Inzwischen 
hatte  schon  eine  förmliche  Wallfahrt  nach  dem  Trauerhause  begonnen. 
Gross  imd  Klein,  Jung  und  Alt,  Reicli  und  Arm,  Vornehm  und  Gering, 
alles  pilgerte  zu  der  weihevoll-ernsten  Stätte,  um  noch  einmal  die  Hülle 
des  teuren  Entschlafenen  zu  schauen.  Selbst  der  alltäglichste  Mensch  em- 
pfand die  Majestät  des  Todes  an  diesem  Könige  im  Reiche  der  Geister. 
Zu  seinen  Füssen  wurde  von  unbekannter  Hand  ein  Gedicht  niedergelegt 
mit  der  Aufschrift:  Den  Manen  Kants.  Wasianski  meint  freilich  scherzend, 
weder  er  noch  seine  Freunde  hätten  die  hohe  Sprache  fassen  können. 
Allgemeine  Verwunderung  erregte  die  beispiellose  Abgezehrtheit  des 
Körpers.  Bemerkte  doch  der  Philosoph  zu  Lebzeiten  öfter  den  Tischge- 
nossen gegenüber,  er  habe  nun  wohl  bald  das  Minimum  von  Muskular-Sub- 
stanz  erreicht ;  und  über  einen  gewissen  Körperteil  setzte  er  humorvoll 
hinzu :  auf  diesem  Punkte  scheine  er  alle  Eminenz  verloren  zu  haben,  i) 
Nur  bei  einer  so  völligen  Fleischlosigkeit  war  es  möglich,  den  Toten 
sechszehn  Tage  lang  aufgebahrt  liegen  zu  lassen,  ohne  ihn  einzubalsa- 
mieren. Ursprünglich  dürfte  allerdings  die  Bestattung  früher  angesetzt 
gewesen  sein ;  wenigstens  muss  man  das  folgern  aus  einer  Notiz  der  ge- 
nannten Königsberger  Zeitung  vom  23.  Februar.  Einen  Gypsabguss  des 
ganzen  Kopfes  nahm  damals  Professor  Knorr.  Der  Schädel  wurde  nach 
der  Methode  Galls  von  dem  Prosector  Dr.  Kelch  in  einer  besonderen  Ab- 
handlung beschrieben.  Da  der  Kopf  jenes  Abgusses  wegen  geschoren 
wurde,  so  entstand  kurz  darauf  ein  bedeutender  Handel  mit  Ringen,  die 
aus  dem  Silberhaar  des  Verblichenen  geflochten  waren.  Jachmann  giebt 
sogar  der  Ansicht  Ausdruck,  es  würden  schliesslich  mehr  Kantische  Haar- 
ringe im  Publikum  sein,  als  der  Philosoph  je  einzelne  Haare  gehabt  habe!^) 

Bestimmungen  über  sein  Begräbnis  fanden  sich  in  Kants  Nachlass 
auf  einem  Zettel  aus  dem  Jahre  1799.  Der  Wortlaut  zeugt  von  dem  Ver- 
fall der  geistigen  Kräfte  des  grossen  Mannes.  „Ich  will,''  so  liest  man  da, 
„dass  mein  Begräbnis  den  dritten  Tag  nach  meinem  Tode  unter  Begleitung 
zweier  oder  dreier  Kutschen  mit  meiner  [!]  dazu  erbetenen  Umgangs- 
freunde früh  Vormittags  und  zwar  auf  den  neuen  Kirchhof  am  Steindamra- 
schen  Thor  (wo  auch  Hippel  eingesenkt  worden  ehe  sein  Körper  in  sein 
Majorat  übergebracht  ward)  begraben  worden  [!!]  nach  Anleitung  und  im 
Beisein  des  dazu  erbetenen  Hm.  Regierungsrat  Vigilantius  (oder  im  Wei- 
gerungsfalle) Herrn  Professor  Rink  u.  s.  w.  welche  auch  die  Güte  haben 
wollen  ohne  dass  sich  irgend  einer  meiner  Verwandten  dabei  einmischen 
muss  über  die  dem  [!]  im  Sterbehause  zu  reichende  anständige  Erfrisch- 
ungen sowohl  vor  dem  Hinzuge  als  dem  Abtreten  nach  Rückfahrt  nach 
Belieben  zu  disponieren."  3)  Es  ist  das  jedenfalls  derselbe  Zettel,  von  dem 
auch  Wasianski  berichtet;  nämlich,  dass  er  ihn  gefunden  und  gegen  der- 
artige Anordnungen  aus  Gründen  der  Zweckmässigkeit  bei  Kant  freimütig 
protestiert  habe.  Dieser  hätte  gar  keinen  Wert  darauf  gelegt,  das  Blatt 
vielmehr  —  —  zerrissen  und  die  Saclie  gänzlich  Wasianski  überlassen. 

Seit  Menschengedenken  hatte  Königsberg  ein  derartiges  Leichen- 
begängnis nicht  gesehen.  Am  28.  Februar  um  zwei  Uhr  Nachmittags  ver- 
sammelten sich  in  der  Schlosskirche  die  Notabein  der  Stadt,  an  ihrer 
Spitze  der  Gouverneur  von  Ostpreussen,  General  von  Brüneck.  In  feier- 
licher Weise    wurde    dies  Ehrengefolge    von    den  Studenten,    die   sich  am 

1)  Jachmaun  a.  a.  O.,  18.  Brief. 

2)  Jachmann  a.  a.  0.,  16.  Brief. 

^)  Abgedruckt  in  Kants  gesammelten  Schriften,  herausgegeben  von 
der  königlich  preussischen  Akademie  der  Wissenschaften,  XII.  Band  1902, 
S.  417. 


Kants  Tod,  seine  letzten  Worte  und  sein  Begräbnis.  161 

Universitätsplatze  aufgestellt  hatten,  zum  Trauerhause  geleitet.  Dort 
setzte  sich  dann  der  unabsehbare  Zug  bei  heiterem  Wetter  unter  dem  Ge- 
läute aller  Glocken  um  drei  Uhr  in  Bewegung.  Eine  Rangordnung  beob- 
achtete man  nicht.  Bewusst  oder  unbewusst  ehrte  man  so  das  Andenken 
des  bescheidenen  Mannes.  Voraus  schritt  eine  Militär- Abteilung.  Der 
Sarg,  der  von  Studierenden  getragen  wurde,  war  mit  schwarzem  Man- 
chester, Fransen  und  Quasten  beschlagen.  Als  Hauptwappen  zierte  ihn 
eine  einfache  Totenurne  mit  vergoldetem  Deckel  und  Fusse.  Von  dem 
dunklen  Untergrund  hob  sich  in  leuchtendem  Golde  die  Inschrift  ab : 
Cineres  mortales  immortales  Kantii.  Am  Fussende  war  zu  lesen:  Orbi 
datus  d.  XXn  i)  Aprilis  1724,  ereptus  d.  XH.  Februar.  1804.  Unmittelbar 
hinter  dem  Sarge  folgten  vier  Verwandte  des  Verstorbenen  und  seine  ver- 
trautesten Freunde.  Darauf  das  bereits  erwähnte  Ehrengeleit.  Von  dem 
historischen,  leider  nun  längst  vernichteten  Häuschen  in  der  Prinzessin- 
strasse zog  man  am  Schloss  vorbei  durch  die  mit  Tausenden  von  Zu- 
schauern erfüllten  Strassen  der  Altstadt  zur  Dom-  und  Universitätskirche. 
Hier  wurde  die  Leiche  empfangen  von  dem  Kurator  der  Universität, 
Staatsminister  und  Oberburggrafen  von  Ostau,  sowie  von  dem  Rektor, 
dem  Kanzler,  den  Senatoren  und  den  übrigen  Dozenten  der  Albertina. 
Unter  feierlich-ernsten  Musikklängen  fand  der  Einzug  in  die  durch  Hun- 
derte von  Wachskerzen  erhellte  Kirche  statt.  Vor  dem  Altare  war  neben 
den  gewöhnlichen  Professorenplätzen  ein  Trauergerüst  aufgeschlagen,  auf 
dem  der  Sarg  niedergelassen  wurde.  An  seinem  Kopfende  brannten  zwei 
Lampen  in  alabasternen  Urnen;  zwischen  ihnen  stand  die  Marmorbüste 
Kants  von  Schadow.  An  dem  gegenüberliegenden  Ende  lagen  zwei  um- 
gekehrte Fackeln  als  Symbol  des  erloschenen  Lebens  und  weiterhin  die 
bedeutendsten  Werke  des  Philosoplien.  Zu  beiden  Seiten  des  Sarges 
spendeten  acht  grosse,  silberne  Leuchter  milden  Schein,  Vor  dem  schwarz 
überzogenen  Katafalk  hielt  Baron  von  Schrötter  aus  Marienwerder  die 
Trauerrede.  Dann  wurde  durch  die  Königsberger  Theater-Gesellschaft 
unter  Leitung  des  Musikdirektors  Hiller  eine  Trauercantate  aufgeführt. 
Zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Teil  richtete  der  Kandidat  der  Theolo- 
gie Böckel  aus  Danzig  im  Namen  der  Studentenschaft  eine  Ansprache  an 
die  Versammlung.  Währenddessen  übergab  der  Reichsgraf  und  Truchsess 
von  Waldburg  dem  Staatsminister  von  Ostau  einen  poetischen  Nachruf 
auf  den  Verstorbenen.  Bei  der  Absingung  des  letzten  Chorals  wurde  die 
entseelte  Hülle  nach  dem  unter  den  Arkaden  an  der  Nordseite  des  Domes 
gelegenen  Professorengewölbe  überführt.  —  Eine  besondere  akademische 
Gedenkfeier,  die  sonst  nicht  üblich  war,  wie  Borowski  zu  berichten  weiss, 
war  vom  Senate  schon  am  20.  Februar  beschlossen  worden.  Sie  fand  am 
Montag,  den  23.  April,  einen  Tag  nach  dem  Geburtsfeste  des  Entschlafenen, 
im  grossen  Hörsaal  der  Universität  statt.  Die  Gedächtnisrede  2)  liielt 
Konsistorialrat  Samuel  Wald,  Professor  der  Theologie  und  Beredsamkeit. 
Da  das  Professorengewölbe  später  zu  seinem  ursprünglichen  Zwecke 
nicht  mehr  gebraucht  wurde,  so  bestimmte  man  es  1809  auf  Veranlassung 
des  Kriegsgerichtsrates  Scheffner,  Kants  ehemaligem  Freunde,  zu  einer 
Wandelhalle  für  Studenten  und  Lehrer,  die  dann  den  Namen  Stoa  Kantiana 
erhielt.  Kants  Sarg  wurde  nun  auf  dem  östlichen  Flügel  beigesetzt  und 
darüber  seine  von  Hagemann  noch  bei  Lebzeiten  in  carrarischem  Marmor 
modellierte  Büste  aufgestellt.  Sie  trug  die  Inschrift:  Immanuel  Kant. 
Sapienti  Amicorum  Pietas.  Auf  einem  Steine  der  Grabstätte  waren  fol- 
gende Worte  zu  lesen:  Sepulcrum  Immanuelis  Kant  nati  a.  d.  X.  Calend. 
Maji  a.  MDCCXXIV,  denati  prid.  Jd.  Februar,  a.  MDCCCIV.  hoc  monu- 
mento  signavit  amicus  Scheffner  MDCCCIX.  In  der  Stoa  Kantiana  selbst 
wurde  das  Distichon  angebracht: 


1)  In  der  Festnummer  der  Königsberger  Hartg.  Ztg.  steht  versehent- 
lich die  Ziffer  XH. 

^)  Abgedruckt  bei  Reicke,  Kantiana,  1860. 

KautBtudien  X.  Jl 


162     F.  Jünemann,  Kants  Tod,  seine  letzten  Worte  und  sein  Begräbnis. 

Hier  von  den  Geistern  durchsclnvebt  ehrwürdig:er  Lehrer  der  Vorzeit, 
Sinne,  dass  Jüngling  auch  dich  rühme  noch  spätes  Geschlecht. 
Die  Einweihung  geschah  am  22.  April  1810,  wobei  Herbart  die  Festrede 
hielt.  Um  die  Büste  vor  Beschädigungen  zu  bewahren,  wurde  sie  später 
nach  dem  Auditorium  maximum  der  Universität  übertragen.  Am  12.  Fe- 
bruar 1842  kam  als  Geschenk  des  preussischen  Ministeriums  eine  kleine 
Broncestatue  Kants  hinzu,  ausgeführt  von  Adolf  Bräunlich,  einem  Schüler 
Rauchs.  —  Da  die  Ruhestätte  des  Toten  nur  durch  ein  Holzgitter  ge- 
schützt war,  so  geriet  sie  allmählig  in  Verfall.  Erst  in  den  siebziger 
Jahren  wurde  dieser  Zustand  durch  den  Bau  einer  gotischen  Kapelle 
beseitigt.  Die  sterblichen  Überreste  Kants  wurden  wieder  ausgegraben 
und  hier  am  21.  November  1880  entgültig  beigesetzt.  Im  Inneren  be- 
findet sich  eine  von  Siemering  angefertigte  Kopie  der  Hagemannschen 
Büste.  Dahinter  an  der  Wand  Rafaels  Scliule  von  Athen  von  Professor 
Neide,  Auf  der  gegenüberliegenden  Wand  liest  man  den  berühmten 
Schluss  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft:  „Zwei  Dinge  erfüllen  das 
Gemüt  mit  immer  neuer  und  zunehmender  Bewunderung,  je  öfter  und 
anhaltender  sich  das  Nachdenken  damit  beschäftigt :  der  bestirnte  Himmel 
über  mir  und  das  moralische  Gesetz  in  mir."  —  Eine  heilige  Stille  um- 
wehet die  Grabstätte ;  Schweigen  ringsum.  Die  Majestät  des  Denkers,  die 
Majestät  des  Todes  erfüllen  den  Raum. 

Wer  durch  seine  Geistesanlage  bestimmt  ist,  bei  Verhältnissen  und 
Individualitäten  immer  das  Gemeinsame,  überall  das  Ähnliche  heraus- 
zuspüren, dem  muss  sich  eine  merkwürdige  Parallele  zwischen  den  letzten 
Worten  Kants  und  Goethes  aufdrängen.  Beide  beziehen  sich  zunächst 
auf  rein  thatsächliche,  zufälüge  Begebnisse,  aber  beide  —  nicht  nur 
Goethes  „Mehr  Licht!"  —  können  zur  Höhe  des  Symbols  erhoben,  dürfen 
als  Spiegel  und  Gleichnis  ihres  natürlichen  Berufes  wie  ihrer  Persönlich- 
keit betrachtet  werden.  Als  Symbol  der  Berufe:  Licht  ist  das  not- 
wendigste, das  lebenspendende  Element  aller  Künste,  der  bildenden  nicht 
nur,  sondern  auch  (in  anderer  Weise)  der  Dichtkunst ; ')  die  Idee  des 
Guten  hinwiederum  ist  der  erste  Wertbegriff  der  Philosophie,  ist  nach 
Plato  die  Gottheit  selbst.  Symbol  der  Persönlichkeiten :  Goethe  kam  von 
der  Wirklichkeit  zum  Gedanken,  Kant  vom  Gedanken  zur  Wirklichkeit. 
Goethe  stürzte  sich  in  den  brausenden  Vollstrom  des  Lebens  und  schwamm 
auf  ihm  der  Höhe  der  Geisteswelt  zu;  Kant  schuf  und  webte  in  der  Er- 
kenntnis, auf  deren  Gipfel  er  doch  das  Handeln,  das  moralische  Handeln 
als  das  Höchste  pries.  Mit  absoluter  Deutlichkeit  hat  Kant  diese  Über- 
zeugung auch  in  seinem  Gedenkvers  auf  den  1782  verstorbenen  Professor 
Lilienthal  zum  Ausdruck  gebracht: 

Was  auf  das  Leben  folgt,  deckt  tiefe  Finsternis; 

Was  uns  zu  thun  gebührt,  des  sind  wir  nur  gewiss. 

Dem  kann  .  .  .  kein  Tod  die  Hoffnung  rauben. 

Der  glaubt,  um  recht  zu  thun,  recht  thut,  um  froh  zu  glauben. 
Der  Philosoph  meint  also  nicht  mit  Goethe-Faust:  Im  Anfang  war  die 
That,  sondern  er  erblickt  in  ihr  das  letzte  Heil,  nach  aller  vergeblichen 
Spekulation  unser  einziges  Heil,  unserer  Weisheit  letzten  Schluss.  Und 
so  birgt  es  zwar  ein  wunderbares  Geheimnis,  aber  keinen  Widerspruch  in 
sich,  dass  des  grössten  Realisten  Endwort  auf  der  Bühne  dieser  Welt  ein 
theoretisches,  2)  das  des  grössten  Idealisten  ein  praktisches  ist. 

1)  Diese  ästhetische  Seite  des  Goetheschen  Wortes  ist  meines 
Wissens  auch  noch  nicht  hervorgehoben  worden. 

2)  Seiner  unmittelbaren  Thatsächlichkeit  und  seinem  Zwecke  nach 
ist  natürlich  Goethes  „Mehr  Licht"  rein  praktischer  Natur. 


Recensionen. 


Windelband,  Wilh.  Über  Willensfreiheit.  Zwölf  Vorlesungen. 
Tübingen  und  Leipzig,  Verlag  von  J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck).  1904. 
223  S. 

Die  ruhige,  klare  und  sachliche  Erörterung,  die  Windelband  dem 
viel  verhandelten  Problem  angedeihen  lässt,  ist  wohl  geeignet,  die  Dis- 
kussion darüber  aller  Leidenschaftlichkeit  und  Gehässigkeit,  mit  der  sie 
häufig  geführt  wird,  zu  entrücken.  Man  muss  sich  klar  darüber  werden, 
dass  es  sich  in  dem  Gegensatz  von  Determinismus  und  Indeterminismus 
nicht  darum  handeln  kann,  die  menschliche  Freiheit  zu  leugnen  oder  zu 
verteidigen,  sondern  ihren  Begriff  richtig  zu  fassen.  Mit  Recht  darf  ein 
so  besonnener  Vertreter  des  Determinismus  wie  Windelband  verlangen, 
dass  man  ihn  nicht  als  Freiheitsleugner  denunziere,  andererseits  sollte 
man  von  deterministischer  Seite  nicht  dazu  greifen,  den  Indeterminismus 
als  längst  abgethane  scholastische  Grille  und  Spitzfindigkeit  lächerlich  zu 
machen. 

Windelbands  Methode  in  der  Behandlung  unseres  Problems  ist  da- 
durch charakterisiert,  dass  er  bemüht  ist,  die  verschiedenen  Fragen,  die 
sich  in  ihm  verschlingen,  reinlich  von  einander  zu  sondern  und  einzeln  zu 
beantworten. 

So  scheidet  er  zunächst  die  theoretische  Frage,  ob  und  in  welchem 
Masse  der  Mensch  frei  sei,  von  der  praktischen  nach  der  Verantwort- 
lichkeit. Die  Erwägung  des  Freiheitsbegriffs  selbst  ergiebt,  dass  er, 
mag  er  Funktionen,  Zustände  oder  Substanzen  betreffen,  stets  relativ  ist. 
Die  Verneinung,  die  das  Grundmerkmal  des  Begriffes  bildet,  ist  nie  abso- 
lut, es  wird  jeweils  nur  die  Abhängigkeit  in  einer  bestimmten  Rücksicht 
negiert,  während  doch  in  anderer  Hinsicht  unausgesprochen  eine  Bedingt- 
heit als  selbstverständlich  vorausgesetzt  wird. 

Im  Wollen  aber  lassen  sich  drei  Phasen  seines  Ablaufs  unter- 
scheiden. Das  Entstehen  der  einzelnen  Begehrungen  (Wollungen);  ihre 
gegenseitige  Hemmung  und  Ausgleichung  durch  die  Wahl;  endlich  die 
Umsetzung  des  ungehemmten  oder  aus  der  Überlegung  siegreich  hervor- 
gehenden Wollens  in  die  Handlung.  Mit  Rücksicht  auf  diese  drei  Stadien 
zerlegt  W.  die  theoretische  Frage  nach  der  Willensfreiheit  in  die  drei 
besonderen  Fragen  nach  der  Freiheit  des  Wollens,  des  Wählens  und  des 
Handelns,  die  er  —  um  vom  Leichteren  zum  Schwereren  fortzuschreiten  — 
in  umgekehrter  Ordnung  behandelt. 

Die  Freiheit  des  Handelns  besteht  in  der  Freiheit  zu  thun,  was 
man  will.  Begrenzt  ist  diese  Fähigkeit  einerseits  nach  der  Richtung  der 
reflektorischen  Leibesbewegungen,  andererseits  nach  der  Richtung  der  er- 
folglosen Willensimpulse.  Die  Grenzen  sind  keine  scharf  bestimmten  ;  die 
allmählichen  Übergänge  aber  zwischen  Freiheit  und  Unfreiheit  des  Handelns 
*verden  einer  eingehenden  Betrachtung  unterzogen.  Die  Erwägung  des 
Segriffs  der  bürgerlichen  oder  sozialen  Freiheit,  deren  Beschränkung  nicht 

11* 


164  Recensionen  (Wiudelband). 

durch  physischen  Zwang',  der  das  Handeln  direkt  trifft,  sondern  durch 
psychischen  Eiufiuss  auf  die  Wahlentscheiduug  zustande  kommt,  führt 
auf  die  Freiheit  des  Wähleus. 

Die  Betrachtung  der  Innenvorgänge  beim  Wählen  zeigt,  dass  sich 
dieses  sowohl  mit  dem  Gefühl  der  Freiheit  (ich  kann  ja  jede  der  mög- 
lichen Handlungen  ausführen!)  als  mit  dem  der  Unfreiheit  (ich  niuss 
mich  für  eine  entscheiden!)  verbindet. 

Bei  zwei  entgegenstehenden  Motiven  fällt  die  Wahl  für  das  stärkere 
aus,  wenn  sich  beide  ausschliessen ;  ja  wir  erkennen  erst  durch  die  Wahl- 
entscheidung, welches  das  stärkere  sei.  Je  geringer  der  Intensitätsunter- 
schied der  Motive  ist,  um  so  schwerer  ist  die  Wahl.  In  solchen  Fällen 
des  unentschiedenen  Schwankens  verzichtet  man  wohl  auf  die  eigene 
Wahlentscheidung  und  überlässt  die  Entscheidung  dem  Spiel  des  psyclio- 
physischen  Mechanismus  (wenn  ich  etwa  eine  beliebige  dreizifferige  Zahl 
zu  nennen  habe),  oder  man  nimmt  zu  einem  Mechanismus  seine  Zuflucht 
(beim  „Ausknobeln"  oder  „an  den  Knöpfen  Abzählen").  Solche  Fälle  sind 
nicht  als  Beispiele  einer  motivlosen  Wahlentscheidung,  eines  liberum  ar- 
bitrium  indifferentiae  anzusehen;  ein  solches  giebt  es  nicht. 

Der  Fall,  dass  wir  zwischen  zwei  einfachen  Motiven  zu  wählen 
haben,  ist  nicht  der  häufigste,  meist  Liegt,  wie  W.  näher  ausführt,  der 
Motivationsprozess  viel  verwickelter.  Alsdann  verstärken  sich  die  Motive, 
die  in  derselben  (positiven  oder  negativen)  Richtung  wirken,  während  ent- 
gegengesetzte sich  abschwächen.  Diese  Vereinbarkeit  der  Motive  aber 
setzt  einen  psychischen  Einheitspunkt  voraus,  dem  die  Motive  durch  ihre 
gegenseitige  Ausgleichung  schliesslich  eine  Bewegung  in  bestimmter  Rich- 
tung und  Stärke  mitteilen.  Für  diesen  Einheitspunkt  aber,  der  als  „der 
Wille",  das  „Bewusstsein",  die  „Persönlichkeit"  bezeichnet  wird,  bleibt 
aber  nach  Abzug  der  (konstanten  und  momentanen)  Motive  kein  Inhalt ; 
es  ist  kein  dinghaftes  Etwas,  das  von  den  einzelnen  Motiven  noch  als  ein 
eigenes,  inhaltlich  bestimmbares  und  angebbares  Wollen  zu  unterscheiden 
wäre,  vielmehr  machen  die  momentanen  mit  den  konstanten  Motiven  den 
ganzen  Willen  inhaltlich  aus  und  bestimmen  in  dieser  Vereinigung  die 
Wahl.  Bezüglich  des  Wählens,  meint  W.,  laufe  so  der  Streit  des  Deter- 
minismus und  Indeterminismus  auf  einen  Wortstreit  hinaus.  Denn  der 
Indeterminist  sträube  sich  nur,  das  letztentscheidende  Wollen  auch  Motiv 
zu  nennen,  er  wolle  eigentlich  nur  das  anerkannt  wissen,  dass  neben  allen 
anderen  Motiven  der  persönliche  Wille  selbst  vermöge  seines  Wesens  sich 
für  eine  bestimmte  Seite  entscheide.  Aber  genau  dasselbe  wolle  auch, 
der  Determinist:  denn  jenes  ,Wesen'  sei  inhaltlich  doch  eben  nichts  An- 
deres als  ein  dauerndes  Wollen,  d.  h.  ein  konstantes  Motiv. 

Es  werden  sodann  die  mannigfachen  Grade  und  wechselnden  Grenzen    '* 
der  Wahlfreiheit  dargestellt.     Niemals  giebt  es  eine  absolute,  grenzenlose 
Willkür,   immer    hat   sich    die  Wahl    zu    entscheiden    zwischen  gegebenen 
Möglichkeiten,    die    ihr    oft    nur   einen    sehr  engen  Spielraum  lassen.     Be- 
schränkungen   der  Wahlfreiheit   treten    ferner  ein  durch  die  Begrenztheit 
und  Mangelhaftigkeit    unserer  Erkenntnis    (von   zufälliger  Unkenntnis  der 
Verhältnisse  bis  zum  Stumpfsinn  des  Schwachsinnigen),    durch    krankhafte 
Störungen     (Abgespanntheit,    Fieber,    Trunkenheit,    Hypnose    etc.),     durch 
Mangel    an    Zeit    zur    Überlegung,    durch   Affekte.  —   Dagegen   sind   die 
Leidenschaften    nicht    als  Beeinträchtigung   der  Wahlfreiheit  (in  rein  psy- 
chologischem,   nicht    in    ethischem    Sinne)    anzusehen.      Denn    der  Mensch 
wählt  frei,  wo  er  seiner  Natur  gemäss  entscheidet;   zu  der  Natur  des  ein-    ^ 
zelnen  Menschen,  die  freilich  nur   relativ  konstant  ist,  gehören  auch  seine    |H 
Ijeidenschaften,     solange    sie     bestehen.       Wenn     wir    gleichwohl    einen     i 
Menschen,    der    unter    dem    Einfluss    einer    Leidenschaft    handelt,    unfrei 
nennen,   so    erklärt   sich   dies    aus  einer  weiteren  Bedeutung  der  Freiheit, 
nämlich  der  sittlichen  Freiheit. 

Diese  letztere  ist  ein  Wertbegriff,  ein  Ideal,   während  die  Wahlfrei- 
heit   im    psychologischen    Sinne    eine    thatsächlich    vorhandene,   aber  ver- 


Recensionen  (Windelband).  165 

schieden  begrenzte  und  beschränkte  Fähigkeit  bezeichnet.  Wahlfreiheit 
kann  vorhanden  sein,  wo  sittliche  Freiheit  fehlt,  andererseits  liegt  in  der 
sittlichen  Freiheit  eine  Einschränkung  der  Wahlfreiheit.  Inwieweit  der 
Mensch  zur  ethischen  Autonomie  gelangt,  das  sittliche  Gesetz  aufnimmt 
in  seinen  Willen,  fallen  sittliche  Freiheit  und  Wahlfreiheit  zusammen; 
denn  dann  herrscht  die  sittliche  Xorm,  in  der  der  Mensch  jetzt  sein 
eigentliches  Wesen  sieht,  im  Motivationsprozess  und  bestimmt  die  Wahl; 
dieser  aber  kommt  Freiheit  zu,  weil  sich  darin  ja  das  Wesen  des  Menschen 
zur  Geltung  bringt. 

Die  bisher  betrachteten  Freiheitsbegriffe  gingen  zurück  auf  den  Be- 
griff der  ungehinderten  Kausalität  eines  schon  bestehenden  Wollens:  sie 
zeigen  das  Handeln  wie  das  Wählen  des  Menschen  als  von  seinem  Wollen 
abhängig;  nunmehr  tritt  uns  die  Frage  entgegen:  wie  steht  es  mit  der 
Ursache  dieses  Wollens  ?  Besteht  zwischen  dem  Wollen  selbst  und  seiner 
Ursache  ein  derartiges  Kausalverhältnis,  dass  dabei  noch  einmal  von 
Willensfreiheit  geredet  werden  darf  ? 

Man  hat  nun  in  dem  metaphysischen  (oder  makrokosmischen) 
Freiheitsbegriff  teils  dem  einzelnen  Wollen,  teils  dem  dauernden 
Wesen  (der  Individualität)  der  wollenden  Persönlichkeit  eine  Freiheit  von 
der  Kausalität  zugesprochen,  aber  eine  solche  Ausnahme  vom  Kausalgesetz 
widerspricht  der  obersten  Voraussetzung,  mit  der  wir  an  die  Erklärung  der 
Thatsachen  herantreten.  Auch  zeigt  es  sich  unmöglich,  für  diese  ursprüng- 
liche, aus  sich  seiende  Individualität  einen  bestimmten  Inhalt  zu  erdenken ; 
denn  alle  besonderen  Willensrichtungen  würden  empirisch  bedingt  sein. 
Endlich  verträgt  sich  die  kausale  Selbstherrlichkeit  der  Individualität  nicht 
mit  dem  Gedanken  eines  einzigen,  alles  umfassenden  Wirklichkeit.sgrundes; 
besonders  nicht,  wie  W.  näher  zu  zeigen  sucht,  mit  der  Weltschöpfung 
und  der  Präscienz  des  Schöpfers. 

Kants  tiefsinnige  Lehre  vom  empirischen  und  intelligiblen  Charakter 
kann  nur  dann  von  ihren  Widersprüchen  befreit  werden,  wenn  sie  ihres 
metaphysischen  Charakters  entkleidet  wird.  Die  beiden  Charaktere  sind 
nicht  zwei  verschieden  seiende  Dinge,  sondern  zwei  Erscheinungsweisen 
für  zwei  menschliche  Betrachtungsarten,  die  ebenbürtig  neben  einander 
stehen:  die  theoretische  der  kausalen  Erklärung  und  die  praktische  der 
Wertbeurteilung  imter  dem  Gesichtspunkt  der  Norm.  Bei  der  letzteren 
stellen  wir  uns  nach  W.  den  Menschen  und  ihren  Handlungen  gegenüber, 
ohne  auf  das  Kausalverhältnis  Rücksicht  zu  nehmen,  mithin  „als  ob"  sie 
kausalitätslos  und  in  diesem  Sinne  „frei"  seien. 

Diese  Erwägungen  leiten  endlich  hinüber  zu  der  praktischen  Seite 
unseres  ganzen  Problems,  zur  Beantwortung  der  Frage  nach  dem  Recht 
des  Verantwortlichmachens. 

Es  wird  dabei  die  Persönlichkeit  stets  unter  dem  Gesichtspunkt  be- 
trachtet, dass  sie  berufen  sei,  in  ihrer  Gesinnung  und  in  ihren  Handlungen 
eine  allgemein  gültige  Xorm  zu  verwirklichen.  Das  Verantwortlichmachen 
ruht  aber  auf  der  Erkenntnis,  dass  die  Person  als  wollendes  Wesen  die 
Norm  verletzt  hat,  und  sie  besteht  in  einer  solchen  Einwirkung  auf  die 
Person,  wodurch  in  ihr  die  Herrschaft  der  Norm  über  ihr  Wollen  herge- 
stellt oder  wiederhergestellt  werden  soll.  Das  Recht  des  Verantwortlich- 
machens - —  das  natürlich  über  die  fühlenden  und  wollenden  Personen 
nicht  hinausgehen  kann  —  gründet  sich  aber  auf  den  Wert  der  Normen, 
die  dadurch  verwirklicht  werden  sollen  und  allein  mit  seiner  Hilfe  ver- 
wirklicht werden  können.  — 

Ich  habe  diesem  Referat,  das  natürlich  von  der  Fülle  der  feinsinnigen 
und  geistvollen  Einzelausftihningen  keine  Vorstellung  geben  kann,  nur 
wenige  kritische  Bemerkungen  hinzuzufügen. 

Mir  scheint  es,  dass  es  sich  bei  dem  Widerstreben  des  Indeterminis- 
mus, das  Letztentscheidende  in  der  Wahl  Motiv  zu  nennen,  nicht  bloss  um 
einen  Wortstreit  handelt,  vielmehr  dürfte  sich   hierin   gerade  deutHch  do- 


166  Recensionen  (Kaiweit). 

kumentieren,  dass  der  Determinismus  und  Indeterminismus  in  einem  ver- 
schiedenen inneren  Verhältnis  zu  dem  Willensleben  ihre  Wurzel  haben. 
Der  erstere  ist  am  Platze  bei  der  theoretischen  Betrachtung  der  Willens- 
vorgängre.  Dabei  werden  diese  vom  Ich  gleichsam  abgelöst  und  objekti- 
viert, und  auch  die  konstanten  Willensrichtungen,  in  die  sich  das  empirische 
(praktische)  Ich  zerlegen  lässt,  erscheinen  als  Motive,  die  gleichsam  ohne 
Zuthun  des  (nunmehr  lediglich  betrachtenden  und  vorfindenden)  Ich  ihre 
Kraft  gegenüber  anderen  geltend  machen  Der  Indeterminismus  aber  fusst 
auf  dem  unmittelbaren  Erleben  der  Wahlentscheidungen  selbst.  Er  findet 
seine  Nahrung  in  der  unmittelbaren  Gewissheit,  dass  unsere  Entscheidungen 
von  unserer  eigensten  innersten  Aktivität  abhängen,  und  nicht  als  not- 
wendige Ergebnisse  aus  einem  berechenbaren  Kräftespiel,  dem  wir  sozu- 
sagen nur  passiv  zuschauen,  resultieren.  Dass  die  deterministische  Be- 
trachtungsweise mit  ihrer  Voraussetzung  der  alles  beherrschenden  Kau- 
salität für  unser  theoretisches  Verhalten  Berechtigung  habe,  soll  damit 
zunächst  nicht  bestritten  werden,  nur  das  soll  betont  werden,  dass  sie  sich 
hinsichtlich  ihrer  Gefühlsresonanz  nicht  zur  Deckung  bringen  lässt  mit 
unserem  wirklichen,  lebendigen  Wollen  und  dessen  unmittelbarem  Erleben. 
Dies  regt  allerdings  zu  der  Erwägung  an,  ob  nicht  der  Determinismus 
mit  seiner  Betrachtungsweise  die  psychischen  Vorgänge  zu  sehr  nach  Art 
der  physischen  auffasst.  Doch  dies  näher  darzulegen,  würde  hier  zu  weit 
führen. 

Mit  W.  stimme  ich  überein,  dass  Kants  Lehre  vom  intelligibeln  und 
empirischen  Charakter  nur  aufrecht  zu  erhalten  ist,  wenn  wir  ihre  meta- 
physische Tendenz  ausscheiden,  wenn  wir  darin  —  wie  ja  Kant  gelegent- 
lich selbst  sagt  —  die  Kennzeichnung  zweier  verschiedener  „Standpunkte" 
sehen,  die  wir  dem  menschlichen  Wollen  gegenüber  einnehmen  können. 
Ich  bin  jedoch  der  Ansicht,  dass  der  praktische  Standpunkt  nicht  lediglich 
in  der  Wertbeurteilung  (unter  völligem  Absehen  von  der  Verursachung) 
bestehe.  Ich  kann  W.  nicht  zustimmen,  wenn  er  sagt :  „Diese  moralischen) 
Urteile  beziehen  sich  lediglich  auf  die  Angemessenheit  oder  Unangemessen- 
heit des  wirklichen  Wollens  zu  der  Norm  oder  zu  dem  Ideal  des  sittlichen 
Bewusstseins,  und  wir  fragen,  wenn  wir  über  diesen  sittlichen  Wert  der 
Gesinnung  oder  des  Charakters  urteilen,  nicht  mehr,  wie  die  eine  oder 
der  andere  zustande  gekommen  ist".  Mir  will  scheinen,  dass  zu  dem 
Werturteil  doch,  mehr  oder  minder  klar  bewusst,  noch  der  Zusatz  hinzu- 
tritt :  der  Mensch  hätte  anders  werden  oder  handeln  können.  Dieser 
Zusatz  ist  es  aber  gerade  auch,  der  unserer  Wertbeurteilung  von  Menschen 
einen  anderen  Gefülilscharakter  giebt  wie  der  von  untermenschlichen 
Wesen,  und  der  auch  unserer  praktischen  Gegenwirkung  den  eigenartigen 
Charakter  aufprägt,  der  die  „Strafe"  von  dem  „Heilmittel"  unterscheidet. 
Endlich  scheint  mir  auch  der  feste  Glaube,  dass  wir  und  die  anderen 
können,  weil  und  was  wir  sollen,  die  notwendige  Voraussetzung  zu  sein 
für  jedes  kraftvolle  Arbeiten  an  der  sittlichen  Erziehung  unserer  Mit- 
menschen und  unserer  eigenen  Person. 

Diese  Andeutungen  mögen  hier  genügen,  eine  nähere  Ausführung 
dieser  Gedanken  findet  sich  in  dem  letzten  Kapitel  meines  Buches  über 
„Kants  Ethik«,  Leipzig  1904. 

Giessen.  August  Messer. 

Kaiweit,  Paul,  Lic.  Dr.  Kants  Stellung  zur  Kirche.  Königs- 
berg i.  Pr.  1904,  Com.-Verlag  Ferd.  Beyers  Buchhandlung.    88  S. 

Die  Arbeit  von  Kaiweit  beschäftigt  sich  im  Ganzen  mit  dem  gleichen 
Problem,  das  ich  in  diesen  Studien  zur  Säkularfeier  von  Kants  Todestage 
beantwortet  habe,  und  kommt  im  Wesentlichen  auch  zu  den  gleichen  Re- 
sultaten, eine  gegenseitige  Bestätigung,  die  bei  der  vollständigen  Unab- 
hängigkeit unserer  Arbeiten  von  einander  jedem  von  uns  beiden  gleich 
wertvoll  sein  muss.  Kaiweit  stellt  das  Problem  insofern  in  engerem 
Rahmen,  als  es  sich  für  ihn  wesentlich  um  die  Stellung  Kants  zu  der  ihm 


Recensionen  (Kaiweit).  167 

gegebenen  Kirche  handelt,  also  um  Kants  Verhältnis  zu  dem  preussischen 
und  weiterhin  zu  dem  protestantischen  Staats-  und  Landeskirchentum  der 
damaligen  Verhältnisse,  in  denen  die  verhältnismässige  heutige  Trennung 
von  Staat  und  Kirche  noch  nicht  vollzogen  war,  sondern  der  aufgeklärte 
und  späterhin  reaktionäre  Absolutismus  die  Kirche  als  reinen  Bestandteil 
der  öffentlichen  Ordnung  und  als  Hauptmittel  der  Volksbeeinflussung  in 
festen  Händen  hielt.  Da  nun  aber  diese  Kirche  die  historische  und  ge- 
gebene Gestalt  der  Religion  darstellt,  auf  welche  Kant  mit  seinen  kriti- 
schen Religionslehren  einwirken  wollte,  so  ist  darin  auch  das  weitere 
Problem  enthalten,  das  ich  meiner  Arbeit  zum  Gegenstand  gegeben  habe, 
das  Verhältnis  einer  kritischen  und  wissenschaftlich  geleiteten  Fortbildung 
der  Religion  zu  den  geschichtlichen  Formationen  des  religiösen  ßewusst- 
seins.  Jedoch  begnügt  sich  Kaiweit  damit,  das  Problem  als  solches  an 
diesem  Spezialpunkte  zu  illustrieren,  während  ich  das  Problem  in  den 
weiteren  Zusammenhang  des  Verhältnisses  Kants  zur  Geschichte  überhaupt 
gestellt  habe.  So  kommt  es,  dass  die  Arbeit  Kalweits  jedenfalls  den  Vor- 
zug vor  der  meinen  hat,  das  Spezialproblem  des  Verhältnisses  zur  ge- 
gebenen preussischen  Landeskirche  sehr  viel  eingehender  zu  behandeln, 
als  das  mir  möglich  gewesen  ist. 

Kaiweit  sammelt  zunächst  mit  äusserster  Sorgfalt  alle  biographischen 
und  persönlichen  Notizen,  die  er  über  dieses  Thema  finden  konnte.  So 
sorgfältig  wie  die  Materialsammlung,  so  vernünftig  xmd  besonnen  ist  das 
Urteil.  Die  Wirkung  des  Pietismus  wird  m.  E.  vollständig  zutreffend 
(S.  11)  dahin  abgeschätzt,  dass  ihm  aus  seiner  Schulzeit  unter  dem  Einfluss 
des  Pietismus  zwar  die  Hochachtung  vor  dem  sittlichen  Ernst  verblieben 
ist,  aber  im  übrigen  gerade  durch  ihn  alles  spezifisch  kirchliche  Wesen 
für  immer  verleidet  worden  ist.  Eine  persönliche  Beziehung  zur  Kirche 
hat  er  seit  Abschluss  seiner  Schulzeit  nicht  mehr  besessen,  auch  seine 
mehrfachen  freundschaftlichen  Beziehungen  zu  Geistlichen  Hessen  die  Kirche 
gänzlich  unberührt.  Auch  ein  persönliches  Verhältnis  zur  Bibel  hat  er 
nicht ;  er  will  nur  die  historisch-kritische  Bibelforschung,  in  der  er  zu 
jedem  Radicalismus  bereit  ist,  von  der  dogmatisch-erbaulichen  Verwendung 
femgehalten  wissen,  wobei  er  aber  diese  Verwendung  immer  nur  auf  das 
Volk  und  nicht  auf  sich  bezieht.  Wie  weit  er  selbst  von  ihr  erbaulich 
Gebrauch  gemacht  haben  möge,  ist  nicht  zu  sagen.  Wenn  er  erkärt  „sie 
gern  zu  lesen  und  ihren  Enthusiasmus  zu  bewundern,"  so  ist  das  keine 
eigentliche  Erbauung.  Sehr  interessant  sind  die  Mitteilungen  über  Kants 
Kenntnis  theologischer  Litteratur.  Ich  stimme  K.  durchaus  zu,  wenn  er 
bei  Abwägung  der  Zeugnisse  und  des  Befundes  der  Kantischen  Schriften 
meint,  dass  Kant  auch  hier  solide  und  keineswegs  veraltete  Kenntnisse 
gehabt  habe,  wobei  freilich  diese  sich  w^esentlich  auf  die  Urgeschichte 
des  Christentums  imd  die  Kirchengeschichte  beziehen.  Und  dabei  war  es 
eine  Besonderheit  Kants,  dass  er  den  Unterschied  zwischen  der  dogma- 
tischen Volksreligion  und  der  fortschrittlichen  Theologenreligion  sah  und 
als  einen  wesentlichen  unverwischbaren  anerkannte.  Er  schätzte  die  histo- 
rische Bibelkritik,  aber  er  wollte  historisch-kritische  Untersuchungen  weder 
in  die  eigene  wissenschaftliche,  noch  in  die  dogmatische  Volksreligion 
hineingetragen  sehen. 

Alles  das  betrifft  nur  die  persönliche  Stellung  Kants  zur  Kirche. 
Etwas  ganz  anderes  ist  die  in  dem  zweiten  Abschnitt  behandelte  Stellung 
zur  Kirche  als  öffentlicher  Institution.  Hier  hat  er  in  dem  für  ihn  charak- 
teristischen konservativen  Legitimismus  die  Kirche  als  einen  gegebenen 
Bestandteil  der  gesetzlichen  Ordnung  angesehen,  der  wie  Regierung  und 
Gesetz  zum  Wesen  des  Staates  und  der  Gesellschaft  gehört  und  eine 
organische  Bedeutung  für  die  Gesundheit  des  Volkslebens  hat.  Das  ist 
eine  Schätzung  der  Kirche,  die  mit  der  persönlichen  Stellung  zu  ihr  und 
etwa  mit  pietistischen  Einflüssen  gar  nichts  zu  thun  hat.  Sie  fliesst  viel- 
mehr direkt  aus  der  Anerkennung  des  preussischen  Staates.  Eben  deshalb 
war  er  auch  hier,  wie  auf  politischem  Gebiet,  weit  entfernt  von  jeder  ge- 


168  Recensionen  (Kaiweit). 

waltsamen  oder  überstürzten  Reform.  Der  Gesetzesbuchstabe  sollte  ein- 
gehalten werden,  so  lange  er  galt;  und  soweit  er  eine  vor  der  Wissen- 
schaft und  dem  Fortschritt  unhaltbare  Idee  vertrat,  sollte  nur  die  berufene 
wissenschaftliche  Presse  und  der  zur  Gedankenfreiheit  berechtigte  Philo- 
soph die  öffentliche  Meinung  und  die  Einsiclit  der  Regierungsvertreter 
bearbeiten,  bis  dieser  Buchstabe  auf  legitime  Weise  dem  Fortschritt 
wich  und  neue  bessere  Gesetze  die  neue  Einsicht  legitim  machten.  In 
diesem  Sinne  einer  schonenden  Fortentwickelung  und  der  Vorbereitung 
einer  legalen  Reform  war  auch  seine  Lehrthätigkeit  gegenüber  der  Theo- 
logen gemeint,  denen  er  eben  deshalb  nie  den  vollen  Radicalismus  seiner 
Lehre,  sondern  nur  eine  kritisch  ihrer  bedenklichsten  Dogmen  entkleidete 
und  in  den  Geist  der  Moralreligion  getauchte  Umformung  der  Dogmatik 
vorzutragen  pflegte.  „Für  ihn  war  die  Kirche  wohl  eine  wichtige 
Institution  im  Hinblick  auf  die  religiös-sittliche  Volkserziehung 
und  deshalb  lag  ihm  daran,  auch  an  seinem  Teile  mitzuwirken,  dass 
sie  ihre  Aufgabe  erfülle,  aber  ein  eigentlich  persönliches  Problem 
ist  sie  ihm  nicht  gewesen,  er  konnte  auch  ausserhalb  ihres  Schattens 
stehen". 

Auf  dieser  Grundlage  untersucht  dann  der  dritte  und  längste  Ab- 
schnitt die  begriffliche  Stellung,  welche  Kant  der  Kirche  in  seiner  Reli- 
gionsphilosophie einräumt.  Auch  hier  beseitigt  Kaiweit  zunächst  mit  Recht 
die  Legende,  welche  Kants  Lehre  in  Zusammenhang  mit  einer  besonderen 
Einwirkung  des  Pietismus  bringt.  Der  pietistische  Katechismus,  der  nach 
Hollmanns  Konstruktion  dem  Hauptwerk  zu  Grunde  liegen  soll,  trägt 
keine  besonders  starken  pietistischen  Züge  und  ist  nur  ein  Repräsentant  ortho- 
dox-katechetischer Tradition  überhaupt.  Sollte  ihn  Kant  benützt  haben, 
so  würde  er  ihn  nur  als  Dokument  der  rechtsgiltigen  traditionellen  Kirchen- 
religion überhaupt  betrachtet  haben.  Kants  Lehre  von  der  Religion 
wächst  völlig  selbständig  und  organisch  aus  seinem  ganzen  Denken  heraus 
und  ist  gegenüber  Pietismus  und  theologischem  Rationalismus  eine  ganz 
ursprüngliche  Konzeption.  Aber  indem  diese  Konzeption  der  Religion 
den  Vernunftgedanken  der  Beurteilung  der  Dinge  unter  dem  Gesichts- 
punkt einer  zielsicheren  sittlichen  Vollendung  aufstellte,  wurde  ihm 
die  geschichtliche  Kirche  zum  Problem  und  zwar  zu  dem  Problem 
des  Verhältnisses  der  rationalen  Religionsidee  zu  ihren  geschichtlichen 
Formen  und  Durchsetzungsmitteln.  Für  den  Kirchenglauben  war  die 
Kirche  als  wunderbare  Organisation  für  einen  durch  das  Wunder  ge- 
sicherten Wahrheitsinhalt  immer  selbstverständlich.  Für  die  Vernunft- 
religion wurde  sie  ein  Problem,  und  zwar  wurde  sie  das  Problem  des 
Verhältnisses  des  Rationalen  zum  Historischen.  „Für  Schultz  war  die 
Kirche  kein  Problem,  für  Kant  war  sie  es ;  zwar  keines  das  ihn  persönlich 
tiefer  berührt  hätte  —  er  konnte,  wie  wir  sahen,  auch  ohne  Kirche  leben 
—  aber  eins,  das  seinem  Denken  zu  schaffen  machte.  Er  sah  die  Kirche 
als  eine  starke  Realität  im  Volksleben.  Was  gab  ihr  die  nicht  zu  bestrei- 
tende Macht?  Unleugbar  war  in  ihrem  Bestände  manche  Unvernunft, 
manche  Verkehrtheit.  Wie  konnte  sie  trotzdem  sich  behaupten  ?  Welche 
Notwendigkeiten  lagen  hier  vor?  War  es  noch  möglich,  Vernunft  und 
Kirche  mit  einander  zu  verknüpfen,  und  auf  welche  Weise  konnte  diese 
Verbindung  vorgenommen  werden?  Würde  eine  Kirche  immer  nötig  sein, 
oder  würde  sie  einmal  aufhören  können?"  Damit  ist  in  der  That  der 
Nerv  der  Kantischen  Problemstellung  getroffen,  und  dieser  Nerv  hat 
selbstverständlich  mit  dem  Pietismus  gar  nichts  zu  thun.  Ich  würde  dem 
letzteren  meinerseits  eine  Wirkung  auf  Kants  Kirchenidee  nur  insofern 
doch  zu  schieben,  als  das  Zurücktreten  des  sakramentalen  und  objekti- 
vistischen Charakters  der  Kirche  im  Pietismus  und  die  Betonung  der  Ge- 
meinschaft praktischer  Heiligkeit  und  des  Reiches  Gottes  doch  auf  die 
besondere  Art,  in  der  Kant  den  Kirchenbegriff  handhabt  und  voraussetzt, 
eine  gevdsse,  übrigens  von  ihm  bereits  als  Selbstverständlichkeit  empfun- 
dene, Wirkung  gehabt  hat. 


\\ 


Recensionen  (Kaiweit).  169 

Die  Auflösung  des  Problems  führt  dann  hinein  in  eine  Analyse  der 
Grundbegriffe  von  Kants  Religionsphilosophie.  K.  stellt  zunächst  in  einer 
vortrefflichen  Untersuchung  das  nach  Kant  der  Religion  zu  Grunde 
liegende  synthetische  Urteil  a  priori  dar  und  gewinnt  von  hier  aus  den 
reinen  rationalen  Begriff  der  Kirche  a  priori,  die  unsichtbare  Kiche  oder 
das  Gottesreich,  die  Vereinigung  aller  Rechtschaffenen  unter  einer  gött- 
lichen moralischen  Regierung.  Das  so  deducierte  Ideal  dient  als  Beur- 
teilungsmassstab aller  empirischen  Religionsgemeinschaften,  wobei  voraus- 
gesetzt ist,  dass  das  transscendentale  Ideal  der  psychologischen  Verwirk- 
lichungsmittel und  das  heisst  einer  organisierten  Gemeinschaft,  bedarf. 
Das  ideal  der  Religion  oder  die  unsichtbare  Kirche  setzt  sich  nur  in  einer 
langen  Entwickelung  durch  allerhand  psychologische  Vermittelung  hin- 
durch in.  die  Wirklichkeit.  Von  da  aus  entstehen  die  Mittel  zu  einer  ge- 
schichtsphilosophischen  Beurteilung  der  verschiedenen  geschichtlichen 
Kirchen-  und  Glaubensgemeinschaften.  Diese  geschichtlichen  Gemein- 
schaften können  zum  Zweck  bindender  Organisation  den  Offenbarungs- 
glauben, Dogmen  und  Kultus  nicht  wohl  entbehren  als  psychologische 
Mittel  und  Vehikel  für  die  Verwirklichung  der  Idee.  Diejenige  Kirche 
ist  die  beste,  welche  in  ihrer  Organisation  am  reinsten  die  apriorische 
Idee  ausdrückt,  aber  auch  diese  ist  durch  eine  bewusste  religionsphiloso- 
phische Arbeit  zu  läutern  und  zu  reinigen,  indem  ihre  Bücher  und  Ord- 
nungen der  moralischen  Auslegung  zu  unterwerfen  sind,  d.h.  möglichst  zum 
Vehikel  der  Vernunftideen  durch  Interpretation  gemacht  werden.  Das 
ergiebt  nun  Kants  Stellung  zur  christlichen  Kirche.  Sie  ist  die  vernunft- 
gemässeste  Kirche  und  muss  immer  mehr  durch  moralische  Auslegung  der 
Dogmen  und  des  Kultus  der  Vernunft  angenähert  werden  als  dem  Ziel 
der  Entwickelung.  Aber  diese  Fortentwickelung  findet  ihre  gegebene 
Situation  durch  das  protestantische  Staatskirchentum  und  darf  nur  unter 
Schonung  des  legalen  Buchstabens  die  Regierung  für  Aufklärung  zu  ge- 
winnen suchen,  damit  sie  ihrerseits  die  Folgerungen  aus  der  fortschritt- 
lichen Entwickelung  in  die  geltende  Kirche  und  in  die  Dogmen  der 
Kirche  einführe.  Kants  eigene  Religionslehre  will  daher  nicht  die  unbe- 
dingte Vernunftreligion,  sondern  eine  solche  Umbildung  und  Annäherung 
des  Kirchenglaubens  an  die  Venunftreligion  sein,  wie  sie  von  der  gegen- 
wärtigen Situation  gefordert  ist  und  den  Übergang  vom  statutarischen 
Dogmenglauben  zur  freien  Moralreligion  anzubahnen  helfen  kann.  Die 
Mitarbeit  an  dieser  Umformung  ist  die  Art,  in  der  Kant  an  der  Kirche 
Teil  nimmt.  Die  empirische  Staatskirche  ist  für  das  Volk,  und  der  Philo- 
soph macht  praktisch  keinen  Gebrauch  von  ilir.  Aber  als  Mitglied  der  in 
der  Staatskirche  doch  sich  äussernden  unsichtbaren  Kirche  gehört  auch  er 
zur  Kirche  überhaupt  und  macht  den  auch  für  ihn  bestehenden  Zusammen- 
hang der  Kirche  überhaupt  mit  der  Staatskirche  in  der  Gestalt  seines  Bei- 
trages für  die  rationelle  Portentwickelung  der  Staatskirche  geltend.  Kai- 
weit ist  befremdet  durch  den  Widerspruch  dieser  theoretischen  Anerkennung 
und  Mitarbeit  an  der  Kirche  wider  das  persönliche  Verhalten  Kants  gegenüber 
der  Kirche,  das  ein  Verhalten  des  Misstrauens  und  der  stillschweigenden 
Ablehnung  ist.  Allein  eine  wirkliche  Inkonsequenz  scheint  mir  hier  nicht 
vorhanden  zu  sein,  es  ist  eben  die  beim  Denker  sehr  häufige  und  bei 
einem  so  konservativ-legalen  Denker  wie  Kant  ganz  begreifliche  Unter- 
scheidung^  einer  exoterischen  und  einer  esoterischen  Religion,  zwischen 
denen  er  in  dieser  Weise  vermittelt  hat  und,  wie  ich  glaube,  mit  vollem 
Bewusstsein  vermittelt  hat.  Die  Unsicherheit  liegt  in  einem  ganz  anderen 
Punkte;  sie  liegt  in  der  eigentümlichen  Fassung  des  Apriori  der  prak- 
tischen Vernunft,  das  bald  in  der  Analogie  zur  theoretischen  Vernunft 
die  psychologische  Wirklichkeit  in  sich  befasst,  bald  in  völliger  Aufhebung 
dieser  Analogie  lediglich  einen  Gegensatz  zwischen  der  Vernunftwahrheit 
und  der  psychologischen  Wirklichkeit  sieht.  Wird  das  erstere  betont, 
dann  steigt  die  Bedeutung  der  Kirche  und  der  konkret-historischen  Reli- 
gion,   wird    das   letztere   betont,    dann   wird   der  individuelle  Denker  mit 


170  Recensionen  (Simmel). 

seiner  transscendeutalen  Überzeugungsbegründung  der  Träger  der  Reli- 
gion. Das  aber  führt  in  die  allgemeinen  Probleme  der  Kantischen  Ethik 
und  Religionsphilosophie,  die  Kaiweit  nur  gestreift  hat  Soweit,  wie  sein 
Thema  reicht,  hat  er  die  Untersuchung  vortrefflich  geführt.  Es  sind  nur 
vielleicht  Kants  Konzessionen  an  den  Offenbarungsgedanken  zu  ernst  ge- 
nommen. Aber  allerdings  lässt  sich  das  Thema  im  Kern  erst  fassen,  wenn 
jenes  Grundproblem  des  Verhältnisses  des  Apriorischen  zum  Psychologi- 
schen in  Kants  praktischer  Philosophie  prinzipiell  aufgeworfen  wird.  Kai- 
weit hat  sich  hier  mit  Andeutungen  begnügt  (S.  81),  die  zeigen,  dass  er 
den  eigentlichen  Sitz  des  Problems  kennt. 

Troeltsch. 

Simmel,  Georg.  K  a  n  t.  Sechzehn  Vorlesungen,  gehalten  an  der 
Berliner  Universität.     Leipzig  1904.     Dunker  &  Humblot.     (181  S.) 

Ein  Buch  von  Simmel  ist  immer  interessant.  Es  regt  zum  Nach- 
denken auch  dort  an,  wo  man  geneigt  ist  zu  widersprechen.  Und  selbst 
wenn  man  mit  Tendenz  und  Inhalt  nicht  einverstanden  ist,  wird  man  dem 
geistreichen  Scharfsinn,  den  auch  dieses  Werk  Simmeis  zeigt,  seine  Aner- 
kennung nicht  versagen.  Wollte  ich  sein  Buch  loben,  so  brauche  ich  nur 
zu  schildern,  welche  Freude  mir  auch  die  wiederholte  Lektüre  der  Schrift 
gemacht  hat,  und  ich  könnte  mich  mit  der  Konstatierung  der  Thatsache 
begnügen,  dass  in  vielen  Punkten  eine  wesentliche  Förderung  und  Klärung 
der  Anschauungen  zu  erblicken  ist.  Ich  glaube  aber,  mit  einem  solchen 
blossen  Lobe  würde  man  einem  derartigen  Werke  nicht  gerecht  werden. 
Es  ist  nicht  eine  der  Mode-  und  Durchschnittsschriften,  es  ist  etwas 
Eigenes  und  Eigenstes,  was  uns  Simmel  hier  giebt.  Es  ist  Kant,  wie  er 
sich  in  Simmeis  Geist  abspielt. 

Wir  haben  es  hier  mit  einem  philosophischen  Werke  zu  thun,  nicht 
mit  Philologenarbeit.  Es  kann  unsere  Aufgabe  daher  nicht  sein,  im  Ein- 
zelnen daran  herumzuflicken,  hie  oder  da  die  Auffassung  mit  all  der 
peinlichen  Genauigkeit  eines  Philologen  auf  den  Urtext  zurückzuführen. 
Auf  den  Sinn  des  Werkes  soll  es  uns  ankommen.  Schon  äusserlich  ladet 
Simmeis  Buch  dazu  ein ;  fast  keine  Citate,  keine  Litteraturangabe,  aus 
einem  Kopf  fliesst  alles.  Und  um  es  kurz  zu  sagen,  es  scheint  aus  einem 
Kopf  zu  fliessen,  in  dem  das  Kantproblem  noch  in  Entwickelung  begriffen 
ist.  S.  hat  sich  dem  Gedanken  der  transscendeutalen  Methode  wohl  ge- 
nähert, aber  er  hat  ihn  noch  nicht  ei'reicht.  Dies  scheint  mir  der  Fehler 
des  Buches  zu  sein,  den  man  bedauern  muss,  auch  wenn  man  nicht  Kan- 
tianer ist.  Es  ist  interessant,  zu  bemerken,  dass  S.  das  Transscendentale, 
das  er  doch  noch  immer  zu  transscendent  auffasst,  an  Kant  lobt;  dass  er 
aber  die  transscendenten  Umbiegungen,  die  er  doch  erst  selbst  in  Kants 
Philosophie  hineinträgt,  in  überzeugendster  Weise  als  unbegründete  und 
widerspruchsvolle  Lehren  zurückweist.  Schade  nur,  dass  S.  diese  Um- 
biegungen als  solche  nicht  zu  Bewusstsein  gekommen  sind,  dann  würde 
die  transscendentale  Seite  —  der  er  immerhin  von  allen  Gesamtdarstel- 
lungen noch  am  meisten  gerecht  wird  —  eine  ganz  andere  Kraft  erhalten 
haben. 

Bei  Kant  spielen  ja  gewiss  auch  die  transscendenten  Motive  eine 
gewisse  Rolle.  Die  Metaphysik  des  Übersinnlichen,  nach  der  er  so  lange 
gesucht  hat,  lässt  sich  nicht  so  leicht  abstreifen.  Aber  man  wird  zuge- 
stehen, dass  in  diesen  Fragen  und  Anschauungen  nicht  die  Besonderheit 
Kantischer  Denkarbeit  gegenüber  der  anderer  Philosophen  bestehe ;  und  wer 
in  diesen  Punkten  das  Wesen  und  Ziel  der  Bestrebungen  Kants  sieht, 
kann  in  Simmeis  Buch  ein  treffliches  Kathartikon  finden.  Hier  sieht  er, 
wie  wenig  geklärt  und  geeint   sich    diese  Vorstellungen    gegenüberstehen. 

Weil  ich  S.s  Werk  für  wertvoll  halte,  weil  ich  glaube,  dass  es  den 
Durchschnitt  durchaus  überragt,  glaube  ich  mich  nicht  mit  einer  kurzen 
Empfehlung  oder  Ablehnung  begnügen  zu  dürfen.  Das  Buch  drängt  eher 
zur  Mitarbeit,  denn  zu  Lob  oder  Tadel. 


Recensionen  (Simmel).  171 

Suchen  wir  uns  zunächst  mit  dem  Zweck  des  Buches  vertraut  zu 
machen. 

„Die  Absicht  dieses  Buches  ist  keine  philosophie-g:eschichtliche, 
sondern  eine  rein  philosophische.  Es  gilt  ausschliesslich,  diejenigen  Kern- 
gedanken, in  denen  Kant  ein  neues  Weltbild  gegründet  hat,  in  das  zeit- 
liche Inventar  des  philosophischen  Besitzes  .  .  .  einzustellen,  unabhängig 
von  allen  Anwendungen  und  Ergänzungen,  die  zwar  innerhalb  des  Kan- 
tischen Gesamtsystems,  nicht  aber  nach  inneren  und  für  die  Weltan- 
schauung entscheidenden  Gesichtspunkten  mit  jenen  Hauptsachen  ver- 
bunden sind." 

Es  „sollen  die  Kantischen  Lehren  hier  durch  Analyse  und  Kritik 
mit  den  überhistorischen  Lebensfragen  der  Philosophie  konfrontiert 
werden".  Das  Buch  „will  die  fachmässig  sachlichen  Sätze  Kants  nach 
ihrem  eigentlich  philosophischen  Wert  darstellen,  nämlich  als  die  Antwort 
einer  Seele  von  vorbildlicher  Weite  und  Tiefe  auf  den  Gesamteindruck 
des  Daseins;  mit  einer  Kantischen  Formel;  es  möchte  den  , Schulbegriff' 
seiner  Philosophie  durch  ihren  .Weltbegriff'  interpretieren". 

Auf  Vollständigkeit  sieht  es  S.  nicht  ab.  Sein  Buch  enthält  im 
Wesentlichen  eine  Analyse  des  Gedankengehalts  der  drei  Kritiken,  auch 
hierin  ist  die  Vollständigkeit  nicht  sehr  weitgehend,  die  Ideenlehre  und 
die  Teleologie  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Erkenntnis  sind  z.  B.  kaum 
angedeutet.  Beschränkt  man  sich  aber  auf  das  enge  Gebiet,  was  lag  dann 
näher,  als  der  Versuch,  das  zu  zeichnen,  worin  Kant  selbst  die  Besonder- 
heit seiner  Philosophie  gesehen  hat,  was  sich  überall  und  an  allen  Enden, 
als  seine  Intention  zu  erkennen  giebt,  nämlich  die  transscendentale  Me- 
thode. Auf  sie  hätte  S.  mehr  Wert  legen  sollen,  und  sich  nicht  so  sehr 
auf  die  Feststellung  des  Weltbildes,  der  Stellung  des  Individuums  zur 
Gesellschaft  etc.,  versteifen  sollen,  diese  Probleme  würden  dann,  in  ihrer 
Selbständigkeit  erfasst,  gerechter  und  vorurteilsloser  behandelt  worden 
sein.  Die  Fragen  der  theoretischen  Weltauffassung  sind  für  die  Wissen- 
schaft nur  von  sekundärem  Interesse,  wenn  nicht  irrelevant. 

Wenn  ich  einmal  kurz  mir  erlauben  darf,  den  Gegensatz  der  Auf- 
fassung Kants,  der  zwischen  S.s  Werk  und  der  diesem  Referat  zu  Grunde 
liegenden  Anschauung  besteht,  zu  erläutern,  so  möchte  ich  es  an  einem 
Problem  thun,  das  mir  in  Deutschland  seit  Leibniz  im  Vordergrunde  des 
Philosophierens  zu  stehen  scheint,  das  schon  in  Plato  und  Aristoteles  von 
wesentlicher  Bedeutung  war,  an  der  Frage  nach  der  Möglichkeit  einer 
Einstimmigkeit  zwischen  Teleologie  und  Mechanismus,  die  sich  beide  an- 
scheinend ausschliessen.  Wie  beide  als  Erklärungsgründe  der  Wirklich- 
keit auftraten,  so  schien  man  auch  beide  durch  eine  metaphysische  Welt- 
anschauung, in  die  sie  als  Teilgebiete  eingingen,  in  Einklang  setzen  zu 
können;  ihren  bestrickendsten  und  tiefsten  Ausdruck  fand  diese  Tendenz 
in  Leibniz'  Lehre  von  der  prästabilierten  Harmonie ;  oder  man  ging  an 
das  Problem  mit  Hilfe  des  psychologischen  Räsonnements  heran,  und 
suchte  diese  Tendenzen  als  Inhalte  oder  Strukturen  der  Psyche  —  oder 
wie  S.  es  thut,  als  geistige  Energien  —  nachzuweisen.  Beiden  ist  die 
Tendenz  gemein,  die  Facticität  des  Kausalgesetzes  und  der  Teleologie  zu 
finden,  die  eine  im  Weltzusammenhange,  die  andere  in  der  Psyche.  Und 
wie  die  erste  in  Kants  kritischem  Werke  aufgelöst  wurde,  so  löste  die 
zweite  in  Humes  Untersuchungen  sich  selbst  auf.  So  war  der  Thatbestand 
bis  Kant,  und  es  ist  die  Eigenart  gerade  dieses  Denkers,  diese  Versuche 
als  Versuche  mit  untauglichen  Mitteln  nachgewiesen  zu  haben,  und  an  die 
Lösung  solcher  philosophischer  Probleme  mit  einer  ganz  neuen  Frage- 
stellung herangetreten  zu  sein.  Er  fragt,  quid  iuris.  Er  sucht  die  lo- 
gische Berechtigung,  nicht  den  thatsächlich  en  Grund,  die 
geistigen  Energien,  deren  Existenz  man  füglich  bezweifeln  kann;  da 
nur  das,  was  angeblich  „ihr  Produkt"  ist,  wissenschaftlich  als  Objekt 
gelten  kann,  geistige  Energien  aber  eine  verzweifelte  Ähnlichkeit  mit  ge- 
heimen Kräften  haben.    Kants  Frage  schliesst  in  ihrer  Lösung  den 


172  Recensionen  (Simmel). 

Nachweis  des  logischen  Grundes  und  der  Grenzen  der  An- 
wendbarkeit der  problematischen  Begriffe,  nicht  aber  den 
Nachweis  der  ihnen  zu  Grunde  liegenden  geistigen  Energien 
und  der  Grenzen  ihrer  Leistungsfähigkeit  ein.  Wenn  er  auch 
an  der  quaestio  facti  nicht  \orbeigehen  kann,  so  ist  doch  ihre  Stellung  in 
seinem  Systeme  eine  andere,   ihre  Auflösung  überlässt  er  der  Psychologie. 

Von  hier  aus  kann  ich  auch  sofort  meine  Stellung  zu  dem  fixieren, 
was  S.  als  Kern  der  kritischen  Philosophie  ansieht.  Er  stellt  sich  der 
Auffassung  gegenüber,  die  als  das  Wesen  der  Philosophie  Kants  die  Ent- 
rechtung und  Entwertung  des  Erkennens  gegenüber  den  Rechtsamen  der 
praktischen  Vernunft  ansieht;  nach  ihr  erkennen  wir  die  übersinnlichen 
Urgründe  der  Welt  nicht,  zu  ihnen  vermittelt  uns  nur  die  praktische  Ver- 
nunft den  Zugang;  die  Frage  nach  dem  Werte  des  Lebens  ist  einzig  in 
der  Provinz  der  Wollungen  heimisch,  das  Erkennen  ist  in  den  Umkreis 
der  Erscheinungen  gebannt,  das  Ding  an  sich  bleibt  iins  verschlossen. 
Demgegenüber  betont  S.  „Kant  und  sein  System  sind  völlig  intellektua- 
listisch,  sein  Interesse,  wie  es  aus  dem  Inhalt  seiner  Lehre  hervorleuchtet, 
ist:  die  für  das  Denken  gültigen  Normen,  als  auf  allen  Lebensgebieten 
gültig  zu  erweisen."  Hieraus  erklärt  sich  auch  die  unnachlässliche  Strenge 
seiner  Moral;  sie  „stammt  aus  seinem  logischen  Fanatismus,  der  dem  ge- 
samten Leben  die  Form  mathematischer  Exaktheit  aufdrängen  möchte." 

Ich  kann  mir  diesen  Gegensatz  sehr  wohl  vereinheitlichen  Man 
muss  festhalten,  dass  Kants  Untersuchung  eine  metalogische,  keine  That- 
sachenerkenntnis  ist.  Er  sucht  die  Idee  der  Erfahrung,  die  Idee  der  Sitt- 
lichkeit etc  logisch  zu  rechtfertigen;  damit  ist  die  Logik  die  bestim- 
mende Macht  seiner  Untersuchungen;  eine  ganz  andere  Frage 
ist  die  Wertung  der  verschiedenen  Provinzen  menschlicher 
Thätigkeit;  sie  bilden  so  wenig  einen  unvereinbaren  Gegensatz  wie 
„hart"  und  „weiss". 

Anders  freilich  verhält  es  sich,  wenn  man,  wie  S.  es  thut,  Kant  die 
„geistigen  Energien"  bestimmen  lässt,  dann  kann  freilich  nur  das  eine 
oder  das  andere  gelten.  Wir  werden  es  aber  zu  prüfen  haben,  wie  weit 
S.  im  Rechte  ist,  denn  sein  Wort,  dass  Kant  zu  den  ganz  grossen  Geistern 
gehört,  die  mit  dauernd  der  Entwickelung  eingefügt,  mit  dem  Wandel  der 
Geschichte  sich  selbst  wandeln,  und  nicht  eindeutig  sagen,  wie  sie  ver- 
standen sein  wollen,  sondern  jeden  Geist  berechtigen  und  auffordern,  „sein 
eignes  Sein  und  Können  an  ihrer  Deutung  zu  bewähren";  diese  Bemerkung 
also  hat  ihre  Gerechtsame  doch  nur  innerhalb  der  Grenzen  möglicher, 
d.  h.  durchführbarer  Variationen  und  Deutungen.  Zeigt  es  sich,  dass  eine 
Deutung  nur  gezwungen  und  unter  Annahme  einer  Reihe  von  Inkonse- 
quenzen, die  sonst  in  Wegfall  kommen,  sich  aufrecht  erhalten  lassen,  so 
kann  sie  wenigstens  nicht  für  eine  ,philosophische'  gelten,  die  den  best- 
möglichen Sinn  festzuhalten  hat. 

In  der  Erkenntnistheorie  hat  Kant  nach  S.  von  der  in  Mathematik 
und  Erfahrung  vorliegenden  Erkenntnissen  auf  die  geistigen  Energien, 
die  sie  bilden,  zurückgeschlossen.  Die  Wahrnehmungen  bilden  den  Stoff 
der  Erfahrung,  der  vom  Intellekt  mit  Hilfe  der  ihm  eigenen  Formen  zu 
Erfahrung  geformt  wird.  Damit  wird  die  Einseitigkeit  des  Empirismus 
und  des  Rationalismus  überwunden:  „das  wahre  Weltbild  entsteht  durch 
das  Zusammenwirken  sämtlicher  geistiger  Energien,  die  Einseitigkeit 
aller  Lehren,  die  eine  derselben  auf  Kosten  der  andern  zum  Träger  der 
Wahrheit  machen,  ist  überwunden,  während  die  Wertung  der  geistigen 
Energien  überhaupt  als  Quell  der  Welt,  von  der  wir  sprechen  können,  er- 
halten bleibt.  Wenn  Objektivität  heisst,  subjektive  Ansprüche  ausgleichen 
und  sie  in  eine  höhere  Einheit  jenseits  ihrer  Einseitigkeiten  überzuführen, 
so  spiegelt  sich  die  Objektivität  des  Ausgangspunktes,  den  Kant  nahm, 
in  der  Objektivität  dieses  schliesslichen  und  entscheidenden  Gedankens." 

Kurz  gesagt,  die  Erfahrung  ist  vom  Subjekt  abhängig,  das  den 
Stoff,  die  Wahrnehmungen,  auf  Grund  apriorischer  Formen  zu  objektiven 


f! 


Recensionen  (Simmel).  173 

und  damit  wahren  Erkenntnissen  maclit.  Wollten  wir  einmal  die  trans- 
scendeuten  UmbiegungKn  S.s  eliminieren,  so  würden  wir  sagen,  Erfahrung 
ist  gewisslich  vom  Subjekt  abhängig,  denn  sie  wird  nicht  vorgefunden, 
sie  ist  eine  Idee,  die  das  Subjekt  zu  realisieren  sucht.  Die  Ergebnisse 
geistiger  Thätigkeit,  das  Resultat  der  Verarbeitung  der  Wahrnehmungen 
werden  nur  dann  Erfahrungen  sein,  wenn  sie  die  Bedingungen  des  Be- 
griffs der  Erfahrung  erfüllen.  Die  begrifflichen  Voraussetzungen  des  Er- 
fahrungsbegriffs sind  die  Bedingung  sine  qua  non,  was  ihr  nicht  ge- 
nügt, kann  unter  den  Begriff  der  Erfahrung  nicht  subsumiert  werden, 
kann  Erfahrung  nicht  genannt  werden.  So  wenig  aber  irgendwo  in  der 
Wissenschaft  sonst  aus  einem  allgemeinen  Begriff  das  Besondere  in  seiner 
Besonderheit  deduziert  werden  kann,  ebenso  wenig  kann  aus  der  Idee  der 
Erfahrung,  aus  dem  „Begriff  der  Erfahrung  überhaupt"  die  Einzelerfahrung 
erschlossen  werden ;  denn  die  in  der  Idee  der  Erfahrung  liegenden  Ele- 
mente machen  nicht  die  Objektivität,  sie  drücken  sie  nur  aus.  In  der 
Erkenntnis  dieses  Umstandes  schied  Kant  die  reine  Synthesis  von  der  em- 
pirischen. Auf  Grund  welcher  geistiger  Energien  sie  zustande  kommen, 
ist  irrelevant,  festzustellen  aber,  welchen  Forderungen  sie  zu  genügen 
haben,  dürfte  die  unausweichbare  Aufgabe  der  Erkenntnistheorie  sein. 
Drei  Schwierigkeiten  hebt  S.  an  der  Aprioritätslehre  hervor: 

1.  „Der  Gedanke,  dass  die  Beschaffenheit  des  erkennenden  Subjekts 
selbst  die  Bedingung  des  Erkennens  ist,  da.ss  man  also  von  jedem  eifahr- 
baren  Gegenstande  von  vornherein  und  ohne  ihn  zu  untersuchen,  diejenigen 
Bestimmungen  aussagen  kann,  die  die  Erkenntniskräfte  des  Subjekts,  der 
Prozess  des  Erkennens  selbst  ihm  aufprägt,  —  dieser  Gedanke  ist  zwar 
in  seiner  Einfachheit  —  unmittelbar  einleuchtend,  allein  die  unbedingte 
Gültigkeit  irgend  eines  bestimmt  formulierten  Satzes  folgt  daraus  nicht 
so  unmittelbar,  wie  Kant  meint."  Meinte  das  Kant?  „Niemand  wird  be- 
haupten, dass  das  Kausalgesetz  als  ein  bewusstes  Prinzip  in  uu'^  wirkte, 
wenn  wir  unsere  Wahrnehmungen  ihm  gemäss  deuten."  Kant  würde  ge- 
wiss der  Letzte  gewesen  sein,  der  dies  behauptet  hätte.  Also  die  psy- 
chische Funktion  ist  das  a  priori,  nicht  der  Satz,  der  sie  ausdrückt.  Dass 
Kant  an  der  Hand  der  Urteilsformen  jene  psychischen  Funktionen  a  priori 
in  ihrer  Vollständigkeit  herleiten  wollte,  das  ist  wahrhaft  „wunderlich  und 
abstrus"  und  wenig  befriedigend.  „Die  Schwäche  dieser  Methode  liegt 
heute  auf  der  Hand";  dazu  wäre  es  noch  gar  nicht  einmal  vonnöten  ge- 
wesen, „den  Geist  in  den  Fluss  der  Entwickelung  zu  ziehen",  zu  wie 
schönen  Bemerkungen  auch  diese  Betraclitung  Anlass  geben  mag. 

2.  „Unser  Geist  hat  nicht  diese  Formen,  sondern  er  ist  sie."  „Die 
Gesetze  der  Geometrie  sind  die  abstrakten  Formeln  für  diejenigen  Ener- 
gien, die  regelmässig  unsere  Sinneseindrücke  zu  Raumgestalten  bilden. 
Aber  Unsicherheiten,  Alterationen,  Täuschungen  gehen  doch  auch  hier  vor 
sich.  .  .  .  Ganz  unzweideutig  sind  bei  einer  anderen  apriorischen  Form, 
der  Kausalität,  die  Fälle,  in  denen  sie  eben  nicht  herrscht,  in  denen  wir, 
unfreiwillig  aber  gelegentlich  auch  freiwillig,  keineswegs  dem  Kausalgesetz 
gemäss  denken.  Wie  vereinigt  sich  dies  nun  mit  der  Allgemeinheit  und 
Notwendigkeit  dieser  Denkformen,  und  damit,  dass  unser  Geist  sie  a  priori 
in  sich  trägt  und  sie  dadurch  seineu  Einzelinhalten  unvermeidlich  aufprägt  ?" 

Gar  nicht  vereinigt  sich  das,  absolut  gar  nicht.  Man  kann  die  Undurch- 
führbarkeit  der  Deutung  S.s  gar  nicht  besser  beleuchten,  als  S.  es  selber 
gethan  hat.  Sind  Kausalität  etc.  Funktionen  a  priori  der  Seele,  sind  sie 
unser  Geist,  dann  in  der  That  stehen  wir  liier  vor  einem  unlösbaren 
Räthsel.  Aber  wir  brauchen,  ja  wir  dürfen  sie  nicht  so  betrachten.  Kants 
eigene  Auslassungen  verbieten  das.  Das  a  priori  bezieht  sich  niemals  auf 
unseren  Geist,  sondern  stets  nur   auf  die  Erfahrung, ')    als  die  „Form"  der 


1)  Der  Unterschied  kann  kaum  treffender  gekennzeichnet  werden, 
als  durch  die  von  der  Marburger  Schule  getroffene  Scheidung  von  Be- 
wusstsein  und  Bewusstheit. 


174  Recensionen  (Siramel). 

Erfahrung,  nicht  als  „das  die  Erfahrung  Formende";  als  Begriff,  nicht  als 
Sache.  S.  gräbt  seinen  Gedanken  tiefer  und  seine  weiteren  Ausführungen 
sind  ebenso  ein  Beweis  für  seinen  Scharfsinn  wie  für  die  Undurchführbar- 
keit  seiner  Interpretation. 

S.  meint,  Kant  würde  auf  den  von  ihm  skizzierten  Einwand  „sehr 
einfach  antworten :  das  Apriori  ist  eben  nur  ein  Apriori  des  Erkennens, 
wo  wir  es  nicht  anwenden,  erkennen  wir  nicht,  sondern  vollziehen  nur 
irgend  welche  subjektiven  seelischen  Prozesse,  die  aber  nicht  Erfahrungen 
sind.  Dass  diese  Formen  unserem  Geiste  immanente  Energien  sind,  be- 
deute doch  nicht,  dass  sie  fortwährend  funktionieren  müssen  .  .  .  Das 
Apriori  werde  durch  die  Mängel  seiner  Anwendung  .  .  .  seiner  gesetz- 
lichen Gültigkeit  [nicht]  beraubt  .  .  .  Dies  ist  durchaus  richtig,  aber  es 
führt,  wie  mir  scheint,  zu  einem  verderblichen  Zirkel.  Jene  Normen  be- 
herrschen nur  die  gültige  Erfahrung.  Aber  woher  wissen  wir  denn,  was 
gültige  Erfahrung  ist,  ausser  dadurch,  dass  wir  diese  Normen  in  ihr  geltend 
linden?"  [das  klingt  nach  Fichte].  Die  Normen  „sind  also  sozusagen  in 
eigener  Sache  Richter  und  der  Wahrheitsbegriff  dreht  sich  im  Kreise". 
Nota  bene  wenn  für  Kant  die  Begriffe  a  priori  geistige  Energien  sind, 
die  die  Wahrnehmuugen  zu  Erfahrungen  und  damit  zu  Wahrheiten  um- 
bilden. 

Auch  die  Einheit  der  Vorstellungen  biete  keine  hinreichende  Le- 
gitimierung, da  diese  sich  „nach  jenen  formenden  Kategorien"  richtet, 
„für  die  wir  erst  nach  einer  Bestätigung  suchten"  .  .  .  „Der  Kantische 
Zirkel,  unsere  Erkenntnisse  sind  wahr,  weil  und  soweit  sie  von  apriori- 
schen Normen  bestimmt  sind,  —  und  diese  sind  gültig,  weil  jene  von 
ihnen  normierte  Wissenschaft  unbezweifelt  gilt  —  dieser  Zirkel  ist  der 
unmittelbare  Ausdruck  des  absolut  theoretischen  Charakters  der  Kantischen 
Philosophie,  den  ich  hervorhob." 

3.  Die  dritte  Schwierigkeit  liegt  für  S.  darin,  dass  der  Umschwung, 
die  Umwandlung  des  Wahrnehmungsurteils  in  ein  Erfahrungsurteil  nicht 
hinreichend  dargethan  ist.  Es  ist  dies  ohne  Zweifel  eine  Frage  von 
grossem  psychologisclien  Interesse ;  dass  hierin  aber  für  die  Erkenntnis- 
kritik ein  Problem  nicht  vorliegt,  da  sie  nicht  zur  Aufgabe  hat,  die  Ent- 
stehung der  Erfahrung  zu  erklären,  habe  ich  bereits  vor  einigen  Jaliren 
ausführlich  dargethan,  und  ich  kann  es  mir  um  so  eher  ersparen,  meine 
damaligen  Auseinandersetzungen  zu  wiederholen,  weil  S.  auf  den  beiden 
Seiten,  die  er  dem  Problem  widmet,  sich  mit  einer  Erläuterung  des  be- 
treffenden Kapitels  der  Prolegomena  und  der  Konstatierung  der  Schwierig- 
keit begnügt,  die  die  Psychologie  bis  heute  noch  nicht  überwunden  hat. 

Erfahrung  kann  durch  Erfahrung  umgestossen  werden.  Wie  kommt 
das,  wenn  sie,  durch  apriorische  geistige  Energien  gebildet,  Objektivität, 
d.  h.  Allgemeingültigkeit  und  Notwendigkeit  besitzt  ?  Die  blossen  Kate- 
gorien geben  uns  nur  ein  blutloses  Schema  der  Erkenntnis,  als  dessen 
Gegensatz  das  Wahrnehmungsurteil  gilt.  Die  Erfahrung  ist  ein  Gemischtes 
aus  beiden,  ein  Mittleres  zwischen  beiden,  eine  Entwickelung  von  dem 
einen  zum  anderen.  Darin  liegt  die  Möglichkeit  ihrer  Korrigierbarkeit. 
Die  Wahrnehmung  wird  in  unendlicher  Reihe  von  den  Normen  geformt, 
und  diese  Formung  ist  eine  Thätigkeit  des  Subjekts,  das  ist  der  Sinn  von 
Kants  Idealismus.  „Der  objektive  Gegenstand  entsteht,  indem  die  ein- 
zelnen Sinnesempfindungen  zu  einer  Einheit,  die  sie  aneinanderhält,  kristal- 
lisieren ;  dadurch  werden  sie  das,  was  man  die  Eigenschaften  des  Dinges 
nennt."  Zu  dieser  Einheit  können  sie  sich  zusammenschliessen,  weil  unsere 
Seele  ein  Ich  bildet.  „Das  Ich  ist  —  die  Einheit,  in  der  alle  meine  Vor- 
stellungen sich  zusammenfinden ;  ja  die  einzige,  absolute  Einheit  innerhalb 
unsers  Wesens,  gegenüber  der  Extensität  und  Vielseitigkeit  der  Materie 
unsres  Seelenlebens,  und  als  solche  einzig  geeignet,  jene  Vereinheitlichung 
von  Elementen,  in  der  das  Objekt  und  seine  Erkennbarkeit  erwächst,  in 
sich  und  durch  sich  zu  vollziehen".  Hierin  liegt  die  Macht  unserer  Seele 
über   die   Dinge   und   „weil   es  der  Gipfelpunkt  alles  menschlichen  Thuns 


Recensionen  (Simmel).  175 

ist,  leuchtet  in  ihm  am  sichtbarsten  Kants  grosser  Gedanke  auf,  dass  die 
Objektivität  der  Dinge  unserer  Seele  gegenüber  in  jener  Einheit  ihrer 
liegt,  die  unsere  Seele  selbst  ihnen  verleiht  und  mit  der  sie  deren  eigene 
Form  wiederholten". 

Treffend  weist  S.  den  Versuch  zurück,  aus  dem  formalen  Idealismus 
Kants  einen  materialen  zu  machen.  Die  Welt  ist  nur  meine  Vorstellung, 
ist  ein  Kant  mit  Unrecht  untergeschobenes  Theorem.  „Es  giebt  dem 
Kantischen  Idealismus  eine  Bedei;tung  für  das  subjektiv-persönliche  Leben 
und  sein  Verhältnis  zum  Dasein  überhaupt,  die  völlig  über  die  Absicht 
Kants  hinausgeht.  Das  Ich,  das  die  Welt  zusammenhält  und  sie  dadurch 
als  objektives  Sein  schafft  —  dieses  Ich  .  .  .  ist  durchaus  kein  persön- 
liches, ist  durchaus  nicht  die  Seele,  der  das  Gewährtsein  oder  Versagtsein 
der  Welt  ausser  ihr  eine  Frage  des  Lebenswertes  wäre .  .  .  „Was  wir  das 
Ich  nennen,  ist  nichts  als  die  Einheit,  zu  der  die  einzelnen  Inhalte  der 
vorgestellten  Welt  sich  zusammenfinden :  es  giebt  keine  Einheit  ohne  Ele- 
mente, die  von  ihr  oder  zu  ihr  geformt  werden,  zum  mindesten  nicht  in 
den  Grenzen  der  erkennbaren  Welt."  S.  erläutert  diese  These  am  Raum- 
problem ganz  vorzüglich  und  seine  Ausführungen  scheinen  mir  bei  weitem ' 
eher  mit  der  von  mir  skizzierten  Auffassung  der  transscendentalen  Me- 
thode zu  harmonieren,  als  mit  den  transscendenten  Umbiegungen  S.s. 
Diesen  gegenüber  erscheinen  sie  eher  als  eine  Inkonsequenz.  Hier  bricht 
auch  eigentlich  die  Auffassung  durch,  dass  es  sich  für  Kant  darum  ge- 
handelt habe,  das  bestehende  Wissen  in  der  Erfahrung  und  mathema- 
tischen Naturwissenschaft  „zu  analysieren  und  aus  seinen  Elementen  zu 
erklären";  aus  seinen  Elementen,  d.  h.  doch  aber  offenbar  nicht  aus 
letzten  geistigen  Energien. 

Mit  Recht  weist  S.  den  fruchtlosen  Streit  zurück,  wie  sich  die  Ver- 
nunftkritik zu  den  absoluten  Dingen  an  sich  stelle ;  die  empirische  Reali- 
tät der  Aussendinge  hat  Kant  in  keiner  Weise  in  Zweifel  gezogen,  sie 
sind  ihm  um  so  weniger  blosse  Vorstellungen,  als  ja  auch  das  Seelenleben 
nur  Erscheinung  ist.  „Diese  Koordination,  die  die  Aussen-  und  die  Innen- 
welt von  der  Frage  nach  ihrem  Erkanntwerden  aus  gewinnen,  ergiebt  als 
weiteres  Resultat  für  Kant  die  Lösung  eines  Hauptproblems  alles  neu- 
zeitlichen Philosophierens:  der  Wechselwirkung  von  Geist  und  Körper." 

„Was  die  Metaphysik  für  die  der  Erklärung  bedürftige  Thatsache 
gehalten  hatte:  die  unausgedehnte  Substanz  der  Seele,  die  von  dem 
Geistigen  unabhängige  Raumeswelt  und  irgend  eine  Art  Vereinheitlichung 
zwischen  ihnen,  —  eben  das  erklärt  Kant  für  eine  naive  und  willkürliche 
Annahme.  Denn  gerade  jene  Substanzen  sind  nicht  gegeben,  sondern  nur 
körperliche  und  seelische  Erscheinungen,  deren  Einheit  darin  liegt,  dass 
sie  eine  einheitliche,  d.  h.  allenthalben  die  gleichen  Regelmässigkeiten 
aufweisende  Erfahrung  bilden." 

Damit  wird  aller  Materialismus  und  Spiritualismus  beseitigt  und  aus 
einer  metaphysischen  Schwierigkeit  eine  empirische  gemacht.  Es  giebt 
nur  eine  einheitliche  Welt,  wie  es  nur  eine  Erfahrung  giebt. 

Kants  Ethik  hat  den  Freiheitsbegriff  vertieft;  zeigt  aber  auch  die 
ganze  naturwissenschaftliche  Denkgewohnheit  des  Philosophen,  die  Gesetze 
der  Sittlichkeit  sind  allgemein,  d.  h.  für  jedermann  etc.  gültig.  Diese 
beide  Gedanken  finden  darin  ihre  Einheit,  dass  nicht  das  pflichtmässige 
Handeln,  sondern  allein  das  Handeln  aus  Pflicht  dem  sittlichen  Anspruch 
genügt.  Kants  Formulierung  der  ethischen  Grundgesetze  will  nicht  eine 
neue  Sittlichkeit  schaffen,  sie  enthüllt  sich  „als  blosses  Mittel  für  die 
Klärung  und  Auseinanderlegung  von  anderweitig  —  durch  sittlichen  In- 
stinkt oder  sonst  —  schon  anerkannten  sittlichen  Werten.  Wie  in  der 
Erkenntnislehre  die  Thatsache  der  Erfahrung,  wird  hier  die  Thatsache  der 
Sittlichkeit  als  das  zu  erklärende  Problem  vorausgesetzt.  Die  Analyse 
der  ethischen  Probleme,  ein  Gebiet,  auf  dem  sich  S.  auch  sonst  schon  als 
Meister  erwiesen  hat,  gehört  zu  den  besten  und  trefflichsten  Partien  des 
Buches,     Man   kann   sie   nicht   lesen,  ohne  dem  eindringenden  Scharfsinn 


176  Recensionen  (Simmel). 

S.  seine  Bewunderung'  zu  zollen.  In  ihnen  scheint  sich  S.  gegenüber 
früheren  Ausfülirungeu  Kant  sehr  genähert  zu  haben.  Ich  hätte  nur  ge- 
wünscht, dass  er  in  der  Kritik  der  Kantischen  Lehren  dem  neuerdings  mit 
Eifer  ausgefochtenen  Streit  zwischen  formaler-  und  Inhalts-Ethik  einige 
Aufmerksamkeit  zugewandt  hätte.  Auch  die  Ethik  scheint  er  mir  nicht 
hinreichend  formal  aufzufassen.  Der  kategorische  Imperativ  schafft  nach 
ihm  die  sittlichen  Werte  analog  wie  die  Kategorien  die  Erfahrung  schufen. 
Ich  halte  diesen  ethischen  Gedanken  für  transscendent,  für  Metaphysik. 
Kant  hat  freilich  aus  seinem  formalen  Prinzip  ethische  Inhalte  abgeleitet; 
in  harter  Inkonsequenz  gegen  seine  erkenntnistheoretischen  Anschauungen. 

So  spricht  denn  nicht  wenig  für  die  Auffassung  S.s  Wie  er  aber 
den  Freiheitsbegriff,  den  Begriff  der  Tugend,  des  Sittengesetzes,  des  Ver- 
hältnisses von  Tugend  und  Glückseligkeit,  die  Rolle,  die  das  Ding  an 
sich  in  Kants  Ethik  etc.  spielt,  bespricht,  der  geistvolle  Scharfsinn,  den 
er  dabei  bekundet,  die  ernste  Eindringlichkeit  und  Sachlichkeit,  alles  das 
bedeute   eine    wertvolle   Klärung    ethischer   Begriffe,    auch    für   den,    der  J 

^  andere  Bahnen  zu  gehen  gewohnt  ist.  1 

Geistvoll  sind  auch  die  Erörterungen  der  ästhetischen  Probleme. 

In  der  Schlussvorlesung  fasst  S.  seine  Ausführungen  in  einer  Art 
soziologischen  Würdigung  Kant  zusammen.  „Die  prinzipiellen  Lebens- 
probleme der  Neuzeit  bewegen  sich  im  Wesentlichen  um  den  Begriff  der 
Individualität."  Kants  Begriff  der  Individualität  ist  die  philosophische 
Sublimierung  des  Begriffs  vom  Individuum,  wie  ihn  das  18.  Jahrhundert 
hervorgebracht  hat,  er  drückt  das  aus,  „was  eben  allein  allen  gemeinsam 
ist",  er  ist  der  Ausdruck  „des  Allgemein-Menschlichen  in  uns,  des  über- 
historischen, überindividuellen  ,Menschen  überliaupt',  der  sich  zu  allen  ein- 
zelnen verhält,  wie  der  Allgemeinbegriff  zu  seinen  Exemplaren".  Die  Ro- 
mantik brachte  uns  den  Menschen  in  seiner  Besonderheit,  die  Würdigung 
des  Menschen  in  seiner  qualitativen  Bestimmtheit;  und  darin  liegt  gewiss 
ein  Fortschritt.  Aber  Kants  „Deutung  des  menschlichen  Daseins,  die  von 
der  Idee  der  Freiheit  und  Gleichheit  getragen  ist,  ist  nicht  in  dem  Sinne 
historisch,  dass  die  Veränderung  der  Umstände  sie  einfach  antiquierte.  Ich 
glaube  vielmehr,  dass  sie  ähnlich  gewissen  Gedanken  des  Griechentums 
und  des  Christentums  als  dauerndes  Element  der  Lebensdeutung  und 
der  Idealbildung  die  Zeit  ihrer  Alleinherrschaft  überleben  wird". 

Es  wird  niemand  an  Simmeis  Buch  vorbeigehen  können,  der  sich 
ein  wirklich  gutes  Buch  nicht  entgehen  lassen  will.  Und  ich  glaube,  es 
wird  auch  niemand  dazu  Lust  haben.  Es  ist  ein  durchaus  philosophisches 
Buch,  das  auf  jeder  Seite  die  Eigenart  des  Verfassers  zeigt.  Und  solche 
Werke  sind  selten,  doppelt  selten,  wenn  sie  zum  Thema  die  Schilderung 
der  Philosophie  einer  so  überragenden  Persönlichkeit  wie  die  Kants  haben. 
So  wertvoll  aber  auch  ein  solches  Werk  nach  dieser  Richtung  sein  mag, 
so  wird  doch  die  Kritik  auch  nach  einer  anderen  Seite  hin,  nach  der  phi- 
lologischen, ihre  Aufmerksamkeit  zu  richten  haben ;  denn  die  Arbeit  ist 
eine  Variation  des  Thema  Kant  und  sie  hat  sich  als  solche  innerhalb  der 
Grenzen  möglicher  Variationen  zu  halten :  Kant  bedeutet  uns  eine  not- 
wendige Stufe  der  Entwickelung  der  philosophischen  Einsicht.  Erst  wenn 
seine  Lehren  seinen  Absichten  nach  in  möglichst  vollkommener  Klarheit 
dargestellt  sind,  wird  ein  dauernder  Fortschritt  über  ihn  hinaus  möglich 
sein.  Und  am  Fortschritt  der  Wissenschaft  wünschen  wir  doch  alle  zu 
arbeiten.  Daher  muss  auch  Kant  gegenüber  der  Wunsch  individueller 
Deutung  stumm  bleiben.  Hiergegen  muss  die  wissenschaftliche  Kritik 
Front  machen.  Es  ist  daher  auch  natürlich,  dass  in  meinem  Referat  die 
Kritik  vorwaltet.  Es  wäre  aber  gegen  alle  meine  Absichten,  wenn  dies 
den  Anschein  erwecken  würde,  dass  meine  Darlegungen  den  Wert  des 
Buches  schmälern  sollten.  Ich  möchte  daher  meine  Besprechung  ausdrück- 
lich mit  dem  Ausdruck  des  Dankes  für  die  vielfachen  Belehrungen  und 
Anregungen  von  Simmeis  Buch  schliessen. 

BerHn-Charlottenburg.  •  Hugo  Renner. 


Recensionen  (Söailles — Görland).  177 

Seailles,    Gabriel.      Das    künstlerische    Genie.      Eine    Studie. 
Übersetzt  von  Marie  Borst.     Leipzig,  E.A.Seemann.     19U4.    (XII  u.  292  S.) 

Kant  hat  bekanntlich  (im  47.  Paragraphen  der  Kr.  d.  Urt.)  bestritten, 
dass  das  Genie  auch  in  der  Wissenschaft  seine  Stelle  habe :  er  will  nur 
von  künstlerischen  Genies  gesprochen  wissen.  Zu  den  vielen  Gegnern, 
die  diese  Lehre  Kants  von  Anbeginn  an  gefunden  hat,  ist  ein  neuer  ge- 
kommen: Gabriel  Seailles,  Professor  der  Philosophie  an  der  Universi- 
tät Paris.  In  dem  geistreichen  Buche  „Das  künstlerische  Genie" 
stellt  er  in  instruktiver  Weise  Kunst  und  Wissenschaft  neben  einander. 
Beide  „sind  Formen  des  Lebens;  sie  fliessen  aus  derselben  Quelle,  aus  den 
spontanen  Regungen  des  Geistes,  die  Sein  und  Handeln  desselben  be- 
stimmen" (7).  „Was  der  Geist  auch  thun  mag,  er  arbeitet  stets  für  die 
Ordnung;  er  lebt  nur  dadurch,  dass  er  eine  gewisse  Schönheit  in  die 
Dinge  bringt"  (39).  Allein  die  Erscheinungen  widerstreben  den  Forder- 
ungen des  Geistes;  es  kommt  dem  Gegebenen  gegenüber  zu  keiner  vollen 
Überwindung  der  Materie.  Das  wissenschaftliche  Genie  zwingt  den  Er- 
scheinungen die  in  ihm  wohnende  Schönheit  „gewissermassen  gewaltsam" 
auf.  Es  ist  das  Vorrecht  der  Kunst,  eine  freie  Offenbarung  des  Genies  zu 
verstatten,  und  die  Bedingung  ihrer  Möglichkeit  ist,  „dass  im  Geiste  ge- 
fügige Elemente  leben,  dass  sich  eine  Art  geistiger  Materie  bilde  und  an- 
häufe, welche,  obgleich  die  Welt  darstellend,  doch  mit  dem  Geist  identisch 
ist  und  seinen  Gesetzen  nicht  mehr  widerstrebt".  Die  Kunst  ersteht  „aus 
der  freien  Bewegung  des  Lebens,  das  mit  seinen  eigenen  Gesetzen  spielt 
und  sich  selbst  geniesst"  (71).  „Wir  erkennen  das  Objekt  nur  mit  Hilfe 
der  Empfindung ;  aber  die  Empfindung  entschwindet  nicht  ganz,  sie  bildet 
vom  Augenblick  ihres  Auftretens  an  ein  Element  unseres  inneren  Lebens ; 
sie  kann  wiedererstehen ;  und  auf  diese  Weise  häufen  sich  in  uns  die 
Bilder,  welche  —  weil  sie  etwas  Geistiges  sind  —  allen  Bewegungen  des 
Geistes  folgen,  keine  anderen  Gesetze  kennen  als  die  seinigen,  und  welche 
imstande  sind,  durch  ihre  Kombinationen  eine  ganz  geistige  Welt  zu  schaffen. 
Diese  Welt,  in  welcher  der  Geist  alles  ist,  weil  ja  sogar  ihre  Materie  geistig 
ist,  ist  die  Welt  der  Kunst;  jene  Allmacht  des  Denkens  aber,  das  sich  in 
ihr  in  vollster  Freiheit  kundgiebt  und  sich  ganz  und  gar  zum  Ausdruck 
bringt,  ist  das  Genie"  (239).  Ein  jedes  Gefühl  nun  strebt  sich  auszu- 
drücken, jedes  Bild  will  sich  realisieren:  so  drängt  das  im  Geist  konzi- 
pierte Kunstwerk  zum  sinnlichen  Dasein. 

Man  wird  nicht  verkennen,  dass  die  in  dem  Buche  vertretene  Theo- 
rie des  wissenschaftlichen  Erkennens  stark  von  dem  subjektivistischen 
Moment  der  Kantischen  Erkeuntnislehre  beeinflusst  ist.  Die  Doktrinen 
der  Kr.  d.  r.  V.  erscheinen  hier  in  einer  interessanten  Beleuchtung  —  man 
möchte  sagen :  unter  dem  Primat  der  ästhetischen  Vernunft.  —  Mit  be- 
sonderer Anerkennung  sei  noch  die  —  trotz  der  nicht  immer  leichten 
Gedankengänge  —  überall  flüssige  und  elegante  Darstellung  hervor- 
gehoben. 

Görland,  A.  Paul  Natorp  als  Pädagoge.  Zugleich  mit 
einem  Beitrag  zur  Bestimmung  des  Begriffs  der  Sozialpäda- 
gogik.    Leipzig,  Julius  Klinkhardt,  1904.     (78  S.) 

Paul  Natorp,  Sozialpädagogik.  Zweite  vermehrte  Auflage. 
Stuttgart,  Fr.  Frommann,  1904.     (XXIV  u.  400  S.) 

Nachdem  Hermann  Cohen  als  erstem  der  „Neukantianer"  eine  im 
VII.  Bande  der  „Kantstudien"  (S.  150  ff.)  besprochene  Monographie  zu 
Teil  geworden  ist,  ist  nun  auch  seinem  philosophischen  Gesinnungsge- 
nossen Paul  Natorp  die  gleiche  Ehre  widerfahren.  Der  Verfasser,  A. 
Görland,  der  sich  zuerst  durch  eine  Dissertation  über  ,Aristoteles  und  die 
Mathematik'  (Marburg  1899)  bekannt  gemacht  hat,  wirkt  seit  mehreren 
Jahren  in  Hamburg,  namentlich  in  den  philosophisch  interessierten  Kreisen 
des  Volksschullehrerstandes,  dem  er  selbst  früher  angehört  hat,  für  die 
Gedanken  des  Kritizismus  in  derjenigen  Form,  in  der  ihn  die  „Marburger 
Schule"  —  wie  Görland  lieber   statt  „Neukantianismus"  gesagt  haben  will 

Kantstudien  X.  1  .-j 


178  Recensionen  (Görland). 

—  weiterzubilden  bestrebt  ist.  In  der  That  scheinen  Natorps  pädag'Ogische 
Grundsätze  bei  einem  Teile  derjenigen  Volksbcliulpädagogen,  die  sich  für 
die  philosophische  Fundamentierung  der  Erziehungskunst  interessieren  und 
früher  fast  ausnahmslos  auf  Herbart  schworen,  sich  eines  nicht  geringen 
Ansehens  zu  erfreuen;  ist  er  doch  von  Otto  Ernst  in  dessen  bekanntem 
.Flachsniann  als  Erzieher'  als  erfolgreicher  Rivale  Herbarts  sogar  auf  die 
Bühne  gebracht  worden !  Auch  die  vorliegende  Schrift  Görlands  ist  der 
Sonderdruck  einer  Aufsatzreihe,  die  den  Verfasser  in  der  ,Deutschen  Schule', 
einer  im  Auftrage  des  Deutschen  Lehrervereins  von  Rissmann  herausge- 
gebenen pädagogischen  Monatsschrift,  veröffentlicht  hat.  Sie  schildert  in 
ihrem  ersten  (kleineren)  Teil  Natorp  freilich  nur  als  Pädagogen.  Aber, 
da  Natorps  pädagogische  Anschauungen  untrennbar  mit  seiner  philoso- 
pliischen  Grundstellung  verbunden  sind,  so  wird  auch  diese  mit  charak- 
terisiert. 

Wir  glauben  auf  diesen  ersten,  referierenden  Teil  der  Schrift  hier 
nicht  näher  eingehen  zu  sollen,  da  wir  selbst  bereits  über  Natorps  „Sozial- 
pädagogik" an  anderen  Stellen  ^)  berichtet  haben.  Mit  Recht  sieht  Görland 
in    der    Ausdehnung    der   kritischen  Methode    auf    eine   soziale  Pädagogik 

grossen  Stils  gerade  das,  was  Natorps  Philosophie  im  Unterschiede  von 
erjenigen  seiner  Gesinnungsverwandten  Cohen,  Stammler,  Staudinger  u.  a. 
ihr  besonderes  Gepräge  giebt.  Die  Schriften  und  Aufsätze  des  Marburger 
Philosophen,  die  er  seiner  Darstellung  zu  Grunde  legt,  sind:  1.  ein  Auf- 
satz ,Zur  Schulfrage'  in  der  Ethischen  Kultur  von  1893,  2.  die  Religion 
innerhalb  der  Grenzen  der  Humanität  (1894),  die  sich  ja  ausdrücklich  be- 
reits als    „ein  Kapitel   zur  Grundlegung  der  Sozialpädagogik"  bezeichnete, 

3.  zwei  kleinere  Arbeiten  über  Pestalozzi  und  den  platonischen  Staat  (1894), 

4.  Herbart,  Pestalozzi  und  die  heutigen  Aufgaben  der  Erziehungslehre  (1897,8), 
und  endlich  5.  das  Hauptwerk:  die  Sozialpädagogik  (1899).  Darstellung 
und  Ton  sind  warm  und  begeistert,  verraten  aber  eine  selbständige  Durch- 
dringung des  Themas. 

Dass  Görland  kein  blosser  Nachbeter  fremder  Weisheit,  dass 
er  ein  Selbstdenker  ist,  beweisen  seine,  beinahe  zwei  Drittel  der 
ganzen  Schrift  (S.  29—78)  einnehmenden,  eigen  en  Ausführungen  über 
den  Begriff  der  Sozialpädagogik,  die  zwar  aus  der  „Stimmung"  des 
Natorpschen  Werkes  herausgeschrieben  sind,  aber  doch  „in  freier  Selbst- 
entwickelung", wie  der  Verfasser  mit  Grund  von  sich  sagen  kann  (S.  46), 
und  von  neuen  Gesichtspunkten  aus  ähnliche  Gedanken  entwickeln.  Dem 
positiv  aufbauenden  Teile  gehen  zunächst  zwei  kürzere  kritische  Abschnitte 
zur  Charakterisierung  der  Individualpädagogik  (S.  30 — 38)  und  der 
„sozial  interessierten"  Pädagogik  (38 — 46)  vorauf.  Die  erstere,  der 
pädagogische  und  historische  Ausdruck  des  politischen  Liberalismus,  die 
den  Menschen  bloss  als  Individuum  betrachtet,  versagt  schon  vor 
den  Problemen  der  Gesellschaft,  die  ihr  nur  eine  Summe  von  Individuen 
ist,  und  des  Staates,  den  sie  bloss  als  lästige,  die  freie  Entwickelung  der 
Kräfte  hemmende  „Regierung"  empfindet  (vgl.  Wilhelm  v.  Humboldt);  erst 
recht  natürlich  vor  dem  ethischen  Zentralbegriff  der  Gemeinschaft 
und  ihrem  Verhältnis  zur  Person,  ebenso  wie  von  den  Problemen  der 
Kultur  und  des  Erkennens.  Aber,  wie  „epikureisch-egoistisch"  im  letzten 
Grunde  ihr  Persönlichkeitsideal  auch  sein  mag,  wie  oberflächlich  ihr  ge- 
sellschaftliches Prinzip :  „Geht  es  dem  einzelnen  gut,  so  auch  der  Gesell- 
schaft", auch  gedacht  ist:  sie  hat  wenigstens  das  ästhetische  Ziel  einer 
harmonischen  Ausbildung  der  einzelnen  Persönlichkeit  im  Auge.  — 
Anders  die  sogenannte  „sozial  interessierte",  die  vulgäre  Form  der  „Sozial"- 
Pädagogik.  Sie  will  für  die  Gesellschaft  vorbereiten,  den  „Bürger  im 
Menschen"  ausbilden.  Nur  als  Glied  des  grossen  Organismus  der  Arbeit 
soll  das  Individuum  noch  einen  Wert   haben.     Aber  dieser  grosse  Organis- 

1)  K.  Vorländer,  Gesch.  der  Philosophie  II,  466—468;  ders.,  Kant 
und  der  Sozialismus  S.  21 — 28,  am  ausführlichsten  in  Ztschr.  f.  Philos.  u. 
pUlos.  Kritik  114,  S.  216—240. 


Üecensionen  (Görland).  179 

mus  der ,, Gesellschaft"  macht  sich  nur  zu  oft  als  rein  ökonomischer  Faktor 
geltend;  der  nackte  Nützlichkeitsmassstab  tritt  hervor,  das  Talent  wird 
bloss  und  schon  von  früh  auf  zum  künftigen  Berufe  ausgebildet,  zur  Spe- 
zialität anstatt  zur  Originalität.  Der  „Staat",  das  „Volk"  sind  an  sich  zu 
vieldeutige  Begriffe,  als  dass  sie  als  brauchbares  Korrektiv,  als  vollgültiges 
Kriterium  genügen  könnten.  Ist  doch  noch  nicht  einmal  der  Gedanke  der 
allgemeinen  Volksschule  Gemeingut  der  Gesamtheit  geworden;  vorher 
aber  kann  man  von  keiner  Einheit  eines  Volkes  reden  (45).  Wenn  die 
soziale  Pädagogik  daher  sich  nicht  bloss  von  mehr  oder  weniger  wert- 
vollen Gefühlen  und  Instinkten  und  von  einer  höchst  unbestimmten  „Er- 
fahrung" leiten  lassen  will,  so  bedarf  sie  bestimmter,  fester  Ziele  und 
Prinzipien.  Diese  liefert  ihr  die  kritische  Sozialpädagogik  auf  Grund 
der  Methode  Kants,  aber  über  diesen  selbst  hinausgeführt. 

Die  Gesetze  der  Sozialpädagogik  können  nicht  mathematischer 
Art,  sondern  müssen  Entwickelungsgesetze  der  Bildung,  Bildungsgesetze 
des  Menschen  sein.  Ob  alle  Entwickelung  so  unbedingt  und  schlechthin 
nur  unter  dem  Gesichtspunkt  von  Mittel  und  Zweck  begreifbar  ist,  wie 
es  Görland  (S.  49  f.)  will,  scheint  uns  zweifelhaft.  Jedenfalls  muss  „Zw^eck" 
dann  in  dem  allerallgemeinsten  Sinne  einer  in  dem  Chaos  der  Erscheinungen 
überhaupt  erst  Sinn  und  Ordnung  schaffenden  „Hypothese"  genommen 
werden.  Sehr  hübsch  ist  es,  wie  der  „Zweck"  als  „retrospektives" 
Prinzip  für  die  gegebenen  und  vergangenen  Erscheinungen  (z.  B. 
der  Biologie),  als  „prospektives"  dagegen' für  die  zukünftigen,  noch  zu  er- 
zeugenden, somit  in  erster  Linie  für  das  menschliche  Handeln  aufgezeigt 
wird  (Kants  Naturteleologie  und  Ethik,  „formale"  und  praktische  Zweck- 
mässigkeit, vgl.  §  47  und  49  meiner  Gesch.  d.  Philosophie,  Bd.  11.).  So 
dient  der  „Zweck"  zugleich  dem  Verständnisse  der  vergangenen  und  dem 
Schaffen  der  zukünftigen  Zeit  (S.  51).  Freilich  darf  der  methodische 
Unterschied  der  beiden  „Welten",  genauer  „Gesetzesgebiete"  (Gesetz  der 
Natur  —  Idee  der  Freiheit)  auch  nicht  überspannt  werden.  Auch  der  be- 
wusste  Wille  des  Menschen  kommt  doch  nie,  wie  es  nach  Görlands 
Worten  (ebd.)  wenigstens  scheinen  kann,  „aus  dem  Ursachenzwang  her- 
aus, an  den  ihn  seine  Natürlichkeit  kettet",  sondern,  um  mit  Natorp 
[Socialpädagogik,  2.  Außage,  S.  XX)  zu  reden:  „die  Behauptung  der  unein- 
geschränkten Geltung  des  Kausalgesetzes  für  allen  zeitlichen  Eintritt 
von  Ereignissen  gehört  zum  eisernen  Bestand  der  Lehre  Kants  und,  soviel 
ich  weiss,  aller  Kantianer",  —  vermutlich  auch  Görlands. 

Beachtenswert,  wenngleich  etwas  künstlich,  erscheint  uns  weiter  die 
Formulierung  der  „fremden  Kausalität",  von  der  die  „Eigenenergie"  un- 
seres Bewusstseins  bedroht  wird.  Sie  äussert  sich  entweder  in  der  Ge- 
stalt des  „materialen"  Bedürfnisses  (z.  B.  Hunger,  Langeweile,  Heimweh), 
oder  der  des  „sozialen"  Zwanges  (Krankheit,  Furcht,  Hass).  Zur  Befrie- 
digung bezw.  Bewältigung  des  ersteren  zum  Behuf  der  eigenen  Glück- 
seligkeit dient  die  ganze  ökonomische  Arbeit  der  Gesellschaft,  deren  Mo- 
tiv das  Klugheitsprinzip  des  grössten  eigenen  Vorteils  ist;  zu  der  des 
letzteren  der  (ideale)  Staat,  der  —  ein  marxistischer  Gedanke  —  die 
„anarchische  Willkür"  der  „blinden"  Ökonomie  in  ein  „System  der  Arbeits- 
beziehungen" „hinaufführt"  (54),  wie  es  beispielsweise  das  staatliche 
Beamtentum  in  Post,  Eisenbahn,  Bildungswesen  u.  s.  w.  jetzt  schon  in 
grossartiger  Weise  darstellt  (56).  Allerdings  ist  der  Staatsgedanke  an  sich 
noch  kein  sittlicher  Begriff,  sondern  „beinahe"  nur  die  „Logik"  der  so- 
zialen Arbeit;  aber  sein  Prinzip,  der  Schutz  des  Schwächeren,  der  Allge- 
meinheit, des  Individuums  als  Menschen  entspringt  sittlicher  Überlegung. 
Er  ist  mindestens  die  conditio  sine  qua  non  der  sittlichen  Aufgabe,  schränkt 
die  ökonomische  „Freiheit"  durch  die  staatliche  „Gleichheit"  ein.  Allein 
durch  ihn  wäre  erst  Kants  „Legalität"  im  Gegensatz  zu  seiner  „Moraütät" 
repräsentiert,  w-enn  nicht  zu  dem  Postulat  des  Menschen  als  Naturwesens 
(der  Freiheit  des  Individuums)  und  dem  des  Naturuntergrundes  für  Sitt- 
lichkeit  (der   Gleichheit   des   Staatsbürgers),    als    drittes  im  Bunde  das- 

12* 


180  Recensionen  (Görland). 

jenige  der  sittlichen  Welt  selbst,  die  Brüderlichkeit,  hinzukäme,  die 
nichts  anderes  als  sittliche  „Freiheit  im  Gesetz",  d.  i.  das  Freiwerden  des 
Gesetzes  der  Menschheit  in  uns  bedeutet  63).  Soziale  Pädagogik  heisst, 
wie  der  Autor  in  etwas  schwerfälliger  Sprache  sagt,  „den  Naturbegriff 
des  Individuums  überwinden  unter  der  Idee  der  Gleichheit  im  Unend- 
lichen" (66),  nämlich  des  in  unendlicher  Ferne  vor  uns  liegenden  End- 
zwecks aller  Kulturarbeit,  des  „Menschen  der  Idee".  Das  ist  auch  der 
einzig  fruchtbare,  weil  soziale,  Sinn  der  „Unsterblichkeit" :  nicht  Unsterb- 
lichkeit der  Kreatur,  sondern  Unsterblichkeit  ihrer  Aufgabe  (67). 

Das  eben  ist  nun  die  praktische  Wirklichkeitsaufgabe  einer  wahrhaft 
sozialen  Pädagogik,  dass  sie  jenen  dreifachen  Charakter  des  Menschen  als 
zugleich  ökonomischen,  staatsbürgerlichen  und  sittlichen  Individuums 
als  stetes  Ziel  vor  Augen  habe,  somit  l.das  Talent  als  den  ökonomischen, 
2  den  Charakter  als  den  staatsbürgerlichen  und  3.  das  —  Genie  als 
den  sittlichen  Wertausdruck  des  Individuums  fördere.  Sache  der  Schule 
ist  es,  das  Individuum  zu  diesen  seinen  drei  Wertausdrücken  zu  erheben  : 
zuvörderst  durch  Lehre  und  Übung  den  Eigen-  und  Einzelwert  des 
„Talentes"  zu  schaffen,  sodann  durch  die  Zucht  den  „Charakter"  als  den 
„Humusboden"  des  sittlichen  Arbeitens  zu  erzielen,  und  endlich  beide, 
Talent  und  Charakter,  zu  ihrer  Erfüllung  zu  bringen  im  „Genie",  d.  h.  der 
freien  systematischen  Durchdringung  der  Gesetze  des  menschlichen  Be- 
wusstseins.  Der  Schulweg  des  Talentes  endet  in  der  Fachschule,  der  des 
Charakters  verlangt  die  Form  der  Staatsschule,  der  des  Genies  ist  die 
Universität.  Die  letzte  Absicht  aber  der  Sozialpädagogik,  als  des  „Systems 
einer  einzig  möglichen  Pädagogik  als  Wissenschaft",  ist  die  Allgemeine 
Volksschule,  im  weitesten  Sinne  des  Wortes.  — 

Wir    haben    den    Gedankengang    des  Verfassers    durch    sich    selbst 
wirken  lassen  wollen   und   ihn  daher  nur  stellenweise  durch  ein  kritisches 
Wort  unterbrochen;    wir   konnten  es  um  so  eher,    weil  wir  im  grosssen 
und    ganzen    durchaus    einverstanden  mit  ihm  sind.     Deshalb  wollen  wir 
aber  auch  bekennen,  dass  uns  manche  Entwickelungen  unseres  Philosophen 
allzukünstlich  und  nicht  sehr  gelungen  erscheinen,    so  in  den  letzten  Aus- 
führungen   die  Stellung   und  Bedeutung,    die  er  dem  „Charakter"  und  na- 
mentlich dem  „Genie"  zuweist,    das  uns  —  und   wir  befinden  uns  da  auch 
im  Einklang   mit  Kant  (Kritik   der  Urteilskraft)  —  gerade   völlig   abseits 
von  der  —  Methode    zu   liegen  scheint,    durch  die  Görland  es  „erzogen" 
wissen    will.     Desgleichen    liegt,    dünkt   uns,    der  Zusammenhang   der  von 
Görland   angenommenen    drei  „Wertausdrücke    des    Individuums"    (Talent, 
Charakter,  Genie)    mit   Kants   drei  „regulativen  Prinzipien"  der  —  Natur- 
teleologie    (Spezifikation,    Homogeneität,    Kontinuität),    wenn  er  auch  her- 
stellbar  ist,    doch    nicht  so  auf  der  Hand,  wie  ihr  Urheber  in  seiner  Ent- 
deckerfreude   annimmt.     Das    möchten  wir  überhaupt  dem  Verfasser,    ge- 
rade   weil   wir   seine    Arbeit   für   eine    dankenswerte    und   tüchtige,    aus 
ernstem    und   tiefem   Denken    hervorgegangene    halten,     nicht    verhehlen, 
dass    er   weitere,    mit   der  Art   und   Methode  Natorps  und  anderer  Neu- 
kantianer  noch    nicht    vertraute    und   doch  philosopisch  und  sozialpädago- 
gisch interessierte  Leserkreise  nur  durch  grössere  Anpassung  an  ihre  Ver- 
ständnisfähigkeit gewinnen  wird.     Er  sagt  selbst  im  Vorwort,    „über  dem 
Versuche,    die  Gedanken  zusammenzuschweissen",    habe    er  die  „Leichtles- 
barkeit"    in     zweite    Reihe    stellen    müssen.       Aber    auch    philosophische 
Schriften,    die    nicht  populär  sein  wollen  oder  können,    sollten  doch  nicht 
mit   leicht    vermeidbaren    Fremdwörtern  (wie:    Ordination,    superordiniert, 
explicit  machen,  inindividuell  u.  a.)  und  neuen  Wortbildungen  (wie :  Fremd- 
gesetz,   Erscheinungsabfolge,    gefahren,    die  Wegbahnung   geben  u.  a.)  ge- 
spickt werden,    die  das  Verständnis  nur  erschweren  oder  doch  wenigstens 
in    der    Lektüre    nutzlos    aufhalten.      Dass    Görland    klar    und   doch   tief 
schreiben   kann,    hat   er   an    anderen  Stellen,    insbesondere    auch   in  dem 
ersten  Teil  seiner  Schrift,  genügend  gezeigt. 

Nun  noch  mit  ein  paar  Worten  von  dem  Jünger  zum  Meister. 


\ 


Recensionen  (Görland).  181 

Es  ist  ein  erfreuliches  Zeichen  des  (um  mit  Kant  zu  reden)  noch 
nicht  erstorbenen  Geistes  der  Gründlichkeit  in  Deutschland,  dass  ein  so 
tief  gründendes  Werk  wie  Paul  Natorps  .So/ialpädagogik'  nach  kaum 
einem  halben  Jahrzehnt  jetzt  eine  zweite  Auflage  erlebt  hat.  Da  das 
Werk  selbst  den  Lesern  der  „Kantstudien"  bekannt  ist,  so  sei  hier  nur 
auf  die  Veränderungen  der  zweiten  Auflage  hingewiesen.  Neu  ist  vor 
allem  die  ausführliche  Vorrede,  die  sich  mit  den  Kritikern  der  1.  Auflage 
—  nur  kurz  mit  Bergemann  und  P.  Barth,  ausführlicher  mit  Zenker, 
Volkelt  und  Gramzow,  am  eingehendsten  mit  Ferd.  Tönnies  —  auseinander- 
setzt. Görlands  soeben  erschienene  Schrift  konnte  nicht  mehr  berücksich- 
tigt werden.  Die  Art,  wie  Natorp  zu  polemisieren  pflegt,  erweitert  — 
was  von  aller  wissenschaftlichen  Polemik  zu  wünschen  wäre  —  immer 
auch  das  sachliche  Verständnis.  So  ist  die  Kritik  Zenkers  zugleich  eine 
Auseinandersetzung  mit  der  Spencerschen  Methode,  die  mit  Tönnies  zu- 
gleich eine  solche  mit  dem  Marxismus  (vgl.  bes.  S.  XIH— XVI).  Dass  er 
selbst  zu  „geradlinig"  konstruiert  hat  für  solche,  die  dem  Buche  unmittel- 
bare Anweisungen  für  die  Praxis  entnehmen  wollten,  dass  „eine  durchge- 
führte praktische  Pädagogik  ebenso  wie  eine  durchgeführte  empirische 
Soziologie  auf  die  Masse  und  Macht  des  Allzumenschlichen  .  .  .  ganz 
anders  Rücksicht  zu  nehmen  hätte",  giebt  Natorp  ohne  weiteres  zu 
(XVIII);  der  deduktive  Aufbau  war  es  und  soll  es  gerade  sein,  der  dem 
Buche  seinen  Charakter  giebt.  Sachliche  Erweiterungen  haben  namentlich 
die  §§  6  (über  Willensfreiheit),  7—9  (Stufen  des  Willens),  16  (Stammlers 
,richtiges  Recht'),  18  (Sein  eines  sozialen  Entwickelungsgesetzes,  Begriff 
der  Geschichte),  23  (Parallelismus  der  formalen  Stufen  des  Unterrichts  und 
der  Willensbildung)  und  32  (Prinzip  des  Ästhetischen)  erfahren.  Ohne 
prinzipiell  neue  Aufstellungen  zu  enthalten,  dienen  sie  entweder  der  wei- 
teren Klarstellung  besonders  wichtiger  Punkte,  vor  allem  noch  deutlicherer 
Durchführung  des  erkenntniskritischen  Gesichtspunkts  und  Wahrung  des- 
selben vor  Missverständnissen,  wobei  dann  gelegentlich  neue  SchlagHchter 
auf  andere  Anschauungen  wie  den  Pessimismus  oder  Spencers  Entwicke- 
lungsphilosophie  fallen,  oder  neuer  methodischer  und  sachlicher  Anwen- 
dungen des  gefundenen  Prinzips.  Über  die  methodische  Trennung  von 
Ethik  und  Recht  in  Stammlers  letztem  Buche  urteilt  er  ähnlich  wie  wir  in 
KSt.  VIII,  330  f.  Auch  ist  der  neuen  Auflage  jetzt  ein  Namen-  und  ein 
vortreffliches  S  a  c  h  register  beigegeben ;  namentlich  für  das  letztere  werden 
dem  Verfasser  viele  dankbar  sein. 

Ein  der  , Sozialpädagogik'  vorausgeschicktes  Verzeichnis  neuerer,  in 
innerem  Zusammenhang  mit  dem  Werke  stehender  Natorpschen  Schriften 
zeigen,  wie  fleissig  der  Marburger  Philosoph  auf  allen  mit  seinem  Thema 
in  Beziehung  stehenden  Gebieten  arbeitet.  Für  die  erste  Einführung  in 
seine  Denkart  und  Methode  dürften  die  Leitsätze  zu  akademischen  Vor- 
lesungen (zur  Philosophischen  Propädeutik  1903,  zur  Allgemeinen  Psychologie 
1904,  zur  Pädagogischen  Psychologie  1901  und  zur  Logik  1904)i)  besonders  ge- 
eignet sein.  Von  der  Erfüllung  des  Görlandschen  Wunsches,  dass  Natorps  popu- 
lärere Schriften,  wie  die  ,Religion^  und  ,Herbart  und  Pestalozzi',  als  Lektüre  der 
Lehrerseminare  benutzt  werden  möchten,  sind  wir  freilich  leider  noch 
recht  weit  entfernt.  Auch  über  die  religiöse  Krise  unserer  Zeit  denkt 
Natorp,  scheint  uns,  etwas  zu  optimistisch  (Schlussseite  der  .Sozialpäda- 
gogik'). Die  „Religion  der  Transscendenz"  besitzt  in  unserem  Volke,  wenn 
auch  vielleicht  nicht  mehr  in  seinen  „lebenskräftigsten  Schichten",  noch 
eine  grosse  Macht  und  rettet  sich  zum  Teil  durch  immer  neue  Verklei- 
dungen. Um  so  wichtiger  ist  es,  dass  Schriften,  wie  diejenigen  Natorps 
und  Görlands,  auf  der  Wacht  stehen  für  unsere  heiligsten  wissenschaftlichen 
und  ethischen  Güter  im  Geiste  Kants.  Vorläufig  gehören  sie  noch  nicht 
in  die  „Rumpelkammer  der  Geschichte".  Sie  haben  vielmehr  „noch  eine 
Funktion  zu  erfüllen",  haben  noch  ihren  „Mann  zu  stehen"  (Natorp,  Vor- 
wort S.  XXI).  K.  Vorländer. 

1)  SämtUch  in  dem  Verlage  von  N.  G.  Elwert,  Marburg,  erschienen. 


182  Recensionen  (Sidgwick). 

Philosophy,  its  Scope  and  Relations,  by  tlie  late  Professor 
Henry  Sidgwick.    pp.  247.     1902. 

Der  ausgezeichnete  Verfasser  der  Schrift  „Methods  of  Ethics",  welche  in 
sechster  Auflage  erschienen  ist,  hat  das  vorliegende  Buch,  das  eine  Reihe 
von  einleitenden  Vorlesungen  bildet,  im  M.  S.  hinterlassen,  welches  vor 
kurzer  Zeit  von  Professor  James  Ward  herausgegeben  wurde.  Die  zwei 
ersten  Vorlesungen,  welche  „the  scope  of  Philosophy"  darstellen  wollen, 
haben  den  Zweck,  eine  klare,  brauchbare  und  soweit  wie  möglich  mit  dem 
allgemeinen  Gebrauche  übereinstimmende  Definition  der  Philosophie  zu 
geben.  Aber  der  Verfasser  erkennt  an,  dass  die  letzte  Forderung  schwer 
zn  erfüllen  sei.  Wie  Kant  vor  12.0  Jahren,  so  muss  auch  er  klagen,  dass 
„the  lack  of  a  ,consensus  of  experts'  as  to  the  method  and  main  conclusions 
of  Philosophy,  is  strong  evidence  that  study  of  it  is  still  —  after  so  many 
centuries  —  in  a  rudimentary  condition  as  compared  with  the  more  spe- 
cial studies  of  the  branches  of  systematised  knowledge  that  we  call  Scien- 
ces" (S.  1H).  Er  will  einen  Beitrag  zur  Beseitigung  dieses  Mangels  da- 
durch liefern,  dass  er  die  Aufmerksamkeit  eher  auf  die  Probleme  der 
Philosophie,  als  auf  die  Antworten  oder  Lösungsversuche  richtet  —  „the 
knowledge  we  want  rather  than  the  knowledge  we  think  we  have  got". 
(S.  13.) 

Man  versucht  gelegentlich  zwischen  Wissenschaft  und  Philosophie 
dadurch  zu  unterscheiden,  dass  gesagt  wird :  jene  habe  mit  den  Erschein- 
ungen, diese  mit  der  letzten  Realität  (ultimate  reality)  zu  thun.  Nun  sei 
es,  meint  S.,  weder  richtig  noch  möglich,  diejenigen  Phaenomene,  mit 
welchen  die  Naturwissenschaften  sich  beschäftigen,  vom  Bereiche  der 
Philosophie  auszuschliessen,  denn  diese  Phaenomene  bilden  auch  einen  Teil 
der  Welt  und  müssen  deshalb  als  Erscheinungen  der  als  subsistierend  ge- 
dachten Realität  aufgefasst  werden.  S.  teilt  nicht  die  merkwürdige 
eleatisch-Herbartische  Ansicht,  die  neuerdings  in  der  englischen  Philosophie 
der  Gegenwart  wiederbelebt  wird,  dass  die  Fundamentalbegriffe  der 
Naturwissenschaft,  wie  Veränderung,  Zeit  und  Kausalität,  alle  widerspruchs- 
voll seien.  Der  Unterschied  zwischen  den  Wissenschaften  und  der  Philo- 
sophie sei  vielmehr  dieser :  dass,  während  jene  die  verschiedenen  durch  Ab- 
straktion getrennten  Teile  der  Wirklichkeit  (oder  des  erkennbaren  Uni- 
versums) untersuchen,  diese  eine  Kenntnis  des  Ganzen  als  solchen  zu  ge- 
winnen sucht.  Nun  ist  es  keineswegs  unwahrscheinlich,  dass  das  Universum 
als  Ganzes  betrachtet,  andere  Eigenschaften  besitze,  als  die  durch  die  be- 
sonderen Wissenschaften  angezeigten,  und  daher,  dass  Kenntnisse  bezüglich 
derselben  auf  anderem,  als  rein  phj^sikalischem  Wege  erreichbar  seien.  — 
Es  sei,  meint  S.,  unzweckmässig,  bei  der  Bestimmung  der  Aufgabe  der 
Philosophie,  wie  Spencer  zu  verfahren  und  vorauszusetzen,  dass  ,the 
underlying  Reality  is  unknowable'.  Denn  dadurch  schliesst  man  in  diese 
Bestimmung  eine  Ansicht  ein,  welche  allein  als  Endresultat  der  Unter- 
suchung möglicherweise  eine  Berechtigung  erlangen  könne.  Ausserdem 
gestatte  Spencers  Auslegung  der  Aufgabe  der  Philosophie  keinen  Platz 
für  die  Ethik  oder  Moralphilosophie,  die  sicher  etwas  anderes  ist  als  eine 
Untersuchung  der  „allgemeinsten  Coexistenzen  und  Successionen  der 
Phaenomene".     (S.  22—24.) 

Das  Material,  welches  die  Wissenschaft  der  Philosophie  als  eine  un- 
erlässliche  Bedingung  vorbereitet,  ist  nicht  das  ganze  Material  der  Philo- 
sophie. Diese  muss  auch  die  Prinzipien  und  Methoden  „of  rationally  de- 
termining  what  ought  to  be  as  distinct  from  the  principles  and  methods  of 
ascertainmg  what  is,  has  been  and  will  be"  untersuchen.  Und  die  Auf- 
gabe der  Philosophie  im  weitesten  Sinne  besteht  darin,  „to  comprehend 
all  rational  human  thought  whether  in  relation  to  ,what  is'  or  to  ,what 
ought  to  be'  as  one  coherent  whole".  (S.  34.)  Dieses  Problem  aber  sei 
ausserordentlich  schwieriger  Natur.  Wäre  es  gelöst,  so  sollten  „wir  im 
Stande  sein,  die  Frage  zu  beantworten :  How  comes  it  that  what  ought  to 
be   is    not    and    yet   ought   to   be?"    Und  er  fügt  hinzu:    „Any  one  who 


► 


Recensionen  (Sidgwick).  183 

knows  anything  of  the  history  of  human  thought  may  well  despair  of 
attaining  a  satisfactory  aiiswer  to  this  question;  unless  he  holds  firmly 
to  the  conviction  that  such  despair,  at  any  rate,  is  one  of  the  things  that 
ought  not  to  be  "  (S.  30 )  Sie  werden  damit  an  die  Grenzlinie  zwischen 
Philosophie  und  Religion  geführt,  ein  Thema,  welches  in  einem  kurzen 
Anhange  gestreift  wird.     (S    38—40.) 

Die  dritte  bis  einschliesslich  die  elfte  Vorlesung  untersuchen  die  Be- 
ziehungen zwischen  Philosophie  und  Psychologie,  die  Aufgaben  der  Meta- 
physik, Erkenntnistheorie  und  Logik,  das  Verhältnis  von  Philosophie  und 
Geschichte  und  Philosophie  und  Sociologie.  Sie  enthalten  vorzüglich  kri- 
tische Bemerkungen  gegen  den  Positivismus,  Idealismus,  und  jene  an- 
spruchsvolle, alles  in  sich  einschliessen  wollende  Sociologie.  Es  bedarf 
heutzutage  keiner  tiefen  Überlegung,  um  das  Material  der  Psychologie  von 
demjenigen  der  Philosophie  zu  unterscheiden,  welche  beide  Disciplinen 
noch  gelegentlich  in  England  unter  der  alten  Bezeichnung  „Mental  Philo- 
sophy"  zusammengestellt  werden.  Die  Unterscheidung  zwischen  beiden  wird 
vom  Verfasser  sehr  klar  vollzogen  (S.  49— 51),  worauf  er  ihre  verschiedenen 
Standpunkte  bezüglich  des  Problems  des  Verhältnisses  des  Denkens  zur 
Aussenwelt  beleuchtet  und  zugleich  die  Grenze  der  Psychologie  als  einer 
empirischen  Wissenschaft  andeutet.  Aus  einer  doppelten  Beziehung 
zwischen  „Mind"  und  „Matter"  (S.  60)  geht  nach  S.  die  materialistische 
und  idealistische  Auslegung  der  Wirklichkeit  hervor.  Die  erstere  sei  zu 
unklar  und  unbedeutend,  um  weitere  Berichtigung  zu  verdienen,  der  Idea- 
lismus, welcher  eine  Form  von  ,Mentalism'  bildet,  sei  mehr  plausibel  und 
bedürfe  daher  einer  näheren  Prüfung.  (S.  61,  62.)  Als  Resultat  der 
Untersuchung  der  verschiedenen  Methoden  der  Analyse  des  Begriffs  der 
Materie  wird  behauptet,  dass  die  psychologisierende  Philosophie,  welche 
die  Elemente  alles  Erkennbaren  in  blosse  psychische  Thatsachen  auflösen 
möchte,  nicht  weniger  einseitig  sei  als  die  materialistische  und  positivistische 
Philosophie.  Der  natürliche  Dualismus  sei  in  der  Psychologie  als  besondere 
Wissenschaft  durchaus  berechtigt.  — 

Weniger  befriedigend  als  das  Vorhergehende  erscheint  uns  dasjenige, 
was  S.  über  die  Stellung  der  Metaphysik,  Erkenntnistheorie  und  Logik 
zu  einander  zu  sagen  hat.  (Kap.  IV,  V.)  Er  erkennt  keinen  festen 
Unterschied  zwischen  Erkenntnistheorie  und  Metaphysik  an.  Demgemäss 
versteht  er  unter  Transscendentalphilosophie  mehr  den  Idealismus  der  neo- 
Kantischen  und  hegelisierenden  Engländer  als  den  erkenntnistheoretischen 
Idealismus  (oder  besser  gesagt,  die  kritische  Erkenntnistheorie)  Kants.  Er 
meint,  dass  die  Trennung  der  Erkenntnistheorie  von  der  Ontologie  nur 
,formal  and  superficial'  sei  (S.  112);  denn,  „the  object  of  knowledge  is 
Being,  ,what  is' ;  when  we  truly  prove  a  thing  we  believe  that  it  really  is 
what  we  perceive  or  think  it  to  be.  Thus  any  general  theory  of  the 
nature  of  the  object  of  knowledge  cannot  properly  be  divided  from  a 
general  view  as  to  the  nature  of  Being",  sagt  er  in  einer  kritischen  Aus- 
lassung gegen  Külpes  erkenntnistheoretische  Gegensätze  des  Idealismus, 
Realismus  und  Phaenomenalismus.  (S.  119.)  Würde  aber  hieraus  folgen, 
dass  wir  das  Sein  der  Dinge  ganz  begreifen  können,  wie  die  Metaphysik 
will,  und  dass  kein  Unterschied  der  Methoden  vorhanden  sei?  S.  selbst 
giebt  zu,  dass  die  Möglichkeit  der  Metaphysik  als  Wissenschaft  von  der 
Erkenntnistheorie  geprüft  werden  müsse.  Ob  es  denn  eine  Metaphysik 
gebe?  Sollte  die  Metaphysik  im  Sinne  der  Ontologie  jemals  zur  allge- 
meinen Anerkennung  gelangen  und  als  eine  sichere  Wissenschaft  hervor- 
treten können,  dann  würde  es  zweckmässig  sein,  meint  er,  eine  Trennung 
zwischen  derselben  und  der  Erkenntnistheorie  zu  vollziehen.  Wer  auf 
kritischem  Standpunkte  steht,  wird  eine  solche  Möglichkeit  nur  als  eitle 
Hoffnung  betrachten,  denn  er  kann  die  Metaphysik  nur  als  etwas  Histo- 
risches ansehen,  eine  Ansicht,  welche  durch  gewisse  neueste  Versuche  eine 
weitere  empirische  Bestätigung  erfahren  hat. 


184  Recensionen  (Sidgwick). 

Die  Behandlung  der  Frage  nach  dem  Verhältnis  der  Logik,  insbe- 
sondere desjenigen  Teiles,  welcher  Methodenlehre  heisst,  zur  Erkenntnis- 
theorie, ist  von  S.  in  ziemlich  mangelhafter  Weise  ausgeführt,  wie  vom 
Herausgeber  zugestanden  wird.  Untersucht  nun  die  Erkenntnistheorie  die 
Bedingungen  der  Möglichkeit,  die  Natur  und  den  Umfang  des  Erkennens 
überhaupt,  so  geht  sie  tiefer  und  weiter  zurück  als  die  Logik.  Sie  hat 
als  Aufgabe  ein  letztes  Kriterium  der  Wahrheit  aufzustellen,  und  ebenso 
die  Gründe  und  Postulate  der  Logik  zu  prüfen  Sie  muss  sich  aber  der 
Logik  bedienen,  weil  diese  die  allgemeingültige  Lehre  der  Beweisführung 
angiebt.  Die  Methodenlehre  hat  z.  B.  als  Aufgabe  ein  allgemeingültiges 
Kriterium  der  Kausalbeziehung  festzustellen,  überlässt  es  aber  der  Er- 
kenntnistheorie, die  Gültigkeit  und  Grenzen  des  Kausalprinzips  aufzu- 
zeigen und  zu  begründen. 

Eine  Prüfung  der  Behauptungen  der  Geschichte  „to  present  not 
only  facts  in  chronological  order.  but  laws  of  development"  und  der 
historischen  Methode  „to  have  invaded  and  transformed  all  departments 
of  thought"  bildet  das  Thema  mehrerer  folgenden  Kapitel.  Dass  die  histo- 
rische Methode  weder  die  Methoden  noch  die  Prinzipien  der  Mathematik, 
rationellen  Physik  oder  sogar  der  Chemie  geändert  hat,  noch  ändern  kann, 
ist  sicher:  sie  hat  sogar  das  Problem  der  thatsächlichen  Gestalt  des  Kos- 
mos unerklärt  gelassen  (S.  127—134).  Ist  die  entwickelungsgeschichtliche 
Betrachtung  von  unverkennbarer  Bedeutung  für  die  Biologie  gewesen,  so 
wird  ihre  Bedeutung  für  die  Anthropologie  und  Psychologie  gänzlich 
überschätzt,  wenn  man  glaubt,  dass  hierdurch  das  metaphysische  Problem 
von  der  Beziehung  zwischen  Materie  und  Geist  irgendwie  einer  Lösung 
näher  gebracht  sei  (S.  148—150).  Die  psychologischen  Prozesse  und  ihre 
Entwickelung,  welche  durch  die  Psychogonie  festgestellt  wird,  sind  als 
Thatsachen  von  der  Bedeutung  und  Gültigkeit  der  Produkte  dieser  Pro- 
zesse ganz  verschieden  (S.  150).  S.  stimmt  mit  dem  Kantischen  Kritizis- 
mus überein,  in  seiner  Ablehnung  der  Ansprüche  derartiger  .genetischer' 
Untersuchungen  die  Erkenntnistheorie  zu  vertreten,  und  etwa  durch  eine 
Untersuchung  der  Geschichte  der  menschlichen  Meinungen  einen  Massstab 
zur  Beurteilung  der  Wahrheit  oder  Unwahrheit  dieser  Meinungen  zu  ge- 
winnen. 

Die  Behandlung  dieser  Frage  führt  ins  Gebiet  der  Sociologie,  der 
eine  engere  Bedeutung  zukommt,  als  der  Geschichte.  Hier  geht  der  Ver- 
fasser auf  zwei  Theorien  ein,  die  aus  der  Betrachtung  vergangener  sozialer 
Zustände  ein  Kriterium  des  Endzieles  der  menschlichen  Entwickelung  zu 
erreichen  und  zu  beweisen  suchen.  Diese  nennt  er  „Relativism"  and  „Pro- 
gressivism".  (Kap.  IX,  X.)  Keines  von  Beiden  vermag  das  Problem  zu 
lösen,  weil  dasselbe  nicht  ohne  die  Heranziehung  der  Philosophie  und 
Ethik  lösbar  sei.  Sehr  gut  bemerkt  er:  „The  history  of  opinion  is  a 
most  interesting  part  of  Sociology,  but  it  has  not  in  itself  any  criterium 
of  the  truth  of  opinion".     (S.  236.) 

Ein  Fortschritt  der  Civilisation,  z.  B.  der  Wissenschaft,  wird  nicht 
notwendigerweise  von  einer  Vermehrung  der  selbsterhaltenden  Fähigkeit 
des  sozialen  Organismus  begleitet.  Zwischen  diesen  beiden  braucht  kein 
übereinstimmendes  Verhältnis  stattzufinden,  „.  .  .  an  examination  of  the 
facts  of  history  seemed  to  show  that  historically  ascertained  chauges  in 
human  Society  have  certainly  no  universal  tendency  to  increase  the 
efficiency  of  the  organism  f or  self-preservation ;  and  in  particular  that 
the  historically  ascertained  changes  in  beliefs  have  no  such  general  ten- 
dency" (S.  213).  Der  Massstab  des  sozialen  Fortschritts  ist  kein  anderer 
und  kein  engerer  als  „conduciveness  to  the  welfare  of  humanity  at  large" 
(S.  216),  freilich  ein  etwas  vager  Begriff!  Natürlich  entsteht  die  Frage, 
wie  wir  zum  adaequaten  Begriffe  „of  social  well-being"  gelangen.  Bei  der 
Entscheidung  derselben  will  die  Sociologie  auch  ein  Wort  mitsprechen. 
(S.  217—230.) 


Recensionen  (Schlapp).  185 

Gesetzt  nun,  dass  unsere  theoretischen  Erkenntnisse,  obwohl  keines- 
wegs vollendet,  doch  in  einen  gewissen  Zusammenhang  gebracht  (reduced 
to  coherency)  und  dass  dasselbe  mit  unseren  ethischen  Begriffen  und 
Prinzipien  geschehen  sei,  so  wirft  sich  die  Frage  auf:  „whether  the 
distinction  between  what  is  and  what  ought  to  be  is  ultimate  and  irre- 
ducible."  (S.  235.)  Dieses,  von  der  zwölften  und  letzten  Vorlesung  be- 
handelte Problem  wird  nicht  mit  Bestimmtheit  beantwortet.  S.  sieht  ein, 
dass  die  Theologie,  und  wenn  sogar  der  Theismus  begründet  wäre,  sehr 
wenig  in  dieser  Hinsicht  leisten  könne.  Wir  können  eine  moralische 
Weltordnung  postulieren,  ohne  den  Theismus  anzuerkennen;  umgekehrt 
würde  seine  Anerkennung  uns  keineswegs  eine  moralische  Weltordnung 
verbürgen;  .  .  .  „the  chief  abstract  arguments  (except  one)  used  to  prov'e 
Theism,  do  not  tend  to  prove  moral  order".     (S.  244,  245) 

Gewiss  macht  das  Buch  in  einigen  Punkten  einen  skizzenhaften  und 
fragmentarischen  Eindruck;  aber  dennoch  sind  es  die  Ausführungen  eines 
sehr  überlegenden  Denkers,  der  trotz  seiner  Teilnahme  an  den  Standpunkt 
des  „Common  Sense"  in  gewissen  wichtigen  Eesultaten  mit  den  Ergebnissen 
der  Kantischen  Kritik  übereinstimmt.  Es  ist  zu  hoffen,  dass  dies  nicht  das 
einzige  von  Sidgwick  hinterlassene  Manuskript  ist,  welches  zum  Erscheinen 
kommen  wird. 

Montreal.  J.  W.  Hickson. 

Schlapp,  Otto.  Kants  Lehre  vom  Genie  und  die  Ent- 
stehung der  „Kritik  der  Urteilskraft".  Göttingen  1901.  XII 
und  463  S. 

Die  Frage  nach  der  Entwickelung  der  Kantischen  Ästhetik  gehört 
zu  den  bisher  ungelösten  Problemen  der  Kantforschung.  Der  Grund  hier- 
für ist  wohl  hauptsächlich  in  dem  Mangel  des  Materials  zu  finden. 
Zwischen  den  frühesten  ästhetischen  Anschauungen  Kants,  wie  sie  in 
seinen  Schriften  hier  und  dort  hervortreten,  und  dem  fertigen  System 
klafft  eine  grosse  Lücke,  welche  bis  jetzt  auszufüllen  kaum  möglich  war. 
In  diesem  Falle  können  und  werden  die  Vorlesungsnachschriften,  deren  Ver- 
öffentlichung die  Berliner  Akademie  vorbereitet,  wertvolle  Hilfe  bringen 
und  die  Lösung  der  Aufgabe  erheblich  fördern.  S.  hat  die  für  jene  Aus- 
gabe gesammelten  Hefte  über  Anthropologie  und  Logik  benutzen  dürfen 
und  damit  zum  ersten  Mal  dies  Material  teilweise  der  Forschung  über- 
mittelt. Darin  liegt  die  eigentliche  Bedeutung  seines  Buches.  Leider 
aber  wird  uns  die  Freude  an  der  Bereicherung  unseres  Wissens  rasch  ver- 
kümmert, wenn  vär  sehen,  wie  S.  mit  dem  Stoff  verfahren  ist.  Er  hat 
aus  den  Heften  Excerpte  gegeben,  welche  er  nach  gewissen  Schlagworten, 
die  sie  enthalten,  auswählte,  ohne  den  Versuch  einer  einheitlichen  Auf- 
fassung des  Vorhandenen  zu  machen.  Wo  er  Worte  wie  „Genie,  Ge- 
schmack-' etc.  fand,  notierte  er  sie  auf,  stellte  die  Unterschiede  der 
Begriffsbestimmungen  in  den  verschiedenen  Heften  fest,  ohne  die  Gründe 
dieser  Änderungen  entweder  aus  den  Heften  selbst  oder  der  Entwicke- 
lungsgeschichte  Kants  nachzuweisen.  S.  versucht  die  Einwände  gegen  die 
Verwertung  der  Nachschriften  abzuweisen,  ja  glaubt  sie  endgiltig  erledigt 
zu  haben  (S.  403  ff.) :  er  hat  nur  ein  Beispiel  gegeben,  wie  es  nicht  ge- 
macht werden  darf,  denn  wir  sind  abhängig  von  einer  allzu  subjektiven 
Auswalil,  ohne  uns  ein  Gesamtbild  machen  zu  können.  Herrscht  so  eine 
gewisse  Willkür  in  der  Auswahl,  so  hat  S.  andererseits  den  vorhandenen 
Text  im  Einzelnen  zu  sklavisch  treu  bewahrt  und  behandelt,  als  stände 
die  Autorität  Kants  selbst  hinter  den  Aufzeichnungen  seiner  Zuhörer.  Ja, 
wo  das  Vorhandene  sinnlos  war,  hat  er  es  liebevoll  erhalten  und  solche 
vermeintlichen  Ansichten  Kants  dann  kommentiert.  Aus  der  grossen  Zahl 
führe  ich  2  Stellen  an.  S.  194  citiert  S.:  Das  Vergnügen  an  Tragödien 
oder  Komödien  liegt  also  „nicht  in  der  Idee,  sondern  im  Magen". 
Die  gesperrt  gedruckten  Worte  sollen  aus  der  Nachschrift  stammen.  Dann 
fährt  S.  fort :  „Daher  (!)  ist  einem  ein  Stück  nicht  tragisch  genug,  und  für. 
den    andern    hat    es    wieder    zu    viel   tragische  Auftritte,   der  wahre  Ge 


186  Receusionen  (Schlapp). 

schmack  (!)  ist  von  alledem  verschieden."  Erkennt  man  nicht  sofort  den 
Widerspruch  in  den  beiden  Sätzen?  S.  scheint  dies  entgangen  zu  sein. 
Er  macht  zu  „Magen"  folgende  Anmerkung:  „Davon  hat  sich  allerdings 
Schiller  nichts  träumen  lassen,  als  er  seine  Abhandlungen  vom  moralischen 
Nutzen  der  Schaubühne,  vom  Erhabenen,  vom  Tragischen  schrieb.  „Das 
grosse  gewaltige  Schicksal,  welches  den  Menschen  erhebt,  wenn  es  den 
Menschen  zermalmt"  wurde  von  ihm  nicht  aufgerufen,  um  das  Geschäft 
der  Verdauung  zu  befördern."  Es  folgt  im  Anschluss  an  ein  Citat  aus 
Hamann  dann  die  Bemerkung:  „Man.wird  es  uns  nicht  verdenken,  wenn 
uns  die  Psychologie  Kants  in  obiger  Äusserung  etwas  —  kurländisch  vor- 
kommt". S.  174  wird  ein  Satz  citiert,  den  S.  selbst  für  vielleicht  verderbt 
hält,  trotzdem  kommentiert  er  ihn  mit  einem:  Man  sollte  es  nicht  für 
möglich  halten!  Ja.  Man  sollte  es  nicht  für  möglich  halten!  Auf  die 
Gefahr  hin,  für  einen  Kantfanatiker  gehalten  zu  werden,  erkläre  ich  es 
für  ein  Vergehen  gegen  die  Grösse  des  Kantischen  Denkens,  wenn  man 
ihm  solche  Sätze  zutraut  und  den  eigenen  vermeintlichen  Witz  an  ihnen 
zu  üben  unternimmt.  Wenn  S.  das  nicht  fühlt,  muss  es  ihm  gesagt  werden. 
Alle  seine  Komplimente  gegenüber  dem  „grossen  Philosophen"  sind  über- 
flüssig, notwendig  aber,  dass  er  von  dieser  Grösse  so  viel  innerlich  erfahren 
habe,  dass  die  Feder  ihm  stockt,  wenn  er  solchen  Unsinn  als  Kantische 
Sätze  niederschreibt,  i) 

Aber  ist  S.  überhaupt  ein  Kenner  Kants?  Zwar  scheint  es  so,  da 
er  intime  Schilderungen  von  Kants  Persönlichkeit  versucht  (49  f.),  aber  es 
scheint  doch  nur  so.  Sein  Wissen  zeigt  bedenkliche  Lücken.  S.  111  wird 
Kant  der  Satz  von  Crusius:  „Was  ich  nicht  anders  als  wahr  oder  falsch 
denken  kann,  das  ist  wahr  oder  falsch"  zugeschrieben.  S.  430  hat  S. 
zwar  selbst  die  darauf  gebauten  Vermutungen  zurückgenommen,  aber  ein 
solches  Versehen  geht  über  die  Grenze  des  Entschuldbaren  hinaus.  Wer 
die  Entwickelung  der  Kantischen  Ästhetik  schreiben  will,  muss  seine 
Hauptschriften  und  Lehren  genau  kennen  und  darf  nicht  von  der  „subjek- 
tiven Erkenntnistheorie  Kants",  die  „den  Menschengeist  zum  Mass  der 
Wahrheit  und  zum  Gesetzgeber  der  Dinge  der  Erscheinungswelt  naacht", 
sprechen,  wenn  er  seinen  Standpunkt  vor  dem  Jahre  1767  charakterisieren 
will.  Ferner  wird  als  Ergebnis  aus  Kants  Schriften  und  den  Heften  vor 
1775  geschlossen:  „die  Geschmackskritik  ist  der  Entstehungszeit 
nach  die  erste  seiner  drei  Kritiken".  In  der  „Nachricht  von  der 
Einrichtung  seiner  Vorlesungen  im  Winterhalbjahre  1765 — 1766"  heisst  es 
ausdrücklich :  „Wobei  zugleich  die  sehr  nahe  Verwandtschaft  der  Materien 
Anlass  giebt,  bei  der  Kritik  der  Vernunft  einige  Blicke  auf  die  Kri- 
tik des  Geschmacks,  d.  i.  Ästhetik  zu  werfen."  Damit  ist  das  Ver- 
hältnis richtig  bestimmt,  die  tiefere  Frage,  ob  und  wie  die  in  der  Ästhe- 
tik der  damaligen  Zeit  sich  geltend  machende  höhere  Schätzung  der 
Sinnlichkeit  Kants  Erkenntnistheorie  beeinflusst  habe,  hat  S.  nicht  ge- 
sehen. S.  70  wird  gesagt:  „Hier  (Heft  aus  dem  Jahre  1772)  klingt  zum 
ersten  Male  das  bekannte  antike  ästhetische  Prinzip  der  „Einheit  in  der 
Mannigfaltigkeit"  an,  welches  in  der  Leibnizschen  Psychologie  und  der 
Vollkommenheitslehre  und  Ästhetik  seiner  Schüler  eine  interessante  (? !) 
Rolle  gespielt  hat."  Weiss  S.  nicht,  dass  der  Gedanke  der  Einheit  in  der 
Vielheit  in  der  „Naturgeschichte  und  Theorie  des  Himmels"  den  Gedanken 
der  Harmonie  und  einer  ästhetischen  Betrachtung  des  Weltalls  vermittelt? 
Wie  konnte  er,  wenn  er  die  Grundlagen  der  Kantischen  Ästhetik  auf- 
finden wollte,  an  dieser  Schrift  vorübergehen?  War  nicht  gerade  hier 
Gelegenheit,  auf  ein  Erlebnis  Kants  hinzuweisen  ?  Es  erledigen  sich  auch 
leicht  S.s  Einwände  gegen  Sommer  (42/43),  welche  ausserdem  deshalb 
hinfällig  sind,  weil  Kant  in  den  „Beobachtungen  über  das  Gefühl  des 
Schönen    und    Erhabenen"    nicht    ein    System    der  Ästhetik,    sondern  nur 

1)  Sonderbar  sind  doch  auch  wohl  Anmerkungen  wie  die:  ,,Iphi- 
genie"  ging  wohl  über,  und  „Faust"  fiel  gewiss  unter  seinen  (Kants)  ästhe- 
tischen Horizont.    S.  71,  A.  1. 


Recensionen  (Schlapp).  187 

ästhetische  Einzelbetraclitungen  gab.  Höchst  sonderbar  ist  es,  wenn  S. 
an  dieser  Stelle  darauf  hinweist,  dass  die  Nouveaux  essais  erst  1765  er- 
schienen sind  ixnd  darin  den  Grund  sucht:  „dass  Kants  Ästhetik  in  den 
„Beobachtungen"  noch  keine  Spur  von  einer  Einrückung  der  für  die  Ent- 
wickelung  der  deutschen  Ästhetik  in  jener  Zeit  höchst  bedeutungsvollen  (!) 
Leibnizschen  Philosophie  aufweist".  Weiss  S  nicht  .  .  .  Doch  ich  müsste 
den  Leser  durch  die  zu  häufigen  Wiederholungen  des:  Weiss  S.  nicht? 
ermüden  und  will  ihm  nicht  sagen,  was  er  selbst  weiss. 

Damit  habe  ich  den  Hauptmangel  der  Buches  schon  berührt:  S.  hat 
das  Material,  aber  nicht  eine  Bearbeitung  und  geistige  Durchdringung 
desselben  gegeben.  Es  erscheint  ohne  den  Hintergrund,  auf  dem 
es  allein -wertvoll  und  nutzbringend  wird:  der  allgemeinen  Entwickelung 
der  Ästhetik  und  insbesondere  der  Kantischen  und  dieser  letzteren  im 
Rahmen  der  Ausbildung  seines  philosophischen  Systems  überhaupt.  Bei 
S.  führen  einzelne  Lehren  und  Sätze  ein  gesondertes  Dasein,  ohne  ein 
Ganzes  zu  bilden.  Deshalb  werden  sie  von  ihm  auch  nur  durch  Citate 
erläutert  und  das  Buch  ist  zu  einem  grossen  Teil  angefüllt  durch  Hinweise 
auf  mögliche  Entlehnungen.  S.  nennt  dies  „Methode  der  cumulativen  Ar- 
gumentation" (412).  Es  ist  die  bekannte  Parallelstellenmethode,  welche 
schon  so  viel  Unheil  angerichtet  hat  und  niemals  zu  einem  wirklichen  Er- 
fassen des  Werdeprozesses  grosser  Gedanken  führen  kann.  Wenn  durch 
sie  erwiesen  werden  soll,  dass  auch  Kant  von  seiner  Zeit  abhängig  war, 
so  rennt  man  offene  Thüren  ein.  Nicht  dass  es  so  war,  steht  in  Frage, 
sondern  wie  unter  den  nachweisbaren  Einflüssen  seine  Philosophie,  insbe- 
sondere seine  Ästhetik,  sich  auf  Grundlage  der  Eigenart  seiner  Persönlich- 
keit und  seines  Denkens  und  der  aus  diesem  auf  anderen  Gebieten  ge- 
wonnenen Erkenntnisse  bildete,  das  ist  die  Frage.  Dies  leistet  man  aber 
nicht  durch  einfaches  Abschreiben  von  Collegnachschriften  und  unend- 
liche Citatensammlungen  aus  dem  Schatze  der  Weltlitteratur.  Und  welche 
Anregungen  nimmt  S.  nicht  an!  Ich  muss  Beispiele  geben,  damit  der 
Leser  sieht,  dass  ich  S.  nicht  Unrecht  thue.  S.  175  sagt  Kant  von  Klop- 
stock:  „Wenn  man  seine  Schriften  mit  kaltem  Blute  liest,  so  verlieren  sie 
viel."  i)azu  S.:  „Das  hatte  Kant  zuei'st  mit  den  Schriften  Rousseaus  er- 
probt. Vgl.  das  Fragment:  Ich  muss  den  Rousseau  so  lange  lesen  etc." 
Wirklich  zuerst?  Die  ersten  Gesänge  des  „Messias"  erschienen  1748,  die 
erste  Schrift  Rousseaus  1750  und  es  ist  äusserst  wahrscheinlich,  dass  Kant 
erst  in  den  60er  Jahren  Rousseau  kennen  lernte.  S.  82  wird  eine  kritische 
Bemerkung  Kants  über  die  Frauen  mitgeteilt.  Dazu  S.:  In  den  „Beobach- 
tungen" hatte  sich  Kant  weniger  kritisch  gezeigt.  Cherchez  la  femme? 
Seine  vergeblichen  Heiratspläne  fallen  in  die  Zeit  dieser  Vorlesung." 
(1772.)  Ist  die  Zeit  so  bestimmt  erwiesen?  aber  vor  allem:  ist  das  ge- 
schmackvoll ?  S.  58  heisst  es :  „Bei  den  Fabeln,  in  denen  Tiere  reden, 
stellt  man  etwas  als  möglich  vor."  Dazu  S.:  Das  weist  auf  Leibnizens 
„mögliche  Welten"  (!)  und  Baumgartens  „veiitas  heterocosmica".  Vgl. 
auch  Lessings  Gedicht  an  Marpurg  etc."  S.  249  heisst  es :  Das  Genie  ist 
auf  das  Missverhältnis  gegründet,  wie  eine  Missgebiirt,  bei  der  einige 
Glieder  übel  gebaut  sind".  Dazu  S.:  „Man  denkt  unwillkürlich  an  Goethe. 
Er  hatte  zwar  etwas  zu  kurze  Beine,  wie  der  redegewaltige  Odysseus  (!), 
aber  mit  seinem  Genie  hatte  das  wohl  nichts  zu  thun."  Überboten,  wenn 
dies  möglich  ist,  wird  aber  alles  durch  die  auf  S.  213  mitgeteilte  Weisheit. 
Dort  heisst  es:  „.  .  .  besonders  thut  der  Umgang  einer  Mannsperson  mit 
dem  Frauenzimmer  sehr  viel"  Dazu  S.:  „Das  hatte  Voltaire  zuerst  (?) 
hervorgehoben. " 

Da  ich  einmal  bei  den  Anmerkungen  bin,  will  ich  noch  zwei  Bei- 
spiele anführen  für  die  Art,  in  welcher  S.  gelegentlich  Kritik  übt  an  den 
aus  den  Vorlesungsheften  genommenen  Sätzen.  S.  211  heisst  es  :  „Der  Ocean 
ist  erhaben,  aber  nicht  mehr  für  einen  Seefahrer,  der  schon  einmal  in 
Indien  gewesen  "  Dazu  S.:  „Das  wird  doch  sehr  auf  den  Seefahrer  an- 
kommen."   Auf   derselben  Seite   weiter   unten:   „Es   giebt  Menschen,   die 


188  Recensionen  (Schlapp). 

sich  aus  der  Musik  nichts  machen,  und  diese  halten  oft  auch  nichts  von 
einer  schönen  Schreibart  und  von  Poesieen,  ja  gegen  die  Reize  der  Natur 
sind  sie  ganz  gefühllos."  Dazu  S.:  „Diese  Auffassung,  die  an  ein  geflügel- 
tes Wort  Shakespeares  aus  dem  Kaufmann  von  Venedig  erinnert  (!),  hält 
vor  der  P>fahruns:  nicht  Stand." 


*& 


Ich  komme  zu  den  Ergebnissen  des  Buches  und  lasse  S.  selbst 
sprechen.  Nachdem  er  die  „Beobachtungen"  und  die  Vorlesungshefte  1764 
—1770  besprochen  und  excerpiert  hat,  heisst  es  S.  lOf)  7:  Die  Ästhetik  ist 
keine  Doktrin,  sondern  Kritik  (Meier,  Home).  Schöne  Wissenschaften 
giebt  es  nicht.  Die  Regeln  des  Geschmacks  sind  empirisch  (Hume)  und 
indemonstrabel  (gegen  Bodmer,  Meier),  sie  sind  allgemeingiltig  (Home). 
Doch  heisst  es  auch:  Sie  sind  unbeständig  und  wechseln  nach  den 
Urteilen  der  Menschen.  Muster  des  richtigen  Geschmacks  sind 
die  Alten  (Winckelmann).  —  Der  Sinn  für  das  Schöne  beruht  auf  dem 
Thätigkeitsbedürfnis  der  Seele  (Leibniz,  Sulzer).  Daher  gefällt  u.  A.  das 
Neue  und  Wunderbare  (Addison,  Schweizer),  daher  ist  auch  das  Gebräuch- 
liche nicht  schön  (Burke)  und  Nachahmung  kein  Prinzip  der  schönen 
Künste  (gegen  Batteux).  Das  Schöne  verlangt  Mannigfaltigkeit  und  Ein- 
heit (Leibniz).  Dazu  gehört  Ordnung,  Harmonie,  Symmetrie,  Contrast 
(Montesquieu),  allmähliger  Übergang  (Burke,  Hogarth,  Winckelmann),  Klar- 
heit, leichte  Fasslichkeit  der  Form  (Sulzer,  Mendelssohn)."  Und  so  geht 
es  endlos  weiter.  Für  manche  Lehren  vermag  S.  4  ja  5  Pathen  aufzu- 
führen (1(8)-  Ich  habe  schon  oben  S.s  Hypothese  über  das  Verhältnis  der 
Kritik  des  Geschmacks  zu  den  anderen  Kritik  zurückgewiesen,  dies  ist 
das  einzige  „Ergebnis".  Auch  in  den  Übersichten  über  die  Jahre  1775 — 
1790  werden  nur  Zusammenstellungen,  nicht  wirkliche  Forschungsergeb- 
nisse mitgeteilt.  Man  sollte  erwarten,  dass  S.  die  Frage,  wie  die  Kritik 
der  reinen  Vernunft  die  ästhetischen  Lehren  Kants  beeinflusst  habe,  er- 
örtert und  als  eine  der  wichtigsten  behandelt.  Aber  auch  hier  kommt  er 
über  Äusserlichkeiten  nicht  hinaus,  das  Problem,  wie  die  Systematik  des 
Hauptwerkes  System  bildend  gewirkt  habe,  hat  er  anscheinend  nicht  ge- 
sehen. Es  folgt  eine  Darstellung  der  „Kritik  des  Geschmacks  und  des 
Genies  in  der  Urteilskraft"  und  „Welt-  und  Menschenkenntnis"  1790  -  91 
ed.  Starke  18.31,  begleitet  von  einer  erdrückenden  Menge  von  Anmerkungen. 
Dass  die  Zeit  nach  1790  eine  weitere  Entwickelung  nicht  zeigt,  war  zu 
erwarten  und  die  Ergebnisse  bringen  nichts  Neues.  Aus  einer  letzten  Zu- 
sammenfassung sei  schliesslich  hervorgehoben :  ,, Jetzt  erst  lässt  sich  über- 
sehen, was  originell  und  eigenartig  an  Kants  Lehre  ist :  die  kühle 
Haltung  dem  Gegenstand  gegenüber;  der  abstrakte,  an  Beispielen  arme 
Vortrag,  der  systematische  Charakter  der  erschöpfenden  Untersuchung ; 
die  Energie  der  eklektischen  Tendenz,  die  sich  in  der  Universalität  der 
Gesichtspunkte  sowohl,  als  in  dem  Widerspruchsvollen  und  Antinomischen 
der  Resultate  zeigt.,  die  enge  Verbindung  von  Genielehre  und  Ästhetik; 
die  centrale  Stellung  der  ersteren  und  der  Lehre  vom  subjektiv  zweck- 
mässigen Spiel  der  Gemütskräfte  in  der  Geschmackskritik;  die  exempla- 
rische Notwendigkeit;  die  doppelte  Begründung  der  AUgemeingiltigkeit 
auf  das  teleologische  und  das  moralische  Prinzip  -  endlich  die  encyclo- 
pädische  (?)  Einführung  der  Ästhetik  ins  System  des  Kriticismus  zur  Ueber- 
brückung  der  unabsehbaren  (?)  Kluft  zwischen  dem  Reiche  der  Natur  und 
dem  der  Freiheit. 

Viel,  ausserordentlich  viel  verdankt  Kant  seinen  Vorgängern  und 
seiner  Zeit.  Man  hat  seither  den  Einfluss  der  Überlieferung  auf  Kant  be- 
deutend unterschätzt.  Sein  Verdienst  liegt  in  dem  Versuch  einer  eigen- 
tümlichen Gruppierung  des  Vorhandenen  zu  einem  geschlossenen  Ge- 
dankensystem etc."  Man  frage  sich:  enthält  diese  allgemeinste  Fassung 
der  Ergebnisse  etwas  wesentlich  Neues?  Ist  irgend  eines  der  Probleme 
auf  diese  Weise  gelöst?  Sind  nicht  vielmehr  überall  unsichere,  unbe- 
stimmte und  die  Eigenart  des  Kantischen  Systems  garnicht  ausdrückende 
Begriffe  verwertet? 


Recensionen  (Schlapp).  189 

Ungern  widerstehe  ich  der  Versuchung,  einige  Linien  aufzuzeigen, 
in  denen  sich  eine  zukünftige  Geschichte  der  Kantischen  Ästhetik  etwa 
bewegen  würde.  Das  Neue,  was  das  mitgeteilte  Material  enthält,  verlockt 
dazu,  aber  die  Art,  wie  es  mitgeteilt  ist,  bereitet  keinen  sicheren  Boden, 
auch  liegt  noch  viel  unveröffentlichtes  in  dem  handschriftlichen  Nachlass 
bereit,  welches  erst  in  der  Akademieausgabe  zugänglich  werden  wird. 
Deshalb  möchte  ich  und  muss  mich  bescheiden  und  nur  noch  im  Einzelnen 
hervorheben,  dass  S.  aus  dem  vorhandenen  Material  vor  Allem  einen 
starken  Einfluss  Winckelmanns  nachweisen  und  weiter  zeigen  konnte,  dass 
Kants  Lehre  vom  Genie  massgebend  von  Gerard  beeinflusst  ist.  Die  in- 
neren Beziehungen  dieser  Lehre  zu  Kants  Ästhetik  darzulegen,  wäre  seine 
Aufgabe  gewesen,  er  versag't  aber  auch  hier  und  man  wird  wohl  die  be- 
gründetsten Zweifel  haben  dürfen  an  der  Ansicht,  dass  diese  Lehre  es  war, 
„die  Kant  den  letzten  Anstoss  zur  Abfassung  der  Kritik  der  Urteilskraft 
gab"  (,409).  Verdienstlich  ist  S.s  Versuch,  die  Beziehung  Kants  zu  Herder 
und  umgekehrt  aufzufinden.  Seine  Auffassung,  dass  letzterer  stark  von 
ersterem  beeinflusst  sei,  ist  zutreffend,  kann  aber  auf  eine  sicherere  Basis 
gestellt  werden  durch  Herders  eigene  Vorlesungshefte,  welche  ich  in 
seinem  Nachlasse  auffand,  und  seiner  Zeit  mitteilen  werde. 

Verdienste  hat  sich  S.  femer  erworben  durch  die  Sorgfalt,  mit 
welcher  er  die  einzelnen  Hefte  zu  datieren  versucht  hat.  Ein  Eingehen 
auf  diese  Dinge  ist  hier  aber  nicht  am  Platze  und  muss  der  späteren  Aus- 
gabe der  Akademie  überlassen  bleiben.  Nur  sei  erwähnt,  wie  auch  bei 
dieser  Gelegenheit  S.  einer  sonderbaren  Micrologie  sich  schuldig  macht. 
Zur  Beurteilung  des  Umfangs  der  Vorlesungen  giebt  er  die  Zahl  der 
Worte  der  einzelnen  Hefte  an  und  kommt  auf  Zahlen  wie  120000,  100000 
etc.  Wie  kann  man  nur  seine  Zeit  so  gering  achten !  Und  weiss  S.  nicht 
als  Psychologe,  dass  solche  Zahlen  ganz  unanschaulich  sind,  also  garnicht 
helfen? 

Ein  letztes  Wort  sei  über  den  Wert  der  Vorlesungsnachschriften 
gesagt.  S.  tritt  für  sie  ein  und  wendet  sich  auch  polemisch  gegen  meinen 
Standpunkt,  wie  ich  ihn  in  den  „KSt."  Hl,  57  ff.  präcisiert  habe.  In  be- 
zug  darauf  sagt  S.  S.  405  „ob  Kant  aus  pädagogischen  Rücksichten  seinen 
Zuhörern  nicht  überall  seine  wirklichen  Anschauungen  offenbarte,  das 
alles  lässt  sich  doch  erst  entscheiden,  wenn  man  diese  Hefte  einer  ernst- 
lichen Prüfung  unterzogen  hat."  Auf  S.  302  hat  S.  diesen  Gesichtspunkt 
dann  selbst  verwertet  und  so  verstehe  ich  nicht  recht  den  Vorwurf,  der 
in  seiner  Forderung  einer  „ernstlichen  Prüfung"  liegt,  auch  hat  er  meine 
Datierung  der  Ausgaben  von  Pölitz  und  Starke  i)  in  beiden  Fällen  accep- 
tiert.  Wenn  er  dann  vielleicht  in  dem  Mitarbeiterverzeichnis  des  ersten 
Bandes  der  Akademieausgabe  meinen  Namen  gefunden  hat,  so  wird  er 
mir  wohl  eine  Kenntnis  solcher  Nachschriften  zutrauen.  Aber  je  mehr 
ich  von  solchen  erfahre,  desto  mehr  werde  ich  in  meinem  früheren  Stand- 
punkte bestärkt.  Dieser  war  keineswegs  ablehnend,  wie  S.  es  darstellt 
(S.  404),  sondern  mahnte  nur  zur  Vorsicht.  Ich  habe  die  Hoffnung  aus- 
gesprochen, dass  bei  kritischer  Vorsicht  aus  den  Vorlesungen  ,, wertvolle 
Rückschlüsse  auf  Kants  Entwickelungsgeschichte  gemacht  werden  können" 
(a.  a.  0.  S.  60).  Was  die  Akademieausgabe  mit  der  Vorlesungsedition 
wolle,  hat  inzwischen  Dilthey  in  dem  allgemeinen  Vorwort  (Bd.  I, 
S.  XIII  f.)  gesagt.    Dadurch    erledigen    sich  alle  Vermutungen,    welche  s! 

1)  Die  Einwände  S.s  gegen  meine  Gründe  zur  Datierung  dieser  Vor- 
lesung vermag  ich  nicht  recht  anzuerkennen.  Einmal  citiert  S.  den  Satz 
über  Buffon  (vgl.  KSt.  III,  S.  67)  nicht  in  seinem  ganzen  Wortlaut.  Ferner 
habe  ich  meinen  Hinweis  auf  die  Übereinstimmung  zwischen  den  ge- 
schichtsphilosophischen  Anschauungen  in  dem  Heft  und  der  „Idee  zu  einer 
allgemeinen  Geschichte  in  weltbürgerlicher  Absicht"  nicht  als  entscheidend 
bezeichnet,  sondern  nur  von  einer  „Vermutung"  gesprochen,  dass  deshalb 
die  Vorlesung  ums  Jahr  1785  anzusetzen  sei.  Wenn  dies  sich  jetzt  be- 
stätigt, kann  ich  mich  nur  freuen. 


190  Recensionen  (Dreyer). 

darüber  aufgestellt  hat.  Erst  durch  die  Darbietung  des  gesamten  Mate- 
rials, wie  es  der  Ausgabe  der  Akademie  zu  Gebote  steht,  wird  die  Be- 
nutzung der  Vorlesungen  gesichert  und  wertvoll  werden  können. 

Ich  habe  es  lebhaft  bedauert,  eine  so  negative  Kritik  des  Buches 
schreiben  zu  müssen.  Ich  will  es  nicht  unterlassen,  den  Fleiss,  mit 
welchem  S.  gearbeitet  hat,  gebührend  hervorzuheben,  aber  ich  konnte  und 
durfte  das  Urteil  nicht  zurückhalten,  dass  er  seiner  Aufgabe  nicht  ge- 
wachsen war.  Ich  durfte  es  vor  Allem  deswegen  nicht,  weil  die  Gefahr 
vorliegt,  dass  das  abfällige  Urteil  über  die  Vorlesungen  neue  Begründung 
dem  Buche  entnimmt.  Wenn  meine  Besprechung  den  Erfolg  hat  dies  zu 
verhindern,  wird  sie  auch  einen  positiven  Nutzen  haben. 

Paul  Menzel. 

Dreyer,  Friedrich.  Studien  zu  Methodenlehre  und  Erkennt- 
niskritik. II.  Band.  III.  Die  Kontinuitätsmethodik  eines  Dreidimensio- 
nalen.    Anhänge.     Leipzig.     Engelmann,  190'5.     (XXI  u.  498  S.) 

Der  Verfasser  bezeichnet  seinen  Standpunkt  (Vorrede  VIII)  als  „kri- 
tischen Phänomenalismus"  und  ausserdem  S.  300  als  „kritischen,  reinen 
Phänomenalismus".  „Unsere  Philosophie  sucht,  durch  die  metaphysischen 
Gespenster  der  Stoffe,  Kräfte,  Dinge  u.  s.  w.  hindurch,  das  zu  erfassen, 
was  thatsächlich  ist,  die  Thatsächlichkeit  rein  phänomenal,  rein  als  solche 
zu  erfassen,  und  i  n  der  Erforschung  des  Getriebes  der  Phänomene  zu  einer 
allgemeinen  Methodenlehre  in  höherem  Sinne  zu  gelangen"  (VIIIjIX). 
Alles,  was  über  das  Phänomenal-Thatsächliche  hinausgeht,  bezeichnet  der 
Verf.  bald  als  hypothetisch,  bald  als  fiktiv.  Insbesondere  ist  alles  das- 
jenige in  diesem  Sinne  hypothetisch  hinzugefügt,  wodurch  das  Diskonti- 
nuierliche in  Kontinuierliches  verwandelt  wird.  Das  Kontinuierliche  ist 
von  uns  hinzugefügt  zum  Zweck  methodischer  Erleichterung,  jedoch  ohne 
reale  Berechtigung.  In  diesem  Sinne  spricht  der  Verf.  von  einer  „Kotiti- 
nuitätsmethodik"  und  sagt  S.  12  f.:  „Unter  dem  Begriffe  der  Kontinuitäts- 
methodik lässt  sich  ein  mächtiges  Geschlecht  von  Hypothesenregeln  er- 
kennen, die  sich  alle,  jede  in  ihrer  Art,  durch  das  gemeinsame  Streben 
charakterisieren,  das  verschiedenartige,  diskontinixierliche  und  fragmenta- 
rische Durcheinander  des  unmittelbar  Gegebenen  zu  einem  kontinuierlichen 
und  einheitlichen  Gesamtzusammenhange  zu  verweben.  Es  sind  die  Regeln, 
nach  denen  das  psychische  Getriebe  von  Vorstellung,  Denken,  Association 
in  dem  verschiedenartig  und  diskontinuierlich  Gegebenen  der  Wahrnehmung 
die  Hilfslinien  zieht,  es  in  Bezug  auf  Zusammenhang  und  Einheitlichkeit 
kompletiert,  ausbildet  imd  interpretiert.  Der  ganze  Bereich  der  Weltaus- 
einandersetzung und  der  Bearbeitung,  Verarbeitung  und  Durcharbeitung 
,der  Natur',  von  dem  verhältnismässig  einfachen  Schaffen  des  groben 
Unterbaues  der  Gemeinanschauung  an  bis  zu  den  raffinierten  Ansprüchen 
der  höchst  abstrahierenden  Wissenschaft  ist  mit  Vertretungen  dieses 
Heeres  von  Pionieren  besetzt,  von  denen  jeder  seinem  Posten  entsprechend 
spezifisch  ausgebildet  ist  und  funktioniert:  derselbe  Geist  arbeitend  unter 
den  verschiedenen,  seinem  Wirken  sich  öffnenden  Verhältnissen."  Der 
Verf.  erinnert  daran,  dass  er  schon  in  dem  ersten  Bande  seiner  „Studien" 
ähnliche  Gedanken  entwickelt  hat:  „Mit  einer  Gattung  von  Hypothesen- 
regeln der  Kontinuitätsmethodik  hatten  uns  schon  die  beiden  diesem 
Werke  vorangeschickten  kritischen  Exkursionen  in  nähere  Berührung  ge- 
bracht. Als  typische  Repräsentanten  dieser  Gattung  lassen  sich  z.  B. 
nennen  die  Atomhypothese,  die  mechanische  Wärmehypothese,  die  Undula- 
tionshypothese  des  Lichts"  (13). 

Der  vorliegende  Band  beschäftigt  sich  nun  mit  einer  besonderen 
Art  dieser  „Kontinuitätsmethodik" :  es  ist  dies  die  Hinzufügung  der  dritten 
Dimension  als  einer  besonderen  Hypothese  in  dem  oben  angegebenen 
Sinne,  zu  dem  thatsächlich  gegebenen  Material  des  Zweidimensionalen. 
So  ist  der  Sinn  des  zuerst  so  auffallenden  Titels  zu  verstehen  „Die  Kon- 
tinuitätsmethodik eines  Dreidimensionalen".  Der  Verf.  sagt  selbst  (V): 
„Der  Gegenstand  unserer  dritten  Studie  ist  die  Untersuchung  dessen,  was 


Recensionen  (Dreyer).  191 

die  Gemeinanschauung'   als    die    Räumlichkeit    unserer   Welt,    als    unseren 
dreidimensionalen    euklidischen    Raum    bezeichnet.    —    Die    Untersuchung 
zeigt,    dass    es   einen    solchen  dreidimensionalen  euklidischen  Raum  nicht 
giebt;    das    aber,    was    die  Gemeinanschauung  als  solchen  zu  haben  meint, 
zerfällt  der  Analyse  in  zwei  Teile:  Einerseits  haben  wir  eine  zweifache 
Mannigfaltigkeit  der  Gesichtsthatsächlichkeit,  in  der  sphärische  Geoinetrie 
herrscht,  als  die  thatsächliche  Räumlichkeit.     Andererseits  sehen  wir  auf 
ein   wunderbares,    flinkes    irrlichterierendes  Spiel   von  Erinnerungsvorstel- 
lungen,   die    simultanassociativ  die  thatsächliche  Räumlichkeit  durchsetzen 
und    deren  Inhalt    auf   ein  euklidisches  Dreidimensionales  hypothetisch  re- 
präsentativ  interpretieren.     Mit   merkwürdiger    Sicherheit    täuscht   dieses 
Spiel    nach    vier   Gesetzen    aus  dem  thatsächlich  sphärisch  geometiischen 
Zweidimensionalen    eine    in  sich  stimmende  Welt  eines  euklidischen  Drei- 
dimensionalen   vor.     Es  sind  diese  vier  Hypothesenregeln  die  Geister,    die 
dort    hinaus    in    ein    euklidisches    Dreidimensionales    ,die   Welt'    allererst 
schaffen,    die    fundierenden    Bauleiter    der    Welt,    die    in    diesem    ihrem 
Schaffen    fort    und   fort   am  Werke  sind,    die  aber  mit  einer  solchen  som- 
nambulen Sicherheit  schaffen,   dass  eben  daher  ihr  Schaffen  und  sie  selbst 
nicht  zum  Bewusstsein  kommen,  und  dass  es  uns  aufgespart  bleiben  musste, 
sie   zu   entdecken    und    in    ihrer  Bedeutung    klarzustellen."     Das  fasst  der 
Verf.  auch  S.  VIII  Kant    gegenüber  so  zusammen:    „Es  ergiebt  sich  uns, 
dass    das    euklidische  Dreidimensionale,    weit    davon    entfernt,    eine    reine 
Anschauung  a  priori  zu  sein,  nicht  einmal  realisierbar  ist,  sondern  nur  das 
Produkt    einer   virtuosen    hypothesierenden  Fiktionsroutine  ist."     „Die  in- 
stinktive Methodik  und  Metaphysik  umfasst  uns  eben  innig  und  fest",  wie 
der  Verf.    drastisch    sagt  (48).     Die  Aufgabe  seines  kritischen  Phänomena- 
lismus sieht  der  Verf.,  wie  wir  hörten,  darin,  die  metaphysischen  Gespenster 
als  solche  zu  demaskieren;  sie  zu  verscheuchen,  ist  aber  unmöglich,  da  sie, 
wie    wir  schon  hörten,    notwendige    methodische  Hilfsmittel    sind   zur  Er- 
fassung  der   phänomenalen  Wirklichkeit.     Zu    diesen  Gespenstern    gehört 
nun    eben    der  Gegenstand    des   zweiten  Bandes    der  „Studien",  das  Drei- 
dimensionale,   und    so   sagt  der  Verfasser  S.  55:    „Die  kritische  Besinnung 
sagt    sich,    dass    man  Gespenster  eben  nicht  fassen  kann.     Alles  Gegebene 
und,  setzen  wir  noch  —  uns  der  Tragweite  dessen,  was  wir  hiermit  gegen- 
über aller  Metaphysik  sagen  und  vertreten,  wohl  bewusst  —  weiter  hinzu, 
Alles,    was    es    giebt,    ist    hiermit   Phänomenales,    ist    , Erscheinung' ;    eine 
dritte    Dimension    des    Raumes    aber,  speziell  in  unserer  vorliegenden  An- 
gelegenheit ein  drittdimensionaler  Abstand  von  Gegenstand  und  Augenpunkt, 
ist    eine  gedankliche  Fiktion,  zu  der  ein  thatsächliches  Korrelat  im  Sinne 
der  hypothetischen  Annahme  nie  und  nie  gegeben  ist,  nicht  vorstellbar  ist 
und  es  nicht  giebt."     Meinen    wir,    diese  Fiktion    „in  die  Thatsächlichkeit 
der   Wahrnehmung    übertragen    zu  haben"  (54),    so    haben    wir  eben  nicht 
mehr  die  Fiktion  als  solche,  sondern  die  gewöhnliche  und  falsche  Gemein- 
anschauung, die  aber  trotz  ihrer  Falschheit  methodisch  notwendig  ist.     In 
diesem    Sinne    sagt    der  Verf. :    „An    und    für    sich    unterscheidet   sich  die 
Metageometrie    des    Dreidimensionalen    als  Metaph3\sik    in    nichts  von  der 
weitergehenden    Metageometrie :    sie    ist    ebenso    hypothetisch  resp.  meta- 
physisch,   ebenso    gedanklich    fiktiv    und  ebenso    unvorstellbar,    wie  diese. 
Nur  eben  ist    sie   zur  Weltverarbeitung  methodologisch  brauchbar  und  er- 
forderlich,   während    dies    eine    weitergehende    Metageometrie    nicht    ist" 
(112  3).     Der  Verf.  führt  dann  weiter  aus,    dass,  wenn  Phänomene  sich  er- 
geben würden,    zu  deren  Konstruktion  die  gebräuchliche  dreidimensionale 
Metageometrie   nicht    ausreichen    würde,  dann  eine  „Fiktion  einer  vierten 
Dimension    ebenso    zu    ihrem  Rechte    kommen    würde  wie  jetzt  die  dritte 
Dimension".      Die    Metaphysik     des    Dreidimensionalen    genügt    aber    für 
unsere   Thatsächlichkeit,    aus    der    die    dritte    Dimension,    wie    es    S.  198 
heisst,  „als    metaphysische  Fiktion  ausgesponnen  ist."     So  kommt  es,    dass 
wir,    wie    der    Verf.  S.  211  sagt,   „in    dem    hoch    zusammengesetzten    Ge- 
triebe einer  Metaphysik  uns  bewegen,  ohne  zu  ahnen,  wie  und  dass  über- 


192  Recensionen  (Dreyer). 

haupt  wir  dies  tlmn,  dass  wie  durch  ein  zauberisches  Blendwerk  That- 
sächlichkeit  und  metaphysische  Fiktion  uns  vertauscht  sind". 

Schon  oben  trat  uns  der  Gedanke  entgegen,  dass  die  Umkleidung 
der  nackten  Thatsächlichkeit  mit  solchen  methodisch  metaphysischen  Be- 
griffen eine  zweckmässige  Einrichtung  ist  zur  Beherrschung  der  Wirk- 
lichkeit. Diesen  Grundgedanken  wiederliolt  der  Verf.  sehr  oft.  So  sagt 
er  z.  B.  S.  220:  Wir  sehen  „die  vitale  Zweckthätigkeit  als  Meisterin, 
als  die  Meisterin,  die  ein  vollendetes  System  von  Orientierungsregeln 
spann  und  so  aus  dem  hieroglyphischen  einfach  Gegebenen  das  Medium, 
die  Welt  schuf,  in  der  wir  uns  zurechtfinden,  in  der  wir  leben  und 
weben  können,  ohne  nur  zu  wissen  wie".  In  diesem  Sinne  nennt  er  diese 
metaphysisch  fingierte  Welt  auch  212  „eine  Schöpfung  der  grossen  Natur 
selbst".  Dies  wird  noch  öfters  ausgeführt,  z.  B.  433:  „In  dem  wunder- 
baren, von  der  vitalen  Zweckthätigkeit  schon  unterhalb  der  Schwelle  re- 
flektierenden Bewusstseins  gebildeten  System  der  Regeln  der  Weltverar- 
beitung wurde  die  metaphysische  Auffassung  schon  mit  grossgezogen,  da 
sie  insofern  zweckdienlich  ist,  als  sie  dem  kindlichen  Menschengeiste  die 
Kontinuitätskonstruktion  fassbarer,  greifbarer  macht."  Ferner  vgl.  484: 
„Das  Wellenspiel  der  Thatsächlichkeit  kennt  solche  Balken  [so  nennt  der 
Verf  jene  metaphysischen  Begriffe  hier]  nicht,  sondern  diese,  all  dies 
Feste  wurde  allererst  geschaffen,  erst  fingiert  durch  den  Kontinuitäts- 
geist der  vitalen  Zweckthätigkeit." 

Überall  geht  der  Gedanke  durch,  dass  diese  vitale  Zweckthätigkeit 
solche  Hilfsbegriffe  geschaffen  habe.  So  heisst  es  gleich  weiter  an  der 
eben  angeführten  Stelle :  „Ein  seine  ,Eigenschaften'  tragendes  ,Ding' 
finden  wir  nicht  in  der  Thatsächlichkeit,  sondern  nur  jene  , Eigenschaften'; 
eine  das  ,Psychische'  produzierende  und  tragende  ,Seele',  ein  ,Ich'  im  üb- 
lichen Sinne  finden  wir  nicht,  sondern  nur  jenes  ,Psychische'  allein  als 
einen  wechselnden  .Gesellschaftsbau  der  Triebe  und  Gefühle'"  (484).  Und 
weiter:  „Auch  das  , Psychische'  einerseits,  das  , Physische'  andererseits,  das 
, Geistige'  hier,  das  ,Körperliche'  dort,  kennt  die  elementare  Thatsächlich- 
keit ebenso  wenig,  wie  ein  , Subjektives'  und  ein  ,Objektives' "  (485).  Vgl. 
800:  Aus  dem  Subjektiven  wird  erst  das  Objektive  herauskonstruiert,  und 
dann  wird  ein  fiktiver  Bezug  des  Subjektiven  auf  das  fingierte  Objektive 
erst  hineingelegt.  Sehr  bezeichnend  ist  die  Stelle  S.  339,  wo  es  von  den 
objektiven  Dingen  heisst:  „Das  historische  Empfinden  gründet  sich  vor 
Allem  auf  die  kontinuitätsmethodische  Fiktion  der  unter  den  veränder- 
lichen Mosaikfeldern  der  Gesichtsthatsächlichkeit  hindurch  sich  beständig 
erhaltenden  Dinge."  Weitere  derartige  Hilfsbegriffe  sind  z.  B.  nach 
S,  219  „astronomische  Begriffe  wie  Himmelspol  und  Himmelsäquator, 
Tierkreis,  circumpolar,  Rektascension  und  Deklination  u.  s.  w."  Ferner 
z.  B.  auch  225:  „die  metaphysische  Fiktion  verschieden  gekrümmter 
Flächen  oder  höherer  Mannigfaltigkeiten".  Von  weiteren  derartigen  fik- 
tiven geometrischen  Annahmen  spricht  der  Verf.  241  ff. 

Sehr  klar  sagt  der  Verf.  259:  „Methodologisch,  d.  h.  für  die 
Technik  der  Weltverarbeitung  können  solche  Begriffe  recht  dienlich  sein. 
Dass  sie  für  die  Praxis  des  täglichen  Lebens  in  vollendetem  Grade  zweck- 
mässig sind,  zeigt  ja  die  von  der  Meisterin  der  vitalen  Zweckthätigkeit 
hierzu  ausgebildete  Gemeinanschauung;  ob  und  wie  weit  sie  auch  für  die 
feinere  theoretische  Weltverarbeitung  passend  sein  und  bleiben  werden, 
wird  in  der  künftigen  Entwickelung  von  Erkenntniskritik  und  Methoden- 
lehre zu  untersuchen  sein."  So  untersucht  der  Verf.  überall  den  methodo- 
logischen Wert  jener  Hilfsmittel ;  vgl.  281  ff.  über  den  methodologischen 
Wert  des  Hilfsmittels  der  perspektivischen  Interpretation. 

Ein  besonders  oft  wiederholter  Gedanke  des  Verf.  ist  die  mit  Mach 
koinzidierende  Behauptung,  dass  auch  die  Naturwissenschaft  von  solchen 
metaphysischen  Fiktionen  durchsetzt  sei,  z.  B.  433 :  „Die  so  modern  selbst- 
herrliche Naturwissenschaft  stellte  sich  dann  auf  den  unanalysierten  Boden 
dieser   Gemeinanschauung,    übernahm    hiermit    auch   den   metaphysischen 


Recensionen  (Löwenberg).  193 

Geist  dieser,  um  ihn  in  ihrem  Lehrgebäude  nun  weiter  und  weiter  leben 
und  schaffen  zu  lassen.  Die  Naturwissenschaft  steckt  —  und  noch  dazu, 
ohne  das  zu  wissen  —  bekanntlich  selbst  bis  über  die  Ohren  in  Metaphy- 
sik." In  einem  ähnlichen  Zusammenhang  spricht  der  Verf.  S.  249  den  be- 
merkenswerten Gedanken  aus,  dass  hier  „eine  interessante  vergleichende 
Untersuchung  der  hypothetischen  Fiktion  in  Mathematik  und  Naturwissen- 
schaft einsetzen  könnte,  mit  der  sich  eine  eindringendere  Beleuchtung  und 
Aufklärung  des  Wesens  der  naturwissenschaftlichen  Forschung  einerseits, 
der  mathematischen  andererseits  ergeben  würde". 

Bei  einer  solchen  Untersuchung  würde  der  Verf.  aber  zwei  funda- 
mentale Fehler  vermeiden  müssen,  welche  er  durchgängig  in  seinen  Unter- 
suchungen macht,  und  welche  beweisen,  dass  er  nicht  zur  vollen  Klarheit 
durchgedrungen  ist :  Erstens,  er  müsste  einen  prinzipiellen  Unterschied 
machen  zwischen  Hypothesen  einerseits,  welche  zur  Ergänzung  der 
Thatsächlichkeit  nicht  bloss  notwendig  sind,  sondern  auch  causae  verae 
treffen  wollen,  resp.  das  nicht  gegebene  Thatsächliche  aus  dem  wirklich 
gegebenen  Thatsächlichen  ergänzen,  und  andererseits  zwischen  Fiktionen, 
welche  nur  dazu  dienen,  das  Thatsächliche  mit  erdachten  Hilfsbegriffen  zu 
umspannen.  Vgl.  hiergegen  449  450  Anm.  Auf  Dreyers  Standpunkt 
muss  dieser  Unterschied  wegfallen.  Es  ist  ein  Hauptmangel  des  Ver- 
fassers, dass  ihm  dieser  Unterschied  nicht  zum  Bewusstsein  gekommen  ist. 
Es  sei  hier  nur  verwiesen  auf  die  Bemerkungen  in  der  Anmerkung  auf 
S.  248.  —  Ein  zweiter  Fehler  ist  folgender:  Der  Verf  spricht  von  Fik- 
tionen im  Sinne  von  Annahmen,  welche  mit  dem  Bewusstsein  davon  ge- 
macht sind,  dass  sie  Falsches  enthalten,  das  aber  zur  Berechnung  der 
Wirklichkeit  zweckmässig  ist,  einerseits,  und  andererseits  wird  der  Aus- 
druck Fiktion  aber  auch  noch  von  ihm  verwendet,  ohne  dass  er  auf  diesen 
Doppelsinn  aufmerksam  macht,  für  falsche  Annahme,  welche  unbewusst 
gern;  c.it  werden,  oder  auch  ohne  Bewusstsein  ihrer  Zweckmässigkeit  zu- 
gleich und  ihrer  Falschheit.  Er  müsste  sodann  darauf  aufmerksam  machen, 
dass  die  Fiktionen  im  letztgenannten  Sinne  das  Erste  sind,  was  von  uns 
unbewusst  hervorgebracht  wird,  und  dass  dann  derartige  unbewusst  ent- 
standene Hilfslinien  im  Laufe  der  Zeit  für  den  Forscher  zu  bewussten 
Fiktionen  werden  können.  Thatsächlich  hat  der  Verf.  das  eingesehen, 
wenn  er  es  auch  nicht  vollständig  deutlich  formuliert  hat.  Er  sagt  wenig- 
stens sehr  treffend  S.  496:  „Durch  die  Illusionen  des  objektiv  Festen  und 
des  dogmatisch  so  oder  so  einzig  Möglichen  müsste  die  Entwickelung 
wohl  führen.  Die  Meisterin  der  vitalen  Zweckthätigkeit  hatte  diese  festen 
Horizontumreissungen  als  provisorisches  Gerüstwerk  geschaffen.  Unbe- 
wusst bedienten  sich  dieser  Balken  das  Volk  sowohl  als  auch  der  gelehrte 
Herr,  bis  die  Weltverarbeitung  allmählich  die  Höhen  jener  Allgemeinheit 
gewinnt,  von  denen  aus  der  schwindelnde  Blick  hinabsieht  auf  die  be- 
kannten positiven  Ausprägungen  und  materialen  Realisationen  innerhalb 
einer  Mannigfaltigkeit  noch  weiterer  Möglichkeiten,  und  wo  vor  den 
durchbrechenden  Lichtbahnen  der  höher  auf  ihrer  Bahn  emporsteigenden 
Sonne  des  Intellektes  die  Gebilde  des  alten  Begriffes  der  objektiven  Rea- 
litäten und  Wahrheiten  sich  auflösen  und  an  ihrer  Stelle  sehen  lassen 
perspektivische  Fluchten  des  unbeschränkten  Weltalls  in  diesem  höheren, 
,geistig'-phänomenalistischen  Verstände  dieses  Wortes.  Die  Balken  ,der 
Wahrheit'  können  fallen,  nun,  wo  der  ,menschliche  Geist'  das  Schweben 
lernt  in  den  freien  Höhen." 

Halle  a.  S,  H.  Vaihinger. 

Löwenberg,  Adolf.  Fried.  E.  Benekes  Stellung  zur  Kant- 
schen  Moralphilosophie.     Berlin,  Meyer  &  Müller,  1902.  (104  S.) 

Die  von  Löwenberg  behandelte  Frage  wird  jedem,  der  sich  mit 
Benekes  Ethik  beschäftigt,  nahe  liegen ;  ein  nicht  geringer  Teil  der  letz- 
teren ist  eine  Polemik  gegen  Kant,  und  was  Beneke  in  der  Geschichte 
der  deutschen  Ethik  seine  bedeutende  Stellung  giebt,  ist  vor  allen  Dingen 
sein  Versuch  —  in   Opposition   zu    Kant   und   der  Romantik  —  der  Ethik 

Kantstudien  X,  IQ 


194  Receusionen  (Löwenberg). 

eine  rein  empirische  Grundlage  zu  schaffen.  Ohne  eigentlich  Neues  her- 
vorgehoben zu  haben,  hat  Löwenberg  das  Verdienst,  dass  er  dies  auf  zu- 
verlässige Weise  dargestellt  hat,  dass  er  zugleich  verstanden  hat,  wie 
Kants  Ethik  tiefere  Gedanken  enthält  als  die  im  Aufbau  seines  Systems 
zum  Vorschein  kommenden,  und  endlich,  dass  er  an  entscheidenden 
Punkten  gezeigt  hat,  wie  gross  die  Entfernung  ist  zwischen  dem,  was 
Benekes  Ethik  auf  Grundlage  der  Erfahrung  zu  erreichen  beabsichtigte, 
und  dem,  was  sie  wirklich  erreichte. 

Die  Kritik,  die  Beneke  gegen  die  Methode  und  die  Grundbegriffe 
des  praktischen  Systems  Kants  richtet,  fällt  bei  der  Untersuchung  seiner 
Stellung  zu  Kants  Ethik  am  leichtesten  ins  Auge.  Dieselbe  ist  der  Pro- 
test der  gesunden  Vernunft  gegen  Kants  verwickeltes  metaphysisches 
System ;  Beneke  verlangt  eine  empirische  Ethik,  die  sich  auf  Untersuch- 
ungen der  Natur  des  Menschen  stützt,  und  die  Polemik,  die  er  von  diesem 
Standpunkt  aus  gegen  Kant  führt,  erscheint  uns  jetzt  sehr  richtig  und 
sehr  selbstverständlich ;  um  Benekes  Bedeutung  aber  auf  rechte  Weise  zu 
schätzen,  muss  man  eingedenk  sein,  dass  er  der  erste  war,  der  in  Deutsch- 
land Kants  ethisches  System  an  allen  Hauptpunkten  einer  systematischen 
Kritik  unterwarf  und  zwar  einer  Kritik,  die  hier  wirklich  das  entschei- 
dende Wort  sprach.  Freilich  ist  es  wahr,  dass  Beneke  die  grossen  und 
bedeutungsvollen  Gedanken  nicht  hervorzog,  die  in  Kants  ethischem 
Systeme  den  Hintergrund  bilden,  deren  Schätzung  dazu  führen  wird,  Kant 
einen  noch  höheren  Platz,  auch  in  der  Geschichte  der  Ethik,  anzuweisen, 
als  Beneke  sich  vielleicht  dachte ;  hierbei  ist  aber  zu  bedenken,  dass 
Beneke  mitten  im  Kampfe  stand,  dass  es  seine  Aufgabe  wurde,  Kants 
Fehler  zu  bekämpfen,  nicht  aber,  das  hinter  allen  Fehlern  liegende  und 
alle  Fehler  überragende  Grosse  geschichtlich  zu  schätzen.  Einem  gar  zu 
nahe  stehenden  Beschauer  fällt  es  oft  schwer,  das  Grosse  zu  entdecken, 
und  zu  allen  Zeiten  werden  Hegels  Worte  gelten:  „die  Eule  der  Minerva 
beginnt  erst  mit  der  einbrechenden  Dämmerung  ihren  Flug" ;  gerade  in 
der  Dämmerung  darf  man  aber  die  Männer  nicht  vergessen,  die  den  Streit 
des  Tages  auskämpften,  die  diesen  mit  solchem  wissenschaftlichen  Ernst 
und  wissenschaftlicher  Gründlichkeit  führten,  wie  Beneke  seinen  Angriff 
gegen  Kant. 

Das  Psychologisch-analytische  und  das  Metaphysisch-konstruktive 
gehen  bei  Kant  Hand  in  Hand;  obschon  man  jetzt  imstande  ist,  histo- 
risch die  psychologische  Grundlage  zu  finden,  die  für  Kants  Etliik  ent- 
scheidend war,  war  für  Kant  selbst  die  Basis  metaphysisch  und  die  Me- 
thode rein  konstruktiv.  Als  Grundlage  betrachtet  (der  Emotionalismus) 
war  das  Gefühl  für  Kant  das  Irrationale,  als  Prinzip  betrachtet  (der  Eu- 
daimonismus)  das  Egoistische;  dass  man  methodisch  auf  psychologischem 
Wege  in  der  Ethik  zu  einer  allgemeingültigen  Wertung  gelangen  könne, 
bezweifelte  er,  da  die  verschiedenen  Neigungen  stets  verschiedene  Wertung 
geben  müssten ;  die  Grundlage  suchte  er  deshalb  in  der  Form.  Mit 
Recht  hebt  Löwenberg  hier  die  Zweiseitigkeit  des  Apriorischen  hervor 
(67).  Der  psychologische  Ausdruck  für  die  notwendigen  Voraussetzungen 
der  Erkenntnis  ist  der  Begriff  der  Synthese,  die  Äusserung  der  Einheit 
des  Bewusstseins ;  in  der  Ethik  wird  diese  Einheit  aber  zugleich  als  die 
Übereinstimmung  des  Individuums  mit  sich  selbst  real  bestimmt,  und  das 
ethische  Kriterium  des  allgemeingültigen  Gesetzes  wird  deshalb  rein  for- 
mell eben  die  Allgemeingültigkeit  des  Gesetzes,  die  Erhebung  der  Maxime 
des  Einzelnen  zu  einem  universellen  Gesetze  (22).  Dieser  Kantische  For- 
malismus, der  wieder  mit  Kants  scharfem  Dualismus  zwischen  Moral  und 
Natur  in  enger  Verbindung  steht,  hat  die  Geschichte  der  deutschen  Ethik 
stark  beeinflusst;  Verzweigungen  desselben  treffen  wir  bei  J.  G.  Fichte, 
Schleiermacher  und  Herbart  an. 

Gegen  Kant  stehen  hier  aber  zwei  weit  verschiedene  Eichtungen 
deren  Kritik  von  grossem  Interesse  ist.  Aufs  entschiedenste  hat  Hegel, 
darauf   aufmerksam    gemacht,   dass  Kants   Kriterium    ein    durchaus    unge- 


Recensionen  (Löwenberg).  195 

nügendes  ist  (Rechtslehre  §  13B).  Einen  Inhalt  habe  Kants  Ethik  prinzi- 
piell nur  durch  den  Begriff  der  „Würde  des  Menschen"  und  dadurch  er- 
langt, dass  die  Form,  homo  noumenon,  in  der  That  sozial  bestimmt  sei. 
In  seiner  Kritik  gerät  Hegel  aber  durch  eine  Verwechselung  der  Gesichts- 
punkte und  durch  sein  fortwährendes  Streben,  das  Objektive  gegen  den 
Einzelnen  und  gegen  die  Überzeugung  des  Einzelnen  zu  behaupten,  dahin, 
dass  er  auch  Kants  letztes,  unwiderlegliches  Prinzip  der  Ethik :  Nichts  ist 
gut  als  nur  der  gute  Wille  (Rechtslehre  §  140),  erschüttert.  Mit  Recht 
hielt  die  andere  Richtung  in  der  Geschichte  der  deutschen  Ethik,  die 
sich  gegen  Kants  Formalismus  kehrte,  an  diesem  wichtigen  Prinzipe  fest. 
Jacobi  verficht  die  Berechtigung  des  Gefühls  gegen  Kants  ethische 
Form,  die  strengen  Grundsätze,  und  in  enger  Verbindung  hiermit  die  Re- 
lativität, die  Bedeutung  der  individuellen  Verschiedenheiten,  und  im 
Gegensatz  zu  Kants  scharfem  Dualismus  zwischen  Moral  und  Natur  die 
Bedeutung  der  natürlichen  Moral  neben  der  durch  Kampf  erworbenen. 
Zu  Jacobis  Richtung  gehörte  Beneke  anfänglich,  und  mit  Recht  macht 
Löwenberg  darauf  aufmerksam,  wie  grosse  Impulse  Beneke  von  Jacobi 
erhalten  hat  (28 — 31).  Durch  die  „Physik  der  Sitten"  geht  das  fortwäh- 
rende Streben  —  im  Gegensatz  zu  Hegels  fast  gleichzeitiger  „Rechtslehre" 
—  dem  Einzelnen  sein  Recht  und  den  individuellen  Verschiedenheiten  ihre 
ethische  Berechtigung  zu  wahren.  Kein  anderer  ist  mit  solcher  Kraft  wie 
Kant  für  die  Persönlichkeit  des  Einzelnen  eingetreten,  die  metaphysische 
Voraussetzung  des  Kantischen  Persönlichkeitsbegriffes  war  aber  die,  dass 
die  einzelnen  Persönlichkeiten  sich  gleich  seien,  dass  der  Mensch  als  Ding 
an  sich  —  wie  dies  auch  in  der  theoretischen  Philosophie  die  Voraus- 
setzung für  das  Ding  an  sich  war  —  konstant  wirke.  Dass  die  Menschen, 
tiefinnerst  betrachtet,  dasselbe  wollten,  dass  das  Gewissen  oder  der  Ver- 
nunft-Wille sozial  bestimmt  sei,  war  die  stillschweigende  Voraussetzung 
für  Kants  ethische  Metaphysik,  und  von  diesem  Standpunkt  aus  stellte  er 
die  Überzeugung  des  Einzelnen  als  das  Höchste  auf,  übersah  dabei  aber, 
wie  unendlich  kompliziert  die  Natur  der  Menschen  ist,  wie  grosse  Berech- 
tigung die  individuellen  Verschiedenheiten  haben.  Kant  blieb  bei  den 
grossen,  typischen  Formen  stehen,  mit  Recht  behaupten  Jacobi  und  Beneke 
die  Berechtigung    der  unzähligen  Abweichitngen  innerhalb  dieser  Formen. 

Hier  hat  Löwenberg  (vgl.  35)  nun  nicht  bemerkt,  dass  gerade  diese 
Behauptung  —  wie  sonderbar  es  auch  aussehen  kann  —  Beneke  zum 
Kantischen  Formalismus  zurückführt,  natürlich  nicht  so,  wie  dieser  in 
Kants  definitiver  metaphysischer  Ethik  vorliegt,  nachdem  er  mit  dem 
scharfen  Dualismus  zwischen  Form  und  Stoff  in  Verbindung  gebracht  war, 
sondern  so,  wie  wir  ihn  im  zweiten  ethischen  Stadium,  wo  Kant  noch 
wesentlich  auf  dem  Boden  der  Erfahrung  steht,  finden,  hauptsächlich  re- 
präsentiert durch  das  Reickesche  Fragment  (Lose  Blätter  aus  Kants  Nach- 
lass  I,  6).  Von  den  individuellen  Verschiedenheiten,  den  streitigen  Ge- 
lüsten und  Neigimgen  aus  bezweifelt  Beneke  die  Möglichkeit  einer  objek- 
tiven Wertung,  weshalb  er  mit  dem  rein  formalen  Kriterium  endet :  gut 
ist,  was  mit  dem  Gewissen  übereinstimmt  („rein  durch  seine  Wertgebung 
bestimmt  zu  sein".  Physik  der  Sitten,  175,  211 — 2l2j.  Die  subjektive  Be- 
trachtung muss  notwendigerweise  zu  diesem  Prinzip  als  dem  letzten 
führen ;  was  nicht  aus  dem  Gewissen,  dem  Zentralen  des  Bewusstseins, 
entspringt,  das  ist  nicht  gut,  wie  seine  Wirkungen,  auch  werden  möchten, 
und  bei  jeder  Wertung  muss  die  Sanktion  des  Individuums  die  letzte 
werden.  Es  scheint  hier  auf  einem  Missverständnis  zu  beruhen,  wenn 
Löwenberg  polemisiert  gegen  „den  Rigorismus  der  Benekeschen  Ethik : 
dass  diese  nur  dann  ein  Handeln  als  sittlich  vollwertig  gelten  lässt,  wenn 
dasselbe  seinen  Grund  hat  in  dem  bleibenden  inneren  oder  unbewussten 
Seelensein  (45-48).  Das  Bedeutende  der  „Physik"  ist  —  ausser  der  ent- 
schiedenen Behauptung  der  empirischen  Methode  —  eben  die  Präzisierung 
des  Begriffes  „Wertgebung".  Jede  ethische  Wertung  muss  konsequent 
auf  den  Charakter,  das  Konstante  und  Bleibende  des  Bewusstseins  zurück- 

IS* 


196  Recensionen  (Löwenberg). 

führen.  Wir  beurteilen  eine  Handlung:  nur  als  Ausschlag  des  Charakters; 
dits  ist  kein  Rigorismus,  sondern  nur  die  Konsequenz,  zu  der  jede  psy- 
chologische Betrachtung  des  Ethischen  führen  inuss.  Eben  das  Verhalten 
zwischen  dem  Zentralen  und  dem  Peripheren  des  Bewusstseins  konnte 
mittels  der  quantitativ-psychologischen  Methode  Benekes  klar  präzisiert 
werden,  und  durch  seinen  Begriff  der  „Wertgebung"  erzielt  er  einen 
richtigeren  und  deutlicheren  Ausdruck  dessen,  was  Kant  durch  seinen 
Vernunft-Willen  hervorheben  wollte,  der  psychologisch  in  der  That  das- 
selbe ist  wie  „die  Spontaneität"  des  Reickeschen  Fragments  und  Avie  das 
von  der  modernen  Psychologie  jetzt  nur  das  Gewissen,  der  Charakter  oder 
die  ethische  Seite  der  „realen  Einheit"  des  Bewusstseins  (Höffding)  Ge- 
nannte. Von  seinen  Grundbegriffen  aus  bestimmt  Beneke  dies  als  „das 
den  grössten  Raum  Einnehmende";  eine  Psychologie,  die  nicht  so  viel  wie 
die  Benekesche  quantitative  Bilder  anwendet,  würde  diesen  vortrefflichen 
Ausdruck  übersetzen  durch:  die  Vorstellungen,  die  stärker  gefühlsbetont 
sind,  die  deshalb  stets  wieder  im  Bewusstsein  zum  Vorschein  kommen, 
und  mittels  deren  das  Individuum  sich  selbst  wiedererkennt.  Löwenberg 
hat  deswegen  auch  gewiss  unrecht,  wenn  er  einen  Unterschied  zwischen 
der  „Physik"  und  den  „Gnmdlinien"  darin  behaupten  will ,  dass 
die  Wertung  in  jener  „die  innere  That",  in  diesen  „die  bleibende  innere 
Gesinnung"  zum  Objekte  habe  (48j ;  die  „Wertgebung"  in  der  „Physik" 
ist  gerade  der  Ausdruck  für  „die  bleibende  innere  Gesinnung",  auf  die 
alle  Wertung  zurückzuführen  ist,  die  Beneke  aber  zugleich  einseitig  als 
das  einzige  Kriterium  des  Guten  aufstellt.  Die  rein  subjektiv-psycholo- 
gische Betrachtung,  die  mithin  nur  zum  formalen  Kriterium  des  Gewissens 
führen  kann,  ist  durch  eine  objektive  zu  ergänzen,  der  reale  Inhalt  des 
Gewissens  muss  bestimmt  werden.  In  der  „Physik"  gelang  dies  Beneke 
nicht,  weil  er  die  Relativität  so  stark  behauptete,  in  den  „Grundlinien" 
dagegen  präzisiert  er  diesen  Inhalt  klar  (^man  sehe  die  Beweisstellen  im 
Archiv  f.  Gesch.  d.  Philos.  XVI,  204—217,  vgl.  Jodl :  Geschichte  der  Ethik 
II,  549).  In  der  „Physik"  steht  Beneke,  von  Jacobi  beeinflusst,  ähnlicher- 
weise da  wie  Kant  im  Reickeschen  Fragment;  erst  unter  Benthams 
Einwirkung  gelangte  er  über  den  Formalismus  hinweg,  stellte  er  das  ob- 
jektive Prinzip  als  das  Wohlfahrtsprinzip  auf  und  kritisierte  nun  Kant  am 
entscheidenden  Punkte,  dem  Eudaimonismus.  Mit  Recht  erörtert  Löwen- 
berg den  Unterschied  zwischen  Benekes  und  Benthams  Ethik  (43  —  44), 
doch  glaube  ich,  dass  er  nicht  mit  genügender  Klai'heit  gewahrt  hat, 
welche  grosse  Bedeutung  Benthams  Einwirkung  für  Beneke  erhielt,  und 
dies  hängt  wieder  damit  zusammen,  dass  in  der  Darstellung  an  vielen 
Punkten  eine  schärfere  Entwickelung  der  prinzipiellen  Grundprobleme  der 
Ethik  zu  wünschen  gewesen  wäre. 

Es  ist  noch  ein  anderer  Grund  des  Formalismus  der  „Physik"  her- 
vorzuheben, nämlich  Benekes  eigentümliche  psychologische  Methode, 
und  schon  an  diesem  Punkte  wird  der  Unterschied  zwischen  ihm  und 
Bentham  ein  durchaus  entscheidender.  Benthams  Ausgangspunkt  und 
ganzes  Interesse  bewogen  ihn,  dem  Psychologischen  gar  zu  geringes  Ge- 
wicht beizulegen,  Beneke  wollte  thatsächlich  seine  ganze  Ethik  aus  dem 
Psychologischen  allein  konstruieren.  Einerseits  giebt  nun  die  quantitative 
Methode  in  der  Psychologie  in  gar  zu  grossem  Umfang  ganz  abstrakte 
Grundbegriffe,  die  als  leere  Schattenrisse  dastehen,  und  mit  denen  man 
bei  konkreten  psychologischen  und  ethischen  Untersuchungen  unmöglich 
operieren  kann,  anderseits  führt  Benekes  Sinn  für  individuelle  Verschieden- 
heiten, seine  Behauptung  der  Relativität  hiermit  im  Verein  zu  Unklar- 
heiten und  zu  einer  kasuistischen  Darstellung,  deren  grosse  Linien  sich 
nur  schwer  klar  ziehen  lassen.  In  seiner  Methode  ei'blickte  Beneke  aber 
nicht  nur  den  Weg  des  weiteren  Forschens,  sondern  auch  zugleich  einen 
Weg,  auf  dem  man  seiner  Meinung  nach  mit  derselben  Sicherheit  wie  in 
der  Mathematik  Schritt  für  Schritt  vorwärts  gelangen  könnte.  Kant 
unterschätzte   die   Psychologie    und   strebte   deshalb   über   die   Erfahrung 


Recensionen  (Löwenberg).  19« 

hinaus,  Beneke  überschätzt  auf  dem  Boden  der  Erfalirung  in  hohem 
Grade,  was  die  Psychologie  der  Ethik  zu  gewähren  vermag,  und  indem 
er  —  wie  Locke  'in  seiner  theologischen  Ethik  die  speziellen  Regeln 
mathematisch  deduzieren  zu  können  glaubte  —  die  Ansicht  hegte,  mittels 
seiner  Methode  zu  mathematischer  Gewissheit  gelangen  zu  können,  ent- 
ging es  seiner  Aufmerksamkeit,  dass  er  eigentlich,  von  einer  ganz  anderen 
Grundlage  als  der  von  Kant  benutzten  aus,  einen  ähnlichen  Fehler  begeht 
wie  dieser  selbst.  Trotz  seiner  Behauptung  der  individuellenV  erschiedenheiten 
erhielt  seine  Ethik  ebenso  wie  die  Kantische  an  vielen  Punkten  einen 
durchaus  abstrakten  und  formalen  Charakter.  Mit  Recht  hebt  Löwenberg 
hervor,  in  wne  hohem  Grade  Beneke  sein  psychologisches  System  über- 
schätzte, und  wie  wenig  seine  psychologische  Methode  in  der  Ethik  ge- 
nügte (15-18,  75—84). 

Mittels  seiner  psychologischen  Methode  glaubte  Beneke  eine  ratio- 
nale Ethik,  ein  allgemeingültiges  empirisches  System  erreichen  zu  können. 
Es  wäre  hier  ein  Anlass,  Kant  gewissermassen  zu  verteidigen,  insofern 
sich  sagen  lässt,  dass  dies  Beneke  nicht  gelang.  Kant  wollte  eine  objek- 
tive und  allgemeingültige  Ethik  und  verliess  darum  die  psychologische 
Begründung,  indem  er,  wie  Löwenberg  richtig  bemerkt  {8V,  in  weit 
höherem  Masse  als  Beneke  die  der  Psychologie  ihrer  Xatur  nach  anhaften- 
den Schwächen  erblickte.  Dass  er  selbst  der  Meinung  war,  von  seiner 
metaphysischen  Grundlage  aus  zu  einer  rationalen,  allgemeingültigen  Ethik 
gelangen  zu  können,  war  eine  Illusion;  ist  Benekes  empirische  Ethik  an 
diesem  Punkte  aber  eigentlich  viel  günstiger  gestellt  als  Kants  Ethik? 
Es  wird  sich  thatsächlich  ebenso  unmöglich  erweisen,  eine  rationale  Ethik 
zu  erzielen,  als  den  Punkt  des  Archimedes  zu  finden,  von  dem  man  die 
Erde  bewegen  könnte,  denn  jede  Wertung  wird  von  Menschen  angestellt, 
und  die  psychologische  Betrachtung  führt  gerade  zu  der  Begrenzung  der 
Ethik,  dass'  die  Überzeugung  des  einzelnen  Individuums  das  Letzte  werden 
mu''s.  Eine  Handlung  kann  dem  Gewissen  eines  Menschen  ^^^derstreiten, 
und  wird  dann  absolut  verdammt;  wer  aber  seinem  Gewissen  gehorcht, 
der  ist  ethisch  unwiderleglich;  jeder  Mensch  muss  von  seiner  eigentüm- 
lichen Grundlage,  von  seiner  eigenen  „Wertgebung"  aus  handeln  und 
werten.  Das  letzte  subjektive  Prinzip  der  Ethik,  die  Sanktion  des  Ge- 
wissens, bezeichnet  die  Grenze  der  Ethik.  Inkonsequent  ging  Beneke  in 
der  „Physik"  (siehe  z.  B.  214,  264)  über  diese  Grenze  hinaus,  wo  er  an 
einzelnen  Punkten,  im  Widerspruch  mit  einem  eigenen  Prinzip,  das  Ge- 
wissen selbst  ethisch  versteht.  Man  kann  aber  durch  eine  objektive 
Untersuchung,  nachdem  man  psychologisch  gewisse  Grundtendenzen  des 
Menschen  hervorgehoben  hat,  den  Ausdruck  dieser  Tendenzen  z.  B.  im 
Wohlfahrtsprinzipe  finden,  und  zu  bestimmen  suchen,  was  man  die  ethische 
Idee  und  deren  Stellung  zur  Wirklichkeit  nennen  könnte.  Sehr  richtig 
behauptet  Beneke  in  den  „Grundlinien",  wo  auch  das  Objektive  anzutreffen 
ist,  ich  könne  das  allgemeine  Wohl  fördern,  ohne  mir  der  Tendenz  oder 
der  Idee  der  Handlung  bewusst  zu  sein  (Löwenberg,  49);  es  muss  ausser 
dem  subjektiven  Gesichtspunkte  also  noch  einen  anderen  geben.  Diesen 
Gesichtspunkt,  dessen  die  „Physik"  ermangelte,  präzisiert  Beneke  in  den 
, .Grundlinien",  ohne  ihn  jedoch  mit  seinem  Ausgangspunkte  recht  in  Har- 
monie bringen  zu  können,  wiewohl  er  glaubt,  in  seinen  5  ethischen  Kate- 
gorien gerade  das  allen  Menschen  gemeinschaftliche  Psychologische  ge- 
funden zu  haben.  Die  Schuld  hieran  ist  in  Benekes  engem  individual- 
psychologischem Standpunkte  zu  suchen;  die  genauere  Untersuchung  des 
objektiven  Prinzips  muss  mittels  der  geschichtlichen  Methode  ge- 
schehen, namentlich  durch  die  Entwickelung  des  Rechtes  und  der  öffent- 
lichen „Moral".  An  diesem  Punkte  hätte  Beneke  noch  mehr  lernen  können, 
nicht  nur  von  Bentham,  sondern  auch  von  Kant  und  Hegel.  Von 
Benekes  Mängeln  abgesehen,  wird  eine  rationale,  allgemeingültige  Ethik 
jedoch  nie  auf  dem  Wege  der  Erfahrung  —  ebensowenig  wie  auf  irgend 
einem   anderen  Wege  —  zu   erreichen   sein.     Die  psychologische  Analyse 


198  Recensioneii  (Löwenberg). 

kann  vielleicht  irgend  eine  —  mehr  oder  weniger  bewusste  —  Tendenz 
nachweisen,  die  objektive  Analyse  vermag  vielleicht  zu  zeigen,  dass  diese 
Tendenz  im  Laufe  der  Zeiten  stärker  geworden  ist,  dass  die  ethische  Idee 
grössere  Klarheit  erlangt  hat,  —  dennoch  liegt  die  Grenze  immer  im  Ge- 
wissen des  Einzelnen,  dennoch  muss  in  letzter  Instanz  die  Sanktion  des 
Einzelnen  das  Entscheidende  werden;  was  nun  auch  immer  in  der  Welt 
wirklich  werden  mag,  so  muss  doch  stets  jeder  einzelne  Mensch  für  sich 
entscheiden,  ob  dieses  Wirkliche  denn  aucli  vernünftig  ist.  Etwas  muss 
den  Menschen  gemeinschaftlich  sein,  sonst  wäre  keine  objektive  Ethik 
möglich ;  und  dennoch  —  so  viele  Menschen,  so  viele  Wertgebungen ;  nur 
wenn  alle  Menschen  sich  gleich  wären,  und  es  sich  beweisen  liesse,  dass 
sie  sich  fortwährend  gleich  blieben,  würde  eine  rationale,  allgemeingültige 
Ethik  möglich  sein.  Eine  solche  konnte  Kant  aufstellen,  weil  er  glaubte, 
auf  metaphysischem  Wege  zu  diesem  Gemeinschaftlichen  und  Allgemein- 
gültigen gelangt  zu  sein,  einen  Ausdruck  für  homo  noumenon  gefunden 
zu  haben,  für  das  Absolute  des  Menschen,  das  über  alle  Relativität  er- 
haben sei ;  Beneke  hat  aber  nicht  die  grosse  Begrenzung  erblickt,  die  sein 
empirischer  Standpunkt  hier  herbeiführen  musste. 

Hiermit  in  Verbindung  möchte  ich  einen  anderen  Punkt  in  Benekes 
Beziehung  zu  Kant  hervorheben,  auf  den  Löwenberg  sich  nicht  näher  ein- 
gelassen hat,  nämlich  den  tiefen  persönlichen  Unterschied  inbetreff  der 
ethischen  Grundanschauung  der  beiden  Forscher.  Im  homo  noumenon 
fand  Kant  das  Gemeinschaftliche  und  Allgemeingültige;  der  Grund,  weshalb 
er  dieses  behauptet,  liegt  aber  gewiss  zuguterletzt,  was  auch  die  nähere 
Ausführung  seines  ethischen  Systems  zeigt,  in  seinem  tiefen  Drange,  die 
Persönlichkeit  zu  behaupten,  für  Menschenwert  und  Menschenrecht  zu 
kämpfen.  Darin  besteht  Kants  Grösse,  dass  er  trotz  aller  Metaphysik  be- 
hauptete, der  Einzelne  sei  das  Letzte,  dass  er  den  letzten  und  einzigen 
Wert  in  dem  guten  Willen  fand.  Hinter  Kants  scharfem  Dualismus, 
zwischen  Moral  und  Natur  liegt  ein  tiefer  ethischer  Gedanke;  Kant  über- 
sah den  Einzelnen  nicht;  als  ,, empirischer  Pessimist"  erblickte  er  die 
Werte  als  im  Leben  kämpfend,  die  Moral  des  Einzelnen  als  durch  Kampf 
errungen  —  oft,  indem  alles  geopfert  wird.  Trotz  der  Postulate  der  Re- 
ligionsphilosophie, die  thatsächlich  mit  dem  kategorischen  Imperativ  im 
Widerspruch  stehen,  glaube  ich,  dass  dieser  Gegensatz  zwischen  Ideal  und 
Wirklichkeit,  zwischen  dem  Kampfe  des  Einzelnen  und  dem  Laufe  der 
Welt  das  Grösste  und  Tiefste  in  Kants  Ethik  bezeichnet.  Darin,  dass  der 
einzelne  Mensch  trotz  aller  und  allem,  das,  was  er  für  recht  hält,  zu  be- 
haupten und  verfechten  wagt,  sah  Kant  den  ewigen  Adelsbrief  des 
Menschengeschlechtes.  Nur  wenige  haben  hier  Kant  so  gut  verstanden 
und  seine  Ethik  auf  so  grossartige  Weise  weiter  geführt  wie  J.  G. 
Fichte.  Hegel  gelangte  erst,  nachdem  er  in  allen  Akten  seines  grossen 
Dramas  ,,Die  Phänomenologie  des  Geistes"  den  Einzelnen  und  dessen 
Recht  vernichtet  hatte,  zu  seiner  stolzen  Proklamation : 

„Was  vernünftig  ist,  das  ist  wirklich; 
und  was  wirklich  ist,  das  ist  vernünftig." 

Gerade  Beneke  gegenüber  liegt  an  diesem  Punkte  ein  Grund  vor,  das 
Grosse  der  Kantischen  Ethik  hervorzuheben.  Mit  Recht  kritisierte  Beneke 
Kants  Sonderung  zwischen  Moral  und  Natur,  er  legte  aber  keinen  ge- 
nügenden Nachdruck  darauf,  dass  die  Moral  nur  durch  Kampf  zu  erringen 
ist  (vgl.  Löwenberg  28),  er  sah  den  tiefen  Grundgedanken  nicht,  der  hinter 
Kants  Dualismus  liegt,  und  er  hat  nicht  verstanden,  dass  der  kategorische 
Imperativ  und  die  Freiheit  bei  Kant  ein  —  in  seiner  Form  freilich  unge- 
eigneter —  Ausdruck  für  das  Recht  des  Einzelnen  und  ein  Versuch  waren, 
die  Unabhängigkeit  des  Einzelnen  von  allem  Äusseren  zu  behaupten. 
Trotz  seiner  Behauptung  der  Relativität  war  Beneke  geneigt,  ebenso  wie 
Shaftesbury,  Hutcheson  und  Hume  —  denen  er  in  den  „Grund- 
linien" an  vielen  Punkten  nahe  steht  —  eine  gar  zu  grosse  Harmonie  der 
Natur   mit   der   Moral   herzustellen.    Wie   kein  anderer  hatte  Kant  Blick 


Recensionen  (Löwenberg).  199 

für  den  grossen  Konflikt  des  Lebens,  während  die  Engländer  und  Beneke 
oft  zu  sehr  bei  den  kleineren  Konflikten  im  Leben  verweilten.  Wegen 
ihrer  Behauptung  dieser  Hai'monie,  wegen  ihi'es  ethischen  Ideals,  der 
Hannonie  unter  den  verschiedenen  Affekten  (Physik  S.  168),  steht  Benekes 
Ethik,  wie  Löwenberg  ganz  recht  andeutet  (43),  an  vielen  Punkten  der 
griechischen  nahe.  Hier  steht  Beneke  allerdings  Bentham  fern,  aber 
Shaftesbury  und  Hume  um  so  näher. 

Es  macht  sich  in  Löwenbergs  Schrift  überhaupt  der  Mangel  einer 
deutlicheren  Schilderung  des  geschichtlichen  Hintergrundes  etwas  fühlbar ; 
viele  prinzipielle  Fragen  würden  sonst  klarer  hervorgetreten  sein ;  vielleicht 
wären  auch  mehrere  Eigentümlichkeiten  der  Benekeschen  Ethik  mehr  zu 
ihrem  Rechte  gelangt.  In  Benekes  Verhalten  zu  Kant  verzweigen  sich 
die  Fäden  weit  mehr,  als  Löwenberg  meines  Erachtens  es  gewahrt  hat. 
Obgleich  Beneke  in  seiner  Ethik  gewissermassen  stets  wieder  zu  Kant 
zurückkehrt,  indem  er  dessen  strenge  kritische  Methode  gegen  Kants 
eigene  Ethik  in  Anwendung  bringen  wiU,  und  obgleich  er  die  Romantik 
eigentlich  nur  als  eine  Richtung  Kantischer  Epigonen  betrachtet,  die  mit- 
getroffen werden,  wenn  er  Kant  trifft,  die  sich  sonst  aber  von  Kants 
richtigen  Gedanken  so  weit  entfernt  hätten,  dass  sie  keiner  erheblichen 
Polemik  wert  seien,  glaube  ich  doch,  dass  es  an  mehreren  Punkten  mehr 
Licht  über  Benekes  Verhalten  zu  Kant  verbreitet  haben  Avürde,  wenn 
Löwenberg  Benekes  Beziehung  zur  Romantik  mit  in  seine  Untersuchung 
hineingezogen  hätte.  Besonders  die  Ähnlichkeit  zwischen  Beneke  und 
Schopenhauer  ist  geschichtlich  interessant.  Zugleich  würde  dies  Beneke 
den  Hintergrund  verleihen,  der  ihm  gebührt,  um  das  Grosse  sowohl  seiner 
Lehre  als  seiner  Persönlichkeit  klar  zum  Vorschein  zu  bringen.  Benekes 
Grösse  wird  sich  als  mit  seiner  Begrenzung  eng  zusammenhängend  er- 
weisen. In  der  Geschichte  der  deutschen  Philosophie  ist  seine  Ethik 
eigentlich  die  der  englischen  am  nächsten  stehende  —  selbst  wegen  der 
Breite  ihrer  Form.  Beneke  bildet  das  bedeutungsvolle  Bindeglied  zwischen 
der  deutschen  und  der  englischen  Ethik,  er  hat  es  wie  wenige  andere 
verstanden,  von  beiden  Seiten  wertvolle  Gedanken  aufzunehmen,  und  er 
steht  da  als  der  erste  Vertreter  der  rein  positiven  Ethik  in  Deutschland 
seit  Kant.  Es  trug  zu  Benekes  Grösse  bei,  dass  seine  Thätigkeit  in  jene 
Zeit  fällt;  es  wurde  seine  Aufgabe,  für  die  objektive,  streng  wissenschaft- 
liche Betrachtung  in  der  Philosophie  einzutreten  gegen  die  von  den 
grossen  Persönlichkeiten  getragenen  genialen  Dichtungen,  gegen  die 
Kunst  der  Philosophie  bei  den  Heroen  der  Romantik.  Der  Weg,  den 
Beneke  zeigte,  wurde  der  Weg,  den  die  vielen  einschlagen  mussten ; 
die  Einzelnen,  die  Grossen  der  Romantik,  wagten  es,  den  Himmel  selbst 
zu  stürmen ;  auch  diesen  Geringeren,  wiewohl  augenblicklich  weniger  Be- 
achteten, die  sich  an  der  Erde  halten  und  hier  der  Wissenschaft  den  Weg 
zu  bahnen  suchen,  kommt  aber  auch  eine  Bedeutung  zu.  Schopenhauer 
nennt  Beneke  verächtlich  „einen  armen  empirischen  Teufel",  und  doch  ist 
es  gerade  dessen  grosses  Werk,  dass  er  trotz  Verhöhnung  und  Nicht- 
achtung unerschütterlich  daran  festhielt,  dass  der  Weg  der  Erfahrung  in 
der  Wissenschaft  der  einzige  sichere  ist.  Den  Weg,  den  jetzt  aUe  Psy- 
chologen und  Ethiker  betreten,  behauptete  Beneke  wider  die  herrschende, 
romantische  Richtung  der  damaligen  Zeit;  seine  unbestechliche  Redlichkeit 
und  Treue  in  diesem  Kampfe  verleihen  seinen  Werken  ihr  grosses  ge- 
schichtliches Interesse  und  umgeben  zugleich  sein  Leben  mit  einem 
tragischen  Schimmer.  In  seinem  Kampfe  stand  Beneke  da  als  ein  ein- 
samer Mann,  als  Feind  der  mächtigen  Hegeischen  Schule,  von  Altenstein 
der  venia  legendi  beraubt,  von  den  Herbartianern  des  Plagiats  bezichtigt, 
von  Schopenhauer  auf  ungerechteste  Weise  verhöhnt.  Während  der 
Blütezeit  des  Hegelianismus  erlitt  er  dasselbe  Schicksal  wie  Schopenhauer ; 
letzterer  sah  aber  in  seinem  hohen  Alter  die  Frucht  seines  Lebenswerkes 
reifen  und  genoss  eines  Weltrufes,  während  Beneke  der  einsame,  unbe- 
achtete Forscher  blieb,  der  jedoch  der  Wissenschaft   alles   opferte  und  im 


200  Recensionen  (Boucher). 

Glauben  an  das  Recht  seiner  Sache  unverdrossen  weiter  kämpfte,  bis  der 
Missmut  schliesslich  seine  optimistische,  arbeitsame  Natur  überwältigte. 
Wie  Benekes  Philosophie,  besass  auch  seine  Persönlichkeit  die  grosse 
Eigenschaft,  dass  es  ihr  nur  auf  die  Sache,  nie  auf  die  Person  ankam. 
Was  in  seiner  Wissenschaft  zum  streng  sachlichen  Verfahren  wurde,  war 
schliesslich  in  seinem  innersten  Wesen  begründet,  in  der  Persönlichkeit, 
für  die  stets  nur  die  Sache,  nie  aber  sie  selbst  das  Ziel  war,  und  die  sogar 
stets  zu  vermeiden  suchte,  was  eigentümlich  und  persönlich  sein  könnte. 
Hier  liegt,  nun  auch  seine  Begrenzung;  obschon  wenige  andere  die  indivi- 
duellen Eigentümlichkeiten  so  kräftig  verfochten  haben  wie  gerade  er, 
erhält  seine  nähere  Entwickelung  eben  hierdurch  ein  abstraktes  und  un- 
persönliches Gepräge,  und  dies  miisste  auch  seiner  Stellung  zur  Romantik 
seine  Farbe  geben.  Seine  Einseitigkeit  in  dieser  Beziehung  tritt  am 
klarsten  vielleicht  in  seiner  Beurteilung  J.  G.  Fichtes  hervor  (vgl.  Gram- 
zow  S.  78 — 83);  von  Benekes  Standpunkt  aus  erscheint  Fichtes  gewaltige 
Persönlichkeit  als  ein  Usurpator,  der  in  der  Philosophie  nur  das :  Sic  volo, 
sie  jubeo !  seines  eigenen  Ich  setzte.  Er  sah  nicht,  dass  das  Tiefinnerste 
dieser  Persönlichkeit  die  Liebe  zur  Sache  war,  die  Sache,  die  im  eigent- 
lichsten Sinne  ein  Teil  der  Persönlichkeit  geworden  war.  So  wie  es  ihm 
oft  auch  in  seiner  Polemik  gegen  Kant  erging,  zerbrach  er  die  Schalen  — 
und  zwar  gründlich,  —  Hess  mitunter  aber  die  Kerne  liegen.  Trotz  alle- 
dem wird  Beneke  aber  noch  bei  weitem  nicht  hinlänglich  geschätzt,  und 
es  ist  deshalb  jede  Schrift  über  ihn  mit  Freuden  zu  begrüssen,  die  wie 
die  vorliegende  allen  Parteien  ihr  Recht  wiederfahren  zu  lassen  sucht, 
denn  gerade  dies  ist  ganz  im  Sinne  Benekes,  und  gerade  hierdurch  wird 
ihm  am  sichersten  der  Platz  angewiesen,  der  ilim  gebührt.  Schliesslich 
erwähne  ich  nur  zwei  untergeordnete  Punkte  in  Löwenbergs  Schrift,  die 
mir  hier  kritische  Erinnerung  zu  verdienen  scheinen,  weil  sie  Kant  be- 
treffen. Kants  spätere  Stellung  zum  Eudaimonismus  betrachtet  Löwenberg 
als  die  eines  Renegaten,  der  am  leidenschaftlichsten  bekämpft,  was  einst 
seine  Überzeugung  war  (59).  Diese  Auffassung  beruht  auf  ungenügender 
Kenntnis  der  interessanten  Entwickelung  der  Kantischen  Ethik,  in  welcher 
durch  alle  Stadien  hindurch  ein  enger  innerer  Zusammenhang  der  Grund- 
gedanken sich  nachweisen  lässt.  Löwenberg  hat,  wie  hervorgehoben,  an 
vielen  Punkten  mit  Recht  Beneke  kritisiert,  ich  möchte  aber  entschieden 
behaupten,  dass  Beneke  in  der  Frage  nach  dem  Verhalten  des  homo  nou- 
menon  zur  Kausalitätskategorie  gegen  Kant  und  Löwenberg  (88—89)  recht 
hat.  Eine  genauere  Untersuchung  von  Benekes  Kritik  der  Kantischen 
Erkenntnistheorie  ist  eine  Aufgabe,  die  an  vielen  Punkten  grosses  Inter- 
esse darbieten  würde. 

Kopenhagen.  Anton  Thomsen. 

Boucher,  M.     Essai  sur  l'hyperespace ,    le  temps,  la  matifere 
et  r^nergie.     Paris,  F.  Alcan.     1903. 

Wenn  eine  Lehre  dadurch  an  Richtigkeit  gewinnen  könnte  dass 
man  sie  recht  oft  wiederholt  und  sie  in  recht  vielen  Schriften,  be- 
handelt, so  müssten  die  Gespinnste  des  „Überraumes",  der  Nicht-Euklidi- 
schen Raumformen  bereits  zu  dem  sichersten  Bestände  unserer  Erkenntnis 
gehören.  Leider  steht  die  grosse  Zahl  populärer  und  philosophischer  Auf- 
sätze (von  den  speziell  mathematischen  sehe  ich  natürlich  ab)  über  die 
Pangeometrie  nicht  im  Einklang  mit  der  recht  geringen  Produktion  neuer 
Gedanken,  so  dass  man  immer  noch  auf  Gauss,  Riemann  und  Helmholtz 
hinweisen  muss  als  diejenigen,  welche  dem  neuen  Gebäude  den  philoso- 
phischen Grund  zu  geben  versuchten.  Zwar  hat  die  Psychologie  teilneh- 
mend die  gestellten  Fragen  angehört  und  scheinbar  günstige  Antwort  ge- 
geben ;  prüft  man  aber  näher,  so  bemerkt  man,  dass  sie  es  vorsichtig  ver- 
meidet, den  wunden  Punkt  zu  berühren,  dass  die  Hauptentscheidung  nicht 
in  ihrer  Macht  steht.  Sie  erzählt  uns  sehr  viel  Schönes  von  den  räum- 
lichen Vorstellungen  und  deren  Entstehung,  aber  nichts  über  den  Raum" 
begriff,   welcher   der  Geometrie   zu   Grunde   liegt,   sie  beschreibt  uns  da^ 


Recensionen  (Boucher).  201 

subjektive  Erlebnis,  verschweigt  uns  aber  seinen  objektiven  Sinn.  Daran 
thut  sie  recht.  Der  Mathematiker  aber  thäte  unrecht,  ihren  Worten  als 
einem  Evangelium  zu  lauschen  und  sich  der  wahren  und  einzigen  Schieds- 
richterin, der  Erkenntniskritik;  hartnäckig  zu  entziehen.  Fast  gar  nichts 
ist  von  Seiten  unserer  Pangeometer  gethan,  was  auf  ein  Bemühen  schliessen 
Hesse,  mit  der  Philosophie  in  Berührung  zu  treten.  Sie  haben  ihre  eigene 
Philosophie,  welche  mit  Kant  in  drei  bis  vier  Sätzen  fertig  wird  und  das 
Wort  „Erfahrung"  hätschelt. 

Die  vorliegende  Schrift  zeigt  das  Bemühen,  an  diesem  Verhältnis 
etwas  zu  ändern  und  die  Bestrebungen  Helmholtz'  wieder  aufzunehmen.  Ich 
habe  sie  als  das  angesehen,  was  der  Titel  sagt:  als  einen  Essai.  Es  ist 
kein  in  die  Tiefe  gehendes  Werk,  wenn  wir  auch  mitunter  treffliche,  ori- 
ginale Gedanken  auffinden.  Man  kann  es  als  durchaus  populär  bezeichnen. 
Dadurch  vermag  es  sich  aber  ein  Verdienst  um  alle  Philosophen  zu  er- 
werben, welche,  mathematisch  nicht  übermässig  geschult,  gleichwohl  gern 
einen  Blick  in  die  Gedankenwelt  der  modernen  mathematischen  Forschung 
werfen  würden,  um  sich  mit  eigenem  Verstände  zu  überzeugen,  ob  Kant 
durch  die  exakte  Wissenschaft  wirklich  schon  so  weit  überwunden  ist,  wie 
es  manchmal  den  Anschein  hat. 

Der  Hauptgegenstand  der  Schrift  ist  nach  des  Verfassers  eigenen 
Worten  die  Darstellung  und  Verteidigung  der  mehrdimensionalen  Geo- 
metrie. Die  vierte  Dimension  vornehmlich  dem  Verständnis  der  Gebildeten 
näher  zu  bringen,  damit  wir  in  ihr  eine  Hypothese  erkennen  sollen,  welche 
vielen  anderen  gleichberechtigt  ist,  das  lässt  sich  der  Verfasser  mit  grossem 
Eifer  angelegen  sein.  Alles  andere,  die  Behandlung  der  Zeit,  Materie  und 
Energie,  ist  daneben  von  keiner  selbständigen  Bedeutung,  sondern  nur 
Mittel  zum  Zweck.  In  mehreren  Abschnitten  führt  uns  der  Verfasser 
durch  die  Grundlagen  der  Geometrie  und  Physik,  immer  den  Blick  auf 
das  Ziel  gerichtet,  bei  jeder  Gelegenheit  wird  es  uns  gleichsam  als  eine 
Anwendung  der  vorgebrachten  Gedanken  gewiesen.  In  dem  letzten  Teile 
tritt  dann  die  vierte  Dimension  in  ihrem  Verhältnis  zur  Geometrie  und 
Natur  in  den  Vordergrund.  Hier  finden  wir  die  Darstellung  einer  Welt 
von  zwei  Dimensionen,  welche  Gauss  zuerst  erdacht,  Helmholtz  flüchtig 
skizziert  hatte,  ferner  einen  interessanten  Versuch,  Naturerscheinungen  durch 
die  Hypothese  einer  vierten  Dimension  zu  „erklären";  einen  Bericht  über  die 
bezüglichen  mathematischen  Forschungen,  soweit  sie  wichtig  sind,  eine  An- 
weisung, sich  die  ungewohnten  Vorstellungen  durch  Mittel  der  Kombination 
anschaulich  zu  machen.  Im  Anhange  befindet  sich  eine  elementare,  leicht 
fassliche  Entwickelung  der  regulären  Formen  höherer  Räume.  Alles,  wie 
schon  erwähnt,  in  nicht  allzu  originaler  Auffassung,  sondern  immer  hübsch 
durchwoben  von  den  Gedanken  der  Zeitgenossen,  darum  geeignet,  ein  Bild 
von  der  viel  beachteten  Lehre  zu  geben.  Das  Studium  des  Buches  wird 
zur  Kenntnis  führen,  wenn  auch  nicht  immer  zur  Erkenntnis. 

Es  ist  interessant,  zu  sehen,  auf  wie  verschiedene  Weise  man  die 
Pangeometrie  zu  verteidigen  sucht.  Die  einen  flüchten  sich  in  den  unbe- 
stimmten Bereich,  welchen  das  Wort  Erfahrung  bezeichnet,  andere  wieder- 
um erklären  den  Sinnen  ihr  Misstrauen,  um  sich  zum  mehrdimensionalen 
Raum  erheben  zu  können  So  sehr  sich  beides  zu  widerstreben  scheint,  so 
sehr  geht  es  doch  Hand  in  Hand:  die  Erfahrung  soll  uns  über  die  wirklich 
vorhandene  Raumform  aufklären,  die  Abstraktion  die  Möglichkeit  ver- 
schiedener nahe  legen.  Auf  diese  Weise  werden  Geometrie  und  Physik 
in  dasselbe  Fach  gezwungen.  Unser  Scliriftsteller  betont  die  ausgedehnte 
Macht  des  Verstandes  gegenüber  der  armseligen  Beschränktheit  unserer 
Sinne.  Durch  sinnliche  Wahrnehmung  seien  wir  nicht  auf  Atome  und 
Äther  gestossen,  der  Verstand  stelle  Hypothesen  auf,  um  die  Naturvor- 
gänge zu  begreifen.  Der  Gesichtspunkt,  nach  dem  wir  die  Hypothesen 
bilden,  sei  nicht  immer  der  der  Allgemeinheit  und  Widerspruclislosigkeit, 
sondern  der  der  Bequemlichkeit.  Hypothesen  seien  ja  nie  absolut  sicher. 
Es  ist  indes  fraglich,   ob  man  sie  alle  für  wesensgleich  halten  darf.     Auch 


202  Recensionen  (Boucher). 

die  Grundg'esetze  unserer  Physik  könnte  man  in  gewissem  Sinne  Hypo- 
thesen nennen,  da  das  Experiment  doch  immer  nur  annähernde  Ricliti;^:- 
keit  zu  erweisen  vermag.  Indem  wir  dieselben  zu  Gesetzen  erheben, 
geben  wir  der  Physik  schon  Form  und  Methode,  erteilen  wir  ihr  eine 
Aufgabe :  alle  merklichen  Abweichungen  auf  andere  Ursachen  zurück- 
zuführen. 

Die  Aufgabe  der  Philosophie  ist  es  nach  B.,  der  Wissenschaft  nach- 
zugehen, damit  sie  sich  nicht  mit  Vergeblichem  abmüht  und  in  Wider- 
spruch mit  sich  selbst  gerät.  Was  ist  denn  dies  für  eine  Aufgabe,  welche 
die  Wissenschaft  ihr  zur  Nachlese  überlässt?  Ich  meine,  dass  gerade  der 
philosophische  Geist  der  Spekulation  erst  den  Fortschritt  der  Wissenschaft 
möglich  macht.  Der  Gedanke  folgt  nicht  dem  Experiment,  sondern  ordnet 
dasselbe  an.  So  wahr  jedes  Instrument  einem  bestimmten  Zwecke  dient, 
so  wahr  leitet  erst  die  Hypothese  zur  rechten  Erfahrung. 

Um  die  Auffassung  der  Pangeometer  beurteilen  zu  können,  ist 
es  wichtig,  sich  über  die  Methode  der  mathematischen  Naturwissenschaft 
klar  zu  werden.  Denn  sie  sehen  seit  Gauss  die  Geometrie  gar  zu  gern 
als  einen  Teil  der  Mechanik  an.  Darum  geht  auch  B.  auf  die  Methode 
der  Physik  ein,  darum  lesen  wir  neben  Überraum  auch  Zeit,  Materie, 
Energie  im  Titel  des  Werkes.  Überall  tritt  dies  Bestreben  zu  Tage.  So 
heisst  es  an  einer  Stelle,  eins  der  besten  Mittel  zur  Erweiterung  unserer 
Erkenntnis  sei  „de  mettre  en  doute  tout  ce  qui  peut  nous  sembler  limite, 
d'une  mani^re  arbitraire  ou  irrationelle,  dans  le  domaine  de  nos  connais- 
sances".  Ein  merkwürdiger  Einfall!  Als  ehemalige  oder  künftige  Opfer 
dieses  Zweifels  werden  aufgeführt  die  Permanenz  der  G^ise,  die  Zahl  der 
Aggregatzustände  und  ■ —  die  Zahl  der  Dimensionen  des  Raumes.  An 
einer  anderen  Stelle  wird  für  die  vierte  Dimension  aus  demselben  Grunde 
Anerkennung  gefordert,  wie  für  Atom-  und  Äthertheorie :  weil  sie  eben- 
falls ein  bequemes  Mittel  zur  Erklärung  gewisser  Naturerscheinungen  sei. 

B.  hat  sicherlich  zu  einem  eingehenden  Studium  Kants  keine  rechte 
Anleitung  gehabt.  Er  betrachtet  ihn  durch  die  bekannte  Helmholtz-Brille, 
welche  sich  bei  den  Mathematikern  immer  noch  grosser  Beliebtheit  er- 
freut. Kants  Haupteinwurf  gegen  die  Realität  des  Raumes  sei  der,  dass 
er  sonst  Substanz  oder  Attribut  sein  müsse.  Indessen  sei  die  Definition 
der  Substanz  recht  unklar  und  unvollständig.  Hier  hat  vermutlich  Stallos 
scharfsinnige  Kritik  Einfluss  gehabt,  welcher  den  Pangeometern  Verding- 
lichung  des  Raumes  vorwirft,  so  dass  nunmehr  alles  entweder  Raum  oder 
Materie  heissen  müsse.  (Man  vgl.  Stallo,  die  Begriffe  und  Theorieen  der 
modernen  Physik.)  B.  glaubt,  sie  wohl  durch  seinen  Einwand  abgethan 
zu  haben. 

Wenn  sich  B.  durch  Annahme  der  Realität  des  Raumes  in  Gegen- 
satz ziuTi  „Idealismus"  Kants  stellt,  so  zeigt  er  leider  nur  mangelnde 
Kenntnis  der  Kantischen  Philosophie.  Kant  verneint  nicht  die  sinn- 
liche Realität,  sondern  nur  die  übersinnliche.  Immerhin  ist  dieser 
Irrtum  für  einen  Anhänger  der  physiologischen  Theorie  erklärlich.  Da 
heisst  es,  die  Art  unserer  Raumvorstellung  hänge  von  unserer  Organisation 
ab,  der  Raum  könne  noch  viele  Eigenschaften  besitzen,  deren  Kenntnis 
uns  versagt  ist.  Hier  haben  wir  in  der  That  eine  „Verdinglichung  des 
Raumes".  So  muss  man  den  Raum  betrachten,  um  überhaupt  zu  der  Frage 
zu  kommen:  Kann  er  nicht  mehr  als  drei  Dimensionen  haben?  Wie 
sollen  wir  aber  dann  seine  weiteren  Eigenschaften  kennen  lernen  ?  Auf 
dem  Wege  der  Abstraktion,  antwortet  B.  Er  gerät  durch  diesen  Schluss 
in  eine  merkwürdige  Lage:  Er  sieht  den  Raum  als  ein  Unbekanntes  an 
und  will  ihn  dennoch  ohne  Erfahrung  durch  Abstraktion  erforschen.  Er 
beschreibt  Gebiete,  die  er  niemals  durchwanderte.  Da  hilft  auch  der 
Einwand  nicht,  dass  der  vierdimensionale  Raum  nur  eine  Hypothese  sein 
solle.  Er  konstruiert  ihn  vor,  zeigt  die  Erzeugung  der  regulären  Formen 
in  ihm.  Wie  aus  dem  Quadrat  durch  Bewegung  in  der  dritten  Dimension 
der  Würfel  entsteht,  so  soll  aus  diesem  durch  Bewegung  nach  der  vierten 


Recensioneu  (Boucher).  203 

Dimension  der  Körper  a*  hervorgehen.  Allein  durch  Analogie  mit  dem 
dreidimensionalen  Räume  kommt  er  zur  Kenntnis  dieser  Gesetzlichkeit. 
Wäre  eine  derartige  Erweiterung  bei  etwas  anderem,  als  dem  Räume  mög- 
lich, eine  gänzliche  Änderung  des  Wesens  und  dennoch  ein  völliger 
Einblick  ? 

In  derThat  ist  ja  das,  was  uns  der  Mathematiker  liefert,  kein  neuer  Raum, 
sondern  die  imaginäre  Fortsetzung  der  Operationen  der  Konstruktion,  welche 
sich  nur  analytisch,  nicht  anschaulich  streng  darstellen  lässt.  Die  Gebilde 
höherer  Räume  sind  nichts  als  Namen  für  gewisse  analytische  Ausdrücke, 
deren  Berechtigung  in  der  Analogie  mit  den  analytischen  Ausdrücken  der 
Formen  unseres  Raumes  zu  suchen  wäre.  Riemann  hat  in  seiner  berühm- 
ten Abhandlung  nicht  den  Überraum  entdeckt,  sondern  nur  die  Beding- 
ungen festgestellt,  unter  denen  sich  analytische  Ausdrücke  rein  geometrisch 
deuten  lassen.  Die  dadurch  gelieferte  Definition  unseres  Raumbegriffs  ist 
das  wahre  Verdienst  seiner  Schrift. 

Nun  versucht  allerdings  B.  in  einem  ganzen  Kapitel  die  Brauchbar- 
keit der  Hypothese  der  vierten  Dimension  darzuthun.  Sie  tritt  ein  als 
Ersatz  für  die  Hypothese  des  Äthers,  erklärt  die  Gravitation  u.  s.  w. 
Man  dürfe  nicht  einwenden,  dass  die  vierte  Dimension  über  die  sinnliche 
Erfahrung  hinausgehe.  Unsere  Sinne  versagen  uns  auch  jede  Kenntnis 
des  Äthers  und  der  Atome,  selbst  des  Magnetismus  und  der  Elektricität ; 
wollen  wir  sie  deshalb  aufgeben? 

B.  kennt  die  Lehre  NeM'tons  vom  absoluten  Räume.  Er  erwähnt, 
dass  Kant  die  Notwendigkeit  des  absoluten  Raumes  zur  Lösung  des  Sym- 
metrieproblemes  betonte.  Gleichwohl  ist  er,  wie  viele  andere,  auf  die 
wahre  Bedeutung  nicht  gekommen.  Der  absolute  Raum  ist  das,  was  Kant 
Form  der  Sinnlichkeit  nennt:  die  Grundlage  aller  Naturwissenschaft  und 
daher  auch  aller  Hypothesenbildung.     Atomtheorie,  Ätherhypothese  u.  s.  w. 

feben  uns  Vorstellungen  im  Räume  und  nicht  über  den  Raum,  wie 
ie  Hypothese  der  vierten  Dimension.  Die  Physik  muss  als  mathema- 
tische Lehre  der  Naturgesetzlichkeit  unbedingt  von  der  Geometrie  ge- 
tragen werden.  Der  Satz  Kants,  der  Raum  ist  Grundlage  aller  Dinge  als 
Erscheinungen  (oder  der  sinnlichen  Erfahrung),  ist  noch  niemals  widerlegt, 
wenn  auch  oft  missverstanden  worden.  Räumliche  und  zeitliche  Ab- 
grenzung ist  die  Voraussetzung,  unter  der  wir  einen  Gehalt  an  Empfind- 
ungen im  Dinge  vereinigen,  Einheit  und  Einerleiheit  des  Raumes  die 
Bedingung,  unter  der  wir  allein  verschiedene  Qualitäten  auf  dasselbe  Ding 
zurückführen  können.  Es  müsste  doch  ein  merkwürdiges  Ding  sein,  dieser 
unbekannte  Raum  ausser  uns  von  beliebig  vielen  Dimensionen.  Wenn 
unsere  Organisation  wirklich  schuld  ist,  dass  wir  nicht  mehr  als  drei  Di- 
mensionen anschauen  können,  verschuldet  sie  nicht  noch  mehr,  vielleicht 
den  Raum  seihst  ?  Soweit  kommt  B.  nicht.  Sogar  die  leidige  Krümmung 
des  Raumes,  die  er  kürzer  behandelt,  als  man  gewohnt  ist,  wird  dem 
Räume  selbst,  nicht  unserer  Organisation,  zugeschoben. 

Was  ich  im  Vorigen  gegen  B.  eingewandt  habe,  kann  man  fast  bei 
jedem  Buche  wiederholen,  was  von  mathematischer  Seite  über  dieses  Ka- 
pitel geschrieben  wird.  Noch  bleibt  mir  übrig,  auf  einige  Stellen  auf- 
merksam zu  machen,  welche  treffende  Gedanken  enthalten.  B.  zerstört 
den  Glauben  an  einen  Unterschied  zwischen  wissenschaftlicher  und  meta- 
physischer Hypothese.  Jede  Hypothese  ist  philosophisch.  Allerdings  kann 
man  die  Hypothesen  noch  in  anderer  Weise  trennen.  Das  Verhältnis  des 
Unendlichen  zum  Unbegrenzten  scheint  mir  treffend  gegeben  zu  sein. 
Das  Unendliche  mache  erst  das  unbestimmt  Grosse  möglich,  nicht  umge- 
kehrt. Nicht  die  Zahl,  sondern  Raum  und  Zeit  bringen  das  Unendliche 
zum  Ausdruck.  Durch  Teilung  einer  Strecke  komme  man  nie  zum  Unend- 
lichkleinen, sondern  allein  durch  stetige  Bewegung  eines  Punktes.  Stetig- 
keit und  Unendlichkeit  sind  also  in  ihrer  Gegenseitigkeit  erkannt  worden. 
Kleinere  Ungenauigkeiten  des  Kapitels  über  Stetigkeit  und  Unendlichkeit 
will  ich  übergehen.     Angeführt  werden  muss  aber,   dass  er  die  erste  Anti- 


204  Recensionen  (Duboc). 

iiomie  Kants  mit  der  UnencUichkeit  von  Raum  und  Zeit  zusammenbringt, 
während  sie  nur  die  raum-zeitliclie  Ausdehnung  der  Welt  betrifft. 

Die  Darstellung  besitzt  alle  Vorzüge,  welche  man  französischen 
Büchern  mit  Recht  nachrühmt.  Das  Buch  kann  zum  Studium  einer  mo- 
dernen mathematischen  Richtung  nur  empfohlen  werden  und  ist  auch  ge- 
eignet, dem  Philosophen  die  Notwendigkeit  eines  solchen  Studiums  zu 
beweisen.  Denn  der  Verfasser  hat  seine  Ausführungen  nicht  nur  für  den 
Verstand,  sondern  auch  für  das  Gemüt  berechnet.  Seine  Einleitung  schliesst 
mit  einem  fast  poetischen  Lobe  zu  Guusten  des  Überraumes,  welcher  uns 
die  Möglichkeit  anderer  Existenzbedingungen  vor  Augen  führen  und  zu 
einer  höheren  Auffassung  des  Weltalls  erheben  soll.  An  ihm  beweise  die 
Vernunft,  dass  sie  wirklich  von  etwas  anderem  sei^  als  die  Materie,  da  sie 
von  ihr  den  Sinnen  zum  Trotz  abstrahieren  könne.  Es  liegt  ja  sehr  nahe, 
auf  eine  nach  der  Meinung  des  Verfassers  geradezu  kopernikanische  Idee 
eine  neue  Weltanschauung  zu  gründen.  Das  klassische  Beispiel  giebt  der 
immer  noch  nicht  überwundene  Materialismus. 

Das  aber  muss  für  den  Philosophen  eine  Mahnung  sein,  an  den  kri- 
tischen Forschungen  über  die  Grundlagen  der  Geometrie  nicht  vorbeizu- 
gehen als  einem  Spezialgebiet,  sondern  in  ihren  Ergebnissen  die  weit- 
gehende Bedeutung  zu  erfassen,  welche  sich  in  die  praktische  Philosophie 
erstrecken  kann,  und  den  Gefahren  einer  falschen  Überzeugung  bei  Zeiten 
entgegenzutreten. 

Magdeburg.  Dr.  W.  Reinecke. 

Duboc,  Dr.  J.  und  Wiegler,  F.  Geschichte  der  deutschen 
Philosophie  im  XIX.  Jahrhundert.  (Das  deutsche  Jahrhundert  in  Einzel- 
schriften.)   Berlin,  Schneider  1901. 

Nichts  ist  für  Kants  historische  und  aktuelle  Bedeutung  bezeich- 
nender, als  dass  die  Verfasser  vorliegender  Schrift,  in  deren  Augen  Kant 
eigentlich  nur  „ein  kleinbürgerlicher  und  gedrückter  Mensch"  war  (S.  334), 
in  ihrer  Geschichte  der  deutschen  Philosophie  im  19.  Jahrh.  von  circa 
l.öO  Seiten  der  Darstellung  Kantischer  Lehren  22  Seiten  gewidmet  haben. 
Die  Schrift  ist  ein  Versuch,  die  philosophischen  Richtungen  des  vergange- 
nen Jahrhunderts  (die  ziemlich  willkürlich  und  unübersichtlich  gruppiert 
werden)  aus  den  subjektiven  Stimmungen  ihrer  Träger  heraus  zu  ent- 
wickeln; sie  dokumentiert  sich  damit  als  ein  Erzeugnis  der  Nietzsche- 
schen  Schule.  Aber  sie  vergisst,  dass  die  gewissenhafte  Durchführung 
des  Gedankens,  die  Systeme  als  Ausdruck  persönlicher  Instinkte  und  ge- 
heimster Gefühle  zu  begreifen,  weit  schwerer  ist,  als  eine  sachliche  Dar- 
legung ihrer  Lehren.  Speziell  für  Kant  hatte  Gaultier  in  seinem  (Kant- 
studien, VII,  S.  460  ff.  besprochenen)  Buche:  De  Kant  ä  Nietzsche  diese 
rein  philosophie-psychologische  Methode  geistreich  anzuwenden  ver- 
sucht, und  die  Grundauffassung  unserer  Schrift  stimmt  denn  auch  im 
Wesentlichen  mit  derjenigen  des  hochbewunderten  Franzosen  (S.  331)  über- 
ein. Das  Leitmotiv  dieser  Auffassung  lautet:  „Es  ist  ein  unheilbarer  Bruch 
in  ihm.  Mit  grossem  Ernst  schwört  er  der  Erkenntnis  ab,  weil  sein 
Lebenstrieb  es  will,  der  des  Christentums  bedarf.  Von  da  an  ist  er  ein 
Rechtfertiger,  kein  Befreier"  (S.  332).  Dass  unter  dieser  psychologischen 
Perspektive  die  logische  und  thatsächliche  Darstellung  nicht  sehr  exakt 
ausfällt,  i.st  begreiflich.  Bis  in  den  Stil  und  die  Nachlässigkeit  der  Druck- 
legung hinein  erstreckt  sich  der  Mangel  an  genügender  Ehrfurcht  vor 
dem  Stoff  und  der  Aufgabe.  Ich  hebe  ein  paar  Beispiele  heraus,  S.  321: 
1803  Schwächung  der  Sehkraft;  körperlicher  Vorfall  (Verfall);  S.  323:  von 
1792  (1762 1  an  beunruhigen  ihn  die  Probleme  der  eigentlichen  Metaphysik; 
S.  325:  wird  Natorp  in  Natory  verunstaltet,  ebenda  Liebmann,  Zur  Ana- 
lysis  der  Wichtigkeit  (Wirklichkeit j  aufgeführt;  S.  337:  wird  der  Schluss 
des  dritten  Absatzes  durch  ein  ausgelassenes  „in"  völlig  unverständlich. 
Von  den  „Träumen  eines  Geistersehers"  heisst  es:  „Dieser  Teil  von  Kants 
philosophischem  Werk  ist  darum  bedeutsam,  weil  seine  stilistische  Ge- 
wandheit  nachher  sich  verringert  hat"  (S.  325).     Die  gleiche  flüchtige  Be- 


Recensionen  (Erdmann).  205 

handlung-  kehrt  in  den  übrigen  Partien  des  Buches  wieder.  Selbst  Nietzsche, 
dessen  Weltanschauung  die  Verfasser  am  meisten  anspricht,  wird  in  seiner 
Entwicklung  völlig  verkannt,  wenn  uns  auch  hier  wieder  die  Legende  von 
den  „plötzlichen  Überwindungen''  vorgesetzt  wird  (S.  44H).  Kein  Reich- 
tum pointierter  Ausdrücke  (vom  heldischsten  Zertrümmerer  des  Absoluten, 
S.  414  und  ähnliches)  vermag  den  Mangel  gründlicher  Vertiefung  auf- 
zuwiegen. 

Leipzig.  Raoul  Richter. 

Erdmann,  B.  Historische  Untersuchungen  über  Kants  Prole- 
gomen a.     Halle  a.  S.,  Niemeyer  1904.     V  und  144  S. 

Die  Erdmannschen  Untersuchungen  über  die  Prolegomen  gehen  bis 
in  das  Jahr  ]878  zurück.  Aus  diesem  Jahr  stammt  Erdmanns  Ausgabe  der 
Prolegomena,  in  deren  Einleitung  er  seine  bekannte  Hypothese  einer  zwei- 
fachen Redaktion  der  kleinen  Schrift  auseinandersetzte  und  begründete. 
Diese  Hypothese  aufs  Neue  einer  umsichtigen  Prüfung  zu  unterwerfen, 
wurde  E.  durch  das  umfangreiche  Material  veranlasst,  das  die  neue  Kant- 
ausgabe der  Berliner  Akademie,  namentlich  die  Reickesche  Sammlung  des 
Briefwechsels  zu  Tage  förderte,  zumal  da  für  ihn,  als  den  Herausgeber  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft,  wie  der  Prolegomenen,  die  eingehende  Durch- 
arbeitung dieses  Materials  so  wie  so  geboten  war.  Das  Resultat  dieser 
Prüfung  ist  die  vorliegende  Schrift.  Sie  ist  zugleich  als  eine  ausführliche 
Ergänzung  der  kurzen  Angaben  in  Erdmauns  Einleitung  zu  den  Prole- 
gomenen der  Akademie-Ausgabe  zu  betrachten. 

Nach  E.  hat  Kant  zuerst  und  zwar  sehr  bald  nach  dem  Abschluss 
der  Kritik  d.  r.  V.  sich  mit  dem  Plan  getragen,  einen  populären  Auszug, 
„für  Laien  bestimmt"  (Hamann),  zu  veranstalten.  Als  Charakteristikum 
dieser  geplanten  Bearbeitung  finden  wir  die  Äusserung  (Fragment  eines 
Briefes  an  M  Herz,  nach  Reicke  nach  dem  11.  Mai  1781  gesclirieben),  es 
solle  in  ihr  eine  Darstellung  der  Antinomieen  an  den  Anfang  des  Ganzen 
gestellt  werden  —  als  desjenigen  Punktes,  der  am  ersten  geeignet  sei,  die 
Notwendigkeit  der  kritischen  Untersuchung  ins  Licht  zu  setzen.  Wir 
müssen  dann  annehmen,  dass  Kant  diesen  Plan  aufgegeben  hat,  ohne  zu 
seiner  Verwirklichung  Schritte  gethan  zu  haben.  Dagegen  erfahren  wir, 
dass  Kant  im  August  1781  an  einem  Auszug  aus  der  Kritik  arbeitet,  der 
nicht  mehr  als  populäre  Bearbeitung  bezeichnet  wird,  von  dem  wir  auch 
anzunehmen  haben,  dass  seine  Darstellung  die  Reihenfolge  der  Abschnitte 
beibehält,  wie  sie  in  der  Kritik  gegeben  ist.  (Brief  Hamanns  an  Hart- 
knoch  vom  14.,  an  Herder  vom  15.  Sept.,  Hartknochs  au  Kant  vom  19.  Nov. 
1781.  Wenn  Hamann  an  denselben  Stellen  von  einem  „Lesebuch  der 
Metaphysik"  spricht,  an  dem  Kant  zugleich  arbeite,  so  wird  dies  von  E. 
zweifellos  mit  Recht  auf  ein  Missverständnis  zurückgeführt.)  Was  den 
Zweck  des  Auszugs  angeht,  so  ist  er  bezeichnet  durch  die  Absicht  Kants, 
zur  Aufstellung  der  ihm  selbst  aufgefallenen  „Dunkelheiten''  an  ver- 
schiedenen Stellen  seines  Hauptwerks,  die  durch  eine  gewisse  „Weit- 
läufigkeit'' des  Plans,  wie  der  Darstellung  veranlasst  sind,  etwas  beizu- 
tragen (Vorrede  der  Prolegomena)  —  m.  a.  W.  er  soll  durch  eine  möglichst 
klare  Herausarbeitung  der  leitenden  Fragestellung  und  des  führenden 
Fadens  der  Untersuchung  die  Lektüre  der  Kritik  —  nicht  entbehrlich 
machen,  sondern  erleichtern.  Auch  damit  ist  zur  Genüge  der  Unterschied 
des  hier  besprochenen  Auszugs  von  der  vorher  geplanten  populären  Be- 
arbeitung bezeichnet,  nicht  für  „Laien",  sondern  für  die  berufenen  Leser 
der  Kritik  ist  der  erstere  bestimmt.  E.  nimmt  als  wahrscheinlich  an,  dass 
die  äussere  Veranlassung  zu  jenem  Entschluss  Kants  in  der  Aufnahme  zu 
suchen  ist,  die  die  Kritik  d.  r.  V.  in  der  näheren  Umgebung  des  Philo- 
sophen gefunden  hatte,  neben  Hamann,  M.  Herz,  Mendelssohn  will  E,  liier 
auch  namentlich  Kraus  genannt  wissen  (im  7.  Abschnitt  der  Schrift, 
S.  111 — 120).  Es  ist  femer  als  sicher  zu  betrachten,  dass  der  geplante 
Auszug  nicht  nur  geplant,  sondern  jedenfalls  zum  grössten  Teil  auch 
niedergeschrieben  worden  ist.    Durch  das  Erscheinen  der  Garve-Federscheu 


206  Recensionen  (Erdmann). 

Recension  aber  ist  Kant  im  Januar  1782  nach  E.  noch  einmal  veranlasst 
worden,  das  Manuskript  durch  Einschiebungen  zu  verändern,  die  gegen 
die  Einwände  und  Missverständnisse  gerichtet  sind,  und  als  das  Endergeb- 
nis dieser  Redaktion  haben  wir  unsere  Prolegomena  zu  betrachten. 

Soweit  die  Erdmannsche  Theorie,  die  gegenüber  ihrer  ersten  Ver- 
öffentlichung von  1878  in  der  vorliegenden  Schrift  eine  erheblich  ausführ- 
lichere Darstellung  und  umfassendere  Begründung  erfahren  hat.  Im  Be- 
sonderen ist  ein  Abschnitt  eingefügt  Avorden  (No.  6),  der  auch  an  der 
Hand  späterer  Briefstellen  von  und  über  Kant,  soweit  sie  sich  auf  die 
Prolegomenen  beziehen  (E.  hatte  1878  geschlossen  mit  dem  Brief  Hamanns 
vom  21.  April  1782,  in  dem  die  Schrift  zuerst  mit  ihrem  vollen  Titel  ge- 
nannt wird),  die  Theorie  einer  Prüfung  unterwirft  und  nicht  unwesentliche 
Bestätigungen  bringt. 

Nicht  übergehen  möchte  ich  den  „Anhang",  den  E.  der  Schrift  bei- 
gegeben hat.  Auf  Grund  seiner  Theorie  hatte  E.  bekanntlich  in  seiner 
damaligen  Ausgabe  der  Prolegomenen  die  Bestandteile  des  ursprünglichen 
Auszugs  von  den  polemischen  Zusätzen  aus  Anlass  der  Göttinger  Recen- 
sion zu  trennen  gesucht.  Dies  Ergebnis  der  damaligen  Veröffentlichung 
wird  hier  mit  Rücksicht  auf  die  ersten  5  Paragraphen  einer  Revision 
unterworfen.  Nach  seiner  früheren  Ansicht  hatte  E.  die  vollständigen 
§  1  und  2,  §  4  mit  Ausnahme  des  3.  und  8.  Absatzes  und  §  5  mit  Aus- 
nahme der  Absätze  3  und  4  der  ursprünglichen  Redaktion  zugewiesen. 
Nach  der  neuen  Untersuchung  ist  von  §  4  auch  der  mit  dem  3.  zusam.men- 
gehörige  2.  Absatz  spätere  Zugabe  —  beide  sollen  im  Gegensatz  zu  Hume 
die  synthetische  Natur  der  mathematischen  Sätze  feststellen  — ,  der  §  5 
dagegen  ist  als  einheitliches  Ganzes  zu  betrachten,  demnach  einschliesslich 
der  in  ihm  enthaltenen  Polemik  gegen  Hume  dem  ursprünglichen  Auszug 
zuzuweisen. 

Vor  allen  Dingen  hat  E.  seine  Aufmerksamkeit  dem  §  4  zugewandt, 
der  für  jeden  kundigen  Leser  eine  crux  darstellt.  Ohne  sich  näher  auf 
Hypothesen  einzulassen,  wie  die  hier  herrschende  Verwirrung  zu  Stande 
gekommen  ist,  stellt  E  fest,  dass  der  1.,  wie  der  nach  Form  und  Inhalt 
direkt  sich  anschliessende  7.  und  9.  Absatz  die  Beantwortung  der  in  der 
Überschrift  des  §  4  gestellten  Frage  „Ist  überall  Metaphysik  möglich  ?" 
enthalten,  Absatz  4— fi  dagegen  unzweideutig  Fortsetzung  und  Schluss  des 
§  2  bilden  mit  dem  Nachweis  der  synthethischen  Natur  der  metaphysischen 
Sätze;  Absatz  2,  3  und  8  sind  wie  gesagt  Zusatz  aus  Anlass  der  Göttinger 
Recension.  (Mit  dieser  Analyse  ist  zugleich  den  Thatsachen  Rechnung 
getragen,  auf  welche  Vaihinger  in  seinem  Aufsatz  über  die  Blattversetzung 
im  Jahre  1879  hingewiesen  hatte),  i)  Näher  auf  die  Begründung  dieser 
Resultate  einzugehen,  würde  zu  weit  führen;  ich  muss  in  dieser  Hinsicht 
auf  die  äusserst  klaren  Ausführungen  der  Schrift  selbst  verweisen,  deren 
Verfasser  sich  mit  dieser  Darstellung  in  der  That  um  das  Verständnis  der 
Prolegomena  ein  sehr  schätzbares  Verdienst  erworben  hat. 

Nur  hingewiesen  sei  endlich  auch  auf  die  Analyse  der  Überschrift 
der  §§  4  und  5.  Beide  sind  bekanntlich  als  „allgemeine  Frage"  der  Prole- 
gomenen überschrieben,  die  aber  in  §  4  näher  präcisiert  wird  in  der  Form 
„Ist  überall  Metaph3-sik  möglich?",  während  es  in  §  5  heisst:  „Wie  ist  Er- 
kenntnis aus  reiner  Vernunft  möglich?"  Nach  E.  schliesst  die  2.  Frage 
unmittelbar  an  die  des  (vervollständigten)  §  2  an,  während  die  Unter- 
suchung des  §  4  darauf  abzielt,  Metaphysik  von  Naturwissenschaft  und 
Mathematik  zu  trennen  und  die  verschiedene  Behandlung  beider  zu  recht- 
fertigen: Die  Wirklichkeit  synthetischer  Erkenntnisse  a  priori  in  Mathe- 
matik und  Naturwissenschaft  erlaubt  uns  die  Frage  nach  der  Möglichkeit 
überhaupt  zu  stellen  —  eine  Frage,  die  die  Metaphj'^sik  mitbetrifft. 

E.  V.  Aster. 


1)  Vgl,  die  weiteren  Ausführungen  von  Vaihinger  im  vorigen  Bande 
der  KSt.,  S.  539— ö44. 


Recensionen  (v.  Aster).  207 

V.  Aster,  E,  Dr.  Über  Aufgabe  und  Methode  in  den  Be- 
weisen der  Analogien  der  Erfahrung  in  Kants  Kritik  d.  r.  V. 
Separatdruck  aus  dem  Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie,  XVI.  Bd., 
Heft  2,  S  218—251  und  Heft  .3,  S.  334—366.     1903  (Münchener  Dissertation). 

Die  Analogien  der  Erfahrung  darf  man  wohl  als  die  bedeutsamsten 
unter  den  Grundsätzen  des  reinen  Verstandes  ansprechen.  Sie  einer  be- 
sonderen Untersuchung  zu  würdigen,  rechtfertigt  sich  also  von  selbst. 
Und  wir  dürfen  sagen,  dass  von  Aster  diese  Untersuchung  durch  Auf- 
deckung der  mannigfachen  Elemente  und  Faktoren,  die  in  der  Kantischen 
Beweisführung  wirksam  sind,  in  anerkennenswerter  Weise  geleistet  hat. 
Besonders  dankenswert  ist  der  Nachweis  des  Zusammenhanges  der  Ana- 
logien mit  der  ihnen  vorangehenden  Gedankenführung  der  Kantischen 
Vernunftkritik :  einerseits  der  transscendentalen  Ästhetik,  andererseits  der 
Kategorien-Analytik,  die  beide  für  die  Analogien  die  wichtigsten  Be- 
weisstücke liefern.  Da  der  masslosen  Überschätzung  der  transscendentalen 
Ästhetik  durch  Schopenhauer  eine  fast  ebenso  grosse  Unterschätzung  ge- 
folgt war,  so  ist  der  besondere  Hinweis  darauf,  dass  die  transscendentale 
Ästhetik  im  eigentlichen  Sinne  doch  für  die  Analytik  die  condicio  sine 
qua  non  war,  und  dass  gerade  der  Centralbegriff  von  Kants  Kritizismus, 
der  Begriff  der  Sj'nthesis  ohne  jene  Vorarbeit  seine  fundamentale  logische 
Wirksamkeit  nicht  hätte  entfalten  können,  entschieden  sehr  wichtig.  Wir 
glauben,  dass  es  von  Aster  gelungen  ist,  diesen  Nachweis  recht  geschickt 
zu  erbringen,  indem  er  beständig  die  in  der  Beweisführung  der  Analogien 
enthaltenen  transscendental-ästhetischen  Beweisstücke  sorgfältig  heraus- 
arbeitet und  in  ihrer  Bedeutung  und  Verwendung  für  die  Beweise  selbst 
verfolgt,  wie  auch  deren  logische  Bestimmtheit  durch  die  Kontinuität  der 
Analytik-Entwickelung  klar  und  deutlich  herausgestellt  wird.  Wir  selien 
so,  dass  die  auf  die  Möglichkeit  der  Erfahrung  tendierende  Gedanken- 
führung, die  mit  der  transscendentalen  Ästhetik  anhebt  und  in  der  Ana- 
lytik der  Begriffe  ihre  bedeutsamste  und  wirkungsvollste  Tiefe  erreicht, 
dann  in  den  Grundsätzen  gipfelt  und  insbesondere  in  den  Analogien  ihre 
wirksamste  Zuspitzung  auf  das  Erfahrungsproblem  erfährt. 

Soweit  von  Aster  diese  Analyse  rein  historisch  im  Anschluss  an  das 
ihm  in  der  Vernunftkritik  vorliegende  Material  vollzieht,  hat  sie  meine 
vollste  Anerkennung.  Soweit  sie  sich  jedoch  mit  mehr  systematischen 
Ausführungen  des  Verfassers  verbindet,  kann  ich  einige  Bedenken  nicht 
unterdrücken. 

Seine  Aufgabe,  —  um  nun  kurz  noch  seinen  methodischen  Ge- 
dankengang zu  skizzieren,  —  löst  er,  indem  er  zuerst  die  Aufgabe  der  Er- 
kenntnistheorie überhaupt  umschreibt.  Wenn  er  dabei  ausgeht  von  der 
Frage:  „Ist  die  Welt  wirklich  so,  wie  wir  sie  in  der  Wissenschaft  denken'?", 
dann  fortschreitet  zu  der  Bestimmung :  „wenn  wir  fragen,  ob  zwei  Dinge 
übereinstimmen,  so  müssen  wir  sie  vergleichen  können.  Die  Welt  aber, 
wie  sie  wirklich  ist,  und  die  Welt,  wie  wir  sie  denken,  können  wir  nicht 
vergleichen  ;  denn  soweit  wir  die  Welt,  wie  sie  wirklich  ist,  kennen,  ist 
sie  eben  die  Welt,  wie  wir  sie  denken",  so  haben  wir  in  diesem  Gedanken- 
gang in  der  That  eine  recht  glückliche  Präcisierung  des  erkenntnistheore- 
tischen Problems  zu  sehen.  Denn  nun  sind  wir  vor  die  Frage  gestellt : 
Haben  wir  die  Welt  so  zu  denken,  wie  wir  sie  denken?  Leider  aber 
schillert  gerade  in  dieser  Kardinalfrage  eine  gewisse  Unbestimmtheit  des 
Verfassers  zwischen  der  quaestio  facti  und  der  quaestio  juris  hinüber  und 
herüber.  Denn  es  ist  leider  nicht  streng  genug  unterschieden  zwischen 
der  Frage:  ,,Müssen  wir  die  Welt  so  denken,  wie  wir  sie  thatsächlich 
denken?"  (die  einfach  analytisch  zu  lösen  wäre)  und  der  anderen,  kri- 
tischen: „Sind  wir  dazu  berechtigt?"  Es  kann  niclit  ausbleiben,  dass 
diese  Unbestimmtheit  auch  auf  die  weitere  Untersuchung  ihren  Einfluss 
mehrfach  geltend  macht.  Zwar  ist  sie  im  Grunde  schon  bei  der  näheren 
Bestimmung  der  synthetischen  Urteile,  deren  Charakter  am  Wesen  der 
mathematischen  Sätze  im  Sinne  Kants  erörtert  wird,  glücklich  vermieden, 


208  Recensionen  (v.  Aster). 

denn  deren  Unterscheidung  von  den  analytischen  beruht  in  letzter  Linie 
ja  doch  auch  auf  der  Unterscheidung  der  juridischen  von  der  faktischen, 
der  kritischen  von  der  genetischen  Fragestellung  Weniger  glücklich  aber 
ist  der  Verfasser  um  diese  nicht  ungefährliche  Problemklippe  herumgelangt, 
dort,  wo  er  „die  Denknotvvendigkeit  der  Grundsätze  des  reinen  Ver- 
standes" nach  jener  Erörterung  von  „Kants  Lösung  der  gestellten  Frage 
in  Betreff  der  mathematischen  Sätze"  behandelt,  indem  er  —  den  Unter- 
schied in  der  Beweisführung  aufhebend  —  in  gleicher  Weise  „beide  auf 
eine  unmittelbar  erlebte  Notwendigkeit  stützen"  will,  und  plötzlich  der 
Erkenntnistheorie  ihren  Ort  in  der  „psychologischen  Analyse",  allerdings 
—  darauf  müssen  wir  mit  besonderem  Nachdruck  hinweisen  —  nicht  im 
Sinne  der  empirischen,  sondern  im  Sinne  einer  Transscendentalpsychologie 
anweist.  So  vermag  er  auch  durch  begrifflich  scharfe  Unterscheidung  die 
bekannten  Missverständnisse  und  Einwände  empirisch-psychologischer  Art, 
M'ie  sie  gegen  die  für  ihn  als  „Grundlage  des  Beweises  der  Analogien"  in 
Betracht  kommende  transscendentale  Ästhetik  erhoben  worden  sind,  fein 
und  treffend  abzuthun,  obwohl  das  transscendentale  Wert  Verhältnis  von 
Raum  und  Zeit  selbst  für  den  Zusammenhang  des  kritischen  Systems 
m.  E.  nicht  recht  befriedigend  entschieden  ist. 

Auf  einem  so  verhältnismässig  breiten  Fundament  erhebt  sich  nun 
die  Untersuchung  über  Wirklichkeitserkenntnis  überhaupt  und  Erfahrung 
in  ihrem  Verhältnis  zu  einander,  sowie  über  den  Begriff  des  Gegenstandes. 
Wir  erhalten  durchweg  eine  scharfsinnige  Analyse  der  Kantischen  Dar- 
legungen, auf  die  wir  im  Einzelnen  leider  nicht  näher  eingehen  können. 
Als  besonders  wertvoll  möchte  ich  nur  noch  von  Asters  Versuch,  fünf  Be- 
deutungen des  Gegenstandsbegriffs  bei  Kant  herauszuarbeiten,  hervor- 
heben, der,  sei  es  auch  zwecks  Auseinandersetzung,  entschieden  Beachtung 
verdient  und  für  das  Verständnis  mannigfach  aufklärend  und  fruchtbar  ist. 
Die  Bedeutung  dieser  Untersuchung  für  das  Ganze  der  Analytik  ist  frag- 
los und  wird  vom  Verfasser  selbst  augenscheinlich  gemacht,  wenn  man 
auch  im  Einzelnen  seiner  Ausführungen  einerseits  über  das  Verhältnis  von 
Kategorien  und  Grundsätzen,  wie  andererseits  namentlich  über  den  Schema- 
tismus schwerlich  durchgängig  zustimmen  darf. 

„Die  Beweise  der  einzelnen  Analogien"  nehmen  nun  nach  der  Auf- 
deckung ihrer  Prämissen  einen  verhältnismässig  geringen  Raum  (ungefähr 
ein  Fünftel  der  ganzen  Abhandlung)  ein.  Die  Funktion  der  Synthesis  wird 
mit  Recht  an  ihre  Spitze  gestellt:  „1.  Alle  Gegenstände  müssen  notwen- 
dige Einheiten  eines  Mannigfaltigen  sein.  2.  Diesen  Gegenständen  muss, 
damit  sie  Gegenstände  der  Erfahrungserkenntnis  sind,  jederzeit  eine  Stelle 
in  Raum  und  Zeit  angewiesen  werden  können."  Diese  für  die  Grundsätze 
überhaupt  notwendigen  Forderungen  werden  nun  im  besonderen  in  ihrer 
Verwirklichung  durch  die  Analogien  aufgezeigt.  Dabei  wird  die  trans- 
scendentale Bedeutung  der  Zeit  für  die  Beweise  entschieden  in  das  rechte 
Licht  gerückt.  Von  Aster  schliesst  sich  hier  recht  eng  an  Stadler  an, 
nimmt  auch  für  seine  eigene  Argumentation  dessen  bekannte  Berufung 
auf  den  Raum  zu  Hilfe.  Aber  gerade  diese  scheint  mir,  so  wichtig  und 
so  richtig  sie  in  mancher  Hinsicht  auch  sein  mag,  doch  einer  nicht  uner- 
heblichen Einschränkung  bedürftig.  Eine  Erinnerung  an  Lotze  wäre  hier 
vielleicht  angebracht  gewesen. 

Zum  Schluss  möchte  ich  als  wesentlich  auch  noch  Eines  nicht  un- 
erwähnt lassen:  Von  Aster  weist  m.  E.  zutreffend  darauf  hin,  dass  zwischen 
der  zweiten  und  dritten  Analogie  unter  einander  ein  innigerer  Zusammen- 
hang besteht,  als  zwischen  ihnen  und  der  ersten. 

Wir  konnten  hier  natürlich  nur  kurz  Dr.  von  Asters  Ausführungen 
skizzieren  und  mussten  deshalb  eine  genauere  Bekanntschaft  und  Gegen- 
wärtigkeit der  Vernunftkritik  in  viel  höherem  Masse  voraussetzen,  als  der 
Verfasser  selbst  es  zu  thun  brauchte.  Trotz  mancherlei,  gelegentlich  an- 
gedeuteten  Einwendungen   erscheint   uns    von  Asters  Untersuchung   doch 


Recensionen  (Schrader).  209 

als  eine  nicht  unerhebliche  Klärung  und  wertvolle  Förderung  des  von  ihm 
behandelten  Problems. 

Halle  a.  S.  Bruno  Bauch. 

Schrader,  Ernst,  Dr.  Zur  Grundlegung  der  Psychologie  des 
Urteils.  (Habilitationsschrift  der  techn.  Hochschule  zu  Darmstadt.)  Leip- 
zig, Joh.  Ambr.  Barth.     1903.     98  S. 

Die  unabhängig  von  logischen  und  erkenntnistheoretischen  Gesichts- 
punkten geführte  psychologische  Analyse  des  Urteils  hat  in  der  Psycho- 
logie bisher  eine  sehr  geringe  Bearbeitung  gefunden  —  mit  Rücksicht 
hierauf  ist  daher  die  Seh. sehe  Schrift  sehr  zu  begrüssen.  Sie  ist  eine 
Grundlegung,  d.  h.  es  sollen  nur  die  elementaren  psychischen  That- 
sachen  zur  Darstellung  gebracht  werden,  die  zur  Erklärung  der  einfachsten 
sprachlichen  Urteile  nötig  sind.  Das  ganze  1.  Kapitel,  „Beiträge  zur 
psychologischen  Methodenlehre"  betitelt,  hat  freilich  mit  dem  Urteil  selbst 
wenig  zu  thun;  der  Verfasser  verteidigt  hier  die  Möglicnkeit  einer  psycho- 
logischen Beobachtung,  namentlich  gegen  die  bekannten  Einwände  von 
Comte  und  Brentano.  Seine  Ausführungen  sind  im  Einzelnen  zweifellos 
oft  treffend  und  dankenswert,  ich  halte  mich  jedoch  mit  ihrer  Wieder- 
gabe nicht  auf,  um  dem  Kernpunkt    der  Schrift  einige  Worte  zu  widmen. 

Das  eigentliche  Problem  stellt  Seh.  im  Anschluss  an  ein  von  ihm  ge- 
wähltes Beispiel.  ,, Eines  Tages  ging  ich  am  Ufer  eines  Flusses  spazieren. 
Am  gegenüberliegenden  Ufer  erblickte  ich  eine  Person,  welche  ich  anfangs 
für  eine  Dame  in  einem  gelblich-grauen  Kleide  hielt.  .  .  .  Darauf  sah  ich 
jedoch,  dass  die  Person  eine  Karre  schob.  IVun  erkannte  ich,  dass  es  ein 
Arbeitsmann  war,  der  eine  Schürze  der  betr.  Farbe  trug."  Einen  Fall, 
wie  diesen,  pflegen  wir  nach  Seh.  dahin  zu  interpretieren,  dass  die  Auf- 
fassung der  Person  als  einer  Dame,  die  „Vorstellung  Dame"  falsch  ge- 
wesen sei,  und  zwar  stellte  sie  sich  als  falsch  heraus  durch  den  später 
gewonnenen  Eindruck  des  Karrenschiebens  Das  Wahr-  oder  Falschsein 
aber  ist  das  Charakteristikum  des  Urteils.  Also  haben  wir  in  der  betr. 
Beobachtung  ein  Urteil  und  zwar  nach  dem  Verf.  ein  sehr  elementares 
Urteil  vor  uns.  Ausgeliend  von  dem  m.  M.  n.  sehr  richtigen  Gesichtspunkt, 
dass  für  die  Erklärung  des  Urteils  in  erster  Linie  wichtig  ist  eine  Analyse 
des  „für  falsch  erklärens",  stellt  nun  Seh.  die  Frage:  Wodurch  unterscheidet 
sich  die  falsche  Vorstellung  der  Dame  in  jenem  Beispiel  von  einer  rich- 
tigen Vorstellung,  z.  B.  der  des  Tisches  hier  vor  mir?  Was  macht  für 
mein  Bewusstsein  jene  Vorstellung  zur  falschen,  im  Gegensatz  zu  dieser? 

Zur  Beantwortung  der  Frage  werden  die  Erlebnisse  in  dem  er- 
wähnten Beispiel  einzeln  vorgenommen.  Einmal,  meint  der  Verf.,  haben 
wir  die  Vorstellung  „Dame",  dann  die  des  Karrenschiebens,  die  von  der 
des  Arbeitsmannes  gefolgt  wird.  In  den  Vorstellungen  selbst  liegt  das 
gesuchte  Moment  nicht,  ebensowenig  in  dem  Bewusstseinszustand  des 
Glaubens,  der  die  falsche  Vorstellung  nicht  minder  begleitet,  wie  die 
richtige  —  solange  ich  sie  zu  sehen  glaube,  halte  ich  die  Dame  für  eben- 
so wirklich,  wie  den  Tisch  vor  mir.  Dagegen  findet  nun  Seh.  das  Cha- 
rakteristische in  der  Beziehung  und  zwar  genauer  in  dem,  was  er  die 
negative  Beziehung  der  Vorstellungen  nennt.  Dieselbe  äussert 
sich  darin,  dass  von  der  Vorstellung  „Dame"  ein  Teil  verschwindet  und 
die  Vorstellung  des  karreschiebenden  Arbeitsmannes  als  Ganzes  an  ihre 
Stelle  tritt.  Verstehe  ich  den  Verf.  recht,  so  sieht  er  in  dieser  negativen 
Beziehung  das  einfachste  Phänomen  des  Urteils. 

Ich  verstehe  in  dieser  Analyse  zunächst  nicht  ganz,  was  es  heissen 
soll,  die  Vorstellung  „Dame"  sei  ursprünglich  vorhanden  und  werde  durch 
jene  andere  abgelöst.  Ist  in  der  That  das  Wahrnehmungsbild  einer  Dame 
gegeben,  um  sich  nachher  in  das  eines  Arbeitsmannes  zu  verwandeln  ?  Seh. 
scheint  dieser  Meinung  zu  sein,  zumal  da  er  von  einem  nachher  in  Weg- 
fall kommenden  Teil  dieses  Wahrnehmungsbildes  spricht  —  doch  wohl 
demjenigen  Teil,  der  das  Wahrnehmungsbild  der  Dame  von  dem  des  Ar- 
beitsmannes   unterscheidet.      Aber    es    ist   zunächst    entschieden   nicht  bc- 

EantBtudien  X,  ^^ 


210  Ilecensionen  (Marcus). 

wiesen,  dass  notwendigerweise,  wenn  ich  einen  entfernten  Geg:enstand  als 
Dame  erkenne,  auch  das  Wahrnehmungsbild  einer  Dame  an  der  betr. 
Stelle  vorhanden  sein  müsse.  M.  a.  W.  die  Frage,  die  zunächst  eine  ge- 
nauere Diskussion  verlangt,  ist  diese:  Was  liegt  eigentlich  vor,  wenn  wir 
einen  bestimmten  vorgefundenen  Inhalt  als  dies  oder  jenes  erkennen  oder 
was  schliesslich  auf  dasselbe  herauskommen  dürfte,  so  oder  so  benennen? 
Diese  Frage  scheint  mir  in  dem  Seh. sehen  Buch  nicht  genügend  berück- 
sichtigt zu  sein. 

Am  Schluss  weist  der  Verf.  die  Ansicht  zurück,  als  liege  im  t>teil 
noch  das  Erlebnis  einer  besonderen  psychischen  Aktivität. 

Schöneberg  bei  Berlin.  '  v.  Aster. 

Marcus,  Ernst,  Kants  Revolutionsprinzip  (Kopernikanisches 
Prinzip).     Herford,  Verlag  von  W.  Meuckhoff,  1902.     XII  u.  181  S. 

Die  Lehre  Kants  und  im  Besonderen  die  Kritik  der  reinen  Vernunft 
ist  für  den  Verf.  ein  Werk  ausserordentlicher  Bedeutung.  Sie  ist  nichts 
mehr  und  nichts  weniger,  als  eine  Wissenschaft  für  sich,  deren  Resultate 
ebenso  sicher  begründet  sind,  wie  diejenigen  der  Mathematik.  Dies 
gegenüber  den  tastenden  und  irrenden  Interpretationskünsten  der  heutigen 
Kantianer,  vor  allem  derer,  die  Widersprüche  in  den  Worten  Kants  finden 
zu  müssen  glauben,  nachzuweisen  und  zugleich  den  Sinn  dieser  bisher 
nicht  genügend  gewürdigten  Wissenschaft  ans  Licht  zu  ziehen,  ist  die 
Aufgabe  des  Buches.  Der  Verf.  geht  dabei  nicht  als  Interpret  der  Sätze 
Kants,  sondern  in  selbständiger  Behandlung  der  Probleme  vor,  die  nur  mit 
beständigen  Hinweisen  auf  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  durchsetzt 
ist;  der  IL  Teil  (S.  127—181)  ist  dann  speziell  dem  Nachweis  der  Über- 
einstimmung des  Vorgetragenen  mit  Kant  in  einzelnen  näher  bezeichneten 
Punkten  gewidmet. 

Die  Grundthatsache,  von  der  Kant  ausgeht,  ist  nach  M.  das  Vor- 
handensein von  apodiktisch  zuverlässigen  und  von  uns  als  notwendig 
richtig  angesehenen  Sätzen,  die  nicht  nur  über  die  gegenwärtige,  sondern 
auch  über  die  künftige  und  vergangene  Natur,  genauer  über  den  Zu- 
sammenhang, die  „Organisation"  der  Vorgänge  in  dieser  Natur  etwas 
aussagen.  Die  systematisch  vollständige  Aufstellung  dieser  Sätze  und  der 
in  ihnen  enthaltenen  Kategorien  ist  die  erste,  die  systematische  Auf- 
gabe der  Kritik.  Auf  diese  Thatsache  aber  gründet  Kant  nach  M.  2 
Probleme,  deren  erstes  lautet:  „Wie  ist  es  möglich,  dass  ich  jene  apriori- 
schen Sätze  als  notwendig  richtig  ansehe,  derart,  dass  es  mir  unmög- 
lich ist,  mir  ihre  Unrichtigkeit  in  irgendwie  fassbarer  Form  auch  nur  vor- 
zustellen?" (S.  11)  Mit  Recht  bezeichnet  der  Verf.  dies  Problem  als  das 
eigentlich  kritische  und  seine  Lösung  als  die  kritische  Aufgabe  Kants. 
Auch  der  Kernpunkt  dieser  Lösung  selbst  wird  von  M.  in  klarer,  zutref- 
fender und  ansprechender  Form  in  den  zwei  Sätzen  Aviedergegeben :  „Es 
lässt  sich  unmittelbar  einsehen  (evident  beweisen^,  dass  jene  sog.  Apriorica 
von  allen  Gegenständen,  die  wir  auch  immer  kennen  lernen  mögen,  stets 
bestätigt,  und  dass  sie  niemals  widerlegt  werden  können,  weil  sich 
einsehen  (bezw.  beweisen)  lässt,  dass  diese  ihre  objektive  Giltigkeit  die 
Voraussetzung  der  Erkennbarkeit  von  Gegenständen  ist."    (S.  13.) 

Was  jene  Apriorica  selbst  angeht,  so  glaubt  sie  der  Verf.  zusammen- 
fassen zu  können  in  das  eine  „Gesetz  von  der  Erhaltung  des  dyna- 
mischen Charakters":  Jede  Realität  muss  ihrem  einmal  bethätigten 
dynamischen  Charakter  treu  bleiben.  Ist  z.  B.  festgestellt,  dass  Wasser- 
stoff und  Sauerstoff  sich  zu  Wasser  verbinden,  so  darf  aus  ihrem  Zusam- 
mensein nicht  ein  andres  Mal  Gold  sich  ergeben.  Dass  in  der  That  ohne 
die  Giltigkeit  dieses  Satzes  eine  Erfahrung,  ein  Wissen,  ja  auch  nur  ein 
Wiedererkennen  und  -finden  des  einmal  wahrgenommenen  Gegenstandes 
unmöglich  wäre,  leuchtet  ohne  Weiteres  ein  und  wird  von  M.  auch  an 
speziellen  Beispielen  illustriert.  Ist  aber  der  Satz  eine  Bedingung  der 
Erfahrung,  so  kann  er  durch  keine  Erfahrung  an  Gegenständen  widerlegt 
werden,    d   h.  er  gilt  für  alle  Gegenstände,    von  denen  wir  Erfahrung  ge- 


Üecensionen  (Marcus).  211 

winiien  können.  Unter  Erfahrung  ist  dabei,  wie  M.  besonders  hervorhebt, 
nicht  nur  die  wissenschaftliche,  sondern  auch  jede  vulgäre  Erfahrung  zu 
verstehen.  —  üass  diese  Auseinandersetzungen  den  Sinn  von  Kants  kri- 
tischem Problem  im  Wesentlichen  treffend  wiedergeben,  und  dass  sie  dies 
im  Einzelnen  vielfach  in  recht  glücklicher  und  klarer  Form  thun,  ist 
m.  E.  n.  wohl  zuzugeben,  dass  sie  aber  etwas  so  ungemein  Neues  ent- 
halten, wie  es  nach  den  Ansprüchen  und  polemischen  Äusserungen  des 
Verf.  fast  den  Anschein  gewinnt,  vermag  ich  auch  bezüglich  des  Gesetzes 
der  Erhaltung  des  dynamischen  Charakters  nicht  einzusehen. 

Im  folgenden  Paragraphen  werden  Kants  drei  Analogien  der  Erfah- 
rung aus  dem  erwähnten  Gesetz  abgeleitet.  Das  Substanzgesetz  wird  da- 
bei dahin  interpretiert,  dass  jede  Sinneserscheinung,  die  in  den  Erfahnmgs- 
zusammenhang  soll  eingeordnet  werden  können,  zu  einem  bestimmten 
empirischen  Raum  gehören  und  an  ihm  haften  müsse.  Diese  Behauptung 
halte  ich  für  sachlich  sehr  bedenklich,  insofern  sie  jede  Psychologie  ohne 
physiologisches  Material  schlechtweg  für  unmöglich  erklären  würde.  Da- 
mit würde  sich  freilich  vielleicht  auch  Kant  einverstanden  erklären,  in- 
dessen finde  ich  andererseits  bei  Kant  weder  in  der  Formulierung  der  ersten 
Analogie,  noch  in  ihrem  Beweis  eine  Bezugnahme  auf  den  Raum,  vielmehr 
stützt  sich  der  letzte  auf  das  Vorhandensein  der  Zeit,  im  Besonderen  der 
Beharrlichkeit  der  Zeit,  Dinge,  von  denen  in  den  hierher  gehörigen  Aus- 
führungen von  M.  gar  nicht  die  Rede  ist.  Das  Kausalgesetz  erscheint  im 
Wesentlichen  in  derselben  Form,  wie  bei  Kant,  das  Gesetz  der  Wechsel- 
wirkung wird  darauf  gegründet,  dass  kein  Zustand  einer  Substanz  von 
selbst  wechseln  könne  —  nach  der  2.  Analogie  —  daher  an  jeder  solchen 
Veränderung  mindestens  zwei  Substanzen  beteiligt  sein  oder  in  Gemein- 
schaft stehen  müssen.  Diese  drei  Gesetze  enthalten,  wie  M.  sich  ausdrückt, 
das  Minimum  und  zugleich  das  zureichende  Maximum  der  Regeln,  die 
eine  Realität  beobachten  muss,  um  Erfahrungsobjekt  zu  werden. 

Erst  an  dieser  Stelle  werden  von  M.  die  Anschauungsformen  Raum 
und  Zeit  in  die  Betrachtung  eingeführt.  Die  Begründung  ist  diese :  Die 
in  den  erwähnten  Grundsätzen  gegebenen  Kategorien  enthalten  eine  be- 
stimmte Regelmässigkeit  der  Naturthatsachen.  Diese  Regelmässigkeit  aber 
kann  nur  von  uns  erkannt  werden,  wenn  den  gegebenen  sinnlichen  Er- 
scheinungen, den  Thatsachen  der  Natur  selbst  eine  gewisse  Ordnung,  eine 
sinnliche  Form  zukommt.  So  erkennen  wir,  dass  das  logisch-kategoriale 
Verhältnis  der  Ursache  und  Wirkung  auf  zwei  Thatsachen  Anwendung 
finden  kann,  daran,  dass  diese  Thatsachen  zeitlich  aufeinander  folgen,  also 
an  ihrem  Verhältnis  zu  der  sinnlichen  Form,  der  Zeit.  Dass  gerade  Raum 
und  Zeit  diese  Formen,  die  „Voraussetzungen  der  Wahrnehmbarkeit  des 
regelmässigen  Verhaltens  der  Objekte"  sind,  steht  als  Thatsache  fest,  doch 
lässt  es  sich  keineswegs  logisch  beweisen,  dass  nur  diese  Formen  als 
solche  denkbar  sind.  —  Als  Moment  in  der  Begründung  des  Schematismus, 
in  seiner  logischen  Angliederung  an  die  vorhergehenden  Teile  der  Kritik 
scheinen  mir  diese  Ausführungen  namentlich  interessant  zu  sein.  Ver- 
wirrend wirkt  es,  dass  die  Formulierung  der  Grundsätze  bei  M.  der  Lehre 
von  Raum  und  Zeit  voraufgeht;  so  wie  sie  dastehen,  setzen  die  Analo- 
gien bereits  Raum  und  Zeit  voraus.  Nicht  unterdrücken  möchte  ich  die 
Bemerkung,  dass  es  sich  der  Verf.  mit  der  Polemik  gegen  die  empirisch- 
psychologische Ableitung  des  Raumbegriffs  sehr  leicht  gemacht  hat:  Psy- 
chologen, die  so  geistreich  gewesen  wären,  eine  raumlose  Empfindung 
anzunehmen  und  sie  dann  im  Räume  des  Gehirns  schweben  zu  lassen, 
kenne  ich  nicht. 

Das  2.  Problem,  das  Kant  nach  M.  den  apriorischen  Sätzen  gegen- 
über aufstellt,  das  objektive  Problem,  wird  folgendermassen  formuliert: 
„Wie  kommt  es,  dass  die  als  notwendig  richtig  vorgestellten  Sätze  in  der 
That  durch  Erfahrung  bestätigt  werden,  d.  h.  wie  ist  es  auf  natür- 
lichem Wege_  zu  erklären,  dass  es  ein  Objekt,  die  Natur  giebt,  das  ^e- 
nau   so  organisiert  ist,    dass   seine  Organisation  mit  jenen  Sätzen  überein- 

14* 


Sl2  Recensionen  (Marcus). 

stimmt?"  M.  a.  W.  es  war  gezeigt  worden,  dass,  wenn  wir  von  Objekten 
etwas  sollen  wissen  können,  diese  Objekte  den  apriorischen  Gesetzen 
folgen  müssen.  Nun  giebt  es  solche  Objekte  —  wir  haben  thatsächlich 
eine  Erfahrungswissenschaft.  Ihr  Vorhandensein  war  nicht  notwendig, 
nicht  a  priori  erkennbar,  daher  die  Frage :  Wie  ist  es  „natürlich  erklär- 
bar"? Die  Beantwortung  dieser  Frage  oder  die  Lösung  der  dynami- 
schen Aufgabe  der  Kritik  führt  nun  zum  Ding  an  sich  und  zwar  auf 
folgendem  Wege.  Wir  haben  auf  der  einen  Seite  den  „Zusammenhang 
apriorischer  Vorstellungen",  den  „apriorischen  Organismus",  auf  der  andern 
Seite  die  nicht  apriorische  Natur.  Zwischen  beiden  besteht  die  „trans- 
scendentale  Harmonie",  nach  deren  Erklärung  eben  gefragt  wird.  Diese 
Harmonie  ist  nun  nur  dadurch  entstanden  zu  denken,  dass  die  Natur  „dem 
apriorischen  Organismus  sich  anpasst",  eine  „Modifikation"  desselben  ist. 
(Die  Behauptung,  der  apriorische  Organismus  habe  sich  der  Natur  ange- 
passt,  würde  den  apriorischen  Charakter  der  fraglichen  Sätze  unerklärt 
lassen;  eine  prästabilierte  Harmonie  der  Forderung  einer  „natürlichen" 
Erklärung  widersprechen.)  Damit  sind  nach  M.  die  apriorischen  Prinzipien 
nicht  mehr  kritisch,  sondern  dynamisch,  als  „Mittel  des  Erfahrungserwerbs" 
gefasst,  als  etwas  das  wirkt,  bezw.  Wirkungen  empfängt.  Gleichwohl 
haben  wir  keine  Veranlassung,  den  apriorischen  Organismus  selbst  als 
transscendent  zu  betrachten,  er  ist  weder  transscendent,  noch  immanent, 
sondern  dasjenige,  „durch  das  der  Gegensatz  der  Transscendenz  und  Im- 
manenz erst  seinen  Sinn  bekommt". 

Die  Modifikationen  des  apriorischen  Organismus  oder  die  „Ver- 
änderungen eines  bestehenden  Zustandes  des  apriorischen  Organismus" 
sind  nun  nicht  denkbar  ohne  ein  Agens,  d.  h.  eine  Ursache,  die  sie  her- 
vorrief. Diese  Ursache  aber  kann  kein  Erfahrungsobjekt  sein,  da  diese 
selbst  Modifikationen  des  apriorischen  Organismus  sind,  es  bleibt  also  nur 
übrig,  es  als  transscendentes  Etwas  und  demnach  als  unerkennbar,  weil 
nicht  mehr  unter  den  apriorischen  Gesetzen  stehend,  zu  betrachten. 

Nehmen  wir  an,  K.  sei  auf  diesem  Wege  zum  Ding  an  sich  ge- 
kommen, so  liegt  natürlich  der  altbekannte  Einwand  nahe,  Kant  wider- 
spreche sich  selbst,  wenn  er  auf  der  einen  Seite  das  Ding  an  sich  für  die 
Ursache  der  Erscheinungen  erkläre  und  es  auf  der  andern  Seite  den  aprio- 
rischen Naturgesetzen,  also  auch  dem  Kausalgesetz  nicht  unterstellen  wolle. 
Diesen  Einwand  weist  M.  ab,  indem  er  bei  Kant  einen  doppelten  Kausal- 
begriff unterscheidet.  Der  eipe  enthält  nichts  Anderes,  als  den  Gedanken 
der  gesetzmässigen  Aufeinanderfolge,  er  ist  der  Ausdruck,  die  Folge  des 
Kausalgesetzes  und  kann  wie  dieses  nur  Anwendung  finden  innerhalb  der 
Erscheinungswelt ;  der  andere  enthält  das  Moment  der  eigentlichen  Pro- 
duktivität, der  Kraft.  (Sein  Vorhandensein  in  der  Kritik  wird  namentlich 
in  dem  zu  Anfang  erwähnten  2.  Teil  des  Buches  mit  Rücksicht  auf  die 
Antinomien  nachgewiesen.) 

In  dieser  letzten  Unterscheidung  wird  man  m.  E.  n.  dem  Verf.  nicht 
Unrecht  geben  können,  namentlich  auch,  wenn  er  Kant  dagegen  verwahrt, 
er  habe  von  vom  herein,  gewissermassen  a  priori,  jede  Anwendung  der 
Kategorien  (nicht  der  Grundsätze  !)  auf  eine  jenseits  der  Erfahrungsgrenzen 
gedachte  Welt  „an  sich"  verboten :  Was  Kant  zurückweist,  ist  nur  die 
dogmatische,  unkritische  Verwendung,  die  zu  beweislosen  Behauptungen 
oder  zu  nachweisbaren  Antinomien  und  Paralogismen  führt,  und  was  er 
verlangt,  ist,  dass,  wo  wir  die  Kategorien  verwenden,  wir  eine  entsprechende 
Begründung  dieses  Verfahrens  zu  geben  wissen. 

Dagegen  vermag  ich  mich  mit  der  von  M.  angeblich  in  Kants  Sinn 
gegebenen  Ableitung  des  Dinges  an  sich  durchaus  nicht  zu  befreunden. 
Zunächst :  Was  heisst  es  überhaupt :  Die  gegebenen  Thatsachen  der  Natur 
seien  Modifikationen  des  apriorischen  Organismus  ?  Entweder  es  heisst 
nur :  Alles,  was  an  Empfindungsthatsachen  uns  gegeben  wird,  muss  als 
raumzeitlich  bestimmt,  als  Teil  des  Raumes  und  der  Zeit  gegeben  werden, 
und   durch   die  Kategorien   bestimmt  werden  können.    Das  wäre  indessen 


Recensionen  (Koppelmann).  213 

rein  kritisch  und  räbe  uns  keineswegs  das  Recht,  eine  transscendente  Ur- 
sache dieser  Modifikationen  zu  konstruieren.  Thut  man  nun  aber  dies,  so 
muss  das,  worauf  diese  Ursache  wirkt,  doch  der  apriorische  Organismus 
sein  und  dann  sehe  ich  wiederum  niclit  ein ,  wieso  der  apriorische  Orga- 
nismus weder  transscendent,  noch  immanent  sein  soll  —  er  muss  dann 
eben  ein  transscendentes  Ding  an  sich  vorstellen  von  genau  derselben 
Realität,  wie  das  andere,  das  auf  ihn  wirkt. 

Schliesslich  würde  sich  Kant  trotz  der  Verwahrungen  M.s  in  einen 
Widerspruch  verwickeln,  wenn  er  so  verführe,  wie  M.  behauptet.  Die 
ganze  Kritik  d.  r.  V.  geht  darauf  aus,  zu  zeigen,  dass  wir  gewisse  Begriffe 
und  Sätze  als  für  die  Natur  giltig  ansetzen  dürfen,  bezw.  müssen,  weil 
ohne  diese  Gesetze  und  Begriffe  eine  Erkenntnis  oder,  was  auf  dasselbe 
hinauskommt,  eine  Erklärung  der  gegebenen  Naturthatsachen  nicht 
möglich  ist.  Und  wie  beweist  Kant  dies?  Indem  er  durch  seine  Analyse 
zeigt,  dass  „die  Natur  erklären"  nichts  Anderes  heisst,  als  unter  den  That- 
sachen  der  Anschauung  einen  bestimmten  Zusammenhang  herstellen,  näm- 
lich einen  solchen,  der  die  apriorischen  Gesetze  bereits  in  sich  schliesst, 
und  der  sich  auf  die  Formen  der  Anschauung,  auf  Raum  und  Zeit  gründet. 
Ist  dies  aber  der  Sinn  der  Kantischen  Ausführungen,  dann  muss  jede  Er- 
klärung von  Naturthatsachen  notwendigerweise  in  diesen  Zusammenhang, 
m.  a.  W.  in  den  Erfahrungszusammenhang,  in  den  Zusammenhang  der 
Welt  der  Phänomena  liineingehören  und  jede  Erklärung,  die  über  diese 
Welt  scheinbar  hinausführt,  widerspricht  dem  Begriff  der  Erklärung.  Da- 
rum ist  das  einzige  Mittel,  das  uns  wirklich  die  Erhebung  in  eine  andere 
Welt  jenseits  des  Phänomenalen,  des  Erfahrungszusammenhangs  in  Raum 
und  Zeit,  ermöglicht  und  die  Überzeugung  ihres  Vorhandenseins  giebt, 
nicht  die  theoretische  Erkenntnis  und  Erklärung,  sondern  das  praktisch- 
sittliche Bewusstsein  und  auf  ihm  ruhend  der  religiöse  Glaube. 

Schöneberg  bei  Berlin.  E.  v.  Aster. 

Koppelmann,  Wilhelm.  Kritik  des  sittlichen  Bewusstseins 
vom  philosophischen  und  historischen  Standpunkt.  Berlin,  Reuther  & 
Reichard.     1904.     385  S. 

Ich  versuche  zunächst  einen  kurzen  Überblick  über  den  Inhalt  des 
Buches  zu  geben. 

Das  erste  Kapitel  ist  der  Widerlegung  der  Wohlfahrtstheorie 
und  der  anderen  von  den  Wirkungen  des  Handelns  ausgehenden  ethischen 
Theorien  gewidmet.  Es  \\'ird  hier  zu  zeigen  gesucht,  dass  die  Wohlfahrts- 
theorie, mag  sie  nun  mehr  eudämonistischen  oder  mehr  evolutionistischen 
Charakter  tragen,  und  überhaupt  jede  teleologisch  verfahrende  ethische 
Theorie  unfähig  sei,  die  thatsächlichen  sittlichen  Anschauungen,  ferner 
das  Pflichtbewusstsein  und  die  sittliche  Beurteilung  unserer  selbst  und 
anderer  zu  erklären. 

Das  zweite  Kapitel  entwickelt  unter  der  Überschrift  „Das  gute 
Prinzip"  im  Anschluss  an  Kant  die  ethische  Theorie  des  Verfassers. 

Ausgegangen  wird  dabei  von  dem  Begriff  der  unbedingten  Ver- 
pflichtung^  als  dem  Zentralbegriff  der  Ethik.  Und  zwar  erscheint  die 
Wahrhaftigkeit  als  die  eigentliche  Grundpflicht,  als  „ein  kategorischer 
Imperativ,  welcher  aus  dem  Wesen  der  Vemunftgemeinschaft  entspringt" 
(93).  Sie  wird  als  apriorisch  bezeichnet,  weil  sie  nicht  Ursprung,  Inhalt 
und  Beglaubigung  der  Erfahrung  verdanke,  sondern  weil  sie  aus  den  Be- 
wusstwerden  des  Wesens  unserer  Vernunft  und  unserer  geistigen  Funk- 
tionen hervorgehe.  Formal  sei  sie,  weil  sie  lediglich  eine  gewisse  Form 
unseres  Verhaltens,  nämlich  Übereinstimmung  von  Innerem  und  Äusserem 
bei  allem  Reden  und  Handeln  verlange.  Der  Inhalt  dieser  Grundpflicht 
wird  unter  Berücksichtigung  der  Verschiedenheit  des  theoretischen  und 
praktischen  Gebiets  folgendermassen  formuliert : 

1.  Du  sollst  für  die  Vemunftgemeinschaft  auf  dem  theoretischen 
Gebiet,    insbesondere    das    Recht,    das    Selbsterkannte    zu    äussern,    nach 


214  Recensionen  (Koppeiniann). 

Kräften  eintreten  und  im  Gedankenaustausch  mit  anderen  das  Selbster- 
kannte zu  Grunde  legen,  d.  h.  wahrhaftig  sein. 

2.  Du  sollst  für  die  Vernunftgemeinschaft  auf  dem  praktischen  Ge- 
biet, insbesondere  für  das  Recht,  dem  Selbsterkannten  entsprechend  zu 
handeln,  nach  Kräften  eintreten  und  von  dem  einmal  vernunftmässig  Be- 
stimmten nicht  durch  heterogene  Einflüsse  (Drohungen,  Lockungen,  Affekte 
etc.)  dich  abbringen  lassen,  d.  h.  zuverlässig  sein. 

Alle  übrigen  Pflichten  sollen  nun  sekundäre  Pflichten  sein,  d.  h. 
in  ihnen  kommen  nicht  neue  Pflichten  zu  der  Grundpflicht  hinzu,  sondern 
nur  neues  Pflichtmaterial.  Dass  der  Mensch  sekundäre  Pflichten  auf 
sich  nimmt,  mag  empirische  Gründe  haben,  z.  B.  eigenes  Bedürfnis  oder 
"Vorteil,  und  auch  der  Inhalt  dieser  sekundären  Pflichten  ist  empirisch, 
aber  dass  wir  uns  an  solche  Pflichten,  wenn  wir  sie  einmal  übernommen 
haben,  gebunden  fühlen,  ruht  auf  dem  Bewusstsein  der  Grimdpflicht,  das 
als  das  sittliche  Bewusstsein  oder  Gewissen  schlechthin  bezeichnet  werden 
kann.  Alle  diese  sekundären  Verpflichtungen,  die  wir  übernehmen,  finden 
ihre  natürliche  Grenze  an  der  Grundpflicht,  mit  der  also  keine  in  Wider- 
spruch stehen  darf;  andererseits  müssen  wir  darauf  bedacht  sein,  keine 
Verpflichtungen  zu  übernehmen,  die  früher  übernommenen  widerstreiten, 
oder  wir  müssen  uns  von  jenen  älteren,  soweit  möglich,  entbinden  lassen. 
So  erledigen  sich  die  scheinbaren  Konflikte  der  Pflichten. 

Als  einfache  Folge  der  Grundpflicht  erscheint  die  Tugendbildung. 
Die  Pflicht  besteht  für  sich  unabhängig  von  ihrer  Verwirklichung.  Ge- 
langt aber  das  Pflichtbewusstsein  zur  Herrschaft  über  das  Denken  und 
Handeln  des  Menschen,  so  besitzt  er  Tugend.  Entsprechend  der  Doppel- 
seitigkeit der  Grundpflicht  äussert  sicli  die  Grundtugend  einerseits  als 
Wahrhaftigkeit,  andererseits  als  Zuverlässigkeit.  Unmittelbar  mit  dieser 
Grundtugend  fallen  zusammen  Ehrlichkeit,  Gerechtigkeit,  Treue,  Weisheit. 
Die  sekundären  Tugenden  lassen  sich  unter  dem  Begriff  der  Selbstbe- 
herrschung zusammenfassen,  da  sie  alle  die  Disciplinierung  des  natürlichen 
Trieblebens,  sowie  der  Affekte,  Stimmungen  und  Leidenschaften  zum 
Gegenstand  haben.  Dahin  gehören  Tapferkeit,  Beharrlichkeit  und  Energie, 
Massigkeit  und  Keuschheit,  Ordnungsliebe,  Fleiss  u.  a.  Alle  diese  sekun- 
dären Tugenden  können  auch  aus  anderen  als  sittlichen  Motiven,  etwa  aus 
Ehrgeiz,  Gewinnsucht,  Furcht  vor  Krankheit,  erworben  werden,  sie  decken 
sich  also  nicht  mit  der  Sittlichkeit ;  dagegen  ist  dies  bei  der  Grundtugend 
der  Fall,  die  ihrerseits  allerdings  auch  jene  sekundären  Tugenden  not- 
wendig erheischt. 

Je  mehr  nun  das  sittliche  Selbstbewusstsein  sich  entwickelt,  um  so 
höher  wird  die  Schätzung  des  Menschen  als  solchen,  insofern  jeder  zu 
dieser  Sittlichkeit  Anlage  und  Berufung  in  sich  trägt.  Darauf  beruht 
eben  die  Würde  des  Menschen,  der  das  eigenartige  Gefühl  der  Achtung 
entspricht.  Die  Achtung  aber  wird  sich  auf  der  höchsten  Stufe  der  sitt- 
lichen Entwickelung  zur  Liebe  im  christlichen  Sinne  steigern. 

Das  dritte  Kapitel  behandelt  die  geschichtliche  Entwicke- 
lung des  sittlichen  Bewusstseins.  Der  Verf.  sucht  hier  zu  zeigen, 
dass  auch  nach  dem  Zeugnis  der  Geschichte  das  Bewusstsein  der  Grund- 
pflicht (der  Wahrhaftigkeit  und  Zuverlässigkeit)  der  ganzen  Menschheit 
gemeinsam  sei ;  dass  ferner  die  sekundären  Pflicliten  allgemein  als  auf 
der  Grundpflicht  ruhend  aufgefasst  würden.  Zugleich  giebt  dieses  Kapitel 
einen  Überblick  über  den  Einfluss  der  mannigfaltigen  und  wechselnden 
Verhältnisse  des  Lebens  auf  die  Gestaltung  des  Systems  der  Pflichten 
gegen  andere. 

Das  vierte  Kapitel  trägt  die  Überschrift:  „Das  böse  Prinzip". 
Die  Quelle  des  Bösen  wird  hier  gefunden  in  der  Entartung  des  Trieb- 
lebens zu  Genuss-  und  Ehrsucht.  Aus  jener  entspringen  die  Laster,  aus 
dieser  die  Leidenschaften.  Weitere  Folgen  sind  die  Überschätzung 
der  natürlichen  Güter,  die  Entartung  der  Affekte  und  Stimmungen  und 
die  Entartung   der  Kunst   unter   dem  Einfluss   der  Genuss-  und  Ehrsucht. 


Eecensionen  (Koppelmann).  215 

Ferner  wird  der  Zusammenluiiig  des  Bösen  in  der  Menschlieit  dargestellt 
und  die  Selbstsucht  als  logische  Konsequenz  der  Genuss-  und  Ehrsucht 
und  zugleich  als  Vollendung  des  Individuell-Bösen  aufgewiesen. 

Der  Gegenstand  des  fünften  Kapitel  ist  „Der  Kampf  des 
guten  Prinzips  mit  dem  bösen''.  In  dem  unfertigen  sittlichen  Zu- 
stand, in  dem  sich  vielleicht  die  meisten  befinden,  stehen  das  gute  und 
das  böse  Prinzip  im  Menschen  nebeneinander;  der  Mensch  wiegt  sich  ge- 
wöhnlich in  dem  Wahn,  beiden  zugleich  huldigen  zu  können.  Aber  so 
häufig  auch  dieses  Nebeneinander  psychologische  Thatsache  sein  mag, 
logisch  ist  es  unhaltbar,  die  Gesetze  der  geistigen  Entwickelung  drängen 
zur  inneren  Einheit  und  damit  zur  grundsätzlichen  Entscheidung  für  das 
eine  oder  das  andere  Prinzip.  Nun  ist  es  dabei  möglich,  dass  das  böse 
Prinzip  siegt ;  es  werden  dann  die  moralischen  Rücksichten  grundsätzlich 
den  Forderungen  des  Vorteils,  d.  h.  der  Genuss-  und  Ehrsucht,  unterge- 
ordnet. Eine  weitere  Möglichkeit  ist,  dass  die  Macht  des  bösen  Prinzips 
gebrochen  wird  durch  die  Einsicht  in  seine  Nichtigkeit,  durch  die  Über- 
zeugung, dass  alles  selbstsüchtige  Streben  eine  wirkliche  Befriedigung 
nicht  zu  gewähren  vermöge.  Dabei  ist  es  aber  noch  nicht  notwendig, 
dass  das  Heil  im  guten  Prinzip  gesucht  Averde,  was  zum  wirklichen  Sieg 
desselben  erforderlich  wäre.  Diese  Erscheinung  der  mehr  oder  minder 
vollkommenen  Erlösung  von  der  Macht  des  Bösen  ohne  lebendige  und 
positive  Hinwendung  zum  Guten  sucht  der  Verf.  in  der  religiösen  und 
philosophischen  Weltflucht  (im  Brahmanismus  und  Buddhismus,  femer  bei 
den  Cynikern,  Stoikern  und  Neuplatonikern)  aufzuweisen.  Den  wirklichen 
Sieg  des  guten  Prinzips  hält  er  nur  im  Zusammenhang  mit  einer  zuversicht- 
lichen Hoffnung  auf  Befriedigung  unseres  Glücksstrebens  für  möglich. 
Soll  der  Mensch  „sich  wirklich  dem  guten  Prinzip  vertrauensvoll  und  be- 
dingungslos in  die  Arme  werfen,  so  ist  es  notwendig,  dass  er  in  ihm  auch 
die  Sicherheit,  die  feste  Basis  in  den  Wechselfällen  des  Schicksals  zu 
finden  hoffe".  Dies  setzt  aber  voraus,  dass  er  in  dem  guten  Prinzip  nicht 
bloss  einen  im  Menschen  wirkenden  subjektiven  Faktor  sieht,  sondern 
eine  objektive  Realität,  im  Sinne  einer  kosmischen  Potenz,  einer  schick- 
salbestimmenden Macht.  So  erscheint  das  sittliche  Bewusstsein  als  Grund- 
lage der  Religion,  die  aber  ihrerseits  dann  erst  den  Sieg  des  guten  Prin- 
zips ermöglichen  soll.  Der  Gottesglaube  soll  aber  als  Postulat  in  sich 
schliessen,  dass  der  Lauf  der  Dinge  bis  ins  kleinste  vom  Willen  Gottes 
abhängig  sei.  Die  absolute  Beherrschung  des  Naturlaufs  durch  den  abso- 
luten Geist  sei  vorzustellen  nach  Analogie  derjenigen  menschlichen  Thätig- 
keit,  durch  die  wir  die  uns  bekannten,  gesetzmässig  wirkenden  Natur- 
kräfte unseren  Zwecken  dienstbar  machen.  Zu  einer  Objektivierung  des 
bösen  Prinzips  in  einem  Gott  gegenüberstehenden  Teufel  liege  dagegen 
keine  Berechtigung  vor. 

Der  volle  Sieg  des  guten  Prinzips  erscheint  so  an  Voraussetzungen 
gebunden,  die  bisher  wohl  nur  auf  dem  Boden  des  Christentums  aufge- 
funden werden.  „Die  Ethik  Jesu  ist  die  reinste,  konsequenteste  und 
höchste  Entfaltung  des  in  jedem  Menschen  wirksamen  sittlichen  Grund- 
prinzips." — 

Die  vorstehende  Übersicht  wird  genügen,  um  zu  zeigen,  dass  in  dem 
Buche  Koppelmanns  ein  bedeutsames,  lichtvoll  und  klar  durchgeführtes 
ethisches  System  vorliegt.  Es  ist  zugleich  ein  schönes  Zeugnis  für  die 
fortwirkende  und  stets  die  Geister  neu  befruchtende  Kraft  der  Kantischen 
Ethik  und  für  ihre  innere  Verwandtschaft  mit  dem  Geist  der  christlichen 
Sittenlehre.  Auch  dieses  Buch  bestätigt  wieder,  dass  zwar  Kant,  aber 
nicht  die  eudämonistischen  und  evolutionistischen  Erfolgsethiker  den 
Grundforderungen  unseres  thatsächlichen  sittlichen  Bewusstseins  Genüge 
zu  leisten  vermögen. 

Trotz  der  innigen  Anlehnung  an  Kant  liegt  nun  bei  Koppelmann 
doch   zugleich   eine    eigenartige  Um-   und  Weiterbildung   Kantischer   Ge- 


216  Recensionen  (Koppelmann). 

danken  vor.     Eine  nähere  Erwägung  derselben  wird  uns  zugleich  Gesichts- 
punkte für  die  Kritik  an  die  Hand  geben. 

Koppelmann  vindiziert  seiner  „Grnndpflicht"  der  Wahrhaftigkeit 
den  formalen  Cliarakter  und  die  Apriorität,  die  Kant  seinem  „katego- 
rischen Imperativ"  zusclireibt,  ja  es  wird  sozusagen  diese  „Grundpflicht" 
an  die  Stelle  des  Kantischen  „kategorischen  Imperativs"  gerückt.  Nun  ist 
aber  augenscheinlich  der  letztere  noch  in  höherem  Grade  formal  als  jener. 
Setzt  der  kategorische  Imperativ  lediglich  eine  Vielheit  wollender  und 
handelnder  Vernunftwesen  voraus,  so  zeigt  die  oben  angeführte  genauere 
Formulierung  der  „Grundpflicht",  dass  hier  schon  eine  Reihe  empirisch 
gegebener  Bedingungen  berücksichtigt  sind  (die  geistig-sinnliche  Natur 
der  Menschen,  die  eine  Nichtübereinstimmung  des  Inneren  inid  Äusseren 
ermöglicht,  das  Bedürfnis  und  die  Fähigkeit  des  Gedankenaustausches,  das 
Vorhandensein  von  Hindernissen  desselben,  die  Thatsache  heterogener 
Einflüsse,  die  geeignet  sind,  uns  von  der  Leitung  durch  die  Vernunft  ab- 
wendig zu  machen). 

Was  also  bei  Koppelmann  als  „Grundpflicht"  erscheint,  das  würde 
sich  nach  Kant  darstellen  als  eine  bestimmte  Anwendung  des  kategorischen 
Imperativs  auf  die  empirisch  gegebene  Menschennatur.  Ist  dies  aber 
richtig,  so  würde  auch  keine  Notwendigkeit  bestellen,  alle  anderen  Pflichten 
aus  dieser  „Grnndpflicht"  abzuleiten  (was  doch  auch  hier  und  da  nicht 
ohne  Zwang  und  künstliches  Verfahren  sich  durchführen  lässt),  sondern 
sie  würden  sich  ergeben  durch  selbständige  Anwendung  des  kategorischen 
Imperativs  auf  die  verschiedenen  Seiten  des  Menschen  und  der  mensch- 
lichen Gemeinschaften  in  ihrer  ganzen  konkreten  Gestaltung,  wie  sie  sich 
historisch  entwickelt  haben. 

Verschiebt  sich  so  der  formale  Charakter  des  obersten  sittlichen 
Satzes  gegenüber  Kant,  so  gilt  ein  Ähnliches  für  das  Merkmal  der  Apri- 
orität. Zwar  hebt  der  Verf.  hervor,  der  Begriff  des  a  priori  habe  nichts 
zu  thun  mit  „angeboren"  und  „anerschaffen",  aber  er  ist  doch  ernstlich 
bemüht,  den  apriorischen  Charakter  des  Pflichtbewusstseins  dadurch  zu 
sichern,  dass  er  gegenüber  Versuchen,  es  empirisch  zu  erklären,  zu  zeigen 
sucht,  dass  er  „nicht  von  aussen  her  auferlegt  oder  von  unserer  Umgebung 
uns  eingeprägt  worden  ist"  (81,  84  f.).  Nun  besagt  aber  der  Kantische 
Begriff  der  transscendentalen  Apriorität  lediglich,  dass  der  kategorische 
Imperativ  der  erzeugende  Gedanke,  die  oberste  Voraussetzung  der  Sittlich- 
keit ist.  Gemeint  ist  also  damit  nur  eine  begriffliche,  inhaltliche  Priorität 
im  Verhältnis  zu  den  einzelnen  konkreten  sittlichen  Geboten.  Wo  immer 
Sittlichkeit  ist,  da  lässt  sich  der  kategorische  Imperativ  als  das  oberste 
Prinzip  ihrer  Forderungen  herausanalysieren.  Ist  aber  mit  der  Apriorität 
nichts  weiter  behauptet,  so  bleibt  die  Frage  der  Entwickelung  des  sitt- 
lichen Bewusstseins  im  einzelnen  Menschen  (wde  auch  im  menschlichen 
Geschlecht)  als  eine  offene  der  empirischen  Forschung  überantwortet. 
Auch  wenn  diese  nachwiese,  dass  der  Einzelne  nur  durch  die  mannigfachen 
erzieherischen  Einwirkungen  der  Umgebung  zum  sittlichen  Bewiisstsein 
gelangen  kann,  so  wäre  damit  der  apriorische  Charakter  des  Sittlichen  im 
Sinne  Kants  wohl  vereinbar.  Dass  aber  dieser  Sachverhalt  bei  Koppel-  tij 
mann  nicht  unzweideutig  hervortritt,  hat  seinen  tieferen  Grund  darin,  P| 
dass  er  schliesslich  doch  die  Apriorität  metaphysisch  fasst,  also  im  Sinne 
des  Anerschaffenen.  Ausdrücklich  erklärt  er  (332),  da  die  Pflicht  der 
Wahrhaftigkeit  (der  ja  die  Apriorität  allein  im  eigentlichen  Sinne  zu- 
kommen soll),  „ebenso  wie  unsere  Vernunftanlage  selbst,  ohne  unser 
Zu  thun,  ohne  unseren  Willen  da  sei",  so  ergebe  sich,  sobald  die  Re- 
flexion darüber  einsetze,  „der  notwendige  Schluss,  dass  sie  aus  derselben 
Quelle  stamme,  aus  der  unsere  höhere  Natur  als  Vernunftwesen  stamme, 
dass  sie  also  in  irgend  einer  Weise  dem  Urgründe  des  Seins  ent- 
springe". 

Diese  Tendenz,  die  Apriorität  des  Sittengesetzes  gleich  zu  setzen 
seiner  Einpflanzung  in  den  Menschen  durch  den  Schöpfer,  findet  nun  ihre 


Recensionen  (Mellin-Goldschmidt).  217 

Entsprechung  in  der  Neigung,  die  Geltung  des  Vemunftgesetzes  zu 
sichern  durch  seine  Zurückführnng  auf  Gott.  So  heisst  es  von  dem  reli- 
giösen Menschen,  dass  er  „in  dem  guten  Prinzip  nicht  bloss  das  Vernunft- 
gesetz sehe,  nicht  bloss  einen  im  Menschen  wirkenden  subjektiven  Faktor, 
sondern  eine  objektive  Realität"  (328).  Dem  gegenüber  wäre  mit  Kant 
zu  sagen,  dass  der  subjektive  Charakter  des  Sittengesetzes  sein  Dasein 
und  seine  Wirksamkeit  im  Subjekt,  seine  objektive  Realität  im  Sinne  der 
Geltung  für  alle  Vernunftwesen  durchaus  nicht  ausschliesse,  sondern  dass 
darin  gerade  ein  wesentliches  Merkmal  des  Sittlichen  bestehe. 

Inwiefern  aber  der  Einzelne  der  Religion  und  der  durch  sie  gewähr- 
leisteten Befriedigung  unseres  Glückstrebens  bedarf,  um  sittlich  zu  handeln, 
darüber  wird  man  nur  auf  Grund  der  Erfahrung  entscheiden  können.  So 
wenig  sich  Kants  Lehre  vom  höchsten  Gut  und  den  Postulaten  zwingend  aus 
den  ethischen  Grundlehren  ableiten  lässt,  so  wenig  gilt  dies  von  dem  reli- 
giösen Überbau,  den  unser  Verf.  auf  dem  Gebäude  seiner  Ethik  errichtet. 
Das  schliesst  nicht  aus,  dass  gleichgestimmte  Seelen  mit  diesen  religiösen 
Anschauungen  sj-mpathisieren  und  in  ihnen  Halt  und  Förderung  in  dem 
sittlichen  Kampfe  finden. 

Giessen.  August  Messer. 

3Iellin.  Marginalien  und  Register  zu  Kants  Kritik  der  Er- 
kenntnisvermögen; 2.  Teil.  Grundlegimg  zur  Metaphysik  der  Sitten, 
Kritik  der  praktischen  Vernunft,  Kritik  der  Urteilskraft.  Neu  heraus- 
gegeben und  mit  einer  Begleitschrift:  der  Zusammenhang  der  Kantischen 
Kritiken  versehen,  von  Ludwig  Goldschmidt.  Gotha,  Thienemann  1902. 
X  und  342  S. 

Das  Buch  zerfällt  wiederum,  wie  die  frühere  Publikation  des  Heraus- 
gebers von  Mellins  Marginalien  zur  Kritik  der  reinen  Vernunft  (Gotha 
1900,  besprochen  Kantstudien,  Bd.  VI,  83  ff.),  in  zwei  dem  L^mfang  wie 
dem  Werte  nach  ungleiche  Teile;  in  die  einleitende  Begleitschrift  Gold- 
schmidts (S.  1  -  69)  mit  Vorwort  (S.  V — X)  und  in  die  Arbeit  MeUins. 
(S.  1—237;  dieser  Teil  beginnt  mit  frischer  Paginierung  in  gleichfalls  ara- 
laischen  Zahlen).  In  der  schlichten  Vorrede  MeUins  geben  sich  die  Margi- 
nalien als  das,  was  sie  sind,  als  ein  „Auszug  aus  den  auf  dem  Titel  ge- 
nannten unsterblichen  Werken"  (S.  3).  Auf  den  wörtlichen  Abdruck  der 
von  Kant  den  betreffenden  Schriften  beigegebenen  Inhaltsangaben  (S.  5 — 14) 
folgen  die  Marginalien  selbst  (S.  15 — 199).  Sämtliche  Auszüge  Mellins  sind 
übersichtlich,  klar  und  knapp,  leisten  also  alles,  was  von  Auszügen  ver- 
langt werden  kann.  Dass  sie  die  Ecken  und  Widersprüche  nicht  hervor- 
kehren, sondern  eher  abschleifen,  wird  man  ihrem  Zweck  zu  gute  halten: 
den  einheitlichen  Gedankenbau,  den  Kant  beabsichtigte,  in  grossen  Linien 
vor  uns  erstehen  zu  lassen.  Auch  in  dem  Register  zu  den  drei  Kantischen 
Schriften,  das  unser  Buch  beschliesst  (S.  200—237),  bethätigt  Mellin  seine 
treue  Anhängerschaft  an  Kant  nur  auf  thatsächlichen  Gebieten,  deren  Be- 
arbeitung jedermann  willkommen  heissen  wird.  Goldschmidts  Begieit- 
schrift  ist  ein  wahres  Gegenstück  zu  dieser  Art  des  Kantianismus.  Sehen 
wir  Mellin  das  Verständnis  der  kritischen  Philosophie  dadurch  zu  fördern 
bemüht,  dass  er  die  Werke  Kants  durch  anspruchslose  Zusammenfassung 
uns  zugänglicher  zu  machen  sucht,  so  will  Goldschmidt  durch  seine  Studie 
über  den  „Zusammenhang  der  drei  Kritiken"  zugleich  die  Richtigkeit  der 
Kantischen  Lehre  als  der  allein  selig  machenden  erweisen.  Nachdem  er 
in  einem  pathetischen  Vorwort  die  Zerrissenheit  der  modernen  Philosophie 

—  die  wir  gern  zugeben  —  beklagt  und  die  unbedingte  Unterwerfung 
unter   die  Autorität    Kants    als    einzige  „Erlösung  aus  dieser  Verwirrung" 

—  was  wir  nicht  zugeben  —  gefordert,  bietet  er  in  dem  „Zusammenhang 
der  drei  Kritiken"  nur  eine  Wiedergabe  der  Kantischen  Gedankengänge. 
Diese  hält  sich  aber  nicht  in  den  Grenzen  Mellinscher  Nai^ätät  an  die  ur- 
sprünglichen Dokumente  Kants,  sondern  giebt  eine  übrigens  nicht  einmal 
sehr  gelungene  freie  Rekonstruktion  mit  allerhand  Seitenhieben  auf  die 
Gegner.     Da  Goldschmidt  aber  auf  allen  zweifelhaften  Punkten  nur  Kants 


218  Recensionen  (Vorländer). 

Eutscheiduiigen  anführt,  mit  den  pi'oblematisclieu  Bejiriffen  wie  objektiv, 
subjektiv.  Erscheinung:,  Geg:enstand,  Glaube  ganz  in  Kantischer  Vieldeutig- 
keit arbeitet,    so    bleiben    alle    seine  orthodoxen  Behauptungen  eben  bloss 

—  Behauptungen.  Wenn  er  z.  B.  den  kühnen  Satz  aufstellt:  „Kants 
Hauptwerk  löst  diese  Frage  (nach  dem  wahrhaften,  unbestreitbaren  und 
unwiderlegbaren  Gebrauch  der  eigenen  Erkenntniskräfte)  in  .systematischer 
Vollkommenheit  Widerspruchs-  und  lückenlos"  (S.  2);  oder  ein  andermal: 
„Kants  Kritiken  haben  weder  Ersatz  noch  Nachhilfe  neuer  Gründe  für  das 
sehende,  geübte  Auge  nötig"  (S.  3);  „wir  wollen  an  dieser  Stelle  auf  den 
straffen  Zusammenhang  der  drei  Kritiken  eingehen"  (S.  5);  „für  diese, 
wenn  auch  objektiv  unergründlichen  Ideen  ist  mit  Leichtigkeit  (!)  ein 
jedermann  bekannter  immanenter  Gebrauch  praktisch- objektiver  Begriffe 
nachgewiesen"  (S.  16)  —  so  hat  Goldschmidt  weder  die  Lückenlosigkeit, 
noch  die  Unnötigkeit  neuer  Gründe,  noch  den  straffen  Zusammenhang, 
noch  die  Notwendigkeit  der  Vernunftideen  (Gott-Freiheit-Unsterblichkeit) 
zum  Behuf  der  Sittlichkeit  irgendwie  erwiesen.  Und  so  muss  man  es 
immer  wieder  betonen:  derartige  Ausführungen  dienen  nicht  der  Sache 
Kants,  der  stets  in  der  Erforschung  und  Begründung,  nicht  in  dogmatischer 
Verkündigung  der  Wahrheit  seine  Aufgabe  erblickte.  Der  Dank  aber  für 
die  Neuherausgabe  auch  dieses  2.  und  letzten  Teils  der  Mellinschen  Mar- 
ginalien und  Register  wird  dadurch  nicht  al)geschwächt,  dass  wir  dem 
eigenen  Standpunkt  des  Herausgebers  grundsätzlich  nicht  zuzustimmen 
vermögen. 

Leipzig.  Raoul  Richter. 

Vorländer,  Karl,  Dr.  Geschichte  der  Philosophie.  I.Band. 
Philosophie  des  Altertums  und  des  Mittelalters.  X  u.  292.  II.  Band. 
Philosophie  der  Neuzeit.  VIII  u.  539.  Leipzig.  Verlag  der  Dürr'schen 
Buchhandlung.     1903. 

Ein  Werk  von  mittlerem  Umfang  will  K.  Vorländers  „Geschichte 
der  Philosophie"  die  Lücke  ausfüllen,  welche  zwischen  den  grossen  philo- 
sophiegeschichtlichen Werken  und  den  kleineren  Kompendien  klafft.  Sie 
wül  vor  allem  den  Interessen  des  Studierenden  dienen  und  diesem  eine 
wissenschaftlich  einwandsfreie,  ja  selbständige  Darstellung  der  philosophi- 
schen Systeme  und  Richtungen  der  Vergangenheit  und  Gegenwart  bieten. 
Unter  dem  Gesichtspunkte  dieser  Aufgabe  muss  das  Werk  beurteilt  werden. 

—  Seine  ganze  Anlage,  die  anregende  und  übersichtliche,  von  Farblosig- 
keit  und  Überschätzung  der  eigenen  Massstäbe  gleich  weit  entfernte  Dar- 
stellung, eine  knappe,  aber  klare  und  präcise  Sprache,  die  kritische  Ver- 
wertung der  Ergebnisse  der  neueren  philologischen  Forschung  und  ausführ- 
liche, aber  das  zulässige  Mass  eines  Lehrbuches  nicht  überschreitende 
Litteraturangaben  lassen  es  seiner  Aitfgabe  in  hervorragender  Weise  ge- 
recht werden. 

Die  Darstellung  der  Geschichte  der  Philosophie  des  Altertums  domi- 
niert die  Philosophie  der  Griechen.  Vorländer  hat  hier  im  Grossen  und 
Ganzen  die  übliche  Einteilung  der  Perioden  beibehalten.  Inbetreff  der 
historischen  imd  systematischen  Stellung  Heraklits  vertritt  er  im  wesent- 
lichen den  Standpunkt  von  Windelbands  Geschichte  der  alten  Philosophie, 
welche  Xenophanes  von  den  übrigen  Eleaten  trennt.  Eine  solche  Ein- 
teilung erscheint  uns  mehr  historisch  -  Heraklit  ist  jünger,  als  Xeno- 
phanes itnd  älter,  als  Parmenides  — ,  denn  systematisch  gerechtfertigt. 
Der  „grosse"  Parmenides  hat  von  den  Lehren  des  Xenophanes  die  inten- 
sivsten Anregungen  empfangen.  l>  yag  IIuQ^Evi^rts  tovtov  (nämlich  Toi> 
Seyorfäyovi)  'üytiai  fj.ad^rjKi';  —  sagt  Aristoteles  über  das  Verhältnis  der 
beiden  Denker.  Parmenides  hat  die  pantheistisch  gefärbte  poetische  Ein- 
heitslehre des  Xenophanes  systematisch  vollendet.  Auch  die  systematische 
Darstellung  ihrer  Lehren  gehört  darum  —  unseres  Erachtens  —  zusammen. 
Aber  davon  abgesehen  —  müsste  der  Gegensatz  des  einsamen  Denkers 
von  Ephesus  zur  eleatischen  Schule  didaktisch  umso  eindrucksvoller  her- 
vortreten, je  schärfer  seine  Lehre  dem  geschlossenen  Systeme  der  Eleaten 


Recensionen  (Vorländer).  219 

gegenübergestellt  würde.  Überhaupt  sollte  Heraklit  —  wie  wir  glauben  — 
eine  besondere  Stelle  unter  den  griechischen  Philosophen  eingeräumt 
werden.  Seine  Lehre  vom  Mass  und  Gesetz  im  Werden  trennt  ihn,  den 
ersten  Systemphilosophen,  gleich  scharf  von  der  Naturphilosophie  der  alten 
milesischen  Denker,  wie  von  der  Metaphysik  der  Eleaten.  Er  ist  der  erste 
antike  Vorläufer  der  modernen,  erkenntnistheoretisch  an  dem  philoso- 
phischen Kritizismus  orientierten  Naturforschung.  Seine  Logoslehre,  der 
Begriff  der  Naturgesetzlichkeit  steht  an  der  Spitze  seines  philosophischen 
Systems.  Die  milesischen  Elemente  seiner  Philosophie,  die  Lehre  vom 
„ewigen  Fluss"  und  vom  „ewig  lebenden  Feuer"  sind  Symbole  seines 
philosophischen  Prinzips,  nicht  sein  philosophisches  Prinzip  selbst:  die 
schaffende,  beständig  wirksame  Thätigkeit  der  Vernunft.  —  Die  Lehre 
Heraklits  kann  trotz  ihrer  mannigfachen  historischen  und  sachlichen  Be- 
ziehungen keinem  philosophischen  Systeme  des  klassischen  Altertums 
—  auch  äusserlich  nicht  —  angegliedert  werden,  wenn  sie  uns  in  ihrer 
ganzen  originellen  Grösse  zu  Bewusstsein  kommen  soll.  — 

Nächst  Heraklit  bietet  der  historischen  Darstellung  kaum  ein  Denker 
der  vorplatonischen  Periode  so  grosse  Schwierigkeiten,  wie  Demokrit. 
Von  vielen  als  der  grösste  Philosoph  des  klassischen  Altertums  überhaupt 
verehrt,  gehört  er  sicherlich  zu  den  tiefsten  und  für  die  Theorie  der 
Naturerklärung  und  die  Erkenntniswissenschaft  massgebendsten  Denkern 
aller  Zeiten.  —  Demokrit  ist  Rationalist.  Sein  berühmter  Satz:  ovdey 
XQrjfxa  ficar^p  yiyetca,  cc'/.ku  nc'tpTu  ix  '/.öyov  x(d  vn  uvuyxr^i  ist  der  Ausdruck 
einer  in  logischem  Sinne  kritischen  Erfahrungstheorie.  Er  hat  —  ohne  es 
auf  die  Formel  des  modernen  Kritizismus  gebracht  und  theoretisch  be- 
gründet zu  haben  —  die  synthetische,  d.  h.  für  Dinge  und  nicht  nur  für 
Begriffe  verbindliche  Geltung  des  Satzes  vom  Gnmde  erkannt.  Er  hat 
ein  Ergebnis  der  kritischen  Philosophie  ausgesprochen,  ohne  noch  deren 
Begriff  formuliert  zu  haben.  Seine  vnod-daeig  sind  die  mathematischen 
Grundlagen  der  Naturerklärung,  aber  er  kennt  noch  nicht  das  Problem 
der  mathematischen  Naturwissenschaft,  kurz  die  Frage,  „wie  synthetische 
Urteile  a  priori  möglich  sind".  Ihm  fehlt  der  kritische  Begriff  der  Er- 
scheinung. Gleich  Descartes  gilt  ihm  die  Abstraktion  von  der  Qualität 
der  Phänomene  als  eine  realis  distinctio.  Die  mathematischen  Naturge- 
setze sind  für  ihn  nicht  die  Formen  der  Erscheinungen,  sie  verdichten  sich 
für  ihn  zu  den,  dem  Verstände  allein  zugänglichen  wahren  Dingen.  Sein 
Rationalismus  äussert  sich  in  metaphysischem  Materialismus  und  gjaivo^evu 
werden  für  ihn  zu  Gegenständen ,  beziehungsweise  Elementen  einer 
„dunklen"  Erkenntnis  {axorir^),  mitbedingt  durch  die  spezifische  Energie 
imserer  Sinnesorgane.  —  Ist  nun  Demokrit  —  wie  Vorländer  meint  — 
kritischer  Idealist?  Wir  werden  diese  Frage  schon  auf  Grund  der  unter 
dem  Gesichtspunkte  des  philosophischen  Kritizismus  eben  entworfenen 
Skizze  seiner  Lehre  verneinen  müssen.  Demokrits  —  freilich  überaus 
bedeutsamen  —  Beziehungen  zum  kritischen  Idealismus  erschöpfen  sich 
in  dem  Begriffe  der  logischen  Notwendigkeit  des  natürlichen  Geschehens, 
in  der  quantitativen  Formulierung  des  Substanzsatzes,  in  dem  von  ihm 
angenommenen  Verhältnis  des  letzteren  zum  Kausalgesetz,  in  der  Trennung 
von  Raum  und  Körperlichkeit,  ein  Gedanke,  welchen  er  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  fertig  von  Leukipp  übernommen  hatte.  Es  sind  dies 
die  Beziehungen  Demokrits  zur  wissenschaftlichen.  Naturforschung  über- 
haupt, welche  am  Beginne  der  Neuzeit  wieder  entdeckt,  den  mittelalter- 
lichen Gegensatz  der  sublunaren  und  der  himmlischen  Regionen  vernich- 
teten. Wer  aber,  wie  Demokrit,  das  wahre  Objekt  der  Erkenntnis  in 
einer  intelligiblen  Welt  qualitätsloser  und  beharrlicher  Korpuskeln  gefunden 
zu  haben  glaubt,  wer  vor  allem  den  leeren  Raum  für  eine  Realität  hält, 
ist,  im  Grunde  genommen,  ein  Gegner  des  kritischen  Idealismus.  —  Es 
ist  dies  der  einzige  wichtige  Einwand,  den  wir  gegen  die  Darstellung  der 
theoretischen  Philosopliie  Demokrits  durch  Vorländer  zu  erheben  hätten, 
ein  Beweis  zugleich,   wie   wenig   das  griechische  Denken  im   allgemeinen 


220  Recensionen   (Vorländer). 

der  Systematik  der  inodernen  Wissenschaftslehre  eing'eordnet  zu  werden 
vermag:.  Mit  umso  grösserem  Nachdruck  möchten  wir  der  Vorzüge  er- 
wähnen, durch  welche  sich  die  kurze  Darstellung-  der  Ethik  Demokrits 
auszeichnet.  Vorländer,  der  verdienstvolle  Übersetzer  der  ethischen  Frag- 
mente des  grossen  Naturphilosophen  (Vgl.  Ztschrift.  f.  Philos.  und  philos. 
Kritik.  Bd.  107 )  hat  hier  nicht  allein  eine  packende  Charakteristik  der 
rationalistischen  Züge  in  Demokrits  Ethik  geliefert,  er  bietet  dem  Leser 
auch  eine  Auswahl  charakteristischer  Proben  aus  den  ethischen  Fragmenten 
des  Abderiten  selbst.  —  Einen  der  trefflichsten,  auch  litterarisch  wert- 
vollsten Abschnitte  des  Vorländerschen  Werkes  bilden  die  allgemeinen 
Betrachtungen  über  die  Entstehung  und  die  Grundzüge  der  Sophistik.  In 
scharfen  Umrissen  schildert  der  Verfasser  die  Menschen  und  die  Stim- 
mungen der  griechischen  Aufklärungsperiode.  Scharf  und  klar  sehen  wir 
die  markanten  Gestalten  der  Relativisten  und  Rhetoren  des  perikleischen 
Zeitalters  und  deren  grossen  Gegner,  Sokrates,  vor  uns,  dessen  Lehre  die 
klassische  Periode  der  griechischen  Philosophie,  deren  höchste  Blüte  im 
Systeme  Piatons  vorbereitet.  In  trefflicher  Weise  zeichnet  Vorländer  den 
ethischen  Rationalismus  des  Athener  Revolutionärs.  Was  in  unserer,  von 
der  Philosophie  Schopenhauers  immer  noch  stark  beeinflussten  Zeit  viel- 
leicht eine  intensivere  Betonung  verdient  hätte,  ist  die  sokratische  Lehre 
von  der  Selbstgesetzgebung,  der  Aktivität  der  praktischen  Vernunft,  der 
Einheit  von  Vernunft  und  Wille.  Selbsterkenntnis  heisst  für  Sokrates 
Selbstüberwindung.  Wollen  bedeutet  für  ihn  ICrkennen.  Sein  „Wille" 
hemeistert  das  „blinde"  Walten  der  Triebe  und  Leidenschaften.  Er  ist  die 
zum  Affekt  gewordene  Vernunft.  — 

Von  einer  Entwickelungsgeschichte  der  Lehre  Piatons  hat  Vor- 
länder prinzipiell  abgesehen.  Dennoch  bietet  er  unter  Berücksichtigung 
der  Ergebnisse  der  historisch-philologischen  Erforschung  dieses  Gegen- 
standes eine  verdienstvolle  kritische  Gruppierung  der  platonischen  Dialoge. 
Vorländers  Darstellung  der  platonischen  Philosophie  selbst  lässt  an  Schärfe 
und  Klarheit  nichts  zu  wünschen  übrig.  Nichtsdestoweniger  glauben  wir 
sie  durch  einige  Bemerkungen  ergänzen,  beziehungsweise  berichtigen  zu 
sollen.  —  Piaton  hat  —  wie  Vorländer  bemerkt  —  den  sokratischen  Be- 
griff vertieft  und  zur  Idee  erhoben.  Er  hat  —  so  möchten  wir  hinzu- 
setzen —  alle  Begriffe  als  Wertbegriffe  betrachtet  in  HinbHck  auf  das 
unwandelbare  Sein  der  ethischen  und  ästhetischen  Prädikate  ihres  nur 
durch  den  Geist  zu  erfassenden  Gegenstandes.  Die  Idee  ist  das  Objekt 
der  begrifflichen  Erkenntnis  und  das  unerreichbare,  von  allen  Mängeln 
der  Sinnlichkeit  freie  Ziel  des  ethischen  Strebens  und  des  ästhetischen 
Schaffens.  Sie  ist  der  metaphysische  Träger  der  platonisch-sokratischen 
Grundvoraussetzung  von  der  Einheit  der  Erkenntnis  und  der  Tugend.  Sie 
ist  der  zeitlos-ewige  und  absolute  Massstab  allen  Erkennens  und  Handelns, 
der  zeitlose  Massstab  der  im  Hinblick  auf  diesen  unvollkommenen  Natur 
selbst.  Die  Idee  ist  nicht,  weil  sie  gedacht  wird  (vgl.  I.  Bd.  S.  94',  sie 
wird  gedacht,  weil  sie  ist.  Denn  Denken  heisst  den  Geist  auf  die  ewige 
Idee  richten.  Ideen  sind  absolute  Werte.  Gewiss,  auch  sie  werden  im 
Geiste  „erzeugt",  aber  nicht  durch  das  Erzeugtwerden  zugleich  in  ihrer 
Geltung  begründet.  Die  platonische  uereitg  ist  ein  teleologisches,  nicht 
ein  räumliches  oder  dynamisches,  aber  auch  gewiss  nicht  ein  rein  erkennt- 
nistheoretisches Verhältnis.  Die  Ideen  ^  sagt  Vorländer  —  bekommen 
Sinn  und  Geltung  erst  dadurch,  dass  sie  sich  in  Erfahrung  umsetzen  lassen, 
am  letzten  Ende  auf  Sinnendinge  beziehen  (I.  Bd.  S.  98).  Ideen  sind 
—  so  möchten  wir  die  naonvai«  Piatons  verstanden  wissen  —  kraft  ihrer 
Zweckwirkung  in  den  Dingen  der  sinnlichen  Erfahrung  vorhanden.  Sie 
sind  die  Gesetze  der  sinnlichen  Welt,  nur  sofern  sie  das  Ziel  sind,  dem 
diese  zustrebt,  die  Zweckursache,  der  die  Sinnenwelt  gehorcht.  „Sinn  und 
Geltung"  der  platonischen  Ideen  könnte  von  den  Sinnendingen  nur  dann 
abhängen,  wenn  die  Idee  ein  kategoriales  Fornigesetz  der  Erscheinungen, 
wenn  die  Ideenlehre    mit  anderen  Worten    nicht   teleologischer  Dualismus 


Hecensionön  (Vorländer).  221 

wäre.  —  Je  schärfer  dieser  Dualismus  in  der  Darstellung:  hervortritt,  umso 
mehr  erhebt  sich  uns  die  platonische  Idee  über  den  sokratischen  Begriff, 
umso  mehr  durchdringt  uns  die  Überzeugung  von  der  historischen  Mission 
des  Piatonismus  überhaupt,  den  unverrückbaren  Wertmassstab  für  das 
Trachten  und  Streben  des  Menschen  in  der  erhabenen  Welt  der  Ideale 
erkannt  zu  haben.  —  Ihrem  Inhalte  nach  war  die  platonisclie  Ideenlehre 
für  die  Naturforschung  unfruchtbar,  die  Methode  ihrer  Begründung  durch 
Piaton  aber  ist  die  deduktive  Methode  Galileis.  Mit  Schärfe  und  Klar- 
heit hat  Vorländer  die  Bedeutung  der  von  Piaton  entdeckten  analytischen 
Methode  der  Geometrie  erörtert.  Wenn  er  hier  der  Beziehungen  Piatons 
zur  Methode  Galileis  niclit  gedenkt,  so  hat  er  dabei  offenbar  den  —  unseres 
Erachtens  —  für  das  Prinzip  der  platonischen  Deduktion  freilich  nicht 
wesentlichen,  wenn  auch  für  die  natur^\^ssenschaftliche  Bedeutung  der 
Galileischen  Methode  ausschlaggebenden  Unterschied  in  der  Stellung  der 
beiden  Denker  zum  Experiment  vor  Augen:  Piaton  prüft  die  begriff- 
liche Notwendigkeit,  Galilei  die  sachliche  Gültigkeit  der  vnod-tctg  — 
Und  nun  noch  ein  Wort  über  die  Darstellung  des  platonischen  Staats- 
ideals! Sie  zeichnet  sich  bei  aller  Knappheit  durch  eine  verständnisvolle 
Würdigung  dieser  vielleicht  grossartigsten  Schöpfung  des  platonischen 
Geistes  aus.  Zwei  Punkte  könnten  bei  einer  Neuauflage  des  Werkes  im 
Interesse  der  Vollkommenheit  der  Darstellung  ohne  nennenswerte  Ver- 
grösserung  des  Kapitels  über  den  Staat  Piatons  —  unseres  Erachtens  — 
eingehender  berücksichtigt  werden:  sein  hierarchisch  -  spiritualistischer 
Charakter,  die  transscendenten  Ziele,  welchen  auch  er  zustrebt  und  der 
hier  zum  erstenmal  systematisch  durchgeführte  Gedanke  einer  beruflichen 
Ausbildung  der  Jugend.  Es  sind  dies  Punkte,  in  welchen  sich  zwei  wesent- 
liche Elemente  des  platonischen  Gedankenkreises  manifestieren:  die  Be- 
einflussung Piatons  durch  die  hierarchischen  Institutionen  der  alten  Egypter 
und  die  dem  hellenischem  Geiste  als  solchem  ferneliegende  Schätzung  der 
Fachbildung. 

Die  dreissig  Seiten  seines  Buches,  welche  Vorländer  der  Philosophie 
des  Aristoteles  widmet,  enthalten  eine  treffliche  Skizze  der  Gedanken- 
welt des  Stagiriten.  Klar  und  eindringlich  schildert  er  uns  den  für  die 
Entwickelung  der  neueren  Philosophie  so  bedeutungsvoll  gewordenen 
Gegensatz  zwischen  Piaton  und  Aristoteles.  Die  Sympathien  des  Kantia- 
ners besitzt  natürlich  der  Erkenntnistheoretiker  Piaton,  nicht  der  nüch- 
terne Systematiker  Aristoteles,  dessen  Sorge  weniger  die  Theorie  der 
wissenschaftlichen  Forschung,  als  vielmehr  die  Methode  der  Darstellung 
bildet.  Auf  Einzelheiten  einzugehen,  müssen  wir  uns  hier  versagen.  Wir 
beschränken  uns  darauf,  einen  Punkt  hervorzuheben,  der  vielleicht  einer 
eingehenderen  Darstellung  bedürftig  gewesen  wäre:  die  metaphysische 
Rolle  der  aristotelischen  Logik.  —  Von  den  philosophischen  Systemen  des 
Altertums  möchten  wir  nur  noch  kurz  der  Neuplatoniker  und  deren  Vor- 
läufer Erwähnung  thun.  welche  in  Vorländers  Geschichte  der  Philosophie 
eine  besonders  glückliche  Darstellung  gefunden  haben.  Mit  Geschick  und 
Selbständigkeit  weiss  er  hier  die  mannigfachen  Tendenzen  blosszulegen, 
welche  in  dieser  eigenartigen,  an  der  Grenzscheide  zweier  Kulturperioden 
stehenden  Lehre  ineinanderlaufen,  ohne  doch  allgemeinen  kulturhistorischen 
Erörterungen  allzuviel  Raum  zu  gewähren. 

Als  ein  besonderes  Verdienst  seiner  Philosophiegeschichte  möchten 
wir  hier  noch  die  relative  Ausführlichkeit  in  der  Behandlung  der  Philo- 
sophie des  Mittelalters  hervorheben  und  uns  dann  sogleich  der  Betrach- 
tung des  zweiten,  der  Philosophie  der  Neuzeit  gewidmeten  Bandes  zu- 
wenden, nicht  um  die  Ausführungen  des  Verfassers  Schritt  für  Schritt  zu 
verfolgen,  sondern  um  uns  an  einigen  wenigen  Punkten  die  Eigentümlich- 
keiten auch  dieses  Teiles  der  Vorländerschen  Philosophiegeschichte  vor 
Augen  zu  führen.  Zunächst  möchten  wir  auf  den  schönen  Abschnitt  über 
Galilei  und  auf  die  scharfe,  aber  gerechte  Kritik  des  baconischen 
Empirismus  hingewiesen  haben,   der  von  Vielen  immer  noch  für  den  Aus- 


222  Recensionen  (Vorländer). 

g:arij2:spnnkt  der  neueren  Philosophie  und  Wissenschaft  g:ehalten  wird.  Die 
Darstellung  der  Lehre  des  Descartes  k-itet  dann  zur  Schilderung  der 
grossen  dogmatischen  Sj'steme  der  Neuzeit  hinüber.  Mit  kritischem  Scharf- 
blick stellt  der  Verfasser  die  Methode,  nicht  die  Metaphysik  des  Carte- 
sius  an  die  Spitze  seiner  Ausführungen  über  den  Philosophen.  Denn  in 
der  That:  die  Metaphysik  steht  bei  Cartesius  im  Dienste  der  Methode, 
sie  ist  ein  Hülfsmittel  zum  Beweise  der  Realität  der  physikalischen  Grund- 
begriffe. Dabei  gilt  für  Cartesius  die  Auffindung  der  richtigen  Methode 
zugleich  als  metaphysische  Entdeckung,  denn  sein  Streben  ist  auf  ein 
Prinzip  gerichtet,  das  Wahrheit  und  Wirklichkeit  in  sich  vereinigt.  Des- 
cartes macht  die  Begreiflichkeit  der  Dinge  zum  Masse  ihrer  Realität,  die 
Sinnenwelt  wird  für  ihn  zu  einem  baren  mathematischen  Objekt.  „Er 
sah  nicht"  —  so  sagen  wir  mit  Riehl  — ,  „dass  dieses  Objekt  nichts  als 
den  Niederschlag  seiner  eigenen  Abstraktion  darstellt  und  dass  nur  als 
Abstraktion  genommen  sein  Verfahren  berechtigt  war."i)  Er  unterschied 
nicht  zwischen  einem  mathematischen  Objekt  und  den  mathematischen 
Gesetzen  der  Objekte  und  deren  Beziehungen.  Das  bestimmt  seinen  von 
Vorländer,  unseres  Erachtens,  zu  wenig  gewürdigten  Abstand  von  Galilei 
und  sein,  trotz  aller  Genialität  auf  dem  Gebiete  der  Mathematik  und  der 
Naturforschung  im  ganzen  negatives  Verhältnis  zu  der  theoretischen  Natur- 
wissenschaft und  der  kritischen  Erkenntnistheorie.  —  Als  besonders  ver- 
dienstvoll möchten  wir  Voi'länders  Darstellung  der  Philosophie  des  Thomas 
Hobbes  bezeichnen,  der  lange  als  Materialist  und  Atheist  verschrieen, 
erst  unserer  Zeit  als  ein  genialer,  nur  Galilei  an  die  Seite  zu  stellender 
Vorläufer   der    kritischen  Wissenschaftslehre    bekannt   zu  werden  beginnt. 

Hobbes  ist  kritischer  Phänomenalist,  seine  Methode  die  Methode 
Galileis.  Seine  Lehre  von  der  formalen  Natur  der  Raum  Vorstellung,  von 
den  ursprünglichen  und  den  sekundären  Bestimmungen  des  Körpers,  von 
der  logischen  Notwendigkeit  des  ursächlichen  Geschehens,  der  fundamen- 
tale Satz,  dass  das  Mögliche,  nicht  das  Wirkliche  den  Gegenstand  der 
Wissenschaft  bilde,  setzen  ihn  in  unmittelbare  sachliche  Beziehung  zum 
philosophischen  Kritizismus,  wie  er  andererseits  durch  seine  mathematischen 
Arbeiten  die  Entdeckung  der  Infinitesiraalmethode  vorbereitet  und  sich 
durch  seine  physiologische  Theorie  der  Empfindungen  mit  den  modernsten 
energetischen  Anschauungen  berührt.  Vielleicht  entschliesst  sich  der  Ver- 
fasser, das  Kapitel  über  die  Philosophie  des  Hobbes  in  einer  zweiten  Auf- 
lage seines  Werkes  der  gewaltigen  philosophiegeschichtlichen  Bedeutung 
des  englischen  Denkers  entsprechend  zu  erweitern. 

Wir  übergehen  die  schöne  Darstellung  der  Philosophie  Spinozas  und 
Leibnizens,  um  mit  wenigen  Worten  der  Schilderung  zu  gedenken,  welche 
die  kritische  Philosophie  im  Vorländerschen  Werke  gefunden  hat.  — 
John  Lockes  Fragestellung  hält  Vorländer  nicht  für  erkenntnistheoretisch, 
sondern  für  psychologisch-entwickelungsgeschichtlich.  Wir  können  dieser 
Anschauung  nicht  unbedingt  zustimmen.  Gewiss,  eine  strenge  Scheidung 
des  logischen  vom  psychologischen  Erfahrungsproblem  findet  sich  bei 
Locke  noch  nicht.  Dass  aber  seine  Philosophie  die  Frage  nach  dem  Be- 
griffe der  Erfahrung  völlig  unberücksichtigt  gelassen  habe,  möchten  wdr 
nicht  behaupten.  Den  Kritiker  und  Vernichter  des  metaphysischen  Sub- 
stanzbegriffes, den  Fortbildner  der  Galileischen,  Cartesianischen  und 
Hobbesschen  Gedanken  von  den  primären  und  den  sekundären  Qualitäten, 
deren  Unterschied    für  Locke   unzweifelhaft  in  ihrem  Verhältnis  zum  Be- 

friffe  des  Objektes  begründet  ist,  schätzen  wir  vielmehr  als  einen  der 
edeutendsten  Erkenntnistheoretiker.  Wir  teilen  darum  auch  nicht  die 
Anschauung  Vorländers,  dass  Lockes  Erkenntnislehre  eigentlich  nichts 
anderes  sei,  „als  ein  inkonsequent  durchgeführter  Sensualismus,  der  wohl 
manchen  guten  psychologischen  Gedanken  enthält,  aber  zur  Kritik  der 
Erkenntnis  nur  wenig  beiträgt".  Locke  gilt  uns  —  um  es  noch  einmal  zu 
betonen  —  als  ein  manchmal  bis  zur  Höhe  des  Kantischen  Gedankenkreises 


')  Riehl,  Philosophie  der  Gegenwart.    Leipzig  1903.    S.  45. 


Hecensionen  (Wandschneider).  223 

sich  erhebender,  wenn  auch  von  den  sensualistischen  Tendenzen  seiner 
Zeit  und  seiner  Heimat  merklich  beeinflusster  Kritiker  des  Erfahrungsbe- 
griffes. —  Zu  der  im  ganzen  treffenden  Darstellung  der  Philosophie 
Humes  möchten  wir  uns  nur  eine  kritische  Bemerkung  gestatten.  Sie 
betrifft  das  Verhältnis  Humes  zu  Berkeley,  das  wir  an  anderer  Stelle  aus- 
führlicher erörtert  haben. i)  Im  Gegensatz  zu  Vorländer  halten  wir  Hume 
inbezug  auf  eine  der  wichtigsten  Fragen  seiner  Erkenntnislehre  nicht  für 
einen  Schüler,  sondern  geradezu  für  einen  Gegner  Berkeleys.  Hume  hat, 
unseres Erachtens,  nicht  den  Konscientalismus  Berkeleys  vollendet —  wie 
so  häufig  behauptet  worden  — ,  sondern  bekämpft,  so  gewiss  dem  Kritiker 
Hume  das  metaphysische  Dogma  vom  Esse  =  Percipi  fremd  ist,  so  gewiss  er 
die  Existenz  unerkennbarer  Realitäten  in  der  strengsten  Bedeutung  des 
Wortes  „Existenz"  gelehrt  hatte.  Es  ist  dies  ein  Punkt,  welcher  den 
drei  grössten  Vertretern  des  philosophischen  Kritizismus,  Locke,  Hume 
und  Kant  gemeinsam,  die  fundamentale  metaphysische  Voraussetzung  jedes 
kritischen  Denkens  überhaupt  bildet  und  nebst  manchen  anderen  die  Kon- 
tinuität im  Entwickelungsgange  der  kritischen  Philosophie  begründet.  Die 
metaphysische  Gleichung  Berkeleys  vom  Esse  =  Percipi  aber  steht  ausserhalb 
des  Gedankenkreises  dieser  Philosophie.  —  Die  Darstellung  des  Kritizis- 
mus Kants  im  Buche  Vorländers  ist  scharf  und  treffend.  Die  hervor- 
ragende Sachkenntnis  des  Verfassers  vereinigt  sich  hier  in  glücklichster 
Weise  mit  grosser  stylistischer  Gewandtheit.  Schärfer  zu  betonen  ge- 
wesen wäre  —  unseres  Erachtens  —  nur  die  streng  realistische  Bedeutung 
des  „Dinges  an  sich"  bei  Kant  im  Sinne  unserer  eben  skizzierten  Anschau- 
ungen. Auch  würde  es  sich  vielleicht  empfehlen,  in  eine  Neuauflage  des 
Werkes  eine  dem  Anfänger  gewiss  willkommene  kurze  Erläuterung  des 
Kantischen  Begriffes  der  „möglichen"  Erfahrung  aufzunehmen.  —  Die 
Darstellung  der  nachkantischen  philosophischen  Systeme  muss  als  durchaus 
wohlgelungen  bezeichnet  werden.  Bei  Besprechung  der  in  unserer  Zeit 
noch  mächtig  nachwirkenden  Philosophie  Schopenhauers  wäre  eine  kurze 
Dai  legung  der  Beziehungen  zwischen  der  illusionistischen  Erkenntnislehre 
und  der  pessimistischen  Grundstimmung  des  Philosophen  vielleicht  er- 
wünscht gewesen. 

Der  letzte  grössere  Abschnitt  des  Vorländerschen  Werkes,  die  Dar- 
stellung der  „Philosophie  der  Gegenwart",  bildet  angesichts  der  Thatsache, 
dass  die  meisten  Philosophiehistoriker  eine  eingehende  geschichtliche  Ge- 
samtbehandlung der  Philosophie  der  zweiten  Hälfte  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  unterlassen,  eine  Leistung  von  unbestreitbarem  Verdienste. 
Nur  glauben  wir,  dass  hier  —  gerade  im  Hinblick  auf  den  eben  erwähnten 
Umstand  —  grössere  Ausführlichkeit  notthäte.  Vielleicht  entwickelt  sich 
der  letzte  Abschnitt  zu  einem  selbständigen  dritten  Bande.  Es  würde 
dies,  unserer  Ansicht  nach,  den  didaktischen  Wert  des  Werkes  nicht  un- 
bedeutend erhöhen,  ein  Vorteil,  dem  gegenüber  die  Vergrösserung  des 
Umfanges  kaum  in  Betracht  käme. 

Wir  erblicken  —  und  damit  schliessen  wir  unser  Referat  —  in  der 
„Geschichte  der  Philosophie"  Vorländers,  trotz  der  mannigfachen  Ein- 
wände, welche  wir  gegen  einzelne  Punkte  erheben  zu  müssen  geglaubt 
haben,  eine  in  didaktischer,  litterarischer  und  wissenschaftlicher  Beziehung 
höchst  verdienstliche  Leistung  und  wünschen  ihr  im  Interesse  eines  erfolg- 
reichen Studiums  der  Philosophiegeschichte  die  weiteste  Verbreitung. 

Graz.  R.  Hönigswald. 

Wandschneidei-,  Albrecht,  Dr.  phil.     Die  Metaphysik  Benekes. 

Mittler  &  Sohn,  Berlin  1903.     (155  S.) 

Der  Verfasser  meint,  dass  gegenwärtig  der  Neukantianismus  einem 
gemässigten  metaphysikfreundlichen  Kritizismus  zu  weichen  scheint,  und 
so    „lenkt   sich   naturgemäss  der  Blick  auf  die  Vorgänger  dieser  Richtung 

1)  Vgl.  Hönigswald,  Über  die  Lehre  Humes  von  der  Realität  der 
Aussendinge,  Berlin,  C.  A.  Schwetschke  &  Sohn  1904. 


224  Recensionen  (Leibniz-Buchenau'Cassirer). 

in  der  nachkantischen  Zeit".  Dabei  kann  man  dann  Beneke  nicht  über- 
sehen. „Auf  solidem  Grunde  und  mit  ruhiger  Überlegung  und  scharfer 
Beweisführung  erbaut  Beneke  ein  System  der  IMetaphysik,  das  entschieden 
unsere  Bewunderurg  verdient." 

Bei  so  viel  Bewunderung  ist  es  gar  kein  Wunder,  dass  sich  die 
Arbeit  die  Aufgabe  stellt,  nicht  eine  Kritik,  sondern  eine  Darstellung  der 
Benekeschen  Metapliysik  zu  sein.  Und  das  war  vielleicht  ganz  gut.  Die 
Naivität  Benekes,  die  ja  gewiss  einigen  Reiz  ausübt,  aber  wie  schon 
Herbart  bemerkte,  dem  wissenschaftlichen  Denker  als  Halbheit  erscheinen 
muss,  tritt  damit  auch  bei  dieser  Arbeit  in  ihr  gutes  Recht. 

Die  Arbeit  giebt  ein  klares  Bild  von  Benekes  Metaphysik.  Die 
Hauptzüge  sind  treffend  und  gut  systematisiert  erwähnt.  Gegenüber  der 
vorzüglichen  Darstellung  Gramzows  (Benekes  Leben  und  Lehre)  dürfte 
diese  Arbeit  den  Wert  haben,  die  Metaphysik  ausführlicher  und  genauer 
dargestellt  zu  haben.  Zu  wünschen  wäre  gewesen,  dass  der  Verf.  die 
Werke  und  ihre  Seitenzahl  sub  linea  citierte,  damit  die  störenden  Unter- 
brechungen der  Gedankenführung  wegblieben,  so  sehr  sie  auch  von  dem 
Fleiss  unseres  Autors  Zeugnis  ablegen. 

Berlin.  Hugo  Renner. 

Leibniz,  G.  W.  Hauptschriften  zur  Grundlegung  der  Phi- 
losophie. Übersetzt  von  Dr.  A.  Buche  nau.  Durchgesehen  und  mit 
Einleitungen  und  Erläuterungen  herausgegeben  von  Dr.  E.  Cassirer. 
Bd.  1.  .  Leipzig.     Dürrsche  Buchhandlung.     (375  S.) 

Das  vorzügliche  und  empfelilenswerte  Buch  bringt  eine  Auswahl 
Leibnizscher  Schriften  zur  Logik  und  Methodenlehre,  zur  Mathematik,  zur 
Phoronomie  und  Dynamik  und  zur  Metaphysik.  Im  letzten  Abschnitt  sind 
zunächst  nur  solche  Schriften  aufgenommen,  aus  denen  man  ein  Bild  der 
gescliichtlichen  Stellung  des  Systems  gewinnen  kann.  Der  vorliegende 
erste  Band  soll  nach  Angabe  des  Herausgebers  die  vorbereitenden  Schriften 
zur  Logik  und  Wissenschaftstheorie  enthalten,  während  die  metaphysischen 
Abhandlungen  im  engeren  Sinne  ein  zweiter  Band  bringen  soll. 

Mit  Recht  betont  der  Herausgeber,  dass  bei  der  universalistischen 
Denkart  Leibnizens  eine  Auswahl  nur  unter  dem  Gesichtspunkt  der  All- 
heit der  Probleme,  aus  deren  Bearbeitung  Leibniz  seine  Theorien  gebildet 
hat,  zu  treffen  sei,  dass  es  nur  so  möglich  sei,  dem  universalistischen 
Charakter  dieses  Denkers  gerecht  zu  werden.  Die  übliclien  Sammlungen 
von  Hauptschriften  geben  „im  günstigsten  Falle  einen  Überblick  über  den 
Inhalt  der  Lehre;  aber  sie  bezeichnen  nicht  die  gedankliche  Entwicke- 
lung,  die  zu  ihnen  hingeführt  hat,  und  die  gemeinsame  Wurzel,  der  sie 
entstammen".  Leibniz  ist  nicht  bloss  Metaphysiker,  er  hat  auch  einen 
grossen  Teil  der  positiven  Wissenschaften  mit  Erfolg  bearbeitet.  Aus  der 
Tendenz,  den  einzelnen  Arbeitsgebieten  ihre  Eigentümlichkeit  und  ihre 
Rechtsame  zu  wahren  und  doch  diese  in  einheitlichem  Zusammenhang 
auszugleichen,  ist  Leibniz'  Philosophie  erwachsen.  Bei  ihm  sind  Einzel- 
forschung und  Philosophie  gegenseitig  bedingt.  Dieser  Sachlage  sucht 
unser  Werk  gerecht  zu  werden.  „Vollständigkeit  der  Übersicht  galt,  wenn 
nicht  im  extensiven,  so  doch  im  intensiven  Sinne  als  Vorbild  und  Aufgabe, 
sofern  alle  begrifflichen  Momente,  die  das  System  bilden  halfen,  durch 
einen  charakteristischen  Repräsentanten  wiedergegeben  werden  sollten". 

Hierin  spiegelt  sich  das  Eigentümliche  dieser  Ausgabe  ab.  Es 
handelt  sich  also  nicht  darum,  eine  Auswahl  dahin  zu  treffen,  um  einen 
kurzen  Inhalt  der  Lehren  zu  geben,  auch  nicht  darum,  etwa  die  historische 
Entwickelung  zu  charakterisieren,  die  Ausgabe  will  den  pragmatischen 
Zusammenhang  der  einzelnen  Probleme  zeigen.  Durch  die  nachdenkende 
Beschäftigung  mit  den  Problemen  soll  sich  der  Leser  „die  gegenseitige 
Abhängigkeit  der  einzelnen  Faktoren  und  ihre  Wechselwirkung"  zum 
Bewusstsein  bringen,  und  so  führt  uns  das  Buch  von  der  Logik  und  Ma- 
thematik zur  Dynamik  und  von  dieser  zu  den  Anfängen  der  Meta- 
physik, 


Selbstanzeigen  (Elsenhans).  225 

Den  Schriften  zur  Logik  und  Mathematik  lässt  der  Herausgeber 
eine  Einleitung  vorausgehen,  in  der  er  das  Kardinalproblem,  das  Verhältnis 
von  Einheit  und  Vielheit,  hervorhebt  und  seine  Bestimmung  in  den  ein- 
zelnen Abhandlungen  andeutet.  Ebenso  lässt  der  Herausgeber  den 
Schriften  zur  Phoronomie  und  Dynamik  eine  besondere  Einleitimg  vor- 
ausgehen. 

Alles  in  allem,  Einleitung  und  Anmerkungen,  wie  Ausw^ahl  der 
Stücke  (deren  namentliche  Aufzählung  ich  mir  hier  wohl  sparen  darf)  sind 
durchgehend  von  dem  methodischen  Gesichtspunkte  bestimmt,  ein  einheit- 
liches Ganzes  zu  geben,  in  dem  die  einzelnen  Teile  sich  als  Glieder  geben. 
Dass  die  Auffassung  des  Herausgebers  von  Leibnizens  Philosophie  und 
seine  Wertschätzung  dieses  Denkers  sich  auch  bei  diesem  Werk  geltend 
macht,  konnte  dem  Zweck  des  Buches  nur  nützlich  sein. 

Wenn  auch  ein  abschliessendes  Urteil  sich  erst  geben  lässt,  sobald 
der  n.  Band  vorliegt,  so  berechtigt  doch  der  I.  Band  schon  zu  den  besten 
Hoffnungen  auch  für  den  zweiten.  Die  anerkennenswerte  philosophische 
Leistung,  als  die  sich  diese  Ausgabe  zeigt,  bildet  eine  wertvolle  Be- 
reicherung der  Kirchmannschen  Bibliothek.  Eine  ausführlichere  kritische 
Besprechung  behalte  ich  mir  bis  nach  Erscheinen  des  IL  Bandes  vor. 

Berlin.  Hugo  Renner. 


Selbstanzeigen. 


Eisenbaus,  Theodor.  Kants  Rassentheorie  und  ihre  blei- 
bende Bedeutung.  Ein  Nachtrag  zur  Kant-Gedächtnisfeier.  Leipzig, 
Engelmann.     (52  S.) 

Die  vorliegende  kleine  Schrift  entstand  aus  dem  Wunsch,  unter  den 
vielen  Schriften  zu  Kants  Gedächtnis  auch  seine  naturwissenschaftliche 
Bedeutung,  und  zwar  an  einem  bestimmten,  dem  Interessenkr?is  der 
Gegenwart  besonders  naheliegenden  Punkte,  zur  Geltung  zu  bringen. 
Ursprünglich  als  eine  kurze  Darstellung  des  Kantischen  Begriffs  der  Rasse 
geplant,  die  auch  Fernerstehenden  die  bleibende  Bedeutung  Kants  als 
Naturforschers  und  seiner  Abhandlungen  über  diese  Frage  verständlich 
machen  sollten,  führte  sie  zur  Erörterung  verschiedener,  teils  Kants  Stel- 
lung zu  der  Frage,  teils  die  Behandlung  des  Rassenproblems  überhaupt 
betreffender  Punkte,  die  auch  für  den  Fachmann  einiges  Intere.sse  haben 
dürften  So  ist  z.  B.  im  Anschluss  an  das  von  Kant  entworfene  grosse 
Programm  einer  „Naturgeschichte"  im  Gegensatz  zur  blossen  „Natur- 
beschreibung" eine  Übersicht  über  die  verschiedenen  Ansätze  gegeben, 
welche  sich  bereits  bei  Kant  für  die  im  Darwinismus  ausgebaute  Ent- 
wickelungstheorie  finden.  In  der  auf  dieser  Grundlage  gegebenen 
Begriffsbestimmung  und  Einteilung  der  Menschenrassen  tritt  ein  Grundzug 
Kantischen  Denkens  unverkennbar  hervor,  die  Tendenz,  an  die  Stelle  leerer 
logischer  Formen  Massstäbe  zu  setzen,  die  aus  der  lebendigen  Wirklichkeit 
gewonnen  sind.  Wie  er  schon  in  seinen  frühesten  Schriften  zeigt,  dass 
der  Gegensatz  zweier  Bewegungsrichtuugen  etwas  anderes  ist  als  ein  lo- 
gischer Widerspruch,  oder  dass  sich  aus  blossen  logischen  Formeln  keine 
wirkliche  Erkenntnis  herausholen  lässt,   so   setzt  er  hier  an  die  Stelle  der 

Kantstudien  X.  l^ 


226  Selbstanzeigen  (Hönigswald). 

blossen  logischen  Systematik  eine  Klassifikation  nach  Le  b  ensfunktlonen. 
Kants  Auseinandersetzung  mit  Förster  iührt  dann  zu  einer  Erörterung  des 
Zweckgedankens  in  seinem  Verhältnis  zur  Rassentheorie  und  zur 
Naturwissenschaft  überhaupt,  welche  in  der  Konsequenz  der  Kantischen 
Forderung,  einer  ,grösstmöglichen  Kühnheit'  der  mechanischen  Erklärung 
und  seines  Begriffs  der  Teleologie  zu  der  Unmöglichkeit  gelangt,  eigens 
eine  Gruppe  „materieller  Wesen"  oder  ihre  „Stammmutter"  der  mecha- 
nischen Erklärung  grundsätzlich  zu  entziehen  und  damit  innerhalb  der 
Erfahrung  der  Erfahrungswissenschaft  selbst  Grenzen  zu 
setzen.  Die  teleologische  Beurteilungsweise  ist  damit  keineswegs  aus- 
geschlossen, vielmehr  für  die  letzten  Fragen  gefordert. 

Heidelberg.  H.  Elsenhans. 

Hönigswald,  Richard,  Dr.  Über  die  Lehre  Humes  von  der 
Realität  der  Aussendinge.  Eine  erkenntnistheoretische  Untersuchung. 
Berlin.     C.  A.  Schwetschke  &  Sohn.     1904.     (Diss.  Halensis.) 

Die  vorliegende  Arbeit  versucht  eine  kritische  Darstellung  der  theo- 
retischen Philosophie  Humes  unter  dem  Gesichtspunkte  seiner  Realitäts- 
lehre. Sie  will  vor  allem  dieser  letzteren  den  ihr  gebührenden  Platz  in 
dem  erkenntnistheoretischen  System  des  grossen  schottischen  Denkers 
selbst  und  weiterhin  im  Rahmen  des  philosophischen  Kritizismus  überhaupt 
anweisen.  An  eine  durch  die  Gesichtspunkte  der  Humeschen  Realitäts- 
lehre bestimmte  Analyse  der  Erkenntnistheorie  des  Philosophen  knüpft 
sie  darum  eine  Erörterung  des  Verhältnisses  der  letzteren  zu  der  logischen 
Erfahrungstheorie  Kants,  um  mit  einer  Darlegung  der  metaphysischen 
Voraussetzungen  des  Kritizismus  und  derjenigen  Annahmen  abzuschliessen, 
welche  auf  Grund  jener  Erfahrungstheorie  über  die  materiale  Vo-raus- 
setzung  der  Erkenntnis,  die  Dinge  an  sich,  gemacht  werden  müssen. 

Zunächst  musste  die  Natur  des  Humeschen  Empirismus  erläutert 
werden.  Indem  dieser  als  ein  streng  methodischer  dem  metaphysischen 
Berkeleys  und  des  modernen  Empiriokritizismus  gegenübergestellt  wird, 
rückt  als  ein  wesentliches  Merkmal  der  Humeschen  Erkenntnislehre  der 
Phänomenalismus  des  Philosophen  und  seine  Verwandtschaft  mit  dem 
Kritizismus  Kants  in  den  Vordergrund.  Hume  ist  —  systematisch  be- 
trachtet —  mehr,  als  der  Erwecker  Kants  aus  „dogmatischem  Schlummer". 
Er  hat  als  kritischer  Phänomenalist  die  Kantsche  Lehre  vom  Gegenstande 
der  Erfahrung  vorbereitet  und  fordert  als  eine  Voraussetzung  seiner  Er- 
kenntnistheorie, wie  später  Kant,  die  Amiahme  der  realen  Existenz  von 
Dingen.  Die  prinzipielle  Differenz  zwischen  den  erkenntnistheoretischen 
Lehren  der  beiden  Denker  tritt  dabei  nur  um  so  schärfer  hervor.  Hume 
besitzt  schon  einen  kritischen  Begriff  des  Gegenstandes  der  Erfahrung  als 
eines  durch  die  aktive  Bethätigung  des  Intellektes  geschaffenen  Symbols 
der  Realität  im  Bewusstsein,  aber  er  verkennt  noch  die  Bedingungen  der 
allgemeinen,  d.  h.  objektiven  Geltung  dieses  Symbols.  Und  weil  in  Folge 
dessen  einer  Verwendung  der  Formalbegriffe,  in  welchen  diese  Beding- 
ungen zum  Ausdrucke  kommen,  keine  objektiv  gültigen  Grenzen  gesetzt 
sind,  erweitert  sich  bei  Hume  das  Gebiet  des  gefühlsmässigen  Glaubens 
auf  Kosten  desjenigen  erfahrungsgemässer  Erkenntnis:  Beharrlichkeit  ist 
für  Hume  nicht  eine  rationale  Bedingung  der  Dinge  als  Erscheinungen, 
sondern  ein  gefühlsmässig,  oder  instinktiv  anzunehmendes  Merkrnal  der 
Dinge  an  sich  selbst.  —  Der  Widerspruch,  in  welchen  so  Praxis  imd 
Theorie  der  Erkenntnis  mit  einander  geraten  müssen,  kann  nur  auf  dem 
Standpunkte  eines  logischen  Kritizismus  beseitigt  werden.  —  Nur  eine 
logische  Erfahrungstheorie  ermöglicht  aber  auch  eine  klare  Beantwortung 
der  Frage  nach  Sinn  und  Bedeutung  einer  kritischen  Metaphysik.  Ihr 
sind  die  beiden  letzten  Kapitel  dieser  Arbeit  gewidmet.  Kritische  Meta- 
physik hat  die  Aufgabe,  festzustellen,  wie  die  unerkennbaren  Realitäten 
unter  dem  Gesichtspunkte  einer  logischen  Erfahrungstheorie  gedacht 
werden  müssen.  Die  Erörterung  dieser  Frage  geschieht  teilweise  im 
Rahmen    einer  Kritik    der   neuerdings  wieder  von  Busse  mit  Energie  ver- 


Selbstanzeigen  (Meyer-Benfey— Franck).  227 

tretenen  Theorie  einer  Wechselwirkung  zwischen  Physischem  und  Psychi- 
schem und  führt  schliesslich  zu  einer  Darlegung  der  Umstände,  welche 
die  Entwickelung  einer  an  den  Aufgaben  einer  logischen  Erfahrungstheorie 
orientierten  kritischen  Metaphysik  in  der  theoretischen  Philosophie  Humes 
vereiteln. 

Graz.  R.  Hönigswald. 

Meyer-Benfey,  Heinricli.  Herder  und  Kant.  Der  deutsche  Idea- 
lismus und  seine  Bedeutung  für  die  Gegenwart.  Halle  a.  S.,  Gebauer- 
Schwetschke  1904.     (114  S.) 

Die  Schrift  vereinigt  zwei  Aufsätze,  die  für  die  Gedächtnisfeiern 
der  beiden  Grossen,  die  der  Titel  nennt,  bestimmt  waren.  Diese  wollen 
„auf  die  Frage  aiitworten:  was  haben  jene  Männer  für  die  deutsche  Kultur 
bedeutet,  und  was  können  sie  uns  heute  noch  bedeuten  ?"  Die  Antwort 
ist  in  beiden  Fällen  verschieden.  Herder  liat  heute  wesentlich  historisches 
Interesse.  „Ungleich  allgemeiner  und  unmittelbarer  ist  die  Bedeutung 
Kants  für  die  Gegenwart.  Wir  können  ihn  alle  nicht  entbehren,  wenn 
wir  in  unserem  Denken  und  Leben  einen  festen  Standpunkt  gewinnen 
wollen.  Die  Einsicht  in  diese  Unentbehrlichkeit  Kants  zu  verbreiten  und 
neben  der  nüchternen  Einsicht  auch  ein  wenig  Liebe  für  ihn  zu  erwecken, 
dadurch  viele  zu  ihm  zu  führen  —  das  ist  der  eigentliche  Zweck  dieser 
Schrift.  Denn  auch  der  Herder-Aufsatz  ist  in  gewisser  Weise  eine  Hin- 
weisung zu  Kant.  Besonders  liegt  es  mir  auch  daran,  die  Überzeugung 
zu  begründen,  dass  Kant  nicht  ein  Privileg  der  zünftigen  Philosophie  ist, 
sondern  dass  er  der  ganzen  Menschheit  angehört."  (Vorrede.)  Darin  liegt 
zugleich  die  Rechtfertigung  für  das  Wagnis,  dass  hier  ein  Laie  über  Kant 
schreibt  und  für  Kant  wirbt.  —  Die  Studie  über  Kant  erörtert  zunächst 
seine  geschichtliche  Stellung  und  Bedeutung,  giebt  sodann  in  freier  Dar- 
stellung einen  kurzen  Abriss  der  theoretischen  und  der  praktischen  Philo- 
sophie Kants,  mit  besonderer  Hervorhebung  ihrer  Fruchtbarkeit  für 
Wissenschaft,  Weltanschauung  und  Leben  und  bespricht  endlich,  mit  Be- 
zugnahme auf  Quellenpublikationen  der  letzten  Zeit,  Kants  Persönlichkeit 
und  die  Beziehungen  zwischen  ihr  und  seiner  Philosophie.  Besonders  in 
den  Abschnitten,  die  von  der  Ethik  und  im  Anschlüsse  daran  von  der  Be- 
gründung der  Geschichtswissenschaft  handeln,  mussten  zuweilen  eigene 
Aufstellungen  gewagt  werden,  über  deren  Haltbarkeit  erst  eine  längere 
Anwendung  entscheiden  kann,  und  die  ich  einstweilen  einer  freundlichen 
Prüfung  der  Kenner  empfehle. 

H.  Meyer-Benfey. 

Franck,  Ernst.  Der  Primat  der  praktischen  Vernunft  in 
der  f rühnachkantischen  Philosophie.     Dissert.  Erlangen  1904.  (71  S.) 

Ich  habe  die  Entwicklung  darzulegen  unternommen,  welche  Kants 
Lehre  vom  Primate  der  praktischen  Vernunft  in  der  frühesten  nach- 
kantischen  Periode  erfahren  bat.  Es  ist  für  die  Denker  jener  Epoche, 
soweit  sie  sich  mit  diesem  Problem  überhaupt  eingehender  befasst  haben, 
charakteristisch,  dass  sie  den  Primat  der  praktischen  Vernunft  ausschliess- 
lich in  seiner  religiös-ethischen  Bedeutung  und  Wirkung  verstanden,  dass 
aber  sein  tiefster  erkenntnistheoretischer  Sinn,  den  zuerst  Fichte  erfasst 
und  in  neuester  Zeit  Rickert  demonstriert  hat,  hie  und  da  von  ihnen 
wohl  dunkel  geahnt,  aber  nie  klar  begriffen  und  ausgesprochen  wurde. 
Auch  bei  Kant  ist  von  einer  erkenntnistheoretischen  Deutung  und  Be- 
deutung des  Primats  der  praktischen  Vernunft  noch  nicht  die  Rede.  Auch 
ihm  ist  er  vor  allem  ein  Primat  der  ethischen  Werte  und  das  Fundament, 
der  letzte  Beweisgrund  für  die  Realität  des  Unbedingten  und  seiner 
Postulate. 

Um  zu  zeigen,  wie  sich  die  Entwicklung  des  Problems  über  Kant 
hinaus  weiter  gestaltet  hat,  war  es  zuvor  notwendig,  die  Wurzeln  der 
Lehre  im  Boden  des  Kantischen  Vernunftsystems  aufzusuchen,  sie  bis  in 
die  im  Freiheitdogma  ruhenden  Fasern  zu  verfolgen  und  zu  der  von  Kant 

15* 


2^8  Öelbstanzeigen  (Heim). 

gewählten  gedanklichen  Formulierung  Stellung  zu  nehmen.  Letzteres  ist 
in  dem  Sinne  geschehen,  dass  der  faktische  Primat  der  praktischen  Ver- 
nunft, in  dessen  Proklamation  ich  mit  Kuno  Fischer  die  Krönung  des 
Systems  erblicke,  zugegeben  und  als  tiefe  psychologische  Einsicht  erkannt 
wurde.  Hingegen  musste  die  prinzipielle  Berechtigung,  aus  dieser  Ein- 
sicht Schlüsse  für  das  religiöse  und  ethische  Leben  zu  ziehen,  strikt  ver- 
neint werden.  Die  im  Weiteren  historisch  verlaufende  Darstellung  be- 
handelt nun  die  Gestaltung  des  Problems  bei  Reinhold,  Aenesidem, 
Maimon,  Beck  und  Jacobi.  Reinholds  eigenartige  Persönlichkeit,  die  seine 
Wandlungen  erst  verständlich  macht,  wird  scharf  beleuchtet  und  die 
Leistung  seiner  Elementarphilosophie  gegen  die  seines  Kantianismus  ab- 
gewogen. Aenesidems  skeptische  Argumentation  gegen  die  Primatlehre 
und  ihre  moraltheologischen  Konsequenzen  hält  einer  Prüfung  auf  ihre 
bleibende  Giltigkeit  Stand,  muss  aber  einer  immanenten  Kritik  der  Kan- 
tischen Gedanken,  wie  schon  Fichte  sie  in  seiner  bekannten  Rezension 
übte,  trotzdem  weichen.  Maimons  intellektuaUstischer  Moralismus  stellt 
sich  als  die  subtile  Begründung  eines  Primats  der  theoretischen  Ver- 
nunft, Becks  Stellung  zum  Problem  als  eine  höchst  unzureichend  fundierte, 
aber  aus  seinem  Idealismus  verständliche  Modifikation  des  Kantischen  Ge- 
dankens heraus.  Jacobi  endlich,  für  dessen  geistreiches  aber  unwissen- 
schaftliches und  unsystematisches  Philosophieren  der  Primat  der  praktischen 
Vernunft  gewissermassen  das  Zentralproblem  bildet,  erfährt  eine  besonders 
eingehende,  kritische  Würdigung.  Seine  subjektiv  bestimmten  Einwände 
werden  als  auf  gänzlichem  Verkennen  der  Kantischen  Absicht  beruhend 
zurückgewiesen,  sein  vielfach  noch  recht  überschätztes  Denken  in  seiner 
Sprunghaftigkeit  und  Unfruchtbarkeit  charakterisiert. 

Eine  kurze  Einleitung  meiner  Schrift  erörtert  die  Identität  der 
Kantischen  Lehre  vom  Primate  der  praktischen  Vernunft  mit  der  alten, 
schon  von  Augustin  vertretenen  Doktrin  vom  Primate  des  Willens.  Damit 
stellt  sich  diese  historische  Spezialuntersuchung  als  Abschnitt  der  Ge- 
schichte eines  Problems  dar,  welches  sich  durch  die  gesamte  Geschichte 
der  Philosophie  Schritt  für  Schritt  verfolgen  lässt.  Zugleich  bildet  die 
Arbeit  den  ersten  Teil  einer  Abhandlung,  welche  die  Entwicklung  des 
Problems  von  Kant  an  bis  auf  die  Philosophie  der  Gegenwart  (etwa  bis 
auf  Rickert)  umfassen  soll. 

Dr.  Ernst  Franck. 

Heim,  Karl  Dr.  Das  Weltbild  der  Zukunft.  Eine  Auseinander- 
setzung zwischen  Philosophie,  Naturwissenschaft  und  Theologie.  Berlin, 
C.  A.  Schwetschke  &  Sohn  1904.    (IX  u.  299  S.) 

Inhalt:  Einleitung.  —  Das  Problem.  —  Das  Wirkliche.  —  Die  Welt- 
formel. —  Die  Zeit.  —  Der  Raum.  —  Das  Du.  —  Der  Wille.  —  Das  Natur- 
gesetz. —  Das  energetische  Weltbild.  —  Die  Geschichte  des  Denkens.  — 
Das  Problem  der  religiösen  Gewissheit. 

Obwohl  sich  diese  Schrift  zunächst  als  eine  für  ein  weiteres  Publi- 
kum bestimmte  und  darum  im  leichten  Essay-Stil  geschriebene  Reihe  von 
Aufsätzen  über  Weltanschauungsfragen  darstellt,  so  ist  sie  doch,  genauer 
betrachtet,  die  Durchführung  eines  einzigen  philosophischen  Grundge- 
dankens, der  nur  für  fachmännisch  Gebildete  vollständig  verständlich  sein 
dürfte.  Man  könnte  sie  eine  Monographie  über  ein  in  der  bisherigen  phi- 
losophischen Arbeit  vielleicht  noch  nicht  genügend  zur  Geltung  gekom- 
menes Prinzip  der  philosophischen  Methode  nennen,  von  dessen  Frucht- 
barkeit diese  Schrift  eine  Probe  geben  möchte,  um  zur  genaueren  logischen 
Untersuchung  desselben  anzuregen.  Das  methodische  Prinzip,  um  das  es 
sich  handelt,  ergiebt  sich  aus  der  Berücksichtigung  der  beiden  bekannten 
Thatsachen,  dass  wir  1.,  wie  die  unendliche  Teilbarkeit  aller  Grössen  zeigt, 
bei  der  Apperzeption  der  Empfindungen  niemals  auf  Einheiten  stossen, 
die  sich  nicht  wieder  in  Mannigfaltigkeiten  auflösen  Hessen,  und  dass  2. 
auf  dem  ganzen  Gebiet  der  Empfindungsqualitäten,  wie  der  Verhältnis- 
charakter  der  Ton-   und   Farbenphänomene   zeigt,  jede   Erscheinung   nur 


Selbstanzeigen  (Lipsius).  229 

durch  Relation  zu  einer  anderen  Erscheinung  ihren  bestimmten  Inhalt  be- 
kommt. Beachtet  man  diese  Thatsachen,  so  erscheint  es  als  eine  unter 
dem  Einfluss  der  mathematischen  Methode  entstandene  dogmatische  Ver- 
gewaltigung der  Erfahrung,  wenn  sowohl  der  vorkantische,  als  der  mo- 
derne Empirismus  bei  der  Analyse  der  Empfindung  von  vermeintlich  iso- 
lierbaren Gegebenheiten,  „Perzeptionen"  oder  Empfindungsgrössen  E,  E', 
E",  E'" . . .  ausgeht,  um  dann  erst  hinterher  die  Verhältnisse  zu  betrachten, 
in  welche  diese  zunächst  isolierten  Gegebenheiten  zu  einander  treten 
können.  Vielmehr  muss  dieses  eigentümliche  Ineinandergeschlunffensein 
von  Einheit  und  Verhältnis,  die  Auflösbarkeit  aller  Einheiten  in  Verhält- 
nisse und  Verwandelbarkeit  aller  Verhältnisse  in  Einheiten,  wie  sie  die 
reine  Erfahrung  darbietet,  schon  in  den  ersten  Ansatz  der  Erfahrungs- 
analyse aufgenommen  werden.  Damit  tritt  aber  an  die  Stelle  der  seit- 
herigen Einheitslogik,  für  welche  die  Verhältnisse  nur  durch  Zusammen- 
treten isolierbarer  Einheiten  entstehen,  eine  Verhältnisloffik,  für  welche 
die  Einheiten  nur  durch  Verhältnisse  Zustandekommen.  Und  es  entsteht 
die  Aufgabe,  den  Begriff  der  Relativität  als  den  philosophischen  Grund- 
begriff nach  allen  Seiten  hin  zu  untersuchen.  Zu  einer  solchen  Unter- 
suchung des  alten  Problems  der  Relativität  möchte  die  vorliegende  Schrift 
einen  Beitrag  liefern.  In  dem  Abschnitt:  „Die  Weltformel",  der  den 
Grundgedanken  des  Ganzen  enthält,  wird  versucht,  drei  Arten  von  Rela- 
tivität, die  vielfach  mit  einander  konfundiert  werden,  klar  auseinander- 
zuhalten, das  gewöhnliche  Verhältnis  des  spezifischen  Unterschieds,  das 
relative  Verhältnis  im  eigentlichen  Sinn,  wie  es  z.  B.  zwischen  Ruhe  und 
Bewegung  besteht,  und  endlich  das  so  schwer  analysierbare  Abstraktions- 
verhältnis, in  dem  sich  z.  B.  Form  und  Inhalt  einer  Farbenfläche  zu  ein- 
ander befinden.  Die  weiteren  Abschnitte  über  Raum-  und  Farbentheorie, 
über  das  Ich-Problem,  über  die  Ostwaldsche  Energetik,  über  die  Geschichte 
der  Philosophie  und  Theologie,  in  denen  viele  Einzelausführungen  natur- 
wissenschaftliclier  und  historischer  Art  sehr  stark  hypothetischen  Charakter 
tragen,  haben,  philosophisch  betrachtet,  nur  den  Zweck,  die  Konfundierung 
jener  drei  Verhältnisarten  als  eine  unerschöpfliche  Quelle  mythologischer 
Verirrungen  und  metaphysischer  Gedankendichtungfen  auf  philosophischem, 
naturwissenschaftlichem  und  theologischem  Gebiet  darzuthun  Neben 
dieser  kritischen  Absicht  hat  die  Schrift  zugleich  die  positive  Tendenz, 
den  von  Avenarius  und  Mach  beeinflussten  Kreisen  von  ihrem  eigenen 
erkenntnistheoretischen  Standpunkt  aus  einen  neuen  Weg  zum  Verständ- 
nis für  das  Unvergängliche  an  Kants  Gedankenarbeit  zu  eröffnen.  Ist 
nämlich  einmal  das  Ausgehen  von  beziehungslosen  Empfindungfseinheiten 
als  dogmatische  Vergewaltigung  der  „reinen  Erfahrung"  erkannt,  wird 
also  die  Relation  bei  der  Analyse  der  Empfindungen  zum  Ausgangspunkt 
genommen,  so  wird  gerade  dann,  wenn  man  wirklich  voraussetzungslos  an 
die  Erfahrung:  herantreten  will,  eine  Relationslogik  zur  Vorbedingung 
jeder  empirischen  Forschung.  Eine  logische  Analyse  der  Verhältnisse  aber 
lässt  Kants  apriorische  Formen,  die  die  Erfahrung  allererst  möglich 
machen,  wenn  auch  in  wesentlicher  Vereinfachung  wieder  aufleben. 
Halle  a.  S.  Dr.  Karl  Heim. 

Lipsins,  Friedr.  Reinh.,  Lic.  Privatdozent.  Kritik  der  theolo- 
gischen Erkenntnis.     Berlin,  C.  A.  Schwetschke  &  Sohn,  1904. 

Der  Verfasser  hat  es  unternommen,  die  mannigfachen  Versuche  der 
neueren  protestantischen  Theologie,  für  die  Hauptsätze  der  christlichen 
Dogmatik  eine  gegen  wissenschaftlichen  Einspruch  möglichst  gesicherte 
Grundlage  zu  gewinnen,  von  einem  unbefangenen  philosophischen  Stand- 
punkt aus  zu  kritisieren.  Dabei  betrachtet  er  es  als  seine  ^vichtigste  Auf- 
gabe, die  psychologische  und  erkenntnistheoretische  Unhaltbarkeit  der 
heute  herrschenden  „Theologie  der  inneren  Erfahrung"  nachzuweisen.  Sie, 
die  doch  auf  das  äussere  Naturwunder  als  Beglaubigung  der  religiösen 
Weltanschauung  meist  Verzicht  leisten  zu  müssen  meint,  hält  entweder 
an  der  Möglichkeit  himmlischer,  in  den  Kausalzusammenhang  der  seelischen 


230  Selbstanzeigen  (Döring). 

Vorgänge  eintretender  Offenbarungen  unbefangen  fest  —  oder  aber  sie 
beruft  sicli,  ihre  Blosse  mit  einem  Fetzen  Kantisclier  Philosophie  deckend, 
auf  die  angebliche  Subjektivität  aller  unserer  Erkenntnisse.  Aus  ihr 
glaubt  sie  folgern  zu  dürfen,  dass  die  Erlebnisse  des  frommen  Bewusst- 
seins  nicht  mehr  und  nicht  weniger  Realitätswert  besitzen  als  die  sinnen- 
fällige Wirklichkeit,  mit  der  es  die  Naturwissenschaft  zu  thun  hat. 

Demgegenüber  wird  gezeigt,  wie  jedenfalls  die  Gefühle,  in  deren 
relativ  dunkeles  Gebiet  man  sich  mit  besonderer  Vorliebe  zurückzieht, 
noch  in  ganz  anderem  Sinne  als  subjektiv  zu  bezeichnen  sind,  wie  die 
Vorstellungen  und  für  sich  weder  überhaupt  ein  gegenständliches  Wissen, 
noch  ins  Besondere  ein  solches  von  überweltlichen  Objekten  vermitteln. 

Im  Anschluss  hieran  wird  auch  die  Kantische  Moraltheologie  abge- 
lehnt; teils  weil  Kants  Lehre  vom  kategorischen  Imperativ  nach  des  Ver- 
fassers Überzeugung  mit  Psychologie  und  Geschichte  streitet,  teils  weil 
die  daran  geknüpften  drei  Postulate  nicht  unausweichlich  sind.  Albert 
Schweitzers  treffliche  Analyse  der  Kantischen  Religionsphilosophie  ist  in 
diesem  Abschnitt  mit  Dank  benutzt  worden. 

Dagegen  wenden  sich  nun  die  folgenden  Abschnitte  gegen  die  Be- 
mühungen, die  von  Kant  aufgelösten  alten  Schulbeweise  für  das  Dasein 
Gottes  zu  rehabilitieren.  Zum  Schlüsse  entwickelt  der  Verfasser  die 
Grundzüge  seiner  eigenen  Anschauung,  die  auf  einen  metaphysischen 
Idealismus,  wie  ihn  Wundt  vertritt,  hinausläuft.  Dabei  sucht  er  jedoch 
mit  Kant  Führung  zu  behalten.  Obwohl  den  Beweisen  der  transscenden- 
talen  Ästhetik  für  die  Apriorität  und  Idealität  des  Raumes  und  der 
Zeit  eine  durchschlagende  Kraft  nicht  zuerkannt  wird,  ist  doch  einzu- 
räumen, dass  alle  Untersuchung  äusserer  Objekte  zuletzt  bei  relativen  Ver- 
hältnisbestirrtmungen  stehen  bleiben  muss,  also  in  das  innere  Wesen  der 
Dinge  nicht  eindringt.  Dagegen  giebt  nun  der  Einblick  in  die  seelischen 
Prozesse,  für  die  Kants  Unterscheidung  von  Erscheinung  und  Ding-an-sich 
keine  Giltigkeit  besitzt,  eine  allgemeine  Anleitung,  wie  wir  uns  den  Kos- 
mos nach  seinem  eigenen  Sein  zu  denken  haben.  Jeder  Versuch  aber, 
hieraus  positive  Einzelerkenntnise  entwickeln  und  die  Welt  im  Sinne  der 
älteren  Metaphysik  von  oben  herab  konstruieren  zu  wollen,  verwickelt  in 
unlösbare  Schwierigkeiten,  die  die  gleichen  sind,  ob  man  letzten  Endes 
einen  theistischen  oder  einen  plura listisch-atheistischen  Standpunkt  ein- 
nimmt. 

Die  Gottesvorstellung  behält  jedoch  dauernd  ihre  Bedeutung  als 
subjektiv  unaufgebbares  und  sachlich  angemessenes  Symbol  für  die  Idee 
des  absoluten  Einheitsprinzips  und  Entwickelungsgrundes  der  Welt.  Be- 
sonders in  diesen  letzten  Erörterungen  hat  sich  der  Verfasser  nahe  an  die 
tiefen  und  für  die  Religionsphilosophie  noch  Innge  nicht  genügend  aus- 
gewerteten Gedanken  der  Kantischen  Ideenlehre  und  der  „Kritik  aller 
spekulativen  Theologie"  angeschlossen. 

Jena.  F.  Lipsius. 

Döring,  O.  Der  Anhang  zum  analytischen  Teile  der  Kritik 
der  reinen  Vernunft  über  die  Amphibolie  der  Reflexionsbe- 
griffe.    Dissertation,  Leipzig  1904. 

Der  Verfasser  hat  versucht,  die  mannigfachen  Dunkelheiten  und 
Widersprüche  im  Anhange  über  die  Amphibolie  der  Reflexionsbegriffe  mit 
den  Grundgedanken  Kantischer  Philosophie,  speziell  Kantischer  Logik  in 
Einklang  zu  bringen.  Von  den  zahlreichen  Fragen,  die  einer  Beant- 
wortung harrten,  erwiesen  sich  namentlich  drei  von  wesentlicher  Bedeutung 
für  das  Verständnis  des  Ganzen: 

1.  Worin    besteht   das  Wesen    der   Reflexion,    spez.  der   trans- 
scendentalen  Reflexion? 

2.  Wo   findet    sich    die    von  Kant  angekündigte  transscenden- 
tale  Topik? 

3.  Wo  ist   das  Prinzip,   das  uns  im  Hinblick  auf  das  Wesen  der 
Reflexion  mit  zwingender  Kraft  das  Nichtmehr  und  Nicht- 


Selbstanzeigen  (Döring:).  231 

weniger    der  Reflexionsbegriffe  verbürgt  und  uns  über  die 
Natur  dieser  Begriffe  aufklärt? 

Die  erste  Frage  fand  ihre  Antwort  in  der  allgemeinen  Reflexions- 
definition: „Reflexion  ist  diejenie:e  Thätigkeit  unseres  Gemütes, 
durch  welche  das  bestimmte  Verhältnis  gegebener  Vorstellungen 
zu  unseren  Erkenntniskräften  oder  das  unbestimmte  Verhält- 
nis zueinander  festgestellt  ist;''  und  in  der  besonderen  Definition: 

„Die  transscendentale  Reflexion  ist  eine  mit  Hilfe  der  Reflexions- 
begriffe   stattfindende  Comparation    reiner  Anschauungen    untereinander." 

Die  Untersuchung  der  zweiten  Frage  nach  der  transscendentalen 
Topik  ergab  das  überraschende  Resultat,  dass  Kant  die  ausdrücklich  an- 
gekündigte Topik  überhaupt  nicht  geleistet  hat,  und  stellte  den  Verfasser 
vor  die  Aufgabe,  in  Kants  Sinne  selbst  solch  eine  „Anweisung  nach  Regeln" 
zu  geben,  nach  denen  man  den  Vorstellungen  in  den  einzelnen  Erkenntnis- 
vermögen ihre  Stelle  bestimmen  kann,  deren  Lösung  in  folgender  Formu- 
lierung versucht  wurde: 

„Wenn  uns  eine  Vorstellung  gegeben  ist,  die  sich  nicht 
durch  ein  passives  Bewusstsein  unmittelbar  als  empirische  An- 
schauung erweist,  so  müssen  wir  die  Reflexion  im  besonderen 
anwenden,  die  darin  besteht,  dass  wir  auf  die  An-  oder  Ab- 
wesenheit bestimmter  oder  allgemeiner  Raum-  und  Zeitbe- 
ziehungen aufmerken  und  die  Vorste  llungen  mitbestimmten 
solchen  Beziehungen  den  reinen  Anschauungen,  die  Vorstel- 
lungen mit  allgemeinen  solchen  Beziehungen  den  empirischen 
Begriffen  und  die  Vorstellungen  ohne  solche  Beziehungen  den 
reinen  Begriffen  zuweisen." 

Das  Eingehen  auf  die  dritte  Frage  endlich  ergab,  dass  Kant  die 
Reflexionsbegriffe  ohne  solches  Prinzip  unter  Anlehnung  an  die  Vierzahl 
in  seinem  Kategorienschema  und  im  Hinblick  auf  die  Möglichkeit  be- 
quemer Leibnizkritik  aufgestellt  hat.  Verfasser  glaubt  das  Auffindungs- 
prinzip in  dem  Zwecke  dieser  Begriffe  (Feststellung  der  Subsumtions- 
möglichkeit  und  des  Subsumtionsumfanges  zweier  zu  vergleichenden  Vor- 
stellungen) erkannt  zu  haben  und  zusammenfassend  sagen  zu  dürfen: 
„Da  Kant  von  den  Reflexionsbegriffen  verlangt,  dass  sie  zum 
Zwecke  der  Begriffsbildung  in  der  Vergleichung  (logischen 
und  objektiven)  erforderlich  seien,  so  ergiebt  sich,  dass  es  in 
seinem  Sinne  nur  die  beiden  Reflexionsbegriffspaare  Einerlei- 
heit  und  Verschiedenheit,  Einstimmung  und  Widerstreit  geben 
kann,  dass  dagegen  alle  übrigen  von  Kant  als  Reflexionsbe- 
griffe bezeichneten  Vorstellungen  zu  den  Unterscheidungsbe- 
griffen gehören,  deren  es  eine  grosse  Zahl  (ursprüngliche  und 
abgeleitete)  giebt,  und  die  im  Gegensatze  zu  den  blossen  Ver- 
gleichungsbegriffen auf  bestimmte,  die  gegebenen  Vorstel- 
lungen deutlich  trennende  Verhältnisse  hinzielen." 

Der  zweite  Teil  der  Abhandlung,  der  an  der  Hand  der  Kant-  und 
Leibnizschriften  die  von  Kant  im  Anhange  über  die  Amphibolie  gegebene 
Leibnizkritik  einer  Nachkritik  unterzieht,  gelangt  zu  dem  Resultate,  dass 
Kant  bei  dieser  Darstellung  Leibnizscher  Sätze  wenij»'  guten  Willen  zu 
einwandfreier  Auffassung,  zum  mindesten  wenig  historischen  Sinn  an  den 
Tag  gelegt  hat.  Als  nicht  uninteressantes  Resultat  ergab  sich  nebenbei 
die  Thatsache  eines  inneren  Zusammenhanges  zwischen  der  dem  Anhange 
über  die  Amphibolie  noch  hinzugefügten  Unterscheidung  der  Begriffe 
Nichts  und  Etwas  mit  den  Ausführungen  im  Anschluss  an  das  Reflexions- 
begriffspaar Einstimmung  und  Widerstreit.  Zum  Schlüsse  sei  noch  der, 
wie  Verfasser  glaubt,  mit  zwingenden  Gründen  gestützte  textkritische 
Vorschlag  zur  Ergänzung  des  auf  S.  240  Kr.  d.  r.  V.  (Kehrbach)  unvoll- 
ständigen Satzes  gegenüber  den  Vorschlägen  von  Meilin  und  Erdmann 
erwähnt. 

0.  Döring. 


282  Selbstanzeigen  (Heymans— Drexler). 

Heymana,  G.  Einführung  in  die  Metapbvsik  auf  Grundlage 
der  Erfahrung.     Leipzig.     J.  A.  Barth  1905.     (VIII  u.  348  S.) 

Vorliegendes  Buch  versucht  nachzuweisen,  dass  und  wie  die  empi- 
rische, besonders  in  der  Naturwissenschaft  geübte  und  ausgebildete  For- 
schungs-  und  Beweismethode,  wenn  man  sie  auf  ein  umfassenderes  Tat- 
sachenmaterial, als  der  Naturwissenschaft  zu  Gebote  steht,  anwendet,  bei 
stetig  zunehmender  Kenntnis  dieses  Materials  zu  verschiedenen,  stets  besser 
dem  Materiale  angepassten  Welthypothesen  führt ;  und  wie  diese  Entwicke- 
lung  für  unsere  Zeit  in  der  Hypothese  des  psychischen  (auch  wohl:  idea- 
listischen, spiritualistischen)  Monismus  mit  kriticistischen  Ausblicken  ihren 
vorläufigen  Abschluss  findet.  Zu  diesem  Zwecke  wird  von  der  äusserst 
unvollständigen  und  ungenauen  Thatsachenkenntnis,  über  welche  das  vor- 
wissenschaftliche Denken  verfügt,  ausgegangen;  werden  sodann  Schritt 
für  Schritt  weitere  Kenntnisse,  welche  Naturwissenschaft,  Psychologie  und 
Erkenntnistheorie  bieten,  mit  in  Betracht  gezogen;  und  wird  für  jede 
einzelne  Erkenntnisstufe  untersucht,  warum  die  auf  die  vorhergehende 
Stufe  passende  Welthypothese  ihr  nicht  mehr  genügen  kann,  und  welche 
Ergänzungen  oder  Veränderungen  sie  sich  demzufolge  in  dieselbe  anzu- 
bringen genötigt  findet.  So  entsteht,  auf  dem  Wege  einer  fortgesetzten 
Prüfung  und  Anpassung  an  die  gegebenen,  Thatsachen,  da.«jenige  Welt- 
bild, welches  der  Verfasser  (in  wesentlicher  Übereinstimmung  mit  Fechner, 
Paulsen,  Ebbinghaus,  Strong  u.  a.)  als  die  grö.sste  Annäherung  an  die  voll- 
ständige Wahrheit   betrachtet,    welche    das  Wissen  unserer  Zeit  gestattet. 

Groningen.  G.  Heymans. 

Drexler,  Hans,  Dr.  Die  doppelte  Affektion  des  erkennen- 
den Subjekts  (durch  Dinge  an  sich  und  durch  Erscheinungen) 
im  Kantischen  System.  (Gekr.  Preisschr.  u.  Diss.  Monast.)  Beuthen 
0-S.,  Th.  Kirsch.     1904.     61  S. 

Auch  heute  noch  gehen  die  Ansichten  über  den  Charakter  des  Kan- 
tischen Idealismus  weit  auseinander.  Manche  Forscher  sehen  mit  Jacobi, 
Schulze  und  Maimon  in  der  dem  erkennenden  Subjekt  gegenüber  selbst- 
ständigen, den  Stoff  der  Vorstellungen  liefernden  Realität  die  Dinge  an 
sich,  andere,  insbesondere  die  Neukantianer,  suchen  mit  Beck  und  Fichte 
die  transscendenten  Dinge  an  sich  bei  der  Erklärung  des  Erfahrungspro- 
zesses zu  eliminieren  und  die  Erscheinungen  als  die  das  Subjekt  affi- 
zierende  Wirklichkeit  zu  erweisen.  Es  ist  das  Verdienst  Vaihingers,  zum 
ersten  Male  die  Behauptung  aufgestellt  und  ausgeführt  zu  haben,  dass 
Kant  eine  Affektion  des  Subjekts  durch  die  Dinge  an  sich  und  durch  die 
Erscheinungen,  also  eine  doppelte  Affektion,  unzweideutig  lehre. 

Die  Abhandlung  erörtert  in  ihrem  ersten  Teile  das  Problem  der 
doppelten  Affektion  aus  dem  Ganzen  des  Kantischen  Systems  heraus;  sie 
sucht  durch  eine  Analyse  der  Fundamentalpositionen  und  Hauptlehren 
Kants  die  Möglichkeit  und  Bedeutung  der  beiden  Affektionen,  sowie  ihr 
Verhältnis  zueinander  klar  zu  legen.  Die  vom  empirischen  Subjekte  unab- 
hängigen (empirisch  realen)  Gegenstände  affizieren  nach  Kant  das  empi- 
rische Subjekt  und  rufen  dadurch  in  ihm  die  Sinnesqualitäten  (Farbe,  Ge- 
schmack u.  s.  w.)  hervor;  die  empirischen  Gegenstände  sind  aber  selbst 
nur  Erscheinungen  unbekannter  Dinge,  hervorgerufen  durch  eine  Ein- 
wirkung dieser  unbekannten  Dinge  an  sich  auf  das  transscendentale 
Subjekt. 

Im  zweiten  Teile  wird  der  Charakter  der  Affektion  in  den  einzelnen, 
in  Betracht  kommenden  W^erken  Kants  (Ästhetik,  Analytik  und  Dialektik, 
naturphilos.  Schriften)  näher  untersucht.  Die  doppelte  Affektion  klärt, 
wie  aus  dieser  Untersuchung  hervorgeht,  manche  bei  Kant  gefundenen 
Schwierigkeiten  auf  (besonders  in  der  Deduktion  der  Kategorien,  den 
Grundsätzen  des  reinen  Verstandes  und  der  Widerlegung  des  Idealismus), 
ist  aber  selbst,  wenigstens  wie  Kant  sie  lehrt,  nicht  widerspruchslos. 

Der  Abhandlung  ist  eine  detaillierte  Inhaltsangabe  vorausgeschickt. 
Breslau.  Hans  Drexler. 


Selbstanzeigen  (Kleinpeter— Yeronnet).  233 

Kleinpeter,  H.  Dr.  Die  Erkenntnistheorie  der  Natur- 
forschung  der  Gegenwart.  Unter  Zugrundelegung  der  Anschauungen 
von  Mach,  Stallo,  Clifford,  Kirchhoff,  Hertz,  Pearson  und  Ostwald  darge- 
stellt.   Leipzig,  Barth  1905. 

Vorliegender  Entwurf  einer  Erkenntnislehre  beabsichtigt  eine  von 
allgemeinen  Gesichtspunkten  ausgehende,  soweit  als  thunlich  systematische 
Darstellung  der  in  den  Werken  der  genannten  Forscher  niedergelegten 
Grundanschauungen  über  das  Wesen  unserer  Erkenntnis.  Sie  sieht  dabei 
von  deren  spezifisch  philosophischen  Ansichten  völlig  ab,  und  lässt  z.  B. 
Cliffords  Metaphysik  wie  Ostwalds  energetisches  Weltbild  ganz  unberück- 
sichtigt; wogegen  sie  sich  zu  zeigen  bemüht,  dass  das  Streben  nach  einer 
rein  phänomenologischen  Auffassung  identisch  ist  mit  der  Forderung 
strenger  Wissenschaftlichkeit.  Mit  Kants  Erkenntnistheorie  hat  sie  die 
Betonung  der  Selbstthätigkeit  des  erkennenden  Subjektes  gemein ;  wäh- 
rend aber  diese  hieraus  auf  eine  Apriorität  des  Wissens  schliesst,  macht 
sie  den  gerade  entgegengesetzten  Schluss.  Ausserdem  reicht  der  Zweifel 
bei  ihr  weit  tiefer  als  bei  Kant  oder  selbst  Hume.  Ein  unbedingtes  Wissen 
im  Sinne  Piatons  vermag  sie  nirgends  zu  erkennen,  ihr  Standpunkt  ist 
relativistisch,  phänomenalistisch,  kritisch  und  empiristisch,  wenn  auch  nicht 
im  Sinne  J.  St.  Mills. 

Die  Darstellung  ist  keine  historisch-kritische ;  auf  die  Besprechung 
der  Anteile  der  einzelnen  Forscher  geht  sie  nicht  ein.  Sie  will  nur  rein 
sachlich  nach  der  Richtung  ihrer  Stichhaltigkeit  hier  beurteilt  sein ;  auch 
polemische  Auseinandersetzungen  gehen  ihr  fast  ganz  ab.  Sie  will  eben 
nur  in  möglichster  Kürze  zeigen,  dass  auf  dem  Boden  der  exakten  Wissen- 
schaften sich  eine  Erkenntnistheorie  ausgebildet  hat,  die  den  Anspruch 
erhebt,  in  ihren  Grundzügen  richtig  zu  sein.  Der  Verfasser  hat  sich 
bemüht,  sie  nach  Analogie  anderer  Erkenntnistheorien  von  allgemeinen 
Gesichtspunkten  aus  zu  begriinden,  und  sie  so  dem  philosophisch  gebil- 
deten Leser  zugänglicher  zu  gestalten;  er  kann  sich  aber  nicht  verhehlen, 
dass  sie  ihren  eigentlichen  Rückhalt  an  der  positven  Wissenschaft  zu 
suchen  hat,  und  wäre  zufrieden,  wenn  sie  ihren  Teil  dazu  beitragen 
würde,  die  Erkenntnis  von  der  Notwendigkeit  wissenschaftliclier  Bildung 
in  philosophischen  Kreisen  zu  einer  allgemeinen  zu  machen. 

Dr.  H.  Kleinpeter. 

Veronnet,  Alex.     L'Infini-Cat^gorie    et   rea  ite.     Paris,  Roger- 

Chemoviz  7  Rue  des  Grands  Augustins  1903,     (88  p.) 

Dans  cette  etude  sur  Tinfini  l'auteur  s'est  efforce  de  se  placer  sur 
un  terrain  independant  de  tout  Systeme  et  de  toute  hypo- 
these.  II  fait  Tetude  comparee,  ä  la  fois  philosophique  et  scientifique 
(meme  mathematique)  de  cette  idee,  dont  il  determine  et  poursuit  Tevo- 
lution  necessaire,  incessante  dans  Tesprit,  jusqu'ä  ce  qu'il  nous  la  fasse 
voir  corame  trop  riebe,  trop  vivante  et  trop  feconde  pour  pouvoir  etre 
contenue  dans  les  limites  de  notre  pauvre  esprit.  Elle  s'objective  donc  et 
entraine  avec  eile  les  autres  determinations  qui  sont  en  nous  sans  nous 
et  qui,  elles  aussi,  participent  ä  son  infinite. 

L'auteur  nous  fait  saisir  d'abord  ce  qu'est  cette  notion  de  l'infini 
dans  la  science,  son  importance,  sa  fecondite.  On  se  trouve  ainsi  conduit 
par  le  d^veloppement  de  cette  idee,  aux  analogies  les  plus  curieuses, 
entre  l'infini  tel  que  le  mathematicien  le  concoit  et  l'infini  du  philosophe. 
Ces  deux  notious,  en  se  fondant,  se  complfetent  s'expHquent  et  s'ecla- 
rent  l'uue  l'autre.  Cette  idee  de  l'infini  est  le  principe  directeur 
qui  nous  permet  de  coordonner  et  de  classer  nos  idees  et  nos  sensations, 
de  leur  donner  un  sens,  une  explication  derniere ;  sans  eile  l'unite  et  la 
continuite  de  la  pensee  seraient  rendues  impossibles.  Tout  en  nous 
postule  l'infini,  l'ap pelle  et  en  vit.  Que  ce  soit  dans  la  nature  ou 
en  lui-meme,  dans  le  developpement  de  son  activite  volontaire  ou  dans 
celui  de  sa  pensee  pure,  k  la  base  et  au  sommet  de  tout  l'homme  decouvre 
toujours  l'infini. 


234  Selbstanzeigen  (Chapman). 

L'impossibilile  d'une  regression  inddfinie  dans  le  pass6,  la 
degradation  de  l'energie,  etc.,  etudiees  d'une  maniere  eminerament 
scientifique,  eclairent  d'un  nouveau  jour  le  fait  de  la  contingence  du 
monde,  donne  une  nouvelle  vie  ä  cette  preuve  qui  elle-meme  vient  se 
fondre  dans  une  autre  plus  generale  plus  comprehensive.  Ca r  cette  preuve, 
comme  les  autres  d'ailleurs,  suppose  encore  l'objectivite  du  monde  et  de 
nous-memes,  suppose  la  realite  et  la  legitimite  des  principes  de  raison  et 
de  moiale.  On  peut  toutefois  faire  abstraction  de  la  valeur  de  ces 
principes,  les  considerer  ä  un  point  de  vue  purement  subjectif.  On 
arrive  tonjours  cependant  comme  le  montre  l'auteur,  ä  reconnaitre  comme 
absolumeut  necessaire  cette  idee  de  l'infini  pour  expliquer  l'enchainement 
de  nos  concepts  et  de  nos  sensations,  pour  expliquer  les  principes  memes 
que  sont  en  notre  äme  et  forment  le  fond  de  toute  notre  vie  intellectuelle 
et  morale,  instincts  psy  chol  ogi  ques  qui  nous  depassent,  que  nous 
n'avons  pas  que  construire  par  consequent,  que  nous  apportons  en  naissant 
et  qui  sont  comme  le  secan  de  l'infini  en  nous.  C'est  ainsi  en  derniere 
analyse  que  nous  reconnaissons  Dieu  present  en  nous  par  ces  principes  et 
que  nous  saisissons  sa  realite  et  celle  du  monde,  en  meme 
temps  que  notre  propre  r6alite. 

Paris.  A.  Veronnet. 

Chapman,  William  John.  Die  Teleologie  Kants.  Dissertation 
Halle  1904. 

Die  Kantische  Teleologie  stellt  sich  im  Gegensatz  einerseits  zu  der 
Entelechielehre  des  Aristoteles,  andererseits  zu  der  Physikotheologie  des 
17.  und  18.  .Jahrhunderts.  Die  Zielstrebigkeit,  die  Aristoteles  den  Ele- 
menten zuschrieb,  zeigt  uns,  dass  seine  Physik  selbst  teleologisch  zu  ver- 
stehen ist  (§  1).  Dagegen  setzte  die  Physikotheologie  die  zweckähnlichen 
Erscheinungen  der  Natur  auf  das  Niveau  der  bloss  zufälligen  Nützlichkeit 
herab.  In  erster  Linie  stellte  Kant  den  Begriff  einer  „innei'en  Zweck- 
mässigkeit'' wieder  her.  In  seiner  Auffassung  jedoch  enthält  dieser  Be- 
griff ein  Problem  und  nicht,  wie  es  Aristoteles  gemeint  hat,  ein  Erklärungs- 
prinzip (§  12).  Erst  durch  Kant  wurde  das  Endursachliche  (folglich  auch 
die  Zweckförmigkeit  des  organischen  Geschehens)  auf  bestimmte  Weise 
zum  Problem  erhoben. 

„Der  Einzig  mögliche  Beweisgrund"  zeigt  uns  den  Zusammenhang 
zwischen  der  Kantischen  Teleologie  und  der  exakten  Wissenschaft.  Schon 
in  der  vorkritischen  Zeit,  als  bei  Kant  das  naturwissenschaftliche  Interesse 
vorwiegend  war,  sind  alle  Bestandteile  seiner  Teleologie,  und  zwar  auf 
mathematischem,  ästhetischem  und  biologischem  Gebiete,  nachweisbar.  In 
erkenntnistheoretischer  Hinsicht  ist  der  „Einzig  mögliche  Beweisgrund" 
von  nicht  geringerer  Bedeutung.  Denn  das  methodologische  Problem  ist 
hier  wie  später  in  der  kritischen  Teleologie  vornehmlich  ein  Problem  des 
Urteilens  (§  6).  Die  kritische  Teleologie  ist  daher  eine  Fortsetzung  der 
vorkritischen  und  keineswegs  eine  bloss  logische  Konsequenz  des  Kritizis- 
mus (§  12). 

Die  systematischen  Ergebnisse  der  Dissertation  lassen  sich  folgender- 
niassen  darstellen. 

a)  In  erster  Linie  ist  die  Art  und  Weise  der  Kantischen  Problem- 
stellung hervorzuheben  (§  9,  10).  Erklärung  kann  nur  die  gesetzliche 
Form  des  Geschehens  betreffen,  denn  eben  dadurch,  dass  sie  eine  Gesetz- 
mässigkeit auf  konstitutiven  Prinzipien  zurückführt,  also  uns  Einsicht  in 
ihre  Notwendigkeit  gewährt,  kann  sie  allein  Erklärung  heissen  (§  '^).  Im 
Unterschied  davon  wird  eine  jede  willkürliche  Ergänzung  des  Thatbe- 
standes  der  zu  erklärenden  Erscheinungen  nie  als  eine  Erklärung  gelten 
können  (§  5  b,  §  11).  Die  Resultate  solcher  Erklärungsversuche  sind,  wie 
Kant  sag-t,  „ebenso  unverständlich  als  die  Sache  selbst,  oder  ganz  willkür- 
lich erdacht". 

b)  Die  post-Darwinische  Wendung  in  der  Biologie  bildet,  abgesehen 
von  den  mit  ihr  verbundenen  Spekulationen,  vielfach  eine  Parallele  zu  der 


Selbstanzeigen  (Steckelmacher).  235 

Kantischen  Teleologie.  Denn  hier  handelt  es  sich  um  den  Versuch  einer 
experimentellen  Auflösung  des  Organischen  in  die  Vorgänge,  die  seine 
Gestaltungsweise  ausmachen.  Schon  bei  Kant  aber  ist  es  nicht  die  Struk- 
tur der  organischen  Gebilde  (Möglichkeit  der  Teile  nur  in  Beziehung  auf 
das  Ganze),  sondern  die  damit  verknüpfte  „wechselseitige  Hervorbringung", 
die  das  Grundproblem  ausmacht.  Demnach  ist  die  ganze  Aufgabe  einer 
Teleologie  in  der  einfachen  Beschaffenheit  der  organisierten  Materie  un- 
vermindert enthalten. 

c)  Endlich  ist  die  Kantische  Teleologie  für  das  Problem  einer  Bio- 
logie überhaupt  von  grosser  Wichtigkeit.  Wie  bei  Aristoteles  die  Entele- 
chie  (=  Vollendungstrieb)  nur  eine  Spezialisierung  des  Eormprinzips  war, 
so  finden  sich  bei  Kant  Spuren  eines  sowohl  der  Biologie,  wie  auch  der 
allgemeinen  Naturlehre  gemeinscliaftlichen  Problems  (§  11,  S.  49  ff).  Ge- 
mäss des  Verwickelungsgrades  der  in  ihnen  verknüpften  Auslösungs- 
momente lassen  sieh  die  Gestaltungsweisen  der  Natur  in  einer  Reihenfolge 
aufstellen.  Es  giebt  also  ein  allgemeines  Fonnproblem,  das  seiner  Lösung 
im  Gebiet  der  Physik  zuerst  bedarf,  ehe  man  eine  Anwendung  desselben 
im  Bereich  der  Biologie  mit  Sicherheit  fortzuführen  vermag  (§§10,11,  12). 

W.  J.  Chapman. 

Steckelmacher,  Ernst.  Der  transscendentale  und  der  em- 
pirische Idealismus  bei  Kant.  Erlanger  Dissertation.  Heidelberg 
1904.     (102  S.) 

Der  Verf.  untersucht  in  Anknüpfung  an  Robert  Reiningers  Schrift: 
Kants  Lehre  vom  inneren  Sinn  und  seine  Theorie  der  Erfahrung,  1900,  die 
Natur  des  Kantischen  Idealismus  und  kommt  im  wesentlichen  zu  folgendem 
Resultate : 

1.  Der  Widerspruch,  den  Reininger  in  der  Kantischen  Sinneslehre 
aufzeigt,  ist  vorhanden.  Einerseits  wird  in  der  transscendentalen  Ästhetik 
das  Zeitproblem  in  transscendental-idealistischem  Sinne  gelöst:  die  Zeit 
wird  von  einer  transscendentalen  Organisation  geschaffen,  die  Dinge 
brauchen  nicht,  um  zeitlich  geordnet  zu  sein,  ins  Bewusstsein  gerufen  zu 
werden,  sondern  alle  Erscheinungen,  auch  wenn  sie  nicht  im  Sinnfeld 
unseres  Bewusstseins  sich  befinden,  stehen  unter  dem  Banne  zeitlicher 
Formulierung ;  andererseits  finden  wir  eine  empirisch-idealistische  Fassung  : 
der  empirische  innere  Sinn  bewirkt  die  zeitliche  Ordnung.  Während  die 
Zeit  nach  jener  Fassung  Daseinsform  der  Erscheinungswelt  ist,  ist  sie 
nach  dieser  nur  noch  Bewusstseinsform.  Obwohl  dieser  Widerspruch 
nicht  weggedeutet  werden  kann,  so  ist  trotzdem  die  Sinneslehre  auf 
einheitlichem  Grunde  —  in  transscendental-idealistischem  Sinne  — 
aufgebaut.  Jene  empirisch-idealistischen  Stellen  der  Sinneslehre  geben 
nicht  einen  zweiten  Standpunkt  wieder,  den  Kant  neben  dem  ursprüng- 
lichen eingenommen  hat,  sondern  sind  nur  eine  allerdigs  missglückte  Er- 
klärung der  transscendental-idealistischen  Fassung  der  Sinneslehre. 

2  Die  empirisch-idealistischen  Stellen  der  Sinneslehre  haben  nicht 
auf  die  Erfahrungslehre  eingewirkt.  Die  Erfahrungslehre  ist  auf  einer 
einzigen  Basis  aufgebaut.  Die  transscendental-idealistische  Lehre,  dass 
nicht  wir  einzelne  Menschen  die  Erscheinungswelt  formieren,  dass  wir  nur 
ins  Bewusstsein  rufen,  was  eine  „transscendentale  Gattungsvernunft"  an 
dem  gegebenen  Stoff  geordnet  hat,  beherrscht  die  gesamte  Erfahrungs- 
lehre. Das  Kriterium,  das  Reininger  anführt,  um  eine  empirisch-idea- 
listische Fassung  der  Erfahrungslehre  nachzuweisen :  Alle  Synthesis  gelit 
vom  Verstände  des  Einzelnen  aus,  die  Kategorien  werden  nicht  durch  eine 
vorempirische,  transscendentale  Funktion  den  Wahrnehmungen  eingefügt, 
sondern  der  Verstand  des  Einzelnen  bewirkt  die  kategoriale  Ordnung, 
findet  sich  nicht  in  der  Erfahrungslehre.  Auch  die  Lehre  vom  „Ding  an 
sich"  liefert  uns  kein  Merkmal,  um  zwei  verschiedene  Phasen  —  eine 
transscendental-idealistische  und  eine  empirisch-idealistische  —  in  Kants 
Erfahrungslehre  erkennen  zu  können. 


236  Mitteilungen  (Mattersberger  Kantbüste). 

3.  Die  „Widerlegungen  des  Idealismus"  weisen  widerspi-echende 
Ansichten  auf.  Der  transscendental-idealistische  Standpunkt  wird  nicht 
immer  gewahrt.  Als  Ursache  für  diesen  Widerspruch  sind  die  empirisch- 
idealistischen Wendungen    der   transscendentalen  Ästhetik  anzusehen. 

Ernst  Steckelmacher. 


Mitteilungen. 


Die  Mattersbergersche  Kantbiiste. 

Wie  in  einer  stattlichen  Reihe  älterer  Hefte,  so  sind  die  KSt.  auch 
diesmal  wieder  in  der  Lage,  ihren  Lesern  ein  Bildnis  Kants  zu  bringen: 
die  Abbildung  der  fast  völlig  verschollenen  Mattersbergersclien  Büste. 
Den  Anlass  zu  dieser  Reproduktion  —  sie  erscheint  (ebenso  wie  die  Sil- 
houette im  Festheft  IX,  1/2)  gleichzeitig  auch  in  der  „Illustrierten  Zeitung" 
(J.  J.  Weber,  Leipzig)  nebst  einem  kleinen  Orientierungsartikel  in  No.  3215  — 
hat  die  Gründung  der  Kantgesellschaft  geboten:  als  am  22.  April  vorigen 
Jahres,  dem  Geburtstage  Kants,  die  konstituierende  Versammlung  der  Ge- 
sellschaft in  Halle  stattfand,  war  unter  anderen  Veranstaltungen  auch  eine 
Kantausstellung  arrangiert  worden  (vgl  den  Bericht  KSt.  IX,  569).  Herr 
Geh.  Justizrat  Professor  Dr.  R.  Stammler,  den  Angehörigen  der  Kant- 
gemeinde längst  bekannt  als  selbständiger  und  bahnbrechender  Vertreter 
der  kritischen  Methode  auf  den  Gebieten  der  Rechts-  und  Sozialphilosophie, 
hatte  die  Freundlichkeit,  die  in  seinem  Besitz  befindliche  Büste  hierfür 
zur  Verfügung  zu  stellen,  und  der  bedeutende  Eindruck,  den  sie  damals 
machte,  ist  der  Grund  dafür  gewesen,  dass  ihre  Abbildung  in  den  KSt. 
beschlossen  wurde. 

Dieses  Exemplar  ist  einer  der  wenigen  noch  vorhandenen  Abgüsse 
der  Büste,  die  Joseph  Mattersberger  im  Jahre  1795  in  Königsberg 
—  wohl  nach  dem  Leben  —  modelliert  hat.  Nach  Naglers  Künstlerlexikon 
ist  Mattersberger  1754  in  Windisch-Matrey  in  T^yrol  geboren,  und  wurde 
in  Salzburg  und  Mailand  ausgebildet.  Seine  Thätigkeit  entfaltete  er  zuerst 
in  der  Lombardei  als  Modelleur  von  Heiligenstatuen.  1788  war  er  in 
Dresden,  wo  er  eine  Büste  des  Grafen  Einsiedel  hinterlassen  hat.  Dann 
wirkte  er  in  Petersburg  und  Moskau;  liier  brachte  er  es  zum  „kaiserlich 
russischen  Kabinettsbildhauer",  und  hier  befinden  sich  auch  die  meisten 
seiner  Werke.  1804  wurde  er  Professor  an  der  Kunstschule  in  Breslau. 
Er  starb  18'25. 

Was  nun  seine  Kantbüste  betrifft,  so  scheint  sie  überhaupt  nur  in 
verhältnismässig  wenig  Abgüssen  existiert  zu  haben.  In  dauerhaftem 
Material  ist  sie  wohl  nie  ausgeführt  worden.  Absprechende  Urteile  über 
ihren  Wert  mögen  dann  auch  dazu  beigetragen  haben,  dass  die  vorhande- 
nen Exemplare  nicht  sonderlich  gehütet  wurden:  in  D.  Mindens  be- 
kannter Abhandlung  „Über  Porträts  und  Abbildungen  Immanuel  Kants" 
(Königsberg  1868)  lesen,  wir,  die  Büste  könne  „weder  in  künstlerischer 
Beziehung!!],  noch  der  Ähnlichkeit  nach  auf  Beachtung  Anspruch  machen" 
(S.  11).  So  begreift  es  sich,  dass  heute  die  Büste  zu  den  grössten  Selten- 
heiten gehört.  Ein  Exemplar  befand  sich  ehedem  in  Halle  im  Besitz  des 
Kantianers  Professor  Johann  Heinrich  Tieftrunk  (1760— 18.^7),  und 
hiervon  wurden  vor  etwa  25  Jahren  von  dem  Hallischen  Bildhauer  Otto 
Rudolph   einige   wenige   Abgüsse   genommen.     Leider   scheint   die   Form 


Mitteilungen  (Mattersberger  Kantbiiste— KantgeseÜschaft.).  237 

nicht  mehr  vorhanden  zu  sein.  Das  Tieftrunksche  Original  ist  jedenfalls 
nicht  mehr  in  Halle  vorhanden;  einer  von  den  Rudolphschen  Abgüssen 
aber  ist  das  Stamm  1er 'sehe  Exemplar,  nach  dem  unsere  Abbildung  an- 
gefertigt ist.  Auf  der  Rückseite  trägt  die  Büste  die  Inschrift :  „Immanuel 
Kant  Nat.  d.  22.  Aug.  [sie!]  J.  Mattersberger  fec.  1795.«  Ein  anderer  Ab- 
guss,  im  Besitz  des  Professor  Dr.  Ger  lach  in  Königsberg,  befand  sich 
auch  auf  der  Königsberger  Kantausstellung  (vgl.  oben  S.  609  ;  ein  dritter 
Abguss  ist  im  Besitz  von  Professor  D.  Dr.  Gottschick  in  Tübingen. 

Übrigens  existiert  auch  ein  alter,  jetzt  sehr  selten  grewordener  Stich, 
der  in  seiner  Auffassung  Kants  ziemlich  genau  mit  der  Büste  überein- 
stimmt. Die  Unterschrift  lautet:  „Mattersberger  del.  —  A.  Thilo  sc.  Bresl. 
1799.  Imanuel  Kant,  Professor  der  Logik  und  Metaphisik  zu  Königsberg, 
daselbst  gebohren  d.  22ten  April  1724.  In  Breslau  bey  August  Schall  zu 
haben."  Über  dieses  Blatt  schreibt  Minden:  „Dieser  in  punktierter 
Manier  ausgeführte  Stich  muss  lediglich  als  ein  Phantasiegebilde  angesehen 
vi^erden,  da  weder  Haltung  und  Gewandung,  noch  das  hochaufstehende 
Haupthaar  mit  der  Wirklichkeit  etwas  gemein  haben"  (S.  9). 

In  dem  Vorwurf,  dass  Kants  Tracht  eine  andere  gewesen  sei,  hat 
freilich  Minden  mehr  sein  eigenes  Kunstverständnis  als  Mattersbergers 
Werk  kritisiert.  Wenn  er  aber  die  Porträtähnlichkeit  überhaupt  bestreitet 
(s.  auch  das  oben  angeführte  Urteil  über  die  Büste  selbst),  so  wird  man 
allerdings  zuzugeben  haben,  dass  von  photographischer  Treue  nicht  die 
Rede  sein  kann.  Die  Komposition  ist  durchaus  grosszügig  gehalten,  und 
alle  Einzelheiten  sind  mit  souveräner  Freiheit  behandelt.  Aber  wenn  man 
sich  sagt,  dass  es  dem  Künstler  offenbar  darauf  angekommen  ist,  die 
geistige  Überlegenheit  des  Dargestellten  in  die  Erscheinung  treten  zu 
lassen,  so  versteht  man,  dass  gerade  diese  imponierende  Haltung  —  so 
wenig  sie  auch  dem  Körper  des  Königsberger  Professors  zukam  —  nicht 
ohne  Grund  gewählt  ist.  Die  Kühnheit  des  vorwärts  dringenden  Geistes, 
das  sichere  Selbstbewusstsein,  die  Majestät  des  Herrschers  im  Reiche  der 
Gedanken:  das  hat  Mattersberger  in  seiner  Kantbüste  wiedergeben  oder 
wenigstens  geben  wollen,  diesem  Zwecke  dient  auch  sowohl  der  ausdrucks- 
voll um  die  Schultern  gelegte  Philosophenmantel,  als  die  Weglassung  des 
Zopfes,  welche  die  eigenartig  wirkende  Behandlung  des  Haupthaares  be- 
dingt. So  ist  diese  Mattersbergersche  Büste  eine  wertvolle  Bereicherung 
unseres  nicht  allzureichen  Besitzstandes  an  Kantbildern. 

P.  S.  Die  Bildhauerei  von  Franz  Grummich  &  Bergk  in  Leipzig 
teilt  mit,  dass  sie  ein  Exemplar  der  Büste  besitzt  und  Abgüsse  derselben 
anfertigt. 


Kanigesellschaft. 

Erster  Jahresbericht   (für  das  Jahr  1904). 

Im  letzten  Heft  der  KSt.  (IX,  H.  3  u.  4,  S.  568-570)  wurde  über 
den  Stand  der  Kantgesellschaft  am  L  August  1904  Bericht  erstattet,  auch 
wurden  die  nötigen  Mitteilungen  gemacht  über  Verlauf  und  Ergebnis  der 
konstituierenden  Versammlung  am  22.  April  v.  J.  Wie  berichtet,  wurden 
zu  Vorstandsmitgliedern  folgende  Herren  gewählt: 

Geh.  Reg.-Rat  G.  Meyer,  Kurator  der  Universität  Halle. 

Hofrat  Professor  Dr.  A.  Riehl,  Halle. 

Geh.  Justizrat  Prof.  Dr.  Stammler,  z.  Z.  Rektor  d.  Univers.  Halle, 

Dr.  C.  Gerhard,  Direktor  der  Universitätsbibliothek  Halle. 

Geh.  Kommerzienrat  H.  Lehmann,  Halle. 

Professor  Dr.  Hans  Vaihinger,  Halle  (Geschäftsführer;. 


238  Mitteilungen  (Kantgesellscliaft). 

Diese  6  Vorstandsmitglieder,  sowie  der  Mitredakteur  der  KSt.  Privatdozent 
Dr.  Bauch  vereinigten  sich  Sonnabend,  den  14.  Januar,  abends  6  Uhr  zu 
einer  Sitzung  in  den  Räumen  des  Kuratoriums  der  Universität  Halle. 

Der  Geschäftsführer  gab  eine  Übersicht  über  den  Stand  der  Kant- 
stiftung. Dieselbe  war  bis  zu  diesem  Tage  auf  die  Höhe  von  24598  Mark 
gestiegen.  Von  dieser  Summe  sind  20000  Mark  der  Universitätskasse  ein- 
gehändigt worden ;  der  Rest  liegt  bei  dem  Bankhause  H.  F.  Lehmann  in 
Halle  und  wird  ebenfalls  derselben  Kasse  übergeben  werden,  sobald  durch 
weitere  Donationen  eine  runde  Summe  erreicht  ist. 

Der  Geschäftsführer  gab  sodann  eine  Übersicht  über  den  Stand  der 
Einnahmen  und  Ausgaben  des  Jahres  1904.  Die  Einnahmen  setzen  sich 
zusammen  aus  667  Mark  85  Pf.  Zinsen  aus  dem  obigen  Stiftungskapital, 
sowie  aus  1580  Mark  Beiträgen  von  Jahresmitgliedern  (79  Mitglieder 
ä  20  Mk.),  wozu  noch  8  Mark  8  Pf.  Mehrzahiungen  von  einigen  Jahres- 
mitgliedern kommen;  zusammen  2255  Mark  93  Pf.  —  Die  Ausgaben 
sind  folgende:  Honorar  an  Mitarbeiter  der  KSt.  791  Mark  2ö  Pf.,  ferner 
Entschädigung  an  die  Firma  Reuther  &  Reichard  in  Berlin,  Verleger  der 
„Kantstudien",  für  Lieferung  von  Freiexemplaren  an  die  Mitglieder  der 
Kantgesellschaft  47;{  Mark  50  Pf.,  zusammen  1264  Mark  75  Pf.  —  Sonach 
betrug  der  am  14.  Januar  1905  vorhandene  Überschuss    991  Mark  18  Pf. 

Die  beträchtliche  Höhe  dieses  Überschusses  wird  dem  günstigen 
Umstand  verdankt,  dass  die  bedeutenden  LTnkosten  für  die  Agitation  (ca. 
700  Mark)  aus  älteren  Beständen  gedeckt  werden  konnten,  welche  der 
Redaktion  der  KSt.  früher  privatim  von  verschiedenen  Gönnern  (speziell 
von  Herrn  Stadtrat  Prof.  Dr.  Walter  Simon  in  Königsberg)  zur  Ver- 
fügung gesteUt  worden  waren. 

Nachdem  dem  Geschäftsführer  Decharge  erteilt  war,  wurde  über  die 
Verwendung  des  Überschusses  beraten  und  beschlossen,  denselben  zu  einer 
(von  Professor  Dr.  Riehl  formulierten)  Preisaufgabe  zu  verwenden,  welche 
gleichzeitig  in  diesem  Hefte  der  KSt.  ausgeschrieben  wird.  Es  wurden 
für  dieselbe  jedoch  einstweilen  nur  500  Mark  ausgeworfen.  Dazu  nötigten 
folgende  Gründe.  Eistens  hat  die  Kantstiftung  möglicherweise  noch  nach 
dem  Preussischen  Stempelgesetz  einen  Stempel  von  4"  y  des  Stiftungs- 
kapitals an  den  Fiskus  zu  bezahlen ;  sollte  dieser  unangenehme  Fall  ein- 
treten, so  würde  diese  Summe  mehr  als  den  Zinsenertrag  eines  Jahres  in 
Anspruch  nehmen.  Zweitens  ist  noch  nicht  sicher,  wie  viel  Jahresbeiträge 
das  Jahr  1905  bringen  wird.  Für  den  Fall,  dass  die  finanzielle  Lage  der 
Gesellschaft  sich  auch  weiterhin  günstig  gestalten  sollte,  ist  eine  Erhöhung 
der  für  die  Preisaufgabe  ausgeworfenen  Summe  in  Aussicht  genommen. 

Es  ist  noch  mitzuteilen,  dass  die  Kantstiftung,  welche  nach  Mass- 
gabe des  „Aufrufes  an  die  Freunde  der  Kantischen  Philosophie",  und  nach 
dem  Beschluss  der  Generalversammlung  am  22.  April  v.  J.  der  Universität 
Halle  zugewiesen  worden  ist,  am  24.  Oktober  v.  J.  die  landesherrliche  Be- 
stätigung durch  Se.  Majestät  den  Kaiser  und  König  erhalten  hat,  unter 
Genehmigung  der  von  der  Kantgesellschaft  an  diese  Stiftung  in  ihren 
Statuten  geknüpften  Bedingungen.  Die  Verwendung  der  Zinsen  der  „Kant- 
stiftung" unterliegt  der  Beschlussfassung  des  in  jeder  Generalversammlung 
teilweise  neu  zu  wählenden  Vorstandes  der  Kantgesellschaft,  nach  Mass- 
gabe der  von  ihr  am  22.  April  v.  J.  beschlossenen  Statuten. 

Die  Statuten  der  Kantgesellschaft  werden  nunmehr  im  diesen  Hefte 
veröffentlicht,  nachdem  vom  Kgl.  Amtsgericht  in  Halle  die  Gesellschaft 
in  das  Vereinsregister  eintragen  worden  ist  am  28.  Januar  1905,  unter  No.  74. 

Laut  unseren  Statuten  findet  die  Generalversammlung  alljährlich  am 
22.  April  (Kants  Geburtstag)  im  Kuratorium  der  Universität  Halle  statt. 
Demgemäss  werden  zu  der  am  Sonnabend,  den  22.  April  d.  J.,  Nachm. 
6  Uhr  im  Universitätskuratoriura  in  Halle  stattfindenden  Generalversamm- 
lung alle  Mitglieder  der  Kantgesellschaft  gebührend  eingeladen. 

Bis  zu  diesem  Termin  hoffen  wir  auch  unsere  „Kantstiftung"  auf 
die  Höhe  von  30000  Mark  bringen  zu  können,  da  nur  durch  einen  solchen 


Mitteilungen  (Kantgesellschaft). 


239 


stattlichen    Fonds    unsere    Zwecke    erfolgreich   ausgeführt  werden  können. 
Wir  bitten  daher  unsere  Freunde,  die  Sammelthätigkeit  fortzusetzen. 

Alle  die  „Kantgesellschaft"  betreffenden  Korrespondenzen,  sowie  die 
Einsendung  aller  Beiträge  werden  an  den  Unterzeichneten  erbeten. 

Halle  a.  S.,  den  31.  Januar  1905. 

Der  Geschäftsführer  der  „Kantgesellschaft" 

Prof.  Dr.  H.  Vaihingen 


A.    Danernittglleder 
dnrcli  einiualigen  Beitrag  zur  .«Kautstiftnng*^ 


Professor  Dr.  H.  Vaihinger,  Halle 
Geh.  Reg.  Rath  Gottfried  Meyer, 


Curator  der  Universität  Halle 


Geh.  Just.  Rath  Professor  Dr.  S  t a  m  m  1  e  r,  z.  Z.  Rektor  d.  Universität  Halle 
Professor  Dr.  Walter  Simon,  Stadtrat  in  Königsberg  i.  Pr 

Professor  Dr.  Fr.  Paulsen,  Berlin 

Geh.  Rath  Professor   Dr.  Heinze,  Leipzig 
Geh.  Reg.  Rath  Professor  Dr.  Dilthey,  Berlin  . 
Geh.  Hofrath  Professor  Dr.  O.  Liebmann,  Jena 
Geh.  Reg.  Rath  Professor  Dr.  Bergmann,  Marburg 
Hofrath  Professor  Dr.  A.  Riehl,  Halle        .... 
Professor    Dr.    Alfred  Weber,  Strassburg    .... 

Professor  Dr.  K.  Groos,  Giessen 

Bibliotheksdirektor  Dr.  Gerhard,  Halle       .... 
Privatdozent  Dr.  Max  Scheler,  Jena         .        :        .         . 

Privatdozent  Dr.  Bauch,  Halle 

Reuther  &  Reichard,  Verlag  der  „Kantstudien',  Berlin 

Advocat  J.  A.  Levy,  Amsterdam 

Geh.  Kommerzienrath  R.  Riedel,  Halle       .... 

Geh.  Kommerzienrath  H.  Lehmann,  Halle 

Geh.  Kommerzienrath  A.  Dehne,  Halle      .... 

Fabrikbesitzer  Ernst  Weise,  Halle 

J.  G.  Schurman,  Präsident  der  Cornell  University,  Ithaca,  New  York 

Rentier  H.  Vorländer,  Dresden 

Rentier  John  A.  Leber,  Berlin 

M.  Fessel,  Redacteur,  Halberstadt      . 

W.  Doelle,  Buchdruckereibesitzer,  Halberstadt 

Fräulein  B.  Grabe,  Freiburg  i.  B. 

Professor  Dr.  R.  Friedberg,  Mitgl.  d.  Preuss.  Landtages,  Halle-Berlin 

Dr.  phil.  h.  c.  E  r  n  s  t  V  0 1 1  e  r  t,  Mitinh.  d.  Weidmann'schen  Buchhdlg.,  Berlin 

Baumeister  F.  Kuhnt,  Fabrikbesitzer,  Halle 

Dr.  Arthur  Pfungst,  Frankfurt  a.  M 

Professor  Dr.  Simmel,  Berlin 

Rektor  Dr.  Rausch,  Mitdirektor  der  Franckeschen  Stiftungen,   Halle 

Privatdozent  Dr.  Fritz  Medicus,  Halle 

Professor  D.  Dr.  Baumgarten,  z.  Z.  Rektor  der  Universität  Kiel 

Professor  Dr.  Götz  Martius,  Kiel 

Ethical  Society,  New  York  (Professor  Dr.  F.  Adler)   -. 
Verlagsbuchhändler  August  Scherl,  Berlin      .... 
Privatdozent  Dr.  Raoul  Richter,  Leipzig  .... 

Professor  Dr.  E.  v.  Lippmann,   Direktor  der  Zuckerraffinerie,  Halle 

Professor  Dr.  Güttier,  München 

Professor  Dr.  E   Kühnemann,  Rektor  der  K.  Akademie,  Posen 

M.  Rödiger,  Direktor  der  Halleschen  Maschinenfabrik 

Dr.  Friedrich  Alfred  Schmid,  Freiburg  i.  B. 

Konsul  B.  Brons  jr.,  Emden 


M. 


300 
50 
50 
1000 
400 
100 
100 
100 
100 
125 
100 
100 
25 
60 
60 
100 
100 
100 
500 
500 
500 
100 
60 
100 
30 
30 
25 
200 
400 
1000 
100 
30 
25 
25 
50 
400 
400 
100 
100 
100 
100 
50 
25 
30 
400 


240 


Mitteilungen  (Kantgesellschaft). 


Verlagsbuchhändler  Hermann  Schroedel,  Halle    .        .        .        .    M. 

Kommerzienrath  Jacobi,  Apolda 

Dr.  phil.  Erich  Prieger,  Bonn 

Generalarzt  Dr.  med.  Kern,  Berlin 

Dr.  R.  Jorges,  Düsseldorf 

Dr.  Jan  van  Delden,  Gronau  i.  Westf. 

Professor  Dr    med.  K.  B.  Hofmann,  Graz 

Praktischer  Arzt  Dr.  med.  R.  Gaul  ,  Stolp  i.  P. 

Banquier  Moritz  Frenkel,  Berlin       .... 

Hauptpastor  D.  theol.  Dr.  phil.  Ed.  Grimm,  Hamburg 

Generalconsul  Baron  von  Rosenthal,  Amsterdam     . 

R.  P.  Mees,  Rotterdam 

Justizrat  Rudolf  Vogel,  Königsberg  i.  Pr. 

Privatdozent  Dr.  Carl  Siegel,  Wien 

Kaufmann  Karl  Haenert,  Halle         .... 

Dr.  L.  Darmstaedter,  Berlin 

Geh.  Med.  Rat  Professor  Dr.  Stieda,  Königsberg  i.  Pr. 

Dr.  phil.  Ernst  Saenger,  Hirschberg  i.  Schi. 

Professor  Dr.  J.  E.  Creighton,  Cornell  University  Ithaca  (N.-Y.) 

Philosophische  Gesellschaft  in  Wien  (Professor  Dr.  Jodl) 

Professor  Dr.  phil.  h.  c.  Carl  Cantoni,  Senatore  del  Regno,  Pavia 

Professor  der  Chemie  Dr.  Harri  es,  Kiel 

Oberbürgermeister  a.  D.  Geh.  Reg.  Rath  Fr.  v.  Voss,  Halle  . 
Kgl.  Kommerzienrath  G.  Schlaegel,  Halle        .... 

Banquier  Ernst  Haassengier,  Halle 

Kgl.  Kommerzienrath  Konsul  Palmie,  Dresden 
Professor  G.  H.  Howison,  Berkeley,  California 
Professor  D.  theol.  Max  Reischle,  Halle  .... 

Professor  Dr.  jur.  J.  C.  Schwartz,  Halle  .... 

Generalarzt  Dr.  med.  Stechow,  Hannover         .... 
Referendar  cand.  phil    Fritz  Münch,  Strassburg  i.  E.       . 
Geh.Ober-Justizr.  Dr.  jur  A.  v.  S  c  h  m  i  d  t ,  Kammergerichtspräsident  Berlin 
Justizrath  Dr.  Hermann  Kähne,  Rechtsanwalt,  Halle 
Hofbuchdruckerei  Kaemmerer  &  Co.,  Halle      .... 

Frau  Geheimraths-Wittwe  Sanio,  Halle 

Professor  Dr.  Hugo  Münsterberg,  Cambridge  (Mass.)  . 

Professor  Dr   Zschalig,  Dresden 

A.  Rüben,  Hamburg 

W.  T.  Harris,  President  of  the  Bureau  of  Education,  Washington 

Kommerzienrath  K.  A.  Lingner,  Dresden 

Banquier  Albert  Steckner,  Halle 

Dr.  phil.  Rob.  C.  Hafferberg,  Privatgelehrter,  Riga 

Professor  Dr.  August  Stadler,  Zürich 

Professor  Dr.  Hans  Kleinpeter,  Gmunden  .... 
Professor  Dr.  Edmund  Husserl,  Göttingen  .... 
Geh.  Kommerzienrat  Carl  Wessel,  Bernburg  ... 

Generalkonsul  Robert  von  Mendelssohn,  Berlin 
Geh.  Kommerzienrat  Ernst  von  Mendelssohn-Bartholdy,  Mitgl 

des  Herrenhauses,  Berlin 

Generalkonsul  Franz  von  Mendelssohn,  Berlin 
Fabrikbesitzer  Dr.  rer.  nat.  h.  c.  Hans  Hauswaldt,  Magdeburg 
Dr.  Walter  Rathenau,  Direktor  der  Berl.  Handelsges.,  Berlin 
t  Geh    Kommerzienrat  Otto  Hubbe,  Magdeburg      . 
Geh. Oberregierungsrat  Dr.  ErnstvonMeier,  Universitätskurator  a.  D. 

Berlin 

Dr.  iur.  Hermann  Gruson,  Magdeburg  .... 

Hans  Heinrich  Reclam,  (Verlagsbuchhdl.  Phil.  Reclam  jr.),  Leipzig 
Geh.  Kommerzienrat  A.  Frentzel,  Berlin 
Kommerzienrat  W.  Kopetzky,  Berlin 


Mitteilungen  (KantgeseÜschaft). 


241 


Geh.  Kommer2ienrat  R.  Wolf,  Magdeburg  .... 

Geh.  Kommerzienrdt  Selve,  Altena  i.  W.  —  Bonn 

Verlagsbuchhändler  und  Rittergutsbesitzer  Rudolf  Messe,  Berlin 

Banquier  Dr.  Karl  Sulzbach,  Frankfurt  a.  M. 

Dr.  iur.  Robert  Faber,  Verleger  der  Magdeburger  Zeitung,  Magdeburg 

Justizrat  Dr.  jur.  Edmund  Lachmann,  Berlin 

Geh.  Kommerzienrat  L.  M.  Goldberger,  Berlin 

Kommerzienrat  Dr.  iur.  Georg  Caro,  Berlin 

Dr.  Georg  Huber,  München      .... 

Banquier  Alfred  Cohn,  Berlin 

Rev.  D.  theol.  James  Lindsay,  Kilmarnock,  Scotland 

Frau  Geh,  Kommerzienrat  Luise  Delbrück,  Berlin 

Kommerzienrat  J.  Seiler,  Dessau 

Generaldirektor  Dr.  ing.  W.  von  Oechelh äuser,  Dessau 

Kammerherr  Dr.  phil.  h.c.  Freiherr  Hermann  Hartmann  von  Erffa 
Mitgl.  d.  Abgeordnetenh.,  Schloss  Wernburg 

Charles  L.  Hallgarten,  Frankfurt  a.  M. 

Realschuldirektor  Dr.  A.  Gille,  Ems 

Professor  D.  Dr.  F.  Loofs,  Halle  a.  S. 

Professor  Dr.  Eduard  Caird,  Oxford 

Banquier  Jakob  H.  Epstein,  Frankfurt  a.  M. 

Eduard  Parrot,  Privatier,  München 

Albert  Salomon,  Pfaffendorf  bei  Coblenz 

H.  W.  Blunt,  Oxford  (Christ  Church  College)    . 

The  Philosophical  Union  of  the  University  of  California,  Berkeley, 
Cal ,  U.  S.  A.  (J.  K.  Moffitt,  Prof.  C.  H.  Rieber,  Ph.  D.,  Hon.  W.  Al- 
vord,  W.  Keith,  Prof.  C.  M.  Bakeweil,  Ph.  D.,  Hon.  J.  Garber, 
Prof,  G.  M.  Stratton,  Ph.  D  ,  T.  Addison,  M.  D.,  E.  R.  Taylor,  M.  D., 
Prof.  W.  E.  Ritter,  Ph,  D.,  Prof.  S.  B.  Christy,  Sc.  D  ,  A.  G.  Erles, 
W.  Olney  jr.,  A.  S.  Blake,  J.  Sutton,  Prof,  J.  H.  Senger,  Ph.  D., 
M.  E.  Blanehard,  Ph.  D.,  W.  H.  Stryth,  T.  R.  Kelley,  Mrs  E.  Probert, 
Mrs  E  H  M.  Van  Duyna,  Miss  M.  L.  Thornton) 

Professor  Dr.  C.  A.  Strong,  Columbia  University,  New- York 

Professor  Dr.  Emile  Boutroux,  Membre  de  l'Institut,  Paris 

Geh.  Justizrat  Carl  Robert  Lessing,  Berlin 

Geh.  Kommerzienrat  Dr.  Siegle,  Stuttgart 

Königl.  Sachs.  Kommerzienrat  Dr.  Schwabe,  Leipzig 

Bankdirektor  M.  Stein thal,  Berlin 

Stadtrat  Reichardt,  MitgL  d.  Abgeordnetenhauses,  Magdeburg 

C.  C.  J.  Webb,  Oxford  (Magdalen  College) 


M. 


100 

100 

500 

100 

400 

400 

100 

50 

40 

100 

25 

25 

30 

100 

50 
100 

25 
30 
42 
30 
lüO 
50 
50 


627 

400 

50 

100 

500 

100 

100 

y 

50 

25 

Hierzn  folgende  Gescbeuke  au  die  „Hantsliftang**: 

VomKgl.  Preuss,  Ministerium  der  geistlich  en,  Unterrichts- 
und Medizinal-Angelegenheiten  in  Berlin  .         .         .    M. 

Banquier  Sigmund  Hirschmann,  Arnstadt 

Von  Angehörigen  und  Freunden  der  Universität  Basel         .        .     , 

Von  den  Ärzten  der  Kaiser-Wilhelms-Akademie  für  das  militär- 
ärztliche Bildungswesen  in  Berlin  (Dr.  Dr.  med.  Garlipp,  Henrici, 
Pfuhl,  Rauschke,  Salzwedel) 

Von  Hörerinnen  des  Professor  Dr.  Fritz  Schnitze  in  Dresden 

Professor  Dr.  Geo  Runze,  Gross-Lichterfelde     . 

t  Frau  Lina  Mühlmann,  Halle         .... 

Stadtrath  A.  Keferstein,  Halle  .... 

Rentier  Julius  Wagner,  Halle  .... 

Fräulein  Dr.  Ellen  Bliss  Tal  bot,  Mt.  Holyoke  Coli.  (U.  S.  A.) 

Mr.  M.  P.  Mason,  Boston,  Mass.  (U.  S.  A ) 

Sammlung  in  St.  Louis  und  Umgebung  (Professor  Dr.  Thilly, 
Professor  Dr.  Lovejoy,  Dr.  E.  Preetorius,  Dr.  L.  Bremer,  Dr. 

Kant8tudien  X.  \Q 


2500 

10 

200 


25 
260 
5 
10 
20 
10 
21 
21 


242 


Mitteilungen  (Kantgesellschaft). 


W.  L.  Sheldon,  Rev.  J.  W.  Lee,  Rev.  S.  Säle,  G.  H.  Brauti, 
E.  C.  Kehr,  W.  H.  Mayo,  R.Moore,  F.  L.  Soldan,  O.  L.  Teich- 
mann, J.Walter,  C.  E.  Bradley,  W.  E.  Ebert,  Men's  Philo- 
sophy  Club) M 

Sammlung  und  Geschenk  des  Literarischen  Vereins  zu  Dresden 

Ungenannt  v.  S 

Ungenannt 

Ungenannt  St 

Ungenannter  Hallenser 

Ungenannt  M 

Ungenannt  L. 

Dr.  A.  Halle  .        .    ^ 

Frau  Professor  Boretius,* Berlin 

Ungenannt  T. 

Ungenannt  M.  in  B 

Frau  St.-H 

Frau  P.-St 

Summa:  24,598  M. 


441 

100 

5 

10 
300 
500 

30 
200 
100 

20 

30 
200 
200 
100 


B.    Jakresinitglleder. 

(Jahresbeitrag  20  M.) 

Staatsminister a.  D.  Oberpräsident  Dr.  v.  Bötticher,  Exe,  Magdeburg. 
Professor    Dr.    A.    Lasson,    Berlin-Friedenau. 
Dr.  P.  Deussen,   Kiel. 
D  essoir,  Berlin. 

Theobald  Ziegler,  Strassburg  i.  E. 
Clemens  Bäumker,  Strassburg  i.  E. 
Berlin. 
Magdeburg. 


Professor 

Professor 

Professor 

Professor 

Dr 

Dr 


Dr. 

Dr. 

Dr. 
Hugo  Renner, 
W.  Rein  ecke. 


Dr.  Br.  Christiansen,  Freiburg  i.  B. 

Amtsrichter  Arthur  Warda,  Schippenbeil  i.  Ostpr. 

Pastor  prim.  Dr.  Katzer,  Löbau  i.  S. 

Dr.  med.  Iwan  Bloch,  Berlin. 

Stud.  jur.  et  cam.  G.  A  E.  Bogeng,  Berlin. 

Dr.  med.  Hermann  Gutzmann,  Berlin. 

Schriftsteller  Emil   Lucka,  Wien. 

Hauptmann  a.  D.  Franz  Schraube,  Halberstadt. 

Diakonus  Dreyer,  Camburg  a.  S. 

Dr.  phil.  Felix  Kuberka,  Halle  a.  S. 

Dr.  phil.  Jacob  Herz,  Wien. 

Kommerzienrath  Dr.  jur.  W.  Simon,  Berlin. 

Walter  B.  Waterman,  Roxbury  (Mass.)  U.  S.  A. 

Dr.  jur.  J.  Sacker,  Odessa. 

Verlagsbuchhändler  Johannes  Fr.  Dürr,  Leipzig. 

Lic.  Dr.  E.  Vowinkel,  Mettmann  (Rheinl.). 

Cand.  phil.  Georg  Küspert,  München. 

Frau  Direktor  Julie  Rödiger  geb.  Jaeger,  Halle  a.  S. 

Professor  Dr.  Levy-Bruhl,  Paris. 

Stud.  phil.  Ferdinand  Harnisch,  Halle. 

K.  K.  Studienbibliothek  Klagenfurt  (Custos  Dr.  Ortner). 

Direktor  A.  Schulze,  Halle. 

Dr.  phil.  Max  Apel,  Berlin-Charlottenburg. 

Professor  Dr.  Fritz  Schultze,  Dresden. 

Professor  Dr.  med.  Koblanck,  Berlin. 

Professor  P.  Tichomiroff,  Moskau. 

Professor  Dr.  W.  Jerusalem,  Wien. 

Dr.  phil.  Dawes  Hicks,  London, 


Mitteilungen  (Kantgesellschaft).  243 

Dr.  phil.  J.  W.  Hickson,  Montreal  (Canada). 

Dr.  med.  Kalker,  Köln  a.  Rh. 

Rittergutsbesitzer  Siebert,  Corben  bei  Mollehnen  (Ostpr.). 

Fabrikdirektor  Eugen  Hecker,  Braunschweig. 

Buchdruckereibesitzer  Karl  Maisch,  Karlsruhe. 

Privatgelehrter  Dr.  R.  Wedel,  München. 

Friedrich  Freiherr  von  Hügel,  London. 

Professor  Dr.  A.  Höfler,  Prag. 

Privatdozent  Dr.  R.  Re  in  in  g  er,- Wien. 

Rud.  Goldscheid,  Wien. 

Dr.  R.  Hönigswald,  Graz. 

Fabrikbesitzer  Friedr.  Curti  us-Nohl,  Duisburg. 

Dr.  Victor  Lowinski,  Berlin. 

Professor  Dr.  Victor  Delbos,  Paris. 

Professor  Dr.  Volkelt,  Leipzig. 

Frau  Bertha  Meyer,  Dresden. 

Frau  Justizrat  Meyer,  Dresden. 

Dr.  Anton  Thomsen,  Kopenhagen. 

Regierungs-Referendar  Dr.  Sitzler,  Aurich. 

Professor  Dr.  A.  Wernicke,  Braunschweig. 

Stud.  Armin  Lusser,  Luzern. 

Privatmann  Gustav  Wagner,  Achern. 

Dr.  Gay  v.  Brockdorff,  Privatdocent  der  Philosophie,  Braunschweig. 

Dr.  David  Wiktoroff,  Privatdocent,  Moskau. 

Magistrat  der  Stadt  Hildesheim  (für  die  Stadtbibliothek). 

Dr.  Karl  Gebert.  München. 

Professor  Dr.  Th.  Ruyssen,  Aix-en-Provence. 

Kommerzienrath  Edmund  Wirth,  Sorau. 

Professor  Dr.  J    H.  Stirling,  Edinburgh. 

Lic.  Dr.  W.  Koppelmann,  Leer. 

Privatdocent  Dr.  W.  N.  Iwanowsky,  Kasan. 

Amtsrichter  G.  Vocke  in  Günzburg. 

Versicherungsbeamter  Max  Schersath  in  Berlin. 

Ein  ungenannt  bleibendes  Mitglied. 

Geh.  Kommerzienrath  R.  Riedel,  Halle 

Dr.  phil.  h.  c.  E.  Vollert,  Verlagsbuchhändler,  Berlin 

Advokat  J.  A.  Levy,  Amsterdam 

Professor  Dr.  E.  v.  Lippmann,  Halle 

Generalarzt  Dr.  Kern,  Berlin. 

Dr.  R.  Jorges,  Düsseldorf. 

Dr.  med.  R.  Gaul,  Stolp  i.  P. 

Professor  D.  Dr.  Fr.  Loofs,  Halle  a.  S. 

Jacob  H.  Epstein,  Frankfurt  a.  M. 

Summa :  79  Mitglieder. 

Anhang:   Neu  angemeldete  Jahresmitglieder. 

Professor  Dr.  K.  B.  Hof  mann  in  Graz.  —  Privatdocent  Dr.  Menzer  in 
Berlin.  —  Privatdocent  Dr.  Ernst  Schrader  in  Darmstadt.  —  Hermann 
Bollmann  in  Olvenstedt  bei  Magdeburg.  —  Stadtrath  Reichardt  in  Magde- 
burg, Mitgl.  d,  Abgeordnetenhauses.  —  Oberlehrer  Dr.  Ellissen  in  Einbeck. 
—  Dr.  med.  C.  J.  M.  Schmidt  in  Odessa.  —  Dr.  med.  Bordes  in  Berlin.  — 
Professor  Dr.  Staudinger  in  Darmstadt.—  Prediger  Dr.  Maximilian  Runze 
in  Berlin.  —  Professor  Dr.  Falckenberg  in  Erlangen.  —  Stud.  phil.  Wilh. 
Börner  in  Wien. 

Nachtrag:  Seine  Excellenz  Herr  Wirkl.  Geh.  Rat  D.  Dr.  Eduard 
Zeller  in  Stuttgart  ist  als  Dauermitglied  der  Kantgesellschaft  beigetreten  mit 
einem  einmaligen  Beitrag  von  100  M. 

16* 


Gleichzeitig 

Dauer- 
mitglieder. 


Satzungen  der  Kantgesellschaft 

Bei  Gelegenheit  des  Imndertjährigen  Todestages  Immanuel  Kants 
—  12.  Februar  1904  —  hat  sich  auf  Anregung  des  Professors  Dr.  Vaihinger- 
Halle  eine  Kantgesellschaft  gebildet,  deren  Satzung  in  der  ersten 
Mitgliederversammlung  am  22.  April  1904,  wie  folgt,  beschlossen  worden  ist: 

§  1- 
Die  Kantgesellschaft  hat   ihren  Sitz   in  Halle  a.  S.  und  soll  dort  ins 
Vereinsregister  eingetragen  werden.     Sie  verfolgt  den  Zweck,  das  Studium 
der  Kantischen  Philosophie   zu   fördern  und   zu   verbreiten.     Sie  will  dies 
erreichen : 

a)  durch  Unterstützung  eines  der  Kantischen  Philosophie  besonders 
gewidmeten  Organs,  zur  Zeit  der  seit  1896  bestehenden  philoso- 
phischen, in  zwanglosen  Heften  erscheinenden  Zeitschrift  „Kant- 
studien". 

b)  durch  andere,  zur  Förderung  und  Verbreitung  der  Kantischen 
Philosophie  geeignete  Massregeln,  so  durch  Veranstaltung  von 
Preisausschreiben,  durch  Unterstützung  von  Publikationen  (eventuell 
auch  von  Dissertationen")  über  Kant  und  die  von  ihm  ausgehende 
Lehre,  durch  Verleihung  von  Ehrengaben  an  verdiente  Kant- 
forscher, durch  Stipendien  an  jüngere  Gelehrte  (insbesondere  an 
Privatdozenten)  Kantischer  Richtung  oder  verwandter  Richtungen 
und  dergleichen.  Sollte  es  jemals  an  wissenschaftlichen  Be- 
strebungen Kantischer  oder  verwandter  Richtung  fehlen,  so 
können  die  Mittel  auch  zur  Förderung  und  Unterstützung  der 
Philosophie  und  ihrer  Vertreter  im  allgemeinen  verwendet  Averden. 

§  2. 

Die  Unterstützung  der  jeweils  als  Vereinsorgan  dienenden  Zeitschrift 
erfolgt  in  erster  Linie  durch  Bereitstellung  von  Mitteln  zur  Gewinnung 
tüchtiger  Mitarbeiter  und  zur  Beschaffung  sonstiger  geeigneter  Beiträge. 
Je  nach  Umständen  kann  die  Unterstützung  der  Zeitschrift  in  anderer  Art 
erfolgen.  Die  Zeitschrift  erhält  auf  dem  Titel  den  Zusatz  „mit  Unter- 
stützung der  Kantgesellschaft  herausgegeben".  Den  hierauf  bezüglichen 
Vertrag  mit  dem  betreffenden  Verlage  der  Zeitschrift  schliesst  die  Gesell- 
schaft ab. 

§  3. 

Die  Verwendung  der  vorhandenen  Mittel  zu  den  in  §  1  Abs.  a  sowie 
in  §  2  genannten  Zwecken  ist  Aufgabe  der  Redaktion  der  Zeitschrift.  Sie 
untersteht  in  dieser  Hinsicht  der  Aufsicht  des  Verwaltungs-Ausschusses 
imd  hat  demselben  auf  Verlangen  jederzeit,  insbesondere  aber  nach  dem 
Abschluss  eines  jeden  Bandes  der  Zeitschrift,  über  die  statutengemässe 
Verwendung  der  Mittel  Rechenschaft  abzulegen.  Die  Redaktion  stellt  am 
Anfang  jedes  Kalenderjahres  einen  Überschlag  über  die  voraussichtlich 
notwendigen  Ausgaben  auf,  legt  diesen  Überschlag  dem  Verwaltungs-Aus- 
schuss  zur  Prüfung  und  Genehmigung  vor,  welcher  die  Herausgeber  der 
Zeitschrift  bei  seiner  Beschlussfassung  mit  Stimmberechtigung  zuzieht. 
Hierauf  empfängt  die  Redaktion  durch  die  Hand  des  Geschäftsführers  die 
für  ihre  Zwecke  bewilligten  Mittel.  Etwa  später  notwendige  Änderungen 
des  Voranschlages  werden  hierdurch  nicht  ausgeschlossen. 


Mitteilungen  (Kantgesellscliaft).  245 

§4. 

Über  die  Verwendung  der  noch  übrigen  verfügbaren  Mittel  zu  den 
im  §  1  Abs.  b  genannten  Zwecken  beschliesst  der  Vorstand  in  einer  Sitzung, 
zu  der  auch  die  ortsanwesenden  Herausgeber  der  Zeitschrift  mit  beratender 
Stimme  eingeladen  werden.  Sind  die  Herausgeber  nicht  ortsanwesend,  so 
ist  ihnen  der  Tag  der  Sitzung  mitzuteilen,  damit  sie  ihre  Meinung  über  die 
Verwendung  des  Restes  der  Mittel  dem  Vorstand  schriftlich  mitteilen  können. 

Es  kann  aber  auch  der  Rest  der  verfügbaren  Mittel  zur  Erhöhung 
des  als  Kantstiftung  bezeichneten  Kapitals  (§  12)  verwendet  werden. 

§5. 

Organe  der  Gesellschaft  sind: 
der  Verwaltungs-Ausschuss, 
der  Geschäftsführer  und 

der  Kassenführer,   falls  ein  solcher  bestellt  werden  sollte  Tf  6),   welche  ge- 
meinschaftlich den  Vorstand  bilden,  sowie  die  Mitglieder-Versammlung. 

Der  Verwaltungs-Ausschuss  besteht  aus  mindestens  5  Mitgliedern. 
An  seiner  Spitze  steht  als  Vorsitzender  der  jedesmalige  Kurator  der  Uni- 
versität Halle,  oder  sein  Stellvertreter.  Sollte  das  Amt  eines  Kurators 
jemals  fortfallen,  so  tritt  an  seine  Stelle  der  jedesmalige  Rektor  der  Uni- 
versität. Weitere  Mitglieder  des  Verwaltungs-Ausschusses  sind  stets  die 
ordentlichen  Professoren  der  Philosophie  an  der  Universität  Halle,  soweit 
sie  nicht  ablehnen  oder  ein  anderes  Amt  der  Gesellschaft  haben.  Die 
anderen  Mitglieder  werden  für  jedes  Jahr  in  der  Mitglieder- Versammlung 
durch  einfache  Stimmenmehrheit  gewählt.  Kommt  eine  Mitglieder- Ver- 
sammlung nicht  zustande,  so  gelten  die  bisherigen  Mitglieder  des  Ver- 
waltungs-Ausschusses als  wiedergewählt.  Nehmen  diese  das  Amt  nicht 
wieder  an,  so  kann  der  Vorsitzende  des  Verwaltungs-Ausschusses  geeignete 
Persönlichkeiten  zu  Mitgliedern  des  Verwaltungs-Ausschusses  bestimmen. 
Bis  dahin  kann  er  auch  den  Verwaltungs-Ausschuss  allein  vertreten.  Der 
Verwaltungs-Ausschuss  hat  auch  das  Recht,  sich  über  die  Zahl  5  hinaus 
durch  weitere  geeignete  Personen  zu  ergänzen. 

Der  Verwaltungs-Ausschuss  hat  die  Ausgaben  der  Redaktion  auf  ihre 
Statutengemässheit  hin  zu  prüfen,  sowie  die  Tätigkeit  des  Geschäftsführers 
zu  überwachen. 

§  6. 

Der  Geschäftsführer  wird  ebenfalls  in  der  Mitglieder-Versammlung 
gewählt.  Kommt  eine  solche  nicht  zustande,  so  gilt  der  bisherige  Ge- 
schäftsführer als  wiedergewählt.  Will  er  das  Amt  nicht  wieder  annehmen, 
so  hat  der  Vorsitzende  des  Verwaltungs-Ausschusses  das  Recht,  einer  dazu 
geeigneten  Persönlichkeit  das  Amt  bis  zur  nächsten  Mitglieder- Versamm- 
lung zu  übertragen. 

Der  Geschäftsfülirer  hat  die  Korrespondenz  der  Gesellschaft  zu 
führen,  alle  auf  diese  bezüglichen  Schriftstücke  aufzubewahren  und  neue 
Mitglieder  zu  werben.  Er  hat  ferner  die  Kasse  der  Gesellschaft,  abgesehen 
von  dem  als  Kantstiftung  (§  12)  bezeichneten  Fonds,  zu  verwalten.  Hierfür 
kann  auch  ein  besonderer  Kassenführer  von  der  Mitglieder- Versammlung 
bestellt  werden,  der  zugleich  zum  Stellvertreter  des  Geschäftsführers  er- 
nannt werden  kann. 

§  7. 

Der  Vorstand  entscheidet  ausser  über  die  im  §4  erwähnten  Fragen 
auch  über  alle  sonstigen  wichtigen  allgemeinen  Angelegenheiten  der  Ge- 
sellschaft. Die  Vorstandssitzungen  werden  nach  Benehmen  mit  dem  Vor- 
sitzenden des  Verwaltungs-Ausschusses  durch  den  Geschäftsführer  einbe- 
rufen.    Auch  auf  Verlangen  des  Vorsitzenden  des  Verwaltuugs-Ausschusses 


246  Mitteilungen  (Kantgesellschaft). 

oder  von  mindestens  3  der  übrigen  Mitglieder  des  Vorstandes  hat  der  Ge- 
schäftsführer eine  Sitzung  einzuberufen.  In  diesen  Sitzungen  führt  der 
Vorsitzende  des  Verwaltungs-Ausschusses  oder  sein  Stellvertreter  den 
Vorsitz,  in  deren  Behinderung  der  Geschäftsführer. 

Auch  zu  diesen  Sitzungen  werden  die  ortsanwesenden  Mitglieder 
der  Redaktion  der  Zeitschrift  mit  beratender  Stimme  eingeladen.  Ist 
keiner  der  Herausgeber  ortsanwesend,  so  werden  Tag  und  Gegenstand  der 
Sitzung  der  Redaktion  der  Zeitschrift  vorher  rechtzeitig  mitgeteilt,  damit 
dieselbe  schriftlich  über  den  betreffenden  Gegenstand  ihre  Meinung  dem 
Vorstand  mitteilen  kann. 

Die  Beschlüsse  erfolgen  durch  einfache  Stimmenmehrheit  der  An- 
wesenden.    Bei  Stinmiengleichheit  entscheidet  die  Stimme  des  Vorsitzenden. 

Der  Vorstand  entscheidet  insbesondere  über  alle  von  der  Gesellschaft 
einzugehenden  Verpflichtungen.  Darauf  bezügliche  Schriftstücke,  Ver- 
träge u  s.  w.  müssen  vom  Geschäftsführer  und  vom  Vorsitzenden  des  Ver- 
waltungs-Ausschusses gemeinsam  gezeichnet  sein. 

§  8. 
Die  Mitglieder-Versammlung  findet  mindestens  einmal  jährlich,  am 
22.  April,  dem  Geburtstage  Kants  statt  und  zwar,  wenn  nichts  Anderes  bestimmt 
wird,  Nachmittags  6  Uhr  in  den  Räumen  des  Kuratoriums  der  Universität 
Halle.     Regelmässige  Gegenstände  dieser  Mitglieder-Versammlung  sind: 

1.  Ablegung  der  Rechnung, 

2.  Wahl  der  Mitglieder  des  Vorstandes. 

Aus  dringenden  Gründen  kann  der  Vorstand  diese  ordentliche  Mit- 
glieder-Versammlung auf  einen  anderen  Tag  verlegen.  Kann  in  diesem 
Fall  die  Einberufung  der  Mitglieder  nicht  mehr  rechtzeitig  durch  das  Vereins- 
Organ,  die  Zeitschrift,  erfolgen,  so  sind  alle  Mitglieder  schriftlich  einzuladen. 

Der  Vorstand  beruft  eine  ausserordentliche  Mitglieder-Versammlung, 
wenn  eine  wichtige,  bei  der  Einberufung  besonders  zu  bezeichnende  Ver- 
anlassung vorliegt. 

In  allen  Fragen  entscheidet  die  einfache  Stimmenmehrheit;  bei 
Stimmengleichheit  entscheidet  die  Stimme  des  Vorsitzenden.  Den  Vorsitz 
führt  der  Vorsitzende  des  Verwaltungs-Ausschusses  oder  sein  Stellvertreter, 
in  deren  Behinderung  der  Geschäftsführer. 

Der  Mitglieder- Versammlung  wird  die  vom  Verwaltungs-Ausschuss 
revidierte  Übersicht  der  Einnahmen  und  Ausgaben  zur  Entlastung  vor- 
gelegt. Dieselbe  hat  ferner  die  Wahl  der  wechselnden  Mitglieder  des 
Verwaltungs-Ausschusses,  sowie  des  Geschäftsführers  und  seines  Stellver- 
treters (des  Kassenführers)  vorzunehmen.  Änderungen  der  Satzungen 
kann  die  Mitglieder-Versammlung  nur  vornehmen,  insofern  dadurch  die  in 
§  1  und  §  2  niedergelegten  Grundbestimmungen  der  Gesellschaft  nicht  be- 
rührt werden.  Unabänderlich  sind  ferner  die  im  §  12  und  13  enthaltenen 
Bestimmungen  über  den  als  Kantstiftung  bezeichneten  Fonds. 

Die  Protokolle  der  Mitglieder-Versammlung  werden  durch  die  Vor- 
stands-Mitglieder, soweit  dieselben  an  der  Versammlung  teilgenommen 
haben,  unterzeichnet. 

§  9- 
Mitglied  der  Gesellschaft  kann  jeder  Freund  der  Kantischen  Philo- 
sophie werden.  Auch  Korporationen,  Bibliotheken  u  s.  w.  können  die 
Mitgliedschaft  erwerben.  Die  Aufnahme  vollzieht  der  Geschäftsführer; 
in  frag'lichen  Fällen  entscheidet  der  Vorstand  über  die  Aufnahme.  Die  Mit- 
glieder sind  teils  Jahres-Mitglieder,  teils  Dauer-Mitglieder.  Beide  Formen 
des  Beitritts  sind  vereinbar. 


Mitteilungen  (Kantgesellscliaft).  247 

§  10. 

Jahres-Mitglieder  zahlen  einen  regelmässigen  jährlichen  Beitrag, 
der  bis  auf  weiteres  auf  20  Mark  festgesetzt  ist.  Die  Jahres-Mitglieder  er- 
halten die  Zeitschrift  unentgeltlich  und  portofrei  zugesendet.  Die  Namen 
der  Jahres-Mitglieder  werden  in  einer  gemeinsamen  Liste  alljährlicli  in 
der  Zeitschrift  veröffentlicht.  Ist  der  Jahresbeitrag  bis  zum  1.  Februar 
nicht  bezahlt,  so  wird  der  Säumige  schriftlich  vom  Geschäftsführer  gemahnt. 
Ist  dies  erfolglos,  so  erfolgt  die  Einziehung  des  Beitrages  durch  Postnachnahme. 
Der  Austritt  aus  der  Gesellschaft  ist  dem  Geschäftsführer  schriftlicli  bis 
zum  1.  November  mitzuteilen,  anderenfalls  ist  der  folgende  Jahresbeitrag 
noch  zu  entrichten. 

§  11. 

Dauer-Mitglieder   sind  solche,   welche    an    die  Gesellschaft  einen 

einmaligen  Beitrag  von  mindestens  25  Mark  zahlen.  Wenn  der  einmalige 
Beitrag  mindestens  400  Mark  beträgt,  so  erhält  der  Spender  die  Zeitschrift 
auf  Lebenszeit  unentgeltlich  und  portofrei  zugesendet. 

Einmalige  Beiträge  unter  25  Mark  werden  als  Geschenke  betrachtet, 
die  kein  Stimmrecht  in  der  Mitglieder- Versammlung  gewähren,  doch  können 
solche  Spender  als  ausserordentliche  Mitglieder  an  allen  Mitglieder-Ver- 
sammlungen sowie  an  etwaigen  anderen  Veranstaltungen  der  Gesellschaft 
teilnehmen.  Die  Namen  der  Spender  einmaliger  Beiträge  werden  mit 
Angabe  der  Summen  gleichfalls  in  der  Zeitschrift  veröffentlicht. 

§  l'i. 
Die  in  §  11  erwähnten  einmaligen  Beiträge  werden  zu  einem  Fonds 
vereinigt,  welcher  die  Bezeichnung  Kantstiftung  erhält  und  mündelsicher 
angelegt  wird.  Die  Kantgesellscliaft  kann  nur  über  die  Zinsen  verfügen. 
Das  Kapital  selbst  nebst  etwa  späterem  Zuwachs  desselben  ist  unangreifbar, 
wird  der  Universität  Halle  als  Eigentum  überwiesen  und  untersteht  der 
Verwaltung  des  Universitäts-Kurators,  oder  desjenigen,  der  nach  §5  an 
seine  Stelle  tritt.  Die  Zinsen  stellt  derselbe  dem  Geschäftsführer  zur  Ver- 
fügung.    Über  die  Verwendung  derselben  siehe  §  1  bis  4. 

§  13. 

Wenn  sich  die  Kantgesellschaft  auflöst,  so  fallen  ihre  sämtlichen 
verfügbaren  Mittel  der  Kantstiftung  (§  12)  anheim. 

Die  Universität  Halle  kann  von  da  an  über  die  Zinsen  der  Stiftung 
nach  folgenden  Bestimmungen  verfügen: 

a)  Besteht  die  von  der  Kantgesellschaft  bis  dahin  unterstützte  Zeit- 
schrift noch  fort,  und  ist  sie  der  Unterstützung  noch  würdig,  so 
finden  die  Zinsen  zu  den  in  §  1  Abs.  a  und  in  §  2  genannten 
Zwecken  in  erster  Linie  Verwendung. 

b)  Trifft  diese  Voraussetzung  nicht  zu,  so  werden  die  Zinsen  aus- 
schliesslich zu  den  in  §  1  Abs.  b  genannten  Zwecken  verwendet 
und  zwar  ohne  Beschränkung  auf  Angehörige  der  Universität  Halle. 

c)  Ist  zeitweise  eine  satzungsgemässe  Verwendung  der  Zinsen  oder 
eines  Teiles  derselben  nicht  angezeigt,  so  werden  die  Zinsen  zum 
Kapital  geschlagen. 

d)  Der  Senat  ernennt  aus  Angehörigen  der  Universität  eine  mindestens 
dreigliedrige  Kommission,  welche  über  die  Verwendung  der  Zinsen 
beschliesst. 

e)  Die  Verwendung  der  Zinsen  bedarf  der  Bestätigung  des  Universitäts- 
Kurators  oder  desjenigen,  der  nach  §  5  an  seine  Stelle  tritt. 

Die  „Kantgesellschaft"  ist  am  28.  Januar  1905  beim  Kgl.  Amtsgericht 
Halle  a.  S,  in  das  Vereins  reg  ist  er  eingetragen  ivorden  unter  Nu.  74. 


Preisautgabe  der  „Kantgesellschaff. 

Kants  Begriff  der  Erkenntnis, 
verglichen  mit  dem  des  Aristoteles. 

Besümmungen : 

1.  Ablieferungsfrist:  1.  Oktober  1906. 

2.  Die  Arbeiten  sind,  als  „Preisaufgabe  der  Kantgesellschaft"  bezeichnet, 
einzusenden  an  das  „Kuratorium  der  Universität  Halle". 

3.  Die  Verkündigung  der  Preiserteilung  findet  statt  am  22.  April  (Kants 
Geburtstag)  des  Jahres  1907  in  der  Generalversammlung  der  „Kant- 
gesellschaft" in  Halle. 

4.  Die  gekrönte  Arbeit  erhält  den  Preis  von  500  Mark.  Wenn  es  die 
im  Jahre  1907  verfügbaren  Mittel  der  „Kantgesellschaft"  gestatten, 
kann  der  Preis  von  500  Mark  eventuell  erhöht  werden;  auch  kann 
dann  eventuell  ein  zweiter  und  dritter  Preis  gewährt  werden. 

5.  Jede  Arbeit  ist  mit  einem  Motto  zu  versehen.  Der  Name  des  Ver- 
fassers ist  in  geschlossenem  Couvert  beizufügen,  das  mit  dem  gleichen 
Motto  zu  überschreiben  ist. 

6.  Jeder  Arbeit  ist  ein  genaues  Verzeichnis  der  benützten  Litteratur, 
sowie  eine  detaillierte  Inhaltsangabe  beizufügen. 

7.  Nur  deutlich    geschriebene  Manuskripte  werden  berücksichtigt.    Es 

empfiehlt  sich  Herstellung  des  Manuskripts  durch  Kopisten  oder  durch 
Schreibmaschine. 

8.  Die  Arbeiten  können  in  deutscher,  englischer,  französischer  oder  ita- 
lienischer Sprache  abgefasst  sein. 

9.  Als  Preisrichter  fungieren:  Geheimer  Rat  Professor  Dr.  Max  Heinze 
in  Leipzig,  Hofrat  Professor  Dr.  Alois  Rielil  und  Professor  Dr.  Hans 
Vaihinger  in  Halle. 

10.  Die  Redaktion  der  „Kantstudien"  ist  berechtigt,  aber  nicht  verpflichtet, 
preisgekrönte  Arbeiten  in  ihrer  Zeitschrift  zu  dem  bei  derselben 
üblichen  Honorar  abzudrucken. 

Halle  a.  S.,  den  22.  Februar  1905. 

Der  Geschäftsführer  der  „Kantgesellschaft". 

Professor  Dr.  H.  Vaihinger. 


Uon)uobdraek«r«i  C.  A.  Eftemmerer  &  Co.  Ball*  «j9> 


»Erlag  Don  C£.  3?.  ScEmann  in  JCEUijig. 


Dn  Schillers  (garten. 


^ur   Erinnerung   an    den   9.  jVtai  1805. 


Dm  Bläfferffüstern  unter  hohen  Räumen 
Umhegt  von  schattenkühler  6insamkeit, 
T)ie  uns  verführt  zum  Sinnen,  J^uhen,  Träumen 
fern  dem  bedräng,  vom  JJIItagslärm  befreit, 
J)en  ^lick  nacl]  B^^ff^^^öhn  in  Ximmelsräumen 
J^agt  hier,  entrückt  dem  Wandeißuss  der  Jeit, 
2es  J)ichters  ßrustbild  an  geweihter  Stelle 
Und  drunten  rauscht  der  ßacl]  hin  Well'  auf  Welle. 


^ier  traf  er  oft  den  herrlichen  genossen, 
J)er  neu  erweckt  was  keimend  in  ihm  schlief; 
Wort  lockt  das  Wort,  die  Wechselreden  flössen 
Schönheitbegeistert  und  gedankentief; 
J)er  hohe  freundesbund  ward  abgeschlossen, 
J)er  so  viel  herrliches  zum  Seben  rief. 
Sieh  dort  den  Steintisc/j  am  bewachsnen  Q runde, 
J)er  3^uff^  ^öT  mancl]  glückbeseelter  Stunde! 

Kantstadien  X.  |^7 


Wenn  Jahrelang,  nach  jugendwildem  J)ichten, 
J)es  ])enkens  6rnst  den  Qeisf  gefesselt  hielt, 
Philosophie,  die  spähen  will  und  richten, 
Vernunftkritik,  die  nacl]  der  Weisheit  zielt, 
T)ie  streng  uns  lehrt  zu  prüfen,  zu  verzichten, 
Jndess  die  Xunst  in  Schöpferwonne  spielt,  — 
Jetzt  eint  sich  beides ;  der  beschichte  Qeister 
Umschweben  ihn;  er  wird  der  T)ichtung  freister. 


Schönheit  und  Weisheit  reichen  sic/j  die  J{ände, 
Shakespeare  und  Rousseau,  Sophokles  und  J{ant, 
Griechisches  ßfaass,  des  Griten  Qeistesspende, 
T)ie  ^erzensglut,  der  zügelnde  Verstand 
Verbünden  sich,  dass  formend  er  vollende, 
Was  pi^antasie  geheimnissvoll  erfand. 
Und  aus  der  inneren  Kräfte  Schöpferwalten 
Quillt  eine  Welt  ergreifender  (gestalten. 


J)er  Qrössenwahn  vom  Schicksalsßuc/j  vernic/jtet, 
J)ie  Jfeldenjungfrau,  die  im  Sorbeer  stirbt, 
J)ie  sc/juldge  J{önigin  verdammt,  gerichtet 
Vom  Weiberstolz,  der  fronen  sich  erwirbt, 
Verblendung,  Jrrtum  auf  ein  J{aus  geschichtet, 
J)as  mörderiscfj  durch  eignen  Stahl  verdirbt, 
Jyrannenwut  auf  kaiserlichen  Thronen 
Und  freiheiissieg  geknechteter  jYationen. 


So  ^ild  auf  ^ild  entrollt  sich.     JYun  betrachtet 
J)en  Seelenschwung,  der  ^u  den  Sternen  eilt, 
Begeisterung,  die  Schmutziges  verachtet, 
j)ie  im  Erhabnen,  göttlichen  verweilt, 
2)en  €delsinn,  der,  wenn  das  Seben  nachtet, 
J/Iit  mächtgem  Schlag  die  finsternis  zerteilt I  — 
l)em  JJdler  gleichend  überm  jYebelthale 
Schwebt  €r  im  lichten  l^eic/j  der  Jdeale.  — 


3u  f^ü/j  entrissen  diesem  Erdenwallen 
jYahmst  J)u  mit  J)ir  manct]  ungeborenes  Wort, 
T)as  künftigen  Geschlechtern  sollt'  erschallen; 
jYun  ists  verstummt,  verwelkt  am  l^ätsetortl 
2)ocl}  was  J)u  schufst  wird  ewig  wiederhatten 
Von  J/tund  zu  J/lund,  von  3^11  ^^  Jetten  fort. 
Bewundert  ihn!  —  den  Jhoren  lasst  das  Tadeln  — 
Verehret  ihn,  euci]  selbst  durcl]  ihn  zu  adeln! 

Jena.  Otto  Liebmann. 


17* 


Was  können  wir  heute  aus  Schiller  gewinnen? 

Einleitende  Erwäg-ung-en 
von   Rudolf  Eucken. 


Immer  stärker  sehen  wir  die  Ziirüstungeu  zur  Schillerfeier 
anschwellen,  aber,  wie  so  oft  in  unserer  Zeit,  entspricht  der  äus- 
seren Betriebsamkeit  keineswegs  der  innere  Gehalt  der  Bewegung. 
Ist  es  wirklich  ein  echtes  Bedürfnis,  das  uns  zu  dem  grossen 
Dichter  zurücktreibt,  oder  befassen  wir  uns  mit  ihm  nur,  weil  der 
Kalender  an  seinen  Todestag  erinnert,  und  wir  nun  als  wohler- 
zogene Kulturmenschen  uns  der  vermeintlichen  Verpflichtung  einer 
Huldigung  nicht  entziehen  möchten?  Einer  blossen  sozialen  An- 
standspflicht  müsste  die  Gedenkfeier  entwachsen,  wenn  sie  mehr 
sein  sollte  als  ein  hohles  Schaugepräuge ;  sie  könnte  das  aber  nur, 
wenn  das  Lebenswerk  des  Gefeierten  uns  in  unseren  eigenen 
Aufgaben,  Sorgen  und  Kämpfen  wesentlich  zu  fördern  vermöchte. 
Denn  das  ist  ja  klar,  eine  derartige  Feier  wird  nicht  sowohl  des 
Helden  als  unser  selbst  wegen  begangen.  Der  Held  ist  nach 
knapp  bemessener,  aber  herrlich  verwandter  Lebeusfrist  in  Ge- 
filde eingegangen,  wo  ihn  unser  Lob  nicht  mehr  berührt,  ihn  kann 
es  nicht  höher  heben,  als  er  schon  steht.  Empfinden  wir  kein 
Bedürfnis,  aus  ihm  zu  schöpfen  und  uns  durch  ihn  für  die  eigne 
Aufgabe  zu  stärken,  so  ist  die  Feier  ein  blosses  Beispiel  jener 
gedankenlosen  Festlust,  jener  eitlen  Dekorationssucht,  an  welcher 
die  Gegenwart  krankt. 

Unsere  Unsicherheit  gegenüber  der  aufgeworfenen  Frage 
kommt  besonders  deutlich  zur  Empfindung,  wenn  wir  die  heutige 
Lage  mit  der  Stimmung  der  Zeit  vergleichen,  in  welche  die  Ge- 
denkfeier des  Gebmtstages  Schillers  fiel.  Inmitten  aller  Ver- 
worrenheit und  Unsicherheit  der  politischen  und  nationalen  Ver- 
hältnisse fühlte  man  sich  damals  eines  geistigen  Aufsteigens  sicher, 
ein  trüber  Druck  war  im  Schwinden  begriffen,  der  unsichtbare 
Zusammenhang,    dessen    sich    das   deutsche  Volk  bis  in  seine  ver- 


254  R.  Eucken, 

sprengtesten  Teile  hinein  an  dem  grossen  Dichter  bewusst  wurde, 
schien  ihm  auch  in  der  sichtbaren  Welt  eine  bedeutende  Zukunft  zu 
verbürgen,  von  der  Erreichung  der  nationalen  Ziele  aber  wurde 
zugleich  der  reichste  Gewinn  im  Eeinnienschlichen  erwartet.  So 
fassten  sich  die  Ideale  in  Eins  zusammen,  und  als  eine  Verkörperung 
dessen  erschien  die  Gestalt  des  grossen  Dichters.  Kein  Wunder, 
dass  sich  an  ihm  die  Geister  sammelten  und  die  Gemüter  erhoben. 

Inzwischen  ist  vieles  von  dem  errungen,  was  damals  in  vager 
Hoffnung  vorschwebte,  bei  engerem  Zusammenschluss  ist  deutsches 
Wesen  in  der  sichtbaren  Welt  unvergleichlich  mächtiger  geworden. 
Aber  der  innere  Aufschwung,  den  die  frühere  Zeit  dem  äusseren 
untrennbar  verbunden  dachte,  ist  nicht  mit  eingetreten,  innerlich 
sind  wir  vielmehr  weiter  und  weiter  in  Verwicklungen  und  schliess- 
lich in  eine  völlige  Unsicherheit  geraten.  Es  ist  diese  Wendung 
viel  zu  oft  geschildert,  und  sie  steht  uns  allen  viel  zu  deutlich 
vor  Augen,  als  dass  sie  einer  näheren  Darlegung  bedürfte;  unbe- 
streitbar ist  eine  starke  Unklarheit  über  die  letzten  Ziele  unseres 
Lebens  und  zugleich  über  seinen  Sinn  und  Gehalt,  unbestreitbar 
eine  Erschütterung  des  Gleichgewichts  unseres  Wesens,  da  dem 
Wachstum  der  Arbeit  an  der  Umgebung  keine  Stärkung  des 
Inneren  entspricht,  unbestreitbar  auch  ein  Sinken  des  geistigen 
Schaffens  inmitten  alles  Gewinns  an  der  Peripherie  des  Lebens. 
Unsere  geistige  Energie  ist  den  Gegensätzen  nicht  gewachsen, 
welche  die  Bewegung  der  Kultur  hervorgebracht  hat;  so  werden 
wir  zwischen  ihnen  hin-  und  hergeworfen  und  drohen  ioi  Streit 
der  Parteien  alle  innere  Gemeinschaft  zu  verlieren.  Dessen  werden 
wir  jetzt  mehr  und  mehr  inne  und  verlangen  daher  immer  stärker 
nach  einer  Gegenwirkung ;  sollte  uns  nicht  eine  engere  Berührung, 
die  Herstellung  eines  unmittelbaren  Kontaktes  mit  dem  grossen 
Dichter  einiges  für  die  Probleme  gewinnen  lassen,  die  immer  deut- 
licher als  die  Hauptprobleme  hervortreten? 

Unser  Leben  hat  sich  unermesslich  in  die  Weite  ausgebreitet, 
immer  stärker  wird  das  Bedürfnis  nach  einer  Konzentration  gegen- 
über der  Zerstreuung  au  eine  unübersehbare  Mannigfaltigkeit. 
Schiller  hält  uns  durch  sein  ganzes  Leben  und  Sein  eine  kräftige 
Konzentration,  eine  alle  Fülle  des  Stoffes  beherrschende  und 
durchwirkende  Lebensenergie  entgegen.  Er  ist  in  dem  Kreise 
unserer  Dichter  vor  allem  der  Mann  des  Handelns  und  der 
That,  der  Mann,  der  sich  der  zuströmenden  Welt  nicht  unter- 
wirft,   sondern  ihr  gegenüber  eine  unablässige  Gegenwirkung  übt. 


"Was  können  wir  heute  aus  Schiller  gewinnen?  255 

Solche  Art  beseelt  und  erhöht  nicht  nur  sein  dramatisches 
Schaffen,  dräuet  hier  7a\  raschem  Fortgang  und  verbindet  alle 
Mannig-faltigkeit  zu  fester  Gliederung,  sie  giebt  auch  seiner  wissen- 
schaftlichen Forschung  einen  eigentümlichen  Charakter,  indem 
einige  wenige  Hauptprobleme  die  Arbeit  bis  in  alle  Verzweigung 
beherrschen  und  ihre  belebende  Kraft  an  jeder  Stelle  erweisen, 
indem  auch  die  Darstellung  durch  scharfe  Herausarbeitung  der 
Unterschiede  und  Gegensätze,  durch  klare  Gliederung  und  sicheren 
Aufbau  mit  besonderer  Eindringlichkeit  wirkt  und  zu  eigener  Ent- 
scheidung aufruft.  Schliesslich  ist  es  das  ganze  Lebenswerk,  das 
mit  hinreissender  Aufforderung  von  Seele  zu  Seele  spricht,  das 
zwingend  zu  einer  eigenen  Entscheidung  drängt. 

So   hält    uns  Schillers  Lebenswerk   schon  in  der  Form  etwas 
entgegen,    dessen    wir    für    uns   selber    dringend   bedürfen.     Nicht 
anders  aber  steht  es  beim  Inhalt.     Die  Hauptrichtung  des  Lebens 
hat   sich    uns   im   Lauf    des    19.  Jahrhunderts    dahin    verschoben, 
dass  uns  mehr   und  mehr  die  Menschheit  zum  Ausgangs-  wie  zum 
Endpunkt    unseres    Strebens    geworden  ist;    des  Menschen  Wesen 
und  Zusammenhänge  suchten  wir  genauer  zu  erforschen,  in  seinem 
Kreise    fanden    wir    die    höchsten   Aufgaben    unserer   Arbeit,    nur 
durch    den  Menschen    hindurch    schien    sich    uns    ein  Blick  in  das 
All  zu  eröffnen.     Aber  auf  dem  neuen  Boden  entstand  eine  eigen- 
tümliche   Verwicklung,   ja    ein    schroffer   Widerspruch.     Für    den 
Mut    des  Lebens   bedürfen    wir    eines    freudigen  Glaubens    an   die 
Grösse    und  Würde    der  Menschheit,    die  Erfahrung   aber    scheint 
uns  ihr  Bild  mehr   und  mehr  zu  verkleinern.     Nicht  nur  verkettet 
uns  die  Forschung  enger  und  enger  der  blossen  Natur  und  nimmt 
uns   mehr    und   mehr   alle  Auszeichnung,    auch    die   Entwickelung 
des  gesellschaftlichen  Lebens   zeigt  so  viel  Kleines  und  Gemeines 
am  Menschen,  sie  hat  den  Kampf  ums  Dasein,    die  Gier  nach  Be- 
sitz  und  Genuss,    den  Streit  der  Parteien  so  gesteigert,    dass  die 
Bilder   von  Grösse    und  Würde    mehr  und  mehr  zu  verblassen  be- 
ginnen.    Halten   wir  aber  die  Schätzung  der  Menschheit  aufrecht, 
ohne    sie    innerlich  begründen,    ohne    sie  gegenüber  jenen  Erfahr- 
ungen   rechtfertigen    zu    können,    so    droht  eine  Halbwahrheit,   ja 
UnWahrhaftigkeit  des  Empfindens ;  wir  müssen  über  solchen  Zwie- 
spalt  hinaus,    wenn    die  Idee    der  Menschheit   und  des  Menschen- 
wesens   eine    belebende    und    erhöhende  Macht    auf  uns  üben  soll. 
Nun   hat    unter  unseren  grossen  Dichtern  niemand  die  Menschheit 
mehr   in  Ehren   gehalten,    niemand   sie    mehr   in  den  Mittelpunkt 


256  R.  Eucken, 

alles  Strebens  gestellt  als  Schiller.  Aus  dieser  Idee  strömt  ihm 
Lebeu  in  alle  Einzelarbeit,  aus  ihr  erwärmen  sich  ihm  alle  Be- 
griffe. Aber  wenn  Schiller  die  Menschheit  so  hoch  stellt,  so  sorgt 
er  zugleich  für  eine  Begründung  solcher  Schätzung,  er  verherr- 
licht nicht  den  Menschen  in  seiner  unmittelbaren  Erscheinung,  den 
Menschen  wie  er  leibt  und  lebt,  sondern  er  giebt  ihm  zur  geistigen 
Grundlage  seines  Seins  eine  Welt  der  EYeiheit  und  der  Vernunft, 
er  erhöht  seinen  Begriff  von  innen  her  und  macht  ihm  sein  eigenes 
Wesen  zur  Aufgabe  aller  Aufgaben.  Bei  solcher  Denkweise  kann 
Schiller  die  vorhandenen  Schäden  vollauf  anerkennen  und 
sich  aller  Liebedienerei  gegen  den  empirischen  Menschen  ent- 
halten, und  zugleich  einen  festen  Glauben  au  das  Menschenwesen 
wahren  und  daraus  kräftige  Antriebe  zu  freudigem  Wirken 
schöpfen.  Nie  ist  es  hier  der  blosse  Mensch,  sondern  es  ist  die 
neue  Welt,  die  in  ihm  durchbricht,  woraus  sich  die  Schätzung 
rechtfertigt;  so  liegt  in  der  Idee  der  Menschheit  hier  eine  auf- 
rüttelnde und  vorwärtstreibende  Kraft. 

Die  Würde  des  Menschen  ergab  sich  für  Schiller  erstvvesent- 
lich  aus  seiner  moralischen  Natur;  die  Moral  aber  ist  es,  in  der 
er  wiederum  dem  Streben  der  Gegenwart  entgegenkommt.  Ein 
Verlangen  .nach  Erstarkung  der  Moral  geht  heute  durch  die  Welt ; 
in  tausendfachen  Erfahrungen  empfinden  wir  viel  zu  schmerzlich 
den  Mangel  moralischer  Kräfte,  als  dass  wir  uns  nicht  nach  einer 
Wiederbelebung  sehnen  sollten.  Aber  in  der  Entwickelung  dieses 
Strebens  geraten  wir  unter  die  Macht  eines  Gegensatzes,  der  von 
der  empirischen  Lage  aus  unüberwindlich  scheint.  Das  blosse 
Individuum  wird  zu  sehr  von  seiner  engen  Natur  festgehalten,  um 
zu  selbstverleugnendem  Handeln  kommen  zu  können,  das  gesell- 
schaftliche Lebeu  aber  greift  nicht  tief  genug  ins  Innere,  um  von 
sich  aus  mehr  als  die  äussere  Haltung  der  Moral  hervorbringen 
zu  können;  auch  droht  die  hier  gestellte  Forderung  der  Unter- 
ordnung des  Individuums  unter  ein  sichtbares  Ganzes  den  Menschen 
arg  einzuschränken  und  seine  Lebensenergie  herabzudrücken.  So 
muss  das  moralische  Problem  über  den  Gegensatz  von  Individuum 
und  Gesellschaft  hinausgehoben  werden,  die  Moral  muss  unser 
Eigenstes  sein  und  zugleich  eine  Aufnahme  des  Ganzen  in  unseren 
Willen  in  sich  schliessen,  Ohne  eine  Erhebung  über  das  Gebiet 
der  Erfahrung,  ohne  eine  Umwandlung,  ja  Umkehrung  der  ersten 
Lage  ist  das  schwerlich  erreichbar.  Schiller  vollzieht  eine  solche 
Erhebung   und  Umkehrung    und    zugleich  eine  Überwindung  jenes 


Was  können  wir  heute  aus  Schiller  gewinnen?  257 

Gegensatzes ;  er  verdankt  sie,  der  wissenschaftlichen  Beg-rüudung- 
nach,  der  Kantischen  Philosophie,  aber  er  hat  das  Empfangene 
aus  der  Glut  seiner  künstlerischen  Seele  weitergebildet,  er  hat 
dem  Gerüst  des  ethischen  Systems  mehr  Frische,  Freude,  Jugend- 
lichkeit eiugeflösst.  So  wirkt  von  ihm  her  mit  besonderer  Kraft 
eine  Moral  der  inneren  Befreiung  und  Erhöhung  des  ganzen 
Menschen,  ein  gewaltiger  Antrieb  zur  Aufraffung  und  Vollendung 
des  Selbst,  aber  eines  Selbst,  in  dem  unmittelbar  eine  neue  Welt 
gewonnen,  der  Mensch  sicher  über  allen  Druck  der  äusseren  Ver- 
hältnisse wie  über  die  Kleinheit  des  gesellschaftlichen  Getriebes 
hinausgehoben  wird.  In  dieser  Richtung  aber  wirkt  zu  uns  nicht 
die  blosse  Lehre,  es  wirkt  mehr  noch  das  Lebenswerk  und  die 
gesamte  Gestalt  des  Mannes,  der  aus  hartem  Ringen  mit  dem  Ge- 
schick nie  herauskam,  der  in  unermüdlicher  Arbeit  seine  hohen 
Ziele  sicher  verfolgte,  in  aller  Bemühung  vor  allem  sich  selbst  zu 
vollenden  strebte,  der  in  dem  allen  die  Freiheit  und  Überlegen- 
heit geistigen  Lebens  anschaulich  vor  Augen  stellt. 

Die  moralischen  Bestrebungen  der  Gegenwart  begegnen  und 
durchkreuzen  sich  mannigfach  mit  den  künstlerischen.  Was  immer 
bei  diesen  verworren  und  problematisch  sein  mag,  die  Echtheit 
des  Verlangens  nach  Schönheit  und  Kunst  in  unserer  Zeit  ist  nicht 
zu  bestreiten.  Wir  bedürfen  der  Kunst  zur  Beseelung  unseres 
Daseins  gegenüber  wachsender  Mechanisierung,  zur  Behauptung 
eines  lebendigen  Fürsichseins  gegenüber  der  unablässig  wachsen- 
den Inanspruchnahme  durch  die  Aussenwelt,  zur  Individualisierung 
unseres  Daseins  gegenüber  drohender  Gleichförmigkeit,  zur  Freude, 
Frische,  Leichtigkeit  gegenüber  der  Schwere  und  Arbeitslast  des 
modernen  Kulturlebens;  es  ist  ein  Stück  geistiger  Selbsterhaltung, 
wenn  wir  der  Kunst  wieder  einen  hervorragenderen  Platz  in  un- 
serem Leben  einräumen  und  zugleich  sie  bei  sich  selbst  anders  — 
seelischer,  lyrischer,  stimmungsvoller  —  zu  gestalten  suchen.  Aber 
wenn  eine  stärkere  Belebung  des  Subjekts  notwendig  war,  die 
Gefahr  eines  Beharrens  beim  leeren  Subjekt,  eines  blossen  Aus- 
malens und  Verfeinerns  subjektiver  Zustände,  eines  Verfallens  in 
einen  einseitigen  künstlerischen  Subjektivismus  ist  augenscheinlich; 
mit  allem  Gewinn  an  Darstellungsvermögen  und  Stimmung  droht 
die  Kunst  den  Zusammenhang  mit  den  letzten  Lebensfragen  auf- 
zugeben und  einen  geistigen  Gehalt  einzubüssen,  auch  einer 
weichen  Romantik  der  Farben  und  Töne  alle  männliche  Kraft  auf- 
zuopfern.    Innere  Erhöhungen  thun  hier  dringend  not,  wir  sehneu 


258  R.  Eucken, 

lins  nach  einer  Kunst,  die  uns  nicht  in  den  Niederung'en  des 
Lebens  festhält  oder  in  einen  verfeinerten  Epikureismus  eins])innt, 
sondern  die  unser  Herz  öffnet  für-  die  grossen  Probleme  unseres 
Lebens  und  uns  im  Kampf  um  ein  geistiges  Dasein  hülfreich  zur 
Seite  steht.  Wer  aber  kann  bei  dem  Streben  nach  einer  hohen 
und  wesenhaften  Kunst  ein  besserer  Bundesgenosse  sein  als 
Schiller?  Ihm  wurde  die  Kunst  und  die  ästhetische  Bildung  ein 
unentbehrlicher  Bestandteil  aller  echten  Geisteskultur  und  stellte 
sie  jeden  Augenblick  eigentümliche  Forderungen  an  den  Menschen, 
aber  zugleich  blieb  sie  frei  von  jener  Ausschliesslichkeit  einer 
bloss  ästhetischen  Weltanschauung,  die  das  Leben  weichlich  und 
selbstisch  macht  und  die  sich  mit  der  Moral  unversöhnlich  entzweit. 

Vom  Ganzen  der  Menschheit  dürfen  wir  auch  heute  sagen, 
dass  es  Kunst  und  Moral,  ästhetische  und  ethische  Kultur  mitein- 
ander festhalten  will;  aber  es  fällt  uns  unter  mannigfachen  Ver- 
wickelungen und  Verwirrungen  unsäglich  schwer,  beides  friedlich 
und  freundhch  zusammenzubringen.  Schiller  hält  uns  hier  eine 
charaktervolle  Lösung  vor,  bei  der  Moral  und  Kunst  eng 
zusammengehören,  ja  einander  gegenseitig  fordern.  Mögen  wir 
diese  Lösung  nicht  einfach  annehmen  können,  in  ihr  liegt  eine 
Richtung  bezeichnet,  die  sich  nicht  leicht  aufgeben  lässt,  in  ihr 
ist  eine  Höhe  der  Behandlung  erreicht,  zu  der  es  immer  von 
neuem  aufzustreben  gilt.  —  So  aber  steht  es  überhaupt  bei 
Schiller.  Überall  ein  Emporheben  der  Arbeit  über  das  klein- 
menschliche Thiin  und  Treiben  und  die  landläufigen  Gegensätze, 
eine  Befestigung  in  sicherer  Höhe,  eine  energische  Kraft  der  Be- 
wegung, eine  Konzentration  aller  Kräfte  auf  die  entscheidenden 
Fragen.  Wie  wichtig  ist  das  für  uns  Kinder  der  Gegenwart,  die 
wir  vom  hastigen  Getriebe  des  Alltages,  vom  geringen  Durchschnitt 
des  gesellschaftlichen  Lebens,  von  der  Last  der  Arbeit  au  der 
Weltumgcbung  so  bedrückt  und  oft  niedergedrückt  werden! 

Nicht  minder  aber  als  die  Lebensarbeit  kann  die  Lebens- 
stimmung stärkende  und  befreiende  Antriebe  von  Schiller  ge- 
winnen. Auch  hier  umfängt  uns  eine  verworrene  Lage.  Das 
Missverhältnis  zwischen  leidenschaftlicher  Anspannung  der  Kraft 
und  geringer  Befriedigung  der  Seele  giebt  dem  Pessimismus  eine 
gewaltige  Macht  über  uns;  wie  sehr  hat  sich  gegenüber  der  Zeit 
unserer  grosseu  Dichter  die  Lebensstimmung  verdüstert!  Wii- 
sträuben  uns  gegen  diesen  Pessimismus  mit  seiner  entmutigenden 
Wirkung,    wir    möchten   unserem  Leben,    das  voller  schwerer  Auf- 


Was  können  wir  heute  aus  Schiller  gewinnen?  259 

gaben,  Mut  und  Freude  bewahren.  Aber  bei  dem  Streben  danach 
soll  oft  subjektives  Pathos  die  innere  Wahrheit  ersetzen,  wir 
suchen  uns  ein  positives  Lebensg-efühl,  eine  freudige  Stimmung 
einzureden,  die  ira  Grunde  nicht  echt  ist,  ein  blosser  Machtspruch 
soll  den  ungeheuren  Druck  aufheben,  mit  dem  uns  das  moderne 
Leben  belastet.  So  verbleiben  wir  in  haltlosem  Schwanken 
zwischen  der  Empfindung  schwerster  Verwickelungen  in  unserem 
Dasein  und  der  Sehnsucht  nach  freudiger  Bejahung  des  Lebens, 
wir  bedürfen  einer  Denkweise  und  Überzeugung,  die  jene  Ver- 
wickelungen voll  anzuerkennen  gestattet  und  doch  den  ersehnten 
Mut  zum  Leben  rechtfertigt.  Eine  solche  Überzeugung  aber 
wirkt  uns  aus  Schiller  mächtig  entgegen.  Denn  nichts  ist  ver- 
kehrter und  ungerechter  als  ihm  eine  Abschwächung  der  grellen 
Kontraste,  einen  bequemen  Kompromiss  mit  den  Welt-  und  Lebens- 
verhältnissen, eine  unwalu*e  Idealisierung  der  vorgefundenen  Wirk- 
lichkeit beizulegen.  Er  hat  die  Widersprüche  des  Lebens  in  ihrer 
vollen  Herbigkeit  empfunden  und  solcher  Empfindung  oft  einen 
packenden  Ausdruck  gegeben.  Aber  er  hat  sich  zugleich  die  volle 
Frische  und  Freudigkeit  des  Lebens,  sowie  den  Glauben  an  die 
Überlegenheit  der  Vernunft  bewahrt,  bewahrt  durch  eine  innere 
Befreiung  von  der  Sphäre  der  Widersprüche,  durch  die  Erhebung 
in  eine  neue  Welt  geistiger  Freiheit  und  Selbstthätigkeit.  —  Nach 
eingreifenden  Wandlungen  des  Lebens  lässt  sich  schwerlich  die 
Denkweise  Schillers  einfach  zur  uusrigen  machen.  Aber  die  Ver- 
schmelzung von  Ernst  und  Freudigkeit,  von  tiefer  Empfindung 
und  vordringendem  Schaffen,  jenes  sichere  Überwinden  des  trüben 
Dunkels,  wie  sie  aus  Schillers  Leben  und  Persönlichkeit  an  uns 
kommen,  sie  sind  einer  fortdauernden  Wirkung  fähig,  sie  dürfen 
auch  uns  nicht  verloren  sein. 

Nun  und  nimmer  kann  solche  Wirkung  eine  einfache  Aneig- 
nung, ein  Einstellen  eigenen  Urteils,  eine  sklavische  Unterwerfung 
bedeuten.  So  ist  überhaupt  nicht  unser  Verhältnis  zu  den  Grossen 
und  Grössteu,  dass  sie  uns  eigene  Arbeit  abnehmen  könnten.  Zu 
diesem  Wahn,  zu  diesem  asylura  inertiae  hat  ein  gutes  Stüek  wohl 
auch  der  unglückliche  Begriff  des  Klassischen  beigetragen,  als 
eines  Mustergültigen  und  für  alle  Zeiten  Normierenden.  Kant  hat 
mit  Recht  gesagt,  dass  es  in  der  Philosophie  keine  Klassiker 
gebe;  weitergehend  möchten  wir  sagen,  dass  es  überhaupt  keine 
Klassiker  giebt.  Denn  wohl  heben  sich  aus  der  Schaar  der  Mitt- 
leren und  Geringen  einzelne  Grosse  heraus,  leider  recht  wenig  au 


260  R.  Eucken, 

Zahl ;  aber  auch  diese  Grossen  sind,  am  höchsten  Ziele  der  Wahr- 
heit g-eniesseu,  ledig-lich  Strebende  und  immerfort  Lernende,  nicht 
schon  Besitzende  und  aus  satter  Fülle  Lehrende.  Was  sie  uns 
mitteilen  können,  sind  nicht  fertig-e  Ergebnisse,  um  so  mehr,  da 
der  Wandel  der  Zeit  immer  neue  Lagen  erzeugt  und  vor  neue 
Aufgaben  stellt.  Aber  wenn  das  Grosse  nun  und  nimmer  als  ein 
Klassisches  uns  die  eigene  Arbeit  abnehmen  kann,  es  kann  dahin 
wirken,  diese  Arbeit  zu  steigern  und  auf  die  rechte  Höhe  zu 
heben.  Das  Wirksame  sind  hier  nicht  die  einzelnen  Gedanken 
und  Behauptungen,  sondern  der  Lebensprozess,  aus  dem  sie  her- 
vorquellen; zu  ihm  aber  lässt  eine  innere  Vergegenwärtigung  des 
Grossen,  ein  Einleben  in  seine  Art  vordringen;  von  dort  wird 
unserem  Streben  ein  Niveau  vorgehalten,  zu  dem  es  emporklimmen 
muss,  von  dort  kann  eine  Kraft  zur  Belebung  und  Erweckung 
verwandter  Art  ausgehen.  So  steht  es  auch  mit  unserem  Ver- 
hältnis zu  Schiller;  nur  wenn  ein  kritikloser  Anschluss  fernliegt, 
können  die  gewaltigen  geistigen  Kräfte,  die  aus  ihm  strömen, 
auch  uns  fördern.  Die  Konzentration  seines  Strebens  gegenüber 
der  heutigen  Zerfahrenheit,  die  Erhebung  über  Gegensätze,  die 
uns  heute  zerspalten  und  entzweien,  die  männliche  Kraft  des 
Schaffens  gegenüber  der  jetzt  vorwaltenden  Mattheit,  das  freudige 
Vertrauen  inmitten  alles  Dunkels  gegenüber  einem  grämlichen 
Pessimismus  sowohl  als  einem  verflachenden  Optimismus,  die  Ge- 
sundheit des  Ganzen  bei  geistiger  Höhe  gegenüber  so  vielen  Krank- 
heitserscheinungen der  eigenen  Zeit,  in  denen  manche  wohl  gar 
ihre  Höhe  finden,  sie  können  und  müssen  uns  Leitsterne  bleiben, 
wenn  anders  wir  nicht  der  Dekadenz,  mit  der  wir  zu  spielen 
lieben,  in  Wahrheit  verfallen  wollen. 

Steht  es  aber  so,  so  muss  an  Schiller  eine  Scheidung  der 
Geister  erfolgen,  eine  Scheidung  des  Wesenhaften  -von  dem  bloss 
Scheinenden,  des  Gesunden  von  dem  Kranken,  des  Jugendfrischen 
von  dem  Greisenhaften,  einer  echten  Geisteskultur  von  der  Kultur- 
komödie des  Alltags.  Die  frühere  Schillerfeier  hat  zur  Sammlung 
der  Geister  gewirkt,  die  bevorstehende  —  schon  durch  den  Ge- 
danken an  den  frühzeitigen  Tod  des  Helden  ni?hr  zum  Ernst  ge- 
stimmt —  würde  uns  am  meisten  fördern,  wenn  sie  zu  kräftiger 
Scheidung  der  Geister  wirkte.  Denn  nichts  thut  dem  geistigen 
Chaos  der  Gegenwart  mehr  not  als  dies,  und  nichts  würde  mehr 
im  Sinne  des  Helden  sein,  dessen  Lebenswerk  wir  dankbar  und 
ehrerbietig  feiern. 


Schiller  als  theoretischer  Philosoph. 

Von  Friedrich  Alfred  Schmid. 


1. 

Schiller  als  theoretischer  Philosoph :  Das  ist  eine  Abstraktion. 
Es  ist  gut,  dies  zu  betonen;  gerade  gegenüber  dem  Bestreben, 
die  Bedeutung  Schillers  für  die  Philosophie  ins  Licht  zu  setzen 
und  ihm  selber  neben  den  historischen  Trägern  der  spekulativen 
Problementwickelung  den  vollen  und  gerechten  Platz  einzuräumen. 
Die  Gefahr  der  einseitigen  Überschätzung  liegt  dann  erfahrungs- 
gemäss  nahe;  einer  Überschätzung,  die  gegenüber  einem  geistigen 
Phänomen  von  der  Grösse  Schillers  einer  Unterschätzung  höherer 
Werte  gleich  käme. 

Mit  Schiller  verhält  es  sich  dabei  nicht  wesentlich  anders, 
als  mit  Goethe,  dem  grosszügigen  Widerspiel  seiner  Natur.  Man 
ist  leicht  geneigt,  Goethes  spekulativen  Drang  hinter  der  Fülle 
seiner  anders  gearteten  Gaben  und  Neigungen  zurückstehen  zu 
lassen,  weil  sein  suchender  Geist  die  Wahrheit  am  liebsten  im 
Symbol  ergriff,  das  Forschen  ihm  stets  zum  Schauen,  der  Begriff 
zum  Bilde  ward.  Und  doch  war  in  Goethe  mehr  theoretischer 
Trieb  und  mehr  philosophischer  Charakter,  als  in  manchem  Manne 
vom  Fach,  vor  und  nach  ihm.  Da  aber  jeuer  Trieb  nach  aussen 
ging  und  im  lebendigen  Wirken  der  Natur  sich  seine  möglichst 
konkreten  Formeln  suchte,  so  schien  er  in  Goethes  Natur  ein 
überwiegend  praktisches  IVIoment  zu  offenbaren,  das  in  Wahrheit 
ihrem  tiefsten  Wesen  durchaus  fremd  war. 

Diese  einseitige  Überschätzung  einer  geistigen  Wirkungsart 
im  Vergleich  zu  der  eigentlichen  Grundtendenz  des  ganzen,  intelli- 
giblen  Wesens  läuft  Gefahr,  aus  Goethe  den  praktischen,  welt- 
frohen und  zuletzt  ziemlich  unbekümmerten  Draufgänger,  aus 
Schiller  aber,  in  rechtem  Gegensatz  dazu,  den  passiven  Grübler 
und   theoretischen  Ästhetiker   zu  machen,   und  so  das  wahre  Ver- 


262  F.  A.  Schmid, 

hältnis,  in  dem  die  beiden  Geistesgenossen  zu  einander  erscheinen, 
geradezu  umzukehren. 

Denn  Schillers  philosophisches  Interesse  war  in  erheblich 
höherem  Grade  praktischer  und  ästhetischer,  als  theoretischer  Art. 
Aber  sein  spekulativer  Trieb  war  nach  innen  gekehrt  und  öffnete 
ihm,  als  das  walilverwandte  Gebiet  seines  Erkenntnisdranges,  die 
Welt  der  geistigen  Kräfte  des  Menschen,  den  Schauplatz  ihrer 
fruchtbaren  Gegensätze  und  ihrer  harmonischen  Ausgleichungen. 
Auf  diese  Weise  moclite  es  den  Anschein  nehmen,  als  bedeute  der 
nach  innen  gerichtete  Blick  soviel,  wie  theoretische  Abkehr;  als 
stehe  demnach  der  dichtende  Philosoph  dem  Leben  ungleich  fremder 
gegenüber,  als  der  weise  Dichter  neben  ihm.  Und  doch  war  in 
Schiller  mehr  praktische  Energie  und  mehr  persönliche  Impulsivi- 
tät, als  selbst  Goethe  im  letzten  Grunde  je  besessen  hat. 

W^ährend  Goethes  stark  kontemplativer  Instinkt  in  der 
aristotelischen  Theoria,  im  spiuozistischen  Schauen  den  sicheren 
Ruhepunkt  seines  Wesens  fand,  strebte  Schillers  aktives  Persöu- 
lichkeitsbewusstsein  überall  über  die  Schranken  der  Theorie  hinaus 
und  suchte  in  der  Kunst,  wie  im  Leben,  ungestüm  nach  den 
äussersten  Zielen  der  Daseinsauf  gäbe  zu  greifen. 

Von  dieser  Seite  her  gesehen,  könnte  es  daher  fast  berech- 
tigter und  lohnender  scheinen,  von  Goethes,  als  von  Schillers 
theoretischer  Philosophie  zu  reden,  während  Goethes  moralische 
und  ästhetische  Überzeugungen  schwerlich  die  systematische  For- 
mulierung wohl  vertrügen.  Schiller  selber  hatte  davon  ein  deut- 
liches Bewusstsein,  und  es  spiegelt  sowohl  dies  eigentümliche  Ver- 
hältnis der  Interessen,  wie  die  glückliche  Art  der  ergänzenden 
Übereinstimmung  wider,  was  Schiller  unter  dieser  Epigrammüber- 
schrift gesagt  hat : 

„Wahrheit  suchen  wir  Beide,  du  aussen  im  Leben,  ich  innen 
In  dem  Herzen,  und  so  findet  sie  jeder  gewiss. 
Ist  das  Auge  gesund,  so  begegnet  es  aussen  dem  Schöpfer, 
Ist  es  das  Herz,  dann  gewiss  spiegelt  es  innen  die  Welt." 

Schiller  bedurfte  der  theoretisch  zuschauenden  Erkenntnis  nur  so- 
weit, als  sie  ihm  zur  Begründung  und  Stütze  seiner  sittlich-ästhe- 
tischen Fragen  und  Forderungen  notwendig  war.  Darum  ist  er 
auch,  trotz  des  reichlichen  Kautstudiums,  das  einige  wertvolle 
Jahre  seines  Lebens  füllte,  doch  dem  eigentlich  kritischen  Teil 
der  Kantischen  Lehre  innerlich  fremd  geblieben.  Die  Erkenntnis- 
theorie kam  in  seinem  philosophischen  Bewusstsein  zeitlebens  nicht 


Schiller  als  theoretischer  Philosoph.  263 

Über  die  Skizze  hinaus,  während  ihre  spekulative  Krönung-,  die 
Metaphysik,  von  seinem  Geiste  zwar  lebhafter  ergriffen,  aber 
methodisch  gleichfalls  nicht  zu  Ende  g-edacht  und  schliesslich  in 
einer  Weise  mit  den  Kantischeu  Grundlagen  verschmolzen  wurde, 
wie  es  zuletzt  dem  streng-  genommenen  Geiste  der  kritischen 
Philosophie  stracks  zuwider  lief. 

Die  Persönlichkeit  war  stärker,  als  der  gute  Wille  des  kri- 
tischen Adepten.  Die  Art  Schillers  im  philosophischen  Aufnehmen 
und  Selbstschaffen  hat  keiner  besser  gekennzeichnet,  als  Wilhelm 
von  Humboldt  in  seiner  „Vorerinnerung" :  i) 

„Dem  Inhalte  und  der  Form  nach  waren  Schillers  philoso- 
phische Ideen  ein  g-etreuer  Abdruck  seiner  ganzen,  geistigen 
Wirksamkeit  überhaupt.  Beide  bewegten  sich  immer  im  nämlichen 
Gleise  und  strebten  dem  g-leichen  Ziele  zu,  allein  auf  eine  Weise, 
dass  die  lebendig-ere  Aneignung  immer  reicheren  Stoffs,  und  die 
Kraft  des  ihn  beherrschenden  Gedankens  sich  unaufhörlich  zu 
wechselseitiger  Steigerung-  bestimmten.  Der  Endpunkt,  an  den  er 
alles  knüpfte,  war  die  Totalität  in  der  menschlichen  Natur  durch 
das  Zusanmienstimmeu  ihrer  geschiedenen  Kräfte  in  ihrer  absoluten 
Freiheit.  Beide  dem  Ich,  das  nur  eins  und  ein  unteilbares  sein 
kann,  angehörend,  aber  die  eine  Mannigfaltigkeit  und  Stoff,  die 
andere  Einheit  und  Form  suchend,  sollten  sie  durch  ihre  freiwillige 
Harmonie  schon  hier  auf  einen  über  alle  Endlichkeit  hinaus  lie- 
genden Ursprung  hindeuten." 

Daraus  ist  von  vornherein  zu  entnehmen,  was  eine  Unter- 
suchung über  Schillers  theoretische  Philosophie  und  Methaphysik 
an  Resultaten  erwarten  lässt;  nämlich  einen  Beitrag  zur  näheren 
Kenntnis  der  einzelnen  Ideenniotive,  die  Schillers  gesamte  Lebens- 
arbeit beherrschten,  und  darum  ein  gesteigertes  Verständnis  für 
die  Absichten  und  Wirkungen  des  grossen  Dichters  und  des  einzig- 
artigen Menschen;  mehr  nicht.  Aber  das  ist  der  Anstrengung 
wert  und  genug,  wenn  auch  kein  System  der  theoretischen  Philo- 
sophie dabei  zum  Vorschein  kommt,  das  allein  genügte,  um 
Schillers  Namen  in  der  Geschichte  dieser  Disziplin  unsterblich  zu 
machen. 

Die  Stärke,  mit  der  Humboldts  Charakteristik  die  bestim- 
mende Persönlichkeit  des  Dichterphilosophen  in  den  Vordergrund 
stellt,  ist  der  Bedeutung  angemessen,  die  ihr  in  der  Entwickelung 


1)  Zu  der  Herausgabe  seines  Briefwechsels  mit  Schiller. 


264  F.  A.  Schmid, 

vou  Schillers  philosophischem  Denken  zukommt.  Denn  diese 
scharf  persönlich  geprägten  Denkvoraussetzungen  verleugnen  sich 
am  wenigsten  dort,  wo  ein  Umschwung  in  der  philosophischen 
Meinung  Schillers  eingetreten  ist. 

Ein  solcher  Umschwung  aus  Prinzipien  heraus  hat  in  Schillers 
spekulativem  Entwickelungsgange  bekanntlich  nur  das  eine  Mal 
stattgefunden,  als  er  auf  Kant  traf.  Aber  gerade  hier  gestattet 
die  Einheit  der  geschlossenen  Persönlichkeit,  deren  innerste  Stütze, 
unabhängig  von  der  Spekulation,  auf  die  Dichternatur  ihres  Trägers 
gegründet  war,  stets  einen  mehr  oder  minder  bündigen  Nachweis 
leiser  Übergänge,  früher  Antizipationen  von  später  erst  geklärten 
Einsichten,  oder  späte  Erinnerungen  an  jugendliche  Ideale.  Und 
ein  solches  Gewebe  übergreifender  Fäden  lässt  darum  in  seiner 
Gesamtheit  den  Eindruck  niemals  aufkommen,  als  stehe  der 
Schiller  von  1785  dem  von  1795  durch  eine  Kluft  getrennt  gegen- 
über. Die  Illustration  im  Einzelnen  zu  diesem  Sachverhalt  wird 
die  folgende  Darstellung  wohl  mehrfach  bringen. 


2. 

Erkenntnistheorie  und  Metaphysik  stehen  untereinander  nicht 
nur  in  einem  systematischen,  sondern  auch  in  einem  psycholo- 
gischen Zusammenhange. 

Unter  systematischen  Gesichtspunkten  ist  die  Metaphysik  in 
den  meisten  Fällen  und  grossenteils  das  System  vollendende  Schluss- 
kapitel der  theoretischen  Philosophie,  mit  der  rückwirkenden  Kraft 
einer  zwar  a  posteriori  gefundenen,  aber  a  priori  giltigen  Be- 
gründung des  ganzen  Erkenntnisverlaufs:  Jeder  Metaphysik  werden 
die  Resultate  der  Erkenntnistheorie  zum  Problem. 

Psychologisch  betrachtet,  ist  der  Erkenntnistrieb  selber  die 
Äusserung  eines  metaphysischen  Bedürfnisses;  und  da  er  sich 
im  ungeschulten  Bewusstsein  nur  naiv  zu  geben  pflegt,  so  ist  seine 
Tendenz  dort  schon  in  den  ersten  Erkenutnisanfängen  metaphysisch 
bestimmt:  für  den  naiven  Geist  fallen  Erkenntnistheorie  und  Meta- 
physik zusammen. 

Auf  diesem  Punkte  finden  wir  den  jungen  Schiller  auf  der 
Karlsschule.  In  dem  „Versuch  über  den  Zusammenhang  der 
tierischen  Natur    des  Menschen  mit    seiner  geistigen"  i)  mag  einer 

1)  1780. 


Scliiller  als  theoretischer  Philosoph,  265 

seiner  ersten  Versuche  zu  einer  Erkenntnisbegründung  auf  diesem 
Wege  o-esehen  werden.  Das  einzig-e  Kriterium  ist  hier  dem 
Zwanzigjähilg-en  die  innere  Gewissheit  von  der  Einheit  seiner 
eig-enen  und  von  dem  Bedürfnis  der  Natur  nach  Eiuheit  über- 
haupt, soweit  ihm  unter  diesem  Namen  bisher  die  Erfahrung-  ent- 
g-eg-eng-etreten  ist.  Diese  Gewissheitsempfindung-  in  ihm  ist  von 
durchaus  ästhetischer  Art,  auch  da,  wo  er  ihr  einen  rein  objektiv- 
sachlichen Ausdruck  in  seiner  Examensarbeit  zu  g-eben  g-laubt. 
Gleichzeitig  aber  enthüllt  ihm  der  empirische  Mangel  der  geforderten 
Einheit,  der  „Zwiespalt  der  Erscheinung  in  geistigem  und 
tierischem",  wie  er  sich  ausdrückt,  jene  Einheit  als  ideale  For- 
derung, als  eine  Wahrheit,  die  nur  jenseits  der  Erscheinung  gilt, 
oder,  wie  er  hier  das  Wort  gebraucht,  als  „Idee".  Es  ist  die 
Idee  der  Einheit  von  Geist  und  Materie;  sie  ist  zunächst  bezogen 
auf  den  Menschen,  sodann  aber  auch,  in  unmittelbarer  Übertragung 
auf  das  Universum,  die  Idee  der  makrokosmischen  Einheit  der 
dualistischen  Prinzipien. 

Das  Auftreten  dieser  Idee  als  Forderung  bringt  ein  neues 
Moment  des  Zusammenhangs  in  der  Natur  zutage,  nämlich  die 
ideale  Vollziehbarkeit  dieser  Forderung,  oder  wenigstens  das  Mo- 
ment ihrer  Bedingung,  den  auf  die  Idee  hinstrebeuden  Willen. 
Dieser  Wille  erscheint  als  durchaus  bewusst,  da  er  einem  er- 
kannten Ziele  nachgeht.  Sein  Bewusstsein  ist  zugleich  ein  Wissen 
von  etwas  Höherem.  Da  aber  alles  Wissen  aus  der  Erfahrung 
stammt,  aus  der  Affektion  des  Willens  durch  Empfindung,  so  ist 
die  Voraussetzung  zur  Empfindung,  odei-  das  Empfindende  selber, 
die  Quelle  dieses  ganzen  Prozesses.  Das  Empfindende  ist  nun 
nichts  anderes,  als  die  „organisierte  Materie".  Sie  ist  letzte  Be- 
dingung zur  Empfindung,  sie  ist  die  Basis  jedes  Willensimpulses 
und  darum  auch  Trägerin  der  Willensentfaltung  im  Sinne  der 
idealen  Forderung,  zu  der  der  Geist  in  Begriffen  aufsteigt:  Der 
erste  Antrieb  zur  Erkenntnis  ist  die  Sinnlichkeit.  Das  ist  das 
Resultat. 

Es  ist  leicht  zu  bemerken,  mit  welcher  erkenntniskritischen 
Unbefangenheit  sich  das  ungeübte  und  popukirphilosophisch  beein- 
flusste  Denken  des  jungen  Schiller  über  die  nächsten  Schwierig- 
keiten hinwegsetzt.  Denn  wo  Wissen  nur  aus  sinnlichen  Affekten 
stammt,  da  ist  das  Aufsteigen  zu  einer  Idee,  aus  der  zuletzt  die 
einheitliche  Entwickelung  des  ganzen  Erkenntnisverlaufes  ver- 
standen   werden    soll,    ein    unmöglicher  Sprung    durch    das  Leere. 

Kantatudien  X.  ig 


266  F.  A.  Schmid, 

Unklar,  aber  darum  von  ihm  selber  nicht  unbemerkt,  steckt  das 
Gefühl  dieser  Anfechtbarkeit  in  dem  skeptischen  Element,  das  den 
gewagtesten  Gedankengängen  Schillers  in  dieser  Zeit  typisch  bei- 
gemischt erscheint:  Über  das  tiefste  Wesen  des  Zusammenhangs 
will  der  junge  Arzt  keine  bestimmte  Meinung  äussern,  sondern 
die  Frage  danach  lieber  offen  lassen;  er  begnügt  sich  mit  empi- 
rischen Exemplifikationen,  die,  unbeschadet  der  eigentlichen  Natur 
jenes  Zusammenhanges,  wenigstens  sein  faktisches  Vorhandensein 
äusserst  wahrscheinlich  machen. 

Sofort  aber  wächst  ihm  aus  dieser  Beispielsammlung  die 
Lust  zu  ihrer  Anwendung  auf  das  Kulturproblem  im  allgemeinen 
und  überhaupt,  energisch  auf.  Mit  seinem  „alles  durchsuchenden 
Geist"  und  mit  dem  ungestümen  „Feuer"  seiner  „guten  und  auf- 
fallenden Seelenkräfte",  das  nach  seines  Herzogs  Meinung  nur 
„iumittelst  noch  ein  wenig  gedämpft  werden"  sollte,  fand  er  eine 
Anwendung,  die  für  den  eminent  historischen  Sinn  Schillers  von 
grundlegender  Bedeutung  war. 

„Nun  noch  einen  gewagten  Blick  über  die  Universalgeschichte 
des  ganzen  menschlichen  Geschlechts,"    ruft  der  junge  Denker  am 
Ende  seiner   halb  medizinischen,   halb  philosophischen  Dissertation 
aus,    und    zeichnet    in  kühnen  Linien  den  grossen  Grundriss  einer 
Geschichtsbetrachtung,   die    hier  schon  im  wesentlichen  getreu  die 
Auffassung  widerspiegelt,    die    in    den  „Künstlern"  ihre  klassische 
Formel  gefunden  hat.     Das  ästhetische  Moment  drängt  sich  gegen 
das  Ende    der    zu  Anfang    physiologisch  angelegten  Untersuchung 
beherrschend    in    den    Vordergrund.     Es    ist   überflüssig,    alle   die 
Unter-  und  Obertöne  zu  berücksichtigen,  die  bei  diesen  und  anderen, 
verwandten  Glaubensbekenntnissen  philosophischer  Art  aus  Schillers 
Jugendjahren    mitgeklungen  haben.     Flachste  Glückseligkeitsmoral 
und    erste  Ansätze    eines  Strebens    um    des  Strebens    willen,    Ge- 
danken Shaftesburys    und  der  Leibniz-Wolffischen  Schule  mischen 
sich  in  ihnen  auf  eine  oft  bunte  und  wunderliche  Weise.    Nur  dies 
Eine    ringt   in    allen    diesen  Versuchen  und  Bemühungen  um  Ein- 
sicht  und  Klarheit    des  Gedankens    sich    immer   wieder    siegreich 
empor,  und  befestigt  sich  so  zum  eigenthchen  eisernen  Bestand  der 
Überzeugung,    gegenüber    dem    wechselnden  Fluss    der  Meinungen 
Schillers:    Dass  der  Mensch,    entkleidet  von  allen  den  kleinen  Zu- 
fälligkeiten seiner  sinnlichen  Bedingtheit  und  im  Ganzen  genommen, 
in    sinnvoller  Verknüpfung    seiner    unerlässlichen    Elemente,    eine 
höhere,  harmonische  Einheit  darstelle,    die  in  dieser  Harmonie  be- 


Schiller  als  theoretischer  Philosoph.  267 

sondere  Werte  zug-leich  hervorbringt  und  anerkennt.  Ganz  allge- 
mein gesagt,  sind  diese  Elemente  seines  höheren  Wesens  Natur 
und  Geist.  Unter  diesem  Namen  begreift  sie  Schillers  Ausdrucks- 
weise bis  auf  weiteres  am  liebsten.  So  spricht  sich  Schiller  in 
dem  Aufsatz  über  „die  Schaubühne  als  moralische  Anstalt",  so 
spricht  er  sich  in  jenem  „über  das  gegenwärtige  deutsche  Theater" 
aus.  Grössere  Klarheit  gewinnen  seine  Gedanken  erst  im  Verkehr 
mit  dem  die  Genauigkeit  liebenden  Körner.  Das  Resultat  dieses 
Austausches  sind  die  „philosophischen  Briefe". 

In  diesen  bekennt  Schiller:  „Ich  habe  Philosophie  gesucht 
und  habe  mir  Träume  untergeschoben."  Eine  Selbsterkenntnis  von 
nicht  geringem  Werte.  Ereilich  ist  auch  jetzt  noch  die  Art  des 
philosophischen  Raisonnements  von  der  früheren  nicht  erheblich 
verschieden.  Erkennen  und  Erkenntnis-begreifen  vermischt  sich 
in  seinem  naiven  Bewusstsein  immer  noch  mit  dem  Aufsuchen  und 
planlosen  Aufgreifen  von  Bruchstücken  eines  „Wissens  überhaupt". 
Jeder  Versuch  zur  Erkenntnis  wird  ihm  zur  Metaphysik. 

Aber  „die  Theosophie  des  Julius"  ist  imgrunde  nicht  tadelns- 
werter, als  alle  philosophischen  Systeme  vor  Kant,  insofern  sie 
Erkenntnisse  zu  besitzen  vorgaben,  ohne  dafüi-  den  Nachweis  ihrer 
Qualifikation  aufzubringen,  den  ihnen  nur  die  immanente  Veruunft- 
kritik  hätte  gewährleisten  können. 

Inzwischen  beantwortet  jetzt  „die  Theosophie  des  Julius" 
jene  Erage,  die  in  der  Examensarbeit  des  Karlsschülers  offen  ge- 
blieben war,  mit  aller  Kühnheit  einer  naiven  und  begeisterten 
Metaphysik.  Auf  diese  Weise  schliesst  sich  äusserlich  wenigstens 
auch  diese  letzte  Lücke  in  seinem  Weltgebäude,  und  es  wird  da- 
durch hier  zum  ersten  Male  von  Schiller  eine  gewisse,  syste- 
matische Einheitlichkeit  des  Entwurfs  und  der  gedanklichen  Dar- 
stellung erreicht,  die  zugleich  einen  tieferen  Einblick  in  die  Art 
der  treibenden  Motive  gewährt,  von  denen  sie  beherrscht  ist. 

Diese  Motive  liegen  ganz  in  der  Persönlichkeit  des  philo- 
sophierenden Dichters,  die  sich  ihrer  sittlich-ästhetischen  Bestim- 
mung im  höchsten  Grade  bewusst  ist.  Dadurch  bekommen  auch 
alle  Motive  des  Erkenntnistriebes  einen  vorwiegend  praktischen 
Charakter.  Jene  Idee  der  theoretisch  postulierten  Einheit  ist, 
richtiger  genommen,  vielmehr  die  Idee  der  charaktervollen  Ge- 
schlossenheit des  persönlichen  Wesens,  die  Idee  der  harmonischen 
Vollkommenheit.  Jener  erste  Empfindungserreger,  der  den  Willen 
zur  Ei-keuntnis  spornt,  ist  selber  nur  ein  Ausdruck  der  Vollkomm en- 

18* 


268  F.  A.  Schmid. 

heit  der  Natur.  Denn  nur  insofern  die  Natur,  als  organisierte 
Materie,  in  dem  harmonischen  Gleichwerte  ihrer  Faktoren  die  Idee 
der  Einheit  von  ordnendem,  geistigem,  und  gegenständlich-mate- 
riellem Prinzip  möglich  macht,  kann  sie  zugleich  auch  die  Voll- 
kommenheit der  Geister  bedeuten  und  vorauskünden. 

Aus  Anlass  dieses  Strebens  nach  dem  kosmischen  Ideal  der 
vollkommenen  Einheit  berühren  sich  Natur  und  Geist  im  Einzel- 
iudividuum,  in  den  Monaden,  nach  Analogie  der  Metaphysik  des 
Leibniz.  Ihr  gemeinsamer  Weg  ist  die  Zielsehnsucht,  die  in 
ihrer  Erfüllung  die  höchste  Glückseligkeit  verheisst.  Der  Eudä- 
monismus  der  populären  Aufklärungsphilosophie  wirkt  mit  weit- 
gehendem Einfluss  auf  den  intimeren  Charakter  der  hieraus  von 
Schiller  gefolgerten  Zweckkonstruktion  des  Daseins :  Der  Glück- 
seligkeit entgegen  streben  alle  Geister.  Sie  liegt  in  der  Richtung 
des  idealen  Zieles.  Wo  die  Zieluähe  ist,  da  ist  die  Glücksehgkeit, 
da  ist  Gott.  Darum  ist  es  die  Aufgabe  des  Einzelindividuums,  in 
seinem  strebenden  Bemühen  möglichst  viel  Glückseligkeit  selber 
zu  erleben  und  aus  seinem  Wirken  für  Andere  fliessen  zu  lassen. 
Denn  so  nur  fördert  der  Einzelne  das  grosse  und  allgemeine  Ziel: 

„Liebe,  Liebe  leitet  nur 
Zu  dem  Vater  der  Natur, 
Liebe  nur  die  Geister." 

Wie  aus  der  Energie  der  elementaren  Anziehung  im  Körper, 
so  entsteht  Gott  aus  der  Energie  der  Geisterliebe.  Die  Natur  ist 
der  unendlich  geteilte  Gott.  Gott  ist  die  in  die  Einheit  durch 
Liebe  zurückgenommene  Natur: 

„Freudlos  war  der  grosse  Weltenmeister, 
Fühlte  Mangel;  darum  schuf  er  Geister, 
Sel'ge  Spiegel  seiner  Seligkeit. 
Fand  das  höchste  Wesen  schon  kein  Gleiches, 
Aus  dem  Kelch  des  ganzen  Wesenreiches 
Schäumt  ihm  die  Unendlichkeit." 

Damit  ist  das  bescheidene  uon  liquet  des  Karlsschülers  kühn 
zurückgenommen.  Aber  in  demselben  Augenblick  tritt  auch  zum 
ersten  Male  deutlich  der  wirkliche,  erkenntnistheoretische  Zweifel 
an  der  suveränen  Erkenntniskraft  der  Vernunft  hervor.  Die  Mög- 
lichkeit tritt  in  den  Kreis  der  Erwägung,  dass  alles  Wissen  des 
Menschen  anthropomorph,  dass  unsere  Vernunft  eine  P>denvernunft 
sein  möchte,  und  dass  darum,  was  für  die  subjektive  Einsicht 
dieses   Plaueteube wohners   gilt,    nicht   darum    auch   W^ahrheit   im 


Schiller  als  theoretischer  Philosoph.  269 

Uiiiversutn  heissen  miiss':'.  „Unsere  Gedanken  von  diesen  Dingen 
sind  nur  die  endemischen  Formen,  worin  sie  uns  der  Planet  über- 
liefert, den  Avir  bewohnen."  Aber,  so  fährt  der  Briefschreiber 
fort,  „die  Kraft  der  Seele  ist  eig-entümlich,  notwendig-  und  immer 
sich  selbst  gleich." 

Mit  vollkommener  Deutlichkeit  vollzieht  sich  hier  der  kritische 
Prozess;  freilich  ist  es  in  erster  Linie  nicht  die  theoretische  Ein- 
sicht, sondern  das  zwingende  Bedürfnis  der  Persönlichkeit,  die  der 
festen  Grundlegung  bedarf,  unter  deren  Einfluss  die  Wandlung 
von  statten  geht. 

Das  Materiale  der  Erkenntnis  verfällt  von  hier  aus  aufs 
neue  der  Skepsis  und  bleibt  in  diesem  Zustande  bis  auf  Weiteres 
unbeachtet  liegen.  So  lange,  bis  der  aus  der  Schule  Kants  ge- 
wonnene, kritische  Standpunkt  diesen  Skeptizismus,  als  widersinnig, 
vollends  stillschweigend  resorbiert. 

Das  Formale  der  Erkenntnis  aber  wird  als  das  objektiv 
und  gesetzmässig  Gewisse  erkannt,  der  Standpunkt  der  Trans- 
scendentalphilosophie  somit  im  Prinzip  gewonnen  und  für  die  in- 
haltlichen Bestimmungen  unmittelbar  vorbereitet,  die  ihm  aus  dem 
kritisch  geweckten  Bewusstseiu  voraussichtlich  bald  erstehen 
mussten. 

Zweierlei  ist  hier  für  die  Beurteilung  der  Art  und  Weise 
bemerkenswert,  mit  der  sich  Schillers  fortschreitende  Denkkraft 
ihrer  Gegenstände  bemächtigte.  Unter  beiden  Gesichtspunkten 
wird  dabei  aufs  deutlichste  die  Stellung  erleuchtet,  die  Schiller 
unter  allem  Philosophieren,  kraft  seiner  Persönlichkeit,  sich  gegen- 
über den  spekulativen  Aufgaben  gewahrt  hat. 

Einmal  nämlich  ist  dies  zu  beachten: 

In  relativ  selbständiger  Denkarbeit  hatte  sich  das  philoso- 
phische Verständnis  Schillers  bis  zu  einer  solchen  Höhe  herauf- 
gearbeitet, dass  alle  Motive  und  Kräfte  mit  innerster  Wahlver- 
wandtschaft nach  der  Kantischen  Lösung  der  letzten  Probleme  der 
Erkenntnis  hinzielten.  Es  bestand  also  auf  der  gegenwärtigen 
Höhe  seiner  Einsichten  eine  notwendige,  intellektuelle  Spannung 
des  Gemütes  zwischen  dem  soeben  noch  von  ihm  Begriffeneu  und 
der  höchsten  erkeuntnistheoretischeu  Problemlösung,  wie  sie  Kants 
Kritik  der  reinen  Vernunft  für  ihn  erwarten  Hess,  so,  dass  die  An- 
nahme fast  zwingend  erscheint,  als  ob  die  Lösung  gerade  dieser 
unmittelbaren,  erkeuntnistheoretischen  Spannung  in  Schiller,  seiner 


270  F.  A.  Schmid, 

g-aiizen,  impulsiven  Natur  oiitsprechpiid,    unter    lebhaften  und  vom 
Eindruck  beweg-teu  Äusserungen  hätte  vor  sich  gehen  müssen. 

Davon  ist  aber  nie  die  Rede  gewesen;  es  ist  vielmehr  be- 
kannt, dass  Schiller  sich  wirklich  heimisch  nur  in  den  beiden 
späteren  Kritiken,  und  schliesslich  ganz  vertraut  nur  mit  der 
Kritik  der  Urteilskraft  gefühlt  hat.  Es  ist  offenbar,  welches 
Interesse  in  ihm  die  Oberhand  behielt.  Der  ganze  Apparat  jener 
Metaphysik  des  Julius,  zu  was  Ende  war  er  für  Schillers  Geist 
gut  und  notwendig?  Doch  nur  dazu,  um  seiner  spekulativ  einmal 
nicht  bedürfnislosen  Natur  eine  befriedigende  Grundlage  für  das 
Einzige  zu  geben,  worauf  es  ihm  als  Persönlichkeit  ankam  und 
was  ihm  als  Künstler  not  that:  Den  Glauben  au  die  Würde  der 
Kunst  und"  darum  an  seine  eigene  Bestimmung.  Die  Beobachtung 
lässt  sich  ja  häufig  wiederholen,  dass,  noch  ehe  die  Sache  selber 
erwogen  ist,  um  die  sich  das  Interesse  zusammenzieht,  der  Geist 
halb  unbewusst  und  wesentlich  instinktiv  sich  den  Mitteln 
zuwendet,  durch  die  jener  Sache  Bestand  und  Klarheit  verliehen 
werden  soll  und  kann. 

Zum  andern  ist  es  sehr  bezeichnend,  dass  auch  an  diesem 
Punkte,  wo  der  erste  Ansatz  zu  einer  wissenschaftlich  strengeren 
und  nüchterneren  Auffassung  vom  Wesen  des  erkennenden  Geistes 
in  Schillers  Denken  sich  bemerkbar  macht,  dieser  doch  weder  den 
Mut  des  abbruchloseu  Weiteraufbauens,  noch  die  Kühnheit  des  Ver- 
trauens in  den  letzten,  realen  Grund  einer  vernünftigen  Gesetz- 
mässigkeit verliert,  die  für  ihn  nach  wie  vor  in  der  durchaus  real- 
absoluten Übereinstimmung  von  Natur  und  Geist  verbürgt  ist. 
Wie  wenig  die  Kantische  Schulung  au  dieser  prinzipiellen  Stellung- 
nahme zu  den  letzten  Voraussetzungen  seiner  persönlichen  Gewiss- 
heit, zu  den  Problemen  der  Transscendenz  ändern  konnte,  beweist 
das  späte  Wort: 

„Mit  dem  Genius  steht  die  Natur  in  ewigem  Bunde: 
Was  der  eine  verspricht,  leistet  die  andre  gewiss." 

Und  die  diesen  Zeilen  vorausgehende  Hyperbel  spricht  höchstens 
noch  energischer  aus,  was  zuletzt  „die  Theosophie  des  Julius" 
erklärt:  „Einen  ähnlichen  Calcul  macht  die  menschliche  Vernunft, 
wenn  sie  das  Unsinnliche  mit  Hülfe  des  Sinnlichen  ausmisst  und 
die  Mathematik  ihrer  Schlüsse  auf  die  verborgene  Physik  des 
Übermenschlichen  anwendet;"  —  beides  will  für  den  Dichter  be- 
sagen :  Wenn  der  Genius  die  Mannigfaltigkeit  im  Ideal  der  Einheit 
überwindet.     In  dieser  Beleuchtung  verharren  Darstellung  und  Be- 


Schiller  als  theoretischer  Philosoph.  271 

griff  von  diesem  Geg-eiistande  unverändert  in  Sdiillors  Bewusst- 
sein,  so,  wie  auch  er  selber  immer  der  Gleiche  blieb.  Mit  dem 
Bewusstsein,  oder  wenigstens  mit  dem  instinktiv  sicheren  Gefühl 
für  die  notwendige  Immanenz  aller  theoretischen  Erkenntnis,  trat 
Schiller  an  die  Lektüre  der  Kantischeu  Lehre  heran.  Und  mit 
dem  gleich  starken  Lebensgefühl  der  künstlerischen  Persönlichkeit, 
und  darum  mit  der  felsenfesten  Überzeugung  von  der  notwendigen 
Realität  eines  sinn-  und  zw^eckvoUen  Substrats  für  alle  künst- 
lerischen Aufgaben  unterzog  er  sich  der  weiteren,  kritischen  Er- 
kenntnisarbeit. Ohne  jene  Voraussetzungen  des  sicheren  Gefühls 
wäre  ihm  diese  unmöglich  und  widersinnig  gewesen.  Denn  eine 
Natur  von  Schillers  Eigenart  und  Kraft  konnte  den  Sinn  ihres 
Daseins,  den  sie  so  innig  suchte,  nie  finden,  wenn  ihr  mit  dem 
Glauben  an  die  metaphysisch-realen,  absoluten  Werte  der  Kunst 
der  Glaube  an  sich  selber  hätte  entzogen  werden  können. 

„Die  Künstler"  fassen,  indem  sie  zugleich  den  bis  dahin 
gediehenen,  geistigen  Entwickeluugsgang  ihres  Dichters  wunderbar 
harmonisch  abschliessen  und  seine  Resultate  in  prächtigen  Worten 
auskUngen  lassen,  das  Beste  seiner  ganzen  Jugendarbeit  mit  glück- 
lichen Formeln  zusammen.  Die  geschichtsphilosophischen  Versuche 
des  jungen  Mediziners,  die  Theosophie  des  Julius  und  die  pathe- 
tische Freundschaftsbegeisterung  des  erwachten  Dramatikers  fliessen 
geläutert  in  Eins,  in  der  Aufforderung  an  die  Künstler: 

„Wie  sieben  Regenbogenfarben 
Zerrinnen  in  das  weisse  Licht, 
So  spielt  in  tausendfacher  Klarheit 
Bezaubernd  um  den  trunknen  Blick, 
So  fliesst  in  einen  Bund  der  Wahrheit 
In  einen  Strom  des  Lichts  zurück!" 


Mau  pflegt  den  Beginn  der  zweiten,  bedeutenderen  Epoche 
in  Schillers  philosophischem  Entwickelungsgang  zwischen  die  Jahre 
1790  und  1791  zu  legen.  Es  ist  die  Zeit,  in  der  sich  Schiller  mit 
der  Lektüre  der  drei  Kautischen  Kritiken  beschäftigt  und  mit  der 
Denk-  und  Redeweise  der  kritischen  Philosophie  vertraut  gemacht 
hat.  Aber  es  ist  sehr  bezeichnend,  dass  die  ersten  Früchte  aus 
dieser  Beschäftigung  zunächst  in  Arbeiten  rein  ästhetischen  Inhalts 
bestanden.     Die  Verarbeitung  und  Wiedergabe  der  erkeuntnistheo- 


^ 


272  F.  A,  Schniid, 

rctiscluMi  IvL'Sultate  aus  dein  Studium  Kants  Hessen  auf  sich  warten. 
Erst  der  grössere  Aufsatz  „über  Anmut  und  Würde' ')  zeigt 
wieder  deutlichere  Ansätze  zu  Erörterungen  theoretischer  Natur. 
Und  betrachtet  man  die  spärlich  einj^esprengten  und  stark  mit 
anders  g-earteten  Elementen  durchsetzten  Partien,  die  einen  solchen 
theoretischen  Charakter  tragen,  näher,  so  erscheint  ihre  Verwandt- 
schaft mit  den  Ergebnissen  des  „voikantischen  Denkens"  erstaun- 
lich gross.  Nur  ein  einziger  Begriff,  der  bisher,  zwar  der  ab- 
sichtlich gewollten  Interpretation  jederzeit  leicht  erreichbar,  doch 
immerhin  im  Hintergrund,  oder  jedenfalls  nicht  in  der  ersten 
Reihe  des  Interesses  stand,  tritt  nun  in  den  Vordeigrund,  von 
jetzt  ab  alle  Gedankengänge  beherrschend  und  bestimmend.  Das 
ist  der  in  seiner  neu  geprägten  Formulierung  aus  der  Kritik  der 
praktischen  Vernunft  gewonnene  Begriff  der  sittlichen  Freiheit, 
mit  dem  nun  auch  der  Dramatiker  und  der  epische  Lyriker  zu 
wuchern  beginnt. 

Bisher  hiess  der  metaphysisch-dogmatische  Gegensatz:  „Geist 
und  Natur"'.  Von  jetzt  ab  heisst  er  transscendental-kritisch :  „Natur 
und  Freiheit". 

Das  Kantische  Moment,  das  den  Begriffswechsel  an  die  im 
übrigen  kaum  veränderte  Sache  herangetragen  hat,  ist  leicht  fest- 
zustellen. Was  in  der  Metaphysik,  die  sich  Schiller  auf  der  Karls- 
schule zurechtgelegt  hatte,  und  was  späterhin  das  treibende  Motiv 
der  Spekulation  in  der  „Theosophie  des  Julius"  war,  w^as  die 
theoretische  Vernunft  zum  praktischen  Postulat  hinauf  geleitete, 
das  war  der  Wille  zur  Harmonie  von  Geist  und  Natur.  Es  war 
mehr  eine  begeisterte  Paraphrase,  als  eine  sachliche  Steigerung  des 
Inhalts  dieses  Ideals,  wenn  Schiller  schliesslich  diesen  Willen  zur 
Harmonie  als  den  Willen  zur  Gottheit  bezeichnete.  Insofern  dieser 
Wille  nun  bestimmend  war  für  alle  Erfahrbarkeit,  war  er  absolut 
und  einer  weiteren  Begründung  nicht  zugänglich.  Er  war,  weil 
die  Aufgabe  da  war. 

Die  Aufgabe  ihrerseits  war  so  notwendig,  als  das  Dasein 
selber,  dem  sie  den  Sinn  gab.  Als  Daseinszweck  fand  sich  die 
harmonische  Ineinssetzung  von  Geist  und  Natur  durch  die  An- 
strengung der  vernünftigen  Individuen,  und  die  Summe  ihres 
Willens  bestimmte  sich  gänzlich  aus  der  Intensität  des  Strebens 
nach  diesem  Ziel.     Die  parallel  im  System  Kants  angelegten  Ten- 

1)  1793. 


Schillei-  als  theoretischer  Philosoph.  273 

denzeu  siud  deutlich,  und  Schiller  niusste  in  der  besseren,  begriff- 
lichen E'orniulierung,  die  er  davon  bei  Kant  antraf,  das  vorteil- 
hafteste Mittel  zur  Klärung  und  neuen  Anordnung  seiner  eigenen 
Gedanken  erkennen.  Die  von  ihm  in  ihrer  absoluten  Notwendig- 
keit begriffene  Aufgabe  ist  das  Sitteugesetz  Kants.  Der  Wert 
seiner  Geltung  entspricht  dem  Wert  seiner  idealen  Wirklichkeit, 
die  erstrebt  wird  aus  der  Freiheit  der  Vernuuftwesen.  In  diesem 
neuen  Gewand  bleibt  doch  der  alte  Gedanke  der  gleiche: 

Der  Mensch  ist  Geist  und  Natur  in  Einem,  so  sagte  der 
Verfasser  der  philosophischen  ICxamensdissertation ;  der  Mensch 
ist  ein  Bürger  zweier  Welten,  so  drückt  sich  der  gereifte  Denker 
aus,  der  die  Schule  Kants  durchgemacht  hat. 

Vormals  war  das  der  Sinn  der  Welt,  dass  die  Geister  sich 
in  der  unendlichen  Aufgabe  zusammenfanden,  durch  Liebe  zum 
Übersinnlichen  die  Natur  dem  Geiste  harmonisch  zu  verschmelzen. 
Dann,  wenn  in  der  Harmonie  der  „zahlenlosen  Geister*'  „sterbend 
untertauchen  Mass  und  Zeit",  ist  der  letzte  Gegensatz  geschwunden 
und  die  Welt  ist  Gott. 

Jetzt  tritt  als  die  höchste  Wahrheit,  die  zugleich  als  höchster 
Wert  erstrebt  werden  soll,  die  Forderung  der  Verschmelzung  von 
Sinnlichkeit  und  Sittlichkeit  in  der  Autonomie  der  „schönen  Seele" 
heraus,  als  das  Ideal,  das  der  kritischen  Besonnenheit  zwar  nicht 
mehr  den  metaphysischen,  geeinten  Makrokosmos  ausdrücklich 
verspricht,  wohl  aber  ästhetisch  sozusagen  durchscheinen  lässt. 

Wesentlich  ist,  dass  vormals  ein  Teil  der  Liebe  wenigstens, 
die  glückselig  macht,  dem  jungen  Philosophen  als  zeitlich-sinnlich 
durchaus  erreichbar  galt.  Zeitlich-sinnlich  erreichbar  bleibt  näm- 
lich auch  jetzt,  und  nach  wie  vor,  trotz  Kant,  für  Schiller  die 
Autonomie  in  den  teilweiseu  Äusserungen  einer  schönen  Seele. 

Die  Schönheit  des  Charakters,  die  reifste  Frucht  aus  der 
Vereinigung  der  beiden  Ideen :  Humanität  und  Individualität,  kann 
mit  dem  Antagonismus  der  sinnlich-sittlichen  Kräfte  in  der  Zeit 
wenigstens  unter  gewissen  Bedingungen  bestehen :  In  der  Gabe 
der  Anmut  besitzt  der  Mensch  das  Mittel  zu  einer  glücklichen 
und  zwanglosen  Harmonisierung  der  natürlichen  Gegensätze  seines 
Wesens;  in  der  Würde  besitzt  er  das  Vermögen  der  Kraft,  den 
autonomen  Willen    zum    freien  Beherrscher  der  Natur  zu  erheben. 

Dauernder  und  eigentlicher  Friede  ist  freilich  in  keinem  der 
beiden  Zustände.  Dieser  Friede  bleibt  Vernunftideal,  das  zwar 
menschlich- wirklich   im  Phänomen   des   freien  Willens  angelegt  er- 


274  F.  A.  Schraid, 

scheint,  dag-egeu  im  Bereich  der  Siimeuwelt  niemals  ^auz  erreicht 
werden  kann.  Anf  diese  Weise  ist  auch  zugleich  mit  der  neuen 
Erkenntnisbestimmung,  die  das  Denken  lehrt,  theoretische  Deduk- 
tion und  praktisches  Wirken  zu  unterscheiden,  auch  das  Verhält- 
nis der  theoretischen  und  praktischen  Gesetze  unter  einander  fest- 
gelegt: Wo  beide  zusammenstimmen,  da  ist  das  Gute. 

Aus  diesen  formal  durchaus  Kantischen  Grundlagen  ent- 
wickeln sich  nun  in  vielfach  klareren  und  systematischeren  Um- 
rissen die  erkenntnistheoretischeu  Gedanken  Schillers  auch  metho- 
disch originell.  Metaphysik  und  P^rkeuntnistheorie  sind  Pole  in 
seinem  Denken  geworden.  Ihre  unkritische  Verquickung  hat  auf- 
gehört. Sie  kommen  einander  auf  wohl  überlegtem  Wege  ent- 
gegen und  vereinigen  sich  erst  zuletzt  und  an  der  rechten  Stelle 
im  System. 

Von  hier  aus  tritt  Schillers  Intellektualität  und  Moralität 
erst  in  die  rechte,  energisch  persönliche  Beherrschtheit,  die  sein 
ganzes  Wesen  so  eigentümlich  auszeichnet,  dass  sie  im  Bewusst- 
sein  unserer  Tage  eine  geradezu  typische  Bedeutung  gewon- 
nen hat. 

Wer  darum  Schillers  Persönlichkeit  ganz  begriffen  hat,  der 
versteht  auch  seine  Philosophie  aus  dem  Grunde,  in  allen  ihren 
Abzweigungen.  Denn  zuletzt  ist  es  doch  seine  tiefste  Natur,  die 
des  Künstlers,  die  die  Welt  ihrer  poetischen  Schöpfungen  selber 
begreifen  möchte.  Dazu  ist  notwendig,  dass  sie  zuerst  ihre 
eigenen,  organischen  Gesetze  verstehe,  und  darum  wird  Schiller, 
wo  er  diesen  Dingen  nachgeht,  zum  Ästhetiker,  zum  Ästhetiker 
vor  allem  andern.  Die  Lust  an  der  Erforschung  der  Gesetze 
bringt  es  von  selber  mit  sich,  dass  der  zur  Erkenntnis  dienende, 
gesetzmässige  Apparat,  der  jene  Gesetze  formulieren  hilft,  in  den 
Kreis  des  kritischen  Interesses  tritt,  und  so  wird  Schiller  zum 
theoretischen  Pilosophen.  Die  Frage  nach  dem  wirkenden  Wesen 
der  Erkenntnis  schliesst  sich  aber  unmittelbar  an  ihren  theore- 
tischen Besitz,  weshalb,  zumal  bei  so  stark  praktisch  betonten 
Grundzügen  des  Charakters,  Schillers  Beschäftigung  mit  Ethik  und 
wohl  auch  mit  Politik  nicht  ausbleiben  konnte.  Endlich  treibt 
den  Geist,  der  so  entschieden,  wie  der  Schillers,  die  harmonische 
Abrundung  der  festen  Weltanschauung  sucht,  der  Zusammenhang 
aller  Probleme  mit  Notwendigkeit  in  das  Problem  ihrer  absoluten 
Begründung,  und  darum  ist  Schiller  zuletzt  auch  Metaphysiker, 
soweit  es   ein  Mensch  wohl  sein  muss,    der   zu  seiner  Erfahrungs- 


Schiller  als  theoretischer  Philosoph.  275 

erkeuutnis  eine  auch  noch  so  bescheidene  Parallele  höherer  Ord- 
nung- finden  will. 

Darum,  weil  Schiller  Dichter,  und  zuerst  Dichter  ist,  darum 
ist  er  Philosoph;  oder  weuig-stens  der  Philosoph,  der  er  ist. 

Die  kritische  und  methodische  Besonnenheit,  die  von  jetzt 
ab  das  Denken  Schillers  durch  alle  Stadien  der  Untersuchung  be- 
gleitet, hatte  übrigens  gleichfalls  in  den  künstlerischen  Einsichten 
der  vorausgegangenen  Epoche  schon  ihre  Vorläufer,  „Die  Künstler" 
haben  es  gezeigt,  dass  die  Not  den  Menschen  viel  früher  klug 
und  geistig  regsam  machte,  als  die  Reflexion;  ihnen  rief 
Schiller  zu: 

„Dem  prangenden,  dem  heitern  Geiste, 

Der  die  Notwendigkeit  mit  Grazie  umzogen, 

Der  seinen  Äther,  seinen  Sternenbogen 

Mit  Anmut  uns  bedienen  heisst. 

Dem  grossen  Künstler  ahmt  ihr  nach." 

Doch  ist  die  Höhe  der  geistigen  Entfaltung,  die  durch  die  naive 
Übung  der  Kunst  ermöglicht  scheint,  für  uns,  als  schon  entwickelte 
Vernunftwesen,  im  Augenblick  der  beginnenden,  theoretischen  Re- 
flexion nur  ein  geschenkter  oder  ererbter,  kein  erworbener  Besitz. 
Darum  muss  der  schon  zurückgelegte  Weg  noch  einmal  von  An- 
fang an,  aber  mit  Bewusstheit  und  Freiheit  gegangen  werden. 
Denn  „eben  das  macht  ihn  zum  ]\[euschen,  dass  er  bei  dem  nicht 
stille  steht,  was  die  blosse  Natur  aus  ihm  machte,  sondern  die 
Fähigkeit  besitzt,  die  Schritte,  w^elche  jene  mit  ihm  antizipierte, 
durch  Vernunft  wieder  rückwärts  zu  thun,  das  Werk  der  Not  in 
ein  Werk  seiner  freien  Wahl  umzuschaffeu."  i) 

Jener  ,.Weg  der  Not"  eröffnet  eine  lehrreiche  Perspektive 
auf  die  Entwickelungsgeschichte  des  spekulativen  Vermögens; 
dieser  „Weg  der  freien  Vernunft"  zeigt  seine  a  priori  giltige 
Struktur. 

Der  Fortschritt  in  der  Untersuchung  geschieht  nun  zunächst 
in  durchaus  ähnlicher  Weise,  wie  es  mit  gewissen  Teilen  der 
frühesten  Argumentation  des  jungen  Denkers,  der  die  theoso- 
phischen  Briefe  schrieb,  der  Fall  war.  Der  vielleicht  nicht  ganz 
äusserlich  zufällige  Umstand  kommt  hinzu,  dass,  wie  damals,  so 
auch  jetzt  die  neuen  Resultate  der  philosophischen  Erkenntnisarbeit 
ihre  Darstellung   in    der  Form    von  Briefen  finden.     Diesmal  sind 


1)  Über  die  ästhetische  Erziehung  des  Menschen.     Dritter  Brief. 


276  F.  A.  Schmid, 

es    die  Briefe    an    den  Herzog-    vuii  Augiisteiibiirg,    die  deu  luiupt- 
sächiichsteu  Gehalt  seiner  neu  befestigten  Theorien  wiedergeben. 

Der  methodische  Fortgang  ist  in  kurzem  so:  Die  Vernunft 
hat  die  Gesetze  des  Denkens  zu  finden  und  aufzustellen;  diese 
Thätigkeit  der  Vernunft,  das  Inkrafttreten  ihrer  theoretischen 
Funktionen  als  solcher,  stellt  einen  Willensakt  dar.  Die  Be- 
dingung zur  theoretischen  Erkenntnisthat  ist  also  ein  praktisches 
Verhalten  der  Vernunft.  Beide  Äusserungsarten  der  Vernunft- 
funktionen fordern  sich  gegenseitig  und  durchaus  reziprok.  Hier 
ist  der  Einfluss,  den  Fichte  inzwischen  auf  Schiller  mit  der  dia- 
lektischen Methode  seiner  Wissenschaftslehre  gewonnen  hat,  unver- 
kennbar, ebenso,  wie  späterhin  Fichtes  Einfluss  auf  Schillers 
nioral-  und  staatsphilosophische  Anschauungen  stark  zur  Geltung 
gelangt.  Jedoch  darf  man  sich  darauf  besinnen,  dass  auch  der 
Eleve  der  Karlsschule  schon  vor  dem  Problem  dieses  Wechselver- 
hältnisses von  theoretischem  und  vou  praktischem  Verhalten  ge- 
standen hatte.  Der  Unterschied  ist  nur,  dass  jetzt,  in  den  Briefen 
an  den  Herzog,  das  Dilemma  zum  Bewusstsein  gebracht  und  zu- 
gleich erheblich  schärfer  formuliert  und  herausgehoben  ist.  Thesis 
und  Antithesis  des  Theoretischen  und  des  Praktischen  lassen  sich 
nicht  zugunsten  eines  Primates  umgehen.  Sie  müssen  vielmehr, 
falls  ein  weiterer  Fortschritt  in  der  methodischen  Erkenntnis  ge- 
schehen soll,  aufgehoben  werden  iu  einer  höheren  Synthese.  Eine 
solche  höhere  Einheit  findet  sich  analog  der  Synthese  Fichtes. 
Diese  Einheit  muss  wieder  ein  Vermögen  darstellen,  und  zwar  ein 
Vermögen,  das  form-  und  stoffgebendes  Prinzip  in  sich  befasst, 
derart,  dass  die  Forderung  des  Primates,  wie  ihn  der  antithetische 
Grundsatz  einzuführen  schien,  hinfällig  werden  kann.  Dies  Ver- 
mögen zu  suchen  ist  die  nächste  Aufgabe. 

Nun  ist  bekannt,  wo  bei  Schiller  der  nicht  weiter  ableitbare 
Rest,  der  nicht  weiter  reduzierbare,  eiserne  Bestand  seiner  Philo- 
sophie zu  tage  tritt.  Das  ist  in  der  unmittelbaren  Gewissheit, 
mit  der  die  Persönlichkeit  sich  selber  als  einen  positiven  und  ge- 
schlossenen W^rt  weiss  und  hat.  Zu  ihr  führt  jede  Abstraktion 
zurück.  In  der  Persönlichkeit  ist  denn  in  der  That  auch  die  Ein- 
heit von  theoretischem  und  praktischem  Verhalten  gegeben.  Das 
iutelligible  Ich  ist  theoretisch  und  praktisch  ,.in  einem  Schlage"'. 

Aber  ein  letzter  und  höchster  Gegensatz  bleibt  auch  im  Be- 
griff der  Persönlichkeit  bestehen.  Die  Synthese  nimmt  die  anti- 
thetische Dialektik  noch  einmal  auf.    Es  bleibt  nämlich  iu  ihr  der 


Schiller  als  theoretischer  Philosoph,  277 

Geg-ensatz    des  Wechsels    und    des    Beharrens,    die  Antithese    von 
Wesen  und  Zustand,  Ich  und  Aufgabe. 

Das  Ich  beruht  allein  auf  sich  selber,  da  es  „ausserhalb 
seiner  Gesetztheit  Nichts  ist". 

Es  wäre  leicht,    in  der  Terminologie  Fichtes  hier  die  ganze 

Erkeuntnislehre  Schilleis  mit    wenigen   Schlagworten  abzuwickeln, 

wenn   jene  Terminologie  geeignet  wäre,   die  Klarheit  der  Darstel- 
lung zu  erhöhen. 

Das  „schlechthinige  Beruhen"  der  Persönlichkeit  in  sich 
selber  ist  ausgedi'iickt  in  der  Idee  der  Freiheit.  Zuständlichkeit 
hingegen  ist  nur  in  der  Zeit  und  in  der  Notwendigkeit  des  natür- 
lichen Zusammenhangs  und  Ablaufs.  Nun  erscheint  aber  der 
Mensch  in  einem  Zustand,  das  heisst  in  die  Sinnlichkeit  gestellt, 
also,  mit  Rücksicht  auf  die  reinen  Daseinsbedingungen  seiner  in- 
telligiblen  Persönlichkeit,  in  eine  Aufgabe.  Und  zwar  soll  er  sich 
dieser  Aufgabe  gewachsen  fühlen  gerade  kraft  seiner  Freiheit, 
deren  absolute  Realisation  es  gilt.  Darum  ist  es  notwendig,  den 
Menschen  als  frei  und  als  unfrei  zugleich,  als  Intelligenz  und  als 
Sinnenwesen  aufzufassen. 

In  seinem  Wesen  als  Intelligenz,  oder  als  freie  Persönlichkeit, 
ist  die  formale  Bedingung  zur  unendlichen  Äusserung,  die  Ten- 
denz zur  absoluten  Formalität,  angelegt;  insofern  er  in  der 
räumlich-zeitlichen  Welt  seine  Aufgaben  vorfindet,  wirkt  er  sinn- 
lich, das  heisst  material  bedingt,  und  formverwirklichend  mit  der 
Tendenz  zur  absoluten  Realität.  Beide  Tendenzen,  in  ihrer 
Einheit  und  Vollkommenheit  gedacht,  führen  zur  spekulativen  Idee 
der  Gottheit.  So  findet  sich  die  Gottes-Idee  in  der  methodischen 
Erkenntnistheorie  als  ein  regulatives  Prinzip,  ganz  im  Sinne  Kants 
und  seiner  theoretischen  Vernunftkritik. 

Indessen  äussert  sich  im  endlichen  Menschen  die  Doppelnatur 
seines  Wesens  triebartig.  Insofern  der  Mensch  dem  Bereich  der 
sinnlichen  Erscheinungswelt  angehört,  wirkt  sein  Wille,  durch 
Empfindung,  als  sinnlicher  Trieb.  Insofern  der  Mensch  der 
intelligiblen  Welt  teilhaftig  ist,  wirkt  in  ihm  der  Wille  als  freier 
Fornitrieb. 

Der  sinnliche  Trieb  geht  auf  das  Zufällige,  auf  das  hier  und 
dort;  er  schafft  Einzelfälle  und  hindert  die  Vollkommenheit,  die 
soviel  ist,  wie  Einheit. 


278  V.  A.  Schmid, 

Der  Formtrieb  ist  Äusserung-  der  reinen  Persönlichkeit,  also 
zeitlos.  Er  formuliert  das  Gesetzliche  und  schafft  so  die  Not- 
wendigkeit. 

Der  g-emeinsamen  und  wechselseitigen  Wirksamkeit  beider 
Triebe  im  Gefühls-  und  Vernunftvermögen  liegt  die  Aufgabe  des 
Menschen  zugrunde: 

Aus  dem  sinnlichen  Trieb  die  Welt  zu  ergreifen,  aus  dem 
Form  trieb  heraus  sie  zu  begreifen,  gleich  weit  entfernt  von  Sen- 
sualismus und  von  Rationalismus  der  Betrachtungsweise.  Nur  in- 
sofern der  Mensch  in  jener  Wechselwirkung  seiner  Grundtriebe, 
sich,  indem  er  durch  sie  „schrankensetzend"  wirkt,  als  ein  „durch 
Schranken  gesetztes"  Individualwesen  erkennt,  kann  er  sich  gleich- 
zeitig begreifen  als  „Ich"  und  als  „Nicht-Ich''  —  so  würde  Fichte 
sagen;  nur  so  begreift  er  sich  zugleich  als  Subjekt  und  als  Objekt 
seiner  Aufgabe  —  so  sagt  Schiller.  Dieses  Sichselbstverstehen 
kann  erst  dort  eintreten,  wo  das  formale  Vermögen  sich  am  ge- 
formten Stoff  durch  die  Kraft  der  lebendigen  Gestalt  erweist,  und 
wo  zugleich  das  dem  sinnlichen  Trieb  Entrungene  sich  als  ge- 
staltetes Leben  offenbart;  wo  der  Stoff  nicht  zufällig  seine 
Form,  und  die  Form  sich  am  Stoff  nicht  notwendig  zeigt,  das 
heisst  also,  nur  in  einem  Akte  spontaner  Freiheit.^) 

Hier  ist  nun  jenes  dritte  Vermögen  gefunden,  das  die  These 
und  die  Antithese  des  bloss  subjektiven  und  des  bloss  objektiven 
Verhaltens  in  einer  vollkommenen  Synthesis  aufnimmt.  Das  for- 
male Vermögen  ist  im  Forintrieb,  das  praktische  Vermögen  im 
sinnlichen  Trieb  begriffen;  wir  begreifen  das  vermittelnde  Ver- 
mögen im  Spieltrieb.  Damit  ist  die  Lösung  des  erkenntnis- 
theoretischen Grundproblems  gefunden,  das  für  Schiller  in  der 
Frage  formuliert  war:  Wie  ist  der  Dualismus  von  Natur  und  Frei- 
heit in  der  einheitlich  gefassten  Persönlichkeit  zu  verstehen  und 
zu  überwinden? 

Die  Persönlichkeit  des  Menschen  steht  zwischen  moralischer 
Freiheit  und  sinnlicher  Unfreiheit.  „Zwischen  den  physischen  oder 
sinnlichen  Zustand  des  Gemüts,  in  welchem  der  Mensch  die  Macht 
der  Natur  bloss  erleidet,  und  den  moralischen,  in  welchem  er  sie 
beherrscht,  tritt  dieser  ästhetische  Zustand  in  die  Mitte.  Es 
ist  der  Zustand  der  schönen  Seele,  für  welche  der  Gegensatz 
zwischen  Notwendigkeit    und   Freiheit,    Sinnlichkeit  und  Vernunft, 


1)  Vgl.  den  15.  Brief  der  „ästhetischen  Erziehung". 


Schiller  als  theoretischer  Philosoph.  279 

Natur  und  Sittlichkeit  seinen  Stachel  verloren  hat,  weil  sie  ge- 
wöhnt ist,  in  dem  geg-ebeuen  Stoffe  der  Erfahrung  die  Idee  zu 
sehen,  uud,  was  mehr  in  ihrer  Gewalt  ist,  sich  gewöhnt  hat,  als 
Natur  edler  zu  begehren,  damit  sie  nicht  nötig  hat,  als  Wille  er- 
habener zu  wollen;"  mit  diesen  Worten  beschreibt  Lotze  treffend 
den  zentralen  Standpunkt  in  der  Betrachtungsweise  Schillers.  ^) 
Die  dualistische  Kluft  wird  durch  die  ästhetische  Freiheit  über- 
wunden, die  aus  dem  Spieltrieb  kommt.  So  führt  der  Weg  vom 
sinnlichen  Empfinden  im  passiven  Affekt  durch  die  ästhetische 
Freiheit  zur  sittlich-freien,  aktiven  Äusserung.  Die  ästhetische 
Kultur  trägt  das  Ideal  der  Harmonie,  die  den  Menschen  erst  zum 
Menschen  macht,  seiner  Vollendung  entgegen  durch  die  Ausbildung 
jener  Humanität,  die  unsere  höchste  Aufgabe  ist.  In  der  Kunst 
ist  somit  der  Widerspruch  überwunden,  in  den  für  sich  allein 
theoretisches  und  praktisches  Vermögen  geraten  müssten. 

Im  Einzelnen  die  Folgerungen  aus  diesem  Sachverhalt  zu 
ziehen,  ist  Sache  der  kritischen  Ästhetik.  Ihre  Ergebnisse  ge- 
statten indessen  hie  und  da  einige  erläuternde  Einblicke  in  das 
Wesen  und  in  die  Methode  des  reinen  Erkennens.  Reines  Er- 
kennen hat  mit  dem,  was  etwa  aus  teleologischen  Absichten  aus 
ihm  abgeleitet  werden  kann,  selber  nichts  zu  thun.  Dies  weiss 
Schiller,  und  das  ist  für  ihn  um  so  bedeutsamer,  als  in  seinen 
Händen  die  theoretische  x\rbeit  keineswegs  von  solcher  Teleologie 
frei  ist.  Sie  soll  ihn  zum  Wesen  der  Schönheit  hindurchführen. 
Eben  deshalb  darf  also  im  Erkennen  selber  ein  ästhetischer  Reiz 
nicht  liegen.  Die  Methode  muss  rein  logisch  sein.  Wo  ihre 
Deduktion  ästhetisch  wirken  will,  da  läuft  sie  Gefahr,  zu  entgleisen 
und  wertlos  zu  werden.  Deshalb  betritt  Schiller  das  im  Gleich- 
gewicht der  ästhetischen  Freiheit  schwebende  Reich  der  produk- 
tiven Einbildungskraft,  des  Spieltriebs,  mit  methodisch  gesicherten 
Grundsätzen,  und  darum  fühlt  sich  hier,  wo  die  eigentlichen  Inter- 
essen seines  Geistes  wurzeln,  Schillers  dialektisches  Vermögen  am 
meisten  zu  Hause  und  mit  allen  Begriffen  vertraut.  Es  ist  natür- 
lich, dass  seine  Erkenntnistheorie  von  hier  aus,  wenn  überhaupt, 
die  metaphysische  Zuspitzung  gewinnen  musste. 

Das  Resultat  aus  der  Erkenntnistheorie  ist  die  Zweiwelten- 
stellung des  Menschen,  mit  der  damit  verbundeneu  Zerrissenheit 
seines  Wesens,    die   durch   die  ästhetische  Freiheit  des  Spieltriebs 


1)  Vgl.  H.  Lotze,  Geschichte  der  Ästhetik  in  Deutschland.    S.  366  f. 


280  F.  A.  Schmid, 

nur  imvollkommeii  aufg-ehoben  und  mehr  bloss  gemildert,  als  über- 
wunden werden  kann,  insofern  der  Spieltrieb  nach  Umfang"  und 
Qualität  seiner  Äusserung  beschränkt  und  stark  intermittierend  ist. 

Es  lässt  sich  voraussehen,  dass,  wie  überall  in  Schillers 
Denken,  so  auch  hier  in  den  Anschauung-en  seiner  vorkantischen 
Epoche  zum  voraus  ang'elegt  gefunden  werden  kann,  was  später 
dem  gebildeten  Kantianer  des  Versuches  der  transscendenten 
Spekulation  wert  scheinen  mochte. 

Den  .Spieltrieb  in  Permanenz  zu  erklären,  und  auf  diese  Art 
das  Ideal  der  harmonischen  Einheit  zu  schaffen,  konnte  ihm  nicht 
beifalleu.  Nach  ihm  hat  es  F.  v.  Schlegel  damit  wohl  vorsucht, 
und  die  Romantik  blieb  in  dieser  ironischen  Aufgabe  stecken,  die 
sich  notwendig  selbst  bald  ironisieren  musste.  Auch  darin  geht 
Lotze^)  schon  zu  weit,  wenn  er  Schillers  Lehre  von  der  „Bestimm- 
barkeit und  Selbstbestimmung,  als  den  beiden  Grundzügen  unseres 
geistigen  Wesens"  so  auf  ihn  selber  einwirkend  darstellt,  dass 
„ihm  ästhetische  Stimnumg  immer  mehr  zu  dem  Selbstgenuss  eines 
Gemütszustandes  wird,  dessen  ganze  Weihe  ebenfalls  nur  in  dem 
Formalen  des  Gleichgewichts  jener  beiden  besteht",  und  wenn  er 
daraus  Schiller  direkt  für  die  Entwickelung  des  i-omantischen 
Ironiebegriffs  verantwortlich  macht. 

Das  Schwergewicht  der  ganzen  Argumentation  ruhte  bei 
Schiller,  auch  in  den  Fragen  der  reinen  Ästhetik,  zu  sehr  auf  der 
Basis  der  moralischen  Freiheit,  als  dass  er  in  dem  Ausgleich 
zwischen  Natur  und  Freiheit  durch  den  Spieltrieb  mehr  hätte  er- 
blicken können,  als  eine  blosse  Hülfskonstruktion.  Ihre  Verab- 
solutierung im  romantischen  Ideal  erscheint  dagegen  als  die  voll- 
endete Karrikatur. 

In  Wahrheit  liegt  das  Ideal  für  Schiller  wo  ganz  anders. 
Wo,  das  lehrt  „die  Theosophie  des  Julius".  Dort  ist  „Gott  die 
unendlich    geteilte  Natur,    die  Natur  der  unendlich  geteilte  Gott". 

In  der  Sprache  Kants  und  Fichtes  lautet  der  Satz:  Sein  und 
Wechsel,  Person  und  Zustand  geben  in  ihrer  Summe  erst  die 
wahre  Realität:  Das  absolute  Ich  in  seiner  absoluten  Selbstbestim- 
mung. Der  Spinozismus,  der  sich,  wenn  mau  will,  aus  der  „Theo- 
sophie des  Julius"  prinzipiell  herauslesen  lässt,  kommt  in  der 
neuen  Formulierung  des  Gedankens  eigentümlich  zum  Ausdruck. 
Er  erscheint  in  seiner  typischen  Verschmelzung  mit  der  Transscen- 


1)  Vgl.  ebenda,  S.  366  und  368  ff. 


Schiller  als  theoretischer  Philosoph.  2ol 

dentalphilosopliie,  wie  er  sie  in  der  deutschen,  nachkantischen 
Spekulation  überall  dort  erlebt  hat,  wo  diese  metaphysisch  inter- 
essiert war.  Dadurch  wird  die  Verwandtschaft  des  Schillerschen 
Gedankens  mit  gTOSsen  Bestandteilen  der  Philosophie  Fichtes  für 
den  Historiker  der  Philosophie  bemerkenswert. 

Beharren  und  Wechsel  macheu,  in  theoretischer  Hinsicht,  die 
Einheit  der  Erscheinung-  aus.  Sie  besagen  die  Notwendigkeit  des 
Wirklichen,  oder  die  Wirklichkeit  aller  Möglichkeiten  im  theoretisch 
Absoluten,  Es  ist  die  Gottheit,  als  regulatives  Prinzip  der  voll- 
endeten Erkenntnis;  als  konstitutives  Prinzip  des  Handelns  ist  es 
für  den  Menschen  die  ideale  Harmonie  der  Persönlichkeit,  die  in 
der  Welt,  in  der  wir  leben,  zur  unendlichen  Aufgabe  wird.  Da 
dies  Ideal  auf  Harmonie  geht,  also  jeden  Primat  der  Kräfte  aus- 
schliesst,  kann  Schiller  die  Schönheit,  die  ihrem  Wesen  nach  nichts 
anderes  ist,  als  der  Versuch  jener  Harmonie,  „die  zweite  Schöpferin 
des  Menschen"  nennen.  Deshalb,  weil  sie  ihn  zu  seiner  wahren 
Bestimmung,  zum  Ideal  vollkommenen  Menschentums,  erweckt. 

Aber  die  von  hier  aus  nahe  liegende  Entwickelung  der  Speku- 
lation zu  einer  das  ganze  Gebiet  der  Wirklichkeit  systematisch 
uraspaunenden  und  begründenden  Metaphysik  des  Schönen  bleibt 
in  diesen  ersten  Anfängen  schon  stecken.  Einmal  mochte  sich 
Schiller  wohl  darauf  besinnen,  dass  die  Schönheit  der  Kunst,  die 
jene  unendliche  Aufgabe  ihrer  Verwirklichung  entgegenführen 
soll,  doch  nur  im  Bereich  strenger,  spekulativer  Immanenz  ihren 
spezifischen  Wert  zu  behaupten  vermag;  und  zum  andern  empfand 
er  wohl  mehr  instinktiv,  als  aus  streng  kritischem  Bewusstsein, 
die  Unmöglichkeit,  etwa  in  den  neospinozistischen  Konsequenzen, 
so  sehr  sie  ihm  auch  durch  Goethes  Freundschaft  und  die 
zeitgenössische  Philosophie  nahegelegt  schienen,  für  seine  Phi- 
losophie der  Persönlichkeit  den  rechten  Ankergrund  finden  zu 
können.  Und  dieser  Umstand,  verbunden  mit  dem  weiteren  Moment, 
dass  für  Schiller  das  philosophische  Interesse,  und  damit  auch  die 
philosophische  Arbeit  mit  der  begrifflichen  Herausarbeituug  der 
Schönheitslehre  imgrunde  erschöpft  war,  macht  es  durchaus  be- 
greiflich, dass  sich  Schiller  um  eine  methodisch  entwickelte  und 
ausgeführte  Metaphysik  niemals  bemüht  hat.  Sein  Dichtertum, 
im  weitesten  Sinne  dieses  Wortes,  philosophisch  zu  erfassen,  den 
Sinn  seines  eigenen,  auf  das  Höchste  ihn  hinweisenden  Mikrokos- 
mos in  den  grossen  Kosmos  der  Welt  begrifflich  einzuordnen,  das 
war   seine  Aufgabe;    seine  Metaphysik    war    seine  Kunst  in  ihrer 

Kantstudien  X.  ig 


282  F.  A.  Schmid, 

unmittelbaren  Betätigung.  Darüber  hinaus  benügte  er  sich,  prak- 
tisch wohl  ebenso  sehr,  als  begrifflich,  mit  Andeutungen.  In  der 
That  ist  zum  Beispiel  auch  aus  seinen  wenigen  und  zerstreuten 
Bemerkungen  über  die  Religion  und  ihr  Wesen  kaum  mehr  zu 
entnehmen,  als  ein  allgemeiner  Eindruck  von  der  Art  seines  Ur- 
teils über  solche  und  verwandte  Gegenstände.  Wo  aber  solche 
Bemerkungen  inhaltlich  greifbar  hervortreten,  da  zeigen  sie  Schiller 
auf  der  einen  Seite  als  ächten  Sohn  des  Zeitalters  der  Aufklärung 
und  auf  der  anderen  Seite  als  den  in  dieser  Rücksicht  kaum 
anders,  als  dilettantischen  Schüler  Kants.  Wenn  Schiller  in  der 
Abhandlung  „über  den  moralischen  Nutzen  ästhetischer  Sitten" 
die  Religion  gelegenthch  die  Paroxysmusfessel  des  natürlichen 
Menschen,  an  einer  anderen  Stelle  die  Unsterblichkeit  das  Ideal 
der  Begierde  nennt,  so  stehen  diese  Äusserungen  einer  kapriziös 
einseitigen  Hervoi'kehruug  gewisser,  allerdings  grundlegender  Ten- 
denzen in  seiner  Weltanschauung  vielen  anderen  Stellen,  nament- 
lich seiner  poetischen  Bekenntnisse,  nur  scheinbar  entgegen.  Ihr 
Für  und  Wider  ist  imgrunde  an  dem  Geiste  des  Distichons  zu 
messen,  dessen  spezifischer  Wert,  im  Umkreis  der  hierher  ge- 
hörigen Ideen,  durchaus  der  eigentümlichen  Geistesart  Schillers 
entspricht : 

„Welche  Religion  ich  bekenne?    Kerne  von  allen, 

Die  du  mir  nennst  —  und  warum  keine?  —  Aus  Religion." 

Im  Effekt  werden  sich  alle  diese  Äusserungen  dahin  berichtigen, 
dass  dem  erkenntnissuchenden,  gereiften  Geiste  Schillers 
der  Kantisch-Fichtesche  Standpunkt  der  strengen,  transscenden- 
talen  Immanenz  angemessen  erschien;  seinem  praktischen  Be- 
dürfnis aber,  soweit  es  philosophischer  Natur  war,  das  Leben  im 
Reich  der  moralischen  Freiheit,  soweit  es  hingegen  unmittel- 
bar vvillensmässiger  Natur,  Bedürfnis  seines  lebendigen  Wirken- 
woUens  war,  die  Religion  der  Schönheit  im  eminentesten 
Sinn  entsprach.  Dies  Wirken  in  der  lebendig  erkannten  und  auf- 
genommenen, unendlichen  Aufgabe  des  Dichters  erfüllte  sein 
Leben  ganz  und  machte  ihm  am  Ende  die  systematische  Konsti- 
tuierung einer  metaphysischen  Wertgruppe,  in  der  gedanklich 
durchgearbeiteten  Bestimmtheit  der  dogmatischen  Formel,  durchaus 
überflüssig. 


Schiller  als  theoretischer  Philosoph.  283 

4. 

Die  Resultate  dieser  Betrachtung  zeigen,  dass  gegenüber  der 
individuellen  Klarheit  der  Gedanken,  wie  sie  Schiller  im  Laufe 
seines  Lebens  entwickelt  und  herausgearbeitet  hat,  eine  eigenthche, 
dialektische  Kritik  kaum  zulässig  ist.  Denn  soweit  sich  eine 
solche  Kritik  auf  Schülers  Erkenntnistheorie  bezöge,  würde  sie 
mehr  auf  die  Kritik  anderer,  philosophischer  Systeme  hinauslaufen; 
soweit  sie  aber  auf  Schillers  Art  der  Assimilation  oder  auf 
Schillers  Metaphysik  ginge,  müsste  sie  zu  einer  Kritik  seiner  Per- 
sönhchkeit  werden.  Es  könnte  jedoch  daraus  mit  gutem  Sinn 
nicht  viel  zu  machen  sein,  denn  eine  Persönlichkeit  soll  verstanden 
und  nicht  kritisiert  werden,  zumal  wenn  sie  uns  als  eine  einmalige 
Erscheinung  in  solcher  Grösse  entgegentritt,  wie  die  Persönüchkeit 
Schillers.  Aus  ihrem  Verstehen  ist  ungleich  mehr  zu  lernen  und 
Wertvolles  für  uns  zu  schöpfen,  als  aus  ihrer  Kritik. 

Mit  einem  Hauptproblem  ist  Schillers  theoretische  Energie 
lebenslänglich  beschäftigt  gewesen.  Es  ist  sein  Problem:  Wie 
kommt  die  Kunst  in  die  Welt?  Wer  ist  das  Mädchen  aus  der 
Fremde?  Was  ist  sein  verborgenes  Wesen,  seine  wunderbare 
Herkunft,  der  geheime  Sinn  seines  Daseins?  Diese  Fragen  beant- 
worten sich  nicht  dort,  wo  sie  entstanden  sind,  im  Bereich  des 
naiven  Erlebens.  Denn  sie  enthalten  für  die  Sinnlichkeit  irratio- 
nale Bestandteile.  Sie  wollen  begrifflich  durchforscht,  kritisch 
verstanden  sein. 

Der  naive  Theoretiker  ist  zugleich  stets  auch  Metaphysiker. 
Darum  schreibt  der  junge  Schiller  „die  Theosophie  des  Julius". 
Der  naiven  Methode  des  Erkennens,  wie  sie  dort  geübt  wird,  steht 
die  Grundfrage  der  naiven  Skepsis,  das  Problem  der  universalen 
Giltigkeit  unserer  „Planetenvernunft"  gegenüber. 

An  diesem  Gegensatz  ist  Schiller  für  Kant  reif  geworden. 

Die  methodische  und  begriffliche  Schule,  die  er  hier  durch- 
macht, lassen  ihn  erkennen,  dass  die  Wege  der  Erkenntnistheorie 
und  der  Metaphysik  unterschieden  werden  müssen  und  zu  getrennten 
Zielen  führen. 

Auf  die  dialektische  Ausmessung  der  immanenten  Erkenntnis 
gegründet,  ergiebt  sich  nun  bald  das  sittlich-ästhetische  Resultat, 
das  die  ganze  Welt  der  Erfahrbarkeit  -hinreichend  beleuchtet. 
Darüber  hinaus  winkt  zwar  die  metaphysische  Spekulation  und 
zeigt  verhüllt  neue  Probleme,  Aber  Schiller  hat  keine  Lust, 
sich  ihretwegen  aufs  neue  heiss  zu  bemühen.  Es  fehlt  das  innerste, 

19* 


284  F.  A.  Schmid, 

treibende  Interesse.  Denn  im  Bereich  jener  Metaphysik  würde 
wieder  zum  ästhetischen  Schein,  was  an  dem  Punkte  g-erade,  auf 
dem  Schiller  steht,  lebendiges  Wirken  und  praktische  Aufgabe 
ist.  Und  Schillers  Motiv  und  Ziel  zugleich,  durch  alle  Anstreng- 
ungen seines  Denkens  hindurch,  ist  es  doch  nur,  eben  diese  Auf- 
gabe recht  zu  begreifen.  In  ihr  ist  seine  Persönlichkeit  mit  der 
ganzen  Kraft  ihrer  grossen  Einheit  beschlossen. 

Wo  Schiller  eine  weitere  Erläuterung  der  ausserpersönhchen 
Existenz  des  Menschen,  etwa  in  metaphysischem  Sinne,  versucht, 
da  thut  er  es  stets  in  der  ihm  angemessenen  Sprache  des  poetisch 
schönen  Bildes,  ohne  Anspruch  auf  spekulative,  geschweige  denn 
begriffliche  Bündigkeit.  So  angeschaut,  zeigt  sich  der  Fortschritt 
vom  unkritisch  der  Skepsis  zuneigenden  Metaphysiker,  wie  er 
noch  in  der  „Resignation"  das  Wort  führt,  zum  kritisch  geklärten 
Seher  im  Reich  der  sittlichen  Freiheit  und  Schönheit,  deutlich  in 
dem  Dichter  von  „Ideal  und  Leben". 

„Geniesse,  wer  nicht  glauben  kann!    Die  Lehre 

Ist  ewig,  wie  die  Welt.    Wer  glauben  kann,  entbehre!" 

So  lautet  in  der  Resignation  des  Zweiflers  die  immerhin  äusserst 
problematische  Alternative.  Und  dass  es  dem  Dichter  mit  dieser 
Alternative  innerlich  durchaus  ernst  war,  darf  heute  wohl  kaum 
mehr  in  Frage  gezogen  werden.  *) 

Zehn  Jahre  später  ist  die  schmerzlich  erlebte  Kluft  der 
schroffen  Gegensätze  des  Lebens  zwar  nicht  beseitigt,  aber  im 
Sieg  des  hohen  Ideals  der  Kunst  überwunden: 

„Nur  der  Körper  eignet  jenen  Mächten, 
Die  das  dunkle  Schicksal  flechten ; 
Aber  frei  von  jeder  Zeitgewalt, 
Die  Gespielin  seliger  Naturen, 
Wandelt  oben  in  des  Lichtes  Fluren 
Göttlich  unter  Göttern  die  Gestalt. 
Wollt  ihr  hoch  auf  ihren  Flügeln  schweben, 
Werft  die  Angst  des  Irdischen  von  euch! 
Fliehet  aus  dem  engen,  dumpfen  Leben 
In  der  Schönheit  Schattenreich!" 2) 


1)  Vgl.  Minor,  Schiller  II,  S.  333—353. 

2j  Dies  die  Lesart  der  Hören  vom  Jahre  1795.  (Erster  Druck  des 
Gedichtes.)  Die  spätere  Wendung:  „In  des  Ideales  Reich"  mag  poetisch 
berechtigter  scheinen.  Die  Klarheit  des  Gedankens  wird  durch  sie  nicht 
gefördert. 


Schiller  als  theoretischer  Philosoph.  285 

Es  ist  eine  gewissheitsfeste,  kategorische  Forderung  an  den 
intelligiblen  Charakter,  an  die  Gesamtpersönlichkeit  des  Menschen 
in  ihrem  höchsten  Eigenwert,  die  sich  hier  ausspricht.  Die  har- 
monische Würde  des  hohen  Zieles  genügt  völlig,  um  auch  das 
reichste  Leben  zu  füllen. 

Zwischen  den  Gegensätzen  dieser  beiden,  poetischen  Glaubens- 
bekenntnisse bewegt  sich  die  Linie  der  gesamten  spekulativen 
Geistesentwickeluug  Schillers.  Diese  Gegensätze  in  ihrem  Wider- 
streben und  in  ihrem  Ausgleich  verfolgen,  die  Übergänge  kon- 
struieren und  die  Ansatzpunkte  heraussuchen,  von  denen  aus  ihre 
Versöhnung  möglich  wird,  heisst  Schillers  Entwickelungsgang 
historisch  folgen  und  ihn  begreifen  lernen;  in  beiden  Bekennt- 
nissen aber  den  gemeinsamen  Grundgedanken  erkennen  und  den 
tiefen  Drang  nach  harmonischer  Vollendung  des  Lebens  und  seiner 
höchsten  Inhalte  spüren,  der  mächtig  alle  Kräfte  des  Erkennens 
und  des  Willens  spannt,  das  heisst  Schiller  als  Persönlichkeit 
erfassen,  wie  sie  als  eine  That  der  Freiheit  vor  uns  steht. 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung. 

Schillers  philosophischer  Einfluss  auf  Goethe. 


Von  Jonas  Cohn. 


Nicht  selten  bestimmt  man  Schillers  Bedeutung  in  der  Ge- 
schichte des  deutschen  Denkens  dadurch,  dass  man  ihn  als  den 
Vermittler  zwischen  den  scheinbar  durch  eine  Welt  getrennten 
Ideen  Goethes  und  Kants  bezeichnet.  Man  pflegt  dabei  im  Auge 
zu  haben,  dass  er  in  seiner  Person  Kants  und  Goethes  Denkweise 
zu  origineller  Einheit  verbindet.  Aber  noch  in  einem  anderen 
Sinne  war  er  Vermittler.  Er  gab  Goethe  in  der  für  ihn  einzig 
möglichen  Form,  was  dem  Dichter  von  Kant  förderlich  werden 
konnte.  Wenn  man  das  Verhältnis  Goethes  zur  Kantischen  Philo- 
sophie richtig  verstehen  will,  muss  man  stets  des  Freundes  ge- 
denken, der  Goethe  an  die  Grenzen  des  fremden  Gebietes  führte 
und  ihm  dessen  unverständliche  Sprache  verdolmetschte. 

Die  herkömmliche  Darstellung  macht  Goethe  bis  heute  gern 
zum  Spinozisten,  oder  bekauptet  doch,  Spinoza  sei  der  einzige 
Philosoph  gewesen,  der  auf  Goethe  entschiedeneren  Einfluss  hatte. i) 
Wirkliche  Kenner  haben  dem  gegenüber  schon  lange  Kants  Ein- 
fluss betont.-)  In  neuerer  Zeit  hat  Otto  Harnack"^)  sich  das 
entschiedene  Verdienst  erworben,    Kants  Bedeutung  für  Goethe  in 


1)  So  —  um  nur  eine  neuere  Darstellung:  zu  nennen:  Bielschowsky, 
Goethe,  Bd.  11,  Kap.  4.  Auch  Theobald  Ziegler  pflichtet  ihm  in  d.  Anni. 
zu  S.  92  (S.  689)  darin  gegen  Vorländer  und  Harnack  hei. 

'^)  Hier  ist  bes.  Karl  Rosenkranz  zu  erwähnen,  der  „Goethe  und 
seine  Werke",  Königsberg  1847  S.  83,  sagt:  „die  zweite  Assimilation  einer 
Philosophie,  welche  Goethe  machte,  war  die  der  Kantischen"  .  .  .  „in 
seinen  Briefen  mit  Schiller,  der  ihn  recht  eigentlich  in  das  tiefere  Ver- 
ständnis Kants  einführte,  während  Niethammer  ihm  die  Terminologie  ge- 
läufig machte,  spielte  das  Zurtickgehen  auf  Kant  eine  grosse  Rolle." 

3)  Goethe  in  der  Epoche  seiner  Vollendung.  1.  Aufl.  Leipzig  1887. 
XXXIII  ff.,   2.  Aufl.    Leipzig  1901.    22  ff. 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  287 

der  Epoche  seiner  VoUondnng  energisch  hervorzuheben  und  Karl 
Vorland  er  1)  hat  in  dankenswertester  Weise  alle  Daten,  die 
Goethes  Kantstudien  und  Kauturteile  betreffen,  zusammengestellt. 
Aber  noch  fehlt,  soviel  ich  sehe,  der  Nachweis  dessen,  was  nun 
eigentlich  Goethe  sich  von  Kant  angeeignet  hat.  Umfang  und 
Inhalt  dieses  Gewinnes  darzustellen  ist  Aufgabe  der  folgenden 
Arbeit.  2) 

Wenn  man,  wie  es  zu  diesem  Zwecke  nötig  ist,  zwischen 
Wesentlichem  und  Unwesentlichem  scheidet,  so  entdeckt  mau,  dass 
alle  wesentlichen  Richtungen  des  Einflusses  auf  Schiller  weisen. 
Einige  äussere  Daten  könnten  das  zweifelhaft  erscheinen  lassen. 
Wir  wissen,  dass  Goethe  im  März  1791  sich  die  Überschriften  der 
Paragi-aphen  aus  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  abschrieb.  Körner 
berichtet  am  6.  September  1790  an  Schiller,  dass  er  mit  Goethe 
bei  dessen  Besuch  in  Dresden  die  meisten  Berührungspunkte  im 
Kant  gefunden  habe.  In  der  Kritik  der  teleologischen  Urteilskraft 
habe  Goethe  Nahrung  für  seine  Philosophie  gefunden.  So  inter- 
essant diese  und  ähnliche  Notizen  für  Goethes  allseitige  Aufmerk- 
samkeit sind,  so  wenig  bedeuten  sie  für  seine  geistige  Entwicke- 
lung.  Bei  seinem  expansiven  Geiste  kam  er  in  mindestens  ober- 
flächliche Berührung  fast  mit  allem,  was  seine  Zeitgenossen 
bewegte.  Daher  will  es  nicht  viel  sagen,  dass  Goethe  die  Kritik 
der  reinen  Vernunft  zu  leseu  wenigstens  versucht  hat.  Wichtiger 
pflegt  man  seine  Beschäftigung  mit  der  Kritik  der  teleologischen 
Urteilskraft  zu  nehmen,  und  sicher  vermochte  der  Natui^orscher 
Goethe  dieser  Schrift  mehr  abzugewinnen.  Indessen  regt  ihn  Kant 
hier  kaum  zum  Fortbilden  seiner  Gedanken  au,  bestätigt  ihm  viel- 
mehr längst  vertraute  Denkweisen.  Kants  Kampf  gegen  die  falsche 
und    oberflächliche  Vorstellung    der  Zweckmässigkeit    aller  Wesen 


1)  Goethes  Verhältnis  zu  Kant  in  seiner  historischen  Entwickelung. 
Kantstudien  I  u.  IL  1897  u.  1898  —  Siebeck:  Goethe  als  Denker,  Stutt- 
gart 1902  bespricht,  S.  :}2  ff.  Goethes  Verhältnis  zu  Kant  inbezug  auf  die 
Erkenntnislehre.  Georg  Simmel:  Kant  und  Goethe,  Beilage  zur  Allge- 
meinen Zeitung  3.,  5.  und  6.  Juni  1899,  hat  den  tiefen  Gegensatz  zwischen 
Kants  und  Goethes  Geistesart  dargestellt.  Mit  den  Ergebnissen  dieser 
bedeutenden  Arbeit,  der  ich  viel  verdanke,  verträgt  sich  ein  Einfluss  Kants 
auf  Goethe,  wie  ich  ihn  verstehe,  durchaus. 

2j  Es  soll  hier  das  gegeben  werden,  was  Vorländer  ursprünglich  noch 
zu  leisten  vorhatte,  aber  dann  (cf.  Kantstudien  II,  205  f.)  nicht  mehr  aus- 
führte. Vorländers  Arbeit  setze  ich  insofern  voraus,  als  ich  die  von  ihm 
sicher  gestellten  Resultate  nicht  nochmals  begründe. 


288  J.  Cohn, 

für  den  Menschen  musste  Goethe  als  eine  wertvolle  Bundesge- 
nossenschaft erscheinen;  er  fand  seine  aus  Spinoza  und  aus  der 
Naturforschung  gewonnene  Überzeugung  hier  wieder.  Gern  hörte 
er,  der  gerade  in  jenen  Jahren  sich  so  einsam  fühlte,  aus  den 
Worten  des  grossen  Philosophen  das  P>ho  der  eigenen  Stimme 
heraus.  So  durfte  er  auch  die  Verbindung  der  Ästhetik  und  der 
Teleologie  in  einem  Werke  als  Rechtfertigung  seines  eigenen 
Strebens  empfinden.^)  Fühlte  er  sich  doch  gerade  in  jenen  Jahren 
ebenso  stark  als  Naturforscher  wie  als  Poet.  Von  einem  Einfluss, 
von  einer  Veränderung  in  Goethes  Denkweise  ist  dabei  nirgends 
die  Rede.  Das  wirklich  Neue  in  der  Kritik  der  teleologischen 
Urteilskraft  konnte  er  kaum  verstehen,  da  er  in  die  Gedanken  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft  nicht  tiefer  eingedrungen  war.  Auch  als 
er  in  den  nächsten  Jahren  im  Gespräch  mit  Kantianern  sich  über  die 
merkwürdige  Bewegung,  zu  unterrichten  suchte,  die  ganz  Deutsch- 
land ergriffen  hatte  und  in  Jena  ihren  zweiten  Mittelpunkt  fand, 
blieb  eine  Verständigung  unmöglich.  „Mehr  als  einmal  begegnete  es 
mir,  dass  einer  oder  der  andere  mit  lächelnder  Verwunderung  zu- 
gestand: es  sei  freilich  ein  Analogon  Kantischer  Vorstellungsart, 
aber  ein  seltsames."  '^) 

Es  entspricht  ganz  Goethes  Eigenart,  dass  nicht  Bücher  noch 
gleichgültige  Personen  tiefer  auf  ihn  wirkten,  sondern  dass  ein  in 
entscheidender  Stunde  ausgesprochenes  Wort  nötig  war,  um  seinen 
Geist  zu  beeinflussen.  Wichtiger  als  alles  Vorangehende  war  der 
grosse  Moment,  als  Schiller  und  Goethe  einander  zum  ersten  Male 
im  Gespräch  fanden.  Ein  glückliches  Ereignis  hat  Goethe  selbst 
jene  berühmte  Unterredung  genannt,  als  er  sie  im  Jahre  1817  zu- 
erst der  Öffentlichkeit  mitteilte.  Es  ist  ja  bezeichnend  für  ihn, 
dass  er  in  seinen  naturwissenschaftlichen  Schriften  immer  wieder 
auf  die  Geschichte  seiner  Studien  zurückkommt.     Auch  seine  For- 


1)  Campagne  in  Frankreich  25-10-1792.  W.  I,  33,  154, 15.  Ich  eitlere 
als  „W"  die  Weimarer  (Sophien)  Ausgabe  nach  Abteilung,  Band,  Seite, 
wo  nötig,  Zeile.  Die  Sprüche  in  Prosa  citiere  ich  nach  der  Hempelschen 
Ausgabe,  die  Loeper  besorgt  hat,  und  nach  Loepers  Numerierung  als  „8. 
i.  P.",  Gespräche  nach  Biedermann  (B.).  Ich  gebe  dabei  möglichst  Kapitel 
etc.  an,  damit  die  Stellen  auch  in  anderen  Ausgaben  gefunden  werden 
können. 

2)  „Einwirkung  der  neueren  Philosophie"  1819.  W.  II,  11,  51,  27. 
Der  Ausspruch  wird  ausdrücklich  auf  die  vor-schillersche  Zeit  bezogen. 
Allerdings  blieb  in  gewissem  Sinne  Goethes  „Analogon  Kantischer  Vor- 
stellungsart" immer  „ein  seltsames". 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  289 

schuug"en  sind  ihm  Erlebnisse.  Wenn  er  in  späteren  Jahren  kein 
Freundschaftsverhältnis  ohne  den  Hintergrund  g-enieinsamer  geistiger 
Interessen  knüpft  oder  aufrecht  erhält,  so  führt  ihn  umgekehrt 
doch  auch  jede  geistige  Förderung  zu  persönlicher  Anteilnahme 
fort.  So  ist  Schillers  Freundschaft  und  die  Kautische  Philosophie 
in  seinem  Geiste  zu  einer  Einheit  zusammengeschmolzen.  In  dem 
erwähnten  Aufsatze  ,.glückliches  Ereignis"  heisstes:  „Nach  diesem 
glücklichen  Beginnen  entwickelten  sich  in  Verfolg  eines  zehn- 
jährigen Umgangs  die  philosophischen  Anlagen,  inwiefern  sie  meine 
Natur  enthielt,  nach  und  nach."^)  Verwandte  Darstellungen 
kehren  oft  wieder;  überall  bezeichnet  Goethe  Schiller  als  den,  der 
ihn  zur  Philosophie  herangeführt  habe.  Aber  nicht  immer  wird 
diese  Vermittlung  als  „glückliches  Ereignis"  gepriesen.  Neben 
zahlreichen  Äusserungen  der  Dankbarkeit  2)  finden  sich  doch  auch 
Zeichen  des  Unwillens.  So  sagt  er  zu  S.  Boisseree  am  2.  August 
1815  „Was  möchte  daraus  geworden  sein,  wenn  ich  mit  wenigen 
Freunden  vor  30  Jahren  nach  Amerika  gegangen  wäre  und  von 
Kant  u.  s.  w.  nichts  gehört  hätte?  Was  hat  nicht  der  Winterl 
in  Pest  in  der  Chemie  geleistet,  weil  er  40  Jahre  lang  Lavoisier 
und  alle  neuen  Entdeckengen  und  Fortschritte  rein  bei  Seite  ge- 
lassen." 3)  Und  zu  Eckermann  äusserte  er  sich  am  14.  November 
1823  über  Schiller:  „Es  ist  betrübend,  wenn  man  sieht,  wie  ein 
so  ausserordentlich  begabter  Mensch  sich  mit  philosophischen 
Denkweisen  herumquälte,  die  ihm  nichts  helfen  konnten.  Hum- 
boldt hat  mir  Briefe  mitgebracht,  die  Schiller  in  der  unseligen 
Zeit  jener  Spekulationen  an  ihn  geschrieben."'*)  Ähnlich  über  den 
Einfluss  der  Philosophie  auf  Schillers  Anforderungen  an  seine  und 
Goethes  Dichtungen  zu  Eckermann  am  23.  März  1829  „Er  war  so 
wie  alle  Menschen,  die  von  der  Idee  ausgehen.  Auch  hatte  er 
keine  Ruhe  und  konnte  nie  fertig  werden,  wie  Sie  an  den  Briefen 
über    den  W'ilhelm    Meister    sehen,    den    er    bald  so,    bald  anders 


1)  W.  II,  11,  19,  4.  Die  Schildenmg-  des  Gesprächs  ist  von  Goethe 
in  die  „Annalen"  (1794)  übernommen  worden.  Dabei  blieb  aber  der  Schluss, 
der  mit  der  im  Texte  angeführten  Stelle  beginnt,  fort.  Dieser  ganze 
Schluss  (auch  das  hier  nicht  Citierte)  ist  sehr  bezeichnend  und  wichtig. 

-)  z.  B.:  Einwirkung  der  neueren  Philosophie  1819.  Gespräche  mit 
Cousin  10.  Oktober  1817.  B.  III,  290.  Mit  Eckermann  12.  Mai  1825.  B. 
V,  203;  mit  demselben  11.  April  1827.    B.  VI,  100  f. 

3)  B.  m,  185. 

*)  B.  IV,  318  f. 


290  J.  Colin, 

habeu  will.  Ich  hatte  mir  immer  zu  thun,  dass  ich  feststand  und 
seine  und  meine  Sachen  von  solchen  Einflüssen  freihielt  und 
schützte."  ') 

Diese  abwehrende  Tonart  findet  sich  zeitlich  mit  jener  aner- 
kennenden ganz  untermischt.  Goethe  hat  sein  Urteil  nicht  etwa 
gewandelt,  sondern  es  traten  wechselnd  zwei  stets  vorhandene 
Strömung-en  au  die  Oberfläche.  Während  die  Bereicherung  seiner 
Erkenntnis,  die  Möglichkeit  der  Verständigung  mit  hochgeschätzten 
Zeitgenossen,  die  grössere  Freiheit  und  Sicherheit  seiner  Anschau- 
ungen als  eiu  Gewinn  ihm  vor  Augen  standen,  fühlte  er  doch, 
dass  die  strenge,  trennende  Art  des  Kantischen  Denkens  eiu 
fremder  Tropfen  in  seinem  Blute  war.  Wohl  mochte  er  da  manch- 
mal bedauern,  dem  Wahlspruch  nicht  gefolgt  zu  seiu,  den  er  im 
Faust  einmal  den  Engeln  in  den  Mund  legt: 

„Was  euch  nicht  angehört. 
Müsset  ihr  meiden." 

Aber  freilich,  wie  zart  man  über  solche  geistigen  Dinge  reden 
muss,  wird  deutlich,  wenn  man  an  dieser  Stelle  auf  die  nächsten 
Verse  hinüberblickt.  Denn  wer  sich  in  diese  Verhältnisse  hinein- 
gefühlt hat,  wird  sich  scheuen,  in  Bezug  auf  Goethe  und  Kant- 
Schiller  —  sei  es  auch  mit  Einschränkungen  —  zu  sagen : 

„Was  euch  das  Innere  stört, 
Dürft  ihr  nicht  leiden." 

Goethe  hat  die  Einwirkung  erlitten  —  aber  eben  doch  nicht  er- 
litten, sondern  den  fremden  Stoff  sich  fruchtbar  umgestaltet. 

Was  Goethe  aufnahm,  das  verwandelte  er  in  ein  Stück  seines 
eigenen  Wesens.  Diese  produktive  Art  der  Benutzung  macht  den 
Nachweis  eines  Einflusses  besonders  schwierig  und  warnt  vor  jeder 
äusserlichen  Nebeneinanderstellung  einzelner  Aussprüche.  Freilich 
wird  es  nun  dadurch  auch  sehr  reizvoll,  zu  verfolgen,  wie  in 
Goethes  anschaulichem  Denken  die  philosophischen  Begriffe  gleich- 
sam Körper  gewinnen  und  zu  Wesen  von  Fleisch  und  Blut  werden. 
Goethes  eigene  Äusserungen  über  sein  Verhältnis  zur  Philosophie 
helfen  uns  hier  nicht  sehr  viel;  sie  geben  nur  allgemeinste  An- 
deutungen und  weisen  uns  doch  wieder  auf  die  schwierige  Prüfung 


')  B.  VII,  36  f.  —  Schon  in  der  Zeit  der  Beschäftigung-  mit  der 
Philosophie  schreibt  G.  (am  18.  März  1797)  an  Meyer:  „Denn  für  uns 
andere,  die  wir  doch  eigentlich  zu  Künstlern  geboren  sind,  bleiben  doch 
immer  die  Spekulation,  sowie  das  Studium  der  elementaren  Naturlehre, 
falsche  Tendenzen  .  ,  ." 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  291 

der  Gesamtmasse  von  Goethes  wissenschaftlichen  und  poetischen 
Schriften  zurück.  Diese  Prüfung  erg-iebt  zunächst  ein  äusseres 
Resultat,  das  als  wegweisend  hier  vorweg  genommen  sei.  Zwei 
Worte,  die  in  der  späteren  Zeit  in  Goethes  philosophischen  Be- 
trachtungen eine  herrschende  Stellung  einnehmen,  gewinnen  diese 
ihre  Bedeutung  erst  seit  dem  Umgänge  mit  Schiller.  Es  sind  die 
Termini  „Idee"  und  „Symbol",  in  die  sich  für  Goethe  die  wichtig- 
sten Probleme  gleichsam  konzentrieren,  i)  Schon  diese  äussere 
Thatsache  für  sich  ist  nicht  bedeutungslos.  Dem  Dichter  ist 
ein  Wort  mehr  als  eine  äussere  Bezeichnung  für  einen  fest  defi- 
nierten Begriff.  Wenn  in  der  strengen  Wissenschaft  der  Gedanke 
sich  von  der  Herrschaft  der  Sprache  befreien  und  die  Wörter  zur 
Geltung  willkürlicher  Merkzeichen  und  Rechenpfennige  herabsetzen 
will,  so  hat  der  Poet  das  Gefühl  der  Entweihung.  Für  ihn  lebt 
im  Worte  die  Geschichte  des  Menschengeistes,  ja  das  Wort  lebt 
eigentlich  selbst  und  gewinnt  magische  Kräfte.  Wohl  hat  Goethe, 
wo  er  forschend  und  denkend  sich  bemühte,  nach  Klarheit  ge- 
strebt und  die  trüben  Fluten  mystischer  Wortschwelgerei  von  sich 
abgewehrt;  aber  immer  blieb  ihm  ein  bedeutendes  Wort  ein  wich- 
tiger Gewinn.  Aus  dem  Worte  trank  der  blasse  Gedanke  Leben 
und  in  ihm  gewann  der  flüchtige  Dauer.  Dabei  schränkt  sich  die 
Bedeutung  eines  Wortes  wie  Idee  oder  Symbol  nicht  auf  ein  Ge- 
biet ein.  Idee  umfasst  zunächst  den  Inbegriff  dessen,  was  Goethe 
aus  Kants  Erkenntnistheorie  gewinnen  konnte.  Da  dieser  Gewinn 
wesentlich  dem  Naturforscher  Goethe  zu  gute  kam,  so  verbanden 
sich  die  erkenntnistheoretischeu  Gedanken  aufs  Innigste  mit  natur- 
philosophischen. Ferner  hat  Idee  schon  bei  Kant  einen  ethischen 
Inhalt,  der  für  Goethe  ebenfalls  wichtig  wird  und  ebenso  wie  der 
naturphilosophische  auf  das  ästhetische  und  religiöse  Gebiet  hin- 
überreicht. „Symbol"  ist  zuerst  ein  für  die  Ästhetik  bedeutsames 
Wort;  doch  gewinnt  es  auch  eine  Anwendung  auf  das  Natur- 
erkennen und,  wie  es  seine  tiefere  Bedeutung  vermutlich  der  Re- 
ligion verdankt,  wird  es  auch  von  Goethe  auf  rehgiöse  Verhält- 
nisse angewandt.  Schon  diese  zwei  Kernwörter  weisen  also  darauf 
hin,  dass  keines  der  Hauptgebiete  der  Philosophie  unberücksichtigt 
bleiben  darf.  Wir  werden  daher  nacheinander  Erkenntnistheorie, 
Ethik,  x\sthetik  und  Religionsphilosophie  zu  betrachten  haben. 

1)  Für  „Symbol"  werde  ich  das  später  aus  den  Quellen  beweisen,  für 
„Idee"  folgt  es  aus  der  Bedeutung  des  Wortes  und  aus  dem  erten  Ge- 
spräch mit  Schiller  unmittelbar. 


292  J.  Cohn, 


I. 

Es  ist  Goethe  oft  genug-  nacherzählt  worden,  wie  er  nach 
langer  Fremdheit  zum  ei'sten  Mal  sich  mit  Schiller  zusammenfand. 
Diese  berühmte  Unterredung  nach  einer  Sitzung  der  naturforscheu- 
den  Gesellschaft  in  Jena  im  Sommer  1794  war  nicht  nur  der 
Anfang  jener  einzig  dastehenden  B'reundschaft,  sondern  gab  Goethe 
zugleich  die  wichtigste  Anregung,  die  er  je  von  Kants  Erkenntnis- 
theorie empfing.  Beide  Dichter  fühlten  sich  gleichmässig  unbe- 
friedigt von  der  nur  empirischen  Behandlung  naturwissenschaft- 
licher Einzelheiten.  Im  Gegensatze  zu  dieser  Manier  entwickelte 
Goethe  an  dem  Beispiel  der  Pflauzenmetamorphose  die  Art,  wie  er 
in  jeder  einzelnen  Erscheinung  das  gesetzliche  Walten  der  Natur  zu 
erschauen  bestrebt  war.  Er  zeichnete  die  Urpflanze  hin,  über- 
zeugt, eine  unmittelbare  Erfahrung  mitzuteilen.  „Das  ist  keine 
Erfahrung,  das  ist  eine  Idee,"  war  Schillers  berühmte  Antwort. 
Schiller  „als  gebildeter  Kantianer"  meinte  damit:  es  ist  eine  zu- 
gleich notwendige  und  unlösbare  Aufgabe.  Goethe  fühlte  sich  zu- 
nächst abgestossen.  Die  Gemeinsamkeit  beider  Geister  schien  nur 
in  der  Ablehnung  geistloser  Behandlung  zu  bestehen;  sobald  man 
positiv  seine  Meinung  zu  entwickeln  suchte,  öffnete  sich  von  neuem 
eine  Kluft  zwischen  ihren  Denkweisen.  Und  doch  überschätzte 
Goethe  das  Trennende;  in  Wahrheit  zielte  auch  sein  Streben  auf 
geistige  Beherrschung  der  Natur,  obwohl  er  vorläufig  noch  wähnte, 
in  der  Arbeit  seines  Geistes  eine  unmittelbare  Erfahrung  der 
Gottnatur  passiv  zu  empfangen.  Jenes  Wort  Schillers,  das  bei 
einer  so  bedeutenden  Gelegenheit  gefallen  war,  zwang  Goethe, 
über  die  wahre  Bedeutung  seines  Forschens  nachzudenken.  Er 
eignete  sich  die  Bezeichnung  „Idee"  für  seine  Urpflanze  an^)  und 
als  er  am  13.  Juni  1797  eine  Sammlung  von  Steinen  an  Schiller 
schickte,  begleitete  er  das  Geschenk  mit  den  Versen: 

Von  vielen  Steinen  sendet  dir 
Der  Freund  ein  Musterstück. 
Ideen  giebst  du  bald  dafür 
Ihm  tausendfach  zurück. 

In  den  beiden  ersten  Monaten  des  Jahres  1798  ist  der  Briefwechsel 
voll  von  Untersuchungen  über  die  Methode  der  Naturforschung. 
In  dieser  Diskussion    bildeten   sich  Goethes  Überzeugungen  heran. 


1)  An  Schiller  22.  Juni  1796. 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschaiuing.  293 

und  wir  müssen  daher  näher  auf  sie  zurückkommen.  Da  aber 
Schiller  hier  der  Gebende  war,  so  muss  eine  Übersicht  dessen, 
was  er  zu  g-eben  hatte,  voranstehen. 

Schiller  hat  die  Ästhetik  durch  seine  Arbeiten  begründen 
helfen,  in  der  Kthik  hat  er  eigene  Ansichten  entwickelt;  in  der 
Erkenntnistheorie  aber  verhielt  er  sich  nur  empfangend.  Kant  er- 
löste ihn  aus  einem  unsicheren  Schwanken  zwischen  phantastischer 
Schwärmerei  und  skeptischer  Verzweiflung-.  Als  jugendlicher 
Künstler  fühlte  sich  Schiller  in  liebender  Entzückung-  eins  mit  der 
Welt,  die  er  als  eine  grosse  Geistesharmonie  träumte.  Aber  als 
Mediziner  war  er  auf  die  Abhäng-igkeit  unserer  geistigen  Zustände 
von  den  körperlichen  aufmerksam  g-eworden ;  diese  Studien  stärkten 
den  eindringenden,  ja  zersetzenden  Verstand,  der  doch  auch  in  ihm 
angelegt  war.  Der  g-rosse  Satiriker  Schiller  richtete  in  nüchternen 
Stunden  die  Schärfe  seines  Geistes  g-egen  die  Geburten  seiner 
eig-enen  Schwärmerei.  Aus  solcher  Mischung  hätte  eine  Ironie 
entstehen  können,  die  der  romantischen  verwandt  war.  Der 
Dichter  des  Geistersehers  und  der  Resignation  näherte  sich  hier 
und  da  dieser  Haltung-;  aber  das  Erz  seiner  Natur,  die  sittliche 
Energ-ie  seines  Charakters  überwand  den  Kraukheitsstoff  unter  der 
Mithilfe  der  grossen  Gedanken  Kants.  Die  Grundgedanken  der  Kritik 
der  reinen  Vernunft  räumten  mit  der  Schwärmerei  auf.  Was  Schiller 
in  glücklichen  Stunden  zu  erfassen  glaubte,  war,  das  sah  er  nun  ein, 
keine  Wirklichkeit,  sondern  ein  Erzeugnis  seines  Geistes.  In  diesen 
Schwärmereien  überflog  der  Geist  die  ihm  gesetzten  Schranken, 
er  musste  kritisch  zurechtgewiesen  werden  und  erkennen  lernen, 
dass  er  seiner  Subjektivität  nicht  entrinnen  kann,  dass  seine 
höchsten  Ahnungen  nur  Idee  sind.  Aber  in  der  Idee  durfte  der 
Geist  den  notwendigen  Abschluss  des  eigenen  Thuns  ahnen.  Nach 
Kants  Lehre  ist  Erkennen  ja  niemals  passive  iVuf nähme  eines  Ge- 
gebenen, sondern  überall  eine  That  des  Geistes,  ein  grenzenloses 
Streben  nach  einem  Ziele,  das  unerreichbar  aus  der  Ferne  winkt 
und  trotz  dieser  Unerreichkarkeit  dem  Streben  Wert  und  Richtung 
giebt.  So  vereinen  sich  in  dem  Worte  Idee  drei  Hauptgedanken 
Kants :  Die  Subjektivität  alles  Erkennens,  die  Spontaneität  des 
erkennenden  Geistes  und  die  Unerreichbarkeit  des  Erkenntniszieles. 
Diese  drei  Grundgedanken  hat  sich  Schiller  angeeignet,  um  die 
übrigen  Bestandteile  der  Erkenntnistheorie  hat  er  sich  kaum  be- 
kümmert. Nachdem  er  sich  von  der  Philosophie  zum  künstlerischen 
Schaffen  zurückgewendet  hatte,  verblasste  vielleicht  unter  dem  Eiuf luss 


294  J.  Cohn, 

Schellings  die  antimetaphysische  Färbung-  ein  wenig-,')  sonst  aber 
hielt  Schiller  an  diesen  Grundg-edanken  fest.  Vollg-ültiges  Zeugnis 
dafür  legt  der  Brief  ab,  den  er  einen  Monat  vor  seinem  Tode'«*) 
an  Wilhelm  von  Humboldt  schrieb  und  in  dem  es  heisst:  .,Die 
spekulative  Philosophie,  wenn  sie  mich  je  gehabt  hat,  hat  mich 
durch  ihre  hohle  Formeln  verscheucht,  ich  habe  auf  diesem  kahlen 
Gefild  keine  lebendige  Quelle  und  keine  Nahrung  für  mich  ge- 
funden ;  aber  die  tiefen  Grundideen  der  Idealphilosophie  bleiben 
ein  ewiger  Schatz  und  schon  allein  um  ihretwillen  muss  man  sich 
glücklich  preisen,  in  dieser  Zeit  gelebt  zu  haben."  Diesen  Grund- 
ideen hat  Schiller  in  demselben  Briefe  eine  Form  verliehen,  die 
freilich  lebendiger  ist  als  die  abstrakten  Formeln  der  Schulen,  er 
sagt  von  sich  und  Humboldt :  „und  am  Ende  sind  wir  doch  beide 
Idealisten  und  würden  uns  schämen,  uns  nachsagen  zu  lassen, 
dass  die  Dinge  uns  formen  und  nicht  wir  die  Dinge." 

An  die  Subjektivität  des  Erkennens,  die  Spontaneität  des 
Geistes  und  die  Unerreichbarkeit  des  Zieles  dachte  also  Schiller 
gleichmässig  bei  dem  Worte  Idee.  Alle  diese  verschiedenen  Ge- 
danken erregten  in  Goethes  Geist  harmonische  Mitschwingungen, 
keiner  wurde  unverändert  aufgenommen.  Goethe  war  noch  viel 
weniger  als  Schiller  Erkenntnistheoretiker,  vieloiehr  begehrte  er 
als  Naturforscher  von  der  Kritik  der  Erkenntnisvermögen  lediglich 
Aufklärung  über  seine  eigenen  Ziele.  Dabei  blieb  ihm  verborgen, 
dass  Kants  Naturbegriff,  ebenso  übrigens  wie  der  Spinozas,  von 
der  mechanistischen  Naturwissenschaft  hergenommen  war,  die 
Goethes  lebendiger  Anschauung  so  entschieden  widerstrebte.  Auch 
Schiller  konnte  ja  bei  seiner  ganzen  luteressenrichtung  kaum  da- 
rauf aufmerksam  werden,  dass  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  die 
logische  Rechtfertigung  von  Newtons  Naturforschung  enthielt.  So 
kam  Goethe  der  entschiedenste  Gegensatz,  der  zwischen  ihm  und 
Kant  besteht,  niemals  zum  Bewusstsein.  Man  muss  sich  das 
immer  gegenwärtig  halten,  wenn  mau  Goethes  Abhandlungen  und 
Aphorismen  über  das  Erkennen  verstehen  will. 

Keinem  Beobachter  der  Natur  können  die  Störungen  ver- 
borgen bleiben,  die  durch  wechselnde  Stimmungen  und  dauernde 
Eigentümlichkeiten     des     beobachtenden     Subjekts     hervorgerufen 


1)  Dies  beweist  die  „Vorerinnerung  zur  Braut  von  Messina"  („Über 
den  Gebrauch  des  Chors  in  der  Tragödie")  cf.  Karl  Tomaschek :  Schiller 
in  seinem  Verhältnis  zur  Wissenschaft.     Wien  1862.     S.  423  ff. 

'-i)  Am  2.  April  1805. 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  295 

werden.  Wer  wissenschaftliche  Theorien  gegen  einander  abwägt 
lind  die  Art  ihrer  Verteidigung-  studiert,  wird  bemerken,  dass  Vor- 
liebe und  Abneigung  auch  hier  häufig  an  Stelle  der  Gründe  treten. 
Diesen  Einfluss  der  Individualität  auf  die  Denkweise  hatte  Spinoza 
in  seiner  Art  abgeleitet,  und  Goethe  spann  den  Faden  weiter,  noch 
ehe  er  sich  mit  Kant  beschäftigte.  In  dem  Aufsatze,  den  er  Frau 
von  Stein  diktierte  und  den  man  neuerdings  als  „Studie  über 
Spinoza"  bezeichnet  hat,  heisst  es:^)  ,.Wir  müssen  also  alle 
Existenz  und  Vollkommenheit  in  unsere  Seele  dergestalt  be- 
schränken, dass  sie  unserer  Natur  und  unserer  Art  zu  denken  und 
zu  empfinden  angemessen  werden;  dann  sagen  wir  erst,  dass  wir 
eine  Sache  begreifen  oder  geniessen."  Schon  die  ersten  Kant- 
studien regten  ihn  dann  dazu  an,  das  Verhältnis  von  Objekt  und 
Subjekt  in  der  Forschung  genauer  zu  betrachten.  Im  Jahre  1792 
schrieb  er  den  erst  1823  gedruckten  Aufsatz:  „Der  Versuch  als 
Vermittler  von  Objekt  und  Subjekt."  ^j  Ganz  seiner  aufs  Positive 
gerichteten  Natur  gemäss,  verweilt  Goethe  nicht  bei  den  Mängeln 
des  einzelnen,  sondern  fragt,  wie  sie  gehoben  oder  doch  gemindeit 
werden  können.  Das  Mittel  dazu  sieht  er  im  Zusammenarbeiten 
mit  Anderen.  Er  betont  dabei  den  Gegensatz  zwischen  Wissen- 
schaft und  Kunst:  der  Künstler  thue  wohl,  erst  das  vollendete 
Werk  fremdem  Urteil  preiszugeben,  der  Forscher  solle  jede  einzelne 
Erfahrung  und  Vermutung  öffertlich  mitteilen.  Denn  isolierte 
Versuche  werden  leicht  als  blosse  „Argumente"  willkürlich  ver- 
wendet und  führen  in  die  Irre.  Erst,  wenn  man  die  Versuche 
vermannigfacht  und  die  ganze  Reihe  der  Phänomene  in  ihrer 
natürlichen  Ordnung  überblickt,  folgert  man  mit  Zusammenhang 
das  Nächste  aus  dem  Nächsten.  Es  bedarf  dann  mehr  der  „Dar- 
legung" als  des  Beweises.  Der  ganze  Aufsatz  bleibt  der  wissen- 
schaftlichen Praxis   sehr  nahe.»)     Eine  mehr  theoretische  Fassung 


1)  W.  n,  11,  317,  Ifi.  Das  Fragment  wird  von  Steiner  und  Suphan 
(in  W.)  den  Jahren  1784/5  zugewiesen.  F.  Brass,  Goethe-Jahrbuch  18, 174, 
g'laubt  nachweisen  zu  können,  dass  «Herders :  „Gott",  den  Goethe  am 
28.  Auo^ust  1787  in  Italien  erliielt,  in  der  Studie  nachklingt,  dass  also  deren 
Abfassung  später  (1787— 89)  anzusetzen  sei.  Die  Differenz  der  Datierungen 
ist  für  unseren  Zusammenliang  unwesentlich,  da  die  Studie  jedenfalls  vor 
G.s  Beschäftigung  mit  Kant  entstanden  ist. 

2)  W.  11,  11,  21.     Über  die  Datierung  W.  U,  11,  331. 

3)  Ziemlich  am  Beginn  sagt  Goethe,  man  werde  „den  Seelenkräften, 
in  welchen  diese  Erfahrungen  aufgefasst,  zusammengenommen,  geordnet 
und  ausgebildet  werden,  ihre  hohe  und  gleichsam  schöpferisch  unabhängige 


296  J.  Colin, 

g-ewinneii  die  Gedanken  erst  durch  die  Einwirkung-  Schillers.  Ihm 
näiiilich  schickte  üoethe  unseren  Aufsatz  am  10.  Januar  1798. 
Die  Erörterungen,  die  sich  im  Briefwechsel  daran  schliessen,  sind 
so  wichtig-  und  g-erade  in  ihrem  Fortschritte  so  interessant,  dass 
es  nötig  wird,  hier  ausnahmsweise  eine  chronologische  Darstellung 
einzuflechten.  Schiller  geht  in  dem  Briefe  vom  12.  Januar  auf 
den  Aufsatz  ein,  er  fordert,  dass  man  das  treue  Auffassen  des 
Objektes  und  die  Freiheit  des  Kombinatiousvermögens  gleichmässig 
begünstige,  dabei  aber  beide  kritisch  in  dem  Sinne  auseinander- 
halte, „dass  die  vorstellende  Kraft  auch  nur  in  ihrer  eigenen  Welt 
und  nie  in  dem  Faktum  etwas  zu  konstituieren  suche."  Er  ver- 
langt also  die  Anerkennung  und  zugleich  die  kritische  Einschrän- 
kung des  Verstandes  gegenüber  der  Anschauung.  Ist  schon  bei 
ihm  der  Ausdruck  konkreter,  als  ein  strenger  Kantianer  billigen 
möchte,  so  übersetzt  Goethe  sich  diese  Anregung  ganz  ins  Kon- 
krete. Seine  Vorliebe  für  Entwickeluugsreihen  führt  ihn  zu  einer 
genetischen  Konstruktion,  die  er  in  einem  jetzt  unter  dem  Titel 
„Erfahrung  und  Wissenschaft"  veröffentlichten^)  Aufsatz  nieder- 
legt und  Schiller  einsendet.  Er  unterscheidet  hier  drei  Stufen  der 
Forschung:  Das  empirische  Phänomen  wird  durch  Versuche  zum 
wissenschaftlichen  Phänomen  erhoben.  Aber  diese  verstandes- 
mässige  Bearbeitung  ist  nicht  das  Letzte,  vielmehr  müssen  schliess- 
lich die  Resultate  aller  Erfahrungen  im  „reinen  Phänomen"  dar- 
gestellt w^erden.  Man  sieht,  für  Goethe  ist  der  Verstand  ein 
Mittel,  von  den  zerstreuten  Einzelheiten  der  Erfahrung  zur  reinen 
Anschauung  vorzudringen,  während  die  Anschauung  Ziel  aller 
Forschung  bleibt.  In  dieser  besseren  Würdigung  des  Verstandes 
und  in  der  schärferen  Bezeichnung  der  3  Stufen  liegt  der  Haupt- 
fortschritt gegen  den  ersten  Aufsatz.  Schiller  erfasst  diese  Ab- 
sicht und  konstruiert  sie  nach  dem  Schema  der  Kantischen  Philo- 
sophie.2)  Er  ordnet  der  Stufenfolge  der  Resultate,  die  Goethe 
entworfen  hatte,  drei  Stufen  der  Erkenntnisart  zu  und  bezeichnet 
sie  als  gemeinen  Empirism,  Rationalism  und  rationellen  Empirism. 
Die  wesentlichen  Eigentümlichkeiten  dieser  drei  Stufen  konstruiert 


Kraft"  nicht  absprechen.  Aber  diese  Stelle  bleibt  in  einen  Nebensatz  ge- 
bannt und  ohne  Einfluss  auf  das  Folgende.  —  Dass  der  Aufsatz  zugleich 
eine  Darlegung  der  Goetheschen,  im  Gegensatz  zur  Newtonschen  Methode 
in  der  Farbenlehre  enthält,  gehört  nicht  hierher. 

1)  W.  II,  11,  38-41. 

2)  Brief  vom  19.  Januar  1798. 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  297 

er  nach  Kauts  Kateg-orientafel,  indem  er  die  drei  Kategorien  jeder 
Gruppe  in  aufsteigender  Ordnung  auf  die  drei  Stufen  verteilt  und 
so  einen  an  Fichte  erinnernden  Fortschritt  von  Thesis,  Antithesis 
und  Synthesis  erhält,  ^j  Für  eine  Geschichtskonstruktion  nach 
dieser  Methode  war  Goethe  damals,  da  er  sich  mit  der  Geschichte 
der  Farbenlehre  beschäftigte,  nicht  unempfänglich.  Selten  wohl 
stand  er  der  spekulativen  Philosophie  so  nahe,  wie  am  24.  Januar 
1798,  als  er  an  Schiller  schrieb:  „Wenn  man  die  Reihe  von 
geistigen  Begebenheiten,  woraus  doch  eigentlich  die  Geschichte  der 
Wissenschaften  besteht,  so  vor  Augen  sieht,  so  lacht  man  nicht 
mehr  über  den  Einfall,  eine  Geschichte  a  priori  zu  schreiben. 
Denn  es  entwickelt  sich  wirklich  alles  aus  den  vor-  und  rück- 
schreitenden Eigenschaften  des  menschlichen  Geistes,  aus  der 
strebenden  und  sich  selbst  wieder  retardierenden  Natur."  Während 
dies  eine  vorübergehende  Anwandlung  bleibt,  beschäftigt  sich 
Goethe  weiter  mit  Schillers  Anforderungen  an  die  rationelle  Em- 
pirie, wie. er  dem  Freunde  am  21.  Februar  mitteilt.  Schiller  ant- 
wortet am  23,:  „Bei  der  Art,  wie  Sie  jetzt  Ihre  Arbeiten  treiben, 
haben  Sie  immer  den  schönen,  doppelten  Gewinn,  erstlich  die 
Einsicht  in  den  Gegenstand  und  dann  zweitens  die  Einsicht  in 
die  Operationen  des  Geistes,  gleichsam  eine  Philosophie  des  Ge- 
schäfts, und  das  letzte  ist  fast  der  grössere  Gewinn,  weil  eine 
Kenntnis  der  Geistes  «'erkzeuge  und  eine  deutliche  Erkenntnis  der 
Methode  den  Menschen  schon  gewissermassen  zum  Herrn  über  alle 
Gegenstände  macht."  Einen  Abschluss  dieser  ganzen  Diskussion 
giebt  Goethes  Brief,  der  am  21.  Februar  begonnen,  aber  erst  am 
25.  beendet  und  abgeschickt  wurde.  In  gewissem  Sinne  kommt 
Goethe  hier  auf  seine  ersten  Erwägungen  über  die  Abhilfe  der 
subjektiven  Mängel  zurück,  aber  sie  sind  jetzt  vertieft  und  prin- 
zipieller gefasst.  Goethe  fordert,  dass  der  rationelle  Empirismus 
kritisch  sei,  d.  h.  verschiedene  Vorstellungsweisen  neben  einander 
gelten  lasse.  Alle  Ideen,  die  man  aus  dem  Eeiche  des  Denkens 
iu  das  Erfahrungsreich  hinüberbringe,  passen  nur  auf  einen  Teil 
der  Phänomene:  „Und  ich  möchte  sagen,  die  Natur  ist  deswegen 
unergründlich,  weil  sie  nicht  Ein  Mensch  begreifen  kann,  obgleich 
die   ganze  Menschheit   sie    wohl  begreifen  könnte.     Weil  aber  die 


1)  Die  Konstruktion  nach  der  Kategorientafel  hat  Goethe  auf  die 
Farbenlehre  angewandt  (Brief  an  Seh,  vom  14.  Februar  1798).  Schillers 
ablehnende  Kritik  dieses  Versuchs  (16.  Febr.  98)  scheint  Goetlie  für  immer 
von  solchen  äusserlichen  Anlehnungen  abgeschreckt  zu  haben. 

Eantatudien  X,  20 


Ö98  J.  Cohn, 

liebe  Menschheit  niemals  beisammen  ist,  so  hat  die  Natur  gut 
Spiel,  sich  vor  unsern  Augen  zu  verstecken."  Dieser  Gedanke 
„frappierte"  Schiller.  ^)  Es  ist  in  der  That  höchst  bezeichnend 
für  Goethes  Denkart,  welche  Form  hier  schliesslich  die  Kautischen 
Anregungen  annehmen.  Unter  der  Subjektivität  des  Erkenuens 
versteht  Goethe  dauernd  den  Einfluss  des  konkreten,  individuellen 
Subjekts.  Den  Ausgleich  der  Störungen,  die  diese  Individualität 
hervorruft,  sieht  er  in  der  Menschheit.  Dieser  konkrete  Inbegriff 
aller  menschlichen  Kräfte  nimmt  bei  ihm  die  Stelle  ein,  die  der 
strenge  Philosoph  dem  abstrakten  Zielbegriff  des  Bewusstseius 
überhaupt,  des  überiudividuellen  Bewusstseius  giebt.  An  diesen 
Gedanken  hat  Goethe  ebenso  festgehalten,  wie  an  der  Forderung 
der  Toleranz,  die  das  praktische  Resultat  der  Subjektivität  des 
Erkenuens  ist.  Indem  wir  in  den  vermeintlich  rein  objektiven 
Erkenntnissen  den  Anteil  des  Subjektes  abschätzen,  lernen  wir 
auch  gegen  fremde  Vorstellungsarten  gerecht  werden.  Goethe  hat 
diese  Toleranz  gegen  Newtons  Farbenlehre  allerdings  nicht  zu 
üben  vermocht,  sonst  aber  sie  überall  wenigstens  erstrebt,  wie 
besonders  aus  seinen  geologischen  Arbeiten  erhellt.  Hier  bemüht 
sich  Goethe  wiederholt,  dem  ihm  aufs  tiefste  widerstrebenden 
Plutonismus  eine  positive  Seite  abzugewinnen.'-^)  Dass  ich  dabei 
nicht  willkürlich  Kants  Einfluss  vermute,  beweist  eiu  Ausspruch 
Goethes  in  der  Unterredung  mit  Victor  Cousin  am  20.  Oktober 
1817:  „la  methode  de  Kant  est  un  principe  d'humanite  et  de 
tolerance."3) 


1)  Brief  vom  27.  Februar  1798.  Das  ethische  Analogon  dieses  Ge- 
dankens hatte  Goethe  übrigens  schon  früher  in  den  Lehrjahren  8.  Buch, 
5.  Kap.  ausgesprochen,  wo  es  in  der  7Aveiten  Hälfte  des  Lehrbriefs  heisst: 
„Nur  alle  Menschen  machen  die  Menschheit  aus,  nur  alle  Kräfte  zusammen- 
genommen die  Welt." 

2)  Vgl.  z.  B.:  „Wunderbares  Ereignis"  W.  II,  10,  171.  —  Dieser  Auf- 
satz ist  Einleitung  zu  der  Anzeige  von  A.  v.  Humboldts  Schrift  über  die 
Vulkane,  W.  II,  9,  299.  Aus  Gründen,  die  mir  nicht  begreiflich  sind,  hat 
Steiner  in  W.  die  Einleitung  von  der  Anzeige  getrennt.  Dies  ist  ein  be- 
sonders krasses  Beispiel  der  in  W.  II  leider  beliebten  Anordnung,  die 
Goethe  zu  Gunsten  eines  von  Steiner  in  ihn  hineingelegten  Systems  ver- 
gewaltigt. —  Ferner:  Verschiedene  Bekenntnisse,  W.  II,  9,  259.  —  Dazu 
noch  „Vorschlag  zur  Güte",  1817,  W.  II,  11,  65  —  wo  Freiheit  für  alle 
Arten  menschlicher  Geisteskräfte  in  der  Naturforschung  gefordert  wird. 

3)  B.  ni,  290. 


Das  Kantische  Element  in  Goetlies  Weltanschauung.  299 

Toleranz  ist  in  Goethes  Sinn  kein  letztes  Ziel,  sie  soll  zur 
positiven  Anerkennung  jedes  Verdienstes  führen.  ^)  Wenn  wir  das 
Resultat  der  dargestellten  Diskussion  mit  Schiller  betrachten,  so 
fällt  vielleicht  am  deutlichsten  ins  Auge,  dass  der  Anteil  des 
Subjektes  und  der  individuell  verschiedenen  subjektiven  Anlagen  an 
der  Erkenntnis  nicht  mehr  als  blosse  Trübung  des  Objekts  ange- 
sehen wird,  sondern  als  fördernde  Kraft.  In  der  Stufenfolge  des  Er- 
kenntnisfortschrittes erhält  der  Rationalismus  sein  Recht,  wenn  auch 
nur  das  Recht  eines  Momentes,  einer  notwendigen  Durchgangsstufe. 
Damit  wird  in  der  Subjektivität  die  Spontaneität  des  Geistes  anerkannt. 
Aber  auch  hier  nimmt  Goethe  nicht  etwa  die  Kantischen  Gedanken 
rein  auf,  sondern  er  verwandelt  sie  in  konkrete  Vorstellungen. 
Für  Kant  liegt  die  Aktivität  des  Geistes  in  der  kategorialen  Form 
jedes  Denkaktes,  für  Goethe  in  dem  lebendigen  Thun  des  Forschers. 
Goethe  wird  nicht  müde,  zu  wiederholen,  dass  in  der  Naturforschung 
sich  nichts  aus  passiver  Überlieferung  aufnehmen  lasse,  sondern 
dass  alles  durch  eigene  Mitarbeit  gewonnen  werden  müsse.  „Auch 
in  Wissenschaften  kann  man  eigentlich  nichts  wissen;  es  will 
immer  gethan  sein."^)  Soll  dieses  Thun  zielbewusst  sein,  so  muss 
es  seine  Instrumente  kennen,  daher  fordert  Goethe  eine  Kritik  der 
Sinne  und  des  Menschenverstandes. 3)  Jede  Kraft  soll  ihre  Leistungs- 
fähigkeit und  ihre  Grenzen  kennen.  Als  eine  solche  Kraft  sieht 
Goethe  nun  vor  allem  seine  eigene  Natur  an.  Sein  ganzes  inneres 
Wirken  bezeichnet  er  einmal  als  eine  Heuristik,*)  d.  h.  als  ein 
Mittel,  Wahrheiten  zu  finden.  Die  Erkenntnis  seiner  eigenen 
wissenschaftlichen  Begabung  wird  ihm  Aufgabe.  Wohl  hat  Goethe 
einmal  gesagt:  „Ich  habe  nie  über  das  Denken  gedacht."  °)  Das 
trifft  zu,  wenn  man  dabei  an  abstrakte  erkenntuistheoretische 
Analyse  denkt.  Dagegen  hat  sich  Goethe  in  immer  wiederholten 
Versuchen  um  Klarheit  über  die  Eigenart  seiner  Erkenntnisweise, 
seiner  persönlichen  erkennenden  Kräfte  bemüht.  Freilich  diese 
Selbsterkenntnis  erlangte  er  nicht  durch  grübelnde  Vertiefung  in 
das  eigene  Ich,  sondern  durch  Betrachtung  seiner  Forschungsergeb- 


1)  S.  i.  P.  575. 

2)  S.  i.  P.  1052.  Als  Ergänzung  vergleiche  man  die  Purkinje-Recen- 
sion  (1821),  wo  W.  II,  11,271,18  gefordert  wird,  man  solle  das  Produktive 
mit  dem  Historischen  verbinden. 

3)  S.  i.  P.  634,  760.     Mit  Eckermann  17.  Februar  1829.     B.  VII,  20. 

4)  S.  i.  P.  287. 

5)  Zahme  Xenien  VH,  W.  I,  5.  1,  92. 

20* 


300  J.  Colin, 

nisse    und    des    Eindrucks,    den    sein   Geist    auf  Andere    machte. 
Goethe    gelaugte  dazu,    einzusehen,    welche  Rolle  der  Verstand  in 
dem  spielt,    was    er    ursprünglich  fih-  reine  Anschauung  zu  halten 
geneigt    war;    auch    der   sondernden  und  begrifflich  abgrenzenden 
Thätigkeit    suchte    er    gerecht    zu    werden,    aber    im  Grunde   war 
nicht  Scheiden  und  Trennen  seine  Sache,   sondern  Zusammensehen 
und  Ordnen.      Kr    verwandelt    die  anschaulichen  Phänomene  nicht 
in  Begriffe,    sondern    ordnet    sie    nach    innerer  Verwandtschaft  in 
stetige  Reihen,  so  dass  sich  die  komplizierteren  aus  den  einfachsten 
entwickeln.     Die    richtige  Erfassung    der    letzten,    nicht  mehr  auf 
andere  zurückzuführenden  Urphänomene  bleibt  dabei  die  Hauptsache. 
Denn    in    diesen  Urphänomenen   hat  Goethe  eine  anschauliche  Er- 
kenntnis   der   Naturgesetzlichkeit.     Das    Naturgesetz   ist  ihm  kein 
abstrakter  Satz,  keine  mathematische  Formel,  sondern  eine  typische 
Anschauung,  deren  Analogie  ganze  Gruppen  anderer  Erscheinungen 
verständUch  macht.    So  sind  die  farbigen  Erscheinungen  bei  trüben 
Medien    die  Urphänomene    der  Farbe,    so  ist  der  Magnet,    in  dem 
das  Gesetz  der  Polarität    zur  einfachsten  Anschauung  kommt,    ein 
Urphänomen  von  allgemeinster  Bedeutung.     Ein  Geist,    der    solche 
Resultate  erstrebt,  braucht  eine  eigentümliche,  vom  Denken  durch- 
drungene   Anschauung.      „Exakte    sinnliche    Phantasie,"     schreibt 
Goethe  einmal  dem  Künstler  zu,  i)  sie  ist  auch  die  Naturgabe  des 
künstlerischen  Forschers.     Kant  hatte  den  „intellectus  archetypus" 
durch  eine  anschauende  Urteilskraft  charakterisiert.    Was  hier  von 
einem    Idealbegriff    ausgesagt  war,    möchte  Goethe  auf  sich  selbst 
zu    beziehen    wagen.  2)     Wir  werden    dabei  an  ScheUings  intellek- 
tuelle Anschauung    erinnert  und  denken  zugleich  daran,    dass  Spi- 
nozas intuitive  Erkenntnis  Goethe  von   jeher  eine  besonders  sym- 
pathische Lehre  war.     Auch   Heinroths  Bezeichnung  „Gegenständ- 
liches   Denken"    eignet    sich    Goethe    in    demselben    Sinne    an.  3) 
Wieweit   auch   solche    Bemühung    um    Erkenntnis    seines    eigenen 
Geistes    von  Kants  Gedanken    abliegt,    immer   verdankt  es  Goethe 
der   durch  Schiller    vermittelten    Anregung   Kants,    dass    er  über- 


1)  Recension  von  Stiedenroths  Psychologie  —  1824  —  W.  II,  11,  75,  21. 

2)  Anschauende  Urteilskraft  1819.  W.  II,  11,  54  f.  Goethe  glaubt, 
Kant  Selbst  habe  hier  „ironisch"  eine  Anwendung  auf  den  Menschen  nahe 
gelegt.  Die  kommentierte  Stelle  steht  Kritik  der  Urteilskraft  §  77.  ed. 
Kehrbach  295  f. 

3]  Bedeutende  Fordernis  durcli  ein  einziges  geistreiches  Wort.  W. 
II,  11,  58. 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  301 

haiipt  den  Eigenthätig'keiten  seines  Geistes  seine  Aufmerksamkeit 
zuwendete  und  in  seiner  realistischen  Art  die  Abhängigkeit  alles 
Erkannten  von  der  Thätigkeit  des  Erkennens  zugab  und  würdigte. 
Das  Ziel  dieser  Thätigkeit  bestimmte  Goethe  einmal  ganz 
subjektivistisch  dahin,  die  Welt  kopfrecht  zu  haben,  wie  die 
praktischen  Menschen  sie  handrecht  machen  wollen.  ^)  Aber  diese 
Stelle  bleibt  vereinzelt;  gewöhnlich  tritt  für  das  Ziel  des  Er- 
kennens der  Terminus  „Idee"  ein.  In  diesem  Worte  ist,  wie 
schon  gezeigt  wurde,  angedeutet,  dass  in  die  Resultate  des  Er- 
kennens die  Eigenart  des  Subjekts  als  schaffende  Thätigkeit  ein- 
geht. Aber  der  Inhalt  dieses  vielsagenden  Wortes  ist  damit  nicht 
erschöpft.  Goethe  unterscheidet  Idee  und  Begriff:  „Begriff  ist 
Summe,  Idee  Resultat  der  Erfahrung. •'"'ä)  Der  Begriff  etwa 
einer  Tier-  oder  Pflanzenart  fasst  einfach  zusammen,  was  in  einer 
Anzahl  einzelner  Erfahrungen  immer  wiederkehrt.  Die  Idee  zieht 
die  allwalteude  Gesetzlichkeit,  die  in  ewig  wechselnden  Formen 
doch  aller  Erfahrung  zu  Grunde  liegt,  als  Resultat  aus  der  Ge- 
samtheit der  Erfahrung  heraus.  Die  Urpflanze  ist  nicht  durch 
Summation,  durch  blosse  Vergleichung  zu  gewinnen.  Man  schaut 
sie  au,  wenn  man  die  ganze  Mannigfaltigkeit  pflanzlicher  Bil- 
dungen auf  einen  Typus  zurückführt.  Diese  anschauliche  Gesetz- 
lichkeit der  Natur  ist  im  Grunde  überall  ein  und  dieselbe;  aber 
ihre  Einheit  vermögen  wir  als  solche  mehr  zu  ahnen  als  zu  er- 
kennen. Zugänglicher  sind  uns  ihre  Erscheinungsweisen,  die  wir 
als  Mehrheit  von  Ideen,  als  Urphänomene  uns  verdeutlichen.  Auf 
diese  Weise  erhält  das  Wort  Idee  zwei  Bedeutungen,  eine  strengere 
und  eine  laxere.  Nur  im  lässlichen  Sinne  des  Wortes  kann  etwa 
die  Urpflanze  eine  Idee  heissen;  von  der  Idee  im  strengen  Sinne 
gilt  der  Spruch:  „Die  Idee  ist  ewig  und  einzig;  dass  wir  auch  den 
Plural  brauchen,  ist  nicht  wohlgethan.  Alles,  was  wir  gewahr 
werden  und  wovon  wir  reden  können,  sind  nur  Manifestationen 
der  Idee;  Begriffe  sprechen  wir  aus,  und  insofern  ist  die  Idee 
selbst  ein  Begriff."  3)     Hier   ist  augenscheinlich  mit  der  Erhöhung 


1)  S.  i.  P.  642. 

2)  S.  i.  P.  1016.  Etwas  anders  ist  das  Verhältnis  von  Begriff  und  Idee 
gefasst  in  „Wolkengestalt  nach  Howard"  1817.  W.  II,  12, 12,  20.  Hier  führt 
die  genetische  Anordnung  der  Phänomene  zur  lebendigen  Übersicht,  „aus 
welcher  ein  Begriff  sich  bildet,  der  sodann  in  aufsteigender  Linie  der 
Idee  begegnen  wird." 

3)  S.  i.  P.  334. 


302  J.  Cohn, 

der  Idee  auch  der  Begriff  g-ehoben;  alles  Aussprechliche  ist  als 
Begriff  bezeichnet.  Gerade  in  diesem  höchsten  Sinne  gewiinit  nun 
Idee  wieder  eine  objektive  Bedeutung.  Für  Goethe  wie  für  Schel- 
liüg  steht  die  Überzeugung  fest,  dass  der  Natur  eine  Idee  zu 
Grunde  liege,  „wonach  (jott  in  der  Natur,  die  Natur  in  Gott  von 
Ewigkeit  zu  Ewigkeit  schaffen  und  wirken  möge."  ^)  Der  Kan- 
tische Eiufluss  hat  sich  mit  Goethes  Naturvergötteruug  ver- 
schmolzen, wobei  aber  betont  werden  muss,  dass  Goethes  Natur- 
begriff sich  fortdauernd  vergeistigte.  Als  Goethe  den  Dithyrambus 
„die  Natur",  48  Jahre,  nachdem  er  ihn  geschrieben  hatte,  zum 
ersten  Male  wieder  las,  vermisste  er  in  dieser  frühen  Arbeit  die 
Anschauung  der  zwei  grossen  Triebräder  aller  Natur,  die  Begriffe 
von  Polarität  und  Steigerung.  -)  In  der  Polarität  tritt  die  einheit- 
liche Natur  in  Gegensätze  auseinander,  die  Unterschiede  werden 
als  der  Natur  wesentlich  angehörend  nicht  mehr,  wie  bei  Spinoza, 
als  blosse  Negationen  begriffen.  Die  Steigerung  führt  einen  Wert 
in  die  Natur  ein;  sie  ermöglicht  es,  die  Natur  als  Vorstufe  des 
Geistes  zu  fassen.  Beide  Begriffe  hat  Goethe  nicht  etwa  der 
Philosophie  entnommen,  vielmehr  findet  sich  die  Polarität  lange 
vor  Schelling  in  den  Beiträgen  zur  Optik,  •'')  die  Steigerung,  zwar 
nicht  dem  Worte,  wohl  aber  der  Sache  nach,  vor  der  Einwirkung 
Kants  auf  Goethe  in  der  Metamorphose  der  Pflanzen.^)  Durch 
diesen  in  biologischer  Forschung  gewonnenen  Begriff  der  Steige- 
rung kommt  die  Naturauffassung  Goethes  der  ideahstischen  Philo- 
sophie entgegen.  Der  Geist  ist  nun  nicht  mehr  ein  beliebiger  Teil 
der  Natur  und  als  solcher  allen  anderen  Teilen  gleichwertig,  son- 
dern er  ist  Steigerung,  Ziel  der  Natur  und  hat  in  der  Aktivität 
seines  Erkennens  eine  Ahnung  des  grossen  Wesens  aller  Dinge. 
Wenn  wir  Goethes  Meinung  so  interpretieren,  müssen  wir  das 
Wort  Ahnung  betonen.  Dem  Gefühle  frommer  Scheu,  mit 
dem  Goethe  von  jeher  an  die  Erforschung  der  Naturgeheim- 
nisse    herangetreten     war,     musste    Kants     kritisches    Verhalten 

1)  Bedenken  und  Ergebung  1819.  W.  II,  11,  56.  Vgl.  in  den  Apho- 
rismen, die  nach  Steiners  Angaben  1829  bei  der  Lektüre  von  De  Candolles 
Organograpliie  geschrieben  wurden.     W.  II,  6,  348. 

2)  „Erläuterung  zu  dem  aphoristischen  Aufsatz  :  Die  Natur".  An  den 
Kanzler  von  Müller,  24.  Mai  1828.     W.  II,  11,  10. 

3)  I.  stück  1791.  §  72  (Recapitulation)  No.  15—16.  cf.  §  75.  Im 
Briefe  an  Sömmering,  2.  Juli  1792,  benutzt  G.  die  Polarität,  um  optische 
und  chemische  Erscheinungen  mit  einander  zu  verlnnden. 

*)  1790.  bes.  §  6  „fortschreitende"  Metamorphose. 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  303 

sympathisch  sein.  In  die  Bedentnng-  des  Wortes  „Idee"  bei  Goethe 
würden  wir  nicht  eindring-en,  wenn  wir  das  Moment  der  Unerreich- 
barkeit vero-ässen.  „Das  schönste  Glück  des  denkenden  Menschen 
ist,  das  Erforschliche  erforscht  zu  haben  und  das  Unerforschliche 
ruhig  zu  verehren."  ')  Diese  Scheu  vor  dem  Unerforschlichem  be- 
hütet Goethe  bei  aller  Verwandtschaft  mit  Schelling  davor,  sich 
in  das  Ausspinnen  von  Spekulationen  über  die  Natur  zu  verlieren 
oder  gar  bestimmte  naturphilosophische  Systeme  in  sich  starr 
werden  zu  lassen.  Jeden  Versuch,  die  Idee  zu  ergreifen,  durfte 
er  als  Gleichnis  des  Unerreichlichen  gelten  lassen,  aber  eben  doch 
nur  als  Gleichnis.  Im  Grunde  hätte  er  mit  Kant  sagen  können, 
dass  sein  Feld  das  fruchtbare  Bathos  der  Erfahrung  sei.  Beide, 
Goethe  und  Kant,  stimmen  auch  darin  überein,  dass  innerhalb  der 
Erfahrung  dem  Forschen  keine  Grenze  zu  setzen  ist.  Goethe  sagt 
in  diesem  Sinn:  „Unsre  Meinung  ist:  dass  es  dem  Menschen  gar 
wohl  gezieme,  ein  Unerforschliches  anzunehmen,  dass  er  dagegen 
aber  seinem  Forschen  keine  Grenze  zu  setzen  habe."  2)  Wäh- 
rend aber  das  Unerforschliche  für  Kant  ein  Grenzbegriff  bleibt, 
durchdringt  es  bei  Goethe  überall  die  Erfahrung  und  kann  daher 
zwar  nicht  erkannt,  aber  doch  geahnt  werden.  An  Gehalt  gewinnt 
diese  Ahnung  um  so  mehr,  je  vielseitiger  und  treuer  wir  die  Natur 
erforschen.     Hierdurch    erst   versteht  mau  den  berühmten  Spruch: 

„Willst  du  ins  Unendliche  schreiten. 

Geh'  nur  im  Endlichen  nach  allen  Seiten." '') 

Das  will  sagen :  wenn  man  das  Endliche  allseitig  durchforscht,  er- 
langt man  vom  Unendlichen,  vom  absoluten  Wesen  der  Dinge  so 
viel  Kenntnis,  wae  dem  Menschen  überhaupt  zugänglich  werden 
kann.  Kants  kritische  Grenzsetzung  hat  sich  so  bei  Goethe  in 
eine  lebendige  Gesinnung  verwandelt;  die  nähere  Begründung  von 
Kants  Gedanken  ist  Goethe  fremd  geblieben.  Wo  er  die  Kantischeu 
Kunstausdrücke  braucht,  deutet  er  sie  auf  seine  Weise  um.  So 
spricht    er   einmal    mit  Riemer  über  das  Ding  an   sich  und  findet 


1)  S.  i.  P.  1019. 

2)  Karl  Wilhelm  Nose,  1820.     W.  II,  9,  195,  2. 

3)  W.  I,  2,  216  (Abteilung  „Gott,  Gemüt  und  Welt").  Lotze,  Kleine 
Schriften  III,  1.  445  Anm.  will  nach  der  ersten  Zeile  ein  „?"  gesetzt 
wissen,  sodass  die  zweite  als  Widerspruch  gegen  das  Schreiten  ins  Unend- 
liche aufzufassen  wäre.  Diese  Änderung,  die  an  sich  den  Sinn  ins  Platt- 
Verständige  umbiegen  würde,  wird  durch  Goethes  eigene  Interpretation 
des  Spruches  —  „Zwischenrede"  1819,  W.  II,  11,  45,  widerlegt. 


304  J.  Cohn, 

sich  hier  insofern  mit  Kant  in  Übereinstimninng-,  als  der  Mensch 
das  Objekt  nie  g-auz  ansspreche.  Ja  im  Grunde  sei  das  Objekt 
nur  eines,  alle  Verschiedenheiten  der  Dinge  seien  durch  den 
Menschen  gesetzt.^)  Das  klingt  an  die  eig-entümliche  Synthese 
von  Spinoza  und  Kant  an,  die  durch  Schopenhauer  2)  einfiussreich 
g-eworden  ist.  Doch  darf  man  auf  eine  solche  Äusserung  im  Ge- 
spräch, noch  dazu  mit  Riemer,  wenn  sie  vereinzelt  bleibt,  nicht 
zuviel  g-eben. 

Trotzdem  Goethe  der  wissenschaftlichen  Erkenntnistheorie  im 
Grunde  fern  geblieben  ist,  hat  er  doch  bedeutenden  Gewinn  aus  ihr 
gezogen.  Er  lernte  die  Aktivität  des  Geistes  im  Erkennen  be- 
achten, 3)  sein  eigener  Geist  wurde  ihm  zum  Problem,  Kants  Kritik 
schützte  ihn  vor  metaphysischen  Schwärmereien.*)  Dazu  kam, 
dass  Goethe  sich  durch  die  Näherung  an  die  Philosophie  mit  vielen 
unter  seinen  bedeutendsten  Zeitgenossen  besser  verständigen  konnte. 
Alles  aber,  was  er  je  aus  der  Vernunftkritik  sich  angeeignet  hat, 
bewegt  sich  in  den  Bahnen,  die  Schiller;^  Anregung  ihm  gewiesen 
hatte. 


1)  2.  August  1807.  B.  II,  180  f.  Im  Gespräch  mit  S.  Boisseree, 
2.  August  1815,  missversteht  Goethe  die  Kantische  Antinomie  so,  als  sei 
damit  das  gemeint,  was  der  Vorstellungsart  eines  Menschen  widerstrebt. 

-)  Schopenhauer  hat  Goethe  allerdings  als  „Realisten"  hingestellt. 
Goethe  habe  gesagt:  „Was!  das  Licht  sollte  nur  da  sein,  insofern  Sie  es 
sehen?  Nein!  Sie  wären  nicht  da,  wenn  das  Licht  Sie  nicht  sähe," 
181.S?  B.  III,  122.  Aber  Goethe  wendet  sich  hier  nur  unwillig  gegen 
eine  wirklich  absurde  Folgerung  des  Subjektivismus,  in  den  Schopenhauer 
die  Kantische  Erkenntnistheorie  verkehrt  hat. 

3)  G.  tadelt  an  Stiedenroths  sonst  von  ihm  hochgeschätzter  Psycho- 
logie ausdrücklich,  dass  die  Aktivität  des  Geistes  vernachlässigt  sei  (1825). 
W.  I,  41,  2,  159  f. 

*)  Goethe  hat  diesen  Gewinn  in  dem  Brief  an  die  Fürstin  Gallitzin 
vom  6.  Februar  1797  zusammengef asst :  „Diese  (seil,  naturwissenschaftlichen) 
Arbeiten  haben  mich  genötigt,  meinen  Geist  zu  prüfen  und  zu  üben,  und 
wenn  auch  für  die  Wissenschaft  kein  Resultat  daraus  entspränge,  so  würde 
der  Vorteil,  den  ich  selbst  daraus  ziehe,  mir  immer  unschätzbar  sein.  Denn 
wie  bedeutend  ist  es,  die  Grenzen  des  menschlichen  Geistes  immer  näher 
kennen  zu  lernen,  und  dabei  immer  deutlicher  einzusehen,  dass  man  nur 
desto  mehr  verrichten  kann,  je  reiner  und  sicherer  man  das  Organ  braucht, 
das  uns  überhaupt  als  Menschen  und  besonders  als  individuellen  Naturen 
gegeben  ist." 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  305 

II. 

Zu  Kants  Ethik  hatte  Goethe  aufaugs  ein  ganz  anderes 
Verhältnis  als  zur  Erkenntnistheorie.  Während  jene  ihm  einfach 
fremd  war,  erschien  ihm  diese  direkt  feindlich.  Kants  schroffe 
Entgegensetzung  von  Pflicht  und  Neigung,  von  Sittlichkeit  und 
Natur  schien  der  Naturinnigkeit  und  Natursittlichkeit  Goethes  so 
entschieden  zu  widersprechen,  wie  nur  irgend  eine  asketische  Moral. 
So  empfand  Goethe  selbst  ursprünglich  das  Verhältnis,  aber  in 
Wahrheit  standen  seine  Überzeugungen  der  Kantischen  Ethik  viel 
näher.  Uns  steht  auf  diesem  Gebiet  das  Material  nicht  zu  Ge- 
bote, um  den  Aneignungsprozess  im  Einzelnen  zu  verfolgen.  Das 
ist  wahrscheinlich  kein  Zufall,  vielmehr  fehlt  hier  wirklich  die  be- 
wusste  Arbeit,  die  Goethe  auf  die  Ausbildung  seiner  Methoden- 
lehre verwandte.  Wir  sehen  uns  daher,  wenn  wir  Goethes  spätere 
Aussprüche  verstehen  wollen,  genötigt,  die  Entwickelung  seiner 
sittlichen  Überzeugungen  bis  zur  Freundschaft  mit  Schiller  rasch 
zu  überblicken. 

Als  Jüngling  hasste  Goethe,  wie  alle  Stürmer  und  Dränger, 
jeden  Zwang,  der  die  Entfaltung  der  freien,  genialen  Persönlich- 
keit hindern  könnte;  Kraft  war  das  Ideal  dieser  Jugend,  auf  die 
Richtung  der  Kraft  kam  ihr  wenig  an.  Die  Ziele  des  bürgerlichen 
Lebens  waren  verdächtig.  Das  ganze  Gebäude  der  Kultur,  auf 
das  die  Aufklärung  mit  so  viel  Stolz  blickte,  schien  durch  Rous- 
seaus  Angriffe  in  seinen  Grundfesten  erschüttert.  So  wurde  die 
Persönlichkeit  zum  einzigen  Wert ;  das  junge  Geschlecht  wollte  jede 
Anlage  sich  ausleben  lassen,  jeden  schönen  Moment  auskosten, 
jeden  menschlichen  Zustand  ganz  durchfühlen.  Die  Feindschaft 
gegen  die  Trennung  der  Stände  und  die  Enge  des  bürgerlichen 
Lebens,  die  damit  verbunden  war,  führte  wenigstens  bei  Goethe 
nur  zur  Abneigung  gegen  ein  Eingreifen  in  dieses  verhasste  Räder- 
werk, nicht  zu  revolutionären  Plänen.  Denn  nicht  die  Gesell- 
schaft, sondern  das  Individuum  galt  als  die  Hauptsache.  Diese 
Gesinnungen  stehen  von  Kant  gewiss  weit  ab;  aber  man  darf 
nicht  vergessen,  dass  beide  einen  gemeinsamen  Einfluss  empfangen 
haben.  Auch  in  Kants  Leben  bedeuteten  Rousseaus  Schriften  ein 
entscheidendes  Ereignis,  auch  ihm  wurde  durch  Rousseau  der  naive 
(xlaube  zerstört,  dass  Kulturfortschritt  Glücksvermehrung  bedeute. 
Der  Bruch  mit  dem  Eudämonismus  wurde  dadurch  nötig.  Von 
Rousseaus  Kulturfeindschaft,  von  seiner  Liebe  zu  einem  natur- 
gemässen    Leben   hat    auch  Goethe  Einwirkungen    erfahren;    aber 


306  J.  Cohn, 

die  von  Rousseau  vertretene  sentimentale  Naturauffassung,  die 
sich  einreden  will,  dass  die  Natur  in  Harmonie  mit  unsei-en 
weichen  und  humanen  Empfindungen  stehe,  widerstrebte  ihm. 
Auf  Kraftentwickelung-  ist  die  Natur  angelegt.  ^)  Im  Namen  der 
Kraft  wendet  sich  der  junge  Goethe  gegen  Wielauds  sentimental 
lüsterne  Tugendrednerei.  Aus  verschiedenen  Gründen  wurden 
Goethe  und  Kant  Gegner  der  gewöhnlichen  Aufklärungsmoral,  die 
alle  Schärfen  in  scheinbare  Harmonie  abstumpfte.  Aber  die  gemein- 
same Gegnerschaft  darf  uns  für  den  Gegensatz  zwischen  ihnen  nicht 
blind  machen.  Kant  suchte  eine  strengere  Begründung  der  Moral, 
der  Sturm  und  Drang  blieb  bei  der  Kraft  des  Gefühles  stehen  und 
widerstrebte  durchaus  jeder  sittlichen  Forderung,  die  den  Menschen 
einschränkt,  Opfer  au  unmittelbarer  Lebensfülle  erheischt  und 
ihm  nicht  erlaubt,  sich  seinen  Leidenschaften  mit  Inbrunst  hin- 
zugeben. 

Goethe  war  der  Führer  dieser  kraftvollen,  stürmenden,  über- 
schwänglichen  Jugend ;  und  doch  prägt  sich  in  der  Stellung  zu  den 
Fragen  der  Sittlichkeit  mehr  die  allgemeine  Jüngliugsart  und  ins- 
besondere die  Eigenart  jeuer  merkwürdigen  Epoche,  in  der  Jüng- 
linge zu  geistigen  Führern  berufen  wurden,  aus  als  Goethes  Eigen- 
art. In  Goethe  lag  neben  dem  Drängen  der  Gefühle  und  dem 
Ungestüm  des  Erlebens  vom  Vater  her  eine  Liebe  für  Ordnung 
und  Festigkeit,  die  sich  in  seinen  Werken  zum  küustlerischen 
Masse  verklärte.  Wenn  man  Goetz  und  Werther  mit  irgend 
welchen  andern  Werken  der  Stürmer  und  Dränger  vergleicht, 
fühlt  man  das  sofort.  Das  Schicksal  sorgte  dafür,  dass  diese  Anlagen 
zu  voller  Ausbildung  gelangten,  es  machte  ihn  zum  erziehenden  Freund 
eines  reichbegabten,  aber  ungezügelten  Fürsten  und  zwang  ihn  zu- 
gleich thätig  in  die  Regierung  eines  kleinen  Landes  einzugreifen. 
Wie  unter  diesen  Aufgaben  Goethes  moralische  Persönlichkeit  sich 
festigte,  davon  geben  die  Tagebücher  der  ersten  Weimarer  Jahre 
lebendiges  Zeugnis.  Die  Märchenpossen,  mit  denen  er  anfangs 
sich  und  den  Freunden  die  Zeit  vertrieb,  wurden  ihm  bald  fremd. 
An  diesem  Gefühl  der  Fremdheit,  als  ein  Genosse  am  2.  September 
1777  die  alten  Scherze  wiederholte,  merkte  er,  wie  sich  sein  In- 
neres seit  einem  Jahre  befestigt  hatte.  2)     Er  ist  gezwungen,  sich 


^)  Vgl.  z,  B.  die  Recension    von  Sulzer:    „Die    schönen    Künste    in 
ihrem  Ursprung"  in  d.  Frankf.  Gel.-Anz.  1772.     W.  I,  37,  209,  9. 
')  W.  III,  1,  4B,  23. 


Das  Kautische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  307 

mit  den  ökonomischen  Verhältnissen  des  Landes,  des  Hofes  und 
seiner  eigenen  Person  zu  beschäftigen,  er  lernt  den  Wert  von 
Stätigkeit  und  Ordnung  kennen  und  bildet  in  sich  entsprechende 
Gesinnungen  aus.  ^)  Wohl  kehrt  die  wertherische  Gleichgültigkeit 
gegen  alles  äussere  Wirken  als  Stimmung  noch  manchmal  zurück. 
Aber  Goethe  nennt  das  jetzt  ein  „leidig  Gefühl  der  Adiaphorie  so 
vieler  wichtig  sein  sollender  Sachen." -)  Die  Bedeutung  des  Thuns, 
des  Handelns  wird  ihm  im  Handeln  erschlossen;  auch  die  Ziele 
seines  eigenen  Wesens  lernt  er  dabei  erkennen.  Die  bestimmte 
Meisterschaft  einseitiger  Menschen  in  ihrem  Geschäft  zieht  ihn  an 
und  wird  in  gewissem  Sinne  sogar  vorbildlich  für  ihn,  aber  er 
weiss,  dass  seine  Natur  eine  andere  Art  von  Vollendung  fordert, 
„Ich  darf  nicht  von  dem  mir  vorgeschriebenen  Wege  abgehen, 
mein  Dasein  ist  einmal  nicht  einfach,  nur  w^ünsche  ich,  dass  nach 
und  nach  alles  Anmassliche  versiege,  mir  aber  schöne  Kraft  übrig 
bleibe,  die  wahren  Röhren  in  gleicher  Höhe  neben  einander  auf- 
zuplurapen."^)  An  die  Stelle  des  Nachgebens  gegen  das  liebe, 
eigene  Herz  ist  bewusste  Arbeit  und  entschiedener  Kampf  ge- 
treten „Nemo  coronatur  nisi  qui  certaverit  ante.  Sauer  Hess 
ich  mir's  denn  doch  werden."^)  So  bilden  sich  die  Gesinnungen 
aus,  die  das  Gedicht  „Ilmenau"  erfüllen.  Goethe  ist  damit  praktisch 
über  den  blossen  Naturalismus  hinausgelangt,  aber  er  fasst  doch 
alles  bewusste  Wirken  als  einen  Ausfluss  der  Natur.  Sobald  er 
sich  den  höchsten  Fragen  zuwendet,  spricht  er  ganz  als  Natura- 
list. Beweis  genug  sind  die  Worte,  mit  denen  er  das  Fragment, 
„die  Natur*',  abschliesst.  Er  redet  die  Allmutter  an:  „Siehatmich 
hereingestellt,  sie  wird  mich  auch  herausführen.  Ich  vertraue 
mich  ihr.  Sie  mag  mit  mir  schalten.  Sie  wird  ihr  Werk  nicht 
hassen.  Ich  sprach  nicht  von  ihr.  Nein,  was  wahr  und  was 
falsch  ist,  alles  hat  sie  gesprochen.  Alles  ist  ihre  Schuld,  alles 
ist  ihr  Verdienst."  Diese  religiöse  Hingabe  an  die  Natur  wurde 
durch  die  italienische  Reise  womöglich  noch  gesteigert.  Die  reiche, 
freie,  südliche  Natur  stand  im  Gegensatz  zu  dem  engen,  nordischen 
Zwang  der  Sitten;   der  Natur  sollte  für  alles  Grosse  die  Ehre  ge- 


1)  Vgl.  z.  B.  Februar  1778.     W.  III,  1,  61,  17;  6.  Okt.  78.    III,  1,  70, 
2.3;  Okt.-Nov.  1781  III,  1,  132,  19. 

2)  9.  Dez.  1778.     W.  III,  1,  73,  4. 

3)  14.  Juli  1779.     III,  1,  89.     Vgl.  auch    das  der  citierten  Stelle  Vor- 
aufgehende und  Folgende. 

^)  31.  März  1780.     III,  1,  114,  3. 


308  J.  Cohn, 

g-eben  werden.  Nur  so  versteht  man,  dass  1793  Schillers  ,.Auniut 
und  Würde"  Goethe  aufs  Tiefste  verletzte;  er  fand,  Schiller  habe 
hier  von  der  grossen  Mutter  unehrerbietig-  gesprochen  und  meinte 
gewisse  Stellen  als  gegen  sich  gerichtet  deuten  zu  müssen.^)  Mau 
wird  bei  diesen  Anlagen  etwa  an  die  Herabsetzung  der  bloss  natürlichen 
Schönheit,  der  Venus  ohne  den  Gürtel  der  Grazien,  denken  dürfen, 
oder  an  Sätze  wie  diesen:  „Grazie  ist  immer  nur  die  Schönheit 
der  durch  Freiheit  bewegten  Gestalt  und  Bewegungen,  die 
bloss  der  Natur  angehören,  können  nie  diesen  Namen  ver- 
dienen." Wenn  man  erwägt,  dass  Schiller  in  „Anmut  und  Würde" 
den  vermeinten  Rigorismus  der  Kantischen  Ethik  zu  Gunsten  des 
ästhetischen  Ausgleichs  zwischen  Natur  und  Freiheit  zu  mildern 
suchte,  so  tritt  der  Gegensatz  Goethes  gegen  Kant  selbst  noch  schärfer 
hervor.  Und  doch  änderte  Goethe  in  diesem  Punkte  seine  Ge- 
fühle so  schnell,  dass  er  am  26.  Oktober  1794  von  den  Briefen 
über  ästhetische  Erziehung  schrieb,  er  fände  darin  auf  eine  zu- 
sammenhängende und  edle  Weise  vorgetragen,  was  er  für  recht 
seit  lauger  Zeit  erkannte,  was  er  teils  lebte,  teils  zu  leben 
wünschte.  Dabei  ist  das  Verhältnis  von  Natur  und  Sittlichkeit  in 
den  Briefen  über  die  ästhetische  Erziehung  ganz  ebenso  aufge- 
fasst,  wie  in  „Anmut  und  Würde".  2)  Dieser  Umschwung  ist  für 
uns  nicht  leicht  zu  erklären,  zumal  nähere  Nachrichten  fehlen. 
Vielleicht  hat  zu  dem  üblen  Eindruck  von  Anmut  und  Würde  bei- 
getragen, dass  Goethe  bei  der  Lektüre  philosophischer  Schriften 
leicht  an  einzelnen  Sätzen  haften  blieb.  Im  Umgang  mit  Schiller 
erkannte  er  dann  die  wahre  Bedeutung  der  Kantischen  Ethik  und 
fühlte,  dass  sein  früherer  Naturalismus  nicht  im  Stande  war,  sein 
eigenes  Verhalten  im  praktischen  Leben  zu  erklären.  Jedenfalls 
hat  Goethe    in    der    späteren    Zeit   dauernd  an  der  Verehrung  der 


1)  „Glückliches  Ereignis"  resp.  Annalen  1794  cf.  S.  ?i,  Anm.  1. 

2)  Goethe  freilich  schreibt  „Einwirkung  der  neueren  Philosophie" : 
.,Aus  freundschaftlicher  Neigung  gegen  mich,  vielleicht  mehr  als  aus  ei- 
gener Überzeugung,  behandelte  er  in  den  ästhetischen  Briefen  die 
gute  Mutter  nicht  mit  jenen  harten  Ausdrücken,  die  mir  den  Aufsatz 
über  Anmut  und  Würde  so  verhasst  gemacht  hatten."  —  Indessen  be- 
ruht der  veränderte  Eindruck  lediglich  auf  Goethes  veränderter  Stellung 
Schiller  gegenüber.  Sonst  hätte  Goethe  z.  B.  an  der  SteUe  im  3.  Brief, 
dnss  der  natüiliche  Charakter  des  Menschen,  „selbstsüchtig  und  gewalt- 
thätig,  vielmehr  auf  Zerstörung,  als  auf  Erhaltung  der  Geseilschaft  zielt", 
ebensogut  Anstoss  nehmen  können,  wie  an  irgend  einem  Satze  in  „Anmut 
und  Würde". 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  309 

Kantischeu  Ethik  festgehalten  und  nur  ganz  in  Schillers  Art 
ihren  „Eigorismus"  zu  mildern  gesucht.  Dass  es  sich  hierbei  nicht 
um  eine  blosse  äussere  Anpassung  handeln  kann,  beweisen  viel- 
leicht am  deutlichsten  die  Worte,  die  Goethe  am  29.  April  1818 
sprach,  als  der  Kanzler  Müller  mit  Caroline  und  Julie  von  Egloff- 
stein  ihn  in  Dornburg  besuchte.  Denn  in  späteren  Jahren  hat  er 
selten  so  offen  seine  Gesinnungen  enthüllt,  wie  an  diesem  denk- 
würdigen Tage.  Damals  sagte  er:  „Die  Moral  ist  ein  ewiger 
Friedensversuch  zwischen  unseren  persönlichen  Anforderungen  und 
den  Gesetzen  jenes  unsichtbaren  Reiches;  sie  war  gegen  Ende 
des  letzten  Jahrhunderts  schlaff  und  knechtisch  geworden,  als 
man  sie  dem  schwankenden  Kalkül  einer  blossen  Glücksseligkeits- 
theorie unterwerfen  wollte;  Kaut  fasste  sie  zuerst  in  ihrer  über- 
sinnlichen Bedeutung  auf,  und  wie  überstreng  er  sie  auch  in 
seinem  kategorischen  Imperativ  ausprägen  wollte,  so  hat  er  doch 
das  unsterbliche  Verdienst,  uns  von  jener  Weichlichkeit,  in  die  wir 
versunken  waren,  zurückgebracht  zu  haben."  ^) 

Dieselbe  Gesinnung  spricht  sich  überall  in  Goethes  Maximen 
und  Eeflexionen  aus.  Gleich  am  Anfang  ergänzt  er  seinen  alten 
Grundsatz,  dass  man  sich  niemals  durch  Betrachten,  wohl  aber 
durch  Handeln  kennen  lerne,  durch  die  W^orte :  „Versuche,  deine 
Pflicht  zu  tliun  und  du  weisst  gleich,  was  an  dir  ist."  Goethe 
sagt  nicht  etwa,  wie  die  meisten  Ausleger  von  ihm  erwarten 
würden :  folge  deiner  Natur  und  du  weisst,  was  an  dir  ist. 
Ganz     im     Geiste     seiner     konkreten     Betrachtungsart,     fügt     er 


1)  B.  III,  .S09.  Das  Gespräch  ist  auch  in  Caroline  v.  Egloffsteins 
Redaktion  überliefert,  die  im  Prinzip  dasselbe  giebt  aber  dürftiger  und 
flacher  ist  (B.  III,  305).  —  Vgl.  die  Bem.  über  Charakter  und  Sittlichkeit 
im  histor.  Teil  d.  Farbenlehre.  6.  Abt.,  1.  Epoche,  Abschnitt:  Newtons 
Persönlichkeit  W.  11,  4,  99  f.  —  In  der  Anzeige  der  „Briefe  eines  Verstor- 
benen" hebt  G.  eine  Stelle  heraus,  weil  er  darin  einen  Ausdruck  von 
Kants  kategorischem  Imperativ  in  empirischer  Form  findet.  W.  I,  42,  1, 
59,  11.  —  Allerdings  stellt  Goethe  in  seinem  „Zeugnis  für  Carlyle"  vom 
14.  März  1828  (Goethes  und  Carlyles  Briefwechsel,  Berlin  1887,  S.  37)  auch 
das  „apodiktische  Pflichtgebot"  als  einseitiges  Moralprinzip  hin  {neben 
„Eigennutz"  und  „Trieb  nach  Glückseligkeit")  und  findet  es  demgegen- 
über am  geratensten,  „aus  dem  ganzen  Komplex  der  gesunden,  menschlichen 
Natur  das  Sittliche  so  wie  das  Schöne  zu  entwickeln".  Aber  dabei  ist  zu 
bedenken,  dass  es  sich  hier  um  Empfehlung  Carlyles  für  eine  schottische 
Lehrstelle  der  Moralphilosophie  handelt,  dass  also  G.  lässlich  und  für  Eng- 
länder schreibt  —  er  lobt  bei  dieser  Gelegenheit  sogar  Gellerts  Wirksam- 
keit, die  ihm  doch  sonst  nicht  besonders  hoch  steht. 


BIO  J.  Cohn, 

hinzu:  „Was  aber  ist  deine  Pflicht?  Die  Forderung-  des 
Tages."!)  Der  ^pag  fordert  von  uns  bestimmte  Thätigkeit;  um 
diese  auszuführen,  uns  für  sie  geeignet  zu  machen,  müssen  wir 
den  unbeding'ten  Trieben  unserer  Natur  entsagen  lernen.  Der 
Begriff  der  Eutsag-ung  steht  im  Mittelpunkt  von  Goethes  sittlichen 
Anschauungen.  Der  Jüngling-,  der  faustisch  die  höchsten  Sterne 
des  Himmels  und  jede  Lust  der  Erde  für  sich  begehrte,  fühlte 
sich  überall  eingeengt  und  presst  in  Fausts  Worte: 

„Entbehren  sollst  du!  sollst  entbehren!" 
den  ganzen  Jammer   des  Daseins  zusammen.     Als  Goethe  dann  in 
Weimar   ins   thätige    Leben    eingriff,     erkannte    er    in    der    Ent- 
behrung die  notwendige  Bedingung  der  Herrschaft: 

„Der  kann  sich  manchen  Wunsch  gewähren, 

Der  kalt  sich  selbst  und  seinein  Willen  lebt; 

Allein  wer  andre  wohl  zu  leiten  strebt, 

Muss  fähig  sein,  viel  zu  entbehren."  (Ilmenau.) 

Aber   hier   wird  die  Entbehrung  immer  erst  hingenommen,    sie  ist 

ein  bitteres  Muss,    dem    wir  nicht  entrinnen  können.     Der  einzige 

Weg,    uns    von    diesem    Zwange   zu   befreien,    ist,    dass    wir  den 

Zwang  freiwillig  anerkennen.     Eben  diesen  Weg  weist  Schiller: 

„Nehmt  die  Gottheit  auf  in  euren  Willen 
Und  sie  steigt  von  ihrem  Wolkenthron." 

Geiadezu  wie  eine  Anwendung  dieses  Wortes  auf  die  Bedingtheit 
des  Menschen  erscheint  der  Spruch:  „Es  darf  sich  einer  nur  für 
frei  erklären,  so  fühlt  er  sich  den  Augenblick  als  bedingt.  Wagt 
er  es,  sich  für  bedingt  zu  erklären,  so  fühlt  er  sich  frei."  -)  Das 
Ziel  ist  also,  die  Entbehrung  in  unseren  Willen  aufzunehmen, 
freiwillig  zu  entsagen.  „Die  Entsagenden"  lautet  darum  der 
Untertitel  von  Wilhelm  Meisters  Wanderjahren,  einem  Werk,  das 
wir  füglich  als  Goethes  sittliches  Vermächtnis  ansprechen  dürfen. 
Indem  Schiller  Kants  ethische  Grundsätze  von  der  einzelnen 
Handlung  auf  die  ganze  Persönlichkeit  anwandte,  machte  er  sie 
Goethe  zugänglich.  Die  Pflicht  erschien  nun  nicht  mehr  als  ein 
Fremdes,  sondern  als  inneres  Gesetz  der  Person  selbst.  So  stimmt 
Goethe  Schillers  Bestimmungen  völlig  bei,  wenn  er  definiert: 
„Pflicht:  wo  man  liebt,  was  man  sich  selbst  befiehlt." 3) 


1)  S.  i.  P.  2,  3. 

2)  S.  i.  P.  388. 

3)  S,  i.  P.  656. 


iDas  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  311 

Ist  die  Pflicht  als  das  innere  Gesetz  der  Persönlichkeit  er- 
kannt, so  wird  auch  ihre  Unerreichbarkeit  nicht  mehr  schrecken. 
Goethe  hat  die  Unmöglichkeit,  der  sittlichen  Forderung-  genug  zu 
thun,  einmal  als  Erlebnis  ausgesprochen:  ,.Erfüllte  Pflicht  em- 
pfindet sich  immer  noch  als  Schuld,  weil  man  sich  nie  ganz  genug 
gethan."')  Die  Unerbittlichkeit  des  sittlichen  Gesetzes  ist  auch 
in  einem  Spruche  gemeint,  den  Loeper  nicht  verstanden  zu  haben 
bekennt:-)  „In  Rücksicht  aufs  Praktische  ist  der  unerbittüche 
Verstand  Vernunft,  weil  vis-ä-vis  des  Verstandes  es  der  Vernunft 
Höchstes  ist,  den  Verstand  unerbittlich  zu  machen."  Bei  Goethe 
wie  bei  Kant  ist  Vernunft  das  höhere  Vermögen;  dem  Verstand 
entspricht  der  Begriff,  der  Vernunft  die  Idee.  Im  Theoretischen 
ist  die  iutuitive  Vernunft  für  Goethe  vom  Verstände  qualitativ 
verschieden,  wie  die  Idee  vom  Begriff  verschieden  ist.  Während 
der  Verstand  durch  begriffliche  Trennungen  die  Erscheinungen 
übersehen  und  nutzen  lehrt,  schaut  die  Vernunft  in  aller  Mannig- 
faltigkeit die  Einheit  ?n  und  erfasst  in  jeder  Erscheinung  die 
Idee.  Der  Idee  aber  entspricht  im  Praktischen  der  unbedingte 
kategorische  Imperativ;  dieser  nun  lässt  sich  durchaus  begrifflich 
aussprechen  und  verstandesmässig  erfassen,  er  unterscheidet  sich 
von  den  Maximen  der  blossen  Klugheit  wesentlich  durch  seine  un- 
erbittliche Strenge,  die  der  Neigung  oder  Schwäche  keinen  Spiel- 
raum gewährt.  Nicht  also  überhaupt  und  in  jeder  Beziehung,  wohl 
aber  „vis-ä-vis  des  Verstandes"  darf  es  als  höchste  Leistung  der 
Vernunft  bezeichnet  werden,  den  Verstand  unerbittlich  zu  machen, 
und  hier  fällt  dann  der  unerbittliche  Verstand,  der  seine  Gesetze 
mit  kategorischer  Allgemeinheit  ausspricht,  mit  der  Vernunft  zu- 
sammen. 

Die  Erklärung  dieses  Spruches  leitet  uns  ganz  natürlich  zu 
der  Bedeutung  der  Idee  auf  sittlichem  Gebiet  über;  denn  die  Idee 
ist  für  das  Handeln,  wie  für  das  Erkennen  das  unerreichbare  und 
doch  Sichtung  gebende  Ziel.  ,.In  der  Idee  leben,  heisst,  das  Un- 
mögliche behandeln,  als  wenn  es  möglich  wäre."  Merkwürdig  berührt 
es  uns,  wenn  Goethe  beim  Weiterspinnen  dieses  Gedankens  3)  von 
Napoleon  sagt,  dass  er  ganz  in  der  Idee  lebte,  sie  aber  nicht  im 
Bewusstsein  erfassen  konnte.    Hier  ist  augenscheinlich  weniger  an 


1)  S.  i.  P.  44. 

2)  Vorbemerkung  zu  S.  i.  P.  S.  9.     S.  i.  P.  638. 

3)  S.  i.  P.  345.  346. 


312  J.  Cohn, 

den  sittlichen  Inhalt  der  Idee  als  an  ihre  Unerreichbarkeit  ge- 
dacht, obwohl  ja  (jroethe  in  der  g-rossen  Persönlichkeit  des  ICr- 
oberers  auch  einen  sittlichen  Kei-n  anerkannte.  Aber  nicht  jedes 
unerreichbare  Ziel  ist  Idee,  dazu  gehört  vielmehr  die  innere  Not- 
wendigkeit, die  sie  von  aller  blossen  Phantastik  unterscheidet. 
„Höchst  bemerkenswert  bleibt  es  innner,  dass  Menschen,  deren 
Persönlichkeit  fast  ganz  Idee  ist,  sich  so  äusserst  vor  dem  Phan- 
tastischen scheuen,"  ')  sagt  Goethe  und  belegt  es  durch  Hamanns 
Beispiel.  Dass  Goethe  sich  mit  dem  Verhältnis  von  Idee  und  Phan- 
tastik wiederholt  beschäftigte,  entspricht  durchaus  seiner  Natur,  die 
stets  von  den  allgemeinen  Grundsätzen  konkrete  Anwendung  zu 
machen  liebte ;  denn  im  Konkreten,  im  einzelnen  Falle  ist  der  Held 
und  der  Don  Quixote  schwer  zu  unterscheiden,  „die  Idee,  wie  sie 
unmittelbar  in  die  Erscheinung,  ins  Leben,  in  die  Wirklichkeit 
eintritt,  muss,  insofern  sie  nicht  tragisch  und  ernst  wirkt,  notwen- 
dig für  Phantasterei  gehalten  werden,  und  dazu,  dahin,  verirrt, 
verliert  sie  sich  auch,  weil  sie  ihre  hohe  Reinheit  nicht  zu  erhalten 
weiss."  Diese  Worte  stehen  in  einer  Recensiou  humoristischer 
spanischer  Romanzen -),  und  Goethe  erinnert  dabei  an  den  Don 
Quixote.  Ihre  Reinheit  kann  die  Idee  nur  wahren,  Avenn  das  Be- 
wusstsein  der  Unerreichbarkeit  bestehen  bleibt,  sonst  verwickelt 
sie  sich  komisch  mit  den  kleinen  Vorgängen  und  Hinderungen  des 
alltäglichen  Lebens.  Die  Stellung  der  Idee  ist  im  Praktischen  eine  ganz 
ähnliche  wie  im  Theoretischen:  sie  ist  Richtung  gebend,  sie  soll  alles 
Einzelne  durchdringen,  aber  es  ist  unmöglich,  dass  sie  in  einem 
einzelnen  Falle  vollkommen  erscheine  oder  sich  verwirkliche.  Darum 
stellt  Goethe  mit  der  theoretischen  Idee  der  UnsterbUchkeit,  die  durch 
unser  Streben  gefordert  sei,  aber  jeder  Ausmalung  widerstreite,  die 
praktische  Unausführbarkeit  sittlicher  Forderungen  zusammen.  „Fast 
alle  Gesetze  seien  Synthesen  des  Unmöglichen,  z.  B.  das  Institut 
der  Ehe.  Und  doch  sei  es  gut,  dass  dem  so  sei,  es  werde  dadurch 
das  Möglichste  erstrebt,  dass  man  das  Unmögliche  postuliere."  3) 
Die  Unerreichbarkeit  und  Unbedingtheit  der  praktischen  Idee  führt 
Goethe  zuweilen  so  weit  von  seinem  ursprünglichen  Naturalismus 
ab,  dass  er  das  Reich  der  Freiheit,  der  Werte,  der  Kultur  ganz 
dualistisch  dem  Reich  der  Natur  gegenüberstellt  und  den  sittlichen 


1)  S.  i.  P.  348. 

2j  Spanische  Romanzen,  übersetzt  von  Beauregard  Pandin  —  1823 
W.  I,  41,  2,  70.  19. 

3)  Gespräch  mit  Müller,  19.  Oktober  1823.    B.  IV,  294  f. 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  Bio 

Willen  über  alle  Naturbedingtheit  hinaushebt.  Wenn  diese  ethi- 
schen Aussprüche  nicht  mit  Goethes  Naturanschauung  überein- 
stimmen wollen,  so  muss  man  bedenken,  dass  Goethe  kein  Syste- 
matiker war  und  mit  Bewusstseiu  verschiedene  Denkrichtungen 
auf  verschiedenen  Gebieten  nebeneinander  verfolgte. »)  Abfer  mau 
wird  nie  dem  ganzen  Goethe  gerecht  werden,  wenn  man  Aus- 
sprüche ignoriert,  wie  den  folgenden:  „was  die  Kultur  der  Natur 
abgewonnen  habe,  dürfe  man  nicht  wieder  fahren  lassen,  es  um 
keinen  Preis  aufgeben.  So  sei  auch  der  Begriff  der  Heiligkeit  der 
Ehe  eine  solche  Kulturerrungenschaft  des  Christentums  und  von 
unschätzbarem  Wert,  obgleich  die  Ehe  eigentlich  unnatürlich  sei."-) 
Nach  dieser  Auffassung  trägt  die  Ehe  den  Keim  zu 
tragischen  Konflikten  in  sich,  wie  sie  in  den  Wahlverwandt- 
schaften künstlerisch  gestaltet  sind,  dem  einzigen  Werke  von 
grösserem  Umfange,  in  dem  Goethe  sich  bewusst  war,  auf  die 
Darstellung  einer  durchgreifenden  Idee  hingearbeitet  zu  haben. 3) 
Die  landläufige  Meinung  nicht  nur  der  Zeitgenossen  glaubt 
freilich,  dass  diese  Idee  ganz  und  gar  naturalistisch  sei.  Wie 
die  chemischen  Elemente  durch  übermächtigen  Zwang  alte 
Verbindungen  lösen,  um  einer  stärkeren  Wahlverwandtschaft 
zu  folgen,  so  seien  die  menschlichen  Verbindungen  dem  Natur- 
zwang unerklärlicher  Sympathien  rettungslos  preisgegeben.  Der 
Titel  des  Werkes,  der,  wie  Goethe  selbst  in  seiner  Voranzeige"^) 
sagt,  durch  seine  fortgesetzten  physikalischen  Arbeiten  veran- 
lasst ist,  könnte  zu  einer  solchen  Auslegung  verführen.  Aber 
in  derselben  Voranzeige  betont  Goethe  die  ethische  Herkunft  des 
Gleichnisses,  das  er  zu  seinem  geistigen  Ursprünge  zurückführen 
wolle,  „um  so  mehr,  als  doch  überall  nur  eine  Natur  ist,  und 
auch  durch  das  Reich  der  heitern  Vernunftfreiheit  die  Spui-en 
trüber  leidenschaftlicher  Notwendigkeit  sich  unaufhaltsam  hin- 
durchziehen, die  nur  durch  eine  höhere  Hand  und  vielleicht  auch 
uicht  in  diesem  Leben  völlig  auszulöschen  sind."  Goethe  leugnet 
also  die  Freiheit  der  Vernunft  und  die  sittliche  Heiligkeit  der 
Ehe  nicht.     Im  Roman  selbst  lässt  er  in  der  den  Titel  erklärenden 


1)  Vgl.  z.  B.  den  Brief  an  F.  H.  Jacobi  6.  Jan.  1813. 

«)  Mit  Müller  7.  April  1830.     B.  VII,  294. 

3)  Mit  p:ckermann  6.  Mai  1827.     B.  VI,  136. 

*)  Graef:  Goethe  über  seine  Dichtungen  I,  1,  389.  Ich  eitlere  das 
unentbehrliche  Werk,  dem  ich  vielen  Dank  schulde,  künftig  einfach  als 
„Graef \    W.  I,  41,  1,  34. 

Eantstudien  X.  21 


314  J.  Cohn, 

Unterhaltung^)  Charlotten  sagen:  „diese  Gloichnisreden  sind  artig 
und  unterhaltend,  und  wer  spielt  nicht  gern  mit  Ähnlichkeiten? 
Aber  der  Mensch  ist  doch  um  so  manche  Stufe  über  jene  Elemente 
erhöht;  und  wenn  er  hier  mit  den  schönen  Worten  Wahl  und 
Wahlverwandtschaft  etwas  freigebig  gewesen,  so  thut  er  wohl, 
wieder  in  sich  selbst  zurückzukehren  und  den  Wert  solcher  Aus- 
drücke bei  diesem  Anlass  recht  zu  bedenken."  Noch  entschiedener 
drückt  sich  Goethe  selbst  in  einem  Brief  an  Zauper  aus:  „der 
sehr  einfache  Text  dieses  weitläufigen  Büchleins  sind  die  Worte 
Christi:  wer  ein  Weib  ansieht,  ihrer  zu  begehren  etc."«) 
In  der  That  ist  der  tragische  Ausgang  des  Romans  nur  begreif- 
lich, wenn  eine  strenge  Auffassung  von  Ehe  und  Pflicht  zu  Grunde 
liegt.  Man  denke  einmal  denselben  Stoff  von  einem  Anhänger 
des  unbedingten  Rechtes  der  Individualität,  von  einem  Friedrich 
Schlegel  in  seiner  Jugend  etwa,  behandelt:  würde  sich  ihm 
nicht  die  ganze  Irrung  der  Gefühle  in  schönste  Harmonie  lösen? 
Goethe  hat  das  im  Roman  selbst  mit  einer  bei  ihm  ganz 
ungewöhnlichen  Deutlichkeit  zum  Ausdruck  gebracht.  Er  führt 
als  Kontrastfiguren  zwei  leichte  Tagesmenschen  ein,  den  Grafen 
und  die  Baronesse,  die  ein  unerlaubtes  Verhältnis  mit  frivoler 
Heiterkeit  behandeln,  ohne  sich  im  Gewissen  irgendwie  da- 
von anfechten  zu  lassen.  Ottilie  dagegen,  Goethes  Lieb- 
lingsfigur, verurteilt  sich  zu  freiwilligem  Tode,  weil  sie  sich  von 
Eduards  Leidenschaft  zu  frevelhaften  Wünschen  hat  hinreissen 
lassen.  In  Abekeus  Besprechung  des  Romanes,  der  Goethe  durch 
sein  hohes  Lob  besondere  Bedeutung  verliehen  hat,  wird  hervor- 
gehoben, dass  in  Ottilie  die  Würde  der  menschlichen  Natur  in  dem 
furchtbaren  Drange  der  Not  und  des  Leids  erst  recht  hervortrete. 
Selbst  im  Ausdruck  wird  man  an  Schillers  ethische  Ausführungen 
erinnert,  wenn  Abeken  sagt:  „ergriffen  konnte  sie  werden  von 
jener  Notwendigkeit,  beherrscht  konnte  sie  werden  von  ihr,  sie, 
die  sogar  das  dringendste,  furchtbarste  Bedürfnis  der  Speise  sich 
verwehren  kann;  vernichtet  werden  konnte  sie,  aber  nicht 
überwunden."^) 

Will    man,    was    immer    misslich    ist,    die  Idee  der  Wahlver- 
wandtschaften in  dürren  Worten  aussprechen,  so  kann  man  sagen: 


1)  1.  Teil,  4.  Kap. 

2)  7.  Sept.  1821.     Graef,  I,  1,  464. 

3)  Abgedruckt    bei   Gracf   I,  1,  438  ff.;    die   citierte   Stelle   445,  23; 
Goethes  Lob  437,  3. 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  3 15 

Ud erklärliche,  natürliche  Verwandtschaft  zieht  den  Menschen  zum 
Menschen  und  löst  Baude,  von  denen  unsere  Sittlichkeit  verlangt, 
dass  sie  unauflöslich  seien.  Wenn  der  sittlich  höher  stehende 
Mensch  diesen  Neigung-en  Einlass  gewährt,  so  kann  er  sein  wahres 
Wesen  nur  durch  den  irdischen  Untergang  erhalten.  Oder  allge- 
meiner gesagt:  Es  ist  der  ewige  tragische  Konflikt  zwischen  der 
Kraft  naturbestimmter  Leidenschaften  und  dem  unbedingten  Gebote 
der  Sittlichkeit.  Goethe  hat  dabei  hier  wie  überall  die  tiefsten 
inneren  Kämpfe  mehr  ahnen  lassen,  als  eigentlich  dargestellt.^) 
Er  hat  ferner  echt  dichterisch  die  Teilnahme  besonders  für  Ottilie 
durch  alle  Mittel  gehoben.  Das  aber  kann  nur  den  verwirren,  der 
für  den  Unterschied  des  Dichters  und  des  Moralisten  kein  Gefühl 
hat.  Auch  Schiller  schiebt  im  Wallenstein  die  grössere  Hälfte  der 
Schuld  seines  Helden  den  unglückseligen  Gestirnen  zu.  Verständ- 
nis, Einfühlung,  Liebe  will  und  soll  der  Dichter  erregen,  nicht 
kühles  Urteil  oder  richterliche  Strenge.  Will  er  eine  moralische 
Idee  darstellen,  so  muss  sie  in  den  Personen  und  ihren  Schicksalen 
zum  Ausdruck  kommen,  nicht  im  Urteile  des  Dichters  über  diese 
Personen.  Wenn  die  Heiligkeit  der  Ehe  als  Idee  der  Wahlver- 
wandtschaften bezeichnet  wird,  so  heisst  das  auch  nicht,  Goethe 
habe  die  Wahlverwandtschaften  mit  der  Absicht  geschrieben,  die 
Heiligkeit  der  Ehe  zu  verteidigen.  Eine  solche  ausserästhetische 
Tendenz  hat  Goethe  mindestens  in  seinen  grossen  Werken  niemals 
verfolgt  und  wo  er,  seinem  tiefsten  Wesen  ungetreu,  praktischen 
Zwecken  als  Dichter  dienen  wollte,  wie  im  Bürgergeneral  oder 
Gross-Kophta,  hat  er  Schiffbruch  gelitten.  Vielmehr  erlebte  Goethe 
in  sich  selbst  jene  ethischen  Überzeugungen  und  Konflikte  und 
stellte  sie  dar,  weil  er  sie  erlebte. 


III. 

Die  Wahlverwandtschaften  haben  uns  bisher  durch  ihren 
Gehalt  beschäftigt,  sie  können  aber  auch  der  Ausgangspunkt  einer 
anderen  Reihe  von  Betrachtungen  werden,  wenn  wir  fragen,  wie 
denn  dieser  ideelle  Gehalt  künstlerisch  gestaltet  ist.  Das  Ver- 
hältnis von  Idee  und  Erscheinung  wurde  erst  durch  Schiller, 
wie    auf    dem   Gebiete    der    Natur    und    der   Sittlichkeit,    so    auf 


^)  Er  begründet  dies   im  Gespräch    mit  Riemer   Dezbr.  1809.    Graef 
I,  1,  427. 

21* 


316  J.  Colin, 

dem  der  Kunst  für  Goethe  zu  einem  wesentlichen  Problem. 
Mau  darf  sich  fragen,  ob  das  nur  auf  Goethes  ästhetische  An- 
sichten oder  auch  auf  seine  dichterische  Thätig-keit  eingewirkt 
hat.  Dass  die  Wahlverwandtschaften  überhaupt  durch  eine  Idee 
organisiert  sind,  hob  Goethe  selbst  als  auffallend  hervor.  Steht 
nun  dieser  Fall  wirklich  so  vereinzelt  da,  wie  Goethe  glaubt,  oder 
lässt  er  sich  in  eine  Reihe  verwandter  Erscheinungen  einordnen? 
Es  ist  Schiller  unendlich  oft  nachgesprochen  worden,  dass  Goethe 
überall  von  der  Empfindung,  vom  Erlebnis  ausgehe,  dass  er  ein 
naiver  Dichter  sei  im  Gegensatz  zu  Schiller  selbst,  der  als  senti- 
mentalischer  Dichter  Ideen  zu  verkörpern  suche.  Diesem  Schema 
scheinen  die  Wahlverwandtschaften  zu  widersprechen.  Aber  man 
beachtet  meist  nicht  genug,  dass  Goethe  von  Schiller  nicht  als 
naiver  Dichter  schlechthin,  sondern  als  naiver  Dichter  in  einer 
Sentimentalischen  Zeit  bezeichnet  wird.')  Jene  schöne  und  unbe- 
wusste  Einheit  von  Natur  und  Genius  war  in  Goethe  wohl  ange- 
legt, aber  die  Umwelt  musste  störende  Einflüsse  ausüben.  So  kann 
man  bereits  von  Goethes  Jugeuddichtungen,  von  Götz  und  Werther 
sagen,  dass  ihre  Form  die  schöne  Einheit  des  Naiven  hat, 
ihr  Inhalt  aber  von  sentimeutalischer  oder,  wie  man  später  sagte, 
romantischer  Sehnsucht  erfüllt  ist.  Auch  in  Iphigenie  und  Tasso 
lässt  sich  dasselbe  Verhältnis  erkennen,  Goethe  selbst  ist  die 
Iphigenie  dadurch  späterhin  fremd  geworden.  Aber  in  allen  diesen 
Dichtungen  ist  Sehnsucht  und  Reflexion  ganz  und  gar  in  die 
Seele  der  Helden  verlegt;  sie  liegt  nicht  in  der  künstlerischen 
Darstellung,  sondern  im  Stoff,  oder  wenn  man  will,  in  den  Erleb- 
nissen, die  Goethe  in  jenen  Werken  objektiviert  hat.  Auch  einige 
spätere  Werke,  besonders  Hermann  und  Dorothea,  sind  in  der 
Behandlung  ganz  „naiv".  Anders  ist  es  zum  ersten  Male  in  den 
späteren  Teilen  von  Wilhelm  Meisters  Lehrjahren,  besonders  im 
8.  Buche.  Auf  dieses  Buch  aber  hat  Schiller  bekanntlich  Einfluss 
gehabt,  es  liegt  daher  im  Rahmen  unseres  Themas,  ein  wenig  da- 
bei zu  verweilen. 

Der  Roman   hat  Goethe   auf  einer  so  grossen  Strecke  seines 
Lebens  begleitet,  er  hat  so  viel  von  Goethes  Entwickelung  in  sich 


1)  Über  naive  inid  sentimentalische  Dichtung.  Die  Schilderung  am 
Ende  des  ersten  Teils  „Über  das  Naive"  —  naiver  Dichter  in  sentimeuta- 
lischer Zeit  —  Werke,  krit.  Ausgabe  von  Goedeke,  X,  449,  geht  deutlich 
auf  Goethe.  Im  zweiten  Teil  „Die  sentimentalischen  Dichter"  wird  Goethe 
dann  ausdrücklich  als  Beispiel  eines  naiven  Dichters  mit  sentimentalischem 
Stoffe  betrachtet,    a.  a.  0.  475. 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  317 

aufg-enommen,  dass  er  darin  nur  noch  vom  Faust  übertroffen  wird. 
Aus  Wilhelm  Meisters  theatralischer  Sendung-  waren  Wilhelm 
Meisters  Lehrjahre  geworden,  der  Schauspielerroman  hatte  sich  in 
einen  Bildung-sroman  verwandelt,  das  Theater,  anfangs  wohl  der 
Hauptpunkt  des  Ganzen,  wurde  zu  der  Rolle  eines  Bildungsmittels, 
einer  zu  überwindenden  Entwickelungsstufe  herabgedrückt.  Wie 
Goethe  in  Weimar,  so  sollte  auch  sein  Held  sich  zu  einem  thätigeu 
Leben  herauf  bilden.  Goethe  hatte  für  sein  eigenes  Wesen  erst 
von  Schiller  die  Lösungsformel  erhalten;  auch  für  seinen  Roman 
verdankte  er  dem  Freunde  die  Auslegung  seiner  Träume,  die  Be- 
wusstwerduug  dessen,  was  unbewusst  in  der  Dichtung  geschlum- 
mert hatte.  So  sprach  schliesslich  auch  Schiller,  nicht  Goethe 
selbst,  die  Idee  der  Lehrjahre  in  den  Worten  aus:  „er  (Wilhelm) 
tritt  von  einem  leeren  und  unbestimmten  Ideal  in  ein  bestimmtes, 
thätiges  Leben,  aber  ohne  die  idealisierende  Kraft  dabei  einzu- 
büsseu."  1)  Indessen  als  Schiller  dies  schrieb,  lag  die  Dichtung 
vollendet  vor,  nur  das  8.  Buch  wurde  noch  der  Feile  unterworfen, 
wobei  Schillers  Anderungsvorschläge  Berücksichtigung  fanden. 
Sein  Einfluss  würde  unterschätzt  werden,  wollte  man  ihn  auf 
dieses  letzte  Stadium  beschränken.  Vom  dritten  Buche  an  hatte 
er  den  Roman  im  Manuskript  gelesen  und  meist  mündlich,  zu- 
weilen auch  schriftlich,  Goethe  seine  Eindrücke  und  Bemerkungen 
mitgeteilt.  Wenn  wir  im  Geiste  ergänzen,  wie  viel  die  beiden 
Dichter  zusammen  über  Plan  und  Einzelheiten  des  Werkes  ver- 
handelt haben  mögen,  so  verstehen  wir,  was  Goethe  am  7.  Juli 
1796  au  Schiller  über  das  8.  Buch  schreibt:  „Wenn  dieses  nach 
Ihrem  Sinne  ist,  so  werden  Sie  auch  Ihren  eigenen  Einfluss  da- 
rauf nicht  verkennen,  denn  gewiss,  ohne  unser  Verhältnis  hätte 
ich  das  Ganze  kaum,  wenigstens  nicht  auf  diese  Weise,  zustande 
bringen  können.  Hundert  Mal,  wenn  ich  mich  mit  Ihnen  über 
Theorie  und  Beispiel  unterhielt,  hatte  ich  die  Situationen  im  Sinne, 
die  jetzt  vor  Ihnen  liegen  und  beurteilte  sie  im  Stillen  nach  den 
Grundsätzen,  über  die  wir  uns  vereinigten."'  Wir  dürfen  danach 
annehmen,  dass  schon  in  dieser  ersten  Gestalt  des  8.  Buches  die 
Grundideen  schärfer  hervortraten,  als  das  sonst  Goethes  Eigenart 
entsprach.  AVährend  wir  aber  dafür  auf  Vermutungen  angewiesen 
sind,  die  sich  naturgemäss  nie  zur  Gewissheit  erheben  lassen, 
können  wir  den  Einfluss,    den  Schiller  auf  die  letzte  Umarbeitung 


>)  Brief  vom  8.  Juli  1796, 


318  J.  Cohn, 

des  8.  Buchos  hatte,  an  der  Hand  des  Briefwechsels  im  Einzelnen 
verfolgen.  Schiller  hat  seine  AussteUung-en  in  zwei  Gruppen  mit- 
geteilt, deren  erste  sich  in  den  Briefen  vom  2.  und  8.  Juli  1796 
findet.  Es  handelt  sich  dabei  zum  grössten  Teile  um  Einzelheiten 
der  Motivation,  die  uns  weniger  berühren. ')  Wichtiger  ist  schon, 
wenn  Schiller  sagt,  Mignons  Tod  werde  zu  schnell  verlassen  und 
Wilhelm  wende  sein  Interesse  von  der  Leiche  zu  rasch  auf  die 
Instrumententasche  der  Chirurgen  ab.  Goethe  bezeichnete  diese 
Forderung  als  sentimental,  suchte  sie  aber  doch  zu  erfüllen, 
denn  Schiller  erklärt  sich  auch  in  diesem  Punkte  im  Wesentlichen 
für  befriedigt.  2)  Kommt  hier  Schillers  Empfindungsweise,  die  eine 
stärkere  Berücksichtigung  des  Gefühles  verlaugt,  zu  ihrem  Rechte, 
so  zeigt  ein  anderer  Wunsch  den  Denker  Schiller.  Er  bedauert 
nämlich,  dass  die  Stiftsdame  Natalien  das  Prädikat  der  schönen 
Seele  vorweggenommen  habe.  Goethe  hat  hier  Abhilfe  geschaffen 
und  diese  Ehrenbezeichnung  auf  Natalien  abgeleitet.  Nicht  die 
einseitig  kontemplative  Stiftsdame,  sondern  die  im  reinen  Einklänge 
mit  ihrer  Natur  unberührt  von  dem  Kampf  gegen  die  Leiden- 
schaften sittlich  thätige  Natalie  entspricht  der  hohen  Vorstel- 
lung, die  Schiller  mit  dem  Worte  „schöne  Seele"  verbindet. 


1)  Er  fordert  z.  B.,  dass  die  Erscheinung  des  Marchese  und  der 
Gräfin  im  8.  Buche  erklärt  werde,  und  rechnet  einen  chronologischen 
Verstoss  im  Alter  von  Werners  Kindern  nach.  Goethe  hat  diese  Dinge 
verbessert.  Man  pflegt  Goethes  Drängen  auf  Motivation  in  Schillers  Dich- 
tungen, z.  B.  die  bekannte  Einfügung  von  2  Versen  in  Wallensteins  Lager, 
als  Beweis  für  Goethes  Realismus  anzuführen.  Es  scheint  sich  aber  hier 
viel  weniger  um  einen  Unterschied  der  Naturen  als  um  den  Gegensatz 
des  Schaffenden  und  des  Kritisierenden  zu  handeln.  Der  Künstler  erfindet 
seine  Situationen  aus  ästhetischer  Notwendigkeit.  Er  braucht  sie  in  der 
Komposition  —  das  ist  zunächst  Motiv  genug.  Erst  nachträglich  begründet 
er  auch  äusserlich  realistisch.  Das  aber  gehört  jenem  Stadium  der  Arbeit 
an,  in  dem  er  selbst  sich  seinem  Werk  gegenüber  kritisch  verhält  und 
daher  auch  von  fremder  einsiclitsvoller  Kritik  unterstützt  werden  kann. 
Goethe  hat  seinem  Briefe  vom  9.  Juli  ein  Blatt  beigelegt,  auf  dem  er  die 
auf  Sch.s  Rat  vorzunehmenden  Änderungen  verzeichnet.  Danach  (W.  I, 
21,  333  und  Graef  I,  2;  828,  8)  hat  er  alle  Vorschläge  der  ersten  Gruppe 
ausser  einem,  den  Schiller  selbst  am  8.  Juli  zurücknahm,  und  einem  tiefer 
einschneidenden  (Bedenken,  ob  Wilhelm  sich  unter  Adligen  halten  und 
„den  Bürger  ganz  vergessen"  wird)  berücksichtigt.  Die  betreffenden  Än- 
derungen wurden  thatsächlich  durchgeführt. 

2)  Brief   vom    19.   Oktbf   1796.     Nach   blosser   Lektüre   des   Textes 
könnte  die  Erfüllung  von  Sch.s  Forderung  zweifelhaft  erscheinen. 


Das  Kantisclie  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  319 

Weit  entschiedener  tritt  in  der  zweiten  Gruppe  von  Än- 
dernng-svorschläg-en')  Schillers  Verlangen  nach  klarerer  Durch- 
führung- der  Idee  hervor,  die  Goethe,  wie  er  selbst  schreibt,^) 
aus  einem  „gewissen  realistischen  Tic"  seiner  Natur  heraus 
immer  uoeh  zu  sehr  im  Dunkeln  gelassen  hatte.  ■^)  Wir  verdanken 
es  den  Mahnungen  des  Freundes,  dass  wir  in  die  Absichten  des 
Abbe  wenig-stens  einigermassen  Einblick  erhalten.*)  Auch  Schillers 
Vorschlag,  die  zweite  Hälfte  des  Lehrbriefes,  die  im  7.  Buch  durch 
einen  Zufall  weg-geblieben  war,  zur  Darstellung  der  Idee  zu  be- 
nutzen, ist  von  Goethe  befolgt  worden.  Ferner  wünschte  Schiller, 
dass  Wilhelms  Verhältnis  zur  Kunst  sich  der  Grundidee  des  Bil- 
dungsronianes  gemäss  erhöhe  und  reinige.  Aus  seinem  Tadel 
geht  hervor,  dass  Wilhelm  ursprünglich  auch  im  Saal  der  Ver- 
gangenheit lediglich  von  dem  Stoff  der  Kunstwerke  berührt  wurde 
und  sich  am  Schlüsse  der  Kunst  gegenüber  noch  ebenso  ver- 
hielt wie  als  Knabe  im  Hause  seines  Grossvaters.  „Wäre  hier," 
so  frigt  Schiller,  „nicht  der  Ort  gewesen,  den  Anfang  einer 
glücklicheren  Krise  bei  ihm  zu  zeigen,  ihn  zwar  nicht  als  Kenner, 
denn  das  ist  unmöglich,  aber  doch  als  einen  mehr  objektiven  Be- 
tracliter  darzustellen,  so  dass  etwa  ein  Freund  wie  unser  Meyer 
Hofr'nung  von  ihm  fassen  könnte?"  Goethe  hat  diesen  Rat  genau 
befolgt.  In  der  uns  vorliegenden  Fassung  bemerkt  Wilhelm  die 
reia    künstlerische  Wirkung    des  Saales   der  Vergangenheit,    ohne 


1)  Brief  vom  9.  Juli  179«. 

2)  Brief  vom  9.  .Juli  (kreuzt  sich  also  mit  Sch.s  Vorschlägen). 

•■')  Auch  unter  dieser  zweiten  Gruppe  finden  sich  einige  Details,  die 
reit  der  Idee  nichts  zu  thun  haben.  Seh.  v^^ünscht  zu  wissen,  ob  der  Abbe 
und  seine  Freunde  vor  Werners  Erscheinen  im  Schlosse  gewusst  haben, 
dass  das  Gut  für  Wilhelm  gekauft  werden  sollte.  Goethe  willfahrte  durch 
den  Satz :  „.Jarno  und  der  Abbe  schienen  über  diese  Erkennung  (seil.  Wil- 
lelms  und  Werners)  keineswegs  verwundert."  Gebrauch  hat  G.  auch  von 
Seh.s  Vorschlag  gemacht,  dass  der  Graf  die  günstige  Änderung  in  Wil- 
helms äusserer  Erscheinung  durch  sein  Benehmen  beim  Wiedersehen  ins 
Licht  setzen  sollte.  Dagegen  blieb  der  Wunsch  unberücksichtigt,  die 
Quelle  zu  erfahren,  aus  der  der  Abbe  Theresens  Geschichte  kennt. 

4)  Schiller  fordert,  es  solle  gesagt  werden,  warum  der  Abbe  oder 
sein  Helfershelfer  den  Geist  des  alten  Hamlet  spielt  und  warum  ferner 
dieser  unbekannte  Freund  den  Zettel  „flieh,  flieh"  in  dem  Momente  zurück- 
lässt,  da  er  Wilhelmen  zu  seinem  Debüt  behilflich  ist.  Für  Beides  ist 
im  fünften  Kapitel  ein  Grund  angegeben,  der  ganz  der  Erziehungsmaxime 
des  Abbe  entspricht,  man  müsse  den  Menschen  seinen  Irrtum  bis  zu  Ende 
durchführen  lassen,  damit  er  von  Grund  aus  davon  geheilt  werde. 


320  J.  Cohn, 

sich  von  dem  (irmuh'  Rechenschaft  ablog-en  zu  können.  „Was  ist 
das,"  rief  er  aus,  „das  unabhäno-i»-  von  aller  Bedeutung-,  frei  von 
alhMU  Mitg-efühl,  das  uns  menschliche  Begebenheiten  und  Schick- 
sale einflössen,  so  stark  und  zugleich  so  anmutig  auf  mich  zu 
wirken  vermag?"  Hier  ist  besonders  deutlich,  wie  Schiller  auf 
Durchführung-  der  Idee  durch  alle  Einzelheiten  dringt  nud  seinen 
Willen  erreicht.  Nebenbei  sei  bemerkt,  dass  man  iu  Wilhelms 
Ausruf  die  Nachwirkung  der  berühmten  Kantischen  Formeln,  ohne 
Beg-riff,  ohne  Reiz  und  Rührung,  erkennt.  Einige  andere  For- 
deruug-en  Schillers  blieben  allerdings  unerfüllt,  so  der  AVunsch, 
Jarno  solle  Wilhelmen  über  seinen  Irrtum  bei  der  Wahl  Theresens 
aufklären.  Goethe  hat  das  wohl  mit  Recht  für  überflüssig  ge- 
halten, da  der  Leser  hier  ohne  ausdrücklichen  Hinweis  das  Rich- 
tige erkennt.')  Tiefer  in  den  Organismus  des  Kunstwerks  griff 
Schillers  Verlangen  ein,  Goethe  möge  erklären,  warum  Wilhelm 
die  Philosophie  bei  seiner  Bildung  entbehren  konnte;  eben  darum 
aber  überschritt  er  die  Grenze  der  Nachgiebigkeit,  über  die 
Goethe  nicht  hinausgehen  durfte,  ohne  seiner  Natur  Gewalt 
anzuthuu.  Aus  Besorgnis,  über  das  Mass  des  Zulässigen  hinaus 
beeinflusst  zu  werden,  zeigte  er  Schiller  mit  dessen  Billigung  das 
durchgearbeitete  Manuskript  nicht  mehr.  2) 

Die  Änderung  in  Goethes  Betrachtungsweise,  die  sich  im 
8.  Buch  der  Lehrjahre  erkennen  lässt,  kam  dem  Dichter  erst  ein 
Jahr  später  auf  der  Reise  über  Frankfurt  und  Stuttgart  nach  Jer 
Schweiz  zum  Bewusstsein.  Man  hat  daher  seit  Gerviuus^)  öfter 
iu  dieser  Reise  und  besonders  in  dem  Brief  aus  Frankfurt  m 
Schiller  vom  16.  August  1797  einen  Wendepunkt  gesehen.  Goetie 
berichtet,  er  finde  in  sich  eine  Art  Sentimentalität  den  Gegei- 
ständen  gegenüber.  Es  ist  nicht  mehr  wie  einst,  wo  einzelus 
Eindrücke  eine  starke  Empfindung  in  ihm  erregten ;  vielmehr  bleib*:, 
er  den  besonderen  Objekten  gegenüber  ruhig,  fast  gleichgültig 
während  ihn  eine  allgemeine  poetische  Stimmung  beherrscht. 
Aber    der    alte  Realist  ist  noch  so  mächtig  in  ihm,    dass    er  auch 


1)  Dagegen  ist  Jarno  zum  Träger  der  übrigen  Aufklärungen  Wilhelm 
gegenüber  gemacht  worden. 

2)  Vgl.  Goethes  Briefe  vom  10.,  13.,  IG.  August,  Schillers  Briefe  vom 
10.  August  und  19.  Oktober. 

1)  Geschichte  der  deutschen  Dichtung  \\,  641  f.,  V5,  785  f.  vgl. 
auch :  Tomaschek,  Schiller  in  seinem  Verhältnisse  zur  Wissenschaft.  Wien 
1862.     S.  485  f.  I 


1. 


'  Das  Kantische  Element  in  Goethes  "Weltanschauung.  321 

an  dieser  allgemeinen  Gefiihlslag-o  den  Gegenständen  einen 
bedeutenden  Auteil  zuschreibt.  Mit  Recht  macht  Schiller  in 
seiner  Antwort  darauf  aufmerksam,  dass  nicht  der  Gegenstand, 
sondern  das  Gemüt  des  Betrachtenden  die  Ursache  dieser  Senti- 
mentalität sei,  und  dass  jeder  Gegenstand,  der  auf  eine  solche 
Geistesbeschaffenheit  treffe,  allgemeine  Gefühle  und  Betrachtungen 
auslösen  könne. 

Goethe  hat  hier  zum  ersten  Male  eine  Eigentüuilichkeit  an 
sich  beobachtet,  die  doch  schon  im  8.  Buche  der  Lehrjahre  hervor- 
tritt und  später  zur  Ausbildung  seines  Altersstils  beiträgt.  Es  ist 
nicht  ganz  leicht,  sie  mit  Worten  auszudrücken.  Vor  allem  muss 
man  nicht  glauben,  dass  der  neue  Stil  von  einer  gewissen 
Zeit  an  überall  bei  Goethe  hervortritt.  Es  kann  sich  nur 
um  die  Hervorhebung  von  Zügen  handeln,  die  sich  bald  hier,  bald 
da  mit  den  Jahren  in  w^achsendem  Masse  geltend  machen  und  erst 
in  den  Hauptwerken  des  höheren  Alters,  in  späteren  Teilen  des 
Faust  und  der  Wanderjahre  herrschend  w^erdeu.  Am  meisten  fällt 
wohl  die  weniger  individuelle  Durchbildung  der  Charaktere  auf;  schon 
Lothario  und  NataUe  im  7.  und  8.  Buch  der  Lehrjahre  zeigen  das, 
wenn  man  sie  mit  den  Menschen  der  frühereu  Teile  des  Romans 
vergleicht.  Begleitet  man  Faust  und  Mephisto  aus  dem  ersten  in 
den  zweiten  Teil,  so  hat  man  das  Gefühl,  als  seien  sie  aus  Dürers 
in  Michel-Angelos  Stil  umgesetzt.  Gleichzeitig  mit  dieser  Ver- 
allgemeinerung der  Personen  kühlt  sich  das  Interesse  an  den 
einzelnen  Dingen  ab.  Nicht  als  ob  Goethe  in  der  Schilde- 
rung gegenständlichen  Details  knapper  würde;  die  Einzelzüge 
werden  eher  gehäuft  wie  in  der  Schlacht  im  4.  Akte  des  2.  Teils 
Faust  oder  in  der  Schilderung  der  Weber  in  den  Wauderjahren. 
Aber  für  den  geringeren  Anteil  des  Dichters  an  diesen  einzelnen 
Zügen  ist  bezeichnend,  dass  Goethe,  der  früher  nur  Selbstgesehenes 
schilderte,  in  den  Wanderjahren  Meyers  Beschreibung  der  schwei- 
zerischen Hausindustrie  ausgiebig  verwendete.  Menschen  und 
Dinge  erregen  nicht  mehr  als  solche  den  leidenschaftlichen  Anteil 
des  Dichters;  sein  Geist  lebt  nicht  mehr  ganz  in  ihnen,  sondern 
scheint  sich  zeitweise  von  ihnen  zu  lösen  und  in  freier  Betrach- 
tung über  ihnen  zu  schweben.  Nochmals  sei  betont,  dass  das 
nicht  für  alle  späteren  Werke  gilt.  Nicht  nur  Hermann  und  Do- 
rothea ist  fast  von  jeder  Spur  dieser  späteren  Art  frei,  noch  die 
Hauptfiguren  der  Wahlverwandtschaften  sind  höchst  individuell 
und    mit    stärkstem  Anteil    an    ihrer  Eigenart    geschildert.     Aber 


322  J.  Cohn, 

wo  der  Altersstil  einsetzt,  da  wird  man  sagen  dürfen,  dass 
Menschen  und  Dinge  nicht  mehr  für  sich  allein  stehen  sondern  in 
ihnen  eine  tiefere  Bedeutung  mitklingt.  Sie  sind  nicht  etwa 
Allegorien,  die  etwas  Anderes  sagen  sollen,  als  sie  unmittelbar 
sagen,  aber  sie  stehen  mit  Bewusstsein  des  Dichters  als  Vertreter 
eines  allgemeinen  Verhältnisses  da,  das  an  ihrem  einzelnen  Falle  zu 
typischer  Anschauung  gebracht  wird.i)  Auf  das  Bewusstsein  des 
Dichters  ist  hierbei  der  Ton  zu  legen.  Auch  Werther  oder  Tasso, 
Gretchen  oder  Dorothea  können  als  Typen  gelten,  aber  nur,  weil  die  in 
ihnen  verkörperten  Erlebnisse  und  Erfahrungen  an  sich  etwas  Ty- 
pisches haben.  Gewiss  auch  der  Faust  des  ersten  Teiles  ver- 
körpert das  menschliche  Streben  nach  grenzenlosem  Wissen  und 
Thun,  aber  er  ist  dabei  ein  ganz  bestimmter,  spät-mittelalterlicher 
Gelehrter,  zu  dem  sein  Studierzimmer,  die  engen  Strassen  der 
Stadt  als  notwendiger  Hintergrund  gehören.  Am  Kaiserhof  im 
2.  Teil  ist  das  Zeitkostüm  nur  noch  leise  angedeutet,  und  Fausts 
eigenes,  meerentrungenes  Schloss  und  Reich  wächst  über  jede  be- 
sondere örtliche  und  zeitliche  Bestimmung  zu  monumentaler,  fast 
mythologischer  Grösse  empor.  ÜberaU  sind  die  Werke  zu  Aus- 
drucksmitteln all  der  Weisheit  geworden,  die  Goethe  dem  eigenen 
Leben  und  der  Überlieferung  der  Jahrtausende  verdankt,  einer  Weisheit, 
die  sich  nicht  in  dürren  Worten,  sondern  in  geheimnisvollen,  ahnungs- 
reichen Bildern  ausspricht;  denn  auch  der  Gedanke  wird  bei  Goethe 
zur  Dichtung.  Man  hat  oft  beklagt,  dass  den  späteren  Werken 
die  Frische  und  Leidenschaft  der  Jugend,  die  plastische  Klarheit 
und  Vollendung  des  besten  Mannesalters  fehle;  aber  dieser  Ver- 
lust ist  keine  Folge  des  Gedankenreichtums,  sondern  mit  diesem 
zugleich  eine  Folge  des  Alters.  Die  Erlebnisse  sind  dem  Dichter 
nicht  mehr  so  neu,  so  lebendig  wie  einst,  sie  erhalten  Bedeutung 
wesentlich    durch    das,    was   sein  Geist  Bedeutendes  in  sie  hiuein- 


1)  In  der  Anzeige  von  Manzonis  „II  conte  di  Carmagnola"  1820  hat 
sicli  Goethe  über  diesen  typischen  Stil  ausgesprochen.  Hier  heisst  es 
W.  I,  41,  1,  206,  26:  „Herrn  Manzoni  dürfen  wir  zum  Ruhm  nachsagen, 
dass  seine  Figuren  alle  aus  Einem  Guss  sind,  eine  so  ideell  wie  die  andere. 
Sie  gehören  alle  zu  einem  gewissen  politisch-sittlichen  Kreise;  sie  haben 
zwar  keine  individuellen  Züge,  aber,  Avas  wir  bewundern  müssen,  ein  jeder, 
ob  er  gleich  einen  bestimmten  Begriff  ausdrückt,  hat  doch  ein  so  gründ- 
liches, eigenes,  von  allen  übrigen  verschiedenes  Leben,  dass  man,  wenn  auf 
dem  Theater  die  Schauspieler  an  Gestalt,  Geist  und  Stimme  zu  diesen 
dichterischen  Gebilden  passend  gefunden  werden,  man  sie  durchaus  für 
Individuen  halten  wird  und  rauss". 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  323 

leg-t.  Vor  allem  darf  man  nicht  meinen,  dass  eine  Theorie  an  dem 
Verlust  der  Lebensfülle  schuld  sei.  Hermann  und  Dorothea  g-e- 
hört  derselben  Zeit  an,  in  der  Goethe  sich  am  nächsten  an  philo- 
sophische Theorien  heranwagte.  Kants  und  Schillers  Ästhetik 
stellt  ebenso  wie  die  Goethes  das  unmittelbare,  unreflektierte 
Schaffen  des  Genies  am  höchsten.  Umg-ekehrt  wird  kein  Ver- 
ständigter diese  Ausführungen  so  deuten,  als  solle  der  Ideenreich- 
tum der  Alterswerke  als  blosser  Nachklang-  Kant-Schillerscher 
Philosophie  hingestellt  werden;  er  ist  vielmehr  der  Ertrag  von 
Goethes  ganzem  Leben.  Aber  die  Berührung  mit  der  Kantischen 
Philosophie  gab  Goethe  die  Anregung,  seine  Aufmerksamkeit 
auch  dem  Schaffen  und  den  Zielen  des  Geistes  zuzuwenden. 
Goethe  hegte  eine  religiöse  Scheu  vor  jeder  Profanation  der 
höchsten  Dinge  durch  das  AVort.  Hier  wie  in  der  Darstellung 
persönhcher  Erlebnisse  hat  der  Mitteilungsdrang  des  Dichters  mit 
einer  gewissen  keuschen  Zurückhaltung  des  Menschen  zu  kämpfen. 
Wenn  Goethe  uns  trotz  dieser  strengeren  Haltung  in  seinen  Werken 
ein  fortgesetztes  Bekenntnis  abgelegt  hat,  so  dürfen  wir  dafür  der 
überschwängliehen,  mitteilungsfrohen  Empfindsamkeit  der  Sturm- 
und Drangperiode  dankbar  sein.  Es  war  damals  der  Stolz  aller 
höheren  Menschen,  in  Gefühlen  zu  schwelgen.  Diese  Stimmung 
der  ganzen  Umgebung  wirkte  auch  auf  Goethe  und  überwand  seine 
persönliche  Schamhaftigkeit.  Eine  ähnliche  Stellung  wie  diese 
Strömungen  zu  den  persönlichen  Bekenntnissen  des  jungen  Goethe 
nimmt  die  von  Kant  ausgehende  idealistische  Philosophie  zu  den 
Offenbarungen  der  Altersweisheit  ein.  Dass  ein  Mann  wie  Schiller 
in  der  Betrachtung  der  höchsten  Ziele  des  allgemeinen  Geistes 
lebte,  gab  auch  Goethe  den  Mut  und  die  Gelegenheit,  seine  tiefen 
Ahnungen  auszusprechen. 

Zwischen  der  geschilderten  Wandlung  des  Stils  und  der  Um- 
bildung von  Goethes  ästhetischer  Theorie  unter  Schillers  Einfluss 
besteht  ein  inniger  Zusammenhang.  Wie  in  jener  „sentimentalen" 
Betrachtungsart  der  selbstbewusste  Geist  den  Dingen  gegenüber 
mächtig  wird,  so  gelaugt  theoretisch  mehr  und  mehr  die  schaffende 
Kraft  des  Künstlers  zur  Anerkennung.  Goethes  lateresse  war  in  seinen 
früheren  Schriften  auf  das  Kunstwerk  und  seinen  Stil  gerichtet, 
die  Kantische  Ästhetik  sucht  dagegen  allgemein  die  Merkmale  des 
ästhetischen  Wertes,  des  Schönen  zu  erfassen.  Von  diesen  ver- 
schiedenen Ausgangspunkten  waren  aber  Beide  in  wichtigen 
Punkten    zu    den    gleichen  Resultaten  gelangt,    vor  allem  strebten 


324  J.  Cohn, 

sie  mit  deniselbeu  Kifer  danacli,  dio  Kunst  aus  der  Umg-aruuuf? 
durch  fremde  Interessen  zu  befreien.  Die  Forderung  des  Künstlers 
nacli  freier  Entfaltung-  seines  Genius  konnte  sich  leicht  mit  dem 
Streben  des  Philosophen  nach  reiner,  begrifflicher  Abgrenzung 
verbinden.  Für  Beide  entstand  nun  auch  dasselbe  Problem,  wie 
nämlich  diese  in  ihrer  Selbständigkeit  erfasste  Kunst  zu  dem 
ausserkünstlerischen  Gebiete  der  Natur  und  des  Geistes  sich 
verhalte.  Insbesondere  an  der  Stellungnahme  zu  dem  Verhältnis 
von  Natur  und  Kuust  kann  man  die  Wandlungen  von  Goethes 
Ansichten  verfolgen. 

Die  Ästhetik  des  Sturmes  und  Dranges  ist  entschiedener 
Naturalismus.  Werther  schreibt  einmal,  bei  Gelegenheit  einer 
Zeichnung  nach  der  Natur,  die  ihm  gelingt:  „Das  bestätigte  mich 
in  meinem  Vorsatze,  mich  künftig  allein  an  die  Natur  zu  halten. 
Sie  allein  ist  unendlich  reich  und  sie  allein  bildet  den  grossen 
Künstler."  ')  Charakteristik  der  Darstellung,  Stärke  des  Gefühles, 
Fülle  des  Erlebens  sind  die  Ziele  dieser,  wie  jeder  naturalistischen 
Kunst.  Besondere  Färbung  gewinnt  ihr  Naturbegriff  durch  das 
Herüberwirken  der  Rousseauschen  Kulturfeindschaft  und  durch  jene 
Verehrung  der  Kraft,  die  wir  schon  auf  ethischem  Gebiete  beob- 
achtet haben.  Bei  Goethe  gesellt  sich  dazu  das  innige  Gefühl 
für  die  Einheit  der  Natur,  deren  Herrlichkeit  sich  in  den  kleinsten 
wie  in  den  grössten  Erscheinungen  offenbart.  „Ehr'  jede  krüpp- 
liche  Kartoffel,"  ruft  er  Freuud  Merck  zu  2)  und  verkündet: 

„Wer  mit  seiner  Mutter,  der  Natur,  sich  hält, 

Find't  im  Stengelglas  wohl  eine  Welt."  3) 

Aber  schon  im  Jahre  1775  beginnt  eine  Wandlung  oder  min- 
destens Ergänzung  dieses  Naturalismus.  Das  entschiedene  Form- 
gefühl Goethes  fängt  auch  theoretisch  au,  zur  Geltung  zu  kommen, 
vielleicht  tritt  der  Einfluss  Winckelmanns,  den  Goethe  in  Leipzig 
durch  Oeser  empfangen  hatte,  dabei  wieder  an  die  Oberfläche. 
In  dem  Aufsatze,  den  H.  L.  Wagner  unter  dem  'JMtel  „aus  Goethes 
Brieftasche"  seiner  Übersetzung  von  Merciers  neuem  Versuch  über 


1)  Brief  vom  26.  Mai  1771.  Der  junge  Goethe  3,  244  f.  Ähnlich 
sagt  Lotte,  16.  Juni  1771.  a.  a.  O.  3,  252  f.  „Und  der  Autor  ist  mir  der 
liebste^  in  dem  ich  meine  Welt  wiederfinde,  bei  dem's  zugeht  wie  um 
mich,  und  dessen  Geschichte  mir  doch  so  interessant,  so  herzlich  wird,  als 
mein  eigen  häuslich  Leben"  .  .  . 

2)  „In  eine  Zeichenmappe"  Der  junge  Goethe  III,  156. 

3)  „Brief",  a.  a.  0.  III,  169  f. 


ö 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  325 

die  Schauspielkunst  angehäng-t  hat,  wird  bei  aller  Gegnerschaft 
gegen  die  äussere  konventionelle  Form  des  französischen  Theaters 
doch  die  Wichtigkeit  einer  „inneren  Form''  betont.  Diese  „innere 
Form"  prägt  das  unmittelbare  Kuustgefühl  des  Dichters  dem  Werke 
auf ;  sie  ist  eine  Veränderung  der  Natur,  deren  Notwendigkeit 
Goethe  hier  zum  ersten  Male  hervorhebt.  „Jede  Form,  auch  die 
gefühlteste,  hat  etwas  Unwahres,  allein  sie  ist  ein  für  allemal 
das  Glas,  wodurch  wir  die  heiligen  Strahlen  der  verbreiteten 
Natur  in  das  Herz  der  Menschen  zum  Feuerblick  sammeln."  ')  In 
den  Beiträgen  zu  Lavaters  physiognomischen  Fragmenten,  die 
durch  E.  von  der  Hellens  Untersuchungen  für  Goethe  gesichert 
sind,  wird  sogar  einmal,  bei  Gelegenheit  eines  Kopfes  nach  Ea- 
phael,  künstlerische  Wahrheit  und  Naturwahrheit  einander  ent- 
gegengestellt: „und  die  übermässig  vorstehende  Oberlippe,  ein 
Beispiel  zur  Bemerkung,  wie  Raphael  um  Wahrheit,  Bedeutung 
und  Wirkung  hervorzubringen,  selbst  die  Wahrheit  aufopfert."'-^) 
In  gerader  Linie  führt  von  hier  aus  Goethes  Entwickelung  bis  zu 
jenen  Aufsätzen,  in  denen  er  die  ästhetischen  Resultate  der  ita- 
lienischen Reise  niedergelegt  hat:  Jetzt  erscheint  die  einfache 
Nachahmung  der  Natur  nur  noch  als  bescheidene  Vorstufe,  von 
der  aus  der  grosse  Künstler  sich  zum  Stil  erhebt.  Aber  auch 
der  Stil  wird  als  Darstellung  der  Natur  aufgefasst;  auf  dieser 
höchsten  Stufe  erfasst  der  Künstler  hinter  den  zufälligen  Erschei- 
nungen der  blossen  Wirklichkeit  das  wahre  Wesen  der  Dinge. 
Diese  Unterscheidung  von  Wahrheit  und  Wirklichkeit  ist  ein 
vielfach  vermittelter  Nachklang  der  platonischen  Ideenlehre,  der 
wohl  von  Winckelmann  zu  Goethe  herübertönte.  Doch  erhalten  bei 
diesem  die  überlieferten  Gedanken  neuen  Inhalt  durch  die  Erfahrungen 
des  künstlerisch  intuitiven  Naturforschers,  der  die  schaffende 
Natur  beim  Werk  zu  belauschen  glaubt.  „Wie  die  einfache 
Nachahmung  auf  dem  ruhigen  Dasein  und  einer  liebevollen 
Gegenwart  beruht,  die  Manier  eine  Erscheinung  mit  einem 
leichten,  fähigen  Gemüt  ergreift,  so  ruht  der  Stil  auf  den  tiefsten 
Grundfesten  der  Erkenntnis,  auf  dem  Wesen  der  Dinge,  insofern 
uns  erlaubt  ist,  es  in  sichtbaren  und  greifbaren  Gestalten  zu  er- 
kennen." 3)    Moritz  hatte  unter  Goethes  Einfluss  ähnliche  Gedanken 


1)  a.  a.  0.  3,  686  f. 

2)  w.  I,  37,  ms,  6. 

3;  W.  I,  47,  80,  10. 


326  J.  Cohn, 

in  seiner  Schrift  über  die  bildende  Nachahmung  des  Schönen  an 
ältere  der  Leibnizischen  Schule  ang-ehörige  Auffassungen  auge- 
knüpft und  im  einzelnen  Kunstwerk  einen  verkleinerten  Abdruck 
der  h(3chsten  Schönheit  des  Universums  gesehen.  Diese  Wendung, 
die  uns  schon  bei  Lessing  begegnet,  billigt  Goethe  ausdrückUch 
in  seiner  Anzeige  von  IVIoritz'  Arbeit. ')  Stimmen  doch  Beide  darin 
überein,  dass  Kunstschaffen  und  Kunstgenuss  eine  gemeinsame 
Voraussetzung  haben:  „Ruhige  Betrachtung  der  Natur  und  Kunst 
als  eines  einzigen,  grossen  Ganzen." 

Die  naive  Sicherheit  des  Glaubens,  dass  der  wahre  Künstler 
das  Wesen  der  Dinge  erfasse,  wird  durch  Schillers  Einfluss  zer- 
stört, aber  die  Analogie  von  Naturforschung  und  Kunst  bleibt  be- 
stehen. Auf  beiden  Gebieten  zugleich,  so  kann  man  w^ohl  sagen,  wird 
die  platonische  Idee  durch  die  Idee  im  Sinne  Kants  und  Schillers 
ersetzt.  Nicht  mehr  in  passivem  Anschauen  empfängt  der  Mensch 
eine  fertige  objektiv  vorliegende  Idee,  sondern  durch  das  Thuu  des 
Geistes  bringt  er  sie  hervor.  Dabei  bleibt  die  Einheit  von 
Geist  und  Natur  Goethes  Grundüberzeugung,  aber  die  Natur  selbst 
wird  inniier  bewusster  vergeistigt,  und  die  Einheit  ist  nicht  mehr 
selbstverständliche  Voraussetzung  sondern  höchstes  nie  ganz  er- 
reichbares Ziel  des  Erkennens.  Diese  gleichartige  Entwickelung 
auf  naturwissenschaftlichem  und  kunsttheoretischem  Gebiete  er- 
möglicht es  Goethe  auch  spät  noch,  beide  als  eine  Einheit  zu  be- 
handeln. So  rühmt  er  1823  von  dem  Künstler  des  Parthenon- 
giebels, dass  er  in  dem  Pferdekopf,  den  Lord  Elgin  nach  London 
gebracht  hatte,  ein  „Urpferd"  geschaffen  habe.'^)  Ähnlich  heisst 
es  1830,  dass  die  phantastischen  Metamorphosen  der  Arabesken 
sich  um  so  anmutiger  und  zugleich  möglicher  darstellen,  je  mehr 
sie  sich  der  natürlichen  Metamorphose  anschUessen.  ^)  Bleibt  es 
so  Goethes  Streben,  Kunst  und  Naturforschung  in  eins  zu  fassen, 
so  ist  doch  das  Verhältnis  beider  Gebiete  durch  die  philosophische 
Betrachtungsweise  problematischer  geworden.  Wer  die  Produk- 
tivität des  Geistes  in  der  Idee  anerkennt,  der  muss  auch  die 
verschiedene  Richtung  der  Produktion  beim  Künstler  und  beim 
Naturforscher  bemerken.     Zu  der  Frage   nach  dem  Verhältnis  von 


1)  W.  I,  47,  84—90. 

2)  ^jtiber   die  Anforderungen   an  naturhistorische  Abbildungen".    W. 
II,  12,  147. 

2)  Anzeige    von  Zahns    ponipejanischen  Ornamenten    und  Gemälden. 
W.  I,  49,  1,  181,  24. 


Bas  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  327 

Geist  und  Natur  im  Kunstschaffen  gesellt  sich  die  andere  nach 
dem  Verhältnis  des  künstlerischen  und  des  wissenschaftlichen  Geistes 
zu  einander.  Beide  Probleme  sind  für  Goethe  erst  durch  Schiller 
wichtig  geworden.  Während  in  den  Aufsätzen,  die  sich  an  die  ita- 
lienische Reise  anschliessen,  wahres  Wesen  der  Natur,  Ergeb- 
nis der  Naturforschung  und  künstlerische  Wiedergabe  der  wahren 
Natur  kurz  und  wie  selbstverständlich  in  eins  gesetzt  wird,i)  ist 
das  in  den  Aufsätzen  der  Propyläen  und  den  Entwürfen  und  Stu- 
dien, die  sich  um  diese  Zeitschrift  gruppieren  ganz  anders  geworden. 
In  der  Einleitung  zu  den  Propyläen  will  Goethe  die  Absicht  recht- 
fertigen, im  Interesse  der  Künstler  auch  Naturwissenschaftliches 
in  seine  Zeitschrift  aufzunehmen.  Zehn  Jahre  früher  wäre  ihm 
das  selbstverständlich  gewesen,  jetzt  bedarf  es  der  Begründung. 
Man  bedenke  im  allgemeinen  nicht,  wie  ungeheuer  die  Anforderung 
sei,  sich  an  die  Natur  zu  halten,  die  an  den  Künstler  leichthin 
gestellt  werde.  Alles  Wahrgenommene  ist  für  den  Künstler 
„roher  Stoff'',  selten  und  schwer  genug  gelangt  er  dazu,  auch 
nur'  durch  geschmackvolle  Auswahl  den  Dingen  „ihre  äussere 
schöne  Seite  abzugewinnen".  Aber  noch  viel  seltener  ist  es,  „dass 
ein  Künstler  sowohl  in  die  Tiefe  der  Gegenstände,  als  in  die  Tiefe 
seines  eigenen  Gemüts  zu  dringen  vermag,  um  in  seinen  Werken 
nicht  bloss  etwas  leicht  und  oberflächlich  Wirkendes,  sondern 
wetteifernd  mit  der  Natur  etwas  geistig  Organisches  hervorzu- 
bringen und  seinem  Kunstwerk  einen  solchen  Gehalt,  eine  solche 
Form  zu  geben,  wodurch  es  natürlich  zugleich  und  übernatürlich 
erscheint."-)  Durch  einen  Doppelsinn  kommt  Goethe  hier  zu 
seinem  Ziele.  Er  will  dem  Künstler  die  Anatomie  anpreisen  und 
setzt  dazu  das  im  körperlichen  Sinne  „tiefe"  Innere  mit  der 
geistigen  „Vertiefung"  gleich.  Beides  hängt  in  der  That  für  ihn 
zusammen,  da  ein   tieferes  Verständnis  des  Körpers  nur  durch  die 


^)  Die  Anordnung  der  Weimarer  Ausgabe  erschwert  diese  Ver- 
gleichung.  Chronologische  Folge  war  durcli  den  Plan  der  Ausgabe 
ausgeschlossen.  Warum  aber  z.  B.  der  Aufsatz  „Von  Arabesken"  nicht 
wie  in  allen  von  Goethe  selbst  besorgten  Ausgaben  hinter  „Einfache 
Nachahmung  etc."  direkt  folgt,  sondern  durch  ca.  150  S.  davon  getrennt 
ist,  erscheint  unverständlich.  Den  innigen  sachlichen  Zusammenhang 
beider  Aufsätze  hat  H.  v.  Stein :  Goethe  und  Schiller,  Beiträge  zur  Ästhe- 
tik der  deutschen  Klassiker  (Reclam)  S.  30  dargelegt.  In  der  Cottaschen 
Jubiläumsausgabe  hat  W.  v.  Oettingen  mit  Recht  die  Schriften  zur  Kunst 
chronologisch  geordnet  (Bd.  33  f.) 

2)  W.  I,  47,  12. 


328  .T.  Cohn, 

Kenntnis  dessen  zu  gewinnen  ist,  was  unter  der  Haut  liegt.  In- 
dessen bleibt  die  Natur  für  den  Künstler  immer  nur  die  Schatz- 
kammer der  Stoffe.  ,.Indem  der  Künstler  irgend  einen  Gegenstand 
der  Natur  ergreift,  so  gehört  dieser  schon  nicht  mehr  der  Natur 
au,  ja  man  kann  sagen,  dass  der  Künstler  ihn  in  diesem  Augen- 
blick erschaffe,  indem  er  ihm  das  Bedeutende,  Charakteristische, 
Interessante  abgewinnt  oder  vielmehr  erst  den  höheren  Wert  hin- 
einlegt."') Viel  entschiedener  noch  hat  Goethe  in  den  Anmerkungen 
zu  Diderots  Versuch  über  die  Malerei  Künstler  und  Naturforscher 
kontrastiert,  während  Diderot  sie  unterschiedslos  neben  einander  ge- 
stellt hat.  „Das  Äussere  des  Gefässes,  das  lebendige  Ganze,  das  zu 
allen  unseren  geistigen  und  sinnlichen  Kräften  spricht,  unser  Ver- 
langen reift,  unseru  Geist  erhebt,  dessen  Besitz  uns  glücklich 
macht,  das  Lebensvolle,  Kräftige,  Ausgebildete,  Schöne,  dahin  ist 
der  Künstler  angewiesen.  Auf  einem  ganz  anderen  Wege  muss 
der  Naturbetrachter  gehen.  Er  muss  das  Ganze  trennen,  die 
Oberfläche  durchdringen,  die  Schönheit  zerstören,  das  Notwendige 
kennen  lernen  und,  wenn  er  es  fähig  ist,  die  Labyrinte  des  orga- 
nischen Baues  wie  den  Grundriss  eines  Irrgartens,  in  dessen 
Gängen  sich  so  viele  Spaziergänger  abmüden,  vor  seiner  Seele 
festhalten.""^)  In  dem  Gespräch  über  Wahrheit  und  Wahrschein- 
lichkeit der  Kunstwerke  wurd  an  den  extremen  und  deshalb  so 
lehrreichen  Fällen  der  Theaterdekoration  und  der  Oper  der  Unter- 
schied von  Naturwahrheit  und  innerer  Wahrheit  erläutert.  Auf 
die  Konsequenz  der  Durchführung  kommt  es  im  Kunstwerk  an. 
Nur  der  ganz  ungebildete  Zuschauer,  der  wie  die  Sperlinge  dv^s 
Zeuxis  seine  Gier  an  das  Kunstwerk  heranbringt,  will  Natur  sehen, 
wo  ihm  Kunst  vor  Augen  geführt  wird.  Trotzdem  bleibt  auch  für 
einen  gebildeten  Geschmack  im  Kunstwerk  etwas  Naturartiges  be- 
stehen. Das  war  auch  von  Kant  in  dem  Ausspruche  hervorgehoben 
worden,  die  Kunst  sei  schön,  wenn  wir  uns  bewusst  seien,  sie  sei 
Kunst,  und  sie  uns  doch  wie  Natur  aussehe.  Im  Anschluss  an 
diese  Andeutung  Kants  entwickelte  Schiller  seine  Lehre  von  der 
Freiheit    in    der    Technik.^)      Goethe    steht    Beiden    nahe,    nur 


')  W.  I,  47,  17,  17. 

-)  G.  plante  die  Übersetzung  und  Kommentierung  seit  August  1796. 
Die  Arbeit  gehört  dem  August-November  1798  an  und  erscliien  in  d. 
Propyläen  1799.    W.  I,  45,  352  f.   Die  citierte  Stelle :  W.  I,  45,  254,  27. 

3)  Kritik  der  Urteilskraft  §45.  ed.  Kehrbach  S.  173.  Schillers  Brief 
an  Körner,  23.  Febr.  1793. 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  329 

klingt  bei  ihm  eine  metaphysische  Auffassung-  der  Einheit  von 
Menschengeist  und  Natur  entschiedener  mit.  Als  Werk  des 
menschlichen  Geistes  ist  das  vollkommene  Kunstwerk  zugleich  ein 
Werk  der  Natur,  aber  durch  die  vereinigende  und  veredelnde 
Thätigkeit  des  Geistes  erhebt  es  sich  trotzdem  über  die 
Natur.»)  In  einem  Fragmente,  das  unter  den  Paralipomenis  zu 
den  Propj'läen  in  der  Weimarer  Ausgabe  veröffentlicht  ist  und 
dort  den  Titel  „von  der  Natur  zur  Kunst"  führt,  2)  können  wir 
Goethe  gleichsam  beim  Nachdenken  über  diese  Fragen  belauschen, 
wir  hören  fast,  wie  er  abgerissene  Sätze  und  Kernworte  in  Geists 
Feder  diktiert.  Von  dem  Naturforscher  geht  er  aus.  Dieser  gelangt 
bei  seinem  Bemühen,  immer  ausgebildetere  und  bestimmtere  Ge- 
stalten zu  fassen,  bis  zu  den  Nationalphysioguomien.  „Hier  aber 
kann  er  nicht  weiter."  Augenscheinlich  muss  man  an  dieser  Stelle 
des  Fragments  den  Gedanken  ergänzen,  dass  zur  höchsten  Be- 
stimmtheit der  individuellen  Gestalt  nur  die  Anschauung  des 
Schönen  führen  kann.  Denn  Goethe  fährt  fort:  „Alle  Naturen, 
die  Verhältnis  haben,  suchen  sich,  und  finden  sich  angenehm.  — 
Wo  nicht  schön  —  Erfahrung  bringt  Zweifel,  was  schön  sei.  — 
Für  den  Künstler  ist  nichts  geschehen.  ^)  —  Die  Erfahrung  mag 
nicht  Recht  schaffen.  —  Und  die  Erfahrung  keinen  Künstler.  — 
Die  Kunst  ist  konstitutiv.  —  Der  Künstler  bestimmt  die  Schön- 
keit, er  nimmt  sie  nicht  an."  Goethe  sucht  seiner  genetischen 
Geistesrichtung    gemäss    die  Schönheit    an    einfache  Naturverhält- 


1)  W.  I,  47,  265,  5.  Das  Gespräch  gehört  innig  mit  dem  kleinen 
Kunstroman  „Der  Sammler  und  die  Seinigen"  zusammen.  Eine  der  Haupt- 
figuren dieses  Werkchens,  der  junge  Philosoph,  ist  begeisterter  Anhänger 
Kants  nnd  Schillers.  Er  führt  alle  Künste  auf  ihre  gemeinsame  Wurzel, 
das  menschliche  Gemüt  zurück  und  lässt  deutlich  durchblicken,  dass 
auch  die  Natur  ein  Produkt  des  schaffenden  Geistes  ist.  „Es  giebt  keine 
Erfahrung,  die  nicht  produziert,  hervorgebracht,  erschaffen  wird."  (W.  I, 
47,  175,  4.)  Man  könnte  gegen  die  Beweiskraft  solcher  Aussprüche  frei- 
lich anführen,  dass  Goethe  sich  keineswegs  ohne  weiteres  mit  dem  jungen 
Philosophen  identifiziert.  Ich  lege  daher  auch  auf  die  angeführten  Stellen 
aus  der  Einleitung  in  die  Propyläen  und  dem  Gespräch  über  Wahrheit 
und  Wahrscheinlichkeit  ein  weit  grösseres  Gewicht  als  auf  die  Aussprüche 
des  Philosophen  im  Sammler. 

2)  W.  I,  47,  292. 

3)  So  steht  im  Manuskript.  0.  Harnack,  der  Herausgeber  von  W.  I, 
47,  hält  „geschehen"  für  einen  Hörfehler  und  verbessert  es  in  „schön". 
Die  folgende  Interpretation  zeigt,  warum  ich  den  Text  für  richtig  über- 
liefert halte. 

Kantatudisn  X.  22 


330  J.  Cohn, 

nisse,  an  die  Sympathie  verschiedener  Wesen  zu  einander  anzu- 
knüpfen. Aber  gerade  die  Verschiedenheit  der  natürlichen  Sym- 
pathien bringt  die  belcannten  empiristischen  Zweifel  au  der  Norm 
des  Schönen  mit  sich.  Für  den  Künstler  ist  durch  Heranziehung 
solcher  Erfahrungen  nichts  geschehen.  An  dieser  Stelle  gewinnt 
dann  der  Kant-Schillersche  Gedanke  von  der  schaffenden  Macht 
des  Künstlers,  von  dem  normativen,  konstitutiven  Charakter  der 
Kunst  seine  Bedeutung.  Beobachten  wir  hier,  wie  die  neuen, 
philosophischen  Gedanken  Aufnahme  in  den  alten  Kreis  von  Goethe- 
Überzeugungen  finden,  so  ist  das  Resultat  dieses  Verschmelzuugs- 
prozesses  ^)  in  prägnantester  Form  in  einer  zusammenhängenden 
Reihe  der  erst  aus  dem  Nachlass  veröffentlichten  Sprüche  in  Prosa 
niedergelegt."^)  Ausdrücklich  fordert  hier  Goethe  von  jedem,  der 
gegenwärtig  über  Kunst  schreiben  oder  streiten  will,  einige  Ahnung 
von  dem,  was  die  Philosophie  in  unseren  Tagen  geleistet  hat  und 
zu  leisten  fortfährt  (704),  Unter  dieser  Philosophie  ist,  wie  sich 
im  Folgenden  zeigt,  die  Kantische  zu  verstehen,  die  zur  Bekämpf- 
ung des  Naturalismus  und  zur  Aufklärung  des  Künstlers  über  sein 
eigenes  Thun  die  Mittel  darbietet.  Es  ist  eine  alte  Erfahrung, 
dass  der  Künstler  überschätzt,  was  ihm  die  Natur  unmittelbar 
entgegenbringt.  „Wenn  Künstler  von  Natur  sprechen,  subiutelli- 
gieren  sie  immer  die  Idee,  ohne  sichs  deutlich  bewusst  zu  sein" 
(711).  Sie  vergessen  den  Anteil  ihres  eigenen  Geistes  und  gleichen 
denen,  die  ausschliesslich  die  Erfahrung  anpreisen;  „sie  bedenken 
nicht,  dass  die  Erfahrung  nur  die  Hälfte  der  Erfahrung  ist"  (712). 
Batteux  Begriff  einer  Nachahmung  der  schönen  Natur  ist  haltlos; 
denn  die  Wahl  des  Schönen  bedarf  einer  Norm,  die  nicht  in  der 
Natur  liegen  kann  (713).  An  dem  Beispiel  der  malerischen  Dar- 
stellung eines  Baumes  wird  dann  der  aktive  Anteil  des  künstle- 
rischen Geistes  deutlich  gemacht  (714).  Als  das  Resultat  dieser 
Überlegungen  erscheint  der  Spruch :  „Gerade  das,  was  ungebildeten 


^j  Vgl.  aucli  die  neuen  Unterhaltungen  über  verschiedene  Gegen- 
stände der  Kunst,  1808,  wo  es  W.  I,  48,  137,1  heisst :  „Die  Natur  ist  schön, 
bis  an  eine  gewisse  Grenze.  Die  Kunst  ist  schön  durch  ein  gewisses 
Mass.  Die  Naturschönheit  ist  den  Gesetzen  der  Notwendigkeit  unter- 
worfen, die  Kunstschönheit  den  Gesetzen  des  liöchstgebildeten  mensch- 
lichen Geistes,  jene  erscheint  uns  daher  gleichsam  gebunden,  diese  gleich- 
sam frei." 

2)  S.  i.  P.  704 — 720,  die  einen  zusammenhängenden  Abschnitt  bilden; 
710—717  enthalten  den  Kern  des  Gedankenganges.  Ich  setze  im  Text  die 
Nummern  eingeklammert  bei. 


Bas  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  331 

Menschen  am  Kunstwerk  als  Natur  auffällt,  das  ist  nicM  Natur 
(von  aussen),  sondern  der  Mensch  (Natur  von  innen)"  (716), 
Klingt  schon  hier  die  Einheit  von  Geist  und  Natur  an,  so  tritt 
Goethes  Grundüberzeuguug,  dass  die  höchste  That  unseres  Denkens 
schliesslich  wieder  mit  der  Gottnatur  übereinstimmen  wird,  deut- 
licher in  den  zwei  Sprüchen  hervor,  mit  denen  Goethe  diese  ganze 
Betrachtungsreihe  einrahmt.  Am  Anfang  heisst  es  kurz  und  fast 
rätselhaft:  ,.Natur  und  Idee  lässt  sich  nicht  trennen,  ohne  dass 
die  Kunst  so  wie  das  Leben  zerstreut  werde"  (710).  Am  Schlüsse  ist 
das  Rätsel  gleichsam  gelöst,  im  Herzen  des  Menschen  liegt  der  Kern 
der  Natur,  wir  dürfen  die  Zuversicht  hegen,  dass  die  notwendigen 
Erzeugnisse  unseres  Geistes  von  der  Natur  nicht  verleugnet 
werden:  „Suchet  in  euch,  so  werdet  ihr  alles  finden  und  erfreuet 
euch,  wenn  da  draussen,  wie  ihr  es  immer  heissen  möget,  eine 
Natur  liegt,  die  Ja  und  Amen  zu  allem  sagt,  was  ihr  in  euch 
selbst  gefunden  habt"  (720). 

Mit  alle  dem  ist  die  Frage  noch  nicht  in  Angriff  genommen, 
wie  denn  nun  die  Idee  in  der  geschlossenen  Form  des  Kunstwerks 
zum  Ausdruck  kommt.  Schon  die  Unerreichbarkeit  der  Idee  be- 
weist, dass  es  sich  nicht  um  eine  direkte,  einfache  Darstellung 
handeln  kann;  ebensowenig  darf  man  an  ein  gewöhnliches  Gleich- 
nis denken.  Vielmehr  besteht  ein  ganz  eigenartiges  Verhältnis, 
für  das  der  Ausdiuck  „Symbol"  eintritt.  Bei  der  Bedeutung,  die 
dies  Wort  in  Goethes  späteren  Schriften  gewinnt,  ist  es  wichtig, 
hervorzuheben,  dass  es  vor  Schillers  Einfluss  nicht  vorzukommen 
scheint.  In  den  Aufsätzen  über  Kunst,  die  sich  an  die  italienische 
Reise  anschliessen,  fehlt  es  ebenso,  wie  in  den  frühen  naturwissen- 
schaftlichen Schriften.  Auch  in  den  Schriften  der  Sturm-  und 
Draugzeit  und  in  den  Dichtungen  der  vorschillerschen  Periode 
habe  ich  es  bisher  nicht  gefunden,  i)  Die  älteste  Stelle,  an  der 
ich  es  nachweisen  kann,  steht  im  7.  Kapitel  des  8.  Buches  der 
Lehrjahre.  2)     Häufiger    wird    der  Gebrauch  seit  dem  Jahre  1797. 

1)  Dass  Goethe  noch  1791  das  Wort  „Symbol"  fehlte,  aber  auch,  wie 
nahe  ihm  der  Symbolbegriff  schon  damals  lag,  beweist  schlagend  die  Bei- 
lage zu  dem  Brief  an  Meyer  vom  13.  März  1791,  in  der  es  heisst:  „Was 
die  Erfindung  betrifft,  so  haben  Sie,  dünkt  mich,  die  glückliche  Linie  ge- 
troffen, worüber  die  Allegorie  nicht  hinausgehen  sollte.  Es  sind  alles  be- 
deutende Figuren,  sie  bedeuten  aber  nicht  mehr,  als  sie  zeigen,  und  ich 
darf  wohl  sagen,  nicht  mehr  als  sie  sind." 

2)  „Diese  Kunstwerke,  die  sein  Vater  verkauft  hatte,  schienen  ihm 
ein  Symbol,    dass   auch  er  von  einem  ruhigen  und  gründlichen  Besitz  des 

22* 


332  J.  Cohn, 

So  findet  sich  im  Briefwechsel  mit  Schiller  Symbol  in  Goethes 
Briefen  zum  ersten  Mal  am  16.  August  1797;^)  aus  dem  Tage- 
buche ist  einen  Monat  später  ersichtlich  (13.  September  1797), 
dass  Goethe  Symbol  und  Allegorie  unterscheidet. 

Unter  diesen  Umständen  wird  man  in  den  Sinn  von  Goethes 
Symbolbegriff  nur  eindringen,  wenn  man  dessen  Ursprung  bei 
Kant  und  seine  Weiterbildung  durch  Schiller  heranzieht.  Das  reine 
Denken  kann  nach  Kants  Grundüberzeugung  für  sich  allein  dem 
Menschen  keine  Erkenntnis  geben,  sondern  muss  sich  überall  mit  der 
Anschauung  verbinden.  So  gewinnen  die  Kategorien,  die  reinen 
Formen  des  theoretischen  Denkens  ihre  Anwendbarkeit  erst  durch 
Aufnahme  der  reinen  Anschauungsform  der  Zeit,  im  Schematismus. 
Für  die  reine  praktische  Vernunft,  für  das  freie,  durch  eigenes 
Gesetz  allein  bestimmte  sittliche  Handeln  ist  eine  solche  direkte 
Aufnahme  eines  Elementes  der  reinen  Anschauung  ebenso  wenig 
möglich  wie  eine  Darstellung  durch  ein  Beispiel.  Die  Veranschau- 
lichung, die  doch  auch  hier  nötig  ist,  wenn  die  Vernunftidee  wirk- 
sam werden  soll,  wird  in  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft 
durch  das  Naturgesetz  geleistet.  Durch  die  Form  der  unbedingten 
Gesetzlichkeit  wird  es  zum  Typus  oder,  wie  einmal  gleichbedeutend 
mit  Typus  gesagt  ist,  zum  „Symbol"  der  Sittlichkeit.  2)  Dagegen 
erscheint  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  das  Schöne  als  Symbol 
des  Sittlichen.  3)  Auch  hier  liegt  die  symbolisierende  Kraft  in 
den  formalen  Eigentümlichkeiten;  die  Allgemeinheit,  Notwendig- 
keit, Interesselosigkeit  und  Freiheit  des  Schönen  symbolisieren  die 
reine  Sittlichkeit.  Wollen  wir  diesen  Begriff  des  Symbols  genauer 
bestimmen,  so  müssen  wir  drei  Punkte  beachten :  was  im  Schönen 
symbolisch  dargestellt  ist,  wodurch  es  dargestellt  ist,  und  wie  die 
Vermittelung  zwischen  Dargestelltem  und  Darstellendem  zu  denken 
ist.  Das  symbolisch  Dargestellte  ist  die  Sittlichkeit,  die  Idee  der 
praktischen  Vernunft,  Darstellungsmittel   sind  die  formalen  Eigen- 


Wünschenswerten  in  der  Welt  teils  ausgeschlossen,  teils  desselben  durch 
eigene  und  fremde  Schuld  beraubt  werden  sollte."  Zur  selben  Zeit,  als  G. 
am  8.  Buch  arbeitete,  Hess  er  für  Meyer  eine  das  Symbol  betreffende 
Stelle  aus  der  Kritik  der  Urteilskraft  abschreiben  (20.  Juni  1796). 

1)  An  der  schon  zitierten  Stelle  über   die  sentimentale  Stimmung  in 
Frankfurt'. 

2)  I.  Teil,    ].  Buch,    2.  Hauptstück:    „Von    der   Typik   etc."    Werke, 
2.  Hartensteinsche  Ausgabe  V,  75. 

3)  §  ö9.   ed.  Kehrbach   S.  228  ff.,    cf.    meine    „Allgemeine   Ästhetik" 
166-158. 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  333 

tümlichkeiteu  des  Schönen,  die  Art  der  Verraitteluug  wird  als 
intuitiv  bezeichnet.  Diese  letzte  Bestiraniung'  bedeutet,  dass  in 
der  symbolischen  Anschauung  die  Idee  unmittelbar  erfasst  wird, 
während  bei  der  Allegorie  die  Anschauung  verlassen  werden 
muss,  damit  man  in  diskursiven  Vergleichungsurteilen  das  Ge- 
meinte verstehe. 

Die  Weiterbildung  der  Kantischen  Gedanken  bei  unseren 
Dichtern  erfolgt  nun  so,  dass  die  intuitive  Vermittelung  als  der 
eigentlich  konstante  Kern  des  Gedankens  festgehalten  wird,  wäh- 
rend die  Auffassung  des  Dargestellten  und  des  Darstellungsmittels 
sich  allmählich  w^andelt.  Zu  dieser  Entwickeluug  bot  Kant  selbst 
die  Keime  dar.  Er  bezeichnet  direkt  das  Schöne  freilich  nur  als 
Symbol  der  Sittlichkeit ;  aber  in  dem  Grenzbegriff  der  Idee  treffen 
bei  ihm  theoretische  und  praktische  Vernunft  zusammen.  Idee  ist 
nicht  nur  die  Vollendung  der  Sittlichkeit,  sondern  ebenso  der  ge- 
forderte und  doch  unerreichbare  Abschluss  der  theoretischen  Er- 
kenntnis. Beide  Bedeutungen  hängen  aufs  Innigste  zusammen,  da 
die  theoretischen  Ideen  dem  Menschen  nur  als  Postulate  der  prak- 
tischen Vernunft  zugänglich  sind.  Kant  selbst  sagt  in  dem  ent- 
scheidenden Paragraphen  der  Kritik  der  Urteilskraft,  dass  unsere 
Erkenntnis  von  Gott  bloss  symbolisch  ist,  ohne  allerdings  von 
diesem  Satze  eine  ästhetische  Anwendung  zu  machen.  Immerhin 
ist  damit  nahegelegt,  das  Gebiet  des  im  Schönen  symbolisch  Dar- 
gestellten auf  den  ganzen  Umkreis  der  Ideen  zu  erweitern.  In 
Bezug  auf  das  Darstellungsmittel  ferner  hat  Kant  in  dem  letzten 
iVbsatz  seiner  Ausführungen  selbst  schon  mit  der  Erweiterung 
begonnen.  AVenn  er  hier  als  Beispiele  ästhetischer  Symbolisierung 
anführt,  dass  wir  schöne  Gegenstände  der  Natur  oder  Kunst  als 
majestätisch,  lieblich  u.  s.  w.  bezeichnen,  so  ist  dabei  augenschein- 
lich nicht  mehr  an  die  Form  des  Geschmacksurteils  gedacht, 
sondern  an  die  Seite  des  Ästhetischen,  die  Neuere  als  Ausdruck 
zu  bezeichnen  pflegen.  Kant  hatte  das  Gefühl,  sich  in  dieser 
Schlussweudung  zum  gemeinen  Menschenverstand  herabzulassen, 
aber  eben  dadurch  machte  er  seine  Gedanken  anwendbar.  Es 
ist  sehr  bezeichnend,  dass  Goethe  gerade  diesen  Abschnitt  einem 
Briefe  au  Meyer  im  Abschrift  beilegen  lässt.  i) 

Noch  stärker  zeigt  sich  bei  Schiller  der  überwiegende  Einfluss 
dieses  letzten  Absatzes.  Er  hatte  schon  vor  dem  Erscheinen  der  Kritik 


1)  20.  Juni  1796.    cf.  S.  331,  Anm.  2. 


334  J.  Cohn. 

der  Urteilskraft  in  den  Künstlern  das  Schöne  und  Grosse  als  Sym- 
bol der  Wahrheit  g-epriesen, »)  wurde  aber  doch  erst  durch  Kant 
zu  eingehenderem  Nachdenken  über  diesen  Begriff  veranlasst.  In 
den  Vorlesungen  über  Ästhetik,  die  er  im  Winter  1792—93  hielt, 
begnügte  er  sich  mit  einem  einfachen  Referate  von  Kants  Lehre ; 
aber  schon  der  grosse  Brief  an  Körner  vom  23.  Februar  1793 
zeigt  den  Beginn  einer  Weiterbildung.  Unter  den  formalen 
Analogien,  die  Kant  zwischen  Geschmacksurteil  und  sittlichem  Ur- 
teil aufstellt,  wird  eine  für  Schiller  entscheidend:  im  Schönen 
stellen  wir  die  Freiheit  unserer  sinnlichen  Einbildungskraft  als 
einstimmig  mit  der  Gesetzmässigkeit  des  Verstandes  vor,  ebenso 
wie  im  moralischen  Urteil  die  Freiheit  des  Willens  als  seine  Zu- 
sammeustimmung  mit  sich  selbst  nach  allgemeinen  Veruunftgesetzen 
gedacht  wird.  Schiller  bildet  diesen  Gedanken  so  um,  dass  er  das 
Mittel  der  Symbolisieruug  aus  dem  ästhetischen  Urteil  in  das  ästhe- 
tische Objekt  verlegt.  Danach  ist  schön,  was  so  erscheint,  als  habe 
es  sich  aus  innerer  Freiheit  nach  einem  Gesetze  entwickelt,  dessen 
Gesetzmässigkeit  also  nichts  Gezwungenes  hat.  In  Anknüpfung 
an  einen  anderen  Kantischen  Gedanken  spricht  Schiller  von  Frei- 
heit in  der  Technik.  Die  Regelmässigkeit  der  Wellenlinie  ist 
schön,  nicht  die  der  gebrochenen  Linie.  ,.Darum  ist  das  Reich 
des  Geschmacks  ein  Reich  der  Freiheit,  —  die  schöne  Sinnenwelt 
das  glücklichste  Symbol  wie  die  moraUsche  sein  soll,  und  jedes 
schöne  Naturwesen  ausser  mir  ein  glücklicher  Bürge,  der  mir  zu- 
ruft: Sei  frei  wie  ich."  2)  Sehr  bald  erweitert  er  auch  den 
Kreis  des  symbolisch  Dargestellten.  In  der  Recension  über 
Matthisons  Gedichte,  die  den  ersten  Monaten  der  Freundschaft 
mit  Goethe  angehört,  wird  das  höhere  Recht  von  Landschafts- 
malerei und  Landschaftsdichtung  mit  Hilfe  der  Symbolik  abgeleitet. 
Dabei  erscheinen  zwei  Wege  gangbar,  auf  denen  die  unbeseelte 
Natur  ein  Symbol  der  menschlichen  werden  kann:  durch  Darstel- 
lung von  Ideen,  was  ganz  mit  Kants  Meinung  übereinstimmt,  oder 
durch  Darstellung  von  Empfindungen.    Mit  dieser  zweiten  Art  meint 


1)  Ob  hier  ein  durch  Körner  vermittelter  Einfluss  der  Kritik  der 
praktischen  Vernunft  (cf .  S.  332  Anm.  2)  vorliegt?  Undenkbar  ist  das  nicht; 
Seh.  benutzt  am  10.  Septbr.  1787  die  Formel  des  kategorischen  Imperativs 
(Briefe  ed.  Jonas  I,  409).  „Symbol"  finde  ich  vor  den  Künstlern  (1789)  nur 
im  gewöhnlichen  Sinne  (=  Sinnbild)  —  an  Huber  5.  Okt.  1785.  Briefe 
I,  270. 

2)  Briefe  III,  284  f. 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  335 

Schiller  die  gleichsam  musikalische  Wirkung-  der  Landschaft,  die 
Analogie,  die  zwischen  unseren  Gemütsbewegungen  und  ge- 
wissen äusseren  Erscheinungen  besteht,  jenen  allgemeinen  Aus- 
druckswert der  Landschaft,  den  man  heute  Stimmung  zu  nennen 
pflegt.  Das  symbolisch  Dargestellte  sind  hier  menschliche  Ge- 
mütsbewegungen, also  durchaus  nichts  Transscendentes  im  abso- 
luten Sinne  sondern  nur  Inhalte,  die  dem  dargelegten  Gegenstand 
nicht  für  sich  eigentümlich  sind.  Auf  dem  Wege  dieser  Erweiter- 
ung schreitet  Schiller  fort,  wenn  er  in  dem  Brief  an  Goethe  vom 
28.  November  1797  über  Richard  III.  sagt:  „Zu  bewundern  ist's, 
wie  der  Dichter  dem  unbehilflichen  Stoffe  immer  die  poetische 
Ausbeute  abzugewinnen  wusste,  und  wie  geschickt  er  das  reprä- 
sentiert, was  sich  nicht  präsentieren  lässt,  ich  meine  die  Kunst, 
Symbole  zu  gebrauchen,  wo  die  Natur  nicht  kann  dargestellt 
werden."  An  dieser  Stelle  zeigt  sich  aber  neben  der  Erweiterung 
des  symbolisch  Dargestellten  noch  eine  Änderung  in  der  Auffassung 
des  Darstellungsmittels.  Nicht  mehr  der  Ausdruckswert  des 
Schönen  ist  gemeint,  sondern  die  typische  Bedeutung  des  Kunst- 
werks, die  Fähigkeit  des  Künstlers,  in  einem  einzelnen  Falle  ein 
allgemeines  Gesetz  zum  Ausdruck  zu  bringen.  ^  Noch  deutlicher 
tritt  dieser  Gedanke,  in  dem  sich  der  Einfluss  der  Goetheschen 
Naturforschung  nicht  verkennen  lässt,  hervor,  wenn  Schiller  am 
23.  Juni  1797  über  den  Faust  schreibt,  dass  er  bei  aller  seiner 
dichterischen  Individualität  die  Forderung  an  eine  symbolische  Be- 
deutsamkeit nicht  ganz  von  sich  weisen  könne.  „Die  Duplicität 
der  menschlichen  Natur  und  das  verunglückte  Bestreben,  das 
Göttliche  und  das  Physische  im  Menschen  zu  vereinigen,  verliert 
man  nicht  aus  den  Augen;  und  weil  die  Fabel  ins  Grelle  und 
Formlose  geht  und  gehen  muss,  so  will  mau  nicht  bei  dem  Gegen- 
stand stille  stehen,  sondern  von  ihm  zu  Ideen  geleitet  werden." 

Mit  dieser  letzten  Ausbildung  des  Symbolbegriffes  stimmt 
Goethe  im  wesentlichen  überein.  Nur  hat  er  in  zahlreichen 
Äusserungen  durchgeführt,  was  in  den  wenigen  Schillerschen 
Briefstellen  angedeutet  liegt.  Da  übrigens  Schiller  an  den  ange- 
führten Orten  Goethes  Einfluss  deutlich  erkennen  lässt,  so  dürfen 
wir  füglich  diese  Ausbildung  des  Symbolbegriffes  als  gemeinsames 


1)  Ähnlich  ist  wohl  die  Stelle  in  Sch.s  Brief  an  G.  vom  29.  Dez.  97 
zu  verstehen,  an  der  von  symbolischen  Behelfen  im  Drama  die  Rede  ist. 
„Ich  habe  mir  diesen  Begriff  vom  Symbolischen  in  der  Poesie  noch  nicht 
recht  entw^ickeln  können,  aber  es  scheint  mir  viel  darin  zu  liegen." 


336  J.  Cohn, 

Eigentum    beider  Freunde    ansprechen.     Wie  schon  hervorgehoben 
wurde,  bleibt  in  allem  Wechsel  die  Ansicht  über  die  Vermitteluugs- 
art   konstaut.      Auch    Goethe    hebt    den    intuitiven  Charakter    des 
Symbolischen    überall    hervor,    ohne   allerdings  dieses  Wort  zu  ge- 
brauchen.    Sein    gegenständliches  Denken    erlaubt    ihm    das,    was 
Kant  nur  allgemein  gefordert  hatte,    näher  aus  eigener  Erfahrung 
zu    erläutern.     Er   verdeutlicht    seine  Meinung    ähnlich    wie   Kant 
durch  die  Entgegensetzung  von  Symbol  und  Allegorie.     „Die  Alle- 
gorie verwandelt  die  Erscheinung  in  einen  Begriff,  den  Begriff  in 
ein  Bild,  doch  so,  dass  der  Begriff  im  Bilde  immer  noch  begrenzt 
und  vollständig  zu  halten   und  zu  haben  und  an  demselben  auszu- 
sprechen   sei."      „Die    Symbohk    verwandelt    die  Erscheinung    in 
Idee,    die  Idee  in  ein  Bild,    und  so,    dass    die  Idee  im  Bild  immer 
unendlich    wirksam    und    unerreichbar    bleibt  und,    selbst  in  allen 
Sprachen    ausgesprochen,    doch    unaussprechlich    bliebe."  >)      Man 
kann    sich    die    Meinung    dieser  Sprüche    vielleicht    am   besten  an 
Goethes  eigenen  Dichtungen,  etwa  am  Faust,  verdeutlichen.    Faust 
ist  zunächst  eine  ganz  bestimmte  Individualität,  die  der  Dichter  aus 
den    Sagen    der   Reformationszeit    schon    mit    bestimmten    Zügen 
übernimmt,    dann    durch    seine    eigenen  Schicksale    und  Erlebnisse 
ausbildet  und  bereichert.    Aber  jeder  spürt,  dass  Faust  noch  mehr 
ist  und  im  zweiten  Teile  des  Gedichtes  wird  dieses  Mehr  dem  Dichter 
selbst  bewusst;  der  Held  des  Dramas  soll  hier  zugleich  eine  Idee  dar- 
stellen.    Wenn   wir  das  Streben  des  Menschen  nach  den  höchsten 
Zielen    des    Erkeuneus    und    des  Handelns,    das    trotz    seiner  Irr- 
tümer   und    seiner    Endlosigkeit    allein  Wert    und  Würde  verleiht, 
als  diese  Idee  bezeichnen,  oder  wenn  wir  hundert  andere  Ausdrücke 
für  sie  suchen,  so  fühlen  wir  doch,  dass  sie  unaussprechlich  bleibt; 
denn  jeder  begriffliche  Ausdruck   der  Idee   steht  hinter  dem  Bilde 
des  Dichters,  in  dem  sie  unendlich  wirksam  ist,  weit  zurück.     An 
untergeordneten  Stellen  seines  grossen  Gedichtes  hat  Goethe  auch 
Allegorien  verwendet,    Figuren,  die  etwas  bedeuten,  was  sie  nicht 
sind.      Eine    von   ihnen,    der    „Knabe  Lenker"  im    Caruevalszuge, 
sagt  zum  ej'klärenden  Herold : 

„Denn  wir  sind  Allegorien, 
Und  so  solltest  Du  uns  kennen". 

Hier   hat  man  in  der  That  ein  Recht,    nach  der  begrifflichen  Be- 
deutung jedes   einzelnen  Zuges    der  Darstellung  zu  fragen;    denn 


1)  S.  i.  P.  7421743. 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung,  337 

in  jedem  ist  eine  besondere  Beziehung  versteckt,  die  man  kennen 
soll.  Der  Begriff  bleibt  im  Bilde  gesondert  für  sich  und  kann 
am  Bilde  ausgesprochen  werden.  Im  Symbol  dagegen  ist  Bild 
und  Idee  im  Grunde  eins,  hier  offenbart  das  Kunstwerk  dem 
tieferen  Sinne  seine  ideelle  Bedeutung,  während  der  naive  Be- 
trachter in  seiner  Weise  mit  Recht  bei  dem  Bild  als  solchem 
stehen  bleibt.  „Das  ist  die  wahre  Symbolik,  wo  das  Besondere 
das  Allgemeine  repräsentiert,  nicht  als  Traum  und  Schatten, 
sondern  als  lebendig  augenblickliche  Offenbarung  des  Unerforsch- 
lichen."!) 

Dieser  Spruch  führt  uns  von  der  Art  der  Darstellung  zum 
Inhalt  des  symbolisch  Dargestellten  hinüber;  denn  der  Inhalt 
wird  hier  und  öfter  einfach  als  das  Allgemeine  bezeichnet.  Wäh- 
rend Kants  Interesse  auf  die  gleichartige  Bedeutung  aller  Kunst 
gerichtet  ist  und  sein  Symbolbegriff  auf  alles  Ästhetische  gleich- 
massig  Anwendung  findet,  trennt  Goethe,  den  als  Künstler  die 
besonderen  Probleme  der  verschiedeneu  Darstellungsarten  näher 
angehen,  die  symbolische  Kunstart  von  anderen  ab.  In  dem  erst 
neuerdings  veröffentlichten  Aufsatze  über  die  Gegenstände  der 
bildenden  Kunst  wird  von  der  Darstellung,  die  wesentlich  auf  das 
Objekt  gerichtet  ist,  eine  andere  unterschieden,  bei  der  der  Geist 
des  Künstlers  sich  selbständiger  geltend  macht.  In  diesem  Falle 
werden  die  Gegenstände  des  Kunstwerks  durch  tiefes  Gefühl  mit 
den  besten  und  höchsten  Gegenständen  koincidieren  und  dadurch 
symbolisch  werden.  „Die  auf  diese  Weise  dargestellten  Gegen- 
stände scheinen  bloss  für  sich  zu  stehen  und  sind  doch  wieder 
im  Tiefsten  bedeutend,  und  das  wegen  des  Idealen,  das  immer  eine 
Allgemeinheit  mit  sich  führt.  Wenn  das  SymboUsche  ausser  der 
Darstellung  noch  etwas  bezeugt,  so  wird  es  immer  auf  indirekte 
Weise  geschehen."  2)  Man  erinnert  sich  hier  sogleich  an  Goethes 
sentimentalische  Stimmung  auf  der  Reise  in  Frankfurt  und  an 
die  Eigenart  seines  Altersstiles.  Übrigens  betont  er  auch  in 
dem  erwähnten  Aufsatz  den  Unterschied  von  Symbol  und  Alle- 
gorie. Das  Allegorische  wird  getadelt,  weil  es  das  Interesse  an 
der  Darstellung  zerstört  und  den  Geist  in  sich  selbst  zurücktreibt. 
Bei  der  Allegorie  bleibt  ja  der  Begriff  selbständig,  man  vergisst 
daher  die  Darstellung,   sobald  man  ihn  erfasst  hat,  dagegen   kann 


1)  S.  i.  P.  273. 

2)  W.  I,  47,  94.    Der  Aufsatz  ist  1797  geschrieben. 


3:-38  J.  Cohn, 

mau  den  luhalt  des  Symbols  nur  danu  zu  verstehen  hoffen,   wenn 
man  sich  g-anz  iu  Geist  und  Form  des  Kunstwerks  vertieft. 

Wir    i^ennen    nun    bereits    verschiedene    Bestimmungen    des 
symbolisierten  Inhalts,  die  durchaus  nicht  ganz  mit  einander  über- 
einstimmen;   wir    müssen    suchen,    iu    den    Zusammenhang    dieser 
verschiedenen    Auffassungen    einzudringen.      An    einer  Reihe    von 
entscheidenden  Stellen  war  von  ,.Idee",  von  „besten  und  höchsten 
Gegenständen"    die  Rede,    wobei  unter  Idee  ebenso  die  vollendete 
Sittlichkeit  wie  die  Ahnung    der   Einheit    von    Mensch    und  Natur 
zu  verstehen  ist.     Mau  kann  allerdings  sagen,  dass  die  Sittlichkeit 
aus  der  herrschenden  Stellung,  die  sie  bei  Kant  und  bis  1796  bei 
Schiller  einnimmt,  etwas  herausgedrängt  wird;  denn  für  Goethe  liegt 
iu  jeder  Naturerscheinung  eine  göttliche  Wahrheit  verborgen,  die  sich 
nur  symbolisch  begreifen  lässt.     „Das  Wahre,  mit  dem  Göttlichen 
identisch,  lässt  sich  niemals  von  uns  direkt  erkennen,  wnr  schauen 
es  nur  im  Abglanz,    im  Beispiel,    Symbol,    in    einzelnen    und    ver- 
wandten Erscheinungen;  wir  werden  es  gewahr  als  unbegreifliches 
Leben    und    können    dem  Wunsch    nicht  entsagen,    es  dennoch  zu 
begreifen."  ')      Hier    tritt    der  Zusammenhang  von  Goethes  Natur- 
und  Kunstauffassung    auch    iu    den  Symbolbegriff  hinein.     Im  Ur- 
phänomen    wird  die  Gesetzmässigkeit  der  all-einen  Natur  anschau- 
lich, hier  steht  der  einzelne  Fall  als  Repräsentant  des  Allgemeinen, 
das  nicht  als  abstrakter  Begriff,  sondei-n  als  konkrete  Natureinheit 
gedacht  ist.     So  ist  das  Urphänomen  „symbolisch",    „weü  es   alle 
Fälle    begreift". 2)     Es    handelt    sich    hier    um    etwas  Höheres  als 
bloss    verstandesmässige    Erkenntnis.      „Vor    den    Urphänomenen, 
wenn    sie    unsern  Sinnen   enthüllt  erscheinen,  fühlen  wir  eine  Art 
ton  Scheu    bis    zur  Angst.     Die    sinnlichen  Menschen    retten  sich 
ins  Erstaunen;   geschwind   aber  kommt  der  thätige  Kuppler  Ver- 
stand und  will  auf  seine  Weise  das  Edelste  mit  dem  Gemeinsten 
vermitteln."     „Die  wahre  Vermittlerin  ist  die  Kunst."-^)  .  .  .  Unter 
dem  Gemeinen    versteht  Goethe    „das    zufällig  Wirkliche,    au  dem 
wir  weder  ein  Gesetz  der  Natur  noch  der  Freiheit  für  den  Augen- 
blick   entdecken."^)       Wir    begreifen    aus    dieser    Nebeneinander- 


1)  Versucli  einer  Witterimgslehre.     1825.     W.  II,  12,  74,  5. 

2)  W.  II,  11,  161,  5.  (unter  den  erst  in  W.  veröffentlichten  Apho- 
rismen), cf.  auch  das  von  Goethe  mit  interessanten  Änderungen  benutzte 
Citat  aus  Campanella  in  Zwischenrede  1819.  W.  11,  11,  45  f.;  über  die 
Änderungen  Kalischers  Anm.  in  der  Herapelschen  Ausgabe  34,  250. 

3)  S.  i.  P.  1049—1050.  *)  S.  i.  P.  102 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  339 

Stellung  von  Natur-  und  Sittengesetz,  warum  die  Kunst,  wenn  sie 
im  einzelnen  Fall  die  sittlichen  Urverhältnisse  der  Menschheit 
anschaulich  vorführt,  als  Symbolisierung  des  Höchsten  bezeichnet 
werden  darf.  Soweit  sich  diese  Erweiterung  des  symbolisierten 
Inhalts  von  Kants  Meinung  zu  entfernen  scheint,  immerhin  bleibt  sie 
noch  durch  Goethes  Auffassung  der  Idee  mit  ihr  verbunden.  Das 
Allgemeine  ist  als  begriffliche  Näherung  an  die  Idee  uuan- 
schaulich  wie  diese,  nur  durch  „Symbolik"  zu  veranschaulichen, 
wenn  es  auch  nicht  absolut  unerreichbar  ist,  wie  die  Idee  im 
strengen  Sinne  des  Wortes.  Es  giebt  nun  aber  auch  anschauliche 
Verhältnisse,  die  doch  für  eine  bestimmte  Kunstart  undarstellbar 
sind,  weil  ihre  Darstellung  den  Gesetzen  dieser  Kunst  widerstreiten 
würde.  Dass  in  solchen  Fällen  bei  Shakespeare  symbolische  Behelfe 
eintreten,  hatte  Schiller  hervorgehoben,  dem  also  diese  letzte  Er- 
weiterung des  Symbolbegriffes  ursprünglich  angehört.  An  ähnliche 
Verhältnisse  der  bildenden  Kunst  denkt  Goethe  in  dem  Aufsatze  über 
Philostrats  Gemälde,  wenn  er  seineu  Begriff  des  Symbolischen  durch 
das  Beispiel  eines  Kupferstichs  verdeutlicht,  auf  dem  ein  lodern- 
der Holzstoss  durch  ein  kleines  Flämmchen  dargestellt  ist.  Das 
ist  keine  Allegorie,  denn  Feuer  ist  durch  Feuer  dargestellt,  „es 
ist  die  Sache,  ohne  die  Sache  zu  sein  und  doch  die  Sache,  ein  im 
geistigen  Spiegel  zusammengezogenes  Bild  und  doch  mit  dem 
Gegenstand  identisch."  i)  Man  erkennt  auch  hier,  dass  die  intuitive 
Vermittelung  das  wesentliche  Merkmal  des  Symbolischen  ist,  wäh- 
rend das  Symbolisierte  die  ganze  Reihe  von  der  Idee  im  abso- 
luten Sinne  bis  zu  anschaulichen,  nur  im  Rahmen  eines  bestimmten 
Kunstwerkes  nicht  stilgerecht  darstellbaren  Gegenständen  umfasst. 
Als  Mittel  der  Symbolisierung  erscheinen  bei  Goethe  nirgends 
die  formalen  Eigenschaften  des  Geschmacksurteils,  solche  abstrakte 
Bestimmungen  liegen  ihm  vielmehr  ganz  fern  und  werden  kaum 
irgendwo  erwähnt.  Auch  der  Ausdruckswert  wird  nur  gelegent- 
lich als  symbolisch  bezeichnet,  z.  B.  nennt  Goethe  in  der  Farben- 
lehre einmal  einen  Gebrauch  der  Farbe,  der  ihrem  natürlichen 
Stimmungston    entspricht,    symbolisch.**)     Zur  Würde   des   Symbols 


^)  W.  I,  49,  1,  142.  Die  ganze  Stelle  —  auch  das  dem  Citat  Voran- 
gehende und  Folgende  —  ist  wichtig.  Sie  steht  unter  „Nachträgliches  I" 
und  fehlt  in  den  gewöhnlichen  Ausgaben.  Vgl.  auch  „Beispiele  symbo- 
lischer Behandlung".     W.  I,  49,  1,  191. 

2)  z.  B.  Purpur  als  Bezeichnung  der  Majestät.  Didaktischer  Teil 
§  916.    Im    Gegensatz    dazu    wird    ein    Gebrauch,    bei    dem    etwas   Kon- 


340  J.  Cohn, 

wird  vielmehr  der  einzelne  Gegenstand  wesentlich  durch  die 
höchste  Form  der  künstlerischen  Gestaltung,  durch  den  Stil, 
erhoben.  Nicht  auf  den  Inhalt  kommt  es  dabei  an,  der  echte 
Künstler  läutert  jeden  Stoff,  „die  Kunst  an  und  für  sich 
selbst  ist  edel;  deshalb  fürchtet  sich  der  Künstler  nicht  vor 
dem  Gemeinen.  Ja,  indem  er  es  aufnimmt,  ist  es  schon  geadelt, 
und  so  sehen  wir  die  grössten  Künstler  mit  Kühnheit  ihr  Ma- 
jestätsrecht ausüben."  i)  Uer  Begriff  des  Symboles  ist  für  Goethe 
das  Mittel,  die  Einheit  von  Wissenschaft  und  Kunst  nach  Über- 
windung einer  naiven  Metaphysik  aufrecht  zu  erhalten.  Die 
höchste,  zugleich  unbewusste  und  gesetzliche  Produktivität  des 
Künstlers  vermittelt  uns  die  höchste  Erkenntnis,  die  wir  erreichen 
können.  Vor  Kants  P'inwirkung  dachte  Goethe  dieses  Ziel  des 
Erkeunens  als  unmittelbares  Erfassen  der  wahren  Natur,  später 
nahm  es  die  Form  der  Idee  an. 


IV. 

Symbol  ist  einer  der  Centralbegriffe  in  Goethes  Denken, 
der  nicht  nur  Ästhetik  und  Naturphilosophie  verbindet  sondern 
auch  für  die  Behandlung  der  religiösen  Probleme  entscheidend 
wird.  Der  Teilnahme  an  den  kirchlichen  Gebräuchen  hatte 
Goethe  sich  früh  entzogen,  jetzt  wurden  sie  ihm  wenigstens 
in  Gedanken  wieder  wert,  da  er  sie  sich  als  Symbole  des 
Göttlichen  zurechtlegen  konnte,  das  unser  ganzes  Leben  durch- 
wirkt. Ja  er  preist  unter  diesem  Gesichtspunkt  die  Fülle 
der  katholischen  Sakramente  im  Gegensatz  zu  der  isolierten 
Stellung,  durch  die  Taufe  und  Abendmahl  im  Protestantis- 
mus wirkungslos  werden. 2)  Wenn  die  Vermutung  richtig  sein 
sollte,  dass  der  tiefere  Sinn  von  Symbol  von  dem  Gebrauch  dieses 
Wortes  für  die  kirchlichen  Sakramente  herstammt,'')  so  hätte  es 
Goethe  damit  in  seine  eigentliche  Heimat  zurückgeführt. 

Diese  Anwendung  von  Symbol  auf  das  Religiöse  findet  sich 
zwar  bei  Kant  aber,  wie  es  scheint,  nicht  bei  Schiller.  Das  ist 
für  Schillers  Stellung   in  der  Entwickelung  von  Goethes  Religions- 


ventionelles    hinzukommt    (z.  B:    Grün  für    Hoffnung),    als    allegorisch  be- 
zeichnet §  917.    W.  II,  1,  357. 

1)  S.  i.  P.  697. 

2)  Dichtung  und   Wahrheit,  Buch  7.     W.  I,  27,  118-124. 

3)  Vgl.  meine  „Allgemeine  Ästhetik",  S.  156. 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  341 

Philosophie  recht  bezeichnend,  er  hat  hier  viel  weniger  als 
auf  den  übrigen  Gebieten  direkt  anregend  gewirkt,  aber  seine  An- 
regungen haben  auch  auf  dieses  Gebiet  herübergewirkt.  Religiöse 
Fragen  lagen  Goethe  näher  als  Schiller;  denn  Goethes  Naturgefühl 
hat  von  vorn  herein  einen  stark  religiösen  Zug.  Er  fühlt  dankbar 
und  verehrend  die  Abhängigkeit  seines  Seins  und  Wirkens  von 
einer  grossen,  unbekannten  Macht,  die  ihm  doch  nicht  fremd 
gegenübersteht,  sondern  ihre  Einheit  in  ihm  wie  in  allem  Andern 
offenbart.  Dieses  Gefühl  der  Ergebenheit  tritt  bei  Schiller,  dem 
Mann  des  Willens  und  der  bewussten  Kraft,  der  seinem  siechen 
Körper  der  Natur  zum  Trotz  höchste  Leistung  im  Dienste  der 
Idee  aufzwingt,  zurück.  Er  war  gewiss  nicht  unreligiös;  aber 
die  religiöse  Erfüllung,  in  der  alle  Unruhe  des  Strebens  ihre  Be- 
friedigung findet,  blieb  ihm  als  Ideal  in  der  Ferne  stehen;  inner- 
halb unseres  Leben  nahm  für  ihn  die  Kunst  die  Stelle  der  Reli- 
gion ein,  die  Worte  des  Glaubens  sind  die  höchste  und  letzte 
Hoffnung,  an  dei-  der  Kämpfer  sich  aufrichtet.  Bei  Goethe  ist 
alles  höhere  Streben  von  einem  Gefühle  religiöser  Abhängigkeit 
und  religiöser  Einheit  durchdrungen. i)  Schiller  hatte  also  hier  dem 
Freunde  weniger  zu  geben ;  im  Briefwechsel  treten  religiöse  Fragen 
selten  hervor.  Einmal ä)  sucht  Schiller  Goethe  zu  einer  gerechteren 
Beurteüung  des  Christentums  zu  veranlassen,  indem  er  bemerkt,  dass 
in  den  Bekenntnissen  einer  schönen  Seele  das  Eigentümliche  der 
christlichen  Religion  oder  vielmehr  das,  was  eine  schöne  Seele  aus 
ihr  macheu  könnte,  noch  nicht  zu  seinem  Recht  gekommen  sei. 
„Ich  finde  in  der  christlichen  Religion  virtualiter  die  Anlage  zu 
dem  Höchsten  und  Edelsten  und  die  verschiedenen  Erscheinungen 
derselben  im  Leben  scheinen  mir  bloss  deswegen  so  widrig  und 
abgeschmackt,  weil  sie  verfehlte  Darstellungen  dieses  Höchsten 
sind.  Hält  man  sich  an  den  eigentümlichen  Charakterzug  des 
Christentums,  der  es  von  allen  monotheistischen  Religionen  unter- 
scheidet, so  liegt  er  in  nichts  anderem,  als  in  der  Aufhebung 
des  Gesetzes   oder  des  Kantischen  Imperativs,   an  dessen  Stelle 


1)  Das  zahme  Xenion,  das  dem  zu  widersprechen  scheint.  „Wer 
Wissenschaft  und  Kunst  besitzt,  Hat  auch  Religion.  Wer  diese  beiden 
nicht  besitzt,  Der  habe  Religion."  W.  I,  5,  1,  134  halte  ich  nicht  für  be- 
weisend. Ich  nehme  das  zweite  „Religion"  hier  im  Sinne  dogmatischer 
Religion  und  verstehe  den  Spruch  als  Abwehr  der  anmasslichen  Forderungen 
positiv  gläubiger  Eiferer  an  den  Dichter. 

2)  Brief  vom  17.  August  1795. 


342  J.  Cohn, 

das  Christentum  eine  freie  Neig'ung-  gesetzt  iiaben  will.  Es  ist 
also  in  seiner  reinen  Form  Darstellung  schöner  Sittlichkeit  oder 
der  Menschwerdung  des  Heiligen  und  in  diesem  Sinne  die  einzige 
ästhetische  Religion."  Bemerkenswert  ist  hiej-  das  Hervortreten 
einer  Konstruktion  des  Christentums  durch  Kantische  Begriffe, 
wiewohl  durchaus  nicht  im  Sinne  von  Kants  Religionsphilosophie. 
Goethe  antwortet,')  er  sei  ganz  mit  dem,  was  Schiller  schreibe, 
einverstanden.  Er  hätte  sich  dafür  auf  „die  Geheimnisse"  be- 
rufen können,  in  denen  dem  Christentum  eine  herrschende  Stellung 
unter  den  Religionen  zuerteilt  worden  war.  Was  den  Roman  be- 
trifft, so  wolle  er  die  christliche  Religion  in  ihrem  reinsten  Sinne 
erst  im  8.  Buche  in  einer  folgenden  Generation  erscheinen  lassen. 
Die  hier  angedeutete  Absicht,  Natalie,  die  eigentliche  schöne  Seele, 
zur  Vertreterin  des  reinsten  Christentums  zu  machen,  hat  Goethe 
nicht  ausgeführt,  um  so  entschiedener  aber  in  den  Wauderjahren  den 
besonderen  Wert  der  christlichen  Religion  zur  Geltung  gebracht.  Sie 
entspricht  in  der  bekannten  Stufenfolge  der  Ehrfurchteu  und  der  zuge- 
hörigen Religionen  der  Ehrfurcht  vor  dem,  was  unter  uns  ist  und 
wird  als  ein  Letztes  bezeichnet,  wozu  die  Menschheit  gelangen 
konnte  und  musste.  „Aber  was  gehörte  dazu,  die  Erde  nicht  allein 
unter  sich  liegen  zu  lassen  und  sich  auf  einen  höheren  Geburtsort 
zu  berufen,  sondern  auch  Niedrigkeit  und  Armut,  Spott  und  Ver- 
achtung, Schmach  und  Elend,  Leiden  und  Tod  als  göttlich  anzu- 
erkennen, ja  Sünde  selbst  und  Verbrechen  nicht  als  Hindernisse, 
sond  3rn  als  Eördernisse  des  Heiligen  zu  verehren  und  lieb  zu  ge- 
winnen."'^) Wer  diese  Worte  mit  Schillers  oben  angeführter  Kon- 
struktion des  Christentums  vergleicht,  wird  Verwandtschaft  und 
Unterschied  leicht  entdecken.  Für  beide  Dichter  hegt  die  Haupt- 
bedeutung des  Christentums  darin,  dass  es  von  der  Anerkennung 
zur  Liebe  führt ;  aber  die  Liebe  ist  bei  Schiller  Liebe  zum  Gesetz, 
bei  Goethe  Liebe  zum  Leiden  und  selbst  zur  Sünde.  Sicherlich 
ist  Goethe  damit  dem  Sinn  des  Christentums  näher  gekommen. 
In  wie  weit  Schillers  Konstruktion  des  Christentums  in  Goethes 
ähnlichen  Versuchen  fortwn-kte,  wird  sich  schwer  entscheiden 
lassen,  da  jener  ganzen  Zeit  solche  Betrachtungen  nahe  lagen. 
Auch  Goethe  benutzt  Kantische  Begriffe,  um  sich  selbst  und 
Zelter    zu    einer    würdigen  Auffassung   von  Luthers    Leistung   zu 


1)  18.  August  1795. 

2)  2.  Buch  1.  Kap.     W.  I,  24,  243,  24. 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung.  343 

führen,  als  sie  beabsichtigten,  gemeinsam  eine  Cantate  zum  Refor- 
mationsfest zu  machen.  Der  Grund  des  Luthertums  beruhe  auf 
dem  entschiedenen  Gegensatz  von  Gesetz  und  Evangelium  und 
auf  der  Vermittelung  solcher  Extreme.  „Setzt  mau  nun,  um  auf 
einen  höheren  Standpunkt  zu  gelangen,  die  Ausdrücke:  Not- 
wendigkeit und  Freiheit  mit  ihren  Synonymen,  mit  ihrer  Ent- 
fernung und  Annäherung,  so  siehst  du  deutlich,  dass  in  diesem 
Kreise  alles  enthalten  ist,  was  den  Menschen  interessieren  kann."') 
Wichtiger  als  solche  einzelne  Anlehnungen  ist  die  Ver- 
änderung von  Goethes  Frömmigkeit  aus  einer  blossen  Naturver- 
ehruug  in  eine  Vergöttlichung  des  menschlich  Höchsten.  Kan- 
tischer Geist  hat  dabei  sicher  mitgewirkt,  ja  es  scheint,  als  ob 
hier  und  hier  allein  es  Schillers  Vermittelung  nicht  bedurft  hätte. 
Unter  den  Randbemerkungen,  die  Goethe  wohl  bald  nach  1790 
zur  Kritik  der  teleologischen  Urteilskraft  gemacht  hat,  ist  eine 
besonders  wichtig.  Zu  der  Anmerkung  hinter  §  86,  in  der  Kant 
den  moralischen  Gottesglauben  in  seinen  subjektiven  Erscheinungen 
darstellt,  schrieb  Goethe  an  den  Rand:  „Gefühl  von  Menschen- 
würde objektiviert  =  Gott."^)  Diese  lapidare  Zusammenfassung  von 
Kants  Gedanken  enthält  den  Keim  zu  jenem  Religionsbegriff,  der 
sich  in  den  Wanderjahren  in  der  Religion  der  Ehrfurcht  voll  ent- 
faltet zeigt.  Doch  hätte  diese  einzelne  Bemerkung  in  Goethes 
Geist  kaum  so  stark  fortgewirkt,  wenn  nicht  die  ganze,  von  Kant 
ausgehende  Gedankenwelt  ihm  durch  Schiller  näher  gebracht 
worden  wäre.  Goethes  Religiousphilosophie  knüpft  in  späterer 
Zeit  immer  an  ethische  Ideale  und  Bedürfnisse  an,  ist  aber  im 
einzelnen  sicherlich  von  Kant  und  seinen  Nachfolgern  unab- 
hängig. Auch  zeigt  sich  hier  dieselbe  Umwendung  der  Gedanken 
ins  Konkrete  und  Einzelne  wie  überall  bei  Goethe.  Recht  be- 
zeichnend dafür  sind  seine  Äusserungen  über  die  Unsterblichkeit. 
Zu  Eckermauu  sagt  er  am  4.  Februar  1829:  „Die  Überzeugung 
unserer  Fortdauer  entspringt  mir  aus  dem  Begriff  der  Thätigkeit; 
denn  wenn  ich  bis  an  mein  Ende  rastlos  wirke,  so  ist  die  Natur 
verpflichtet,  mir  eine  andere  Form  des  Daseins  anzuweisen,  wenn 
die  jetzige  meinen  Geist  nicht  ferner  auszuhalten  vermag.''^)  Man 
wird   hier   sogleich  an  die  Postulate  der  praktischen  Vernunft  er- 


1)  Brief  vom  14.  November  1816,  Beilage. 

2)  W.  II,    11,  382    (durch    einen    Druckfehler   ist    die    kommentierte 
Kantstelle  hier  als  §  76  —  statt  86  —  bezeichnet). 

3)  B.  VII,  5. 


344  J.  Cohn, 

innert;  aber  Goethe  setzt  wieder  die  Thätigkeit  überhaupt  an  die 
Stelle  des  Konfliktes  zwischen  Sittlichkeit  und  Glückseligkeit  und 
personificiert  die  Natur.  Noch  lässlicher  drückt  er  sich  in  einer 
zahmen  Xenie  aus : 

„Du  hast  Unsterblichkeit  im  Sinn, 
Kannst  Du  uns  Deine  Gründe  nennen  ? 
Gar  wohl !  der  Hauptgrund  liegt  darin, 
Dass  wir  sie  nicht  entbehren  können."  i) 

Der  Gedanke  des  Bedürfnisses  der  reinen  praktischen  Vernunft 
wird  ins  menschlich  Individuelle  umg-esetzt.  Goethes  Religions- 
philosophie im  einzehien  mit  Kant  zu  vergleichen,  würde  über  die 
Grenzen  unseres  Gegenstandes  hinausführen,  da  hier  von  Schillers 
Vermittelung  nicht  mehr  die  Rede  sein  kann  Überhaupt  wird 
man  kaum  an  einen  Einfluss  von  Kants  Religionsphilosophie, 
sondern  nur  an  ein  Herüberwirken  allgemeinster  Resultate  von 
Kants  Geist  denken  dürfen. 


Wenn  man  die  Ergebnisse  unserer  Untersuchung  überblickt, 
so  erkennt  man,  dass  Goethe  niemals  Kantianer  war,  doch  aber 
wesentliche  Einwirkungen  von  Kant  empfangen  hat,  die  sich 
mit  einziger  Ausnahme  der  Religionsphilosophie  alle  direkt  auf 
Schiller  zurückführen  lassen.  Goethe  beschäftigte  sich  um  das 
Jahr  1817  von  neuem  mit  Kant,  aber  er  hat  damals  kaum 
mehr  neue  Gesichtspunkte  gewonnen,  vielmehr  lediglich  sich 
die  alte  Wirkung  wieder  zurückgerufen  und  befestigt.  Wir 
konnten  daher  aus  den  Aufsätzen  dieser  Zeit  überall  Belege 
für  Schillers  Einfluss  entnehmen.  War  Goethes  Denken  ursprüng- 
lich auf  die  Natur,  auf  das  Objekt,  auf  die  Einheit  gerichtet,  so 
wurde  ihm  nun  zugleich  der  denkende,  wollende,  schaffende  Geist 
nahe  gerückt.  Die  Bedeutung  des  Subjektes  trat  hervor;  es 
wurde  ihm  offenbar,  dass  die  Überwindung  der  Dualität  in  die 
Einheit  nichts  Selbstverständliches,  sondern  eine  dem  Menschen 
überall  gestellte,  aber  niemals  völlig  lösbare  Aufgabe  ist.  Ver- 
folgt man  die  Ent Wickelung  der  Begriffe  auf  dem  Wege  von  Kant 
über  Schiller  zu  Goethe,  so  hat  man  an  einem  wichtigen  Beispiel 
die  Art  vor  Augen,  wie  strenge  philosophische  Gedanken  wirksam 
werden.  Neben  den  Einzelwissenschaften  und  mehr  als  sie  bilden 
überall  Religion   und  Poesie    die  Vermittler   zwischen  der  Philoso- 


1)  Zahme  Xenien  UI.    W.  I,  3,  278. 


Das  Kantische  Element  in  Goethes  Weltanschauung'.  345 

phie  und  dem  populären  Denken.  Auf  diesem  Wege  müssen  die 
Begriffe  an  Schärfe  und  Bestimmtheit  verlieren,  au  Konkretheit 
und  Anwendbarkeit  aber  gewinnen.  Wenn  der  Philosoph  dabei 
ein  Gefühl  des  Bedauerns  und  der  Unsicherheit  nicht  unterdrücken 
kann,  so  soll  er  doch  bedenken,  wie  Grosses  dadurch  erreicht 
wird.  Die  Wirksamkeit  unserer  Begriffe  hängt  davon  ab,  dass  sie 
wieder  ins  Leben  zurückkehren.  Braucht  man  das  Wort  Anschauung 
in  dem  allgemeinen  und  übertragenen  Sinne,  in  dem  es  uns  durch 
Kant  geläufig  ist,  so  darf  mau  sagen,  es  ist  das  Ziel  des  Be- 
griffes, zum  Mittel  der  Anschauung  zu  dienen.  Wenigstens  so- 
fern man  nicht  auf  den  Eigenwert  der  Wissenschaft  sondern  auf 
ihre  Kulturbsdeutung  sieht,  besteht  dieser  Satz  zu  recht.  Was 
wir  erleben,  was  von  den  möglichen  Anschauungen  in  uns  wirk- 
lich und  wirksam  wird,  hängt  überall  von  den  Gesichtspunkten 
ab,  unter  denen  unser  Geist  Erlebnisse  und  Dinge  betrachtet. 
Dadurch  wird  uns  der  Sinn  eines  Wortes  deutlich,  das  der 
Deutsche  nicht  ohne  Ehrfurcht  aussprechen  sollte,  des  Wortes 
Weltanschauung.  Die  ganze  Welt  in  eine  Anschauung  zu 
fassen,  ist  ein  ebenso  gigantischer  wie  unmöglicher  Gedanke. 
Diese  Einheit  durch  ein  encyklopädisches  Nebeneinander  der  Er- 
gebnisse aller  Einzelwissenschaften  zu  ersetzen,  kann  nur  zu  einer 
Halbheit  des  Wissens,  niemals  zur  Ganzheit  der  Anschauung 
führen.  Die  allgemeinen  und  strengen  Begriffe  der  kritischen  Phi- 
losophie endlich  können  für  sich  allein  wohl  Überzeugungen,  nicht 
aber  Anschauungen  bilden.  Aber  Begriffe  und  Überzeugungen 
organisieren  unsere  Anschauung,  leiten  uns  in  der  Wahl  des  Wich- 
tigen, bestimmen  unsere  Art,  anzuschauen.  Nichts  anderes  kann 
Weltanschauung  bedeuten,  als  eine  bestimmte,  einheitliche  Art, 
die  Fülle  der  Dinge,  deren  geahnte  Einheit  wir  als  Welt  be- 
zeichnen, anzuschauen.  Fassen  wir  den  Sinn  des  Wortes  so, 
dann  wird  Weltanschauung  das  höchste  persönliche  Ziel  jedes 
denkenden  Menschen.  Wir  verstehen  dann  auch,  dass  sich  in  der 
Weltanschauung  wissenschaftliche  und  rein  persönliche  Elemente, 
Beweisbares  und  Unbeweisbares,  Begriff  und  Gefühl  unlösbar  ver- 
binden. Eine  Weltanschauung  in  diesem  Sinne,  keine  Philosophie 
in  der  strengen  Bedeutung  des  Wortes  hatte  Goethe,  ja  mau 
könnte  meinen,  dass  das  Wort  Weltanschauung  recht  eigentlich 
auf  ihn  geprägt  sei. 


Kantstudiea  X, 


23 


Schiller  und  die  Idee  der  Freiheit. 

Von  Bruno  Bauch. 


„Schillers  eigentliche  Produktivität  lag-  im  Idealen,  und  es 
lässt  sich  sagen,  dass  er  so  wenig  in  der  deutschen  als  einer  an- 
deren Litteratur  seinesgleichen  hat."  So  hat  Goethe  die  einzig- 
artige Bedeutung  seines  Freundes  angesprochen.  Das  „Ideale" 
hatte  er  bald  nach  dessen  Tode  als  das  „Ewige  des  Wahren, 
Guten,  Schönen"  charakterisiert.  Es  ist  das  Reich  der  Freiheit, 
zu  dem  Schillers  „Geist  gewaltig  fortschritt"  und  der  Menschheit 
„vorleuchtete". 

Aber  weil  dieses  Reich  Idee  ist,  ebendarum  ist  es  eine  un- 
endliche Aufgabe,  die  ewiges  Streben  und  Thätigkeit  verlangt. 
Nur  von  der  Idee  aus  erhält  Leben  und  Streben  Wert,  aber  sie 
verlangt  eben  auch  beständige  und  bestimmt  gerichtete  Thätigkeit. 
„P^.s  ist  nichts  als  die  Thätigkeit  nach  einem  bestimmten  Ziele, 
was  das  Leben  erträglich  macht,"  erklärt  Schiller  selbst. 

Das  Leben  im  Dienste  der  Idee  —  als  solches  charakterisiert 
Goethe  das  Leben  seines  Freundes.  Das  Leben  im  Dienste  der 
Idee  aber  ist  Thätigkeit;  —  als  solche  hat  Schiller  sein  eigenes 
Dasein  mit  stolzem  Rechte  ansehen  dürfen. 

Es  war  ein  langer,  mühevoller  Weg,  den  der  Dichter  wandeln 
sollte,  aber  er  ist  ihn  gewandelt,  ohne  je  sein  Ziel  aus  den  Augen 
zu  verlieren.  „Durch  alle  Werke  Schillers,"  so  sagt  darum  der 
herrliche  Freund,  „geht  die  Idee  von  Freiheit."  Zwischen  dem 
Philosophen  der  Physiologie  oder  dem  Dichter  der  Räuber  auf  der 
einen  Seite  und  andererseits  etwa  dem  Dichter  des  Teil  liegt  frei- 
lich eine  Welt,  aber  eine  durchlebte,  durcharbeitete,  in  kontinuier- 
lichem Zusammenhange  stehende;  Welt,  ein  stetes  Hinanführen  des 
blossen  Daseins  und  Lebens  zu  seiner  Bestimmung  nach  der  Idee. 
Die  wahrhafte  Vorbildlichkeit  verlangt  das  „gewaltige  Fort- 
schreiten"   und  Sich-Empor-Arbeiten,   die  ständige  und  stetige  An- 


Schiller  und  die  Idee  der  Freiheit.  347 

näheriing.  Darum  sagt  Goethe,  dass  durch  alle  Werke  Schillers 
die  Idee  von  Freiheit  geht,  und  darum  fügt  er  jedoch  auch  hin- 
zu: „diese  Idee  nahm  eine  andere  Gestalt  au,  sowie  Schiller  in 
seiner  Kultur  weiter  ging  und  selbst  ein  anderer  wurde." 


Bezeichnend  aber  ist  es,  dass  schon  der  philosophierende 
Physiologe,  freilich  noch  ohne  die  spätere  spekulative  Kraft,  ohne 
kritische  Schulung,  ja  mit  ausdrücklicher  Berufung  auf  den  ge- 
sunden Menschenverstand  und  ganz  nach  Art  der  Aufklärung  in 
der  von  seinen  Lehrern  als  medizinische  Probeschrift  abgelehnten 
ersten  Arbeit  nicht  bloss  viel  mehr  Philosophie  als  Physiologie 
treibt,  sondern  dass  er  nicht  ganz  ohne  begrifflichen  Zwang  und 
natürlich  auch  mit  ganz  untauglichen  begrifflichen  Mitteln  das 
Freiheitsproblem  in  seine  Untersuchung  hineinzieht.  Das  Problem 
liegt  ihm  zwar  an,  aber  es  will  sich  ihm  auch  nicht  einmal  als 
Problem  gestalten.     Das   konnte  ihm  auch  nicht  in  seiner  zweiten 


fs^ 


wissenschaftlichen  Arbeit  glücken.  Durfte  er  ihr  doch  fraglos 
unter  dem  Druck  äusserer  Verhältnisse  von  allen  seinen  Werken 
am  wenigsten  eigenes  Leben  einhauchen,  obwohl  auch  in  ihr  die 
philosophische  Reflexion  den  breitesten  Raum  einnimmt,  und  trotz 
der  allerliebsten  Citatenepisode  des  ,life  of  Moor,  tragedy  by  Krakel 
Doch  was  ihm  mit  den  ersten  Anfängen  der  Wissenschaft  nicht 
gelingen  konnte,  das  sollte  ihm  allmählig  sein  Eigenstes,  die  Kunst, 
zur  Reife  bringen.  Der  Grund  dazu  war  ja  längst  gelegt.  Wer 
freilich  in  den  Räubern  einen  scharfen,  abgeklärten  Begriff  der 
Freiheit,  die  sie  verkünden,  suchen  wollte,  der  würde  im  ratio- 
nellen Inhalt  der  Idee  schwerlich  einen  Fortschritt  erblicken 
dürfen.  Aber  das  Problem,  wenn  auch  abermals  nicht  einmal  als 
Problem  abgeklärt,  beginnt  sich  doch  zu  gestalten,  es  erhält  ein 
ganz  anderes  Leben,  eine  ganz  andere  Wucht  durch  die  künst- 
lerische Intuition,  die  sich  in  der  Behandlung  eines  konkreten 
Stoffes  auswirkt.  Hier  wird  das  Innerste  aufgewühlt,  ein  heisses 
Ringen  der  Gedanken  strebt  zwar  nicht  zur  Höhe  empor,  aber  es 
wälzt  die  Riesenmassen  des  Stoffes  mit  Titanengewalt  gegen  ein- 
ander. „Mein  Geist  dürstet  nach  Thaten,  mein  Atem  nach  Frei- 
heit."' —  Jedoch  die  Freiheit,  die  hier  ihre  Stimme  erhebt,  gelangt 
über  die  zwar  edle,  aber  unbestimmte  Negation  der  Unfreiheit 
nicht   hinaus    und    schwingt  sich  nicht  auf  zu  der  Höhe,    von  der 

23* 


348  B.  Bauch, 

aus  sie  sich  selbst  das  Gesetz  giebt  und  Ziel  und  Mass  weist. 
Sie  ahnt  nichts  vom  Gesetz  der  Freiheit.  Ja  im  Gegenteil,  sie 
giebt  sich  nicht  bloss  nicht  das  Gesetz,  sondern  setzt  sich  über 
das  Gesetz  weg.  Sie  stellt  sich,  ins  Grenzenlose  des  unbestimmt 
Kolossalischen  strebend,  in  Gegensatz  zum  Gesetz:  „Das  Gesetz 
hat  noch  keinen  grossen  Mann  gebildet,  aber  die  Freiheit  brütet 
Kolosse  .  .  .  aus.''  In  ihr  lebt  zwar  die  Empörung  darüber,  dass 
„die  Gesetze  der  Welt  sind  Würfelspiel  worden";  aber  sie  „wähnte" 
in  ewiger  Vermengung  von  Gesetz  und  Zwang,  von  Freiheit  und 
Gesetzlosigkeit,  von  Freiheitsordnung  und  Zwangsordnung,  und 
erst  am  Ende  sich  selbst  verstehend,  „die  Gesetze  durch  Gesetz- 
losigkeit aufrecht  zu  halten".  Noch  erfasst  sich  das  Individuum, 
das  sie  fordert,  nicht  in  seinem  Verhältnis  zu  dem  historischeu 
Zusammenhange,  in  den  es  gestellt  ist,  den  es  zu  durchbrechen 
sucht,  ohne  den  Bruch  durch  eigene  positive  That  überbrücken 
und  überwinden  zu  können.  Noch  ahnt  der  Jüngling,  in  dessen 
„Adern  Feuer  rollt",  der  Gewalt  bloss  mit  Gewalt  zu  bekämpfen 
weiss,  nichts  von  den  „ew'gen  Rechten,  die  droben  hangen  unver- 
äusserlich" im  „Himmel",  auf  die  sich  der  spätere  Held  der  Frei- 
heit berufen  kann,  um  ebenfalls  ,in  tyraunos'  zu  erklären:  „Nein, 
eine  Grenze  hat  Tyi-annenmacht."  Nicht  will  er  noch  „nicht  un- 
gezügelt nach  dem  Neuen  greifen".  Er  ahnt  nur  sein  eigenes 
Recht  auf  Freiheit,  die  er  mit  glühender  Empfindung  umfasst; 
deshalb  gehört  ihm  unsere  Sympathie  und  Billigung.  Aber  er 
weiss  sein  Recht  auf  Freiheit  nicht  anders  geltend  zu  machen, 
als  durch  Gefährdung  der  Freiheit  anderer;  deshalb  bleibt  ihm 
unsere  Billigung  versagt.  Darin  liegt  seine  Tragik.  Deutlich 
treten  hier  für  das  unmittelbare  Gefühl  zwei  Wertungsweisen  her- 
vor, sie  komplizieren  sich,  aber  sie  werden  nicht  einmal  für  das  Ge- 
fühl auf  ihre  objektive  Bedeutung,  eine  ihnen  korrespondierende 
objektive  Idee  bezogen  und  so  auf  ihren  Rechtsgrund  hin  orien- 
tiert, so  dass  sie  auch  nicht  von  einander  klar  unterschieden  werden 
können.  Das  grosse  Problem  der  Freiheit  taucht  mit  seiner 
ganzen  Gewalt  und  gleich  auch  mit  seiner  ganzen  Komplikation  vor 
einer  grossen  drangvollen  Seele,  einem  stürmischen  Gemüte  auf,  aber 
der  Geist  hat  es  nicht  geläutert  und  geklärt.  Genug,  dass  er,  der 
ganzen  Tragik  seines  Wesens  inne  werden  und  mit  ergreifendem 
Schmer'ze  am  Ende  verstehen  kann:  „Ich  er*fahre,  dass  zwei 
Menschen,  wie  ich,  deir  Bau  der  sittlichen  Welt  zu  Grunde 
richten    würden."      Denn   über   ihn    „fuhr    nur    der   Traum    der 


Schiller  und  die  Idee  der  Freiheit.  349 

Freiheit,  wie  ein  Blitz  iü  die  Nacht,  der  sie  finsterer  zurück- 
lässt". 

So  klar  auch  dieses  Erstlingswerk  den  Stempel  des  Genius, 
des  g-eboreueu  Künstlers,  trägt,  so  sehr  ist  der  inhaltlichen  Ideen- 
gestaltung doch  die  Spur  des  erst  Werdenden  aufgedrückt;  und 
merkwürdig,  gerade  das  konnte  hier  die  künstlerische  Wirkung 
thun.  Das  Genie  ist  ja  nicht  bloss  Form-,  sondern  Wirklichkeits- 
schöpfer, es  schafft,  wie  Schiller  selbst  einmal  sagt,  zwar  nicht 
eine  neue  Wirklichkeit,  aber  es  schafft  die  Wirklichkeit  von  neuem. 
Und  es  schafft  sie  immer  aufs  neue,  von  neuen  schöpferischen 
Ideen  aus.  Die  künstlerische  Wirklichkeit  nun,  auf  die  wir  bisher 
geblickt,  musste,  um  ihre  ganze  Wirkung  thun  zu  können,  gerade 
aus  den  Ideen  geflossen  sein,  aus  denen  sie  geflossen  ist,  und  sie 
bleibt  gross,  selbst  wenn  ihr  ideeller  Ursprung  des  Fortschritts 
fähig,  ja  bedürftig  ist.     Ihn  sehen  wir  auch  bald  vollzogen. 

Die  Idee  der  Freiheit  bleibt  auch  ferner  das  beherrschende 
Prinzip.  Aber  sie  nimmt,  wie  Goethe  es  gesagt,  neue  Gestalten 
an.  Sie  entwindet  sich  zunächst,  wenn  auch  allmählig,  der  Unbe- 
stimmtheit. Zwar  bleibt  sie  in  positiver  Bedeutung  noch  unbe- 
stimmt; und  nur  mittelbar,  durch  deutlichere  Bestimmung  der  Ne- 
gation tritt  sie  anfänglich  selbst  in  ein  klareres  Licht.  Wenn  das 
eine  Mal  der  Druck  der  Standesrücksichten  bekämpft  und  gefordert 
wird,  dass  endlich  „von  uns  abspringen  all  die  verhassten  Hülsen 
des  Standes,  —  Menschen  nur  Menschen  sind" ,  so  erfährt 
mittelbar  doch  dadurch  das  Recht  der  Persönlichkeit  und  der 
individuellen  Selbstbestimmung  bereits  ebenso  eine  schärfere 
Beleuchtung,  wie  das  andere  Mal  die  Empörung  gegen  politische 
Herrschsucht  und  brutale  Gewalt  die  soziale  Selbstbestimmung  in 
ein  schärferes  Licht  rückt.  Aber  solange  das  Recht  solcher 
Selbstbestimmung  nicht  auch  seinerseits  objektiv  gegründet  ist, 
solange  ist  der  tumultarische  Subjektivismus  und  der  zum  Teil 
skeptische  Individualismus,  der  zwar  Ausgangspunkt,  aber  nie  Ziel- 
punkt sein  darf,  nicht  endgültig  überwunden,  mag  formaliter 
die  Betrachtungsweise  von  ihm  auch  noch  so  weit  abgerückt  sein. 
Zu  seiner  inhaltlichen  Überwindung  aber  gehört  die  Besinnung 
auf  den  objektiven  Wert. 

Auch  dieser  Schritt  wird  vollzogen;  und  zwar  herrlicher, 
oder  wenigstens  unzweifelhaft  klarer,  als  in  der  ausdrücklichen 
philosophischen  Reflexion,  wiederum  durch  die  Kunst,  so  eng  beide, 
zeitlich,    wie    innerlich,    zusammengehen.      Die    ursprünglich    ins 


350  B.  Bauch, 

Grenzenlose  gehende  und  sich  vag-  verlierende  Freiheit  soll  als 
Geistesfreiheit,  die  sich  selbst  mit  stillem  Dulden  grosser  Seelen 
vereint,  g-efasst,  soll  als  „Gedankenfreiheit"  bestimmt  werden,  die 
ein  edler  Jüngling  in  der  Zeit  ihrer  traurigsten  Unterdrückung 
mutvoll  fordert.  Und  er  erstrebt  sie  —  das  ist  wichtig,  weil  er 
sie  so  objektiv  zu  gründen  sucht,  —  als  einen,  zw^ar  unscharf  ge- 
fassten,  sittlichen  Zweck  der  Menschheit.  Die  eigene  Freiheit 
wird  auch  hier  gefordert: 

„Ich  kann  nicht  Fürstendiener  sein." 
Aber    die   persönliche  Freiheit  soll  ruhen  auf  einem  überper- 
söulicheu  Zwecke,   dem  Zwecke  der  Menschheit  selbst:    „Ich  liebe 
die  Menschheit."     Und  wieweit  ist  diese  persönliche  Freiheitsliebe 
jetzt  davon  entfernt,  sich  mit  Gewalt  durchsetzen  zu  wollen: 

„Die  lächerliche  Wut 
Der  Neuerung,  die  nur  der  Ketten  Last, 
Die  sie  nicht  ganz  zerbrechen  kann,  vergrössert, 
Wird  mein  Blut  nie  erhitzen." 

Aber  hier  wdrd  eine  seltsame  Verwickelung  deutlich.  Der 
Geistesfreie  hat  sich  vom  ehemaligen  Freigeist  zwar  im  Prinzip 
getrennt;  aber  er  zeigt  gerade  in  seineu  Forderungen,  dass  ihm 
die  letzten  Spuren  des  überwundenen  Zustandes  noch  ankleben.  ^) 
Das  Individuum  fühlt  und  erfasst  sich  als  Glied  eines  allgemeinen 
Zusammenhanges,  in  dem  es  seine  freie  Bestimmung  auswirken 
soll.  Allein  in  einem  eigenartigen  Widerspruch  übersieht  es,  dass 
es  persönlich  für  seineu  Teil  nur  wirken  kann  gerade  in  dem  Zu- 
sammenhange, in  den  es  geschichtlich  eingeordnet  ist.  Es  macht 
aber  nach  der  negativen  Seite  hin,  für  das  Nicht-Wirken-Könneu, 
Staats-,  ja  Standes-Zustände,  kurz  geschichtliche  Situationen  ver- 
antwortlich. Indem  es  ihm  an  einem  Prinzip  der  Vermitteluug 
zwischen  Ideal  und  Leben  gebricht,    begiebt   es  sich  selbst  seiner 


1)  Es  ist  ungemein  interessant,  wie  deutlich  das  durch  die  verschie- 
denen Redaktionen  des  Don  Carlos  wird.  Für  die  Entwickelung  des 
Freiheitsbegriffs  sind  sie  ein  ungemein  wichtiges  Dokument,  viel  wichtiger 
als  die  Briefe.  Der  durch  Kant  geläuterte  Gedanke  macht  sich  in  fast  jeder 
Änderung  bemerkbar,  und  doch  darf  diese  aus  ästhetischen  Gründen  nicht 
die  künstlerische  Einheit  und  damit  auch  nicht  den  Gesamtwurf  der  ersten 
Konzeption  stören.  Aber  wer  zu  prüfen  versteht,  ist  gar  wohl  im  Stande, 
herauszufinden,  wie  im  Künstler  selbst  die  Gedanken  weiter  reiften,  als 
er  sie  eben  im  Gesamtwurf  ausprägte.  Das  Werk  als  Ganzes  bleibt  für 
den  Freiheitsbegriff,  was  es  war:  Übergangsepoche;  aber  jede  Redaktion 
ist  zugleich  immanente  Kritik. 


Schiller  und  die  Idee  der  Freiheit.  351 

Eig-euwirksamkeit,    und    vertröstet  sich   in  stolzer  Resignation  auf 

kommende    Jahrhunderte,    fiir    die    und    auf    die    es    doch    nicht 

wirken  kann,  wenn  es  in  dem  seinigeu  nicht  wirkt: 

„Das  Jahrhundert 
Ist  meinem  Ideal  nicht  reif.     Ich  lebe 
Ein  Bürger  derer,  welche  kommen  werden." 

Und  doch,  in  abermaligem  ^^'iderspruch  und  in  neuer  Yer- 
kennung  der  Bedeutung  der  jeweiligen  Lage  für  die  Auswirkung 
der  Idee  wagt  es,  obschon  aus  edelstem  Wollen,  die  ausschweifend- 
sten „Abenteuer  der  Vernunft",  wie  es  in  der  Sprache  dessen 
heisseu  würde,  dessen  begriffliche  Schulung  der  Dichter  noch  ge- 
messen sollte.  Die  erste  Abklärung  ist  mächtig  fortgeschritten, 
aber  noch  ist  sie  nicht  vollendet.  Gegenüber  den  früheren  For- 
derungen ist  viel  gewonnen,  zu  wenig  aber  doch  mit  Rücksicht 
auf  das  letzte  Ziel.  Noch  ist  der  Dichter  nicht  in  die  Hallen 
jener  Ideenschule  eingetreten,  die  für  ihn  von  der  grössten  Be- 
deutung werden  sollte,  er  steht  noch  an  ihrer  Pforte.  „Noch  bist 
du  nicht  in  derjenigen  Stimmung,  wo  die  demütigenden  Wahrheiten 
von  den  Grenzen  des  menschlichen  Wissens  dir  interessant  werden 
können."  So  schreibt  der  Freund,  der  sich  für  seinen  Teil  mit 
der  bescheidensten,  nicht  einmal  ihm  ganz  gemässen  und  gerecht 
werdenden  Rolle  des  philosophischen  Briefwechsels  begnügt  hatte, 
und  der  ihn  vor  allem  dem  grossen  Lehrer  zuführen  wollte,  an 
dessen  Ideen  die  noch  halb  in  subjektivistischer  Skepsis,  halb 
in  allzu  phantasievoller  Metaph3'sik  befangenen  Anschauungen 
des  Dichters  geläutert  werden  sollten.  Der  aber  ahnt  be- 
reits, worauf  der  Freund  hinauswill:  „Ich  müsste  mich  sehr 
irren,  wenn  das,  was  du  von  trockenen  Untersuchungen  über 
menschliche  Erkenntnis  und  demütigenden  Grenzen  des  mensch- 
lichen Wissens  fallen  Messest,  nicht  eine  entfernte  Drohung 
mit  dem  Kant  iu  sich  fasst.  Was  gilts,  den  bringst  du  noch? 
Ich  kenne  den  Wolf  am  Heulen."  So  antwortet  Schiller  seinem 
Freunde  Körner.  Und  es  ist  bezeichnend:  er  giebt  ihm  objektiv 
recht,  fühlt  sich  aber  subjektiv  noch  nicht  genugsam  für  Kant 
vorbereitet.  „In  der  That  glaube  ich,  dass  du  sehr  recht  hast, 
aber  mit  mir  will  es  noch  nicht  so  recht  fort,  in  dieses  Fach  hin- 
einzugehen." 

Doch  von  sich  selbst  aus  beginnt  er  mehr  und  mehr  in  dieses 
hineinzuwachsen.  Kunst  und  geschichtliches  Leben  kreuzen  sich 
wunderbar  in  seinem  Interessenkreise.     An  der  Geschichte  —  von 


352  B.  Bauch, 

dereu  Philosophie  aus  er  übrigens  Kaut  selbst  zum  ersten  Male 
beg-eguete,  allerdings  ohne  sich  in  ihn  ganz  zu  versenkeu  — 
läutert  sich  sein  Freiheitsbegriff.  Die  Freiheit  des  Geistes,  die 
er  zunächst  in  jenem  Kunstwerk  gefordert,  das  ihn  unmittelbar 
und  innig  mit  der  Geschichte  verband,  zeigt  ihm  diese  jetzt  in 
der  geläuterten  Gestalt  des  protestantischen  Freiheitsbegriffes. 
Ohne  jemals  seiner  Abneigung  gegen  alles  statutarische  Kirchen- 
tum  untreu  zu  werden,  fasst  er  doch  jetzt  das  tiefste  Verständnis 
für  das  protestantische  Prinzip  in  der  vom  Dogmatischen  ge- 
reinigten Form  und  weiss  es  selbst  von  allen  Dogmen  in  seinem 
Werte  zu  trennen. 

Der  grosse  kritische  Wendepunkt  ist  vorbereitet.  Und  dem- 
selben Freunde,  dem  er  erklärt  hatte,  es  „wolle  mit  ihm  noch 
nicht  so  recht  fort,  in  dieses  Fach  hineinzugehen,"  dem  kann  er 
bald  eröffnen :  „Ich  ahne,  dass  Kant  für  mich  kein  so  unübcrsteig- 
licher  Berg  ist,  und  ich  werde  mich  gewiss  noch  genauer  mit  ihm 
einlassen." 


Noch  ehe  seitdem  ein  Jahr  verflossen,  darf  er  seinem  Freunde 
Körner  mitteilen :  „Ich  treibe  jetzt  mit  grossem  Eifer  Kantische  Philo- 
sophie und  gäbe  viel  darum,  wenn  ich  jeden  Abend  mit  dir  darüber 
verplaudern  könnte.  Mein  Entschluss  ist  unwiderruflich  gefasst, 
sie  nicht  eher  zu  verlassen,  bis  ich  sie  ergriuidet  habe,  wenn 
mich  dieses  auch  drei  Jahre  kosten  könnte."  Damit  sind  wir 
aber  über  die  blosse  Wende  schon  hinaus;  denn  es  heisst  weiter: 
„Übrigens  habe  ich  mir  schon  sehr  vieles  daraus  genommen  und 
in  mein  Eigentum  verwandelt."  Und  das  thut  er  mehr  und  mehr. 
Er  geht  ganz  und  gar  in  die  Schule  des  grössten  kritischen 
Denkers. 

Freilich  der  Mann,  dessen  ganzes  Wesen  auf  das  Ideal  der 
Freiheit  gerichtet  ist,  er  darf  zwar  den  „verehrungswürdigsten 
Mann",  den  „vortrefflichen  Lehrer"  seines  „lebhaftesten  Dankes 
für  das  wohlthätige  Licht",  das  er  in  seinem  „Geiste  augezündet 
habe",  versichern,  aber  er  macht  sich  nicht  zum  Sklaven  der  verba 
magistri.  Das  ist  eines  grossen  Schülers  unwürdig.  Ja,  es  hiesse 
selbst  die  Würde  eines  grossen  Lehrers,  der  für  mehr,  als  für 
eine  Schule  lehrt,  verletzen.  Eine  arme  Seele,  ein  kleiner  Geist 
mag  ängstlich  darüber  wachen,  dass  seine  Worte  auch  nachge- 
sprochen werden,   da  er  nur  wenig  Nachsprechenswertes  zu  sagen 


Schiller  und  die  Idee  der  Freiheit.  353 

hat  und  es  wohl  selber  fühlt,  er  vermög-e  nur  wenig  Lehrwürdiges 
zu  verkünden.  Das  mag  er  dann  zu  erhalten  wünschen,  und  so 
mag  er  nach  seiner  Art  kleine  Schüler  werben,  deren  Folgsamkeit 
er  eifersüchtig  hütet.  Der  grosse  Geist  vertraut  der  Macht  der 
Wahrheit.  Er  findet  ungeworbene  Schüler  und  weiss,  dass  die 
freiesten  seine  besten  sind ;  ^)  nur  sie  vermögen  aus  eigener  Kraft 
die  Wahrheit  weiter  zu  fördern,  und  daran  kann  auch  dem  der 
Kraft  eigener  Wahrheit  vertrauenden  grossen  Lehrer  allein  gelegen 
sein.  Freiheit  also  bezeichnet  allein  das  Verhältnis  zwischen 
reichen  Geistern  und  grossen  Seelen,  selbst  wenn  sie  sich  als 
Lehrer  und  Schüler  gegenübertreten.  Hier  ist  kein  Werben, 
sondern  ein  sich-Finden  das  Bindeglied,  hier  ist  kein  Lehren  und 
Lernen  für  die  Schule,  sondern  für  das  lebendige  Wirken,  auf 
dass  der  Lernende  selbst  dereinst  zum  Lehrer  werde.  Nicht  bloss 
„im  Vortrage  philosophischer  Wahrheiten",  sondern  auch  in  ihrer 
Empfängnis  herrscht  Freiheit;  auch  hier  herrscht  jene  Form  per- 
sönlichen Verkehrs,  die  wir  als  „schöne  Geselligkeit"  noch  werden 
genauer  kennen  lernen.  Nur  in  diesem  weiten  und  freien  Sinne 
ist  Schiller  des  grossen  Kant  grosser  Schüler  geworden.  Darum 
konnte  mit  derselben  Freiheit  auch  Schiller  seinem  edlen  Schüler, 
dem  Herzog  von  Holstein-Augustenburg  später  schreiben,  es  seien 
zwar  „grösstenteils  Kantische  Grundsätze,  auf  denen  seine  Be- 
hauptungen ruhen";  aber  von  jeder  Bindung  an  „eine  besondere 
philosophische  Schule"  dürfe,  ja  solle  er  sich  frei  halten.  „Nein, 
die  Freiheit  Ihres  Geistes  soll  mir  unverletzlich  sein." 

Kants  Einfluss  spüren  wir  allenthalben,  aber  der  Schüler 
hat  ihn  selbständig  verarbeitet,  und  zwar  als  Künstler,  der  durch 
die  Kunst  zur  Philosophie  gelangt : 

„Nur  durch  das  Morgentor  des  Schönen 
Drangst  du  in  der  Erkenntnis  Land.'' 

Diese  am  Ausgang  der  ersten  philosophischen  Epoche  stehen- 
den Worte  sind  programmatisch  für  die  zweite  und  charakteristisch 
für  die  ganze  philosophische  Entwickelung  Schillers. 

Die  Freiheit,  die  unser  grösster  Dramatiker  in  stets  ge- 
läutertem Fortschritt  verkündet,  vermag  er  mit  Hilfe  des  Weisen 
völlig  begrifflich  abzuklären.      Er  lernt  seine    eigene  Kunst  tiefer 


1)  Das  glaube  ich  trotz  der  „Erklärung  in  Beziehung  auf  Fichtes 
Wissenschaftslehre"  sagen  zu  können,  die  viel  leichter  eine  angemessene 
Deutung  erfahren  könnte,  als  sie  zuweilen  erfährt,  und  zwar  selbst  von 
solchen,  die  sonst  für  Kant  das  feinste  Verständnis  haben. 


.^54  B.  Bauch, 

verstehen,  indem  er  das  „Trag-ische"  auf  das  „Erhabene"  orientiert. 
Dessen  logischen  Ort  findet  er  in  der  allgemeing-ültig'en  überindi- 
viduelleu  Venuuiftsbestiiiinmng-,  und  damit  in  dem  übersinnlichen, 
dem  sittlichen  Wesen  des  Menschen.  Das  g-anz  im  Anschluss  an 
Kant,  zugleich  aber  doch  auch  schon  mit  einer  „weiteren  Aus- 
führung- einiger  Kantischer  Ideen".  Jetzt  hat  er  das  Prinzip 
der  Freiheit  erfasst  als  „ein  inneres  Prinzip  unserer  autonomischen 
Vernunft",  als  einen  absoluten  Wert  der  Vernunft.  Der  letzte 
Rest  von  vagem  Subjektivismus  und  blossem  Individualismus  ist 
verschwunden.  Das  Individuum  erkennt,  dass  es  nichts  sei,  wenn 
es  seinen  Wert  nicht  von  einem  überindividuellen  Prinzip  em- 
pfängt. Es  opfert  sich  als  blosses  Individuum  der  Idee  des 
Prinzips  und  empfängt  sich  von  ihm  als  wertvolles  Individuum 
selbst  zurück.  Kants  Prinzip  der  Autonomie  hat  der  Dichter  zu 
dem  seiuigeu  gemacht.  Die  Gesetzgebung  durch  Freiheit  und  aus 
Freiheit  ist  erreicht.  Die  Freiheit  ist  Gesetz  geworden  und  hat 
die  Willkühr,  die  gesetzlose  Freiheit  hinter  sich  gelassen.  Das 
Individuum  unterwirft  sich  dem  Gesetze;  ebendarum  ist  es  frei: 
frei  von  Willkühr,  weil  es  sein  Gesetz  anerkennt  und  sich  ihm 
unterordnet,  frei  von  Zwang,  weil  es  selbst  es  ist,  das  sich 
unterordnet. 

Wenn  Schiller,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  sich  auch  gegen 
manche,  allerdings  nur  scheinbare  und  bloss  in  der  Auffassung  des 
Dichters  rigoristische  Konseciuenzen  ablehnend  verhält,  so  hat  er 
sich  doch  das  Prinzip  der  Autonomie  als  der  „Pflichtmässigkeit 
der  Gesinnungen",  das  „oberste  Prinzip  der  Moral",  durchaus  zu 
eigen  gemacht.  Damit  hat  er  auch  die  schlaffen  ethischen  Theo- 
rien des  landläufigen  Eudämonismus  abgewiesen.  Diesen  gegen- 
über fühlt  er  sich  selbst  als  „Rigorist" :  „Bis  hierher  glaube  ich 
mit  den  Rigoristen  der  Moral  vollkommen  einstimmig  zu  sein." 

Hier  findet  der  Dichter  in  der  „menschlichen  Person"  eine 
neue  Wirklichkeit,  das  „Reich  der  Freiheit"  erschlossen.  Gar 
bald  macht  sich  jedoch  der  Unterschied  von  Kant  geltend.  Dieser 
ist  letztlich  in  der  Person  des  Dichters  selbst  angelegt  und  findet 
seinen  Grund  in  einer  poetischen  Metaphysik.  Natur  und  Freiheit 
treten  aus  dem  kritischen  Verhältnis  mit  einander  in  ein  metaphy- 
sisches. Man  darf  wohl  annehmen,  dass  die  Centralideo  der  Kritik 
der  Urteilskraft,  die  Idee  des  intellectus  archetypus,  dem  Dichter 
dazu  den  ersten  günstigen  Anhaltspunkt  gegeben  habe.  Frei  und 
selbständig  gestaltet  sich  ihm  jedoch   in  dem  Begriff  der   „bestim- 


Schiller  und  die  Idee  der  Freiheit.  355 

niendeü  Veruuiift",  der  zunächst  an  die  Stelle  von  Kants  „be- 
stimmender Urteilskraft"  tritt,  die  kritische  Idealität,  die  Wert- 
wirklichkeit zur  metaphysischen  Realität.  Auf  Grund  solcher 
Hypostase  wird  nun  weiter  nicht  bloss  „die  Naturnotwendigkeit 
durch  die  Notwendigkeit  des  sie  bestimmenden  teleologischen 
Grundes''  „unterstützt",  sondern  das  „Zusammentreffen"  der  ,,For- 
derung-en"  der  Vernunft  „mit  der  Notwendigkeit  der  Natur"  wird 
auf  metaphysischer  Basis,  indem  die  Vernunft  von  dem  ., Effekt 
der  blossen  Sinnenwelt  einen  transscendenten  Gebrauch  macht", 
„erklärt".  Und  die  rein  kritische  Betrachtung  wendet  sich  in  eine 
kausal-metaphysische,  sucht  auf  Grund  innerlich-künstlerischer 
Nötigung  ihren  Halt  in  einer  „Ursache,  die  über  die  Sinnenwelt 
hinausliegt". 

Der  Dichter  thut  das  zunächst,  um  „die  Objektivität  des 
Schönen",  die  die  „Kantische  Kritik  leugnet",  behaupten  zu  können. 
Das  ästhetische  Bedürfnis  vor  allem  führt  zu  der  "Wandlung  der 
kritischen  Grundlagen  ins  Metaphysische;  und  die  neu  gewonnene 
Metaphysik  selbst  bildet  den  Grund  zu  einer  freien  Fortbildung 
der  kritischen  Ethik  und  damit  auch  der  Freiheitslehre.  Wie  die 
Metaphysik  auf  das  „Zusammentreffen"  von  Vernunft  und  Natur, 
so  ist  die  Ethik  auf  das  Zusammenstimmen  von  Sittlichkeit  und 
Sinnlichkeit,  von  Pflicht  und  Neigung  gerichtet.  Weltanschauung 
und  Lebensanschauung  werden  auf  einander  orientiert  und  gehen 
in  dem  Streben  der  versöhnenden  Vereinheitlichung  des  Gegensätz- 
lichen einander  durchaus  parallel  „Dadurch  schon,  dass  sie  ihn 
zum  vernünftig  sinnlichen  Wesen,  d.  i.  zum  Menschen  machte, 
kündigt  ihm  die  Natur  die  Verpflichtung  an,  nicht  zu  trennen,  was 
sie  verbunden  hat,  auch  in  den  reinsten  Äusserungen  seines  gött- 
lichen Teiles  den  sinnlichen  nicht  hinter  sich  zu  lassen  und  den 
Triumph  des  einen  nicht  auf  die  Unterdrückung  des  anderen  zu 
gründen." 


Im  Prinzip  der  Autonomie  schliesst  sich  der  Dichter  durch- 
aus an  Kant  an.  Aber  auf  Grund  verselbständigter  metaphy- 
sischer Grundauschauuugen  und  zugleich  auch  infolge  eines  nicht 
belanglosen  Missverständnisses  der  Kantischen  Lehre  scheint  er 
sich  in  eigener  Weiterbildung  von  Kant  zu  entfernen.  Von  der 
Metaphysik  jetzt  ganz  abgesehen  ist  des  Dichters  Elutfer- 
nung    von    Kant,    sein  Hinausgehen    über    seinen    „vortrefflichen 


356  B.  Bauch, 

Lehrer"  von  grosser  Bedeutung  und  besonderem  Interesse.  Der 
Dichter  geht  über  Kaut  hinaus  und  giebt  sich,  wie  er  selbst  ein- 
mal au  diesen  schreibt,  den  Schein  und  das  Ansehen  eines  Gegners. 
Aber  mau  hat  Gegnerschaft  und  Hinausgehen  über  die  Kautische 
Lehre  gar  wohl  und  schärfer  zu  unterscheiden,  als  der  Dichter  es 
selbst  gethan.  Er  hat  sich  über  Kants  Lehre  selbst  getäuscht, 
und  wäre  er  iu  dem  Verhältnis  zu  ihr  gestanden,  in  dem  er  zu 
stehen  glaubte,  so  hätte  er  sich  in  der  That  nicht  bloss  das  An- 
sehen eines  Geguers  gegeben,  sondern  wäre  ein  Gegner  gewesen. 
Iu  solcher  Weise  verschob  sich  ihm  der  subjektive  mit  dem  objek- 
tiven Gesichtspunkte. 

Er  brachte  nun  eiue  —  bei  allem  Misslingeu  in  der  Ent- 
gegensetzung und  Polemik  —  gelungene  und  willkommene  Er- 
gänzung zur  Kantisehen  Lehre,  die  sich  auch  mit  dieser  gai-  wohl 
vei-trägt.  Die  Verkeuuung  der  Verträglichkeit  dieser  Ergänzung, 
soweit  es  sich  eben  nur  um  eine  solche  handelt,  bedeutet  eine 
Verkeuuung  der  Kantischen  Lehre  selbst.  Diese  wäre  aus  sich 
selbst  heraus,  ohne  des  Dichters  eigene  metaphysische  Wendung, 
die  ihn  allerdings  erst  dazu  führte,  der  Ergänzung  auf  rein  kri- 
tischer Basis  fähig  gewesen. 

Die  Autonomie  in  Kants  Sinne  ist  zugleich  das  Prinzip  des 
„reinen  Willens".  So  sehr  der  dichterische  Philosoph  sich  von 
ihm  angesprocheu  fühlte,  so  sehr  er  dem  „unsterblicheu  Verfasser 
der  Kritik"  den  „Ruhm"  zuerkennt,  gerade  durch  dieses  sein  Prin- 
zip „die  gesuude  Vernunft^  aus  der  philosophierenden  wieder  her- 
gestellt zu  haben",  so  wenig  kanu  sich  doch  der  harmouiebegehrende 
philosophische  Dichter  mit  deu  durchaus  notwendigen  Konsequenzen 
zufrieden  geben.  Dem  grössteu  kritischen  Denker  kam  es  auf 
scharfe,  logisch-begriffliche  Unterscheidung  an.  Der  Dichter  suchte 
reale  Vereinheitlichung  und  Verbindung.  Indem  er  nun  die  lo- 
gische Unterscheidung  der  Kritik  selbst  als  realen  Gegensatz  auf- 
fasst  und  für  seinen  Teil  die  Gegensätzlichkeit  zu  überwinden 
strebt,  gelangt  er  auf  der  einen  Seite  iu  einen  unvermeidlichen 
Widerspruch  nicht  bloss  mit  Kant,  soudern  auch  mit  sich  selbst 
und  erzielt  doch  auf  der  anderen  Seite  eiue  glückliche  und  wert- 
volle Weiterbildung  der  kritischen  Lehre. 

Kaut  hatte,  um  ein  Prinzip  des  sittlichen  Bandeins  zu  ge- 
winnen, dieses  aufs  strengste  von  den  aussersittlichen  Bestimmuugeu 
der  Glückseligkeitsrücksichten  unterscheiden  müssen.  Damit  ge- 
wann er  sowohl   eiu   logisch  wertvolles  Kriterium  der  Beurteüung, 


g 


Schiller  und  die  Idee  der  Freiheit.  357 

wie  die  Formel  für  das  Freiheitsprinzip  im  Sinne  der  Autonomie. 
Durch  sie  wurde  der  logische  Geg-ensatz  zu  aller  aussersittlichen 
Bestimmung-  auf  vollkommen  klaren  Ausdruck  g-eh rächt.  Alles  ma- 
teriale  Glückseligkeitsstreben  war  für  die  freie  Selbstbestimmung 
als  unzulänglich  erwiesen,  die  Pflicht  war  von  der  Neigung  aufs 
schärfste  logisch  geschieden.  Aber  die  Bedeutung  dieser  logischen 
Scheidung  verkennt  der  Dichter.  Es  übeisieht  die  Art  des  Gegen- 
satzes. Die  Scheidung  verletzt  den  auf  Einheit  dringenden  poe- 
tischen Genius,  denn  sie  scheint  ihm  die  Einheit  des  Menschen 
selbst  aufzuheben,  ja  sogar  dessen  Freiheit  zu  gefährden.  Dieser 
Schein  entsteht  ihm  daraus,  dass  er  das,  was  Kant  als  aussersitt- 
lich  erwiesen,  als  unsittlich  gekennzeichnet  wähnt.  Der  Dichter, 
der  in  seiner  Kunst  über  das  Heer  der  menschlichen  Neigungen 
und  Leidenschaften  gebietet,  der  unter  ihnen  das  Edle  vom  Ge- 
meinen mit  Götterblick  herauszufinden  weiss,  der  überhaupt  inne 
ist,  dass  auch  Neigung  und  Leidenschaft  edel  sein  kijnnen,  der 
muss  natürlich,  so  wie  e  r  die  Kantische  Lehre  auf fasst,  erklären  : 
„In  der  Kantischen  Moralphilosophie  ist  die  Idee  der  Pflicht  mit 
einer  solchen  Härte  vorgetragen,  die  alle  Grazien  davon  zurück- 
schreckt." Dieser  vermeintlichen  Härte  gegenüber,  die  dem  Künst- 
ler zugleich  als  eine  Entzweiung  des  Menschen  mit  sich  selbst 
gilt,  fordert  er:  „Der  Mensch  ist  aber  als  Erscheinung  zugleich 
Gegenstand  des  Sinnes.  Wo  das  moralische  Gefühl  Befriedigung 
findet,  da  will  das  ästhetische  nicht  verkürzt  sein,  und  die  Über- 
einstimmung mit  einer  Idee  darf  in  der  Erscheinung  kein  Opfer 
kosten.  So  streng  also  auch  immer  die  Vernunft  einen  Ausdruck 
der  Sittlichkeit  fordert,  so  unnachlässlich  fordert  das  Auge  Schön- 
heit. Da  diese  beiden  Forderungen  an  dasselbe  Objekt,  obgleich 
von  verschiedenen  Instanzen  der  Beurteilung  ergehen,  so  muss 
durch  eine  und  dieselbe  Ursache  für  beider  Befriedigung  gesorgt 
sein.  Diejenige  Gemütsverfassung,  wodurch  er  am  fähigsten  wird, 
seine  Bestimmung  als  moralische  Person  zu  erfüllen,  muss  einen 
solchen  Ausdruck  gestatten,  der  ihm  auch  als  blosser  Erscheinung 
am  vorteilhaftesten  ist.  Mit  anderen  Worten :  seine  sittliche 
Fertigkeit  muss  sich  durch  Grazie  offenbaren."  Der  Idee  der 
Freiheit  soll  also  „die  Freiheit  in  der  Erscheinung"  auch 
im  sittlichen  Leben  entsprechen.  Die  sittliche  Autonomie  soll  als 
ästhetische  „Heautonomie",^)    die    der  Ausdruck   des  Schönen   ist, 

1)  Kein  Begriff    ist    für  Schillers    Auffassung   und  Umdeutung   Kan- 
tischer Lehren   vielleicht   so    charakteristisch,    wie   der  der  Heautonomie. 


358  B.  Bauch, 

in  die  Erscheiuiing-  treten.  Die  Sittlichkeit  soll  die  Sinnlichkeit 
nicht  „niederwerfen",  wie  Kant  das  nach  des  Dichters  Meinung 
gefordert  haben  soll,  sondern  sie  soll  diese  „versöhnen".  Die 
Pflicht  soll  selbst  zur  Neigung,  die  Sittlichkeit  soll  zum  Instinkt, 
zum  natürlichen  Bedürfnis  werden.  Nur  die  vollkommene  Über- 
einstimmung beider  Prinzipien,  ja  ihre  Einheit  bezeichnet  „das 
vollkouunene  Siegel  der  Menschheit  und  dasjenige  was  man  unter 
einer  schönen  Seele  versteht".  Das  ist  Schillers  Ideal  der  „mora- 
lischen Freiheit"  in  seiner  Übereinstimmung,  wie  in  seinem  Gegen- 
satze zu  Kant.  Beide  Seiten  dieses  Ideals  hat  Kant  selbst  sehr 
deutlich  unterschieden:  „Herr  Professor  Schiller  missbilligt  in 
seiner  mit  Meisterhand  geschriebenen  Abhandlung  (Thalia  1793, 
3.  Stück)  über  Anmut  und  Würde  in  der  Moral  diese  Vorstellungs- 
art der  Verbindlichkeit,  als  ob  sie  eine  karthäuserische  Gemüts- 
stimmung bei  sich  führe ;  allein  ich  kann,  da  wir  in  den  wich- 
tigsten Prinzipien  einig  sind,  auch  in  diesem  keine  Uneinigkeit 
statuieren ;  wenn  wir  uns  nur  unter  einander  verständlich  machen 
können.  —  Ich  gestehe  gern:  dass  ich  dem  Pflichtbegriffe,  gerade 
um  seiner  Würde  willen,  keine  Anmut  beigesellen  kann.  Denn  er 
enthält  unbedingte  Nötigung,  womit  Anmut  in  geradem  Wider- 
spruch steht.  Die  Majestät  des  Gesetzes  (gleich  dem  auf  Sinai) 
flösst  Ehrfurcht  ein  (nicht  Scheu,  welche  zurückstösst,  auch  nicht 
den  Reiz,  der  zur  Vertraulichkeit  einladet),  welche  Achtung  des 
Untergebenen  gegen  seineu  Gebieter,  in  diesem  Falle  aber,  da 
dieser  in  uns  selbst  liegt,  ein  Gefühl  des  Erhabenen  unserer 
eigenen    Bestimmung    erweckt,    was    uns    mehr  hinreisst,  als  alles 


All  keinem  anderen  wird  wenigstens  die  Verschiebung  der  rein  kritischen 
Betrachtung  in  so  prägnanter  und  konzentrierter  Form  khir,  wie  an  ihm. 
Bei  Kant  drückt  er  die  transscendentale  Gesetzgebung  der  Urteilskraft 
lediglich  für  sich  selbst,  nicht  wie  die  Kategorie  die  des  Verstandes  für 
Gegenstände  aus.  Er  ist  wohl  der  immanenteste  Begriff  des  ganzen  kri- 
tischen Geschäftes  unseres  Philosophen.  Darum  ist  es  um  so  merkwürdiger, 
dass  Schiller  in  der  Freiheit  der  Erscheinung,  die  ihm  mit  der  Heautono- 
mie  doch  zusammenfällt,  und  in  der  das  Freiheitsprinzip  selbst  die  ganze 
ästhetische  Anschauungsweise  beherrscht,  meint  gerade  die  objektive  Ba- 
sierung des  Schönen,  „die  die  Kantische  Kritik  leugnet,"  geben  zu  können. 
Die  Umbiegung  des  Transscendentalen  ins  Transscendente  wird  bei  Schiller 
also  gerade  an  diesem  Begriff  ungemein  deutlich,  den  er  übrigens  von 
Kant  selbst  entlehnt  und  nicht,  wie  man  in  einem  ganz  bezeichnenden 
Verständnis  für  Schillers  Ideen  und  deren  historisclien  Zusammenhang  ge- 
meint, durch  souverän-willkürliche  Behandlung  der  griechischen  Sprache 
gebildet  hat. 


Schiller  und  die  Idee  der  Freiheit.  359 

Schöne.  —  Aber  die  Tug^end,  d.  i.  die  festgegründete  Gesinnung, 
seine  Pflicht  genau  zu  erfüllen,  ist  in  ihren  Folgen  auch  wohl- 
thätig,  mehr,  wie  alles,  was  Natur  und  Kunst  in  der  Welt  leisten 
mag;  und  das  herrliche  Bild  der  Menschheit  in  dieser  Gestalt 
aufgestellt,  verstattet  gar  wohl  die  Begleitung  der  Grazien,  die 
aber,  wenn  noch  von  Pflicht  allein  die  Rede  ist,  sich  in  ehrer- 
bietiger Entfernung  halten."  .  .  . 

„Fragt  man  nun,  welcherlei  ist  die  ästhetische  Beschaffen- 
heit, gleichsam  das  Temperament  der  Tugend,  mutig,  mithin  fröh- 
lich, oder  ängstlich-gebeugt  und  niedergeschlagen?  so  ist  kaum 
eine  Antwort  nötig.  Die  letztere  sklavische  Gemütsstimmuug  kann 
nie  ohne  einen  verborgeneu  Hass  des  Gesetzes  stattfinden,  und 
das  fröhliche  Herz  in  Befolgung  seiner  Pflicht  (nicht  die  Behag- 
lichkeit in  Anerkennung  derselben)  ist  ein  Zeichen  der  Echtheit 
tugendhafter  (^esinnung,  selbst  in  der  Frömmigkeit,  die  nicht  in 
der  Selbstpeinigung  des  reuigen  Sünders  (welche  sehr  zweideutig 
ist  und  gemeiniglich  nur  innerer  Vorwurf  ist,  wider  die  Klugheits- 
regel Verstössen  zu  haben),  sondern  im  festen  Vorsatz,  es  künftig 
besser  zu  machen,  besteht,  der  dui'ch  den  guten  Fortgang  ange- 
feuert, eine  fröhliche  Gemütsstimmung  bewirken  muss,  ohne  welche 
man  nie  gewiss  ist,  das  Gute  auch  lieb  gewonnen,  d.  i.  es  in  seine 
Maxime  aufgenommen  zu  haben." 

Ich  habe  diese  Stelle  fast  vollständig  hierhergesetzt,  nicht 
bloss  weil  sie  in  ihrer  Konzentration  das  Verhältnis  von  Kant  und 
Schiller  am  schärften  zu  beleuchten  vermag,  sondern  auch  weil 
unser  spezielles  Problem,  Schillers  Freiheitsidee,  von  hier  aus  ihre 
gerechte  Würdigung  erfahren  kann. 

Der  Vorwurf  der  „Rigidität",  den  Schiller  gegen  Kant  er- 
hoben, und  der  sich  seit  des  Dichters  Ausführungen  mit  der  Vor- 
stellung der  Kantischen  Moral,  wie  es  scheint,  unausrottbar  ver- 
bunden hat,  beruht  auf  einem  Missverständnis.  ^)  Denn  sie  bringt 
Pflicht  und  Neigung,  Tugend  und  „Grazie"  nicht  in  das  Verhält- 
nis realen  gegenseitigen  Ausschlusses  und  unversöhnlichen  Gegen- 


1)  Bekanntlich    hat  diesem    der  Dichter   den    ivlassischsten  Ausdruck 
gegeben  in  dem  „Gewissensskrupel": 

„Gerne  dient  ich  den  Freunden,  doch  thu'  ich  es  leider  mit  Neigung, 
Und  so  wurmt  es  mich  oft,  dass  ich  nicht  tugendhaft  bin." 
und  in  dessen  „Entscheidung": 

„Da  ist  kein  anderer  Rat,  du  musst  suchen,  sie  zai  verachten 
Und  mit  Abscheu  alsdann  thun,  was  die  Pflicht  dir  gebeut." 


3G0  B.  Bauch, 

Satzes.  Sie  kann  nur  aus  logischen  Gründen  nicht  ihre  prinzipielle 
Verquickung-  gestatten,  „wenn  noch  von  Pflicht  allein  die  Rede 
ist".  Die  Neigung  darf  nicht  in  die  Bestimmung  des  Prinzips  mit 
aufgenommen  werden,  da  dieses  volles  Bewusstseiu  der  Pflicht 
erheischt,  das  im  natürlichen  Bedürfnis  der  „schönen  Seele"  unter- 
gehen müsste.  Diese  soll  ein  sittliches  Ideal  sein,  aber  sie  wäre 
ein  Ideal,  das  aus  der  Sittlichkeit,  weil  aus  der  unbedingten  Nöti- 
gung des  Sittengesetzes,  herausführt.  B^s  enthält  also  einen  Wider- 
spruch in  sich  selbst,  ganz  davon  abgesehen,  dass  wir  bei  dem 
Wandel  und  Wechsel  der  Neigungen  niemals  eine  Gewähr  a  priori 
für  ihr  Zusammenstimmen  mit  dem  waudel-  und  wechsellosen 
Prinzip  der  Autonomie  haben  könnten. 

Die  vom  Dichter  geforderte  Einheit  beider  Prinzipien  darf 
der  kritische  Denker  darum  nicht  zugeben.  Aber  die  Tugend 
„verstattet  gar  wohl  die  Begleitung  der  Grazien".  Also  nicht 
Einheit,  aber  doch  Synthese  ermöglicht  die  Kritik.  Ja  „das  fröh- 
liche Herz"  ist  sogar  die  Gewähr  der  „Echtheit  tugendhafter  Ge- 
sinnung". 

In  dem  Gegensatz,  in  dem  sich  der  Dichter  zu  Kant  zu  be- 
finden wähnt,  befindet  er  sich  in  Wahrheit  nicht.  Eür  diesen  sind 
Tugend  und  Neigung  ebenso  wenig  Faktoren  gegenseitiger  Aus- 
schliessung, wie  für  ihn.  Aber  er  steht  zu  Kant  in  einem  an- 
deren Gegensatz,  den  er  selbst  nicht  durchschaut.  Die  Art  der 
Verbindung,  die  beide  zwischen  sittlicher  und  sinnlicher  Be- 
stimmung statuieren,  ist  es,  was  sie  trennt.  Der  Dichter  fordert 
ein  Ideal  analytischer  Vereinheitlichung.  Der  „unsterbliche  Ver- 
fasser der  Kritik"  ist  sich  der  logischen  Unvollziehbarkeit  eines 
solchen  Ideals  bewusst,  aber  erkennt  die  Möglichkeit  der  synthe- 
tischen Beziehung  beider  Bestimmungsstücke  an. 


Wir  haben  zwecks  prinzipieller  Klärung  das  Verhältnis  Kants 
und  Schillers  zu  einander  erwogen,  ihre  (ibereinstimmung  und  ihre 
Differenz  betrachtet  und  innerhalb  dieser  die  vom  Dichter  nur  ge- 
wähnte von  der  wirklichen,  die  er  nicht  scharf  genug  erkannt, 
unterschieden.  Dabei  mussten  wir  uns  gegen  den  Dichter  auf  die 
Seite  des  Philosophen  stellen.  Wir  haben  dabei  aber  noch  nicht 
die  positive  Bedeutung  seines  Hinausgehens  über  Kant  gewürdigt, 
die  uns  nun  nötigen  wird,  uns  gegen  den  Philosophen  auf  die 
Seite  des  Dichters  zu  stellen. 


Schiller  und  die  Idee  der  Freiheit.  361 

Durch  seinen  Begriff  der  „Freiheit  in  der  Erscheinung"  hat 
er  in  praktischer  Hinsicht  in  der  That  eine  neue  Wertwirklichkeit 
erschlossen.  Er  mag  immerhin  den  Fehler  begangen  haben,  durch 
die  Beziehung  „von  verschiedenen  Instanzen  der  Beurteilung"  auf 
„eine  und  dieselbe  Ursache"  in  metaphysischer  Bedeutung,  auch 
eine  Idealeinheit  gefordert  zu  haben,  so  liegt  doch  gerade  darin 
sein  Verdienst,  dass  er  überhaupt  die  „verschiedenen  Instanzen 
der  Beurteilung"  einmal  hervorkehrte,  und  sie,  um  das  thun  zu 
können,  klar  und  deutlich  von  einander  unterschied.  Dass  er  die 
Unterscheidung  in  seinem  Ideal  der  schönen  Seele  implizite  wieder 
aufliob,  das  lehnen  wir  nicht  bloss  des  logischen  Widerspruchs, 
sondern  gerade  auch  deswegen  ab,  weil  es  sehr  wertvoll  ist,  dass 
er  sie  vollzog.  Das  ist  seine  eigenste  über  Kant  hinausweisende 
Leistung,  die  er  trotz  jenes  widerspruchsvollen  Ideals  selbst  aufs 
schönste  fruchtbar  gemacht  hat. 

Es  ist  oft  genug  behauptet  worden,  das  Kantische  Moral- 
prinzip sei  einseitig.  Wenn  man  die  Ethik  als  die  Lehre  von  der 
wert-  und  zweckvollen  Lebensgestaltung  ansehe  und  ihr  nun  ein 
Prinzip,  wie  das  Kantische,  zu  geben  versuche,  so  könne  man  ge- 
rade ganz  eminenten  Lebenswerteu  und  Lebenszwecken  nicht  ge- 
recht werden.  Und  um  diese  Behauptung  zu  bekräftigen  und  sie 
gleichsam  ad  oculos  zu  demonstrieren,  fragt  man,  nicht  ohne  einen 
Auflug  von  Spott,  aber  doch  etwas  ahnungslos,  wie  denn  Kants 
leere  Formel  des  kategorischen  Imperativs  den  Wert  auch  nur 
einer  einzigen  grossen  Persönlichkeit  und  ihrer  Leistung  (etwa 
Goethes,  damit  ich  selbst  das  schlagendste  Beispiel  wähle)  aus- 
messen könne. 

So  wenig  solche  Einwendungen  Kant  zu  treffen  vermögen  -- 
dass  Schiller  so  nicht  argumentiert  hat,  sei  ausdrücklich  bemerkt! 
—  so  liegt  dem  Gedanken  doch  eine  Berechtigung  zu  Grunde. 
Gewiss  lässt  sich  etwa  Goethes  Wert  an  der  Formel  des  katego- 
rischen Imperativs  nicht  aus  messen.  Nur  ist  zu  bedenken,  dass 
das  auch  gar  nicht  Zweck  und  Aufgabe  dieser  Formel  ist.  Kant 
suchte  ein  Prinzip  des  sittlichen  Handelns  und  fand  es  in  der 
Autonomie,  deren  Formel  der  kategorische  Imperativ  darstellt.  Er 
sollte  einen  allgemeingültigen  Zweck  umschreiben. 

Nun  sind  im  Begriff  der  normativen  Allgemeingültigkeit  aber 
zwei  Seiten  zu  unterscheiden :  erstens  die  Allgemeingültigkeit  bloss 
im  Sinne  der  allgemeinen  Anerkennungsnotwendigkeit  und  zweitens 
die  Allgemeingültigkeit    im    Sinne   sowohl    der    allgemeinen    Auer- 

KftDtiitudieii   X.  24 


J 


362  ß.  Bauch, 

keniiung-snotwenclig-keit,  wie  auch  in  dem  der  allg-emeiuen  Reali- 
sierimg-snotweiidig-keit.  Allgemeiugültig-  im  ersten  Sinne  sind  die 
Fallg-esetze  ebenso  wie  der  Faust,  insofern  beide  den  Rechtsanspruch 
auf  allgemeine  Anerkennung  haben.  Aber  gerade  diese  Beispiele 
zeigen,  dass  hier  die  allgemeine  Realisierungsnotwendigkeit  nicht 
nur  nicht  eingeschlossen,  sondern  geradezu  begrifflich  ausge- 
schlossen ist.  Gerade  Goethes  Faust  noch  einmal  zu  schreiben, 
wäre  ebenso  ungereimt  wie  gerade  Galileis  Gesetze  noch 
einmal  aufzustellen.  ^)  Der  Wert  beider  besteht  ja  nicht  zu- 
letzt darin,  dass  sie  nicht  noch  einmal  geleistet  zu  werden 
brauchen  und  geleistet  werden  können.  Wohl  wäre  es  denkbar, 
dass  aus  demselben  Stoffe  ein  anderer  Künstler  ein  neues  Kunst- 
werk schüfe,  oder  auch  dass  ein  anderer-  Forscher  auf  dem  Wege 
anderer,  bisher  unbekannter  Ableitung  zu  demselben  mathematisch- 
mechanischen Resultate  gelangte.  Beides  wären  aber  doch  wieder 
neue  Leistungen,  deren  Wert  auch  in  ihrer  Einmaligkeit  zum  Aus- 
druck gelaugte.  Die  blosse  Wiederholung  aber  wäre  keine  Leistung, 
sondern  wertlose  Kopie. 

Im  Gegensatz  zu  solchen  Einmaligkeitswerten  hat  gerade 
der  kategorische  Imperativ  etwas  auszudrücken,  das  immer  und 
überall,  von  jedem  geleistet,  also  nicht  bloss  allgemein  anerkannt, 
sondern  auch  allgemein  realisiert  werden  soll,  das  also  auch  muss 
wiederholt  werden  könrren.  Daher  musste  er  sich  alles  Inhalts 
begeben,  formal  sein  und  bleiben.  Ebendarum  kann  und  darf  er 
irr  dem  Gesamtgebiete  des  Wertes  irur  eine  Sphäre  bezeichnen. 
Inbezug  auf  den  Begriff  des  Wertes  oder  Zweckes  überhaupt 
ist  er-  partikular,  in  Bezug  auf  die  Individuen  ist  er  in  der  For- 
derung sowohl  seiner  Anerkennurrg  wie  seiner  Realisierung  gene- 
rell. Da  er  aber  nur  eirre  partikular-e  Wertsphäre  umschreibt, 
hebt  er  sich  von  jener  anderen  ab,  für  die  sich  auf  Grund  logischer 
Disjurrktion  er-giebt,    dass  auch  sie  als  Wertsphäre  partikular,    als 


1)  Es  ist  sehr  genau  darauf  zu  achten,  dass  ich,  wie  von  der  All- 
gemeingültigkeit  überliaupt,  so  auch  von  der  allgemeinen  Realisierungs- 
notwendigkeit immer  nur  im  normativen  Sinne  rede.  Denn  sonst  könnte 
man  ja  sagen :  die  Fallgesetze  drücken  selbst  eine  allgemeine  Realisierungs- 
notwendigkeit aus,  was  ganz  richtig  wäre.  Nur  ist  das  eine  kausale 
Realisierungsnotwendigkeit,  aber  keine  normative,  von  der  allein  ich  hier 
rede.  Dies  nur  zur  Vermeidung  von  Missverständnissen.  Ausführlicher 
auf  diese  Fragen  einzugehen  ist  hier  nicht  der  Ort.  Das  sei  einer  späteren 
Gelegenheit  vorbehalten. 


Sctiiller  und  die  Idee  der  Freiheit.  36ö 

Wertfordenmg-  für  die  Auerkeunimg-  generell,  für  die  Eealisierung- 
siug-iilär  sein  muss. 

Es  ist  nun  keine  Frage,  dass  Kant,  so  richtig  er  das  Prin- 
zip der  Ethik  bestimmt  hatte,  und  so  wenig  ihn  alle  Einwendungen 
dagegen  treffen  konnten,  doch  der  ausserethischen  Wertsphäre  zu 
wenig  Beachtung  geschenkt  hatte.  Und  indem  er  die  rein  ethische 
Betrachtungsweise  allein  kultivierte,  machte  er  sie  auf  Kosten  der 
anderen  geltend.  Daraus  entstand  der  Schein  ihrer  „Verabsolu- 
tierung", wie  man  gesagt  hat;  und  darauf  gründeten  sich  auch  die 
rechtmässigen  Bedenken  gegen  sein  Verfahren. 

Schillers  Verdienst  ist  es,  ihm  gegenüber  die  „verschiedenen 
Instanzen  der  Beurteilung  eines  und  desselben  Objektes"  betont  zu 
haben,  wenn  er  sie  auch,  wie  bereits  bemerkt,  selbst  wieder  mit 
einander  verquickte  und  sich  noch  nicht  zu  vollkommener  Klarheit 
durchrang.  Aber  er  dringt  doch  der  „einseitigen  moralischen 
Schätzung"  gegenüber  auf  die  „vollständige  anthropologische ') 
Schätzung". 

Sein  Widerspruch  gegen  Kant  beruht  auf  der  ganz  anderen 
Stellung,  die  der  Dichter  von  vornherein  dem  Glückseligkeits- 
problem gegenüber  innehatte.  Hier  griff  er  gerade  den  Punkt 
auf,  den  Kant  in  seiner  im  Prinzip  durchaus  richtigen,  aber  im 
Verhältnis  zu  den  übrigen  Werten  doch  einseitigen  ethischen 
Fragestellung  völlig  übergangen  hatte.  Der  Dichter  erst  drängte 
auf  eine  Unterscheidung  innerhalb  des  Glückseligkeitsproblems 
selbst  hin,  durch  die  er  über  Kant  hinausging,  wie  er  bei  der 
Unterscheidung  des  Glückseligkeitsproblems  vom  rein  ethischen 
hinter  Kant  zurückgeblieben  war.  Der  Philosoph  unterschied  klar 
und  deutlich  die  sittliche  Bestimmung  von  der  Neigung,  aber  er 
achtete  nicht  auf  deren  Modifikationen  selbst.  Der  Dichter  merkte 
im  Gegenteil  fein  und  soi'gfältig  auf  diese,  aber  er  übersah  ihren 
prinzipiellen  logischen  Unterschied  von  der  sittlichen  Bestimmung. 

Was  er  in  der  Kunst  längst  behandelt,  das  klärte  ihm  die 
begriffliche  Reflexion  weiter  ab.  Und  wie  er  zunächst  auf  die 
verschiedenen  Instanzen  der  Beurteilung  hingewiesen,  so  wies  er 
auch  auf  die  verschiedenen  Modifikationen  des  Glückseligkeits- 
begriffs hin,  wies  er  darauf  hin,  dass  es  ein  Unterschied  sei,    wo- 


1)  Dass  dieses  Wort  lediglich  die  Universalität  der  Beurteilung  aus- 
drückt und  mit  der  modernen  anthropologischen  Schätzung  im  Sinne  der 
Biologie  und  Soziologie  nichts  zu  thun  hat,   bedarf  kaum  der  Erwähnung. 

24* 


364  B.  Bauch, 

rin  einer  gerade  seine  Glückseligkeit  setze,  und  dass  die  Ver- 
schiedenheit des  Glückseligkeitsstrebens  selbst  verschiedene  Instanzen 
der  Beurteilung  erheische.  Nach  diesem  Gesichtspunkte  hatte  ja 
einst  schon  Aristoteles  die  Skala  der  menschlichen  Wertbeurteilung 
gegliedert,  und  auf  demselben  Gesichtspunkte  beruhte  es,  dass  der 
Dichter  das  autonomische  Freiheitsprinzip  der  Pflicht  in  so  engen 
Zusammenhang  mit  der  Neigung  zu  bringen  vermochte.  Leider 
freilich,  wie  bemerkt,  in  einen  analytischen.  Für  den  synthetischen 
fehlte  ihm  das  Prinzip  der  Synthesis,  das  Kant  besass,  ohne  von 
ihm  einen  ergiebigeren  Gebrauch  zu  machen  und  ohne  dadurch 
seine  „Einseitigkeit"  zu  überwinden,  während  der  Dichter  diese 
Einseitigkeit  glücklich  überwand,  ohne  das  richtige  prinzipielle 
Verhältnis  zur  Klarheit  zu  bringen. 

Die  Unterscheidung  aber,  die  er  vollzog,  befähigte  ihn  zu 
einer  fruchtbaren  begrifflichen  Weiterbildung  kritischer  Gedanken- 
richtuug.  Dass  „Lust  und  Liebe  die  Fittiche  zu  grossen  Thaten" 
seien  —  dies  Wort  hätte  er  nun  auch  zu  dem  seinigen  machen 
können,  und  er  durfte  es  um  so  mehr,  als  er  der  Neigung  und 
der  Liebe  durch  ihre  Beziehung  auf  objektive  Zwecke  selbst  einen 
objektiven  Gehalt  zu  geben  vermochte.  Das  alles  hatte  Kant  in- 
bezug  auf  den  rein  sittlichen  Zweck  auch  gethan,  und  ebendarum 
schon  konnte  ihn  der  Vorwurf  der  „Rigidität"  nicht  treffen. 
Schiller  that  es  aber  auch  inbezug  auf  an  sich  aussersittliche 
und  in  sich  doch  objektive  Zwecke.  Darin  liegt  die  Grösse  und 
Bedeutung  seines  Hinausgehens  über  Kant,  dass  er  —  trotz  der 
unrechtmässigen  Vereinheitlichung  von  sittlichem  und  aussersitt- 
lichem  Zwecke  —  das  Reich  der  Freiheit  erweiterte. 

Durch  diese  Erweiterung,  dadurch,  dass  er  in  der  Freiheit 
der  Erscheinung  selbst  einen  Wert  entdeckte,  den  er  als  Anmut 
der  Würde  beizugesellen  suchte,  erschloss  er  in  Wahrheit  eine 
neue  Wertsphäre,  die,  bei  aller  logischen  Unzulänglichkeit,  doch 
von  der  grössten  Bedeutung  ist.  Denn  sie  stellt  eine  neue  Auf- 
gabe, auf  deren  Erfüllung  der  Mensch  hinzuleiten,  zu  „erziehen" 
ist,  und  durch  die  das  Problem  der  Freiheit  selbst  in  ein  neues 
Licht  gerückt  werden  sollte,  „weil  es  die  Schönheit  ist,  durch 
welche  man  zu  der  Freiheit  wandert".  Darum  heisst  jene  Er- 
ziehung auf  die  neuen  an  sich  aussersittlichen,  aber  doch  dem 
sittlichen  Zwecke  selbst  dienenden  Werte  „ästhetische  Erziehung", 
weil  sie  die  „Freiheit  in  der  Erscheinung"  darstellen  und  aus- 
wirken soll,    um  von  ihr  zur  sittlichen,    iutelligiblen    Freiheit,    die 


Schiller  und  die  Idee  der  Freiheit.  365 

„nie  erscheint",  hinzuführen  und  deren  ideale  Bestimmung  Avirk- 
lich  zu  macheu. 

*  * 

* 

Diese  Realisierung-  aber  ist  nur  möglich  in  einer  zu  ihrem 
Zwecke  verbundenen  Gemeinschaft,  —  „in  dem  Staate-'.  Freilich 
nicht  im  „Notstaate",  nicht  im  „Naturstaate",  in  den  die  Natur, 
„der  Zwang  der  Bedürfnisse"  den  Menschen  „hineingeworfen,  ehe 
er  in  seiner  Freiheit  diesen  Stand  wählen  konnte".  „Denn  das 
Werk  blinder  Kräfte  besitzt  keine  Autorität,  vor  welcher  die  Frei- 
heit sich  zu  beugen  brauchte,  und  alles  muss  sich  dem  höchsten 
Endzwecke  fügen,  den  die  Vernunft  in  seiner  Persönlichkeit  auf- 
stellt. Auf  diese  Weise  rechtfertigt  sich  der  Versuch  eines  mündig 
gewordenen  Volkes,  seinen  Naturstaat  in  einen  sittlichen  umzu- 
wandeln." 

Bis  hierher  dürfte  in  der  Gegenüberstellung  von  „Natur- 
staat" und  „Staat  der  Freiheit"  der  Einfluss  der  Kantischen 
Unterscheidung  von  „Naturstaat"  und  „ethischer  Gemeinschaft"  zu 
statuieren  sein,  sowie  der  Begriff  des  menschlichen  „Endzwecks, 
den  die  Vernunft  in  seiner  Persönlichkeit  aufstellt",  geradezu  das 
Gepräge  Kantischer  Terminologie  trägt.  Die  Art  und  Weise,  wie 
der  Dichter  das  Bild  von  jener  Umformung  entwirft,  weist  indes 
auf  den  grossen  Schüler  Kants  hin,  der  dessen  Lehre  so  weiter- 
bilden sollte,  dass  wir  erst  heute  ihre  Segnungen,  wahrhaft  frucht- 
bar gemacht,  zu  empfangen  im  Stande  sind,  auf  Fichte.  Ja  selbst 
den  Einfluss  der  dialektischen  Methode  seiner  Gedankenführung, 
deren  „äusserst  zugespitzte  Apices"  Kant  bald  energisch  abwehren 
sollte,  und  von  der  Fichte  trotzdem  stolz  erklärte,  er  rechne  sich 
dieses  „Verdienst  der  Darstellung"  sehr  hoch  an,  „und  werde  nie 
ablassen,  da,  wo  es  die  Sache  erlaubt,  Fleiss  auf  sie  zu  wenden", 
—  selbst  den  Einfluss  dieser  Methode  können  wir  in  der  bedeut- 
samsten Vertiefung  seiner  philosophischen  Ideen  wahrnehmen. 
Und  wir  wären  dazu  im  Stande,  selbst  wenn  er  sich  nicht  aus- 
drücklich „auf  seinen  Freund  Fichte  beziehen"  würde. 

Dessen  Einfluss  erstreckt  sich  auf  nicht  mehr  und  nicht  we- 
niger als  auf  Schillers  vollständig  ausgeführten  Entwurf  einer 
Umformung  des  „Naturstaates  in  einen  sittlichen",  über  die  Kant 
sich  im  grossen  und  ganzen  doch  nur  andeutend  ausgesprochen 
hatte. 


366  B.  Bauch, 

Der  „Natnrstaat"  (wie  jeder  iiolitischc  Körper  heissen  kann, 
der  seine  Einrieb tuug-  nrsprüng-lich  von  Kräften,  nicht  von  Ge- 
setzen ableitet)  widerspricht  nun  zwar  dem  nioraliscben  Menseben, 
dem  die  blosse  Gesetzmässip:keit  znm  Gesetz  dienen  soll;  aber  er 
ist  docb  die  Existenzbeding-uug-  für  den  „physischen".  Dieser 
aber  ist  znuächst  „wirklich,    nnd    der  sittliche  nur  problematisch". 

„Hebt  also  die  Vernunft  den  Naturstaat  auf,  wie  sie  not- 
wendig" muss,  wenn  sie  den  ihrigen  an  die  Stelle  setzen  will,  so 
wagt  sie  den  physischen  und  wirklichen  Menschen  an  den  proble- 
matischen sittlichen,  so  wagt  sie  die  Existenz  der  Gesellschaft  an 
ein  bloss  mögliches  (wenngleich  moralisch  notwendiges)  Ideal  von 
Gesellschaft.  Sie  nimmt  dem  Menschen  etwas,  das  er  wirklich 
besitzt,  und  ohne  welches  er  nichts  besitzt,  und  weist  ihn  dafür 
an  etwas  an,  das  er  besitzen  könnte  und  sollte;  und  hätte  sie 
zuviel  auf  ihn  gerechnet,  so  würde  sie  ihm  für  eine  Menschheit, 
die  ihm  noch  mangelt  und  unbeschadet  seiner  Existenz  mangeln 
kann,  auch  selbst  die  Mittel  zur  Tierheit  entrissen  haben,  die  doch 
die  Bedingungen  zu  seiner  Menschheit  sind." 

Um  die  ideelle  Menschheit  auszuwirken,  darf  also  die  phy- 
sische nicht  verloren  gehen.  Ihre  Existenz  ist  die  reale  Bedingung 
für  die  Auswirkung  ihrer  idealen  Bestimmung.  „Das  grosse  Be- 
denken also  ist,  dass  die  physische  Gesellschaft  in  der  Zeit  keinen 
Augenblick  aufhören  darf,  indem  die  moralische  in  der  Idee  sich 
bildet,  dass  um  der  Würde  des  Menschen  willen  seine  Existenz 
nicht  in  Gefahr  geraten  darf.  Wenn  der  Künstler  an  einem  Uhr- 
werk zu  bessern  hat,  so  lässt  er  die  Bäder  ablaufen;  aber  das 
lebendige  Uhrwerk  des  Staats  muss  gebessert  werden,  indem  es 
schlägt,  und  hier  gilt  es,  das  rollende  Rad  während  seines  Um- 
schwungs auszutauschen.  Man  muss  also  für  die  Fortdauer  der 
Gesellschaft  eine  Stütze  suchen,  die  sie  von  dem  Naturstaate,  den 
man  auflösen  will,  unabhängig  macht." 

Wie  anders  ist  hier  das  Problem  von  Staat,  Gesellschaft 
und  Geschichte  angesehen,  als  auf  jenem  Standpunkte,  wo  das 
Individuum  nicht  sich  der  Gesellschaft,  sondern  die  Gesellschaft 
sich  opfern  wollte;  oder  auch  noch  da,  wo  es  sich,  weil  es  seine 
Zeit  seinem  Ideal  nicht  reif  Avähnte,  auf  sich  selbst  zurückzog! 
Jetzt  ist  endlich  erkannt,  dass  es  selbst  eine  Aufgabe  ist,  dahin 
zu  wirken,  dass  nicht  etwa  sich  die  Idee  dem  Joch  der  Zeit 
beuge,  sondern  dass  die  Zeit  der  Idee  zureife,  dass  das  „Jahr- 
hundert"   für    ein    Ideal    „erzogen"    werde,    und   dass  auch  „eine 


Schiller  und  die  Idee  der  Freiheit.  367 

Aufgabe    für    mehr    als    ein  Jabrliimdert"    iu    Angriff    genommen 
werden  soll. 

Nur  fragt  es  sich  weiter:  was  ist  die  Stütze  dafür?  Sie 
liegt  nicht  im  physischen  Menschen,  denn  er  bedarf  ja  dieser 
Stütze,  um  zum  sittlichen  erzogen  zu  werden ;  noch  liegt  sie  im 
sittlichen  Menschen,  denn  der  ist  ja  die  Aufgabe,  für  die  der 
physische  Mensch  vermittels  jener  ..Stütze"  erst  erzogen  werden 
soll.  Sie  muss  in  einem  „dritten  Oharakter"  liegen,  „der,  mit 
jenen  beiden  verwandt,  von  der  Herrschaft  blosser  Kräfte  zu  der 
Herrschaft  der  Gesetze  einen  Übergang  bahnte  und,  ohne  den 
moralischen  Chai-akter  an  seiner  Entwickelung  zu  verhindern,  viel- 
mehr zu  einem  sinnlichen  Pfände  der  unsichtbaren  Sittlichkeit 
diente". 

Von  hier  aus  gelangt  Schiller  zu  der  „vollständigen  anthro- 
pologischen Schätzung-',  deren  Methode  kurz  folgendermassen  be- 
zeichnet ist.  Mit  Fichte  hält  er  fest:  „Jeder  individuelle  Mensch, 
kann  man  sagen,  trägt,  der  Anlage  und  Bestimmung  nach,  einen 
reinen  idealischen  Menschen  in  sich,  mit  dessen  unveränderlicher 
Einheit  in  allen  Abwechselungen  übereinzustimmen  die  grosse 
Aufgabe  seines  Daseins  ist."^)  Seine  Repräsentation  findet  er  im 
Staate.  Dieser  aber  soll  nicht  bloss  den  objektiven  reinen  Gat- 
tungsmenschen, sondern  auch  den  subjektiven  und  spezifischen  „in 
den  Individuen  ehren  und,  indem  er  das  unsichtbare  Reich  der 
Sitten  ausbreitet,  das  Reich  der  Erscheinung  nicht  entvölkern". 
Die  Bewahrung  des  Individuellen,  auf  die  Kant  in  der  That  kein 
besonderes  Augenmerk  gerichtet,  ist  somit  die  Aufgabe  jener  uni- 
versalen Schätzung,  die  „der  politische  und  pädagogische  Künstler" 
zu  lösen  hat.  Damit  ist  der  über  Kant  hinausführende  Gesichts- 
punkt aufs  klarste  gekennzeichnet.  Der  „Wert  des  Individuellen", 
um  mit  Goethe  zu  reden,  tritt  hier  aus  Licht.  Aber  auch  dieser 
Wert   darf  nicht  in  der  Luft  schweben.     Die  „subjektive  Mensch- 


1)  Hier  beruft  sich  dt-r  Dichter  ausdrücklich  auf  Fichte :  „Ich  beziehe 
mich  hier  auf  eine  kürzlich  erschienene  Schrift:  Vorlesungen  über  die  Be- 
stimmung des  Gelehrten,  von  meinem  Freunde  Fichte,  wo  sich  eine  sehr 
lichtvolle  und  noch  nie  auf  diesem  Wege  versuchte  Ableitung  dieses  Satzes 
findet."  —  Zur  Begründung  seiner  metaphysischen  Anschauungen  zieht 
der  Dichter  auch  die  Grundlage  der  gesamten  Wissenscliaftslehre  heran. 
Doch  liegt  es  nicht  im  Bereiche  meiner  Abhandlung,  darauf  näher  einzu- 
gehen, zumal  diese  lediglicli  theoretischen  Erwägungen  ja  an  anderer 
Stelle  in  diesem  Hefte  von  Schmid  behandelt  werden. 


868  B.  Bauch, 

heit"  bedarf  selbst  einer  „objektiven"  Basierung-  ibres  Wertes,  die 
in  ihrer  „objektiven  Veredlung"  zum  Ausdruck  kommt.  Im  Staate 
hat  sich  der  Einzelne  einerseits  von  aller  „willkührlichen  Wildheit", 
andererseits  aus  aller  „Barbarei"  zur  „Bildung"  und  „Kultur" 
durchzuarbeiten.  Dazu  muss  er  seine  subjektiven  „Gefühle"  mit 
objektiven  „Grundsätzen"  zur  Übereinstimmung  zu  bringen  suchen. 
Jene  dürfen  nicht  über  diese  „herrschen";  diese  dürfen  nicht  jene 
„zerstören".  Der  Mensch  ist  nicht  als  „Bruchstück"  auszubilden, 
die  „Totalität  des  Charakters"  ist  so  zu  entfalten,  dass  die  sub- 
jektiven natürlichen  Anlagen  zu  Energien  auf  objektive  Ziele 
werden,  die  dem  Einzelnen  die  allgemeine  gesellschaftliche  Organi- 
sation, „das  organische  Leben"  in  ihr  anzuweisen  hat.  Dafür  hat 
diese  aber  „den  Menschen  endlich  als  Selbstzweck  zu  ehren  und 
wahre  Freiheit  zur  Grundlage  der  politischen  zu  machen". 

Das  formal  begrifflich  unzulängliche  Ideal  der  „schönen 
Seele"  erhält  dadurch  gleichsam  eine  immanente  Korrektur,  die  es 
inhaltlich  durch  schärfere  Unterscheidung  der  vormals  in  ihm  be- 
reits ausgedrückten  Bestimmungsstücke  annehmbarer  macht.  Dem 
sittlichen  Ideale  werden  in  den  Werten  der  „Bildung"  und  „Kul- 
tur" Inhalte  gesetzt,  ohne  dass  es,  Avie  der  Begriff  der  schönen 
Seele  es  eigentlich  verlangte,  selbst  ver  in  halt  licht  zu  werden 
braucht.  Denn  auch  das  in  der  „Totalität  des  Charakters"  ge- 
wiesene Ideal  wird  ja  nicht  mehr  als  ein  ethisches  angesehen, 
vielmehr  wird  es  gerade  der  „einseitigen  moralischen  Schätzung" 
gegenübergestellt. 

Zu  jenen  Werten  nun  gehört,  um  die  universale  Bestimmung 
des  Menschen  wirklich  zu  machen,  in  erster  Linie  der  Wert  der 
Wahrheit.  Um  ihrer  Idee  aber  auf  uns  Einfluss  zu  verschaffen 
bedarf  es  nicht  bloss  der  Erkenntnis  überhaupt.  Die  Vernunft 
hat  Wahngebilde,  Sinuentrug  und  Fanatismus  zerstört  und  doch 
sind  „wir  noch  immer  Barbaren"  und  nicht  im  Besitze  der  wahren 
Freiheit,  zu  der  uns  die  Wahrheit  führen  soll.  Dazu  gehört  von 
uns  selbst  Wahrheitsmut.  „Ein  alter  Weiser  hat  es  empfunden, 
und  es  liegt  in  dem  vielbedeutenden  Ausdruck  versteckt:  sapere 
aude.     Erkühne  dich,  weise  zu  sein." 

So  soll  „die  theoretische  Kultur  die  praktische  herbeiführen 
und  die  praktische  doch  die  Bedingung  der  theoretischen  sein".  Das 
ist  ein  „Cirkel",  aber  ein  notwendiger.  Ihn  kann  weder  der  Ein- 
zelne, noch  der  Staat  auflösen.  Das  vermag  allein  ein  ganz  be- 
sonderes Werkzeug.     „Dieses  Werkzeug  ist  die  schöne  Kunst"  .  .  . 


Schiller  und  die  Idee  der  Freiheit.  369 

„mit  ihren  unsterblichen  Mustern".  Für  die  Erziehung  zur  Frei- 
heit haben  sich  so  „Kunst  und  Wissenschaft"  zu  verbinden,  um 
das  Zeitlose,  das  Ewige  „in  die  unendliche  Zeit  zu  werfen".  Die 
Kunst,  die  jenen  Cirkel  auflösen  soll,  ist  unabhängig  von  allem 
Historischen.  Au  kein  Zeitalter  und  keinen  Geschmack  gebunden 
soll  sie  vielmehr  Zeitalter  und  Geschmack  au  sich  binden  durch 
den  „reinen  Vernuuftbegrif f  der  Schönheit".  Er  vermag 
den  Menschen  „von  einem  beschränkten  zu  einem  absoluteu  Da- 
sein zu  führen",  indem  er  ihn  von  der  Natur  zur  Freiheit,  vom 
Zeitlichen  ins  Ewige  unmittelbar  und  ursprünglich  erhebt. 
Dadurch  verbindet  das  Schöne  beide  Seiten  des  menschlichen 
Wesens,  die  „sinnliche"  und  die  „intelligible"  mit  einander  und 
erzeugt  so  Einheit  iu  der  Totalität  seines  Charakters. 

Auf  diesem  Wege  hat  Schiller  nun  das  Reich  der  Freiheit 
erweitert  und  die  objektiven  Werte  aufgewiesen,  auf  denen  die 
verschiedenen  Instanzen  der  Beurteilung  gegründet  sind,  und  die 
dem  Individuellen  seine  Bewahrung  garantieren.  Denn  auf  sie 
kann  und  darf  der  Einzelne  seine  ganze  Liebe  und  Neigung 
richten;  ja  er  soll  das.  Und  so  wird  er  in  seiner  ganz  bestimmten 
Besonderheit  zur  Geltung  gelangen  können,  indem  er  gerade  seine 
Individualität  auf  überindividuellc  objektive  Zwecke  richtet.  Das 
wird  noch  deutlicher,  sobald  nicht  bloss  das  „Dass",  sondern  auch 
das  „Wie"  dieser  Wirksamkeit  in  Frage  kommt. 

Die  Kunst  liefert  nämlich  durch  Erzeugung  des  einheitlichen 
Ganzen  des  Charakters  auch  die  vorhin  geforderte  „Stütze". 
Während  wissenschaftliches  und  sittliches  Ideal  sich  allein  an 
den  vernünftigen  Meuscheu  wenden,  wendet  sich  das  Schöne  auch 
an  den  sinnlichen.  Sie  versetzt  den  Menschen,  indem  sie  seine 
beiderlei  Kräfte  ins  Spiel  bringt,  iu  eineu  Zustand,  in  dem 
er  sich  zu  seiner  Bestimmung  erheben  kann,  giebt  ihm  „die  Frei- 
heit, zu  sein,  was  er  sein  soll"  und  „den  sinnlichen  Menschen 
vernünftig  zu  machen".  „Wahrheit  und  Pflicht"  freilich  müssen 
allein  für  sich  und  um  ihretwillen  wirken  und  Einfluss  haben. 
„Aber  dass  sie  dieses  überhaupt  können  —  dass  es  überhaupt  nur 
eine  reine  Form  für  den  sinnhcheu  Menschen  gebe,  dies  .  .  . 
muss  durch  die  ästhetische  Stimmung  des  Gemüts  erst  möglich  ge- 
macht werden".  Denn  nur  deren  Gegenstand,  das  Schöne,  hat 
Beziehung  auf  den  sinnlichen  Menschen.  Aus  dem  „physischen 
Zustand"  zum  „ästhetischen",  „von  der  Schönheit  zur  Wahrheit 
und  zur  Pflicht"  —  das  ist  der  Weg,  den  er  zu  gehen  hat. 


370  B.  Bauch, 

Hat  das  Sohöne  seine  Mission  erst  am  Individuum  erfüllt,  so 
hat  es  auch  schon  die  Gesellschaft  gewonnen.  Lieht  der  Einzelne 
erst  das  Schöne,  so  will  er  es  auch  verbreiten  und  als  „Freiheit 
in  der  Erscheinuno"  selber  wirken.  Aber  er  kann  die  eigene 
Freiheit  nur  dai-stellen,  wenn  er  auch  die  der  anderen  schont  und 
fördert.  Dazu  muss  er  sich  zu  „fremder  Vorstellungsart  erweitern 
können",  muss  er  „fremde  Natur  treu  und  Avahr  in  sich  auf- 
nehmen, fremde  Situationen  sich  aneignen,  fremde  Gefühle  zu  den 
seinigen  machen  können"  durch  „Regsamkeit"  seines  eigenen  Ge- 
fühls. Diese  Kunst  des  Individualisiereus  und  zugleich  der  Scho- 
nung fremder  Individualität,  ist  rein  ästhetischen  Ursprungs.  Sie 
ist  das  wahre  Wesen  des  „guten  Tones"  und  der  „Schönheit  des 
Umgangs",  begründet  edle  „Geselligkeit"  und  formt  so  zunächst 
den  Naturstaat  in  einen  ästhetischen  um,  in  dem  sich  der  „ge- 
sellige Charakter"  erzeugt.  Das  Prinzip  des  guten  Tones  schliesst 
zvvei  Gesetze  in  sich.  „Das  erste  Gesetz  des  guten  Tones  ist: 
schone  fremde  Freiheit;  das  zweite:  zeige  selbst  Freiheit."  Und 
da  in  ihm  das  Grundgesetz  des  ästhetischen  Staates  gegeben  ist, 
so  ist  „E^reiheit  zu  geben  durch  Freiheit,  das  Grundge- 
setz dieses  Reichs." 

In  ihm  aber  gewinnt  eine  besondere  Gestalt  der  Gemeinschaft 
eine  besondere  Bedeutung:  „Die  schönere  Notwendigkeit,  die  die 
Geschlechter  zusammenkettet,  der  Herzen  Anteil,  der  das  Bediu'f- 
nis  bew^ahren  hilft,  das  die  Begierde  nur  launisch  und  wandelbar 
knüpft",  die  Familie,  jene  fundamentalste  und  zarteste  Form  des 
Gesellschaftslebeus  erhält  hier  ihre  rechtmässige  Stelle  und  sichert 
dem  Individuellsten  des  menschlichen  Seins  seinen  überindividuellen 
Wert.  Die  persönlichste  Liebe  erhält  hier  überpersöuliche  Weihe 
und  Heiligung. 

Und  das  Recht,  das  dem  Individuellen  in  dieser  Gemeinschaft 
wird,  das  widerfährt  ihm  auch  in  dem  allgemeinen  gesellschaft- 
lichen Zusammenhange.  Die  dem  Einzelnen  aus  diesem  erwachsen- 
den Aufgaben  kann  er  am  besten  lösen,  wenn  er  sie  mit  Lust  und 
Liebe  ergreift.  Darum  soll  er  sich  auch  nach  Möglichkeit  denen 
zuwenden,  zu  denen  ihn  persönliche  Neigung  drängt.  Denn  diese 
wirkt  sich  allein  da  aus,  wo  auch  eigene  Anlage  zui-  Wirksamkeit 
gelangt,  wo  seine  wertvollen  individuellen  Kräfte  in  freies  Spiel 
gesetzt  werden.  Dann  also  Avird  der  Einzelne  gerade  durch  seine 
Individualität  am  besten  der  Gesamtheit  dienen.  Und  für  diesen 
Dienst  hat  er  ja  seine  objektiven  Richtpunkte  in  jenen  objektiven 


Schiller  und  die  Idee  der  Freiheit.  371 

Ideen,  die  die  Universalität  der  Freiheit  bezeichnen,  von  denen 
aus  der  überindividuelle  Wert  in  das  individuelle,  wie  gemein- 
schaftliche Leben  einströmt. 

So  giebt  das  Schöne  zunächst  individuelle  Freiheit.  Diese 
führt  unmittelbar  zur  geselligen.  Da  diese  nun  den  Naturstaat, 
den  Staat  der  Not,  zum  Staat  der  Freiheit  im  ästhetischen  Sinne 
umformt,  so  kann  sich  auf  diesem  als  seiner  realen  Stütze  der 
sittliche  mit  der  Idee  der  sittlichen  Freiheit  aufbauen.  Was  Kant 
von  diesem  gefordert  hatte,  dass  in  ihm  eines  jeden  Freiheit  mit 
der  aller  übrigen  müsse  zusammen  bestehen  können,  —  für  die 
Erfüllung  dieser  Forderung  hat  Schiller  die  reale  Bedingung  im 
ästhetischen  Staate  aufzuweisen  versucht.  So  hat  er  genau  den- 
selben Weg,  den  er  im  dialektischen  Teile  seiner  Untersuchung 
bei  der  Frage  nach  der  logischen  Dependenz  gegangen  ist,  nun 
umgekehrt,  zurückgelegt,  wo  es  sich  ihm  um  die  reale  Dependenz 
handelte  Die  sittliche  Freiheit,  die  der  Ausgangspunkt  seiner 
Untersuchung  war,  ist  nun  auch  deren  Zielpunkt  geblieben.  Für 
die  logische  Reflexion  das  Prius  ist  sie  für  die  Realisierung  das 
Posterius,  zu  dem  „die  ästhetische  Erziehung''  führt. 


Wenn  je  ein  Mensch  als  künstlerischer  P'rzieher  auch  „päda- 
gogischer Künstler"  war,  und  die  Menschheit  durch  die  Freiheit 
der  Kunst  auch  dem  Ideal  der  sittlichen  Freiheit  näher  gebracht 
hat,  dann  ist  es  unser  Schiller  gewesen.  Das  in  der  begrifflichen 
Arbeit,  auch  in  der  über  die  Kunst  aufgegangene  Licht  ver- 
breitet nun  seineu  Glanz  der  Ideen  auf  diese  Kunst  selbst,  aber 
so,  dass  sie  ihren  verklärenden  Schein  auf  die  philosophische  Re- 
flexion selbst  zurückwirft.  Seine  Kunst  weist  dem  Individuum  den 
Weg  zu  sich  selbst,  zur  autonomen  Innerlichkeit,  weist  es  darauf 
hin,  dass  der  „schönste  Sieg",  den  es  im  Kami)fe  des  Lebens  er- 
ringen kann,  die  Selbstbestimmung,  Selbstbezwingung  und  Selbst- 
beherrschung ist  und  lässt  es  für  den  Schicksalsweg  des  Lebens 
in  der  eigenen  Brust  auch  des  Schicksals  Sterne  suchen.  Die 
Familie,  das  intimste  und  innerlichste  Band  der  schönen  Gesell- 
schaft, em})fängt  aus  seiner  Kunst  eine  Würdigung,  die  ewig  im 
Gemüte  der  Deutscheu  als  Gemeingut  fortleben  wird.  Und  zu 
welchen  reinen,  klaren  Höhen  hat  sich  seine  Kunst  nicht  aus 
jenen    stürmischen    Anfängen    emporgearbeitet    in    der  Auffassung 


372  B.  Bauch,  Schiller  und  die  Idee  der  Freiheit, 

vou  do.m  grossen  Zusammenhange,  in  den  der  P^inzelne  zur  Ver- 
wirklichung- seiner  Bestimmung  gestellt  ist,  von  „dem  verwickelten 
Ganzen  der  Gesellschaft"!  Das  unbestimmte  Weltbürgertum  weicht 
dem  nationalen  Gedanken.  Denn  „elend  ist  die  Nation,  die  nicht 
ihr  Alles  setzt  au  ihre  Ehre".  Und  als  ihr  Glied  hat  der  Mann, 
„an's  Vaterland,  an's  teure"  sich  anschliessend,  einzustehen  für 
alles,  was  es  an  Wert  birgt: 

„Wir  stehn  für  unser  Land, 
Wir  stehn  für  unsre  Weiber,  unsre  Kinder." 

Erst  wenn  die  Nation  sich  in  ihrer  Bedeutung  ergriffen  hat, 
erst  dann  können  die  Nationen,  sich  selbst  als  Individuen  wahrend, 
eine  abgeklärte  geistige  Weltbürgei-schaft  im  ganzen  darstellen. 
Autonome  Person,  Familie,  Vaterland  sind  notwendige  und  unauf- 
gebbare,  überhistorische  und  allgemeingültige  Etappen  der  Mensch- 
heit geworden.  Ihr  Recht  ist  entdeckt  und  ihr  Wert  ist  gegründet 
in  des  Ideales  Reich,  von  dem  alles  Leben  allein  seinen  Wert 
empfangen  kann,  und  auf  das  es  sich  beziehen  muss,  damit  es 
Wert  habe.  Denn  „das  Leben  ist  der  Güter  höchstes  nicht". 
Ja,  es  ist  als  blosses  Dasein,  als  „enges,  dumpfes  Leben"  über- 
haupt kein  Gut.  Um  das  zu  werden,  muss  es  über  sich  selbst 
hiuausstreben,  muss  es  dahin  zielen,  wohin,  nach  Goethes  Wort, 
seines  Freundes  Geist  gewaltig  f ortschritt:  nach  dem  Ewigen,  dem 
Idealen,  „ins  Ewige  des  Wahren,  Guten,  Schönen",  in  das  Reich 
der  Freiheit 


Zwei  Queilenfunde  zu  Schillers  philosophischer 

Entwickelung. 

Von    H.    V  a  i  h  i  n  g  e  r. 

I. 
Eine  Disputation  in  der  Karlsschule 

im  November  1776. 

Vorbemerkungen. 
Vor  einigen  Jahren  fiel  mir  hier  zufällig-  ein  dicker  Sammel- 
band   von    alten  Dissertationen  in  die  Hände;    die  meisten  waren 
ganz  wertlos,    aber   eine  derselben  erreg-te  meine  Aufmerksamkeit, 
ihr  Titel  lautet: 

DISSERTATIO 

DE 

ORIGINE    CHARACTERIS  ANIMI 

QUAM 

ACADEMIAE  MILITARIS 

STATORE  ET  PROTECTORE  SUMMO 

SERENISSIMO     ATQUE     POTENTISSIMO 

DUCE  AC  DOMINO 

DOMINO 

CAROLO 

DUCE  WURTEMBERGIAE  &  TECC. 

REGXANTE  &C.&C. 

PRAESIDE 

lACOBO     FRIDERICO     ABEL 

PROFESSORE  PHILOSOPHIAE 

IN    ACADEMIA     MILITARI     P.    O. 

STUTTGARDIAE  D.  XXVII  NOVEMBRIS  MDCCLXXVI 

PUBLICE  DEFENDENT 

RESPONDENTES 

J.  F.  de  Schönfeld,  A.  E.  de  Haertheustein,  C.  J.  T.  de  Landsee, 

E.  H.  de  Rumauu,  J.  L.  de  Breitschweidt,  J.  L.  Parrot, 


374  H.  Vaihingei', 

J.  E.  A.  M.  Kapf,  F.  G.  A.  Miller,  F.  F.  Pfeiffer,  J.  W.  Petersen, 

C.  F.  Duttenhoffei-,  \V.  F.  de  Hoven,  Th.  Pliening'er,  F.  L.  Lieschiiig-, 

J.  F.  Schiller,  F.  C.  Kaussler,  F.  P.  de  Steinheil,  J.  G.  Elvert. 

Die  Dissertation  stammt  also  von  Jac.  Fried r.  Abel,  dem 
bekannten  Lehrer  Schillers  an  der  „Hohen  Karlsschule"  oder  wie 
sie  damals  offiziell  hiess  „Militär-Akademie-'  (Acadcmia  miUtarisJ; 
sie  stammt  aus  dem  Jahre  1776  (27.  Nov.)  und  was  nun  das 
grösste  Interesse  erre^-t:  unter  den  Eespondenten  ist  Friedrich 
Schiller  genannt.  Schiller  war  also  damals  eben  17  Jahre  alt 
g-eworden.  Besonderes  Hochg-efiihl  schwellte  in  diesen  Tagen  seine 
Brust:  einige  Wochen  vorher  hatte  mein  Ururgrossvater,  der  Stifts- 
prediger und  Professor  am  Gymnasium,  sowie  an  der  Karlsschule, 
seit  1769  „Kaiserlicher  Hof-  und  Pfalzgraf",  M.  Balthasar 
Hang,  im  „Schwäbischen  Magazin"  Schillers  Ode:  „Der  Abend" 
veröffentlicht  —  das  Erste,  was  von  Schiller  gedruckt  worden  ist, 
jedoch  nicht  mit  seinem  vollen  Namen  gezeichnet,  sondern  nur  mit 
den  Anfangsbuchstaben  Seh.  Diesem  Gedicht  gab  nuMU  Ururgross- 
vater jenes  später  so  berühmt  gewordene  pi'ophetische  Geleitwort 
mit:  „es  dünkt  mich,  der  Jüngling  habe  schon  gute  Aidores  ge- 
lesen und  bekomme  mit  der  Zeit  os  vicujna  sonaturum.''  Dieser 
Jüngling  war  nun  also  unter  den  Uespondentes  jener  Abel'schen 
Dissertation,  und  hier  ist  der  volle  Name  Schillers  über- 
haupt zum  ersten  Male  gedruckt  worden. 

Ein  grosser  Teil  der  übrigen  liespondoifas  ist  aus  Schillers 
Leben  mehr  oder  weniger  bekannt:  am  bekanntesten  sind 
F.  V.  Hoven  und  W.  Petersen  als  intime  BYeunde  des  jugeud- 
lichen  Dichters.  Schon  1774  hat  der  Erstere  über  den  15jährigen 
BYeund  das  Urteil  abgegeben:  „Seine  Hauptneigung  geht  auf  die 
Poesie,  und  nichts  ist  im  Stande,  ihn  davon  abzubringen.  Zur 
Tragödie  zeigt  er  den  grössten  Geschmack."  F.  v.  Hoven  war 
auch  gleichzeitig  mit  Schiller-  1775  in  die  medizinische  Abteilung 
eingetreten,  zur  Zeit  der  Übersiedelung  der  Karlsschule  von  der 
Solitüde  nach  Stuttgart,  welche  damals  im  Ganzen  ca.  300  „Eleven" 
zählte.  Jener  medizinischen  Abteilung  gehörten  unter  den  liespon- 
dentes  auch  noch  Folgende  an:  Plieninger,  Liesching,  Elwert; 
von  den  anderen  Respondmtes  spielen  in  Schillers  Jugend  noch 
Folgende  eine  Rolle:  Miller,  Pfeiffer  und  besonders  Kapf,  mit 
welchem  zusammen  Schiller  später  als  Regimentsmedicus  bei  der 
Witwe  Vischer   (der   „Laura"    der  Jugendgedichte)    wohnte.     Fast 


Zwei  Quellenfunde  zu  Schillere  philosophischer  Entwickelung.     375 

alle  Respondenies  waren  g-leichaltrig*  mit  Schiller:  Diese  „Siebzen- 
jälirig-en"  waren  eine  brausende,  gährende,  leidenschaftliche  Gene- 
ration. (Vgl.  Julius  Hartniann,  Schillers  Jug-eudfreunde.  Mit  zahl- 
reichen Abbildungen.     Stuttgart  1904.) 

Die  Karlsschule  pflegte  nach  der  Sitte  der  damaligen  Zeit 
und  auf  Befehl  des  Herzogs  mit  besonderer  Vorliebe  die  öffent- 
lichen Disputationen.  Die  Professoren  Hessen  irgend  eine  kleine 
Abhandlung  aus  ihrem  Fach  drucken  und  veranstalteten  darüber 
mit  den  Schülern  der  betr.  Klasse  oder  den  Zuhörern  der  betr. 
Vorlesung  eine  Disputation,  zu  welcher  sich  dieselben  natürlich 
gründlich  vorbereiteten;  die  Disputationen  waren  öffentlich, 
meistens  in  Gegenwart,  vielfach  auch  unter  direkter  aktiver  Teil- 
nahme des  Herzogs,  und  dienten  zugleich  als  Prüfungen  nach  Ab- 
schluss  eines  Kursus. 

In  dem  Spezialwerk  von  H.  Wagner,  Geschichte  der  Hohen 
Karlsschule  (Würzburg  1856)  Bd.  I,  S.  630  ff.,  in  dem  Verzeich- 
nis der  Schriften  der  Stuttgarter  Akademie,  findet  sich  auch 
unsere  Dissertation  erwähnt;  auch  befindet  sich,  wie  mir  Herr 
Oberbibliothekar  Dr.  Steiff  aus  Stuttgart  mitteilt,  ein  Exemplar  der- 
selben auf  der  Bibliothek  daselbst,  ebenso  eins  in  Tübingen.  (Das 
von  mir  aufgefundene  Exemplar  habe  ich  dem  Marbacher  Schiller- 
Museum  geschenkt.)  Aber  die  Dissertation  ist  bis  jetzt,  soweit 
ich  sehe,  von  den  Schillerforschern  nicht  berücksichtigt  worden, 
insbesondere  nicht  von  denjenigen,  welche  Schillers  Jugend-  und 
Bildungsjahre  am  gründlichsten  dargestellt  haben,  von  E.  Wel- 
trich  (Friedrich  Schiller.  Erster  Band,  1899)  und  von  J.  Minor 
(Schiller.  Sein  Leben  und  seine  Werke.  I  und  II,  1890);  ja 
Minor  sagt  sogar  (I,  197)  ausdrücklich:  „über  den  Fortgang  der 
philosophischen  Studien  in  den  folgenden  Jahren  [nach  1775]  sind 
wir  leider  wenig  genau  unterrichtet,  weil  für  die  Jahre  1776  und 
1777  dieLehrpläue  fehlen."  So  füllt  unsere  Dissertation  von  1776 
eine  schmerzlich  empfundene  Lücke  aus. 

Die  Philosophie  spielte  in  dem  Lehrplan  der  Karlsschule  eine 
sehr  grosse  Rolle,  entsprechend  der  Sitte  der  damaligen  Zeit: 
des  „philosophischen  Jahrhunderts".  Näheres  findet  sich  bei 
Minor  I,  192,  sowie  bei  Weltrich  I,  115  ff.  Der  Herzog  selbst 
legte,  in  Nachahmung  Friedrich  des  Grossen,  auf  die  Philosophie 
ganz  besonderen  Wert.  Schon  1773  trieb  die  Schillersche  Ab- 
teilung —  also  durchschnittlich  aus  14jährigen  Jungen  zusannneu- 
gesetzt   —    wöchentlich    6    Stunden    Metaphysik,    Logik    und    Ge- 


376  H.  Vaihingen, 

schichte  der  Philosophie  !  Im  Jahre  1775  wurden  nicht  weniger 
als  15  Stunden  wöchentlich  für  Philosophie  und  Redekunst  zu- 
sammen angesetzt! 

Den  Unterricht  in  Philosophie  erteilte  in  der  Schillerschen 
Abteilung-  zuerst  ein  alter  Schulmann,  Namens  Jahn,  in  unzuläng- 
licher Weise.  An  seine  Stelle  trat  im  Jahre  1775  der  ausser- 
ordentliche Professor  Bock  aus  Tübingen,  ein  sehr  kenntnisreicher 
Mann,  ein  guter  Redner  und  ein  selbstdenkender  Philosoph,  aber 
ohne  Schwung  und  daher  ohne  tiefere  Einwirkung  auf  Schiller. 

Nach  Bocks  Abgang  kam  Schiller  in  die  Hand  von  Abel. 
„Magister"  Abel  wirkte  seit  1772  an  der  Akademie.  Als  er  ein- 
trat, war  er  erst  22  Jahre  alt,  aber  sein  Unterricht  war  äusserst 
anregend:  die  Schüler  hörten  ihn  mit  Begeisterung,  seine  Richtung 
war  eklektisch  dem  Zug  der  Zeit  entsprechend.  Die  strenge 
Wolfsche  Methode  wurde  gemildert  durch  Einflüsse  der  Engländer 
(Locke,  Ferguson,  Shaftesbury)  und  der  Franzosen  (Robinet  und 
Bonnet).  Noch  nicht  23jährig,  entwarf  Abel  1773  einen  neuen 
Lehrplan  für  Philosophie,  über  welchen  Minor  aus  den  Akten  Fol- 
gendes berichtet : 

„Die  Philosophie  ist  ihm  nicht  bloss  eine  Sache  für  den 
Kopf,  sondern  auch  für  das  Herz  der  Schüler;  und  von  den  aus- 
wendig gelernten  Distinktionen  und  Definitionen  will  er  sich  weder 
einen  Gewinn  für  den  einen  noch  für  das  andere  versprechen. 
Nach  seiner  Methode  sollten  die  übrigen  Fächer  des  Unterrichtes, 
besonders  die  realen,  den  Stoff  liefern,  aus  welchem  vermittelst 
der  sokratischen  Methode  eine  Philosophie  der  Natur  und  des 
Menschen  zu  abstrahieren  sei.  Auf  diese  Weise  sollte  das  Denken 
der  Schüler  geschärft  und  eine  „natürliche  Logik"  in  ihnen  ein- 
gepflanzt werden.  Um  aber  der  jungen  Pflanze  Raum  zum 
Wachstum  zu  geben,  sollten  unmittelbar  auf  die  philosophischen 
Lehrstuuden  ein  paar  Stunden  der  Selbst beschäftigung  folgen,  in 
welchen  die  Zöglinge  angehalten  werden  sollten,  das  Gelerute 
selbstthätig  zu  verarbeiten." 

Nach  dieser  trefflichen  Methode  unterrichtete  Abel  seit  1776 
nun  auch  den  Eleven  Schiller  und  eben  aus  dieser  Zeit  stammt 
auch  unsere  Dissertation.  Wie  schon  bemerkt,  fehlen  aus  dem 
Jahre  1776  die  Lehrpläne.  Unsere  Dissertation  füllt  diese  Lücke 
aus.  Und  dies  ist  um  so  wertvoller,  als  die  Lehrweise  von  Abel 
bald  nachher  eine  bemerkenswerte  Störung  und  Änderung  erlebte. 
Im  Dezember  1777    kam   der  Professor  Plouciiuet  aus  Tübingen, 


iiiilliiilliiiiiBI 


Schiller  in  der  Karlsschule. 

Original  im  Besitz  der  Kgl.  Landesbibliothek  in  Stuttgart. 

Aus  dem  „Marbacher  Schillerbuch ",  Verlag  von  .T.  G.  Cotta  Nachfolger,  Stuttgart  u.  Berliu. 


Kantstudien  X. 


Zwei  Quellenfunde  zu  SclüUers  philosophischer  Entwickelung.     377 

um  den  philosophischen  Unterricht  zu  begutachten.  Der  alte 
Ploucquet  konnte  als  strenger  Wolfianer  weder  an  der  Abel'schen 
Methode  noch  an  der  Richtung  desselben  Gefallen  finden.  Plouc- 
quet, welchen  Minor  treffend  „ein  kaltes  Licht"  nennt,  fand  Abels 
Unterricht  „nicht  nur  wenig  gründlich,  sondern  auch  bedenklich 
zum  Materialismus  neigend"  (Minor  I,  197).  Besonders  tadelte 
er  auch  Abels  Methode,  die  Dichter  zur  Illustration  herbeizu- 
ziehen. 

Die  Erinnerungen  Ploucquets  haben  auf  Abel  Eindruck  ge- 
macht; der  leichtbewegliche  Mann  modifizierte  seine  Ansichten 
„bald  darauf  wesentlich",  wie  Minor  I,  200  bemerkt.  Schiller  ge- 
noss  Abels  Unterricht  auch  in  den  folgenden  Jahren.  Abel  trat 
nun  sehr  energisch  für  die  Einfachheit  und  Unsterblichkeit  der 
menschlichen  Seele  ein  —  ein  Gedanke,  welcher  bei  Schiller  selbst 
stets  eine  bedeutsame  Rolle  gespielt  hat. 

Abel  blieb  aber  immerhin  auch  insofern  seiner  alten  Richtung 
treu,  als  das  Grenzgebiet  zwischen  Psychologie  und  Physiologie 
seine  Lieblingsbeschäftigung  blieb;  und  er  musste  ja  gerade  darum 
auf  Schiller  dauernden  Einfluss  gewinnen,  der  ja  das  medizinische 
Studium  aus  dem  Grunde  mit  dem  juristischen  vertauscht  hatte, 
weil  jenes  ihm  mehr  als  dieses  als  Hilfsmittel  zum  Studium  der 
Seele  verwertbar  schien.  Abels  Vorträge  ergänzten  den  rein  me- 
dizinischen Unterricht  in  willkommenster  Weise.  Abels  Einfluss 
ist  darum  auch  unverkennbar  in  den  beiden  medizinisch-philoso- 
phischen Dissertationen  Schillers  aus  den  Jahren  1779  und  1780, 
mit  deren  zweiter  er  sein  Studium  in  der  Karlsschule  abschloss. 

Abel  war  und  blieb  Schillers  geliebtester  Lehrer.  Mit  Abel 
blieb  Schiller  befreundet,  auch  nachdem  er  die  Karlsschule  ver- 
lassen hatte  und  in  Stuttgart  als  Regimentsmedicus  lebte.  Ja 
Abel  besuchte  den  Flüchtigen  in  Mannheim.  Auch  hinterliess 
Abel,  der  später  als  Tübinger  Professor  sich  der  Kantischen  Phi- 
losophie zum  Teil  anschloss  und  zuletzt  als  Württembergischer 
Prälat  1829  hochbetagt  starb,  intereesante  Erinnerungen  an 
Schiller,  welche  bei  Weltrich  I,  836  ff.  abgedruckt  sind.  Ein 
Bildnis  Abels  bringt  Wychgram  in  seinem  Schillerbuch  (4.  Aufl. 
1901,  S.  42);  eine  Silhouette  desselben  aus  dem  Stammbuch  eines 
alten  Karlsschülers  ist  soeben  in  „Westermanns  Illustrierten 
Monatsheften"  (Maiheft  1905)  veröffentlicht  worden. 

Aus  Abels  eigenen  Jugendjahren,  als  er  noch  ohne  „Rück- 
sichten"   philosophierte    und   den   jugendlichen  Schiller  inspirierte, 

KautBtudien   X.  g5 


378  H.  Vaihinger, 

stammt    nun    unser    Programm,     zu    dessen    Analyse    wir    jetzt 
schreiten. 

Dasselbe  ist  lateinisch  geschrieben :  in  dem  Latein  des  XVIII. 
Jahrhunderts  vor  dem  Aufkommen  des  Nouhumanismus.  Die  Citate 
aus  Schriftstellern  sind  alle  deutsch,  diejenigen  aus  Shakespeare 
in  der  Wielandschen  Übersetzung.  Die  Disputation  selbst  fand, 
wie  es  scheint,  in  lateinischer  Sprache  statt,  in  dem  im  Mittelbau 
der  Karlsschule  befindlichen  Examinationssaal,  der  jetzt  als  Schloss- 
wache dient. 


Analyse   des   Abelschen  Programms: 
De  Origine  characteris  animi. 

Der  Verfasser  will  den  Ursprung  der  Charaktere,  d.  h.  der 
verschiedenen  Bestimmtheiten  der  einzelnen  Seelen  untersuchen. 
In  einem  ersten  Kapitel  wirft  er  zunächst  die  Frage  auf,  ob 
für  jene  Bestimmtheiten  in  dem  anmii  siatus  origmaUs  Gründe  auf- 
zufinden sind,  und  zwar  untersucht  er,  ob  in  der  anima  pet^  se 
sine  conjunctione  cum  hoc  corpore  spectata  Gründe  für  jene  Ver- 
schiedenheit aufzufinden  sind.  Diese  Gründe  könnten  nur  gefunden 
werden  in  den  verschiedenen  vires,  welche  die  Seele  hat.  Der 
alten  Psychologie  folgend,  stellt  der  Verf.  als  solche  nur  auf  die 
vis  cogitandi  et  voJendi.  Natürlich  können  diese  Kräfte  nicht  in 
Betracht  kommen,  wie  sie  sind  in  adulto,  sondern  wie  sie  ur- 
sprünglich sind.  Hier  findet  nun  Abel  keine  restigia  idearum  in- 
natarum.  In  wesentlichem  Auschluss  an  Locke  leugnet  er  die 
Möglichkeit  und  Wirklichkeit  solcher  ideae  innatae.  Es  giebt  für 
ihn  nur  ideae  sensiiales,  abgeleitet  ex  corporum  ohjectis,  und  no7i 
sensuales,  abgeleitet  entweder  ex  nostrae  animae  miitationihus  oder 
notiones  genercdissimae,  welche  vel  mediale  rel  immediate  auf  jene 
beiden  Quellen  zurückgehen.  „Ita  e.  g.  idea  Del  supponit  ideas  de 
intellecta,  voluntate  et  potentia,  quae  tanquam  difficiliores  sensuallbvs 
post  eas  demum  oUifientur.''  Ausserdem  entstehen  sämtliche  Ideen 
vel  mediate  vel  immediate  impresslonihus  cerehri.  Es  ist  nun  weiter- 
hin die  Frage,  ob  die  Seelen  sich  von  einander  unterscheiden,  wo- 
bei zunächst  nur  graduelle  Unterschiede  in  Betracht  kommen 
könnten.  Abel  erörtert  die  Argumente,  welche  pro  et  contra  vor- 
gebracht werden,  und  entscheidet  sich  dafür,  dass  weder  für  die 
eine  noch  für  die  andere  Ansicht  entscheidende  Gründe  vorgebracht 


Zwei  Quellenfunde  zu  Schillers  philosophischer  Entwickelung.     379 

werden  können.  Es  sei  überhaupt  semper  maxime  peiiculoswn,  in 
disquisiüonihus  hitjus  generis  aliud  quam  experientiam  sequi.  Das 
erste  Kapitel  hat  also  ein  negatives  Ergebnis. 

Zweierlei  ist,  was  uns  in  demselben  auffallen  muss,  was  aber 
bereits  aus  Locke  stammt;  einmal  die  antimetaphysische  Haltung; 
von  transceudenten  Erörterungen  will  Abel  nichts  wissen. 

Bekanntlich  hat  Schiller  später  unter  dem  Einfluss  Kants 
sich  über  die  Metaphysiker  und  ihre  luftigen  Gebäude  lustig  ge- 
macht; dieser  antimetaphysischen  Stimmung  war  also  schon  durch 
Abel's  frühen  Einfluss  vorgearbeitet,  welcher  sich  gegen  die  prae- 
judicia  metaphysica  spöttisch  wandte. 

Aber  auch  ein  Zweites  fällt  uns  auf:  wiederum  im  Anschluss 
an  Locke  verkennt  Abel  ganz  die  individuelle  Vererbung  und 
die  durch  sie  hervorgebrachte  weitgehende  ursprüngliche  innere 
Verschiedenheit  der  Menschen,  deren  Unterschiede  er  gänzlich  auf 
äussere  Umstände  zurückführen  will.  Ich  glaube,  hier  werden  ihn 
seine  Schüler  selbst  stark  opponiert  haben,  und  nicht  zum  wenigsten 
unser  Schiller,  der  ja  überhaupt  sich  lebhaft  an  den  Disputationen 
beteiligte  (vgl.  Streichers  Schilderung  bei  Minor  I,  252)  und  der 
sich  nachweislich  gerade  mit  diesem  Thema  später  mehrfach  be- 
schäftigt hat.  So  hat  er  1782  in  der  scharfen  Recension  des 
Stäudlinschen  Almanach  einmal  das  prächtige  Wort  hingeschleudert: 
„der  Gärtner  muss  die  Ananas  von  keinem  Holzapfelkern  erwarten." 
Wie  Minor  (I,  520  und  531)  richtig  bemerkt,  hat  Schiller  dieses 
auch  in  den  „Räubern"  wiederholte  Lieblingsbild  „der  väterlichen 
Baumzucht  entlehnt"  —  und  gerade  die  hier  gemachten  praktischen 
Erfahrungen  können  ihn  schon  frühzeitig  die  Unhaltbarkeit  der 
rein  theoretisch  ausgeklügelten  Meinung  von  der  ursprünghchen 
Gleichheit  aller  Meuschenseelen  gelehrt  haben.  Schon  sein 
Vater  konnte  ihm  hierin  der  „Lehrer  der  Ungleichheit  der 
Menschen"  sein. 

Das  zweite  Kapitel  handelt  de  influxu  corporis.  Dieses 
Verhältniss  sei  bisher  noch  nicht  genügend  untersucht  worden, 
propter  paniciwi  quemdam  terrorem  materialitatem  animae  in  phi- 
losophiam  inferendi.  Abel  lässt  sich  durch  diese  „panische  Furcht" 
nicht  abhalten  von  der  Behauptung,  omnes  animae  vires  omnesque 
ideas  idearumque  genefra  a  corpore  dependere.  Denn  viele  Er- 
fahrungen lehren,  animae  operationes  cum  corriiptione  corporis 
corruptas,  cum  emendatione  corporis  emendatas  esse.  Abel  beruft 
sich  hier  auf  den  in  jener  Zeit  so  berühmten  Arzt  Zimmermann; 

25* 


B80  H.  Vaihinger, 

SO  erzählt  dieser  u.  A.  von  einem  sehr  bedeutenden  Menschen: 
„auf  einmal  verlohr  dieser  mächtige  Geist  durch  eine  Krankheit 
alle  Empfindlichkeit,  die  sämtlichen  Verrichtuiig-en  seiner  Maschine 
nehmen  ab,  endlich  hörten  sie  auf,  nachdem  eine  ganze  Woche 
hindurch  alle  Merkmale  eines  vernünftigen  Geschöpfs  bey  ihm  ver- 
schwunden waren.  Nach  seinem  Tode  fand  man  in  den  .  .  .  Hirn- 
höhlen .  .  .  Wasser.  Folglich  hatte  ein  Pfund  Wasser  aus  einem 
so  grossen  Genie  ein  Tier  gemacht."  Im  Weiteren  führt  Abel 
aus,  dass  alle  Produktion  und  Reproduktion  von  Vorstellungen 
jeder  Art  motus  in  cerehro  voraussetze,  resp.  motus  nervorum. 
Ebenso  apimret  affidunm  dependeniia  a  corpore.  Wieder  erfolgen 
Berufungen  auf  Zimmermann,  der  diese  Sätze  u.  A.  durch  die 
Beispiele  von  Swift  und  Newton  belegt,  die  durch  körperliche  Ein- 
flüsse zuletzt  geistig  ganz  verfielen.  So  stellt  denn  Abel  den  all- 
gemeinen Satz  auf:  Organisatloni^  praesianÜa  sita  est  imnydiaie  in 
statu  fluldi  nervei  nervoriimque,  medlate  im'o  in  iis  omnihiis,  quae  in 
nervös  spiritusque  miimales  influunt.  Auffallend  ist,  dass  Abel 
noch  ganz  und  uneingeschränkt  der  Theorie  des  Nervenfluidums 
folgt,  der  Spiritus  cmimales,  welche  nach  der  von  Cartesius  ge- 
lehrten, aber  von  ihm  aus  dem  Altertum  übernonniieneu  An- 
schauung in  den  Nervenröhren  {canales  fluidi,  wie  Abel  sich  aus- 
drückt) auf-  und  abfliessen  sollten,  wie  in  einem  System  communi- 
cierender  Röhren.  Es  ist  dies  auffallend,  weil  um  jene  Zeit  schon 
die  mit  der  Undulationstheorie  zusammenhängende  Anschauung  auf- 
gekommen war,  die  Nerven  seien  vielmehr  schwingende  Saiten: 
eine  Auffassung,  welche  sich  in  der  schönen  Litteratur  jener  Zeit 
vielfach  findet  und  die  auch  Schiller  selbst  einige  Jahre  später  in 
seinen  beiden  medizinischen  Abhandlungen  erwähnt.  Abel  beruft 
sich  für  seine  Auffassung  speziell  auf  Platners  Anthropologie:  die 
celeritas  idearum  hängt  ab  von  der  Schnelligkeit  und  Leichtigkeit 
der  Spiritus  aminales;  dies  sei  besonders  in  tempore  juventiitis  der 
Fall:  bei  seinen  Zöglingen,  bei  einem  Schiller  glaubte  er  ja  wohl 
die  besten  Beispiele  für  diese  Behauptung  zu  finden.  Aus  jener 
Voraussetzung  folgt:  omnia,  quae  corpus  determinant,  aer,  cihus, 
potus,  somnus  etc.  etiam  ingeninm  deferminare  —  was  weiter  mit 
Berufungen  auf  Tissot  und  Zimmermann  belegt  wird.  Der  letzte 
Satz  Abels  ist  ein  merkwürdiges  Vorspiel  zu  dem  bekannten  Aus- 
spruch Moleschotts:  „der  Mensch  ist  eine  Summe  von  Eltern 
und  Amme,  von  Ort  und  Zeit,  von  Luft  und  Wetter,  von  Schall 
und  Licht,  von  Kost  und  Kleidung".     Diese  philosophischen  Lehren 


Zwei  Quellenfunde  zu  Schillers  philosophischer  Entwickelung.     381 

Abels  gingen  also  Hand  in  Hand  mit  der  gleichzeitigen  medizini- 
schen Ausbildung  Schillers;  es  ist  bekannt,  wie  sehr  diese  An- 
schauungen nicht  nur  in  seinen  beiden  physiologisch-philosophischen 
Dissertationen  von  1779  und  1780,  sondern  auch  in  allen  Schöpf- 
ungen und  überhaupt  in  allen  Äusserungen  aus  der  ersten,  kraft- 
genialischen Periode  wiederklingen.  Es  ist  bemerkenswert,  dass 
auch  der  philosophische  Unterricht  diese  physiologische,  um  nicht 
zu  sagen  materialistische  Betrachtung,  genährt  hat  —  diesen 
liherfinismum  simtkndi,  wie  sich  der  alte  Ploucquet  warnend  aus- 
drückt (Minor  I,  194). 

Das  dritte  Kapitel  handelt  de  ivfluxu  climatis:  clima  com- 
prehendit  omnia,  quae  propfer  sitiim  nodrnm  in  fellure  in  corpus 
influnnt.  Abel  unterscheidet  4  Klimata:  das  heisse  (maxime  cali- 
dum),  das  kalte  (maxime  frigidum)  und  die  beiden  gemässigten, 
das  warme  (calidum)  und  das  kühle  (frigidum).  Unter  Berufung 
auf  Home  und  Ferguson  wird  der  Einfluss  jener  Himmelsstriche 
auf  den  Charakter,  resp.  die  sjnritu^  animales  im  Einzelnen  ge- 
schildert. Das  calidum  clima  pluribus  viriidilms  gaudet:  Spiritus 
sunt  magis  vividi,  celeres,  subtiles,  cerehrumque  magis  molle  et  irri- 
tabile; hinc  impressiones  celeres,  viridae,  midiae,  in  inßnitum  com- 
binatae  .  .  .  Poesis,  oratoria,  libri  romanenses,  artificia  praestan- 
tissima,  omniaque  magna  et  mirabilia  ab  hisce  nationihis  pjroficis- 
cimtur. 

Von  den  Bewohnern  des  kühleren  Klimas,  also  auch  den 
Deutschen,  heisst  es:  Clima  frigidum  gignit  impressiones  tardiores 
quidem  et  pauciores,  sed  magis  diutiirnas,  et  solidas;  talis  est  illorum 
sensus,  talis  imaginatio.  Hunc  et  judicia  illorum  saepe  magis  solida. 
Hi  sunt,  qui  Mathesi  artibusque  mechanicis,  metaphgsicae,  vel  enim 
scientiis  longa  experientia  fundatis  magis  apti  sunt.  Sed  ad  Poesiu 
artesque  omnes  imaginationis  splendorem  ubertatemque  requirentes 
minus  idonei  reperiuntur.  Zum  Glück  hat  sich  die  letztere  fragliche 
Behauptung  Abels  bei  seinem  bedeutendsten  Zögling,  eben  unserem 
Schiller,  nicht  bewährt. 

Aber  auch  Schiller  selbst  hat  gegen  diese  Überschätzung  des 
Klimas  für  die  Entwickelung  der  Geistesfähigkeiten  wohl  direkt 
opponiert.  Es  war  allerdings,  wie  Minor  I,  531  sagt,  „dem  Jahr- 
hundert Winkelmanns  geläufig,  den  Einfluss  des  Klima  auf  die 
Fähigkeiten  der  Menschen  ins  Auge  zu  fassen."  Aber  es  ent- 
sprach auch  andererseits  dem  kraftgenialischen  Selbstbewusstsein, 
die  Menschen   nicht   allzusehr   den  äusseren  Faktoren  unterthänig 


382  H.  Vaihinger, 

ZU  machen.  Tm  IL  Akt  der  „Räuber"  bringt  Spiegelberg  dies 
Thema  auf  das  Tapet,  wo  er  in  jener  bekannten  Stelle,  welche 
dem  Dichter  später  so  grosse  Ungelegenheiten  brachte,  Graubimden 
als  ein  Spitzbubenklima  bezeichnet,  unter  welchem  alle  Arten  von 
Gaunern  besonders  gut  gedeihen.  Aber  Spiegelberg  lässt  dieser 
Behauptung  sogleich  die  widersprechende  zweite  folgen,  dass  das 
Klima  nicht  sonderlich  viel  bedeute:  „Genie  kommt  überall  fort, 
und  das  übrige,  Bruder  —  ein  Holzapfel,  weisst  du  wohl,  wird  im 
Paradiesgärtlein  selbst  ewig  keine  Ananas."  Und  wo  Schiller  das- 
selbe Bild  gegen  Stäudlin  gebraucht  —  vgl.  oben  —  da  leitet  er 
es  ein  mit  den  Worten :  „Wahr  ists,  viel  thut  die  Milde  der  Zone 
.  .  .  aber  der  Gärtner  muss  die  Ananas  von  keinem  Holzapfelkern 
erwarten."  Das  wird  Schiller  wohl  auch  schon  1776  gegen  Abel 
eingewendet  haben. 

Das  vierte  Kapitel  handelt  de  mfluxu  exercitü.  Das  Ge- 
setz der  Übung,  der  repetitio  wird  in  seiner  tiefen  und  ausgebreiteten 
Bedeutung  von  Abel  eingehend  gewürdigt,  unter  Berufung  auf 
Tissot,  Home,  Addison,  aus  denen  interessante  Belege  aus- 
führlich mitgeteilt  werden :  ovganisaÜonc  etiam  pcrfectissima  et  in- 
dole  p-aestanüssima  tarnen  non  nisi  diatmna  cxercitatione perßcitur 
dirigiturque  anima.  Feine  Bemerkungen  folgen  über  Erhöhung 
des  Übungswertes  durch  unterstützende  (^ese  adjuvantia)  verwandte 
Vorstellungen,  sowie  durch  Gefühle,  sodann  über  Verminderung  des 
Übungswertes  durch  ungünstige  Nebenumstände,  ferner  über  Mo- 
nomanie, sowie  über  die  schädigenden  Folgen  zu  häufiger  Wieder- 
holung einer  und  derselben  Funktion ;  endlich  über  die  Entstehung 
inseparabler  Associationen :  Saepe  homines  jungunt  ideas  qiiasdam 
per  exercitiiim  ita,  ut  non  nisi  conjunctas  cogitare  ^^ossint. 

Ein  fünftes  Kapitel  behandelt  den  iyifluxns  cireumdantia- 
nun  cxternarum.  Und  energisch  setzt  Abel  sogleich  unter  §  31 
den  bedeutsamen  Satz  hin:  Circumsiantiae  externae  iantum  in- 
fluiint,  ut  sine  Ulis  siimmnm  mgenium  in  turhani  stuUorum  detur- 
hetiir.  Dieser  Satz  zeugt  von  tiefer  Lebenskenntuis  des  Vei-fassers, 
der  sich  nicht  von  dem  schon  damals  oft  wiederholten,  aber  da- 
mals wie  heute  grundfalschen  Satze  irreführen  lässt:  ein  Genie 
setzt  sich  unter  allen  Umständen  durch.  Abel  weiss  als 
Kenner  der  Geschichte,  der  Litteratur,  des  Lebens,  dass  und  wie 
äussere  Umstände  bei  der  Entwickelung  grosser  Geister  hemmend 
oder  begünstigend  einwirken;  jenen  energischen  Satz  wird  sich 
auch    unser    Schiller   gemerkt    haben    und    vielleicht   schwebte    er 


Zwei  Quellenfunde  zu  Schillers  philosophischer  Entwickelung.     383 

ihm  noch  voi-,  als  er  den  engen  Verhältnissen  der  Heimat  entfloh, 
um  bessere  circumstanüae  externae  für  die  p:nt\vickelung  seines 
snmmum  ingenium  zu  finden.  Charakteristisch  ist  auch  noch  eine 
andere  Stelle  bei  Abel,  durch  die  er  jenen  Satz  belegt,  dass  die 
äusseren  Umstände  für  die  Entwickelung  der  Charaktere  bestim- 
mend sind:  'da  e.  g.  sicdus  reipiihlicae  romanae  gignii  Bndos  et 
Catones,  quia  et  ohjecta,  in  quihus  versahanüir  romani  cives,  et  af- 
fcdus  eorwn  pemlehcmt  a  reipuUicae  romanae  statu :  wie  schüchtern 
und  vorsichtig  und  doch  andererseits  wie  deutlich  weist  Abel  auf 
jene  Männer  hin,  welche  der  Tyrannei  sich  eutgegenwarfen,  und 
wie  mag  schon  da  in  der  Seele  des  jungen  Schiller  der  Ruf :  In 
tymnnos  erklungen  sein,  der  6  Jahre  später  auf  den  Titel  der 
2.  Auflage  seiner  „Räuber"  gesetzt  wurde. 

Abel  muss  auf  Brutus  häufiger  hingewiesen  haben.  Wie 
Minor  I,  202  bezeugt,  hat  Abel  auch  in  Schriften  aus  den  Jahren 
1778  und  1779  Brutus  und  Cäsar  kontrastiert,  wobei  er  den  Letz- 
teren als  Ehrsüchtigen  und  „Eroberer"  verdammt.  Hier  ist  nicht 
bloss  die  Quelle  für  Schillers  Gedicht:  „Der  Eroberer",  sondern 
auch  für  das  Gespräch  zwischen  Cäsar  und  Brutus,  das  in  die 
Räuber  eingefügt  ist:  Karl  Moor  singt  vor  Amalie  zur  Laute  das 
Lied  von  Brutus  und  Cäsar;  dem  ehrgeizigen  Eroberer  wird  das 
Ideal  des  selbstlosen  Freiheitskämpfers  gegenübergestellt.  Also 
nicht  bloss  indirekt  aus  Klopstock,  dessen  Petschaft  einen  Brutus- 
kopf trug  (Minor  I,  347),  hat  Schiller  diese  Brutusstimmung  her- 
übergenommen; sein  Lehrer  Abel  hat  sie  ihm  direkt  eiugeflösst 
(vgl.  auch  Minor  I,  485).  Wie  sehr  gerade  diese  Brutusstimmung 
bei  Schiller  in  den  Jahren  der  „Räuber"  überwog,  lehrt  ja  auch 
der  Umstand,  dass  die  Schlussvignette  der  ersten  Auflage  der 
Räuber  gerade  das  Gespräch  zwischen  Cäsar  und  Brutus  an  den 
Ufern  des  Styx  illustriert  (abgebildet  in  Wychgrams  Schillerbuch 
4.  Aufl.  S.  67).  Dieselbe  Brutusstimmung  erzeugte  ja  auch  den 
Gegensatz  zwischen  Fiesco  und  Verrina:  „Verrina  und  Fiesco 
stehen  sich  auf  dem  schmalen  Brett,  das  zur  Galeere  führt,  wie 
Cäsar  und  Brutus  in  dem  Wechselgesang  der  Räuber  am  Strande 
Lethes  gegenüber"  (Minor  H,  43).  Nun  verstehen  wir  auch,  wa- 
rum Schiller  gerade  den  Fiesco  seinem  ehemaligen  Lehrer  Abel 
gewidmet  hat:  Dieser  hatte  die  Brutusstimmung  bei  ihm  schon 
von  1776  an  genährt.  Im  Übrigen  zeigt  Abel  weiter  in  diesem 
Kapitel  an  einzelnen  Beispielen,  dass  und  wie  gradiis  diredioque 
sensimm,  imaginationis,  attentionis,  comparationis,  affeduum,    sensus 


384  H.  Vaihinger, 

jiulchri,  idearnm  abhängen  von  äusseren  Umständen:  er  beruft 
sich  auf  Helvetius,  der  gezeigt  habe,  wie  Moliere  und  Vaucauson 
sowie  Rousseau  und  Kafael  durch  äussere  Umstände  beeinflusst 
und  determiniert  gewesen  seien.  Was  aber  für  Schiller,  dessen 
dramatische  Neigung  oder  vielmehr  Leidenschaft  ja  schon  damals 
rege  war,  besonders  interessant  gewesen  sein  muss,  das  ist  ein 
Citat  aus  Shakespeares  Richard  IIL,  der  in  dem  bekannten  Mo- 
nolog seinen  Entschluss,  ein  Bösewicht  zu  werden,  aus  dem  Ver- 
halten der  Menschen  seiner  Hässlichkeit  gegenüber  ableitet  — 
wer  erinnert  sich  nicht  notwendig  hier  des  Franz  von  Moor,  dessen 
ähnlicher  Monolog   ja  ganz  an  diese  Stelle  Shakespeares  anklingt. 

Noch  ist  aus  demselben  Kapitel  folgende  Stelle  beachtens- 
wert, in  welcher  Abel  die  cirmmstantiae  schildert,  wie  sie  zu- 
sammenkommen müssen  ad  formandam  charadens  praestaniiam  : 
excitetur  per  illas  impi^imis  affectuum  ope  animae  fortis  appllcaüo 
diuturnaque,  sed  non  nimls  vehemens,  non  ad  plura  distracta. 
Äpplicatio  versetur  in  ohjectis  gravihus,  omnes  voluntatis  intellcchis- 
que  vires  requirenühua ;  demde  determinatmie  f'mis  medioriimque  et 
impedimentoriwi  ind'widualium  ita  determ'mentur  actus  comparationis 
volimtatisqm,  ut  Judicium  affedusque  evadant  sani  veriqne  ex  in- 
dividualihis  circumstantüs  petiti  Die  hierin  indirekt  enthaltenen 
trefflichen  Ratschläge  zur  Selbsterziehung  hat  sich  der  junge 
Schiller,  der  später  so  hart  an  sich  arbeiten  musste,  sicherlich  ge- 
merkt: er  hat  es  auch  verstanden,  die  impedimcnta  individiiaUa  zu 
seinem  Besten  zu  wenden  und  zu  verwenden;  er  hat  es  selbst  an 
sich  erprobt,  das  schöne  Wort:  „Es  bildet  ein  Talent  sich  in  der 
Stille,  doch  ein  Charakter  in  dem  Strom  der  Welt"  —  sind 
doch  diese  Worte  selbst  nur  eine  dichterische,  aber  fast  wörtliche 
Übersetzung  des  Abel'schen  Satzes  von  der  Zusammenwirkung  der 
drciimstantiae  externae  ad  formandam  diaraderis  praestantiam. 

Das  sechste  Kapitel  handelt  de  influxu  mutno  facultatum 
singularum.  Hier  beschäftigt  sich  Abel  vorzugsweise  mit  der  Beein- 
flussung der  Einbildungskraft  durch  die  anderen  Vermögen:  der 
Affekt  beeinflusse  die  Imagination  mehr  als  der  Intellekt  —  also 
eine  direkt  auf  die  Psychologie  des  Dichtens  bezügliche  Bemerkung, 
welche  unserem  Schiller  besonders  wichtig  gewesen  sein  muss, 
und  deren  Richtigkeit  er  an  sich  selbst  noch  zwanzig  Jahre  später 
zu  erproben  Gelegenheit  hatte,  als  er  vielleicht  doch  wohl  zum 
Schaden  der  dichterischen  Produktionskraft  seinen  Intellekt  durch 
philosophische  Studien  schärfte.     Abel  verfolgt  dann  noch  spezieller 


Zwei  Quellenfunde  zu  Schillers  philosophischer  Entwickelung.     385 

den  Einfluss  des  Affekts  auf  die  übrig-eu  seelischen  Operationen, 
welcher  eben  sehr  gross  ist,  quia  atientio  semper  dirigitur  ad  ideam 
affedui  maxime  respondentem :  sine  affeciibus  omnia  sunt  debilia. 
Auch  die  schädlichen  Einflüsse  des  Affekts  kommen  zur  Sprache; 
nocet  vero,  quod  non  omnes  sed  partem  tantum  idearum  confert, 
adeoque  Judicium  efficit  falsum,  imprimis  cum  omnes  imaginationis 
ideas  vividissime  celerrimeque  proferat.  Als  Beispiel  hierfür  wird 
sehr  passend  Shakespeare's  Mohr  von  Venedig-  angeführt,  welcher 
sich  durch  seine  jähzornige  Eifersucht  zu  ganz  urteilslosem  Handeln 
verführen  lässt.  Zum  Beweis  dafür,  quantum  ordo  idearum  ab 
affectu  dependeat,  werden  ferner  längere  Stelleu  aus  Macbeth  und 
aus  dem  Kaufmann  von  Venedig  citiert,  endlich  wird  auf  die 
Constanze  in  König  Johann  hingewiesen. 

Das  siebente  Kapitel  handelt  de  inflaxu  sgstematis  ide- 
arum in  characterem.  Hier  stellt  Abel  den  wichtigen  und  richtigen 
Satz  auf,  dass  der  Charakter  sehr  wesentlich  mitbestimmt  ist  durch 
die  unbewussten  impressiones,  welche  in  cirehro  hominis  de  omnibus 
ideis  conserranfur. 

Das  achte  und  letzte  Kapitel  handelt  endlich  de  linguae 
infiiixu,  und  hier  wird  der  Leitsatz  an  den  Anfang  gestellt:  lin- 
giia,  quae  primum  determinatur  ab  ideis  animaeque  viribus,  Herum 
infinit  in  vires  animae  ideasque.  Die  ideae  werden  ohne  die 
zugehörigen  voces  teils  gar  nicht,  teils  weniger  gut  reproduciert ; 
auch  die  notiones  abstractae  erfordern  zugehörige  voces.  Daraus 
wird  der  Parallelismus  der  Entwickelung  des  Denkens  und 
Sprechens  abgeleitet:  per  se  patet,  linguam  et  inteUectnm  semper 
paraUela  esse.  Darauf  beruht,  wie  es  weiter  heisst,  das  Principium 
educaiionis  nostrae,  tibi  ideas  semper  cum  vocibus  simul  et  per  voces 
obtinemus,  uhi  modus  cogitandi  a  signis  exercetur  et  dirigitur. 
Durch  den  (Gebrauch  vager  voces  entsteht  auch  ein  ingenium  va- 
gum :  mmquam  cxstitit  metaphysicus  in  lingua  vaga ;  hinc  lingua 
non  pJiilosophica  nunquam  prodest  pJnlosophis:  Idnc  poetica,  juvenilis 
liugua  foecundissima  est  poetis  —  mit  solchen  Wendungen  schliesst 
die  Dissertation,  gerade  als  ob  ihr  Verfasser  sie  speziell  auf  den 
jugendlichen  Schiller  zugeschnitten  hätte,  auf  den  jedenfalls  gerade 
derartige  Stellen  den  tiefsten  und  nachhaltigsten  Eindruck  ge- 
macht haben. 


386  H.  Vaihinger, 


Anhang. 
II. 

Ein  Freimaiirerliederbiich  als  Quelle  des  Liedes 

an  die  Freude? 

Während  der  eben  geschilderte  Quellenfund  eine  unzweifelhafte 
Episode  aus  Schillers  Leben  betrifft,  kann  ich  das  Zweite,  was  ich  vor- 
bringe, nur  unter  starker  Reservation,  nur  sehr  hypothetisch  einführen. 
Ich  gebe  es  auch  nur  als  Anhang  zum  Ersten,  und  nicht  in  der  festen 
Form  eines  Ergebnisses,  sondern  in  der  bescheidenen  einer  Frage. 

Vor  einigen  Jahren  erwarb  icli,  ohne  selbst  Freimaurer  zu  sein  oder 
zu  B>eimaurern  nähere  Beziehungen  zu  haben,  gelegentlich  einer  grösseren 
Bücherbestellung  von  einem  Breslauer  Antiquar  der  Kuriosität  halber  eine 
auf  Halle  bezügliche  Seltenheit:  ,,Lieder  mit  Melodien  zum  Gebrauch  der 
Loge  zu  den  drey  Degen  in  Halle.  Halle  1784.  Gedruckt  bei  Christian 
Gottlob  Täubel."  (61  Seiten  Oktav.)  Dieses  Büchlein  bietet  einen  äusserst 
merkwürdigen  Einblick  in  die  geistige  Atmosphäre  jener  Zeit.  Von  den 
Geheimnissen  des  Maurertums  erfährt  man  daraus  natürlich  auch  nichts; 
denn  dass  „Weisheit,  Schönheit  und  Stärke"  drei  Ideale  der  Freimaurer 
sind,  braucht  man  nicht  erst  aus  dem  Vers  zu  erfahren  (S.  6): 

Wo  man  der   Tugend  nur  Altäre, 

Das  wahre  Glück  der  Menschheit  haut, 

Wo  uvgetrocknet  keine  Zähre 

Auf  Wangen  eines  Armen  thaut : 

Wo  Weisheit  herrscht  und  Stärke  thront 
Und  in  dem  Innern  Schönheit  wohnt. 

oder  aus  folgendem  Vers  (S.  38): 

Auf  Bruder,  fasst  der  Freundschaft  Band, 

Das  euch  die  Weisheit  bindet. 
Auf,  reicht  ah  Maurer  euch  die  Hand, 

So  treu,  tvie  ihrs  empfindet. 
Liebt  in  der  Treu  Verschwiegenheit: 

Dies  fördert  unsre  Werke 
Im  Tempel  der  Glückseligkeit 

Durch  Weisheit,  Schönheit,  Stärke. 

Sonstige  Anspielungen  auf  maurerische  Gebräuche  sind  dem  Laien 
und  also  auch  mir  unverständlich.  Was  mir  an  dem  Büchlein  interessant 
ist,  das  ist  die  ganze  Stimmung,  welche  im  Wesentlichen  auf  derselben 
Welt-  und  Lebensanschauung  beruht,  welche  Schillers  Akademiejahre  be- 
herrscht: es  ist  dies  die  Philosophie  der  englischen  Aufklärung,  wie  sie 
durch  Locke  begründet,  durch  Shaftesbury  vertieft  und  durch  Hutcheson 
verbreitet  worden  ist :  die  Welt  erscheint  als  der  Ausfluss  eines  liebenden 
Vaters,  welcher  alle   seine  Geschöpfe  zur  Vollkommenheit  geschaffen  hat; 


Zwei  Quellenfunde  zu  Schillers  philosophischer  Entwickelung.     387 

diese  Geschöpfe  finden  in  der  eigenen  Vervollkommnung  und  in  der  Be- 
förderung fremden  Wohles  ihr  Glück ;  Glück  und  Tugend  sind  identisch, 
Tugend  und  Lebensgenuss  liegen  auf  derselben  Linie.  Nur  Aberglauben 
einerseits  und  Herrschsucht  andererseits  hindern  die  Menschen  daran,  das 
Paradies  auf  Erden  zu  gründen.  Priesterbetrug  und  Tyrannenherrschsucht 
haben  die  Menschen  um  dies  Paradies  gebracht,  das  nun,  nach  Besiegung 
jener  finsteren  Mächte  durch  die  Aufklärung,  bald  und  leicht  wieder  er- 
rungen werden  kann. 

Dies  ist  genau  die  ans  Schillers  akademischen  Jugendaufsätzen  be- 
kannte, besonders  von  Minor  ausgezeichnet  geschilderte  „Glückseligkeits- 
philosophie" jener  Zeit,  welche  damals  ebenso  ,,modern"  war,  wie  vor  30 
Jahren  der  Schopenhauersche  Pessimismus,  wie  jetzt  das  Nietzschesche 
Übermenschentum.  Der  jugendliche  Schiller  warf  sich,  in  der  Freude  über 
die  Befreiung  aus  den  Banden  der  orthodoxen  Kirchenlehre,  diesem  eng- 
lischen Deismus  gerade  so  gerne  in  die  Arme,  wie  es  auch  Kant  eine  Zeit 
lang  that.  Dem  späteren  Schiller,  welcher  durch  Kants  harte  Schule  hin- 
durchgegangen war,  wurde  diese  glückseligkeitsselige  Jugendphilosophie 
später  fremd  und  fast  zuwider,  nachdem  er  durch  Körner  in  den  Gedanken- 
kreis Kants  eingeführt  worden  war. 

Aus  jener  jugendlichen  Glückseligkeitsphilosophie  heraus,  also  aus 
Schillers  vorkantischer  Periode,  stammt  nun  auch  sein  „Lied  an  die  Freude", 
das  er  selbst  später  daher  auch  sehr  streng,  sogar  überstreng  kritisierte: 
,,es  ist  ein  schlechtes  Gedicht  und  bezeichnet  eine  Stufe  der  Bildung,  die 
ich  durchaus  hinter  mir  lassen  musste,  um  etwas  Ordentliches  hervorzu- 
bringen. Wie  das  Gedicht  aber  einem  fehlerhaften  Geschmack  der  Zeit 
entgegenkam,  ist  es  Volksgedicht  geworden"  (Brief  an  Körner  vom 
21.  Oktober  1800)  —  ein  hartes  Urteil,  welches  jener  Zeit  der  Aufklärung, 
ihren  theoretischen  Idealen  und  ihren  praktischen  Erfolgen  nicht  ge- 
recht wird. 

Die  „Freude"  galt  jener  Glückseligkeitsphilosophie  als  eigentlicher 
Urgrund,  als  Kern  und  als  Ziel  der  Welt  und  der  Weltentwickelung.  Der 
„liebende  Vater"  hat,  um  mit  anderen  Freude  fühlen  zu  können,  andere 
Geister  geschaffen,  die  sich  mit  ihm  freuen  sollen;  Freude  und  Liebe  sind 
die  Triebfedern  in  dieser  Welt,  und  Liebe  und  Freude  die  Ziele,  denen 
die  Entwickelung  dieser  Welt  zustrebt;  Freude  ist  nur  im  Verein  mit  an- 
deren möglich,  welche  man  liebt  —  darum  ist  wieder  Freude  und  Freund- 
schaft identisch. 

Dies  ist  auch  der  Grundgedanke  des  „Liedes  an  die  Freude",  das 
Schiller  10  Jahre  nach  jener  Episode  in  der  Karlsschule  gedichtet  hat  — 
in  ganz  anderer  Umgebung,  im  Leipziger  und  Dresdener  Freundeskreis, 
1785  und  1786,  nach  den  ereignisreichen  schicksalsschweren  Jahren,  welche 
der  Publikation  der  „Räuber"  gefolgt  waren.  Aber  noch  lebte  in  Schiller 
jene  Glückseligkeitsphilosophie,  welche  er  in  der  Karlsschule  unter  Abels 
Leitung  eingesogen  hatte. 

Ganz  im  Sinne  dieser  damaligen  Zeitphilosophie  ist  nun  auch  das 
Freimaurerliederbuch  jrehalten,  das  im  Jahre  1784  in  Halle  erschienen  ist. 
In  demselben  findet  sich  auch  auf  S.  J  7  ein  Lied  an  „die  Freude",  dem  dann 


388  H.  Vaihinger, 

ein  anderes  folgt  „der  Entschluss";  ich  citiere  aus  Beiden  einige  Strophen, 
welche  ganz  an  Schillers  Lied  „An  die  Freude"  anklingen : 

Vom  Olymp  ward  uns  die  Freude. 
Ward  uns  die  Fröhlichkeit  gesandt ; 
Blumenkränze  tragen  beyde 
Für  Euch,  Ihr  Brüder,  an  der  Band. 

Diesem  Lied,  dem  offenbar  auch  das  bekannte  Studentenlied:  „Vom 
holrn  Olymp  herab"  u.  s,  w.  entnommen  ist,  folgt  nun  das  zweite  mit  fol- 
genden Strophen : 

:  Höher  klimmen  wollen  tvir 

Unsern  Pfad,  ihr  Brüder! 
Losung  sei  uns  Wissbegier, 
Unser  Wandel  bieder, 

i 

Unser  Blick  sei  Heiterkeit, 
Unser  Zweck  Vollkommenheit. 

'  Oben  über'm  Sternenheer 

Herrschet  unser  Meister, 
Um  ihn  rollen  Welten  her  p; 

Und  ihm  dienen  Geister. 
Zürnen  Seines  Angesichts 
Wandelt  beide  in  ein  Nichts. 

Drüben,  drüben  über'm  Grab 

Leuchtet  er  uns  näher, 

Fröhlich  werft  die  Hüllen  ab, 

Einst  beglückVre  Späher! 

Jauchzt,  die  Gruft  beschliesst  uns  nicht, 

Heller  sehn  wir  dann  das  Licht. 

Höher  klimmen  wollen  wir, 
Weise  sein  und  bieder, 
Glühn  von  heisser  Dankbegier 
Gegen  ihn,  ihr  Brüder, 
Der  uns  drüben  über'm  Grab 
Auch  die  hellste  Aussicht  gab! 

Man  erkennt  leicht,  dass  diese  Gedanken  teilweise  wörtlich  an 
Stellen  aus  dem  Lied  „an  die  Freude"  anklingen.  Bemerkenswert  ist  noch, 
dass  in  dem  Liederbuch  auch  die  Form  der  Gesellschaftslieder,  speziell 
mit  einfallendem  Chor  der  „Brü'^er"  —  eine  Form,  welche  Schiller  seinem 
Lied  an  die  Freude  gegeben  hat  —  öfters  vertreten  ist.  Freilich  ist  damit 
nicht  gesagt,  dass  Schiller  diese  Lieder  nun  gekannt  haben  m  u  s  s ;  aber 
es  besteht  doch  immerhin  die  Möglichkeit,  dass  sie  ihm  bekannt  ge- 
wesen sind. 

Schüler  selbst  war  freilich  nicht  Freimaurer.  Dass  er  mit  Frei- 
maurern verkehrt  hat,  ist  aus  seinem  Leben  bekannt.    Schon  in  der  Mann- 


2wei  Quellenfunde  zu  Schillers  philosophischer  Entwickelung.     389 

heimer  Zeit  besuchte  ihn  ein  Freimaurer,  um  ihn  für  seinen  Orden  zu 
gewnnnen,  Avie  Wychgram  in  Schillers  Leben  (4.  Aufl.  S.  134)  erzählt.  In 
der  Leipziger  und  in  der  Dresdener  Zeit  sind  solche  Einflüsse  wohl  des 
Öfteren  an  ihn  herangetreten,  und  ich  vermute,  dass  auch  sein  Freund 
Körner  Freimaurer  gewesen  ist.  Das  Hallische  Liederbuch  ist  im  Jahre 
1784  erschienen;  im  Jahre  1785  hat  Schiller  sein  Lied  an  die  IVeude  ge- 
dichtet. Es  braucht  gar  nicht  jenes  Hallische  Liederbuch  in  seine  Hände 
gelangt  zu  sein:  solche  Lieder,  wie  sie  ohne  Verfasser  in  jenem  Liederbuch 
stehen,  werden  wohl  auch  in  anderen  Freimaurerliederbüchern  abgedruckt 
worden  sein. 

Dass  übrigens  zu  Schillers  Lied  an  die  Freude  auch  schon  andere 
Quellen  bekannt  sind,  darf  hier  nicht  verschwiegen  werden.  Speziell  sind 
hier  zu  erwähnen  Hagedorns  Ode:  „Freude,  Göttin  aller  Herzen",  und 
das  Lied  von  Uz:  „Freude,  Königin  der  Weisen".  Aber  das  schliesst  nicht 
aus,  dass  Schiller  auch  diese  Freimaurerlieder  gekannt  habe. 

Ich  weiss  nicht,  ob  diese  ganze  Freimaurerliteratur  in  ihrem  Zu- 
sammenhange mit  der  allgemeinen  Geistesgeschichte  von  rein  wissen- 
schaftlichen Gesichtspunkten  aus  nach  der  streng  litterarhistorischen  Methode 
bis  jetzt  genügend  ausgenutzt  ist.  Sollte  es  nicht  der  Fall  sein,  so  geben 
diese  Bemerkungen  vielleicht  den  Anstoss  dazu. 

Speziell  wäre  es  interessant,  darüber  Nachforschungen  anzustellen, 
ob  und  inwieweit  die  gerade  um  jene  Zeit  neu  einsetzende  Kantische 
Periode  auch  in  der  Freimaurerlitteratur  sich  wiederspiegelt.  Man  kann 
es  wohl  erwarten  und  es  muss  auch  wohl  so  sein,  wenn  ein  angesehener 
und  eifriger  Maurer  Recht  hat,  welcher  mir  gegenüber  erklärte,  das  Prei- 
maurertum  sei  sozusagen  angewandte  Kantische  Philosophie. 


Karl  Rosenkranz  über  Schiller. 

Von  Dr.  Maximilian  Runze  in  Berlin. 


In  einem  Schiller  gewidmeten  Heft  der  Kant-Stndien  darf  auch 
von  Karl  Rosenkranz  die  Rede  sein.  Obgleich  sein  hundertster  Ge- 
burtstag (den  23.  April  1805  ist  er  geboren)  erst  im  folgenden  Heft  nach- 
träglich durch  Beleuchtung  seiner  Verdienste  um  die  Kantforschung  ge- 
gefeiert werden  kann,  so  ist  doch  schon  hier  seiner  Bedeutung,  die  er  für 
die  richtige  Würdigung  Schillers  hat,  Rechnung  zu  tragen.  Denn  Rosen- 
kranz war  nicht  nur  umfassender  Philosoph,  sondern  auch  von  weit- 
reichendem Einfluss  auf  die  tiefere  Begründung  und  systematische  Aus- 
gestaltung der  Litteraturgeschichte.  Und  wie  Schiller  selber  zugleich 
Dichter  und  Philosoph  war,  so  zeigt  sich  uns  gerade  Rosenkranz  als  einer 
der  Berufenen,  \\m  die  Bedeutung  Schillers  ins  rechte  Licht  zu  rücken. 
Rosenkranz  liat  uns  seine  Beurteilung  Schillers  ausser  in  seinem  „Handbuch 
einer  allgemeinen  Geschichte  der  Poesie",  Teil  HI  (18H3)  und  seinem 
enzyklopädischen  Werk  „die  Poesie  und  ihre  Geschichte"  (J8.Ö5)  besonders 
in  zwei  Abhandlungen  dargeboten,  —  in  dem  Aufsatz  „Schiller  und  Kant" 
(1838),  dem  die  wertvolle  Darstellung  Schillers  als  Philosophen  in  seiner 
„Geschichte  der  Kantischen  Philosophie"  (1840),  sowie  in  „Hegel  als 
deutscher  Nationalphilosoph"  (1870)  ergänzend  zur  Seite  geht,  und  in 
dem  Beitrag  zum  „Schiller-Denkmal"  (Volksausgabe  1860;  zweiter  Band, 
S.  637—649):  „Über  Schillers  Lied  an  die  Freude".  Es  muss  Poeten  geben 
—  solchermassen  führt  der  in  Hegelscher  Denkkunst  bewährte  Forscher 
aus  — ,  welche  unmittelbar  ein  eben  so  grosses  philosophisches  Talent, 
Philosophen,  welche  ein  eben  so  grosses  poetisches  haben,  so  dass  sie 
dichtend  spekulieren,  spekulierend  dichten.  Ein  solcher  Dichterphilosoph 
war  Plato,  ein  solch  philosophischer  Dichter  Dante.  Sodann  muss  es  ein 
Verhältnis  geben,  in  welchem  sich  das  Poetische  und  Philosophische  aus- 
schliessen,  so  dass  zwar  Dichter  und  Philosoph  in  dem  Besitz  der  Idee  sich 
als  die  innigst  Verwandten  begegnen,  in  der  Form  des  Besitzes  aber  weit 
auseinandergehen.  So  war  es  mit  Hegel  und  Goethe.  Was  jener  von 
Poesie  in  sich  trug,  das  muss  man  in  seiner  Weltanschauung  und  Sprache 
überhaupt  sowie  in  einzelnen  genialen  Verbildlichungen  suchen.  Was  um- 
gekehrt Goethe  von  Philosophie  besass,  das  ist,  einen  von  ihm  selbst- 
geschaffenen Ausdruck  zu  gebrauchen,  in  seine  Dichtung  hineingeheimnisset. 
Legte  er  es  einmal  ausdrücklich  darauf  an,  so  brachte  er  es  nur  zu  Apho- 


Karl  Rosenkranz  über  Schiller.  391 

rismen.  Endlich  ein  drittes  Verhältnis  wird  sich  dann  bilden,  wenn  die 
psychologische  Beziehung  des  Vorstellens  znm  Denken  im  Poeten  und 
Philosophen  ein  Wechselverhältnis  bleibt,  so  dass  der  Philosoph  sich  im 
Denken  immer  an  der  Dichtung,  der  Poet  im  Dichten  am  Gedanken 
orientiert.  Hier  bedarf  jeder  der  Vermittlung  des  andern.  Unter  den 
Philosophen  werden  hier  diejenigen  zu  nennen  sein,  die  im  edleren  Sinne 
des  Wortes  Popularphilosophen  sind,  wie  Baco;  unter  den  Dichtern  die, 
welche  sich  ihres  Stoffes  durch  einen  reflektierenden  Prozess  bemächtigen. 
Ein  solcher  war  Schiller.  Seine  Philosophie  aber  war  die  Kantische. 
Rosenkranz  nennt  ihn  darum,  weil  er  mit  einer  hohen  Energie  des  philo- 
sophischen Denkens  eine  so  grosse  poetische  Schöpferkraft  vereinigte,  einen 
„bewunderungswürdigen  Menschen",  den  Schiller 'sehen  Styl  in  seinen  Ab- 
handlungen „eine  ganz  ausserordentliche  Durchdringung  eines  begriffs- 
klaren Verstandes  mit  einer  malerischen  Phantasie."  Von  diesen  SchiUer- 
schen  Abhandlungen  aber  sagt  er  ferner:  „Man  wird  wohl  nicht  irren, 
wenn  man  annimmt,  dass  dieselben  auf  Hegel's  Philosophie  und  Styl  den 
grössten  Einfluss  gehabt  haben." 

Rosenkranz'  geistreiche  Abhandlung  über  das  „Lied  an  die  Freude" 
gedichtet  1785,  scliliesst  mit  der  Ansicht,  dass  der  Reiz  dieses  Liedes  vor- 
züglich in  der  enthusiastischen  Verherrlichung  der  Idee  der  Humanität 
liege.  „Diese  Idee  ist  so  ewig,  wie  die  Menschheit  in  Gott  selber." 
Darum  sei  unser  Lied  auch  kein  fröhliches  Lied.  „Es  ist  kein  Lied  der 
Freude,  sondern  ein  Lied,  in  welchem  die  höchsten  Ideale  unserm  Gemüt 
vorgeführt  und  unser  Streben  zu  ihrer  Verwirklichung  aufgefordert  wird." 
Es  sei  eher  ein  Lehrgedicht,  zu  dem  die  ganze  Menschheit  den  Chor 
bilden  solle;  —  ein  Bundeslied,  aber  eines  Bundes  der  Menschheit;  —  ein 
Trinklied,  in  welchem  die  Brüder,  die  wir  nicht  ohne  Schwestern  denken 
können,  den  Pokal  kreisen  lassen. 

„Die  gährende  Fülle,  die  pomphafte  Sprache,  die  zwischen  Lied  und 
Hymne  schwankende  Form,  die  zuweilen  dithyrambisclien  Sprünge,  die 
Kühnheit  der  praktischen  Postulate,  all'  dieser  Sturm  und  Drang  ist  es, 
der  den  Deutschen  dies  Lied  so  zusagend  macht;  aber  die  Idee  der  Hu- 
manität ist  das  gemeinsame  Siegel,  welches  jedem  Worte  des  etwas 
chaotischen  Liedes  aufgedrückt  ist.  —  Der  Ernst  in  seiner  gedankenvollen 
Bestimmtheit  ist  klar  und  die  Freude  folgt  seinem  Wirken,  Wer  sich 
freuen,  sich  wahrhaft  menschlich  freuen  will,  muss  handeln,  muss  human 
handeln,  muss  mit  dem  Ernst  handeln,  der  dem  Gehorsam  gegen  die 
Idee  angehört." 


Schillers  letztes  Bildnis. 

Am  späten  Nachmittag  des  neunten  Mai,  in  der  seclisten  Stunde, 
erlosch  in  Schiller  das  Leben,  auf  dessen  nochmalige  Rettung  und  Erhaltung 
kaum  eine  Stunde  zuvor  die  Angehörigen  aufatmend  gehofft  hatten.  Der 
sanfte  Schlummer  nach  den  schweren  Krampfanfällen  des  Vormittags  war 
nicht  der  Genesixngsschlummer,  den  Lotte  und  Karoline  meinten. 

Als  dann  der  Diener  unerwartet  und  plötzlich  die  Frauen  an  das 
Sterbebett  rief,  war  wohl  der  erste  Schreck  und  nachher  der  Schmerz  und 
die  Betäubung  ihres  Gemütes  und  ihrer  Willenskräfte  so  schwer  und  mass- 
los, dass  die  Zeit  zerrann,  ehe  Wort  nnd  Verrichtung  den  ersten,  dringen- 
den und  traurigen  Anforderungen  der  Wirklichkeit  zu  gehorchen  dachten. 

So  wurde  es  Nacht,  bis  die  Nachricht  von  Schillers  Tod  zu  den 
nächsten  Freunden  des  Hauses  drang.  Das  allgemeine  Weimar  erfuhr  die 
Trauerkunde  erst  in  der  Frühe  und  im  Verlaufe  des  Freitags,  des  10.  Mai. 

Im  Laufe  dieses  Tages  fand  sich  auch  der  junge  Ferdinand  Jage- 
raann,  der  später  von  Goethe  als  Maler  geschätzte  Bruder  der  Schau- 
spielerin Karoline  Jagemann,  im  Sterbehaus  ein,  und  erbat  und  erhielt  die 
Erlaubnis,  das  Antlitz  des  Toten  mit  dem  Zeichenstifs  festzuhalten.  Seine 
Zeichnung  blieb,  neben  der  Totenmaske  aus  Gips,  das  letzte  authentische 
Denkmal  von  der  Form  und  dem  wirklichen  Ausdruck  des  Dichterhauptes. 

Den  zeitgenössischen  Bericht,  dass  „die  vollkommenste  Ruhe  das 
Antlitz  verklärt"  habe,  und  dass  „Schillers  Züge  die  eines  sanft  Schlafen- 
den" gewesen  seien,  bestätigt  Jagemanns  Zeichnung  mit  der  zuverlässigsten 
Glaubwürdigkeit. 

Demgegenüber  kann  die  sachliche  Unrichtigkeit  der  Unterschrift: 
„Am  Tage  seines  Todes  gezeichnet"  vernachlässigt  werden.  Unter  dem 
Eindruck  des  feierlichen  Ernstes  und  der  grossen  Wahrheit  des  Todes  war 
der  Künstler  absolut  ehrlich  in  jedem  Strich  seines  Stiftes,  und  die  Er- 
habenheit, die  von  seinem  Gegenstand  ausging,  führte  seine  Hand  und 
machte  sie  sicher  und  fromm.  So  ward  das  letzte  Bildnis  Schillers  eines 
der  gelobtesten  Werke  des  Malers,  eine  der  besten  Arbeiten  seines  ganzen 
Lebens. 

Das  Blatt  ist  aufbewahrt  in  der  grossherzoglichen  Bibliothek  zu 
Weimar.  Es  misst  40  cm  in  der  Höhe,  32  cm  in  der  Breite.  Seine  packende 
Schönheit  veranlasste,  möglicherweise  noch  im  Laufe  des  Spätjahres  1805, 
den  Kupferstecher  Johann  Christian  Müller  zu  einer  graphischen  Wieder- 
gabe des  Bildes.  J.  C.  Müller  war  der  Sohn  des  berühmten  schwäbischen 
Kupferstechers   Johann   Gotthard   von   Müller,,   des    selben,    der   Schillers 


Schiller  auf  dem  Todenbette. 

Von  Ferdinand  Jagemann. 


Kautstudien  X. 


■ 


Schillers  letztes  Bildnis.  393 

Portrait  aus  dem  Jahre  1786,  gemalt  von  Graff,  gestochen  hat  (1793):  ein  Blatt 
von  glänzender  Technik  und  geistreicher  Behandlung,  das  bei  ziemlicher 
Seltenheit  noch  heute  von  Liebhabern  sehr  gesucht  ist.  J.  C.  Müller,  der 
Sohn,  war  Lehrer  an  der  Weimarer  Zeichenakademie.  Er  hat  weder  die 
Bedeutung  noch  den  Ruhm  seines  Vaters  zu  erreichen  vermocht;  doch 
war  er  ein  durchaus  wolil  begabter  und  geschickter  Kupferstecher  und 
Zeichner  und  viel  von  der  Treue  und  Andacht,  mit  der  Ferdinand  Jagemann 
das  letzte  Zeugnis  von  Schillers  körperlichen  Zügen  ablegte,  ging  auf  den 
nachschaffenden  Künstler  über,  sodass  ein  Werk  der  graphischen  Kunst  ent- 
stand, das  in  seiner  leicht  realistischen  Tönung  dem  Original  kaum  in  etwas 
nachgiebt,  an  monumentaler  Wirkung  dieses  sogar  vielleicht  in  manclier  Hin- 
sicht übertrifft.  Die  genaue  Zeit  der  Herstellung  dieses  Stichs  ist  mir  unbekannt 
geblieben,  trotz  mehrfaclier  Nachforschung  in  dieser  Richtung.  Die  graphische 
Technik,  in  der  das  Blatt  ausgeführt  wurde,  ist  ein  ziemlich  kompliziertes, 
und  nicht  häufig  angewandtes  Kupferätzverfahren  auf  weichem  Grund,  bei 
dem  die  Kupferplatte  so  behandelt  wird,  dass  die  Abdrücke  davon,  nach  der  Art 
ihres  malerischen  Reizes  dem  Punktierstich  verwandt,  sich  technisch  und 
zeichnerisch  gleichzeitig  in  hohem  Grade  den  Wirkungen  der  Lithographie  an- 
nähern. Es  haben  von  diesem  Blatt  mehrfache  Nachdrücke  stattgefunden,  deren 
künstlerischer  und  Liebhaberwert  erheblichen  Schwankungen  unterliegt. 

Alle  mir  bekannt  gewordenen  Abdrücke  zeigen  aber  als  Untersclirift 
den  Namen  des  Dichters  und  die  erste  Strophe  von  Goethes  Epilog. 

Das  Bild  selbst,  47  cm  zu  357.2  cm  im  Lichten,  zeigt  das  Haupt  des 
toten  Dichters  in  natürlicher  Grösse,  bleich,  aber  markig  und  machtvoll  in 
die  Kissen  gedrückt.  Die  Züge  verraten  kaum  eine  Spur  von  der  Arbeit 
des  Todes.  Das  Gesicht  ist  eher  weich  gerundet,  als  mager,  oder  gar  ali- 
gezehrt  zu  nennen  und  jedenfalls  weit  entfernt  von  jener  übertriebenen 
Hagerkeit,  die  Schillers  Gesicht  wohl  in  seiner  jugendlichen  Sturm-  und 
Drangzeit  gekennzeichnet  haben  mag,  die  aber  allmählich  einem  Ausgleich 
der  Züge  gewichen  war,  der  sogar  die  Adlernase  in  eine  gefällige  Propor- 
tion zur  Gesamterscheinung  des  Gesichtes  setzte.  Das  dünne,  rötliche  und 
an  den  Schläfen  schon  leicht  gebleichte  Haar  erhölit  den  Eindruck  der 
ergreifenden  Unmittelbarkeit.  Der  charakteristische  Ansatz  eines  Doppel- 
kinns deutet  am  wahrsten  an,  in  welcher  Richtung  Schillers  körperlicher 
Habitus  sich  zu  entwickeln  wenigstens  im  Begriff  war:  Eine  nicht  eben 
gesunde,  trügerisch  zunehmende  Fülle  der  äusseren  Körperforraen  ist  be- 
kanntlich im  Verlauf  des  Krankheitsprozesses  bei  Schwindsüchtigen  nicht 
selten.  Die  rasch  wiederholten  Anfälle  seines  Leidens,  die  Schiller  im 
Winter  von  1804  auf  1805  durchzumachen  gehabt  hatte,  mochten  indessen 
jene  etwas  gedunsene  Fülle  soweit  zurückgezehrt  haben,  dass  gerade  in 
Schillers  letzten  Tagen  die  machtvolle,  fast  gemeiselte  Energie  der  Linien 
hervortrat,  die  nun,  von  keiner  Muskelverfettung  verwischt,  durch  keine 
abstossend  krankhafte  Abmagerung  entstellt,  Schillers  Antlitz  im  Tode 
mit  dem  Glanz  einer  erhabenen  Würde  und  mit  der  ausgeglichenen, 
wahren  Schönheit  des  grossen  Menschen  umgiebt.  Die  versöhnende,  ruhige 
Hoheit  des  Todes  hat  mit  der  trotzigen  Kraft  einer  von  feurigem  Geiste 
beseelten  Natur  auf  diesem  Antlitz  den  majestätischen  Bund  des  Friedens 
geschlossen.    Je   länger  der  Beschauer  sich  dem  Eindruck  des  Bildes  hiu- 

Kantstudien  X.  2Q 


394  i^.  A.  Schmid, 

giebt,  desto  beherrschender  wächst  diese  Grundstimmung  aus  den  Linien 
und  aus  dem  schlichten  Kolorit  der  Zeichnung  hervor.  Der  Nachklang 
aus  den  letzten  Zeilen  der  Unterschrift  erhält  durch  sie  eine  plötzlicli  zum 
Erlebnis  werdende,  für  das  Auge  sichtbare  und  für  die  Betrachtung  er- 
schütternde Wahrheit : 

.  ,  .  Und  hinter  ihm,  in  wesenlosem  Scheine, 

Lag,  was  uns  alle  bändigt,  das  Gemeine. 

Allmählich  geriet  das  Blatt  in  ziemliche  Vergessenheit.  Goethe, 
den  dies  Bildniswerk  vor  allen,  menschlich  und  künstlerisch,  interessieren 
musste,  hat  seiner,  so  weit  ich  sehe,  nirgends  Erwähnung  gethan.  Es 
mochte  seiner  Art  gemäss  sein,  das  persönlich  Schmerzliche,  das  für  ihn 
mit  dem  Anblick  des  Blattes  verknüpft  war,  durch  Stillschweigen,  ja  viel- 
leicht durch  geflissentliches  Ignorieren  auszugleichen.  Später  stach  der 
Nürnberger  Stecher  Johann  Georg  Serz  das  Bild  nochmals,  in  erheblich 
verkleinerten  Verhältnissen,  in  Stahl.  Das  Blättchen  misst  14'/«  zu  12  cm 
und  zeigt  eine  geübte,  aber  handwerkliche  Technik,  die  den  glatten,  un- 
persönlichen Charakter  des  Stahlstichs  durch  keinerlei  Vorzüge  unterbricht 
oder  mildert. 

Seit  der  Reproduktion  des  Müllerschen  Stichs  in  Koenigs  Litteratur- 
geschichte  erfuhr  das  Totenbildnis  Scliillers  eine  neue  Verbreitung.  Die 
Anzahl  der  bekannten,  zeitgenössischen  Schillerbildnisse  ist  an  sich  nicht 
gross  und  ihr  künstlerischer  Wert  ist  in  der  Mehrzahl  gering  und  jeden- 
falls sehr  unterschiedlich.  Das  Vertrauen  zu  ihrer  Ähnlichkeit  kann  nur 
diesem  Umstand  entsprechend  sein. 

Das  Verständnis  nun  für  die  wertvolle,  treue  Realistik  gerade  dieser 
Zeichnung  wuchs  in  dem  Masse,  als  die  sentimentale  Vorliebe  für  das  süss- 
lich  idealisierte  oder  für  das  pathetisch  karrikierte  Schillerbild  zurückging ; 
jene  Vorliebe  für  das  unwahre  Pendant  zum  Goethe-Apollon,  das  durch 
die  Säkularfeier  im  Jahre  1859  zum  Typus  erhoben  und  dem  deutschen 
Volk  in  jeder  Dutzendausgabe  der  sämtlichen  und  der  ausgewählten  Werke 
vorgesetzt  wurde. 

Heute  scheint  Jagemanns  Zeichnung,  trotzdem  sie  die  Beseelung 
des  lebendigen,  geöffneten  Auges  vermissen  lassen  muss,  dem  Beschauer 
mehr  zu  sagen  und  menschlicher  von  menschlicher  Grösse  zu  reden,  als 
ein  von  „Schillerlocken"  umkräuselter,  konventioneller  Typus,  der  in  der 
Hauptsache  erst  ein  halbes  Jahrhundert  nach  dem  Tode  des  Dichters  ge- 
schaffen wurde. 

Es  hat  den  Anschein,  als  ob  die  Säkularfeier  dieses  Jahres ,  der  ja 
ohnedies  die  Erinnerung  an  Schillers  Tod  zugrunde  liegt,  unser  Bild  all- 
gemein bevorzuge.  Es  wäre  schön,  wenn  dieser  Umstand  zugleich  Zeugnis 
von  einer  innerlich  wirksamen  Wahlverwandtschaft  zwischen  erhöhtem, 
historischem  Wahrheitssinn  und  vertieftem,  individualisierendem  Ge- 
schmack ablegte. 

Wenn  sich  ein  Künstler  fände,  ein  Herr  und  Meister,  dessen  Genie 
mit  dem  Genius  Zwiesprach  zu  halten  verstünde,  so  könnte  es  geschehen, 
dass  auf  dessen  Machtwort  die  im  Tode  geschlossenen  Augen  sich  noch 
einmal  öffneten.    Strahlte  aus  ihnen  dann  Schillers  reifer  Geist,  der  Geist 


Schillers  letztes  i^ildnis.  395 

des  Mannes,  der  auf  den  Wallenstein  und  auf  den  Teil  als  auf  die 
vollendeten  Denkmale  seiner  Kraft  zurückschaut,  so  könnte  ich  mir  dies 
Bildnis  als  das  wahre  Idealbild  von  Schiller  denken: 

Das  Bild  des  Dichters,  der,  wenn  ihm  zu  leben  vergönnt  geblieben 
wäre,  den  Demetrius-Stoff  spielend  bezwungen  hätte,  an  dem  nachher  noch 
so  manches,  ansehenliche  Könneli  gescheitert  ist. 

Der,  dem  es  so  gelänge,  nach  hundert  Jahren  die  Augen  des  Genius 
nochmals  zum  Leuchten  zu  bringen,  der  schüfe  im  Symbol  des  Bildes,  was 
die  höchste  und  beste  Absicht  einer  solchen  Hundertjahrfeier  im  Geiste 
sein  kann:  Er  schüfe  keinen  hohlen  Repräsentanten  einer  mit  mehr  oder 
minder  grosser  Absichtlichkeit  zur  Schau  gestellten  Idee,  sondern  er 
hauchte  Geist  und  innerste  Seele  wieder  in  die  vertraute,  lebenswahre 
Gestalt.     „Form  und  Stoff",  Material  und  Gehalt  wären  nochmals  Eins. 


Die  vorliegende  Reproduktion  ist  nach  einem  guten,  in  meinem  Be- 
sitz befindlichen  Abdruck  des  C.  Müllerschen  Farbenstichs  von  Herrn 
Curt  Stille  in  Freiburg  i.  B.  auf  photographischem  Wege  hergestellt,  mit 
bewusster  Berücksichtigung  und  Betonung  der  künstlerischen  Eigenwerte 
des  Blattes  und  unter  entsprechender  Verwendung  eines  mit  besonderer 
Sorgfalt  ausgewählten  Materials.  Auf  diese  Weise  ist  es  gelungen,  die 
farbige  Kraft  des  graphischen  Originals  mit  sehr  befriedigender  Wirkung 
wiederzugeben,  so  dass  sich  Herr  Stille  die  Kant-Studien  zu  dem  be- 
sonderen Danke  verl)indet,  ihnen  wohl  zur  besten  aller  im  Buchhandel  be- 
findlichen Reproduktionen  dieses  schönen  Kupferstichs  verhelfen  zu  haben. 

Dr.  Friedrich  Alfred  Schmid. 


26* 


Das  Schillerporträt  von  Gerhard  v.  Kügelgen. 

Während  über  die  unserem  Hefte  beigegebene  Silhouette:  „Schiller 
als  Karlsschüler"  nichts  weiter  zu  sagen  ist,  als  dass  sie  den  werdenden 
g-rossen  Mann  ausgezeichnet  charakterisiert  und  insofern  zu  meinem  Quellen- 
fund aus  Schillers  akademischen  Jahren  eine  höchst  willkommene  Illust- 
rierung bietet  —  muss  ich  mich  über  das  v  Kügelgen'sche  Bild  etwas 
weiter  auslassen. 

Dieses  Schillerbild  war  viele  Jahrzehnte  hindurch  nur  durch  einen 
mangelhaften  Stich  von  Anderloni  bekannt :  Das  Original  blieb  trotz  allen 
Suchens  verschollen. 

Da  sind  nun  vor  einigen  Jahren  fast  gleichzeitig  zwei  Originale  des 
Bildes  aufgetaucht.  Dass  es  zwei  Originale  sind,  daran  ist  zunächst  nichts 
Merkwürdiges:  die  Künstler  jener  Zeit  machten  von  ihren  Porträtbildern 
sehr  häufig  mehrere  Ausführungen :  es  geschah  das  damals  häufiger  als 
heute,  aus  dem  naheliegenden  Grunde,  weil  ja  jetzt  die  Reproduktions- 
technik so  vollendet  ist,  dass  Wiederholungen  durch  den  Künstler  selbst 
nicht  mehr  so  notwendig  sind.  So  hat  z.  B.  Kügelgen  selbst  ein  und  das- 
selbe Goetheporträt  drei-  bis  viermal  mit  kaum  merklichen  Variationen 
gemalt;  dasselbe  ist  der  Fall  mit  Raabes  und  Jagemanns  Goethebildern. 

Das  Eine  jener  Originale  des  v.  Kügelgenschen  Schillerbildes  war 
nun  im  Besitze  der  Herzogin  Friederike  von  Anhalt-Bernburg  (geborene 
Prinzessin  von  Schleswig-Holstein)  gewesen.  Sie  hatte  es  in  ihrer  Sommer- 
residenz Alexisbad  im  Harz  in  ihrem  daselbst  befindlichen  Schlösschen 
aufbewahrt.  Die  hohe  Frau,  welche  Iiochbetagt  im  Jahre  1902  gestorben 
ist,  kannte  den  Wert  des  Bildes,  dessen  besondere  Schonung  sie  ihren 
Dienern  stets  aufgetragen  hatte.  Nach  ihrem  Tode  fiel  das  Schlösschen 
Alexisbad  mit  all  seinem  Inhalt  an  einen  Prinzen  von  Schleswig-Holstein- 
Augustenburg.  Durch  Nachlässigkeit  der  Hofbeamten,  welche  den  Wert 
des  Bildes  nicht  erkannten,  wurde  nun  das  Schillerbild  (nebst  einem  dazu- 
gehörigen Goethebild  Kügelgens  als  Pendant)  an  einen  Privatmann  im 
Harz  um  einen  unglaublich  geringen  Preis  verkauft,  wie  das  ähnlich  auch 
mit  einer  Reihe  anderer  wertvoller  alter  Gegenstände  geschah.  Der  be- 
treffende Privatmann  erkannte  zwar  auch  noch  nicht  sogleich,  um  was  es 
sich  handelte,  aber  er  hatte  als  gebildeter  Mann  soviel  Einsicht,  um  we- 
nigstens auf  den  ersten  Blick  zu  erkennen,  dass  er  ein  wertvolles  Stück 
erworben  hatte.  Er  reiste  mit  dem  Bilde  nach  Dresden  und  Leipzig,  und 
da  wurde  dann  durch  Professor  Dr.  Julius  Vogel,  Konservator  am  Leip- 
ziger Museum,  festgestellt,  dass  es  sich  um  ein  Kügelgen"sches  Original 
handelte.  Professor  Vogel  Hess  nun  das  Bild  in  der  Leipziger  Illustrierten 
Zeitung  vom  11.  Dezember  1902  reproduzieren  nebst  einem  Begleitartikel. 
Natürlich  wurde  diese  Reproduktion  sehr  viel  beachtet.  Auch  jener 
Prinz  wurde  nun  aufmerksam  auf  das  seltene  Stück,  das  ilim  entgangen 
war.  Ein  Rückkaufsversuch  scheiterte  an  der  hohen  Forderung  des 
neuen   glücklichen    Besitzers.     So   ist    diese  Bildergeschichte    wieder  eine 


Das  Schillerporträt  von  Gerhard  v.  Kügelgen.  397 

drastische  Illustration  zu  dem  bekannten  Erfahrungssatze,  dass  Bilder  oft 
die  merkwürdigsten  Schicksale  haben.  Es  g:ilt  nicht  nur  der  Satz:  Habent 
sua  fata  libelli:  es  gilt  auch:  Habent  fiiin  fatn  fabeUae. 

Auch  das  zweite  Original  des  v.  Kügelgenschen  Schillerbildes  hat 
ähnliche  Schicksale  gehabt.  Vor  einigen  Jahren  hing  es  hier  in  Halle  in 
einem  Laden  zum  allgemeinen  Verkaufe  aus.  Hunderte  sahen  das  Bild 
und  Niemand  nahm  es:  der  Preis  war,  wenn  auch  nicht  so  gering  wie 
beim  Alexisbader  Bilde,  so  doch  massig.  Der  Zufall  fülirte  mich  in  den 
Laden  und  ich  erwarb  das  Bild,  und  rettete  es  damit  vor  der  Verschleu- 
derung. Über  den  Vorbesitzer,  nach  dem  ich  mich  natürlich  sogleich  er- 
kundigte, konnte  ich  nur  erfahren,  dass  das  Bild  aus  dem  Besitz  einer 
verarmten  Anhaltinischen  Adelsfamilie  stammte,  deren  Name  mir  aber  aus 
naheliegenden  Gründen  verschwiegen  wurde. 

Ich  gab  nun  der  Firma  E.  A.  Seemann  in  Leipzig  auf  ihre  Bitte 
hin  die  Erlaubnis,  von  meinem  Bilde  eine  Reproduktion  in  Dreifarbendruck 
zu  veranstalten  und  dieselbe  dem  in  ihrem  Verlag  erschienenen  Werke 
von  Karl  Heinemann  „Goethe"  (dritte  Auflage  1903)  beizulegen  (S.  474). 
Hierdurch  wurde  nun  das  Bild  in  seinem  wunderbaren  Farbenreiz  dem 
gebildeten  Publikum  zum  ersten  Male  vorgeführt.  Eine  zweite,  ebenfalls 
farbige  Reproduktion  des  Bildes  (aber  durch  eine  andere  Kunstanstalt) 
hat  nun  soeben  mit  meiner  Erlaubnis  die  Firma  George  Westermann  in 
Braunschweig  veranstaltet,  indem  sie  das  Bild  in  ihrem  Maiheft  1905  ihrem 
Schillerfestartikel  von  Otto  Harnack  beifügte.  Die  unserem  eigenen 
Schillerfesthefte  beigelegten  Exemplare  in  Dreifarbendruck  stammen  zum 
Teil  von  der  Firma  E.  A.  Seemann,  zum  anderen  Teil  von  der  Firma 
G.  Westermann. 

Aus  den  obigen  Mitteilungen  ersieht  man  nun  wieder  aufs  Neue, 
welchen  wunderbaren  Schicksalen  Bilder  im  Privatbesitz  ausgesetzt  sind. 
Aber  nicht  immer  führen  diese  Schicksale  zu  solch  erfreulichem  Ende. 
Die  Bilder  sind  im  Privatbesitz  mancherlei  Fährlichkeiten  ausgesetzt:  sie 
können  durch  L'nachtsamkeit  und  selbst  ohne  Schuld  leicht  verdorben 
werden,  und  sie  können  im  Erbgang  nach  einigen  Generationen  leicht  ver- 
schleudert werden.  Ebenso  schlimm  ist  es,  wenn  sie  ins  Ausland  verkauft 
werden.  Bei  den  enormen  Preisen,  welche  in  Frankreich,  England  und 
Amerika  von  Liebhabern  bezahlt  werden,  ist  diese  Gefahr  sogar  sehr 
drohend :  wie  viel  wertvolles  Gut  ist  aus  Deutschland  in  den  letzten 
.Jahren  über  den  Ocean  gewandert  in  die  Hände  amerikanischer  Milliardäre. 
Ich  habe  auf  einen  solchen  Verkauf  an  Privatbesitzer  verzichtet :  solche 
Bilder,  wie  ein  Kügelgen'sches  Schillerbild,  sind  Eigentum  der  Nation  und 
sollen  allen  zugänglich  sein. 

Ich  freue  mich  daher,  hier  die  Mitteilung  hinzufügen  zu  können, 
dass  Seine  Majestät  der  König  von  Württemberg  das  bisher  in  meinem 
Besitz  befindliche  Bild  erworben  hat,  um  es  dem  Schillennuseum  in  Mar- 
bach  zum  9.  Mai  zum  Geschenk  zu  machen 

H.  Vaihingen 


Schillers  transscendentaler  Idealismus. 

Von  W.  Windelband. 


Was  die  Philosophie  für  Schiller  bedeutet  hat,  ist  im  AU^e- 
gemeinen  leicht  erkennbar  und  fraglos  festzustellen:  was  aber 
Schiller  für  die  Philosophie  bedeutet  hat,  ist  eine  nicht  ganz  so 
einfach  und  selbstverständlich  zu  beantwortende  Frage.  Auch  da- 
rüber allerdings  besteht  kein  Zweifel,  dass  der  Dichter  mehr  als 
irgend  ein  anderer  von  Kants  Schülern  dafür  gewirkt  hat,  den 
Geist  und  die  Gesinnung  der  kritischen  Philosophie  in  die  allge- 
meine Vorstellungsweise  überzuführen  und  im  Bewusstsein  der 
deutschen  Bildung  heimisch  zu  machen,  und  dass  diese  seine  Wirkung 
mit  ununterbrochener  Mächtigkeit  noch  bis  auf  den  heutigen  Tag 
von  seinen  philosophischen  Dichtungen  und  ästhetischen  Abhand- 
lungen ausgeht.  Allein  damit  ist  noch  nicht  entschieden,  welchen 
Anteil  Schillers  eigenes  Denken  an  der  Fortentwickelung  der  Kan- 
tischen Lehre,  au  der  Ausgestaltung  und  Umgestaltung  des  kriti- 
schen Idealismus  gehabt  hat.  In  dieser  Hinsicht  sind  die  An- 
sichten wohl  noch  nicht  völlig  geklärt.  Es  ist  nicht  zu  leugnen, 
dass  Schiller  selbst  sehr  deutlich  die  Punkte  gekennzeichnet  hat, 
an  denen  er,  wenn  nicht  vom  Geist,  so  jedenfalls  vom  Buchstaben 
der  Kantischen  Philosophie  abwich,  und  dass  er  dabei  zwar  nicht 
über  die  Prinzipien,  aber  um  so  mehr  über  einige  Ausführungen 
der  kritischen  Lehre  hinauszugehen  sich  bewusst  war.  Ob  man 
von  diesem  letzteren  Bewusstsein  sagen  darf,  der  Dichter  habe 
damit  sich  selber  missverstandeu,  weil  er  mit  seiner  vermeintlichen 
Neuerung  wesentlich  doch  im  Bannkreise  der  Kantischeu  Philosophie 
bleibt  —  das  wird  schliesslich  darauf  hinauskommen,  wie  hoch  man 
die  Notwendigkeit  des  Zusammenhanges  jener  Prinzipien  mit  diesen 
besonderen  Anwendungen  einschätzt.  Diese  Schwierigkeit  gilt  nicht 
nur  für  Schillers  Verhältnis  zu  Kant.  Die  kritische  Gedankenwelt 
war  kein  starres,    unverrückbar  festgelegtes  System;    sie   war  es 


Schillers  transscendentaler  Idealismus.  399 

weniger  als  die  irgeud  einer  anderen  Philosophie.  Sie  stellte  viel- 
mehr eine  in  sich  bewegte  Mannigfaltigkeit  dar,  deren  unerschöpf- 
licher Reichtum  eine  Fülle  lebendiger  Beziehungen  und  Verwicke- 
lungen enthielt  und  zur  Entfaltung  bringen  musste.  Da  war  es 
und  bleibt  es  denn  schwer,  das  Mass  der  Verschiebung  eindeutig 
zu  bestimmen.  Fichte  konnte  seine  Lehre  noch  für  die  recht  ver- 
standene Kantische  halten,  als  er  —  nicht  bloss  nach  Kants  eigenem 
Urteil  —  offensichtlich  längst  darüber  hinausgegangen  war :  Schiller 
kann  selbst  da  noch  für  einen  echten  Kantianer  gelten,  wo  er  über 
den  Meister  hinauszugehen  glaubte.  Auf  der  einen  Seite  kann 
man  die  gesamte  Entwickelung  des  deutschen  Idealismus  als  die 
Ausbildung  des  Systems  der  Vernunft  betrachten,  das  durch  die 
Kritik  begründet  worden  war:  auf  der  andern  Seite  kann  jede 
Phase  dieser  Entwickelung  vermöge  der  Herausarbeitung  eines  be- 
sonderen Moments,  das  sie  charakterisiert,  als  ein  Abweichen  von 
Kaut  und  ein  Hinausgehen  über  ihn  dargestellt  werden.  Und  dies 
muss  dann  auch  für  die  spezifischen  Lehren  anerkannt  werden,  bei 
denen  Schiller  seine  Selbständigkeit  empfand  und  betonte.  —  Sie 
haben  das  Eecht  dazu  um  so  mehr,  wenn  sie  sich  als  Ansatz- 
punkte erkennen  lassen,  an  denen  nachher  kräftigere  Seitentriebe 
aus  dem  Hauptstamnie  herausgewachsen  sind. 

Eines  aber  wird  man  bei  der  Feststellung  der  Bedeutung 
Schillers  für  die  Entwickelung  der  Philosophie  immer  im  Auge 
behalten  müssen :  das  ist,  dass  er  niemals  eigentlich  darauf  aus 
war,  ein  System  der  Philosophie  oder  eines  ihrer  Teile,  etwa  der 
Ästhetik,  lediglich  als  solches  und  um  des  Systems  willen  auszu- 
bilden. Das  Motiv  seines  Philosophierens  war  zunächst  das  per- 
sönliche Bedürfnis  nach  einer  begrifflichen  Begründung  jener 
Kulturpsychologie  der  Kunst,  die  den  innersten  Kern  seiner 
Überzeugungen  ausmachte  und  in  der  alle  Fäden  seiner  Individua- 
lität, alle  Interessen  seiner  Lebensführung  zusammenliefen.  Diese 
seine  Lebeusgedanken  in  einer  \\'eltanschauung  sicher  zu  verankern, 
war  für  den  Dichter  der  Inbegriff  seines  metaphysischen  Bedürf- 
nisses, und  als  ihm  die  optimistische  Harmonielehre  der  Aufklärung 
in  die  Brüche  gegangen  war,  da  ging  er  mit  harter,  immei'  neu 
ansetzender  Begriffsarbeit  daran,  das  neue  philosophische  Evange- 
lium sich  anzueignen.  Sobald  es  ihm  aber  gelungen  war,  sich  mit 
seinen  Interessen  in  diesem  Gebiete  anzusiedeln  und  jene  Grund- 
überzeugung, die  er  mitbrachte,  in  diesem  festen  Boden  AVurzel 
fassen  zu  lassen,  war  der  philosophische  Teil  seiner  Lebensarbeit 


400  W.  Windelband, 

vollbracht.  Allein  es  handelto  sich  dabei  für  ihn  nicht  nur  um 
diese  persönliche  Selbstverständig-uug-,  sondern  die  begriffliche  Klar- 
heit über  die  Stellung  der  Kunst  iu  den  Vernunftwerteu  der 
Menschheit  und  ihrer  geschichthchen  Entwickelung  galt  dem  philo- 
sophierenden Dichter  zugleich  als  das  wesentliche  und  unerlässliche 
Bindeglied  in  dem  Zusammenhange  der  neuen  Bildung  der  wahr- 
haften Humanität,  die  er  für  sein  Zeitalter  heraufzuführen  sich 
berufen  und  niitberufen  fühlte. 

Hiernach  ist  auch  Schillers  Stellung  zu  Kants  transsceuden- 
talem  Idealismus  zu  bemessen.  Der  Dichter  hat  den  gewaltigen 
Gedanken  des  Philosophen  mit  der  ganzen  Kongenialität  seiner 
Persönlichkeit  ergriffen:  er  fand  darin  den  festen  Ankergrund  seines 
eigensten  Wesens.  Aber  die  Art,  wie  er  auf  diesem  neuen  geistigen 
Lebensgrunde  seine  eigene  Aufgabe  löste  und  die  Begriffe  für  seine 
Überzeugung  zurechtlegte,  war  von  Anfang  au  frei  von  aller 
schülerhaften  Befangenheit:  mit  voller  Beherrschung  der  Gedanken 
prägt  er  ihnen  seine  eigene,  aus  der  allgemeinen  Redeweise  glück- 
lich herausgearbeitete  Form  auf;  er  verschmäht  es  auch  nicht, 
Reinholdsche  oder  Fichtesche  Wendungen,  wo  sie  ihm  leichter  zum 
Ziele  zu  führen  scheinen,  sich  anzueignen.  GelegentUch  hat  er 
sogar  später  einmal  in  den  Formeln  der  Identitätsphilosophie  ge- 
redet. Das  Wesentliche  und  Wertvolle  ist  ihm  immer,  zu  zeigen, 
dass  in  dem  Prinzip,  worin  er  das  Eigenste  der  neuen  Philosophie 
mit  Recht  erblickt,  die  gemeinsame  Wurzel  alles  moralischen  und 
alles  ästhetischen  Lebens  aufgedeckt  ist. 

Darum  ist  Schillers  Zugehörigkeit  zum  transscendentaleu 
Idealismus  iu  erster  Linie  diejenige  einer  Grundüberzeugung:  dass 
es  für  das  Bewusstsein  keine  andere  Realität,  keine  anderen 
„Gegenstände"  giebt  als  diejenigen,  die  es  aus  seiner  eigenen  Ver- 
nunftbethätigung  heraus  erzeugt.  Die  Verwandlung  der  Welt  in 
die  Gegenstände  des  Bewusstseins  ist  die  entscheidende  That  des 
kritischen  Philosophen.  Und  dies  Entscheidende  hat  Schiller  genau 
so  scharf  gesehen  und  genau  so  fest  ergriffen  wie  E'ichte.  Es  ist 
der  Grundton,  auf  den  alle  philosophischen  Leistungen  Schillers 
gestimmt  sind.  Wenn  man  diese  Spontaneität  des  Geistes  in  der 
Erzeugung  seiner  Gegenstände  Freiheit  nennt,  so  gilt  es  in  diesem 
—  aber  freilich  nur  in  diesem!  —  Sinne,  dass  Freiheit  der  Ceutral- 
begriff  des  Schillerschen  Denkens,  wie  des  Kantischen  und  des 
Fichteschen  ist. 


Schillers  transscendentaler  Idealismus.  401 

Aber  die  allg-emeiue  Formel  der  Autonomie,  die  das  Weseu 
des  transscendentaleu  Idealismus  ausdrückt,  enthält  eine  Mehrheit 
von  Bedeutungen  in  sich,  die  in  Kants  Lehre  sich  vielfach  mit 
einander  verschlingen  und  je  nach  dem  Vorwiegen  der  einen  oder 
der  anderen  dem  Grundgedanken  von  der  Erzeugung  des  Gegen- 
standes aus  der  Spontaneität  des  Bewusstseins  eine  verschiedene 
Färbung  geben.  Es  ist  nicht  nur  für  die  Feststellung  von  Schillers 
Verhältnis  zur  kritischen  Philosophie,  sondern  auch  für  das  Ver- 
ständnis von  Kants  Lehre  und  Entwickelung  und  für  die  Einsicht 
in  die  Motive  der  auf  ihn  folgenden  Bewegung  förderlich  und  er- 
forderlich, diese  Verschiedenheiten  deutlich  herauszuheben :  sie  be- 
lehren zugleich  über  den  Ursprung  und  den  Rechtsanspruch  der 
verschiedenen  Deutungen,  welche  die  Kantische  Lehre  selbst  früher 
und  später  erfahren  hat. 

Als  das  „Bewusstsein"  nämlich,  dem  die  autonome  Erzeugung 
des  Gegenstandes  zuzuschreiben  ist,  können  drei  verschiedene  In- 
stanzen betrachtet  werden:  das  Individuum,  die  Menschheit,  das 
„Bewusstsein  überhaupt".  Erst  in  ihrer  Verknüpfung  und  Zu- 
sammengehörigkeit machen  sie  zusammen  das  Ganze  des  kritischen 
Horizontes  aus:  aber  dieser  erscheint  in  sehr  verschiedener  Be- 
leuchtung, wenn  er  aus  dem  einen  oder  dem  andern  dieser  Gesichts- 
punkte allein  oder  auch  nur  hauptsächlich  betrachtet  wird. 

Geschieht  das  aus  dem  ersten  jener  drei  Standpunkte,  so 
rückt  die  Idee  der  Persönlichkeit  in  den  Vordergrund  des  trans- 
scendentaleu Idealismus.  Die  Selbstgesetzgebung  des  Willens,  die 
Selbstbestimmung  des  Handelns,  die  Selbstgestaltung  des  Lebens 
erscheinen  als  die  Ideale  einer  Gesinnung,  welche  keine  anderen 
Werte  in  der  Welt  anerkennt,  als  die  von  ihr  selbst  gesetzten. 
Diese  stolze  Moral  der  Persönlichkeit  ist  der  aus  dem  Wesen  des 
Mannes  selbst  stammende  Einschlag  in  der  Philosophie  Kants;  und 
wir  werden  kaum  irre  gehen,  wenn  wir  meinen,  sie  sei  unter  den 
persönlichen  Motiven  seiner  Lehre  das  bedeutsamste.  Dieser  Appell, 
dass  der  Mensch  als  Vernunftwesen  sich  und  sein  Leben  auf  sich 
selber  stelle,  war  aber  auch  der  Ton,  der  das  lauteste  Echo  fand 
und  für  die  neue  Lehre  die  Jünger  aus  der  Gesinnung  heraus 
warb.  Er  hat  auch  Schiller  ergriffen,  der  es  aussprach,  es  sei 
gewiss  von  einem  sterblichen  Menschen  kein  grösseres  Wort  noch 
gesprochen,  als  dieses  Kantische  „Bestimme  dich  aus  dir  selbst", 
was  zugleich  der  Inhalt  seiner  ganzen  Philosophie  sei.  Das  sagt 
der  Dichter  gerade  da,  wo  er  sich  anschickt,  in  den  Kalliasbriefen 


402  W.  Windelband, 

seine  eigue  ästhetische  Theorie  aus  Kant  herauszuarbeiten ;  und  in 
der  Tat  ist  diese  seine  Theorie  in  allen  ihren  Phasen  durch  das 
Bestreben  bedingt,  die  Formen  zu  eii'assen,  in  denen  „diese  grosse 
Idee  der  Selbstbestimmung"  das  Wesen  des  Schönen  ausmacht. 
Das  war  aber  nur  dadurch  möglich,  dass  Kants  Idee  der  Auto- 
nomie in  Schiller  nicht  nur  den  sittlichen  Menschen,  sondern  auch 
den  Künstler  packte;  dass  der  Dichter  in  der  Erzeugung  der 
ästhetischen  Welt  aus  dem  Bewusstsein,  wie  sie  Kaut  lehrte,  sein 
eigenstes  und  innerstes  Schaffen  wiederfand.  Das  ist  die  un- 
sterbliche Bedeutung  der  Kritik  der  Urteilskraft. 

Auch  hierin  ist  es  zuletzt  die  künstlerische  Gesinnung,  die 
Schiller  zum  Jünger  Ivants  gemacht  hat.  Er  war  sich  aus  eignem 
künstlerischen  Erlebnis  der  schöpferischen  Kraft  der  genialen 
Phantasie  bewusst;  ihm  war  es  das  Geläufigste,  dass  die  ästhetische 
Welt  eine  neue,  eine  andere  ist  als  die  gemeine.  Kein  Gegensatz 
kehrt  in  den  ästhetischen  Abhandlungen  und  in  den  dazu  gehörigen 
Gedichten  so  häufig  wieder  wie  der  von  Wahrheit  und  Wirklich- 
keit. „Was  sich  nie  und  nimmer  hat  begeben,  das  allein  veraltet 
nie."  Die  Erhebung  des  Stoffs  in  die  Form,  die  Vernichtung  des 
Stoffs  durch  die  Form,  das  Hinausleben  aus  dem  „Gemeinen  und 
Traurigwahren"  in  die  höhere  Welt  der  reinen  Gestaltung  —  und 
wie  sonst  die  charaktervollen  Formeln  dafür  lauten:  immer  ist  die 
Schönheit  „unsere  zweite  Schöi)ferin."  „Wer  sich  über  die  Wirk- 
lichkeit nicht  hinauswagt,"  heisst  es  in  den  ästhetischen  Briefen, 
„der  wird  nie  die  Wahrheit  erobern."  Oder  „die  Wahrheit  ist 
nichts,  was  so  wie  die  Wirklichkeit  oder  das  sinnliche  Dasein  der 
Dinge  von  aussen  empfangen  werden  kann;  sie  ist  etwas,  das  die 
Denkkraft  selbsttätig  und  in  ihrer  Freiheit  hervorbringt".  Das 
ist  zweifellos  im  intimsten  Sinne  des  transscendentalen  Idealismus 
gedacht,  und  es  ist  höchst  interessant,  wie  der  Dichter  in  diesem 
Sinne  die  kritische  Erkenntnistheorie  sich  ästhetisch  assimiliert 
hat.  In  dem  intellektuellen  Prozess  wird  der  Mensch  aus  einem 
Sklaven  der  Natur  zu  ihrem  Gesetzgeber:  indem  er  aus  den  Em- 
pfindungen den  „Gegenstand"  schafft,  und  ihn  „betrachtet",  wird 
er  von  dem  Objekte  wie  von  der  Begierde,  mit  der  es  ihn  ergriff, 
frei  und  erhebt  sich  zu  der  Form,  dem  Nachbild  des  Unendlichen. 
So  vollzieht  sich  schon  in  der  Wahrnehmung  jener  Rhythmus  der 
(li-ci  Zustände,  wonach  im  physischen  der  Mensch  die  Macht  der 
Natur  erleidet,  im  ästhetischen  sich  ihrer  entledigt  und  im  mo- 
ralischen  sie   beherrscht.     Aber   dieser  Vorgang  ist   die  Tat   des 


Schillers  transscendentaler  Idealismus.  403 

Subjekts,  das  iu  der  Betrachtuug  von  der  gemeiueu  Wirklichkeit 
der  Dinge  die  Form  ablöst  und  auf  ilir  als  dem  schönen  Scheine 
weilt.  Diese  Gleichgiltigkeit  gegen  die  Realität  ist  in  Wahrheit 
die  Erweiterung  des  menschlichen  Gemüts  zu  seiner  höheren  Be- 
stimmung; der  Schein  ist  des  Menschen  Werk,  und  an  ihm  übt 
das  Gemüt  nur  sein  Eigentumsrecht  aus,  wenn  es  iu  der  Kunst 
des  Scheins  mit  ihm  spielt  und  in  ungebundener  Freiheit  nach 
eigenen  Gesetzen  mit  ihm  schaltet. 

Freilich  fügt  Schiller  hinzu,  der  Mensch  besitze  dieses  sou- 
veräne Recht  schlechterdings  auch  nur  in  der  Welt  des  Scheins, 
iu  dem  wesenlosen  Reiche  der  Einbildungskraft.  Er  versucht 
nicht,  und  es  war  nicht  seine  Aufgabe,  festzustellen,  worauf  die 
Einschränkung  dieses  Eigentumsrechts  im  Theoretischen  und  im 
Praktischen  beruht :  aber  die  Lösung  dieser  Aufgabe  wäre  viel- 
leicht sehr  schwierig,  wenn  nicht  unmöglich  auf  dem  Boden  dieser 
Ästhetisierung  des  transscendentalen  Idealismus  gewesen.  Mit  der 
leisen  Wendung  ins  Psychologische,  die  daran  unverkennbar  ist, 
wird  die  Autonomie  zu  einer  Praerogative  der  einzelnen  ästhetischen 
Persönlichkeit  und  gerät  iu  Gefahr,  die  Fühlung  mit  der  all- 
gemeingiltigen  Gesetzmässigkeit  zu  verlieren.  Wie  es  denn 
charakteristisch  ist,  dass  Schiller  unter  den  kantischen  Prinzipien 
der  ästhetischen  Urteilskraft  dasjenige  am  fremdesten  geblieben 
ist,  wonach  in  dem  übersinnlichen  Substrat  der  Menschheit,  d.  h. 
im  Bewusstsein  überhaupt,  die  Möglichkeit  der  allgemeinen  Mitteil- 
barkeit des  ästhetischen  Zustandes  gefunden  war.  Der  Dichter 
berührt  dies  Prinzip,  wo  er  von  der  Herrschaft  des  Formtriebes 
redet,  bei  der  sich  der  Mensch  zu  einer  Ideeneinheit  erhebe,  die 
das  ganze  Reich  der  Erscheinungen  unter  sich  fasst:  aber  er 
schwächt  es  damit  ab,  dass  er  diesen  Zustand  für  denjenigen  er- 
klärt, in  welchem  wir  „nicht  mehr  Individuen,  sondern  Gattung" 
sind.  Das  ist  allerdings  um  so  weniger  verwunderlich,  je  mehr 
man  bedenkt,  wie  schwierig  es  in  Kants  eigner  Darstellung  ist, 
das  „Bewusstsein  überhaupt"  von  der  menschlichen  Gattungs- 
vernunft zu  unterscheiden.  Allein  bedenklicher  war  es,  dass  in 
Schillers  Theorie  des  Spieltriebes  die  Autonomie  der  künstlerischen 
Persönlichkeit  bis  zu  der  souveränen  Schrankenlosigkeit  der  Phan- 
tasie gesteigert  erscheinen  konnte,  die  sich  unter  der  Mitwirkung 
missverstandner  Lehren  Fichtes  später  als  romantische  Ironie  ent- 
faltet hat. 


40-4  W.  Windelband, 

Wie  weit  indessen  Scliiller  selbst  von  dieser  Gefahr  entfernt 
war,  lässt  sich  —  innerhalb  seiner  philoso^ihischen  Untersuchnngen  — 
am  besten  daraus  entnehmen,  dass  es  g-erade  die  entgegeug-esetzte 
Kichtung  war,  in  der  er  zuerst  seine  selbständige  Position  auf  dem 
Boden  der  kritischen  Ästhetik  zu  gewinnen  suchte.  Vor  schranken- 
losem Subjektivisnuis  ist  derjenige  bewahrt,  der  seine  Aufgabe 
darin  setzt,  den  objektiven  Begriff  der  Schönheit  zu  finden:  und 
das  ist  bekanntlich  das  Thema  der  Kalliasbriefe.  Schon  dies 
Thema  gilt  zum  mindestem  als  eine  Ergänzung  von  Kants  Analytik 
des  Schönen,  die  sich  auf  die  Kritik  der  Apriorität  des  ästhetischen 
Zustandes  beschränkt  und  die  Möglichkeit  einer  Begriffsbestimmung 
der  schönen  Dinge  abgelehnt  hatte.  Und  in  der  Tat  folgt  Schiller 
hier  einem  kräftigen,  sachlich  wohlbegründcten  Impulse.  Denn  so 
sehr  er  mit  Kaut  überzeugt  war  und  überzeugt  sein  durfte,  dass 
der  ästhetische  Gegenstand  als  solcher  niemals  gegeben  ist,  sondern 
immer  erst  in  der  interesselosen  Betrachtung  als  Form  und  Schein 
entspringt,  so  sehr  vermisste  er  von  seinem  theoretischen  Be- 
dürfnis aus  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  eine  Antwort  auf  die 
Frage,  wie  die  Stoffe  der  Erfahrung  beschaffen  sein  müssen,  um 
solche  Formung  zu  ästhetischen  Gegenständen  im  künstlersich  ge- 
stimmten Gemüte  hervorrufen  oder  auch  nur  vertragen  zu 
können.  Auch  dieses  theoretische  Bedürfnis  Schillers  wurzelt  in 
seinem  künstlerischen  Erleben.  Wir  wissen  genau,  wie  vorsichtig 
und  gewissenhaft  er  selbst  in  der  Wahl  seiner  Stoffe  und  in  der 
Erwägung  ihrer  dichterischen  Formbarkeit  verfuhr :  musste  er  sich 
nicht  Rechenschaft  darüber  zu  geben  versuchen,  auf  welchen  Eigen- 
schaften in  den  Stoffen  selbst  diese  Verschiedenheit  ihrer  äst- 
hetischen Verwertbarkeit  beruhe?  Diese  Frage  hatte  Kant  beim 
Schönen  in  der  Tat  nicht  gestellt,  geschweige  denn  beantwortet: 
denn  sie  lag  ausserhalb  seiner  rein  trausscendentalen  Problem- 
stellung, die  nur  die  Möglichkeit  synthetischer  Urteile  a  priori  für 
das  Gefühlsvermögeu  betraf.  (xeradesowenig  hatte  er  in  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft  die  methodologische  Frage  aufgeworfen, 
welche  Eigenschaften  etwa  die  einzelnen  Erscheinungen  aufweisen 
müssen,  um  unter  besondere  Naturgesetze  subsumiert  zu  werden. 
Jenes  Problem  der  Kalliasbriefe  stellte  aber  in  keiner  Weise  den 
trausscendentalen  Idealismus  der  Ästhetik  in  Frage,  es  lag  viel- 
mehr unmittelbar  iu  dessen  Konsequenz.  Ja,  Schiller  hätte  sich 
darauf  berufen  können,  dass  Kant  selbst  in  der  Analytik  des  Er- 
habenen den  Weg  eingeschlagen  hatte,  genau  zu  untersuchen,  wie 


Schillers  ttansscendentaler  Idealismus.  405 

ErfahruDgsinhalte  au  Grösse  oder  Kraft  beschaffen  sein  müssen, 
um  zwar  nicht  selbst  erhaben  zu  sein,  aber  das  Gemüt  in  den 
Zustand  zu  versetzen,  worin  sie  als  erhaben  beurteilt  werden. 

Dabei  läuft  die  Schillersche  Lösung  des  so  gestellten  Prob- 
lems auf  eine  Vorstellungsweise  hinaus,  welche  die  höchste  und 
reifste  Form  des  transscendentalen  Idealismus  zur  Voraussetzung 
hat:  denn  die  Schönheit  als  Freiheit  in  der  Erscheinung,  diese 
innere  Notwendigkeit  der  Form  an  einer  sich  selbst  erklärenden 
Erscheinung,  diese  Heautonomie,  die  eine  objektive  Beschaffenheit 
der  Gegenstände  sein  soll,  weil  sie  ihnen  bleibt,  auch  wenn  das 
vorstellende  (Einzel-)  Subjekt  ganz  hinweggedacht  wird,  —  alle 
diese  aus  dem  kritischen  Begi'iffsarsenal  geholten  Bestimmungen 
sind  doch  nur  dann  verständlich,  wenn  die  Naturerscheinungen, 
die  jenes  objektive  Merkmal  des  Schönen  an  sich  haben  sollen, 
selbst  schon  als  Gegenstände  des  Bewusstseins  überhaupt  gedacht 
werden.  Niemals  ist  Schiller  dem  letzten  Höhepunkte  des  Trans- 
scendentalismus  näher  gewesen  als  hier,  wo  er  sich  von  dem  sog. 
subjektiven  Idealismus  zu  Gunsten  einer  objektiven  Definition  der 
Schönheit  zu  entfernen  scheint.  Und  wie  reif  er  bei  der  Zusammen- 
fassung seiner  gesamten  Untersuchungen  diese  begrifflichen  Be- 
ziehungen durchschaut  hat,  zeigen  die  Worte,  die  er  am  25.  Okt. 
1794  an  Körner  schrieb:  „Das  Schöne  ist  kein  Erfahrungsbegriff, 
sondern  vielmehi-  ein  Imperativ.  Es  ist  gewiss  objektiv,  aber  bloss 
als  eine  notwendige  Aufgabe  für  die  sinnliche  vernünftige  Natur; 
in  der  wirklichen  Erfahrung  aber  bleibt  sie  gewöhnlich  unerfüllt. 
Es  ist  etwas  völlig  Subjektives,  ob  wir  das  Schöne  als  schön  em- 
pfinden; aber  objektiv  sollte  es  so  sein." 

Solchen  Aussprüchen  gegenüber  wird  man  sich  doch  freilich 
schwer  des  Eindrucks  erwehren  können,  dass  die  Energie  des 
Schillerschen  Denkens  von  der  Ausbildung,  Anwendung  und  Er- 
gänzung der  Kantischen  Prinzipien  leise  zu  ihrer  Umbildung  hin- 
drängt, ohne  diese  selbst  noch  zu  vollziehen.  Denn  von  dieser 
Art  der  Stellungnahme  zur  Kantischen  Ideenlehre  war  der  Schritt 
nicht  weit  zu  Schelhngs  „transscendentalem  Idealismus",  von  dem 
sich  dann  die  Aussicht  auf  die  „Philosophie  der  Kunst"  und  die 
Hegeische  Ästhetik  eröffnet.  Schiller  selbst  hat  diesen  Schritt 
nicht  gethan.  Denn  er  verfolgte  diesen  Weg  nicht  weiter.  Ihm 
genügte  dieser  sein  Beitrag  zur  Ausführung  des  Gedankens,  den 
ja  im  Grunde  genommen  auch  schon  die  Kritik  der  Urteilskraft 
ausgesprochen  hatte:    dass    der   Stoff  der  Naturerscheinungen  und 


406  W.  Windelband, 

das  Forniprinzip  der  Vernunft  in  letzter  Instanz  auf  einander  hin- 
weisen und  zweckvoll  auf  einander  abgestimmt  sind.  Die  Durch- 
führung überliess  er  den  Systematikern;  er  selbst  wendete  sich 
nun  ganz  der  Aufgabe  zu,  die  ihm  vor  allem  am  Herzen  lag:  mit 
den  Kantischen  Begriffen  die  Stellung  der  Kunst  im  Zusammen- 
hange der  menschlichen  Lebensentwickelung  zu  begreifen.  Eben 
damit  aber  kehrte  Schillers  transsceudentaler  Idealismus  von 
jenem  Ausblick  auf  das  Metaphysische  zu  der  wesentlich  anthro- 
pologischen Auffassung  zurück. 

Denn  wenn  das  Schillersche  Hauptproblem,  dessen  Lösung  für 
den  Dichter  sachlich  seit  den  „Künstlern"  feststand  und  stehen 
geblieben  ist,  jetzt  unter  die  Gesichtspunkte  des  transscendentalen 
Idealismus  gerückt  wurde,  so  war  das  entscheidende  Moment  die 
Auffassung  des  ästhetischen  Lebens  als  der  spezifischen  Leistung 
des  Menschen.  Nur  in  seiner  sinnlich-übersinnlichen  Doppelnatur 
sollten  die  Bedingungen  für  diese  Funktion  gegeben,  eben  deshalb 
aber  auch  in  dieser  Funktion  selbst  die  vollständigste  Bestätigung 
seines  Wesens  enthalten  sein.  Diese  Voraussetzung  vom  Menschen 
als  dem  Mittelgliede  zweier  Welten  hatte  Schiller  dereinst  den 
herrschenden  Vorstellungen  entnehmen  können:  aber  sie  war  auch 
in  die  Kantische  Weltanschauung  übergegangen,  und  sie  bildete 
eines  der  Gruudmotive  der  Kritik  der  Urteilskraft.  Natur  und 
Freiheit  —  so  hiess  es  hier  — ,  die  sonst  geschiedenen  Reiche 
der  theoretischen  und  der  praktischen  Vernunft,  finden  in  dem 
ästhetischen  Bewusstsein  ihre  Vereinigung:  aber  gerade  deshalb 
legte  auch  Kant  darauf  Wert,  dass  das  Schöne  und  das  Erhabene 
nur  Erscheinungen  für  den  beiden  Sphären  zugehörigen  Menschen 
seien.  Ganz  in  diesem  Sinne  behandelt  Schiller  die  ästhetische 
Erziehung  des  Menschen.  In  einer  Transscendentalpsychologie,  die 
an  Fichtesche  Bestimmungen  anklingt,  konstruiert  er  bekanntlich 
den  Spieltrieb  als  die  Ausgleichung  des  Gegensatzes  der  beiden 
Triebrichtungeu  im  Menschen.  Diese  Konstruktion  hat  zwar  ihr 
Vorbild  in  dem  Spiel  der  Vorstellungsvermögen  oder  Erkenutnis- 
kräfte,  das  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  die  transscen dentalpsy- 
chologische Grundvoraussetzung  bildete:  aber  sehr  viel  energischer 
als  Kant  hob  Schiller  hier  hervor,  dass  das  ästhetische  Leben  dem 
Menschen  wesentlich  und  einzig  angehöre.  Weder  unter  ihm  in 
der  Natur  noch  über  ihm  in  der  Geisterwelt  giebt  es  Schönheit: 
in  ihm  allein  als  dem  sinnlich-übersinnlichen  Doppelwesen  ist  sie 
möglich  und  als  Ausprägung  dieses  seines  spezifischen  Wesens  not- 


Schillers  traiisscendentaler  Idealismus.  407 

wendig.  Während  die  theoretisclie  Vernunft  über  ein  Reich  der 
Natur  g-ebietet,  dem  das  empirische  Wesen  des  Menschen  nur  als 
ein  Teil  neben  andern  eingeordnet  ist,  während  die  praktische 
Vernunft  ihr  Freiheitsgesetz  für  ,.alle  vernünftigen  Wesen"  über- 
haupt errichtet,  zu  denen  der  Mensch  nur  als  eines  der  Glieder 
einer  übersinnlichen  Weltordnung  gehört,  hat  es  die  ästhetische 
Vernunft  einzig  und  allein  mit  dem  Menschen  als  diesem  gegebenen 
Doppelweseu  zu  thun.  Hier  ist  demnach  die  kritische  Untersuchung 
wirklich  auf  das  Verständnis  der  Organisation  der  menschlichen 
Vernunft  gerichtet,  und  die  Auffassung  der  Kantischen  Lehre, 
welche  das  ganze  Geschäft  der  Transsceudentalphilosophie  unter 
diese  Aufgabe  stellt,  findet  in  dem  transscendentalpsychologischen 
System  der  Schillerschen  Ästhetik  ihr  bedeutsamstes  Vorbild,  das 
z.  B.  gerade  bei  Alb.  Lange  auch  historisch  als  solches  gewirkt 
haben  mag.  Um  so  begreiflicher  aber  ist  es,  dass  Schiller  in 
diesen  „Briefen"  mit  jenem  „objektiven"  Begriffe  der  Schönheit 
als  Freiheit  in  der  Erscheinung,  zu  dem  er  in  den  Kalliasbriefen 
vorgedrungen  war,  direkt  nichts  anfangen  konnte. 

Aus  der  Lehre  vom  Spieltrieb,  die  Schiller  in  dieser  Weise 
entwickelte,  ergab  sich  notwendig  das  doppelte  Verhältnis,  wonach 
der  ästhetische  Zustand  einerseits  als  die  unumgängliche  Über- 
leitungsstufe aus  der  sinnlichen  in  die  intellektuell-moralische  Be- 
stimmtheit des  Menschen,  andererseits  als  die  vollkommenste  und 
höchste  Ausprägung  seines  ganzen,  nur  ihm  eigenen  Wesens  gelten 
musste.  Beide  Seiten  der  Sache  sind  in  ihr  selbst  gleichmässig 
begründet  und  gehören  deshalb  für  Schiller,  wie  schon  in  den 
„Künstlern",  notwendig  zusammen,  ohne  mit  einander  zu  streiten: 
sie  können  nicht  auf  verschiedene  Entwickelungsstufen  des  Schüler- 
scheu Denkens  verteilt  werden.  Vielmehr  ist  eigentlich  erst  hier 
dem  Dichter  die  begriffliche  Lösung  des  Problems  gelungen,  das 
ihn  und  Körner  in  ihrem  Briefwechsel  als  das  wichtigste  beschäf- 
tigt: unter  einem  höheren  Prinzip  das  Verhältnis  des  ästhetischen 
und  des  moralischen  Lebens  zu  einander  zu  bestimmen.  Es  ist 
das  intimste  Lebensinteresse  Schillers,  das  hier  seine  Befriedigung 
findet :  die  Beziehung  seines  persönhchen  Berufs  auf  die  allgemeine 
sittliche  Bestimmung  des  Menschen.  Wir  verstehen,  wie  nach  dieser 
innersten  Beruhigung  der  lang  zurückgehaltene  Quell  seiner  dich- 
terischen Schöpferkraft  sich  in  mächtigem,  hinreissendem  Strome 
ergossen  hat. 


40Ö  W.  Windelband, 

Was    aber   dem    kritischen  Denker  Schiller   hier  vorschwebt, 
ist,    wie   wir   heute  sagen  würden,    nicht  mehr  und  nicht  weniger 
als    die  Frage    nach   der  lebendigen  Beziehung  der  Vernunftwerte 
zu    einander:    Wir   wissen,    wie  Kant    ursprünglich    darauf  ausge- 
gangen   war,    sie   in  reinlicher  Scheidung  aus  einander  zu  halten: 
aber  die  Kritik   der  Urteilskraft,    sein  höchstes  Werk,    hatte,    wie 
sie    das  Verhältnis    der  teleologischen  Betrachtung 'zur  Erkenntnis 
der  Naturgesetzmässigkeit    in    mustergiltiger  Weise  bestimmte,    so 
auch  die  Beziehungen  des  ästhetischen  Verhaltens  im  Schönen  wie 
im  Erhabenen    zu    der    sittlichen  Natur  des  Menschen  herausgear- 
beitet.    Fern    von    aller    engen   und  ängstlichen  Unterstellung  der 
Kunst  unter  moralisierende  Zwecke,  war  hier  die  bedeutsame  Ver- 
bindung   des    ästhetischen  Lebens    mit    den    höchsten  Wertbestim- 
mungeu   der  Menschheit   vollauf  begriffen  worden.     Freilich  hatte 
Kaut  in  der  kritischen  Reinlichkeit  seiner  Unterscheidungen  gerade 
diese  Beziehungen  aus   dem  Umkreise  der  „reinen*'  Schönheit  ver- 
wiesen   und    sie    bei    der    „angehängten"    untergebracht,    zu    der 
schliesslich  doch  auch  —  wie  es  Schiller  selbst  gezeigt  hat  —  das 
Erhabene    zu    rechnen  ist.     Schillers  Begriffsbestimmungen  hatten 
das    „bedeutungslose"   Schöne   von    vornherein    aus    der  Welt    ge- 
schafft:  die  „Freiheit  in  der  Erscheinung",   die  er  auch  als  „Ver- 
nuiiftähnlichkeit"  bezeichnete,    Hess  die  Selbstbestimmung  aus  jeg- 
licher Gestalt  des  Schönen   uns  „zurückstrahlen".     Hier  sieht  man 
vielleicht  am  einfachsten,  wie  alle  die  heutigen  Theorien  der  „Ein- 
fühlung"   nur    die    mühseligen  Versuche  sind,    mit   den  Mittelchen 
der    empirischen  Psychologie    die    Kantisch-Schillersche    Idee   dem 
alltäglichen  Bewusstseiu  mundgerecht  zu  machen. 

In  der  That  hatte  Schiller  in  der  Idee  der  Selbstbestimmung 
das  höhere  Prinzip  gefunden,  dem  sich  der  moralische  und  der 
ästhetische  Wert  gleichmässig  unterordneten.  Dass  auch  der  lo- 
gische Wert,  die  Wahrheit,  in  dieselbe  Ordnung  gehört,  berührte 
ei-  nur  gelegentlich:  aus  der  Gesamtheit  seiner  Interessen  ist  es 
zu  verstehen,  dass  er  das  Hauptgewicht  auf  die  Koordination  des 
moralischen  und  des  ästhetischen  Wertes  legte.  Diese  Koordination 
aber  wurde  selbstverständlich  zu  einer  Wechselwirkung:  wie  das 
Schöne  sich  in  der  Bedeutsamkeit  vollendet,  mit  der  die  sittliche 
Bestimmung  des  Menschen  als  frei  gestaltete  Form  in  die  sinnliche 
Erscheinung  tritt,  so  kann  zwar  die  Ei'habeuheit  der  Pflichterfül- 
lung   in    ihrem   Triumphe    über    die    sinnliche    Neigung    moralisch 


Scliillers  transscendentaler  Idealismus.  409 

nicht  überboten  werden,  aber  es  giebt  ein  „ästhetisches  Übertreffen 
der  Pflicht"  in  der  edlen  Gesinnung. 

Diese  Theorie  der  „schönen  Seele"  steht  nun  wieder  an  sich, 
wie  es  Schiller  selbst  sehr  richtig  hervorgehoben  hat,  in  keinem 
Widerspruch  mit  der  Kantischen  Ethik;  aber  sie  enthält  eine 
anders  gerichtete  Anwendung  ihrer  Prinzipien  und  tritt  deshalb  in 
Gegensatz  zu  derjenigen,  die  Kant  seinem  eigenen  Wesen  gemäss 
ausgeführt  hatte.  Das  Verhältnis  der  beiden  im  Menschen  ver- 
knüpften Welten,  der  sinnlichen  und  der  übersinnlichen,  zeigt  bei 
Kant  wie  bei  Piaton  ein  doppeltes  Gesicht:  es  besteht  zwischen 
ihnen  einerseits  der  notwendige  Gegensatz,  ohne  den  die  Norm 
und  der  Imperativ  gegenüber  der  gegebenen  Wirklichkeit  ihren 
Sinn  verlieren  würden,  und  andererseits  die  Zusammengehörigkeit, 
vermöge  deren  allein  auf  eine,  wie  auch  immer  beschränkte  Ver- 
wirklichuug  der  Norm  im  Wirklichen  zu  rechnen  ist.  Die  negative 
Seite  dieses  Verhältnisses  hat  Kant,  zumal  iu  der  eigentlichen 
Moral,  mit  der  Rigorosität  betont,  die  Schillers  Widerspruch  und 
Spott  hervorrief;  aber  auch  Kaut  hat  in  seinen  grossen  Gesamt- 
ansichten des  Lebens  die  schliessliche  Gestaltung  der  Sinnenwelt 
zur  Verwirklichung  der  Freiheit  deutlich  gezeichnet.  Scliiller  aber 
hat  sich  zu  der  Notwendigkeit  des  Gegensatzes  bedingungslos  für 
alle  Fälle  bekannt,  in  denen  das  höhere  Ziel  seiner  ästhetischen 
Ausgleichung  noch  nicht  erreicht  ist. 

Auch  diese  bekannteste  Differenz  zwischen  dem  Dichter  und 
dem  Philosophen  ist  also  an  sich  nur  von  gradueller  und  sekun- 
därer Bedeutung,  indem  sie  sich  erst  auf  dem  Boden  einer  prin- 
zipiellen (jemeiusarakeit  entwickelt.  Aber  iu  den  Argumenten,  mit 
denen  Schiller  dabei  seine  Stellung  verteidigt,  kommen  Motive  zum 
Wort,  in  denen  sich  wiederum  leise  Antriebe  tieferer  Abspaltung 
ankündigen.  Es  handelt  sich  um  deu  Wert  der  Legalität.  Schiller 
macht  darauf  aufmerksam,  dass  eine  dem  Sitteugesetz  konforme 
Handlung,  die  nur  als  eine  schöne  Wirkung  einer  glücklichen  Natur 
anzusehen  ist,  zwar  vor  dem  Richterstuhl  der  kritischen  Moral 
sittlich  indifferent  bleibt,  darum  aber  doch  ihren  positiven  Wert 
nicht  etwa  im  gemein  utilistischem.  Sinne,  sondern  unter  dem  Ge- 
sichtspunkte behält,  dass  damit  die  Verwirklichung  des  Sittenge- 
botes in  dem  Zusammenhange  des  gesellschaftlichen  Lebens  er- 
reicht ist.  Diese  objektive  Realisierung  des  Sittengesetzes  gilt 
also   bereits    als    ein    eigener  Wert    neben  der  subjektiven  Grund- 

KantBtudien  X,  27 


4lO  W.  Windelband, 

bestimiimng-,  dass  nichts  gut  sei  als  der  gute  Wille.  Indem 
Schiller  hier  die  erzieherische  Bedeutung  der  ästhetischen  Ver- 
edlung der  Empfindungen  im  Vernunftinteresse  der  Gesamtheit 
hervorhebt,  bereitet  er  die  Auf fassuugs weise  vor,  die  in  Hegels 
Unterscheidung  der  subjektiven  Moralität  von  der  objektiven  „Sitt- 
lichkeit" ihr  letztes  Wort  gesprochen  hat. 

Damit  hängt  noch  ein  Anderes  zusammen.  Das  Ideal  der 
schönen  Seele  ist  schliesslich  doch  der  erste  Protest  gegen  die 
Maximenhaftigkeit  der  Kantischen  Moral,  für  die  alles  Einzelne 
seinen  ethischen  Wert  nur  durch  die  Übereinstimmung  mit  einem 
allgemeinen  Gesetze  erhalten  sollte.  Je  mehr  die  ethische  Billigung 
mit  der  ästhetischen  verschmilzt,  um  so  mehr  nimmt  sie  —  nach 
den  Prinzipien  der  Kritik  der  Urteilskraft  —  den  Charakter  des 
Einzelurteils  an,  dessen  Wertungsgrund  nicht  mehr  in  einem  Be- 
griffe zu  suchen  ist.  Und  so  wächst  hier  wieder  die  Urmacht  der 
Persönhchkeit  heran,  deren  ethischen  Wert  Kant  zwar  im  Allge- 
meinen auf  die  höchste  Höhe  gehoben,  deren  individueller  Ge- 
staltung er  aber  in  seiner  Lehre  nicht  hatte  gerecht  werden 
können. 

Alle  diese  grossen  Fragen  über  die  Verhältnisse  der  Kultur- 
werte zu  einander  kommen  nun  natürlich  auch  bei  Schiller  in  den 
lebendigsten  Fluss,  wenn  sie  unter  die  geschichtsphilosophische 
Betrachtung  gestellt  werden,  deren  eigenste  Aufgabe  ja  gerade  die 
Beantwortung  dieser  Fragen  ist.  Hier  kommen  deshalb,  wenn 
man  Schillers  Verhältnis  zu  Kaut  ins  Auge  fasst,  alle  die  Diffe- 
i-enzen  zu  Tage,  die  bisher  im  Einzelnen  betrachtet  wurden.  Wäh- 
rend der  Königsberger  Philosoph  den  Sinn  der  Geschichte  in  der 
Herbeiführung  der  besten  Staatsverfassung  sieht,  hat  der  Dichter 
das  ästhetische  Leben  in  den  Mittelpunkt  der  historischen  Be- 
wegung gestellt.  Dem  Historiker  Schiller,  dem  die  Universalge- 
schichte schliesslich  doch  wesentlich  Kulturgeschichte  war,  ist  die 
Gestaltung  eines  Reichs  vollkommener  Bildung,  der  „ästhetische 
Staat",  das  Beste,  was  von  der  Erziehung  der  Menschheit  zu 
hoffen  ist. 

Allein  so  weit  hier  die  sachUchen  Bestimmungen  bei  Kant 
und  bei  Schiller  aus  einander  gehen  mögen,  so  tief  bleibt  die  Ver- 
wandtschaft im  eigentlichen  philosophischen  Prinzip.  Das  kommt 
am  besten  bei  den  Fragen  nach  dem  Anfang  der  Geschichte,  nach 


Schillers  transscendentaler  Idealismus.  411 

dem  Verhältnis  der  historischen  Beweg-img  zu  ihren  natürlichen 
Beding-ungen  heraus.  Für  Schiller  wie  für  Kant  ist  die  Geschichte 
keine  Notwendigkeit  natürlicher  Entwickeluug:  sie  ist  das  Werk 
der  menschlichen  Gattung,  ihre  That  der  Freiheit,  ihre  Selbstbe- 
stimmung zur  Erfüllung  ihrer  Aufgabe.  Das  ist  die  letzte  und 
höchste  Gesinnungsgemeiuschaft  beider  Denker  im  transscendentalen 
Idealismus. 


27* 


Xant  und  Schiller. 


J)er  J)enker  stieg  in  dunkle  liefen, 
Er  Hess  der  €rde  grüne  Pracht, 
getreu  den  geistern,  die  ihn  riefen, 
Stieg  er  hinunter  in  die  Jfacht. 
€s  schwand  das  Xeben,  das  vertraute, 
€s  blich  des  Fimmels  blauer  Schild, 
J)och  seiner  ^eldenseele  graute 
jYicht  vor  der  furcht  J/tedusenbild. 


J)ort  wo  die  letzten  Quellen  rauschen, 
J)raus  des  €rkennens  Strom  sich  drang, 
J)ort  stand  er  still  in  ernstem  Xauschen, 
€ntzückt  von  seinem  Wogengang. 
Und  wie  sein  Strahlenaug  ihm  brannte 
Statt  einer  JImpel  mattem  ^lick. 
So  glänzt  es  ihm,  da  er  sich  wandte 
Jn  der  €rscheinung  Sand  zurück. 


Und  wieder  wölbte  sich  der  ^ogen 
Des  Fimmels  über  seinem  J(aupt, 
Und  leuchtend  kamen  hergezogen 
J)ie  Sterne,  denen  er  geglaubt. 
Dann  kündet  er  zur  rechten  Stunde 
Was  er  geschaut  am  heiigen  Ort: 
lief  sinnig  von  des  Weisen  jYtunde 
pel  das  gedankenschwere  Wort. 


Und  als  ihm  will  den  Scheitel  beugen 
Die  3eit,  die  jede  ){ra}t  verheert, 
Do  sendet  3eus  ihm  einen  beugen, 
Der  seines  Werkes  Sinn  bewährt: 
Den  JIdler,  der  in  starken  fangen 
Des  Qottes  Donnerkeile  hält. 
Von  des  Olympos  sei' gen  Rängen 
Den  Boten  an  die  dunkle  Welt. 


jYtit  Schwingen,  stäten  und  behenden. 
Schwebt  über  ihm  der  stolze  Jlar, 
Jim  schroffen  Sturz  von  felsenwänden 
Sein  Schatten  wandelt  wunderbar. 


Jhm  bangt  nicht  vor  den  dunklen  Schlüjten, 

Jhm  schwindelt  nicht  in  Sonnenhöhn, 

J)ie  Wolken  sieht  er  über  (prüften 

T)er  Ihäler  wogen  und  verwehn;  ~ 

J)er  Schwere  freiester  ßesieger, 

J)es  j7thers  königlicher  Qeisf, 

J)er  starke,  nie  erlahmte  f lieger, 

J)er  jauchzend  über'm  JJbgrund  kreist. 


Tim  Klein. 


Mitteilung:  t)ie  Generalversammlung  der  „Kantgesellschaft",  welche 
am  2?.  April  stattgefunden  hat,  hat  beschlossen,  den  Preis  für  die  Lösung 
der  Preisaufgabe:  ,, Kants  Begriff  der  Erkenntnis,  verglichen  mit  dem  des 
Aristoteles"  von  500  M.  auf  600  M.  zu  erhöhen  und  einen  II.  Preis  von 
400  M.  auszusetzen. 


Hofbuchdiuckerel  C.  A.  Eaemmerer  &  Co  ,  Halle  a.  S. 


Karl  Rosenkranz. 


Kaiitstudieii  X. 


Immanuel  Kant, 
seine  geographischen  und  anthropologischen  Arbeiten. 

Von  G.  Gerland. 

[Fortsetzung  aus  X.  1/2.] 

Fünfte  Vorlesung-. 
Naiurgeschichte  des  Himmels. 

Kant's  Naturgeschichte  des  Himmels  ist  die  berühmteste 
seiner  naturgeschichtlichen  Arbeiten.  Die  kleine  Schrift  ist  aber 
nicht  bloss  naturwissenschaftlich,  sie  ist  in  jeder  Hinsicht  so 
merkwürdig,  so  lehrreich  für  die  ganze  Eutwickelung  und  Art 
Kant's,  dass  wir  sie  besonders  eingehend  behandeln  müssen. 

Nun  würde  ich  gern  zu  Ihnen  sagen:  „Sie  alle  kennen  das 
Werk,  sei  es  aus  eigener  Lektüre,  sei  es  aus  eingehender  littera- 
rischer Darlegung,  so  dass  wir  gleich  zu  seiner  Kritik  übergehen 
dürfen.  Allein  das  kleine  Büchlein  ist,  und  eben  wegen  seiner 
Berühmtheit,  mehr  in  Eiuzelnheiten,  als  im  Ganzen,  in  seinem 
ganzen  Wesen  und  Inhalt  betrachtet  worden.  Und  doch  ist  diese 
Gesamtbetrachtung  zu  richtiger  Würdigung  des  Buches  und  seiner 
litteraturgeschichtlichen  Schicksale  durchaus  notwendig. 

Der  Titel  lautet:  „Allgemeine  Naturgeschichte  und  Theorie  des 
Himmels  oder  Versuch  von  der  Verfassung  und  dem  mechanischen  Ur- 
sprünge des  ganzen  Weltgebäudes  nach  Newtonischen  Grundsätzen 
abgehandelt",  Königsberg  und  Leipzig,  bei  Joh.  Friedr.  Petersen  1755. 
Gleich  hier  ist  zu  betonen,  dass  das  Werk  anonym  erschien,  dass 
auch  die  Widmung  an  Friedrich  den  Grossen  nur  unterschrieben 
ist  „Ew.  König.  Majestät  allerunterthänigster  Knecht,  der  Ver- 
fasser", dass  Kant's  Name  im  ganzen  Buch  nicht  vorkommt.  Das 
Werk  hatte  dann  ferner,  wie  Borowski^)  erzählt,  „das  besondere 
Schicksal,    weder    vor   die  Augen   des  Pubhkums  noch  des  Königs 


1)  Immanuel  Kant  von  Alfons  Hoffmann  (Teil  II,  Abdruck  der  „Dar- 
stellung" etc.  von  Borowski)  S.  170. 

Kantatudiea  X.  28 


418  G.  Gerland, 

Friedrich  II.  zu  kommen",  weil^)  „der  Verleger  des  Werkes  wäh- 
rend des  Abdrucks  desselben  fallierte;  es  kam  nicht  an  den  König, 
es  kam  —  nicht  einmal  auf  die  Messe,  weil  das  ganze  Waaren- 
lager  des  Verlegers  Petersen  gerichtlich  versiegelt  war."  Zwar 
wurde  das  Werkchen  bald  wieder  frei.  Aber  obwohl  es  von  den 
„Hamburger  freien  Urteilen  und  Nachrichten"  schon  1755,  nicht 
erst  1758,  wie  Borowski'^)  angiebt  —  „allen  denen,  welche  Ge- 
danken von  der  Art  heben  und  beurteilen  können"  —  empfohlen 
war;  obwohl  es  1756  in  den  Königsberger  Nachrichten  als  ein 
Werk  Kant's  (also  nicht  mehr  anonym)  zum  Kauf  ausgeboten 
wurde,  3)  so  blieb  das  Buch  doch  so  unbekannt,  dass  Lambert,  der 
1761  seine  „kosmologischen  Briefe"  herausgab,  es  im  November 
1765  noch  nicht  gesehen  hatte.*)  Dr.  G.  H.  Schöne  sagt  freilich, 
dass  Diderot  „Encyclopedie,  lettre  K",  Kant  erwähne.  Da  nun 
der  neunte  Band  der  Encyklopädie,  den  Buchstaben  K  enthaltend, 
(In  —  Mem.)  in  1.  Auflage  zu  Neufchatel  1765,  der  ganz  ent- 
sprechende neunte  Band  der  folgenden  Ausgabe  zu  Livorno  1778 
erschienen  ist,  so  wäre  diese  Erwähnung  von  grossem  Inter- 
esse für  die  Geschichte  des  Buches.  Allein  Schöne's  Angabe 
beruht  auf  einem  Irrtum:  einen  Artikel  „Kant"  —  und  als 
solchen  müsste  man  doch  Diderot's  Erwähnung  denken  — 
bringt  keine  der  Ausgaben  (nur  eine  Ortschaft  Kant  wird  er- 
wähnt) und  ebensowenig  der  dritte  den  Buchstaben  K  enthal- 
tende Supplementbaud,  der  zu  Paris  1777  herauskam.  Im  Jahre 
1777  wird  die  „Naturgeschichte  des  Himmels"  in  dem  damals  in 
Deutschland  verbreitetsten  populär-astronomischen  Werk,  in  J.  G. 
Bode's  „Anleitung  zur  Kenntnis  des  gestirnten  Himmels",  er- 
wähnt, s)  zuerst  in  der  S.Auflage  des  Buches,  nach  Schöne;^)  aber 
noch  in  der  5.  Auflage,  1788  (S.  637),  wird  Kant  nur  im  Anhang 
an  Lambert  genannt  und  zwar  mit  derselben  allgemeinen  wohl- 
wollenden Empfehlung,  wie  sie  die  Hamburger  freien  Urteile  1755 
gebracht  hatten.  Bode  aber  war  ein  Hamburger.  Erst  in  der 
7.  Auflage  der  „Anleitung",  1801,  steht  Kant  vor  dem  inzwischen 
verstorbenen    Lambert;    doch    bleibt    es    auch  hier  bei  ganz  allge- 


1)  Ebendas.  S.  269. 

2)  Bei  Hoffmann  S.  170. 

3)  J.  Rahts,  Kant,  Akad.-Ansg.     1,  545. 

4)  Ebendas.  Bd.  10,  Brief  31,  S,  48  f. 
^)  Ostpreuss.  Monatsschr.  33,  257. 

6)  Ebendas. 


Immanuel  Kant,  seine  geograpli.  und  antliropoloff.  Arbeiten.       419 

meinen  Lobeserhebiing-en :  wirklich  benutzt,  eigenen  Studien  zu 
Grunde  gelegt  hat  Bode  die  Naturgeschichte  des  Himmels  nirgends. 
Dagegen  schreibt  Herder,  der  1762-64  Kaufs  Zuhörer  war,  am 
30.  Oktober  1772  an  Lavater:  i)  „von  Kaut,  der  mein  Freund  und 
Lehrer  ist,  dessen  alle  Lieblingsmeinuugen  ich  nicht  bloss  so  oft 
gehört  und  mich  mit  ihm  besprochen,  sondern  der  mir  auch  seine 
Träume  bogenweise  überscliickt  hat  etc.,  scheinen  Sie  sein  erstes, 
recht  Jünglingsbuch  voll  Ihrer"  —  Lavaters !  —  „Ideen  nicht  zu 
kennen.  Es  ist  ohne  Namen  und  heisst:  „Allgemeine  Theorie  des 
Himmels",  wo  Sie  sogar  Ihre  Mittelsonne  finden,  die  auch  ein 
Engländer  ordentlich  astronomisch  behauptet  hat."'  Doch  bedauert 
auch  Herder  im  1.  Kapitel  der  „Ideen"  1784,  dass  die  Schrift 
„unbekannter  geblieben  ist,  als  ihr  Inhalt  verdiente". 

Kant  hat  einen  Teil  der  Naturgeschichte  des  Himmels  später 
neu  überarbeitet  und  an  einer  freilich  sehr  merkwürdigen  Stelle 
seine  Werke  benutzt:  in  der  1763  veröffentlichten  Abhandlung 
„Der  einzig  mögliche  Beweisgrund  zu  einer  Demonstration  des 
Daseins  Gottes",  in  deren  Vorrede  er  in  einer  Fussuote  auf  Lara- 
bert's  Übereinstimmungen  mit  seinem  Werke  hinwies  und  Lambert 
dadurch  auf  letzteres  aufmerksam  machte.  Die  siebente  Betracht- 
ung des  zweiten  Teils  der  Abhandlung  aus  1763  umfasst  die  Kos- 
mogonie  und  in  Bezug  auf  diese  sagt  Kant  in  der  Vorrede:-)  „es 
könnte  scheinen,  eine  Verletzung  der  Einheit,  die  man  bei  der 
Betrachtung  seines  Gegenstandes  vor  Augen  haben  muss,  zu  sein, 
dass  hin  und  wieder  ziemlich  ausführliche  physische  Erläuterungen 
vorkommen;  allein  da  meine  Absicht  in  diesen  Fällen  vornehmlich 
auf  die  Methode,  vermittelst  der  Naturwissenschaft  zur  Erkenntnis 
Gottes  hinaufzusteigen,  gerichtet  ist,  so  habe  ich  diesen  Zweck 
ohne  dergleichen  Beispiele  nicht  wohl  erreichen  können.  Die 
siebente  Betrachtung  der  zweiten  Abteilung  bedarf  desfalls  etwas 
mehr  Nachsicht,  vornehmlich  da  ihr  Inhalt  aus  einem  Buche, 
welches  ich  ehedem  ohne  Nennung  meines  Namens  herausgab,  ge- 
zogen worden,  wo  hiervon  ausführlicher,  obzwar  in  Verknüpfung 
mit  verschiedenen  etwas  gewagten  Hypothesen,  gehandelt  wird. 
Die  Verwandtschaft  indessen,  die  zum  mindesten  die  erlaubte  Frei- 
heit, sich  an  solche  Erklärungen  zu  wagen,  mit  meiner  Haupt- 
absicht hat,  imgleichen  der  Wunsch,    einiges   an  dieser  Hypothese 

1)  Aus  Herders  Naclilass,  herausgeg.  von  H.  Düntzer  und  F.  G. 
V.  Herder,  2.  Bd.,  S.  24  f. 

2)  Hartenstein  2,  112  f.  —  Akad.-Ausg.  2,  68  f. 

28* 


420  Gt.  Gerland, 

von  Kennern  beurteilt  zu  sehen,  haben  veranlasst,  diese  Betrach- 
tung einzumischen,  die  vielleicht  zu  kurz  ist,  um  alle  Gründe  der- 
selben zu  verstehen,  oder  auch  zu  weitläufig-  für  diejenigen,  die 
hier  nichts  wie  Metaphysik  anzutreffen  vermuten  und  von  denen 
sie  füglich  kann  überschlagen  werden."  In  jener  Fussnote  sagt 
auch  er,  dass  die  Naturgeschichte  des  Himmels  wenig  bekannt 
geworden,  auch  nicht  zur  Kenntnis  Lambert's  gekommen  sei,  dessen 
Theorie  und  Gedanken  so  viel  Übereinstimmung  mit  seiner,  Kant's, 
„Theorie  des  Himmels"  zeige.  —  Eine  Neubearbeitung  des  ganzen 
Werkes  unternahm  er  nicht;  für  ihn  war,  was  er  mit  dem  Buch 
gewollt  hatte,  erreicht  und  damit  die  Sache  abgethan.  Seine 
Thätigkeit  gehörte  nun  einem  anderen  Feld  zu.  Doch  behielt  er  für 
die  „Naturgeschichte  des  Himmels"  immer  lebhaftes  Interesse. 
So  gestattete  er  dem  Magister  J.  Fr.  Gensichen  1791,  einen  Aus- 
zug aus  derselben  bis  zum  Ende  des  5.  Hauptstückes  des  2.  Teiles 
zu  machen,  der  als  Anhang  zu  Sommer's  Übersetzung  von  Will. 
Herschel's  Abhandlungen  über  den  Bau  des  Himmels  erschien. 
Kant  fügt  dem  Auszug  vier  Anmerkungen  bei,  welche  zunächst 
seine  Priorität  Lambert  gegenüber  feststellen  und  ferner  einige 
Bestätigungen  seiner  Theorie  hervorheben,  welche  sie  durch  die 
späteren  Forschungen  Herschel's  u.  A.  erhalten  hatten.  Diese  An- 
merkungen sowie  einige  von  Kant  herrührende  Textänderungen  giebt 
J.  Rahts  in  der  Akademie-Ausgabe,  i)  Eine  Reihe  weiterer  Aus- 
gaben der  Naturgeschichte  des  Himmels  sind  nur  Textabdrücke, 
die  nicht  von  Kant  herrühren. 

Das  Buch  ist  nicht  durch  sich  selbst,  sondern  erst  durch  den 
ausgebreiteten  Ruhm  seines  Verfassers  bekannter,  erst  durch  den 
sachkundigen  Rückblick  des  19.  Jahrhunderts  berühmt  geworden, 
fast  so  berühmt,  wie  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  selbst.  Es 
ist  ein  merkwürdiges  Buch;  aber  ein  epochemachendes  oder  gar 
grundlegendes  Werk  ist  es  weder  im  18.  noch  im  19.  Jahrundert 
geworden.     Die  Behauptung   Kuuo   Fischer's    und    Anderer,    Kant  , 

sei    durch     seine    Allgemeine    Naturgeschichte    und    Theorie    des       ■ 
Himmels    „der    Begründer    der   modernen  Kosmogonie"    geworden,         | 
ist    eine    unhistorische    und    falsche  Übertreibung.     Sie   würde  be- 
rechtigt    sein,     wenn     Kant's     Büchlein     das     erste     in     seiner 
Art    gewesen     wäre,     wenn    aus    ihm    in    direktem    historischem 
Zusammenhang    sich    unsere    heutige    Kosmogonie    wenigstens    in 


1)  Vergl.  das.  1,  546  und  v.  Oettingen's  Ausgabe  S,  157. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph,  und  anthropolog.  Arbeiten.       421 

ihren  Gruiidzügen  entwickelt  hätte;  und  nichts  ist  weniger  der 
Fall,  trotz  mancher  Zusammenklänge  der  Kantischeu  mit  unseren 
heutigen  Auffassungen.  Die  Begründer  dieser  letzteren  sind  New- 
ton und  Laplace ;  ihrem  ganzen  Wesen  nach  konnte  Kant's  Natur- 
geschichte des  Himmels  eine  solche  Bedeutung  nicht  erlangen. 
Das  muss  bewiesen  werden. 

Zunächst  ist  folgendes  hervorzuheben.  In  der  Akademie- 
Ausgabe  der  Naturgeschichte  des  Himmels  sind  die  von  Kant  her- 
rührenden Sperrungen  sehr  mit  Recht  wiedergegeben,  Kant's 
Schreibweise  aber,  sein  Styl,  seine  Interpunktion  insofern  ver- 
ändert, als  sie  öfters  in  eine  korrektere  und  modernere  Form 
übergeführt,  manche  Undeutlichkeiten  und  Fehler  verbessert  sind. 
Allein  für  das  Verständuis  der  sachlichen  und  namentlich  der 
litterargeschichtlicheu  Bedeutung  des  Buches  sind  diese  Eigen- 
heiten seiner  äusseren  Form  von  grosser  Wichtigkeit,  ja  geradezu 
unentbehrlich.  Sie  sind  bewahrt  in  der  bei  Wilh.  Engelmann 
1898  erschienenen  Ausgabe  der  Naturgeschichte  und  Theorie  des 
Himmels  von  A.  J.  v.  Öttingen,  i)  welche  streng  die  Originalaus- 
gabe (und  deren  Seitenzahl)  wiedergiebt.  Auch  im  Folgenden  sind 
alle  wörtlich  angeführten  Stellen  der  Originalausgabe  entnommen, 
mit  genauer  Wiedergabe  ihrer  Sprech-  und  Schreibweise. 

Gleich  die  Vorrede  ist  für  unsere  Betrachtung  wichtig.  „Ich 
habe,"  so  beginnt  Kant,  „einen  Vorwurf  gewählet,  welcher  sowohl 
von  Seiten  seiner  inneren  Schwierigkeit,  als  auch  in  Ansehung 
der  Religion  einen  grossen  Teil  der  Leser  gleich  anfänglich  mit 
einem  nachtheiligen  Vorurtheile  einzunehmen  vermögend  ist.  Das 
systematische,  welches  die  grossen  Glieder  der  Schöpfung  in  dem 
ganzen  Umfange  der  Unendlichkeit  verbindet,  zu  entdecken,  die 
Bildung  der  Weltkörper  selber  und  den  Ursprung  ihrer  Bewegungen 
aus  dem  ersten  Zustand  der  Natur  durch  mechanische  Gesetze 
herzuleiten:  solche  Einsichten  scheinen  sehr  weit  die  Kräfte  der 
menschlichen  Vernunft  zu  überschreiten.  Von  der  anderen  Seite 
drohet  die  Religion  mit  einer  feyerlichen  Anklage  über  die  Ver- 
wegenheit,   da    man    der    sich    selbst   überlassenen    Natur    solche 


1)  Oswald's  Klassiker  der  exakten  Wissenschaften  No.  12.  Leipzig, 
Engelmann  1898.  Die  ebenda  unter  dieser  Nummer  1890  erschienene  Aus- 
gabe von  H.  Ebert  legt  die  „vierte  in  Zeitz  1808  erschienene  Auflage" 
zu  Grunde.  Bei  v.  Öttingen  finden  sich  einzelne  unbedeutende  Abweich- 
ungen von  Kant's  Schreibung;  ausserdem  ist  seine  Ausgabe  mit  lateinischen 
Lettern  gedruckt,  Kant's  Originalausgabe  mit  deutschen. 


422  G.  Gerland, 

E'olgen  beyzumesseu  sich  erkühnen  darf,  darin  man  mit  Recht  die 
unmittelbare  Hand  des  höchsten  Wesens  g-ewahr  wird,  und  be- 
sorget in  dem  Vorwitz  solcher  Betrachtungen  eine  Schutzrede  des 
Gottesläugners  anzutreffen."  Doch  geht  er  mit  festen  Schritten 
vorwärts:  „ich  habe,"  sagt  er,  „nicht  eher  den  Anschlag  auf  diese 
Unternehmung  gefasset,  als  bis  ich  mich  in  Ansehung  der  Pflichten 
der  Religion  in  Sicherheit  gesehen  habe."  Und  da  er  seine  „Be- 
mühungen von  aller  Sträflichkeit  frey  weiss",  so  hebt  er  selbst 
die  Einwände  hervor,  die  man  machen  könnte:  die  Entkräftung 
des  Gottesbeweises,  der  sich  auf  die  Schönheit,  die  Vollkommen- 
heit, die  Zweckmässigkeit  des  Weltgebäudes  stützt;  „Epikur  lebt 
mitten  im  Christenthume  wieder  auf  und  eine  uuheilige  Weltweisheit 
tritt  den  Glauben  mit  Füssen,  welcher  ihr  ein  helles  Licht  darreichet, 
sie  zu  erleuchten."  Allein  diesen  Einwand  und  einige  der  da- 
maligen seichten  Beweisgründe  für  denselben  weist  er  zurück: 
denn  „die  nach  ihren  allgemeinsten  Gesetzen  sich  bestimmende 
Materie  bringt  durch  ihr  natürliches  Betragen,  .  .  .,  durch  eine 
blinde  Mechanick  anständige  Folgen  hervor",  die  der  Entwurf 
einer  höchsten  Weisheit  zu  seyn  scheinen.  Und  „wie  wäre  es 
wohl  möglich,  dass  Dinge  von  verschiedenen  Naturen  in  Verbindung 
mit  einander  so  vortreffliche  Übereinstimmungen  und  Schönheiten 
zu  bewircken  trachten  solten,  sogar  zu  Zwecken  solcher  Dinge 
die  sich  gewissermassen  ausser  dem  Umfange  der  todten  Materie 
befinden,  nemlich  zum  Nutzen  der  Menschen  und  Thiere,  wenn  sie 
nicht  einen  gemeinschaftlichen  Ursprung  erkenneten,  nämlich  einen 
unendlichen  Verstand,  in  welchem  aller  Dinge  wesentliche  Be- 
schaffenheiten beziehend  entworfen  worden".  So  kann  er  ruhig 
aus  der  Weltmaterie  „ein  vollkommenes  Chaos  machen";  er  sieht 
„nach  den  ausgemachten  Gesetzen  der  Attraktion  den  Stoff  sich 
bilden  und  durch  die  Zurückstossung  ihre  Bewegung  modifizieren". 
Er  belehrt  sich  „ohne  Beyhülfe  willkührlicher  Erdichtungen",  „dass 
eine  solche  Auswickelung  der  Natur  nicht  etwas  unerhörtes  an  ihr  ist, 
sondern  dass  ihre  wesentliche  Bestrebung  solche  uothwendig  mit  sich 
bringet  und  dass  diese  das  herrlichste  Zeugnis  ihrer  Abhängigkeit  von 
demjenigen  Urwesen  ist,  welches  sogar  die  Quelle  der  Wesen  selber 
und  ihrer  ersten  Wirkungsgesetze  in  sich  hat".  „Es  ist  ein  GOtt 
eben  deswegen,  weil  die  Natur  auch  selbst  im  Chaos  nicht 
anders  als  regelmässig  und  ordentlich  verfahren  kann." 
So  bleiben  also  keine  religiösen  Bedenken;  und  die,  welche 
aus  den  inneren  Schwierigkeiten  seines  Vorwurfes  sich  zu  ergeben 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       423 

scheinen,  räumt  er  mit  dem  bekannten  Satz  hinweg:  „Gebt  mir 
nur  Materie,  ich  will  euch  eine  Welt  daraus  bauen";  hierzu 
genügen  vollständig  die  beiden  Kräfte  der  Anziehung  und  der  Zu- 
rückstossung.  Dagegen  ist  man  nicht  im  Stande  zu  sagen:  „Gebt 
mir  Materie,  ich  will  euch  zeigen,  wie  eine  Raupe 
erzeuget  werden  könne";  denn  die  Entstehung  des  organischen 
Lebens  lässt  sich  aus  mechanischen  Gründen  nicht  kund  thun. 

Im  weiteren  Verlauf  der  Vorrede  giebt  Kant  eine  sehr  aus- 
führliche Inhaltsgabe  des  ersten  Teils  seines  Werkes,  die  nichts 
wesenthches  unberührt  lässt.  „Der  erste  Theil,"  so  sagt  er,  „gehet 
mit  einem  neuen  System  des  Weltgebäudes  im  Grossen  um. 
Herr  Wright  von  Durham,  dessen  Abhandlung  ich  aus  den 
Hamburgischen  freyen  Urteilen  vom  Jahre  1751.  habe  kennen 
lernen,  hat  mir  zuerst  Anlass  gegeben,  die  Fixsterne  nicht  als  ein 
ohne  sichtbare  Ordnung  zerstreutes  Gewimmel,  sondern  als  ein 
System  anzusehen,  welches  mit  einem  plauetischen  die  grösste 
Ähnlichkeit  hat,  so  dass,  gleichwie  in  diesem  die  Planeten  sich 
einer  gemeinschaftlichen  Fläche  sehr  nahe  befinden,  also  auch  die 
Fixsterne  sich  in  ihren  Lagen  auf  eine  gewisse  Fläche,  die  durch 
den  ganzen  Himmel  muss  gezogen  gedacht  werden,  so  nahe  als 
möglich  beziehen  und  durch  ihre  dichteste  Häufung  zu  derselben 
denjenigen  lichten  Streif  darstellen,  welcher  die  Milchstrasse  ge- 
nannt wdrd.  Ich  habe  mich  vergewissert,  dass,  weü  diese  von 
unzähligen  Sonnen  erleuchtete  Zone  sehr  genau  die  Richtung  eines 
grössten  Zirkels  hat,  unsere  Sonne  sich  dieser  grossen  Beziehungs- 
fläche gleichfalls  sehr  nahe  befinden  müsse.  Indem  ich  den  Ur- 
sachen dieser  Bestimmung  nachgegangen  bin,  habe  ich  sehr  wahr- 
scheinlich zu  seyn  befunden:  dass  die  sogenannten  Fixsterne  .  .  . 
w^ohl  eigentlich  langsam  bewegte  Wandelsterne  einer  höheren 
Ordnung  seyn  könten."  Nachdem  zur  Bestätigung  eine  Stelle  aus 
einer  Schrift  Bradley's  i)  „von  der  Bewegung  der  Fixsterne"  an- 
geführt ist,  heisst  es  weiter:  „Ich  kan  die  Grenzen  nicht  genau 
bestimmen,  die  zwischen  dem  System  des  Herrn  Wright  und  dem 
meinigen  anzutreffen  seyn,  und  in  welchen  Stücken  ich  seineu 
Entwurf  bloss  nachgeahmet  oder  weiter  ausgeführt  habe.  Indessen 
bothen  sich  mir  nach  der  Hand  annehmungswürdige  Gründe  dar,  es 
auf  der  einen  Seite  beträchtlich  zu  erw^eitern.  Ich  betrachtete  die 
Art    neblichter  Sterne,    deren  Herr  von  Maupertuis  in  der  Ab- 


1)  Philos.  Transact.  1748,  39—41.    Akad.-Ausg.  I,  S.  547. 


424  G.  Gerland, 

handlang-  von  der  Figur  der  Gestirne  gedenket  und  die  die 
Figur  von  mehr  oder  weniger  offenen  Ellipsen  vorstellen  und 
versicherte  mich  leicht,  dass  sie  nichts  anderes  als  eine  Häufung 
vieler  Fixsterne  seyn  können.  Die  jederzeit  abgemessene  Rundung 
dieser  Figuren  belehrte  mich,  dass  hier  ein  unbegreiflich  zahl- 
reiches Sternenheer,  und  zwar  um  einen  gemeinschafthchen 
Mittelpunkt,  müste  geordnet  seyn  .  .  .,  dass  sie  in  dem  System, 
darin  sie  sich  vereinigt  befinden,  vornemlich  auf  eine  Fläche  be- 
schränkt seyn  müssteu,  weil  sie  nicht  zirkelrunde,  sondern  ellip- 
tische Figuren  abbilden,  und  dass  sie  wegen  ihres  blassen  Lichts 
unbegreiflich  weit  von  uns  abstehen." 

Im  ersten  mit  einem  Citat  aus  Pope  eingeleiteten  Teil 
„Abriss  einer  systematischen  Verfassung  unter  den  Fixsternen, 
imgleichen  von  der  Vielheit  solcher  Fixsternsystemen"  wird 
dies  zunächst  weiter  ausgeführt;  als  Ursache  für  die  Beziehung 
der  Fixsterne  auf  eine  gemeinschaftliche  Fläche  ergiebt  sich  erst- 
lich die  stetige  Anziehung  aller  Sonnen  auf  alle  Sonnen,  durch 
welche  sie  aber  über  kurz  oder  lang  in  einen  Klumpen  zusammen- 
fallen müssteu,  „wofern  diesem  Ruin  nicht  so  wie  bey  den  Kugeln 
unseres  planetischen  Systems  durch  die  den  Mittelpunkt  fliehende 
Kräfte  vorgebeugt  worden"  (S.  6).  „So  haben  (S.  7)  denn  alle 
Sonnen  des  Firmaments  Umlaufsbewegungen,  entweder  um  einen 
allgemeinen  Mittelpunkt  oder  um  viele."  Kant  fährt  fort:  „man 
kann  sich  aber  allhier  der  Analogie  bedienen,  dessen,  was  bey 
den  Kreisläufen  unserer  Sonneuwelt  bemerket  wird;  dass  nemlich, 
gleichwie  eben  dieselbe  Ursache,  die  den  Planeten  die  Centerflieh- 
kraft, durch  die  sie  ihre  Umläufe  verrichten,  ertheilet  hat,  ihre 
Laufkreise  auch  so  gerichtet:  dass  sie  sich  alle  auf  eine  Fläche 
beziehen,  also  auch  die  Ursache,  welche  es  auch  immer  seyn  mag, 
die  den  Sonnen  der  Oberwelt,  als  so  viel  Wandelsternen  höherer 
Weltordnungen  die  Kraft  der  Umwendung  gegeben,  ihre  Kreise 
zugleich  so  viel  möglich  auf  eine  Fläche  gebracht,  und  die  Ab- 
weichungen von  derselben  einzuschränken  bestrebt  gewesen." 

„Nach  dieser  Vorstellung  kann  man  das  System  der  Fix- 
sterne einigermassen  durch  das  planetische  abschildern,  wenn  man 
dieses  unendlich  vergrössert. "  „Die  Breite  dieser  erleuchteten 
Zone"  (S.  8,  der  Milchstrasse)  stellt  eine  Art  von  Thierkreis  vor, 
in  welchem  die  Sterne,  die  sich  am  wenigsten  auf  die  Beziehungs- 
fläche der  Milchstrasse  beziehen,  zu  beiden  Seiten  der  letzteren 
gesehen    werden,    weniger    gehäuft;    „es    sind   so   zu   sagen   die 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       425 

Cometeu  unter  den  Sonuen"  (S.  9).     „Die  Milchstrasse    ist,    so  zu  • 
sagen  (S.  U),    auch  der  Thierkreis  neuer  Sterne,    welche    fast  in 
keiner    anderen  Himmelsgegend,    als    in  dieser  wechselsweise  sich 
sehen    lassen    und    verschwinden".     „Da    es    Sterne    sind,    die   in 
sehr  ablängen^)  Kreisen  um  andere  Fixsterne  (S.  12)  als  Trabanten 
um  ihre  Hauptplaneten  laufen",    so    erfordert  es  die  Analogie  mit 
unserem  plauetischen  Weltbau,   in  welchem  nur  die  dem  gemeinen 
Plane    der    Bewegungen    nahe    Himmelskörper    um    sich    laufende 
Begleiter  haben,  dass  auch  nur  die  Sterne,  die  in  der  Milclistrasse 
sind,  um  sich  laufende  Sonnen  haben  werden".     Sie  gehören  also, 
obwohl  die  Milchstrasse  auch  ihr  Tierkreis  ist,   doch  wohl  nur  als 
Trabanten    zu    den    seitwärts    von    der   Milchstrasse    zerstreuten 
Sonnen;   zu  den  (so  zu  sagen)  Kometen  unter  den  Sonnen.     Kant 
bespricht   nun  die  schon  in  der  Einleitung  als  selbständige  Stern- 
systeme aufgefassten,    hier    als    unendlich    entfernte  Milchstrassen 
bezeichneten    elliptischen    Nebelflecken,    deren  Deutung    als    sehr 
ferne,    erstaunlich    grosse  Einzelkörper    (Maupertuis)    er   sehr  mit 
Recht   abweist.     Sie    haben    eine    sehr    nahe  Beziehung    auf    den 
Plan  der  Milchstrasse.     Und  nun  schliesst  er  diese  Betrachtungen 
mit  den  Worten  (S.  16f.):  „Der  Lehrbegriff,  den  wir  vorgetragen 
haben,    eröfnet    uns    eine    Aussicht    in    das    unendliche    Feld    der 
Schöpfung,  und  bietet  eine  Vorstellung  von  dem  Werke  GOttes  dar, 
die  der  Unendlichkeit  des  grossen  Werkmeisters  gemäss  ist.    Wenn 
die  Grösse    eines    planetischen  Weltbaues,    darin    die  Erde  als  ein 
Sandkorn    kaum    bemerket    wird,    den   Verstand  in  Verwunderung 
setzt,  mit  welchem  Erstaunen  wird  man  entzücket,  wenn  man  die 
unendliche  Menge  Welten   und  Systemen  ansiehet,    die  den  Innbe- 
griff  der  Milchstrasse  erfüllen ;  allein  wie  vermehrt  sich  dieses  Er- 
staunen,   wenn  mau  gewahr  wird,    dass    alle  diese  uuermesslichen 
Sternordnungen   wiederum    die    Einheit    von    einer    Zahl    machen, 
deren  Ende  wir  nicht  wissen,   und  die  vielleicht  eben  so  wie  jene 
unbegreiflich    gross,    und    doch   wiederum    noch    die  Einheit  einer 
neuen  Zahlverbinduug  ist  .  .  .     Es  ist  hie  kein  Ende,  sondern  ein 
Abgrund  einer  wahren  Unermesslichkeit,  worinn  alle  Fähigkeit  der 
menschlichen  Begriffe  sinket,  wenn  sie  gleich  durch  die  Hülfe  der 
Zahlwissenschaft    erhoben    wird.      Die    Weisheit,    die    Güte,    die 
Macht,    „die    sich  offenbaret  hat,    ist  unendlich,    und  in  eben  den 
Maasse    fruchtbar    und    geschäftig;    der   Plan    ihrer    Offenbarung 
muss  daher  eben  wie  sie  unendlich  und  ohne  Grenzen  seyn." 
1)  Vgl.  Grimm,   Deutsches  Wörterbuch  s.  v. 


426  G.  Gerland, 

Aber  auch  im  Kleinereu  bleibt  noch  manches  zu  entdecken. 
„Sollte  zwischen  dem  Saturn  (S.  17  f.) .  . .  und  dem  am  wenigsten 
eccentrischen  Cometen,  der  vielleicht  von  einer  10  und  mehrmal 
entlegeneren  Entfernung  zu  uns  herabsteigt,  kein  Planet  mehr  seyu, 
dessen  Bewegung  der  cometischen  näher  als  jener  käme?  und  selten 
nicht  noch  andere  mehr  .  .  .  durch  eine  Reihe  von  Zwischen- 
gliedern, die  Planeten  nach  und  nach  in  Cometen  verwandeln,  und 
die  letztere  Gattung  mit  der  erstem  zusammenhängen?  Das 
Gesetz,  nach  welchem  die  Eccentricität  der  Planetenkreise  sich  in 
Gegenhaltung  ihres  Abstandes  von  der  Sonne  verhält,  unterstützt 
diese  Vermuthung.^)  Die  Eccentricität  in  den  Bewegungen  der 
Planeten  nimmt  mit  derselben  Abstände  von  der  Sonne  zu,  und 
die  entfernten  Planeten  kommen  dadurch  der  Bestimmung  der 
Cometen  näher.  Es  ist  also  zu  vermuten,  dass  es  noch  andere 
Planeten  über  dem  Saturn  geben  wird,  welche  noch  eccentrischer, 
und  dadurch  also  jenen  noch  näher  verwandt,  vermittelst  einer 
beständigen  Leiter  die  Planeten  endlich  zu  Cometen  machen" ; 
„denn  (S.  19)  es  ist  gewiss,  dass  eben  diese  Eccentricität  den 
wesentlichen  Unterschied  zwischen  den  Cometen  und  Planeten 
macht,  und  die  Schweife  und  Duustkugelu  derselben  nur  deren 
Folge  seyu". 


Sechste  Vorlesung. 
Naturgeschichte  des  Himmels.     (Fortsetzung.) 

Der  zweite  Teil  der  Naturgeschichte  des  Himmels,  auch 
wieder  mit  einem  Motto  aus  Pope  überschrieben  —  das  insofern 
gut  gewählt  ist,  als  es  mit  Kaufs  Ideen  sehr  nahe  übereinstimmt 
—  handelt  „von  dem  ersten  Zustand  der  Natur,  der  Bildung  der 
Himmelskörper,  den  Ursachen  ihrer  Bewegung,  und  der  systema- 
tischen Beziehung  derselben,  sowohl  in  dem  Planetengebäude  in- 
sonderheit, als  auch  in  Ansehung  der  ganzen  Schöpfung" ;  das 
erste  Hauptstück  „von  dem  Ursprünge  des  planetischen  Weltbaues 
überhaupt  und  den  Ursachen  ihrer  Bewegungen" ;  nach  der  Inhalts- 
angabe des  ganzen  Werkes  bringt  es  die  „Gründe  vor  die  Lehr- 
verfassung  eines  mechanischen  Ursprungs  der  Welt". 


1)  S.  19  spricht  Kant  von  der  „Abnahme  der  Eccentrizität  der 
über  dem  Saturn  zunächst  befindlichen  Himmelskörper".  Soll  wohl  heissen 
Zunahme  des  Exe.  sagt  J.  Rahts  mit  Recht,  Akad.-Ausg.  1,  549. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       427 

Die  einheitlich  gerichtete,  zugleich  wenig  von  einer  Grund- 
fläche abweichende  Bewegung  der  Planeten  und  der  Sonnendrehung 
weist  auf  eine  einheitliche  „materialische"  Ursache  hin,  durch 
welche  sie  entstanden.  Wie  aber  erklärt  sich  in  einen  „voll- 
kommen leeren''  (Fussnote:  wenn  auch  nicht  im  „allereigentlichsten 
Sinne  leeren",  aber  doch  wirkungslosen)  Räume  „die  Einträchtig- 
keit in  der  Richtung  und  Stellung  der  planetischen  Kreise?"  (S.  24.) 
Newton  vermochte  die  Erklärung  nicht  zu  geben  und  nahm  daher 
an,  diese  gleichmässige  Bewegung  der  Planeten  sei  unmittelbar 
gegeben,  sei  von  Gott  direkt  augeordnet,  i)  Aber  gerade  diese 
Bewegung  beweist,  dass  anfänglich  der  Raum  nicht  leer,  sondern 
mit  „genugsam  vermögender  Materie  erfüllet  gewesen  seyn  muss" 
(26);  die  Anziehung  hat  „ihn  gereinigt  und  alle  ausgebreitete  Ma- 
terie „in  besondere  Klumpen  versammlet",  die  „nunmehro  mit  der 
einmal  eingedrückten  Bewegung  ihre  Umläufe  in  einem  nicht 
widerstrebenden  Räume  frey  und  unverändert  fortsetzen".  „Die 
Gründe  der  zuerst  angeführten  Wahrscheinlichkeit  erfordern 
durchaus  diesen  Begriff;  und  weil  zwischen  beyden  Fällen  kein 
dritter  möglich  ist;  so  kann  dieser  mit  einer  vorzüglichen  Art  des 
Beyfalles,  welcher  ihn  über  die  Scheinbarkeit  einer  Hypothese  er- 
hebt, angesehen  werden"  (S.  26).  Und  hier  fährt  nun  Kant  fort: 
„man  könnte,  wenn  man  weitläufig  seyn  wollte,  durch  eine  Reihe 
aus  einander  gefolgerter  Schlüsse,  nach  der  Art  einer  mathema- 
tischen Methode,  mit  allem  Gepränge,  die  diese  mit  sich  führet 
und  noch  mit  grösserem  Schein,  als  ihr  Aufzug  in  physischen  Ma- 
terien gemeinsam  zu  seyn  pfleget,  endlich  auf  den  Entwurf  selber 

1)  Newton  Phil.  nat.  princ.  Ed.  tertia  London  1726.  lib.  III  Schol. 
generale.  Ed.  1871,  S.  527).  Et  hi  omnes  motus  reguläres  originem  non 
habent  ex  causis  mechanicis ;  siquidem  cometae  in  orbibus  valde  eccentricis 
et  in  omnes  coelorum  partes  libere  feruntur.  Quo  motus  genere  cometae 
per  orbes  planetarum  celerrime  et  facillime  transeunt,  et  in  apheliis  suis, 
ubi  tardiores  sunt  et  diutius  morantur,  quam  longissime  distant  ab  invicem, 
ut  se  mutuo  quam  minime  trahant.  Elegantissima  haecce  solis,  planetarum 
et  cometarum  compages  non  nisi  consilio  et  dominio  entis  intelligentis  et 
potentis  oriri  potuit.  Et  si  stellae  fixae  sunt  centra  similium  systematum, 
hacc  omnia  simili  consilio  constructa  suberunt  Unius  dominio;  praesertim 
cum  lux  fixarum  sit  ejuxdem  naturae  ac  lux  solis,  et  systemata  omnia 
lucem  in  omnia  invicem  immittant.  Et  ne  fixarum  systemata  per  gravi- 
tatem  suam  in  se  mutuo  cadant,  hie  eadem  immensam  ab  invicem  dis- 
tantiam  posuerit.  Hie  omnia  regit  non  ut  anima  mundi,  sed  ut  universo- 
rum  dominus.  Das  Scholium  generale  veröffentlichte  Newton  erst  in  der 
8.  Ausgabe  der  principia. 


428  G.  Gerland, 

kommen,  den  ich  von  dem  Ursprünge  des  Weltgebäudes  darlegen 
werde;  allein  ich  will  meine  Meinungen  lieber  in  Gestalt  einer 
Hypothese  vortragen  und  der  Einsicht  des  Lesers  es  überlassen, 
ihre  Würdigkeit  zu  prüfen,  als  durch  den  Schein  einer  erschlichenen 
Ueberführung  ihre  Gültigkeit  verdächtig  machen,  und  indem  ich 
die  Unwissenden  einnehme,  den  Beyfall  der  Kenner  verlieren" 
(26—27). 

Im  Anfang  aller  Dinge  erfüllten  die  Materien  des  Sonnen- 
systems, in  ihren  elementarischen  Grundstoff  aufgelöst,  den 
ganzen  Raum  des  Weltgebäudes;  es  war  der  Zustand  der  Natur, 
der  auf  das  Nichts  folgte;  und  diese  „Natur,  die  unmittelbar  mit 
der  Schöpfung  gräuzete,  war  so  roh,  so  ungebildet  als  möglich. 
Allein  auch  in  den  wesentÜchen  Eigenschaften  der  Elemente,  die 
das  Chaos  ausmachen,  ist  das  Merkmal  derjenigen  Vollkommenheit 
zu  spüren,  die  sie  von  ihrem  Ursprung  her  haben,  indem  ihr 
Wesen  aus  der  ewigen  Idee  des  göttlichen  Verstandes  eine  Folge 
ist"  (27).  Die  Elemente  sind  unendlich  verschieden  nach  Art, 
Dichtigkeit  und  Anziehungskraft.  So  bilden  sich  an  den  verschie- 
denen Anziehungscentren  Klumpen,  „die  nach  Verrichtung  ihrer 
Bildungen  (S.  29)  durch  die  Gleichheit  der  Anziehung  ruhig  und 
auf  immer  unbewegt  seyn  würden.  Allein  die  Natur  hat  noch  an- 
dere Kräfte  in  Vorrath,  welche  sich  vornehmlich  dann  äussern,  wenn 
die  Materie  in  feine  Teilchen  aufgelöset  ist,  als  wodurch  selbige 
einander  zurückstossen  und  durch  ihren  Streit  mit  der  Anziehung 
diejenige  Bewegung  hervorbringen,  die  gleichsam  ein  dauerhaftes 
Leben  der  Natur  ist.  Durch  diese  Zurückstossungskraft,  die  sich 
in  der  Elasticität  der  Dünste  .  .  .  offenbaret  und  die  ein  unstrei- 
tiges (30)  Phänomenon  der  Natur  ist,  werden  die  zu  ihren  An- 
ziehungspunkten sinkende  Elemente  durcheinander  von  der  gerad- 
linichten  Bewegung  seitwärts  gelenket,  und  der  senkrechte  Fall 
schlägt  in  Kreisbewegungen  aus,  die  den  Mittelpunkt  der  Senkung 
umfassen."  Gibt  es  also  einen  Punkt,  wo  die  Anziehung  stärker  ist, 
als  überall  sonst,  so  bildet  sich  daselbst  ein  Centralkörper.  „Wenn  die 
Masse  dieses  Centralkörpers  so  weit  angewachsen  ist,  dass  die  Ge- 
schwindigkeit, womit  er  die  Theüchen  von  grossen  (31)  Entfern- 
ungen zu  sich  zieht,  durch  die  schwachen  Grade  der  Zurückstossung, 
womit  selbige  einander  hindern,  seitwärts  gebeuget  in  Seiten- 
bewegungen ausschlaget,  die  den  Centralkörper,  vermittelst  der 
Centerfliehkraft,  in  einem  Kreise  zu  umfassen  im  Stande  seyn:  so 
erzeugen   sie   grosse  Wirbel   von  Theüchen,    deren  jedes  vor  sich 


Immanuei  Kant,  seine  geogl*apli.  und  anthropolog.  Arbeiten.      429 

krumme  Linien  durcli  die  Zusammensetzung  der  anziehenden  und 
seitwärts  gelenliten  Umwendungsla-aft  besclireibet;  welche  Art  von 
Kreisen  alle  einander  durchschneiden,  wozu  ihnen  ihre  grosse  Zer- 
streuung in  diesem  Räume  Platz  lässt."  Sie  gleichen  sich  nach  und 
nach  zu  „horizontal  d.  i.  parallel"  um  die  Sonne  als  ihren  Mittel- 
punkt laufenden  Zh'keln  aus;  „so  dass  endlich  nur  diejenige 
Teilchen  in  dem  Umfange  des  Raumes  schweben  bleiben,  die 
durch  ihr  Fallen  eine  Geschwindigkeit  und  durch  die  Wider- 
stehung der  anderen  eine  Richtung  bekommen  haben,  dadurch  sie 
eine  fr  eye  Zirkelbeweguug  fortsetzen  können".  Damit  „ist 
der  Streit  (32)  und  der  Zusammenlauf  der  Elemente  gehoben,  und 
alles  ist  in  dem  Zustande  der  kleinsten  Wechselwirkung",  zu  dem 
ja  eine  Materie,  die  in  streitenden  Bewegungen  begriffen  ist,  stets 
kommt.  „Es  ist  also  klar  (32),  dass  von  der  zerstreuten  Menge  der 
Partikeln  eine  grosse  Menge  durch  den  Widerstand,  dadurch  sie 
einander  auf  diesen  Zustand  zu  bringen  suchen,  zu  solcher  Ge- 
nauigkeit der  Bestimmungen  gelangen  muss;  obgleich  eine  noch 
viel  grössere  Menge  dazu  nicht  gelanget,  und  nur  dazu  dienet, 
den  Klumpen  des  Centralkörpers  zu  vermehren,  in  welchen  sie 
sinken,  indem  sie  sich  nicht  in  der  Höhe,  darin  sie  schweben,  frey 
erhalten  können,  sondern  die  Kreise  der  unteren  durchkreutzen 
und  endlich  durch  deren  Widerstand  alle  Bewegung  verlieren. 
Dieser  Körper  in  dem  Mittelpunkte  der  Attraction,  der  diesem  zu- 
folge das  Hauptstück  des  planetischen  Gebäudes  durch  die  Menge 
seiner  versam mieten  Materie  worden  ist,  ist  die  Sonne,  ob  sie 
gleich  diejenige  flammende  Gluth  alsdenn  noch  nicht  hat,  die  nach 
völlig  vollendeter  Bildung  auf  ihrer  Oberfläche  hervor  bricht"  (32). 
Nach  den  Gesetzen  der  Centralbewegung  aber  müssen  alle 
Umläufe,  „die  gleichsam  auf  einer  gemeinschaftlichen  Achse  ge- 
schehen" (S.  33)1)  ^  jj^it  jem  Plan  ihrer  &eise  den  Mittelpunkt  der 
Attraction  durchschneiden".  Dies  ist  aber  nur  bei  einer  der 
Kreisebeueu  (der  Aequatorialebene)  der  Fall:  „daher  alle  Materie  von 
beyden  Seiten  dieser  in  Gedanken  gezogenen  Achse  nach  dem- 
jenigen Cirkel  hineilet,  der  durch  die  Achse  der  Drehung  gerade 
in  dem  Mittelpunkte  der  gemeinschaftlichen  Senkung  gehet. 
Welcher  Zirkel  der  Plan  der  Beziehung  aller  herumschwebenden 
Elemente    ist,    um    welchen    sie    sich    so  sehr  als  möglich  häufen, 

1)  Vgl.  zu  dieser  im  Original  sehr  verworrenen  Stelle  v.  Oettingen's 
Erläuterung  S.  153  No.  9.  Ohne  Zweifel  ist  im  Text,  wie  die  Original- 
ausgabe S.  33  lautet,  „Achse  der  Drehung"  von  Kant  geschrieben. 


430  G.  Gerland, 

imd  da^eö-en  die  von  dieser  Fläche  entferueten  Geg'enden  leer 
lassen".  Also:  wir  sehen  „einen  Raum  (34),  der  zwischen  zwey 
nicht  weit  von  einander  abstehenden  Flächen,  in  dessen  Mitte  der 
allgemeine  Plan  der  Beziehung-  sich  befindet,  begriffen  ist,  von 
dem  Mittelpunkt  der  Sonne  an,  in  unbekannte  Weiten  ausgebreitet, 
iu  welcher  alle  begriffene  Theilchen,  jegliche  nach  Maassgebung  ihrer 
Höhe  und  der  Attraction,  die  daselbst  herrschet,  abgemessene  Zirkel- 
bewegungen in  freyen  Umläufen  verrichten".  So  würde  alles  ewig 
bleiben,  wenn  nicht  die  Anziehung  der  Theilchen  des  Grundstoffes 
zu  wirken  anfienge  „und  neue  Bildungen,  die  der  Saame  zu  Pla- 
neten, welche  entstehen  sollen,  seyn,  dadurch  veranlassete"  (34). 
Die  so  entstehenden  Planeten,  deren  Ursprung  „zugleich  den  Ur- 
sprung der  Bewegungen  und  die  Stellung  der  Kreise  iu  eben 
demselben  Zeitpuucte  darstellet"  (35),  setzen  die  Bewegungen  der 
Elemente,  aus  denen  sie  sich  bildeten,  „in  eben  dem  Grad,  nach 
eben  derselben  Richtung"  fort  (35).  Ihre  ungefähr  cirkelförmigeu 
Bewegungen  würden  vollkommene  Kreise  sein,  wenn  ihre  Elemente 
aus  der  Nähe  stammten  und  also  der  Unterschied  ihrer  Be- 
wegungen gering  wäre  (36).  Auch  in  der  Stellung  ihrer  Bahnen 
zur  Grundebene  treten  Unregelmässigkeiten  ein.  Man  darf  „sich 
nicht  wundern,  auch  hier  die  grosseste  Genauheit  der  Bestimmungen 
so  wenig,  wie  bey  allen  Dingen  der  Natur,  anzutreffen,  weil  über- 
haupt die  Vielheit  der  Umstände,  die  an  jeglicher  Naturbeschaff eu- 
heit  Antheil  nehmen,  eine  abgemessene  Regelmässigkeit  nicht 
verstattet"  (37). 

Das  zweyte  Hauptstück  handelt  „von  der  verschiedenen 
Dichtigkeit  der  Planeten  und  dem  Verhältnisse  ihrer  Massen."  Die  ur- 
sprünglich gleichmässig  ausgebreiteten  Elementarteilchen  blieben 
„durch  ihr  Niedersinken  zur  Sonne  (38),  in  den  Orten  schweben, 
wo  ihre  im  Fallen  verlangte  Geschwindigkeit  gerade  die  Gleichheit 
gegen  die  Anziehung  leistete  und  ihre  Richtung  so,  wie  sie  bei 
der  Zirkelbeweguug  seyn  soll,  senkrecht  gegen  den  Zirkelstrahl 
gebeuget  worden".  Natürlich  sinken  die  schwereren  Partikeln 
tiefer,  die  leichteren  werden  früher  abgelenkt,  daher  steht  die 
Dichtigkeit  der  Elemente  in  umgekehrten  Verhältnis  zu  ihrer  Ent- 
fernung von  der  Sonne;  Newton  suchte  mit  Unrecht  den  Grund 
auch  hierfür  „in  der  Anständigkeit  der  Wahl  Gottes  und  in  den 
Bewegungsgründen    seines  Endzwecks"')  (S.  40);    die  Sonne  aber 

1)  Eine  Stelle,  welche  den  Worten  Kant's  genau  entspricht,  findet 
sich  nirgends  bei  Newton.    Er  sagt  Princip.  III,  prop.  8,  corol.  4 :  Densiores 


Immaniiel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       431 

ist  „leichterer  Art"  (42)  als  die  Erde  (ebenso  die  Erde  im  Ver- 
hältnis zum  Mond),  weil  der  Centralkörper  aus  den  verschiedensten 
Partikeln  zusammeug-ehäuft  wird,  bei  denen  die  leichteren  aber  die 
grössere  Menge  bilden,  weil  die  schweren  z.  T.  bei  der  Planeten- 
bildung verwendet  werden.  Auch  die  Quantität  der  die  Planeten 
bildenden  Materien  wächst  mit  der  Entfernung  von  der  Sonne,  da 
sie  selbständige  Centren  der  Anziehung  bilden.  So  stimmt  alles 
auf  das  vortrefflichste  zusammen,  „die  Zulänglichkeit  einer  me- 
chanischen Lehrverfassung,  bei  dem  Ursprünge  des  Weltbaues  und 
der  Himmelskörper  zu  bestätigen"  (48).  Zugleich  folgt,  dass  die 
„Dünnigkeit"  der  ürmaterie  ausserordentlich  gross  war;  sie  musste 
so  gross  wie  möglich  sein,  um  den  Partikeln  alle  Freiheit  der 
Bewegung  zu  verstatten"  (50).  Kaut  berechnet  sie  auf  ein  dreissig- 
milliontel  der  Dichtigkeit  unserer  Luft  (49).  Zu  allem  dem  stimmt 
mit  voller  Bestätigungskraft  der  Umstand,  dass  nach  Büffon  die 
„Dichtigkeiten  der  gesammten  planetischen  Materie  und  der  Sonnen 
ihre"  einander  sehr  ähnlich  sind;  sie  verhalten  sich  wie  640  zu 
650  (51). 

Das  dritte  Hauptstück  „von  der  Eccentricität  der  Planeten- 
kreise, und  dem  Ursprünge  der  Kometen"  erklärt  zunächst  „das 
vornehmste  Unterscheidungszeichen  der  Cometen",  ihre  Excentrici- 
tät,  deren  Folge  auch  die  Atmosphären  und  Schweife  sind  (56), 
und  die  überall  gemässigt  sein  würde,  wenn  sie  nur  durch  die 
verschiedene  Schnelligkeit  der  Kreisläufe  entstände,  welche  die 
Elementarteile  bei  der  Bildung  der  Planeten  mitbringen.  Da  aber 
die  Exceutricität    mit    der  Sonnenweite    und   wohl  auch  durch  die 


igltur  sunt  planetae,  qui  sunt  minores,  caeteris  paribus.  Sic  enim  vis  gra- 
vitatis  in  eorum  superficiebus  ad  aequalitatem  magis  accedit.  Sed  et  den- 
siores  sunt  planetae,  caeteris  paribus,  qui  sunt  soli  propiores;  ut  Jupiter 
saturno,  et  terra  jove.  In  diversis  utique  distantiis  a  sole  collo- 
candi  erant  planetae,  ut  quilibet  pro  gradu  densitatis  calore 
solis  majore  vel  minore  frueretur.  Aqua  nostra,  si  terra  locaretur 
in  orbe  saturni,  rigesceret,  si  in  orbe  mercurii  in  vapores  statim  abiret .  . . 
Dubium  vero  non  est  quin  materia  mercurii  ad  calorem  accommodetur, 
et  propterea  densior  sit  bac  nostra ;  cum  materia  omnis  densior  ad  opera- 
tiones  naturales  obeundas  majorem  calorem  requirat.  —  leb  habe  das  Citat 
so  weit  ausgedehnt,  weil  auch  sein  Schluss  für  Kant  einiges  Interesse 
bietet.  Die  oben  gesperrte  Stelle  könnte  vielleicht  Kant's  Worte  veran- 
lasst haben,  noch  mehr  aber  wohl  die  vorhin  (S.  427)  angeführte  Stelle 
des  Scholium  generale ;  die  elegantissima  compages  dort  liegt  wohl  der 
„Anständigkeit  der  Wahl  GOttes"  zu  Grunde, 


432  G.  Gerland, 

„Kleinigkeit  der  Massen"  (Mars,  S.  54)  zunimmt,  „so  sind  wir  ge- 
nötigt,  die  Hypothese  (54)  von  der  genauen  Zirkeibewegung  der 
Partikeln  des  Grundstoffes  dahin  einzuschränken,  dass,  wie  i)  sie 
in  den  der  Sonne  nahen  Gegenden  zwar  dieser  Genauheit  der  Be- 
stimmung sehr  nahe  beykomuien,  aber  sie  doch  desto  weiter  davon  ab- 
weichen lassen,  je  entfernter  diese  elementarische  Theilchen  von  der 
Sonne  geschwebet  haben".  Denn  „je  weiter  die  ausgebreiteten  Theile 
des  Urstoffs  von  der  Sonne  entfernet  sind,  desto  schwächer  ist  die 
Kraft,  die  sie  zum  Sinken  bringt:  der  Widerstand  der  unteren 
Theile,  die  ihren  Fall  seitwärts  beugen,  und  ihn  nöthigen  soll,  seine 
Richtung  senkrecht  von  dem  Zirkelstrahl  anzustellen,  vermindert 
sich  nach  dem  Maasse,  als  diese  unter  ihm  wegsinken,  um  ent- 
weder der  Sonne  sich  einzuverleiben,  oder  in  näheren  Gegenden 
Umläufe  anzustellen.  Die  spezifisch'-^)  vorzügliche  Leichtigkeit 
dieser  höheren  Materie  verstattet  ihnen  nicht,  die  sinkende  Be- 
wegung, die  der  Grund  von  allem  ist,  mit  dem  Nachdrucke,  welcher 
erfordert  wird,  um  die  widerstehende  Partikeln  zum  Weichen  zu 
bringen  (55),  anzustellen:  und  vielleicht,  dass  diese  entfernete 
Partikeln  einander  noch  einschränken,  um  nach  einer  langen  Pe- 
riode diese  Gleichförmigkeit  endlich  zu  überkommen;  so  haben 
sich  unter  ihnen  schon  kleine  Massen  gebildet,  als  Anfänge  zu  so 
viel  Himmelskörpern,  welche,  indem  sie  sich  aus  schwach  be- 
wegtem Stoffe  sammeln,  eine  nur  eccentrische  Bewegung  haben, 
womit  sie  zur  Sonne  sinken,  und  unter  Wegens  mehr  und  mehr, 
durch  die  Einverleibung  schneller  bewegten  3)  Theile  vom  senk- 
rechte"n  Fall  abgebeugt  werden,  endlich  aber  doch  Cometen  bleiben, 
wenn  jene  Räume,  in  denen  sie  sich  gebildet  haben,  durch 
Niedersinken  zur  Sonne,  oder  durch  Versammlung  in  besonderen 
Klumpen,  gereinigt  und  leer  geworden.  Dieses  ist  die  Ursache 
der  mit  den  Entfernungen  von  der  Sonne  zunehmenden  Eccentri- 
citäten  der  Planeten  und  derjenigen  Himmelskörper,  die  um  des- 
willen Cometen  genannt  werden,  weil  sie  in  dieser  Eigenschaft  die 


1)  Dieser  Satz  hat  so  wie  ich  ihn  hier  eitlere  und  wie  ihn  alle  Aus- 
gaben (auch  die  der  Akad.  1,  279)  bringen,  keinen  Sinn.  Ohne  Zweifel 
ist  das  „wie"  ein  Schreibfehler  Kants  für  wir  und  zu  lesen:  dass  wir  sie 
in  den  der  Sonne  nahen  Gegenden  .  .  .  beykommen,  aber  sie  desto  weiter 
davon  abweichen  lassen,  je  entfernter  u.  s.  w. 

2)  So  die  Ausgaben.  Schreibfehler  Kants  für  „die  spezifische  vor- 
zügliche Leichtigkeit"? 

3)  Schreibfehler  Kants  für  bewegter? 


Immanuel  Kant,  seine  geograpli.  und  anthropolog.  Arbeiten.      433 

erstere^)  vorzüglicli  übertreffen".  Diese  schwierig-e  Stelle  soll  also 
wohl  heissen,  dass  die  entfernteren  Körper  durch  die  bei  ihnen 
zunächst  vorherrschende  Anziehung-,  welche  erst  in  grösserer 
Sonnennähe  durch  zurückstossende  Partikeln  seitliche  Abbeugung 
erfährt,  nicht  eine  dem  Kreis  mehr  genäherte,  sondern  eine  mehr 
gestreckte,  also  excentrische  Bahn  erhalten  haben.  Die  grössere 
Exceutrizität  der  Bahnen  des  Mars,  des  Merkurs  ist  durch  die  Nähe 
der  Jupiter-  und  der  Sonnenmasse  bedingt.  Weil  die  Bildung 
der  Kometen  in  noch  grösserer  Sonnenferne  geschah,  sind  ihre 
Bahnen  noch  excentrischer  und  noch  weniger  an  den  Grundplan 
gebunden.  „Daher  werden  die  Cometen  mit  aller  Ungebundenheit 
aus  allen  Gegenden  zu  uns  herabkommen"  (57)  und  wohl  auch 
„ihren  Umlauf  nach  der  entgegengesetzten  Seite,  nemlich  von 
Morgen  gegen  Abend  anstellen"  (58). 

Die  Massen  der  Kometen  sind,  bei  der  Zerstreuung  und 
Leichtigkeit  ihrer  Partikeln,  bei  der  stetigen  Anziehung  des 
Weltenstoffs  durch  die  Sonne,  wohl  nur  selten  gross,  auf  keinen 
Fall  nehmen  sie  mit  der  Sonnenferne  stetig  an  Masse  zu.  Auch 
die  geringe  spezifische  Dichtigkeit  der  Kometen  ist  nicht  sowohl 
Folge  der  einwirkenden  Sonnenhitze,  als  vielmehr  ihrer  Bildung 
aus  den  leichtesten  Stoffteilchen  in  sehr  grosser  Sonnenferne. 

Auch  die  Nordlichter  können  mit  der  Ausbreitung  der  come- 
tischen  Dünste  und  mit  ihren  Schweifen  verglichen  werden  (60). 
„Die  feinsten  Partikeln,  die  die  Sonnen  Wirkung  aus  der  Oberfläche 
der  Erde  zieht,  häufen  sich  um  einen  von  denen  Polen,  wenn  die 
Sonne  den  halben  Zirkel  ihres  Laufes  auf  der  entgegen  gösetzten 
Halbkugel  verrichtet."  Sie  „vergüten  den  Bewohnern  der  Eiszone 
die  Abwesenheit  des  grossen  Lichtes";  sie  würden  einen  Dunst- 
kreis mit  Schweif  bilden,  „wenn  die  feinsten  und  flüchtigsten 
Partikeln  auf  der  Erde  eben  so  häufig,  als  auf  den  Cometen  an- 
zutreffen wären"  (61). 

Das  vierte  Hauptstück,  von  dem  Ursprünge  der  Monde  und 
den  Bewegungen  der  Planeten  um  ihre  Achse,  lässt  die  Monde 
aus  den  Massen  des  Grundstoffs,  welche  die  Planeten  bilden,  ganz 
ebenso  entstehen,  wie  die  Planeten  aus  Teilen  des  Grundstoffes 
der  Sonne  (62).  Die  Rechtläufigkeit  der  Monde  ist  nicht  eine 
Folge  des  Zirkellaufs  des  Hauptplaneten,  sondern  seiner  Anziehung. 
„Alle  Partikeln   um    den  Planeten    bewegen    sich    in   gleicher  Be- 


1)  Schreibfehler  Kants  für  ersteren? 

Kantstudien  X.  29 


4B4  G-.  Gerland, 

wegung   mit   ihm    um    die  Sonne",   jedoch    mit  verschiedener  Ge- 
schwindigkeit:   die  Attraktion  des  Planeten    ahei-    „nötigt    die  zur 
8onne    nähere  Teilchen,    die    mit  schnellerem  Schwünge  umlaufen, 
schon  von  weitem    die  Richtung  ihres  Gleises  zu  verlassen  und  in 
einer  ablangen  Ausschweifung  sich  über  den  Planeten  zu  erheben. 
Diese,  weil  sie  einen  grösseren  Grad  der  Geschwindigkeit,  als  der 
Planet  selber,   haben,    wenn  sie  durch  dessen  Anziehung  (64)  zum 
Sinken    gebracht    werden,    geben    ihrem   geradlinigtem  Falle,    und 
auch    dem  Falle    der   übrigen,    eine  Abbeuguug  von  Abend  gegen 
Morgen,  und    es  bedarf  nur  dieser  geringen  Lenkung,    um  zu  ver- 
ursachen, dass  die  Kreisbewegung,  dahin  der  Fall,  den  die  Attrac- 
tion  erregt,  ausschlägt,  vielmehr  diese,   als  eine  jede  andere  Rich- 
tung,   nehme.     Aus    diesem    Grunde    werden   alle  Monde   in   ihrer 
Richtung,  mit  der  Richtung  des  Umlaufs  der  Hauptplaneten  über- 
einstimmen."    Kant  „nimmt  mit  Vergnügen  wahr,  wie  dieselbe  An- 
ziehung auch  den  Planeten   selbst  die  Drehung  um  die  Achse  von 
Abend   gegen  Morgen  erteilt.     „Die  Partikeln  des  niedersinkenden 
Grundstoffes  (65)  .  .  .    fallen    grössten  Theils   auf  die  Fläche  des 
Planeten    und    vermischen    sich  mit  seinem  Klumpen,   weil  sie  die 
abgemessene  Grade    nicht    haben,    sich    frey  schwebend  in  Zirkel- 
bewegungen   zu    erhalten.      Indem    sie    nun  in  den  Zusammensatz 
des  Planeten  kommen,  so  müssen  sie,  als  Teile  desselben,  eben  die- 
selbe   Umwendung    nach    eben   derselben  Richtung  fortsetzen,    die 
sie    hatten,    ehe    sie    mit  ihm  vereiniget  worden.     Und  weil  über- 
haupt aus  dem  vorigen  zu  ersehen,    dass  die  Menge  der  Teilchen, 
welche    der  Mangel   an  der  erforderlichen  Bewegung  auf  den  (66) 
Centralkörper    niederstürzet,    sehr    weit   die    anderen    übertreffen 
müsse,  welche   die   gehörige  Grade  der  Geschwindigkeit  haben  er- 
langen  können;    so    begreifet    man    auch    leicht,    woher   dieser  in 
seiner  Axendrehung    zwar    bei    weitem    die  Geschwindigkeit  nicht 
haben  werde,    der  Schwere   auf  seiner  Oberfläche  mit  der  fliehen- 
den Kraft  das  Gleichgewicht  zu  leisten,  aber  dennoch  bey  Planeten 
von    grosser  Masse    und  weitem  Abstände  weit  schneller,    als  bey 
nahen  und  kleinen  sein  werde."    Als  Beispiel  wird  Jupiter  angeführt; 
seine  rasche  Bewegung  bei  seiner  Grösse  und  die  langsamere  Um- 
drehung des  um  so  viel  kleineren  Mars  dient  zum  Beweis,  dass  die 
Achsendrehung  nicht  auf  einer  äusserlichen  Ursache,  sondern  auf  der 
Wirkung  der  Anziehung  Jupiters  beruht,  die  er  in  Folge  seiner  Masse 
auf  die  sinkenden  Urstoffteilchen  ausübt.  Auch  die  Neigungen  der  Pla- 
uetenachsen  können  durch  ungleiche  Verteilung  der  auf  die  Planeten- 


Immanuel  "Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.      435 

halbkugeln  niedersinkenden  Partikeln  entstanden  sein.  Doch  ist 
dies  nur  eine  Mutmassuug:  Kant's  wahre  Meinung  geht  dahin, 
dass  in  Folge  der  Verfestigung  der  Himmelskörper  bei  noch  un- 
gleicher Schwereverteiluug  sich  nahe  dem  Äquator,  in  Folge  des 
Aufsteigens  der  leichteren  Stoffe,  erst  Hohlräume,  dann  Nieder- 
senkungen und  dadurch  „aus  dem  waagerechten  Zustand  abge- 
brochene Ungleichheiten"  (71)  bilden.  Im  Polargegendeu  fehlen 
dieselben;  da  aber  die  meisten  über  die  gleiche  Fläche  hervor- 
ragenden Massen  „durch  den  Vorzug  des  Schwungs"  sich  dem 
Aequatorialcirkel  zu  nähern  streben,  so  wird  hierdurch  die  ur- 
sprünglich senkrechte  Achse  verschoben;  daher  ist  die  Achse 
eines  noch  nicht  ausgebildeten  Himmelskörpers  senkrecht,  wie 
beim  Jupiter;  er  wird  „den  festen  Ruhestand  seiner  Materien 
einige  Jahrhunderte  (72)  später,  als  andere  Himmelskörper,  über- 
kommen." Kant  selbst  hebt  hervor,  dass  sein  System  in  diesem 
Punkt  noch  unvollständig  sei. 

Das  fünfte  Hauptstück  „von  dem  Ursprünge  des  Ringes  des 
Saturns,  und  Berechnung  der  täglichen  Umdrehung  dieses  Planeten 
aus  den  Verhältnissen  desselben,"  erklärt  zunächst  den  Ring  des 
Saturns  aus  der  ursprünglich  cometischen  Natur  dieses  Planeten 
(74),  die  derselbe  nach  Verminderung  der  Excentricität  seiner 
Bahn  mit  der  nun  gleichbleibenden  Abkühlung  immer  mehr  verlor. 
Er  war  ursprünglich  mit  cometischen  Dünsten,  die  nach  und  nach 
ebenfalls  in  Folge  der  Abkühlung  keine  Schweife  mehr  bildeten, 
ganz  umgeben;  in  der  gleichbleibend  niederen  Temperatur  seiner 
jetzigen  Stellung  am  Himmel  stiegen  keine  Dünste  mehr  aus  ihm 
hervor,  die  vorhandenen  aber  wurden  durch  die  Umdrehung  auf 
„die  fortgesetzte  Aequatorsf lache"  (77)  beschränkt,  wobei  die  hoch 
aufgestiegenen  sich  durch  das  Uebermaass  der  Bewegung  und  die 
Einwirkung  der  Sonnenstrahlen  in  den  Weltenraum  verflüchtigten, 
die  allzuniedrigen  durch  Mangel  an  genügend  geschwinder  Be- 
wegung auf  den  zum  Planeten  gewordenen  Cometen  niederstürzten. 
Und  so  sehen  wir,  zur  Freude  Kaut's,  „das  wuuderseltsame  Phä- 
nomeuon",  „auf  eine  leichte  von  aller  Hypothese  befreyete  mecha- 
nische Art  entstehen"  (S.  78).  Er  fährt  fort:  „die  Natur  ist  an 
vortrefflichen  Auswickelungen,  in  dem  sich  selbst  gelassenen  Zu- 
stande ihrer  Kräfte,  sogar  im  Chaos  fruchtbar,  und  die  darauf 
folgende  Ausbildung  bringet  so  herrliche  Beziehungen  und  Ueber- 
einstimmungen  zum  gemeinsamen  Nutzen  der  Creatur  mit  sich, 
dass  sie  sogar,   in    den    ewigen   und  unwandelbaren  (79)  Gesetzen 

29* 


436  G.  Gerland, 

ihrer  wesentlichen  Eig-enschaften,  dasjenige  grosse  Wesen  mit  ein- 
stimmiger Gewissheit  zu  erkennen  g-ebeu,  in  welchem  sie,  ver- 
mittelst ihrer  gemeinschaftlichen  Abhängigkeit,  sich  zu  einer  ge- 
sammten  Harmonie  vereinbaren.  Saturn  hat  von  seinem  Ring 
g-rosse  Vortheile;  er  vermehret  seinen  Tag"  u.  s.  w.  „Aber, 
muss  man  denn  deswegen  leugnen,  dass  die  allgemeine  Entwicke- 
lung  der  Materie  durch  mechanische  Gesetze,  ohne  andere,  als 
ihre  allgemeine  Bestimmungen,  zu  bedürfen,  habe  Beziehungen 
hervorbringen  können,  die  der  vernünftigen  Creatur  Nutzen 
schaffen?  Alle  Wesen  hängen  aus  einer  Ursache  zusammen, 
welche  der  Verstand  GOttes  ist;  sie  können  dahero  keine  andere 
Folgen  nach  sich  ziehen,  als  solche,  die  eine  Vorstellung  der 
Vollkommenheit  in  eben  derselben  göttlichen  Idee  mit  sich  führen." 

Im  Folgenden  wird  die  Zeit  der  Achsendrehung  des  Saturn 
aus  den  Verhältnissen  seines  Rings  berechnet;  daran  schliesst  sich 
eine  Berechnung  der  beiden  Durchmesser  des  Saturn,  des  Jupiter 
und  endlich  die  Besprechung  der  verschiedenen  Geschwindigkeiten 
in  einem  einheitlichen  Saturnring,  sowie  die  Teilung  desselben  in 
mehrere  eben  durch  diese  Verschiedenheiten,  welche  Teilung  von 
Bradley  und  Cassini  aufgefunden  war.  Cassini  hatte  schon  1705 
(90,  Fussnote)  den  Ring  für  einen  Schwärm  kleiner  Trabanten  er- 
klärt, die  vom  Saturn  aus  wie  die  Milchstrasse  von  der  Erde  aus 
erschienen;  „welcher  Gedanke  Platz  finden  kann,  sagt  Kant, 
wenn  man  vor  diese  kleinen  Trabanten  die  Dunstteilchen  nimmt". 
Nachdem  dann  noch  untersucht  ist,  weshalb  andere  Planeten  keine 
Ringe  haben  und  haben  können,  erhält  das  Kapitel  einen  seltsamen 
Schluss.  „Das  Vergnügen,  sagt  Kant  (S.  94),  eine  von  den 
seltensten  Besonderheiten  des  Himmels,  in  dem  ganzen  Umfange 
ihres  Wesens  und  Erzeugung,  begriffen  zu  haben,  hat  uns  in  eine 
so  weitläufige  Abhandlung  verwickelt.  Lasset  uns  mit  der  Ver- 
günstigung unserer  gefälligen  Leser  dieselbe,  wo  es  beliebig,  bis 
zur  Ausschweiffung  treiben,  um  nachdem  wir  uns  auf  eine  ange- 
nehme Art  willkührlichen  Meinungen,  mit  einer  Art  von  Unge- 
bundenheit,  überlassen  haben,  mit  desto  mehrerer  Behutsamkeit 
und  Sorgfalt,  wiederum  zu  der  Wahrheit  zurückzukehren." 

Und  nun  fingiert  er  einen  Erdring,  dessen  Schönheit  aber 
„noch  (95)  nichts  ist  gegen  die  Bestätigung,  die  eine  solche  Hypo- 
these aus  der  Urkunde  der  Schöpfungsgescliichte  entlehnen  kann, 
und  die  vor  diejenige  keine  geringe  Empfehlung  zum  Beyfalle  ist, 
welche  die  Ehre  der  Offenbarung  nicht  zu  entweihen,   sondern  zu 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       437 

bestätigen  g-laubeii,  wenn  sie  sich  ihrer  bedienen,  den  Ausschweif- 
ungen ihres  Witzes  dadurch  ein  Ansehen  zu  geben."  „Dieser 
Ring  bestand  ohne  Zweifel  aus  wässrichten  Dünsten ;  er  zerbricht, 
und  nun  hat  man  den  Vorteil  „die  Welt  mit  Ueberschwemnning  zu 
züchtigen"  (96);  der  Regen  enthielt  zugleich  „denjenigen  langsamen 
Gift",  welcher  alle  Geschöpfe  dem  Tod  näher  brachte.  Der  Regenbogen 
erinnerte  freilich  an  jenen  Wasserbogen,  „das  fürchterliche  Werk- 
zeug der  göttlichen  Rache";  aber  durch  die  Versicherung  des 
versöhnten  Himmels  war  er  ja  ein  Gnadenzeichen.  Die  Aehnlich- 
keit  der  Gestalt  beider  Bogen  „köute  eine  solche  Hypothese  denen- 
jenigen  anpreisen,  die  der  herrschenden  Neigung  ergeben  sind, 
die  Wunder  der  Offenbarung  mit  den  ordentlichen  Naturgesetzen 
in  ein  System  zu  bringen.  Ich  finde  es  vor  ratsamer,  den  (97) 
flüchtigen  Beyfall,  den  solche  Uebereinstimmuugen  erwecken  können, 
dem  wahren  Vergnügen  völlig  aufzuopfern ;  welches  aus  der  Wahr- 
nehmung des  regelmässigen  Zusammenhanges  entspringet,  wenn 
physische  Analogien  einander  zur  Bezeichnung  physischer  Wahr- 
heiten unterstützen." 


Siebente  Vorlesung. 
Naturgeschichte  des  Himmels.     (Fortsetzung.) 

Nachdem  im  sechsten  Hauptstück  kurz  vom  Zodiakallicht  ge- 
handelt ist  (97—100),  berichtet  das  wichtige  „Siebente  Haupt- 
stück von  der  Schöpfung  im  ganzen  Umfange  ihrer  Unendlichkeit, 
sowohl  dem  Räume,  als  der  Zeit  nach".  „Das  Weltgebäude  (100) 
setzet  durch  seine  unermessliche  Grösse  und  durch  die  unendliche 
Mannigfaltigkeit  und  Schönheit,  welche  aus  ihr^)  von  allen  Seiten 
hervorleuchtet,  in  ein  stilles  Erstaunen.  W^enn  die  Vorstellung 
aller  dieser  Vollkommenheit  nun  die  Einbildungskraft  rühret;  so 
nimmt  den  Verstand  anderer  Seits  eine  andere  Art  der  Entzückung 
ein,  wenn  er  betrachtet,  wie  so  viel  Pracht,  so  viel  Grösse,  aus 
einer  einzigen  allgemeinen  Regel  (101),  mit  einer  ewigen  und 
richtigen  Ordnung,  abfliesset."  Denn  wie  unser  Planetensystem 
ein  aus  kleineren  Systemen  (Saturn,  Jupiter,  Erde)  gebildetes 
grösseres  System  ist,  so  können  wir  eine  grössere  Masse,  einen 
„Körper  von  der  ungemeinsten  Attraction"  als  Ceutralpunkt  aller 
Eixsterne    annehmen,    und    „das  Heer    der  Gestirne    macht  (102), 


1)  Akad.  Ausg.  ihm;  Kant  schrieb  wohl  ihr,  auf  Grösse  bezüglich. 


438  G.  Gerland, 

durch  seine  beziehende  Stellung  gegen  einen  gemeinschaftlichen 
Plan,  eben  sowohl  ein  System  aus,  als  die  Planeten  unseres 
Sonnenbaues  um  die  Sonne  (102).  Die  Milchstrasse  ist  der  Zodia- 
kus dieser  höheren  Weltordnungen,  die  von  seiner  Zone  so  wenig 
als  möglich,  abweichen,  und  deren  Streif  immer  von  ihrem  Lichte 
erleuchtet  ist,  sowie  der  Thierkreiss  der  Planeten  von  dem  Scheine 
dieser  Kugeln,  obzwar  nur  in  sehr  wenig  Punkten,  hin  und  wieder 
schimmert."  ilber  auch  die  Fixsternsysteme,  die  Milchstrassen, 
können  durch  „die  Anziehung  (104),  diese  ebenso  weit  ausge- 
dehnte Eigeusehaft  der  Materie,  als  die  Coexistenz,  welche  den 
Raum  macht" ; ...  „diese  ursprüngliche  ßeweguugsquelle,  welche  eher, 
wie  alle  Bewegung  ist:  die  keiner  fremden  Ursache  bedarf,  auch 
durch  keine  Hindernis  kan  aufgehalten  werden",  „ein  neues  noch 
grösseres  System  ausmachen"  (104,  Beginn  der  Seite).  Die  Schöpfung 
selber  darf  „um  sie  (105)  in  einem  Verhältnisse  mit  der  Macht  des  un- 
endlichen Wesens  zu  gedenken,  gar  keine  Grenzen  haben".  „Die  Ewig- 
keit ist  nicht  hinlänglich  (107),  die  Zeugnisse  des  höchsten  Wesens  zu 
fassen,  wo  sie  nicht  mit  der  Unendlichkeit  des  Raumes  verbunden 
wird."  Man  „kann  mit  gutem  Grunde  setzen,  dass  die  Anordnung 
und  Einrichtung  der  Weltgebäude,  aus  dem  Vorrathe  des  erschaffenen 
Naturstoffes,  in  einer  Folge  der  Zeit,  nach  und  nach  geschehe; 
allein,  die  Grundmaterie  selber,  deren  Eigenschaften  und  Kräfte 
allen  Veränderungen  zum  Grunde  liegen,  ist  eine  unraittelbaie 
Folge  des  göttlichen  Daseyns:  selbige  muss  also  auf  einmal  so 
reich,  so  vollständig  seyn,  dass  die  Eutwickelung  ihrer  Zusammen- 
setzungen in  dem  Abflüsse  der  Ewigkeit  sich  über  einen  Plan 
ausbreiten  könne,  der  alles  in  sich  schliesset,  was  seyn  kann,  der 
kein  Maass  annimmt,  kurz,  der  unendlich  ist."  Und  so  nimmt 
Kant  an,  dass  die  gesammte  Schöpfung  ein  einziges  System  ausmacht, 
um  den  „allgemeinen  (109)  Mittelpunkt  der  Senkung  der  ganzen 
Natur"  her,  „sowohl  der  gebildeten,  als  der  rohen,  in  welchem 
sich  ohne  Zweifel  der  Klumpen  von  der  ausnehmendsten  Attrac- 
tion  befindet,  der  in  seine  Anziehungssphäre  alle  Welten  und  Ord- 
nungen, die  die  Zeit  hervorgebracht  hat,  und  die  Ewigkeit  hervor- 
bringen wird,  begreiffet".  Um  diesen  Ort  ist  die  dichteste 
Häufung  des  Grundstoffes  und  „die  daselbst  geschehende  vorzüg- 
liche Bildung"  dient  „dem  gesammten  Universo  .  .  .  zum  Unter- 
stützungspunkt." „Es  ist  zwar  (110)  an  dem,  dass  in  einem  un- 
endlichen Räume  kein  Punkt  eigentlich  das  Vorrecht  haben  kan, 
der  Mittelpunkt  zu  heissen;  aber,  vermittelst  einer  gewissen  Ver- 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       439 

hältuis,!)  die  sich  auf  die  wesentliche  Grade  der  Dichtigkeit  des 
Urstoffes  gründet,  nach  welcher  diese '-i)  zugleich  mit  ihrer 
Schöpfung  an  einem  gewissen  Orte  dichter  gehäuffet,  und  mit  den 
Weiten  von  demselben  in  der  Zerstreuung  zunimmt,  kan  ein 
solcher  Punkt  das  Vorrecht  haben,  der  Mittelpunkt  zu  heissen, 
und  er  wird  es  auch  wirklich,  durch  die  Bildung  der  Centralmasse, 
von  der  kräftigsten  Anziehung  in  demselben,  zu  dem  sich  alle  üb- 
rige, in  Particularbildungeu  begriffene  elementarische  Materie 
senket  (111),  und  dadurch,  so  weit  sich  auch  die  Auswickelung 
der  Natur  erstrecken  mag,  in  der  unendlichen  Sphäre  der 
Schöpfung,   aus  dem  ganzen  All,    nur  ein  einziges  System  macht." 

Von  diesem  Mittelpunkte  aus  fängt  nun  die  Ausbildung  der 
Natur  an,  die  sich  durch  den  unendlichen  Raum  im  Fortgang  der 
Ewigkeit  immer  mehr  ausbreitet.  Jeder  endliche  Periodus  (112) 
bildet  eine  endliche  Sphäre  aus,  während  das  Übrige  noch  von 
der  Bildung  je  nach  dem  Abstände  vom  Centrum,  dem  wir  nahe 
sind,  entfernt  und  noch  in  dunkler  Nacht  begraben  ist.  „Die 
Schöpfung  ist  nicht  das  Werk  von  einem  Augenblicke"  (113); 
„die  Unendlichkeit  (114)  der  künftigen  Zeitfolge,  womit  die  Ewig- 
keit unerschöpflich  ist,  wird  alle  Räume  der  Gegenwart  GOttes 
ganz  und  gar  beleben  .  .  .  und  wenn  man  mit  einer  kühnen  Vor- 
stellung die  ganze  Ewigkeit,  so  zu  sagen,  in  einem  Begriffe  zusammen- 
fassen könnte;  so  würde  mau  den  ganzen  unendlichen  Raum  mit  Welt- 
orduungen  angefüllet  und  die  Schöpfung  vollendet  ansehen  können". 
Aber  die  Schöpfung,  deren  Teile  nach  und  nach  eine  allgemeine  Be- 
ziehung auf  das  Centrum  erlangen,  „ist  niemals  vollendet.  Sie 
hat  zwar  einmal  angefangen,  aber  sie  wird  niemals  aufhören"  (114). 

Dies  Alles  ist  freilich  nicht  streng  erweislich,  aber  doch  aus 
der  Analogie  mit  unserem  Sonnensystem  zu  schÜessen.  Und  ge- 
rade weil  ,,die  Schöpfung  den  Charakter  der  Beständigkeit  nicht  mit 
sich  führet"  (116),  wenn  sie  nicht  Schwungkräfte  besitzt,  welche 
der  zur  Zerstörung  führenden  Anziehung  entgegenwirken,  so  ist 
mau  zu  der  Annahme  eines  allgemeinen  Weltmittelpuukts  genötigt, 
„die^)  .  .  .    aus    dem  ganzen  Inbegriff  der  Natur  nur  ein  System 

1)  So  die  Originalausgabe.  Akad.-Ausg.  ohne  Angabe  des  ursprüng- 
lichen Textes  und  der  Änderung:  eines  gewissen  Verhältnisses,  das  .  .  . 
nach  welchem. 

2)  Kant  bezog  die  Worte  auf  Dichtigkeit.  Akad.-Ausg.:  dieser  .  .  . 
mit  seiner. 

3)  So  die  Orig.-Ausg.,  bezüglich  auf  „Annahme";  die  Akad.-Ausg. 
hat  „der". 


440  G.  Gerland, 

machet"  (117).  lu  dem  unendlichen  Raum  kann  nur  dann  „ein 
wahrer  Mittel-  und  Senkungspuukt  der  g-esamniteu  Natur"  bestehen, 
wenn  der  ursprüng-liche  Grundstoff  „nach  einem  Gesetze  der  zu- 
nehmenden Zerstreuung,  von  diesem  Punkt  au,  in  alle  fernen 
Welten  eingerichtet  ist,"  Die  Systeme  in  der  Nähe  des  Welt- 
centrums entwickeln  sich  rascher,  als  die  ferneren. 

Aber  jedes  „zur  Vollkommenheit  gebrachte  Weltgebäude" 
hat  auch  „den  unvermeidlichen  Hang  zu  seinem  Untergang"  (HS) ; 
es  entstehen  und  vergehen  Welten,  was  indes  nur  den  Reichtum 
der  Natur  beweist,  die  im  kleinen  wie  im  grossen  Vergänglichkeit 
und  Neuschöpfung  zeigt.  Nach  einem  Gesetze,  „dessen  Erweguug 
der  Theorie  einen  neuen  Zug  der  Anständigkeit  giebet"  (122),  tritt  das 
Ende  wie  der  Anfang  der  Entwickelung  zunächst  bei  den  Weltkörperu 
im  Mittelpunkt  des  Weltalls  ein  ;  von  da  breitet  sich  der  Eintritt  des 
Chaos  nach  und  nach  in  die  weiteren  Entfernungen  aus,  während 
„auf  der  entgegengesetzten  Grenze  unablässig"  neue  Welten  gebildet 
werden.  Da  nun  die  Existenz  einer  gebildeten  Welt  länger  als 
ihre  Bildung  dauert,  so  nimmt  der  Umfang  des  Universums  zu  (123). 

Und  nun  trägt  Kant  die  Impakttheorie  vor.  „Kann  man 
nicht  glauben,"  fragt  er  (S.  124),  „die  Natur,  welche  vermögend 
war  sich  aus  dem  Chaos  in  eine  regelmässige  Ordnung  und  in  ein 
geschicktes  System  zu  setzen,  sey  ebenfalls  im  Stande,  aus  dem 
neuen  Chaos,  darinn  sie  die  Verminderung  ihrer  Bewegungen 
versenket  hat,  sich  wiederum  eben  so  leicht  herzustellen  und  die 
erste  Ordnung  zu  erneuren?"  Durch  den  Zusammensturz  eines 
Systems  entsteht  eine  solche  Hitze,  dass  alles  wieder  „in  die 
kleinsten  Elemente  aufgelöst"  und  in  die  weitesten  Räume  ausge- 
dehnt wird,  worauf  dann  das  Spiel  von  neuen  beginnt.  „Wenn 
wir  denn  diesen  Phönix  der  Natur,  der  sich  nur  darum  verbrennet, 
um  aus  seiner  Asche  (126)  wiederum  verjüngt  aufzuleben,  durch 
alle  Unendlichkeit  der  Zeiten  und  Räume  hindurch  folgen:  wenn 
man  siehet,  wie  sie  sogar  in  der  Gegend,  da  sie  verfält  und  ver- 
altet an  neuen  Auftritten  unerschöpft  und  auf  der  anderen  Grenze 
der  Schöpfung  in  dem  Raum  der  ungebildeten  rohen  Materie  mit 
stetigen  Schritten  zur  Ausdehnung  des  Plans  der  göttlichen  Offen- 
barung fortschreitet,  um  die  Ewigkeit  sowohl,  als  alle  Räume  mit 
ihren  Wundern  zu  füllen;  so  versenket  sich  der  Geist,  der  alles 
dieses  überdencket,  in  ein  tiefes  Erstaunen;  aber  aunoch  mit  diesem 
so  grossen  Gegenstande  unzufrieden,  dessen  Vergänglichkeit  die 
Seele  nicht  gnugsam  zufrieden  stellen  kann,  wünschet  er  dasjenige 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       441 

Weseu  von  nahem  kennen  zu  lernen,  dessen  Verstand,  dessen 
Grösse  die  Quelle  desjenigen  Lichtes  ist,  das  sich  über  die  ge- 
sammte  Natur  .  .  .  ausbreitet.  Mit  welcher  Art  der  Ehrfurcht 
muss  nicht  die  Seele  so  gar  ihr  eigen  Wesen  ansehen,  wenn  sie 
betrachtet,  dass  sie  noch  alle  diese  Veränderungen  überleben  soll." 
Der  unsterbliche  Geist,  so  „lehret  uns  die  Offenbarung  mit  Ueber- 
zeugung  hoffen"  (127)  wird  „von  der  Abhängigkeit  der  endlichen 
Dinge  befreyet,  in  der  Gemeinschaft  mit  dem  unendlichen  Wesen, 
den  Geniiss  der  wahren  Glückseligkeit  finden.  Die  ganze  Natur, 
welche  eine  allgemeine  harmonische  Beziehung  zu  dem  Wohlge- 
fallen der  Gottheit  hat,  kan  diejenige  vernünftige  Creatur  nicht 
anders  als  mit  immerwährender  Zufriedenheit  erfüllen,  die  sich 
mit  dieser  Urquelle  aller  Vollkommenheit  vereint  befindet.  Die 
Natur  von  diesem  Mittelpunkte  aus  gesehen,  wird  von  allen  Seiten 
lauter  Sicherheit,  lauter  Wohlanständigkeit  zeigen". 

In  der  Zugabe  zum  7.  Hauptstück  „Allgemeine  Theorie  und 
Geschichte  der  Sonne  überhaupt"  löst  Kaut  zunächst  (129)  die 
Frage  „woher  wird  der  Mittelpunkt  eines  jeden  Systemes  von 
einem  flammenden  Cörper  eingenommen"  ?  dahin,  dass  die  Ver- 
mischung schwererer,  dichterer  und  der  leichtesten  und  flüchtigsten 
Elemente  dazu  dient,  „den  Centralkörper  zu  der  heftigsten  Glut, 
die  auf  seiner  Oberfläche  brennen  und  unterhalten  werden  soll, 
geschickt  zu  machen"  (131).  Die  Sonne  ist  nicht  ein  glühender, 
sondern  ein  auf  ihrer  Oberfläche  brennender,  sonst  Erdenähnlicher, 
fester,  gebirgiger  Himmelskörper,  der  die  zum  Brand  nötige  Luft,  teils 
aus  seiner  Atmosphäre,  teils  aus  lufthaltigen  Höhlen  und  Stoffen  (Sal- 
peter) seines  Inneren  entnimmt.  Diese  Höhlen  sind  bei  Erhärtung  der 
Sonnenoberfläche  dadurch  gebildet,  dass  die  minder  schweren  „Par- 
tikeln des  elastischen  Luft-  oder  Feuerelements"  während  die  schwe- 
reren Materien  in  dem  flüssigen  Sonneninneren  sich  zum  Mittelpunkt 
senken,  „herausgejagt"  (137,  Note)  werden  und  unter  der  inzwischen 
fest  gewordenen  Sonnenrinde  ungeheure  Höhlen  bilden.  Ganz  so 
denkt  sich  Kant  das  Innere  der  Erde,  wie  wir  bei  seiner  Schil- 
derung der  Erdbeben  sehen  werden.  Die  brennende  Sonnenoberfläche 
wird  uns  mit  Lebhaftigkeit  geschildert;  als  Centralsonne  unseres 
Milchstrassensystems  wird  der  Sirius  vermutet,  lieber  den  Central- 
körper des  gesammten  Universums  wissen  wir  nichts  und  Kant 
spottet  über  Wright,  ^)  „der  mit  einer  fanatischen  Begeisterung  ein 


1)  Wrigt  in  der  Orig.-Ausg. 


442  G.  Gerland, 

kräftig-es  Wesen  von  der  Götterart  mit  geistlichen  Auzieliuugs- 
und  Zurückstossungskräften,  das,  in  einer  unendlichen  Sphäre  um 
sich  wirksam,  alle  Tugend  an  sich  zöge,  die  Laster  aber,  zurück- 
triebe, in  diesem  glücklichen  Orte,  gleichsam  auf  einem  Thron  der 
gesammten  Natur,  erhöhete"  (140).  Aber  auch  Kant  giebt  Mut- 
massungen  über  „die  verschiedenen  Grade  der  Geisterwelt  aus  der 
l)hysischen  Beziehung  ihrer  Wohnplätze  gegen  den  j\Iittelpunkt  der 
Schöpfung"  (141).  Er  kommt  dabei  zu  dem  Resultat,  dass  im  Centrum, 
in  dem  dichtesten  Stoffe,  an  dem  Anfangsort  der  Schöpfung,  die 
stumpfsten,  dagegen  auf  den  Himmelskörpern  von  leichterer  Materie, 
also  in  weiteren  Entfernungen  vom  Mittelpunkt,  die  feiner  organi- 
sierten denkenden  Wesen  leben. 

Das  achte  Hauptstück  (S.  144)  bringt  den  „Allgemeinen  Be- 
weis von  der  Richtigkeit  einer  mechanischen  Lehrverfassung,  der 
Einrichtung  des  Weltbaus  überhaupt,  insonderheit  von  der  Gewiss- 
heit des  gegenwärtigen". 

„Man  kan  (144)  das  Weltgebäude  nicht  ansehen,  ohne  die 
trefflichste  Anordnung  in  ihrer  i)  Einrichtung,  und  die  sicheren 
Merkmale  der  Hand  GOttes,  in  der  Vollkommenheit  ihrer  Bezieh- 
ungen zu  kennen."  Diese  können  nicht  auf  Zufall  beruhen:  „es 
muss  die  höchste  Weisheit  den  Entwurf  gemacht  und  eine  unend- 
liche Macht  selbige'-^)  ausgeführet  haben,  sonst  wäre  es  unmöglich, 
so  viele  in  einen  Zweck  zusammen  kommende  Absichten,  in  der 
Verfassung  des  Weltgebäudes,  anzutreffen.  Es  kommt  nur  noch  da- 
rauf au,  zu  entscheiden,  ob  der  Entwurf  der  Einrichtung  des  Uni- 
versi  von  dem  höchsten  Verstände  schon  in  die  wesentliche  Be- 
stimmungen der  ewigen  Naturen  gelegt,  und  in  die  allgemeine 
Bewegungsgesetze  gepflanzet  sey,  um  sich  aus  ihnen  .  .  .  unge- 
zwungen zu  entwickeln;  oder  ob  die  allgemeine  Eigenschaften 
der  Bestandtheilc  der  Welt  die  vöUige  Unfähigkeit  (145)  zur 
üebereinstimmung,  und  nicht  die  geringste  Beziehung  zur  Ver- 
bindung, haben,  und  durchaus  einer  fremden  Hand  bedurft  haben, 
um  diejenige  Einschränkung  und  Zusammeufügung  zu  überkommen, 
welche  Vollkommenheit  und  Schönheit  an  sich  blicken  lässt.  Ein 
fast  allgemeines  Vorurtheil  hat  die  meisten  Welt  weisen,  gegen  die 
Fähigkeit  der  Natur,  etwas  ordentliches  durch  ihre  allgemeinen 
Gesetze  hervorzubringen,  eingenommen,  gleich  als  wenn  es  GOtt 
die  Regierung    der  Welt    streitig    machen    hiesse,    wenn    man  die 


1)  „seiner",  Ak.-A.  hier  und  in  der  folg.  Zeile.        2)  selbigen,  Ak.-A. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       443 

ursprüngliche  Biklungen  in  den  Naturkräften  suchet,  und  als  wenn 
diese  ein  von  der  Gottheit  unabhängiges  Principium,  und  ein 
ewiges  blindes  Schicksal,  wäre".  ^) 

Hiergegen  spricht  Kant  auf  das  schärfste.    „Wenn  die  Naturen 
der  Dinge,"  sagt  er  S.  147,  „durch  die  ewigen  Gesetze  ihrer  Wesen, 
nichts  als  Unordnung  und  Ungereimtheit  zuwege  bringen;  so  werden 
sie  eben  dadurch  den  Charakter  ihrer  Unabhängigkeit  von  GOtt  be- 
weisen :  und  was  vor  einen  Begriff  wird  man  sich  von  einer  Gottheit 
machen  können,  welcher  die  allgemeinen  Naturgesetze  nur  durch  eine 
Art  von  Zwange  gehorchen,  und  an  und  vor  sich  dessen  weisesten  P^nt- 
würfen  widerstreiten?"     Aber  das  Gegenteil  zeigt  sich  im  Univer- 
sum:   „die  Natur,  ihren  allgemeinen  Eigenschaften  überlassen,    ist 
an    lauter   schönen  und  vollkommenen  Früchten  fruchtbar,    welche 
nicht    allein    an    sich  Uebereinstiramung    und   Treflichkeit   zeigen, 
sondern   auch    mit   dem    ganzen  Umfange    ihrer  Wesen,    mit  dem 
Nutzen    der    Menschen,    und    der    Verherrlichung    der    göttlichen 
Eigenschaften,    wohl    harmouireu.      Hieraus    folget,    dass  ...  sie 
ihren  Ursprung    in    einem    einzigen  Verstand,  als  dem  Grund  und 
der   Quelle    aller   Wesen,    haben    müssen."      „Also    (148)    ist    ein 
Wesen    aller  Wesen,    ein    unendlicher  Verstand    und    selbständige 
Weisheit  vorhanden,   daraus  die  Natur,   auch  sogar  ihrer  Möglich- 
keit nach,    in  dem  ganzen  Inbegriff  der  Bestimmungen,    ihren  Ur- 
sprung ziehet."     Sie  ist  also  „dem  Dasein  eines  höchsten  Wesens" 
nicht  „nachtheilig" ;  im  Gegenteil,  sie  ist  ein  Beweis  für  die  Gottheit, 
weil  „ihre  Hervorbringungen  .  .  .  lauter  Züge  aus  dem  aller  weisesten 
Entwürfe  seyn,  aus  dem  die  Unordnung  verbannet  ist"  (148).  Und  so 
hofft  Kant,  im  Gegensatz  zu  einer  faulen,  unter  andächtiger  Mine  aus 
Trägheit  unwissenden  Weltweisheit,  auf  unwiedersprechliche  Gründe 
eine  sichere  Ueberzeugung  zu  gründen  (149):  „dass  die  Welt  eine 
mechanische  Entwickelung,   aus  den  allgemeinen  Natur- 
gesetzen, zum  Ursprünge  ihrer  Verfassung,  erkenne;  und 
dass  zweyteus  die  Art  der  mechanischen  Erzeugung,    die 
wir    vorgestellet   haben,    die    wahre  sey.     Die  Einfachheit, 
die  Uebereinstimmungen  der  Bewegungen  sprechen    dafür;    ebenso 
aber  auch  die  Ungenauigkeiten,  die  Abweichungen,  ja  die  Mängel, 
die  sich  zeigen,  z.  B.  bei  den  Kometen,     Denn  „die  Mängel  selber 
sind  ein  Zeichen  des  Ueberflusses,    an  welchem"  die  Natur  „uuer- 
schöpft     ist"    (155).      Auch    die    Entstehung    der    Schwungkraft, 


1)  wären,  Hartenstein  u.  Akad.-Ausg. 


444  G.  Gerland, 

welche  Newton  zu  der  „vor  einen  Pliilosophen  betrübten  Entschliess- 
ung"  (156)  brachte,  hier  den  direkten  Willen  Gottes  einzumischen, 
erklärt  sich  mechanisch  sehr  gut  aus  der  Bewegung  des  früher 
im  Woltenraum  vorhandenen,  bei  der  Bildung  der  Himmelskörper 
aufgebrauchten  Grundstoffes  der  Schöpfung.  Und  „die  Gewissheit 
(S.  160)  einer  mechanischen  Lehrverfassung  von  dem  Ursprünge 
des  Weltgebäudes,  vornemlich  des  unsrigen,  wird  auf  den  höchsten 
Gipfel  der  Ueberzeuguug  erhoben,  wenn  man  die  Bildung  der 
Himmelskörper  selber,  die  Wichtigkeit  und  Grösse  ihrer  Massen 
nach  dem^)  Verhältnissen  erweget,  die  sie,  in  Ansehung  ihres  Ab- 
standes  von  dem  Mittelpunkte  der  Gravitation,  haben".  Das  Ab- 
nehmen der  Dichtigkeit,  das  Zunehmen  der  Masse  der  Elemente, 
das  Zunehmen  der  Zwischenräume  ihrer  Bahnen  mit  der  Ent- 
fernung von  der  Sonne,  die  (nach  Büffon)  ungefähre  Gleichheit 
der  Masse  der  Sonne  und  der  gesammten  Planeten,  erklärt  sich 
mechanisch  sehr  einfach,  unbegreiflich  aber  wird  sie  als  besonderer 
Willeusakt  Gottes;  und  dasselbe  gilt  von  den  Verschiedenheiten 
der  Planeten,  der  Achsenstellung,  der  Anzahl  der  Monde,  aber  auch 
von  den  Mängeln  „mit  welchem  sich  das  System  endiget,  indem  es 
in  der  völligen  Unregelmässigkeit  und  Unordnung  aufhöret"  (170). 

Der  dritte  Teil  der  allgemeinen  Naturgeschichte  und  Theorie 
des  Himmels,  „welcher  einen  Versuch  einer  auf  die  Analogien  der 
Natur  gegründeten  Vergleichung,  zwischen  den  Einwohnern  ver- 
schiedener Planeten,  in  sich  enthält"  (171)  und  mit  einem  ziemlich 
nichtssagenden  Motto  aus  Pope  eingeleitet  ist,  wird  von  Kant 
selbst  als  „Anhang,  von  den  Bewohnern  der  Gestirne"  (173)  be- 
zeichnet. Aber  auch  hier  will  er  nur  solche  Sätze  anführen,  „die 
zur  Erweiterung  unseres  Erkenntnisses  wirklich  beytragen  können 
und  deren  Wahrscheinlichkeit  zugleich  so  wohl  gegründet  ist,  dass 
man  sich  kaum  entbrechen  kan,  sie  gelten  zu  lassen"  (174). 

Nicht  alle  Planeten  müssen  bewohnt  sein;  „indessen  sind  es 
doch  die  meisten  gewiss,  und  die  es  nicht  sind,  werden  es  dereinst 
werden"  (179).  Vom  Menschen  ausgehend,  will  Kant ,, untersuchen, 
was  das  Vermögen,  vernünftig  zu  denken,  und  die  Bewegung  seines 
Leibes,  die  diesem  gehorchet,  durch  die,  dem  Abstand  von  der 
Sonne  proportionirte  Beschaffenheit  der  Materie,  an  die  er  ge- 
kuüpfet  ist,  vor  Einschränkungen  leide"  (180).  Und  da  ergibt 
sich    ihm  das  schon  früher  kurz  Ausgesprochene,    dass  die  „Grob- 


I 


1)  Originalausgabe. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.      445 

heit  der  Materie,  darinn  sein  geistiger  Teil  versenket  ist"  (182), 
nicht  nur  die  Ursache  der  Trägheit  der  menschlichen  Denkungs- 
kraft,  sondern  auch  die  Quelle  des  Lasters  und  des  Irrtums  ist 
(183).  Diese  Grobheit  der  Materie  und  ihr  schädlicher  Einfluss 
vermindert  sich  in  der  Sonnenferne:  „es  müssen  weit  leichtere 
und  flüchtigere  Materie^)  seyn,  daraus  der  Körper  des  Jupiters 
Bewohners  bestehet,  damit  die  geringere  Eegung,  womit  die  Sonne 
in  diesem  Abstände  würken  kann,  diese  Maschinen  eben  so  kräftig 
bewegen  könne,  als  sie  es  in  den  unteren  Gegenden  verrichtet" 
(185).  Der  Stoff  der  Einwohner  verschiedener  Planeten 
auch  der  Tiere  und  Pflanzen,  muss  desto  leichter  und 
feiner,  ihr  Bau^)  desto  vollkommener  sein,  je  weiter  sie 
von  der  Sonne  abstehen  (185);  daraus  folgt  aber,  „dass 
der  ganze  Umfang  ihrer  Vollkommenheit"  nach  dem 
Verhältniss  des  Abstandes  ihrer  Wohnplätze  von  der 
Sonne,  immer  trefflicher  und  vollkommener  wird  (187). 2) 
„Dieses  Verhältnis  hat  einen  Grad  der  Glaubwürdigkeit,  der  nicht 
weit  von  einer  ausgemachten  Gewissheit  entfernet  ist."  Hierfür 
spricht  schon  die  Schnelligkeit  des  Lichtwechsels  auf  den  ferner 
stehenden  Planeten,  welche  grössere  Beweglichkeit  der  Organismen 
verlangt,  und  ebenso  die  mindere  Kraft  von  Wärme  und  Licht. 
Und  in  Folge  dieser  grösseren  Leichtigkeit  der  Körperstoffe,  der 
Säfte  wird  auch  das  Leben  dort  länger  dauern;  und  vielleicht  sind 
die  so  beschaffenen  Wesen  auch  sündenfrei.  Die  Bewohner  von 
Erde  und  Mars  nehmen  wohl  einen  mittleren  Stand  ein  zwischen 
den  roheren  Bewohnern  der  inneren  uud  den  vollendeteren  der 
äusseren  Planeten. 

Der  Beschluss  des  Werkes  giebt  noch  kurze  Winke  über 
das  Leben  nach  dem  Tode.  Möglich,  dass  die  Trabanten  des  Ju- 
piters auch  uns  dereinst  leuchten  (199).  Das  sind  erlaubte  Ge- 
dankenspiele, „unsichere  Bilder  der  Einbildungskraft",  auf  die  man 
die  Hoffnung  dos  Künftigen  nicht  gründen  wird.  Der  unsterbliche 
Geist  wird  über  alles  Endliche  sich  im  Tode  emporschwingen  „und 
in  einem  (199)  neuen  Verhältnisse  gegen  die  ganze  Natur,  welche 
aus  einer  näheren  Verbindung  mit  dem  höchsten  Wesen  entspringet, 
sein  Dasej'n  fortsetzen.  Forthin  wird  diese  erhöhete  Natur,  welche 
die  Quelle  der  Glückseeligkeit  in  sich  selber  hat,  sich  nicht  mehr 
unter  den  äusseren  Gegenständen  zerstreuen,  um  eine  Beruhigung 

1)  Sa  die  Orig.-Ausg.  für  Materien. 

2)  Sperrungen  im  Original. 


446  G.  Gerland 


bey  ihnen  zu  suchen.  Der  g-esammte  Innbegriff  der  Geschöpfe, 
welcher  eine  nothweudige  Uebereinstininiung'  zum  Wohlgefallen  des 
höchsten  (200)  Urwesens  hat,  muss  auch  sie  auch  ^)  zu  dem  seinigen 
haben,  und  wird  sie  nicht  anders,  als  mit  immerwährender  Zufrieden- 
heit, rühren."  Und  nun  der  Schluss  des  Werkes:  „Wenn  es  unter  deu 
denkenden  Geschöpfen  dieses  Planeten"  (der  Erde)  „niederträchtige 
Wesen  giebt,  die  .  . .  im  Stande  sind,  sich  fest  an  die  Dienstbarkeit 
der  Eitelkeit  zu  heften:  wie  unglücklich  ist  diese  Kugel,  dass  sie 
so  elende  Geschöpfe  hat  erziehen  können?  Wie  glücklich  aber  ist 
sie  anderer  Seits,  da  ihr  unter  deu  aller  annehmungswürdigsten 
Bedingungen  ein  Weg  eröfnet  ist,  zu  einer  Glückseeligkeit  und 
Hoheit  zu  gelangen,  welche  unendlich  weit  über  die  Vorzüge  er- 
haben ist,  die  die  allervortheilhafteste  Einrichtung  der  Natur  in 
allen  Weltkörpern  erreichen  kan." 


Achte  Vorlesung. 
Kritik  der  Naturgeschichte  des  Himmels. 

Nach  dieser  Darlegung  des  Inhalts  der  Naturgeschichte  und 
Theorie  des  Himmels  tritt  uns  eine  Reihe  einzelner  Eragen  ent- 
gegen, die  wir  uns  beantworten  müssen.  Was  wollte  Kant  in 
diesem  Buche  leisten,  was  hat  er  geleistet?  In  welchem  Verhält- 
nis stehen  seine  Leistungen  zu  denen  seiner  Vorgänger,  nament- 
lich zu  Wright?  was  bringt  er  Neues?  und  sodann,  warum  ist 
sein  Buch,  welches  jetzt  als  ein  so  bedeutendes  hingestellt  wird, 
so  unbekannt  geblieben? 

Eine  ganz  kurze  Zusammenstellung  der  Hauptpunkte  der 
Darlegung  Kants  wird  die  Beantwortung  erleichtern.  In  der 
Einleitung  zeigt  er,  dass  eine  möglichst  weit  durchgeführte 
mechanische  Welterklärung  keineswegs  gegen  die  Religion  Ver- 
stösse, ja  durch  die  Darlegung  des  regelmässigen  Verfalii'ens  der 
Natur  auch  im  Chaos  einen  neuen  Gottesbeweis  erbringe;  diese 
Welterklärung  werde  wesentlich  gefördert  durch  die  Weltauffas- 
sung Wright's,  dem  er  in  manchen  Stücken  gefolgt  sei,  indem  er 
mit  Fernhaltung  aller  willkürlichen  Erdichtungen  die  ganze  Welt- 
entwickelung auf  die  Anziehungs-  und  Abstossungskraft  zurück- 
führe. —  Im  1.  Teil  wird  die  S3^stematische  Verfassung  unter 
deu  Fixsternen,  die  Analogie  dieses  Sj^stems  mit  unserem  Planeten- 


1)  sie  auch   Rahts  Akad.-Ausg,  für   auch  sie  auch,  wie  Kant  schrieb. 


Immanuel  JECant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       447 

System,  die  Ausdehnung  jener  Verfassung  der  Fixsterne  durch  die 
Unendlichkeit  der  Welt,  die  Ausdehnung  unseres  Planetensystems 
in  imoier  mehr  kometischeu  Körpern  über  den  Saturn  hinaus,  be- 
sprochen. —  Der  2.  Teil  erklärt  im  ersten  Hauptstück  die  Ent- 
stehung der  Himmelskörper  und  ihrer  Bewegungen  aus  einer  durch 
die  Unendlichkeit  ausgebreiteten  Urniaterie  mit  anziehenden  und 
abstossenden  Kräften.  2.  Hauptstück:  verschiedene  Dichtigkeit 
der  Planeten  und  Verhältnis  ihrer  Massen,  erstere  abnehmend 
letztere  zunehmend  mit  der  Entfernung  von  dem  selbst  weniger 
dichten  Centralkörper;  3.  Hauptstück:  Erklärung  der  zunehmenden 
Excentricität  der  Planetenkreise  und  des  Ursprungs  der  Kometen 
aus  den  leichtesten  Stoffen;  4.  Hauptstück:  Ursprung  der  Monde 
und  Bewegungen  der  Planeten  (und  des  Mondes)  um  die  Achse; 
Verrückung  der  letzteren.  5.  Hauptstück:  Ursprung,  Teilung  des 
Saturnrings,  Berechnung  der  täglichenUmdrehung  und  der  Abplattung 
des  Saturn;  Fehlen  der  Ringe  bei  anderen  Planeten  —  oder  hatte 
die  Erde  einen  solchen,  dessen  Einbrechen  die  Süudflut  veran- 
lasste? —  6.  Hauptstück:  das  Zodiakallicht.  7.  Hauptstück: 
räumliche  und  zeitliche  Unendlichkeit  der  Schöpfung,  die  allge- 
meine systematische  Beziehung  aller  Weltgebäude,  der  allgemeine 
Centralkörper,  die  successive  Fortsetzung  und  Zerstörung  der 
Schöpfung  sowie  ihre  ewige  Erneuerung  als  unendlicher  Plan  der 
göttlichen  Offenbarung  (126),  ebenso  wie  die  Unendlichkeit  der 
menschlichen  Seele  Als  Zugabe  folgt  die  Theorie  und  Geschichte  der 
Sonne,  die  Schilderung  der  brennenden  Oberfläche  derselben,  sowie 
der  verschiedenen  Grade  der  Geisterwelt,  welche  letztere,  in  Um- 
kehrung der  Auffassung  Wright's,  mit  der  Entfernung  vom  Mittel- 
punkt der  Schöpfung  immer  vollkommener  wird. 

Das  8.  Hauptstück  zeigt,  wie  gerade  die  wesentliche  Fähigkeit 
(144;  170)  der  Naturen  der  Dinge,  sich  von  selber  zur  Vollkommenheit 
zu  erheben,  der  schönste  Beweis  des  Daseins  Gottes  ist,  während 
aus  der  Annahme  einer  unmittelbaren  göttlichen  Anordnung  der 
Welt  für  den  Gottesbegriff  selbst  grosse  Schwierigkeiten  ent- 
stehen. 

Der  3.  Teil  giebt  als  Anhang  den  beiden  ersten  Teilen  eine 
Vergleichung  zwischen  den  Einwohnern  der  Gestirne,  deren 
geistige  Feinheit  und  Fähigkeit  mit  der  Feinheit  der  Materien 
ihrer  Wohnstätten,  also  mit  der  Entfernung  von  der  Sonne  zu- 
nimmt; er  giebt  zum  Beschluss  einige  Ideen  über  die  nach  dem 
Tode  etwa  eintretenden  Schicksale  der  Seele.  — 


448  G.  Gerland, 

F.  G.  W.  Struve  in  seinen  etudes  d'Astronomie  stellaire. 
8ur  la  vüie  lactee  et  sur  la  distauce  des  etoiles  fixes,  St.  Petersb. 
1847  giebt  in  einer  kurzen  Geschichte  der  Ansichten  über  die 
Milchstrasse  auch  das  Sj^stem  Kant's,  welches  er  in  folgende 
7  Thesen  zusammenfasst: 

1.  Die  Schöpferkraft  der  göttlichen  Allmacht  ist  unendlich, 
daher  sind  es  auch  die  Welten,  zeitlich  und  rilunilich. 

2.  Alle  Fixsterne  sind  Centren  von  Systemen  analog  unserem 
Planetensystem  in  Folge  von  Gravitation  und  Centrifugalkraft. 

3.  Die  Anziehung  erstreckt  sich  über  alle  Systeme,  welche 
ein  System  höherer  Ordnung,  das  der  Milchstrasse  bilden. 

4.  In  Analogie  zum  Planetensystem  beziehen  sich  auch  die 
Fixsterne  auf  einen  gemeinsamen  Grundplan,  gegen  den  hin  sie 
besonders  gehäuft  stehen. 

5.  Auch  das  System  der  Milchstrasse  hat  einen  Centralkörper, 
vielleicht  den  Sirius. 

6.  Solche  Systeme  sind  zahlreich. 

7.  Sie  sind  die  Glieder  noch  höherer  Systeme. 

M.  Nyren')  betont,  dass  von  diesen  7  Hauptpunkten  jeder 
einzelne  bei  Wright  vorkommt,  mit  einer  nennenswerten  Ab- 
weichung, den  Centralkörper  der  Milchstrasse  betreffend,  als 
welchen  Kaut  den  Sirius,  Wright  einen  unbekannten  Körper 
denkt.  „Kant's  Angabe,"  sagt  Nyren,  „das  System  von  Wright 
erweitert  zu  haben,  kann  sich  also  nur  auf  Nebeuumstäude  und 
ausgearbeitete  Details  beziehen,"  .  .  .  „Was  dagegen  die  wissen- 
schaftlichen Ideen  über  den  Bau  des  Himmels,  speziell  der  Milch- 
strasse betrifft,  so  kann  man  mit  vollem  Recht  sagen,  „dass  Kant's 
und  Lambert's  Ansichten  sich  schon  bei  Wright  vorfinden". 

Daher  ist  eine  genaue  Darlegung  der  Übereinstimmungen 
zwischen  Kant  und  Wright,  der  etwaigen  Abhängigkeit  des 
ersteren  von  letzterem  hier  geboten,  um  so  mehr,  als  Wright's 
Werk  selten 2)  ist.  Es  ist  betitelt:  An  original  Theory  or  new 
Hypothesis  of  The  Uuiverse  founded  upon  The  Laws  of  Nature 
and  solving  by  mathematical  Priuciples  The  general  Phaeno- 
mena  of  The  visible  Creation;    and  particularly  The  Via  lactea. 


1)  Vierteljahrschrift  der  Astronom.  Gesellschaft.  14.  Jahrg.  Leipzig 
1879,  S.  88  f. 

2)  Ich  durfte  das  Exemphir  der  Hamburger  Stadtbibliothek  längere 
Zeit  benutzen,  wofür  ich  der  Direktion  derselben  hier  den  lebhaftesten 
Dank  ausspreche 


Inimanixel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       449 

Compris'd  in  Nine  Familiär  Letters  from  the  Author  To  bis  Friend. 
And  lUustrated  with  upwards  of  Thirty  Graven  and  Mezzotinto 
Plates,  By  the  Best  Masters.  By  Thomas  Wright,  ot  Durham. 
Dann  folgt  ein  Motto  aus  Young: 

One  sun  by  Day,  by  Night  ten  Thousand  shine 
And  light  us  deep  into  the  Deity. 
London:    Printed    for   the  Author,    and    sold   by  H.  Chapelle,  in 

Grosvenor  Street  MDCCL.i) 

Der  volle  Titel  des  in  Grossquart  schön  gedruckten  Werkes, 
sowie  die  sehr  sorgfältig,  ja  prächtig  gestochenen  Tafeln  sind 
nicht  ohne  Interesse. 

Vergleicht  man  nun  die  „Original-Theorie"  mit  der  allge- 
meinen Naturgeschichte  und  Theorie  des  Himmels,  so  rauss  man 
zunächst  Nyren  vollkommen  beistimmen,  dass  jene  7  von  Struve 
aufgestellten  „Thesen"  Kant's  sich  alle  schon  bei  Wright  finden; 
allein  Struve  erschöpft  mit  ihnen  Kant's  Lehren  keineswegs.  Die 
Art,  wie  Kant  in  seiner  Vorrede  das  Werk  von  Wright  erwähnt, 
macht  es  wahrscheinlich,  dass  er  nicht  das  Original  selber,  sondern 
nur  den  Auszug  in  den  Hamburger  freien  Urteilen  gekannt  habe. 
Und  hierfür  spricht  auch  die  Vergleichung  beider  Werke.  Die 
Punkte  der  Übereinstimmung  finden  sich  alle  auch  in  den  Ham- 
burger freien  Urteilen  und  so  auch  manches,  wozu  Kant  von 
Wright  angeregt  sein  kann,  wenn  er  selber  es  auch  als  seine  Er- 
gänzung Wright's  anführt.  So,  dass  die  elliptisch  geformten  Nebel- 
flecken (Wright  gibt  auf  Taf.  14  den  Nebel  am  Fuss  des  Anti- 
nous,  Taf.  15  die  Pleiaden,  Taf.  16  den  Persidennebel)  Fix- 
sternsysteme seien  (Kant,  Vorrede;  S.  103;  2)  Hamburger  fr. 
Urteile  S.  18),  vielleicht  freilich  auch  nur  lokal  zusammengehäufte 
Sterne  (cloudy  knots  of  Stars  Wr.  63),  die  in  der  Milchstrasse 
selbst  stehen;  S.  65  bespricht  Wright  verschiedene  Creations  of 
Stars,  mit  sehr  verschiedener  Bewegung;  namentlich  aber  Stern- 
ringe, welche  nach  Art  der  Saturnringe  den  Centralkörper  um- 
geben: not  only  the  Phaenomena  of  the  Milky  Way  may  be  thus 
accounted  for,  but  also  all  the  cloudy  Spots  and  irregulär  Distri- 
bution of  them.  Die  Saturnringe  freilich  hält  Wright,  wie  Cassini 
modernen  Auffassungen  vorgreifend,  nicht  für  Bildungen  aufge- 
stiegener Dünste  (Kant  S.  76),  sondern  gebildet  durch  an  infinite 
number  of  lesser  planets,    inferior   to  those  we  call  his  SateUites; 

1)  Die  gesperrten  Stellen  sind  rot  gedruckt. 
-)  Paginierung  der  Orig.-Ausg. 

Kantstudieii   X,  30 


450  0.  Öerland, 

zu  (lieser  Ansicht  sei  er  gekommen  wegen  der  zeitweiligen  grossen 
Excentricität  der  Ringe,  die  bei  solidem  Ringe  nicht  eintreten  könne. 
Diese  Erklärung  des  Saturnrings  fehlt  in  den  Hamburger  freien  Ur- 
teilen; Kant  erwähnt  daher  als  ihren  Urheber  nur  Cassini. 

In  einem  anderen  Punkt  scheint  Kaut  direkt  von  Wright 
abzuhängen:  die  Auffassung,  dass  die  Planeten  und  Kometen 
gleichartig  und  nur  durch  ihre  Stelhmg  und  in  Folge  davon 
durch  ihre  excentrische  Bahn  verschieden  sind,  hat  schon  Wright 
ausgesprochen  (8.  'M,  Hamb.  fr.  Urt.  8.  12).  So  stellt  sie  auch 
Kant  im  1.  Teil  und  im  3.  Hauptstück  des  2.  Teiles  (S.  19  f., 
51  f.)  in  eine  Reihe  mit  den  Planeten,  von  denen  sie  sich  nur  durch 
ihre  Excentricität  unterscheiden  sollen;  er  kam  in  Folge  dieser 
Annahme  zu  der  Anschauung,  „dass  die  Abnahmei)  der  Eccentricität 
der  über  dem  Saturn  befindlichen  Himmelskörper  ohngefehr  eben 
so  gemässigt,  als  in  den  unteren  sey"  (S.  19).  „Man  würde  nach 
dieser  Vermuthung  noch  vielleicht  die  Entdeckung  neuer  Planeten 
über  den  Saturn  zu  hoffen  haben,  die  eccentrischer  als  dieser,  und 
also  der  cometischen  Eigenschaft  näher  seyn  würden;  aber  eben 
daher  würde  man  sie  nur  eipe  kurze  Zeit,  uemlich  in  der  Zeit 
ihrer  Sonnennähe,  erblicken  können  .  .  .  Der  letzte  Planet  und 
erste  Oomet  würde,  wenn  es  so  beliebte,  derjenige  können  genannt 
werden,  dessen  Eccentricität  so  gross  wäre,  dass  er  in  seiner 
Sonnennähe  den  Kreis  des  ihm  nächsten  Planeten,  vielleicht  also 
des  Saturns,  durchschnitte"  (S.  19—20).  Man  hat  in  diesen 
Worten  die  Vorausverkündigung  der  Planeten  Uranus,  Neptun  ge- 
sehen; und  doch,  wie  vollkommen  falsch  ist  diese  Deutung  der 
Worte  Kaut's:  ebenso  falsch,  wie  Wright's,  wie  Kant's  Annahme 
des  Uebergangs  der  Planeten  in  Kometen. 

Kaut  nennt  einigemal  die  Milchstrasse  den  Zodiakus  der 
höheren  Weltordnungen  (S.  102,  S.  11),  d.  h.  der  Sonnensysteme, 
welche  die  Milchstrasse  bilden.  Denselben  wenig  genauen  Aus- 
druck und  Vergleich  gebraucht  auch  Wright,  S.  62  und  65,  ganz 
im  gleichen  Sinne;  doch  kann  dies  nahe  liegende  Bild  jedem  der 
beiden  Schriftsteller  sich  aufgedrängt  haben;  eine  Benutzung  Wright's 
durch  Kant  auch  über  die  Hamburger  Ui'teile  hinaus  (in  welchen 
der  Ausdruck  nicht  vorkommt)  ist  hierdurch  nicht  bewiesen. 

Wright  leitet  die  Gestalt,  unter  welcher  wir  die  Milchstrasse 
sehen,  von  der  Position  unserer  Sonne  ab  (S.  62—3.  Hamb.  Nachr. 
S.  19),  die  er  als  eine  etwas  excentrische  bezeichnet.     Auch  Kant 

1)  So  die  Orig.-Ausg.  Rahts  schlägt  „Zunahme"  vor,  gewiss  mit  Unrecht. 


iminanuel  Itanf,  seine  geograpli.  und  antiiropolog.  Arbeiten,      451 

ist  dieser  x\nsicht  (S.  139,  Anm.),  wie  er  auch  einen  Oentralkörper 
des  Weltalls  annimmt,  ähnlich  wie  Wright,  der  es  (S.  79)  aller- 
dings unentschieden  lässt,  ob  derselbe  eine  Sonne  oder  erdenartig 
sei.  Kant  hält  ihn  für  eine  Sonne,  vielleicht  für  den  Sirius  (139, 
Anm.),  er  weist,  wie  wir  sahen,  Wright's  phantastische  Ansichten 
(Hamb.  fr.  U.  21)  mit  scherzhaftem  Spott  zurück  (S.  140),  der 
sachlich  sehr  berechtigt  ist.  Und  doch  zeigt  sich  auch  hier  eine 
eigentümliche  Übereinstimmung  zwischen  beiden.  Wright  sagt  S.  79 
(ich  eitlere  für  die  Wiedergabe  seiner  Worte  die  freien  Urteile,  S.21) : 
„wenn  wir  einmal  zugegeben  haben,  dass  alle  Sterne  sich  rund 
um  einen  Mittelpunkt  bewegen  können;  so  deucht  mir,  ist  es  für 
einen,  der  der  Natur  so  weit  als  möglich  nachgeht,  sehr  natürlich 
zu  fragen,  was  denn  in  diesem  Mittelpunkte  sei?  Denn  da  wir 
zugeben  müssen,  dass  er  alles  andre  in  dem  bekannten  Universo 
weit  übertreffe,  so  ist  es  höchst  wahrscheinlich,  dass  sich  allda 
ein  Körper  entweder  von  der  Sternen  Art  oder  von  einer  irdischen 
Beschaffenheit')  befinde,  wo  die  göttliche  Gegenwart,  oder  ein 
körperlich  wirkendes  Wesen,  voll  aller  Tugenden  und  Vollkommen- 
heiten, weit  unmittelbar  über  die  Geschöpfe  präsidiret.  Und  hier 
mag  etwa  dieses  (S.  22)  primum  agens  des  allmächtigen  und 
ewigen  Wesens  auf  seinem  Thron  sitzen  und  als  das  primum 
mobile  der  Natur  in  Uebereinstimmung  mit  dem  ewigen  Willen 
wirken.  Zu  diesem  allgemeinen  Mittelpunkt  der  Gravitation,  wo- 
von man  sich  vorstellen  kann,  dass  er  alle  Tugenden  an  sich 
ziehet  und  alle  Laster  zurücktreibt,  mögen  alle  Dinge  als  zur 
Vollkommenheit  zueilen.  Von  hieraus  können  alle  Körper  den 
ersten  Ursprung  ihrer  Bewegung  herleiten  und  von  hieraus  be- 
kommen sie  in  ihren  verschiedenen  Bewegungen  ihre  Richtung. 
Solchergestalt  wollte  ich  gern  in  dem  Foco  oder  dem  Mittelpunkte 
der  Schöpfung  eine  ursprüngliche  Quelle  finden,  die  beständig  von 
göttlicher  Gnade  überfliesset,  und  von  welcher  alle  Gesetze  der 
Natur  ihren  Ursprung  haben.  Dieses  würde,  meinen  Gedanken 
nach,  das  ganze  Universum  in  eine  regelmässige  Ordnung  und 
gehörige  Uebereinstimmung  bringen,  und  zu  gleicher  Zeit  unsere 
Begriffe  von  dem  göttlichen  Wesen  erweitern,  und  die  Schönheit 
der  Natur  auf  das  angenehmste  entdecken,  und  uns  das  weite 
Feld    unserer   künftigen    Hoffnung    eröffnen.     Was  nun  eigentlich 

1)  one  sidereal  or  carthy  substance,  where  the  divine  Presence  or 
some  corppreal  Agent  ful  of  all  Virtues  a.  Perfections  more  iraniediately 
presides  his  own  creation,    Wr. 

30* 


452  G.  Gerland, 

dieser  Körper  im  Mittelpunkte  sei,  das  unterstehe  ich  mich  hier 
nicht  zu  sag-en.  Doch  wo  anders  die  Schöpfung-  wirklich  und 
nicht  bloss  idealisch  ist,  so  muss  es  notwendig-  entweder  ein  feu- 
rig-er  Körper  sein,  der  die  Sonne  noch  übertrifft,  oder  auch  eine 
sphaera  terra(iuea,  die,  wie  unsere  Erde,  mit  einem  Aether  um- 
g-eben  ist,  der  aber  viel  feiner,  durchsichtig-er  und  heiterer  sein 
muss.  Welches  nun  von  diesem  am  wahrscheinlichsten  sey,  das 
werde  ich  unbestimmt  lassen.  Denn  ich  muss  g-estehen,  meine 
Begriffe  sind  hier  so  unvollkommen,  dass  ich  kaum  mutmassen 
darf."  So  weit  die  Hambui'ger  Urteile :  Wrig-ht  selbst  ergeht  sich 
dann  noch  im  Ausmalen  der  paradiesischen  Glückseligkeit  dieses 
Weltcentrums,  wo  der  Raum  aufhört,  wo  allgemeines,  vollkommenes 
Glück  herrscht.  Wie  es  zahllose  körperliche  Weltsysteme  giebt, 
so  auch  zahllose  geistige  Welten,  nicht  unähnlich  dem  uns  be- 
kannten LIniversnm. 

Wright  nimmt  also  die  höchste  Vollendung  des  Lebens  für 
das  Centrum  des  Weltalls;  Kant  aber  verweist  dieselbe  an  die 
Peripherie;  und  dennoch  scheint  er  mir  auch  hier  von  Wright  ab- 
hängig, wenigstens  stark  beeinflusst  zu  sein.  Kant  sagt  S.  184  f.: 
„es  erhellet  hieraus  deutlich,  dass  die  Kräfte  der  menschlichen 
Seele  von  den  Hindernissen  einer  groben  Materie,  an  die  sie 
innigst  verbunden  werden,  eingeschränket  und  gehemmt  werden; 
aber  es  ist  etwas  noch  merkwiirdigers,  dass  diese  specifische  Be- 
schaffenheit des  Stoffes  eine  wesentliche  Beziehung  zu  dem  Grade 
des  Hinflusses  ^)  hat,  womit  die  Sonne  nach  dem  Masse  ihres  Ab- 
standes  sie  belebet,  und  zu  den  Verrichtungen  der  animalischen 
Oekonomie  tüchtig  macht.  Diese  notwendige  Beziehung  zu  dem 
Feuer,  welches  sich  aus  dem  Mittelpunkte  des  Weltsystems  ver- 
breitet, um  die  Materie  in  der  nötigen  Regung  zu  erhalten,  2)  ist 
der  Grund  einer  Analogie,  die  eben  hieraus,  zwischen  den  ver- 
schiedenen Bewohnern  der  Planeten,  erst  gesetzet  wird;  und  eine 
jede  Klasse  derselben  ist  vermöge  dieser  Verhältnisse  an  den  Ort 
durch  die  Nothwendigkeit  ihrer  Natur  gebunden,  der  ihr  in  dem 
Universo  angewiesen  worden." 

Also:  das  Feuer  verbreitet  sich  von  dem  Mittelpunkt  des 
Weltsystems,    nm  die  Materie  in  der  nötigen  Regung  zu  erhalten; 


1)  So  die  Originalausgabe,  ebenso  Hartenstein,  Schubert.  Rahts  in 
der  Akad.-Ausg.  schreibt  Einflusses;  gewiss  nicht  mit  Recht.  Kant  wählte 
das  auffallende  aber  drastische  Wort  absichtlich. 

2)  Vgl.  das  Citat  aus  Newton  oben  S.  431. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       453 

die  spezifische  B(!schaffeuheit  wird  nach  dem  Grade  des  Hiu- 
fhisses,  womit  die  Sonne  sie  belebt,  zu  den  Vorrichtungen  der 
animalischen  Oekonomie  tüchtig  gemacht  —  das  Feuer  erregt, 
der  belebende  Hinfluss  von  der  Sonne  macht  die  Materie  zum 
organischen  Leben  tüchtig.  Das  kann  doch  nur  heissen  —  der 
Gedanke  an  innere  Eigenwärme  der  Planeten  war  Eant  da- 
mals noch  ganz  fremd  —  dass  das  organische  Leben  der 
Planeten,  je  weiter  sie  von  der  Sonne  entfernt  sind,  um  so 
w^eniger  angeregt,  belebt,  tüchtig  gemacht  wird,  also  um  so 
schwächer  und  unentwickelter  sein  muss.  Vom  Merkur  können 
wir  dabei  absehen.  Kant  aber  meint  das  Gegenteil:  er  sagt  (S. 
186  f.),i)  dass  die  Trefflichkeit  der  denkenden  Naturen, 
die  Hurtigkeit  in  ihren  Vorstellungen,  die  Deutlichkeit 
und  Lebhaftigkeit  der  Begriffe,  die  sie  durch  äusser- 
lichen  Eindruck  bekommen,  sammt  dem  Vermögen  sie 
zusammen  zu  setzen,  endlich  auch  die  Behendigkeit  in 
der  wirklichen  Ausübung,  kurz  der  ganze  Umfang  ihrer 
Vollkommenheit  unter  einer  gewissen  Regel  stehen, 
nach  welcher  dieselben,  nach  dem  Verhältnis  des  Ab- 
standes  ihrer  Wohnplätze  von  der  Sonne,  immer  treff- 
licher und  vollkommener  werden. 

Nur  durch  sehr  gekünstelte  Deutung  und  iVnpassung  lassen  sich 
S.  184  und  186  mit  einander  vereinigen.  Auch  S.  127  steht  im  grellen 
Gegensatz 2)  zu  S.  186.  Was  Kant  S.  185  sagt,  beweist  nur,  dass 
verschiedene  Organismen  verschiedene  Temperaturen  bedürfen. 
Auch  passt  die  Annahme  des  vom  Weltmittelpunkte  ausstrahlenden 
Feuers,  welches  man  in  der  angeführten  Stelle  nur  vom  Sonnen- 
feuer verstehen  kann,  nicht  zu  Kaut's  Beschreibung  der  Sonne 
und  der  auf  ihr,  einem  an  sich  kalten  Körper,  herrschenden 
Brände.  Au  der  schon  erwähnten  frühereu  Stelle  (S.  141  f.) 
nahm  Kant  die  Verbesserung  der  Materie  und  ihrer  Bewohner 
ebenso  für  das  gesammte  Universum,  wie  hier  für  unser  „Welt- 
system" au.  Alle  diese  Widersprüche  begreifen  sich,  wenn  wir  an- 
nehmen, dass  in  den  Worten  vom  Feuer  und  seinem  belebenden 
Einfluss  jene  im  Vorstehenden  citierten  Worte  Wright's,  seine  Auf- 
fassung der  Centralsonne,  nach  Abstreifung  aller  Ueberschweug- 
lichkeiteu,  auf  Kant  eingewirkt  hat. 

Auch  in  einer  anderen  Weise  stimmen  beide  zusammen,  ob- 
gleich   das    auf  den  ersten  Blick  nicht  so  scheint.     Wright  nimmt 

1)  Sperrung  im  Original.  ^)  Oben  S.  441. 


454  G.  Gerland. 

an,  cUiss  der  Stoff,  welcher  das  Weltceiitrutn  bildete,  der  vorzüg- 
lichste, durchgeistigste  sei,  wie  wir  eben  sahen.  Kant  nimmt  an, 
dass  im  Schöpfungscentrum  die  schwerste,  dadurch  gröbste,  „un- 
gelenksamste"  Materie  (S.  183)  vorherrsche;  diese  Grobheit  der 
Materie  ist  aber  „die  Ursache  derjenigen  Trägheit,  w^elche  die 
Fähigkeiten  der  Seele  in  beständiger  Mattigkeit  und  Kraftlosigkeit 
erhält";  sie  wird  dadurch  „nicht  allein  die  Quelle  des  Lasters, 
sondern  auch  des  Irrthums"  (eb.).  Daher  wächst  die  Trefflichkeit 
der  Geschöpfe  mit  der  Entfernung  von  der  Sonne,  da  ja  durch 
diese  Entfernung  die  Materie  selbst  immer  dünner  und  daher 
feiner  wird.  In  Folge  also  der  verschiedenen  Beschaffenheit  der 
Materie  der  Planeten,  abhängig  von  ihr,  ist  auch  die  geistige  Be- 
schaffenheit der  etwaigen  Bewohner  der  Planeten  eine  verschiedene. 
Dieser  Gedanke,  den  Kant  mit  Ernst  und  Vorliebe  —  in  den 
Einzelnheiten  bisweilen  nicht  ohne  Heiterkeit  und  einen  leichten 
Humor  ^)  —  ausbildet;  das  Citat  aus  Haller  (S.  197): 

Die  Sterne  sind  viellsicht  ein  Sitz  verklärter  Geister, 
Wie  hier  das  Laster  herrscht,  ist  dort  die  Tugend  Meister, 

stimmt  das  nicht  alles,  trotz  des  Gegensatzes  in  der  Lokalisierung, 
trotz  Kant's  Spott  über  Wright,  sehr  genau  zu  Wright's  Auffas- 
sungen und  Darlegungen,  soweit  dieselben  in  den  Hamburger  freien 
Urteilen  wiedergegeben  sind?  Es  ist  ja  wahr,  dass  derartige 
Auffassungen  in  jener  Zeit  der  Ueberschwenglichkeit  der  religiös- 
philosophischen Poesie  auch  in  der  Philosophie  —  hier  sei  au 
Swedenborg  erinnert  —  verbreitet  waren;  aber  trotzdem  ist  die 
Uebereinstimmung  Kant's  und  Wright' s  eine  so  grosse,  dass  eine 
Beeinflussung  des  ersteren  durch  letzteren  auch  nach  dieser  Seite 
hin  durchaus  wahrscheinlich  ist.  Und  zwar  nicht  bloss  eine  äusserliche, 
sich  auf  die  Tatsachen  beziehende:  sondern  eine  viel  tiefer  greifende, 
innerliche,  eine  Beeinflussung  der  gesammten  Auffassung.  S.  127 
stimmt  ganz  zu  Wright.  Ja  Kaut  spricht  dies  selber  aus  (S.  141): 
„indessen  wenn  ich,  ohne  an  der  enthusiastischen  Vorstellung  des 
Engelländers  Theil  zu  nehmen,  von  den  verschiedenen  Graden  der 
Geisterwelt  aus  der  physischen  Beziehung  ihrer  Wohnplätze  gegen 
den  Mittelpunkt  der  Schöpfung,  mutmassen  soll,  so  wollte  mit 
mehrer  Wahrscheinlichkeit  die  vollkommensten  Classen  vernünftiger 
Geschöpfe,  weiter  von  diesem  Mittelpunkte,  als  nahe  bei  demselben, 
suchen.     Die  Vollkommenheit    mit    Vernunft   begabter    Geschöpfe, 


')  Vgl.  den  „Beschluss"  S.  199  f. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       455 

in  SO  weit  sie  von  der  Beschaffenheit  der  Materie  abhänget  in 
deren  Verbindung-  sie  beschränket  seyn,  kommt  gar  sehr  auf  die 
Feinigkeit  des  Stoffes  an";  im  Mittelpunkte  der  Natur  aber  sind 
„die  dichtesten  und  schwersten  Sorten  der  Materie". 

Die  Idee  einer  allgemeinen  Weltenmaterie  ist  Wright  fremd; 
Kant  hat  sie  ausgesprochen,  vielleicht  einigermassen  durch  Wright's 
Schilderung  und  Erklärung  des  Milchstrassensystems  (Wr.  62  f., 
Hamb.  fr.  Urt.  S.  19)  angeregt,  i)  ohne  Zweifel  aber  in  völlig  selb- 
ständiger Erfassung  und  Entwickelung  des  Gedankens,  den  frei- 
lich Swedenborg  ganz  ähnlich  schon  1737  ausgesprochen  hatte.'^) 
Kant  war  bewegt  und  getrieben  von  dem  Gedanken,  den  mecha- 
nischen Aufbau  der  Welt  auch  da  noch  zu  beweisen,  wo  ihn 
Newton  nicht  mehr  durchführen  konnte. 

Jedenfalls  aber  ist  er  noch  in  einem  anderen  wichtigen  Punkt 
von  Wright  abhängig;  in  der  Annahme  jenes  Centrums,  „um 
welches,  durch  ich  weiss  nicht  was  vor  eine  Ursache,  die  erste 
Bildung  der  Natur  aus  dem  Chaos  angefangen"  und  wo  sich  die 
„grösste  Masse  und  ein  Körper  von  der  ungemeinsten  Attraktion" 
(S.  102)  entwickelt  hat,  um  den  sich  das  Weltensystem  nach  Art 
des  Sonnensystems  bildete.  Die  Vorstellung  des  Sonnensystems 
hat  bei  dieser  Annahme  ohne  Zweifel  mitgewirkt. 

Kant  scheidet  übrigens  keineswegs  genügend  zwischen 
Sonnensystem,  System  der  Milchstrasse  und  Universum.  Hier- 
durch entstehen  manche  Ungenauigkeiten  und  Widersprüche.  So 
Aveun  er  S.  27  sagt:  „ich  nehme  au:  dass  alle  Materien,  daraus 
die  Kugeln,  die  zu  unserer  Sonnenwelt  gehören,  alle  Planeten 
und  Cometen  bestehen,  im  Anfange  aller  Dinge  in  ihren  elemen- 
tarischen Grundstoff  aufgelöset,  den  ganzen  Raum  des  Weltge- 
bäudes erfüllet  haben,  darin  jetzo  diese  gebildeten  Körper  herum- 
laufen." Diese  Worte  können  sich  nur  auf  das  Sonnensystem 
beziehen.  Allerdings  fährt  Kant  fort:  „dieser  Zustand  der  Natur, 
wenn  man  ihn,  auch  ohne  Absicht  auf  ein  System,    an  und 


1)  „Lasst  uns  uns  einbilden,"  sagt  Wright  Hamb.  fr.  Urteile  S.  19, 
„dass  in  diesem  Raum  (in  der  Bezieliungsebene  zwischen  den  beiden 
Grenzflächen)  alle  Sterne  vermischt  und  durcheinander  zerstreut  sind, 
allein  in  einer  solchen  bestimmten  Entfernung  von  einander,  dass  das 
ganze  Medium  mit  einer  Art  von  regulärer  Unordnung  der  Objekte  ange- 
füllet  ist"  (Wr.  62). 

2)  Ueber  die  von  Em.  Swedenborg  aufgestellte  Kosmogonie,  vgl. 
M.  Nyren,  Vierteljahrsschr.  der  Astronm.  Gesellsch.  14,  1879,  S.  80  f. 


456  G.  Gerland, 

vor    sich    selbst   betrachtet,')    scheinet  nur  der  einfachste  zu 
sein,  der  auf  das  Nichts i)  folgen  kann.     Damals  hatte  sich  noch 
nichts  gebildet.  ...  Die  Natur,  die   unmittelbar  mit  der  Schöpfung 
gränzete,  war  so  roh,  so  ungebildet  als  möglich.    Allein  auch  in  den 
wesentlichen  Eigenschaften  der  Elemente,  die  das  Chaos 
ausmachen, 2)   ist   das  Merkmal    derjenigen  Vollkommenheiten  zu 
spüren,  die  sie  von  ihrem  Ursprung  her  haben,  indem  ihr  Wesen  aus 
der  ewigen  Idee  des  göttlichen  Verstandes  eine  Folge  ist."     Hier 
bleibt  ein  Widerspruch:    denn   die  von  den  Anfängen  des  Sonnen- 
systems gegebene  Schilderung  ist  nur  verständlich,    wenn  man  sie 
„ohne  Absicht  auf  ein  System,  an  und  vor  sich  selbst  betrachtet." 
Sie  passt   nach  Kant's   sämmtlichen  Darlegungen  nur  auf  die  An- 
fänge   der    Bildung   des    Universums.      Im    Sonnensystem    konnte 
auch  in  seinen  ersten  Anfängen  der  beschriebene  Elementarzustand 
nie  herrschen,    weil   dasselbe  ja  erst  durch  Losreissung  von  jenem 
Central-Urkörper    sich    bilden    konnte,    weil    es    schon    bei    seiner 
ersten  Entstehung  ein  Schicksal   hinter  sich  hatte,   weil  es  ja  nur 
als  partiale  Sekundärbilduug  der  primären  centralen  Urbildung  ent- 
stand.    Man  vergleiche,  was  Kant  über  die  Bildung  des  Gesammt- 
systems   des  Universums  sagt  (S.  109  f.).     Rahts^)   bezieht  daher 
jene  Schilderung  der  Entstehung   des  Sonnensystems  auf  ein  „all- 
gemeines   System",    aber    die  Unklarheit    der  Stelle  wird  dadurch 
nicht   beseitigt,    auch    nicht   durch  Kaufs  Bemerkung  (S.  30),    er 
wolle  sich  zu  leichterem  Begreifen  der  Bildung  des  Weltbaues  zu- 
nächst   auf   ein    einzelnes    System,    wie    unser  Sonnensystem,    be- 
schränken.    Denn  ein  einzelnes  System  hat  nach  Kant  selbst  eine 
vollkommen  andere  Bildungsgeschichte,  als  das  Universum. 

Besonders  unklar  ist  sodann  alles,  was  Kaut  über  Wesen 
und  Entstehung  des  Grundstoffs  des  Universums,  der  allgemeinen 
Materie,  des  Chaos  sagt.  Sehr  beachtenswert  ist  hierfür  gleich 
die  unmittelbare  Fortsetzung  der  oben  angeführten  Worte  S.  27: 
„Die  einfachsten,  die  allgemeinsten  Eigenschaften,  die  ohne  Ab- 
sicht scheinen  entworfen  zu  seyn;  die  Materie,  die  bloss  leidend 
und  der  Formen  und  Anstalten  bedürftig  zu  seyn  scheinet,  hat 
in  ihrem  einfachsten  (S.  28)  Zustand  eine  Bestrebung,  sich  durch 
eine  natürliche  Entwickelung  zu  einer  vollkommeneren  Verfassung 


')  Sperrung  nicht  im  Original. 

2)  Sperrung  nicht  von  Kant. 

3)  Akad.-Ausg.  1,  550. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       457 

ZU  bildeu.  Allein  die  Verschiedenheit  iu  deu  Gattiing-en 
der  Elemente^)  traget  zu  der  Regung-  der  Natur  und  zur  Bildung 
des  Chaos  das  vornehmste  bey,  als  wodurch  die  Ruhe,  die  bey 
einer  allgemeinen  Gleichtheit  unter  den  zerstreuten  Elementen 
herrschen  würde,  gehoben,  und  das  Chaos  in  den  Punkten  der 
stärker  anziehenden  Partikeln  sich  zu  bilden  anfängt.  Die  Gat- 
tungen dieses  Grundstoffes  sind  ohne  Zweifel,  nach  der  Unermess- 
lichkeit,  die  die  Natur  an  allen  Seiten  zeigt,  unendlich  ver- 
schieden". Was  sagt  hier  Kant?  Zunächst,  dass  die  Materie 
gleich  bei  ihrer  Erschaffung,  eine  höchst  mannigfaltige  ist;  oder 
wie  wir  S.  107  lesen:  „Die  Grundmaterie  selber,  deren  Eigen- 
schaften und  Kräfte  allen  Veränderungen  zu  Grunde  liegen,  ist 
eine  unmittelbare  Folge  des  göttlichen  Daseyns :  selbige  muss  also 
auf  einmal  so  reich,  so  vollständig  sein,  dass  die  Entwickelung 
ihrer  Zusammensetzungen  in  dem  Abflüsse  der  Ewigkeit  sich  über 
einen  Plan  ausbreiten  könne,  der  alles  in  sich  schliesset,  was 
seyn  kann,  der  kein  Maass  annimmt,  kurz,  der  unendlich  ist." 
Der  Seite  27  jnüssen  wir  ferner  entnehmen,  dass  zunächst  die 
Materie  als  solche  mit  all'  ihren  verschiedenen  Elementen  ge- 
schaffen wurde;  dass  sodann  aus  ihr  in  Folge  dieser  Verschieden- 
heit der  Elemente  das  Chaos  sich  zu  bilden  anfieng:  und  doch 
wird  einige  Zeilen  vorher  die  Urmaterie  mit  dem  Chaos  identi- 
ficiert,  während  wir  S.  29  lesen,  dass  in  Folge  der  „wesentlichen 
Kräfte  der  Elemente,  einander  in  Bewegung  zu  setzen",  „die  Materie 
sofort  in  Bestrebung  ist,  sich  zu  bilden;"  dass  drittens  aus  dem 
Chaos,  der  „sich  bildenden  Materie",  die  Himmelskörper  sich  ent- 
wickeln, denn  „bey  einem  auf  solche  Weise  erfüllten  Räume 
dauert  die  Ruhe  nur  einen  Augenblick".  0  nein.  Eine  solche 
Materie  war  vielmehr  in  Folge  der  anerschaffenen  Verschiedenheit 
und  Anziehung  ihrer  Elemente  als  eine  bewegte  und  zwar  sehr 
unregelmässig  bewegte  geschaffen.  Kant  nimmt  —  wozu  die 
Worte  S.  113  von  der  unaufhörlichen  Beschäftigung  der  ausge- 
bildeten Natur  sich  auszubreiten  durchaus  nicht  passen  — 
diese  Eigenschaften  gleichmässig  für  die  Gesammtmaterie  des 
Universums  in  Anspruch,  deren  Eigenschaften  und  Kräfte  allen 
Veränderungen  zum  Grunde  liegen"  und  die  ja  „die  unmittelbare 
Folge  des  göttlichen  Daseyns"  ist  (S.  107).«) 

1)  Sperrung  von  Kant. 

2)  Man  wird  hier    an  eine  merkwürdige  Stelle  in  Newton's  Scholion 
generale  (Ausg.  von  Thomson   und  Blackham  528  f.)  erinnert,     Sie  lautet: 


458  G,  Gerland, 

Auch  sonst  finden  wir  in  Kant's  Auffassung  der  Urmaterie 
merkwürdig-e  Vorstellungen.  Nach  der  Angabe,  dass  die  Gattungen 
des  Grundstoffes  unendlich  verschieden  sind  (S.  28)  fährt  Kant 
fort:  „die  (Gattungen)  von  grösster  spezifischen  Dichtigkeit  und 
Anziehungskraft,  welche  an  und  vor  sich  weniger  Raum  einnehmen 
und  auch  seltener  seyn,  werden  daher  bey  der  gleichen  Aus- 
theilung  in  dem  Kaume  der  Welt  zerstreuter,  als  die  leichtern 
x\rten  seyn.  Elemente  von  lOOOmal  grösserer  spezifischer  Schwere 
sind  tausend,  vielleicht  auch  Millionenmal  zerstreuter,  als  die  in 
diesem  Maasse  leichteren.  Und  da  diese  Abfälle  so  unendlich  als 
möglich  müssen  gedacht  werden,  so  wird,  gleichwie  es  körperliche 
Bestandtheile  von  einer  Gattung  geben  kau,  die  eine  andere  in 
dem  Maasse  an  Dichtigkeit  übertrifft,  als  eine  Kugel,  die  mit  dem 
Radius  des  Planetengebäudes  beschrieben  worden,  eine  andere,  die 
den  tausendsten  Teil  einer  Linie  im  Durchmesser  hat,  also  auch 
jene  Art  von  zerstreuten  Elementen  um  einen  so  viel  grösseren 
Abstand  von  „einander  entfernet  seyn,  als  diese". 

Die  Annahme  (S.  29),  dass  in  Folge  der  Welteubildung  durch 
Anziehung  eine  Anzahl  verschiedener  Weltkörper  existiere,  „die  nach 
Verrichtung  ihrer  Bildungen  durch  die  Gleichheit  der  Anziehung  ruhig 
und  auf  immer  unbewegt  seyn  würden",  ist  willkührlich;  ebenso 
auch,  wie  Kant  selber  zugibt,  die  weitere  Annahme,  dass  an  irgend 
einem  Ort  des  unendlichen  Raumes,  der  Grundstoff  die  dichteste 
Häufung  gehabt  haben  müsse,  um  dem  gesammten  Universum  als 
Mittel-  und  Uuterstützungspunkt  zu  dienen  (S.  109;  110),  um  welchen 
dann  „die  Systemen  am  dichtesten  gehäufet  seyn,  während  sie 
„weiter  von  demselben  sich  mit  immer  grösseren  Graden  der  Zer- 
streuung verlieren".  Von  dieser  Annahme  weitergehend  sagt  dann 
Kant  S.  112:  wenn  wir  auch  „in  ein  unendliches  Heer  von  Welt- 
ordnungen" den  Einblick  haben,  „so  befinden  wir  uns  doch  eigent- 
lich nur  in  einer  Naheit  zum  Mittelpunkte  der  ganzen  Natur,  wo 
diese  sich  schon  aus  dem  Chaos  ausgewickelt,  und  ihre  gehörige 
Vollkommenheit  erlangt  hat.  Wenn  wir  eine  gewisse  Sphäre 
überschreiten  könnten;  würden  wir  daselbst  das  Chaos  und  die 
Zerstreuung  der  Elemente  erblicken,  die  .  .  .  mit  den  Graden  der 
Entfernung  (S.  113)    sich    nach    und    nach   in    einer  völligen  Zer- 


Deus  omnipotens  est  non  per  virtutem  solam  sed  etiam  per  substan- 
tiam:  nam  virtiis  sine  snbstantia  subsistere  non  potest.  In  ipso  continentur 
et  moventur  nniversa,  sed  sine  mutua  passione.  Dens  nihil  patitur  ex  cor- 
porum  raotibus;  illa  nuUam  sentiunt  resistentiam  ex  omnipraesentia  dei. 


Immanuel  K;int,  seine  geograpli.  und  anthropolog.  Arbeiten.       459 

Streuung  verlieren."  Auch  hier  wird  man  wieder  au  Wright  er- 
innert. Und  wie  passt  zu  dieser  Behauptung,  nach  der  das  Chaos 
den  Mittelpunkt  der  Natur,  der  sich  zuerst  aus  ihm  entwickelte, 
peripherisch  umgibt,  jene  andere  (S.  141),  welche  den  rohsten, 
gröbsten  Stoff  im  Weltceutrum  und  in  der  Peripherie  den  feineren, 
durchgeistigten  annahm?  Jedenfalls  sind  dies  keine  Ansichten, 
die  naturwissenschaftlichen  Wert  haben;  welche  zu  einer  streng 
wissenschaftlichen  Begründung  der  Nebularhypothese  irgend  etwas 
beitragen. 

Kant  lässt  nun  nicht  nur  das  Sonnensystem,  sondern  das 
ganze  Universum  sich  aus  dieser  kosmischen  Urmaterie  bilden  und 
zwar  so,  dass  (S.  33  f.)  in  scheibenförmigen,  verhältnismässig 
flachen  „Beziehungsräumen"  die  Materie  zunächst  des  Universums, 
dann  die  der  einzelnen  Systeme  kreiste,  welche  während  und  nach 
der  Bildung  des  Centralkörpers  übrig  blieb.  Wie  verhalten  sich  aber 
die  Beziehungsräume  der  Systeme  hinsichtlich  ihrer  Stellung,  ihrer 
Materie  zu  dem  Beziehungsraum  des  Universums?  w^as  ist  von  dem 
Raum  zwischen  den  Systemen  zu  denken?  ist  er  durch  die  Bildung 
jener  Scheiben  alles  Stoffes  beraubt?  und  wie  hat  man  sich  den 
Uebergang  der  zu  Beziehungsräumen  oder  Systemen  gebildeten  Materie 
oder  gar  des  Beziehungsraumes  des  Universums  in  jene  noch  uuge- 
büdeten  Räume  vorzustellen,  die  doch  auch  zum  Universum  gehören? 
Wie  die  Materie  selbst,  w^elche  nicht  allein  (S.  34,  Note)  durch  die 
Newtonische  Anziehung,  sondern  bei  der  ersten  Bildung  „durch  den 
Zusammenlauf  einiger  Elemente,  die  sich  durch  die  gewöhnlichen 
Gesetze  des  Zusammenhangs  vereinigen",  d.  h.,  wie  Kant  in  einer 
späteren  Arbeit  diese  Unklarkeit  verbessert,  0  „sich  nach  Gesetzen  zu- 
erst der  chemischen,  hernach  und  vornehmlich  der  kosmologischen" 
(Newtonischen)  Attraction  gebildet  haben?  Kant  nennt  die  planetarische 
Urmaterie  unseres  Sonnensystems  30  Millionen  mal  dünner  als  unsere 
Atmosphäre  (S.  49).  Wie  er  sie  sich  gedacht  hat,  erhellt  aus  der 
Naturgeschichte  des  Himmels  nicht;  kaum  als  Staub  oder  Pulver,^) 
denn  „Partikelchen  von  so  ausnehmender  Feinigkeit"  (S.  34,  Anm.) 
kann  man  sich  nicht  als  Pulver  denken.  Hier  gibt  die  Abhand- 
lung über  die  Vulkane  im  Mond  einige  Andeutungen:    der  Urstoff 


1)  Ueber  die  Vulkane  im  Mond,  1785.     Hart.  4,  200.     Vgl.  Metaphys. 
Anfangsgründe  der  Naturwissensch.     11,  Dynamik.  Hart.  4,  424. 

2)  Gust.  Eberhard,    Die    Cosmogonie    von  Kant,    Wien  189.'^,  S.  V  f., 
Kap.  1. 


460  G.  Gerland, 

aller  Woltkörpor  war  in  dem  ganzen  weilen  Raum,  darin  sie  sich 
jetzt  beweg-en,  anfangs  „duustförmig  verbreitet" ;  und  von  diesem 
dunstförmigen  Urstoff  lieisst  es  in  Gensiclien's  Auszug,  ^)  dass  er 
alle  Materien  von  unendlich  verschiedener  Art  im  elastischen  Zu- 
stand 2)  in  sich  enthielt  und  indem  er  Weltkörper  bildete,  dies 
nur  dadurch  tat,  dass  die  Materien,  welche  von  chemischer  Affi- 
nität waren,  wenn  sie  in  ihrem  Fall  nach  Gravitationsgesetzeu 
aufeinander  trafen,  wechselseitig  ihre  Elastizität  vernichteten. 
Diese  oder  eine  ähnliche  Ansicht  scheint  Kant  auch  früher  gehabt 
zu  haben;  sie  ist  die  natürlichste.  Die  Art  wenigstens,  wie  er  die 
Materie  aus  der  Natur  Gottes  ableitet,  spricht  für  die  Vorstellung 
einer  zusammenhängenden  (elastischen),  aber  heterogenen  Masse, 
die  nach  Bildung  des  Chaos  in  einzelne  einander  ebenfalls  nah  be- 
rührende Teilchen  und  Bewegungen  dieser  Teilchen  auseinander- 
gieng.  Freilich  stimmt  zu  dieser  ungeheuren  Verdünnung  das  sehr 
verschiedene  Maass  der  Dichtigkeit  nicht,  welche  Kant  S.  28  angibt: 
es  kann  körperliche  Bestandteile  von  einer  Gattung  geben,  die  eine 
andere  soweit  an  Dichtigkeit  übertrifft,  als  eine  Kugel  mit  dem  Radius 
des  Plaueteugebäudes  eine  andere  mit  dem  Durchmesser  von  einem 
Tausendstel  Linie  übertrifft.  Erstere  sind  seltener  als  letztere 
und  haben  einen  Abstand  von  einander,  der  der  Grösse  ihres 
Radius  entspricht.  Klar  gedacht,  klar  durchdacht  ist  hier  nichts. 
Wie  ganz  anders  bespricht  Kant  das  Wesen  der  Materie  30  Jahre 
später,  wo  er  sie,  als  Ding  an  sich,  nur  nach  den  sinnlich 
wahrnehmbaren  Erscheinungsformen  ihrer  Kräfte,  also  dynamisch 
auffasst. 

Auch  darin  liegt  ein  Widerspruch,  dass  Kant  die  Monde  aus 
kosmischer  Materie  sich  bilden  lässt,  die  immer  noch  um  die  der 
Masse  nach  doch  schon  fertigen  Planeten  kreist,  obwohl  deren  jeder, 
„nach  dem  Maasse  des  Anwuchses  seines  Klumpens,  seine  An- 
ziehung weiter  ausbreitet  und  die  Elemente  aus  weitem  Umfange 
zu  seiner  Zusammenziehung  bew^egt"  (35).  Die  kosmische  Materie 
wird  ja  durch  die  Bildung  der  Sonnen  und  Planeten  aufgebraucht. 
„In  der  jetzigen  Verfassung  des  Raumes,  darin  die  Kugeln  der 
ganzen  Planeten  umlaufen,  ist  keine  materialische  Ursache  (8.  26) 
vorhanden,    die    ihre  Bewegungen  eindrücken  oder  richten  könnte. 


1)  Gensichen's    Auszug,    Teil  1  u.  2,    Hauptst.  1—5,  in  W.  Herschel, 
über  den  Bau  des  Himmels,  Wien  1791. 

2)  Hart.  4,  198;  vgl.  v.  Oettingen's  Ausgabe  S.  157. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       461 

Dieser  Raum  ist  vollkommen  leer,  oder  doch  wenig-stens  so  g-ut 
als  leer  . . .  uaclideiii  die  Anziehung-  besag-te  Räume  gereinig-t  und 
alle  ausg-ebreitete  Materie  zu  besonderen  Klumpen  versamlet"  hat. 
Woher  kommt  also  noch  die  g-ewiss  nicht  geringe  Menge  weiterer 
Materie,  die,  der  Sonne  näher,  mit  schnellerem  Schwung  umlauft 
und  durch  die  Sphäre  des  Planeten  genötigt  ist,  sich  in  einer  „ab- 
langen Ausschweifung  über  den  Planeten  zu  erheben"  (63),  um  ihrer- 
seits dem  für  den  Mond  schon  vorhandenen  Stoff  die  zum  Planeten 
rechtläufige  Bewegung  zu  geben?  War  aber  diese  von  Kant  hier 
eingeführte  weitere  Materie  überhaupt  nicht  vorhanden,  wie  seine 
ersten  Darlegungen  ergeben,  dann  mussten  die  Monde  rückläufig 
werden  und  so  behalten  Poiucare  und  Eberhard^)  gegen  Rahts-) 
Recht. 

Auf  die  sonstigen  physikalischen  wie  mechanischen  Unmög- 
lichkeiten, welche  in  Kaut's  Entstehungsgeschichte  des  Welt- 
systems und  seiner  Bewegungen,  die  trotz  Anziehung  und  Ab- 
stossung  in  ihrer  ganzen  Art  durchaus  nicht  erklärt  werden,  gehe 
ich  nicht  ein;  sie  sind  von  Eberhard  und  Anderen  —  am  schärf- 
sten bekanntlieh  von  Dühring  —  zur  Genüge  dargelegt.  Aber 
auch  die  Fachgelehrten  unter  Kaufs  Zeitgenossen,  die  Astronomen, 
die  Naturfoi'scher  konnte  die  Naturgeschichte  des  Himmels  nicht 
befriedigen.  Zunächst  wegen  der  vielen  wissenschaftlichen  Ver- 
stösse und  sachlichen  Unklarheiten,  welche  ja  in  solchen  Werken 
zu  den  schlimmsten  Fehlern  gehören,  und  die  auf  die  Zeitgenossen 
abstossender  wirken  mussten,  als  auf  uns.  Dazu  kam  die  oft 
äusserst  verworrene,  ungeschickte  Ausdrucksweise  des  Buches,  die 
es  ebenso  sehr  an  Klarheit  der  Gedanken,  wie  an  Reinheit  und 
Feinheit  der  Sprache  fehlen  lässt.  Ist  doch  in  keinem  anderen 
der  Kantischeu  Werke,  auch  bei  viel  grösseren  Schwierigkeiten  des 
Inhalts,  die  äussere  Form  so  sehr  vernachlässigt,  wie  in  der  Natur- 
geschichte des  Himmels.  Und  in  dieser  wenig  anlockenden  Darstellung 
brachte -das  Buch  für  die  damalige  Zeit  wenig  Neues;  hatten  doch 
Kaut's  jetzt  freilich  sehr  wenig  bekannte  Vorgänger,  Wright,  Sweden- 
borg, Büffon  u.  a.  schon  dieselben  oder  doch  ganz  ähnliche  Gedanken 
ausgesprochen,  die  damals,  wie  das  Beispiel  Lavater's  und  der 
Dichter  beweist,  in  der  Luft  lagen.  Und  dabei,  nach  Newton, 
diese    seltsame,    beinahe    hochmütige  Ablehnung    der  Mathematik: 


^)  Die  Cosmog.  u    s.  w.,  S.  XII  f. 
2)  Akad.-Ausg.  1,  554. 


462  G.  Gerland, 

„man  könnte,  wenn  man  weitlänftig-  sein  wollte,  durch  eine  Reihe 
auseinander  g-efoig-erter  Schlüsse,  nach  der  Art  einer  mathema- 
tischen Methode,  mit  allem  Gepränge,  den  diese  mit  sich  führet 
und  noch  mit  g-rösserem  Schein"  u.  s.  w.  (S.  26).  Und  auch  das 
ist  noch  nicht  Alles:  zu  alledem  die  mannig-fachen  religiösen  Be- 
trachtungen; sodann  der  eigentümlich  phautastische,  poetisch-hu- 
moristische Zug,  der  durch  das  ganze  Werk  hindurchgeht!  So 
gleich  in  der  Einleitung  die  Widerlegung  der  Freigeistei'ei;  später 
die  poetischen  Citate  (abermals  wie  bei  Wright!),  die  schwülstige 
Schilderung  der  Unendlichkeit  der  Werke  Gottes,  die  spöttische 
Einführung  jenes  etwaigen  Erdrings,  Veranlassers  der  Sündflut;  die 
Beschreibung  der  brennenden  Sonnenoberfläche,  der  mit  unangenehmer 
Breite  durchgeführte  Vergleich  eines  „witzigen  Kopfes"  (S.  176  f.), 
der  Vergleich  der  Planetenbewohuer  mit  Läusen,  die  Schilderung  der 
Entwickelung  und  Fähigkeiten  der  Planetenbewohner  je  nach  ihrer 
Entfernung  von  der  Sonne  —  und  diese  „Jüngling-gedanken", 
wie  Herder  an  Lavater  schrieb,  nicht  ohne  jugendliche  Selbst- 
gefälligkeit vorgetragen:  das  Buch  musste  auf  die  ernsteren  Zeit- 
genossen, die  den  jungen  Verfasser  ja  nicht  kannten,  die  nach 
dem  Titel  ein  astronomisches  Werk  erwarteten,  einen  nicht  ange- 
nehmen Eindruck  macheu.  Hier  liegt  der  Grund  für  das  Unbekannt- 
bleiben des  Buches:  man  las  es  nicht,  weil  es  nicht  gefallen,  nicht 
befriedigen  konnte.  Und  der,  dem  das  Werk  doch  zumeist  am  Herzen 
liegen  musste,  sein  Autor,  vernachlässigte  es  selbst  am  meisten.  So 
kannten  es  weder  Laaibert  noch  Herschel  noch  Laplace  und  die 
Frage,  welche  man  oft,  nicht  ohne  Vorwurf,  gegen  Kaut's  Zeit- 
genossen, ja  gegen  Laplace  selber  erhoben  hat,  was  der  Grund 
für  die  Vernachlässigung  der  Kantischen  Schrift  gewesen  sei,  ist 
hiermit  beantwortet.  Kant  war  selbst  Schuld  daran.  Nicht  durch 
den  Naturforscher  Kant,  erst  durch  den  Philosophen  ist  das  AVerk- 
cheu  bekannt  geworden;  konnte  es  erst  bekannt  werden. 

Blicken  wir  nun  noch  einmal  zurück  auf  die  Naturgeschichte 
des  Himmels,  so  ist  zunächst  klar,  dass  man  diese  ,,  Jünglingsarbeit" 
nicht  mit  einem  Werke  wie  die  Mecanique  Celeste  von  Laplace 
zusammenstellen,  dass  man  in  keiner  Weise,  wenn  man  wissen- 
schaftlich und  nicht  bloss  nach  oberflächlichster  Vergleichung  ur- 
teilen will,  von  einer  Kant-Laplace'schen  Hypothese  reden  kann, 
denn  beide  Männer  sind  in  Auffassung,  Methode,  Absicht  und  Re- 
sultat durchaus  von  einander  verschieden.  Klar  ist  ferner,  dass 
Kuno  Fischer  Kant  sehr  mit  Unrecht  den  Begründer  der  modernen 


Immanuel  iCant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.      463 

Kosmogonie  nennt.  Völlig-  unbegreiflich  ist  es,  wenn  Günther  ^) 
von  „Laplace's  neuer  Formulierung-  der  Kantschen  Ideen"  spricht 
und  sag-t:  „anscheinend  (!)  ohne  von  früheren  verwandten 
Leistungen  etwas  zu  wissen,  sah  sich  der  Verfasser  des  Gesetz- 
buches der  neueren  Kosniologie,  der  Mecanique  Celeste  von  sich 
aus  auf  eine  ähnliche  Hypothese  g-eführt".  Ebenso  unbegreiflich 
bleibt  es  freilich,  wenn  wir  Günther^  sagen  hören:  „in  der  Haupt- 
sache deckt  sich  das  Facit  der  spektroskopischen  Forschung  mit 
den  aus  der  Kant-Laplaceschen  Theorie  gezogeneu  Folgerungen." 
Nein.  Kant's  Buch  ist  unbekannt  geblieben  nicht  durch  den 
Bankerott  des  Verlegers,  nicht  durch  die  Schuld  der  Zeit-  oder 
Fachgenossen.  F.s  blieb  unbekannt  durch  seine  eigene  Schuld: 
auf  naturwissenschaftlichem  Gebiet  konnte  es  keinen  Erfolg  haben 
wegen  seiner  Schwächen,  seiner  Fehler. 


Neuute  Vorlesung. 
Fortsetzung  der  Kritik;  „Der  einzig  mögliche  BcAveisgrund". 

Und  dennoch  I  Dennoch  ist  dies  kleine  Werk,  diese  Natur- 
geschichte des  Himmels  mit  ihrem  Anlehnen  an  Wright,  mit  ihren 
Irrtümern  und  Verworrenheiten  eine  bedeutende  Tat  Kant's,  eine  für 
ihn  selbst  geradezu  grundlegende  Tat.  Aber  ihr  Weit  liegt 
nicht  auf  naturwissenschaftlichem,  er  liegt  auf  philoso- 
phischem Gebiet.  Wohl  freute  sich  Kant  auch  an  den  natur- 
wissenschaftlichen Resultaten  seiner  Arbeit,  an  der  Erklärung  der 
Saturnringe  u.  s.  w.  und  in  diesen  Einzelheiten  sieht  man  häufig 
genug  auch  heute  noch  die  eigentliche  Bedeutung  der  Schrift. 
Sehr  mit  Unrecht.  Kaut  war  kein  Naturforscher,  er  wollte  es 
auch  nicht  sein  und  wurde  es  hier  nur  zufällig,  besser  gesagt, 
zwangsweise,  weil  ihn  sein  Weg  mit  Notwendigkeit  über  dies 
naturwissenschaftliche  Gebiet  führte.  Aber  die  Hauptsache  war 
ihm  das  nicht.  Nicht  allzulange  nach  dem  ersten  Erscheinen  der 
Naturgeschichte  gab  er  die  Kosuiogouie  umgestaltet  in  einer  neuen 
Schrift  heraus  und  diesmal  zeigte  er  deutlich,  was  ihn  beschäftigte, 
wo  sein  Ziel  lag.  Diese  Schrift  ist  die  1763,  also  8  Jahre  nach  der 
Naturgeschichte  des  Himmels  erschienene  Abhandlung  „Der  einzig 
mögliche  Beweisgrund  zu  einer  Demonstration  des  Daseins  Gottes". 3) 

1)  Handb.    der  Geophysik    2.  Aufl.,  1,  48.     Vgl.  Ralits  Ak.-A.  1,  555. 

2)  Eb.  84. 

3)  Ak.-Ausg.  Bd   II,  63-204;  470-77. 


464  a.  Gerland, 

Sie  bildet  den  Höhepunkt  seiner  vorkritischen  Arbeiten;  ihn  wollte 
er  erreichen  und  nur  hierfür  schrieb  er  die  Naturgeschichte  des 
Himmels,  deren  naturwissenschaftliche  Resultate  ihm  nur  erfreu- 
liche Nebendinge  waren.  Dies  muss  ich  beweisen:  wir  werden 
dabei  die  direkte  Bahn  finden,  welche  über  die  Gedankeu  von  der 
wahren  Schätzung-  dei-  lebendigen  Kräfte,  über  die  Naturgeschichte 
des  Himmels,  den  einzig  möglichen  Beweisgrund  und  die  Abhand- 
lung de  uiundi  sensibilis  atque  intelligibilis  forma  et  principiis 
(1770)  zur  Kritik  der  reinen  Vernunft  hinführt.  Hiergegen  ist 
es  völlig  gleichgültig,  ob  der  noch  jugendliche  Kant  (er  war 
31  Jahr  alt,  als  er  die  Naturgeschichte  herausgab)  mancherlei 
falsche  Sätze  und  Anschauungen  aufstellte  und  mancherlei  geniale 
F'unde  that;  ist  es  gleichgültig,  ob  die  Naturgeschichte  gelesen 
wurde  oder  nicht;  Kant  selbst  hat  sich  nicht  sehr  darum  be- 
kümmert: ihm  hatte  das  Werk  geleistet,  was  es  leisten  sollte. 
Jetzt  wollte,  musste  er  weiter. 

Was  ist  denn,  so  müssen  wir  zunächst  fragen,  der  eigentliche 
Grundgedanke  der  Naturgeschichte  des  Himmels?  Nach  der  Litte- 
ratur  über  dieselbe  sollte  man  glauben,  das  ganze  Werk  habe  den 
einen  rein  naturwissenschaftlichen  Zweck,  den  mechanischen  Ur- 
sprung des  ganzen  Weltgebäudes  darzulegen,  eine  Kosmogonie  zu 
geben.  Das  ist  keineswegs  die  Hauptsache  für  Kant.  Er  will 
nachweisen:  die  Materie  entwickelt  sich  aus  dem  Chaos  ganz  me- 
chanisch zu  einem  ganz  regelmässigen,  ganz  mechanischen  Bau; 
aus  dieser  Gesetzmässigkeit  und  Regelmässigkeit  folgt  die  Existenz 
Gottes  als  Urgrund  der  Welt.  Um  Gott  als  Urgrund  der  Welt 
zu  beweisen,  war  der  Nachweis  der  regelmässigen,  alle  Welt- 
materie beherrschenden,  ihr  innewohnenden  Gesetzmässigkeit  zu 
führen.  Die  Existenz  Gottes  und  sein  Verhältnis  zur  Welt  oder 
der  Welt  zu  ihm,  das  ist  die  Frage,  welche  Kaut  erfüllt,  von  der 
er  ausgeht.  Hierfür  war  ihui  Wright's  Gedanke  von  so  grossem 
Wert,  von  so  zündender  Kraft:  die  Gesetzmässigkeit  herrscht 
durch  die  ganze  Unendlichkeit  der  Welt,  Gott  ist  der  Urgrund 
der  ganzen  Welt,  Gott  ist,  weil  die  Welt  ist,  d.  h.  weil  die  Welt 
für  sich  selber  nach  ihr  inne  wohnender,  aus  der  wirreu  Ver- 
mischung des  Chaos  bildnerisch  hervortretender  Gesetzmässigkeit 
sich  entwickelt  hat.  Der  Grundgedanke  des  Werkes  ist  also  kein 
naturwissenschaftlicher,  sondern  ein  philosophischer:  es  existiert 
ein  (Jott,  weil  eine  regelmässige  und  doch  freie,  eine  nicht  durch 
Wunder,    sondern    durch    eigene    Thätigkeit    geleitete,    d.  h.    also 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       465 

mechanisch  thätige  Welt  existiert.  So  sagt  Kant  Naturg.  d.  H. 
S.  16  d.  Orig.-Ausg.:  „Der  Lehrbegriff,  den  wir  vorgetragen 
haben,  eröfnet  uns  eine  Aussicht  in  das  unendliche  Feld  der 
Schöpfung  und  bietet  eine  Vorstellung  von  dem  Werke  Gottes  dar, 
die  der  Unendlichkeit  des  grossen  Werkmeisters  gemäss  ist". 
S.  15:  „Man  siebet  .  .  .,  dass  die  Schöpfung  in  dem  ganzen  un- 
endlichen Umfang  ihrer  Grösse  allenthalben  systematisch  und  auf- 
einander beziehend  ist."  S.  101 :  „Der  planetische  Weltbau  .  .  . 
ist  gänzlich  .  .  .  aus  dem  ursprünglich  ausgebreiteten  Grundstoff 
aller  Weltmaterie  gebildet  worden.  Alle  Fixsterne,  die  das 
Auge  in  der  holen  Tiefe  des  Himmels  entdecket,  und  die  eine 
Art  von  Verschwendung  anzuzeigen  scheinet^),  sind  Sonnen  und 
Mittelpunkte  von  ähnlichen  Systemen.  Die  Analogie  erlaubt 
es  also  hier  nicht,  zu  zweifeln,  dass  diese  auf  die  gleiche 
Art,  wie  das,  darinn  wir  uns  befinden,  aus  denen  kleinsten 
Theilen  der  elementarischen  Materie,  die  den  leeren  Raum, 
diesen  unendlichen  Umfang  der  göttlichen  Gegenwart,^) 
erfüllete,  gebildet  und  erzeuget  hat."  S.  27:  „Die  Natur,  die  un- 
mittelbar mit  der  Schöpfung  gränzete,  war  so  roh,  so  ungebildet 
als  möglich.  Allein  auch  in  den  wesentlichen  Eigenschaften  der 
Elemente,  die  das  Chaos  ausmachen,  ist  das  Merkmal  derjenigen 
Vollkommenheit  zu  spüren,  die  sie  von  ihrem  Ursprünge  her 
haben,  indem  ihr  Wesen  aus  der  ewigen  Idee  des  gött- 
lichen Verstandes  eine  Folge  ist.^)  Die  einfachsten,  die 
allgemeinsten  Eigenschaften,  die  ohne  Absicht  scheinen  ent- 
worfen^) zu  seyn,  die  Materie,  die  bloss  leidend  und  der  Formen 
und  Anstalten  bedürftig  zu  seyn  scheinet,  hat  in  ihrem  ein- 
fachsten Zustand  eine  Bestrebung,-)  sich  durch  eine 
natürliche  Entwickelung  zu  einer  vollkommenen  Ver- 
fassung zu  bilden.  S.  107:  Die  Grundmaterie  selber,  deren 
Eigenschaften  und  Kräfte  allen  Veränderungen  zum  Grunde  liegen, 
ist  eine  unmittelbare  Folge  des  göttlichen  Daseyns:-) 
selbige  muss  also  auf  einmal  so  reich,  so  vollständig  seyn,  dass 
die  Entwickelung  ihrer  Zusammensetzungen  in  dem  Abflüsse  der 
Ewigkeit  sich  über  einen  Plan  ausbreiten  könne,  der  alles  in  sich 
schliesset,  was  seyn  kan,  der  kein  Maass  annimmt,  kurz,  der  un- 
endlich ist."  Entsprechende  Gedanken  äussert  Kant  S.  111;  113; 
145  f.:  „wenn  man  aber  erweget,    dass  die  Natur  und  die  ewigen 

1)  Fehler  Kanfs  für  „scheinen".    Wohl  kein  Schreibfehler! 

2)  Sperrung  nicht  von  Kant. 

KftDtatudien  X.  81 


466  a.  Gerland, 

Gesetze,  welche  den  Substanzen  zu  ihrer  Wechselwirkung  vorge- 
schrieben seyn,  kein  selbständiges,  und  ohne  (iOtt  noth wen- 
diges,^) Principium  sey,  dass  eben  dadurch,  weil  sie  so  viel 
Uebereinstimmung  und  Ordnung  in  demjenigen  zeigt,  was  sie  durch 
allgemeine  Gesetze  hervorbringet,  zu  ersehen  ist,  dass  die 
Wesen  aller  Dinge,  in  einem  gewissen  Grundwesen, 
ihren  gemeinschaftlichen  Ursprung')  haben  müssen,  und 
dass  sie  darum  lauter  gewechselte  Beziehungen  und  lauter  Har- 
monie zeigen,  weil  ihre  Eigenschaften  in  einem  einzigen  höchsten 
Verstände,  ihre  Quelle  haben,  dessen  weise  Idee  sie  in  durch- 
gängigen Beziehungen  entwoi-fen  und  ihnen  diejenige  Fähigkeit 
eingepflanzet  hat,  dadurch  sie  lauter  Schönheit,  lauter  Ordnung, 
in  dem  ihnen  selbst  gelassenen  Zustande  ihrer  Wirksamkeit,  her- 
vorbringen": etc.  Und  S.  168:  „Man  glaubt  mit  Recht,  dass  ge- 
schickte Anordnungen,  welche  auf  einen  würdigen  Zweck  abzielen, 
einen  weisen  Verstand  zum  Urheber  haben  müssen."  „Was  aus 
den  allgemeinen  Gesetzen  der  Natur  herfliesset,  ist  nicht  die 
Wirkung  des  blinden  Zufalles  oder  der  unvernünftigen  Nothwendig- 
keit:  es  gründet  sich  zuletzt  doch  in  der  höchsten  Weisheit,  von 
der  die  allgemeinen  Beschaffenheiten  ihre  Uebereinstimmung  ent- 
lehnen. Der  eine  Schluss  ist  ganz  richtig:  wenn  in  der  Verfassung 
der  Welt,  Ordnung  und  Schönheit  hervorleuchten;  so  ist  ein  GOtt. 
Allein,  der  andere  ist  nicht  weniger  gegründet:  Wenn  diese  Ord- 
nung aus  allgemeinen  Naturgesetzen  hat  herfliessen  können;  so 
ist  die  ganze  Natur  nothweudig  eine  Wirkung  der  höchsten 
Weisheit." 

Entsprechende  Stellen  liessen  sich  häufen.  Hier  aber  sehen 
wir  ein  Zweites:  wir  sehen,  welch  hohen  Wert  für  Kant  die  ge- 
setzmässige  Regelmässigkeit,  mit  anderen  Worten,  der  Mechanis- 
mus der  Welt  hat. 

Wir  begreifen  jetzt  die  Wichtichkeit,  welche  die  Ausdehnung 
dieses  Mechanismus  über  die  ganze  Welt,  wie  sie  Wright  erbrachte, 
für  ihn  haben  musste,  warum  er  gerade  von  Newton's  Unvermögen, 
diesen  Mechanismus  streng  durchzuführen,  ausgieng,  um  diese 
Durchführung  zu  ermöglichen. 

Aus  diesem  Mechanismus  gewann  er  ein  Doppeltes:  erstens 
den  Beweis  für  das  Dasein  Gottes  durch  die  ganze  Unendlichkeit 
der  Welt,  dessen  Wichtigkeit  für  Kant  die  angeführten  Stellen  be- 


^)  Sperrung  nicht  von  Kant. 


Immanuel  Kant,  seine  geograpli.  und  anthropolog.  Arbeiten.       467 

weisen.  Denn  nur  wenn  die  Gesetzmässigkeit  gleichmässig  durch 
alle  Welt  hiugieng,  konnte  Kant  seinen  Gottesbeweis,  d.  h.  die 
Welterklärung-,  nach  welcher  er  strebte,  durch  die  ganze  Welt 
durchführen.  Seine  Frage  war  ja:  ist  ein  Gott?  und  wie  ist  er? 
Damit  war  aber  noch  ein  anderer  sehr  wichtiger  Punkt  ge- 
geben. Gott  war  hierdurch  bewiesen,  aber  der  Gottesbegriff  zu- 
gleich auch  durch  die  mechanistische  Weltauffassuug  gereinigt. 
Kant's  Gott  ist  ein  ganz  anderer  Gott,  als  der,  welcher  von 
frühesten  Zeiten  her  überall  herrschte  und  nichts  neben  sich  auf- 
kommen liess,  ein  ganz  anderer  also,  als  jener  Tabu-Gott,  deQi  alles 
angehörte,  den  auch  nur  zu  besprechen  schon  für  unerlaubt  galt, 
wegen  dessen  Anfechtungen  Kant  sich  schon  in  seiner  Vorrede 
mau  möchte  beinahe  sagen  ängstlich  verteidigt  hatte.  Dieser 
Gott  war  es,  der  in  Wollen,  Wirken  rein  anthropomorphisch  ge- 
dacht in  alles  persönlich  und  oft  auf  das  kleinlichste  eingriff,  neben  dem 
eben  wegen  seiner  engen  und  platten  Anthropomorphie  eine  wirklich 
grosse  Gottes-  und  Weltauffassuug  nicht  aufkommen  konnte.  Er 
herrschte  überall,  in  der  Philosophie,  in  der  Naturwissenschaft.  Kaut 
selbst  fühlte  sich  durch  denselben  so  eingeengt,  dass  er  wohl  einsah, 
eine  sichere  Wissenschaft  könue  neben  ihm  nicht  aufkommen,  da 
er  selbst  völlig  unwissenschaftlich  aufgefasst  war.  Ihn  galt  es 
zu  beseitigen  und  eine  Gottesauffassung  einzuführen,  die  nicht  my- 
thisch-anthropomorphisch  war.  Das  hat  Kant  gethan  mit  positivem 
Beweis  durch  Einführung  des  Weltmechanismus  und  den  Hinweis  auf 
die  nur  durch  ihn,  nicht  durch  persönliches  Eingreifen  oderWollen  Gottes 
zu  erklärende  Unregelmässigkeit,  Vergänglichkeit  der  Natur.  „Wenn 
man  sich  also,"  sagt  er  S.  148,  „eines  alten  und  ungegründeten 
Vorurteils,  und  der  faulen  Weltweisheit,  entschlagen  kan,  die, 
unter  einer  andächtigen  Mine  (149),  eine  träge  Unwissenheit  zu 
verbergen  trachtet;  so  hoffe  ich,  auf  unwiedersprechliche  Gründe, 
eine  sichere  Ueberzeugung  zu  gründen:  dass  die  Welt  eine 
mechanische  Entwickelung,  aus  den  allgemeinen  Natur- 
gesetzen, zum  Ursprünge  ihrer  Verfassung,  erkenne."») 
Gegen  diese  faule  Weltweisheit,  diesen  „Wust  hergebrachter 
Meinungen",  tritt  er  auch  mit  scharfem  Spott  auf:  so  S.  95  f.  in 
der  Fiktion  des  wässrigen,  den  Saturnriugen  analogen  Erdring, 
dem  Veranlasser  der  Sündflut,  und  sonst.  Und  weil  er  eben  die 
Existenz    des  Weltalls    als    natürlicher  Offenbarung    eines  Grund- 


1)  Sperrung  in  der  Orig.-Ausg. 

31* 


468  6.  Gerland, 

Wesens  und  deshalb  so  unendlich  als  die  Eigenschaften  dieses 
Grundwesens  selbst  i)  darlegen  will,  sieht  er  von  der  schriftlichen 
Offenbarung  fast  2)  ganz  ab,  die  ja  nur  von  den  altmythologischen 
Auffassungen  aus  gegeben  war.  Aber  eben  deshalb  konnte  er 
sich  der  mathematischen  Darlegung  seines  Systems  enthalten 
(S.  26),  was  er  nicht  gedurft  hätte,  wenn  er  wirklich,  wie  Newton. 
ein  streng  naturwissenschaftliches  Ziel  in  dem  strengen 
Nachweis  der  mechanischen  Verfassung  des  Weltalls  hatte;  eben 
deshalb  konnte  er  Wright  benutzen  auf  die  Art,  wie  er  ihn  be- 
nutzt hat.  Von  hier  aus  erklären  sich  auch  die  vielen  ethisch- 
gemütvollen  Betrachtungen,  die  Kant  einflicht,  die  ebenfalls  aus 
einem  streng  naturwissenschaftlichen  Werk  wegbleiben  mussten; 
von  hier  aus  auch  die  Citate  holer  Ueberschwenglichkeit  aus 
Pope,  Haller,  3)  Addissou  u.  s.  w.;  von  hier  aus  aber  auch  z.  T. 
wenigstens  der  fehlende  naturwissenschaftliche  Einfluss  des 
Werkes,  welches  jeder  gleichzeitige  Leser,  den  ja  die  spätere 
Wissenschaft  noch  nicht  aufgeklärt  hatte,  schon  in  Folge  der 
Polemik  gegen  den  herrschenden  Dogmatismus  gleich  von  vorn- 
herein weit  mehr  als  wir  für  ein  philosophisches  halten  müsste. 

Und  so  können  wir  jetzt  den  Hauptzweck  und  die  eigentliche 
Bedeutung  der  Naturgeschichte  des  Himmels  klar  beurteilen.  Sie  liegt 
in  der  Auf  Stellung  des  Begriffs  der  mechanischen  Entwickelung  der  Ge- 
samt weit;  sie  liegt  ferner  in  dem  durch  diesen  Begriff  aufgenommenen 
Kampf  gegen  den  alten  Gottesbegriff,  der  Menschen weseu  und 
Meuschentätigkeit  kindisch  verkörpernd  in  frommer  und  bequemer 
Fortfühlung  —  nicht  Fortentwickelung  —  ältester  Anschauungen, 
alle  Welt  beherrschte,  alle  Wissenschaft  unmöglich  machte,  weil  er 
die  Freiheit  des  Denkens  unmöglich  machte.  Diese  Freiheit  aber 
brauchte  Kant;  sie  wollte  er  schaffen,  gewinnen. 

Diesen  Gottesbegriff  bekämpften  schon  seit  lange,  wenn  auch 
meist  unbewusst  die  Geistesheroen.  Gegen  diesen  Tabugott  seiner 
Zeit  trat  schon  Christus  auf  zu  Gunsten  des  liebevollen  Vaters 
im  Himmel.  Und  wie  Christi  Kampf  hauptsächlich  ein  Kampf 
gegen  die  alten  verhärteten  Tabubegriffe  und  die  durch  sie  her- 
vorgebrachte   öde    Verhärtung   des   Menschengeistes    war,    so    ist 

1)  S.  106. 

2)  s.  127. 

3)  Wie  anders  zeigt  sich  der  spätere  Klopstock.  Die  Klarheit  der 
meisten  seiner  Poesien,  z.  B.  sein  „schön  ist,  Mutter  Natur,  deiner  Er- 
findung Pracht"  u.  s.  w.  stehen  auf  ähnlichem  Standpunkt,  wie  Kant. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  antliropolog.  Arbeiten.       469 

Überhaupt  der  wichtigste  Grimdzug  aller  Kulturgeschichte  der 
Kampf  gegen  die  uralten  Tabueinrichtungen  der  Menschheit, 
welche  diese  wie  mit  eisernen  Netzen  fast  unlösbar  umspannten 
und  zum  grossen  Teil  —  man  denke  z.  B.  an  den  Aberglauben 
und  seine  Macht  —  noch  heute  umspannen.  Auf  wissenschaft- 
lichem Gebiet  hat  den  Kampf  wohl  Niemand  fruchtbarer  und  sieg- 
reicher geführt,  als  der  Heerführer  der  kritischen  Philosophie,  als 
Kant.  Den  Gott,  den  er  uns  anerkennen  lässt,  und  von  dem  er 
sagt:  „es  ist  durchaus  nötig,  dass  man  sich  vom  Dasein  Gottes 
überzeuge;  es  ist  aber  nicht  eben  nötig,  dass  man  es  demonstriere" 
—  ein  Wort,  welches  Christus  auch  hätte  sagen  können  —  den 
Gott  hat  er  zunächst  durch  die  Naturgeschichte  und  die  Theorie 
des  Himmels  als  Urgrund  der  Welt,  der  Weltmaterie  nachzuweisen 
gesucht. 

JVlit  den  eben  angeführten  Worten  schloss  Kant  seine  Schrift 
über  den  einzig  möglichen  Beweisgrund  zu  einer  Demonstration  des 
Daseins  Gottes,  die  1763  als  die  umfassendste  der  vorkritischen 
Schriften  erscliien.  Schon  oben  wurde  sie  kurz  erwähnt;  ehe  wir 
sie  ausführlicher  betrachten,  ist  noch  eine  Bemerkung  über  die 
Naturgeschichte  des  Himmels  hinzuzufügen. 

Auch  die  Menschheit,  die  Bewohner  der  Gestirne  bespricht 
Kant  in  der  Naturgeschichte.  Auch  sie  fügt  er  in  den  Mechanis- 
mus des  Weltalls  ein,  zunächst,  indem  er  ihre  grössere  oder  ge- 
ringere psychophysische  Vollkommeuheit  von  der  leichteren  uud 
feineren  Art  der  Materie  der  betreffenden  Himmelskörper  ab- 
hängen, sie  also  mit  der  Entfernung  von  der  Sonne  zunehmen 
lässt.  Er  hält  dies,  wie  wir  schon  sahen,  bis  zur  Gewissheit 
glaubwürdig  (S.  187);  und  um  jeden  Zweifel  zu  heben,  ,.muss 
nicht,  fragt  er,  die  IVIechanik  aller  natürlichen  Bewegungen  einen 
wesentlichen  Hang  zu  lauter  solchen  Folgen  haben,  die  mit  dem 
Projekt  der  höchsten  Vernunft  in  dem  ganzen  Umfange  der  Ver- 
bindungen wohl  zusammenstimmen?"  Also  auch  für  die  Organis- 
men, für  Menschen,  Tiere  und  Gewächse  (S.  185)  gelten  die 
gleichen  Gesetze  und  Verhältnisse,  wie  für  die  Himmelskörper,  für 
die  Materie. 

In  der  Naturgeschichte  des  Himmels  war  der  „Versuch  von 
der  Verfassung  und  dem  mechanischen  Ursprung  des  ganzen 
Weltgebäudes  nach  Newtonischen  Grundsätzen  abgehandelt"  uud 
nachgewiesen;  an  diesem  Nachweis  hat  Kant  immer  festgehalten; 
er  hat  nur   wenig  daran  geändert.     Bei  der  Abfassung  scheint  er 


470  G.  Gerland, 

durch  manche  seiner  Funde  selbst  überrascht  gewesen  zu  sein; 
jedenfalls  hat  er  die  g-rösste  Freude  au  der  ganzen  Darstellung  gehabt; 
er  nahm  seine  Resultate  als  fertig  abgeschlossen  hin.  Aber  das  Werk 
enthielt  ja  noch  ein  zweites  Hauptsächliches,  die  Darstellung  des 
Verhältnisses  der  Welt  zu  Gott,  Gottes  zu  der  Welt.  Gott  wird  als 
Grund wesen  der  Welt  hingestellt,  wie  wir  sahen.  Kant  hält  noch 
den  Gottesbeweis  aus  der  Ordnung  und  Schönheit  der  Welt  für 
ganz  richtig;  und  ebenso  richtig  den  Satz,  dass  wenn  diese  Ord- 
nung aus  allgemeinen  Naturgesetzen  herfliessen  konnte,  die  ganze 
Natur  notwendig  die  Wirkung  der  höchsten  Weisheit  ist  (S.  165). 
Aber  an  diesem  zweiten,  au  diesem  philosophischen  Teil  seiner  Dar- 
legung hielt  er,  bezeichnend  genug,  nicht  ebenso  fest,  wie  an  dem 
ersten.  Er  genügte  ihm  sehr  bald  nicht  mehr  und  gerade  mit 
dieser  Frage,  mit  dem  Verhältnis  der  Welt  zu  Gott  beschäftigte 
er  sich  anhaltend  weiter.  Hier  haben  wir  wieder  einen  Beweis 
dafür,  dass  Kant's  wissenschaftliches  Hauptinteresse  in  dem 
Gottesbegriff,  dem  Verhältnis  von  Gott  und  Welt  liegt.  Die 
Welt  ist  aus  Gott  entstanden;  die  Grundmaterie  selber  ist  eine 
unmittelbare  Folge  des  göttlichen  Daseins  u.  s.  w.  Die  Frage 
aber,  wie  sie  dies  sein  kann,  war  nicht  beantwortet;  sie  be- 
schäftigte Kant  in  den  folgenden  Jahren  und  verbindet  die  Natur- 
geschichte des  Himmels  auf  das  engste  mit  dem  „Versuch,  den 
Begriff  der  negativen  Grössen  in  die  Weltweisheit  einzuführen" 
(1763)^)  und  mit  jener  anderen  Abhandlung  desselben  Jahres,  „der 
einzig  mögliche  Beweisgrund  zu  einer  Demonstration  des  Daseins 
Gottes".  2)  Die  in  der  Naturgeschichte  offen  gelassene  Lücke  soll 
hier  geschlossen  werden.  Kant  beweist  im  3.  Abschnitt  der  erstge- 
nannten Abhandlung:  1)  in  allen  natürlichen  Veränderungen  der 
Welt  wird  die  Summe  des  Positiven,  insoferne  sie  dadurch  ge- 
schätzt wird,  dass  einstimmige  (nicht  entgegengesetzte)  Positionen 
addirt  und  real  entgegengesetzte  von  einander  abgezogen  werden, 
weder  vermehrt  noch  vermindert.^)  Und  2)  „Alle  Realgründe  des 
Universum,  wenn  man  diejenigen  summirt,  welche  einstimmig  sind 
und  die  von  einander  abzieht,  die  einander  entgegengesetzt  sind, 
geben  ein  Facit,  das  dem  Zero  gleich  ist.*)     Das  Ganze  der  Welt 


1)  Hartenstein,  1867,  Bd.  2,  S.  69—106.    Ak.-Ausg.  Bd.  2,  166-204. 

2)  Hart.  107—205.     Ak.-Ausg.  2,  63—163. 

3)  Hart.  S.  96,  gesperrt.    Ak.-Ausg.  2,  S.  194. 

*)  Hart.  S.  99,  bis  hierher  gesperrt.    Ak.-Ausg.  197. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       471 

ist  an  sich  selbst  nichts,    ausser   in  so  ferne  es  durch  den  Willen 
eines  Anderen  etwas  ist." 

Aber,  fragt  Kant  S.  104,  (Ak.-A.  202)  „wie  soll  ich  es  verstehen, 
dass,  weiP)  Etwas  ist,  etwas  Andres  sei?"  Der  Wille  Gottes 
enthält  den  Realgrund  vom  Dasein  der  Welt.  Der  göttliche 
Wille  ist  etwas.  Die  existirende  Welt  ist  etwas  ganz  anderes. 
Indessen  durch  das  Eine  wird  das  andere  gesetzt."  Die  Abhand- 
lung schliesst  mit  der  Darlegung,  dass  ein  Realgrund  nur  durch 
einen  Begriff  könne  ausgedrückt  werden,  dass  aber  das  Verhältnis 
solcher  Begriffe  zur  Folge  nicht  deutlich  gemacht  werden  könne. 
Also  auch  hier,  wie  in  der  Naturgeschichte  des  Himmels:  die 
Welt  von  Gott  geschaffen  ist  Tatsache,  Begriff  und  als  beides 
hinzunehmen. 

Hier  wird  auf  die  unfertige  Stelle  der  Naturgeschichte  hin- 
gewiesen; beseitigt  wird  sie  nicht.  Sie  zu  beseitigen  unternimmt 
Kant  in  jener  zweiten  Abhandlung  aus  1763. 

In  der  Naturgeschichte  des  Himmels  heisst  es  S.  147  etc.: 
„Die  Natur,  ihren  allgemeinen  Eigenschaften  überlassen,  ist  au 
lauter  schönen  und  vollkommenen  Früchten  fruchtbar,  welche 
nicht  allein  an  sich  üebereinstimmung  und  Treflichkeit  zeigen, 
sondern  auch  mit  dem  ganzen  Umfange  ihrer  Wesen,  mit  dem 
Nutzen  der  Menschen,  und  der  Verherrlichung  der  göttlichen 
Eigenschaften,  wohl  harmonieren.  Hieraus  folgt,  dass  ihre 
wesentlichen  Eigenschaften  keine  unabhängige  Nothwendigkeit 
haben  können ;  sondern,  dass  sie  ihren  Ursprung  in  einem  einzigen 
Verstände,  als  dem  Grunde  und  der  Quelle  aller  Wesen,  haben 
müssen,  in  welchem  sie,  unter  gemeinschaftlichen  Beziehungen, 
entworfen  (148)  sind.  Alles,  was  sich  aufeinander,  zu  einer 
gewechselten  Harmonie,  beziehet,  muss  in  einem  einzigen  Wesen, 
von  welchem  es  insgesammt  abhängt,  unter  einander  verbunden 
werden.  Also  ist  ein  Wesen  aller  Wesen,  ein  unendlicher  Ver- 
stand und  selbständige  Weisheit  vorhanden,  daraus  die  Natur, 
auch  sogar  ihrer  Möglichkeit^)  nach,  in  dem  ganzen  Inbe- 
griffe der  Bestimmungen,  ihren  Ursprung  ziehet.  Nunmehro  darf 
man  die  Fähigkeit  der  Natur,  als  dem  Daseyn  eines  höchsten 
Wesens  nachtheihg,  nicht  bestreiten;  je  vollkommener  sie  in  ihren 
Entwickelungen  ist . . .,  ein  desto  sicherer  Beweisthum  der  Gottheit 


1)  Sperrung  im  Original. 

2)  Sperrung  nicht  von  Kant, 


472  G.  Gerland, 

ist  sie,  von  welcher  sie  diese  Verhältnisse  entlehnt"  .  .  .  Nicht 
der  ohngefehre  Zusarameulauf  der  Atomen  des  Lucrez  hat  die 
Welt  gebildet:  eingepflanzte  Kräfte  und  Gesetze,  die  den 
weisesten  Verstand  zur  Quelle  haben,  sind  ein  unwandelbarer 
Ursprung  der  Ordnung  gewesen,  die  aus  ihnen  nicht  von  ohngefehr, 
sondern  noth wendig  abf Hessen  muste."  Eine  ganz  ähnliche 
Stelle  (bei  Kant  S.  145)  haben  wir  früher  (S.  417)  betrachtet. 

Diese  Stellen  sind  für  die  Bedeutung,  für  die  innere  Ge- 
schichte der  Naturgeschichte  des  Himmels  sehr  wichtig.  Sie  ver- 
knüpfen sie  mit  der  religionsphilosophischen  Abhandlung  Kant's, 
dem  „Beweisgrund"  auf  das  engste. 

Die  Naturgeschichte  des  Himmels  hatte  die  Mechanik  des 
Himmels  dargelegt;  das  Verhältnis  der  Welt  zu  ihrem  „Ursprung" 
zu  Gott  war  behauptet,  aber  nicht  bewiesen;  der  Begriff  jenes 
„Urgrundes"  jener  „höchsten  Weisheit"  u.  s.  w.  und  ihr  Zu- 
sammenhang mit  der  Welt  war  wohl  ausgesprochen,  aber  noch 
keineswegs  mit  wirklich  kritischer  Schärfe  beleuchtet.  Das  tat 
Kant  erst  in  jener  späteren  Schrift,  deren  Grundgedanken  ihn 
aber  schon  beschäftigten,  als  er  die  Naturgeschichte  schrieb.  Das 
geht  aus  den  eben  citierten  Stellen  deutlich  hervor.  Denn  wenn 
es  daselbst  heisst:  also  ist  ein  Wesen  aller  Wesen  .  .  .  vorhanden, 
daraus  die  Natur,  auch  sogar  ihrer  Möglichkeit  nach,  in 
dem  ganzen  Inbegriff  der  Bestimmungen,  ihren  Ursprung  ziehet: 
so  stimmt  dies  genau  zu  dem  ontologischen  Beweis  Kaut's:^)  „alle 
Möglichkeit  setzt  etwas  Wirkliches  voraus,  worin  und  wodurch 
alles  Denkliche  gegeben  ist.  Demnach  ist  eine  gewisse  Wirklich- 
keit, deren  Aufhebung  selbst  alle  innere  Möglichkeit  überhaupt 
aufheben  würde.  Dasjenige  aber,  dessen  Aufhebung  oder  Ver- 
neinung alle  Möglichkeit  vertilgt,  ist  schlechterdings  nothwendig. 
Demnach  existirt  etwas  absolut  nothwendiger  Weise."  Die  Worte 
„auch  sogar  ihrer  Möglichkeit  nach",  in  denen  „auch  sogar"  be- 
sonders hervorzuheben  ist,  erklären  sich  nur  durch  Kant's  spätere 
Darlegung  seiner  Gedanken,  sie  beweisen  aber,  dass  er  diese  Ge- 
danken schon  bei  der  Abfassung  der  Naturgeschichte  hegte,  wenn 
auch  noch  nicht  in  jener  durchgearbeiteten  Klarheit,  wie  später. 
Und  ferner,  an  der  angeführten  Stelle  der  Naturgeschichte  fährt 
Kant  (148)  fort:  „ihre  Hervorbringungen  sind  nicht  mehr  Wirk- 
ungen des  Ohngefehrs,  und  Folgen  des  Zufalls";  ganz  ähnlich  fährt 

1)  Hartenstein,    2,    126.     Ak.-Ausg.  2,  83.    Vgl.  K.  Fischer,   Kant  1, 
224  f.,  230  f. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       473 

er  auch  in  der  angegebeuen  Stelle  des  Beweisgrundes  fort:  „mau 
kann  hieraus  auch  leichtlich  den  Begriff  der  Zufälligkeit  ab- 
nehmen .  .  .  S.  227  f.  Im  Realverstande  ist  zufällig  dasjenige, 
dessen  Nichtsein  zu  denken  ist,  das  ist,  dessen  Aufhebung  nicht 
alles  Denkliche  aufhebt.  Wenn  demnach  die  innere  Möglichkeit 
ein  gewisses  Dasein  nicht  voraussetzt,  so  ist  dieses  zufällig,  weil 
sein  Gegentheil  die  Möglichkeit  nicht  aufhebt."  Die  Zufälligkeiten 
in  diesem  Sinne  betont  Kaut  in  der  Naturgeschichte  besonders 
oft  und  zwar  als  einen  Beweis  für  die  Stellung  des  Urgrundes, 
Gottes,  zur  Welt  und  ihrem  Verlauf;  es  sind  ja  gerade  diese  Zu- 
fälligkeiten, welche  die  Hervorbringuug  der  Weltmaterie  durch  das 
Urwesen,  Gott,  beweisen  (119,  S.  153).  Die  absolute  Notwendig- 
keit wird  im  Beweisgrund  dem  „Wirklichen,  woraus,  worin  und 
wodurch  alles  Denkliche  gegeben  ist",  von  Kant  beigelegt. i)  Diese 
Notwendigkeit  setzt  Kant  auch  in  der  Naturgeschichte  voraus,  wo 
er  sie  freilich  nur  beiläufig  erwähnt:  S.  148  „eingepflanzte  Kräfte 
und  Gesetze,  die  den  weisesten  Verstand  zur  Quelle  haben,  sind 
ein  unwandelbarer  Ursprung  derjenigen  Ordnung  gewesen,  die  aus 
ihnen  nicht  von  ungefehr,  sondern  nothwendig^)  abfliesseu 
raiiste".  Und  ebenso  S.  168:  „wenn  diese  Ordnung  aus  allge- 
meinen Naturgesetzen  hat  herfliessen  können:  so  ist  die  ganze 
Natur  noth wendig 2)  eine  Wirkung  der  höchsten  Weisheit."  Ist 
das  Wirkliche,  wodurch  alles  Denkliche  gegeben  ist,  notw^endig,  so 
ist  auch  alles  Denkliche  notwendig;  ist  das  Denkliche  notwendig, 
so  ist  auch  sein  Realgrund  notwendig,  wie  dies  Kant  in  direkter 
Ausführung  im  Beweisgrund  darlegt.  Dieselben  Vorstellungen  aber 
treten  schon  in  der  Naturgeschichte  hervor,  wenn  auch  nur  bei- 
läufig, vielleicht  nur  in  ihren  ersten  Anfängen.  Im  Beweisgrund 
sind  diese  früher  nur  angedeuteten  Gedanken  dann  abschliessend 
dargelegt.  Beides,  Naturgeschichte  und  Beweisgrund,  gehört  als 
Anfang  und  Ende  einer  Gedankenreihe  zusammen. 

Auch  der  Gedanke  des  Beweisgrundes,  3)  dass  der  Grund 
der  Mängel  und  Verneinungen  der  Dinge  nicht  in  dem  Urwesen, 
welches  die  höchste  Realität  enthält,  sondern  darin  beruhe,  dass 
die  anderen  Dinge  nicht  das  Urw'esen  selber  sind,  findet  sich 
schon  andeutungsweise  in  der  Naturgeschichte,  z.  B.  S.  119  und 
noch    deutlicher    S.  170  —  auch    hier    schon    wird    zwischen  dem 


1)  Hartenstein  2,  126. 

2)  Sperrung  nicht  von  Kant. 

3)  Hartenstein  2,  129  f.     Ak.-A.  2,  85. 


474  G.  Gerland, 

Urwesen  und  der  von  ihm  geschaffenen  Natur  unterschieden, 
„welche  letztere  in  dein  Umfange  ihrer  Mannigfaltigkeit  alle  mög- 
lichen Abwechselungen,  sogar  bis  auf  die  Mängel  und  Abweich- 
ungen hin  in  sich  fasst",  Vergänglichkeit,  bewohnbare  Gegenden, 
und  Wüsteneien,  Tugenden  und  Laster, 

Dass  nun  dies  Wesen,  welches  wir  jetzt  als  Realgruud  kennen 
gelernt  haben,  einig,  einfach,  ewig  ist,  ergibt  sich  aus  der  Be- 
trachtung der  Beschaffenheit  der  Welt.  Aber  von  hier  aus  be- 
greift es  sich  auch,  warum  Kant  der  Naturgeschichte  jenen  dritten 
Teil  von  den  Bewohnern  der  verschiedenen  Planeten  angefügt  hat. 
Wenn  für  ihn  die  Frage  war,  wie  ist  das  Weltall  aufzufassen, 
woher  stammt  es?  Wenn  er  die  Frage  behandeln  wollte,  welche 
Eigenschaften  hat  der  Realgrund  der  Welt?  dann  musste  er  auch 
die  Eigenschaften  mit  in  seine  Betrachtung  einbeziehen,  die  er 
selbst  durch  keine  andere  Realität  ersetzlich  nennt,*)  die  Eigen- 
schaften des  Geistes,  Verstand  und  Willen.  Auch  aus  ihnen,  die  in 
der  Naturgeschichte  äusserlich,  ja  halb  scherzhaft  geschildert 
werden,  auch  wieder  in  ihrem  Verhältnis  zum  mechanisch-materi- 
ellen Aufbau  der  Welt,  findet  er  Wichtigstes,  ja  das  erstrebte 
letzte  Ziel  seines  Beweises:  das  notwendige  Wesen  ist  gleichfalls 
also  ein  Geist,  einig  einfach  unveränderlich  allgenugsam  —  es  ist 
ein  Gott.  Und  dies  war  es,  was  Kaut  beweisen  wollte;  wozu  er 
auch  die  Naturgeschichte  verfasste. 

Die  Frage  nach  der  Möglichkeit  anderer  besserer  Welten  be- 
rührt Kant  in  der  Naturgeschichte  nicht  und  die  Möglichkeit  eines 
mehr  als  dreidimensionalen  Raumes,  welche  er  früher  zugab,^) 
beweist  nichts  für  eine  solche  Möglichkeit. 

Schon  in  der  Naturgeschichte  ist  ihm  die  Welt  einheitlich, 
ewig;  und  hier,  im  Beweisgrund,  führt  er  den  Beweis  für  diese 
Einheitlichkeit  in  dem  herrlichen  Kapitel  von  der  göttlichen  AU- 
genugsamkeit,  indem  er  die  Unmöglichkeit  „besserer"'  Welten  aus 
der  höchsten  Realität  Gottes  nachweist;  auch  hier  also  führt  er 
die  Auffassung,  die  er  in  der  Naturgeschichte  vertrat,  zu  ihrem 
höchsten  Ziele  hin. 

Auch  Einzelnheiten  der  Naturgeschichte  wiederholen  sich  im 
Beweisgrund:  so  der  Gegensatz  der  organischen  und  anorganischen 


1)  Hartenstein   2,    131.     Beweisgr.   Abteil.    1,   Betrachtung   4.     Ak.- 
Ausg.  87  f. 

'<*)  Gedanken  §  10. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       475 

Natur,  in  Folge  dessen  der  Philosoph  in  der  Einleitung  zur  Natur- 
geschichte eine  Welt  aus  gegebener  Materie  zu  machen  sich  ge- 
traute, nicht  aber  eine  Raupe.  Dies  wird  im  Beweisgrund  weiter 
ausgeführt,')  ohne  das  wir  darauf  einzugehen  brauchen;  ebenso 
der  Abweis  der  platten  Zweckmässigkeitserklärungen  des  Rationa- 
lismus, wie  wir  sie  in  der  Einleitung  der  Naturgeschichte  (Nutzen 
der  Seewinde)  und  sonst  finden  (Zweckmässigkeit  der  Jupiter- 
monde zu  Längenbestimmungen).  Im  Beweisgrund  sind  auch  diese 
Widerlegungen  ausführlicher,  in  Beziehung  auf  Wolken  und  Wind, 
Nordlichter,  grüneFarbe  derWälder(S.179.Ak.-A.136),  auf  dieBildung 
der  Gebirge,  auf  die  Anlage  und  den  Lauf  der  Ströme  (S.  171), 
über  welche  übrigens,  ganz  abgesehen  von  der  Widerlegung  des 
platten  und  falschen  Nützlichheitsprinzipes  hier  wie  an  anderen 
Stellen  sehr  lehrreich  und  auch  noch  für  die  heutige  Auffassung 
beachtenswert  gehandelt  wird. 2)  Diese  ausgeführteren  Gedanken 
werden  hier  durchaus  zur  Sache  gehörig  verwandt:  die  falsche 
Lehre  der  Phj^sikotheologie  wird  durch  sie  abgewiesen  und  zu- 
gleich der  wissenschaftlich  richtige  Kern  der  Sache  gegeben.  Die 
Darstellung  entspricht  in  ihrer  ganzen  wissenschaftlichen  Haltung 
der  Art  der  Darstellung  Varen's;  sie  ist  den  wertvolleren  geogra- 
phischen Partien  der  Werke  Kant's  zuzurechnen. 

Wie  diese  Nützlichkeitsprinzipien  weist  Kant  in  der  Natur- 
geschichte auch  die  Wunder,  d.  h.  alles  persönliche  Eingreifen 
Gottes  ab,  als  der  Würde  der  Schöpfung  eines  vollkommenen  Ur- 
wesens,  als  der  Würde  dieses  Urweseus  selbst  durchaus  nicht 
entsprechend.  Diese  Abweisung  wird  streng  durchgeführt  im  Be- 
weisgrund und  zwar  in  der  vierten  bis  sechsten  Betrachtung  der 
2.  Abteilung:  im  beweisenden  Gegensatz  hierzu  bringt  nun  die 
siebente  Betrachtung,  die  Kosmogonie,  „eine  Hypothese 3)  mecha- 
nischer Erklärungsart  des  Ursprungs  der  Weltkörper  und  der  Ur- 
sachen ihrer  Bewegungen,  gemäss  der  vorher  erwiesenen  Regeln." 
Bisher  hat  Kant  die  in  der  Naturgeschichte  nur  kurz  angeführten 
Punkte,  welche,  für  seine  Gesamtauffassung  von  Welt  und  Gott 
von  hoher  Wichtigkeit,  in  der  Darlegung  der  Mechanik  des  Welt- 


1)  Hartenstein  2,  149,  150,  157,  167,  namentlich  195;  Ak.-A.  152  u.s.w. 
In  derFussnote  zu  Hart.  S.  156  Ak.-A.  114  entscheidet  sich  Kant  dahin,  den 
Schimmel  nicht  für  eine  Pflanze,  sondern  für  ein  Sublimationsgebilde, 
ähnlich  wie  die  Mangandentriten  zu  halten. 

2)  Hartenstein  2,  S.  170  f.     Ak.-A.  2,  128  f. 
4  Hartenstein  2,  180.    Ak.-A.  2,  137. 


476  G.  Gerland, 

baiies  in  zweiter  Linie  standen,  ausführlich  behandelt,  in  Entfal- 
tung und  Ergänzung  der  Naturgeschichte:  jetzt  bringt  er  die 
Kosniogonie  zur  Ergänzung  und  Bestätigung  seiner  Welt-  oder 
besser  gesagt  seiner  Gottestheorie.  Er  bringt  sie  nicht  mehr  iu 
der  Freude  des  ersten  Fundes,  vielmehr  iu  grösserer  Ruhe,  in 
grösserer  Klarheit  und  namentlich  iu  Styl  und  Darlegung  der 
Gedanken  sehr  viel  gereifter  und  wissenschaftlicher.  Leichter  ist 
es,  sagt  er  auch  hier  wieder,  wie  in  der  Einleitung  der  Natur- 
geschichte, das  Grosse,  Erstaunliche,  „runde  Massen,  so  viel  mau 
weiss,  ohne  Organisation  und  geheime  Kunstzubereitung",  als  das 
Kleine  und  bewundernswerte,  das  verächtlichste  Kraut  oder  eine 
sternförmige  Schneeflocke  zu  erklären.  Meiu  Entwurf,  fährt  er 
fort,  ist  grob  und  unausgearbeitet,  einiges  darin  aber  sehr  wahr- 
scheinlich. Auch  wenn  das  Gesuchte  nicht,  wohl  aber  auf  diesem 
Wege  andere  Vorteile,  die  man  uicht  vermutet,  gefunden  würden, 
gesetzt  auch,  dass  die  Hauptzwecke  der  Hypothese  dabei  ver- 
schwindeu  sollten,  so  wäre  dies  ein  genügsamer  Gewinn.  *)  Welche 
unvermuteten  Vorteile  mag  Kant  meinen,  welche  doch  Nutzen 
bringen,  auch  wenn  in  seiner  Hypothese  Wichtigstes  fehlerhaft  ist? 
ich  kann  die  Stelle  nur  so  verstehen,  dass  Kant  auch  hier  auf  das 
hindeutet,  was  ja  bei  der  Arbeit  sein  letztes  Ziel  war,  bei  dessen 
Erforschung  er  seiue  Hypothesen  und  deren  Hauptzwecke  mehr 
beiläufig  fand,  die  klare  und  richtige  Auffassung  des  Gottesbegriffs, 
auf  die  ja  in  dieser  ersten  Entwickelungsstufe  Kants  alles  hinaus- 
läuft. Und  so  äussert  er  sich  auch  selber  am  Schluss  der  schönen 
Darlegung  seiner  kosmologischen  Anschauungen: '2)  „Meiner  Meinung 
nach  hat  die  angeführte  Hypothese  zum  mindesten  Gründe  genug 
für  sich,  um  Männer  von  ausgebreiteter  Einsicht  zu  einer  nähern 
Prüfung  des  darin  vorgestellten  Planes,  der  nur  ein  grober  Um- 
riss  ist,  einzuladen.  Mein  Zweck, 3)  insofern  er  diese  Schrift 
betrifft,  ist  erfüllt,  wenn  man  durch  das  Zutrauen  zu  der  Regel- 
mässigkeit und  Ordnung,  die  aus  allgemeinen  Naturgesetzen 
fliessen  kann,  vorbereitet,  nur  der  natürlichen  Weltweisheit  ein 
freieres  Feld  eröffnet,  und  eine  Erklärungsart,  wie  diese  oder  eine 
andere,  als  möglich  und  mit  der  Erkenntnis  eines  weisen  Gottes 
wohl  zusammenstimmend  anzusehen  kann  bewogen  werden." 


1)  Hartenstein  2,  S.  181  f. 

2)  Eb.  S.  190  f.    Ak.-A.  2,  148. 

3)  Sperrung  nicht  im  Original. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       477 

Die  Worte  „insofern  er  diese  Schrift  betrifft,"  sind  zwar 
nicht  ganz  klar,  aber  Kant  will  mit  der  angeführten  Stelle  ohne 
Zweifel  sagen,  dass  die  Darlegung  des  Weltmechanismus,  also 
auch  die  Naturgeschichte,  aus  philosophischen  Gründen  von  ihm 
unternommen  ist,  um  zu  einer  reinen  Gotteserkenntnis  hinzu- 
kommen. 

So  ist  Gott  in  seiner  Allgenugsanikeit  bewiesen;  die  bis- 
herigen Beweise  kritisiert  Kant  in  der  3.  Abteilung  des  Wei'kes. 
Es  bleiben  zwei  Beweise  von  allen  übrig.  Der  kosmologische,  der 
so  alt,  wie  die  menschliche  Vernunft,  als  erhebender  Gemütsbeweis 
gewiss  alle  Anerkennung  verdient,  aber  streng  beweisende  Schärfe 
nicht  besitzt.  Diese  schreibt  Kant  nur  dem  von  ihm  gegebenen 
ontologischen  Beweis  zu,  der  aus  der  Möglichkeit  der  Welt  auf 
das  ihr  zu  Grunde  liegende  notwendige  Wesen,  auf  Gott  schliesst. 
Um  diesen  Beweis  zu  erbringen,  wai'en  die  beiden  Hauptarbeiten, 
die  Naturgeschichte  und  der  Beweisgrund,  nötig;  er  war  der  End- 
zweck beider  Schriften  und  durch  sie,  denen  andere  Nebeuschrifteu 
fördernd  zur  Seite  standen,  ist  er  erbracht  worden. 

Dass  auch  er  als  streng  schliessender  Beweis  nicht  gelten 
kann,  hat  Kant  sptäter  selber  erkannt  —  schien  es  ihm  doch 
durchaus  nötig,  dass  man  sich  vom  Dasein  Gottes  überzeuge, 
aber  nicht  eben  so  nötig,  dass  man  es  demonstriere.  Wenn  es 
aber  darauf  ankommt,  den  Wert,  die  wissenschaftliche  Bedeutung 
der  Naturgeschichte  des  Himmels,  darzulegen,  so  hat  sich  uns  ge- 
zeigt, dass  sie  in  erster  Linie  eine  philosophische  war.  Und  wenn 
wir  auch  die  Beantwortung  unserer  früher  gestellten  Frage,  was 
war  Kant  für  die  Naturgeschichte  des  Himmels?  nicht  mit  der 
Zustimmung  beantworten  konnten,  mit  der  dies  vielfach  geschieht, 
so  müssen  wir  umgekehrt  die  Fragestellung,  was  war  die  Natur- 
geschichte des  Himmels  für  Kant?  als  die  richtigere  und  wich- 
tigere in  den  Vordergrund  stellen.  Denn  sie  hat  Kant  auf  den 
Weg  gebracht,  den  er  suchte;  und  weil  er  hier  auf  immer  höhere 
Bahnen,  zu  Consequenzen  kam,  die  er  nicht  vermutete,  so  küm- 
merte er  sich  um  das  Erstlingswerk  nicht  mehr,  welches  ja  schon 
durch  den  „Beweisgrund"  für  ihn  überflüssig  geworden  war. 
Auch  wissenschaftlich  hielt  er  in  späteren  Zeiten,  1791  in  Gen- 
sichen's  Auszug,  nur  die  mechanischen  Darlegungen  des  ersten 
und  der  5  ersten  Hauptstücke  des  zweiten  Teiles  fest. 

Kant  war  in  den  rationalistischen  Weltansichten  herange- 
wachsen, er   hatte   einen  tief  religiösen,  auf  wirkliche  Frömmigkeit 


478  Ö.  Gerland, 

g-erichteten  Sinn.  Aber  trotzdem  trat  ihm,  der  nach  wahrer,  tat- 
sächlicher Welterkenntuis  strebte,  jeuer  Gottesbegriff  des  Mittel- 
alters, der  selbst  Newton  eingeengt  hatte,  überall  hemmend  ent- 
gegen. Mit  ihm,  der  ja  auch  ganz  in  die  Weltauffassuug  des 
Rationalismus  übergegangen  war,  musste  er  sich  auseinandersetzen, 
wenn  er  eine  wirkliche  Welterkenntnis  anstrebte.  Hierfür  hat 
Kant  gearbeitet;  die  besprochenen  Werke  enthalten  seine  Ki-itik 
der  natürlichen  Weltauffassung,  die  er  ungetrübt  durch  veraltete 
Vorstellungen  haben  wollte.  Dies  geschah  durch  die  Beseitigung 
des  völlig  unwissenschaftlichen,  auch  religiös  wenig  bietenden 
anthropomorphistischeu  Gottesbegriff  vergangener  Jahrtausende. 
Auch  die  allgemeine  Frömmigkeit  brauchte  klarere,  möglichere, 
reinere  Begriffe,  als  die  überlieferten;  sie  brauchte  sie,  wie  Kant 
sie  zunächst  für  sich  geschaffen  hat. 

Diese  kritische  Stufe,  die  uns  selbstverständlich  erscheint, 
die  es  aber  damals  nicht  war,  musste  erst  festgelegt  werden,  ehe 
eine  weitere,  wissenschaftliche  Weltbetrachtung  möglich  war.  Sie 
wurde  geschaffen  durch  Kant's  Naturgeschichte  des  Himmels  und 
die  anderen  betrachteten  Werke,  durch  seine  P^inführung  des 
mechanischen  Weltbegriffs,  durch  seine  Darlegung  der  wissen- 
schaftlichen und  religiös-ethischen  Wichtigkeit  des  letzteren. 

Kaut  erstrebte  ja  als  Ziel,  wie  wir  eben  von  ihm  selbst 
hörten,  durch  den  Nachweis  der  Regelmässigkeit  und  Ordnung,  die 
aus  den  allgemeinen  Naturgesetzen  fliessen,  der  natürlichen  Welt- 
weisheit ein  freies  Feld  zu  eröffnen.  Dies  hat  er  gethan;  und 
daher  bleiben  trotz  aller  sachlichen  Irrtümer  die  Naturgeschichte 
des  Himmels  und  der  Beweisgrund  Werke  von  weltgeschichtlicher 
Bedeutung,  weil  sie  Kant's  weltgeschichtliche  Stellung  begründeten. 


Zehnte  Vorlesung. 
Die  späteren  geographischen  Abhandlungen. 

An  die  Naturgeschichte  schliessen  sich  zeitlich  eng  die  Ab- 
handlungen, welche  Kant  über  das  Erdbeben  von  Lissabon  schrieb, 
sowie  ferner  zwei  Einladuugsschriften  zu  seinen  Vorlesungen  1756 
und  1757,  in  denen  er  über  die  Winde  handelt.  Aber  noch  30 
Jahre  nach  der  Naturgeschichte  des  Himmels  veröffentlichte  Kant 
eine  geographisch-kosmologische  Arbeit,  die  letzte,  die  er  auf 
diesem   Gebiet   schrieb,    die   Abhandlung    „Über   die  Vulkane   im 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       479 

Monde",  ^)  welche  im  März  1785  in  der  Berliner  Monatsschrift  er- 
schien. Da  dieselbe  in  mancher  Beziehung-  sich  an  die  „Natur- 
geschichte" anschliesst,  manches  erläuternde  Licht  auf  dieselbe 
wirft  und  zu  ihrer  Erklärung  auch  sonst  herbeigezogen  ist,  so 
werden  wir  am  besten  sie  gleich  hier  besprechen.  Sie  wurde  ver- 
anlasst durch  Herschel's  Entdeckung  (4.  Mai  1783)  eines  „Vulkans" 
im  Mond,  durch  welche  der  russische  Staatsrat  Aepinus  „die 
Richtigkeit  seiner  Muthmassung  über  den  vulkanischen  Ursprung 
der  Unebenheiten  der  Moudsfläche"'-^)  bewiesen  sah. 

Kant  ist  anderer  Ansicht.  „Es  bleibt,  sagt  er  S.  196,  unge- 
achtet aller  Aehnlichkeit  der  ringförmigen  Mondflecken  mit  Kra- 
teren  von  Vulkanen,  dennoch  ein  so  erheblicher  Unterschied 
zwischen  beiden,  und  dagegen  zeigt  sich  eine  so  treffende  Aehn- 
lichkeit derselben  mit  anderen  kreisförmigen  Zügen  unvulka- 
nischer  Gebirge'')  oder  Landesrücken  auf  unserer  Erde,  dass 
eher  eine  andere,  obzwar  nur  gewissermassen  mit  jener  analo- 
gische Muthmassung  über  die  Bildung  der  Weltkörper  dadurch  be- 
stätigt sein  möchte."  Die  Ringgebirge  des  Mondes  sind  zu  gross, 
um  vulkanisch  zu  sein;  sie  sind  vielmehr  Gebilde  analog  den 
„kraterähnlicheu  Bassins",  „die  auf  der  Erde  die  Sammlungsbecken 
der  Gewässer  für  Ströme  ausmachen". *)  Daneben  zeigen  Erde 
und  Mond  die  sehr  viel  kleineren  eigentlichen  Vulkane.  Beide 
aber,  die  Vulkane  wie  die  ringförmigen  Bassins,  sind  auf  Erup- 
tionen zurückzuführen,  letztere  allerdings  nicht  auf  vulkanische, 
da  die  Randgebirge  der  Bassins  keine  vulkanischen  Materien  ent- 
halten, „sondern  aus  einer  wässerigten  Mischung  entstanden  zu 
sein  scheinen".  Denn  „wenn^)  man  sich  die  Erde  ursprünglich 
als  ein  im  Wasser  aufgelöstes  Chaos  vorstellt,  so  werden  die 
ersten  Eruptionen,  die  allerwärts,  selbst  aus  der  grössten  Tiefe 
entspringen  mussten,  atmosphärisch^)  (im  eigentlichen  Sinn) 
gewesen  sein";  mit  jenen  wässerigen  Urchaos  war  auch  unser 
Luftmeer  vermischt,  welches,  zusammt  vielen  anderen  elastischen 
Dünsten,')  aus  der  erhitzten  Kugel  gleichsam  in  grossen  Blasen 


1)  Hartenst.  4,  193—202. 

2)  Eb.  195. 

3)  Sperrung  von  Kant.    Vgl.  Naturg.  d.  H.  Orig.-Ausg.  S.  70. 
*)  Hartenst.  4,  198. 

5)  Hartenst.  4,  198. 
^)  Sperrung  von  Kant. 
7)  Sperrung  von  Kant. 


480  G.  Gerland, 

ausgeblochen  ist.  In  dieser  Ebullition,  (davon  kein  Teil  der  Erd- 
fläche frei  war)  wurden  die  Materien  der  ursprüng-lichen  Gebirge 
kraterähnlich  ausgeworfen  „und  dadurch  die  Grundlage  zu  allen 
Bassins  der  Ströme  gebildet,  womit,  als  den  Maschen  eines  Netzes, 
das  ganze  feste  Land  durchwirkt  ist."  Die  mit  den  von  ihnen 
gelösten  Materien  ausbrechenden  „Auflösungswasser"  durch- 
schnitten und  zersägten  die  Ränder  der  von  ihnen  ausge- 
waschenen Bassins,  welche  ganz  aus  dem  „geschwinde  krystalli- 
sirten"  Granit  bestanden  und  durch  die  minder  rasch  ausgeschie- 
denen Materialien,  Hornstein,  Kalk  u.  dgl.  bedeckt  wurden.  Die 
erste  Ursache  also  der  Unebenheiten  der  Erdoberfläche  ist  eine 
atmosphärische,  besser  gesagt  chaotische  Ebullition,')  aufweiche 
dann  durch  pelagische  AUuvion  Materien,  die  schon  Meergeschöpfe 
enthielten,  geschichtet  wurden.  Aus  den  Gruppen  dieser  „chao- 
tischen Ebullition"  bildete  sich  das  Festland  mit  seinen  Gebirgen, 
der  Seegrund  dagegen  aus  allen  Gebieten,  „wo  die  Ebullition  nicht 
so  heftig  gewesen  war."  Das  „überflüssige  Krystallisationswasser" 
von  einem  Basin  in  das  andere  zu  dem  niedrigsten  Teil  der  sich 
bildenden  Erdfläche  (dem  Meer)  sich  durchwaschend  und  ablaufend 
bildete  in  diesem  „Skelet  der  Erdoberfläche"  die  Ströme;  man 
kann  auf  einer  Karte  die  Landrücken  durch  eine  Linie  darstellen, 
die  man  durch  die  Quellen  der  Ströme  zieht,  welche  einem  grossen 
Flusse  zufallen.  Der  Lauf  der  Ströme  erscheint  Kant  als  „der 
eigentliche  Schlüssel  der  Erdtheorie"',^)  denn  erstlich  muss  das 
Land  durch  Landrücken  gleichsam  in  Teiche  abgeteilt,  dann 
zweitens  Boden  und  Verbindungskanäle  von  dem  Wasser  selbst 
geformt  sein. 

Die  vulkanischen  Eruptionen,  nur  einzelne  Berge  bildend, 
ti-aten  später,  erst  nach  Verfestigung  der  Erdrinde  auf.  Jeden- 
falls aber  ist  der  Gedanke,  dass  der  Mond  Vulkane  und  Basiu- 
bildungen  wie  die  Erde  habe,  für  die  Kosmogonie  von  Erheblich- 
keit;»)  er  bestätigt,  dass  die  Weltkörper  ihre  erste  Bildung  auf 
ähnliche  Weise  empfangen  haben  —  sie  waren  flüssig,  wie  schon 
ihre  Kugelgestalt  und  Abplattung  bezeugt.  „Ohne  Wärme  aber 
gibt's  keine  Flüssigkeit.  Woher  kam  diese  ursprüngliche 
Wärme"?4)     Nicht,    wie  Büffon  meint,  von  der  Sonne;    vielmehr 


1)  Hartenst.  4,  199.     Sperrung  von  Kant. 

2)  200.  Note. 

3)  Eb.  S.  200. 

*)  Hartenst.  4,  200.    Sperrung  von  Kant. 


Imma-nuel  Kant,  seine  geograph,  und  anthropolog.  Arbeiten.       481 

„wenn  man  annimmt,  dass  der  Urstoff  aller  Weltkörper  in  dem 
ganzen  weiten  Raum,  worin  sie  sich  jetzt  bewegen,  anfangs  dunst- 
förmig  verbreitet  gewesen,  und  sich  daraus  nach  Gesetzen,  zuerst 
der  chemischen,  hernach  und  vornehmlich  der  kosmologischen  Attrac- 
tion(s.o.S.459f.)  gebildet  haben,  so  geben  Crawford's  Entdeckungen V) 
einen  Wink,  mit  der  Bildung  der  Weltkörper  zugleich  die  Erzeugung 
so  grosser  Grade  der  Hitze,  als  man  selbst  will,  begreiflich  zu 
machen.  Denn  wenn  das  Element  der  Wärme  für  sich  im  Welt- 
raum allerwärts  gleichförmig  ausgebreitet  ist,  sich  aber  nur  an 
verschiedene  Materien  in  dem  Maasse  hängt,  als  sie  es  verschiedent- 
lich anziehen;  wenn,  wie  er  beweiset,  dunstförmig  ausgebreitete 
Materien  weit  mehr  Elementarwärme  in  sich  fassen  und  auch  zu 
einer  dunstförmigen  Verbreitung  bedürfen,  als  sie  halten  können, 
sobald  sie  in  den  Zustand  dichter  Massen  übergehen,  d.  i.  sich  zu 
Weltkugeln  vereinigen;  so  müssen  diese  Kugeln  ein  Uebermaass 
von  Wärmematerie  über  das  natürliche  Gleichgewicht  mit  der 
Wärmematerie  im  Eaum,  worin  sie  sich  befinden,  enthalten,  d.  i. 
ihre  relative  Wärme  in  Ansehung  des  Weltraums  wird  angewachsen 
sein",  nach  dem  Grad  der  Verdichtung,  der  Kürze  der  Zeit  und 
der  Quantität  der  Materie.  So  „würden  wir  einsehen,  warum  der 
Centralkörper  (als  die  grösste  Masse  in  jedem  Weltsystem)  die 
grösste  Hitze  haben  und  allerwärts  eine  Sonne  sein  könne;"  2) 
die  „höheren  Planeten",  grösser,  aus  verdünnterem  Stoff  gebildet, 
würden  mehr  innere  Wärme  haben  können  als  „die  niedrigeren"; 
die  gebirgigte  Bildung  der  Oberfläche  der  Weltkörper,  auf  welche 
unsere  Beobachtung  reicht,  der  Erde,  des  Mondes,  der  Venus,  aus 
atmosphärischen  Eruptionen  ihrer  ursprünglich  erhitzten  chaotisch- 
flüssigen Masse"  würde  als  allgemeines  Gesetz  erscheinen,  ebenso 
„die  vulkanischen  Eruptionen  aus  der  Erde,  dem  Monde  und  sogar 
der  Sonne  (Sonnenflecken  nach  Wilson  Krater)  ein  allgemeines 
Princip  der  Ableitung  und  Erklärung  bekommen". 


1)  Adair  Crawford,  Experiments  and  observations  on  animal  heat 
and  the  inflammation  of  combustible  bodies,  being  an  attenipt  to  resolve 
these   phenomena   into    a    general    law  of  nature.     London  1779.     2.  Aufl. 

1788.  Deutsche    Übersetzung    der    1.  Aufl.    Leipzig    1785;    der  2.  L.  Grell 

1789.  Die  1.  Aufl.  ist  mir  nicht  zugänglich;  die  Stellen,  auf  welche  sich 
Kant  zu  beziehen  scheint,  finden  sich  in  Ausg.  2,  S.  13,  82,  375;  J.  H.  de 
Magellan  gab  1780  einen  Auszug  aus  Crawford  (Essai  sur  la  nouv.  Theorie 
du  feu  elementaire  ec.     London  1780;  in  deutscher  Übersetz.   Leipz.  1782). 

2)  Sperrung  nicht  von  Kant. 

Kantstudien   X.  32 


482  G.  Gerland, 

Woher  aber  kam  die  erste  Bewegung  der  Atome  im  Welten- 
raum? Von  Attraction  und  C'hemismus  absehend  „das  ist  unmög- 
lich anzugeben",  antwortet  Kant:^)  aber  bei  Erscheinungen,  deren 
Ursache  wir  nach  bekannten  Gesetzen  mutmassen  können,  halte 
ich  es  für  „unzulässig,  die  unmittelbare  göttliche  Anordnung  zum 
Erklärungsgrunde  herbeizurufen.  Diese  letzte  muss  zwar,  wenn 
von  Natur  im  Ganzen  die  Rede  ist,  unvermeidlich  unsere  Nach- 
frage beschliessen :  aber  bei  jeder  Epoche  der  Natur,  da  keine  als 
schlechthin  erste  angegeben  werden  kann",  müssen  wir  „unter  den 
Weltursachen  suchen  und  ihre  Kette  nach  uns  bekannten  Gesetzen, 
so  lange  sie  aneinander  hängt,  verfolgen". 

Ich  habe  diese  merkwürdige  Stelle  ganz  wiedergegeben,  um 
zu  beweisen,  wie  völlig  unklar  und  unwissenschaftlich  Kant  noch 
1785  über  die  Wärmeverhältnisse  des  Weltraumes,  über  die  Ent- 
stehung der  Wärme  der  Weltkörper  dachte;  eine  Analyse  der  an- 
geführten Sätze  ist  überflüssig.  Kant's  Annahme  der  anfänglichen 
Flüssigkeit  der  Weltkörper  —  die  er  übrigens  schon  früher  hattet)  — 
stützt  sich  auf  ihre  Gestalt,  ihrer  W^ärme  auf  den  Wassergehalt 
der  Erde.  Von  hier  aus  nimmt  er  an,  dass  alle  Himmelskörper, 
deren  Oberfläche  wir  beobachten  können,  „erhitzte  chaotisch-flüs- 
sige", d.  h.  aus  Wasser,  Luft  und  den  Materialien  der  Erdniasse 
gemischte  Kugeln  waren,  die  also,  wenigstens  an  ihrer  Aussen- 
fläche,  nicht  mehr  Hitze  besassen,  als  flüssiges  AVasser  sie  er- 
tragen kann.  Wenn  nun  die  Sonne  proportionierlich  ihrer  Grösse 
heisser  war,  so  verträgt  sich  das  sehr  wohl  zwar  nicht  mit  dem 
Vorhergehenden,  aber  mit  der  Darstellung,  die  Kant  in  der  Natur- 
geschichte von  der  Sonne  gab,  ja  es  setzt  sie  voraus,  wie  aus 
der  behaupteten  Uebereinstimmung  der  Eruptionen  auf  Erde,  Mond 
und  Sonne  hervorgeht.  Auch  in  der  Naturgeschichte  des  Himmels 
bricht  die  flammende  Glut  erst  nach  der  Bildung  der  Sonne  auf 
ihrer  Oberfläche  hervor.  3) 

Dass  diese  Ansichten  Kant's  auch  für  seine  Zeit  durchaus 
unreif  sind,  liegt  auf  der  Hand;  sie  wurzeln  z.  T.  noch  in  den 
alten  Anschauungen  der  Aristoteliker  und  Dr.  Schöne's  Frage,-*) 
ob  sie  nicht  an  unser  heutiges  Wissen,  an  die  Ansichten  von 
Helmholtz    über    die  Sonnenwärme    oder  gar  an  die  Theorien  von 


1)  Hart.  4,  202. 

2)  N.  d.  H.    O.-A.  70. 

1)  Orig.-Ausg.  S.  32. 

2)  Altpreuss.  Monatsschr.  N,  F.  ßd.  33,  S.  253. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       483 

Lockyer,  von  George  H.  Darwin  auf  eine  ziemliche  Nähe 
heranrücken,  ist  durchaus  zu  verneinen.  Es  ist  völlig  unmetho- 
disch,  aus  einzeln  herausgegriffenen  Worten  oder  Anklängen 
wissenschaftlich-historische  Urteile  bilden  zu  wollen,  die  nur  dann 
Wert  haben  können,  wenn  die  Beurteilung  aus  der  gleichzeitigen 
Gesammtheit  des  individuellen  wie  des  allgemeinen  Auffassens 
hervorgeht.  Kant  schrieb  eine  populär-interessierende  Arbeit,  die 
auch  ihn  anregte,  rasch  und  leicht  hin.  Die  fachmännischen  Zeit- 
genossen haben  sie  wissenschaftlich  nicht  beachtet  und  wir,  nach 
genauer,  vorurteilsloser  Erwägung,  müssen  zugestehen,  dass  sie 
Recht  hatten.  Damit  ist  auch  Eberhard's  abweisendes  Urteil  i) 
über  Kant's  Kosmologie    gegen  Schöne    vollständig    gerechtfertigt. 

Unmittelbar  nach  der  Naturgeschichte  des  Himmels,  im  Jahr 
1756,  erschienen  die  drei  Abhandlungen,  welche  Kant  über  das 
Erdbeben  von  Lissabon  schrieb.  Die  erste,  „von  den  Ursachen  der 
ErderschütteruDgen  bei  Gelegenheit  des  Unglücks,  welches  die 
westlichen  Länder  Europas  gegen  das  Ende  des  vorigen  Jahres 
betroffen  hat"  in  den  Königsbergischeu  wöchentlichen  Frag-  und 
Anzeigungsnachrichten,  Ende  Januar,  die  zweite  „Geschichte  und 
Naturbeschreibung  der  merkwürdigsten  Vorfälle  des  Erdbebens, 
welches  an  dem  Ende  des  1755sten  Jahres  einen  grossen  Teil  der 
Erde  erschüttört  hat"  bei  Härtung  in  Königsberg  Ende  Februar 
als  selbständiges  Werk  und  die  dritte  „Fortgesetzte  Betrachtungen 
der  seit  einiger  Zeit  wahrgenommenen  Erderschütterungeu" 
wieder  in  den  Königsbergischen  Anzeigenachrichten  im  April.-) 

Kant's  Erdbebenerklärungeu  gehen  in  der  Hauptsache  über 
R.  Boyle,  Äthan  Kircher  etc.  auf  Aristoteles  zurück.  Er  nimmt 
an,  dass  der  Erdboden  hohl  ist  „und  seine  Wölbungen  fast  in 
einem  Zusammenhange  durch  weitgestreckte  Gegenden  sogar 
unterm  Boden  des  Meeres  fortlaufen". 3)  Diese  Höhlungen,  deren 
Ursprung  zu  erklären  man  „bis  in  die  Geschichte  der  Erde  im  Chaos 
zurückgehen  müsste",  ziehen  sich  namentlich  den  Gebirgen  und 
ihren  Ausläufern  sowie  den  grossen  Strömen  entlang;  unter  dem 
Meere    sind    sie    besonders   lang,    aber  auch  besonders  eng;-)    das 


1)  Dr.  G.  Eberhard,  Die  Cosraogonie  von  Kant.     Wien  1893.  S.  VIII 
etc.  XXIII. 

2)  Hartenstein  1,    401—456.     In    der  Akad.-Ausg.    sind    sie   von  Job. 
Rabts  herausgegeben,  Bd.  I,  417—472;  568-578. 

3)  Hart  1,  S.  404.      Akad.-Ausg.  420. 
5)  Hart.  1,  433.    Akad.-Ausg.  1,  449. 

32* 


484  G.  Gerland, 

Meer  ist  durch  Einsinken  solcher  Hohlräume  entstanden,  „Diese 
Höhleu  erhalten  alle  ein  loderndes  Feuer,  oder  wenigstens  den- 
jenigen brennbaren  Zeug,  der  nur  einer  geringen  Reizung  bedarf, 
um  mit  Heftigkeit  um  sich  zu  wüthen  und  den  Boden  übei-  sich  zu 
erschüttern  oder  gar  zu  spalten".')  Also  ebenso  wie  auf  der 
Sonne;  nur  dass  auf  iiir,  in  Folge  der  leichteren  und  flüchtigeren 
Teile  ihres  Elementargeuienges,  welche  „die  wirksamsten  sind,  das 
Feuer  zu  unterhalten",''^)  und  ihrer  Mischung  mit  feuernähiender 
dichterer  Materie  das  „aus  sich  selbst  wirksame  Feuer"-'')  der 
Obeifläche  fortwährend  flammt.  So  wie  es  erlischt,  wird  es  durch 
die  aus  den  tiefen  Schlünden  des  Sonnenkörpers  neu  hervor- 
brechende Luft  wieder  entzündet.  Die  Feuermaterialien  des  Erd- 
inneren geraten  durch  Zutritt  von  Wasser  in  Gährung,  in  Ent- 
zündung;"^) es  bilden  sich  zugleich  heftige  Stürme  und  beides,  die 
unterirdischen  Entzündungen  und  die  Bewegungen  der  gährenden 
Massen  verursachen  die  Erdbeben.  Ebenso  aber  auch  die  Vulkan- 
thätigkeit,  daher  durch  einen  thätigen  Vulkan  schon  manches 
Land  von  seinen  heftigen  Pirsch ütterun gen  befreit'')  worden  ist. 

Dass  diese  ganze  Erklärung  keinen  neuen  Gedanken,  nichts 
wissenschaftlich  irgendwie  wertvolles  bringt,  ist  klar.  Interessant 
ist  sie  durch  das  Licht,  welches  sie  auf  die  Naturgeschichte  des 
PTimmels  fallen  lässt,  so  z.  B.  wenn  Kant  die  Ansicht  ausspricht,^) 
man  müsse  zur  Erklärung  dieser  Höhlen  bis  zur  Geschichte  der 
Erde  im  Chaos  zurückgehen;  ferner  seine  ganze  Schilderung  der 
Sonne,  die  er  einfach  herübernimmt  aus  jenen  aristotelischen  Vor- 
stellungen von  der  Erde,  die  Varenius  z.  B.  durchaus  bei  Seite 
lässt.  Im  Einzelnen  ist  manches  unhaltbare  kritiklos  aus  anderen 
Schriftstellern  herübergenommeu,  so  die  seismische  Gefährlichkeit 
der  Längenausdehuung  der  Städte  an  Flüssen  hin  nach  le  Geutil 
und  Büffon,  ^)  die  Steilheit  der  südlichen  und  westlichen  Küsten 
gegenüber    den  östlichen  s)    nach  Dampier  u.  s.  w.      Auch  ausser- 


1)  Hart.  1,  417  f.     Akad.-Ausg.  433. 

2)  N.  d.  H.     Orig.-Ausg.    S.  130.     Vgl.   oben   S.  481:   die   Annalime 
grösserer  Innenwärme  der  „höheren"  Planeten. 

3)  Eb.  S.  132. 

*)  Hart.  1,  407.  431  2. 

5)  Hart.  ],  407.    Akad.-Aiisg.  423. 

6)  Hart.  1,  404.    Akad.-Ausg.  420. 

7)  Hart.  1,  405.     Akad.-Ausg.  421. 

8)  Eb.  442  1    Akad.-Ausg.  459. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       485 

dem  fehlt  es  nicht  an  falschen  Auffassungen  (wie  z.  B.  die  ange- 
führten „Vorboten"  des  Erdbebens  von  Lissabon/)  die  mit  dem 
Erdbeben  gewiss  nichts  zu  thun  hatten);  doch  können  wir  diese 
Kleinigkeiten  bei  Seite  lassen. 

Wichtiger  ist  es,  einiges  andere  wirklich  Wertvolle  hervor- 
zuheben. So  ist  gleich  die  Inhaltsangabe  der  zweiten,  wichtigsten 
Abhandlung  von  Bedeutung.  Sie  lautet:  Vorbereitung.  Von  der 
Beschaffenheit  des  Erdbodens  in  seinem  Inwendigen.  —  Von  den 
Vorboten  des  letzteren  (d.  h.  des  vor  kurzem  eingetretenen)  Erd- 
bebens. —  Das  Erdbeben  und  die  Wasserbeweguug  vom  1.  No- 
vember 1755.  —  Betrachtung  über  die  Ursache  dieser  Wasser- 
bewegung. —  Das  Erdbeben  vom  18ten  November.^)  —  Das  Erd- 
beben vom  9ten  December.  —  Das  Erdbeben  vom  26ten  December. 
—  Von  den  Zwischenzeiten,  die  binnen  einigen  auf  einander  fol- 
genden Erdbeben  verlaufen.  —  Von  dem  Heerde  der  unterirdischen 
Entzündung  und  den  Örtern,  so  den  meisten  und  gefährhchsten 
Erdbeben  unterworfen  sind.  —  Von  der  Richtung,  nach  welcher 
der  Boden  durch  ein  Erdbeben  erschüttert  wird.  —  Von  dem  Zu- 
sammenhange der  Erdbeben  mit  den  Jahreszeiten.  —  Von  dem 
Eiufluss  der  Erdbeben  in  den  Luftkreis.  —  Von  dem  Nutzen  der 
Erdbeben.  —  Anmerkung.  —  Schlussbetrachtung.  — 

Die  Geschichte  der  Unglücksfälle,  das  Verzeichnis  der  zerstörten 
Städte  gibt  Kant  absichtlich  nicht.  „Ich  beschreibe,"  sagt  er,^)  „hier  nur 
die  Arbeit  der  Natur,  die  merkwürdigen  natürlichen  Umstände,  die 
die  schreckliche  Begebenheit  begleitet  haben,  und  die  Ursachen  der- 
selben". Und  hierin  liegt  das  Verdienst  der  Arbeit.  Gerade  in 
dieser  Zusammenfassung  der  Hauptpunkte,  die  auch  heute  noch  bei 
keiner  wissenschafthchen  Behandlung  eines  makroseismischen  Erd- 
bebens fehlen,  in  dieser  Weglassuug  des  zwar  aufregenden,  aber 
seismologisch  nicht  in  Betracht  kommenden  Beiwerks:  in  dieser 
Gesammtauffassung,  bei  der  man  wieder  von  allen  unter- 
geordneten, vielfach  unrichtigen  Punkten  absehen  kann  und  darf, 
gibt  er  die  erste  wirklich  wissenschaftliche  Behandlung 
eines  Erdbebens,  welche  die  Erdbebenlitteratur  aufzuweisen 
hat.      Erdbebenbeschreibuugen,    sehr    interessante    und    wertvolle, 


1)  Hart.  1,  418  f.     Akad.-Ausg.  495  f. 

2)  Die  Akad.-Ausg.  schreibt  hier  und  in  den  beiden  folgenden  Ueber- 
schriften  Novembr,  Decembr  (nicht  November)  wohl  nach  dem  Original- 
druck; dagegen  vorher  1.  November. 

3)  Hartenstein  1,  418.    Akad.-Ausg.  1,  434. 


486  G.  Gerland, 

haben  wir  auch  aus  früherpn  Zeiton:  eine  wissenschaftliche  Dar- 
leg-ung,  welche  nur  „die  Arbeit  der  Natur"  und  die  Ursachen 
der  Begebenheiten  darstellen  will,  hat  zuerst  und  über  seine 
Zeit  hinaus  mustergültig  Kant  gegeben. 

Dazu  kommen  noch  verschiedene  Einzelnpunkte,  die  von 
wissenschaftlichem  Wert  sind.  So  die  Betonung  der  heftigen 
Wasserbewegung  als  „des  seltsamsten  Gegenstandes  der  Bewunder- 
ung und  Nachforschung  in  dieser  Begebenheit".')  Ganz  richtig 
erklärt  Kant  den  Ursprung  der  Bewegung  durch  die  Hebung  des 
Seebodens  in  Folge  einer  starken  Succussion,-)  vermischt  dann 
aber  zweierlei,  Erdbebenflutwelle  und  Seebeben;  eine  Flutwelle 
war  es,  ausgehend  von  dem  erschütterten  Meeresgrund  westlich 
von  Portugal,  vom  Epicentrum  des  Lissaboner  Bebens,  welche  die 
Brandungen  hervorrief,  die  an  so  vielen  Küsten  des  Atlantic  ein- 
trat; Kant  glaubt  dieselbe  entstanden  durch  Longitudinalwellen 
des  Wassers,  wie  dieselben  durch  heftige  Lokalsuccussion  ent- 
stehen und  schildert  die  Fortpflanzung  dieser  Bewegungen  sehr 
richtig.  Auch  der  Name  Seebeben  stammt  von  ihm;  er  findet  sich 
zuerst  in  seiner  2.  Abhandlung.'')  Aber  die  mächtige,  weitverbreitete 
Flut  war  durch  solche  Wellen  nicht  zu  erklären*)  Dagegen  trennt 
Kant  die  Bewegungen  der  Binnenseegewässer  von  diesen  Meeres- 
bewegungen ;  er  führt  sie  sehr  richtig  auf  die  Erschütterungen 
des  Erdbodens  zurück.^)  Letztere  selber  entstehen  ^)  „mutmasslich" 
durch  die  gewaltsam  bewegte  unterirdische  Luft,  „die  als  ein  hef- 
tiger Sturmwind  den  Boden,  der  seiner  Ausbreitung  widerstand, 
gelind  erschütterte".  Auch  die  Thatsache,  dass  Küstenstädte  be- 
sonders starken  Erdbeben  ausgesetzt  sind,')  sowie  ferner  eine  Pe- 
riodicität  (2X9  Tage)«)  der  Nachbeben,  die  ihm  wahrscheinlich 
vorkam,  leitet  Kant  von  diesen  Luftbeweguugen  ab,  ihrem  Einfluss 
auf  die  unterirdischen  Entzündungen,  ihrem  Wechselverhältnis  mit 
der    äusseren    Luft;     auch    die    Richtung    der    Erdbebenbewegung 


1)  Eb.  407.     Akad.-Ausg.  423. 

2)  Hart.  408.  423.     Akad.-Ausg.  1,  424  f.  439. 

3)  Hart.  433.     Akad.-Ausg.  449. 

■*)  Die  Bemerkung,  welche  Rahts  über  Kants  Erklärung  der  Wasser- 
bewegung gibt,  ist  unklar;  auch  Rahts  vermischt  wie  Kant  die  beiden 
ganz  verschiedenen  Wasserbewegungen.     Akad.-Ausg.  S.  570, 

6)  Hart.  425.     Akad.-Ausg.  441. 

6)  Hart.  432.    Akad.-Ausg.  448. 

')  Hart.  433.     Akad.-Ausg.  449. 

8)  Hart.  430.    Akad.-Ausg.  446  f. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       487 

folgt  die  Richtung  jener  Hohlräume.  Auch  hier,  wie  in  der  Natur- 
geschichte des  Himmels,  sind  alle  Erscheinungen  auf  eine  Grund- 
annahme zurückgeführt:  während  diese  aber  in  der  Naturgeschichte 
richtig  war,  ist  sie  hier  falsch. 

Die  letzte  Abhandlung  enthält  hauptsächlich  scharfe  Ab- 
weisungen irriger  Anschauungen  (wie  wir  letztere  ja  auch  in  der 
Gegenwart,  beim  Pele-ausbruch,  so  vielfach  hören  mussten) :  dass 
die  Erde  ihre  Stellung  zur  Sonne  verändert  habe,  dass  die  Aus- 
dünstung einer  sich  nach  der  Sonne  drehenden  Pflanze  die  Ost- 
winde hervorbringe;  dass  man  aus  dem  Mondlauf  eine  „astrono- 
mische Uhr  der  Erdbeben",  des  Eintretens  derselben  herstellen 
könne;  dass  die  Einflüsse  der  Planeten  die  Erdbeben  veranlassten, 
dass  mau  ein  hinlänglich  tiefes  Loch  in  den  Erdboden  graben  soll, 
um  das  unterirdische  Feuer  abzuleiten  u.  s.  w.  Dass  man  jemals 
die  Erdbeben  vorher  verkündigen  könne,  hält  Kant  für  unmöglich. 
Auch  die  Beziehungen  zwischen  Elektrizität  und  Erdbeben  weist 
er  ab,  nicht  aber  die  zwischen  Erdbeben  und  Magnetismus,  „die 
Mitwirkung  der  magnetischen  Materien" ;i)  doch  „kennen  wir  die 
verborgene  Natur  des  Magnets  zu  wenig,  um  von  dieser  Erschei- 
nung Grund  angeben  zu   können".     Also  auch  hier  viel  Richtiges. 

Die  Erdbebenabhandlungen  folgen  zeitlich  unmittelbar  auf 
die  Naturgeschichte  des  Himmels;  eine  Reihe  von  Beziehungs- 
punkteu  sahen  wir  schon.  Wichtiger  aber  ist  die  Uebereinstim- 
mung  beider  Arbeiten  in  der  Gesammtauffassuug.  Auch  in  den 
Erdbebenabhandlungen  kommt  es  Kant  darauf  an,  das  Erdgauze, 
den  Mechanismus  der  grossen,  so  auffallenden,  scheinbar  ganz 
regellosen  Störungen  zu  begreifen.  Und  so  sagt  er  selbst  am 
Schluss  der  ersten  Abhandlung i^)  „Die  Wichtigkeit  und  mannig- 
faltige Besonderheiten  desselben  bewegen  mich,  eine  ausführliche 
Geschichte  dieses  Erdbebens,  die  Ausbreitung  desselben  über  die 
Länder  von  Europa,  die  dabei  vorkommenden  Merkwürdigkeiten 
und  die  Betrachtungen,  wozu  sie  veranlassen  können,  in  einer  aus- 
führlicheren Abhandlung  dem  Publike  mitzuteilen,  die"  u.  s.  w. 
Und  diese  Abhandlung,  die  zweite,  beginnt:  3)  „die  Natur  hat  nicht 
vergeblich  einen  Schatz  von  Seltenheiten  überall  zur  Betrachtung 
und  Bewunderung  ausgebreitet.     Der  Mensch,    welchem  die  Haus- 


1)  Hart.  1,  439.     Akad.-Ausg.  1,  S.  455. 

2)  Hart.  411. 

3)  Hart.  413. 


488  G.  Gerland, 

haltimg-  des  Ei'dbodens  anvertraut  ist,  besitzt  Fähigkeiten,  er  be- 
sitzt auch  Lust,  sie  kennen  zu  lernen,  und  preiset  den  Schöpfer 
durch  seine  Einsichten.  Selbst  die  fürchterlichen  Werkzeuge  der 
Heimsuchung  des  menschlichen  Geschlechts,  die  Erschütterungen 
der  Länder  .  .  .  fordern  den  Menschen  zur  Betrachtung  auf,  und 
sind  nicht  weniger  von  Gott  als  eine  richtige  Folge  aus  bestän- 
digen Gesetzen  in  die  Natur,  gepflanzt,  als  andere  schon  gewohnte 
Ursachen  der  Ungemächlichkeit"  etc.  Also  auch  hier,  wie  überall  in 
der  Naturgeschichte,  wird  das  unmittelbare  ICingreifen  Gottes  zu- 
rückgewiesen.i)  Auch  solche  schreckliche  Zufälle  sind  nur  Folgen 
des  Mechanismus  der  Natur.  Die  Naturgesetze  muss  man  kennen 
lernen,  die  Gesammtbeschaffenheit,  hinter  welcher  Gott,  wie  wir 
ihn  schon  kennen,  in  voller  Schöpferkraft,  eben  darum  auch  ohne 
weiteres  Eingreifen  steht.  Um  dies  nachzuweisen  und  zugleich  j' 
um  den  Mechanismus  der  Gesammtnatur  auch  hier  kennen  zu 
lernen,  geht  Kant  auf  alle  Einzelnheiten  ein,  von  veraltet  herüber- 
genomnienen  Grundanschauungen  mit  neuen  Gedanken  und  rich- 
tiger Methodik  trotz  falscher  Prämissen  das  ganze  erklärend. 
Auch  die  Stellung  der  Menschheit  zwischen  Natur  und  Gott  wird 
ebenso  aufgefasst  wie  in  der  Naturgeschichte.  „Die  Betrachtung^) 
solcher  schrecklichen  Zufälle  ist  lehrreich.  Sie  demütigt  den 
Menschen  dadurch,  dass  sie  ihn  sehen  lässt,  er  habe  kein  Recht, 
oder  zum  wenigsten  er  habe  es  verloren,  von  den  Naturgesetzen, 
die  Gott  angeordnet,  lauter  bequemliche  Folgen  zu  erwarten  und 
er  lernt  vielleicht  auf  diese  Weise  einsehen,  dass  dieser  Tummel- 
platz seiner  Begierden  billig  nicht  das  Ziel  aller  seiner  Absichten 
enthalten  sollte."  „Der  Mensch-^)  ist  nicht  geboren,  um  auf  dieser 
Schaubühne  der  Eitelkeit  ewige  Hütten  zu  erbauen,  weil  sein 
ganzes  Leben  ein  weit  edleres  Ziel  hat."  Aber  er  ist  auch  nicht 
„einem  unw^andelbaren  Schicksal^)  der  Naturgesetze,  ohne  Rück- 
sicht auf  seine  besonderen  Vortheile  überlassen.  Eben  dieselbe 
höchste  Weisheit,  von  welcher  der  Lauf  der  Natur  diejenige  Rich- 
tigkeit entlehnt,  die  keiner  Ausbesserung  bedarf,  hat  die  niederen 
Zwecke  den  höheren  untergeordnet  und  in  eben  den  Absichten,  in 
welchen  jene  oft  die  wichtigsten  Ausnahmen  von  den  allgemeinen 
Regeln  der  Natur  gemacht  hat,  um  die  unendlich  höheren  Zwecke 


1)  Vgl.  auch  Hart.  443.     Akad.-Ausg.  459. 

2)  Hart.  415.     Akad.-Ausg.  431. 

3)  Hart.  444.      Akad.-Ausg.  460. 
*)  Ebendas. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       489 

ZU  erreichen,  die  weit  über  alle  Naturmittel  erhaben  sind,  wird 
auch  die  Führung  des  menschlichen  Geschlechts  in  dem  Regiment 
der  Welt  selbst  dem  Laufe  der  Naturdinge  Gesetze  vorschreiben". 
Hätte  Kant  nur  die  Erscheinungen  des  Erdbebens  rein  physika- 
lisch darlegen  wollen,  so  waren  diese  moralischen  Betrachtungen, 
die  Besprechungen  der  Stellung  des  Menschen  in  der  Welt  ganz 
überflüssig;  wie  sie  denn  beim  ersten  Durchlesen  der  Abhand- 
lungen für  den  modernen  Leser  etwas  störendes,  befremdendes 
haben.  Wir  kommen  erst  zu  ihrem  richtigen  Verständnis,  wenn 
wir  auch  hier  die  philosophische  Gesammtanschauuug,  die  Kant 
darlegen  will,  berücksichtigen.  In  diesem  Sinne  hat  K.  Fischer 
Recht  zu  sagen  ^)  „die  Betrachtungen  unseres  Philosophen  sind 
ihrer  Absicht  gemäss  nicht  erbaulich".  Ihr  Zusammenhang  mit 
der  philosophischen  Gesammtauffassung  Kaufs  und  mit  der  Natur- 
geschichte des  Himmels  hebt  sie  über  das  bloss  Erbauliche  hinaus, 
wie  überhaupt  erst  dieser  Zusammenhang  den  drei  Abhandlungen 
ihren  vollen  Wert  gibt.  -- 

Den  25.  April  1756  wurde  in  Königsberg  ausgegeben: 
„M.  Imman.  Kaut's  neue  Anmerkungen  zur  Erläuterung  der  Theo- 
rie der  Winde,  wodurch  er  zugleich  zu  seinen  Vorlesungen  ein- 
ladet." 2)  Kaut  gibt  nach  einer  kurzen  „Vorinnerung"  fünf  „An- 
merkungen"'^) nebst  beigefügter  „Bestätigung  aus  der  Erfahrung", 
welche  lauten:  1)  ein  grösser  Grad  der  Hitze,  der  auf  eine  Luft- 
gegend mehr  als  auf  eine  andere  wirkt,  macht  einen  Wind  nach 
dieser  erhitzten  Luftgegend  hin,  der  so  lange  anhält,  als  die  vor- 
zügliche Wärme  der  Gegend  fortdauert.  2)  Eine  Luftgegend,  die 
sich  mehr  als  eine  andere  verkühlt,  bringt  in  der  benachbarten 
einen  Wind  zuwege,  der  in  den  Platz  der  Verkühlung  hineinweht. 
3)  Ein  Wind,  der  vom  Aequator  nach  dem  Pole  hinweht,  wird 
immer  je  länger  desto  mehr  westlich,  und  der  von  dem  Pol  zum 
Aequator  hinzieht,  verändert  seine  Richtung  in  eine  CoUateral- 
bewegung  aus  Osten.  4)  Der  allgemeine  Ostwind,  welcher  den 
ganzen  Ocean  zwischen  den  Wendezirkeln  beherrscht,  ist  keiner 
anderen  Ursache  als  der,  welche  aus  der  ersten  mit  der  dritten 
verbundenen  Anmerkung  erhellt,  zuzuschreiben.  5)  Die  ]\Ioussons 
oder   periodischen  Winde,    die  den  Arabischen,  Persischen  und  In- 


1)  1,  179. 

2)  Hart.  1,  473—87.     Akad.-Ausg.  1,  489—503. 

3)  Die  5  Anmerkungen  im  Original  gesperrt. 


490  G.  Gerland, 

dischon  Ocoan  bohcrrschen,  werden  gauz  natürlich  aus  dorn  in  der 
dritten  Anmerkung-  erwiesenen  Gesetz  erklärt. 

Diese  Arbeit  Kant's  ist  eine  überaus  merkwürdige  und  muss 
deshalb  besonders  eingehend  besprochen  werden.  In  der  neueren 
Zeit  hat  sie  grosses  Lob  erhalten.  80  behauptet  K.  Fischer:  0 
„es  war  nichts  geringeres,  als  das  Drehungsgesetz  der  Winde, 
das  in  diesen  Blättern  zum  ersten  Male  entdeckt  und  erklärt 
wurde."  Und  Rahts^)  sagt,  Kant  habe  in  der  vorliegenden 
Schrift  „nicht  allein  eine  Theorie  der  Passate  und  der  Moussons 
gegeben,  sondern  auch  das  später  als  Dove'sches  bezeichnete 
Drehuugsgesetz  der  Winde  fast  mit  denselben  Worten  erläutert", 
wie  es  Dove  erläuterte.  Aber  dies  Lob  gebührt  Kant  nicht,  denn 
jene  Abhandlung  enthält  nicht  einen  neuen  Gedanken;  und  die 
Behandlung  der  Winde  gehört  zu  den  unklarsten  und  verworren- 
sten, was  Kant  je  geschrieben.  Irrig  ist  auch  die  Behauptung 
Günther"s,3)  Kant's  Theorie  der  Winde  habe  nachhaltig  gewirkt. 
Im  Gegenteil,  wie  dies  auch  Rahts  betont:  sie  blieb,  bei  einer 
kurzen  Einladungsschrift  zu  den  semestralen  Vorlesungen  begreif- 
lich genug,  sehr  unbekannt  und  ist  zu  Kant's  Lebzeiten  ein  Neu- 
druck von  ihr  nicht  erschienen.^)  Die  kleinen  Bruchstücke,  die 
sich  auf  lose  Blätter  geschrieben  in  Kant's  Nachlass  vorfanden,^) 
„ein  Gesetz  der  Passatwiude  aus  der  Umdrehung  der  Erde";  „das 
Gesetz  der  Moussons  aus  ebenderselben  [Irsache";  „einige  zer- 
streute Bemerkungen  über  die  Winde",  deren  erstes  Günther ß) 
einen  „geistvollen  Essay"  Kant's  nennt,  sind  das  gerade  Gegenteil 
dieser  Bezeichnung,  KoUektaneen  oder  unfertige,  ungeschickte 
Paraphrasen  der  in  der  Einladungsschrift  gegebenen  Hauptpunkte, 
ohne  diese  irgend  weiter  zu  führen.  Die  in  dem  letzten  Bruch- 
stück gegebenen  Notizen  über  den  Eiufluss  des  Mondes  sind  un- 
klar und  widersprechen  den  Ansichten,  die  Kant  1794  in  einer 
gleich  zu  besprechenden  Abhandlung  aussprach. 

Jene    fünf  „Anmerkungen"    sind    mit  Ausnahme   der  zweiten 
inhaltlich    alle    in    George    Hadley's    Abhandlung    Concerning    the 


1)  1,  180. 

2)  Akad.-Ausg.  1,  582. 

3)  Handb.  der  Geophysik  2,  2,  179. 
i)  Akad.-Ausg.  1,  582. 

S)  Abgedruckt  bei  Hartenstein  8,  446 — 452. 
ö)  Handb.  der  Geophysik  2,  2,  199. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       491 

Cause  of  the  General  Tradewiuds')  enthalten;  nur  dass  Hadley 
viel  kürzer  und  präciser  ist,  als  Kant.  Zunächst  ist  der  Gang, 
die  Reihenfolge  der  Darstellung  beider  Schriftsteller  übereinstim- 
mend, ebenso  aber  auch  die  einzelnen  Punkte:  so  die  Widerlegung 
der  älteren  Ansicht,  dass  allein  die  Wärme  der  Sonne  die  Passate 
verursache;  so  ferner  der  negative  Beweis  gegen  diese  Annahme; 
die  Berechnung  der  Beschleunigung  der  Passate,  die  bei  reibungs- 
loser Bewegung  sehr  gross  sein  müsse;  die  Begründung  der  that- 
sächlichen  Veriangsamung  der  Winde  durch  die  Uebei-tragung  der 
ostwärts  gerichteten  Erdbewegung  auf  sie,  also  durch  die  Reibung 
der  äquatorwärts  vordringenden  Luft  an  der  Erdoberfläche  (bei 
Kant  recht  unbeholfen,  bei  Hadley  kurz  und  klar),  die  Erwähnung 
und  Erklärung  der  von  den  Wendekreisen  polwärts  wehenden 
Westwinde.  Die  Besprechung  der  Monsune  bildet  bei  beiden  den 
Schluss ;  Hadley  thut  sie  kurz  ab  mit  Hinweisung  auf  das  Gesagte, 
Kant  bespricht  sie  ausführlich. 

Also  Uebereinstimmung  im  Gang  der  Darstellung  sowohl  wie 
in  den  Einzelheiten.  Und  doch  beginnt  Kant  seine  Erläuterung  der 
dritten  Anmerkung,  dass  polwärts  wehende  Winde  eine  westliche, 
die  zum  Aequator  hinziehenden  eine  östliche  „OoUateralbewegung"^) 
erhalten,  mit  den  Worten:  „diese  Regel,  welche,  soviel  mir 
wissend  ist,  noch  niemals  angemerkt^)  worden,  kann  als 
ein  Schlüssel  zur  allgemeinen  Theorie  der  Winde  angesehen 
werden".  Und  ebenso  in  der  Erläuterung  der  vierten  Anmerkung : 
„diejenige  Meinung,  welche  den  allgemeinen  Ostwind  dem  Nach- 
bleiben des  Luftkreises3)  bei  der  Drehung  der  Erde  von 
Abend  gegen  Morgen  beimisst,  ist  mit  gutem  Grund  von  den 
Naturkundigen  verworfen  ...  Ich  habe  diesen  Gedanken  aber  auf 
eine  vorteilhaftere  und  richtigere  Art  angebracht,  indem  ich  be- 
weise, dass  er  gilt,  wenn  „die  Luft  aus  den  entlegenen  Parallel- 
zirkeln zu  dem  Aequator  tritt". 


1)  Philos.  Transactions  Bd.  38,  1735,  April.  Philos.  Trans,  abridged 
Bd.  VIII,  1747,  S.  500-502.  Die  kurze  Abhandlung  Hadley's  ist  unver- 
kürzt wiedergegeben.  —  G.  Hadley,  Concerning  the  Cause  etc.,  Facsimile- 
druck  mit  einer  Einleitung.  Neudruck  von  Schriften  und  Karten  über 
Meteorol.  und  Erdmagnetismus,  herausgegeben  von  Dr.  G.  Hellmann, 
No.  6,  Berlin  1896. 

2)  Der  Ausdruck  stammt  wohl  aus  Musschenbroek. 

3)  Sperrung  nicht  im  Original. 


492  G.  Gerland, 

So    nimmt    denn  Zöllner    an,^)    Kant    habe  ganz  unabhängig 
von  Hadley  die  vollkommen  richtige  „Tiieorie  der  Passate  und  des 
Winddrehungsgesetzes"    gegeben    und    ohne    Zweifel    sei    ihm  die 
Originalabhandlung  Hadley's   unbekannt  geblieben.     Wie  mir  Herr 
Bibliotheksdirektor  Hoysen  zu  Königsberg  sehr  gefällig  mitteilte  — 
wofür  ich  hier  den  lebhaftesten  Dank  sage  —  wurden  die  Philos. 
Transactions  erst  1787  für  die  Königsberger  Bibliothek  augekauft; 
Kant  wird  sie  also  vorher  kaum  benutzt  haben.     Die  wunderliche 
Ansicht  Lister's,    dass   die  Passatwinde   durch  die  Aushauchungeu 
der  Sargassotange    entstünden,    welche  Kant  in  den  „Fortgesetzte 
Betrachtungen^)    über  Erderschütterungen"    erwähnt,    brauchte   er 
nicht  im  Original  (im  Band  XII  der  Philos.  Transact.)  gelesen  zu 
haben;  er  fand  das  Citat  z.  B.  auch  in  Büffou  bist,  natur.  1,465  f. 
Hadley    blieb    überhaupt    sehr  unbekannt  bis  zum  Jahr  1793,    wo 
John    Dalton    auf    ihn    hinwies.»)     Mir   ist    aus    den  Werken,    die 
Kant    benutzte,    nur    eine  Stelle   bekannt,    in  der  die  Abhandlung 
Hadley's,    mit  Angabe    des  Orts,    wo    sie    zu    finden,    citiert  ist: 
Lulofs    Einleitung    zur  Kenntnis    der  Eidkugel  §  613,  aber  auch 
nur    citiert    wird  Hadley  dort,    neben  Halley,  Dampier,  Musschen- 
broek,    nicht   weiter  besprochen.     Inhaltlich  konnte  also  Kant  aus 
Lulof    nichts    entnehmen.     Wenn    nun  Rahts    sagt:*)    „dass   Kant 
von  dieser  Schrift  Hadley's  keine  Kenntnis  gehabt  hat,    folgt    mit 
Gewissheit   aus   einigen  nachgelassenen  Blättern  von  Kant  (Suppl. 
IV    zu  Kant's  Vorlesungen    über  Physische  Geographie,   herausge- 
geben von  Th.  Riuk),  in  welchen  Kant  alle  frühereu  Erklärungen 
der  Passatwinde    angibt,    ohne    die    mit    der  seinigen  übereinstim- 
mende Hadley'sche  zu  erwähnen":   so   können    nur  die  Fragmente 
gemeint  sein,  die  F.  W.  Schubert  „als  Supplemente  zur  physischen 
Geographie  aus   dem  handschriftlichen  Nachlass  Kant's"  veröffent- 
licht hat  und  zwar  als  Suppl.  IV,  V  und  VI  die  schon  genannten 
Mitteilungen    „von    den  Winden".     Allein    erstlich    gehören    diese 
Bruchstücke  keineswegs    zu    der    von  Riuk    herausgegebenen  phy- 
sischen Geographie,  was  Schubert  auch  nicht  sagt:   nach  ihm  sind 
diese    um  1780    geschriebenen  Blätter    erst   nach  Kant's  Tod  zum 
Vorschein    gekommen  (Eos.  u.  Schub.  VI,  579)    und    ferner,    Kant 
gibt  in  diesen  Fragmenten   durchaus    nicht  alle,  sondern  nur  zwei 

1)  Über  die  Natur  der  Kometen.    1872.    S.  476. 

2)  Hart.  1,  450. 

3)  Hellmann,  Neudrucke  etc.     No.  6,  5. 

4)  Akad.-Ausg.  1,  583.    Anm.  zu  S.  498. 


Immanuel  Kant,  seine  goograpli.  und  anthropolog:.  Arbeiten.       493 

der  früheren  Erklärungen  der  Passate,  und  zwar  recht  oberfläch- 
lich und  ohne  Nennung-  ihrer  Urheber;  die  einzige,  die  er  auch 
hier  ausführlich  behandelt,  ist  die  des  Hadley.  Der  Beweis  für 
seine  Unbekanntschaft  mit  Hadle}^  geht  nur  aus  Kant's  eigenen 
Worten  hervor. 

Was  besonders  in  der  Erläuterung  der  Theorie  der  Winde 
auffällt,  ist  die  sachliche  Unsicherheit  Kant's,  die  sich  bis  zu 
völligen  Widersprüchen  steigert.  So  steht  gleich  die  zweite 
jener  fünf  Anmerkungen  mit  der  ersten  in  schroffem  Gegen- 
satz, wie  sie  ja  auch  an  sich  unrichtig  ist.  Kant  stellt  sie 
auf,  um  die  Land-  und  Seewinde  zu  erklären.  „Des  Nachts," 
sagt  er,')  „verliert  die  Seeluft  schneller  ihre  Wärme  als  die  Land- 
luft", „sie  weicht  daher  der  Ausspannungskraft"  der  letzteren 
„und  verstattet  einen  Luftzug  von  dem  Lande  in  die  abgekühlte 
Meeresgegend".  Und  so  wird  sie  von  ihm  auch  in  einem  Zu- 
sammenhang wiederholt,  der  gerade  das  Gegenteil  sagt.  Wir 
lesen  in  der  vierten  Anmerkung:"'')  „wenn  die  Luft  ...  zu  dem 
von  der  Sonnen  Wirkung  erhitzten  Platze  herbeizieht,  so  muss  es 
die  gegen  Abend  von  der  Soune  abstehende  ebenso  wohl  thun, 
als  die  gegen  Morgen  sich  befindet;  ich  sehe  also  nicht,  warum 
um  den  ganzen  Erdboden  nichts  als  Ostwind  sein  sollte.  Wenn 
sie  aber  nur  wegen  der  Verkühlung  einer  einige  Zeit  vorher  er- 
wärmten Luft  sich  in  ihren  Platz  bewegt,  so  muss  sie  sich  um 
deswillen  eher  von  Abend  gegen  Morgen  bewegen,  weil  die  Oerter, 
die  von  der  Sonne  gegen  Morgen  liegen,  sich  mehr  verkühlt  und 
also  weniger  Elastizität  haben,  als  welche  die  Sonne  längst  ver- 
lassen hat."  Dieselben  Widersprüche  zeigt  die  Vorinnerung:^) 
„die  Ursachen,  die  das  Gleichgewicht  aufheben  können,  sind  ent- 
weder die  Verminderung  der  ausspannenden  Kraft*)  durch 
Kälte  und  Dämpfe,  die  die  E'ederkraft  der  Luft  schwächen,  oder 
die  Verminderung  der  Schwere  .  .  .  durch  die  Hitze  ...  In 
beiden  Fällen  entsteht  ein  Wind  nach  der  Gegend  hin,  wo  die 
Luft  entweder  an  ihrer  Ausdehnungskraft  oder  Schwere  eingebüsst 
hat".  Und  Kant,  der  eben  behauptete,  dass  die  Hitze,  in  Folge  der 
Verminderung  der  Schwere  der  Luft  „eine  sehr  kräftige  Quelle 
anhaltender  Winde   abgebe",    sagt  ebendaselbst,    dass   wegen  Ver- 


1)  Hart.  1,  478.     Akad.-Ausg.  1,  494. 

2)  Hart.  1,  481.     Akad.-Ausg.  497. 

3)  Hart.  477.     Akad.-Ausg.  491. 
*)  Sperrung  von  Kant. 


494  G.  Gerland, 

mehrung-  der  Luftelastizität,  „wie  z.  E.  durch  die  Wärme",  welche 
„die  sich  ausbreitende  Luftg-eg-end  nach  oben  ebenso  stark  als 
nach  den  Seiten  ausdehnt  und  daher  ihre  eigene  Gewalt  schwächt" 
unmöglich  ein  weithin  wehender  Wind  entstehen  könne. 

In  dieser  zweiten  Anmerkung-  und  ihren  Parallelstellen  folgt 
Kant  einer  alten  Auffassung,  die  er  wohl  aus  Lulof  herübernahm, 
ohne  zu  beachten,  wie  gross  ihr  Gegensatz  zu  seinen  sonstigen 
Ansichten  sei.  Lulof  sagt  §  458:  ,.Wenn  ein  Theil  der  Dunstkug-el 
mehr  erwärmt  wird,  als  der  andere,  muss  sich  der  wärmere  An- 
fang-s  nach  der  Gegend  ausbreiten,  wo  er  den  geringsten  Wider- 
stand findet  .  .  .  Daher  strömt  die  Luft  nach  der  kälteren  Seite 
hin.  Sobald  aber  diese  durch  die  Wärme  verdünnte  und  leichter 
gemachte  Luft  ein  wenig  abgekühlt  ist,  so  setzet  sie  den  an- 
liegenden nicht  verdünnten  weniger  Wiederstand  entgegen  und 
dadurch  wird  wiederum  eine  Bewegung  verursachet".  Also  genau 
stimmend  zu  Kaut's  zweiter  Anmerkung! 

Und  Kant,  der  die  Ansicht  als  durchaus  falsch  abweist,^)  dass 
der  allgemeine  Ostwind  zwischen  den  Wendezirkeln  „dem  Nachzuge 
der  Luft  hinter  diejenige,  die  durch  die  Sonne  von  Morgen  bis  Abend 
hin  verdünnet  worden,  zuzuschreiben"  sei:  Kant  fällt  doch  selbst  wieder 
in  diesen  Fehler  zurück  in  der  physischen  Geographie,  die  nach  seinen 
Vorträgen,  unter  seiner  Aufsicht,  Rink  herausgab.  Denn  da  lesen 
wir  in  §  67  von  den  Passatwiuden :  2)  „der  Ostwind  entsteht  von 
der  nach  und  nach  von  Morgen  gen  Abend  durch  die  Sonne  rund 
um  die  Erde  geschehene  Erwärmung;  denn  die  Luft  strömt  immer 
in  die  Gegend,  die  von  der  Sonne  am  meisten  erwärmt  wird; 
folglich  muss  sie  dem  scheinbaren  Lauf  der  Sonne  immer 
nachziehen".  Und  gleich  darauf,  in  §  70,  kehrt  er  zu  der  von 
Hadley  und  von  ihm  selbst  ausgesprochenen  richtigen  Ansicht 
zurück. 

Noch  auffallender  ist  manches  in  den  von  Günther  und  Rahts 
erwähnten  Supplementen.  Von  den  Ungenauigkeiten  des  Suppl.  IV 
sehe  ich  ab.  Suppl.  V^)  erkUirt  die  Monsune  aus  dem  jahreszeit- 
lichen Wechsel  des  Sonnenstandes.  Da  heisst  es  wörtlich:  „Weil 
in  der  Sommerhälfte  des  Jahres  die  nördliche  Halbkugel  stärker  er- 
hitzt seyn  muss,  als  die  südliche,  so  muss  die  letztere  als  kühler  und 


1)  Hart.  1,  481.     Akad.-Ausg.  1,  497. 

2)  Rink,  Phys.  Erdbeschreibung.     1902.    I,  S.  275.     Hart.  8,  S.  291. 

3)  Hart.  8,  449. 


Immanuel  Kant,  seine  geograpb.  und  anthropolog.  Arbeiten.       495 

schwerer  über  den  Aequator  hin  nach  Norden  streichen  ...  Es 
wird  also  einen  grossen  Theil  dieser  Jahreshälfte  hindurch  in  dem 
heissen  Erdstrich  unserer  Halbkugel  Südwind  wehen.  Dieser 
nimmt  aber  im  Fortgänge  notwendiger  Weise  eine  Nebenrichtung 
aus  Westen^)  an:  also  werden  die  Süd  Westwinde  die  herr- 
schenden in  der  gedachten  Jahreszeit  seyn.  Kehrt  die  Sonne  im 
Anfang  des  Herbstes  zu  den  südlichen  Zeichen  zurück,  so  ent- 
wickelt sich  von  den  nördlichen  Tropikalgegenden  eine  nordöstliche 
Bewegung,  „Es  werden  also  die  Gegenden  um  den  Wende- 
cirkel  des  Krebses  zwei  Wechsel  winden  unterworfen  sein",  in 
den  Sommermonaten  Südwest,  in  denen  des  Winters  Nordost. 
Umgekehrt  ist  es  auf  der  Südhalbkugel.  „Diese  Wechselwinde 
finden  nur  statt,  wenn  der  Ocean  um  die  Wendecirkel  benach- 
bartes ausgebreitetes  Land  hat.  Denn  ist  das  Weltmeer  daselbst 
ganz  frei,  so  herrscht  der  beständige  Ostwind  mit  seiner  Neben- 
richtung daselbst  das  ganze  Jahr."  Als  das  grosse  Land  am 
Wendekreis  des  Krebses  nennt  Kant  Indosten,  für  den  des  Stein- 
bocks das  unbekannte  Australland,  „von  dem  Neu-Guinea  ein 
Theil  ist".  In  dem  Fragment  „Einige  zerstreute  Bemerkungen 
über  die  Winde"  (Suppl.  VI,  aus  gleicher  Zeit  wie  die  vorher- 
gehenden) gibt  Kant  zunächst  zwei  Ursachen  für  die  Bewegung 
der  Winde  an,  „die  Wirkung  der  Wärme  und  Kälte  auf  die  Ver- 
änderung des  Luftkreises,  und  dann  die  Kraft  des  Mondes",  welche 
auch  im  Luftmeer  innerhalb  eines  Monats  zwei  Flutbewegungeu 
hervorruft.  „Aber  auch  in  Ansehung  dieses  Principiums  der  Luft- 
bewegung kann  ich  nichts  Anderes  als  diejenige  von  Norden  nach 
Süden  und  von  Süden  nach  Norden  herausbringen,"  sagt  Kant. 
„Stellt  Euch  nur  vor,  dass  drei  Tage  etwa  nach  dem  neuen  Lichte 
die  Luftfluth  aus  Norden  am  stärksten  sey,  so  wird  ein  Nordwind 
wehen,  der  bald  ...  in  einen  Ostwind  ausschlagen  muss.  Weil 
aber  alsbald  darauf  die  Atmosphäre  wieder  anhebt  zu  ebben,  so 
muss  die  aus  Süden  zurückkehrende  Luft"  .  .  .  hier  bricht  die 
Handschrift  ab,')  Im  Anfang  des  Fragmentes  meint  Kant  in  An- 
schluss  an  eine  für  das  Jahr  1746  gestellte  Preisfrage  der  Ber- 
liner Akademie,  dass  man  bei  einer  ganz  mit  Tiefmeer  bedeckten 
Erde    mit  Grund  hoffen    könnte,    „den  Windwechsel  3)    auf  Regeln 


^)  Sperrung  nicht  im  Original. 

2)  Werke  von  Ros.  u.  Schub    6,  805.     Hart.  8,  450  f. 

3)  R.  u.  S.  803. 


496  G.  Gerland, 

zu  brino-en  und  einer  sicheren  Theorie  zu  unterwerfen.  Nun  aber 
macht  sowohl  die  abstehende  Mannigfaltig-keit  von  See  und  Land, 
als  auch  der  unbekannte  Einfluss,  den  die  Ausdünstung-en  auf  den 
Luftkreis  haben  mög-en,  einen  besonderen  Grund  der  Windver- 
äuderung-eu,  davon  man,  welches  am  beschwerlichsten  ist,  gar  kein 
Gesetz  kennt.  Denn  wer  weiss,  worin  sich  eig-entlich  Landluft 
und  Seeluft  unterscheiden  und  in  welchem  P^inve.rständnis  die 
Atmosphäre  mit  den  Tiefen  und  ungesehenen  Grüften  der  Ei'de 
stehen  möge,  da  sich  bisweilen  bei  den  Erdbeben  sehr  deutliche 
Beweisthümer  davon  blicken  lassen!"  Auch  hier  kommt  Kant  auf 
die  alte,  sclion  vor-aristotelische  Anschauung  zurück,  die  auf  seine 
Theorie  der  Sonne  sowie  der  Erdbildung  und  ebenso  auf  seine 
Erklärungen  des  Lissaboner  Bebens  einen  so  grossen  Einfluss 
hatte. 

Auch  in  dem  Jahre,  welches  auf  die  Veröffentlichung  der 
Theorie  der  Winde  folgte,  1757  gab  Kant  eine  Abhandlung  über 
die  Winde  als  Einladung  zu  seinen  Vorlesungen  unter  dem  Titel: 
„Entwurf  und  Ankündigung  eines  CoJlegii  der  physischen  Geogra- 
phie, nebst  dem  x\nhauge  einer  kurzen  Betrachtung  übei-  die 
Frage :  ob  die  Westwinde  in  unseren  Gegenden  darum  feucht 
sind,  weil  sie  über  ein  grosses  Meer  streichen?^)  Nicht  desvyegen, 
lautet  die  Antwort;-)  denn  es  gibt  viele  Winde,  die  über  grosse 
Meere  wehen  und  trocken  sind,  wie  z.  B.  die  Nordwinde,  die 
über  die  Nordsee,  die  Ostmonsune,  die  über  „das  fast  grenzenlose 
stille  Meer"  wehen,  über  den  indischen  Ocean  wehen.  Die  West- 
winde dagegen  sind  meist  feucht,  z.  B.  die  Westmonsuue.  Sollte 
dies  nicht  daher  kommen,  dass  sie  „dem»)  allgemeinen  und 
natürlichen  Zug  der  Luft  von  Morgen  gegen  Abend"*)  .  .  . 
entgegenstreichen,  eben  um  deswillen  die  Dünste  zusammentreiben 
und  verdicken,  womit  die  Luft  jederzeit  erfüllt  ist?"  So  sind 
denn  die  Westwinde  für  Kant  die  Ursache  des  Niederschlags,  in- 
dem sie  die  Luft  nötigen,  die  Dünste  aus  ihren  Zwischenräumen 
fahren  zu  lassen,  die  sich  dann  zu  Regen  vereinigen.  Dies  Alles 
bedarf  keiner  Widerlegung,  war  aber  auch  1757  keineswegs  auf 
der  Höhe  der  Wissenschaft. 


1)  Hart.  2,  1—11. 

2)  Eb.  S.  9  f. 

3)  S.  11. 

*)  Sperrung  nicht  im  Original. 


Iramamiel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       497 

Auch  jene  spätere,  vorhin  schon  erwähnte  AbhandUmg- 
„Etwas  über  den  Einfluss  des  Mondes  auf  die  Witterung" 
aus  dem  Jahre  1794 1)  niuss  hier  kurz  besprochen  werden. 
Lichtenberg-  hatte  gesagt:  der  Mond  sollte  zwar  nicht  auf  die 
Witterung  Einfluss  haben,  er  hat  ihn  aber  doch.  Kant  bespricht 
nun  zuerst  „den  Satz",  er  sollte  ihn  nicht  haben;  denn  die  Mond- 
auziehung  ist  viel  zu  gering,  um  die  Schwere,  d.  h.  den  Druck 
der  Luft  zu  ändern.  Dann  den  Gegensatz :  er  hat  aber  doch 
Einfluss  auf  Wind  und  Wetter,  wofür  Kant  allerhand  (nicht  stich- 
haltige) Beobachtungen  2)  beibringt.  So  ist  also  Theorie  und  Er- 
fahrung im  Widerstreit  und  der  Ausgleich  lautet :  der  Mond  Ixat 
indirekten  Einfluss  auf  die  Luft,  wenn  man  eine  weit  über  der 
Höhe  der  wägbaren  Luft  „die  Atmosphäre  bedeckende,  impon- 
derable^)  Materie  (oder  Materien)  annimmt",  die  in  Folge  der 
Mondanziehung  „die  Elasticität  der  Luft  und  so  mittelbar  ihr 
Gewicht  zu  verändern  vermag";  sie  ist  vielleicht  incoercibel, 
d.  h.  eine  solche,  dass  sie  „von  anderen  Materien  nicht  anders, 
als  dadurch,  dass  sie  mit  ihnen  in  chemischer  Verwandtschaft 
steht  (dergleichen  mit  der  magnetischen*)  und  dem  alleinigen*)  Eisen 
stattfindet),  gesperrt  werden  kann,  durch  alle  übrigen  aber  frei 
hindurch  wirkt;  wenn  man  die  Gemeinschaft  der  Luft  der 
höheren  (jo vialisch en),  über  die  Region  der  Blitze  hinaus- 
gehenden Regionen  mit  der  unterirdischen  (vulkanischen),  tief 
unter  den  Gebirgen  befindlichen,  die  sich  in  manchen  Meteoren 
nicht  undeutlich  ^)  offenbart,  in  Erwägung  zieht.  Vielleicht  gehört 
auch  dahin  die  Luftbeschaffenheit,  welche  einige  Krankheiten,  in  ge- 
wissen Ländern,  epidemisch  macht"  etc.  Kant  sagt  am  Schluss 
der  Abhandlung  selbst,  dass  diese  Annahme  wohl  wenig  mehr  als 
ein  Geständnis  der  Unwissenheit  sei.  Und  wenn  so  die  kleine 
Arbeit  wenig  mehr  als  ein  dialektisches  Spiel  ist,  so  hat  sie  doch 


»)  Hart.  6,  347—356. 

-)  1)  Bestrebungen  der  Atmosphäre  znr  Zeit  des  Neulichts,  die 
Richtung  des  Windes  zu  verändern;  2)  Verstärkte  Bestrebungen  der  Art 
vierteljährig,  zur  Zeit  der  Solstitien  und  Aequinoktion  und  des  auf 
sie  zunächst  folgenden  Neulichts. 

Die  Besprechung  des  Zusammenhangs  mancher  Wettervorhersagungen 
des  Kalenders  mit  derartigen  Beobachtungen  ist  in  ihrer  leicht  humo- 
ristischen Haltung  anmutig  und  von  Interesse. 

3)  Sperrungen  von  Kant. 

*)  sie. 

5)  Vgl.  Suppl.  VI. 

Kantstudlen  X.  33 


49B  G.  Gerland, 

dadurch  eine  gewisse  Bedeutung,  dass  sie  andere,  entschieden 
richtigere  Ansichten  über  den  meteorologischen  Einfluss  des 
Mondes  zeigt,  als  sie  Kant  in  Suppl.  VI  aussprach. 

Nach  alle  diesem  wird  man  ZöUner's  Ausspruch,  Kant  habe 
grosse  Verdienste  um  die  Meteorologie,  *)  nicht  beistimmen  können. 
Denn  seine  Anmerkungen  zur  Erläuterung  der  Theorie  der  Winde 
sind  vielfach  unklar,  unsicher,  ja  z.  T.  in  kritikloser  Abhängig- 
keit-) von  seinen  Vorgängern.  Die  Supplemente  namenthch 
machen  den  Eindruck  von  Kollektaueen,  die  nicht  fertig  bearbeitet 
und  durchdacht  sind;  und  doch  spricht  gegen  eine  solche  Auffas- 
sung die  Zeit  der  Abfassung,  die  Schubert  wohl  richtig  bestimmt, 
auch  die  ganze  Art  der  Behandlung.  Aber  „der  dritte  Satz"  in 
Suppl.  IV  bringt,  so  wie  er  da  steht,  genau  die  Ansicht  d'Alem- 
bert's^)  vor,  welche  nur  dadurch  geändert  wird,  dass  Kant  sich 
kurz  auf  seine  beiden  ersten  Sätze  (Ablenkung  durch  Umdrehung 
der  Erde)  bezieht;  die  Höhleutheorie  des  Suppl.  VI  trägt  Mariotte 
(allerdings  ablehnend)  vor,*)  ebenso  die  Ansicht,^)  welche  Kant 
über  die  Feuchtigkeit  der  Westwinde  äusserte  u.  s.  w.  Kant 
steht  unter  der  Herrschaft  seiner  Vorgänger,  ohne  wissenschaft- 
liche Freiheit  und  Selbständigkeit,  er  fällt  trotz  der  neuen  Auf- 
fassung immer  wieder  in  ihre  Auffassungen  zurück.  Und  so  macht 
auch  die  Theorie  der  Winde,  in  welcher  Kant  mit  Hadley  überein- 
stimmt, den  Eindruck  einer  Lesefrucht;  Kaut  beherrscht  die  neue 
Idee  nicht  und  sie  beherrscht  ihn  nicht.  Auch  in  seinem  späteren 
Leben  nicht,  wie  die  „physische  Geographie"  beweist.  Und  doch 
ist  kein  Zweifel,  nach  Kant's  eigenen  Worten,  dass  er  sie  selb- 
ständig gefunden  hat;  aber  beiläufig,  zufällig,  scheint  es.  Wenn 
man  in  dem  „dritten  Satz"  des  Suppl.  IV  die  Ansicht  d'Alembert's 
vorgetragen  hört,  wenn  man  die  älteren  Arbeiten,  die  Kant  be- 
nutzte, beachtet,  so  wird  man  dem  Worte  Hellmann's  Recht  geben 
müssen,  welches  derselbe  in  einen  Brief  an  mich  äusserte:  dass 
der  Schritt  Kant's  von  diesen  früheren  Ansichten  zu  der  neuen 
Theorie  kein    allzugrosser  war.     Und    doch  —  gerade    durch    dies 


1)  Natur  der  Kometen  476. 

2)  Man  vergleiche  Kant's  Anmerkung  2  zur  Erläuterung  der  Theorie 
der  Winde  (die  auch  in  Rink's  Vorles.  wiederkehrt  §  64,  2). 

^j  Reflexions  sur  la  cause  gener.  des  vents  (Preisschrift)  Berlin  1747; 
französ.,  latein.,  deutsch;  deutsche  Bearbeitung  S.  187. 

4)  Tratte  du  mouvement  des  eaux  etc.    Paris  1686,  S,  35. 
<*)  Ebend.  S.  39  f. 


Itümanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.      499 

Schwanken,  durch  diese  Unsicherheit  wird  diese  Arbeit  für  Kant 
charakteristisch,  für  den  Kantforscher  wichtig.  Sie  unterscheidet 
Kant  von  Hadley  auf  das  schärfste. 


Elfte  Vorlesung-. 

Die  „physische  Geographie". 

Gesammturteil  über  die  geographischen  Werke. 

Uebergang  zur  Anthropologie. 

Immanuel  Kant's  physische  Geographie.  Auf  Verlangen  des 
Verfassers,  aus  seiner  Handschrift  herausgegeben  und  zum  Theil 
bearbeitet  von  D.  Friedrich  Theodor  Eink,^)  erschien  1802  zu 
Königsberg,  in  zwei  Bänden.  Eink  sagt  in  seiner  Vorrede,  dass 
er  mehrere  („fast  dreifache")  zu  verschiedenen  Zeiten  von  Kant 
ausgearbeitete  Hefte,  welche  dieser  verloren  glaubte,  in  Kant's 
Papieren  aufgefunden  habe,  aus  denen  die  Ausgabe,  deren  Authen- 
ticität  Kant  am  29.  Mai  1801  selbst  anerkannte,-)  hervorgegangen 
sei.  Und  der  „kurze  Abriss  der  physischen  Geographie",  den  Kant 
in  der  Einladungsschrift  „Entwurf  und  Ankündigung  eines  Collegii 
der  physischen  Geographie"  1757  herausgab,  stimmt  (und  ebenso 
auch  eine  kurze  Darstellung  seiner  physischen  Geographie»)  aus 
1765)  in  allen  Einzeluheiten  genau  zu  Eink's  Ausgabe,  so  dass 
wir  ohne  Zweifel  hier  die  authentische  Arbeit  Kant's  vor  uns 
haben.  Allerdings  im  ersten  Band  mit  Anmerkungen  von  Eink,  in 
die  er  die  „kurz  hingeworfenen  neueren  Marginalien  des  Kantischen 
Manuskripts"  „so  viel  es  sich  thun  Hess,  verwebte".*)  Im  zweiten 
Band  fehlen  derartige  Zusätze;  er  ist  „kaum  mehr  als  eine  sehr 
unbefriedigende  Sammlung  zufällig  zusammengestellter  Notizen". s) 
Die  Ausgabe  einzelner  Niederschriften  von  Zuhörern  Kant's,  die 
in  Aussicht  steht,  wird  genauere  Auskunft  geben  und  besonders 
für  den  zweiten  Teil  von  Wichtigkeit  sein. 


1)  Nach    der   Orig.-Ausg.    und   Hartenstein    8,    145  f.:    Ich    gebe   die 
Citate  nur  nach  Hartenstein. 

2)  Hart.  8,  651  f.    Kant   hat   also    vielleicht    die    ersten  Druckbogen 
selbst  gesehen. 

3)  M.  Inamanuel  Kant's    Nachricht    von    der  Einrichtung  seiner  Vor- 
lesungen in  dem  Winterhalbjahre  von  1765—1766.     1765.    Ak.-A.  2,  312. 

*)  Rink  bei  Hart.  8,  148. 
»)  Hartenstein  8,  S.  IV. 

33* 


500  a.  Gerland, 

Die  Einleitung  (Hart.  8,  151  f.)  ist  ganz  von  Kant  und  ge- 
wiss nicht  erst  ISOO  geschrieben,  um  welche  Zeit  Kant  die  Her- 
ausgabe Rink  übertrug.  Sie  stimmt  mit  der  Vorrede  der  1798 
veröffentlichten  „Anthropologie  in  pragmatischer  Hinsicht"  in 
einigen  besonders  schwierigen  Punkten  genau  iiberein,  wie  wir 
gleich  sehen  werden.  Auch  Kuno  Fischer  i)  bespricht  sie  als  voll- 
gültige Arbeit  Kaut's.  „Wir  schöpfen  unsere  Erkenntnisse,"  be- 
ginnt §  2,''')  „entweder  aus  der  reinen  Vernunft  oder  aus  der 
Erfahrung,  die  weiterhin  selbst  die  Vernunft  instruiert."  „Die 
reinen  Vernunfterkenntnisse  gibt  uns  unsere  Vernunft.  Erfahruugs- 
erkenntnisse  aber  bekommen  wir  durch  die  Sinne.  Weil  nun 
unsere  Sinne  nicht  über  die  Welt  hinausreichen,  so  erstrecken 
sich  auch  unsere  Erfahruugserkenntnisse  bloss  auf  die  gegenwärtige 
Welt."  „Sowie  wir  indessen  einen  doppelten  Sinn  haben,  einen 
äusseren  und  einen  inneren,  so  können  wir  denn  auch  nach  beiden 
die  Welt  als  Inbegriff  aller  Erfahrungserkenntnisse  betrachten. 
Die  Welt  als  Gegenstand  des  äusseren  Sinnes,  ist  Natur, 
als  Gegenstand  des  inneren  Sinnes  aber,  Seele  oder  der 
Mensch."  „Die  Erfahrungen  der  Natur  und  des  Menschen 
machen  zusammen  die  Welt  erkennt  nisse  aus,"  „Die  Kenntnis 
der  Natur  verdanken  wir  der  phj'sischen  Geographie  oder 
Erdbeschreibung".  Sie  „ist  also  der  erste  Teil  der  Welt- 
kenntnis.'^) Sie  gehört  zu  einer  Idee,  die  man  die  Propädeutik 
in  der  Erkenntnis  der  Welt  nennen  kann."  „Der  andere 
Teil  der  Weltkenntnis*)  befasst  die  Kenntnis  des  Menschen", 
„die  Anthropologie,  welche  uns  mit  dem  bekannt  macht,  was 
in  dem  Menschen  pragmatisch  ist  und  nicht  spekulativ.  Der 
Mensch  wird  da  nicht  physiologisch,  sondern  kosmologisch",  d.  h. 
also  nach  seiner  Stellung  in  der  Welt  betrachtet.  Die  Fähigkeit, 
von  allen  diesen  Erkenntnissen  praktischen  Gebrauch  zu  machen, 
„ist  die  Kenntnis  der  Welt". 5) 

Den  Grundgedanken  dieser  Stelle  hat  Kant  auch  1786  in 
den  „metaphysischen  Anfangsgründen   der  Naturwissenschaft"  aus- 

1)  K.  Fischer,  Kant  I,  183. 

2)  Hart.  8,  151  f.     Sperrungen  des  Folgenden  im  Original. 

•■')  So  Rink  in  der  Ausgabe  S.  3  und  Schubert  in  Rosenkranz  und 
Schubert  6,  422.     Hartenstein  8,  152  gibt  Welterkenntnis. 

*)  So  auch  Hartenstein. 

5)  Inhaltlich  ebenso  lautet  der  Schluss  der  „Ankündigung  der  Vor- 
lesungen der  phys.  Geographie,  im  Sommerhalbjahre  1775",  den  Kant  später 
umänderte.    Hart.  2,  447. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       501 

g-esprochen.  Dort  sagt  er:i)  „Die  Natur,  iu  materieller  Bedeutung; 
des  Worts",  als  Erfahrungswissenschaft,  hat,  „nach  der  Hauptver- 
schiedeuheit  unserer  Sinne,  zwei  Haupttheile,  deren  der  eine  die 
Gegenstände  äusserer,  der  andere  den  Gegenstand  des  inneren 
Sinnes  enthält,  mithin  ist  von  ihr  eine  zweifache  Naturlehre,  die 
Körperlehre  und  Seelenlehre  möglich,  wovon  die  erste  die 
ausgedehnte,  die  zweite  die  denkende  Natur  in  Erwägung 
zieht".  Unter  dem  „inneren"  Sinn  haben  wir  also  die  Lehre  von 
der  denkenden  Natur,  d.  h.  die  „reine  Vernunft"  als  Quelle  unserer 
Erkenntnisse  zu  verstehen,  deren  Gegenstand  „Seele  oder  der 
Mensch"  ist,  die  uns  die  „reinen  Vernunfterkenntnisse"  gibt.  Den 
Menschen  lernen  wir  freihch  auch  durch  die  Anthropologie  kennen, 
aber  nur  pragmatisch  und  kosmologisch,  nicht  physiologisch,  d.  h. 
nicht  „nach  der  Quelle  der  Phänomene"  seines  Wesens,  sondern 
nur  in  seiner  Tätigkeit  und  Weltstellung,  also  historisch.  Von 
dem  Spekulativen  im  Menschen  sagt  uns  Kant  nichts,  und  eben- 
sowenig von  der  Welt  als  Gegenstand  des  inneren  Sinns,  der 
freien  Vernunft,  von  der  Welt  als  Seele  oder  dem  Menschen.  Die 
Welt  als  Seele  aufgefasst  ist  also  der  Mensch;  diese  Auffassung 
gehört  der  reinen  Vernunft  an,  dem  inneren  Sinn:  sie  ist  also 
auszuscheiden  aus  den  Welterkenntnissen,  welche  durch  die 
äusseren  Sinne,  durch  Wahrnehmungen  zu  Stande  kommen.  Beides 
ist  auch  völlig  gegensätzlich:  in  der  Weltauffassung  durch  die 
reine  Vernunft,  die  kritisch  gereinigte  Vernunft,  in  dieser  indivi- 
duell und  generell  viel  jüngeren  Weltauffassung  ist  der  Mensch, 
die  Seele,  das  tätige  Subjekt,  sie  formt  die  Welt  nach  ihrer  Auf- 
fassuugsmöglichkeit;  in  der  Weltauffassung  durch  die  Sinne  ist 
der  Mensch  abhängig  von  den  äusseren  Einwirkungen  auf  die 
Sinne,  durch  welche  das  natürliche,  nicht  rein-vernünftige  oder 
vernunftgereiuigte  Bild  der  Welt  zu  Stande  kommt.  Jetzt  ver- 
stehen wir  das  Zugehöreu  der  Beschreibung  der  Erde  und  der 
kosmologischen  Betrachtung  des  Menschen  zur  Propädei^itik  in 
der  Erkenntnis  der  Welt,  zu  einer  ersten,  untersten  Stufe  in  der- 
selben. Wahre  Erkenntnis  der  Welt  gehört  der  reinen  Vernunft, 
der  Seelenerkenntnis,  dem  Spekulativen  im  Menschen,  der  Philo- 
sophie an;  Geographie  und  Anthropologie  aber  geben  die  Wahr- 
nehmungen, aus  denen  die  Erfahrung  entsteht,  die  dann  ihrerseits 
„die  Vernunft   instruiert",    so    dass   sie  die  wahre  Erkenntnis  der 


1)  Hart,  4,  357. 


502  G.  Gerland, 

Welt  schaffen  kann.  Das  Wort  „Mensch"  ist  also  in  doppeltem 
Sinne  gebraucht;  einmal  in  dem  Ausdruck  „Seele  oder  Mensch" 
als  Subjekt  des  inneren  Sinns,  der  reinen  Vernunft,  der  „spekula- 
tiven" Betrachtung;  sodann,  in  der  weiteren  Darlegung,  als 
pragmatischer,  kosmologischer  Mensch,  als  Gegenstand  der  äusseren 
Sinne.  0 

So  glaube  ich  die  schwierige  Stelle  verstehen  zu  müssen, 
deren  richtiges  Verständnis  für  unsere  Betrachtung  von  der 
äussersten  Wichtigkeit  ist:  denn  die  ganze  im  Vorigen  dargelegte 
Auffassung  von  Kant's  geographisch-anthropologischen  Arbeiten, 
ihrem  Zusammenhang  und  ihrer  Stellung  zu  seinen  philoso- 
phischen Schriften  ist  dadurch  bewiesen.  Wir  kommen  darauf 
zurück. 

„Jede  fremde  Erfahrung,"  sagt  Kant  in  §  3,*)  „theilt  sich 
uns  mit  entweder  als  Erzählung  oder  als  Beschreibung;  die 
erstere  ist  eine  Geschichte,  die  andere  eine  Geographie.  Unsere 
Erfahrungs-Erkenutnisse  (§  4)  teilen  wir  ein  entweder  nach  Begriffen 
(logisch)  oder  nach  Raum  und  Zeit  (physisch).  Durch  die  erstere 
Einteilung  erhalten  wir  ein  Natursystem,  wie  z.  B.  das  des  Linne,^) 
durch  die  letztere  eine  geographische  Natm^beschreibung.  „Ge- 
schichte und  Geographie  erweitern  unsere  Erkenntnisse  in  An- 
sehung der  Zeit  und  des  Raumes.  Die  Geschichte  betrifft  die 
Begebenheiten,    die    in    Ansehung    der    Zeit    sich    nacheinander 


1)  Auch  die  Worte  „Kenntnis,  Erkenntnis"  machen  Schwierigkeit, 
finden  sich  aber  in  der  Vorrede  zur  physischen  Erdkunde  und  der  zur 
Anthropologie  ganz  gleich  gebraucht.  Die  Worte  Kenntnis,  Erkenntnisse 
(Plural)  beziehen  sich  immer  auf  die  Erwerbungen  durch  die  Sinneswahr- 
nehmungen, ebenso  auch  Erkenntnis  (Singular)  bezüglich  auf  Pluralitäten : 
Erkenntnis  der  Sachen,  Erkenntnis  des  Menschen  als  Weltbürger,  Welt- 
kenntnis (Hart.  7,  431,  Vorw.  zur  Anthrop.),  General-Lokalkenntnis.  Da- 
gegen bedeutet  „Erkenntnis  der  Welt"  die  Auffassung  durch  den  inneren 
Sinn,  durch  die  reine  Vernunft. 

2)  Hart.  8,  154  f. 

3)  Hier  irrt  Kant,  und  noch  mehr,  wenn  er  später  sagt:  „eigentlich 
haben  wir  noch  gar  kein  Systema  naturae.  In  den  vorhandenen  sogenannten 
Systemen  der  Art  sind  die  Dinge  bloss  zusammengestellt  und  aneinander- 
gereiht," so  dass  er  sie  „richtiger"  „Aggregate  der  Natur"  nennen  möchte. 
Linne's  Systema  naturae  steht  viel  höher  und  gehört  mindestens  in  die 
Naturbeschreibung;  es  zeigt  aber  auch  sehr  tüchtige  Ansätze  zu  höherem, 
zu  einer  Naturgeschichte  der  Tiere,  der  Pflanzen.  Er  stellt  keineswegs 
bloss  beiordnend  zusammen;  Kant  selber  tut  dies  freilich  im  zweiten  Teil 
der  phys.  Erdkunde. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       503 

zugetragen  haben,  die  Geographie  Erscheinungen,  die  sich  in  An- 
sehung  des  Raumes,  zu  gleicher  Zeit  ereignen".  „Die  Ge- 
schichte desjenigen,  was  zu  verschiedenen  Zeiten  geschieht,  und 
weiches  die  eigentliche  Historie  ist,  ist  nichts  Anderes,  als  eine 
continuirliche  Geographie;  daher  es  eine  der  grössten  historischeu 
Unvollkommenheiten  ist,  wenn  man  nicht  weiss,  an  welchem  Orte 
etwas  geschehen  sei,  oder  welche  Beschaffenheit  es  damit  ge- 
habt habe." ') 

Die  letzte  Stelle  ist  recht  unklar.  Kuuo  Fischer  sucht  sie 
zu  heilen,  indem  er  sie  specialisiert:''^)  die  Geschichte  der  Erde  ist 
„nichts  als  eine  continuirliche  Geographie".  So  richtig  der  Ge- 
danke ist,  den  diese  Abkürzung  ausspricht,  so  liegt  er  keineswegs 
in  den  Worten  Kant's  und  alles  was  vorausgeht  und  was 
nachfolgt,  widerspricht.  Vielmehr  wollte  Kant  wohl  auf  die 
räumliche  Gebundenheit  alles  Geschehens  hindeuten.  Beide  Auf- 
fassungen, will  er  sagen,  fallen  zusammen:  jede  Begebenheit 
ist  zugleich  Erscheinung,  jede  Erscheinung  zugleich  Begebenheit. 
Geschichte  und  Geographie  unterscheiden  sich  also  nur  durch 
die  Form  der  Auffassung  —  nach  Zeit  und  Raum.  Sehr  mit 
Recht  aber  macht  Fischer 3)  auf  den  Unterschied  aufmerksam, 
den  Kant  zwischen  Naturbeschreibung  und  Naturgeschichte  macht. 
Wir  können,  sagt  Kant,  „eine  Naturbeschreibung,  aber 
keine  Naturgeschichte  haben".*)  Denn  „die  Geschichte  der 
Natur  enthält  die  Mannigfaltigkeit  der  Geographie,  wie  es  näm- 
lich in  verschiedenen  Zeiten  damit  gewesen,  nicht  aber,  wie  es 
jetzt  zu  gleicher  Zeit  ist;  das  wäre  Naturbeschreibung.  Trägt 
man  dagegen  die  Begebenheiten  der  gesammten  Natur  so  vor,  wie 
sie  durch  alle  Zeiten  beschaffen  gewesen,  so  liefert  man,  und  nur 
erst  dann,  eine  richtig  sogenannte  Naturgeschichte.  Erwägt  mau 
z.  B.  wie  die  verschiedeneu  Raceu  der  Hunde  aus  einem  Stamm 
entsprungen  sind  und  wie  sie  durch  Verschiedenheit  des  Landes, 
Klimas,  der  Fortpflanzung  u.  s.  w.  sich  „durch  alle  Zeiten"  ver- 
ändert haben:  so  wäre  dies  eine  Naturgeschichte  der  Hunde  und 
eine    solche    könnte    man    über   jeden    einzelnen  Teil    der   Natur 


1)  Hart.  S.  156. 

2)  K.  Fischer,  Kant  1,  183. 

3)  Ebendas. 

4)  Dasselbe  sagte  Kant  schon  1775;  Hart.  2,  441,  451. 


504  G.  Gerland, 

liefern. "  i)  So  muss  auch  ein  wahres  „System  der  Natur",  „die 
Idee  des  Ganzen  voraussetzen,  aus  der  die  Mannigfaltigkeit  der 
Dinge  abgeleitet  wird".»)  „Diese  wenigen  Andeutungen,"  sagt 
Fischer,  3)  „zeigen  uns,  wie  deutlich  er  die  Bedingungen  einsah, 
welche  in  der  organischen  Natur  zur  Entstehung  der  Arten  not- 
wendig sind  und  die  man  heute  nach  Darwin  als  Anjjassung, 
Zuchtwahl  und  Vererbung  spricht."  Und  so  schliesst  Kant  diese 
Betrachtungen  mit  dem  wichtigen  Wort*):  „wahre  Philosophie 
aber  ist  es,  die  Verschiedenheit  und  Mannigfaltigkeit  einer  Sache 
durch  alle  Zeiten  zu  verfolgen."  Zahm  gemachte  Wildpferde  der 
Steppe,  fährt  er  fort,  wären  sehr  dauerhafte  Pferde.  „Man  merkt 
an,  dass  Esel  und  Pferde  aus  einem  Stamm  herrühren  und  dass 
jenes  wilde  Pferd  das  Stammpferd  ist,  denn  es  hat  lange  Ohren. "S) 
Aehnlich  stehen  Schaf  und  Ziege  zu  einander  u.  s.  w.  Der  Ein- 
fluss  Büffon's  ist  bei  allen  diesen  Aussprüchen  Kant's  sehr  zu 
betonen. 

Da  nun  die  phj^sische  Geographie  (§  5)  ein  allge- 
meiner Abriss  der  Natur,  der  Grund  der  Geschichte  und  „aller 
übrigen  möglichen  Geographien"  ist  —  wie  sehr  richtig  und  für  alle 
Geographen  beherzigenswert  ist  dies  Wort  des  grossen  Philosophen! 
—  so  rechnet  Kant  zu  ihr  1)  die  mathematische,  2)  die  moralische 
Geographie  (verschiedene  Sitten  und  Charaktere  der  Menschen  nach 
den  verschiedenen  Gegenden),  3)  die  politische,  4)  die  merkantilische, 
5)  die  theologische  Geographie  (Veränderungen  der  „theologischen 
Principien  nach  der  Verschiedenheit  des  Bodens").  Ganz  ähnlich, 
nur  nicht  mit  so  scharfer  Abgrenzung,  hatte  sich  Kant  auch  schon 
1765  in  der  „Nachricht  über  die  Einrichtung  seiner  Vorlesungen" 
ausgesprochen.^)  Die  Unterordnung  aller  dieser  Betrachtung  unter 
die  physische  Geographie  spiicht  wieder  für  die  obige  Deutung 
des  Satzes:  Die  Geschichte  desjenigen,  was  zu  verschiedenen 
Zeiten    geschieht   ...    ist    nichts    Anderes,    als    eine    continuir- 


1)  Wie  sie  Büffon  gegeben  hat  Hist.  nat.  1755,  Bd.  5,  p.  201—228 
mit  Stammbaum.  Kant  benutzte  diese  Darstellung  auch  im  2.  Teil  der 
phys.  Geogr.,  wo  er  über  „das  Hundegeschlecht"  handelt.  H.  8,  333. 
H.  8,  157. 

2)  Eb.  155. 

3)  K.  F.,  Kant  1,  183. 

4)  Hart.  8,  157.    Ebend.  S.  225. 

5)  cf.  Büffon  Bd.  4,  S.  378. 
<0  Hartenst.  2,  320  f. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph,  und  anthropolog.  Arbeiten.       505 

liehe  Geographie".  Und  ferner,  alle  diese  geographischen  Disci- 
plinen  mussten  eingeführt  werden,  da  ja  die  pragmatische  und 
kosmologische  Betrachtung  des  Menschen,  die  Anthropologie,  nehen 
der  physischen  Geographie  als  dem  ersten,  als  anderer  Teil  der 
Welterkenntnis  gilt. 

Auf  diese  Einleitung  folgen  nun  zunächst,  wie  bei  Varen, 
Newton  u.  A.  „Mathematische  Vorbegriffe",  die  Elemente 
der  mathematisch-astronomischen  Geographie  sowie  einen  kurzen 
Ueberblick  über  die  Planeten,  Sonne  und  Mond  enthaltend.  Dann 
beginnt  die  „Abhandlung  der  physischen  Geographie"  (Hart. 
S.  180),  die  abgeteilt  wird  :  1)  „in  den  allgemeinen  Theil, 
in  dem  wir  die  Erde  nach  ihren  Bestandteilen  und  das  was  zu 
ihr  gehört,  das  Wasser,  die  Luft  und  das  Land  untersuchen; 
2)  in  dem  besonderen  Teil,  in  welchem  von  den  besonderen 
Produkten  und  Erdgeschöpfen  die  Rede  ist";  der  erste  Teil  bildet 
Rink's  ersten,  der  zweite  seinen  zweiten  Band. 

Im  ersten  Teil  wird,  nach  einigen  allgemeinen  Bemerkungen 
über  das  Wasser,  zuerst  der  Ocean  besprochen,  mit  Aufzählung 
seiner  Teile,  Meerbusseu,  Strassen;  dann  die  Bodenbeschaffenheit, 
die  Lote,  Taucherglocke,  der  Salzgehalt,  die  Bewegungen  des 
Meeres,  das  Eis  u.  s.  w.;  die  Darstellung  ist  oft  ziemlich  unklar, 
aber  man  erhält  doch  ein  dem  mittleren  Niveau  der  damaligen 
Kenntnisse  entsprechendes,  wenn  auch  nirgends  scharf  gezeichnetes 
Bild;  Neues,  Eigenartiges  bietet  es  nicht.  Die  nun  folgende  Be- 
sprechung des  Landes  ist  viel  schwächer.  So  gleich  im  Anfang 
(§  37)1)  (j^g  Einteilung  des  Festlandes  nach  dem  Bekanntsein  des- 
selben; §  392)  bespricht,  mit  starken  Wiederholungen  aus  §  16  3) 
die  Inseln;  recht  unbedeutend  ist  namentlich  die  Besprechung  der 
Berge,  §41— §46,  welche  sich  fast  nur  auf  das  Klima  der  Berge 
bezieht,  der  Höhleu,  §  47 — 49,  auf  welche  auch  hier  wieder  die 
Erdbeben  zurückgeführt  werden*)  u.  s.  w.  In  §  52,  in  welchem 
die  Teile  der  Erdrinde  und  die  Berge,  „der  Zusammenhang  der 
Steintheile"  und  die  Erdschichten  besprochen  werden  sollen,  lesen 
wir: 5)  „die  Steingebirge  werden  mit  einem  allgemeinen  Namen 
Felsengebirge     genannt,     obgleich     der    Fels     eine     besondere 


1)  Hart.  8,  227. 

2)  Eb.  237. 

3)  Eb.  186  f. 
*)  262  f. 

5)  S.  273. 


506  G.  Gerland, 

Gattung-  von  Steinen  ist,  g-leichwie  die  Steine,  aus  welchen  wir 
die  Treppen  und  Stufen  machen,  ersten.s  aus  gewissen  glänzendeu 
Theilen  oder  dem  Späth,  dann  aus  einem  gewissen  Schiefer,  den 
man  Glimmer  nennt,  und  dann  endlich  aus  lockerem  Mark  be- 
stehen". Und  einige  Zeilen  weiter:  „die  Schichten  in  den  Bergen 
sind  entweder  ganz,  oder  flötzweise  geordnet.  Die  Gänge  der 
Berge  sind  Spaltungen  in  denselben,  die  bis  zu  einer  ewigen  Tiefe 
fortgehen,  d.  h.  die  auf  der  andern  Seite  keine  Oeffnung  haben 
und  propendikulär  sind.  Sie  sind  entweder  hohl  oder  mit  einer 
Materie  gefüllt.  Mehrenteils  (juillt  in  sie  der  Saft  des  Steines, 
welcher  sich  nachgehends  verhärtet  und  in  Metalle  degenerirt." 
Und  so  weiter. 

So  etwas  konnte,  durfte  Rink  nicht  einfügen;  es  muss  direkt 
von  Kant  sein.  Die  „Geschichte  der  Flüsse"  §  55 — 62  ist  hier 
minder  gut  behandelt,  wie  in  früheren  Arbeiten ;  minder  gut 
auch  der  Abschnitt  Atmosphäre,  dessen  Darstellung  der  Winde 
schon  oben  erwähnt  ist.-)  Noch  schwächer  ist  die  „Geschichte 
der  grossen  Veränderungen,  welche  die  Erde  ehedess  erlitten  hat 
und  noch  erleidet",  w^elche  auf  die  schon  besprochene  Theorie  zu- 
rückkommt, die  Erde  sei  im  Anfange  „eine  ganz  flüssige  Masse, 
ein  Chaos"  gewesen,  „in  dem  alle  Elemente,  Luft,  Erde,  Wasser 
u.  s.  w.  vermengt  waren". 2)  Ein  Anhang  „von  der  Schifffahrt" 
(„von  den  Schiffen",  „von  der  Kunst  zu  schiffen")  schliesst  den 
Teil,  wie  des  Varenius  geogr.  generalis.  Inhaltlich  lehnt  Kaut 
sich  sehr  an  Lulof  und  Büffon  an. 

Viel  schwächer  noch  ist  der  zweite  Teil  der  physischen 
Geographie,  die  „Besondere  Betrachtung  dessen,  was  der  Erdboden 
in  sich  fasst".  Im  ersten  Abschnitt,  vom  Menschen,  wird  die 
Verschiedenheit  der  Hautfarbe  eingehend  besprochen,  sodann  „der 
Mensch  seinen  übrigen  angeborenen  Eigenschaften  nach,  auf  dem 
ganzen  Enibodeu  erwogen",-'')  wobei  auffallende  Einzelzüge  der 
Physis  hervorgehoben,  dann  aber  auch  die  künstlichen  Defor- 
mierungen der  Menschengestalt  besprochen  werden  u.  s.  w.,  alles 
recht  oberflächlich  und  ohne  Zusammenhang  compiliert.  Der 
zweite  Abschnitt*)  „von  den  vierfüssigen  Tieren,  die  lebendige 
Junge    gebären",    teilt    dieselben    (nach  Key)    in    die  Hauptstücke 


1)  S.  153. 

2)  Hart.  8,  S.  306. 

3)  Hart.  8,  3U  f. 

4)  Eb.  .S21. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       507 

der  Klauen-  imd  Zehentiere,  mit  Unterabteilungen  nach  der 
Zahl  der  Klauen  und  Zehen,  wobei  unter  die  fünfzehigen 
auch  „die  vierfüssigen  Thier- Vögel"  gehören.»)  Das  dritte 
Hauptstück  urafasst  die  „Tliiere  mit  Flossfederfüssen  und  zwar 
das  Fischottergeschlecht,  das  Bibergeschlecht,  die  Meerkälber, 
Walh-osse  (sie),  Seebär,  Seelöwe.  Viertes  Hauptstück  r-^)  „vier- 
füssige  Tiere,  die  Eier  legen"  (Krokodill,  Alligator,  Schildkröte). 
Fünftes  Hauptstück,  1.  Abteilung:'')  Seefische,  Wallfisch  (sie), 
Manati,  Hai,  Mantlfisch,  der  Delphin,  Stör,  Wels  (Raubfiscie), 
Seeteufel  (Roche),  Meermensch  und  andere  Fische,  darunter  auch 
der  Krak,  das  grosseste  Tier  der  Welt;*)  die  Arten  des  Fisch- 
fangs. Der  2.  Abschnitt  bespricht  die  „Schaligten  Tiere: 
Schnecken,  Muscheln,  Muschelmünzen &)  etc.  Sechstes  Hauptstück: 
einige  merkwürdige  Insekten,  nützliche:  Cochenille,  Caprifikation 
der  Feigen,  essbare  Heuschrecken;  schädliche:  Tarantel,  Medina- 
wurm etc.  Siebentes  Hauptstück:  von  anderen  kriechenden 
Thieren:  Schlange,  Skorpion,  Chamäleon,  Salamander.  Das  achte 
Hauptstück  gibt  einige  Notizen  aus  dem  „Reich  der  Vögel"';  das 
neunte  „das  Pflanzenreich"  bespricht  einzelne  Pflanzen  nach  ihrem 
Nutzen,  mit  Mitteilungen,  wie  z,  B.  die  bekannte  Fabel  von  Bora- 
metz.^)  Nicht  besser  ist  das  zehnte  Hauptstück,  das  Mineralreich 
(besonders  ausführlich  werden  die  Edelsteine  behandelt),  wo  z.  ß. 
im  Abschnitt  V,  von  den  Versteinerungen  zu  lesen  ist:')  man 
findet  versteinerte  Erdtiere  oder  ihre  Theile  als  zum  Beispiel.  In 
der  Schweiz  ist  ehedem  ein  versteinertes  Schiff  mit  vielen 
Menschen  aus  dem  Gebirge  gezogen"  --  ich  glaube,  nach 
Scheuchzer.  Der  dritte  Abschnitt  8)  „Summarische  Betrachtung 
der  vornehmsten  Naturmerkwiirdigkeiten  aller  Länder  nach  geo- 
graphischer Ordnung"  entspricht  nicht  entfernt  diesem  Titel:  er 
gibt  kurze  ethnologische  Notizen  über  einzelne  Völker  (nicht 
Länder)    Asiens,    Afrikas,    Europas  und  Amerikas.     Von    China  9) 


1)  Hart.  8,  332,  die  Fledermäuse,  der  fliegende  Hund  etc. 
2j  Eb.  339. 
3)  340. 
*)  344. 

5)  348. 

6)  365. 

7)  375. 

8)  377  f. 

9)  Hart.  8.  377—382. 


508  G.  Gerland, 

z.  B.  wird  nach  eiuig-en  allgemeinen  Bemerkungen  über  die  grosse 
Mauer,  den  Porzellanturm  etc.  „Sitten  und  Charakter  der  Nation 
besprochen,  sodann  Essen  und  Trinken,  Coniplimente;  Ackerbau, 
Früchte,  Manufakturen;  von  den  Wissenschaften,  der  Sprache  und 
den  Gesetzen;  Religion,  Ehen;  Waareu  die  ausgeführt  werden", 
in  plattestem  Auszug. 

Ich  wiederhole:  alles  dies  trägt  den  Stempel  der  Echtheit, 
den  Riuk  konnte  derartige  Dinge  unter  Kant's  Namen  nicht  ver- 
öfftntlichen,  wenn  sie  nicht  authentisch  waren.  Kant  hatte  die 
Ausgabe  als  authentisch  1801  anerkannt;  zur  Zeit  ihres  Er- 
scheinens, 1802,  lebte  er  ja  selbst  noch  und  viele  seiner  Zuhörer, 
von  denen  manche  ihre  selbst  nachgeschriebenen  Hefte  besassen. 
Dass  das  schon  erwähnte  Urteil  Hartenstein's  über  diesen  zweiten 
Band,  er  sei  eine  sehr  unbefriedigende  Sammlung  zufällig  zu- 
sammengestellter Notizen,  ein  viel  zu  mildes  ist,  leuchtet  ein. 
Gewiss  hat  Kant  im  mündlichen  Vortrag  vieles  weiter  ausgeführt, 
in  schärferen  Zusammenhang  gebracht,  auch  wohl  klarer  darge- 
stellt, das  versteinerte  Schiff  sammt  seinen  Insassen  war  vielleicht 
nur  scherzhaft  eingeflochteu;  ^)  das  unglaublich  niedrige  Niveau 
des  Ganzen,  die  völlige  Unzulänglichkeit  des  Inhalts  bleibt  aber 
dennoch.  Und  ein  solches  Buch  Hess  Kant  1802  erscheinen,  nach 
Linne,  Büffon,  Blumenbach  und  so  vielen  anderen,  nach  den 
Kritiken  der  Vernunft!  So  obliegt  uns  hier,  wo  wir  die  geogra- 
phischen Arbeiten  Kant's  uns  ganz  vorgeführt  haben,  als  unum- 
gängliche Pflicht  die  Beantwortung  der  Frage,  die  wir  uns  schon 
zu  Anfang  unserer  Betrachtungen  stellten:  w^elchen  Charakter, 
w^elchen  Wert  haben  die  geographischen  Studien  und  Arbeiten 
Kaut's?  Ihre  Beantwortung  wird  uns  auch  den  Uebergang  zu 
Kant's  anthropologischen  Studien  bilden. 

Die  erd wissenschaftlichen  Arbeiten  des  grossen  Philosophen 
zerfallen,  ihrer  äusseren  Form  nach,  in  zwei  grosse  Abteilungen, 
in  seine  Vorlesungen,  die  spätestens  1757,  w^ahrscheinHch  aber 
1756  begannen,''^)  wohin  wir  auch  die  von  Rink  besorgte  Heraus- 
gabe derselben,  die  physische  Erdkunde,  zu  rechnen  haben;  und 
in  die  von  Kant  selbst  veröffentlichten  Abhandlungen.  Hier  fällt 
gleich  eins  auf:  einen  wirklich  wissenschaftlichen  Erfolg  haben  sie 


1)  Wogegen    die    ebendaselbst   erwähnte   versteinerte   Melone   vom 
Berg  Libanon,  die  mit  ihren  Eiern  versteinerten  Vogelnester  sprechen. 

2)  K.  Fischer  1,  64.    Vgl.  Hart.  2,  S.  4. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       509 

bei  den  Zeitgenossen  nicht  g-ehabt,  in  den  organischen  Entwicke- 
lung-sg-aug-  der  Wissenschaft  haben  sie  keine  Stellung,  sie  haben 
nirgends  grundlegend  gewirkt,  sie  sind  erst  durch  die  philoso- 
phische Grösse  ihres  Verfassers  bei'ühmt  geworden,  erst  in  der 
zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  künstlich  in  die  Geschichte 
der  Wissenschaft  eingeschoben,  während  sie  in  Wahrheit  nur  zur 
Geschichte  Kant's  gehören.  Auch  seine  Vorlesungen,  welche  ja 
in  erster  Linie  Weltkenntnis,  Interesse  an  den  Erscheinungen  der 
Welt  erregen  wollten  und  bei  den  oft  zahlreichen  Schülern  gewiss 
auch  erregten,  haben  nirgends  selbständige  wissenschaftliche 
Forschungen  veranlasst. 

Aber  das  wollte  Kaut  auch  nicht.  Er  sagt  ja  selbst  in  der 
„Ankündigung",  die  physische  Geographie')  betrachte  die  Natur- 
beschaffeuheit  der  Erdkugel,  Wasser,  Land  und  Luft,  Mensch  und 
Tier,  Pflanze  und  Stein  nicht  mit  der  Vollständigkeit  und  Genau- 
heit der  Physik  und  Naturgeschichte,  „sondern  mit  der  ver- 
nünftigen Neubegierde  eines  Reisenden,  der  allenthalben  das  Merk- 
würdige, das  Sonderbare  und  Schöne  aufsucht,  seine  gesammelten 
Beobachtungen  vergleicht  und  seinen  Plan  überdenkt.  Seinen 
Plan  —  jedenfalls  den  Plan,  die  Anordnung  des  Merkwürdigen, 
Sonderbaren  und  Schönen.  Physik  und  Naturgeschichte,  deren 
Wesen  Kant  (in  der  Vorrede  bei  Rink)  so  klar  erkannte,  deren 
Fehlen  er  betonte,  werden  hier  abgewiesen:  nur  der  Plan  des 
auf  der  Erde  vorhandenen  soll  überdacht  werden. 

Durch  diese  AVorte  sind  Kaufs  Studien  auf  dem  erdwissen- 
schaftlichen Gebiet  charakterisiert.  Er  hat  keinen  der  von  ihm 
im  Anfang  seiner  Laufbahn  behandelten  Gegenstände  dieses  Ge- 
biets in  selbständiger  Denk-  und  Studienarbeit  weiter  geführt, 
keinen  als  Selbstziel  in  physikalischer,  mathematischer  oder  natur- 
wissenschaftlicher Methode  durch  fortgehende  Behandlung  abge- 
schlossen. 

Und  -  was  die  Hauptsache  ist  —  sie  waren  ihm  auch  nicht 
Selbstziel,  oder  gar  wissenschaftlicher  Lebenszweck;  er  betrieb 
diese  Studien,  um  ganz  andere  Ziele  zu  erreichen.  In  der  Natur- 
geschichte des  Himmels  waren  ihm  die  Milchstrassensysteme,  die 
Satururinge  nur  Nebensachen :  die  Hauptsache  war  ihm  der  wissen- 
schaftliche Nachweis  der  Mechanik  des  Weltalls  und  auch  dieser  sollte 
ihn  zu  einem  philosophischen    höchsten  Ziel  bringen,  zu  der  Rich- 

1)  Hart.  2,  3. 


5l0  G.  Gerland, 

ti^stellung-  des  Gottesbeg-riffs,  die  selbst  ein  Newton  verfehlt 
hatte.  Ganz  ähnlich  in  seinen  Erdbebenstudien :  auch  hier  wird 
der  Mechanismus  der  tellurischen  Ereignisse  nachgewiesen,  die 
falschen  pliysiko-theologischen  Anschauungen  abgewiesen.  Und 
wir  wissen  ja  aus  seiner  Vorrede  bei  Rink,  wie  er  die  physische 
Geographie  und  nicht  anders  die  Anthropologie,  die  er  ja  gerade 
deshalb  als  pragmatische  Anthropologie  bezeichnet,  nur  als  Mittel 
der  Weltkenutniss  ansah,  als  Erwerbung  der  Erfahrung,  durch 
welche  die  reine  Vernunft  instruiert  wird,  als  Propädeutik  der  Er- 
kenntnis der  Welt.  Die  Erkenntnis  bestand  nicht  aus  Erkennt- 
nissen, auf  welche  sie  sich  zwar  gründen  muss;  sie  besteht  in 
der  richtigen  Darlegung  der  Auffassung  durch  die  reine  Ver- 
nunft. 

So  kann  es  uns  nicht  wundern,  dass  Kant's  geographische 
Studien  durch  äussere  Umstände  veranlasst  werden,  entweder 
durch  solche,  welche  die  betreffenden  Gedankenkreise,  die  in  Kant 
schon  vorbereitet  waren,  auslösten,  wie  die  Auszüge  aus  Wright 
in  den  Hamburger  freien  Urteilen  oder  die  Entdeckung  eines 
Mondvulkans  oder  die  unerhörte  Erscheinung  des  Erdbebens  zu 
Lissabon  —  oder,  um  vom  Grossen  auf  Kleineres  zu  kommen,  die 
Ankündigungen  seiner  Collegien. 

Von  hier  aus  erklärt  sich  auch  der  gesammtwissenschaftliche 
Standpunkt,  den  Kant  auf  geographischem  Gebiet  und  in  seinen 
litterarischen  Quellen  zeigt.  Er  machte  es  besonders  unmöglich, 
dass  Kant  grosse  Erfolge  hatte.  Sein  Standpunkt  ist  für  die 
zweite  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  ein  veralteter,  und  über  die 
Benutzung  reichhaltiger,  aber  zufälliger  Lesefrüchte,  die  er  keines- 
wegs mit  der  nötigen  Kritik  und  Methode  benutzt,  kommt  er  nicht 
hinaus.  Eine  Erscheinung  ist  hierbei  merkwürdig,  die  Kaut 
namentlich  mit  den  älteren  geographischen  Schriftstellern,  mit 
denen  des  17.  Jahrhunderts,  über  deren  Niveau  er  sich  nur  in 
ganz  vereinzelte  Punkte  erhebt,  aber  auch  mit  seinen  Zeitgenossen 
teilt.  Das  ist  die  grosse  Abhängigkeit  der  geographischen  Dar- 
stellung von  den  gleichzeitigen  Karten.  Hierauf  beruht  die  Her- 
vorhebung und  für  das  betreffende  Werk  oft  völlig  unnötige  ge- 
naue Beschreibung  des  Meeres,  seiner  Buchten,  Engen  u.  s.  w., 
die  ausführliche  Behandlung  der  Flüsse,  welche  ja  auf  dem  vor- 
cassinischen  Gelände  allein  genauer  gezeichnet  waren,  im  Gegen- 
satz gegen  die  sehr  oberflächliche  und  ungenaue  Behandlung  der 
Gebirge.    So   ist   bei  Kant   die   auffallende  Idee  und  Schilderung 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  imd  anthropolog.  Arbeiten.      511 

der  durch  „atmosphärische"  Luft-  und  Wasserebullitioneu  ge- 
bildeten, den  Mondkratern  ähnlichen  grossen  Erdbecken,  den 
„Sammlungsbecken  der  Gewässer  für  Ströme"  für  die  er  als 
Beispiel  Böhmen  und  Mähren  anführt,^)  die  auf  der  Erdfläche 
durchgängig  anzutreffen  sind,  wie  denn  jederzeit  die  Linie  der 
Wasserscheide  „einen  Kreis  als  Bassin  des  Stromes  einschliessen 
wird"^)  —  diese  Idee  ist  ohne  Zweifel  von  den  damahgen 
Kartenbildern  ausgegangen;  ebenso  die  genau  zu  den  land- 
läufigen Karten  stimmende  Darstellung  der  Gebirge  Spaniens'') 
der  Alpen  u.  s.  w.  Auch  die  Ansicht,  dass  „dei-  Lauf  der 
Ströme"  „der  eigentliche  Schlüssel  der  Erdtheorie"  *)  sei,  hat 
die  gleiche  Quelle. 

Dazu  kommt  nun,  dass  der  Styl  der  geographischen  Arbeiten 
Kant's  ein  auffallend  schlechter,  oft  geradezu  verworrener  und 
schwer  verständlicher  ist.  Freilich  sind  ja  diese  Arbeiten  aus 
seiner  ersten  Zeit;  aber  die  gleichzeitigen  philosophischen  Ar- 
beiten sind  viel  klarer,  sicherer  geschrieben.  Man  vergleiche 
die  Klarheit  der  Gedanken  und  Worte  in  dem  „Beweisgrund" 
mit  der  Naturgeschichte  des  Himmels  oder  den  Erdbeben- 
arbeiten. Hier  zeigt  sich  überall  der  Anfänger,  dort  auch  schon 
in  frühesten  Arbeiten  der  werdende  Meister.  Freilich  zeigen  die 
geographischen  Werke  manche  geniale  Ideen,  die  ja  besonders 
berühmt  sind.  So  die  Nebularh5"pothese,  so  die  Theorie  der 
Winde;  aber  wie  wenig  gut  beide  durchgeführt  sind,  sahen  wir 
schon  —  es  sind  richtige  aber  doch  nie  ganz  selbständige  Con- 
ceptionen,  deren  Genialität  durch  das  Ungenügende  der  Aus-  und 
Durchführung  sehr  an  Bedeutung  verliert,  sich  versteckt  in  viel- 
fach unbedeutendes  ja  falsches  Beiwerk.  Von  wirklich  Be- 
deutendem ist  noch  manches  hervorzuheben,  die  Umdrehung 
der  Erde  und  ihre  Verlangsamung  durch  die  Gezeiten,  die 
Naturgeschichte  des  Mondes,  die  Entwickelung  der  Flussbetten 
und  ihrer  Gestaltung,  die  Methodik  in  der  Betrachtung  der  Erd- 
beben, die  Besprechung  der  Seebeben,  der  Passatwinde,  und  so 
manches  andere.  Aber  die  Bedeutung  der  geographischen  Arbeiten 
nimmt  mit  Kant's  Aelterwerden  immer  mehr  ab;  der  Philosoph 
Kant    steht    in  dieser  Ba^iehung  im    umgekehrten  Verhältnis  zum 


1)  Hart.  4,  197. 

2)  Eb.  198. 

3)  Hart.  8,  242  f. 

4)  Hart.  4,  200. 


512  G.  Gerland, 

Geographen  Kant.  Während  der  geographische  Forscher  auf 
Varen  mit  Freude  zurückgehen  konnte,  ja  musste,  um  zu  lernen, 
die  Objekte  sowohl,  wie  die  Methode  der  Forschung  —  bei  Kant 
stellt  sich  im  Ganzen  das  Gegenteil  heraus.  Und  so  blieb  er  als 
Geogi-aph  unbeachtet. 

Ich  weiss,  dass  ich  in  dieser  Schätzung  des  Geographen 
Kant  sehr  von  anderen  Kantforschern  und  Kantkennern  mich 
unterscheide,  von  K.  Fischer,  Aruoldt,  Zöllner,  Helmholtz,  Schöne, 
Rahts  u.  a.  Um  mein  Urteil  zu  begründen,  musste  ich  die  Dar- 
legungen Kant's  in  der  Ausführlichkeit  wortgetreu  wiedergeben, 
wie  ich  es  gethan  habe,  im  Ganzen,  nicht  in  einzeln  herausge- 
gi'iffenen  Worten;  ich  glaube,  durch  Kant's  eigene  Worte  den 
Beweis  für  meine  Behauptungen  erbracht  zu  haben. 

Aber  wir  sahen  ja  auch,  Kant's  geographische  Werke  wollten 
keine  fachmännisch-wissenschaftliche  sein;  er  selbst  wies  ja  Mathe- 
matik und  Physik  und  Naturbeschreibung  zurück  —  er  wollte 
anderes,  er  erstrebte  die  Erfahrung,  welche  die  reine  Vernunft 
instruiert  und  die  hat  er  —  für  sich  wenigstens  —  gefunden.  Hier 
liegt  die  hohe  Bedeutung  auch  seiner  geographischen  Ar- 
beiten für  ihn  und  gewiss  auch  für  Andere,  für  seine  Zuhörer; 
ihm  bedeuten  sie  die  Propädeutik  zur  E]rkenntnis  der  Welt.  Und 
so  blieb  er  ihnen  treu  anhänglich  sein  Leben  hindurch:  das  be- 
weist die  schöne  Vorrede  zu  Rink's  Ausgabe  der  physischen  Erd- 
kunde, das  beweisen  fast  noch  mehr  die  geographischen  Citate, 
die  er  gerade  in  seinem  Hauptwerk  der  Erkenntnis  der  Welt,  in 
der  Kritik  der  reinen  Vernunft  zur  Erhärtung  und  Verdeutlichung 
seiner  Behauptungen  vorbringt.  Eine  Stelle  ist  für  uns  besonders 
merkwürdig:  sie  sei  hier  als  ein  einzelner  Beleg  für  das  eben  Ge- 
sagte hervorgehoben.  „AVenn  ich  mir,"  sagt  Kant,')  „die  Erd- 
fläche (dem  sinnlichen  Scheine  gemäss)  als  einen  Teller  vorstelle, 
so  kann  ich  nicht  wissen,  wie  weit  er  sich  erstrecke.  Aber  das 
lehrt  mich  die  Erfahrung:  dass,  wohin  ich  nur  komme,  ich  immer 
einen  Raum  um  mich  sehe,  dahin  ich  weiter  fortgehen  könnte; 
mithin  erkenne  ich  die  Schranken  meiner  jedesmal  wirklichen  Erd- 
kunde, aber  nicht  die  Grenzen  aller  möglichen  Erdbeschreibung." 
Kenne  ich  die  Erde  als  Kugel,  so  kann  ich  aus  einem  kleinen  Teil 
ihrer  Oberfläche  dieselbe  bestimmt  „und  nach  Principien  a  priori 
erkennen";    und    ob    ich    die  Gegenstände  auf  dieser  Fläche  nicht 


1)  Kr.  d.  r.  Vem.  1781    758  f.    1787,  787  f. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       olo 

kenne,  so  kenne  ich  doch  die  Grösse  und  Schranken  des  Flächen- 
umfang-es.  „Der  Inbegriff  aller  möglichen  Gegenstände  für  unsere 
Erkenntnis  scheint  uns  eine  ebene  Fläche  zu  sein,  die  ihren 
scheinbaren  Horizont  hat,  nämlich  das,  was  den  ganzen  Umfang 
derselben  befasset  und  von  uns  der  Vernunftbegriff  der  unbe- 
dingten Totalität  genannt  worden.  Empirisch  denselben  zu  erreichen 
ist  unmöglich  und  nach  einem  gewissen  Princip  ihn  a  priori  zu 
bestimmen,  dazu  sind  alle  Versuche  vergeblich  gewesen.  Indessen 
gehen  doch  alle  Fragen  unserer  reinen  Vernunft  auf  das,  was 
ausserhalb  diesem  Horizonte,  oder  allenfalls  auch  in  seiner  Grenz- 
linie liegen  möge.  Der  berühmte  David  Hume  war  einer  dieser 
Geographen  der  menschlichen  Vernunft,  welcher  jene  Fragen  ins- 
gesamt dadurch  hinreichend  abgefertigt  zu  haben  vermeinte,  dass 
er  sie  ausserhalb  den  Horizonts  derselben  verwies,  den  er  doch 
nicht  bestimmen  konnte."  K.  Fischer  sagt  im  Anschluss  an  diese 
Stelle :  i)  die  Begrenztheit  des  menschlichen  Horizontes  lässt  sich 
empirisch  oder  geographisch  begründen,  also  aus  der  Erfahrung, 
dass  unsere  Gesichtsgrenze  nicht  die  Erdgrenze  ist  oder  in  Folge 
der  Kugelgestalt  der  Erde.  Wie  Empiriker  und  Geograph  zur 
Erklärung  des  menschlichen  Horizonts,  verhält  sich  der  skeptische 
und  kritische  Philosoph  zur  Erklärung  der  menschlichen  Erkennt- 
nis, „der  kritische  Philosoph  ist  der  Vernunftgeograph,  er  kennt 
den  Durchmesser  der  Vernunft,  deren  Umfang  und  Grenzen, 
während  der  skeptische  nur  auf  ihre  äusseren  Schranken  achtet 
und  von  ihrer  wahren  Verfassung  so  wenig  Einsicht  hat,  wie 
jener  Empiriker,  der  die  Grenzen  des  Horizontes  bloss  aus  der 
sinnlichen  Erfahrung  zu  erklären  weiss,  ohne  Erkenntnis  der 
wahren  Gestalt  der  Erde.  Dass  unser  Horizont  in  allen  Fällen 
begrenzt  ist,  darin  stimmen  die  empirische  Wahrnehmung  und  die 
geographische  Wissenschaft  überein,  aber  ihre  Erklärungsgründe 
sind  verschieden". 

Diese  Worte  Kant's   und    Fischer's    sind    auch  für  den  Geo- 
graphen ebenso  bedeutungsvoll,  wie  für  den  Philosophen. 


ij  K.  Fischer,  Kant.    Jub.-Ausg.  1,  572  f. 


Kantstndien  X.  34 


514  Gt.  Öerland, 

Zwölfte  Vorlesung. 
Kant    als    Anthropolog. 

Kant  schliesst  die  Vorrede  zu  seiner  „Anthropologie  in  prag- 
matischer Hinsicht"  mit  den  Worten:^)  „in  meinem  anfänglich  frei 
übernommenen,  späterhin  mir  als  Lehramt  aufgetragenen  Geschäfte 
der  reinen  Philosophie  habe  ich  einige  dreissig  Jahre  hindurch 
zwei  auf  Weltken ntniss  abzweckende  Vorlesungen,  nämlich  (im 
Winter)  Anthropologie  und  (im  Sommerhalbjahre)  physische 
Geographie  gehalten;  welchen  als  populären  Vorträgen  beizu- 
wohnen, auch  andere  Stände  gerathen  fanden;  von  deren  ersterer 
dies  das  gegenwärtige  Handbuch  ist";  u.  s.  w.  So  schrieb  Kaut 
1798;  genaueste  Mitteilungen  auch  über  diese  (vierstündigen)  Vor- 
lesungen verdanken  wir  E.  Arnoldt. '')  Sie  begannen  im  Winter 
1772,73;  zuletzt  las  sie  Kaut  im  Winter  1795/96.  Aus  den  geo- 
graphischen Vorlesungen  haben  sie,  wie  Arnoldt  in  der  2.  unten 
genannten  Abhandlung  gegen  B.  Erdmann  nachgewiesen  hat, 
sich  nicht  entwickelt,  was  für  uns,  wie  wir  gleich  sehen  werden, 
sehr  wichtig  ist.  Begannen  sie  doch  auch  16  Jahre  später,  als 
jene.  Allerdings  heisst  es  in  der  ersten  Ankündigung  der  phy- 
sischen Geographie  (1757),  dass  im  Tierreich  „auch  der  Mensch 
nach  dem  Unterschiede  seiner  natürlichen  Bildung  und  Farbe  in 
verschiedenen  Gegenden  der  Erde  auf  eine  vergleichende  Art  be- 
trachtet wird ;  ^)  und  in  der  Nachricht  von  der  Einrichtung  der 
Vorlesungen  im  Winterhalbenjahre  1765/66  sagt  Kant,*)  dass  er 
die  physische  Geographie  über  noch  gemeinnützigere  (als  die  bloss 
physischen)  Merkwürdigkeiten  der  Erde  ausbreiten,  und  sie  da- 
durch in  eine  physisch-moralisch-  und  politische  Geeographie 
umwandeln  werde,  in  welcher  Discipliu  zuerst  die  Merkwürdigkeiten 
der  drei  Naturreiche,  namentlich  nach  ihrem  Einfluss  durch  Handel 
und  Gewerbe  auf  die  Staaten  betrachtet  werden  sollen.  „Die  zweite 
Abteilung  betrachtet  den  Menschen  nach  der  Mannigfaltigkeit 
seiner  natürlichen  Eigenschaften  und  dem  Unterschiede  desjenigen, 
was  an  ihm  moralisch  ist,  auf  der  ganzen  Erde ;  eine  sehr  wichtige 
und    eben    so    reizende  Betrachtung,    ohne  welche  mau  schwerlich 


1)  Hart.  7,  434. 

2)  Kant's  Vorlesungen  über  Anthropologie.  Altpreuss.  Monatsschr. 
27  (1890)  91—119;  Kant's  Vorles.  über  phys.  Geogr.  u.  ihr  Verhältnis  zu 
seinen  anthrop.  Vorlesungen,  ebend.  228—314,     Vgl.  K    Fischer  1,  67. 

■■')  Hart.  2,  8. 
4)  Hart.  2,  320  f. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       5l5 

allg-emeine  Urtheile  vom  Menschen  fällen  kann,  und  wo  die,  unter 
einander  und  mit  dem  moralischen  Zustande  älterer  Zeiten  geschehene 
Verg-leichung-  uns  eine  grosse  Karte  des  menschlichen  Geschlechts 
vor  Augen  legt.  Zuletzt  wird  dasjenige,  was  als  eine  Folge  aus 
der  Wechselwirkung  beider  vorher  erzählten  Kräfte  angesehen  werden 
kann,  nämlich  der  Zustand  der  Staaten  und  Völkerschaften  auf 
der  Erde  erwogen",  nicht  nach  den  „zufälligen  Ursachen"  wie 
„Regierungsfolgen,  Eroberungen,  Staatsränke",  sondern  nach  dem 
Beständigeren,  den  entfernten  Grund  von  jenen  Enthaltenden,  nach 
Produkten,  Sitten,  Gewerbe,  Handlung  und  Bevölkerung".  Also 
auch  hier  soll  der  Mensch  nur  als  Naturgegenstand,  nur  kosmo- 
logisch-pragmatisch  (nach  den  schon  erwähnten  späteren  Ausdrücken 
Kaufs)  betrachtet  werden,  nur  als  Gegenstand  des  äusseren  Sinnes, 
als  Erfahrungsgegenstand;  dass  die  verschiedenen  geographischen 
Disziplinen,  die  Kant  in  §  5  der  Einleitung  bei  Rink  aufstellt, 
Dicht  anders  aufzufassen  sind,  geht  aus  den  kurzen  Schilderungen 
hervor,  welche  den  Schluss  des  2.  Bandes  der  physischen  Erdkunde 
bei  Rink  bilden.  Aber  das  war  nicht  die  einzige  Art,  wie  Kant 
den  Menschen  betrachtete.  Er  hatte  ihn  ja  auch  als  Subjekt  des 
inneren  Sinns  kennen  gelernt;  und  diese  Auffassung,  welche  für 
die  Gedanken,  die  ihn  erfüllten,  von  unabweisbarer,  von  grund- 
legender Bedeutung  waren,  konnte  er  nicht  auf  geographischem  Ge- 
biet, konnte  er  nur  auf  seinem  philosophischen  Arbeitsfeld  ge- 
winnen. Sehr  zu  beachten  ist  der  Umstand,  welchen  K.  Fischer 
mit  vollem  Recht  besonders  hervorhebt,')  dass  die  anthropolo- 
gischen Abhandlungen  Kaut's  in  die  „kritische  Periode  (1770 — 
]781)  fallen,  die  mit  der  Inaugural-Dissertation  beginnt".  Zuerst 
seien  die  Werke  genannt,  die  wir  jetzt  betrachten  müssen,  mit 
etwas  ausführhcheren  Angaben. 

1.  Von  den  verschiedenen  Racen  der  Menschen  zur  Ankün- 
digung der  Vorlesungen  im  Sommerhalbjahr  1775.  Hartenstein 
Band  2,  Vorrede  X,  S.  433-51.  Später  in  Engel's  Philosoph  für 
die  W^elt  1777,  Bd.  H,  125 — 64,  etwas  verändert,  am  Schluss  er- 
weitert. 

2.  Aelter  als  der  Druck  jener  Ankündigung,  gewiss  aber 
nicht  älter  als  ihr  Inhalt,  ist  die  Rezension  der  Schrift  von 
Dr.  Pietro  Moscati  von  dem  körperlichen  wesentlichen  Unterschiede 
der  Struktur   der  Thiere   und  Menschen,  übersetzt  von  Beckmann, 


1)  K.  Fischer  2,  223  f, 

34* 


516  G.  Gerland, 

Königsberger    gelehrte   und    politische    Zeitungen    1771,     Hart.  2, 
IX  und  429  -  81. 

3.  Idee  zu  einer  allgemeinen  Geschichte  in  weltbürgerlicher 
Absicht.  Berliner  Monatsschrift  1784,  Bd.  IV,  385—410.  Hart.  4, 
V,  143—57. 

4.  ßestimniung  des  Begriffs  einer  Menschenrace.  Berliner 
Monatsschrift  1785,    Bd.  VI,    390—417.     Hart.  4,    V  f.,  217—31. 

5.  Rezensionen  von  J.  G.  Herder's  Ideen  zur  Philosophie 
der  Geschichte  der  Menschheit,  Theil  1  und  2.  Allgemeine  Litte- 
raturzeitung  1785,  Band  I,  17—21  f.  und  IV,  153—6.  Hart.  4,  V, 
171—91. 

6.  Muthmasslicher  Anfang  der  Menschengeschichte.  Berliner 
Monatsschrift  1786,  Bd.  VII,  1—27.     Hart.  4,  VI,  315—29. 

7.  Ueber  den  Gebrauch  der  teleologischen  Principien  in  der 
Philosophie.  Wieland's  deutscher  Merkur  1788,  36— 52;  107—136; 
gegen  Georg  Forster.     Hart.  4,  VIII,  469—96. 

8.  Zu  Sömmering  über  das  Organ  der  Seele,  von  Sömraeriug 
als  Anhang  zu  seiner  Schrift  über  das  Organ  der  Seele  veröffent- 
licht. 1796.     Hart.  6,  VII,  455-61. 

9.  Anthropologie  in  pragmatischer  Hinsicht.  Königsberg 
1798.  2.  Ausgabe  (mit  sachlich  unwesentlichen  Veränderungen) 
eb.  1800.     Hart.  7,  XIII,  429—658. 

Ueber  letzteres  Werk,  das  letzte,  welches  Kant  selbst  her- 
ausgab, können  wir  kurz  hingehen.  Es  ist  die  mit  Lust  und 
Liebe  von  Kant  selbst,  der  sich  ja  in  späteren  Lebensjahren  von 
der  Geographie  mehr  zur  Anthropologie  hinwandte,  ausgeführte 
Bearbeitung  seiner  Vorlesungen  über  Anthropologie  und  ganz  im 
pragmatisch-kosmologischeu  Sinn  geschrieben.  In  der  Vorrede 
wird  eine  theoretische  Psychologie  gegen  Cartesius  schroff  abge- 
wiesen. Der  erste  Teil,  die  „anthropologische  Didaktik.  Von  der 
Art,  das  Innere  sowohl  als  das  Äussere  des  Menschen  zu  er- 
kennen", ist  eine  populäre  Zusammenstellung  von  Mitteilungen 
über  psychische  Zustände  auf  dem  Gebiet  des  Erkenntnisver- 
mögens, des  Gefühls  (der  Lust  und  Unlust)  und  des  Begehrungs- 
vermögens. Der  zweite  Teil,  „die  anthropologische  Charakteristik. 
Von  der  Art,  das  Innere  des  Menschen  aus  dem  Äusseren  zu  er- 
kennen" handelt  zunächst  vom  Charakter  der  Person,  von  Naturell 
und  Temperament,  gibt  dann  physiognomische  Regeln  (nach  La- 
vater)  und  bespricht  schliesslich  den  Charakter  des  Geschlechts, 
des  Volks    und    der   Race.     Dies    kleine  Letzliugswerk  Kant's   ist 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       517 

ein  geistreiches,  hübsch  und  amüsant  geschriebenes  Buch;  es 
zeij^t,  was  Kant  in  seinen  Vorlesungen  leistete,  wie  er  die  Zu- 
hörer, die  im  Winter  1790/91  70  betrugen,  anzuregen  und  zu 
fesseln  vermochte  und  steht  so  in  einem  lehrreichen  Gegensatz 
gegen  die  nicht  von  Kant  selbst  zur  Herausgabe  bearbeitete 
physische  Geographie.  Daher  fehlt  es  der  Anthropologie  auch 
nicht  an  einzelnen  tieferen  Bemerkungen.  Grösseren  Anspruch 
kann  das  Werk  nicht  machen;  doch  ist  es  auch  heute  noch  eine 
anregende,  interessante  Lektüre. 

Aber  diese  „pragmatische  Menschenkenntnis",  „welche  auf 
das  geht,  was  Er"  (der  Mensch,  nicht  die  Natur)  „als  freihandeln- 
des Wesen  aus  sich  selber  macht,  oder  machen  kann  und  soll"^) 
—  dies  „soll"  ist  wohl  zu  beachten;  in  der  Einleitung  zur  phy- 
sischen Geographie  heisst  es: 2)  „wovon  der  Verstand  sagt,  dass 
es  geschehen  soll"  —  diese  pragmatische  Menschenkenntnis  ist 
ja  nicht  die  einzige  Art  der  Menschenkenntnis  Kant's :  „wir  kennen 
ausser  ihr  schon  die  physiologische,  die  auf  die  Quellen  der 
Phänomene  des  menschlichen  Wesens,^)  oder,  wie  es  in  der  Vor- 
rede zur  Anthropologie  heisst,*)  „auf  die  Erforschung  dessen  geht, 
was  die  Natur  aus  dem  Menschen  macht."  Dazu  kommt  aber 
noch  eine  dritte,  die  theoretische  Weltkenntnis:  ,.Daher  wird 
selbst  die  Kenntnis  der  Menschenracen"  lesen  wir  in  der  Vorrede 
zur  Anthropologie,  „als  zum  Spiel  der  Natur  gehörender  Pro- 
dukte, noch  nicht  zur  pragmatischen,  sondern  nur  zur  theore- 
tischen Weltkenntnis  gezählt."  Die  (nicht  von  Kant)  gesperrten 
Worte  sind  wichtig:  sie  bedeuten,  dass  wir  es  hier  mit  unfrei- 
willigen, noch  nicht,  wie  die  pragmatischen,  vom  Verstand  ge- 
leiteten und  daher  tiefer  stehenden  Erscheinungen  im  Menschen- 
leben zu  tun  haben,  die  wir  nicht  aus  der  direkten  Erkenntnis 
ihrer  Ursachen,  die  wir  also  nur  theoretisch,  aus  Schlüssen,  als 
möglich  oder  wahrscheinlich  erkennen.  Auch  noch  andere  Auf- 
fassungen von  Wesen  und  Tätigkeit  des  Menschen,  die  wir  in 
ihrer  Wichtigkeit  erkennen  v/erden,  finden  wir  in  den  geogra- 
phisch-anthropologischen Werken  Kant's:  es  ist  von  Interesse,  sie 
zusammen  zu  stellen. 


1)  'Vorrede  zur  Anthrop.    Hart.  7,  431. 

2)  §  2.     Hart.  8,  153. 

3)  Hart.  8,  152. 
*)  Hart.  7.  431. 


518  G.  Gerland, 

I.     Auffassungen  durch  den  äusseren  Sinn  gegeben. 


Umfang   der 
Auffassung 


Mensch 
ist 


Merkmal 
der  Auffassung 


Inhalt  der 

Auffassung 


Die  Auffassung  ist 


1 

Indi- 
viduell    2 


Sozial 


Subjekt, 
Objekt, 

Objekt, 
Objekt, 


durch  eigenen 

Verstand  tätig: 

abhängig  von  der 

Natur : 

abhängig  von  der 

Natur : 

abhängig  von  der 

Geselligkeit: 


Äuss.  Stell. 

in  der  Welt, 

körperliche 

Bildung, 

Rassen  etc. 

Staat  etc. 


kosmologisch- 

pagmatisch.i) 

physiologisch- 

phänomenal.2) 

theoretisch  (teleo- 
logisch), i) 
historisch,    sozio- 
logisch. 


IL     Auffassungen  mittels  des  inneren  Sinnes. 


Umfang    der 
Auffassung 


Geist  der 
Mensch- 
heit ist 


Merkmal 
der  Auffassung 


Inhalt  der 
Auffassung 


Die  Auffassung  ist 


Subjekt 

und 
Objekt, 


Menschheit  in  der 

Erscheinungs- 
form des  inneren 
Anschauens  ihrer 
selbst: 3) 


Raum,  Zeit 
etc. 


Auffassung  der 
kritischen  Ver- 
nunft. 


Generell    5. 

(Aufhebung 
d-Individua- 
lität  durch 
Gleichheit 
der  Indivi- 
duen). 

Die  zweite  der  oben  erwähnten  Auffassungen,  die  physiolo- 
gisch-phänomenale, hat  Kant  nur  einmal  behandelt,  im  Anschluss 
an  Pietro  Moscati.  Derselbe  hatte  nachgewiesen,  „dass  der 
aufrechte  Gang  des  Menschen  gezwungen  und  widernatürlich 
sei;  dass  ihm  .  .  .  Ungemächlichkeiten  und  Krankheiten  daraus 
entspringen";  dass  er  „in  seinem  Inwendigen  nicht  anders 
gebauet"  sei,  „als  alle  Tiere,  die  auf  vier  Füssen  stehen";'*)  dass 
er  also  ursprünglich  vierfüssig  gewesen  sei.  Der  Schluss  der  Re- 
zension lautet:"^)  „So  paradox  auch  dieser  Satz  unseres  italienischen 


1)  Bezeichnung  von  Kant. 

2)  Bezeichnung  nach  Kant. 

3)  Kr.  der  reinen  Vernunft.     1.  Aufl.,  S.  33.    2.  Aufl.,  S.  49. 

4)  Hart.  2,  429. 

5)  Ebend.  430  f.    Sperrungen  im  Original, 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       519 

Doktors  scheinen  mag-,  so  erhält  er  doch  in  den  Händen  eines  so 
scharfsinnigen  und  philosophischen  Zergliederers  beinahe  eine 
völlige  Gewissheit.  Man  siehet  daraus,  die  erste  Vorsorge  der 
Natur  sei  gewesen,  dass  der  Mensch,  als  ein  Thier,  für  sich 
und  seine  Art  erhalten  werde,  und  hierzu  war  diejenige  Stellung, 
welche  seinem  inwendigen  Bau,  der  Lage  der  Frucht  und  der  Er- 
haltung in  Gefahren  am  gemässesten  ist,  die  vierfüssige;  dass 
in  ihm  aber  auch  ein  Keim  von  Vernunft  gelegt  sei,  wodurch  er, 
wenn  sich  solcher  entwickelt,  für  die  Gesellschaft  bestimmt 
ist,  und  vermittelst  deren  er  für  beständig  die  hiezu  geschickteste 
Stellung,  nämlich  die  z weif üss ige,  annimmt,  aber  auch  mit  Un- 
gemächlichkeiten  vorlieb  nehmen  muss,  die  ihm  daraus  entspringen, 
dass  er  sein  Haupt  über  seine  alten  Kameraden  so  stolz  er- 
hoben hat." 

Diese  kleine  Rezension,  welche  auch  K.  Fischer  besonders 
hervorhebt,!)  hat  für  uns  mehrfache  Bedeutung:  erstlich  ihres  bei 
Kant  einzig  dastehenden  physiologischen  Inhalts  wegen,  zweitens 
weil  sie  durch  den  Ausdruck  „für  die  Gesellschaft  bestimmt  ist", 
übergreift  auf  die  vierte  der  aufgezählten  Auffassungen  des 
Menschen ;  endlich  und  hauptsächlich  aber,  weil  sie  zum  ersten 
Male  auf  die  Geschichte  der  Organismen,  auf  die  Entvvickelungs- 
geschichte  des  Menschen  eingeht.  Und  zwar  1771,  im  Beginn  der 
kritischen  Periode.  Bisher  haben  wir  Kant  nur  beschäftigt  ge- 
sehen mit  der  Geschichte  des  Unbelebten,  mit  der  Naturgeschichte 
des  Himmels  und  in  seinem  Colleg  über  physische  Geographie 
von  1756  an  mit  der  Geschichte'-^)  des  festen  Landes  und  der 
Inseln,  der  Quellen,  Brunnen,  Flüsse,  Bäche,  des  Luftkreises,  der 
Winde,  der  Erdveränderuugen;  der  Mensch  sollte  damals  nur  nach 
dem  Unterschied  seiner  natürlichen  Bildung  vergleichend  betrachtet, 
die  „Qierkwürdigsten  Tiere"  freilich  nach  der  „Geschichte  ihrer 
Natur  erwogen  werden",  allein  nach  Kaut's  Klagen,  die  wir  schon 
öfters  hörten,  dass  eine  solche  Geschichte  nicht  existiere  und 
nach  dem  2.  Teil  der  physischen  Erdkunde,  wie  ihn  Rink  ver- 
öffentlicht hat,  geschah  es  nicht.  Es  erhellt  aber  hieraus,  wie 
Kant  stets  die  Geschichte,  das  heisst  denn  doch,  das  Werden  der 
natürlichen  Dinge  und  Verhältnisse,  mit  denen  er  sich  beschäftigte, 
kennen    zu   lernen  bestrebt  war.     Denn  aus  der  Geschichte  ergibt 


1)  Bd.  2,  253  f. 

2)  Hart.  2,  5  f. 


520  G.  Gerland, 

sich  das  für  jeglichen  Forscher  und  besonders  für  den  Philosophen 
so  wichtige  Siozi  noch  am  ehesten. 

So  ist  ihr  Kaut  namentlich  auf  anthropologischem  Gebiet, 
gerade  während  seiner  vernunftkritischen  Studien,  treu  geblieben 
und  seine  erste  Abhandlung  über  die  Racen  der  Menschen  be- 
ginnt:'} „im  Thierreiche  gründet  sich  die  Natiireintheilung  in 
Gattungen  und  Arten  auf  das  gemeinschaftliche  Gesetz  der  Fort- 
pflanzung, und  die  Einheit  der  Gattungen  ist  nichts  Anderes,  als 
die  Einheit  der  zeugenden  Kraft,  welche  für  eine  gewisse  Mannig- 
faltigkeit von  Thieren  durchgängig  geltend  ist.  Daher  muss  die 
Büffon'sche  Regel:  dass  Thiere,  die  mit  einander  fruchtbare 
Junge  erzeugen  ...  zu  einer  und  derselben  physischen  Gattung 
gehören,  eigentlich  als  die  Definition  einer  Naturgattung  der 
Thiere  überhaupt,  zum  Unterschiede  von  allen  Schulgattungen 
derselben  angesehen  werden.  Die  Schuleintheilung  geht  auf 
Klassen,  welche  nach  Aehnlichkeiten,  die  Natureintheiluug 
aber  auf  Stämme,  welche  die  Thiere  nach  Verwandtschaften 
in  Ansehung  der  Erzeugung  eintheilt.  Jene  verschafft  ein  Schul- 
system für  das  Gedächtnis,  diese  ein  Natursystem  für  den  Ver- 
stand; die  erstere  hat  nur  zur  Absicht,  die  Geschöpfe  unter  Titel, 
die  zweite  aber,  sie  unter  Gesetze  zu  bringen."  Und  der  Schluss 
der  Abhandlung,  der  —  was  von  Bedeutung  ist  —  erst  der  Be- 
arbeitung von  1777  angefügt  wurde,  lautet: 2)  „die  Natur- 
beschreibung (Zustand  der  Natur  in  der  jetzigen  Zeit)  ist  lange 
nicht  hinreichend,  von  der  Mannigfaltigkeit  der  Abartungen  Grund 
anzugeben.  Mau  muss,  so  sehr  man  auch,  und  zwar  mit  Recht, 
der  Frechheit  der  Meinungen  Feind  ist,  eine  Geschichte  der 
Natur  wagen,  welche  eine  abgesonderte  Wissenschaft  ist,  die 
wohl  nach  und  nach  von  Meinungen  zu  Einsichten  fortrücken 
könnte." 

Die  Frechheit  der  Meinungen?  erinnert  dies  Wort  nicht  an 
die  Verteidigung  gegen  eine  unheilige  Weltweisheit  und  Gottes- 
läugnung,  die  Kant  22  Jahre  zuvor  der  Naturgeschichte  des 
Himmels  vorausschickte,  um  die  wissenschaftliche  Forschung  in  ihr 
Recht  zu    setzen?     Empfangen  wir  nicht  auch  hier  den  Eindruck, 


^)  Nach  einer  kurzen  Bemerkung  über  die  Leichtigkeit  und  Nütz- 
lichkeit der  Vorlesung,  wohl  einer  Captatio  benevolentiae,  welche  1777 
wegblieb.     Hart.  2,  435.    Sperrungen  des  Originals. 

2)  Hart.  2,  451. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       521 

als  ob  Kaut  etwas  ganz  Neues  eiuführeii,    eine  wichtige,  aber  be- 
denkliche Ansicht  aussprechen  wolle? 

Das  Neue  und  Grosse,  was  er  aussprach,  war  die  Anwendung 
des  Begriffs  der  Geschichte  auf  die  Natur,  auf  die  lebende  Natur, 
denn  diese  ist  gemeint,  einschliesslich  der  Menschheit;  hieraus 
folgte  der  Begriff  der  zusammenhängenden  Ent Wickelung  der  Or- 
ganismen, einschliesslich  der  Menschheit;  hieraus  ergab  sich  vor 
allem  der  für  Kant  äusserst  wichtige  Begriff  der  Einheit  des 
Menschengeschlechts,  denn  nach  der  Büffou'schen  Regel  „gehören 
alle  Menschen  auf  der  weiten  Erde  zu  einer  und  derselben  Natur- 
gattung, weil  sie  durchgängig  miteinander  fruchtbare  Kinder 
zeugen."  ')  Dass  diese  Ansichten  namentlich  auf  theologischem  und 
auf  praktischem  Gebiet  mächtigen  Anstoss  erregen  mussten  (von 
dem  wissenschaftlichen  Umsturz  früherer  Meinungen  zu  schweigen), 
liegt  auf  der  Hand,  Hiergegen  verteidigte  sich  Kant,  und  gewiss 
hatte  auch  diese  Seite  für  ihn  Bedeutung,  aber  sie  stand  ihm 
nicht  in  erster  Linie.  K.  Fischer^)  betont  nur  die  moralische, 
freiheitsgeschichtliche,  sowie  die  sehr  folgenreiche  naturrechthche 
und  praktische  Bedeutung  der  Frage.  Für  Kant  aber  lag  die 
eigentliche  Bedeutung  der  Frage  auf  erkenutnistheoretischem  Ge- 
biet. Denn  gerade'  hier,  und  gerade  für  den  Kant  jener  Jahre, 
war  sie  grundlegend.  Wollte  man,  sagt  er  1785,3)  „lieber  ver- 
schiedene erste  Menschenstämme  mit  dergleichen  erbhchen 
Charakteren  annehmen,  so  würde  .  .  .  dadurch  der  Philosophie 
wenig  gerathen  sein,  die  alsdann  zu  verschiedenen  Geschöpfen 
ihre  Zuflucht  nehmen  müsste  und  selbst  dabei  doch  immer  die 
Einheit  der  Gattung  eiubüsst."  Einheitlich  menschUche  Denk- 
und  Erkenntnisgesetze  gibt  es  nur,  wenn  die  Menschheit  eine  Ein- 
heit ist.  Ist  sie  das  nicht,  so  müssten  sich  die  Erkenntnisgesetze 
sehr  compliciert  gestalten,  einheitlich  nur  für  jede  Art  oder  Stufe 
der  Entwickelung.  Die  Erkenntnis  der  Einheit  des  Menschenge- 
schlechts bildete  also  für  Kant  das  dog  (xol  nov  arui.  Von  hier 
aus  begreift  sich  die  Wichtigkeit  der  Sache  für  ihn,  die  ihn  der 
Frage  nachgehen,  sie  in  selbständiger  Veröffentlichung  entscheiden 
Hess,  während  er  an  der  Kritik  der  Vernunft. arbeitete.  Aber  ge- 
rade deshalb:  die  Menschheit  ist  eine  Einheit;  folglich  konnte  eine 


1)  Hart.  2,  435. 

2)  Bd.  2,  S.  225. 

3)  Hart.  4,  228,  Bestimmung  des  Begriffes  einer  Menschenrace. 


522  G.  Gerlaiid, 

Kritik   der   rciueu  Veruunft    geschrieben    werden;    nmsste   sie  ge- 
sehrieben werden. 

Kant  fand  den  Nachweis  der  Einheit  des  Menscheug-eschlechts 
bei  Büffon  gegeben,  allerdings  an  einer  Stelle,  wo  mau  ihn  nicht 
sucht,  in  der  Naturgeschichte  des  Esels.')  Da  heisst  es  S.  386:  l'espece 
n'etant  donc  autre  chose  qu'uue  succession  constante  d'iudividus 
semblables  et  qui  se  produisent.  Und  später  S.  388 f.:  ü  u'y  a  daus 
l'homnie  qu'une  seule  et  meme  espece  et  quoique  cette  espece  soit 
peutetre  la  plus  uombreuse,  .  .  .  et  en  meme  temps  la  plus  inconse- 
quente  et  la  plus  irreguliere  des  toutes  ces  actions,  on  ne  voit  pas 
que  cette  prodigieuse  diversite  de  mouvement,  de  nourriture  de 
climat  etc.  .  .  .  ait  produit  des  etres  assez  differens  des  autres 
pour  faire  de  nouvelles  souches  ...  et  puisque  tous  les  hommes 
peuvent  communiquer  et  produire  eusemble,  tous  les  hommes  viennent 
de  la  meme  souche  et  sont  de  la  meme  famille.  Auch  Kant  stellt 
sie  zu  einer  Familie. 

Kant  stellt  vier  Rassen  auf,  Weisse,  Neger  (in  Afrika,  Neu- 
guinea und  Nachbarinseln),  die  hunnische  (mongolische  oder  kal- 
mückische) und  die  hindostanische  Rasse.  Letztere  mit  den  alten 
Scythen  (in  und  um  Tibet)  vermischt,  erzeugten  die  Tonkinesen 
und  Chinesen  als  Mischrasse;  „die  Amerikaner  scheinen  eine  noch 
nicht  völlig  eingeartete  hunnische  Rasse  zu  sein".  —  „Die  in  der 
Natur  eines  organischen  Körpers  .  .  .  liegende  Gründe  einer  be- 
stimmten Auswickelung  heissen,  wenn  die  Auswickelung  besondere 
Theile  betrifft.  Keime;  betrifft  sie  aber  nur  die  Grösse  oder  das 
Verhältnis  der  Theile  untereinander,  so  nenne  ich  sie  natürliche 
Anlagen."-)  Die  Rassen  entstehen  durch  die  verschiedene  Ent- 
wickelung  der  Keime  und  Anlagen  auf  verschiedenen  Boden;  denn 
„der  Mensch  war  für  alle  Klimata"  und  Bodenarten  ,. bestimmt".^) 
Luft  und  Sonne  bringen  die  dauerhafte  Entwickelung  der  Keime 
hervor  und  bewirken  die  Gründung  neuer  Rassen  durch  Abartung; 
in  der  Rasse  herrscht  Nachartung,  in  der  halbschlächtigen  Zeugung 
Anartung.  Dauernde  Abartung  der  einen  Stammgattung,  deren 
Ursitz  wohl  zwischen  dem  31.  und  52<'  der  alten  Welt  lag  (wo 
die  glücklichste  Mischung  der  Einflüsse  heisser  und  kalter 
Gegenden,    auch  der  grösste  Reichtum  au  Erdgeschöpfen  war),  er- 


1)  Buffon  Oeuvres  (4")  1749—86.    Hist.  natur.  generale  et  particuliere. 
Bd.  4,  S.  378  f.,  .-586  f.,  389. 

2)  Hart.  2,  440. 

3)  Ebend.  442. 


Iminanuel  Kant,  seine  geograpli.  und  anthropolog.  Arbeiten.       523 

gab  folgende  Verhältnisse:  die  Stammgattung  bestand  aus  Weissen 
mit  brünetter  Farbe. 

Erste  Rasse:  Hochblonde  (Nördliches  Europa)  von  feuchter 
Kälte. 

Zweite  Rasse :  Kupferrote  (Amerika)  von  trockener  Kälte. 

Dritte  Kasse:  Schwarze  (Senegambia)  von  feuchter  Hitze. 

Vierte  Rasse:    Olivengelbe  (Indianer)   von  trockener  Hitze.') 

Sonne  und  Luft  (Wärme  und  Feuchtigkeit)  zeigen  sieh  hier 
in  ihren  Einflüssen.  2) 

Diese  Sätze  werden  von  Kant  in  der  zweiten  Abhandlung 
„Bestimmung  des  Begriffs  einer  Menschenrace"  1785  weiter,  ein- 
gehender begründet.  Die  neuen  Kenntnisse  über  die  Mannigfaltig- 
keit in  der  Menschengattung,  so  beginnt  dieselbe,-^)  haben  mehr 
den  Verstand  gereizt,  als  ihn  befriedigt,  Aveil  der  Begriff,  den  man 
aufklären  will,  nicht  klar  genug  bestimmt  ist.  Manche  Forscher 
fassen  den  Begriff  der  Meuschenracen  wohl  gar  als  Arten  der 
Menschheit;  wieder  andere  zu  oberflächlich  und  nebensächlich. 
Kant's  Absicht  ist,  „diesen  Begriff  einer  Race,  wenn  es  deren  in 
der  Menschengattung  gibt,  genau  zu  bestimmen";  die  Erklärung 
ihres  Ursprungs  ist  dabei  nur  von  nebensächlichem  Wert.  Kant 
gibt  sodann  sechs  grundlegende  Sätze,  mit  Erläuterungen: 

1.  Nur  das,  was  in  einer  Thiergattung  anerbt,  kann  zu 
einem  Klassen-Unterschiede  in  derselben  berechtigen. 

2.  Man  kann  in  Ansehung  der  Hautfarbe  vier  Klassenunter- 
schiede der  Menschen  annehmen. 

3.  In  der  Klasse  der  Weissen  ist  ausser  dem,  was  zur 
Menschengattung  überhaupt  gehört,  keine  andere  charakteristische 
Eigenschaft  noth wendig  erblich;    und  so  auch  in  den  übrigen. 

4.  In  der  Vermischung  jener  genannten  vier  Klassen  mit 
einander  artet  der  Charakter  einer  jeden  unausbleiblich  an. 

5.  Betrachtung  über  das  Gesetz  der  nothwendig  halb- 
schlächtigen  Zeugung. 

6.  Nur  das,  was  in  dem  Klassenunterschiede  der  Menschen- 
gattung unausbleiblich  anerbt,  kann  zu  der  Benennung  einer 
besonderen  Menschenrasse  berechtigen. 

„Der  Begriff  einer  Race  ist  also:  der  Klassenunterschied  der 
Thiere   eines  und   desselben  Stammes,  sofern  er  unausbleiblich  an- 

1)  Ebend.  449—50. 

2)  K,  Fischer  2,  230. 

3)  Ebend.  4,  217. 


524  G.  Gerland, 

erbt."')  Unter  2.  wird  zunächst  die  Farbe  als  Einleitungsg-rund 
weg^eu  der  läumlicheu  Isolation  der  verschiedenfarbigen  Stämme 
und  wegen  ihres  Einflusses  auf  die  so  wichtige  „Absonderung 
durch  Ausdünstung"  gerechtfertigt.  In  5.  wird  in  engem  An- 
schluss  hieran  betont,  dass  die  Urmenschheit  ein  einziger  Stamm, 
nicht  aber  die  Rassen  das  ursitrüngliche  w^aren;  denn  sonst  wäre 
„die  Nothwendigkeit  des  Anarteus  nicht  begreiflich''.-) 

Die  Art,  wie  Kant  die  verschiedenen  Farben  und  Bildungen 
chemisch-physiologisch  erklärt,-^)  hatte  schon  damals  keinen  streng 
wissenschaftlichen  Wert  und  kann  hier  übergangen  werden.  Auch 
seine  Kasseueinteilung  und  besonders  ihre  Begründung  ist  wert- 
los (namentlich  die  vierte,  die  olivengelbe  Rasse,  die  Indianer  d.  h. 
Indier,  Hindostaner).  So  hat  Kaut  auch  auf  anthropologisch- 
ethnologischem Gebiet  einen  bleibenden  Einfluss  nicht  gehabt; 
dazu  fehlte  ihm  die  Detailgelehrsanikeit  und  eine  auf  ihr  be- 
ruhende streng  sachlich-wissenschaftliche  Methode.  Blumenbach, 
der  ihn  übrigens  in  seinen  CoUegieu  über  die  Naturgeschichte  des 
Menschen  mit  Anerkennung  erwähnte,  überstrahlte  fachmännisch 
ihn  weit.  Aber  die  Eiuzelnheiten,  die  Spezialgelehrsamkeit  war 
ibm  auch  hier  Nebensache.  Die  Hauptgesichtspunkte,  von  denen 
er  ausging,  und  die  in  den  Gruudzügen  auch  heute  noch  ange- 
nommen sind,  oder  wieder  angenommen  sind,  waren  die  Einheit 
des  Menschengeschlechts,  seine  Ur-abartung  in  Rassen,  die  Per- 
sistenz der  Rassen.  Diese  lagen  für  ihn  in  der  Absicht  der 
Natur,  wie  er  öfters  ausspricht:^)  „Die  Vorsorge  der  Natur,  ihr 
Geschöpf  durch  versteckt  innere  Vorkehrungen  auf  allerlei  künftige 
Umstände  auszurüsten,  damit  es  sich  erhalte  und  der  Verschieden- 
heit des  Klima  oder  des  Bodens  angemessen  sei,  ist  beM^underns- 
w^ürdig  und  bringt  bei  der  Wanderung  und  Verpflanzung  der 
Thiere  und  Gewächse,  dem  Scheine  nach,  neue  Arten  hervor, 
welche  nichts  Anderes,  als  Abartungeu  und  Racen  von  derselben 
Gattung  sind,  dei-eu  Keime  und  natürliche  Anlagen  sich  nur  ge- 
legentlich in  langen  Zeitläuften  auf  verschiedene  Weise  entwickelt 
haben."  Bedenklich  ist  der  Anfang  des  vielfach  sehr  beachtens- 
werten Satzes,  sowie  ferner  der  Begriff  der  ursprünglichen  Keime 
und  Anlagen,    auf    welche  Kant,    wohl    im    Anschluss   an    Büffon, 


1)  Hart.  4,  226. 

2)  Ebend.  4,  225. 

■^)  1775:  Hart.  2,  440  f.     1785:  4,  229. 
*)  Hart.  2,  440—41. 


Immanuel  Kant,  seine  geograpli.  und  anthro  polog.  Arbeiten.     525 

alle  Ent^ackelung-  zurückführt.  „Deiin>)  äussere  Ding-e  können 
wohl  Geleg-enheits-,  aber  niclit  hervorbringende  Ursachen  von 
(lemjeuig-en  sein,  was  notwendig-  anerbt  und  nachartet  .  .  .;  sie 
werden  nie  etwas  zur  Zeugungskraft  hinzusetzen,  d.  i.  etwas  be- 
wirken, was  sich  selbst  fortpflanzt."  Und  so  spricht  es  Kant 
offen  aus:  „der  Zufall  oder  allgemeine  mechanische  Gesetze 
können  solche  Zusamnienpassungen  nicht  hervorbringen.  Daher 
müssen  wir  dergleichen  gelegentliche  Auswickelungen  als  vorge- 
bildet ansehen".  Und  noch  schärfer:  „der  Mensch'^)  war  für  alle 
Klimate  und  für  jede  Beschaffenheit  des  Bodens  bestimmt;  folglich 
mussten  in  ihm  mancherlei  Keime  und  natürliche  Anlagen  bereit 
liegen,  um  gelegentlich  entweder  ausgewickelt  oder  zurückge- 
halten zu  werden,  damit  er  seinen  Platz  in  der  Welt  angemessen 
würde". 

Diese  Ansicht  hielt  Kant  fest,  wie  alle  seine  in  heisser 
Denkarbeit  gewonnenen  Auffassungen,  und  so  sagt  er  auch  1785 
(Bestimmung  der  Begründung  einer  Menschenrace  unter  5.):^) 
„nur  alsdann,  wenn  man  annimmt,  dass  in  den  Keimen  eines 
einzigen  ersten  Stammes  oder  eines  einzigen  ersten  Paares^) 
die  Anlagen  zu  aller  dieser  klassischen  Verschiedenheit  nothwendig 
habe  liegen  müssen,  damit  er  zu  allmählicher  Bevölkerung  der 
verschiedenen  Weltstriche  tauglich  sei,  lässt  sich  verstehen,  warum, 
wenn  diese  Anlagen  sich  gelegentlich  und  diesem  gemäss  auch 
verschiedentlich  auswickelten,  verschiedene  Klassen  von  Menschen 
entstehen,  die  auch  ihren  bestimmten  Charakter  in  der  Folge  noth- 
wendig in  die  Zeugung  mit  jeder  anderen  Klasse  bringen  mussten, 
weil  er  zur  Möglichkeit  ihrer  eigenen  Existenz,  mithin  auch  zur 
Möglichkeit  der  Fortpflanzung  der  Art  gehörte  und  von  der  noth- 
wendigen  ersten  Anlage  in  der  Stammgattung  abgeleitet  war". 
Und  so  lesen  wir  dasell)st  in  der  Schluss-Anmerkung:^)  ,.Gegen- 
wärtige  Theorie,  welche  gewisse  ursprüngliche,  in  dem  ersten  und 
gemeinschaftlichen  Menschenstamm  auf  die  jetzt  vorhandenen 
Racenunterschiede  ganz  eigentlich  angelegte  Keime  annimmt, 
beruht    gänzlich    auf    der    Unausbleiblichkeit   ihrer    Anartuug, 


1)  Hart.  2,  441  (1775). 

2)  Ebend.  442. 

3)  Ebend.  4,  224.     Sperrung  im  Original. 

*)  Miithmasslicher  Anfang  der  Menschengeschichte  1786.     Hart.  4,  316. 
")  Hart.  4,  227. 


526  G.  Gerland, 

die  bei  den   vier   geuanuteu  Racen  durch  alle  Erfahrung  bestätigt 
wird." 

Kant  hatte  in  der  Naturgeschichte  des  Himmels,  in  der  Kos- 
mogonie  im  „Beweisgrund  zur  Demonstration  des  Daseins  Gottes 
es  für  unmöglich  erklärt,  zu  zeigen,  wie  eine  Raupe  oder  das 
verächtlichste  Kraut  erzeugt  werde,  wegen  der  Unbekanntheit  der 
inneren  Beschaffenheit  des  Objekts,  wegen  der  Verwickelung 
seiner  inneren  Mannigfaltigkeit,  wegen  der  nicht  völligen  Begreif- 
lichkeit der  mechanischen  Gesetze  seiner  Bildung.  Damals  suchte 
er  nur  nach  den  mechanischen  Gründen  der  Bildung;  er  führte 
sie  nicht  auf  die  direkte  Schöpfung  Gottes  oder  auf  eine  unbe- 
stimmte Naturkraft  zurück.  Hier  führt  er  einen  neuen  Begriff 
ein  in  die  Entwickelungsgeschirhte  der  Organismen,  den  der  Keime, 
der  Anlagen,  der  Vorherbestimmung;  er  geht  hier  völlig  über  zur 
Teleologie,  Aber  nicht  auf  übernatürliche  Anordnung,  nicht  auf 
„den  Finger  Gottes"  führt  er  diese  Anlagen  zurück:  die  Kraft  der 
„Natur"  ist  es,  von  der  sie  ausgehen,  von  der  das  Schicksal  der 
Menschheit,  der  Rassen  vorher  angelegt,  bestimmt  wird.  Ohne 
das,  sagte  er  in  jener  Schlussanmerkung, ^)  würde  der  Philosophie 
wenig  gerathen  sein,  die  alsdann  zu  verschiedenen  Geschöpfen 
ihre  Zuflucht  nehmen  müsste  und  selbst  dabei  doch  immer  die 
Einheit  der  Gattung  einhüsst",  Auf  diese  Einheit  der  Gattung 
kam  es  ihm  au;  um  sie  zu  begreifen,  festzuhalten,  legte  er  seinen 
im  übrigen  auch  hier  ganz  mechanischen  Auffassungen  jene  unbe- 
stimmten teleologischen  Anfänge  unter.  So  wichtig  war  ihm  der 
Einheitsbegi'iff,  musste  er  ihm,  dem  Philosophen  der  Welterkennt- 
nis, sein  —  wir  sahen,  weshalb. 

Und  an  diesen  teleologischen  Auffassungen  hielt  er  fest,  als 
dieselben  von  einem  der  bedeutendsten  anthropologischen  Forscher 
der  damaligen  Zeit,  von  Georg  Forster,  angegriffen  wurden.  Die 
Ausstellungen  Forster's  erschienen  in  einem  Brief  au  Biester,  einen 
der  Herausgeber  der  Berlinischen  Monatsschrift,  in  Wieland's 
deutschem  Merkur,"2)  (jg,.  soeben  den  ersten  der  Roinholdischeu  Briefe 
über  Kant's  Philosophie  gebracht  hatte.  Sie  sind  gut  geschrieben, 
in  voller  Anerkennung  der  Verdienste  Kant's.  Nach  einigen 
Bedenken  gegen  den  Satz,  mit  welchem  Kant  seine  „Bestimmung 
des    Begriffs    der    Menschenracen"    beginnt: 3)    „es    liegt    gar  viel 


1)  Hart.  4,  228. 

2)  Okt.  1786,  57—86;  Nov.  150-166. 
8)  Hart.  4,  217. 


Immanuel  Kant,  seine  geograpli.  und  anthropolog-.  Arbeiten.       527 

daran,  den  Begriff,  welchen  man  durch  Beobachtimgen  aufklären 
will,  vorher  selbst  wohl  bestimmt  zu  haben,  ehe  man  seinetwegen 
die  Erfahrung-  befragt;  denn  man  findet  in  ihr,  was  man  bedarf, 
nui-  alsdann,  wenn  man  vorher  weiss,  wonach  mau  suchen  soll"; 
nach  einiger  sehr  berechtigten  Ausstellungen  an  Kaut's  Angaben 
über  die  Südseevölker  bespricht  Forster  zweifelnd  der  Farbe  als 
Eiuteilungsgrund  der  Rassen,  als  welchen  sie  Kant  ja  hinstellt, 
erklärt  er,  im  Anschluss  au  Sömmeriug's  Darlegungen,  die  Ent- 
scheidung, ob  Neger  und  Weisse  als  Gattungen  oder  als  Varietäten 
von  einander  verschieden  sind,  für  eine  vielleicht  unlösliche  Auf- 
gabe; macht  er  Einwendungen  gegen  den  Büffon'scheu  Beweis 
der  Arteinheit  aus  der  Fruchtbarkeit  der  Mischungen  und  nach 
einigen  —  nicht  stichhaltigen  —  Einwendungen  gegen  Kaut's 
(und  Büffon's)  Theorie  der  Keime  und  Anlagen  spricht  er  sich 
dahin  aus,  dass  er  keineswegs  die  Frage,  ob  es  mehrere  ursprüng- 
liche Menschenstämme  gebe,  entscheidend  bejahen  wolle,  dass  ihm 
allerdings  die  Voraussetzung  mehrerer  ursprünglicher  Menschen- 
stämme, nicht  mehr  Schwierigkeiten  bereite,  als  die  Abstammung 
von  einem  Paare;  er  nennt  —  beispielsweise  —  drei  solcher 
hypothetischer  Urstämme,  die  Neger  in  Afrika,  die  Weissen  am 
Kaukasus,  die  Skythen  und  Inder  am  Emaus.  >) 

Auf  diese  Bedenken  —  diesen  Ton  überschreitet  Forster 
nirgends  —  antwortet  Kant  1788  in  der  Abhandlung  „über  den 
Gebrauch  teleologischer  Principien  in  der  Philosophie"  nicht  ohne 
Empfindlichkeit,  ja  Schärfe,  wie  sie  Forster  nicht  verdiente,  und 
die  dureh  das  hohe  Lob  der  Reinhold'schen  Briefe,  welches  Kant 
anfügt,  um  so  eindringlicher  wird.  So  ist  der  am  Schluss  gerade- 
zu höhnische  Satz,  den  Kant  aus  einigen  Stellen  der  Forster'schen 
Artikel  (deren  Seiten  die  beigefügten  Zahlen  angeben)  zusammen- 
stellt, völlig  ungerecht: 2)  „die  kreisende  Erde  (S.  80),  welche 
Thiere  und  Pflanzen  ohne  Zeugung  von  ihres  Gleichen,  aus  ihrem 
Aveicheu,  vom  Meeresschlamm  befruchteten  Mutterschoosse  ent- 
springen Hess,  die  darauf  gegründeten  Lokalzeugungen  organischer 
Gattungen,  da  Afrika  seine  Menschen  (die  Neger),  Asien  die 
seinigen  (alle  übrigen)  (S.  158)  hervorbrachte,  die  davon  abge- 
leitete Verwandtschaft  aller  in  einer  unmerklichen  Abstufung  vom 

1)  Deutscher  Merkur  Nov.  178fi,  S.  162.  Forster  anerkennt  keines- 
wegs bloss  2  Stämme  (Neger  und  alle  übrigen  Menschen)  wie  K.  Fischer 
2,  232,  wohl  nach  Kant,  Hart.  4,  491,  behauptet. 

2)  Hart.  4,  491—2. 


528  G.  Gerland, 

Menschen  zum  Wallfische  (S.  77)  und  so  weiter  hinab  (vermutlich 
bis  zu  Moosen  und  Flechten,  nicht  bloss  im  Vergleichungssystem, 
sondei'ii  im  Erziehungssystem  aus  gemeinschaftlichem  Stamme) 
gehende  Naturkette  organischer  Wesen  —  diese  würden  zwar  nicht 
machen,  dass  der  Naturforscher  davor,  als  vor  einem  Ungeheuer 
(S.  75),  zurückbebte  (denn  es  ist  ein  Spiel,  womit  sich  wohl 
mancher  einmal  unterhalten  hat,  das  er  aber,  weil  damit  nichts 
ausgerichtet  wird,  wieder  aufgab),  er  würde  aber  doch  davon 
durch  die  Betrachtung  zurückgescheucht  werden,  dass  er  sich 
hierdurch  unvermerkt  ...  in  die  Wüste  der  Metaphysik  verirre". 
Um  die  Wichtigkeit  der  Hautfarbe  als  Einteiluugsgrund  zu  beweisen, 
führt  Kant  die  Zigeuner  an,  deren  indische  Hautfarbe  (bei  indischer 
Sprache)  beständig  blieb ;i)  als  „eine  wichtige  Bestätigung  .  .  . 
der  unausbleiblich  erblichen  Verschiedenheiten"  betont  er,  dass  die 
„Racen  nicht  sporadisch  (in  allen  Welttheilen,  in  einerlei  Klima, 
auf  gleiche  Art)  verbreitet,  sondern  cykladisch  in  vereinigten 
Haufen,  innerhalb  der  Grenzlinie  eines  Landes,  wo  jede  derselben 
sich  hat  bilden  können,  vertheilt  angetroffen  werden".'^)  Sachlich, 
wissenschaftlich  hat  alles  dies  wenig  Bedeutung,  wie  es  ja  auch 
auf  die  Zeitgenossen  und  die  Entwickelung  der  Anthropologie 
wenig  gewirkt  hat.  Aber  wichtig  ist  es,  dass  Kant  an  seineu 
teleologischen  Ansichten  fest  hielt,  ja  immer  mehr  in  ihnen  be- 
festigt wurde.  Hier  liegt  die  Bedeutung  dieses  Streites  —  der 
viel  wichtiger  ist,  als  die  Controverse  mit  Herder,  ^j  gegen  dessen 
unmethodischen  Unzulänglichkeiten  Kant  überall  Recht  hat  — 
hier  liegt  die  zweite  grosse  wissenschaftliche  Bedeutung  der  anthro- 
I  pologischen  Studien  Kaut's.  Die  erste  war  die  Anerkennung,  der 
I  Beweis  der  Einheit  des  Menschengeschlechts;  die  zweite  ist  der 
I  Begriff  der  Teleologie,  wie  er  sich  Kant  aus  seinen  anthropolo- 
'  gischen  Studien  ergab. 

Kant  hatte  in  den  Metaphysischen  Anfangsgründen  der 
Naturwissenschaft,  in  der  Anmerkung  zum  3.  Lehrsatz  des  dritten 
Hauptstücks ^)  den  Hylozoismus  als  „den  Tod  aller  Natur- 
philosophie" abgewiesen.  Was  ist  aber  eine  spontane  Urzeugung 
aus  weichem,    vom    Meer  befruchteten  Urschlamm,  welche  Forster 


1)  Hart.  4,  484. 

«)  Ebend.  488. 

3i  K.  Fischer  2,  250  -  6. 

*)  Hart.  4,  440  f. 


Immanuel  Kant,  seine  geogräph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       529 

—  allerdiug-s  nur  ganz  problematisch  —  erwähnte,  i)  anders  als 
„hypermetaphysischer"  Hylozoismus?  Es  war  selbstverständlich, 
dass  Kaut  eine  solche  Annahme  ablehnte.  Er  sagt:'^)  „wahre 
Metaphysik  kennt  die  Grenzen  der  nienschlicheu  Vernunft  und 
unter  anderen  diesen  ihren  Erbfehler,  den  sie  nie  verleugnen  kann: 
dass  sie  schlechterdings  keine  Grundkräfte  a  priori  erdenken 
kann  und  darf  .  .  .  sondern  nichts  weiter  thun  kann,  als  die,  so 
ihr  die  Erfahrung  lehrt  .  .  .  auf  die  kleinstmöglichste  Zahl  zu- 
rückzuführen, und  die  dazn  gehörige  Grund  kraft,  wenn's  die 
Physik  gilt,  in  der  Weit,  wenn  es  aber  die  Metaphysik  angeht 
(nämlich  die  nicht  weiter  abhängige  anzugeben),  allenfalls  ausser 
der  Welt  zu  suchen.  Von  einer  Grundkraft  aber  (da  wir  sie 
nicht  anders,  als  durch  die  Beziehung  einer  Ursache  auf  eine 
Wirkung  kennen)  können  wir  keinen  anderen  Begriff  geben  und 
keinen  Namen  dafür  ausfinden,  als  der  von  der  Wirkung  herge- 
nommen ist  und  gerade  nur  diese  Beziehung  ausdrückt  .  .  .  Eine 
Grundkraft,  durch  die  eine  Organisation  gewirkt  würde,  muss  also 
als  eine  nach  Zwecken  wirkende  Ursache  gedacht  werden". 
„Verstand  und  Wille  sind  bei  uns  Grundkräfte,  deren  der  letztere, 
sofern  er  durch  den  ersteren  bestimmt  wird,  ein  Vermögen  ist, 
etwas  gemäss  einer  Idee,  die  Zweck  genannt  wird,  hervorzu- 
bringen. Unabhängig  von  aller  Erfahrung  aber  sollen  wir  uns 
keine  neue  Grundkraft  erdenken".  Durch  die  Erfahrung  an  uns  ge- 
leitet „müssen  wir  entweder  alle  Bestimmung  der  Ursache  organi- 
sierter Wesen  entsagen,  oder  ein  intelligentes  Wesen  uns  dazu 
denken". 

Von  diesen  Gedanken  aus,  die  Kant  auch  schon  1775  aus 
seinen  anthropologischen  Studien  allmählich  entwickelt  hatte,  die 
aber  auch  genau  zu  der  Naturgeschichte  des  Himmel,  zum  Be- 
weisgrund u.  s.  w.  stimmen,  die  er  nachweislich  durch  die  Unter- 
suchung der  Rassenfrage  in  dieser  Klarheit  und  Festigkeit  ge- 
wonnen hatte,  ist  er  nun  zu  hohen  Resultatrn  auch  für  den 
„inneren  Sinn''  gekommen.  Den  Gottesbegriff  verbannt  er  auch 
hier  ebenso  streng  wie  bei  seinen  mechanischen  Untersuchungen. 
„Was  beweiset,  fragt  er,  nun  aber  am  Ende  auch  die  allervoll- 
ständigste  Teleologie?  beweiset  sie  etwa,  dass  ein  solches  ver- 
ständiges Wesen    da    sey?     Nein;    nicht  weiter  als  dass  wir  nach 


1)  Deutscher  Merkur  Okt.  1786,  S.  80.     Hart.  4,'  492. 

2)  Hart.  4,  492—4. 

Kantstudien   X,  35 


53Ö  Ö.  Gerland, 

der  Beschaffeuheit    unserer  Erkenntnisvermögen,    also  in  der  Ver- 
Ijindnng-   der  Erfahrung-  mit  den  obersten  Principien  der  Vernunft, 
uns    schlechterdings    keinen    Bei2:rif    von    der    Möglichkeit    einer 
solchen  Welt  machen  können,  als  so,  dass  wir  uns  eine  absicht- 
lich-wirkende  oberste  Ursache  derselben  denken. "i)     „Der  Aus- 
druck   eines  Zwecks    der  Natur    beugt    genugsam  vor,    um  Natur- 
wissenschaft  und   die  Veranlassung,    die  sie  zur   teleologischen 
Beurtheilung    ihrer    Gegenstände    gibt,    nicht    mit    der   Gottesbe- 
trachtung   und     also    einer    theologischen    Ableitung    zu    ver- 
mengen."'-^)     „Das    Princip     der    formalen    Zweckmässigkeit    der 
Natur  ist  ein  transsceudentales  Princip  der  Urtheilskraft."^)     „Die 
teleologische    Beurtheilung    wird,     wenigstens    problematisch,    mit 
Recht    zur    Naturforschung    gezogen,    aber    nur,    um   sie  nach  der 
Analogie   mit  der  Causalität  nach  Zwecken  unter  Principien  der 
Beobachtung  und  Nachforschung  zu  bringen,  ohne  sich  anzumassen, 
sie    darnach    zu    erklären. "4)     „.  .  .  der  Begrif  von  Verbindungen 
und    Formen    der    Natur    ist    doch  wenigstens  ein  Princip  mehr, 
die  Erscheinungen  derselben  unter  Regeln  zu  bringen,  wo  die  Ge- 
setze  der  Oausalität   nach  dem  blossen  Mechanism  derselben  nicht 
zulangen."      „Der    Begrif    einer    objectiven    Zweckmässigkeit    der 
Natur   ist    ein    criterisches  Princip    für   die  reflektierende  Urteils- 
kraft."^)    „Dinge,    als    Naturzwecke,    sind    organisierte    Wesen. "6) 
Wir  haben    also    für    „den    inneren  Sinn"    eine  neue    Kraft,    eine 
neue    Erkenntnis    gewonnen,    die     wir    gewiss    zur    „Erkenntnis 
der    Welt"    hinzuzurechnen    haben.      Diese    neue    Erkenntnis,    die 
Grundlage    der  Urteilskraft    und    also  auch  der  Kritik  der  Urteils- 
kraft,   hat  Kant    gewonnen    und    entwickelt   namentlich  an  seinen 
anthropologischen    Studien,    von    den   Versuchen,    die    Organismen 
und  namentlich    den    höchst  stehenden  derselben  zu  erklären.     Er 
hatte    wohl    Recht,    die    Anthropologie    neben    der  Geographie  als 
das  andere  Mittel  der  Welterkenntnis  anzuerkennen. 

Kant  nannte  diese  dritte  der  oben  (S.  518)  erwähnten  Auffas- 
sungen   des    Menschen,    der  Menschheit    „eine"    oder   „die  theore- 


1)  Kritik  d.  Urteilskraft,  1.  Aufl.,  1790,  S.  .^Bl. 

2)  Ebend.  S.  302. 

aj  Ebend.  Einleitung  V,  S.  XXVII. 

4)  Ebend.  S    265. 

ä)  Ebend.  S.  329. 

^)  Ebend.  S.  285  f.  291. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropoiog.  Arbeiten.       53l 

tische  Auffassung";  wir  sahen  aus  dem  Vorigen,  wie  richtig  diese 
Bezeichnung  ist. 

Bei  dieser  Auffassung  tritt  aber  noch  ein  anderer  Gesichts- 
punkt ein,  der  von  Wichtigkeit  ist.  Während  wir  bisher  das 
menschliche  Individuum  in  seiner  Welt-  und  Naturstellung  be- 
trachtet haben,  wobei  allerdings  auch  die  Summe  der  Individuen 
zur  Sprache  kam,  immer  aber  als  Pluralität  verschiedenartig  ent- 
wickelter Einzelheiten,  haben  wir  bei  der  theoretischen  Auffassung 
die  Menschheit  als  ganzes  betrachtet.  Auch  hier  besteht  sie 
natürlich  aus  einer  Summe  von  Einzelnheiten :  während  aber  in 
der  Pluralität  der  ersten  Auffassung  die  individuelle  Selbständig- 
keit eine  Hauptsache  war,  fällt  diese  bei  unserer  jetzigen  Be- 
trachtung ganz  weg:  die  Summe  ist  hier  die  Hauptsache,  das 
Individuum  hat  ihr  gegenüber  gar  keine  Bedeutung,  da  die  Ein- 
wirkung gleichmässig  auf  die  Summe  ohne  irgend  welchen  Gegen- 
einfluss  des  Individuums  geschieht.  Diese  Summe,  die  Menschheit, 
sahen  wir  abhängig  von  der  Natur,  in  dem  dargelegten  teleolo- 
gischen Sinn.  Durch  diesen  I^influss  entstanden,  bei  Ausbreitung 
der  Menschheit  über  die  Erde,  die  verschiedenen  Rassen.  Allein 
nicht  bloss  von  der  Natur  ist  die  Menschheit  abhängig,  sie  ist  es 
auch,  bei  ihrer  Grösse,  von  sich  selber,  und  zwar  sowohl  die  In- 
dividuen, deren  persönliche  Verschiedenheit  verschwindend  ist 
gegen  die  Summation  des  Gleichartigen  im  Menschen,  wie  es  die 
menschliche  Gesellschaft  zeigt,,  als  auch  ihre  einzelne  Teilglieder, 
Völker,  Stände  u.  s.  w.,  die  ebenfalls  gegen  das  Ganze  nicht  in 
Betracht  kommen.  So  wird  die  Menschheit  in  ihren  Teilen  ihr 
eigenes  Objekt,  sie  wird  abhängig  von  der  Geselligkeit.  Auch 
diese  vierte  Auffassung,  diese  soziologische  Abhängigkeit 
der  Menschheit  von  sich  selber,  auf  welcher  der  Gang  der  Welt- 
geschichte beruht,  hat  Kaut  wenigstens  berührt:  er  hat  sie  klar 
aufgefasst,  wenn  auch  nur  kurz  besprochen.  Dies  that  er  in 
einem  kleinen  Aufsatz  ,.Idee  zu  einer  allgemeinen  Geschichte  in 
weltbürgerlicher  Absicht",  welcher  1784  im  Novemberheft  der  Ber- 
liner Monatsschrift  erschien.')  Es  ist  von  Interesse,  dass  er  einen 
zufälligen  Anlass  hatte,  über  welchen  Kant  selbst  Bericht  gab.=^) 
„Eine  Stelle,"    sagt  er,    „unter  den  kurzen  Anzeigen  des  zwölften 


1)  Hart.  4,  S.  V. 

1)  Hart.  4,  142.    Vgl.  K.  Fischer  2,  239;  die  Notiz  der  Goth.  Gel.  Z. 
erschien  am  11.  Februar  1784. 

35* 


532  Or.  Gerland, 

Stücks  der  Gothaisclien  Gel.  Zeitung  d.  J.,  die  ohne  Zweifel  aus 
meiner  Unterredung-  mit  einem  durchreisenden  Gelehrten  genommen 
worden,  nöthigt  mir  diese  Erläuterung  ab,  ohne  die  jene  keinen 
begreiflichen  Sinn  haben  würde."  Die  Stelle  der  Goth.  Zeitung 
lautete:  „eine  Lieblingsidee  des  H.  Prof.  Kant  ist,  dass  der  End- 
zweck des  Menschengeschlechts  die  Erreichung  der  vollkommensten 
Staatsverfassung  sei,  und  er  wünscht,  dass  ein  philosophischer 
Schriftsteller  es  unternehmen  möchte,  uns  in  dieser  Rücksicht  eine 
Geschichte  der  Menschheit  zu  liefern  und  zu  zeigen,  wie  weit  die 
Menschheit  in  den  verschiedeneu  Zeiten  diesem  Endzwecke  sich 
genähert  oder  von  demselben  entfernt  habe,  und  was  zur  Er- 
reichung desselben  noch  zu  thun  sei."  Kant  beginnt  mit  dem 
Satz,')  dass  die  Erscheinungen  des  freien  Willens,  „die  mensch- 
lichen Handlungen,  ebensowohl,  als  jede  andere  Naturbegebeuheit, 
nach  allgemeinen  Gesetzen  bestimmt  sind".  Nun  2)  findet  der 
Philosoph  „bei  Menschen  und  ihrem  Spiel  im  Grossen  gar  keine 
vernünftige  eigene  Absicht"';  er  versuche"  also,  „ob  er  nicht 
eine  Natur  absieht  in  diesem  widersinnigen  Gang  menschlicher 
Dinge  entdecken  könne;  aus  welcher  von  Geschöpfen,  die  ohne 
eigenen  Plan  verfahren,  dennoch  eine  Geschichte  nach  einem  be- 
stimmten Plane  der  Natur  möglich  sei".  Kant  will  versuchen, 
einen  Leitfaden  zu  einer  solchen  Geschichte  zu  finden;  er  will  es 
dann  der  Natur  überlassen,  den  Mann  hervorzubringen,  der,  ein 
Kepler  oder  Newton  in  seinem  Fache,  sie  schreiben  könne.  Also 
auch  hier  handelt  es  sich  um  eine  teleologische  Frage,  um  eine 
Naturabsicht,  welche  der  unvernünftigen  Menschheit  nach  natür- 
lichem Plane,  d.  h.  also  aus  ihrer  eigenen  Natur  heraus  eine  Ge- 
schichte ermögliche.  Es  handelt  sich  ,,um  die  Menschen  und  ihr 
Spiel  im  Grossen",  d.  h.  also  um  eine  historische  Entwickelungs- 
geschichte  der  Menschheit.  Kants  „Leitfaden"  besteht  nun  aus 
neun  Sätzen  mit  ihren  Erläuterungen.     Die  Sätze  lauten: 

1.'^)  Alle  Naturanlagen  eines  Geschöpfes  sind  bestimmt,  sich 
einmal  vollständig  und  zweckmässig  auszuwickeln. 

Erläuterung:  bei  allen  Thieren  bestätigt  dieses  die  äussere 
sowohl,  als  innere  oder  zergliedernde  Beobachtung.  Eiin  Organ, 
das  nicht  gebraucht  werden  soll,  eine  Anordnung,  die  ihren  Zweck 


1)  Hart.  4,  14.3. 

2)  Ebend.  144. 

^)  Die  Sätze  sind  im  Original  gesperrt,  die  Erläuterungen  nicht.     Die 
im  Folgenden  gesperrten  Worte  scheinen  mir  besonders  beachtenswert. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph,  und  anthropolog.  Arbeiten.       533 

nicht  erreicht,  ist  ein  Widerspruch  in  der  teleologischen  Natnrlehre. 
Denn  wenn  wir  von  jenem  Grundsätze  abgehen,  so  haben  wir 
nicht  mehr  eine  gesetzmässige,  sondern  eine  zwecklos  spielende 
Natur,  und  das  trostlose  Ungefähr  tritt  an  die  Stelle  des  Leit- 
fadens der  Vernunft. 

2.  Am  Menschen  sollten  .  .  .  sich  diejenigen  Naturaulagen, 
die  auf  den  Gebrauch  seiner  Vernunft  abgezielt  sind,  nur  in 
der  Gattung,  nicht  aber  im  Individuum  vollständig  ent- 
wickeln. 

3.  Die  Natur  hat  gewollt,  dass  der  Mensch  alles,  was  über 
die  mechanische  Anordnung  seines  thierischen  Daseins  geht,  gänz- 
lich aus  sich  hervorbringe,  und  keiner  anderen  Glücksehgkeit  oder 
Vollkommenheit  theilhaftig  werde,  als  die  er  sich  selbst,  frei 
von  Instinkt,  durch  eigene  Vernunft  verschafft  hat. 

4.  Das  Mittel,  dessen  sich  die  Natur  bedient,  die  Ent- 
wickelung  aller  ihrer  Anlagen  zu  Stande  zu  bringen,  ist  der 
Antagonismus  derselben  in  der  Gesellschaft,  sofern  dieser 
doch  am  Ende  die  Ursache  einer  gesetzmässigen  Ordnung  der- 
selben wird. 

5.  Das  grösste  Problem  für  die  Menschengattung,  zu  dessen 
Auflössung  die  Natur  ihn  (sie)  zwingt,  ist  die  Erreichung  einer 
allgemeinen,  das  Recht  verwaltenden  bürgerlichen  Gesell- 
schaft. 

6.  Dies  Problem  ist  zugleich  das  schwerste  und  das, 
welches  von  der  Menschengattng   am   spätesten  aufgelöst  wird. 

7.  Das  Problem  der  Errichtung  einer  vollkommenen  bürger- 
lichen Verfassung  ist  von  dem  Problem  eines  gesetzmässigen 
äusseren  Staatenverhältuisses  abhängig  und  kann  ohne  das 
letztere  nicht  aufgelöst  werden. 

8.  Mau  kann  die  Geschichte  der  Menschengattuug  im 
Grossen  als  die  Vollziehung  eines  verborgenen  Plans  der 
Natur  ansehen,  um  eine  innerlich-  und,  zu  diesem  Zwecke, 
auch  äusserlich- vollkommene  Staatsverfassung  zu  Stande  zu  bringen, 
als  den  einzigen  Zustand,  in  welchem  sie  alle  ihre  Anlagen  in 
der  Menschheit  völlig  entwickeln  kann. 

9.  Ein  philosophischer  Versuch,  die  allgemeine  Welt- 
geschichte nach  dem  Plane  der  Natur,  der  auf  die  voll- 
kommene bürgerliche  Vereinigung  in  der  Menschengattuug 
abziele,  zu  bearbeiten,  muss  als  möglich  und  selbst  für  diese 
Naturabsicht  beförderlich  angesehen  werden. 


534  G.  Gerland, 

Auch  der  „mutmassliche  Anfang-  der  Menschengeschichte"  ^) 
gehört  hierher;  Kaut  zeigt  die  geschichtliche  Eutwickelung  der 
Menschheit  vou  ihren  Anfängen,  indem  er  Genesis  Cap.  2 — 6  als 
Allegorie  zu  Grunde  legt:  Naturzustand,  erster  Willensakt, 
Entstehung  des  Bösen,  dadurch  des  Antagonismus,  Eutwickelung 
des  Lebens  durch  letzteren  zu  höheren  Zielen  als  die  Rousseau'- 
sche  Unschuld.  Hirtenleben,  dann  Ackerbau,  durch  ihn  Cultur, 
Anfang  der  Kunst,  der  Geselligkeit,  der  bürgerlichen  Sicherheit 
uud  der  so  fördersamen  Ungleichheit  der  Menschen:  das  sind  die 
Etappen,  durch  die  wir  Kant  auf  dieser  „blosen  Lustreise"  be- 
gleiten; doch  führte  sie  zu  weiten,  hohen  Zielen,  wie  die  Ideen 
zu  einer  allgemeinen  Geschichte  in  weltbürgerlicher  Hinsicht  be- 
weisen, ebenso  auch  die  warme  Teilnahme  Kant's  an  der  franzö- 
sischen Revolution. 

Und  so  gehören  auch  jene  neun  Sätze  völlig  auf  die  Stufe 
der  grossen  kritischen  Werke  Kant's,  denn  sie  gehören  trotz  ihrer 
Kürze,  trotz  ihrer  nur  gelegentlichen  Entstehung  zum  w^ertvollsten, 
was  Kant  uns  an  Gedankenschätzen  hinterlassen  hat.  Sie  nach 
ihrer  ganzen  Bedeutung  zu  behandeln,  ist  auf  dem  hier  einge- 
schlagenen Wege  unmöglich;  nur  auf  einen  Punkt  sei  hingewiesen, 
der  für  Kant's  anthropologische  Studien,  für  das  Verständnis 
Kant's  selbst  und  andererseits  auch  für  die  moderne  Forschung 
vou  grosser  Wichtigkeit  ist.  Kant  spricht  hier  von  der  Gattung 
Mensch,  von  der  Menschheit  und  von  der  mit  ihr  gegebenen 
Geselligkeit.  Die  Arbeit  ist  also  eine  soziologische.  Sozio- 
logisch sind  jene  neun  Sätze,  nicht  weil  sie  sich  auf  die  Eut- 
wickelung der  bürgerlichen  Gesellschaft  beziehen,  sondern  weil  sie 
zeigen,  dass  und  inwiefern  die  Eutwickelung  der  Gesellschaft  eine 
Funktion  der  Gattung  und  nur  möglich  durch  uud  in  der  Gesell- 
schaft ist.  Kant  bringt  diese  wichtigen  Ideen  gleichsam  beiläufig» 
zufällig  vor:  sie  waren  ihm  aber  wichtig  genug  uud  haben  ihn 
oft  und  eingehend  beschäftigt:  das  beweisen  seine  Abhandlungen 
über  die  Rassen  und  deren  Eutwickelung,  das  beweist  an  manchen 
Stellen  auch  die  „Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten" ;  das 
beweisen  seine  kritischen  Werke,  die  insgesammt  generelle  Dar- 
legungen enthalten,  Darlegungen,  welche  sich  nicht  auf  das  Indi- 
viduum, sondern  auf  das  Genus  Mensch  beziehen.  Doch  nur  in 
jenen    neun     Sätzen    lehrt    und    beweist    er     die    Einwirkungen 


1)  1786.     Hart.  4,  315.     Berl.  Monatsschr.  1786,  1—28. 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       535 

der  Gesellschaft  als  wirklich  gesetzmässig  zu  begreifende  Er- 
scheimmgen,  als  Funktionen  der  Gesellschaft  und  so  führt  er  uns 
in  seinen  anthropologischen  Arbeiten,  „der  anderen  Art  der  Er- 
kenntnis der  Welt",  zu  einem  neuen,  grossen,  fruchtbaren  Pro- 
blem hin. 

Wie  steht  es  nun  mit  der  fünften  der  oben  (S.  518)  genannten 
Auffassungen,  der  generellen,  wo  die  „Menschheit  in  der  Er- 
scheinungsform des  inneren  Auschauens  ihrer  selbst"  Subjekt  und 
Objekt  zugleich  ist?  Den  Übergang  zu  dieser  wichtigsten  aller 
aufgezählten  Auffassungen  mag  eine  kleine  Schrift  aus  dem  Jahre 
1796  bilden.  „Der  Stolz  unseres  Zeitalters,  Kant,  hatte  die  Ge- 
fälligkeit, der  Idee,  die  in  vorstehender  Abhandlung  herrscht,  nicht 
nur  seinen  Beifall  zu  schenken,  sondern  sogar  noch  zu  erweitern, 
und  zu  verfeinern,  und  so  zu  vervollkommnen",  mit  diesen  Worten^ 
schloss  Sömmering  sein  Werk  über  das  Organ  der  Seele,  welches 
er  Kant  zur  Beurteilung  vorgelegt  hatte;  die  kleine  Schrift, 2) 
welche  Kant  als  Antwort  abfasste,  bildet  den  Anhang  zu  Sömme- 
riugs  Abhandlung.  Kant  spricht  zunächst,  als  physiologische  Ver- 
mutung, die  Idee  aus,  dass  das  Wasser  in  der  Gehirnhöle  durch 
unmerkliche  chemische  Beimischungen  vielleicht  den  physiolo- 
gischen Zusammenhang  der  in  ihm  endenden  Nervenfasern  be- 
wirken könne.  Die  Frage  aber  nach  dem  Organ,  dem  Sitz  der 
Seele,  weist  Kant  ab,  als  „unauflöslich  und  an  sich  widersprechend", 
weil  die  Seele  sich  nie  empirisch,  durch  die  äusseren  Sinne,  wahr- 
nehmen, sich  nie  zum  Gegenstand  ihrer  eignen  äusseren  Anschau- 
ung machen  kann ;  sie  müsste  sich  sonst  aus  sich  selbst  versetzen. 
Den  Körper  nimmt  sie  wahr  durch  äussere  Sinne ;  sich  selbst  kann 
sie  nur  durch  „den  inneren  Sinn"  wahrnehmen. 3)  Man  könnte 
versucht  sein,  diese  Arbeit  Kaufs  zu  der  zweiten  Auffassung,  der 
physiologischen  zu  rechnen.  Allein  physiologisch-phänomenal  ist  sie 
gewiss  nicht;  und  da  ihr  Hauptsatz  der  ist,  dass  die  Seele  sich 
nur  durch  den  inneren  Sinn  wahrnehmen  kann :  so  stellen  wir  sie 
wohl  am  besten  hierher. 

Damit  sind  wir  zum  letzten  Höhepunkt  des  Weges  gekommen, 
den  wir  eingeschlagen  haben  nur  den  Gedanken  Kant's  folgend, 
ohne    eigene  Willkühr ;    den    wir    einschlagen    mussten,    wenn  wir 


1}  Hart.  6,  456. 

2)  Oben  S.  182,  8. 

3)  Hart.  6.  461. 


536  G.  Gerland, 

wirklich  Kant  folg-en  wollten.  Die  erreichte  Höhe  bietet  weite 
Aussicht,  zunächst  auf  unseren  Weg  selbst,  dann  aber  in  andere 
ungeahnte  Fernen. 

Der  phj^sischen  Erd-  und  Himnielskunde,  dem  „ersten  Teil 
der  Weltkenntnis"  (oben  S.  500  f.),  der  Elrfahrungs Wissenschaft 
des  äusseren  Sinnes,  verdanken  wir  ausser  der  reichen  Fülle  der 
Erscheinungen  die  Erkenntnis  des  Zusammenhangs  der  Erschein- 
ungen, des  Weltganzeu,  der  Einheit  in  der  Vielheit.  In  der  Ent- 
wickelung  der  Materie  sahen  wir  strenge  Gesetzmässigkeit,  Zweck- 
mässigkeit bei  völliger  Selbständigkeit  der  Materie ;  wir  lernten 
den  Weltraechanismus  in  seiner  Alleinherrschaft  durch  die  Unend- 
lichkeit des  Weltalls  kennen;  aus  den  Weltmechanismus  in  seiner 
Unendlichkeit,  Gesetzmässigkeit  und  Selbständigkeit  trat  uns  der 
Gottesbegriff,  aus  der  Möglichkeit  der  Welt  „die  Notwendigkeit 
Gottes"  hervor  (oben  S.  477  f.).  Aber  Gott  ist  nicht  die  Welt, 
nicht  in  der  Welt;  die  Welt  ruht  in  ihm,  er  steht  unerkennbar 
hinter  der  Welt,  die  sich  nach  ihren  eigenen  von  Gott  gegebenen 
Gesetzen  in  Freiheit  entwickelt. 

Nun  war  die  Erdbeschreibung  ja  nur  ein  Teil  der  Weltkennt- 
nis, der  Propädeutik  für  die  Erkenntnis  der  Welt.  Der  andere 
Teil  war  ja  die  Kenntnis  des  Menschen,  die  Anthropologie,  wir 
können  allgemeiner  sagen,  die  Kenntnis  des  organischen  Lebens. 
Und  hier,  in  diesem  zweiten  Teil  der  Propädeutik  für  die  Erkennt- 
nis der  Welt,  kommt  Kant  zu  ganz  analogen  Resultaten,  wie  in 
jenem  ersten.  Dort  war  es  der  Mechanismus  mit  seiner  gesetz- 
mässigen  Freiheit,  die  auf  Gott  als  Urgrund  hinwies:  hier  haben 
wir  den  Begriff  der  Teleologie  als  Grundkraft  anzunehmen,  zu 
der  wir  uns  eine  absichtlich-wirkende  Ursache,  ein  intelligentes 
Wesen  hinzudenken  müssen.  Aber  ebensowenig,  wie  wir  aus  dem 
Mechanismus  der  Welt  die  Existenz,  das  Wesen  Gottes  beweisen 
können,  ebensowenig  können  wir  das  aus  der  teleologischen  Beur- 
teilung der  Welt.  Die  zweckentsprechende  Entwickelung  ist  eben 
der  Mechanismus  der  organischen  Welt. 

Auch  hier  also  fühlte  sich  Kant,  wie  bei  der  Erklärung  von 
Eaum  und  Zeit,  zum  Kriticismus  gedrängt:  Der  Begriff  einer  ob- 
jektiven Zweckmässigkeit  der  Natur  gilt  ihm  als  „criterischesPrincip" 
der  reflektierenden  Urteilskraft,  der  reinen  Vernunft.  Aber  zum 
Kritizismus  selber  kam  er  nicht  durch  seine  geographischen  oder 
anthropologischen  Studien.  Diese  Richtung  lag  tiefer  in  ihm :  Er 
wollte  die  Welt  begreifen;    so  musste  er  Welt  und  Menschheit  er- 


r.o' 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       Oo  ( 

kennen.  Die  Läuterung-  des  herrschenden  Gottesbegriffs  ist  wohl 
die  erste  Stufe  seines  kritischen  Vorg-ehens.  Allerdiug-s  war  ja 
der  anthropomorphische  Gottesbeg-riff  gerade  in  der  Geographie  und 
Kosmologie  vorherrschend,  aber  Kaut's  Weg  ist  der  umgekehrte. 
Nicht  von  seinen  kosmologischen  Studien  kam  er  zu  jenen  höheren 
Auffassungen;  sondern  weil  er  diese  schon  in  sich  trug,  hauptsäch- 
lich wohl  noch  als  sollicitatio,  beschäftigte  er  sich  zunächst  mit 
jenen  Wissensgebieten,  wo  er  die  falschen  Auffassungen  am  deut- 
lichsten vorfand.  Seine  neuen  Gedanken  aber  haben  die  breite 
Basis  der  gesammten  geschichtlichen  und  philosophischen  Ent- 
wickelung  der  Menschheit.  So  konnte  er  von  dem  nisus,  der 
sollicatio  des  Neuen,  die  er  in  sich  fühlte,  w^ohl  sagen:  „hierauf 
gründe  ich  mich.  Ich  habe  mir  die  Bahn  schon  vorgezeichnet,  die 
ich  halten  will.  Ich  werde  meinen  Lauf  antreten  und  nichts  soll 
mich  hindern,  ihn  fortzusetzen."  Das  ist  der  Sinn  der  berühmten 
Worte,  die  er  zur  Wahrheit  gemacht  hat.  Zu  seineu  Ideen  braucht 
er  Welt  und  Menschheit. 

Anfangs  stellte  er  beide  in  engsten  Zusammenhang;  in  der 
Naturgeschichte  des  Himmels  nahm  er  die  Organismen  als  direkt 
entstanden  aus  der  Materie,  führte  er  die  höhere  Entwickelung 
des  geistigen  Wesens  auf  die  feinere  Bildung  der  planetarischen 
Materien  zurück.  Diesen  „Jünglingsgedanken"  hat  er  nicht  weiter 
geführt ;  er  hat  überhaupt  die  geographisch-kosmologischen  Be- 
trachtungen später  nicht  mehr  weiter  geführt.  Das  war  auch 
nicht  mehr  nötig:  denn  durch  die  kritische  Lehre  von  den  Auf- 
fassungsformen des  inneren  Sinns,  vom  Ding  an  sich,  war  die 
Welt  der  Erscheinungen,  der  Auffassungen  des  äusseren  Sinns  in 
ihrer  Möglichkeit  für  uns  erklärt.  Es  blieb  nur  noch  die  Dar- 
legung der  Fülle  der  Erscheinungen,  des  Zusammenhangs,  der 
Geschichte  derselben  im  Sinne  der  Weltfreude,  des  Begreifens,  des 
Erschliessens,  der  Nutzung  der  Welt.  Dagegen  hat  ihn  die  Anthro- 
pologie auch  späterhin  mehr  beschäftigt,  was  keiner  Begründung 
bedarf. 

Wenn  wir  nun  die  schon  in  unserer  ersten  Vorlesung  ge- 
stellte Frage  wiederholen :  was  war  für  Kant  die  Geographie  und 
die  Anthropologie?  so  können  wir  sie  jetzt  abschliessend  beant- 
worten. Sie  waren  ihm  unentbehrlich  als  Material  der  Erkenntnis 
der  Welt;  und  ferner  als  Probiersteine  für  seine  neuen  Ideen. 
Was  er  zu  sagen  hatte,  war  nur  dann  von  wirklichem,  allgemeinem, 
menschlich-generellem   Wert,    wenn  die  Welt,    die  Menschheit  eine 


538  G.  Gerland, 

Eiuhoit  war;  beides  miisste,  kouute  er  uachweiseu,  weim  sich  die 
grossen  Probleme,  welche  sie  boteu,  durch  seiue  Darlegimgeii  be- 
grifflich bewältigen,  ordnen  Hessen;  wenn  er  zugleich  nachweisen 
konnte,  dass  jede  andere  Art  des  Verständnisses  unmöglich  sei. 
Von  hier  aus  ist  es  auch  klar,  warum  er  die  grossen  Oesammt- 
heiten  vorwiegend  betrachtet;  warum  er  die  Einzelnheiten  nicht 
eingehender  behandelt,  ja  sie  liegen  lässt  oder  in  einmal  ange- 
nommener Denkbewältigung  bleibend  festhält.  An  ihnen  lag  ihm 
nichts;  sie  bezeichnen  nur  seinen  Weg  und  seine  Weltfreude. 

Was  aber  war  Kant  für  die  Geographie  und  für  die  Anthro- 
pologie? Sachlich  für  beide  nicht  sehr  viel;  auch  für  sie  liegt 
seine  Bedeutung  auf  kritischem  Gebiet  und  gerade  durch  seinen 
Kritizismus  hat  er  für  beide  Wissensgebiete  sehr  viel  geleistet. 
Zunächst  durch  die  klare,  reine  Fassung  des  Gottesbegriffs,  wodurch 
allein  eine  wissenschaftliche  Weltbetrachtung  und  Weltauffassuug 
möglich  war;  und  ferner  durch  die  Reinigung,  man  kann  wohl 
sagen  durch  die  Neubildung  des  wissenschaftlichen  Bewusstseins. 
Auch  die  Freude  an  Welt  und  Menschheit,  an  der  Fülle  des 
Lebens,  wie  sie  seinen  Vorlesungen  zu  Grunde  lag,  muss  aner- 
kannt werden. 

Durch  alles  dies  nimmt  Kaut  eine  ganz  eigenartige  Stellung 
ein  nicht  nur  in  der  Wissenschaft,  sondern  in  der  ganzen  Welt- 
auffassung der  Menschheit;  eine  Stellung,  die,  um  sie  in  ihrer 
ganzen  Bedeutung  zu  verstehen,  uns  wieder  in  die  frühesten  Zeiten 
der  Menschheit  zurückführt  und  den  ganzen  Gang  ihrer  Ent- 
wickelung  von  ihrer  ersten  Entstehung  bis  jetzt  zu  betrachten 
zwingt. 

Die  Entwickeluug  der  Menschheit,  der  Weltkultur,  wie  sie 
bis  jetzt  in  den  europäischen  Völkern  gipfelt,  zeigt  drei  grosse 
Phasen,  die  sich  in  sehr  langen  Zeiträumen  auseinander  gebildet 
haben,  die  aber  noch  alle  drei  neben-  und  ineinander  weiterleben,  auch 
stets  neben-  und  ineinander  weiter  bestehen  werden;  denn  sie  haben 
alle  drei  der  Menschheit  für  alle  Zeiten,  für  ihre  ganze  Existenz 
grundlegendes  und  unentbehrlichstes  geschaffen  und  jeder  wirkliche 
Gewinn  der  Entwickeluug  bleibt  der  Menschheit  —  in  Folge  soziolo- 
gischer Gesetze  —  unzerstörbar  erhalten.  Wir  stehen  im  Anfang  der 
dritten  dieser  Entwickelungsphaseu.  Nur  die  erste  der  selben  um- 
fasst,  bis  jetzt  fortdauernd,  die  gesamte  Menschheit  gleichmässig:  die 
zweite  und  namentlich  die  dritte,  die  ja  eben  erst  beginnt  -  solche 
Gesamtphasen   bedürfen   lange   Zeiträume   —    zeigen   viel   engere 


Iinraanuel  Kant,  seine  gcograph.  und  anthropolog.  Arbeiten.       539 

Aiisdehming:;  ihre  Verbreitung  von  ihrem  Entstehiingspiinkt  aus 
folgt  den  jedesmaligen  historischen  Verhältnissen  der  Menschheit. 
Neben  ihnen  haben  sich  aus  der  ersten  Phase  verschiedene  Weiter- 
bildungen entwickelt,  die  manches  Analogen  zu  jenen  Hauptphasen 
zeigen,  ohne  ihre  Höhe,  ihren  generellen  Entwickelungs-  und  Zu- 
kunftswert zu  besitzen.  Die  grosse  Kulturentwickelung  der  Welt 
beruht  auf  diesen  drei  Phasen,  soweit  wir  sehen  können,  denen  jeder 
Ausblick  in  irgend  fernere  Zukunft  versagt  ist;  der  Kulturbesitz 
der  Menschheit  wurde  und  wird  durch  alle  und  in  allen  drei  Ent- 
wickelungsphasen  gewonnen.  Denn  jede  von  ihnen  bedeutet  die 
psychische  Bewältigung  aller  tellurisch  gegebenen  Sinneswahr- 
nehmuugen  durch  die  jedesmalige  Menschheit  nach  der  Aufnahme- 
fähigkeit dieser  jedesmaligen  Menschheit  —  d.  h.  die  jedesmalige 
dieser  Aufnahmefähigkeit  entsprechende  Umsetzung  des  durch  die 
äusseren  Sinne  Gegebenen  in  Folge  unbewusster  psychophysischer 
Eeaktion  in  generelles  Denkeigentum,  in  generelle  psychische  Kraft 
für  die  Menschheit.  Diese  Phasen  mussten  lang  sein,  denn  sie 
werden  erst  durch  die  jedesmalig  höhere  w^eitergeführt  da  und 
dann,  wo  und  wann  die  Menschheit  durch  den  früheren  psychischen 
Erwerb  höhere  generelle  Kraft  gew^onnen  hat.  Daher  ist  die  Un- 
regelmässigkeit der  Niveauflächen  dieser  Phasen,  ihr  Auf-  und  Ab- 
steigen, ihr  längeres  oder  kürzeres  Andauern  da  und  dort  wohl 
begreiflich. 

Die  erste  dieser  Phasen,  die  wir  in  der  zweiten  Vorlesung 
(S.  15)  schon  kurz  betrachten  mussten  bei  den  Anfängen  der 
Geschichte  der  Erdkunde,  geht  zurück  in  anfanglose  Zeiten.  Sie 
ist  bezeichnet  durch  die  völlige  Alleinherrschaft  der  äusseren 
Sinne ;  sie  ist  die  Zeit  der  sinnlichen  Urwahrnemung  der  Mensch- 
heit, ihres  tellurischen  Einlebens,  ihres  Besitznehmens  der  Erde. 
Auf  alle  tellurischen  Einwirkungen  reagiert  der  psychophysische 
Apparat  des  w^enig  entwickelten  Individuums,  reagiert  die  Summe 
dieser  sehr  gleichmässig  entwickelten  Individuen,  die  menschliche 
Gesellschaft,  die  Menschheit,  ganz  gleichmässig  durch  Umwandlung 
der  Wahrnehmungen  in  festen  Besitz  von  Vorstellungen,  Vor- 
stellungsverknüpfungen, Urteilen,  Begriffen  und,  veranlasst  durch 
diese,  von  Tätigkeiten;  die  Vorstellungen  und  ihre  Verknüpfungen 
sind  durchaus  anthropomorphistisch ;  alle  Sinneswahrnehmungen 
werden  mit  menschlichen  Empfindungen  nach  unbewusster  Not- 
wendigkeit verknüpft  und  ebenso  unbewusst-notwendig  nach  Aussen 
projiciert.      Dadurch    wird    die    ganze   Welt    umgewandelt   in    ein 


540  G.  Gerland, 

System  menschlicher  Wesen,  die  anf  menschliche  Weise  g^eg-en  den 
Menschen  reagieren.  Denn  in  dieser  Zeit  der  absolnten  Sinnlichkeit, 
der  völligen  Abhängig-keit  des  Menschen,  der  Menschheit  von  den 
Sinneseindrücken,  miiss  letztere  der  Mensch,  um  sie  zu  begreifen,  in 
menschlich-psychische  Vorstellungen  umsetzen;  der  Anthropo- 
morphismus,  kann  mau  sagen,  ist  für  diese  Stufe  der  „innere 
Sinn" ;  er  hat  sich  als  solcher  bei  den  Naturvölkern,  aber  auch 
bei  den  Kulturvölkern  in  zahlreichen  Abstufungen  und  in  einer 
Schaar  von  Relikten  erhalten,  welche  auch  unser  ganzes  Leben 
noch  durchsetzen. 

Es  ist  erstaunlich,  wie  dies  ganze  Leben  von  seinem  „inneren 
Sinn"  beherrscht  war.  Die  authropomorphistische  Gesamtauffassuug 
der  Welt  ist  der  Gottesbegriff;  die  authropomorphistische  Auf- 
fassung der  Einzeldinge  ergiebt  den  Fetischismus,  den  Animismus, 
Die  ganze  Welt  ist  dem  Menschen  entgeg-engesetzt,  feindlich, 
selbständig-,  aber  menschhch,  d.  h.  anthropomorphisch  belebt,  wie 
der  Himmel,  mit  dem  sie  unmittelbar  zusammenhängt;  unabhängig, 
in  vieler  Beziehung  stärker  als  der  Mensch,  daher  von  fremder 
göttlicher  Kraft  durchdrungen,  die  man  je  nach  der  Stufe,  d.  h. 
der  räumlichen  und  der  intensiven  Macht  des  Eindrucks,  für  mehr 
oder  weniger  übermächtig,  also  heilig  halten  muss,  deren  Heilig- 
keit je  nach  ihrer  Macht  milde  gestimmt,  verehrt  werden  muss. 
Daher  entwickelt  sich  ein  System  von  Heiligkeiten,  vom  Himmel 
an  durch  Welt  und  Menschheit,  das  Tabusystem,  welches  die  sämt- 
lichen Vorstellungen  gefangen  nahm  und  auf  denen  am  meisten 
lastete,  welche  an  dieser  Heiligkeit  am  wenigsten  Anteil  hatten, 
also  auf  den  wenigst  starken  Menschen,  auf  Frauen,  Kindern,  be- 
siegten Feinden,  besitz-  und  eiuflusslosen  Individuen, 

Diese  Vorstellungen  beherrschten  die  ganze  Welt  gleich- 
massig;  die  Religion,  das  Recht,  das  gesellige  Leben,  den  Stamm 
(oder  Staat),  die  Familien  hingen  von  ihnen  ab.  Trotzdem  sind  die  In- 
dividuen fast  noch  gleichwertig;  jedes  fertige  Individuum  steht  dem 
anderen  gleichgültig  gegenüber;  nur  durch  die  Fremdartigkeit  und 
Feindseligkeit  der  Natur  entwickelt  sich  ein  Geselligkeitsbedürfnis, 
bei  völliger  nicht  liebloser  aber  liebeleerer  Gleichgültigkeit  des 
Individuums  gegen  das  Individuum,  wie  sie  sich  in  der  Sklaverei 
zeigt;  die  völlig  naive  Sinnlichkeit  der  eigenen  Person  dominiert 
überall,  auch  in  der  Aesthetik,  der  Kunst,  die  z.  T.  hoch,  in 
Griechenland  und  Egypten  gerade  zu  mustergültig  entwickelt  ist. 
Ueberhaupt  sind  die  verschiedenen  Völker,  deren  erste  Lostrennung 


Immanuel  Kant,  seine  geograph.  und  antliropolog.  Arbeiten.       541 

in  sehr  frühe  Aiifang-szeiten  fällt,  gerade  durch  die  Entwickelung- 
ihrer  F'ähig-keit,  sinnlich  wahr-  und  aufzunehmen,  sehr  ver- 
schieden. 

Ich  kann  hier  nur  kurz  andeuten,  was  ich  an  anderem  Ort 
weiter  auszuführen  g-edenke.  Diese  völlig*  sinnliche  und  völlig- 
naive  Stufe  hat  für  die  Gesamtmenschheit  und  ihre  Entwickelung 
grundlegenden  Einfluss.  Was  ihr  in  der  Entwickelungsgeschichte 
und  auch  im  heutigen  Leben  der  Völker  direkt  angehört,  ihre 
Leistungen  also  für  die  Gesamtmenschheit,  mögen  sie  nützlich  oder 
schädlich  sein,  besteht  in  Folgendem:  zunächst  gehört  ihr  an  die 
erste  Welt-  und  Himmelskenntnis;  der  Gottesbegriff,  die  Ordnung 
der  Welt  und  des  gesamten  Lebens  von  ihm  aus,  also  das  gesamte 
Tabusj^stem,  der  gesamte  Mythen-  und  Märchenschatz  der  Völker; 
ferner  die  Grundlagen  des  Staats-  und  Familienlebens;  die 
Sklaverei;  die  Anfänge  des  Rechtes;  die  Anfänge  der  Weltnutzung; 
eine  Reihe  sozialer  Sitten,  wie  Beschneidung,  Taufe  u.  s.  w.  i\Ian 
sieht,  wie  viel  Bleibendes  bis  auf  unsere  Tage  sich  hier  zeigt. 
Am  wichtigsten  ist  der  alles  beherrschende  Gottesbegriff  und  sein 
Tabu,  der  massenhafte  Aberglaube  ebendaher,  die  Weltauffassung 
nach  den  natürlichen  Sinneswahrnehmungen,  um  nur  das  zu  er- 
wähnen, was  uns  für  die  Betrachtung  der  Stellung  Kant's  und 
seiner  Philosophie  das  Wichtigste  ist. 

Die  zweite  Stufe  entwickelt  sich  mit  psychologischer  Not- 
wendigkeit aus  der  ersten,  sehr  allmählich  und  bei  verschiedenen 
Völkern  verschieden,  je  nach  ihrem  Oharakter.  Denn  die  durch 
die  Sinneswahrnehmungen  entstandenen  Vorstellungen  und  Begriffe 
werden  immer  zahlreicher  und  verfallen  dadurch  einer  Vergleichung, 
sodann  einer  Wertung  nach  den  Gefühlen,^)  welche  sie  hervorrufen, 
nach  den  Verhältnissen,  in  denen  sie  zu  einander  treten.  So  ent- 
wickeln sich  die  zunächst  bloss  sinnlichen  Wahrnehmungen  in 
ästhetische  Gefühle;  das  Bedürfnis  nach  Geselligkeit  in  Mitgefühl, 
in  teilnehmende  Mitempfindung  in  Liebe;  das  Gefühl  des  Schreckens, 
der  Furcht,  der  Ohnmacht  und  Abhängigkeit  zu  Ehrfurcht,  Ge- 
horsam, freiwillige  Unterordnung;  es  entwickelt  sich  die  ganze 
Reihe  der  sittlichen  Gefühle,  zu  denen  wir  auch  das  Wahrheits- 
gefühl stellen  dürfen. 

Diese  Entwickelung  tritt  bei  verschiedenen  Völkern  ein,  bei 
Indern  sowohl  (Buddhismus)    wie    bei    den  Semiten;    sie   ist  nicht 


1}  Vergl.  Waitz,  Lehrbuch  der  Psychologie  272  f. 


542  G.  Gerland, 

mehr  iicaiv,  sondern  sentimentalisch,  indem  durch  dies  Gefühlsleben 
zugleich  ein  Ideal,  aber  ein  stets  unerreichbares  gegeben  ist. 

Aber  indem  diese  zweite  Stufe  sich  aus  der  ersten  heraus- 
entwickelt, bringt  sie  durch  und  bei  ihrer  Entwickelung  auch  zugleich 
eine  Kritik  der  früheren  Zustände.  Natürlich  sind  es  die  auf 
jener  ersten  Stufe  wichtigsten  Begriffe,  welche  kritisch  behandelt, 
d.  h.  durch  die  neuen  Auffassungen  geläutert  werden.  So  zunächst 
der  Gottesbegriff,  der  ja  der  alles  beherrschende,  ja  unterjochende 
Begriff  der  Stufe  der  Naturabhängigkeit,  der  blossen  Sinnlichkeit 
W'ar;  mit  ihm  zugleich  die  schweren  Satzungen  der  zahllosen,  über 
Alles  und  überall  herrschenden  Tabubegriffe  und  ebenso  zugleich 
das  Verhältnis  von  Mensch  zu  Mensch.  Der  furchtbare  allmächtige 
Gott  Himmels  und  der  Erden  wurde,  ohne  von  seiner  Erhabenheit 
zu  verlieren,  zum  liebenden  Vater  des  Weltalls,  der  Menschheit, 
des  Einzelnen;  ihm,  dem  Urbild  der  himmlischen  Reinheit,  konnte 
nur  die  Reinheit,  der  Reine  gefallen  und  wie  er  die  Welt  liebte  und 
segnete,  wie  er  jedem  einzelnen  ein  liebender  Vater  war,  so  konnte 
auch  ihm  nur  der  gefallen,  der  seinen  Nächsten  liebte  wie  sich 
selbst.  Der  reinste,  vollkommenste  Verkündiger  dieser  neuen  Phase 
ist  Christus;  er  hob  die  Menschheit  auf  eine  so  neue  Stufe,  dass 
er  wohl  für  den  Sohn  Gottes,  den  er  ja  als  liebenden  Vater  kennen 
gelehrt  hatte,  gelten  konnte.  Und  doch  kam  er  nicht  um  auf- 
zulösen, sondern  um  zu  vollenden.  Was  ist  es,  so  müssen  wir 
hier  von  unserem  geschichtlich-wissenschaftlichen  Standpunkt  fragen, 
was  ist  es,  was  er  der  Menschheit  anknüpfend  an  jene  erste  Stufe, 
brachte?  Zuerst  also  die  Läuterung,  Verklärung  und  doch  jetzt 
erst  die  von  rein  menschlichen  Auffassungen  ausgehende  Begreif- 
lichkeit des  Gottesbegriffs  bei  aller  seiner  Vertiefung  als  Vater 
im  Himmel,  als  unser  Vater  im  Himmel;  sodann  der  Kampf 
gegen  die  zahllosen  Tabus,  der  eine  der  wichtigsten  und  unab- 
lässigsten Tätigkeiten  Christi  war;  das  Betonen  der  Notwendigkeit 
menschlicher  Reinheit  in  Folge  der  Reinheit  Gottes  —  selig  sind, 
die  reines  Herzens  sind;  denn  sie  werden  Gott  schauen.  Und 
ferner  die  Begründung  des  Mitgefühls,  der  Nächstenliebe;  die 
Ausdehnung  der  Liebe  zu  dem  Nächsten,  aber  auch  dieser  Pfhcht 
der  Nächstenliebe,  auf  alle  Menschen,  auf  alle  Völker;  und  dadurch 
die  prinzipielle  Aufhebung  der  Sklaverei;  die  Erhebung  der  alten 
Tabusatzuugen  der  weltlichen  Herrschaft  in  freien  von  Gott  ge- 
wollten Gehorsam  —  gebet  deoi  Kaiser,  was  des  Kaisers  ist,  ein 
soziologisch    äusserst    wichtiger  Satz.     Und    dass   es    auch  diesem 


Immanuel  Kant,  seine  geograpli.  und  anthropolog.  Arbeiten.       543 

SO  unendlich  tiefem  Gemütsleben  nicht  an  ästhetischen  Gefühlen 
fehlte,  (las  bezeug-t  das  Wort  von  den  Lilien  auf  dem  Felde,  die 
schöner  sind  als  alle  Pracht  Salomos;  aber  dieses  ästhetische 
Wohlgefallen  an  der  Natur  ist  vereint  mit  warmer  Liebe  und  Teil- 
nahme für  die  Natur:  „sehet  die  Vög-el  unter  dem  Himmel!" 

So  tief  wie  in  Christus  hat  sich  diese  zweite  Phase  der  Ent- 
wickelung:  der  Menschheit  nirgends  sonst  g-ezeigt.  Analogien  und 
Aehnlichkeiten  gibt  es  wohl  auch  sonst,  die  aber  unendlich  tief 
unter  dieser  höchsten  Entwickelung  zurückblieben.  Und  so  hat 
sich  diese  zweite  Phase  über  die  ganze  Welt  hin  ausgebreitet,  sie 
ist  noch  im  Ausbreiten  begriffen  und  die  Welt  verdankt  dieser 
neuen  Stufe  der  Entwickelung,  der  Stufe  des  Gemüts,  viele  der 
höchsten  unvergänglichen  Güter,  Man  kann  sagen,  ihr  „innerer 
Sinn"  ist  die  Liebe. 

Aber  die  erste  Phase,  die  der  Sinnlichkeit,  blieb  auch  in 
Geltung,  ja  sie  drängte  sich  wieder  von  neuem,  als  neue  Völker 
herandrängten,  auch  auf  dieser  höheren  Stufe  hervor,  dieselbe  viel- 
fach trübend,  störend.  Beide  Phasen  sind  ja  unvergänglich,  so 
lange  die  sinulichen  Wahrnehmungen  bleiben,  so  lange  das  Ge- 
fühlsleben der  Menschheit  nicht  endet. 

Aber  um  nebeneinander  zu  bestehen,  ohne  dass  das  Höhere 
dem  Tieferen  erliegt,  dazu  ist  noch  eine  weitere  Entwickelung 
nötig;  eine  Entwickelung,  welche  zu  sichten  vermag  und  der  Sinn- 
lichkeit und  dem  Gemüt  gleichberechtigt  und  ordnend  gegenüber- 
steht. Es  ist  dies  die  dritte  Phase  des  Lebens  der  Menschheit, 
in  welcher  der  Intellekt,  der  Verstand  des  Menschen  zu  der 
Stellung  und  Wirkung  kommt,  welche  ihm  im  Leben  der  Mensch- 
heit gebührt  —  auch  nicht  eine  auflösend-zerstörende,  sondern 
eine  vollendende,  durch  richtige  Wertschätzung  schützende,  ord- 
nende Wirkung. 

Was  beide  Phasen,  die  wir  bisher  betrachteten,  durch  ihre 
Naturbeschaffenheit  besitzen  —  und  besitzen  müssen,  wenn  sie 
andei'S  wirklich  notwendige  Entwickelungsformen  des  menschlichen 
Geschlechtes  darstellen  —  die  menschlich-generelle  Bedeutung,  so 
dass  sie  zum  Gattungsbegriff  der  Menschheit  gehören,  die  Mensch- 
heit ohne  sie  nicht  zu  denken  ist,  und  die  Entwickelung  der  Summe 
aller  Individuen,  der  Menschheit  ihrer  eigensten  Natur  nach  sie 
durchmachen  muss:  das  zeigt  sich  auch  bei  der  dritten,  der  in- 
tellektuellen Phase.  Die  Zeit  freilich,  die  für  die  grossen  Teile 
der  Menschheit   zur   Durchlaufuug   dieser  Stufen   gebraucht   wird, 


544  G.  Gerland, 

ist  verschieden.  Viele  Völker  sind  bis  jetzt  auf  der  ersten  Stufe 
geblieben;  die  zweite  ist  bei  vielen  nur  mangelhaft  erreicht,  die 
di'itte  nur  bei  den  höchstentwickelten  Kulturvölkern.  Auch  der 
Kntwickelungsgang-  ist  verschieden.  Zu  der  höchsten  Stufe  sind 
nur  die  Völker  g-elang-t,  deren  psychophysischer  Apparat  durch  die 
günstigsten  tellurischen  Einflüsse  besonders  hoch  entwickelt  ist, 
die  europäischen  Kulturvölker;  auch  die  Phase  des  Gemüts  ist 
nicht  überall  in  gleicher  Reinheit  entwickelt  und  ganz  allgemein 
ist  nur  die  erste  Phase,  die  Phase  der  Sinnlichkeit.  Dies  gilt  für 
die  Menschheit,  die  Völker,  die  Individuen.  Aber  von  den  höheren 
Entwickelungsstufen  verbreitet  sich  das  Gewonnene  auch  über  die 
niedrigen  Stufen.  Die  höchst  stehenden  Völker  haben  die  Vorteile, 
die  ihnen  zu  Teil  wurden,  nicht  bloss  für  sich  errungen,  von  ihnen 
gehen  sie  mit  Naturnotwendigkeit  nach  dem  Gesetz  des  Projektions- 
zwanges, durch  Lehre  und  Beispiel  auch  auf  die  anderen,  zurück- 
gebliebenen Stufen  über.  Von  hier  aus  fällt  auf  das  Aussterben 
der  Naturvölker  ein  milderes  Licht.  Sie  können,  nach  dem  grossen, 
im  Wesen  der  Menschheit  liegenden  Entwickeluugsgang  der 
Menschheit,  nicht  Naturvölker  bleiben.  Die  zweite  Phase,  die 
Gemütsentwickelung,  die  Betrachtung  der  Welt  nach  den  Gemüts- 
bedürfnissen, konnte  erst  eintreten,  nachdem  die  Ueberherrschaft 
der  Sinnlichkeit  bew^ältigt  war  durch  ein  ausgedehntes  System 
fester  Anschauungen  und  fertiger  Begriffe,  w^elche  sich  durch  die 
ganze  Menschheit  entwickelten.  Erst  diese  Anschauungen  und 
Begriffe  konnten  sich  zu  bleibenden  Gefühlen  entwickeln  und  als 
solche  ihre  Wertung  empfangen. 

Aber  der  Mensch  und  ebenso  die  Menschheit  empfindet  und 
fühlt  nicht  bloss,  er  denkt,  er  urteilt  auch;  jede  Wertung  enthält 
ja  schon  ein  Urteil.  Das  Vermögen  der  Begriffe,  der  Urteile  ist 
der  Verstand;^)  und  dadurch  wird  er  auch  das  Vermögen  der 
Regeln,  das  Vermögen  der  Gesetze,  denn  Gesetze  sind  objektive 
Regeln ;  „er  ist  selbst  die  Gesetzgebung  für  die  Natur-',  „der 
Quell  der  Gesetze  der  Natur  und  mithin  der  formalen  Einheit 
der  Natur",  denn  „alle  empirische  Gesetze  sind  nur  Bestimmungen 
der  reinen  Gesetze  des  Verstandes,  unter  welchen  und  nach 
deren  Norm  jene  allererst  möglich  sind,  und  die  Erscheinungen 
eine  gesetzliche  Form  annehmen,  sowie  auch  alle  Erscheinungen 
unerachtet    der  Verschiedenheit    ihrer    empirischen   Form    dennoch 


1)  Krit.  d.  r.  Vernunft,  1781.    S    126.  Ak.  A.,  Bd.  4. 


Immanuel  Ttant,  seine  geograpli.  und  anthropolog.  Arbeiten.      545 

jederzeit  den  Bedingungen  der  reinen  Form  der  Sinnlichkeit  ge- 
mäss sein  müssen".^)  „Kant  meint,"  sagt  Windelband ^)  zu  diesen 
Worten,  „dass  wir  von  einer  allgeaieineu  und  notwendigen  Erkennt- 
nis der  Natur  nur  unter  der  Bedingung  sprechen  dürfen,  wenn  das, 
was  wir  Natur  nennen,  nicht  eine  Welt  von  Dingen  an  sich, 
sondern  vielmehr  der  nach  den  allgemeinen  Gesetzen  unseres  Geistes 
gedachte  Zusammenhang  von  Erscheinungen  ist."  „So  schliesst 
Kaufs  Naturphilosophie,"  fährt  Windelband  an  einer  späteren 
Stelle  fort,^)  „mit  der  Rückkehr  zu  der  phäuomeuahstischeu  Grund- 
lage, auf  der  sie  beruht."  „Das  Weltbild"^)  in  unserem  Kopfe  mit 
seinem  gesamten  Inhalt  und  seinen  gesamten  Formen  ist  ein 
Produkt  unserer  Organisation,  ein  Produkt,  das  aus  ihr  mit  innerer 
Notwendigkeit  und  Allgemeingiltigkeit  hervorgebt,  und  von  dem 
daher  gar  kein  Schluss  auf  eine  dieser  Organisation  etwa  gegen- 
überstehende Welt  möglich  ist.'' 

So  denken  wir  jetzt  alle,  und  alle  werden  immer  mehr  so 
denken  lernen ;  es  ist  der  Gedankenkreis,  das  Bewusstsein,  zu 
welchem  die  Wissenschaft  sich  auf  manchen  Stufen  emporgearbeitet 
hat,  bis  Kant  es  in  voller  Klarheit  und  vollumfassend  ausge- 
sprochen, bewiesen,  der  Wissenschaft,  der  Kulturmenschheit  es  als 
xTrif.ia  elg  del  gegeben  hat.  Denn  jetzt  erst  ist  der  Kreis  des 
Menschlich-Generellen,  wie  es  ebensowohl  jedes  Individuum,  nach 
seinen  individuellen  Schranken,  in  der  Auffassung  der  Aussen- 
welt,  in  seinem  Gegenübertreten  gegen  diese  Aussenwelt  in 
Anwendung  bringt,  völlig  abgeschlossen.  Das  blosse  Sinnen- 
leben konnte,  schon  wegen  der  menschlich  -  generellen  Eigen- 
art, nicht  der  einzige  Grundzug  des  Lebens  bleiben,  auch  das 
hinzutretende  Gemüt,  welches  die  Sinnlichkeit  reinigte  und  durch- 
geistigte, erschöpfte  noch  nicht  die  menschlich-generelle  Geistes- 
kraft; jetzt  erst,  wo  Sinnlichkeit  und  Gemüt  durch  den  Intellekt 
die  Vernunft  durchleuchtet,  in  ihrem  Wesen  begriffen  und  dadurch 
in  ihre  richtige  Stellung  gebracht  sind,  jetzt  erst  ist  der  ganze 
Kreis  des  Menschen wesens  abgeschlossen,  jetzt  erst  die  Möglich- 
keit gegeben,  dass  die  Menschheit  den  ganzen  Kreis  der  tellu- 
rischen Einwirkungen  in  psychische  Kraft  umsetzt,  und  zwar  in 
voll-menschUche,   nicht  einseitig   auf  Sinne,  Gemüt    oder  Verstand 


1)  Eb.  S.  128. 

2)  Geschichte  der  neueren  Philosophie  2,  S.  71. 

3)  Ebend.  S.  87. 

*)  Windelb;  ebend. 

Kaotstudien   X.  30 


546  G.  Gerland, 

gerichtete  Erkenntnis-  und  Geisteskraft.  Denn  alle  drei  Grund- 
kräfte des  Menschenwesens  bleiben  jetzt  im  gleichen  geistigen 
Leben  vereint,  entwickeln  sich  mit  einander,  eine  harmonisch  an 
der  anderen ;  wahre  Harmonie  des  Geistes,  des  Lebens  der  Mensch- 
heit kann  sich  erst  jetzt  entwickeln  —  freilich  erst  in  unendlich 
langer  Zeit.  Das  letzte  Ziel  kennen  wir  nicht  und  keine  Phan- 
tasie kann  aushelfen. 

Diese  dritte  Phase  bringt,  ebensowenig  wie  die  zweite,  der 
Menschheit  sachlich  neues;  während  die  zweite  Werte  gab,  die, 
nicht  bloss  sinnlich,  das  ethische  Leben  der  Menschheit  be- 
gründeten, während  sie  dadurch  besonders  beglückend  war, 
gibt  die  dritte,  entsprechend  der  ßeifestufe  des  erwachsenen 
Lebens,  die  menschlich  generelle,  die  für  den  Menschen  also 
objektive  Wahrheit  und  durch  sie  die  richtige  Form  und 
Wertung  des  Sinnen-  und  Gemütslebens.  Nach  ihr  strebte  Kant; 
nicht  nach  einzelnen  Wahrheiten,  d.  h.  Erkenntnissen  einzelner 
Dinge,  sondern  nach  der  Weltenwahrheit,  der  generell-menschlichen 
Wahrheit.  Wieder  sehen  wir  hier  Kant's  Gang  klar  beleuchtet: 
Wissen  von  Erde  und  Menschheit  mussten  ihm  „propädeutische" 
Stufen  sein.  Vor  allen  Dingen  musste  der  Gottesbegriff  von 
neuem  behandelt  werden.  Ihn  hatte  die  erste  Phase  geschaffen, 
die  sinnliche  Auffassung  der  Welt;  die  zweite  Phase  hatte  ihn, 
entsprechend  der  unendlichen  Geistestiefe  ihres  Stifters,  vertieft, 
ihn  ethisch  unendlich  geläutert,  bis  er  dann  wieder  durch  spätere 
Einwirkungen  der  ersten  Stufe  getrübt  war.  Ihm  wandte  sich 
daher  Kant  vor  allen  Dingen  zu,  an  ihm  hat  er  alles,  was  der 
ersten  Stufe  angehört,  vernichtet,  die  christliche  Vertiefung  aber 
beibehalten  und  wieder  hergestellt  durch  Beseitigung  alles  nur 
sinnlichen. 

Die  beiden  ersten  Phasen  der  Welt-  und  namentlich  der 
Gottesauffassung  bedurften  eins,  um  jede  auch  ihrerseits  zu  ihrer 
wahren,  reinsten  Bedeutung  zu  gelangen :  sie  bedurften  der  Dar- 
legung der  Schranken  der  Menschheit,  des  menschlichen  Erkennens. 
Kant's  Lehre  von  dem  „inneren  Sinne",  von  der  intelligibeln  Welt, 
vom  Ding  an  sich  hat  sie  dargelegt  und  dadurch  eine  menschlich- 
allumfassende, eine  objektive  d.  h.  generell-menschliche  Gesammt- 
auffassung von  Welt  und  Leben  ermöglicht.  An  ihrer  Ausbildung 
werden  noch  die  kommenden  Jahrhunderte,  die  Jahrtausende 
arbeiten.  Es  handelt  sich  um  die  Erkenntnis  von  Erde,  Welt 
und  Menschheit,    von   ihrer  Wechselwirkung   durch    Beeinflussung 


Immaüuel  "Kant,  seine  geögfapli.  und  antkropolog.  Arbeiten.       547 

und  Umsetzung  dieser  Beeinflussung  in  Erkenntnis  und  geistige 
Kraft.  So  entwickelt  sich  die  Menschheit  immer  weiter,  aber 
auch  Erde  und  Himmel  bleiben  nicht  unverändert  und  so  ist 
schon  deshalb  ein  Ende  dieser  Betrachtungen  nicht  abzusehen,  ihr 
Fortgang  nicht  zu  ahnen. 

Uns  aber  hat  die  Betrachtung  der  geographischen  und  anthro- 
pologischen Studien  Kants  zu  diesen  höchsten  Höhen  menschlicher 
Forschung  geführt;  jetzt  erst  übersehen  wir  vollständig,  welche 
Bedeutung  diese  Studien  für  Kant  hatten.  Wir  sahen,  als  wir 
uns  das  Bild  der  geschichtlichen  Entwickelung  der  Erdkunde  ent- 
warfen, schon  deutlich,  wenn  auch  in  beschränktem  Masse,  das 
Licht  jener  gesamt-menschlichen  Entwickelung  durchschimmern. 
Das  beweist  die  natürlich  gegebene  und  so  natürliche  Kraft  und 
Bedeutung  der  Erdwissenschaft,  des  Einlebens  der  Menschheit  in 
die  Erdnatur,  die  sie  allseitig  umgiebt.  Diese  Uebereinstimmung 
beweist  uns  auch,  w'arum  Kant  einen  solchen  Wert  auf  das 
Studium  der  Erd-  und  Menscheugeschichte  legen  musste  und  gelegt 
hat.  Jetzt  aber  erkennen  war  auch  seine  Bedeutung  für  diese 
Wissenschaften.  Gewiss,  wir  haben  unsere  Schiffe  um  die  Erde 
gesandt,  wir  haben  unsere  Kabel  in  die  Tiefen  gelegt,  unsere 
Fernrohre  und  Mikroskope  zum  Weit-  und  Nahsehen  unendlich  ver- 
bessert und  so  wissen  wir  sehr  viel  mehr  von  Himmel  und  Erde, 
als  mau  zu  Ende  des  18.  Jahrhunderts  wusste.  Aber  wenn  wir 
wissen  wollen,  was  wir  wissen,  wenn  wir  unser  Wissen  ordnen 
wollen,  begreifen  wollen,  was  wir  sehen  und  begreifen:  dann 
können  wir  dies  nur,  indem  wir  auf  dem  Boden  fest  stehen,  den 
von  geographischen  Studien  ausgehend  ein  Mann  für  alle  Zeiten 
festgelegt  hat;  und  dieser  Mann  ist  Immanuel  Kant. 


3G-^ 


Karl  Rosenkranz'  Verdienste  um  die  Kant-Forschung. 

Dr.  Maximilian  Runze. 


Karl  Rosenkranz,  g-eboren  den  23.  April  1805  zu  Magdeburg, 
gestorben  als  Professor  der  Philosophie,  auf  dem  Lehrstuhl  Kants, 
in  Königsberg  den  14.  Juni  1879,  hat  um  die  rechte  Würdigung 
Kants  wie  um  die  Kant-Forschung  erhebliche  Verdienste.  Dieselben 
bestehen  in  der  von  ihm  angeregten  und  veranstalteten  ersten 
Gesamtausgabe  der  Kantischen  Schriften,  in  der  Anregung,  die  er 
zur  Setzung  eines  Kant-Denkmals  in  Königsberg  gab,  in  mehreren 
Schriften  und  Aufsätzen,  die  der  Verbreitung  oder  der  Erläuterung 
Kants  gewidmet  sind. 

•  Es  war  im  Jahre  1833,  als  Rosenkranz,  der  seit  einiger  Zeit 
in  Halle  als  ausserordentlicher  Professor  der  Philosophie  wirkte, 
einen  ehrenvollen  Ruf  als  Ordinarius  an  Herbarts  Stelle  nach 
Königsberg  erhielt.  Rosenkranz  hat  die  Ehre,  die  ihm  hiermit 
zuteil  ward,  zeitlebens  hoch  eingeschätzt.  Mit  Pietät  blickte  er 
zu  beiden  Geistesgrössen  empor.  In  Betreff  Herbarts  hat  mau 
Rosenkranz'  Gesinnung  hin  und  wieder  anders  beurteilt;  indes 
zeugen  zahlreiche  Stellen  aus  seinen  Schriften  von  seiner  weit- 
gehenden Anerkennung  Herbarts,  weswegen  er  denn  auch  von 
anderen  Hegelianern  mannigfache  Vorwürfe  zu  hören  bekam.  In 
seinen  anregend  geschriebeneu  Skizzen  zu  einer  Selbstbiographie 
„Aus  einem  Tagebuch"  (Brockhaus  1854)  schreibt  er,  dass  ihm, 
seitdem  er  nach  Königsberg  gekommen,  „beständig  zwei  Namen  in 
die  Ohren  klingen:  Kant  und  Herbart,  Namen,  die  meine  grösste 
Verehrung  fordern.  Nie  gehe  ich  vor  Kants  Hause  in  der  Prin- 
zessinnenstrasse,  nie  vor  Herbarts  Hause  in  der  Königsstrasse  vor- 
über, ohne  mir  im  Innersten  zu  geloben,  so  grosser  Vorgänger  auf 
dem  hiesigen  Lehrstuhl  nicht  ganz  unwürdig  zu  sein.  Das  An- 
denken an  diese  edlen  Männer  übt  auf  mich  eine  pädagogische 
Kraft  aus.  Ich  fühle,  welche  Massstäbe  die  Königsherger  an  ihnen 
besitzen,"   —   und   fährt   fort:     „Keine   andere   Universität   kann 


Karl  Rosenkranz'  Verdienste  um  die  Kant-Forschung.  549 

einen  heutigen  Philosophen  so  sehr  demütigen,  als  Königsberg,  wo 
die  Wiege  und  der  Sarg  desjenigen  Philosophen  stehen ,  ohne 
welchen  Fichte  und  Schelling,  Hegel  und  Herbart  nie  existiert 
haben  würden." 

Rosenkranz  fand  in  Königsberg  eine  Gesellschaft  von  Männern, 
zum  Teil  noch  unmittelbaren  Schülern  und  Freunden  Kants,  zum 
Teil  von  Verehrern  desselben,  vor,  welche  Kants  Geburtstag  fest- 
lich zu  begehen  pflegten.  Rosenkranz,  der  Mitglied  geworden,  er- 
hielt 1836  den  Auftrag,  die  bei  der  Feier  übliche  Rede  zu  halten. 
Ihm  schien  nichts  hierzu  geeigneter,  denn  „eine  Gesamtausgabe 
der  Kantischen  Werke  als  einen  literarischen  Geburtstag  des 
Weisen  in  Anregung  zu  bringen".  Bald  darauf  veröffentlichte 
diesen  Vortrag  Th.  Mundt  in  dem  zweiten  Band  der  „Dioskuren"'. 
Hierdurch  wurde  der  Buchhändler  Leop.  Voss  in  Leipzig  angeregt, 
sich  an  Rosenkranz  zu  wenden,  um  jenen  Gedanken  zu  verwirk- 
lichen. Dieser  ging  darauf  ein  und  forderte  seinen  Kollegen 
Fr.  W.  Schubert,  der  kurz  zuvor  in  einem  andern  Kreise  über  den 
der  Königsberger  Bibliothek  einverleibten  Nachlass  Kantischer 
Schriften  geredet  hatte,  auf,  sich  mit  ihm  zur  Herausgabe  zu  ver- 
binden. Beide  schlössen  dann  mit  Voss  einen  Vertrag  ab,  in  Folge 
dessen  sie  binnen  vier  Jahren,  1838 — 1842,  ihre  Aufgabe  lösten. 
Dieselbe  war  nicht  leicht.  In  der  Einleitung  zum  ersten  Bande 
entwickelte  Rosenkranz  die  Grundsätze,  die  beide  für  notwendig 
erachteten  und  mit  Strenge  innegehalten  haben.  Die  Anordnung 
der  Schriften  ward  nach  systematischen  Grundsätzen  getroffen. 
Von  den  in  dem  oben  erwähnten  Vortrag,  der  aus  den  Dioskuren 
1839  in  Rosenkranz'  „Studien"  I,  Nr.  VIII,  unter  dem  Titel  „Die 
Gesamtausgabe  der  Kantischen  Schriften"  wieder  abgedruckt  wurde, 
ausgesprochenen  Programm  weicht  Rosenkranz  nachmals  insoweit 
ab,  als  er  nach  reiflicher  Erwägung  mehrere  Vorlesungen  Kants 
aus  der  Sammlung  ausschloss.  Er  plante  nämlich  ursprünglich  die 
Anordnung  1.  die  spekulativen  Schriften  und  zwar  a)  solche, 
welche  sich  auf  die  Theorie  des  Erkeunens  beziehen,  als  worin 
die  tiefste  Eigentümlichkeit  des  Kantischen  Systems  wurzele,  b)  die 
metaphysischen  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft  und  die  An- 
thropologie, c)  die  Schriften  zur  praktischen  Philosophie.  Der 
Streit  der  Fakultäten  könne  den  Übergang  zu  den  vermischten 
Schriften  bilden,  die  nach  demselben  Schema  zu  ordnen  seien; 
zu  welchen  auch  die  Schrift  über  die  Naturgeschichte  des  Himmels 
zu  rechnen   sei.     Ein  Anhang   sei   vorzusehen   für   Reliquien   von 


55Ö  M.  Kunze 


Briefen  Kants.  Eine  dritte  Hauptabteilung-  würden  die  Vor- 
lesungen ausmachen,  welche  merkwürdiger  seien,  als  man  im 
Voraus  urteilen  möchte.  „Nicht  nur,  dass  sie  uns  von  Kants 
Lehrgeschicklichkeit  ein  treffliches  Bild  aufstellen;  nicht  nur,  dass 
sie  eine  Menge  origineller  Wendungen,  frisch  geprägter  Ausdrücke 
enthalten:  sie  sind  auch  dadurch  des  Andenkens  wert,  dass  sie 
den  Übergang  des  Jahrhunderts  von  der  Wolfischen  Philosophie 
zur  Kantischen  an  sich  selbst  darstellen."  Doch  nahm  Rosenkranz 
in  Wirklichkeit  nur  die  von  Riuk  und  Jäsche  schon  edierten 
Schriften  auf.  Dagegen  wurden  ausgeschlossen  die  von  Vollmer 
veranstaltete  ausführliche  Darstellung  der  Vorlesungen  über  die 
physische  Geographie,  die  von  Pölitz  herausgegebenen  über  die 
philosophische  Religionslehre  und  über  die  Metaphj^sik  sowie  die 
von  Starke  1831  nach  handschriftlichen  Vorlesungen  herausge- 
gebene Menschenkunde  und  philosophische  Anthropologie.  Rosen- 
kranz begründet  die  Weglassung  derselben.  Für  die  Reihenfolge 
der  Schriften  und  die  Verteilung  derselben  an  die  einzelnen  zehn 
Bände  gingen  die  Herausgeber  später  von  dem  Gesichtspunkt  aus, 
dass  Kant  selbst  während  seines  Lebens  von  abstrakt  theoretischen 
Untersuchungen  immer  mehr  zu  praktischen  übergegangen  ist. 
Unter  Wahrung  dieses  Grundsatzes  Hess  sich  nun  sowohl  die 
chronologische  wie  die  systematische  Anordnung  berücksichtigen. 
Rosenkranz  gab  nun  auf  seinen  Teil  heraus  Bd.  I,  die  kleinen 
logisch-metaphysischen  Schriften  umfassend;  Bd.  II,  die  Kritik  der 
reinen  Vernunft;  Bd.  III,  die  Prolegomena  und  Logik;  Bd.  IV, 
Kritik  der  Urteilskraft  und  Beobachtungen  über  das  Gefühl  des 
Schönen  und  Erhabenen;  Bd.  VIII,  Grundlegung  zur  Metaphysik 
der  Sitten  und  Kritik  der  praktischen  Vernunft;  Bd.  X,  Religion 
innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft  und  Streit  der  Fakul- 
täten. Jedem  Bande  geht  eine  Vorrede  vorauf,  in  welcher  der 
Herausgeber  Rechenschaft  ablegt  über  die  Textrevision  und  die 
kritisch-historische  Forschung  über  die  edierten  Schriften.  Mit 
Schubert  zusammen  gab  er  Bd.  V,  „Schriften  zur  Philosophie  der 
Natur"  heraus;  das  Vorwort  ist  hier  von  beiden  unterzeichnet. 
Schubert  allein  hat  die  übrigen  Bände  VI  (zur  physischen  Geo- 
graphie), VII  (zur  Anthropologie),  IX  (Metaphysik  der  Sitten, 
Pädagogik)  besorgt.  Die  Herausgeber  hielten  es  für  gut,  zwei 
Bände  hinzuzufügen,  Bd.  XI:  die  Biographie  Kants,  ein  Meister- 
werk Schuberts,  und  Bd.  XII:  eine  Geschichte  der  Kantischen 
Philosophie,  welche  Rosenkranz  verfasste.     Letzterer  pflegte  diese 


Karl  Eosenkranz'  Verdienste  um  die  Kant-Forschung.  551 

epochemachende  Gesamtausgabe  in  seiner  bescheidenen  Weise  als 
„unsere  König-sberger  Ausgabe"  zu  bezeichnen.  So  waren  die 
Kantischen  Schriften  vor  der  Zersplitterung,  einzelne  vielleicht 
auch  vor  dem  Untergange  gerettet,  Kant  selbst  aber  den  Zeitge- 
nossen erst  völlig  zugänglich  gemacht  und  ihnen  wieder  näher  ge- 
rückt. Mit  stolzer  Genugtuung  konnte  Eosenkranz  auf  die  Worte 
zurückblicken,  die  er  einst  geschrieben,  als  er  die  erste  Anregung 
zur  Kant-Gesamtausgabe  gab:  „Gott  ist  nicht  blos  ein  Gott  der 
Schlachten  und  Friedensschlüsse,  der  Eroberungen  und  Handels- 
verbindungen, sondern  auch  der  Kunst  und  Wissenschaft." 

Die  Rosenkranz -Ausgabe  der  Kantischen  Schriften  wurde 
allenthalben  in  der  Litteratur  mit  Jubel  begrüsst;  —  mit  die 
ersten  Stimmen  dieser  Art  erschollen  im  „Freyhafen"  und  den 
„Hallischen  Jahrbüchern".  Ihr  Wert  erprobte  sich  von  Jahrzehnt 
zu  Jahrzehnt;  noch  1881  bezeichnet  sie  Hans  Vaihinger  in  seinem 
grossen  Meisterwerk  „Commentar  zu  Kants  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft" Bd.  I,  p.  XVI  als  „die  beste  und  verbreitetste". 

Besonders  wichtig  galt  für  Rosenkranz  die  Frage,  ob  dem 
Neudruck  der  „Kritik  der  reinen  Vernunft"  die  erste  oder  zweite 
Auflage  zu  Grunde  zu  legen  sei.  Rosenkranz  wählte  ohne  Be- 
denken die  erste  Ausgabe,  der  er  schon  stets  den  Vorzug  gegeben 
hatte.  Grund  war  ihm  einmal  die  Entwicklung  bei  Kant  selbst; 
denn  er  arbeitete  die  zweite  Ausgabe  aus  der  ersten  heraus,  und 
der  Leser  müsse  also  am  Bequemsten  und  Gründlichsten  zur  Ein- 
sicht gelangen,  wenn  er  denselben  Weg  einschlägt,  den  Kant  selbst 
vor  ihm  betreten.  Er  hat  alsdann  die  Urgestalt  der  Sache  und 
ihre  spätere  Modifikation  in  der  naturgemässeu  chronologischen 
Folge  vor  sich.  Andererseits  waren  ihm  Überlegungen  formeller  Art 
massgebend,  nicht  das  Sekundäre  dem  Primären  voranzustellen. 
Endlich  erwog  Rosenkranz,  dass  nicht  jede  Umarbeitung  eine  Ver- 
besserung sei.  Auch  hier  weiche  die  schöpferische  Einheit  des 
ersten  Gusses  der  rücksichtsvollen  Bedenklichkeit,  der  mehr  von 
aussen  eindringenden  Feile, 

Nur  bestärkt  in  der  Richtigkeit  seiner  Wahl  wurde  er  von 
Arthur  Schopenhauer,  der  auf  die  vorläufige  Anzeige  hin ,  welche 
Voss  von  der  Gesamtausgabe  machte,  an  Rosenkranz  ein  ausführ- 
liches Schreiben  richtete  und  ihn  aufforderte,  unter  allen  Um- 
ständen die  Ausgabe  von  1781  zu  wählen.  Schophenhauer  hat  in 
einer  späteren  Ausgabe  seiner  „Kritik  der  Kantischen  Philosophie" 
Rosenkranz'   Anordnung    rühmend   anerkannt:    .   .   .   „wodurch   er 


552  M.  Kunze, 

sich  um  die  Philosophie  ein  unschätzbares  Verdienst  erworben,  ja 
das  wichtigste  Werk  der  deutschen  Litteratur  vielleicht  vom  Unter- 
gange gerettet  hat;  und  dies  soll  man  ihm  nicht  vergessen."  Wenn 
Schopenhauer  indess  bemerkt,  in  Folge  seiner  Vorstellungen  habe 
Rosenkranz  die  ursprüngliche  Gestalt  des  Werkes  wieder  herge- 
stellt, so  ist  zu  erinnern,  dass  Rosenkranz  ohnehin  dazu  entschlossen 
war  und  dass  er  eben  durch  Schopenhauer  in  seinem  Vorhaben 
nur  bestärkt  wurde,  Rosenkranz  hat  solches  später  noch  einmal 
besonders  betont  in  seiner  Abhandlung  „Über  die  erste  und  zweite 
Ausgabe  von  Kants  Vernunftkritik"  1856  (Neue  Studien  II,  S.  60 
bis  72),  wo  er  u.  a.  auch  darauf  hinweist,  dass  das  Bedürfnis,  die 
erste  Ausgabe  zu  besitzen,  schon  seit  längerer  Zeit  sehr  gross 
geworden  sei ;  sie  sei  antiquarisch  zu  hohen  Preisen  bezahlt  worden. 
Von  Schottischen  Philosophen  hätte  er  seines  Verfahrens  wegen 
die  belobendste  Anerkennung  bekommen,  weil  sie  vergeblich  die 
erste  Ausgabe  lange  gesucht  hätten.  Auch  Schopenhauer  berichtet 
ja,  dass  Kants  Werk  in  der  ersten  Ausgabe  sehr  selten  gewesen 
und  es  ihm  erst  viel  später  (d.  i.  nach  dem  Erscheinen  seines 
eigenen  Hauptwerkes)  gelungen  sei,  eines  Exeniplares  habhaft  zu 
werden. 

Neben  diesem  Hauptverdieust  Rosenkranz'  um  die  Kant- 
forschung in  Gestalt  der  Gesamtausgabe  —  einem  Denkmal  aere 
perennius  —  ist  in  zweiter  Linie  seiner  Bemühungen  um  das  Kant- 
Denkmal  in  Königsberg  zu  gedenken. 

Die  Statue,  welche  Rauch  von  Kant  am  Friedrichsdenkmal 
zu  Berlin  geschaffen  hatte,  brachte  mehrere  Kantfreunde  auf  den 
Gedanken,  eine  Ausführung  derselben  in  grösserer  Form  durch 
Rauch  für  Königsberg  zu  gewinnen.  Neben  Eduard  Simson,  Stadtrat 
Henschen  u.  a.  war  es  besonders  Rosenkranz,  der  die  Sache  in 
Anregung  brachte.  Er  bildete  mit  einigen  Anderen,  wie  A.  Hagen, 
ein  Komitee  und  hielt  über  das  für  Kant  zu  Königsberg  projek- 
tierte Denkmal  „in  der  Kantischen  Gesellschaft,  an  seinem  Ge- 
burtstage, den  22.  April  1852"  eine  Ansprache,  die  bald  darauf 
bei  Gräfe  und  Unzer  „zum  Besten  des  Monuments"  erschien. 

Rosenkranz  führt  aus:  die  Grösse  eines  Menschen  zeige  sich 
in  dem,  was  er  anderen  Menschen  zu  schaffen  mache.  Willig 
oder  unwillig  müssen  sie  auf  ihn  zurückkommen.  Je  grösser  ein 
Mensch  sei,  um  so  mehr  wachse  mit  dem  Fortschritt  der  Geschichte 
seine  Lichtgestalt.  Nicht  einmal  nur  lasse  sich  mit  ihm  fertig 
werden,  nicht  in  Einer  Epoche  nur  mit  ihm  abschliessen.     Seine 


Karl  Rosenkranz'  Verdienste  um  die  Kant-Forschung.  553 

Heldenkraft,  unsterblicher  Natur,  werde  vielmehr  immer  tiefer  er- 
kannt, immer  reiner  gewürdigt,  je  mehr  im  Lauf  der  rollenden 
Jahre  alles  das  verschwinde,  was  auch  an  ihm  nur  der  Vergäng- 
lichkeit angehörte,  und  je  siegreicher  das  hervortritt,  was  an  ihm 
ewig  und  gottgegeben  ist.  „Ein  solcher  Mensch  ist  unser  Kant. 
Aus  dem  knorrigen  Wurzelstamm  seiner  Philosophie  haben  sich 
andere  Schösslinge  herausgezweigt.  Sein  Andenken  nicht  nur,  sein 
Denken  lebt  in  tausend  Formen  direkt  und  indirekt  unter  uns, 
unter  den  Deutschen,  unter  allen  gebildeten  Völkern  fort  und  dehnt 
sich  in  immer  grössere  Kreise  aus."  Die  neueren  Philosophien 
müssten  auf  ihn,  der  den  Grundstein  gelegt  hat,  immer  wieder 
zurückgehen  und  selbst  von  ihm  als  ihrem  eigentlichen  Urheber 
immerwährendes  Zeugnis  ablegen.  „Und  wie  er  in  der  Wissen- 
schaft als  ein  Heros  derselben  mit  immer  strahlenderem  Glänze 
hervortritt,  so  lebt  er  auch  fort  als  Musterbild  eines  wahrhaften 
Weisen,  als  einer  der  wenigen  echten  Menschen,  in  denen  Lehre 
und  Leben  sich  harmonisch  vereinigen,  deren  Geist  auch  in  ihrem 
Charakter  sich  wiederspiegelt,  deren  blosser  Name  hinreicht,  uns 
im  Glauben  an  die  Wirklichkeit  und  Wahrheit  der  Idee  zu  stärken 
und  uns  mit  jenem  Enthusiasmus  zu  beseelen,  der  uns  die  An- 
strengung leicht  macht,  treue  Jünger  des  Ideals  zu  sein."  Rosen- 
kranz erörterte  besonders  die  Frage,  wo  das  Denkmal  der  Stadt- 
anlage eingegliedert  werden  .  solle.  Sein  weitschauender  Blick 
rechnete  mit  der  Zukunftstatsache,  dass  Königsberg  bald  in  das 
grosse  Eisenbahnnetz  werde  aufgenommen  werden.  Damit  werde 
Königsberg  aufhören,  für  viele  Deutsche  eine  mythische  Stadt  zu 
sein.  Und  wo  werde  die  Osteisenbahn  münden?  „Auf  dem  Philo- 
sophendamm!" Dieser  Name  werde  den  Fremden  sogleich  an 
Kant  erinnern.  Neben  anderen  Gründen,  welche  diesen  Ort  als 
für  das  Kantdenkmal  prädestiniert  erscheinen  lassen,  führt  Rosen- 
kranz dann  noch  eine  Begebenheit  aus  Kants  Leben  an,  die,  weil 
sie  bis  dahin  lediglich  auf  mündlicher  Überlieferung  beruht  haben 
und  auch  heute  wohl  als  kaum  bekannt  gelten  dürfte,  hier  mit- 
geteilt sei.  Rosenkranz  erzählt:  „Sonst  stand  hier,  wo  der  Eingang 
zur  Festung  abbiegt,  eine  Schild  wache.  Ein  Soldat,  des  Lebens 
überdrüssig,  zu  feige  aber,  sich  selbst  zu  töten,  hatte  beschlossen, 
wenn  er  auf  diesem  einsamen  Posten  stünde,  den  ersten  Spazier- 
gänger niederzuschiessen,  um  dadurch  sich  selbst  zum  Tode  zu 
verdammen.  Er  steht  mit  geladenem  Gewehr;  da  kommt  der  alte 
Kant.     Schon    zuckt   ihm    das   Gewehr   im   Arm.    Er   kennt    den 


554  '  M.  Kunze, 

Philosophen  nicht,  aber  das  Friedliche  seiner  ehrwürdigen  Gestalt, 
der  ruhig  milde  Blick  des  blauen  Auges,  lassen  ihn  seinem  Vorsatz 
untreu  werden  und  er  spart  seine  Kugel  für  den  nächst  Kommenden. 
Es  ist  ein  Knabe  —  und  dieser  fällt  dem  Wahnsinn  des  indirekten 
Selbstmörders  zum  Opfer." 

Die  weitere  Ausdehnung  der  Eisenbahn  vernichtete  das 
Projekt.  Auch  aus  dem  Plan,  das  Denkmal,  welches  von 
Rosenkranz  ursprünglich  unter  einem  leichten,  von  vier  ko- 
nischen Säuleu  getragenen  Dache  postiert  gedacht  war,  auf  den 
altstädtischen  Ivirchenplatz  zu  bringen,  wurde  nichts,  da  die 
Herstellung  des  Granitsockels  sich  lange  hinzog,  und  der  Platz 
zu  anderer  Anlage  benutzt  wurde.  So  wurde  denn  das  Standbild 
an  die  Seite  des  Gartens,  der  zur  Kantischen  Wohnung  gehörte, 
gestellt.  Dass  es  von  dort  nach  dem  Platz  vor  der  Albertina 
überführt  ward,  hat  Rosenkranz  nicht  mehr  erlebt. 

In   dritter  Linie   gedenken    wir   noch    der  Verdienste  Rosen- 
kranz'     um     die     Darstellung,     Erläuterung,     Erweiterung     der 
Kantischen  Philosophie.     Er    hat    seine  Versuche    dieser  Art    uns 
dargeboten   in  seiner  Geschichte  der  Kantischeu  Philosophie  1840, 
den  Modifikationen  der  Logik  1846  (besonders  S.  214—228),  „Hegel 
als  deutscher  Nationalphilosoph"  18;'70,  zahlreichen  Einzelaufsätzen 
über   Kant,    die    in    seinen  „Studien",  besonders    aber    in  Band  II 
seiner   „Neuen   Studien"  1875    veröffentlicht    sind,    sowie    in   dem 
durch   rühmenswerte   Klarheit   ausgezeichneten  Artikel  „Kaut"    in 
den  „Neuen  Studien"  Band  HI    1877.     Da  Rosenkranz  Hegelianer 
war,    so    ist    der    mehrfach    gegen  ihn  erhobene  Vorwurf,  dass  er 
die  Darstellung  der  Kantischen  Philosophie  hegelisch  färbe,  vielleicht 
nicht  unberechtigt;  er  traf  dann  meist  sein  Werk  von  1840.    Doch 
weisen  wir   darauf  hin,   dass  schon  die  hier  gebotene  Beleuchtung 
Kants    auch    ihre  Vorzüge    hat.     Rosenkranz  ist  sichtlich  bemüht, 
eine    historisch -genetische   Darstellung   Kants    zu    geben;   er   hebt 
den   Begriff    der    „Spuren"    hervor,    denen   nachgegangen   werden 
müsse,  um  Kant  historisch  abzuleiten.    Solches  ist  auch  von  Kant- 
forschern wie  H.  Cohen  anerkannt  worden.    Er  bleibt  nicht  kleinlich 
au    Einzelheiten    hängen,    sondern    hält   stets    den   Blick    auf    die 
Totalität    des   Kantischen   Werkes    gerichtet.     Seine   Schreibweise 
ist,   ohne  je  der  Oberfläche   zu  verfallen,  gemeinverständlich,  sein 
Styl,  wie  in  allen  seinen  Schriften,   meisterhaft.     Vor  Allem   aber 
erscheint  Rosenkranz    mit  jenem  Werk    nicht   als   einer,    der  Ab- 
schliessendes darzubieten  sich  unterfängt.     Er  wächst  mit  seinen 


Karl  Rosenkranz'  Verdienste  um  die  Kant-Forschung.  555 

grösseren  Zielen.  In  demselben  Grade,  wie  er  lebenslang-  bestrebt 
ist,  Hegel  zu  überwinden,  erscheint  ihm  Kant  in  seiner  vollen  Be- 
deutung erst  in  seiner  richtigen  Konsequenz.  Innige  Liebe  bindet 
ihn  zwar  stets  aufs  neue  an  Hegel,  so  kühne  Abänderungen  er 
auch  z.  B.  mit  seiner  Logik,  seiner  Naturphilosophie,  seiner  Ästhetik, 
so  entschiedene  Weiterungen  er  auch  mit  dessen  Gotteslehre  vor- 
nimmt, so  dass  die  Hegeische  Schule  ihn  desavouierte  und  er 
schmerzvoll  auszurufen  sich  genötigt  sah:  „Ich  bin  somit  feierlichst 
enthegelt!"  So  zeigt  sich  denn  auch  in  Rosenkranz'  Arbeiten 
über  Kant  von  Fall  zu  Fall,  dass  er  Kant  immer  objektiver  dar- 
zustellen vermochte.  Wir  bedauern  dabei  nur  eines,  dass  er  den 
sachgemässen  „Spuren"  der  historischeu  Ableitung  nicht  noch  tiefer 
nachgeforscht  hat,  zumal  in  Bezug  auf  die  wichtigste  Vorläufer- 
schaft Kants.  Wir  meinen  David  Hume.  Auf  dem  Wege  zur 
richtigen  Einschätzung  dieses  eigentlichen  Begründers  der  modernen 
Philosophie  war  er  schon  vordem;  die  hoch  bedeutungsvolle  er- 
kenutnistheoretische  Tragweite  Humes  betont  er  weitgehenden 
Masses  in  jenem  Aufsatz  „Neue  Studien"  III,  S.  200  u.  a.  mit  den 
Worten:  „Hume  bestritt  nicht,  dass  wir  a  priori  einsehen,  wie  die 
Ursache  ihrer  Wirkung  vorangehen  müsse;  die  Veränderung,  welche 
die  Ursache  hervorbringt,  fällt  in  die  Zeit.  Er  bezweifelte  aber, 
ob  die  Beziehung,  die  wir  von  einer  Erscheinung  als  Ursache 
auf  eine  andere  als  Wirkung  machten,  immer  die  richtige  sei, 
U.S.W."  Hätte  er  sich  auf  die  Humeschen  „Spuren"  noch  tiefer 
eingelassen,  so  hätte  er  kraft  Humes,  aber  auch  nur  durch  ihn, 
Hegel  sicher  völlig  überwunden!  Nun  aber  bleibt  er  bis  zuletzt 
von  Bewunderung  erfüllt  vor  der  immanenten  Dialektik  der  je  drei 
und  drei  unter  die  bekannten  vier  Titel  gebrachten  Kantischen 
Kategorien.  Und  diese  Kategorien  der  reinen  Vernunft  sind  ihm 
fast  —  wenn  er  das  Wort  auch  nicht  gebraucht  —  gleich  göttlichen 
Hypostasen.  „Identität  und  Unterschied,  Qualität  und  Quantität, 
Ursach  und  W^irkung,  Zweck  und  Mittel,  Allgemeines  und  Be- 
sonderes, können  als  reine  Begriffe  im  Himmel  nicht  anders,  als 
auf  Erden  und,  könnte  man  die  Bildrede  fortsetzen,  auch  nicht  in 
der  Hölle  sein."  Wohl  die  wertvollste  Schrift,  die  Rosenkranz  mit 
seinem  erstaunhchen  Wissen,  mit  seinem  allseitigen  und  immer 
frischen  Lebensimpuls,  seinem  jedwedem  Gegenstande  nahegebrachten 
Interesse,  verfasst  hat,  ist  die  von  1870.  Der  Titel  „Hegel  als 
deutscher  Nationalphilosoph"  passt  eigentlich  gar  nicht  dafür. 
Das  Werk  bildet  einen  Reflex  der  Geschichte  des  Geistes  bis  ins 


556  M.  Kunze, 

dritte  Drittel  des  vorigen  Jahrhunderts.  Die  strenge  Philosophie 
im  innigsten  Zusammenhange  mit  der  Kultur-  und  Litteratur- 
geschichte  (für  die  Rosenkranz  bekanntlich  bahnbrechend  wirkte) 
sowie  der  gesamten  Kunstgeschichte  und  Politik,  wird  hier  mit 
einer  historischen  Kenntnis,  einem  auch  die  schwierigsten  Fragen 
bemeisternden  Verständnis,  behandelt,  dass  dies  alles  Bewunderung 
erheischt.  Hier  analysiert  er  auch  Kants  8tyl,  erklärt  Kant  auch 
von  hier  aus  als  Klassiker  und  nennt  ihn  einen  stylistischen  Künstler. 
Gerade  in  späteren  Zeiten  hatte  sich  Rosenkranz  der  kritischen 
Betrachtung  der  Kantischen  Philosophie  noch  einigemale  gründlicher 
zugewandt,  so  in  seiner  lesenswerten  „Einleitung  zu  Hegels  En- 
cyklopädie-'  (v.  Kirchmanns  philos.  Biblioth.  Bd.  XXX.  1870),  wo  er 
eine  instruktive  Parallelstellung  zwischen  Kant  und  Hegel  bietet 
und  damit  sowohl  der  mannigfachen  Übereinstimmung  beider  als 
auch  des  Unterschiedes  zwischen  ihnen  und  endlich  der  behaupteten 
Überholung  Kants  durch  Hegel,  der  gegen  erstereu  nur  polemisiere, 
„um  auf  Grund  der  Kritik  zu  einer  noch  richtigeren  Einsicht  fort- 
zuschreiten", Ausdruck  giebt,  —  und  in  dem  gedanken-  und  lehr- 
reichen Werke:  „Erläuterungen  zu  Hegels  Encyklopädie"  (ebenda 
Bd.  XXXIV.  1870). 

Während  er  in  der  obigen  „J^inleitung"  noch  gut  geheissen 
hatte,  dass  Hegel  die  in  der  Kantischeu  Kritik  liegende  Skepsis 
bekämpft  habe,  so  erkennt  er  in  diesem  (späteren)  Werke  den 
strengen  Kriticismus  Kants  voll  und  ganz  an,  der  sich  sowohl 
gegen  den  Wolffschen  Dogmatismus  der  Metaphysik  als  gegen  den 
englisch-französischen  Empirismus  mit  seiner  Konsequenz  im  Mate- 
rialismus und  Skepticismus  gerichtet  habe,  und  fährt  fort:  „Seit 
Kants  Kriticismus  ist  aber  auch  der  assertorische  Standpunkt  des 
unmittelbaren  Wissens  unmöglich  gew'orden.  Die  Kantische  Philo- 
sophie hat  die  Philosophie  überhaupt  zur  wirklichen  Wissenschaft 
erhoben." 

Nur  eines  bedauern  wir  auch  hierbei,  nämlich  dass  Rosenkranz 
in  Betreff  des  Skepticismus  nicht  tiefer  gehende  Forschung  betrieb. 
Wohl  räumt  er  auch  der  Skepsis  ihren  Wert  ein  (z.  B.  in  den 
Modifik.  d.  Log.  S.  151  ff.),  und  hat  in  seiner  Schrift  „Aus  einem 
Tagebuch  1854"  solchen  z.  B.  S.  129  kräftig  bestätigt;  aber  der 
Skepticismus  hat  für  ihn  lediglich  negative  Bedeutung  und  fällt 
ihm  schliesslich  völlig  auf  den  Empirismus  zurück.  Hätte  er  sich 
tiefergehend  mit  Hume  befasst,  so  wäre  ihm  wohl  nicht  verborgen 
geblieben,  dass  zwischen  empirischem  und  erkenutnistheoretischem 


Karl  Rosenkranz'  Verdienste  um  die  Kant-Forschung.  557 

Skepticismus  zu  unterscheiden  ist.  Vielleicht  hätten  ihm  Studien 
nach  dieser  Seite  hin  Anlass  gegeben,  Hegel  noch  tiefgreifender 
zu  verbessern  oder  völliger  zu  überwinden.  So  aber  ergiebt  er 
sich  in  wichtigeren  Fragen  auch  der  Kantforschung  nur  zu  bereit- 
willig wiederum  an  Hegel,  —  z.  B.  wenn  er  in  den  „Erläute- 
rungen" Kants  „Transscendentale  Dialektik"  und  in  ihr  die  „Dia- 
lektik des  Scheines"  als  methodologische  Vorstufe  zu  Hegels  dia- 
lektischer Methode  fasst.  Durch  Hume  also  hätte  er  Vertiefung 
für  seine  eigene  Kautforschung  gewinnen  können;  verfolgte  er 
doch  ohnehin  noch  in  seinen  letzten  Lebensjahren  die  damals  neu 
erblühende  Kantforschung  mit  grossem  Interesse,  wie  ich  aus 
eigenen  Gesprächen  hierüber  mit  ihm  aus  dem  Jahre  1876  zu  be- 
stätigen weiss.  Aber  er  war  damals  —  w^enn  freilich  sprühend  in 
geistiger  Frische  —  hochbetagt  und  erblindet  und  hatte  sein  unter 
zentralem  Gesichtspunkt  mannigfachen  Aufgaben  gewidmetes 
Lebenswerk  vollendet. 

Zu  diesem  gehören  auch  bleibende  Verdienste  um  Kant 
und  die  Kantforschung;  und  die  sollen  ihm  uiQuner  geschmälert 
werden. 


Recensionen. 


Siebert,  Otto,  Dr.  Was  jeder  Gebildete  aus  der  Geschichte 
der  Philosophie  wissen  muss.  Ein  kurzer  Abriss  der  Ge- 
schichte der  Philosophie  im  Anschluss  an  Rudolf  Hayms  philoso- 
phische Vorlesungen  herausgegeben  von  0.  S.  in  Fermersleben.  Langen- 
salza, H.  Beyer  Söhne  lb05/  XVI  u.  318  S.  12". 

Das  neue  Buch  ist  eine  recht  unerquickliche  Thatsache.  „Im  An- 
schluss an  Rudolf  Hayms  philosophische  Vorlesungen  herausgegeben":  was 
soll  das  heissen  ?  Professor  Haym  hat  in  seinen  Vorlesungen  Diktate  ge- 
geben;  sollen  diese  hier  „herausgegeben"  werden?  Wer  dies  vermuten 
möchte,  wird  alsbald  eines  besseren  belehrt:  denn  schon  auf  dem  2.  Blatt 
des  Buches,  dem  Widmungsblatt,  nennt  sich  Siebert  in  fettem  Druck  den 
„Verfasser":  sein  Mut  ist  gewachsen.  Liest  man  dann  das  Vorwort,  so 
vernimmt  man  über  das  Verhältnis  zu  jenen  Vorlesungsdiktaten  nur  ein 
grosses  Schweigen;  bloss  der  letzte  Satz  erwähnt  wenigstens  den  Namen 
Hayms:  „Schliesslich  sei  noch  bemerkt,  dass  das  Buch  ein  Ausdruck  der 
Dankbarkeit  sein  soll  gegen  den  verewigten  Rudolf  Haym,  dessen  hoch- 
interessante philosophischen  Vorlesungen  den  Verfasser  zur  Abfassung 
dieser  Geschichte  der  Philosophie  veranlasst  haben."  Aus  dem  Heraus- 
geber ist  also  in  allem  Ernste  ein  „Verfasser"  geworden:  Hayms  Vor- 
lesungen haben  ihn  nur  „veranlasst",  auf  diesem  Gebiete  zu  arbeiten; 
denn  jene  Vorlesungen  waren  hochinteressant.  Dass  Haym  überhaupt 
Diktate  gegeben  hat,  erfährt  der  Leser  gar  nicht.  Der  Recensent 
aber  weiss  es  doch,  und  darum  vergleicht  er,  zumal  eine  gewisse  leise 
Erinnerung  in  ihm  aufgestiegen  ist  .  .  . 

Ein  paar  Stichproben  zeigen  zunächst,  dass  die  Anordnung  des 
Stoffes  in  enger  Anlehnung  an  das  Vorbild  vorgenommen  ist.  So  heisst 
es  z.  B.  nach  den  5  einleitenden  Paragraphen  in  Ha 3' ms  Diktat:  „Erster 
Zeitraum.  Von  den  Anfängen  der  griechischen  Philosophie  bis  auf  Anaxa- 
goras.  I.  Abschnitt:  Die  älteste  ionische  Naturphilosophie.  §  6.  Ent- 
stehung und  Charakter  derselben."  Bei  Siebert  liest  man:  „I.Zeitraum: 
Die  griechische  Philosophie  bis  Anaxagoras.  1.  Abschnitt:  Die  älteste 
ionische  Naturphilosophie.  §  6.  Entstehung  und  Charakter  derselben."  — 
§  11  heisst  bei  Haym:  „Die  Entwicklungsstadien  des  Eleatizismus",  bei 
Siebert:  „Die  Entwickelungsstufen  des  Eleatizismus"".  —  §§  35,  36,  37  be- 
handeln hier  wie  dort  den  Stoizismus,  den  Epikureismus  (oder  Epikurjlis- 
mus,  wie  Siebert  schreibt)  und  den  Skeptizismus.  Aber  während  bei 
Haym  §  :^9  überschrieben  ist  „Der  Neupythagoreismus  und  die  jüdisch- 
alexandrinische  Philosophie",  beginnt  hier  Siebert,  seine  wissenschaft- 
liche Selbständigkeit  in  der  Verteilung  des  Stoffes  zu  dokumentieren: 
§  39  heisst  bei  ihm  bloss:  „Der  Neupythagorftismus",  und  „die  jiidisch- 
alexandrinische  Philosophie"  kommt  erst  in  §  40  an  die  Reihe.  Diese 
Selbständigkeit  geht  so  weit,  dass  der  Hegelschen  Philosophie  tmit  deren 
Behandlung  das  mir  vorliegende  Haymsche  Diktat  abschliesst)  bei  Haj-ra 
die  §§  81—83  gewidmet  sind,  während  Siebert  hier  bereits  bei  den  §§ 
90—92  angelangt  ist. 


K,ecensionen  (Siebert).  559 

Aber  wie  verhält  sichs  mit  dem  Text  selbst?  Hier  ist  die  Selbstän- 
digkeit des  „Verfassers"  mindestens  ebenso  gross,  ja  sogar  grösser.  Un- 
verkennbar ist  das  Bestreben,  die  Gedankengänge  Hayms  in  anderen 
Wendungen  zu  geben.  Vollkommen  übereinstimmende  Sätze  finden 
sich  vielleicht  überhaupt  nicht:  an  den  von  mir  verglichenen  Stellen  ist 
überall  wenigstens  etwas  anders.  So  beginnt  z.  B.  Haym  seinen  §  67 
„Entstehung  und  Charakter  der  Kantischen  Philosophie"  mit  den  Worten: 
„Wenn  sich  die  deutsche  Aufklärung  politisch  in  dem  Staate  Friedrichs 
des  Grossen,  literarisch  in  dem  Wirken  Lessings  konzentrierte,  so  vertiefte 
sie  sich  philosophisch  durch  das  Auftreten  Immanuel  Kants."  Dem  Haym- 
schen  §  67  entspricht  bei  Siebert  §71,  dessen  erster  Satz  ein  Komma 
weniger,  aber  ein  Wörtchen  mehr  enthält  und  ausserdem  noch  ganz  selb- 
ständig ein  Wort  durch  ein  anderes  ersetzt.  Der  Satz  lautet  nämlich: 
„Wenn  sich  die  deutsche  Aufklärung  politisch  in  dem  Staate  Friedrichs 
des  Grossen  und  literarisch  in  den  Arbeiten  Lessings  konzentrierte,  so 
vertiefte  sie  sich  philosophisch  durch  das  Auftreten  Immanuel  Kants." 
Doch  sei  ausdrücklich  bemerkt,  dass  im  Grossen  und  Ganzen  die  stilisti- 
schen Abweichungen  beträchtlicher  sind  als  hier.  Aber  nur  selten  sind  sie 
glücklich.  Haym  verstand  sich  auf  die  Kunst,  in  wenig  Worten  etwas 
Bestimmtes  zu  sagen.  In  der  selbständigen  Bearbeitung  des  „Verfassers" 
hat  die  Zahl  der  Worte  zu-  und  die  Bestimmtheit  des  Gedankens  abge- 
nommen. Man  lese  etwa,  wie  Haym  fortfährt,  nachdem  er  die  Formel 
des  kategorischen  Imperativs  mitgeteilt  hat:  „Aus  diesem  kategorischen 
Imperativ  folgt  nun  aber  teils  unmittelbar,  teils  mittelbar  eine  Wiederher- 
stellung der  Hauptsätze  der  Metaphysik.  Das  unbedingte  Sollen  nämlich 
vergewissert  uns  praktisch  des  unbedingten  Könnens."  Hier  hat  jedes 
Wort  etwas  zu  sagen.  Kann  das  aber  auch  noch  von  dem  entsprechenden 
Text  des  „Verfassers"  behauptet  werden?  „Dieses  Sittengesetz  hat  nun 
seine  wichtigsten  Konsequenzen,  sofern  es  nämlich  den  Hauptsätzen  der 
Metaphysik,  die  theoretisch  unbeweisbar  sind,  eine  gewisse  praktische  Be- 
rechtigung verleiht.  Mit  der  Kantischen  Ansiclit  des  für  alle  verbindlichen 
kategorischen  Imperativs  verändert  sich  zunächst  der  Anblick  des  mensch- 
lichen Wesens.  Das  unbedingte  Sollen  versichert  uns  praktisch  des  unbe- 
dingten Könnens"  (S.  172).  Wie  vage  ist  hier  alles,  w^as  eigene  Zuthat 
ist!  Und  wohin  ist  die  straffe  Gedankenführung  geraten,  die  das  Haym- 
sche  Diktat  auszeichnet!  —  Auch  direkte  Fehler  kommen  vor:  Haym 
sagt  von  Sclielling:  „Er  begann  als  eifriger  Anhänger  der  Wissenschafts- 
lehre. Ergriffen  sodann  von  der  lebhaften  Bewegung  der  Naturwissen- 
schaften am  Ende  des  Jahrhunderts,  verfolgte  er  in  seinen  ,Ideen  zur 
Naturphilosophie',  seinem  ,Ersten  Entwurf  der  Naturphilosophie'  und  in 
der  Schrift  .Von  der  Weltseele'  den  Gedanken,  dass  das  System  der  Natur 
zugleich  das  System  unseres  Geistes  sei,"  Daraus  macht  der  „Verfasser": 
„Anfangs  ein  eifriger  Anhänger  der  Wissenschaftslehre,  geriet  Schelling 
sehr  bald  unter  den  Einfluss  der  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  durch 
epochemachende  Entdeckungen  bereicherten  Naturwissenschaft.  In  einer 
Reihe  naturphilosophischer  Schriften  verfolgte  er  daher  alsbald  in  eigen- 
tümlicher Weise  den  Fichteschen  Gedanken,  dass  das  System  der  Natur 
zugleich  das  System  unseres  Geistes  sei"  (200).  Das  soll  ein  Gedanke 
Ficht  es  gewesen  sein?!  Es  ist  ja  gerade  der  Gedanke,  durch  den  sich 
Schelling  von  Fichte  trennt. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  dem  Andenken  Hayms  ein  schlechter 
Dienst  damit  geschehen  ist,  dass  sein  Name  an  eine  solche  Verballhornung 
seiner  Diktate  geknüpft  worden  ist  —  allerdings  zum  Glück  in  recht 
charakteristisch  vager  Art.  Fast  möchte  man  in  Haj'ms  Interesse  wünschen, 
der  „Verfasser"  hätte  es  lieber  wieder  gemacht  wie  in  seiner  1898  erschie- 
nenen „Geschichte  der  neueren  deutschen  Philosophie  seit  Hegel",  wo  er 
schlankweg  plagiiert  hat.  (Vgl.  den  Aufsatz  „Zur  philosophischen  Litera- 
tur" von  Alfred  von  Mensi  in  der  „Beilage  zur  [Münchener]  Allgemeinen 
Zeitung"    vom    17.   Juni    ]89;i,    der    die   auffallende    „Gedankenharmonie" 


560  Recensionen  (Kalischer). 

zwischen  Siebert  und  Überweg-Heinze  schlagend  nachgewiesen  hat.  Ein 
paar  Woclien  vorher  hatte  übrigens  schon  Döring  Andeutungen  in  dieser 
Richtung  gemacht:  vgl.  Lit.  Centralblatt  1899,  No.  12.)  Allerdings  steht 
das  vorliegende  Machwerk  insofern  eine  Kleinigkeit  weniger  tief  als  die 
„Geschichte  der  neueren  deutschen  Philosophie",  weil  der  „Verfasser" 
eigentliche  Plagiate  hier  nicht  mehr  bietet.  Doch  ist  es  noch  kein 
grosses  Stück  Wegs,  das  er  inzwischen  am  Berg  der  Läuterung  empor- 
geklettert ist.  Denn  leider  kann  nicht  bezweifelt  werden,  dass  er  sein 
Vorwort  nur  geschrieben  hat,  xim  seinen  Lesern  eine  wissenschaftliche 
Selbständigkeit  vorzutäuschen,  und  dass  er  auch  nur  zu  diesem  P^nde  sicli  als 
den  „Verfasser"  aufspielt  und  die  Existenz  der  Diktate  verschweigt.  Dem- 
gegenüber kann  die  vorsichtige  Formulierung  auf  dem  Titel  eben  nur  die 
Bedeutung  haben,  dem  Vorwurf  des  Plagiats  vorzubeugen.  Es  würde  mir 
nie  eingefallen  sein,  den  Artikel  A.  v.  Mensis  wieder  auszugraben,  wenn 
ich  mich  nicht  davon  hätte  überzeugen  müssen,  dass  für  den  „Verfasser" 
jene  Züchtigung  noch  nicht  genug  gewesen  ist!  Warum  lässt  Siebert 
überhaupt  wissenschaftlich  scheinen  sollende  Arbeiten  drucken  ?  Dass  er 
nichts  Eigenes  zu  geben  hat,  kann  ihm  doch  kaum  verborgen  sein. 
Wechsler  und  Taubenkrämer  haben  im  Heiligtum  der  Wissenschaft  nichts 
zu  suchen. 

Halle  a.  S.  Fritz  Medicus. 

Kalischer,  A.  Chr.  Immanuel  Kants  Staatsphilosophie. 
Berlin.  Dr.  A.  Chr.  Kalischer  Selbstverlag.  Leipzig,  Otto  Weber.  1904. 
102  S. 

Die  vorliegende  Schrift  verfolgt  nicht  den  Zweck  einer  problem- 
geschiclitlichen  Durcharbeitung  von  Kants  rechts-  und  staatsphilosophi- 
schen Gedanken,  sie  beschränkt  sich  vielmehr  im  Wesen  tliclien  darauf, 
dem  Leser  durch  Zusammenstellung  der  wichtigsten  Aussprüche  Kants 
einen  Überblick  über  die  politischen  Ansichten  des  Philosophen  zu  ver- 
schaffen. Deshalb  lässt  sich  auch  über  das  Büchlein  nicht  viel  anderes 
sagen,  als  dass  dieses  Ziel  durch  eine  zweckentsprechende  Auswahl  von 
Citaten  geschickt  erreicht  wird.  Allerdings  hören  wir  bei  solchem  Ver- 
fahren nur  die  fertigen  Ergebnisse  von  Kants  Staatsphilosophie,  die  da- 
durch wie  eine  Reihe  von  Axiomen  wirken,  ohne  dass  auf  ihr  einheitliches 
Hervorgehen  aus  ethischen  und  rechtsphilosophischen  Erwägungen  ein  be- 
sonderes Gewicht  gelegt  wird.  Es  kommt  dem  Verfasser  mehr  auf  die 
praktischen  Entscheidungen  Kants  in  Sachen  der  Politik  an  als  auf  die 
systematischen  Begründungen.  So  konstatiert  er  z.  B.  mit  Recht  die  den 
Worten  nach  sehr  weitgehende  Übereinstimmung  Kants  mit  den  Volks- 
souveränetätstheorien  Rousseaus  und  der  Revolution,  aber  er  versäumt 
dabei,  die  im  spekulativen  Interesse  so  reizvolle  Untersuchung  anzustellen, 
ob  nicht  all  jene  von  Rousseau  herübergenommenen  Schlagworte  von  dem 
„übereinstimmenden  und  vereinigten  Willen  aller",  von  der  „B'reiheit"  des 
Staatsbürgers,  „keinem  anderen  Gesetze  zu  gehorchen,  als  welchem  er 
seine  Beistimmung  gegeben  hat",  und  ähnliche  Wendungen  bei  Kant  einen 
ganz  neuen  Sinn  durch  das  Hineinspielen  seiner  praktischen  Philosophie 
gewinnen,  insbesondere  durch  die  Unterscheidung  von  empirischer  und 
überempirischer,  noumenaler  Freiheit  und  Persönlichkeit.  Bedenklicher 
ist  es,  wenn  der  Verfasser  Kants  Lehre  vom  Staatsvertrage  als  eine  „So- 
phisterei", eine  „phantastische  Hypothese  vom  ursprünglichen  Gesellschafts- 
vertrage in  antediluvianischen  Zeiten",  als  eine  willkürliche  Annahme  von 
Ereignissen,  die  „vor  anno  X"  passiert  sein  sollen,  einfach  abzuthun  ge- 
denkt (S.  48,  60).  Alle  Dax'steller  der  Kantischen  Staatslehre  haben  doch 
einmütig  davor  gewarnt,  aus  dem  „ursprünglichen  Kontrakt"  einen  histo- 
rischen Akt  zu  machen,  und  auch  die  Formulierungen  bei  Kant  selbst 
ergeben  deutlich,  dass  mit  diesem  Kontrakt  nur  eine  „regulative  Idee" 
gemeint  ist.  Auch  das  können  wir  nicht  zugeben,  dass  Kant  sich  eine 
Verwechselung  von  „Recht"  und  „Gerechtigkeit"  habe  zu  schulden  kommen 
lassen,    dass    er    nicht    bedacht    habe,    dass  „ein    wirkliches,    anerkanntes 


Hecensionen  (Bargmann-  Stern).  561 

Recht"  gegen  allen  Geist  wahrer  Gerechtigkeit  sanktioniert  werden  könne 
(S.  17  f.).  Merkwürdiger  Weise  stützt  sich  der  Verfasser  dabei  auf  eine 
Definition,  die  in  der  „Einleitung  in  die  Reclitslehre"  steht  und  mit  den 
Worten  beginnt:  „Eine  jede  Handlung  ist  recht,  die  .  .  .".  Grade  dieses 
Citat  zeigt  schon  durch  den  Wortlaut,  dass  Kant  die  Kriterien  der  Ge- 
rechtigkeit und  der  formell-juristischen  Rechtmässigkeit  streng  gesondert 
wissen  will.  Denn  an  derselben  Stelle  unterscheidet  Kant  zwischen  dem, 
was  „Rechtens  sei  (quit  sit  juris)  d  i.  was  die  Gesetze  an  einem  gewissen 
Ort  und  zu  einer  gewissen  Zeit  sagen",  und  dem,  was  „recht  sei"  und  nur 
nach  Prinzipien  der  Vernunft  ermittelt  werden  könne;  hier  macht  er 
also  genau  die  Unterscheidung,  die  der  Verfasser  vermisst.  —  Der  Haupt- 
wert der  vorliegenden  Schritt  liegt  somit  nicht  in  der  Behandlung  der 
Probleme,  sondern  in  der  übersichtlichen  Mitteilung  Kantischer  Äusser- 
ungen. 

Falkenberg  i.  d.  M.  Emil  La sk. 

Bargmann,  H.  Der  Formalismus  in  Kants  Rechtsphiloso- 
phie.    Leipziger  Inaug-ural-Dissertation.     Leipzig,  19Ü2.     (54  S.) 

Die  kleine  Schrift  g-iebt  eine  knappe  und  klare,  auf  das  Wesentliche 
sich  geschickt  beschränkende  Darstellung  von  Kants  Rechtsphilosophie 
sowie  interes.sante  kritische  Zusätze  des  Verfassers.  Mit  Recht  wird  die 
bequeme  Zusammenstellung  Kants  mit  den  übrigen  Vertretern  des  „Natur- 
rechts" gerügt,  wobei  freilich  der  Begriff  der  „Natur"  von  B.  etwas  zu 
eng  gefasst  sein  dürfte  (S.  37  f).  Sehr  wertvoll  ist  die  Parallelisierung 
des  „juridischen"  und  des  „ethischen  Staates"  (S.  32  ff.).  Vor  allem  aber 
hat  B.  die  grösste  und  wohl  unüberwindliche  Schwierigkeit,  die  sich  dem 
Verständnis  der  Kantischen  Rechtslehre  entgegenstellt,  treffend  zu  charak- 
terisieren gewusst  (bes.  S.  12  f.,  40  f.,  46  f.).  Sie  beruht  darauf,  dass 
nach  Kant  einerseits  die  rechtliche  Betrachtung  lediglich  auf  die  Regelung 
des  äusseren  Verhaltens  gerichtet  ist  und  deshalb  von  dem  ethischen 
Werte  des  Willens  und  Beweggrundes  abstrahiert,  andrerseits  aber  den- 
noch das  Rechtsgebiet  auf  Imperative  der  Vernunft,  auf  unbedingte  End- 
zwecke gegründet  wird,  ja  sogar  die  einzelnen  empirischen  Rechtsverhält- 
nisse durchweg  in  intelligible  Freiheitsbeziehungen  aufgelöst  werden. 
Schuld  an  dieser  abwechselnden  Unüberbrückbarkeit  und  Ununterscheidbar- 
keit  von  Moral  und  Recht  ist  nach  B.  der  Formalismus  der  Kantischen 
Ethik. 

Falkenberg  i.  d.  M.  Emil  La  sk. 

Stern,  Br.  Positivistische  Begründung  des  philosophi- 
schen Straf  rechts  (nach  Willielm  Stern);  veröffentlicht  in  Hans  Gross' 
„Archiv  für  Kriminalanthropologie  und  Kriminalistik".  Berlin,  1905.  1^97  S.) 

Die  philosophischen  Partien  der  vorliegenden  Schrift  bestehen  in 
einer  unveränderten  Reproduktion  von  Wilhelm  Sterns  „kritischer  Grund- 
legung der  Ethik  als  positiver  Wissenschaft"  (Berlin,  1897).  In  Überein- 
stimmung mit  diesem  Werk  vertreten  sie  den  Standpunkt  einer  positivi- 
stischen, induktiven,  rein  genetisch  verfahrenden  Ethik.  Alle  ethischen 
Probleme  sollen  auf  die  Gegensätzlichkeit  zweier  Triebe  zurückführbar 
sein.  Der  eine,  der  „antiethische",  ist  das  Selbsterhaltungsstreben  oder 
der  Egoismus,  der  andere,  als  das  „prinzipium  movens  der  sittlichen  Hand- 
lungen", ist  „der  Trieb  zur  Abwehr  aller  schädlichen  Eingriffe  der  sowohl 
unbeseelten,  als  auch  beseelten  objektiven  Aussenwelt  ins  psychische 
Leben".  „Man  kann  diesen  Trieb  auch  das  in  den  beseelten  Wesen  wir- 
kende Gesetz  der  Erhaltung  des  psychischen  Prinzips  im  Gegensatz  zum 
physischen  Gesetze  der  Erhaltung  der  Kraft  nennen"  (S.  31). 

Aus  dieser  Lehre  vom  sittlichen  Triebe  werden  sodann  Folgerungen 
für  die  Theorien  vom  Verbrechen,  von  der  Strafe,  von  der  W^illensfreiheit, 
sowie  für  die  Strafrechtspolitik  gezogen,  die  jedoch  mehr  von  krimina- 
listischem als  philosophischem  Interesse  sind. 

Falkenberg  i.  d.  M.  Emil  La  sk. 

KantBtudien  X.  37 


562  Recensionen  (Grisebach). 

Grisebach,  Eduard.  Schopenhauer.  Neue  Beiträge  zur  Ge- 
schichte seines  Lebens.  Berlin  1905.  Ernst  Hofmann  &  Co.  (VI  u. 
145  S.) 

Der  Titel  des  Buches  deutet  schon  an,  dass  es  als  Supplementband 
zu  der  bekannten,  mit  viel  Liebe  und  Hingabe  an  ihren  Gegenstand  ge- 
schriebenen Schopenhauer-Biographie  desselben  Autors  gedacht  ist.  Aber- 
mals liebevoll  und  fleissig  hat  der  Verfasser  versucht,  neue  Materialien 
biographischer  Art  zusammenzutragen.  Aber  die  neue  Schrift,  wir  müssen 
das  von  vornherein  betonen,  wird  doch  durch  die  früliere  schon  in 
Schatten  gestellt,  und  es  wäre  kein  gutes  Zeichen  für  die  Biographie, 
wenn  das  nicht  so  wäre.  Gerade  weil  diese  fast  alles  Wesentliche  brachte 
und  in  liebevoller  Arbeit,  soweit  dies  dem  Verfasser  möglich  war,  ihren 
Gegenstand  annähernd  erschöpfte,  konnten  die  neuen  Beiträge  nicht  mehr 
viel  des  Wesentlichen  erbringen.  So  mussten  die  Vorzüge  jener  diesen 
notwendig  zum  Nachteil  gereichen,  was  für  das  Hauptwerk  freilich  nur 
eine  Empfehlung  bedeutet  und  von  der  gewissenhaften  Aufspürung  und 
Verarbeitung  der  wesentlichsten  Materialien  zeugt. 

Ungerecht  wäre  es  aber  auch,  wenn  wir  verkennen  wollten,  dass  der 
Supplementband  überhaupt  wirklich  „neue  Beiträge"  enthält.  Über  Schopen- 
hauers Familie,  die  Anfänge  seiner  Beziehungen  zu  Goethe,  seine  Wei- 
marer Vorbereitungs-,  seine  Göttinger  Studentenzeit,  wie  auch  über  sein 
Verhältnis  zur  Schwester  und  zur  Charakteristik  der  Mutter  werden  uns 
interessante  Einsichten  erschlossen,  z.  T.  an  der  Hand  mehrerer  ungedruckter 
Briefe.  Freilich  so  interessant  sie  sein  mögen,  so  erfährt  doch  das  all- 
gemeine Urteil  über  Schopenhauers  Leben  und  Persönlichkeit  selbst  da- 
durch keine  wesentliche  Bereicherung,  und  sie  werden  nicht  annähernd 
so  wie  Grisebachs  Schopenhauerbiographie  selbst  im  Stande  sein,  die  land- 
läufige Meinung  zu  Korrekturen  an  sich  selbst  zu  veranlassen. 

Den  zweiten  Teil  des  Buches  bildet  eine  Schopenhauer-Bibliographie. 
Sie  verzeichnet  zunächst  „die  Originalausgaben  der  einzelnen  Schriften 
Schopenhauers",  dann  „posthume  Ausgaben  der  einzelnen  Schriften 
Schopenhauers  und  Übersetzungen  in  fremde  Sprachen",  sowie  „Ausgaben 
von  Schopenhauers  sämtlichen  Werken",  „Veröffentlichungen  aus  Scliopen- 
hauers  handschriftlichem  Nachlass",  „Biographie  Schopenhauers  und  seine 
Büste",  „die  sog.  Schopenhauer-Litteratur",  „Vorschopenhauersche  Philo- 
sophie (Werke  aus  seinem  Besitze  oder  von  ihm  citierte  WerkeV.  Daran 
schliesst  sich  ein  „Appendix"  über  naturwissenschaftliche  Schriften,  ein 
zweiter  über  „Religion — Mythologie". 

Für  die  Schopenhauerforschung  willkommen  mag  an  dieser  Biblio- 
graphie vor  allem  die  Thatsache  sein,  dass  die  verschiedenen  Einzel-  und 
Gesamtausgaben  seiner  Werke  hier  einmal  zusammengestellt  sind.  Nicht 
so  verdienstlich,  weil  durchaus  unvollständig  ercheint  mir  das  Verzeichnis 
der  sogenannten  Schopenhauerlitteratur.  Ich  will  nicht  davon  reden,  dass 
manche  in  den  Appendices  angeführten  Publikationen  besser  einfach  unter 
der  Schopenhauer-Litteratur  verzeichnet  wären.  Es  sind  vielmehr  zwei 
andere  Punkte,  die  jedem  aufmerksamen  Leser  auffallen  müssen,  und  an 
denen  die  Kritik  nicht  stillschweigend  vorübergehen  darf.  Erstens  führt 
Grisebach  in  seinem  Verzeichnis  der  Schopenhauer-Litteratur  Schriften  an, 
die  Schopenhauers  gar  nicht  Erwähnung  thun.  Das  begründet  er  freilich 
damit,  dass  die  seiner  hätten  Erwähnung  thun  sollen.  Wo  aber,  so  darf 
man  wohl  fragen,  liegt  hier  die  Entscheidung  der  (juaestio  juris?  Und, 
wie,  wenn  diese  Formel  ermittelt  wäre,  lässt  sich  die  Forderung  material 
durchführen,  und  ist  sie  auch  von  Grisebach  nur  annähernd  durchgeführt? 
Zweitens  dürfte  es  noch  mehr  überraschen,  dass  ein  so  ausgezeichneter 
Schopenhauerbiograph  und  warmer  Verehrer  des  Philosophen  die  Litteratur, 
die  sich  nun  positiv  mit  Schopenhauer  befasst,  nur  sehr  unvollständig  aufzählt, 
dass  Publikationen,  die  er  sicher  kennt  wie  etwa  moderne  Geschichtswerke,  von 
ilim  nicht  genannt  sind.  Auch  das  erklärt  sich  freilich  daraus,  dass  Grisebach 
nur  in  seinem  eigenen   Besitze  befindliche  Werke,  die  von  Schopenhauer 


Recensionen  ("Valentiner).  563 

handeln,  aufführt.  Damit,  was  schliesslich  auch  ein  Katalog  grösserer  Buch- 
handlungen zu  leisten  vermöchte,  ist  aber  doch  der  wissenschaftlichen  Arbeit 
nicht  gedient.  Eine  Bibliographie,  die  für  diese  Wert  haben  soll,  muss  so 
vollständig,  wie  nur  möglich  sein.  Wer  etwa  über  Schopenhauer  arbeiten 
wollte,  der  wird  zwar  —  das  wäre  ein  unmögliches  Beginnen  —  nicht 
jede  Zeile  der  sogenannten  Schopenhauer-Litteratur  zu  lesen  brauchen. 
Aber  zur  allgemeinen  Orientierung  wird  ihm  eine  Übersicht  ungemein  er- 
wünscht sein.  Dabei  kann  es  ihm  gleichgültig  sein,  ob  sie  ihm  an  der 
Hand  des  Verzeichnisses  einer  Privatbibliothek  oder  auf  welche  Weise 
sonst,  ermöglicht  ist.  Nur  dass  die  Bibliographie  möglichst  vollständig  ist, 
darauf  kann  es  ihm  ankommen. 

Ich  habe  mancherlei  Ausstellungen  machen  müssen,  glaube  aber 
trotzdem,,  dass  Grisebachs  Schrift  im  ersten  Teile  nicht  bloss  den  Besitzern 
der  Biographie,  sondern  auch  denen,  die  sich  überhaupt  für  Schopenhauer 
interessieren,  selbst  von  Interesse  sein  wird.  Schliesslich  hat  ja  Schopen- 
hauer nicht  bloss  für  seine  Verehrer  und  Anhänger,  sondern  auch  für  den, 
der  sich  vollkommen  klar  darüber  ist,  wie  sehr  sich  der  Romantiker  über 
seine  Thronerbschaft  des  Kritizismus  täuschte,  doch  immer  den  Reiz  der 
absolut  einzigartigen  Persönlichkeit.  Und  so  wird  das,  was  sich  auf  diese 
bezieht,  selbst  wenn  es  zur  Kenntnis  ihrer  Totalität  nicht  mehr  viel  her- 
beischaffte, wenn  es  nur  überhaupt  eine  persönliche  Färbung  trägt  und 
nicht  am  Äusserlichen  haftet,  von  Interesse  sein.  Unter  diesem  Gesichts- 
punkte vermag  ich  trotz  aller  Kritik  Grisebachs  Schrift  zu  würdigen  und 
erscheinen  mir  auch  die  Materialien,  die  er  in  Bezug  auf  die  vorhin  her- 
vorgehobenen Punkte,  wie  die  Anfänge  seiner  Beziehungen  zu  Goethe, 
seine  Weimarer  und  Göttinger  Jahre,  seine  Familienverhältnisse  etc.  bei- 
bringt, sowie  die  brieflichen  Äusserungen  von  Wert. 

Halle  a.  S.  Bruno  Bauch, 

Valentiner,  Theodor.  Kant  und  die  platonische  Philosophie. 
Heidelberg  1904.     Carl  Winter.     (94  S.) 

Verfasser  hat  sich  in  der  vorliegenden  Arbeit  bemüht,  im  Einzelnen 
das  Verhältnis  festzustellen,  welches  Kant  zur  plai^onischen  Philosojjhie 
einnimmt.  Brennend  ist  diese  Frage  besonders  neuerdings  geworden,  wo 
man  das  kritische  System  Kants  in  metaphysischem  und  mehr  und  minder 
speziell  auch  in  platonischem  Sinne  auszulegen,  mehrfach  den  Versuch  ge- 
macht hat.  Insofern  erwies  sich  die  Feststellung  der  Verwandtschafts- 
grade und  Gegensätze  zwischen  der  Kantischen  und  Platonischen  Lehre 
nicht  nur  als  eine  historisch  interessante,  sondern  auch  unmittelbar  syste- 
matisch bedeutsame  Aufgabe. 

In  einem  ersten  Kapitel  wendet  sich  Verfasser  der  Analogie  der 
beiden  Grundbegriffe  des  Kantischen  und  Platonischen  Systems,  der  Be- 
griffe der  „Phaenomena  und  Noumena"  zu.  Kant  und  Piaton  stimmen 
darin  überein,  nicht  nur,  dass  sie  die  Dinge  in  die  beiden  Klassen  und 
Gi'undkategorien  der  Phaenomena  und  Noumena  scheiden,  sondern  auch 
darin,  dass  sie  eben  diesen  Gegensatz  auf  eine  gleich  erkenntnistheore- 
tische Thatsache  begründen:  die  Annahme  eines  qualitativen  Unterschiedes 
von  Sinnlichkeit  und  Verstand.  Näher  betrachtet  ist  freilich  das  Verhält- 
nis der  Phaenomena  und  Noumena  sowohl  in  Bezug  auf  das  erkennende 
Subjekt  wie  zu  einander  bei  Piaton  und  Kant  ganz  anders.  Für  Piaton 
würden  die  Erscheinungen  bleiben,  auch  wenn  keine  Seele  da  wäre,  die 
sie  wahrnimmt.  Nach  Kant  enthält  das  Subjekt  vermöge  seiner  sinnlichen 
Organisation  den  formalen  Grund  der  Erscheinungen.  Sie  fallen  daher 
weg,  sobald  das  Subjekt  selbst  aufgehoben  wird.  Ein  offensichtlicher 
Mangel  dieses  Abschnittes  besteht  darin,  dass  Verfasser  zwischen  der 
Dissertation  von  1770  und  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  nicht,  wie  es 
notwendig  gewesen,  unterschieden  hat  Deutlich  zeigt  sich  dieser  Mangel 
insbesondere  in  der  metaphysisch-idealistischen  Auslegung  der  Kantischen 
Erkenntnistheorie  als  solcher,  der  Nichtbeachtung  des  von  Kant  scharf 
betonten  Unterschiedes  der  Noumena  in  positiver  und  negativer  Bedeutung 


564  Recensionen  (Valentiner). 

und  der  unbedenklichen  Gleiclisetzung  der  Dinge  an  sich  mit  intelligiV)len 
Gegenständen,  während  doch  für  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  der 
Ding  au  sich-Begriff  zunächst  nur  eine  erkenntnistheoretische  und  metho- 
dologische Bedeutung  liat. 

Dass  überhaupt  Verfasser  die  Kantische  Erkenntnistheorie  nicht  kri- 
tisch genug  auffasst,  beAveisen  auch  die  beiden  folgenden  Absclinitte :  „der 
Ursprung  unserer  Vernunfterkenntnisse"  und  „objektiver  und  transscenden- 
taler  Idealismus".  Verfasser  bemerkt  zwar  richtig,  dass  die  Kantische 
Anschauung  von  einer  schöpferischen  Energie  des  Bewusstseins  dem  pla- 
tonischen Denken  als  solche  fremd  sei,  hat  aber  doch  diesen  grundlegen- 
den Unterschied  sowie  überhaupt  die  Verschiedenheit  der  Auffassung  Pla- 
tons  und  Kants  bezüglich  der  überempirischen  Art  und  des  Wesens  des 
erkennenden  Bewusstseins,  die  Verschiedenheit  des  psychologischen  und 
transscendentalen  Apriori  nicht  genügend  gewüi'digt.  Ebenso  unterliegen 
die  besonders  in  dem  dritten  Abschnitt  zwischen  der  Kantischen  und  pla- 
tonischen Lehre  gezogenen  Vergleiche  starken  Bedenkens :  manche  schei- 
nen gesucht,  manche  von  vornherein  verfehlt  zu  sein.  Der  Grund  für 
diese  nicht  befriedigenden  Darlegungen  liegt  schliesslich  in  einem  unzurei- 
chenden Verständnis  des  Verfassers  für  das  Eigenartige  der  Kantischen  Er- 
kenntnislehre, wie  er  denn  schliesslich  gegen  sie  den  Vorwurf  erhebt,  sicli 
des  gleichen  Fehlers  wie  die  alte  dogmatische  Metaphysik,  der  Einfülirung 
eines  ontologischen  Argumentes  schuldig  gemacht  zu  haben.  „Das  nicht 
in  der  Anschauung  gegebene  Erkenntnisvermögen  wird  als  der  Realgrund 
der  Form  und  Ordnung  der  Welt  selbst,  nicht  bloss  als  Grund  ihrer  Er- 
kenntnis gesetzt,  und  man  sieht  leicht,  wie  sich  ein  ontologisches  Argu- 
ment in  die  Beweisführung  eingeschlichen  hat."     (S.  46.) 

„Es  ist  ein  rein  logischer  und  ein  die  reale  Welt  der  Erfahrung 
möglicli  machender  Faktor  in  dem  Erkenntnisvermögen,  wie  Kant  es  de- 
duciert,  ebenso  für  uns  zu  unterscheiden,  wie  Kant  in  den  platonischen 
Ideen  und  den  von  der  platonischen  Anschauungsweise  noch  nicht  be- 
freiten Begriffen  einer  späteren  Metaphysik  neben  dem  begrifflichen  Ele- 
ment ein  ihm  entsprechendes  Objekt  oder  Sein  entdeckt  hatte."  (S.  48.) 
Dass  das  Problem  der  Identität  von  Sein  und  Denken  ein  ganz  anderes 
auf  dem  Boden  der  dogmatischen  Metaphysik,  ein  ^anz  anderes  auf  dem 
Boden  der  phaenomenalistischen  Erkenntnistheorie  ist  und  gerade  durch 
die  Einsicht  in  die  formale  Erzeugung  der  Objekte  der  p]rfahrung  aus  den 
Bedingungen  der  Möglichkeit  unserer  Erfahrung  das  Grundproblem  der 
Kantischen  Erkenntnistheorie,  das  Problem  von  der  notwendigen  Beziehung 
der  Vorstellungen  auf  Gegenstände  seine  einzig  mögliche  Lösung  findet 
—  dieses  hätte  Verfasser  billig  bedenken  sollen,  ehe  er  so  grundlos  über 
die  Kantische  Erkenntnistheorie  urteilte. 

Sehr  lehrreich  und  auch  im  Einzelnen  treffend  sind  dagegen  die 
Ausführungen  des  vierten  Kapitels,  darlegend  die  Rolle  und  Bedeutung, 
welche  der  „Idee"  in  dem  Kantischen  System  sowohl  in  theoretischer  wie 
ethischer  und  ästhetischer  Hinsicht  zukommt.  Der  Begriff  „Idee"  ist  erst 
von  Kant  wieder  in  seine  ursprüngliche,  ihm  von  Piaton  verliehene  Be- 
deutung eingesetzt  worden  als  Bezeichnung  für  das  erhabendste  Gebilde, 
welches  die  menschliche  Vernunft  zu  denken  fähig  ist.  Idee  bedeutet  da- 
her für  Kant  Vollkommenheit  schlechtweg:  Vollendung  im  empirischen 
Vernunftgebrauch,  Vollkommenheit  der  Gesinnung  im  sittlichen  Handeln, 
subjektive  Zweckmässigkeit  der  Naturschönheit  und  objektive  der  Natur- 
zwecke. Freilich  machen  sich  auch  hier  wiederum  grosse  Gegensätze 
zwischen  der  Auffassung  Kants  und  Piatons  geltend.  Die  platonischen 
Ideen  sind  ebenso  tot  und  imbeweglich  wie  die  Kantischen  strebend  und 
lebendig,  jene  sind  transscendente  Objekte,  diese  immanente  Gedanken- 
totalitäten, jene  stellen  beharrliche  Urbilder,  diese  Ziele,  Aufgaben  und 
Normen  auf  theoretischem,  ethischem  und  ästhetischem  Gebiete  dar.  Und 
auch  hier  hat  Kant  noch  eine  weitere  Spaltung  in  dem  Begriff  „Idee" 
vorgenommen:   nur   den  Begriff,   dem  kein  congruierender  Gegenstand  in 


Recensionen  (Ludwig).  565 

der  Erfahrung  gegeben  werden  kann,  nennt  Kant  „Idee",  den  Gegenstand 
dieser  Idee  selbst  aber,  sofern  er  zum  Objekt  unseres  Strebens  gemacht 
wird,  ein  „Ideal". 

Ein  fünftes  Kapitel,  betitelt  „Vernunft  und  Moral",  ist  endlich  der 
Betrachtung  der  platonischen  und  Kantischen  Ethik  gewidmet.  Noch  in 
Kants  Gebrauch  des  Begriffs  der  Vernunft  schimmert  die  alte  Bedeutung 
des  platonischen  vov(;  durch.  Denn  auch  dieser  bezeichnet  wie  Kants  Ver- 
nunft ein  Vermögen,  welches  ebensowohl  theoretisch  erkennend  wie  prak- 
tisch verpflichtend  ist.  Nur  aus  der  Vernunft  ist  ebensowohl  für  Piaton 
wie  für  Kant  das  Gute  in  der  Welt  abzuleiten,  aber  Piaton  fasst  auch  hier 
die  Vernunft  nur  als  ein  das  Sein  der  Dinge,  der  natürlichen  wie  der  sitt- 
lichen, abbildendes  Vermögen,  Kant  dagegen  als  eine  erst  das  Sein  der 
Dinge  ermöglichende  Fähigkeit  sowohl  in  theoretischer  wie  praktischer 
Hinsicht  auf.  Dieser  Gegensatz  zeigt  sich  besonders  wieder  in  der  Be- 
griffsbestimmung des  Guten,  denn  wenn  auch  für  Piaton  ebenso  wie  für 
Kant  Moralität  nnr  in  der  Verwirklichung  des  Vernunftgesollten  im  Gegen- 
satz zu  den  natürlichen  Bedürfnissen,  Tugend  also  im  vernunftgemässen 
Leben  besteht,  so  ist  doch  die  Tugend  für  Kant  nicht  wie  für  Piaton  ein 
Gegenstand  des  Abbildens  und  theoretischen  "Wissens,  sondern  des  spon- 
tanen Erzeugens  und  Handelns,  eine  Willensthat,  nicht  ein  Bewusstsein 
von  etwas,  das  man  besitzt.  Nach  platonischer  Auffassung  ist  uns  das 
Gute  schon  vor  der  Geburt  zu  Teil  geworden,  für  Kant  wird  das  Gute 
erst  in  der  geschichtlichen  Entwickelung  des  Einzelnen  und  der  geschicht- 
lichen Entwickelung  der  grossen  historisch-politischen  Gesamtheiten  ver- 
wirklicht und  liegt  daher  als  letztes  Ziel  unseres  Handelns  vor  uns,  nicht 
wie  für  Piaton  als  Urbild  hinter  uns.  So  tritt  überall  an  Stelle  des  pla- 
tonischen Seins  für  Kant  das  Werden,  und  das  ist  schliesslich  der  tiefste 
Gegensatz  der  platonischen  und  Kantischen  Weltanschauung,  dass  Piaton 
eben  so  sehr  von  der  paradigmatischen  wie  Kant  von  der  genetischen 
Betrachtungsweise  beherrscht  ist,  jener  mit  dem  Blick  der  Verklärung  auf 
eine  reale  Welt  sittlicher  Vollendung  zurückschaut,  ihr  die  neuen  Lebens- 
ideale abbildend  entnehmend,  dieser  in  dem  immanenten  Gebrauch  der 
Vernunft  selbst  die  Ideale  der  concreten  Lebensführung  findet  und  ihrer 
Verwirklichung  auf  dem  Wege  der  Pflicht  an  den  Sieg  des  Guten  glaubend 
und  ihm  den  vollgültigen  Besitz  menschlicher  Glückseligkeit  opfernd  un- 
entwegt nachstrebt. 

Halle  a.  S.  F.  Kuberka. 

Ludwig,  A.  Fr.,  Dr.  Weihbischof  Zirkel  in  seiner  Stellung 
zur  theologischen  Aufklärung.  Paderborn,  Schönin^h  1904.  1.  Bd. 
Vm.     (.S77  S.) 

Da  ich  mit  dieser  Schrift  mich  bereits  in  der  Beilage  zur  Münchener 
Allgemeinen  Zeitung  No.  22  vom  27.  Januar  1905  eingehender  befasst 
habe,  eine_  zweite  Besprechung-  des  gleichen  Buches  durch  denselben  Re- 
censenten  jedoch  sowohl  der  litterarischen  Gepflogenheit  als  meiner  per- 
sönlichen Überzeugung  vom  Werte  der  Leistung  Dr.  Ludwigs  wider- 
spricht, so  beschränke  ich  mich  auf  nachfolgende  Angaben  des  Thatbe- 
standes.  Sie  sind  teils  dem  vorliegenden  Buche,  teils  meinen  eigenen 
Exzerpten  entnommen. 

Weihbischof  Zirkel  von  Würzburg  verdient  auch  in  den  Kantstudien 
Erwähnung,  obwohl  seine  eigentliche  Bedeutung  auf  kirchenpolitischem 
Gebiete  liegt.  Ein  geborener  Franke,  lebte  er  (1762—1817)  gerade  zu 
einer  Zeit,  wo  die  Kantische  Philosophie  an  den  Hochschulen  zu  Bamberg, 
Würzburg,  Mainz  und  auch  im  fränkischen  Kloster  Banz  viele  Verehrer 
und  Vertreter  fand.  Zirkel  hörte  Philosophie  bei  Prof.  Damm  in  Bam- 
berg, einem  Manne,  der  .,mit  freien  und  unbefangenen  Blicke  die  ersten 
Vorlesungen  über  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  hielt  zu  einer  Zeit,  wo 
der  Obskurantismus  in  jeder  Silbe  der  Kantisclien  Schriften  Verführung 
und  Ketzerei  witterte  ..."  (cf.  Weber,  Geschichte  der  gelehrten  Schulen 
im  Hochstifte  Bamberg   1880,   S.  223   nebst  der  dort  bez.  Litteratur).    Im 


566  Recensionen    Siegel). 

Jahre  1781  kam  Zirkel  nach  Würzburg,  wo  er,  die  Zeit  vom  Herbste 
1786—89  ausgenommen,  sein  weiteres  Leben  zubrachte.  An  dieser  Uni- 
versität des  Frankenlandes  wurde  seit  dem  Jahre  17H8  die  Kantische  Phi- 
losophie durch  Maternus  Reuss  vorgetragen.  Auch  auf  Zirkel  hatten  die 
neuen  Ideen  mächtig  eingewirkt.  Besonders  schätzte  er  deren  ethische 
Seite  Obwohl  keine  philosophisch  irgendwie  hervorragende  Persönlichkeit, 
verstand  er  es  doch,  wie  vielleicht  kein  zweiter,  Kants  Lehren  zu  popu- 
larisieren. Ja,  sie  dienten  ihm  sogar  als  Grundlage  seiner  Predigten. 
Diese  „Predigten  über  die  Pflichten  der  höheren  und  aufgeklärten  Stände" 
(Würzburg  179;-$)  erregten  auch  in  Mittel-  und  Norddeutschland  grosses 
Aufsehen  und  fanden  vielfachen  Beifall.  Für  Zirkel  hatten  sie  aber  noch 
die  weitere  Folge,  dass  er  einen  Ruf  an  die  Universität  Königsberg  i.  Pr. 
erhielt.  Die  preussische  Regierung  wollte  nämlich  an  den  Universitäten 
Königsberg  i.  Pr.  und  Frankfurt  a.  d.  O.  eine  theologische  Fakultät  für 
die  Studierenden  der  katholischen  Theologie  errichten.  Neben  Zirkel 
wurde  im  gleichen  Jahre  1800  noch  Mutschelle  berufen,  damals  Pfarrer  in 
Braunkirchen  (bei  München)  und  Professor  am  Lyceum  zu  München,  be- 
kannt als  eifriger  Vertreter  der  kritischen  Philosophie,  in  deren  Sinne 
seine  Schriften  gehalten  sind,  besonders:  „Philosophische  Gedanken  und 
Abhandlungen  mit  Rücksicht  auf  die  kritische  Philosophie",  „Moraltheo- 
logie" (4  Bde.)  und  die  „Hefte  über  die  Kantische  Philosophie"  (fast  bis 
zu  12  Heften  durch  Ign.  Thamer).  Zirkel  lehnte  den  Ruf  ab,  Mutschelle 
folgte,  starb  aber  noch  vor  Antritt  seines  Amtes.  Im  Jahre  1802  erging 
nochmals  der  Ruf  der  preussischen  Regierung  in  der  gleichen  Angelegen- 
heit an  einen  süddeutschen  Gelehrten,  diesmal  an  Joh.  Anton  Eisenmann, 
einen  gebornen  Badenser,  der  in  Würzburg  seine  Studien  gemacht  hatte, 
später  als  Pädagoge  sich  auszeichnete  und  als  Domherr  in  Bamberg  starb. 
Die  Kriegsrüstungen  in  Preussen  machten  jedoch  der  Regierung  die  Aus- 
führung des  Planes  unmöglich,  die  Errichtung  der  beabsichtigten  Fakultät 
kam  nicht  zustande  (cf.  Jaeck,  Zweithes  Pantheon  bei  Literaten  und 
Künstler  Bambergs.     Bamberg  1843,  S.  26). 

Aus  der  vorliegenden  Schrift  Dr.  Ludwigs,  welche  den  I.  Band 
einer  Biographie  über  Zirkel  bildet,  haben  für  die  Freunde  der  „Kant- 
studien" lediglich  die  Kapitel  4,  6  und  7  Interesse,  wo  die  pädagogische, 
dogmatische  und  philosophische  Anschauung  Zirkels  dargelegt  wird.  Von 
seinem  Biographen  wird  der  feinsinnige  Zirkel  wegen  der  Vorliebe  für 
die  Kantische  Philosophie  als  unkirchlich,  als  Rationalist,  als  Heuchler,  als 
Deist  bezeichnet.  Das  Buch  Kants:  „Religion  innerhalb  der  Grenzen  der 
blossen  Vernunft"  nennt  Dr.  Ludwig  eine  „berüchtigte"  Schrift.  Einer 
Würdigung  derselben  auch  nur  nach  der  historischen  Bedeutung  glaubt 
sich  der  Kirchenhistoriker  überhoben.  Dass  er  auch  die  Kantischen 
Schriften  nach  einer  Gesamtausgabe  nicht  in  der  herkömmlichen  Weise 
eitleren  kann  (S  99),  soll  wohl  noch  ein  weiterer  Beleg  sein,  wie  sehr  sich 
der  Autor  vor  einer  Infektion  durch  den  „Rationalismus"  Kants  gehütet  hat. 

München.  Dr.  G.  Hub  er. 

Siegel,  Carl.  Zur  Psychologie  und  Theorie  der  Erkenntnis. 
Leipzig,  O.  R.  Reisand  1903.     (IV  und  18()  S.) 

Die  doppelte  Aufgabe,  welche  sich  das  vorliegende  Buch  gestellt 
hat,  ergiebt  sich  aus  dem  Titel.  Psychologisch  wird  die  Erkenntnis  er- 
klärt durch  die  beiden  „Grundfunktionen  des  Bewusstseins",  Trennen  und 
Verbinden.  Da  von  diesen  beiden  die  letzte  in  der  Psychologie  bisher 
schon  eingehend  erörtert  worden  ist,  so  beschäftigt  sich  der  Verfasser  in 
erster  Linie  mit  dem  Begriffe  des  Trennens.  Dadurch  berührt  er  sich 
vielfach  mit  Ulrici,  in  dessen  Gedankensysteme  das  Unterscheiden  eine 
Hauptrolle  gespielt  hat.  Doch  findet  er  eine  Abweichung  von  diesem  da- 
rin, dass  „das  Unterscheiden  sich  nicht  mit  einem  wirklichen  Scheiden  bei 
Ulrici  deckt".  (S.  8.)  Den  Trennungsprozess  findet  Verfasser  schon  auf 
der  Empfindungsstufe  Er  erklärt,  dass  „auch  die  Empfindung  selbst,  wie 
wir  Menschen  sie  heute  haben,   nicht   der  ursprüngliche  Prozess,   sondern 


ßecensionen  (Strong).  Ö67 

das  Produkt  späterer  Entwickelung-  und  zwar  einer  natürlich  unbegrifflich, 
ja  unwillkürlich  sich  vollziehenden  Trennung  ist".  (S.  18.)  S.  57  "ff.  wird 
die  „Bedeutung  des  Trennungsprozesses  für  die  Urteils-  und  Begriffs- 
bildung'' besprochen.  Hier  erfolgt  die  Auseinandersetzung  mit  Wundt, 
besonders  aber  mit  Jerusalem,  dessen  „Kraftzentrumstheorie"  S.  66  ff. 
eingehend  erörtert  wird.  Bemerkenswert  sind  die  Ausführungen  über 
„Urteil  und  Gülti^keitsglauben"  S.  72  ff.  Siegel  sieht  ferner  im  Trennungs- 
prozess  auch  die  Grundlage  naturwissenschaftlicher  Methoden.  Insbesondere 
ist  ihm  das  Trennen  die  „Grundfunktion,  die  das  Wesentliche  der  Induk- 
tion herbeiführt".  —  Diesem  ersten  psychologischen  Abschnitte  folgen 
zwei  erkenntnistheoretische.  Zuerst  wird  die  Lehre  von  den  Kategorieen 
behandelt,  ,.jenen  allgemeinsten  Begriffen  .  .  .,  welche  dazu  dienen,  die 
durch  die  Empfindungen  gegebene,  versubjektivierte  Welt  in  eine  objek- 
tivere Welt  zu  verwandeln",  (S.  93.)  Es  folgt  eine  Kritik  von  Kants 
Ableitung  der  Kategorieen.  Siegel  hält  drei  Kategorieen  fest:  Zahl  (Zu- 
sammenfassung von  Kants  Kategorieen  der  Quantität),  Substanz  und  Kau- 
salität. (S.  98.)  Der  dritte  Abscünitt  giebt  einen  „allgemein  philoso- 
phischen Ausblick".  Es  wii'd  die  „Lehre  von  der  objektiven  Welteinheit" 
entwickelt.  Der  Zusammenhang  mit  Spinoza  wird  zugestanden.  Doch 
wird  (S.  167)  im  Anschlüsse  an  F.  Jodl  behauptet,  dass  der  Monismus 
„zwar  in  die  gradlinige  Fortsetzung  von  Spinozas  Denkrichtung  fällt,  sich 
aber  jedenfalls  mit  seiner  Denkweise  nicht  genau  deckt".  Nicht  ganz  un- 
widersprochen lassen  können  wir  die  Behauptung  im  Vorwort  (S.  IV): 
„Wir  nähern  uns  zugleich  aber  auch  der  Grundanschauung,  die  ein  Kant 
lange  Zeit  festgehalten,  und  die  er  erst  aufgegeben  hat,  da  er  sich  zu 
einem  Kopernikus  berufen  und  durch  Umwertung  aller  Werte  auf  erkennt- 
nistheoretischem Gebiete  die  notwendige  Gültigkeit  ebensowohl  als  die 
notwendige  Beschränktheit  menschlicher  Erkenntnis  unwiderleglich  dar- 
gelegt zu  haben  vermeinte."  Nur  auf  die  Dissertation  vom  Jahre  1770 
dürfte  das  Gesagte  annähernd  zutreffen.  Abgesehen  davon  ist  die  mo- 
nistische Denkweise  im  Sinne  Siegels  nur  eine  schwache  Unterströmung 
im  Gedankenflusse  Kants.  Spuren  derselben  dürften  auch  in  den  Schriften 
der  kritischen  Periode  nicht  ganz  fehlen.  Die  in  den  obigen  Worten  ent- 
haltene, nicht  allzufreundliche  Beurteilung  von  Kants  erkenntnistheore- 
tischem Lebenswerke  hat  der  Verfasser  selbst  zu  vertreten. 

Das  Siegeische  Buch  enthält  eine  energische  Bearbeitung  der  hier 
in  Betracht  kommenden  Begriffe.  Es  wird  hoffentlich  die  psychologischen 
Fragen  lösen  helfen  und  dazu  beitragen,  dass  die  Behandlung  der  hierher 
gehörigen  allgemein  psj^chologischen  Probleme  immermehr  eine  empirisch 
exakte  Grundlage  erhält. 

Darmstadt.  Ernst  Schrader. 

Why  the  Mind  has  a  Body  by  C.  A.  Strong,  Macmillan  and  Co. 
New- York  and  London  1903.     (355  S.) 

Über  ein  in  der  letzten  Zeit  vielfach  erörtertes  Thema  giebt  uns  der 
Verfasser  —  Professor  Strong  an  der  Columbia  Universität,  New-York  — 
ein  scharfsinnig  und  mit  vieler  Überlegung  geschriebenes  Buch,  welches 
vorzüglich  geeignet  ist,  grössere  Klarheit  vom  methodologischen  Stand- 
punkte aus  in  die  Behandlung  des  Problems  hineinzubringen.  Die  Ein- 
teilung derselben  nach  empirischem  (S.  1 — 06),  kausalem  (S.  66—160)  und 
metaphysischem  Gesichtspunkte  verdient  hohe  Anerkennung  Obwohl 
selbst  Psycholog,  erkennt  doch  Strong  sehr  wohl  an,  in  dieser  Hinsicht  in 
einem  zu  vielen  Psychologen  der  Gegenwart  erfreulichen  Kontraste,  dass 
die  zu  behandelnde  Frage  unmöglich  durch  experimentelle  Psychologie 
allein  gelöst  werden  kann. 

Der  wichtige  Punkt,  wie  Verf.  richtig  betont,  bei  der  Auffassung  der  Be- 
zeichnung zwischen  Körper  und  Geist,  ist  nicht  die  Frage,  in  welcher  Richtung 
das  Kausalverhältnis  liege,  sondern  vielmehr  ob  das  Verhältnis  solcher  Art 
sei,  dass  es  eine  Kausalauffas^sung  überhaupt  gestatte.  Seine  Übersicht 
der  verschiedenen  möglichen  Theorien  vom  empirischen  Standpunkte  führt 


568  Recensionen  (Strong). 

zu  der  Aufstellung:  von  Wechselwirkungstheorie,  .,Automatontheorie"  und 
Parallelismus  als  heutzutage  die  drei  wichtigsten.  Da  aber  vorläufig  diese 
nur  empirische  Theorieen  sind,  so  bedürfen  sie  später  einer  philosophischen 
Kritik  und  weiteren  Interpretation. 

Die  speziellen  Fragen,  die  sich  möglicherweise  nach  experimenteller 
Methode  als  lösbar  ergeben,  sind:  1.  ob  der  Gehirnvorgang  sich  erschöpfe 
im  Augenblicke,  wo  der  ihm  korrespondierende  psychische  Prozess  statt- 
findet oder  ob  er  noch  weitere  physiologische  Wirkungen  hervorbringe? 
2.  Ob  alle  psychischen  Prozesse  mit  physischen  Ereignissen  verknüpft 
seien  ?  H.  Ob  das  Zeitverhältnis  zwischen  psychischen  Zuständen  und 
physiologischen  Vorgängen  simultaner  oder  successiver  Art  sei?  Es  ist 
ein  Verdienst  Strongs,  diese  letzte  zu  wenig  diskutierte  Frage  betont 
zu  haben.  Denn  sind  der  Gehirnvorgang  und  der  psychische  Prozess 
simultan,  so  würde  dieses  kaum  mit  einer  Wechselwirkungsauffassung 
vereinbar  sein.  Gesetzt  aber,  sie  seien  successiv,  so  bildete  das  nicht  not- 
wendigerweise ein  Argument  für  diese  Hypothese,  Der  Verf.  zeigt,  dass 
es  nicht  möglich  ist,  diese  Frage  durch  das  Experiment  oder  die  Beob- 
achtung zu  entscheiden.  (S.  62.)  Statt  das  Kausalverhältnis  durch  eine 
Bestimmung  des  Zeitverhältnisses  zu  bestimmen,  muss  umgekehrt  das 
letztere  vermöge  einer  Entscheidung  des  ersteren  bestimmt  werden.  Was 
Frage  2  betrifft,  so  ist  Verf.  geneigt,  sie  zu  beziehen  auf  Grund  der  Er- 
fahrung, dass  alle  psychischen  Zustände  durch  Anwendung  phj^sischer 
Mittel  zum  Verschwinden  gebracht  werden  können.  Auch  sprechen  dafür 
die  Thatsachen  der  Ermüdung  (S.  56—60).  Auf  der  anderen  Seite  giebt 
es  keine  Thatsachen,  welche  zeigen,  dass  alle  cerebralen  Prozesse  mit 
geistigen  Prozessen  verbunden  seien.  Fragt  man  nun,  ob  der  cerebrale 
Vorgang  aufhört,  wenn  der  psychische  Prozess  eintritt,  so  kann  dies  nicht 
experimentell  beantwortet  werden.  Wäre  es  zu  bejahen,  so  würde  ein 
starkes  Argument  für  den  Parallelismus  —  oder  richtiger  gesagt,  für  die 
Lehre  von  der  Geschlossenheit  der  physischen  Kausalität,  auf  der  der 
Parallelismus  beruht  —  aufgehoben  sein.  Eine  durchgehende  Abhängig- 
keit des  Psychischen  vom  Physischen  wird  durch  die  Thatsachen  schein- 
bar bestätigt.  Während  wir  niemals  mehr  als  Ortsveränderungen  oder 
Zustandsänderungen  durch  unseren  Willen  bewirken  können,  so  können 
dagegen  Veränderungen  der  Materie  unser  Bewusstsein  sehr  abschwächen 
oder  sogar  zum  Verschwinden  bringen.  Wäre  nun  unser  Wille  im  Stande, 
ein  Stück  Materie  zu  vernichten,  würden  wir  nicht  geneigt  sein,  in  dieser 
Thatsache  einen  Beweis  der  Abhängigkeit  des  Physischen  vom  Psychischen 
zu  erblicken? 

Im  zweiten  Teile  seines  Werkes  behandelt  der  Verf,  die  kausale 
Seite  des  Problems.  Zuerst  giebt  er  einige  genauere  Fassungen  und  Aus- 
legungen der  widerstreitenden  Hypothesen;  dabei  macht  er  einen  lehr- 
reichen Vergleich  zwischen  der  „Automatontheorie",  welche  eine  einseitige 
Wechselwirkungslehre  darstellt  und  dem  Parallelismus.  Das  Motiv,  welches 
zahlreiche  Forscher  zur  Verwerfung  des  letzteren  und  zur  Anerkennung 
der  Wechselwirkungstheorie  führt,  nämlich  der  Glaube,^dass :  „the  causal 
afficieing  of  consciousness  is  at  stake",  ist  nach  Stroug  nicht  begründet. 
Denn  mit  Recht  betont  er,  was  er  noch  an  mehreren  Stellen  seines  Buches 
nachweist,  dass  der  Parallelismus  keineswegs  den  Epiphaenomenalismus 
einschliesst.  Dagegen  bildet  der  Panpsychismus  ein  Element  in  der  Ge- 
samtauffassung Strongs. 

In  Kap.  V.  VI.  VII.,  Abschnitte,  welche  viele  fein-  und  scharfsinnige  Be- 
merkungen enthalten,  werden  die  Argumente  für  die  Automatonlehre, 
Wechselwirkung  und  den  Paraltelismus  eingehend  geprüft.  Von  diesen  steht 
nach  Verf.  die  erste  auf  schwächerem  Fusse  und  schliesst  die  Schwierig- 
keit einer  doppelten  Effekttheorie  in  sich  ein.  Die  Wechselwirkungstheo- 
rie stützt  sich  hauptsächlich  auf  die  Thatsachen  der  willküi liehen  Hand- 
lungen und  die  Existenz  des  Bewusstseins,  welches  nach  biologischen 
Prinzipien   irgend   welche   Rolle  zu  spielen  haben  muss.    Die  Gründe  des 


Recensionen  (Strong).  569 

Parallelismus  sind  vor  allem  in  der  ]Vatur  des  Kausalverhältnisses  und  in 
dem  Prinzipe  der  Erhaltung  der  Energie  zu  suchen,  weshalb  dann  die 
Untersuchungen  vieler  Wechselwirkungstheoretiker  in  der  neuesten  Zeit 
sich  gegen  das  letztgenannte  Prinzip  gewendet  haben,  in  dem  sie  entweder 
nachzuweisen  versucht  haben,  dass  ein  Kausalverhältnis  zwischen  Phy- 
sischem und  Psychischem  ganz  wohl  mit  dem  Energieprinzip  vereinbar 
sei  (wie  z.  ß.  Stumpf,  Sigwart);  oder  die  universelle  Gültigkeit  dieses 
Prinzips  angegriffen  haben  (wie  z.  B.  Busse  und  andere)  Hinsicht- 
lich des  zweiten  Ausweges  liegt,  wie  mir  scheint,  bis  jetzt  das  onus  pro- 
bandi den  Gegnern  ob,  um  eine  thatsächliche  Ausnahme  zu  diesem  um- 
fassenden Prinzip  zu  statuieren.  Hinsichtlich  des  ersten  Ausweges  stimmen 
wir  mit  Strong  überein,  i)i  dem  er  das  Resultat  einer  Prüfung  der  Ver- 
suche so  zusammenfasst :  „Unless,  however,  the  psychical  itself  is  a  form 
of  energy,  no  vieuw  which  attributes  to  it  physical  action  can  be  reconciled 
with  the  Conservation  of  Energy".  S.  134.  Kein  Forscher,  glaube  ich, 
rechnet  ernstlich  mit  der  Wahrscheinlichkeit  von  Stumpfs  Annahme  einer 
psychischen  Energie,  geschweige  dass  er  diese  Hypothese  als  irgendwie  be- 
wiesen betrachtet.  Man  kann  den  Begriff,  psychische  Elnergie,  nur  ge- 
brauchen, wie  Ostwald  es  thut  in  seinen  „Vorlesungen  über  Naturphilo- 
sophie", falls  man  unter  Energie  nicht  etwas  anderes  versteht  als  was 
wissenschaftlich  darunter  verstanden  wird.  Denn  was  energetisch  ist,  hat 
eine  Grösse,  das  Psychische  als  solches  hat  aber  keine  Grösse. 

Wenn  wir  den  Kausalbegriff  auf  das  Verhältnis  von  physischen 
Vorgängen  und  psjxhischen  Prozessen  anwenden  wollten,  so  würden  wir 
bestenfalls  Gleichförmigkeit  oder  Regelmässigkeit  der  Aufeinanderfolge 
haben  —  natürlich  angenommen,  dass  das  Zeitverhältnis  zwischen  beiden 
dasjenige  der  Succession  sei.  Aber  blosse  Gleichförmigkeit  erschöpft  nicht 
den  modernen  Kausaibegriff.  Derselbe  ermöglicht  nicht  nur  die  Konstruk- 
tion einer  kontinuierlichen  Reihe,  sondern  fordert  noch  dazu  ein  zahlen- 
mässiges  Verhältnis  zwischen  Wirkung  und  Ursache.  Diese  quantita- 
tive Beziehung  vertritt  die  Stelle  des  von  Hume  mit  Recht  kritisierten 
Begriffs  eines  verborgenen  Nexus;  zugleich  aber  verleiht  sie  dem  Kausal- 
verhältnis einen  mehr  rationalen  Charakter  als  Hume  anerkannte.  Bei 
seiner  Anwendung  auf  das  Verhältnis  vom  Physischen  und  Psychischen 
fehlen  diese  Merkmale  des  modernen  Kausalbegriffs  vollständig.  Deshalb 
sagt  Verf.:  „Das  Argument  vom  Kausalprinzipe  beweist  den  Pai-allelismus, 
aber  seine  Gültigkeit  ist  nur  hypothetisch,  da  es  auf  der  Annahme  beruht,  dass 
psjxhische  Prozesse  mit  ihren  cerebralen  Begleiterscheinungen  simultan  sind." 
S.  159.  Ich  glaube  aber,  dass  ein  Rückschluss  vom  Kausalverhältnis  auf 
das  Zeitverhältnis  möglich  sei,  und  gedenke  in  dieser  Hinsicht  eines  Be- 
weises, welchen  neuerdings  Riehl  angeführt  hat.  „Wäre  das  Psjxhische 
eine  Energieform,  so  müsste,  so  oft  es  hervortritt  oder  sich  bethätigt,  ein 
bestimmter  Betrag  einer  anderen  Energieform  verschwinden,  so  oft  es 
latent  wird,  Energie  von  anderer  Art  entstehen."  Die  Erfahrung  lehrt 
aber  gerade  das  Gegenteil.  Denn  Mosses  Experiment  hat  gezeigt,  dass 
die  Energie  des  chemischen  Umsatzes  im  Gehirn  gesteigert  wird,  wenn 
wir  geistig  thätig  sind,  herabgesetzt,  wenn  wir  geistig  ruhen."  „Es  ver- 
schwindet also  nicht  Energie,  wenn  Bewusstsein  entsteht,  es  entsteht 
nicht  Energie,  wenn  Bewusstsein  verschwindet,"  woraus  Riehl  den 
Schluss  gezogen  hat:  „der  chemische  Prozess  im  Gehirn  und  die  psychische 
Thätigkeit  verwandeln  sich  nicht  ineinander ;  sie  o^ehen  miteinander." 
(Philosophie  der  Gegenwart  S.  158.)  Dieses  bildet  nicht  nur  eine 
Instanz  gegen  Stumpfs  Vorschlag  das  Psychische  als  eine  Energieform 
zu  betrachten,  sondern  legt  zugleich  die  Gleichzeitigkeit  der  psychi- 
schen Thätigkeit  und  des  physiologischen  Prozesses  dar.  Aber  abgesehen 
hiervon,  so  lange  man  nachweisen  kann,  was  wie  ich  glaube,  in  der 
That  möglich  ist,  dass  physische  Veränderungen  überall  durch  physische 
Faktoren  eindeutig  bestimmt  werden,  so  ist  das  Argument  vom  Kausal- 
prinzipe durchaus  nicht  von  der  von  Strong  aufgestellten  Bedingung  ab- 


570  Receusionen  (Strong). 

hängig.  Denn  ob  die  psychische  Thätigkeit  mit  dem  cerebralen  Prozess 
gleichzeitig  sei  oder  nicht,  so  kann  doch  jene  unmöglich  in  das  physische 
Geschehen  eintreten. 

Der  dritte  Teil  des  Buches  behandelt  die  eigentlich  metaphysische 
Seite  des  Problems  und  ist  unserer  Ansicht  nach  weniger  befriedigend. 
Man  spricht  von  der  Beziehung  zwischen  Körper  und  Geist,  ohne  festge- 
stellt zu  haben,  was  Körper  und  Geist  bedeuten.  Warum  erscheinen  sie 
zusammen?  Nun  zeigt  schon  der  Titel  von  Strongs  Buch  nicht  nur  an, 
dass  diese  P'ragen  beantwortet  werden,  sondern  ebenso  in  welcher  Richtung 
die  Antwort  gesucht  werden  soll. 

Was  bedeutet  das  physische  Universum?  Bei  einem  Versuch,  diese 
Frage  zu  entscheiden,  acceptiert  der  Verf.  eine  Art  von  Idealismus,  welcher 
nicht  leicht  zu  kennzeiclinen  ist.  Zuweilen  scheint  es  beinahe  eine  Art 
von  Subjektivismus  zu  sein  oder  wenigstens  von  subjektivistischen  Prä- 
missen au.szugehen,  wie  z.  B.  wenn  Verf.  behauptet,  dass  „wir  unmittelbar 
nur  unsere  eigene  Bewusstseinszustände  als  solche  erkennen  können". 
Wir  wissen,  dass  die  Sinnesphysiologie  und  Analyse  des  Wahrnehmungs- 
prozesses  gegen  den  naiven  Realismus  angeführt  werden  können.  Gewisse 
sogenannte  metaphysische  Argumente,  welche  von  Berkeley  herstammen, 
können  nach  dem  Verf.  entweder  mit  einem  kritischen  Realismus  oder 
Idealismus  vereinigt  werden.  (S.  170— 182.)  Aber  wir  hören:  „falls  der 
naive  Realismus  unannehmbar  ist,  so  werden  wir  gezwungen,  eine  idea- 
listische Auffassung  der  Welt,  wie  sie  unmittelbar  wahrgenommen  wird, 
anzunehmen."  Giebt  es  denn  nur  einen  naiven  Realismus?  Strong 
selbst  sagt:  „Der  Idealist  kann  entweder  ein  Phänomenalist  oder  ein  kri- 
tischer Realist  sein."  (S.  192.)  Er  selbst  nimmt  auch  Dinge-an-sich  an, 
wie  wir  bald  sehen  werden.  Falls  aber  „die  Existenz  von  Dingen-an-sich 
zugegeben  wird,  müssen  sie  als  nicht-materiel  aufgefasst"  werden.  Damit  ist 
das  Thema  angegeben,  welches  anzuführen  und  zu  begründen  die  weitere 
Aufgabe  des  Buches  bildet.     (S.  211—295.) 

Nachdem  die  Möglichkeit  von  Dingen-an-sich  festgestellt  wird,  wie 
Strong  irrtümlich  glaubt  im  Gegensatze  zu  Kant,  während,  richtiger 
gesagt,  er  sich  im  Gegensatze  zur  Methode  Kants  befindet,  in  dem  er  ihre 
Existenz  durch  Kausalschlüsse  aus  subjektiver  Erfahrung  erschliessen  will, 
werden  verschiedene  Wege  eingeschlagen,  um  ihre  Existenz  über  allen 
Zweifel  zu  erheben.  Strong  glaubt  schon  früher  gezeigt  zu  haben,  dass 
„material  ohjects  exist  only  as  modifications  of  consciousness",  und  dass  „con- 
sciousness  is  the  sole  reaHty".  Jetzt  aber  wird  uns  gesagt,  dass  Dinge-an- 
sich  angenommen  werden  müssen  „to  fill  up  the  gaps  between  individual 
minds  and  give  coherence  and  intelligibility  to  one  conception  of  the  uni- 
verse".  (S.  259.)  Ist  dieses  aber  nicht  schliesslich  die  Bedeutung  des 
Dings-an-sich  in  Kants  Erkenntnistheorie,  welche  einen  Idealismus  des 
Wissens  bildet  auf  realistischem  Grunde  ?  Wenn  es  solche  Dinge  nicht 
gäbe,  so  würde  das  individuelle  Bewusstsein  aus  Nichts  bestehen. 

Es  ist  interessant,  zu  bemerken,  dass  Strong  zugeben  muss,  dass 
die  Annahme  von  Dingen-an-sich  einen  unbegründeten  Saltus  einschliesst. 
„Things-in-themselves  cannot  be  deraonstrated  in  such  a  way  as  to  extort 
conviction."  Kant  hat  hier  tiefer  gesehen.  Nach  seiner  Lehre  ist  mit 
der  Existenz  von  Empfindungen  die  Existenz  von  äusseren  und  dem  Be- 
wusstsein unabhängigen  Dingen  gleichzeitig  gegeben.  Verf.  scheint  nur 
durch  eine  falsche  psychologische  Analyse  der  Wahrnehmung,  welche 
zwischen  dem  Wahrnehmungsobjekte  und  Wahrnehmungsprozesse  nicht 
unterscheidet,  irregeführt;  die  z.  B.  nicht  nur  das  Sehen,  sondern  das  ge- 
sehene Objekt  zu  einer  subjektiven  Erscheinung  macht.  Wenn  alle  Ele- 
mente der  Wahrnehmung  nur  Zustände  unseres  Bewu.sstseins  darstellen,  so 
ist  es  sicher,  dass  der  Übergang  zum  Objekte  nur  durch  einen  Gewaltakt 
zu  Stande  kommen  kann.  Aber  von  diesem  Standpunkte  aus  ist  es  nicht 
leicht  einzusehen,  wie  man  konsequenterweise  über  Trugschlüsse  hinaus- 
kommt.   Es   ist  bemerkenswert,   wie   viele  Idealisten   von  den  Prämissen 


Recensioiieii  (Streng}.  571 

des  Subjektivismus  ausgehen,  dessen  Konsequenzen  sie  dann  nachher  nicht 
anerkennen  wollen.  In  welcher  unklaren  Weise  wird  die  Sache  oft  darge- 
stellt, wie  z.  B  wenn  gesagt  wird,  dass  ein  unmittelbares  Wissen  von  äusseren 
Objekten  mit  ihrer  vom  Bewusstsein  unabhängigen  Existenz  nicht  ver- 
einigt werden  könne !  Welche  Zweideutigkeit  in  dem  Satze :  „We  cannot 
look  outside  our  minds  and  know  immediately  things  existing  there." 
Aber  ohne  unmittelbar  zu  erkennen,  was  diese  Dinge  seien,  können  wir 
ganz  wohl  unmittelbar  und  gleichzeitig  mit  unseren  eigenen  IBewusstseins- 
zuständen  erkennen,  dass  äussere  Dinge  existieren.  Das  Wort  „outside" 
ist  gewiss  mehrdeutig! 

Nach  Streng  sind  diese  Dinge  psychischer  Natur.  Andernfalls 
könne  der  Ursprung  des  individuellen  ßewusstseins  nicht  erklärt  werden. 
Ist  dieser  Ursprung  überhaupt  zu  erklären  ?  „Intermental  causality,  sagt 
er,  disproves  the  Kantian  contention  that  the  causal  category  canuot  be 
used  to  transcend  empirical  experience".  (S.  241—245.'!  Trotz  dieser  Be- 
hauptung und  der  Bemühungen  des  Verf.,  den  Begriff  von  „intermental 
causality"  zu  präcisieren,  scheint  mir  Kant  Recht  ju  behalten.  Denn  ge- 
setzt, dass  eine  Anwendung  des  Kausalprinzips  auf  psychische  Begeben- 
heiten nachgewiesen  und  dieser  Begriff  besser  ausgearbeitet  wäre,  so 
wnirde  dennoch  zu  zeigen  sein,  dass  derselbe  uns  über  alle  empirische  Er- 
fahrung hinausführen  müsse.  Dabei  müsste  auch  untersucht  werden,  ob  die 
Bestimmung  der  Dinge-an-sich  als  geistiger  Art  wirklich  begründet  wäre. 
Darauf  kommen  wir  wieder  zurück. 

Es  giebt  vier  Wege,  von  denen  aus  der  Charakter  dieser  Dinge 
möglicherweise  näher  bestimmt  werden  könne:  1.  durch  die  Eigenschaften 
unserer  Wahrnehmungen,  2.  vermöge  unseres  Begriffs  der  Realität,  3. 
durch  Analogie  mit  anderen  Seelen,  4.  aus  der  Thatsache  der  Ent- 
stehung und  Entwickelung  vom  Bewusstsein.  Der  erste  Weg  führt  zu 
keinem  entscheidenden  Sclüuss.  Der  zweite  führt  zur  Anerkennung  der 
Dinge  als  „bewusst",  nicht  als  materiell.  „Since  we  exist  only  so  long  as 
we  are  conscious  —  eine  Annahme,  welche  nicht  nur  nicht  bewiesen,  son- 
dern durch  die  Erfahrung  widerlegt  wird  — ,  it  follows  that  the  essence  of 
the  mind  is  consciousness".  „The  antithesis  between  consciousness  and  its 
immediate  objects  is  fallacious".  „The  existence  of  things  immediately  know 
is  simply  the  existence  of  the  knowing  state.  Hence  reality  is  not  existence 
for,  but  existence  of  consciousness;  or  all  existence  for  consciousness  is 
existence  of  consciousness;  consciousness  being  in  its  very  nature  existence 
for  itself".  (S.  2,S9,  290.)  Diese  Ansicht  erhält  nach  dem  Verf.  durch  die 
oben  in  3.  und  4.  gekennzeichneten  Methoden  eine  weitere  Unterstützung. 
Dass  viele  dieser  Behauptungen  nicht  axiomatisch  sind,  wie  z.  B.  dass 
Bewusstsein  nur  aus  Bewusstsein  entstehen  kann,  ist  ganz  sicher.  Ausser- 
dem stellt  ein  solcher  Satz  wie :  „the  existence  of  things  immediately 
know  is  simply  the  existence  of  the  knowing  state",  einen  durchaus  unbe- 
gründeten Subjektivismus  dar. 

Es  handelt  sich  endlich  um  eine  Anwendung  der  gewonnenen  meta- 
physischen Ergebnisse  auf  das  Problem  von  Seele  und  Leib.  Eine  in 
dieser  Beziehung  befriedigende  Theorie  soll  nach  Streng  eine  Lösung  der 
drei  folgenden  Punkte  gestatten.  I.  Warum  überhaupt  Seele  und  Leib 
associiert  seien?  2.  Der  Ursprung  des  Bewusstseins.  3.  Die  Wirksamkeit 
des  Bewusstseins. 

Die  Wechselwirkungslehre  schliesst  nach  S.  den  Dualismus  in  sich 
ein,  und  kein  Dualismus  vermag  die  Fragen  L  und  2.  zu  beantworten. 
Ebenso  ungünstig  ist  es  mit  der  Automatontheerie  gestellt,  die  noch 
dazu  unmöglich  mit  der  Wirksamkeit  des  Bewusstseins  vereinbar  ist. 
Der  Parallelismus  verträgt  sich  entweder  mit  einem  psychophysischen 
(kritischen)  Monismus  oder  psychophy-sischen  Idealismus.  Dieser  er- 
möglicht eine  wahrscheinliche  Erklärung  der  oben  aufgestellten  Fragen. 
Denn  bezüglich  der  ersten  Frage,  so  beliauptet  dieser  Idealismus:  „that 
the    thing-in-itself   symbolized   by   the    kain-process  is    the  accompanying 


572  Recensionen  (Streng). 

consciousness.  Thus  it  explairs  the  connection  of  mind  and  body  by 
subsiiming  the  relation  under  that  of  tliing-in-itself  and  phenomene". 
(S.  HBH.)  Da  nmi  dieser  Idealisinus  schliesslich  eine  Identitätstheorie  ist 
(S.  342),  so  wird  die  Wirksamkeit  des  Bewusstseins  offenbar  gerettet; 
und  da  ferner  die  Dintre-an-sich  selbst  bewusster  Natur  sind,  so  wird 
die  Schwierigkeit  bezüglich  des  Ursprungs  des  individuellen  Bewusst- 
seins gelöst.  Die  Materie  ist  blosse  Erscheinung  eines  Dinges,  welches 
im  Grunde  psychisch  ist.  Die  Lösung  des  ganzen  Problems  ist  also  durch 
eine  idealistisch-psychophysische  Identitätstheorie  gegeben.  Der  kritische 
oder  zentrale  Monismus  aber  fällt  nach  Strong  zusammen,  weil  er  ein 
Certain  quid  fordert  als  der  gemeinsame  Grund  vom  Physischen  und 
Psychischen.  Er  ist  unfähig,  darüber  Auskunft  zu  geben,  weshalb  diese 
beiden  zusammen  erscheinen  oder  wie  das  Psychische  entstanden  sei. 

Erklärt  denn  wirklich  in  befriedigender  Weise  das  von  James  und 
Paulsen  beeinflusste  W>rk  Strongs  diese  Schwierigkeiten?  Können  sie 
überhaupt  gelöst  werden?  Die  Antwort  hierzu  hängt  davon  ab,  was  man 
unter  Erklärung  versteht.  Unserer  Ansicht  nach  bedeutet  die  Subsumption 
des  individuellen  Bewusstseins  unter  das  Ding-an-sich  nur  eine  wörtliche 
Beschreibung  eines  bloss  möglichen  Thatbestandes,  bis  man  den  psychischen 
Charakter  dieser  Dinge  genauer  bestimmt  hat.  Sonst  gleicht  ein  der- 
artiges Verfahren  einer  Zurückführung  des  Bekannten  auf  das  weniger 
Bekannte  oder  Unbekannte,  denn  das  individuelle  Bewusstsein  bildet  den 
Ausgangspunkt  aller  Erklärung  und  ist  uns  besser  bekannt,  als  das  Ding- 
an-sich.^  Oder  die  vermeintliche  Erklärung  ist  ein  petitio,  da  sie  den 
Ursprung  des  Bewusstseins  nur  weiter  hinausschiebt.  Sind  die  Dinge-an- 
sich  ein  Bewusstsein,  ähnlich  dem  individuellen,  so  wird  nichts  erklärt; 
sind  sie  aber  von  diesem  verschieden,  wie  kommt  es,  dass  das  individuelle 
Bewusstsein  aus  ihnen  entstanden  ist?  In  keinem  Falle  ist  das  Problem 
vom  Verf.  gelöst,  vielleicht  ist  es  eben  nicht  lösbar.  Die  Auffassung 
Strongs  führt  zuletzt  zum  Panpsychismus,  den  die  Erfahrung  nicht  be- 
stätigen kann.  Da  die  Dinge-an-sich  als  solche  nicht  entstanden  sein 
können,  so  müssen  sie  ewig  sein.  Wir  kennen  aber  Bewusstsein  nur  als 
einen  periodischen  Prozess,  nicht  als  ein  permanent  existierendes  Ding. 

Die  Schwierigkeiten  und  Einwände,  die  sich  als  Folge  seiner  Auf- 
fassung ergeben,  entgehen  dem  Verf.  nicht.  Er  berührt  sie  vorübergehend 
am  Ende  seines  Buches  (S.  348  -  3.53)  und  hofft  sie  später  durch  eine  wei- 
tere Untersuchung  über  den  Begriff  und  die  Einheit  des  Bewusstseins 
überwinden  zu  können.  Eine  Metaphysik  sollte  auch  erklären,  wie  es 
kommt,  dass  die  Dinge-an-sich  solche  „Schatten"  aufwerfen,  die  wir  nicht 
umhin  können,  als  materielle  Körper  aufzufassen.  Ferner  erscheint  uns 
die  physische  Welt  als  continuierlich.  Ist  die  wirkliche  W^elt  oder  ,,ulti- 
mate  Reality"  auch  continuierlich?  Wenn  nicht,  so  muss  die  Entstehung 
dieses  Scheins  durch  den  Idealismus  erklärt  werden.  Wenn  aber  die 
Dinge-an-sich  wirklich  ein  kontinuierliches  Ganzes  bilden,  so  entsteht 
wiederum  die  Frage,  wie  die  individuellen  Bewusstseine,  welche  uns  als 
abgesonderte  Einheiten  erscheinen,  sich  aus  dem  kontinuierlichem  Ganzen 
entwickelt  haben. 

Das  bedeutende  Buch  Strongs,  welches  schon  in  dem  Titel  den 
idealistischen  Hintergrund  verrät,  stellt  das  Hauptproblem  in  einer  Form 
dar,  in  welcher  sie  eigentlich  nicht  lösbar  ist.  Auf  kritischem  Standpunkte, 
kennen  wir  nur  Erscheinungen.  Auch  das  individuelle,  und  uns  allein  be- 
kannte Bewusstsein  ist  daher  nur  Erscheinung  wie  die  Materie  (Nach 
Strong  ist  es  ein  grosser  Irrtum  Kants,  Bewusstsein  zu  einer  blossen 
Erscheinung  herabgesetzt  zu  haben.)  Wer  kritischer  Idealist  ist  und  bleibt, 
muss  doch^  zugeben,  dass  die  Welt  der  Wissenschaft  durch  unsere  Er- 
kenntnisformen und  Prinzipien  bedingt  ist.  Jedenfalls  ist  es  unmöglich, 
zu  behaupten,  dass  wir  die  Welt  als  Ganzes  erkennen.  Materie  und  Geist 
sind  Begriffe,  die  wir  mit  Recht  in  der  Erfahrung  anwenden,  und  beide 
deuten   auf   etwas   Reales   hin.    Wenn   man   aber  die  ganze  Wirklichkeit 


Selbstanzeigen  (Kaminski).  573 

nach  einem  dieser  Begriffe  ausschliesslich  erklären  will,  so  macht  man  den 
{»•roben  Irrtum,  den  Begriff  des  Ganzen  nach  demjenigren  des  Teiles  zu 
kunstruit-reu.  Der  lieutige  Stand  der  Wissenscliaft  hchliesst  den  Versuch 
aus,  das  Physische  in  das  Psychische  direkt  aufzulösen,  ebenso  wie  das 
Psj-chische  aus  materiellen  Faktoren  zu  erklären.  Will  man  das  Yerlüllt- 
nis  zwischen  beiden  monistisch  auffassen,  wie  Strong  tliut,  so  kann  man 
nicht  umhin,  Physisches  und  Psychisches  als  verschiedene  Erscheinungsarten 
eines  gemeinsamen  Substrates,    und   damit  kritischen  Monismus  annehmen. 

Dem  theologischen  und  metaphysischen  Idealismus  ist  dieser  be- 
scheidene, neutrale,  durch  Kants  Kritik  gegründete,  obwohl  nicht  von 
Kaut  selbst  angenommene  Monismus,  unsympatisch.  Fortwährend  wird 
es  gegen  ihn  eingewendet,  dass  die  postulierte  Einheit  des  Physischen  und 
Psychischen  eine  bedeutungslose  Annahme  oder  bloss  eine  Wort-Auskunft 
bildet,  so  lange  es  kein  Mittel  giebt,  diese  Identität  entweder  anschaulich 
darzustellen,  oder  irgendwie  unmittelbar  zu  erleben.  Dieser  Einwand  zeigt 
sehr  gut  eine  Verkennung  der  Aufgabe,  sowohl  der  Bedingungen  des 
Problems.  Unser  Denken,  wie  Riehl  neuerdings  betont  hat,  dringt  nur 
bis  zur  Voraussetzung  dieser  Einheit  hin.  Diese  Einheit  bleibt  in  gleicher 
Weise  eine  Grenze  für  alle  Theorien,  die  nicht  zuletzt  mystisch  werden, 
bestehen.  Der  kritische  Monist  allein  gesteht  offen  zu,  dass  er  nicht  im 
Stande  ist,  ein  letztes  Erklärung-sprinzip  des  Zusammenbestehens  von 
Körper  und  Geist  anzugeben.  Aber  er  behauptet,  dass  seine  Hypothese 
dem  heutigen  Stande  der  Wissenschaft  am  besten  entspreche,  da  sie  sich 
in  Übereinstimmung  mit  den  bekannten  Xaturgesetzen  und  mit  den  Resul- 
taten der  psychologischen  Analyse  befindet. 

Montreal.  J.  W.  Hickson. 


Selbstanzeigen. 

Kaminski,  AVilly.  Über  Immanuel  Kants  Schriften  zur 
physischen  Geographie.  Ein  Beitrag  zur  Methode  der  Erd- 
kundje.     Dissertation  Königsberg  1905  (Verlag  von  H.  Jäger). 

Wenn  der  Verfasser  es  unternahm,  Kants  Schriften  zur  physischen 
Geographie  von  neuem  zum  Gegenstande  einer  Untersuchung  zu  machen, 
so  geschah  es  in  der  Überzeugung,  dass  man  Kant  nicht  gerecht  werden 
kann,  wenn  man  nur  seine  Leistungen  in  Einzeldisciplinen  —  wie  Kosmo- 
logie, Erdbebenkunde  oder  Meteorologie  —  in  Betracht  zieht.  Vielmehr 
beruht  die  auch  heute  noch  beachtenswerte  Bedeutung  Kants  für  die  Geo- 
graphie in  der  Gesamtauffassung  der  Aufgaben  und  Methoden  der  geo- 
graphischen Wissenschaft.  Fragen,  die  die  Grundbegriffe  der  Geographie 
betreffen,  und  um  die  der  Kampf  der  Ansichten  besonders  heftig-  im 
letzten  Viertel  des  19.  Jahrhunderts  tobte,  tauchen,  da  sie  in  der  Xatur 
des  Gegenstandes  liegen,  schon  viel  früher  gelegentlich  auf.  In  Kant  er- 
blickt der  Verfasser  einen  Vertreter  der  Auffassung  der  Geographie  als 
einer  auf  die  Kenntnis  sowohl  der  Natur  wie  der  Menschheit  gerichteten 
Wissenschaft,  in  der  die  Untersuchung  räumlicher  Beziehungen  leitender 
Gesichtspunkt  ist. 

Eine  Hauptschwierigkeit  lag  in  der  Unsicherheit  der  Überlieferung 
des  Kantischen  Kollegs  über  physische  Geographie.  Der  Verfasser  hofft, 
die  Zuverlässigkeit  von  Rinks  Ausgabe  des  Kollegs  durch  Vergleichung 
verschiedener  Vorlesungsnachschriften  in  ein  etwas  helleres  Licht  gesetzt 
zu  haben. 

Willy  Kaminski. 


574  Selbstanzeigen  (Jerusalem). 

Jerusalem,  Wilhelm,  Prof  Dr.  Der  kritische  Idealismus  und 
die  reine  Logik.  Ein  Ruf  im  Streite.  Wien  und  Leipzig,  1905,  Verlag 
von  Wilhelm  Braumüller.     (XII  u.  226  S.) 

Das  Buch  ist  einerseits  eine  kritische  Vorarbeit  für  ein  Lehrbuch 
der  Logik,  andererseits  eine  Verteidigung  und  Weiterfülirung  der  in 
meinen  früheren  Arbeiten  niedergelegten  erkenntnistheoretisclien  An- 
schauungen. Im  ersten  Abschnitt  suche  ich  die  in  meiner  Rede  auf  Kant 
(Wien  1904)  ausgesprochene  Ansicht,  dass  die  Giundlage  von  Kants  P^r- 
kenntniskritik  in  einer  neuen  psychologischen  Einsicht  zu  suchen  sei, 
eingehender  zu  begründen.  Die  introspektive  Arbeit,  die  Kant  geleistet 
hat,  wird  durch  Stellen  aus  seinen  Briefen  charakterisiert  und  als  Ergebnis 
dieser  Arbeit  betrachte  ich  die  Erkenntnis  von  der  gestaltenden  Tätigkeit 
des  Ich-Bewusstseins,  die  in  jedem  Urteil  zutage  tritt.  Im  zweiten  Ab- 
schnitt wird  eine  Widerlegung  des  kritischen  Idealismus  versucht,  wobei 
ich  auf  die  Arbeiten  von  Ostwald,  Cornelius,  Rickert  und  bes.  Heim  näher 
eingehe.  Der  von  Heim  unternommene  Versuch,  den  Solipsismus  konse- 
quent durchzuführen,  wird  nach  gründlicher  Prüfung  als  misslungen  be- 
zeichnet, wobei  die  Begriffe  der  Zeit  und  der  Zahl  besonders  erörtert 
werden.  Ich  versuche  dann  nachzuweisen,  dass  der  kritische  Idealismus 
aus  dem  Bestreben  entspringt,  den  Materialismus  zu  überwinden,  und  dass 
der  Idealismus  trotz  seines  Strebens,  jede  Metaphysik  zu  vermeiden,  den- 
noch zu  sehr  gewagten  metaphysischen  Konstruktionen  führt. 

Es  folgt  nun  eine  Untersuchung  der  „reinen"  Logik,  wie  sie  Cohen 
auf  Kantscher,  Husserl  auf  scholastischer  Grundlage  versucht.  In  Cohens 
Logik  der  reinen  Erkenntnis  finde  ich  den  Gedanken,  die  Logik  eng  an 
die  mathematische  Naturwissenschaft  anzuschliessen,  sehr  fruchtbar,  muss 
jedoch  die  Auffassung  des  Denkens  als  eines  Erzeugens  ablehnen.  Durch 
eine  eingehende  Kritik  von  Husserls  „Logischen  Untersuchungen"  gelange 
ich  zu  dem  Ergebnis,  dass  dieser  Denker,  für  den  die  Scholastiker  des 
Mittelalters  eingestandenes  Vorbild  sind,  in  seinen  Argumentationen  streng 
dogmatisch  bleibt  und  bis  zu  den  Problemen  des  Kritizismus  noch  nicht 
vorgedrungen  ist.  Ich  glaube  ferner  gezeigt  zu  haben,  dass  Husserl  trotz 
seiner  Bekämpfung  des  Psychologismus  doch  selbst  Psychologist  bleibt. 

Auf  den  kritischen  Teil  des  Buches  folgt  der  positive.  In  dem  Ab- 
schnitt über  die  gegenwärtige  Aufgabe  der  Erkenntnistheorie  lege  ich  dar, 
dass  die  Kritik  der  Erkenntnis  ihre  Aufgabe  beendet  hat,  und  dass  die 
Psychologie  des  Erkennens  eine  Theorie  der  Erkenntnis  in  Angriff  nehmen 
muss.  Dabei  wiid  das  theoretische  Denken  nicht  zum  Ausgangspunkt, 
sondern  zum  Problem  gemacht.  Unter  Hinweis  auf  Münsterberg  und 
Simmel  wird  der  biologische  Ursprung  des  Wahrheitsbegriffes  aufgezeigt 
und  seine  Weiterentvvickelung  im  theoretischen  Denken  angedeutet.  Die 
in  meinen  früheren  Arbeiten  „Urteilsfunction",  Lehrbuch  der  Psychologie 
(3.  Aufl.  1902)  und  „Einleitung  in  die  Philosophie"  (2.  Aufl.  190H)  ge- 
gebene Theorie  des  Urteils  wird  mit  neuen  Argumenten  verteidigt.  Ich 
suche  ferner  darzuthun,  dass  die  kritisch-idealistische  Behandlung  der 
menschlichen  Erkenntnis  Probleme  verdeckt,  während  die  psycholo- 
gische Untersuchung  immer  neue  Probleme  aufzeigt. 

In  einem  weiteren  Abschnitt  über  die  „Aufgabe  der  Logik"  fasse 
ich  die  Logik  als  Methodologie  des  Denkens  auf,  deren  Grundlagen  einer- 
seits in  der  Psychologie,  andererseits  in  der  Geschichte  der  Wissenschaften 
zu  suchen  sind.  Die  Logik  hat  zu  zeigen,  wie  viel  allgemeine  und  bewährte 
Erfahrung  in  jeder  einzelnen  Erfahrung  enthalten  ist.  Die  Prüfung  der 
Urteile  wird  dann  auf  zwei  Formeln  zurückgeführt  und  zwar  auf  die  Sub- 
sumptionsforniel  und  auf  die  hypothetische  Formel.  Das  Verhältnis  von 
Grund  und  Folge  und  seine  Beziehung  zur  zeitlichen  Succession  und  zur 
Kausalität  wird  dann  erörtert  und  auf  Grund  dieser  Erörterung  die  Kant- 
sche  Einteilung  der  Urteile  in  analytische  und  synthetische  neu  interpre- 
tiert,   in  der  Schlussbetrachtung  versuche  ich  zu  zeigen,  dass  die  psycho- 


Selbstanzeigen  (Schrader).  575 

logische  Untersuchung  des  menschlichen  Erkennens  nicht  der  Aufklärung 
durch  Kritik,  sondern  der  Ergänzung  durcli  Metaphysik  bedarf. 

Als  „ein  Ruf  im  Streite'-  wird  mein  Buch  von  mir  bezeichnet,  weil 
ich  mich  darin  gegen  persönliche  Angriffe  (insbesondere  gegen  Husserl) 
verteidige  und  weil  ich  gege^i  eine  in  der  Philosophie  der  Gegenwart 
verbreitete  Richtung  energisch  Stellung  nehme. 

Wien.  W.  Jerusalem. 

Jerusalem.  Wilhelm.  Prof.  Dr.  Gedanken  und  Denker.  Ge- 
sammelte Aufsätze.  Wien  und  Leipzig,  1905,  W.  Braumüller.  (YIII 
u.  292  S.) 

Auf  diese  Sammlung  früher  publizierter  Aufsätze  (von  den  21 
Stücken  sind  nur  3  hier  zuerst  veröffentlicht),  die  für  das  grosse  Publikum 
bestimmt  ist,  möchte  ich  doch  auch  die  Fachgenossen  und  bes.  die  Leser 
der  Kantstudien  aufmerksam  maclien.  Sie  bildet  eine  Ergänzung  meiner 
systematischen  Arbeiten  und  ist  durch  ein  Xamen-  und  Sachregister  leicht 
benutzbar  gemacht.  Aus  dem  Inhalt  hebe  ich  hervor  die  Aufsätze  über 
das  philosophische  Staunen,  die  Zukunft  der  Philosophie,  über  Wahrheit 
und  Lüge,  über  den  Naturalismus  in  der  modernen  Literatur,  über  Arbeit 
und  Gesittung,  —  die  Physiologie  der  Seele  und  über  die  Volksseele. 
Ausserdem  enthält  das  Buch  Charakteristiken  von  Franz  Grillparzer, 
Sophie  Germain,  Theodor  Mevnert,  Wilhelm  Wundt,  Ernst  Macli  und 
H.  Steinthal. 

Wien.  W.  Jerusalem. 

Sehrader,  Ernst.  Elemente  der  Psychologie  des  Urteils. 
Erster  Band:  Analvse  des  Urteils.  Leipzig,  Job.  Ämbr.  Barth,  19ü5. 
(VIII  u.  222  S.) 

Das  Buch  will  die  Bildung  des  einzelnen  Urteils  streng  empirisch 
erklären  (Kap.  I),  während  die  Untersuchung  der  Zusammenhänge,  in 
welchen  dieses  steht,  dem  zweiten  Bande,  der  Lehre  von  den  „Tendenzen 
der  Urteilsbildung"  vorbehalten  bleibt.  Da  Wahrheit  und  Irrtum  nur  im 
Urteile  enthalten  sind,  so  setzt  die  Erklärung  hier  ein.  Wahre  Urteile 
würden  allein  die  charakteristischen  Merkmale  niclit  zeigen.  Deshalb 
werden  zunächst  die  Erfahrungen  des  Irrens  behandelt  (Kap.  II  u.  III). 
Die  Abnahme  einer  besonderen  psychischen  Aktivität  (Lotzes  beziehendes 
Denken,  z.  T.  auch  Wundts  Apperception  u.  s.  w.)  wird  vom  Standpunkte 
einer  empirischen  Begriffsbildung  aus  abgelehnt  Die  idealen  Gedanken, 
welche  historisch  vielfach  mit  ihr  verknüpft  sind,  müssen  von  der  Psycho- 
logie unabhängig  gemacht  werden  und  können  das  auch  ohne  jede  Gefahr 
und  ohne  jede  Beeinträchtigung.  Kap  V  betrachtet  den  Unterschied,  der 
zwischen  sprachlichem  und  nicht-sprachlichem  Denken  bestellt,  und  benutzt 
zur  Erklärung  desselben  die  von  H.  Taine  aufgestellte  Theorie  der  Sub- 
stitution. Kap.  VI  findet  den  Unterschied  zwischen  dem  Urteile  und 
sonstigen  Vorstellungsverbindungen,  1.  in  der  ergänzend  hinzutretenden 
Vorstellung  des  prädikativen  Verhältnisses,  2.  in  der  Zustimmung,  welche 
der  Urteilende  erteilt  —  oder  verweigert.  Doch  erfordern  die  beiden 
Merkmale  nicht  die  Einführung  eines  neuen  Erklärungsprinzips.  Sie 
lassen  sich  auflösen  in  Assoziation,  Substitution  und  negative  Beziehung 
zwischen  Vorstellungen,  welche  schon  früher  abgeleitet  worden  war.  Vgl. 
des  ^'erf assers  Schrift:  Zur  Grundlegung  der  Psychologie  des  Urteils. 
Leipzig  ]90H  und  die  Besprechung  derselben  in  den  KSt    X,  S.  209. 

Darmstadt.  Ernst  Schrader. 

Geisler,  Victor.  Was  ist  Philosophie?  Was  ist  G  escli  ichte 
der  Philosophie?    Berlin,  Theodor  Froehlich,  1905.     (60  S.  8".) 

Die  Schrift  ist  gedacht  als  die  Einleitung  einer  grösseren  Arbeit, 
welche  dem  „Zug  des  Gedankens  von  Descartes  durch  Spinoza  und  Leib- 
niz  bis  Kant"  nachspähen  will.  Die  Art  der  Behandlung,  welche  diesem 
Gegenstande  zuteil  werden  soll,  machte  eine  Bestimmung  des  Begriffs  der 


576  Selbstanzeigen  (Geisler). 

Geschichte  der  Philosophie  erforderlich,    und  dieser  wiederum  setzte  den- 
jenigen der  Philosophie  selber  voraus. 

Was  ist  Philosophie?  In  dieser  Beziehung  wird  ausgegangen  von 
der  Thatsache  des  Doppelcharakters  des  Menschen  als  eines  „praktischen" 
Subjektes  und  einer  „theoretischen"  Grösse,,  dergestalt,  dass  im  Interesse  der 
Wissenschaft  l)eide  Funktionen,  so  gewiss  sie  der  Art  nach  von  einander 
verscliieden  sind,  in  schärfster  Abstraktion  dafür  an  sich  auch  auseinander 
gelialten  werden,  und  dass  das  erste,  nach  „Zuständlichkeit"  verlangend, 
als  der  „primäre  innere  Faktor"  behauptet  wird,  wohingegen  das  Ich  als 
theoretische  Grösse  jene  „Verfassung"  des  praktischen,  seine  „Ziele", 
„denkend  zu  deuten  sucht"  und  insofern  nur  sekundärer  Natur  ist.  „Rein 
in  erster  Hinsicht  ist  die  Seele  religiös  —  im  weitesten  Verstände  — 
gerichtet,  rein  in  letztem  Betracht  ist  sie  wissenschaftlich,  philoso- 
pliisch,  bestimmt."  Eine  solche  „grundsätzliche  gedankliche  Scheidung" 
der  beiden  Momente  des  Menschen  aber  konnte  erst  spät  sich  ergeben, 
„sie  stellt  also  einen  Wendepunkt  im  Fortschreiten  des  Erkennens  über- 
haupt dar".  Ist  nun  das  Vorstellen  zunächst  notwendig  abhängig  vom 
unbefriedigten  „religiösen  Triebe",  so  ist  eine  solche  Art  der  Betrachtung 
„elementar",  „nicht  reine  Wissenschaft,  nicht  Philosophie";  ist  das  reli- 
giöse Verlangen  aber  —  im  Christentume  grundsätzlich  —  gestillt  worden, 
so  hat  auch  das  Erkennen  nicht  mehr  jenes  „notwendige  Verhältnis"  zum 
praktischen  Suhjekte,  es  ist  „unabhängig  im  höheren  Sinne"  und  so  die 
letzten  Fragen  nicht  mehr  „bloss  metaphysisch"  behandelnd  hat  es  die 
Höhe  der  „reinen  Philosophie".  Ist  diese  also  durch  das  Christentum 
überhaupt  möglich  geworden,  so  wird  am  Ende  der  „Einleitung"  noch 
bewiesen,  dass  sie  erst  „nach  dem  Eintreten  der  Kantischen  Analyse  der 
theoretischen  Vernunft  in  die  Geschichte"  speziell  möglich  ist. 

Dieses  vorausgeschickt,  wird  S.  6  die  „Philosophie"  bestimmt  als 
„das  geordnete  Bewäisstsein  um  die  Gesamtheit  der  grundsätzlichen  Ver- 
hältnitese  des  Ich:  des  praktischen  in  der  möglichen  Unterschiedenheit 
seiner  Auswii^kungen  und  des  theoretischen,  sofern  es  auf  seinen  Gebieten 
in  der  ihm  entsprechenden  Weise  die  Art  des  ersten  zu  Ausdruck  bringt". 
Sofern  aber  „dem  philosophischen  System  die  nur  ideale  Einheit  eignet 
der  Versuche  stufenweise  es  zu  gewinnen",  (S.  10)  verläuft  die  philoso- 
phische Arbeit  selbst  in  vier  grossen  Gedankenreihen,  welehe  eine  jede 
den  Wert  hat  einer  „selbständigen  systematischen  Erkenntnis".  Die  erste 
entwickelt  den  „Urbegriff"  des  praktischen  Ich,  die  zweite  die  diesem 
synthetisch  zugeordneten,  der  Erfahrung  entstammenden  „Grundbegriffe", 
die  dritte  das  „encyklopädische  Verhältnis"  der  möglichen  philosophischen 
Disziplinen,  die  vierte  giebt  das  System  derselben  in  deren  Ausführung. 
In  letzter  Hinsicht  wird  unterschieden  zwischen  Disziplinen  des  prak- 
ti Sieben  und  solchen  des  theoretischen  Ich;  jene  sind  die  Philosophie  der 
Religion,  des  Sittlichen,  des  Rechtes  (auch  des  Staates  imd  der  Gesell- 
schaft) und  des  Schönen,  diese  hingegen  einerseits  die  Philosophie  des  Er- 
kennens, des  Denkens,  der  Sprache,  andererseits  die  Philosophie  der  Natur, 
der  Geschichte  des  praktischen  Ich  und  der  Geschichte  des  theoretischen 
Ich.  diese  letzte  in  der  schliesslichen  Besonderheit  der  Geschichte  der 
Pliilosophie  (S.  28,  29). 

Was  ist  Geschichte  der  Philosophie?  Es  werden  da  unter- 
schieden eine  „berichtende  Behandlung",  eine  „pragmatische  Betrachtung" 
und  ein  „philosophisches  Verständnis"  der  Geschichte  der  Philosophie. 
Die  erste  „berichtet  alles,  was  zu  irgend  einer  Zeit,  in  irgend  einem  Volke, 
gleichviel  in  welcher  literarischen  Form,  philosophisch  wertvoll  gewesen 
ist  oder  auch  nur  dafür  gegolten  hat".  Die  zweite  ist  die  „fortlaufende 
Feststellung  des  philosophischen  Gedankens  in  seinem  notwendigen 
Wechselverhältnis  zur  Totalität  der  übrigen  Momente  der  Kultur",  der 
Philosophie  nämlich  der  „griechisch-hellenistisch-römischen  Welt"  und  der- 
jenigen der  „romanisch  germanischen  Völkergruppe",  zu  den  ihnen  ent- 
sprechenden Kulturen.    Die  dritte,  die  philosophische  Geschichte  der  Phi- 


Selbstanzeigen  (Kramer).  Om 

losophie,  hat  zu  zeigen  „wie  das  Denken  ein  einiges  Ziel  habe  in  der 
reinen  Philosophie,  welche  Phasen  es  in  diesem  Laufe  gehabt,  an  welchem 
Punkte  es  da  jeweilen  angelangt  sei".  Am  ausführlichsten  (S.  35—58) 
wird  die  zweite  Art  des  philosophischen  Betriebes  besprochen:  die  erste 
gestattet  nach  ihrer  einfacheren  Natur  eine  kürzere  Behandlung,  die  dritte 
ist  darum  so  knapp  gehalten  worden,  weil  die  im  Eingang  erwähnte 
längere  Arbeit  deren  Prinzipien  in  ihrer  Anwendung  rechtfertigen  soll. 

Schliesslich  sei  bemerkt,  dass  durchgehends  der  Gedanke  auf  den 
denkbar  knappsten  Ausdruck  gebracht  worden  ist,  und  dass  die  Art  des 
Drucks  (verschiedenes  Einrücken  der  Zeilen,  Lücken  innerhalb  derselben, 
vei-schiedene  Entfernungen  zwischen  den  Zeilen)  das  jeweilige  Verhältnis 
der  Gedanken  verbildlichen  sollen. 

Friedenau.  V.  Geisler. 

Kramer,  A.,  Dr.  phil.  Fries  in  seinem  Verhältnis  zu  Jacobi. 
Erlanger  Dissertation.     1904. 

Die  Arbeit  hat  den  Nachweis  zu  führen  versucht,  dass  die  Lehre 
des  seit  Fortlage  sog.  Halbkantianers  J  Fr.  Fries  in  der  nicht-Kantischen 
Seite  seiner  Philosophie  von  der  Glaubens-  und  Gefühlsphilosophie  des 
F.  H.  Jacobi  wesentlich  beeinflusst  ist;  so  zwar,  dass  die  von  Jacobi  ohne 
streng  methodische  Systematisierung  vorgetragenen  Gedankenreihen  durch 
Fries  eine  wissenschaftlich  präcisere  Bearbeitung  erfahren  haben. 

Das  Verhältnis  von  Fries  zu  Kant,  dessen  Resultate  ersterer  als 
einer  der  treuesten  Schüler  des  grossen  Königsberger  Meisters  beibehalten 
hat,  konnte  nur  gestreift,  dagegen  musste  auf  den  wichtigen  methodolo- 
gischen Unterschied  beider  hingewiesen  werden. 

Die  Vergleichung  bewegt  sich  in  den  erkenntnistheoretischen  Ent- 
wicklungen der  zu  prüfenden  Philosophen.  In  der  Kritik  der  Sinnlich- 
keit tritt  Fries  mit  Kant  in  Widerspruch  gegen  Jacobi.  Wohl  lehrt  Fries 
übereinstimmend  mit  Jacobi  gegen  die  Identitätsphilosophen  die  Selbstän- 
digkeit der  Sinnlichkeit  als  eines  eigenen  Prinzips  des  Erkennens;  auch 
in  der  Bestimmung  der  Funktionen  des  Verstandes,  als  des  Vermögens, 
das  von  der  sinnlichen  Anschauung  gegebene  Material  zu  ordnen  und  zu 
verknüpfen,  sind  beide  Philosophen  einig,  beide  sind  überzeugt:  „Wir 
wissen  durch  Anschauung  und  Verstandesbegriffe  um  das  Dasein  der 
Dinge;"  während  aber  Jacobi  das  reale  Sein  der  Körperwelt  glaubt, 
sieht  Fries  mit  Kant  in  ihr  nur  Erscheinungen  der  Dinge  an  sich.  Empi- 
rische, nicht  aber  transscendentale  Wahrheit  kommt  dem  Wissen  um  die 
Sinnendinge  zu.  Wohl  schien  uns  selbst  bei  der  Kritik  der  Sinnlichkeit 
durch  Fries  ein  deutliches  Hinneigen  zu  Jacobi  bemerkbar,  indem  jener 
sogar  für  das  Wissen  um  die  Sinnendinge  in  gewissem  Grade  einen  un- 
mittelbaren Vernunftglauben  voraussetzt,  aber  doch  bleibt  auch  er  bei 
der  von  Jacobi  gerügten  Ding-an-sich-Theorie  stehen,  über  welche  Jacobi 
mit  dem  sonst  so  bewunderten  und  gefeierten  Kant  in  Streit  ge- 
raten war. 

Neben  der  Überzeugungsart  des  menschlichen  Geistes  im  Wissen, 
welche  auf  Anschauung  beruht,  unterscheidet  nun  Fries  nach  dem  Vor- 
gange Jacobis  noch  die  beiden  Überzeugungsarten  des  Glaubens  und 
Ahnens. 

Den  unmittelbaren  Vernunftglauben  erklären  beide  Philosophen  als 
etwas  Natürliches  im  Menschen  und  vindicieren  diesem  zweiten  Erkennt- 
nisvermögen gleiche  Gültigkeit  und  Gewissheit.  Während  nun  aber  Fries 
die  verdienstvolle  und  in  der  Geschichte  der  Philosophie  so  wichtige  That 
Jacobis,  gegenüber  der  nur  demonstrierenden  Philosophie  das  Recht  und 
die  Gültigkeit  des  Vernunftglaubens  nachdrücklich  verfochten  zu  haben, 
offen  anerkennt,  ihn  auch  gegen  Kant  deswegen  in  Schutz  genommen  und 
gegen  Schellings  bissige  Kritik  warm  verteidigt  hat,  tadelt  er  dagegen 
den  Mangel  der  wissenschaftlichen  Begründung  dieses  Vernunftglaubens. 
Fries  will  dagegen  ein  allgemeingültiges  Wissen  um  den  Glauben  auf- 
weisen, dem  sich  keine  endliche  Vernunft  entziehen  kann.    Das  Reich  des 

Kantstudien  X.  33 


578  Selbstanzeigen  (Knothe). 

VeruunftglHubens  sind  nun  die  Ideen.  Diese  Ideen  können  nicht  bewiesen, 
sondern  als  Grundsätze  nur  deduciert  werden.  Kant  niu.sste  sich  auf  die 
Deduktion  der  Kategorien  be.^chränUen,  weil  er  die  Krkenntnis  durch  die 
Anschauung-  als  die  allein  gesicherte  ansah;  dagegen  will  P^'ries  die  Ideen 
subjektiv  aus  dem  Wesen  der  Vernunft  ableiten.  Hier  weicht  Fries  von 
Jacobi  ab,  der  diese  subjektive  Konstatierung  für  niclit  allgemein  erklärt 
und  bei  dem  allgemeingültigen,  selbständigen  zweiten  Erkenntnisquell  des 
Vernunftglaubens,  als  keines  Bürgen  bedürftig,  stehen  bleibt.  Jacobi  be- 
trachtet den  Menschen  nach  Naturnotwendigkeit  und  Freiheit  als  zwei 
Welten,  freilich  wunderbar  auf  einander  sich  beziehender,  zugehörig; 
Fries  bleibt  bei  der  Lelire  Kants,  da.ss  alle  menschliche  Erkenntnis  imma- 
nent sei.  Den  Inhalt  des  Vernunftglaubens,  die  drei  Ideen,  Gott,  Freiheit, 
Ewigkeit  der  Seele,  nach  Kant  Postulate  der  praktischen  Vernunft,  dedu- 
ciert Fries  auf  psychologisch-anthropologischem  Wege  durch  Negation  der 
Schranken  des  Endlichen. 

Den  Vernunftglauben,  als  einen  apodiktisch  sicheren  Erkenntnisquell, 
der  uns  Aufscliluss  giebt  über  das  Reich  der  Ideen,  hat  Fries  von  Jacobi 
in  sein  System  aufgenommen.  Im  einzelnen  aber  hat  er  nach  dem  von 
ihm  so  nachdrücklich  als  dem  einzig  richtigen  und  möglichen  proklamierten 
anthropologischen  Prinzip  auf  dem  Wege  der  Selbstbeobachtung  die 
Gegenstände  des  Vernunftglaubens  selbständig  zu  deducieren  gesucht. 

Auch  in  der  Lehre  von  der  Ahnung,  dem  dritten,  ergänzenden  Er- 
kenntnisvermögen, ist  Fries  abhängig  von  Jacobi,  wenn  auch  hier  gleich- 
falls, wie  bei  seiner  Lehre  über  den  Vernunftglauben,  eingeräumt  werden 
muss,  dass  er  die  von  Jacobi  Iierübergenommene,  noch  unbestimmte 
Grundlage  mehr  systematisch  ausgebaut  hat. 

Ebenso  stimmen  beide  Philosophen  in  der  hervorragenden  Wertung 
des  Gefühls  ganz  auffallend  überein. 

Vorsfelde  (Braunschweig).  A.  Kram  er. 

Knothe,  Paul.  Kants  I^ehre  vom  Inneren  Sinn  und  ihre 
Auffassung  bei  Reininger.     Erlanger  Dissertation  1905. 

Durch  Reiningers  Schrift  „Kants  Lehre  vom  Inneren  Sinn  und  seine 
Theorie  der  Erfahrung"  1900  cf.  KSt.  V,  478)  ist  Kants  Lehre  vom  Inneren 
Sinn  eingehend  erörtert  und  damit  von  neuem  zur  Diskussion  gestellt 
worden.  Auch  die  vorliegende  Arbeit,  die  durch  Reiningers  Ausführungen 
veranlasst  ist,  will  einen  Versuch  zum  Verständnis  dieses  zentralen  Themas 
liefern.  Sie  bietet  1.  eine  Darstellung  und  Entwickelung  der  Kantischen 
Lehre  vom  Inneren  Sinn  und  2.  eine  Auseinandersetzung  mit  der  Auf- 
fassung Reiningers. 

Die  Hauptresultate  sind  folgende: 

Kant  knüpft  mit  seiner  Lehre  von  der  Sinnlichkeit  an  die  Lockesche 
an,  übernimmt  sie  aber  nicht  in  derselben  empirisch-psychologischen  Form, 
sondern  gestaltet  sie  nach  den  Bedürfnissen  der  Transscendentalphiloso- 
phie  um. 

Der  an  die  Transscendenz  grenzende  Äussere  Sinn  erhält  Affektionen, 
die  bei  ihrem  Durchgang  durch  diesen  zu  transscendentalen  Empfindungen 
umgebildet  werden_  und  sich,  empirisch  geworden,  räumlich  ordnen.  Pa- 
rallel neben  dem  Äusseren  Sjnn  steht  der  sensus  inferior,  der  bei  Kant 
nur  zur  Hervorbringung  der  Gefühle  in  Anspruch  genommen,  hier  für 
alles  innere  Geschehen  angenommen  werden  muss.  War  die  Form  des 
Äusseren  Sinnes  der  Raum,  so  ist  die  des  sensus  inferior  die  Nicht-Räum- 
lichkeit oder  Innerlichkeit.  Die  durch  Affektionen  dieser  Sinne  hervor- 
gebrachten transscendentalen  Empfindungen  teilen  sich  unter  gleichzeitiger 
Erzeugung  eines  Mannigfaltigen  im  Inneren  Sinn  dem  oberen  transscen- 
dentalen Vermögen  mit,  die  dieses  ihrerseits  bearbeiten  und  den  Inneren 
Sinn  affizieren.  Durch  die  Affektion  tritt  der  Innere  Sinn  in  Funktion. 
Seine  Bestimmung  ist,  das  transscendentale  Mannigfaltige,  das  in  ihm  sich 
gebildet  hat,  ins  Empirische  umzuwandeln  und  zeitlich  zu  ordnen,  wobei 
auch   die  Formen    des  Äusseren  Sinnes   tmd  des  sensus  internus  empirisch 


SelWanzeigen  (Richter).  579 

real  werden.  Der  Innere  Sinn  bring:t  keine  eigenen  Objekte  hervor,  steht 
demnach,  worauf  es  besonders  ankommt,  auch  mit  den  inneren  Wahr- 
nehmungsobjekten prinzipiell  in  keiner  näheren  Beziehung,  sondern  ist 
lediglich  Aufnahme-  und  Umsetzungs-Organ  für  fremde,  nicht  aus  ihm 
stammende  transscendentale,  äussere  und  innere  Objekte,  die  er  als  empi- 
rische in  Raum  und  Zeit  zum  Bewusstsein  bringt.  Alle  Dinge,  äussere 
sowohl  wie  innere,  sind  Erscheinungen  im  Inneren  Sinn,  in  denen,  als  den 
durch  seine  Funktionen  zustande  gekommenen  Hervorbringungen,  das 
Gemüt  sich  selbst  anschaut  und  sich  daher  nur  erkennt,  nicht  wie  es  an 
sich  ist,  sondern  wie  es  erscheint.  Die  Zeit  des  Inneren  Sinns  ist  ab- 
hängig vom  transscendentalen  Ich  und  darum  von  transscendentaler  Idea- 
lität, zugleich  aber  unabhängig  vom  empirischen  Ich  und  deshalb  in  em- 
pirischem Sinne  real.  Die  eine  Zeit  des  Inneren  Sinnes  oder  des  empi- 
rischen Bewusstseins,  welche,  da  alle  Menschen  gleich  organisiert  sind, 
zugleich  die  des  überindividuellen  transscendentalen  Bewusstseins  der 
menschlichen  Gattung  überhaupt  ist,  sicliert  auch  den  äusseren  und 
inneren  „Erscheinungen  an  sich  selbst"  das  unmittelbare  primäre  Sein  in 
der  Zeit. 

Reininger  entwickelt  die  Lelire  vom  Inneren  Sinn  von  der  Voraus- 
setzung aus,  dass  die  an  Locke  sich  anschliessende  Parallelstellung  beider 
Sinne  die  ursprüngliche  und  allein  berechtigte  Form  der  Kantischen  Lehre 
vom  Inneren  Sinn  darstelle.  Er  koordiniert  beide  Sinne,  fasst  sie  als 
selbständige  empirische  Wahrnehmungsorgane,  reserviert  den  Inneren 
Sinn  nur  für  die  inneren  Vorgänge,  so  dass  nun  die  äusseren  Erscheinungen 
zeitlos  werden.  Um  dem  abzuhelfen,  nimmt  Reininger  einen  ,,Inwendigen 
Sinn  höherer  Ordnung"  an,  dessen  Form  eine  Zeit  in  transscendental- 
psychologischer  Bedeutung  ist,  welche  alle  Erscheinungen,  äussere  und 
innere,  umfasst.  Die  Voraussetzung  dieser  Konstruktion,  die  Parallel- 
stellung der  Sinne,  sowie  die  empiris-^ch-psychologische  Deutung  derselben, 
ist  bei  Kant  nicht  nachweisbar.  Ihre  Durchführung  verwickelt  sich  in 
Schwierigkeiten,  wie  im  einzelnen  nachgewiesen  wird. 

Paul  Knothe. 

Richter,  Otto.  Kants  Auffassung  des  Verhältnisses  von 
Glauben  und  Wissen  und  ihre  Nachwirkung  besonders  in  der 
neueren  Theologie.  Inaugural-Dissertation,  Leipzig  1905.  i^Zugleich 
als  Programm  des  Kgl.  Gymnasiums  zu  Lauban  erschienen.) 

Anknüpfend  an  eine  Beobachtung  Vaihingers  will  die  hier  ange- 
zeigte Arbeit  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  von  Glauben  und  Wissen 
bei  Kant  als  eine  inner-philosophische  herausstellen  und  im  Anschluss  da- 
ran die  praktischen  Folgerungen  beschreiben,  die  sicli  für  Kant  aus  seinem 
philosophierend  gewonnenen  Glaubensanschauungen  ergeben.  Eine  mög- 
lichst umfassende  Benutzung  der  einschlägigen  Stellen  aus  seinen  Schriften 
und  Vorlesungen  führt  den  Verfasser  zu  dem  Schluss,  dass  es  nicht  be- 
rechtigt sei,  Kant  einseitig  als  Metaphysiker  oder  einseitig  als  Antimeta- 
physiker  in  Anspruch  zu  nehmen.  Andererseits  würde  der  Reichtum  des 
Kantischen  Geistes  nicht  erschöpfend  genug  durch  den  Begriff  Meta- 
phoriker  ausgedrückt  werden.  Und  doch  leitet  gerade  dieser  Begriff  auf 
die  erste  Auffassung  hin.  In  Frage  steht,  wie  sich  die  beiden  Grundele- 
mente des  Ich,  das  fühlend-wollende  und  das  erkennende  mit  einander  so 
ausgleichen,  dass  die  Persönlichkeit  als  einheitliche,  in  sich  ruhende  be- 
stehen kann.  Zu  Hülfe  kommt  hier  Kants  Begriff  der  Einbildungskraft, 
die  jedenfalls  ein  Bindeglied  darstellt  zwischen  Verstand  und  Sinnlichkeit. 
Sie  ist  das  Organ,  durch  das  ein  Selbsterleben  zustande  kommt,  das  beide 
sonst  auseinandertretende  Seiten  des  Ich  umschliesst  und  im  analogisch- 
symbolischen  Erkenntnisprozess  den  Zwiespalt  aufhebt.  Diese  Richtung 
des  Kantischen  Denkens  stärker  als  üblich  zum  Bewusstsein  zu  bringen, 
ist  das  Bestreben  der  Untersuchung.  Die  Folgerungen  für  Wissenschaft, 
Staat  und  Kirche  zieht  Kant  besonders  in  ,,Streit  der  Fakultäten",  dein 
daher   ein   besonderer   Abschnitt   gewidmet   ist.    Bei  der  Darstellung  der 

38* 


580  Selbstanzeigen  (Rudolph — Schultz). 

Nachwirkungen  Kants  werden  von  Theologen  zunächst  Herrmann,  R.  A, 
Lipsius,  Pfleiderer  als  Vertreter  dreier  abgeschlossenen  theolog.  Sj^steme 
gewürdigt,  sodann  eine  Reihe  Einzeluntersuchungen  von  Reischle,  Wobber- 
min,  F.  R.  Lipsius,  Tröltscli,  Lüdemann.  Von  philosophischen  Nachfolgern 
Kants  habe  ich  auf  Höffding,  Adickes,  Th.  Ziegler,  L.  Busse,  Volkelt  und 
Wundt  hingewiesen.  Es  ergiebt  sich,  dass  eine  klare  Scheidung  beider 
Funktionsweisen  sich  durchgesetzt  hat,  dass  aber  in  der  Art  des  Neben- 
einander beider  Funktionen  die  Urteile  einer  metaphj^sikfreundlichen  und 
-feindlichen  Richtung  auseinandergehen.  Der  Vergleich  mit  Kant  zeigt, 
dass  das  Streben,  ein  Erkennen  und  Glauben  einschliessendes  Gesamtwelt- 
bild zu  gewinnen,  mit  grösserem  Recht  in  Kant  seinen  Vorläufer  erblicken 
kann  als  dasjenige,  welche  eine  der  Menschennatur  unerträgliche,  unüber- 
brückbare Kluft  zwischen  beiden  Welten  befestigt. 

Lauban.  O.  Richter. 

Rudolph,  Heinrich.  Über  die  Unzulässigkeit  der  gegen- 
wärtigen Theorie  der  Materie.  Wissenschaftliche  Beilage  zum 
Jahresbericht  des  städtischen  Realgymnasiums.     Coblenz  1905. 

Der  Verfasser  wendet  sich  gegen  die  moderne,  von  ihren  Anhängern 
als  Elektronik  bezeichnete  Richtung  der  Physik,  welche  in  dem  ato- 
mistisclien  Ausbau  der  Maxwellschen  elektromagnetischen  Lichttheorie 
und  dem  Begriffe  der  elektromagnetischen  Masse  gipfelt.  Nach 
dieser  Lelire  ist  nicht  Materie  Träger  aller  Erscheinungen,  sondern 
Elektrizität.  Nebenher  gehen  Vorstellungen  über  die  Zusammensetzung 
der  Elemente  aus  elektrischen  Elementarquanten,  die  das  Urelement 
darstellen  und  sich  durch  eine  Art  Zersetzuugsprozess,  bei  dem  die  P^le- 
raente  in  immer  einfachere  umgewandelt  werden,  aus  der  scheinbaren 
Materie  loslösen. 

Nur  dem  LTmstande,  dass  in  den  Kreisen  der  Physiker  die  phäno- 
menalis tische  Welterklärung  gegenwärtig  die  herrschende  ist,  verdankt 
die  Elektronenlehre  ihr  Ansehen,  obgleich  sie  eine  grosse  Zahl  von  inneren 
Widersprüchen  enthält.  Der  Verfasser  zeigt  aber,  dass  eine  genaue 
Prüfung  der  philosophischen  Grundlagen  und  der  physikalischen  Tatsachen 
die  Haltlosigkeit  dieser  Richtung  darthut,  und  dass  nur  die  Philosophie 
Kants  und  seine  eigene,  aus  Kants  Theorie  der  Materie  hergeleitete 
hydrodynamische  Auffassung  der  materiellen  Substanz  von  allen  Er- 
scheinungen widerspruchsfrei  Rechenschaft  giebt.  Im  Lichte  der  Kanti- 
schen Philosophie  tritt  die  ganze  Ungeheuerlichkeit  des  Versuchs  zu  Tage, 
die  Vorstellung  von  Materie  durch  die  Vorstellung  von  Elektrizität,  die 
doch  selbst  nur  eine  Erscheinung  an  der  Materie  ist,  ersetzen  zu  wollen. 
Die  strenge  Auffassung  Kants  von  der  mechanischen  Kausalität, 
die  der  phänomenalistischen  Richtung  und  deshalb  teilweise  auch  der 
heutigen  empirischen  Forschung  fremd  ist,  gleicht  einem  untrüglichen 
Kompass  zur  Auffindung  von  Trugschlüssen ;  und  so  klärt  sie  auch  den 
Grundirrtum  der  Elektronenlehre  dahin  auf,  dass  diese  die  atomis tische 
Natur  der  Elektrizität  in  den  Kathoden-  und  Radiumstrahlen  anschei- 
nend aus  dem  Experimente  folgert,  in  Wahrheit  aber  von  Anfang 
an  voraussetzt.  Mit  der  Preisgabe  dieser  Voraussetzung  wird  die  ganze 
Umwälzung  der  bisherigen  Begriffe  unnötig. 

H.  Rudolph. 

Schultz,  Julius  Dr.  Die  Bilder  von  der  Materie.  Eine  psj'cho- 
logische  Untersuchung  über  die  Grundlagen  der  Physik.  Göttingen,  Vander- 
hoeck  &  Ruprecht,  1905.     (VII  und  201  S.) 

Kants  Grundlehre,  dass  jede  Erkenntnis  und  jedes  Erkenntniselement 
aus  subjektivem  Aprioi'i  und  dem  „Objekt"  zusammengewebt  sei—,  scheint 
mir  unvviderlegt  und  unwiderleglich;  von  hier  gehe  ich  aus.  Nur  giebt  es 
für  mich  keine  „syntlietischen  Sätze  a  priori"  :  mein  „Subjekt"  beliauptet 
nichts,  sondern  „fordert".  In  einer  früheren  Schrift  (Psychologie  der 
Axiome,  Göttingen  1899)  versuchte  ich  deutlich  zu  machen,  wie  die  aprio- 


Selbstanzeigen  (Schultz),  581 

rischen  Denkformen  des  Menschen  aus  tierischer  Association  hervorwuchsen ; 
in  ihrer  ursprünglichen  Rohheit  aber  konnten  sie  nur  den  derben  Bedürf- 
nissen des  Lebens  angepasst  sein;  und  nun  bekamen  sie  dennoch  die  Auf- 
gabe, alle  feinsten  Probleme  der  lebensfremden  Wissenschaft  zu  beherrschen! 
Das  schien  seltsam ;  und  mir  stieg  die  Frage  auf,  wie  denn  eigentlich  diese 
anthropomorphen  Postulate  unseres  natürlichen  Verstandes  es  erreichen,  zu 
Grundsätzen  einer  wahrhaft  rationalen  Wissenschaft  zu  werden. 

Man  sieht,  mein  Unternehmen  knüpft  in  gewissem  Sinne  an  Kants 
„Metaphysische  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft"  an ;  auch  ich  will 
untersuchen,  wie  das  „Apriori"  sich  umformen  muss,  um  die  Prinzipien  der 
Physik  zu  erzeugen.  Aber  ich  glaube  zum  alten  Ziel  einen  neuen  Weg 
gehen  zu  sollen.  Denn  schon  bei  den  ersten  Schritten  wurde  mir  klar : 
völlig  „reine"  Naturlehre  in  Kants  Sinne  kann  es  nicht  geben.  Unser 
substantial-kausales  Denken  ist  eigentlicher  Wissenschaft  zunächst  so  wenig 
adäquat,  dass  es,  auf  die  Natur  angewendet,  fortwährend  zwei  oder  mehr 
Grundsätze  als  gleich  möglich  erscheinen  lässt.  Es  verlangt  z.  B.  für  jede 
Veränderung  eine  Ursache;  dieses  Verlangen  aber  kann  ganz  ebensowohl 
zum  Ruhepostulat  der  Alten  wie  zum  Trägheitsgesetz  führen,  jenachdem 
man  „Bewegung"  oder  „Bewegungsänderung"  als  „Veränderung"  auffasst. 
Das  apriorische  Kausalprinzip  spaltet  sich  also  bald  in  zwei  einander 
widersprechende,  gleich  apriorische  und  gleich  berechtigte  Postulate:  die 
Antinomie  ist  da. 

Die  Antinomien  unseres  Denkens  fasse  ich  nun  anders  auf  als  Kant; 
und  dadurch  eben  komme  ich  zu  völlig  anderen  Ergebnissen.  Kant  ver- 
wendete sie  fast  nur  zu  skeptischer  Polemik:  wo  die  Vernunft  mit  sich 
selber  in  Widerstreit  geriet,  da  war  das  Wissen  am  Ende.  Ich  dagegen 
lasse  die  Antinomien  des  Apriori  von  der  —  „Erfahrung"  entscheiden. 
Das  scheint  dem  schulgerechten  Kantianer  unsinnig,  ich  weiss  es ;  aber  ein 
solcher  übersähe,  dass  icli  die  Grundsätze  ja  damit  nicht  aus  der  Empirie 
herleite;  bloss  ein  Recht  zur  Auswahl  zwischen  zwei  gleich  vollgültigen, 
aber  gegnerischen  Prinzipien  vergönnen  mir  dieses.  Sind  doch  die  Denk- 
formen Mittel,  die  Welt  zu  verstehen;  bieten  sich  nun  zwei  an  sich  gleich- 
wertige Mittel  an,  so  werden  wir  dasjenige  ergreifen,  das  seinen  Zweck 
geschickter  erfüllt ;  um  auf  das  vorige  Beispiel  zurückzukommen :  die 
Physik  hat  unter  den  beiden  Möglichkeiten,  die  das  Kausalprinzip  ihr  ent- 
gegentrug, das  Gesetz  Galileis  gewählt,  weil  das  Ruhepostulat  sehr 
künstlicher  Maschinerien  bedurft  hätte,  um  die  thatsächlichen  Bewegungen 
der  Körper  zu  erfassen. 

Meine  physikalischen  Axiome  sind  also  nicht  wie  die  Kants  „reine" 
Ausgestaltungen  des  Apriori ;  sondern  Postulate,  die  dem  Apriori  zwar 
alle  entstammen,  aber  durch  „Erfahrung"  unter  gleich  vornehmen  Rivalen 
ausgesiebt  sind.  Diese  Sätze  verraten  ihren  apriorischen  Ursprung  durch 
ihre  absolute  Strenge  und  ausnahmslose  Gültigkeit,  durch  ihren  Anspruch, 
dass  alle  Erfahrung  an  ihnen  zu  messen,  durch  sie  zu  interpretieren,  von 
ihnen  zu  modeln  ist ;  durcli  ihren  Charakter  als  schrankenloser  Forderungen. 
Weil  aber  erst  die  „Erfahrung"  ihnen  den  Vorzug  vor  ihren  Widerparten 
gab,  würde  Kant  sie  als  völlig  „reine"  Prinzipien  nicht  anerkannt  haben. 

Von  solchen  Prämissen  aus  untersuche  und  richte  ich  die  verschie- 
denen „Bilder  von  der  Materie",  die  die  Physik  aufgestellt  hat.  Die 
Kämpfe  zwischen  Dynamik  und  Kinetik,  zwischen  Atomistik  und  ple- 
rotischer  Lehre,  zwischen  Substanzanschauung  und  Energetik  werden 
dargestellt  und  entschieden,  immer  vom  Standpunkte  meiner  psycholo- 
gistischen  Erkenntnistheorie  aus.  Die  Anwendung  meiner  Resultate  auf 
die  gegenwärtige  Physik  (S.  121—185)  wird  nur  naturwissenschaftlich  ge- 
bildeten Ijesern  Interesse  abgewinnen:  aber  diese  Abschnitte  sind  auch 
ohne  weiteres  überschlagbar. 

Berlin.  Julius  Schultz. 


582  Selbstanzeigen  (Palme). 

Palme,  A.     J    G.  Sulzers  Psycliolog'ie    und   die  Anfänge  der 
Dreivermögenslehre.     Berlin  1905.     Fussingers  Verlag.     (64  8.) 

Die    seit   Kant    populär    gewordene  Einteilung    der  psychischen  Er- 
scheinungen   in   drei  Gruppen :    Erkenntnis,   Gefühl    der  Lust  und  Unlust, 
Wille  —  die  Dreivermögenslehre  —  hat  für  uns  ein  mehrfaches  Interesse. 
Der   moderne  Psychologe    muss  sich  die  Frage  vorlegen:    ist  die  Zahl  der 
Grundfunktionen  richtig  bestimmt  oder  ist  sie  zu  vermehren  oder  zu  ver- 
mindern?    Dann:    lassen    sich  Gefühl    und  Wille  vielleicht  als  eine  Klasse 
zusammenfassen?     Ist  es  vielleicht  geboten,   gewisse  der  Erkenntnis  zuge- 
rechnete   Erscheinungen   —  etwa    das  Urteil  —  als  zur  emotionellen  Seite 
der  Psyche    gehörig    aufzufassen?     Auch    noch    radikalere  Fragen    können 
gestellt   werden    und  werden  thatsächlich  neuerdings  aufgeworfen.     Ist  es 
berechtigt,    eine  Mehrheit   unter   sich    verschiedener    psychischer  Prozesse 
anzunehmen,   darf  man,  mit  anderen  Worten,  unterscheiden  zwischen  dem 
Vorgestellten  und  dem  Vorstellen,  der  Lust  und  dem  Fühlen  der  Lust  und 
dann    zwischen    dem    Vorstellen    und    Fühlen,    abgesehen    von   den  vorge- 
stellten   und    gefühlten   Inhalten,     einen   Unterschied    annehmen?     Wenn 
nicht,  sind  dann  die  psychischen  Erscheinungen  nicht  kaleidoskopartig  auf 
einander  folgende  Bilder,  gefärbt  in  den  Farben  der  verschiedenen  Sinnes- 
empfindungen, und  ist  dann  nicht  der  Sensualismus  die  einzig  berechtigte 
Auffassung?     Eine  Lehre,  die  anerkannt  oder  bestritten,   aber  stets  leben- 
dig im  Kampfe  der  Meinungen  weiterlebt,  in  statu  nascendi  zu  untersuchen, 
gewährt    besonderen    Reiz.      Um    so    mehr,    wenn    sie  —  man    denke    an 
Schopenhauers    „Welt   als    Wille    und   Vorstellung"  —  auch    metaphysisch 
systembildend   gewirkt   hat.  —   Die   Ergebnisse   der  vorliegenden   Arbeit 
sind,  in  aller  Kürze,  besonders  folgende.     Unter  den  Vorbedingungen,    die 
zu  Kants   psychologischen  Grundanschauungen  —  auf   der  Dreivermögens- 
lehre   beruht  ja  die  Dreiteilung  der  Kritiken  —  mitgewirkt  haben,    steht 
an  erster  Stelle  Sulzers  Psychologie,    deren  hauptsächlichstes  Verdienst  in 
der  genauen  Untersuchung  und  scharfen  Formulierung  des  Gefühlsbegriffes 
besteht.     Auf  der  wolf fischen  Einteilung  der  Vermögen  in  Erkenntnis  und 
Wille  beruhen  die  beiden  zuerst  entstandenen  Kritiken,  durch  die  schliess- 
liche  Herübernahme    des   von  Sulzer  endgültig  ausgearbeiteten  Gefühlsbe- 
griffes   erhielt    die  K.  d.  U.   ihre  psychologische  Motivierung.    Die  Unter- 
suchung   von    Mendelssohns    „Billigungstrieb'    und    von    Tetens'    „Gefühl" 
ergiebt,    dass    der  Einfluss  Mendelssohns    auf  Kant  überschätzt  wird,    und 
dass   Tetens    in    der  Vermögenslehre    Kant   überhaupt   nicht    beeinflussen 
konnte.    Sulzers  Psychologie  dagegen  zeigt  mannigfaltige  und  interessante 
Beziehungen   zu    Kant,    in    dessen    Wertschätzung  Sulzer   stets   besonders 
hoch    stand.     Aus    der  Kenntnis   von  Sulzers  Psychologie,    besonders    aber 
seiner  durchaus  originellen  Gefühlslehre,  in  der  er  sich  mit  der  neuerdings 
von  Lipps  vertretenen  Ansicht  eng  berührt,   erschliesst   sich  auch  erst  das 
genauere  Verständnis    der    einflussreichen  Sulzerschen  Ästhetik.     Die  Ver- 
mögenslehre,   deren  Kenntnis    für    das    tiefere  Eindringen    in    die  philoso- 
phischen Werke  aus  der  zweiten  Hälfte  des  XVIII.  Jahrhunderts,  auch  in 
die  Kantischen,   unbedingt   notwendig   ist,  wird  in  den  Geschichtswerken, 
und    zwar    auch    in    denjenigen,    welche    die  Geschichte    der  Psychologie 
dieser   Zeit    zum  Gegenstande   haben,    ganz  unzureichend  behandelt.     Die 
wechselnde    und    schillernde    Bedeutung    der    Begriffe   Vermögen,    Kraft, 
Hauptvermögen,  Empfindung,  Gefülü  u.  a.    hat    zu  mannigfachen  Missver- 
ständnissen   geführt,    selbst   bei    dem    so    gründlichen  und  gewissenhaften 
J.  B.  Meyer  (Kants  Psychologie,  1870).     Diese  Begriffe  werden  daher  ein- 
gehend   behandelt  und    ihre    genauen  Bedeutungen    festgelegt.     Das  enge 
Verhältnis,  in  dem  Herbart  zu    der  Leibniz-Wolffschen  Psychologie  stand, 
ergiebt   sich    von    selbst,    sowie    dass    die    Herbartsche  Psychologie   einen 
letzten  Reaktionsversuch    dieser  Schule    gegen   die  von  Kant  zur  Geltung 
gebrachte  Auffassung  der  psychischen  Funktionen  darstellt. 

Berlin.  Dr.  Anton  Palme. 


Selbstanzeigen  (Ewald— Geissler).  583 

Ewald,  Oscar.  Nietzsches  Lehre  in  ihren  Grundbegriffen: 
Die  evvio-e  Wiederkunft  des  Gleichen  und  der  Sinn  des  Über- 
menschen.    Berlin,  Ernst  Hofmann,  1903.     (141  S.) 

Der  Zweck  meiner  Arbeit  muss  in  zweierlei  gesucht  werden :  in 
einer  unabhängig  von  Nietzsche  unternommenen  Analyse  seiner  Grund- 
probleme und  erst  in  zweiter  Reihe  in  einer  möglichst  gründlichen  und 
widerspruchsvollen  Darstellung  der  Zarathustralehre.  Jene  Grundprobleme 
sind:  Die  Idee  der  ewigen  Wiederkunft  des  Gleichen  und  die  Idee  des 
Übermenschen.  Zunächst  wies  ich  nach,  dass  beide  dogmatisch  interpre- 
tiert mit  einander  unvereinbar  sind,  da  von  einer  unendlichen  Entwick- 
lungsmöglichkeit nicht  mehr  gesprochen  werden  kann,  wenn  eine  schliess- 
liche  Rückkehr  schon  einmal  verwirklichter  Zustände  bevorsteht.  Diese 
Antithese  hebt  sich  durch  meine  Analyse  der  beiden  Probleme  von  selber. 
Die  ewige  Wiederkunft  darf  nicht  wörtlich,  als  kosmologische  Theorie, 
wo  sie  sich  mit  den  schlimmsten  logischen  Schwächen  behaftet  zeigt, 
interpretiert  werden  und  ebenso  wenig  der  Übermensch  biologisch  und 
evolutionistisch ;  \äelmehr  ist  jene  ein  Symbol,  in  dem  sich  der  Imperativ 
verkleidet:  ,, Handle  so,  als  ob  du  jedem  Augenblicke  deines  Lebens  Ewig- 
keitswert schenken  wolltest!"  Und  dieses  ist  bloss  die  Konsequenz  vor- 
erwähnter Norm,  also  ein  neuer  Imperativ;  handle  so,  als  ob  du  den 
Übermenschen  in  dir  verwirklichen  wolltest!  Die  Idee  der  ewigen  Wieder- 
kunft des  Gleichen  ist  demnach  nicht  mehr  die  Negation,  sondern  die 
Grundlage  der  Lehre  vom  Übermenschen. 

Damit  wird  die  Weltanschauung  des  ,,Antimoralisten"  Nietzsche 
streng  im  Geiste  der  Kantischen  Ethik  gedeutet.  Freilich  zunächst 
durch  eine  selbständige  Behandlung  der  von  ihnen  aufgerollten  Fragen. 
Aber  es  wdrd  im  Anschlüsse  daran  nachgewiesen,  dass  Nietzsche  selber,  be- 
sonders im  „Zarathustra",  sich  dieser  Auffassung  nähert,  wenn  auch  stets 
in  einem  bestimmten  Abstand.  Den  psychologischen  Grund  dieser 
Differenz,  dieser  Geteiltheit  in  Nietzsche  selber  zu  entdecken,  unternimmt 
der  zweite  Teil.  Er  sucht  die  Theorie  konstant  von  der  Zeit  als  dem 
inneren  Sinn  charakterologisch  zu  verwerten,  indem  er  zwei  Grundformen 
des  höheren  Menschentums  einander  gegenüberstellt,  den  historischen 
Menschen,  der  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft  in  sich  vereint 
hält  und  als  Schöpfer  von  Werten  über  Zeit  und  Vergänglichkeit  erhaben 
ist  und  den  elementaren  Menschen,  den  handelnden  Menschen,  der  im 
Wesentlichen  an  die  Gegenwart  gebunden  bleibt.  Beides  lag  in  Nietzsehe 
und  im  Nietzscheschen  Übermenschen,  während  in  Wahrheit  bloss  der 
historische  Mensch  der  objektiven  Bedeutung  des  Übermenschen  entspricht. 
Meine  Schrift  stellt  sich  somit  als  ein  Versuch  dar,  die  Widersprüche  in 
Nietzsche  zu  erklären  und  zu  klären,  weiter  aber  auf  seinen  Bahnen  zum 
kategorischen  Imperativ  zurückzukehren. 

Wien.  Oscar  Ewald. 

Geissler,  Kurt,  Dr.  Die  Kegelschnitte  und  ihr  Zusammen- 
hang durch  die  Kontinuität  der  Weitenbehaf tungen  mit  einer 
Einführung  in  die  Lehre  von  den  Weitenbehaf  tungen.  Mit 
50  Figuren  auf  19  Tafeln.     Jena,  H.  W.  Schmidts  Verlag,  1905. 

Ein  in  dieser  Zeitschrift  seinerzeit  angezeigtes  Buch :  ,,Die  Grund- 
sätze und  das  Wesen  des  Unendlichen  in  der  Mathematik  und  Philosophie", 
B.  G.  Teubner,  1902,  sollte  i.  A.  nicht  in  systematischer  Form  die  Pro- 
bleme des  Unendlichen  besprechen  und  eine  neue  Lehre  „von  den  Weiten- 
behaftungen"  in  ihren  allgemeinen  Zügen  und  in  einer  freien  Reihe  von 
mathematischen  und  philosophischen  Beispielen  begründen.  Diese  Lehre 
habe  ich  dann  weiter  ausgebaut  und  z.  T.  in  strenger  Form  abschnittsweise 
dargestellt  in  Aufsätzen  des  Jahresberichtes  der  D.  Mathematiker-Ver- 
einigung, der  Zeitschrift  für  math.  und  naturw.  Unterricht,  den  Unter- 
richtsblatt für  Math,  und  Naturw.,  des  Archivs  für  System.  Philosophie, 
der  Zeitschrift  für  Philos.  und  philos.  Kritik,  der  Zeitschrift  für  wissensch. 
Philosophie,    des    pädagog.  Archivs    der  Lehrproben  und  Lehrgängen,    der 


584  Selbstanzeigen  (Kuberka). 

Zeitschrift  für  lateinlose  höhere  Schulen  u.  a.  In  einigen  auf  den  Haupt- 
versammlungen des  Vereins  zur  Förderung  des  math.  und  naturw.  Unter- 
richts, Pfingsten  03  und  04,  und  auf  der  Naturforscher-Versammlung  Cassel  03 
gehaltenen  Vorträgen  deutete  ich  dann  kurz  die  Grundgedanken  einer 
„übereuklidischen  Geometrie"  und  einer  neuen  Behandlung  der  Kegel- 
schnitte durch  das  Unendliche  an.  Letztere  ist,  verbunden  mit  einer  Ein- 
führung in  die  Lehre  von  den  Weitenbehaftungen,  im  oben  genannten 
Buche  bei  H.  W.  Schmidt  erschienen. 

Erst  nachdem  andere  Probleme  der  niederen  und  höheren  Matlie- 
matik  und  ausser  anderen  die  Frage  der  Unendlichkeit  von  Raum  und 
Zeit  in  der  Philosophie  mich  auf  die  Möglichkeit  gebracht  hatten,  das 
Unendliche  imd  Endliche  in  einer  Lehre  von  gesonderten  und  doch  ge- 
setzmässig  in  Beziehung  gebrachten  Weitenbehaftungen  zu  behandeln,  die 
sich  vielfach  im  Gegensatze  zu  bisherigen  Auffassungen  des  Unendlichen, 
besonders  des  Unendlichgrossen  befindet,  tauchte  die  Möglichkeit  auf  die 
Kegelschnitte,  die  mich  freilich  im  Unterrichte  schon  lange  beschäftigten, 
in  einen  neuen  Zusammenhang  zu  bringen,  die  noch  immer  bestehenden 
Klüfte  zwischen  der  endlichen  Ellipse  (ohne  Asymptote  etc.)  und  der  „in 
das  Unendliche  gehenden"  Hyperbel  und  Parabel  (erstere  mit  ihrer  auf- 
fälligen Zweiteilung  und  den  Asymptoten)  zu  überbrücken  und  durch  die 
continuitas  generalis  der  Weitenbehaftungen  einen  derartig  engen  Zu- 
sammenhang zwischen  den  genannten  Kurven  zu  liefern,  dass  sie  alle  nur 
als  Fälle  einer  einzigen,  auf  der  Oberfläche  einer  unendlichen  Kugel 
zweiter  Ordnung  liegenden  Doppelellipse  erscheinen  und  als  solche  streng 
definiert  und  in  sämtlichen  Eigenschaften  entwickelt  werden  können. 

Für  die  Philosophie  wird  die  Bemerkung  von  Interesse  sein,  dass 
nach  meiner  Ansicht  nicht  etwa  der  Raum,  m  dem  die  ins  Unendliche 
„laufenden"  Kurven  liegen,  also  unser  Raum  sphärisch  im  Unendlichen 
zweiter  Ordnung  gekrümmt  ist,  sodass  dadurch  die  Zweige  der  Hyperbel 
sich  im  LInendlichen  schliessen,  sondern  dass  auch  diese  Kugel  2.  Ordnung 
nur  —  eine  Kugel  in  (!)  diesem  Räume  ist,  dass  die  endlichen  Geraden 
und  die  im  Endlichen  auf  einer  (endlichen)  Ebene  liegenden  Kurven  ohne 
jeden  Widerspruch  für  die  Behaftung  mit  dem  Unendlichen  auf  einer 
krummen  Fläche  liegen  können.  Die  Frage  nach  der  LTnendlichkeit  des 
Raumes  gewinnt  ein  etwas  anderes  Aussehen  als  bisher,  indem  sie  nach 
genannten  Lehren  nicht  einfach  einem  ,, Räume"  zugeschrieben  wird, 
sondern  indem  in  den  Begriff  eines  Raumes  —  zur  Vermeidung  der 
Widersprüche  des  LInendlichen  —  die  Eigenschaft  entweder  des  Endlichen 
oder  des  Unendlichen  irgend  welcher  Ordnung  hineingenommen  werden 
muss.  Die  allgemeine  Mannigfaltigkeit  des  Raumes  hat  danach  also  die 
Eigentümlichkeit,  dass  bei  ihr  gewisse  Eigenschaften  streng  geschieden 
werden  müssen  (endlich  oder  unendlich  zu  sein),  dass  aber  doch  wider- 
spruchslos Beziehungsgesetzc  (Grundsätze  des  Unendlichen)  deutlich  aus- 
sprechbarer Art  bestehen  zwischen  der  mit  dem  Endlichen  (Sinnlichvor- 
stellbaren)  und  dem  Unendlichen  (Über-  oder  Untersinnlichvorstellbaren) 
behafteten  Raumvorstellung.  Das  Buch  über  die  Kegelschnitte  (leicht 
verständlich  und  auch  für  den  Unterricht  brauchbar)  ist  nur  ein  Beispiel 
für  eine  ähnliche  mögliche  Behandlung  anderer  Kurvenprobleme,  auch  der 
höheren  Mathematik  (Punktion  von  Weierstrass),  die  z.  T.  von  mir  bereits 
in  kleineren  Arbeiten  veröffentlicht  wurde.  Grössere  Ausführungen  und 
eine  strenge  Durchführung  der  Grundlagen  der  ,,Analysis"  nach  den  er- 
weiternden Methoden  der  Weitenbehaftungen  werden  zur  Veröffentlichung 
kommen. 

Luzern  (Schweiz).  Kurt  Geissler. 

Kuberka,  Felix.  Kants  Lehre  von  der  Sinnlichkeit.  Halle 
a.  S.,  C.  A.  Kaemmerer  &  Co.,  1905.     (146  S.) 

Die  vorliegende  Arbeit  ist  dem  Versuche  gewidmet,  die  Lehre  von 
der  Sinnlichkeit  als  integrierenden  Bestandteil  der  Kantischen  Philosophie 
in  der  geschichtlichen  Reihenfolge  der  von  Kant  verfassten  Schriften  dar- 


Selbstanzeigen  (Kuberka).  585 

zustellen.  Ihre  Aufgabe  war  daher  zunächst  eine  rein  historische,  und 
zwar  ist  bei  der  Lösung  dieser  Aufgabe  diejenige  Methode  befolgt  worden, 
welche  schon  in  verschiedenen  Untersuchungen  der  Schüler  meines  ver- 
ehrten Lehrers,  Herrn  Prof.  Dr.  Vaihingers,  zur  Anwendung  gebracht 
worden  ist :  die  Anordnung  des  zu  bearbeitenden  Stoffes  vorwiegend  unter 
chronologischem  Gesichtspunkt.  Die  berechtigten,  gegen  diese  Mothode 
zu  erhebenden  Bedenken  dürften  bei  näherer  Einsicht  die  vorliegende 
Untersuchung  nur  in  geringem  Masse  treffen.  Denn  niemals  ist  mir  aus 
dem  Sinn  gekommen,  dass  Kant  nur  aus  dem  Ganzen,  der  systematischen 
Totalauffassung  seines  Systems  voll  und  ganz  begriffen  werden  kann,  und 
dass  an  der  Unzulänglichkeit  oder  prinzipiellen  Verkehrtheit  dieser  syste- 
matischen Gesamtauffassung  notwendig  jede  auch  noch  so  eingehende 
historische  Darlegung  scheitert. 

Als    durch    meine    Untersuchung    festgestellt    glaube    ich    folgende 
Punkte  ansehen  zu  dürfen : 

In  ihrer  historischen  Entwickelung  führt  uns  die  Lehre  von  der 
Sinnlichkeit  bis  in  die  vorkritisch-dogmatische  Periode  der  Entwickelung 
Kants,  speziell  bis  in  die  „Allgemeine  Xaturgeschichte  und  Theorie  des 
Himmels"  und  die  Dissertation  „Principiorum  primorum  cognitionis  meta- 
physicae  nova  dilucidatio"  zurück.  Unter  dem  Einfluss  des  dogmatischen 
Rationalismus  der  Wolffischen  Schule  ist  daselbst  die  Auffassung  Kants 
von  dem  Wesen  und  der  Eigentümlichkeit  der  Sinnlichkeit  noch  vor- 
wiegend eine  dogmatisch-intellektualistische,  d.  h.  Sinnlichkeit  und  Ver- 
stand stehen  sich  nicht  als  qualitativ,  sondern  nur  quantitativ  und  graduell 
verschiedene  Vermögen  gegenüber,  und  zwar  ist  der  Unterschied  von 
Sinnlichkeit  und  Verstand  ein  derartiger,  dass  der  Sinnlichkeit  nur  eine 
dunkle  und  verworrene  Auffassungsweise,  dem  Verstand  dagegen  eine  klare 
und  deutliche  Erkenntnisweise  des  Wesens  der  Dinge  auf  dem  Wege  einer 
Aufklärung  des  in  den  Sinnen  zunächst  nur  verworren  Gegebenen  zuer- 
kannt wird.  Diese  einseitig  rationalistische  Auffassung  Kants  ändert  sich 
in  den  Schriften  der  vorkritisch-empiristischen  Periode,  in  welcher  Kant 
unter  dem  Doppeleinfluss  des  Wolffischen  Rationalismus  und  des  englischen 
Empirismus  entschieden  zu  der  Ansicht  eines  qualitativen  Getrenntseins 
von  Sinnlichkeit  und  Denken,  Gefühl  und  Erkennen  gelangt.  Diese  Ein- 
sicht in  die  qualitative  Differenz  der  oberen  und  unteren,  theoretischen 
und  praktischen  Seelenvermögen  ist  auch  für  die  kritischen  Schriften 
Kants  seit  dem  Jahre  1770  massgebend  geworden,  indes  mit  der  Umge- 
staltung, dass  in  der  Dissertation  von  1770  vermittels  der  Einsicht  in  die 
Apriorität  des  Raumes  und  der  Zeit  die  bloss  psychologisch-qualitative 
Differenz  der  sinnlichen  und  intellektuellen  Erkenntnisvermögen  in  die 
qualitativ-transscententale  Differenz  der  sinnlichen  und  intellektuellen  Er- 
kenntnisarten umgewandelt  und  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  diese 
Verschiedenheit  unter  ausdrücklicher  Beschränkung  auch  des  kategorialen 
Verstandesgebrauchs  auf  die  Gegenstände  der  uns  möglichen  Erfahrung 
ausschliesshch  dem  Unterschied  von  Receptivität  und  Spontaneität  gleich- 
gesetzt wird.  Dieser  Unterschied  ward  von  Kant  nun  auch  in  die  Kritik 
der  praktischen  Vernunft  herübergenommen,  in  dieser  aber  wesentlich  da- 
durch zu  Ungunsten  der  Sinnlichkeit  verändert,  dass  das  Verhältnis  von 
Sinnlichkeit  und  Verstand,  resp.  Vernunft  immer  mehr  im  Sinne  eines 
Wertverhältnisses  beurteilt  und  demgemäss  das  Ansehen  der  Sinnlichkeit 
als  solcher,  zumal  bei  dem  Mangel  apriorischer.  Prinzipien,  immer  mehr 
verringert  wird.  Eine  höhere  Wertschätzung  der  Sinnlichkeit  macht  sich 
dagegen  wiederum  in  dem  dritten  Hauptteil  des  Kantischen  Systems,  der 
Ästhetik,  geltend.  Die  Stellung  der  Sinnlichkeit  oder  des  ästhetischen 
Gefühls  lässt  sich  hier  als  eine  Mittelstellung  zwischen  der  erkenntnis- 
theoretischen Wertbedeutung  der  Sinnlichkeit  im  Theoretischen  und  der 
ethischen  Wertbedeutung  der  Sinnlichkeit  im  Praktischen  bezeichnen,  in- 
sofern die  Sinnlichkeit  im  Theoretischen  a  priori  objektive,  die  Sinnlich- 
keit im  Ästhetischen   a  priori   subjektive,   die  Sinnlichkeit  im  Ethischen 


586  Selbstanzeigeu  (Guastella). 

hmgegen  bloss  empirische  und  pathologische  Elemente  in  sich  hat.  Viel 
geringer  als  in  der  Ästhetik  wird  dagegen  die  Sinnlichkeit  wiederum  in 
der  Kantischen  Religionsphilosophie  bewertet  und  dem  sinnlichen  Trieb- 
leben in  der  absoluten  Unterordnung  unter  das  willkürlich  in  das  Kautische 
System  eingeführte  Prinzip  des  Radikal-Bösen  notwendig  ein  wenn  nicht 
absolut,  so  doch  relativ  unmoralischer  Charakter  zuerkannt.  Andererseits 
ist  es  gerade  die  Kantische  Religionsphilosophie,  welche  zwar  nicht  in 
praktischer,  aber  doch  in  theoretischer  Hinsicht  der  Sinnlichkeit  eine  hohe 
und  edle,  befreiende  und  befriedigende  Fähigkeit  und  Wirkung  zuge- 
schrieben hat  —  die  Fähigkeit,  die  an  sich  theoretisch  unbeweisbaren, 
aber  praktisch  gültie:en  Ideen  der  reinen  Vernunft  in  symbolischer  Weise 
darzustellen  und  durch  eben  diesen  symbolischen  Anthropomorphismus  das 
an  sicli  unfassbare  Transscendente  und  Absolute  dichterisch  zu  verklären. 
Psycholog:ischen  und  logischen  Untersuchungen  ist  endlich  der  letzte  Ab- 
schnitt der  Untersuchung  gewidmet  und  in  einem  Anhang  die  Lehre  von 
der  Sinnlichkeit  in  den  von  Kant  nachgelassenen  Schriften  beliandelt,  die 
freilich  die  bisher  gegebenen  Bestimmungen  weniger  erweitern  als  be- 
stätigen. 

Halle  a.  S.  Felix  Kuberka. 

Guastella,  Cosmo,  Professor  der  theoretischen  Philosophie  an  der 
Universität  Palei*mo.  Saggi  sulla  teoria  della  conoscenza.  Saggio 
secondo:  Filosofia  della  Metafisica.  Parte  prima:  La  causa  effi- 
ciente.  Palermo,  Remo  Sandron,  1905.  Tomo  I,  762  p.  Torao  H,  472  -\- 
CCXXVI  4-  349  p. 

Was  die  allgemeine  fast  unvermeidliche  Tendenz  des  menschlichen 
Geistes  nach  metaphysischen  Auffassungen  erklärt,  ist  die  in  der  ganzen 
Geschichte  des  metaphysischen  Denkens  hervortretende  Beständigkeit  be- 
stimmter allgemeiner  Typen,  auf  welche  man  alle  die  verschiedensten  Auf- 
fassungen zurückführen  kann;  diese  Auffassungen  sind  Entwickelungen 
gewisser  jeder  Metaphysik  gemeinsamerGrundbegriffe,  die,  obgleich  sie  keinen 
objektiven  Wert  haben,  naturgemäss  als  an  und  für  sich  evident  angenommen 
werden.  Diese  Grundbegriffe,  auf  welchen  die  Metaphysik  beruht,  sind, 
wie  überhaupt  jeder  Grundbegriff,  das  Ergebniss  der  Erfahrung:  sie  sind 
Ergebnisse  unbewusster  Schlüsse,  welche,  da  sie  sich  uns  unwiderstehlich 
aufdrängen,  und  wir  der  Schlüsse,  deren  Ergebniss  sie  sind,  nicht  bewusst 
werden,  als  Sätze  anschaulicher  Evidenz  betrachtet  und  als  solche  ange- 
nommen werden.  Gewinnt  man  nun  das  Bewusstsein  des  unbewussten 
Schlussprozesses,  woraus  jene  Grundbegriffe  entstehen,  so  sieht  man  sofort, 
dass  diese  Ergebnisse  ungiltig  sind  und  dass  ihnen  deshalb  kein  objektiver 
Wert  zukommt.  Unbewusste  Schlüsse,  die  sich  uns  fast  unwiderstehlich 
aufdrängen  (Sophismen  a  priori),  sollen  auf  einer  möglichst  grossen  Zahl 
von  Erfahrungen  beruhen :  die  allgemeine  Formel  also,  welche  alle  unbe- 
wussten Schlussprozesse,  d.  h.  alle  Sophismen  a  priori  oder  natürliche 
Sophismen  unseres  Geistes,  woraus  die  Grundbegriffe  der  Metaphysik  ent- 
stehen, zusammenfasst,  ist:  die  Tendenz,  alle  Erscheinungen  und  alle  unsere 
Ideen  über  Erscheinungen  denjenigen  Erscheinungen  und  Ideen  gleichzu- 
setzen, die  uns  am  meisten  vertraut  sind.  Die  ,,Pliilosophie  der  Metaphysik" 
hat  also  zu  zeigen,  erstens  wie  alle  metaphysischen  Auffassungen  Ent- 
wickelungen bestimmter  von  allen  Menschen  instinktmässig  angenommener 
Grundbegriffe  sind,  welche,  sozusagen,  einen  Teil  des  gemeinen  Menschen- 
verstandes bilden,  und  zweitens  wie  alle  diese  Grundbegriffe  aus  jener 
sophistischen,  unserem  Geist  anhaftenden  Evidenz  entstehen,  von  der  oben 
die  Rede  war.  Sie  hat  also  einen  doppelten  Zweck,  l.  Die  Thatsachen  zu 
erklären,  die  die  Geschichte  der  Metapln'sik  uns  darbietet,  2.  zu  zeigen, 
dass  die  Metaphysik  keinen  objektiven  Wert  hat,  da  ihre  Grundbegriffe 
derart  sind,  diss  man  sie  annehmen  darf,  nur  soweit  sie  als  an  und  für 
sich  selbst  evident  betrachtet  werden,  sieht  man  aber  einmal,  dass  ein 
unbewusster  Schluss  diesen  Grundbegriffen  zu  Grunde  liegt,  so  erkennt 
man  sofort,  dass  sie  natürlich  Täuschungen  unseres  Geistes  sind. 


Selbstanzeigen  (Guastella).  587 

Der  erste  Teil  der  „Philosophie  der  Metaphysik"  (der  zweite  und 
der  dritte  sind  noch  nicht  erschienen)  behandelt  den  wichtig'sten  der  Grund- 
begriffe der  Metaphysik,  nämlich  den  Begriff  der  wirkenden  Ursache 
(causae  efficientis)  und  diejenige  metaphysischen  Lehren,  die  Anwendungen 
und  Entwickelungen  dieses  Begriffs  sind.  Die  wirkende  Ursache  (die  Ur- 
sache im  metaphysischen  Sinne)  unterscheidet  sich  in  drei  Hauptpunkten 
vom  einfachen  Antezedens  einer  unveränderlichen  Succession  (der  Ursache 
im  wissenschaftlichen  Sinn^:  1.  bei  einer  unveränderlichen  Succession 
scheint  uns  die  Verbindung  zwischen  Ursache  und  Wirkung  geheimnisvoll, 
während  bei  der  wirkenden  Ursache  diese  Verbindung  von  sich  selbst  er- 
klärlich und  vollständig  begreiflich  sein  soll,  ohne  dass  der  Frage  nach 
dem  Warum  Platz  gemacht  wird,  wie  das  bei  der  unveränderlichen  Suc- 
cession der  Fall  ist.  2.  Die  einfachen  unveränderlichen  Successionen  weixlen 
von  uns  angenommen  (um  den  Ausdruck  von  Baco  zu  brauchen)  als  von 
der  Erfahrung  uns  geoffenbarte  Glaubenssätze;  bei  der  wirkenden  Ursache 
soll  man  dagegen  die  Fähigkeit  der  Ursache,  die  Wirkung  hervorzubringen, 
durch  den  einfachen  Vergleich  der  Ideen  der  gegebenen  Ursache  und  der 
gegebenen  Wirkung  a  priori  erkennen.  H.  Bei  der  wirkenden  Ursache  soll 
die  Verbindung  zwischen  Ursache  und  Wirkung  notwendig  sein:  bei 
einer  unveränderlichen  Succession  scheint  uns  diese  Verbindung  dagegen 
zufällig  und  fast  willkürlich. 

Das  Prinzip  der  wirkenden  Ursache  (nämlich  dass  jede  Erscheinung 
nicht  einfach  ein  Vorhergehendes,  welchem  sie  unveränderlich  folgt,  sondern 
eine  wirkende  Ursache  hat)  ist  der  unbewusste  Schluss  aus  den  Erfahrungen 
der  gewöhnlichsten  Causalverhältnisse  (z.  B.  die  freiwillige  Handlung  und 
die  Bewegung  durch  Stoss '.  Bei  diesen  gewöhnlichsten  Causalverhältnissen 
scheint  uns  infolge  der  Gewöhnlichkeit  selbst  die  Verbindung  zwischen 
Ursache  und  Wirkung  an  und  für  sich  klar  evident  (a  priori)  und  not- 
wendig zu  sein.  Wegen  der  natürlichen  Tendenz,  alle  Erscheinungen  den- 
jenigen gleichzusetzen,  die  uns  die  gewöhnlichsten  sind,  folgt,  dass  wir 
(durch  einen  unbewussten  Schluss)  dass  Prinzip  annahmen:  jede  Erscheinung 
soll  ihre  Ursache  haben,  welche  nicht  nur  ein  Vorhergehendes  ist,  welchem 
sie  unveränderlich  folgt,  sondern  die  mit  der  Wirkung  in  einer  sich  selbst 
erklärenden  Verbindung  steht,  an  der  nichts  Geheimnisvolles  für  uns  ist, 
die  vielmehr  aus  sich  selbst  erkennbar  und  notwendig,  d.  h.  eine  wirkende 
Ursache  ist.  Die  Analyse  dieses  unbewussten  Schlussprozesses,  woraus  die 
Idee  der  wirkenden  Ursache  entsteht,  zeigt  uns,  dass  diese  Idee  keinen 
objektiven  Wert  hat,  und  nichts  anderes  als  eine  natürliche  Täuschung 
unseres  Geistes  ist. 

Die  „Philosophie  der  Metaphysik"  untersucht  weiter  die  allgemeinen 
Typen,  auf  welche  man  fast  alle  die  metaphysischen  Lehren,  welche  die 
wirkende  Ursache  betreffen,  zurückführen  kann,  und  erklärt  deren  Ur- 
sprung, indem  sie  bei  ihnen  die  verschiedenen  Anwendungen  zeigt,  die 
der  menschliche  Geist  mehr  oder  weniger  spontan  von  diesem  Begriffe 
macht.  Diese  allgemeinen  Typen  sind  die  folgenden :  die  verschiedenen 
Formen  des  Anthropomorphismus,  nämlich:  die  theologische  Philosophie, 
der  Animismus  (in  dem  Sinne,  den  dieses  Wort  in  der  Geschichte  der 
biologischen  Hypothesen  hat),  der  Hylozoismus,  der  Panpsychismus  (der 
sich  vom  Hylozoismus  dadurch  unterscheidet,  dass  er  die  Materie  einfach 
als  Erscheinung  und  den  Geist  als  das  entsprechende  Ding  an  sich  be- 
trachtet), und  der  Idealismus  (der  die  Dinge  für  Vorstellungen  hält  und 
in  ihnen  ganz  oder  teilweise  das  Ergebnis  der  Denkthätigkeit  sieht);  die 
impulsionistische  Philosophie  (die  alle  physischen  Vorgänge  auf  einen  Stoss 
zurückführt);  die  Lehre  des  Unerkennbaren  f deren  eine  Form  der  Begriff 
der  Kraft  ist);  die  aprioristische  Philosophie  (d.  h.  jene  philosophische 
Methode,  welche  die  Wirklichkeit  a  priori  erkennen  willj;  der  dialektische 
Realismus,  welcher  die  Abstraktionen  als  Realität  betrachtet  und  diese 
hypostasierten  Abstraktionen  nach  einer  besonderen  Form  der  Methode 
a  priori   ableitet   (Plato,    Spinoza,  Hegel  etc.).    Die  Philosophie  der  Meta- 


588  Selbstanzeigen  (Guastella), 

physik  hat  gleichzeitig  zwei  Zwecke  (es  sind  die  zwei  untrennbaren  Seiten 
ihrer  Erklärung^  1.  den  Ursprung  dieser  Systeme  zu  erkennen  und  2.  ihre 
trügerische  Natur  zu  zeigen. 

Zum  zweiten  Bande  gehören  ein  Anhang  vmd  vier  Supplemente. 
Der  Anhang  besteht  aus  zwei  Kapiteln:  der  erste  handelt  von  denjenigen 
philosophischen  Lehren,  die  Anw^endungen  und  Entwickelungen  eines 
Grundbegriffes  sind,  der  in  der  folgenden  Weise  formuliert  werden  kann: 
niJiil  orliur,  nihil  intcrit,  und  zeigt,  wie  dieser  Begriff  aus  dem  Sophisma 
a  priori  unseres  Geistes  entsteht:  aus  der  Tendenz  alle  Erscheinungen 
denjenigen,  die  uns  die  gewöhnlichsten  sind,  gleichzusetzen.  Das  zv^eite 
Kapitelliandelt  vom  Animisraus  (als  Substantialisierung  der  Seele)  in  seinen 
verschiedenen  Formen,  und  erklärt  ihn  durch  denselben  unbewussten 
Schluss,  wodurch  die  Lehren  des  ersten  Kapitels  erklärt  wurden. 

Das  erste  der  Supplemente  ist  ein  Zusatz  zimi  zweiten  Kapitel  des 
Anhangs  und  behandelt  die  Lehre  von  Rosmini  über  die  Substanz  der 
Seele  (eine  der  fundamentalen  Lehren  dieses  Philosophen);  die  anderen 
drei  Supplemente  vollenden  die  im  Kapitel  „Dialektischer  Realismus"  ent- 
haltene Darstellung  des  platonischen  Systems,  da  die  Verschiedenheit,  und 
ich  wage  hinzuzufügen,  die  Wertlosigkeit  der  gewöhnlichen  Interpreta- 
tionen dazu  zwingt,  seinen  wirldichen  Sinn  auf  der  Grundlage  genügender 
Beweise  klarzustellen. 

Die  „Philosophie  der  Metaphysik"  knüpft  an  Kant  mehr  wegen  der 
transscendentalen  Dialektik  an  als  wegen  der  Analytik.  Ihr  Gegenstand 
ist  wesentlich  identisch  mit  demjenigen  der  transscendentalen  Dialektik. 
Der  Unterschied  besteht  vor  allem  darin,  dass  der  Verfasser  einer  Methode 
zu  philosophieren  folgt,  die  ganz  und  gar  empirisch  ist.  Deshalb  sieht  er 
in  den  Grundbegriffen  der  Metaphysik  keine  reinen  oder  apriorischen 
Ideen  und  leitet  sie  nicht  wie  Kant  von  der  Konstitution  unserer  Ver- 
nunft ab,  sondern,  wie  alle  unsere  Ideen  aus  der  Erfahrung  und  aus  den 
Gesetzen  der  Assoziation.  Der  Grundgedanke  Kants,  die  Metaphysik  sei 
das  Ergebnis  natürlicher  Täuschungen  unseres  Geistes,  führt,  wenn  er 
durch  Anwendung  der  empirischen  Methode  entwickelt  wird,  naturgemäss 
zur  Idee,  die  Metaphysik  aus  der  Tendenz  abzuleiten,  alle  Erscheinungen 
und  alle  unsere  Ideen  denjenigen  Erscheinungen  und  Ideen,  die  uns  die 
gewöhnlichsten  sind,  gleichzusetzen.  In  der  That  kann  eine  natürliche 
Täuschung  unseres  Verstandes  nichts  anderes  sein  als  der  Schein  einer  für 
sich  selbst  evidenten  Wahrheit;  diese  aber  ist  nach  den  Prinzipien  des 
Empirismus  nichts  anderes  als  ein  unbewusster  aus  einer  unendlichen  Zahl 
von  Erfahrungen  gezogener  Schluss.  So  ist  schliesslich  die  wahre  und  un- 
sterbliche Seite  der  Kantischen  Kritik  ihr  Empirismus,  die  Beschränkung 
jeder  möglichen  Erkenntnis  auf  das  Gebiet  der  Erscheinungen:  die  andere 
Seite,  welche  im  Widerspruch  mit  der  ersteren  ist,  nämlich  der  Idealismus 
(der  Anspruch,  die  allgemeinsten  Gesetze  der  Erscheinungen  aus  der  Thätig- 
keit  des  Denkens  abzuleiten),  ist  nichts  als  eine  der  vom  transscendentalen 
Schein  unserer  Vernunft  angenommenen  Formen. 

Palermo.  Cosmo  Guastella. 


Mitteilungen.  5^9 

Mitteilungen. 


KantgescUschaft. 

Die  allgemeine  Mitglieder-Versammmlung  (General-Ver- 
sammlung) im  Jahr  1905  hat  statutengemäss  am  22.  April,  Nachmittags 
6  Uhr,  in  den  Räumen  des  Kuratoriums  der  Universität  Halle  statt- 
gefunden. 

Der  unterzeichnete  Geschäftsführer  gab  Rechenschaft  über  die  lau- 
fenden Einnahmen  und  Ausgaben  des  Jahres  1904,  sowie  über  den  Stand 
der  Kantstiftung,  nach  Massgabe  des  schon  im  Heft  1  und  2  des  Bandes  X, 
S.  237 — 243  abgedruckten  Rechenschaftsberichtes  über  das  Geschäftsjahr 
1904.  Dieser  Rechenschaftsbericht  ist  mit  dem  am  1.  März  19U5  erschie- 
nenen, obengenannten  Hefte  sämtlichen  Jahre.s-Mitgliedern,  sowie  in  Se- 
paratausgabe sämtlichen  Dauer-Mitgliedern  zugesandt  worden.  Gleichzeitig 
erhielten  die  Letzteren  eine  vornehm  ausgestattete  Dauer-Mitgliedskarte  mit 
der  Silhouette  Kants  überreicht. 

Dem  Geschäftsführer  ist  Entlastung  erteilt  worden. 

Der  Geschäftsführer  machte  sodann  Mitteilung  über  den  Stand  der 
„Kantstiftung",  für  welche  seit  Abschluss  des  Rechenschaftsberichtes  pi'tj 
1904  unterdessen  noch  fernere  Zuwendungen  eingegangen  waren.  Da  die 
Sammlungen  für  die  Kantstiftung  noch  fortgesetzt  werden,  so  wird  über 
diese  Vermehrung  unseres  Stiftungskapitals  im  Laufe  des  Jahres  1905  im 
nächsten  Rechenschaftsbericht  Mitteilung  gemacht  werden. 

Hierauf  fand  die  Neuwahl  derjenigen  Vorstandsmitglieder  statt, 
welche  durch  die  Generalversammlung  zu  erneuern  sind.  Ihre  Wiederwalil 
erfolgte  einstimmig. 

Auf  Antrag  des  Geschäftsführers  wurde  ferner  einstimmig  be- 
.schlossen,  den  Herrn  Stadtrat  a.  D.  Professor  Dr.  Walter  Simon  iu 
König'sberg  i.  Pr.  wegen  seiner  hervorragenden  Verdienste 
um  die  Kantgesellschaft  zum  Ehrenmitglied  zu  ernennen,  imd 
ihm  diese  Ernennung  in  einer  künstleriscn  ausgestatteten  Adresse 
mitzuteilen. 

Vorher  hatte  die  Versammlung  folgenden  Zusatz  zu  den  Statuten 
beschlossen : 

§  9,  Absatz  2:  „Die  Mitgliederversammlixng  kann  für  besondere 
Verdienste  die  Ehrenmitgliedschaft  der  Kantgesellschaft  verleihen".  Die 
Ehrenmitglieder  sollen,  wie  als  Zusatz  zu  §  11,  Absatz  1  beschlossen 
worden  ist,  die  Zeitschrift  der  Gesellschaft  auf  Lebenszeit  unentgeltlich 
und  portofrei  zugesandt  bekommen,  soweit  sie  nicht  die  Zeitschrift  bereits 
aus  anderen  Gründen  erhalten. 

In  unmittelbarem  Anschluss  an  diese  Generalversammlung  fand  eine 
Vorstandssitzung  statt.  Es  wurde  beschlossen,  den  Preis  für  die  von 
der  Gesellschaft  gestellte  Preisaufgabe  („Kants  Begriff  der  Erkenntnis, 
verglichen  mit  dem  des  Aristoteles")  von  500  Mk.  auf  600  Mk.  zu  erhöhen, 
sowie  einen  zweiten  Preis  von  400  Mk.  auszuwerfen.  Mit  diesem  Beschluss 
wurde  einem  Wunsche  des  Ehrenmitgliedes  Prof.  Dr.  Walter  Simon 
Rechnung  getragen,  welcher  eine  erneute  Spende  von  wiederum  Eintausend 
Mark  zu  unserer  Kantstiftung  mit  dieser  dankeswerten  Anregung  be- 
gleitet hatte. 

Halle  a.  S.,  im  August  1905. 

Prof,  Dr.  Yaibiuger, 

Geschäftsführer  der  „Kantgesellscliaft". 


590  Redaktionelles. 


Redaktionelles. 


Mit  Bezug:  auf  das  von  den  KSt.  (X,  210  ff.)  gebrachte  Referat  über 
seine  Schrift  („Kants  Revolution.sprinzip  [Kopernikanisches  Prinzip]")  erklärt 
uns  Herr  Amtsgerichtsrat  Marcus :  er  wolle  seinen  im  „Gesetz  von  der 
Erhaltung  des  dynamischen  Charakters"  gegebenen  Beweis  für  einen  voll- 
kommen neuen,  auch  mit  dem  Kantischen  keineswegs  identischen  Beweis 
angesehen  wissen.  „Ich  behaupte  also,"  schreibt  Herr  Amtsgerichtsrat 
Marcus:  „1.  es  gab  neben  dem  Kantischen  Beweis  keinen  zweiten  Beweis 
für  die  Centralthese,  i)  daher  ist  der  von  mir  gelieferte  Beweis  schlechthin 
neu.  2.  Niemand  liat  bisher  das  Gesetz  von  der  Erhaltung  des  dynamischen 
Charakters  formuliert.  Ich  bin  der  Erste  und  die  Formulierung  ist  schlecht- 
hin neu." 

Da  es  sich,  wie  Herr  Amtsgerichtsrat  Marcus  weiter  bemerkt,  „nicht 
um  Urteile  über  seine  Leistung,  sondern  um  ihren  Inhalt  und  ihre 
Priorität"  handelt,  gewähren  wir  seiner  Erklärung  hier  gerne  Raum. 
U.  E.  hat  auch  der  Herr  Referent  nicht  das  Eigentümliche  der  Marcus- 
schen  Beweisführung  und  Formulierung  bestritten,  sondern  nur  den  prin- 
zipiellen Grundgedanken  für  „nicht  ungemein  neu"  erklärt.  Im  übrigen 
müssen  wir  unsere  Leser  auf  die  Schrift  selbst  und  nochmals  auf  das  Re- 
ferat verweisen,  da  wir  auf  die  Angelegenheit  nicht  mehr  zurückkommen. 

Die  Redaktion. 

1)  d.  i.  „die  These,  dass  die  Grundsätze  und  Kategorien  die  Be- 
dingung der  Möglichkeit  der  Erfahrung  seien". 


Das  Bild  von  Karl  Rosenkranz, 

das  wir  diesem  Doppelhefte  als  Beilage  zu  dem  Artikel  von  Dr.  M.  Runze 
hinzufügen,  ist  nach  dem  Original-Ölgemälde  angefertigt,  das  im  Fakultäts- 
zimmer des  Königsberger  Universitätsgebäudes  hängt.  Herr  Geh.  Reg.- 
Rat  Professor  Dr.  Julius  Walter  in  Königsberg  hatte  die  Freundlichkeit, 
dem  Verfasser  des  Artikels    eine  photographische  Platte  des  Bildes  zu  be- 


Kantbibliographie. 

Wir  suchen  eine  geeignete  Persönlichkeit,  welche  gegen  ange- 
messenes Honorar  die  auf  Kant  bezüglichen  Publikationen  nach  dem 
Muster  der  im  VII.  Bande  8,  476-500  abgedruckten  „Kantlitteratur" 
für    un.s     bibliographiscli    zusammenstellt.       Nälieres    durch    Privatdozent 

Dr.  B.  Baucli,  Halle  a.  S.,  Göbenstrasse  .ö. 

Die  Redaktion. 


Iledaktionelles. 


591 


I 


Rudolf  Rcickc 

t 

Unmittelbar  vor  Schhiss  der  Redaktion  dieses 
Heftes  erhalten  wir  die  schmerzliche  Nachricht  vom 
Hing-aug-  unseres  Mitherausgebers, 

Professor  Dr.  I^udolf  Rgbc^c, 

Oberbibliothekar  a.  D. 

Nachdem  er  am  5.  Kebruar  d.  J.  seinen  80.  Geburtstag- 
gefeiert  hatte,  ist  er  nun  am  16.  Oktober  nach  langen, 
schweren  Leiden  von  uns  geschieden.  Was  er  der 
Kautwissenschaft  gewesen  ist,  das  wissen  Alle,  die  sich 
mit  Kant  beschäftigen.  Durch  die  Herausgabe  seiner 
„Kantiana"  im  Jahre  1860  hat  er  das  archivalische 
Studium  des  Lebens  und  der  Persönlichkeit  Kants  be- 
gründet, das  er  als  jahrzehntelanger  Redakteur  der 
„Altpreussischen  Monatsschrift"  durch  eigene  und 
fremde  Beiträge  förderte.  In  dieser  Zeitschrift  hat  er 
auch  Kants  Opus  Postumum  veröffentlicht,  das  noch 
immer  unausgeschöpft  ist;  ebenso  die  Losen  Blätter 
aus  Kants  Nachlass,  welche  zahllose  Juedita  ent- 
halten, darunter  fundamental  wichtige  Dokumente  zur 
Entwickeluug  des  Kritizismus.  vSeiu  Lebenswerk  war 
endlich  die  Herausgabe  von  Kants  BriefAvechsel  in 
der  Berliner  Akademieausgabe,  durch  den  uns  viele  neue 
C^uellen  erschlossen  worden  sind,  dessen  Schlussband  er 
aber  leider  doch  nicht  mehr  selbst  erleben  sollte. 

Die  Wissenschaft  betrauert  in  ihm  einen  Forscher, 
dessen  selbstlose  Hingabe  an  die  Sache  für  alle  Zeiten 
mustergültig  ist;  seine  Freunde  betrauern  in  ihm  den 
charaktervollen,  zuverlässigen,  hilfsbereiten  Mann  von 
hoher,  adeliger  (Besinnung. 


592  Redaktionelles. 


An 

die  Mitglieder  der  „Kantgesellschaft'' 

uud 

die  Abonnenten  der  „Kantstudien''. 


Dieser  Band  der  „Kantstudien"  enthält 
ausser  den  üblichen  4  Heften  ausnahms- 
weise noch  ein  fünftes  Heft. 

Diese  Überschreitung  des  gewöhnlichen 
Umfanges  von  ca.  30  Bogen  um  7 — 8  Bogen 
ist  notwendig  geworden  durch  die  Ein- 
schiebung  unseres  Schillerfestheftes  zum 
9.  Mai  1905. 

Die  beträchtlichen  Mehrkosten  des 
Schillerheftes  trägt  nicht  die  Verlagsbuch- 
handlung, welche  kontraktlich  nur  zu  30 
Bogen  pro  Band  verpflichtet  ist,  sondern 
die  Kautgesellschaft,  welche  sonach 
mit  dem  Schillerfestheft  ihren  Mitgliedern 
(und  damit  auch  den  gewöhnlichen  Abon- 
nenten der  „Kautstudien")  ein  besonderes 
Geschenk  zu  machen  in  der  Lage  ist,  durch 
das  sie  sicherlich  allen  Freunden  der  Kan- 
tischen Philosophie,  deren  Prophet  Schiller 
gewesen  ist  und  für  alle  Zeiten  sein  wird, 
eine  hohe  Festfreude  bereitet  hat. 

Prof.  Dr.  Vaihinger. 


•    •  • 


Sach-Register. 


Abartimg  522. 
Abbildstheorie  139. 
Aestbetik  188  ff.  288.  582. 
Affektion  232. 
Ahnen,  das  577. 
Allegorie  336. 
AUgemeingültigkeit  362. 
Analogien  der  Erfahrung  51.  211. 
Anartung  522  f. 
Anerbung  522  f. 

Anerkennungsnotwendigkeit  362. 
Anmut  273.  358. 
Anschauung  48.  191.  211. 
Anthropologie  117.  499  ff. 
Anthropomorphismus  17  f.  467. 
Antinomie  113.  204.  304. 
Antithetik  113. 
Anziehungssphäre  438. 
Apperzeption  48. 
a  priori  92  ff.  132. 
Atomtheorie  190  ff.  200  ff. 
Attraktion  422  ff.  437.  459.  481. 
Aussenwelt  45. 
Autonomie  62.  142.  354.  401. 

Begriff  311. 

Bewusstseinsinstanzen  401. 
Bewusstsein  überhaupt  136.  401. 
Beziehungskategorie  139. 
Böses  Prinzip  215. 

Centralbewegung  429. 
Chaos  435.  455. 
Charakter  273.  368  ff.  378. 
Christentum  204. 

Kantstudien  X. 


Darwinismus  63. 
Dialektik  555. 
Ding  an  sich  49.  55. 
Dingkategorie  139. 
Dogmatismus  64. 

Ehe  313  ff. 

Einbildungskraft  384. 

Empfindung  177. 

Empirismus  57. 

Energie  201.  569. 

Entelechienlehre  234. 

Entwickelung  30.  225.  540  ff. 

Epicureismus  258. 

Erfahrung  207  f.  211. 

Erhaben  (d.  Erh.)  77  f.  358.  408. 

Erkenntnistheorie  53.  121.  132.  264  f. 

Erscheinung  315. 

Ethik  59  ff.  82.  121. 

Eudämonismus  194.  305.  354. 

Freiheit  93.  163  ff. 
Freimaurerei  386  ff. 

Gegenstand  45  ff.  52  ff. 
Genie  76.  185. 
Geographie  1—48.  417—548. 
Geschichte  297. 
Geschmack  185  f.  334. 
Gesellschaft  171.  255. 
Glauben  577.  579  ff. 
Glückseligkeitsproblem  363.  387. 
Gottesbegriff  32.  100.  422. 
Grazie  308. 

39 


594 

Grenzbegriff  54.  303. 
Gutes  Prinzip  215. 

Harmonie  279. 
Heautonomie  357  f.  405. 
Hedonismus  85. 
Heteronomie  65. 
Humanität  178.  298.  391. 
Hylozoismus  528. 


Register. 


400. 


Ideal,  das  I.  130. 
Idee  142.  291.  303.  311. 
Identitätsphilosophie  400.  577 
Individualismus  143. 
IndividuaUtät  140  f.  176. 
Individuum  171.  350. 
Intelligibel  2.  166.  369. 

Kartographie  10. 

Kategorien  50  f.  171  f.  297.  332. 

Kategorischer  Imperativ  66  ff.    121  f. 

133.  309. 
Keim  522. 
Klassizismus  259. 
Kosmogonie  419  ff.  464. 
Kraft  37. 
Kritizismus  83. 

Kultur  258.  266.  305.  399.  410. 
Kunst  257. 


Naturbeschreibung  225. 
Naturgeschichte  225. 
Naturwissenschaft  115. 
Nooumenon  563. 
normatives  Bewusstsein  69.  4u9. 

Objektivität  46  ff. 
Offenbarung  24.  170. 
Optimismus  79. 
Organismenlehre  519  ff. 

Pädagogik  90.  119.  178  ff. 
Person  Hchkeit  121.  135. 
Pessimismus  79.  258. 
Pflicht  65. 
Phänomenon  563. 
Physikotheologie  234.  475. 
Pietismus  167. 
Planetensystem  437  ff. 
Postulat  272. 
Protestantismus  114.  142  f. 

Rasse  225.  503.  515. 
Rationalismus  120.  143.  168. 
Raum  38.  50  f.  133.  170. 
Realisierungsnotwendigkeit  362. 
Realismus  51. 
Reformation  25. 
Religion  86  ff.  134.  167.  282. 
Renaissance  25. 


I 


I 


liBgalität  409. 

Repulsion  422.                                                   , 
Rigorismus  195.  309. 

Manier  325. 

Romantik  82.  141.  403. 

Materialismus  134.  175. 

377. 

Materie  37.  201  ff.  265. 

427. 

580  f. 

Sceptizismus  64.  89. 

Mathematik  115.  172  f. 

193. 

200. 

Schematismus  332. 

Mechanik  422  ff.  469. 

„Schöne  Seele"  273.  318.  368.  408.              • 

Mechanismus  34.  171. 

Schönheit  280.  402  f.  408  f. 

Menschheit  298.  366  ff. 

Schöpfung  120. 

Metageometrie  191. 

Schöpfungsberichte  24. 

Metaphysik  97.  264  f. 

Schöpfungscentrum  (mechanisches)439. 

Monismus  117. 

Seismologie  485  f. 

Motiv  164. 

Sentimentalische,  das  316. 
Sinn,  der  innere  S.  578  f. 

Nachahmung  325. 

Sinnesempfindung  46. 

Naive,  das  N.  316. 

Sinnlichkeit  577.  584  ff. 

Natur  297. 

Sittengesetz  142. 

Naturalismus  61  f.  88. 

Sozialethik  83. 

Register. 


595 


Sozialismus  134.  143. 
Spieltrieb  279.  407. 
Spiritualismus  175. 
Spontaneität  33.  139.  401. 
Staat  365  f. 
Stil  325. 

Subjektivismus  83,  88. 
Substanz  210. 
Symbol  291.  331.  335. 
Synthesis  113.  208. 
Synthetisch  115.  404. 

Teleologie  170.  279. 
Toleranz  299. 
transscendent  48.  170. 
transscendental  48.  170. 
Transscendentalpsychologie  208,  406. 
Trieb  140. 

„Überraum"  200. 
Ultramontanismus  114. 
Unbedingte,  das  227. 


Unendlichkeitsbegriff  93. 
Universum  443.  456. 
Unsterblichkeit  94.  113.  312. 
Urphänomene  300  ff.  338. 
Urteilspsychologie  209. 
Urwesen  466.  473. 

Verantwortlichkeit  165. 
Vernunftgemeinschaft  213. 
Vernunftvv^erte  401.  408. 

Wahrnehmung  44  ff.  172. 
Weltanschauung  26.  118.  345. 
Welterklärung  (mechanische)  446. 
Weltmittelpunkt  453. 
Wertbeurteilung  165. 
Wertsphäre  363. 
Würde  255.  273. 

Zeit  50  f.  133.  171. 
Zweck  74. 


Personen-Register. 


Abeken  314. 

Abel  374  ff.  381  ff. 

Achelis  129. 

Addisson  24.  188.  381.468. 

Adickes  118. 

Aepinus  479. 

d'Alembert  498. 

Aristoteles  66  f.    85.  145. 

218.  482  f. 
Arnoldt,  6.  26.  113.  512. 

Barth  181. 

Bartning  130. 

Bauch  59  ff.  69. 116. 130  f. 

Baumgarten  187. 

Bayle  88  f. 

Becmann  6.  23. 

Bentham  197. 


Bergemann  181. 

Berkeley  56.  226. 

Bernouilli  97. 

Bertius  21. 

Blumenbach  508.  524. 

Bode  418  f. 

Boisseree  289. 

Botero  20. 

Boyle  14.  483. 

Boysen  492. 

Bradley  436. 

Brentano  205. 

Buffon  13.  24.  29.  39.  437. 

444.   461.  480.  484.  492. 

508  f.  524  ff. 
Busse  113.  226. 


€arlyle  309. 
Carrning  132. 
Cassini  22.  436.  449. 
Clemens  132. 
Clüver  10  f. 
Cohen  44.  51.  56.  177. 
Comte  209. 
Copemicus  13.  50. 
Crawford  481. 
Crusius  186. 

Dalton  492. 
Dante  390. 
Darwin  G.  H.  483. 
Democrit  219. 
Descartes  24,  36.  219. 516. 
Dessoir  114.  132. 
Deussen  145. 
39* 


596 

Diderot  418. 
Dilthey  189. 
Drill  132. 
Dühring  37. 

Eberhard  459. 
Egloffsteiu  309. 
Eisler  6. 
Elgin  326. 
Epicur  422. 
Erdmann,  B.  26.  96  f. 
Eucken  81  ff. 
Euler  104. 

Falckenberg  120. 
Ferguson  376.  380. 
Fichte,   J,  G.    60.  64.  86. 

194.    198.  227.  276.  281. 

353.  399  f.  549. 
Fichte,  J.  H.  87. 
Fischer,  Kuno  1  ff.  6.  26. 

38.    59.    115.     228.   420. 

489.  500  f.  512. 
Forster  526  f. 
Fournier  11. 
Frey  96  f. 
Fries  577. 
Frisi  39. 
Fröbel  87. 
Frommel  132. 

Galilei  24.  220  f. 

Garve  102. 

Gaultier  204. 

Gauss  200  f. 

Geliert  309. 

Gensichen  420. 

Gentil  484. 

Gilbert  20. 

Goethe   33.   85.  137.  141, 

261.  286-346.  390. 
Goldschmidt  132. 
Goldstein  132. 
Graef  313. 
Gramzow  181.  220. 
Grimm  132. 
Günther  463.  490. 


Register. 

Hadley  490  f.  498  f. 
Haller  24.  468. 
Hamann  102. 186.  205.  312. 
Harnack,  0.  329. 
Hartenstein  100. 
Hartknoch  102.  205. 
V.  Hartmann  145. 
Haym  558  ff. 
Hegel  56.  197  f.  390.  405. 

410.  549. 
Heinroth  300. 
Hellmann  15.  498. 
Helmholtz    56.    121.    201. 

482.  .512. 
Helvetius  384. 
Hennert  39. 
Herbart  113.178.181.196. 

549. 
V.  Herbert  138. 
Herder  295.  419. 
Herschel  420.  462.  479. 
Herz  98.  205. 
Hobbes  220. 
Höfler  96  ff.  103. 
Hoffmann  134. 
Hollmann  168. 
Home  381  f. 
Humboldt,  W.  v.  263. 
Hume  220.  513.  555. 


Jacobi  228.  577  f. 
Jagemann  392. 
Jerusalem  117. 
Jodl  117. 
Joel  134. 
Jurin  12, 

Kaestner  104. 
Kappstein  134. 
Katzer  119. 
Kepler  13. 
Kircher  483. 
Kleinpeter  135. 
Klopstock  24. 187.381. 468. 
Knutzen  3.  24. 
Körner,  Chr.  G.  287.  351. 
387.  407. 


Kreuscher  1.35. 
Kühnemann  123. 

liagenpusch  116. 
Lambert  97.  104.  418.  462. 
Lange,  F.  A.  407. 
Laplace  421.  4h2. 
Lasson  135. 
Lasswitz  136. 
Lavater325.  419.461.  516. 
Leibniz  6.  20.  24.  34ff.  268. 
Lessing  187.  326. 
Leukipp  219. 
Lichtenberg  56.  497. 
Liebmann  120.  157. 
Linne  23.  500  f. 
Lipps  123. 
Lister  492. 
Locke  197.  376. 
Lockyer  483. 
Lotze  279.  303. 
Lucrez  472. 
Lulof  23.  29.  492. 
Luther  81.  119.  342. 

Maier  118. 
Martius  120. 
Marx  118. 
Matthison  334. 
Maupertuis  424. 
Mercier  324. 
Merula  20. 
Menzer  96  f.  102. 
Messer  44  ff.  49  ff. 
Minor  375.  379. 
Moleschott  380. 
Molifere  384. 
Moritz  325  f. 
Moscati  515  f. 
Müller,  F.  v.  .309. 

I^apoleon  311. 

Natorp  117. 

Newton  20.  23  ff.  34.  38, 

104.  380.  418  ff.  427  ff. 

444.  461.  468  f.  505  f. 
Niethammer  286. 


I 


I 


^.i 


Register. 


597 


Nietzsche  141.  204.  583. 

Nyren  448. 

V.  Oettiiigen  327.  421. 
Ortner  137. 

Parmenides  218. 

Paulsen  6. 

Pestalozzi  181. 

Platner  380. 

Piaton  16.  81.87.220.390. 

Ploucquet  376. 

Pope  424  f. 

Prat  94. 

Prevost 

Pythagoras  5. 

Ralits  490  f.  512. 
Raphael  325.  384. 
Reccard  97. 
Reicke  196. 

Reinhold  137.228.400.  526. 
Reininger  118.  578  f. 
Renouvier  90  ff. 
Reuss  138. 
Riccioli  10  f.  21  ff. 
Rickert  69.  227. 
Riehl  6.  121. 
Riemann  201. 
Robinet  376. 
Rosenkranz  286,  305.390. 

548  ff. 
Rosmini  588. 
Rousseaul87.305f.  384.534. 


Rudolph  138, 
Runeberg  87. 

Scheler  138  f. 

Schelling  87.  294.  300  ff. 

405.  549. 
Schiller  4.33.137.249—415. 
Schlegel,  F.  v.  280.  314. 
Schleiermacher  194. 
Schmid  156.  367. 
Schopenhauer     113.     199. 

220.  304.  551. 
Schubert  492.  548. 
Schultze  115.  140. 
Seebeck  87. 
Shaftesbury  376. 
Shakespeare  33.  339. 
Siebeck  287. 
Simmel  140.  287. 
Simon  141. 
Socrates  220. 
Sömmering  527.  535. 
Spencer  181. 

Spinoza  24.  145.  295.  300 ff. 
Spitzer  117. 
Stallo  202. 
Stammler  67. 
Stäudlin  379. 
Steffensen  87. 
Stein,  Charl.  v.  295. 
Stein,  H.  v.  327. 
Struve  448. 
Swedenborg  455.  461. 
Swift  380. 


Teske  3. 
Thaies  5. 

Thomsen  55  f.  125. 
Tissot  380. 
Tocco  142. 

Taihinger  59  f.  104.  551. 

585. 
Varen   11  ff.  20  ff.  27  ff. 

34.39. 120.  475.  484.5051 
Volkelt  181. 
Vorländer  287. 

Wagner,  H.  L.  324.  375. 
Warda  102. 
Weltrich  375. 
Wieland  306.  526. 
Willmann  89  f. 
Winckelmann  324  f.  381. 
Windelband  6.  38.  59. 121. 

138.  163  ff.  545. 
Wolf  376. 
Wright  24.  34.  423.  446  f. 

461  ff.  510. 

Xenophanes  218. 

Zauper  314. 
Zeller  114. 
Zelter  342. 
Zenker  181. 
Ziegler  143. 
Zimmermann  379  f. 
ZöUner  492.  498.  512. 


598 


Register. 


Besprochene  Kantische  Schriften. 

(Chronologisch.) 


Von  der  wahren  Schätzung  der  leben- 
digen Kräfte  26.  34  f.  37  ff.  474. 

Untersuchung,  ob  die  Erde  in  ihrer 
Umdrehung  um  ihre  Axe  eine  Ver- 
änderung erlitten  habe  7. 

Frage,  ob  die  Erde  veralte  7. 

Naturgeschichte  des  Himmels  34  f. 
43.  417  ff.-462.  470  ff.  550. 

Nova  dilucidatio  38. 

Von  den  Ursachen  der  Erderschütter- 
ungen 478.  483. 

Geschichte  und  Naturbeschreibung 
des  Erdbebens  478.  483. 

Fortgesetzte  Betrachtungen  der  Erd- 
erschütterungen 478.  483.  492. 

Geometrie  und  Metaphysik  38. 

Neue  Anmerkungen  zur  Theorie  der 
Winde  29.  478.  489. 

Entwurf  und  Ankündigung  eines  Col- 
legii  der  physischen  Geographie 
26.  478.  499.  514.  519. 

Neuer  Lehrbegriff  der  Bewegung 
und  Ruhe  8. 

Begriff  der  negativen  Grössen  470. 

Der  einzig  mögliche  Beweisgrund 
234.  419  ff.  463.  470  ff.  511. 

Beobachtungen  über  das  Gefühl  des 
Schönen  und  Erhabenen  76  ff .  186  ff . 

Natürliche  Theologie  und  Moral  5. 

Von  dem  ersten  Grunde  des  Unter- 
schiedes der  Gegenden  im  Räume  9. 

Form  und  Prinzip  der  sinnlichen  und 
Verstandeswelt  2.  98.  464.  563. 

Recension  von  Moskau  515.  578. 

Racen  der  Menschen  514.  576. 

Kritik  der  reinen  Vernunft  33.  46  ff. 
207  ff.  210.  230  f.  512.  550.  563. 


Prolegomena  96  ff.  174.  205  ff.  550. 

Idee  zu  einer  allgemeinen  Geschichte 
in  weltbürgerl.  Absicht  516.  531  ff. 

Recension  von  Herders  Ideen  zur 
Philosophie  der  Geschichte  516. 

Über  die  Vulkane  im  Monde  460.  479. 

Begriff   einer  Menschenrace  521.  584. 

Grundlegung  der  Metaphysik  der 
Sitten  72.  96  f.  102. 

Mutmasslicher  Anfang  der  Menschen- 
geschichte 525,  534.  576. 

Metaphysische  Anfangsgründe  der 
Naturwissenschaft  96  f.  459. 

Teleologische  Prinzipien  in  der  Phi- 
losophie 516. 

Kritik  der  praktischen  Vernunft  71. 
145.  272.  384. 

Kritik  der  Urteilskraft  145.  189.  270. 
287.  300.  354  ff.  404  f.  530. 

Die  Religion  innerhalb  der  Grenzen 
der  bl.  Vern.  214.  858.  553.  566. 

Einfluss  des  Mondes  auf  die  Witterung 
497. 

Über  Philosophie  überhaupt  366. 

Zu  Sömmering:  über  das  Organ  der 
Seele  516.  527.  535  ff. 

Metaphysik  der  Sitten  71.  102.  550. 

Streit  der  Fakultäten  550.  579. 

Anthropologie  501  ff.  514.  516.  550. 

Logik  550. 

Physische  Geographie  28. 494  ff.  499  ff. 
550. 

Lose  Blätter  3.  28.  195. 

Reflexionen  97. 

Briefe  17  f.  160.  352. 


Register. 


599 


Verfasser  besprochener  Novitäten. 


V.  Aster  207. 

Bargmann  561. 
Boucher  200. 
Buchenau  224. 

Cassirer  224. 
Chapman  234. 

»öring  230. 
Drexler  232. 
Dreyer  190. 
Duboc  204. 

Elsenhans  225. 
Erdmann  205. 
Eucken  81. 
Ewald  573. 

Franck  227. 

©eisler  575. 
Geissler  583. 
Görland  177. 
Goldschmidt  217. 


Grisebach  562. 
Guastella  586. 

Heim  228. 
Heymans  232. 
Hönigswald  226. 

Janssen  92. 
Jerusalem  574. 

Kalischer  560. 
Kai  weit  166. 
Kaminsky  573. 
Kleinpeter  233. 
Knothe  578. 
Koppelmann  218. 
Krämer  577. 
Kuberka  584. 

liipsius  229. 
Löwenberg  193. 
Ludwig  565. 

Marcus  210. 
Meyer-Benfey  227. 

Natorp  180. 


Palme  582. 
Prat  92. 

Richter  579. 
Rudolph  580. 

Schlapp  185. 
Schrader  209. 
Schrader  575. 
Schultz  580. 
Seailles  177. 
Sidgwick  182. 
Siebert  558. 
Siegel  566. 
Simmel  170. 
Steckelmacher  235. 
Stern  561. 
Streng  567. 

Talentiner  563. 
Veronnet  233. 
Vorländer  218. 

Wandschneider  223. 
Wiegler  204. 
Windelband  163. 


Verzeichnis  der  Mitarbeiter. 


Ascher  92—95. 
V.  Aster  96—104.205  -207. 
209—213. 

Bauch   81—92.  207—209. 
262—263.  346—373. 


Chapman  234—235. 
Cohn  286—345. 

Döring  2.30—231. 
Drexler  232. 


Elsenhans  225—226. 
Eucken  253—260. 
Ewald  583. 

Franck  227—228. 


600 


Register. 


Geisler  blb—bll. 
Geissler  583—584. 
Gerland   1—43.  417—547. 
Guastella  586—588. 

Heim  228—229. 
Heymans  232. 
Hickson  182— 185.567--57B. 
Honigs wald  218—223.226 

—227. 
Huber  565—566. 

Jerusalem  574—575. 
Jünemann  156—162. 

Kaminsky  573. 
Klein  76—80.  412—414. 
Kleinpeter  233. 
Knothe  578—579. 
Kramer  577—578. 


Kuberka    563—565.  584— 
585. 

task  560—561. 
Liebmann  249 — 251. 
Lipsius  229—230. 

Medicus  558—560. 
Menzer  185—190. 
Messer  163—166. 213—217. 
Meyer-Benfey  227. 

Palme  582. 

Reinecke  200—204. 
Renner  59—75.  170-176. 

223-225. 
Richter,  O.  579-580. 
Richter,  R.  204—205.  217 

-218. 


Rudolph  580. 

Runze  390—391.  548—557. 

Schmid261  -285.392—395. 
Schrader  566—567.  575. 
Schultz  580—581. 
Staudinger  44 — 58. 
Steckelmacher    235— 236o 

Thomsen  193—200. 
Troeltsch  166-170. 

Taihinger   105—155.    190 
'—193.   237—248.   373— 
389.  396-397. 
Veronnet  233—234. 
Vorländer  177—181. 

Windelband  398—411. 


HoftuchdTuckerei  C.  A.  Kaemmerer  &  Co.,  Halle  a  8. 


B 

2750 

K3 

Bd.  10 


Kant-Studien 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
SLIPS  FROM  THIS  POCKET 


UNIVERSITY  OF  TORONTO 
LIBRARY