r
KANT-
STUDIEN.
PHILOSOPHISCHE ZEITSCHRIFT
UNTER MITWIRKUNG VON
E. ADICKES, E. BOUTROUX, EDW. CAIRD, C. CANTONI,
J. E. CREIGHTON, W. DILTHEY, B. ERDMANN, R. EUCKEN, M. HEINZE
A. RIEHL, W. WINDELBAND
UND MIT UNTERSTÜTZUNG DER „KANTGESELLSCHAFT'
HERAUSGEGEBEN VON
D»- HANS VAIHINGER und D« BRUNO BAUCH
PROFESSOR IN HALLE. PRIVATDOCENT IN HALLE.
ZEHNTER BAND.
BERLIN,
VERLAG VON REUTHER & REICHARD
WILLIAMS & NORGATK,
LONDON.
H, LE SOUDIER,
PARIS.
1905.
LEMCKE A BUECHNER,
NEW TORK.
CARLO CLAUSEN,
TORINO.
INHALT.
Seit»
Immanuel Kant seine geographischen und anthropologischen
Arbeiten. I. Von G. Gerland i
Der Gegenstand der Wahrnehmung. Von Franz Stauding-er 44
Ber Begriff der sittlichen Erfahrung. Von Hugo Renner . 59
Hamlet und der Melancholiker in Kants ,, Beobachtungen über
das Gefühl des Schönen und Erhabenen". Von Dr.
Tim Klein 76
Euckens philosophische Aufsätze. Besprochen von Bruno
Bauch 81
Renouvier und der französische Kritizismus. Von M. Ascher 92
Der IV. Band der Berliner Kant -Ausgabe. Von Ernst
von Aster 96
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. Von H. Vaihiug:er . . 105
Kants Tod, seine letzten Worte und sein Begräbnis. Eine
synoptische Studie von Dr. Franz Jünemann ... 156
In Schillers Garten. Zur Erinnerung an den 9. Mai 1805.
Von Otto Liebmann 249
Was können wir heute aus Schiller gewinnen? Einleitende
Erwägungen. Von Rudolf Eucken 253
Schiller als theoretischer Philosoph. Von Friedrich
Alfred Schmid 261
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. Schillers
philosophischer Einfluss auf Goethe. Von Jonas Cohn 286
Schiller und die Idee der Freiheit. Von Bruno Bauch 346
Zwei Quelienfunde zu Schillers philosophischer Entwickelung.
Von H. Vaihinger 373
I. Eine Disputation in der Karlsschule im November 1786.
n. Ein Freimaurerliederbuch als Quelle des Liedes an die
Freude ?
Karl Rosenkranz über Schiller. Von Dr. Maximilian Kunze 390
Schillers letztes Bildnis. Von F. A. Schmid 392
Das Schillerporträt von Gerhard v. Kügelgen. Von H. Vai-
hinger 396
Schillers transscendentaler Idealismus. Von W. Windelband 398
Kant und Schiller. Von Tim Klein 412
Immanuel Kant, seine geographischen und anthropologischen
Arbeiten. (Schluss.) Von G. Gerland 417
Karl Rosenkranz' Verdienste um die Kant-Forschung. (Mit
Bild.) Von Maximilian Kunze 548
Inhalt. in
Seit*
Recensionen:
Windelband, Wilhelm, Über Willensfreiheit. Von A. Messer 163
Kaiweit, Paul, Kants Stellung zur Kirche Von E. Troeltsch 166
Simmel, Georg, Kant. Von Hugo Renner . 170
Seailles, Gabriel, Das künstlerische Genie. Übersetzt von
Marie Borst 177
Görland, A., Paul Natorp als Pädagoge. — Natorp, Paul,
Sozialpädagogik. Von K. Vorländer 177
Sidgwick, Henry, Philosophy, its Scope and Relations. Von
J. W. Hickson 182
Schlapp, ^tto, Kants Lehre vom Genie und die Entstehung
der Kritik der Urteilskraft. Von PaulMenzer . . . . 185
Dreyer, Friedrich, Studien zur Methodenlehre und Erkenntnis-
kritik. Von H. Vaihinger 190
Löwenberg, Adolf, Friedr. E. Benekes Stellung zur Kantischen
Moralphilosophie. Von A. Thomsen 193
Boucher, M., Essai sur l'hyperespace, le temps, la matifere et
l'energie. Von Dr. W. Reinecke 200
Duboc, Dr. J. und Wiegler, P., Zur Geschichte der deutschen
Philosophie im XIX. Jahrhundert, Von Raoul Richter . 204
Erdmann, B., Historische Untersuchungen über Kants Prole-
gomena. Von E. v. Aster 205
V. Aster, E., Über Aufgabe und Methode in den Beweisen
der Analogien der Erfahrung in Kants Kritik d. r. V. Von
Bruno Bauch 207
Schrader, Ernst, Zur Grundlegung der Psychologie des Urteils.
Von E. V. Aster 209
Marcus, Ernst, Kants Revolutionsprinzip (Kopernikanisches
Prinzip). Von E. v. Aster 210
Koppelmann, Wilhelm, Kritik des sittlichen Bewusstseins.
Von A. Messer 213
Mellin-Goldschmidt, Marginalien und Register zu Kants Kritik
des Erkenntnisvermögens. 2. Teil. Von Raoul Richter 217
Vorländer, Karl, Geschichte der Philosophie. Von R. Hönigs-
wald 118
Wandschneider, Albrecht, Die Metaphysik Benekes. Von
Hugo Renner 223
Cassirer-Buchenau: Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung
der Philosophie. Von Hugo Renner 224
Siebert, Otto, Was jeder Gebildete aus der Geschichte der
Philosophie wissen muss ? Von F. Medicus 558
Kalischer, A. Chr.. Immanuel Kants Staatsphilosophie. Von
Emil Lask 560
Bargmann, H., Der Positivismus in Kants Rechtsphilosophie.
Von Emil Lask 561
Stern, Br., Positivistische Begründung des philosopliischen
Strafrechts. Von Emil Lask 561
Grisebach, Eduard, Schopenhauer. Neue Beiträge zur Ge-
schichte seines Lebens. Von BrunoBauch 562
Valentiner. Theodor, Kant und die platonische Philosophie.
Von Felix Kuberka 563
Ludwig, A. Fr., Weihbischof Zirkel in seiner Stellung zur
theologischen Aufklärung. Von G. Huber 565
Siegel, Carl, Zur Psychologie und Theorie der Erkenntnis.
Von Ernst Schrader 566
Strong, C. A., Why the Mind has a Body. Von J. W. H i c k s o n 567
IV Inhalt.
Seit»
Selbstanzeigen:
Elsenhans, Kants Rassentheorie und ihre bleibende Be-
deutung. S. 223. — Honigs wald, Über die Lehre Humes
von der Realität der Aussendinge. S. 226. — Meyer-Benf ey,
Herder und Kant. S. 227. — Franck, Der Primat der prak-
tischen Vernunft in der frühnachkantischen Philosophie.
S. 227. — Heim, Das Weltbild der Zukunft. S. 228. —
Lipsius, Kritik der theologischen Erkenntnis. S. 229. —
Döring, Der Anhang zum analytischen Teile der Kritik der
reinen Vernunft über die Amphibolie der Reflexionsbegriffe.
S. 230. — Hey maus, Einführung in die Metaphysik auf
Grundlage der Erfahrung. S. 232. — Drexler, Die doppelte
Affektion des erkennenden Subjekts im Kantischen System.
S. 232. — Kleinpeter, Die Erkenntnistheorie der Natur-
forschung der Gegenwart. S. 233. — Veronnet, L'Infini-
Cat^gorie et realite. S. 233. — Chapman, Die Teleologie
Kants. S. 234. — Steckelmacher, Der transscendentale und
der empirische Idealismus bei Kant. S. 235.
Kaminsky, Über I. Kants Schriften zur physischen Geo-
graphie. S. 573. — Jerusalem, Der kritische Idealismus
und die Logik. S. 574. — Jerusalem, Gedanken und Denker.
S. 575. — Schrader, Elemente der Psychologie des Urteils.
S. 575. — Geisler, Was ist Philosophie? Was ist Geschichte
der Philosophie? S. 575. — Kr am er, Fries in seinem Ver-
hältnis zu Jacobi. S. 577. — Knothe, Kants Lehre vom
Innern Sinn und ihre Auffassung bei Reininger. S. 578. —
Richter, Kants Auffassung des Verhältnisses von Glauben
und Wissen und ihre Nachwirkung besonders in der neueren
Theologie. S. 579. — Rudolph, Über die Unzulässigkeit der
gegenwärtigen Theorie der Materie. S. 580. — Schultz, Die
Bilder von der Materie. S. 580. — Palme, Sulzers Psycho-
logie und die Anfänge der Dreivermögenslehre. S. 582. —
Ewald, Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen. S. 583.
— Geissler, Die Kegelschnitte und ihr Zusammenhang durch
die Kontinuität der Weitenbehaftungen. S. 583. — Kuberka,
Kants Lehre von der Sinnlichkeit. S. 584. — Guastella,
Saggi sulla teoria della conoscenza. S. 586.
Mitteilungen:
Die Mattersbergersche Kantbüste. — Kantgesellschaft: Erster
Jahresbericht (für das Jahr 1904); Satzungen der Kantgesell-
schaft; Preisaufgabe der Kantgesellschaft. S. 236. — Beschluss
der Generalversammlung der KantgeseUschaft betr. Erhöhung
des Preises für die Lösung der Preisaufgabe. S. 415. —
Kantgesellschaft. S. 589. — Redaktionelles. S. 590. — Rudolf
Reicke f. S. 591. — An die Mitglieder der „Kantgesellschaft"
und die Abonnenten der „Kantstudien". S. 592.
Register:
Sach-Register 593
Personen-Register 595
Besprochene Kantische Schriften 598
Verfasser besprochener Novitäten 599
Verzeichnis der Mitarbeiter 599
J. Jl.ittersberger Fes. l.il.'i.
IMMANUEL"^ KANT.
Kantstudien X.
/ ._
Immanuel Kant,
seine geographischen und anthropologischen Arbeiten.
Von G. Gerland.
Vorwort.
Die folgenden zwölf Vorlesungen sind im Sommersemester
1901 an hiesiger Universität gehalten worden; sie erscheinen hier
in etwas erweiterter Form, wobei das gleiche Mass der einzelnen
Vorlesungen nicht eingehalten ist. Es kam mir besonders darauf
an, nichts zu sagen, was ich nicht direkt mit Kant's eigenen
Worten belegen konnte ; daher die vielen und ausgedehnten Citate,
welche allein es dem Leser ermöglichen, den Gedanken- und Ent-
wickelungsgaug Kant's mit unabhängigem, selbständigem Urteil zu
folgen; auch litterärgeschichtlich halte ich sie für unentbehrlich.
Das etwas ausführlichere Eingehen auf die Geschichte der Erd-
kunde sowie auf die Kulturgeschichte schien mir für das Ver-
ständnis Kant's sowie für die Derlegung der ihm zukommenden
Stellung in Wissenschaft und Leben der Menschheit gleichfalls
notwendig. In den Citaten ist die Schreibung der Originale mög-
üchst gewahrt.
Strassburg i. E., Palmsonntag 1904.
G. Gerland.
1. Vorlesung.
Einleitung. Kant's Wesen und Weltauffassung.
Meine Herren! Ich gedenke in zwölf Vorlesungen über Im-
manuel Kant zu sprechen. Der Geograph über den Philosophen
— ein Unternehmen, welches befremdlich erscheinen könnte. Aber
Kant, der Philosoph, hat in den 41 Jahren seiner akademischen
Lehrthätigkeit mindestens 47 mal, und zwar mindestens 29 mal
vierstündig, physische Geographie gelesen i) — nur Logik und
1) K. Fischer, Imm. Kant, Jubil.-Ausg. I, 67.
Kantgtudiea X.
2 G. Gerland,
Metaphysik las er noch öfter — er hat, vom Winter 1772/3 an,
in 24 Wintersemestern Vorlesung-en über Anthropologie, ebenfalls
vierstündig, gehalten; er hat ferner über beide Wissenschaften
Bücher und Abhandlungen geschrieben, von denen einige noch
heute in hohem Ruhme stehen. Da hat doch auch der Geograph
das unbestreitbare Recht, oder richtiger, die strenge Pflicht, sich
ein möglichst sicheres Urteil über den Geographen Kant zu
bilden. Und dies um so mehr, als die Urteile gerade über seine
Leistungen auf naturwissenschaftlichem, erd- oder menschen-
geschichtlichem Gebiet noch weit auseinander gehen; als ferner
auch die Methoden des Studiums und der Beurteüung dieser
Leistungen keineswegs übereinstimmen, also auch keineswegs für
ganz einwandfrei gelten können.
Aber indem ich mich dieser Pflicht unterziehe, thue ich dies
nicht ohne ernste Bewegung. Kant, der Mann, der uns die Welt
der Erscheinungen begreifen lehrte, wie Niemand ausser ihm; der
hinter dieser Welt eine zweite, die intelHgible Welt^) unabhängig
von Raum und Zeit aufbaute und hinter dieser uns eine dritte,
durchaus unbegreifliche AVeit wenigstens ahnen liess; der Mann,
der uns über unser eigenes Wesen und Vermögen aufklärte ganz
ohne subjektiv- willkürliche Ideen und Einfälle, bloss der reinen
Offenheit und Kraft seines Blickes folgend: ein solcher Mann hat
das Anrecht auf hohe, besondere Verehrung. Denn während wir
bei den anderen Philosophen über die Sache nie das Individuum
vergessen dürfen und können ; während wir stets daran festhalten
müssen: dies sagt Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer: so ist
Kant's Sachlichkeit eine so reine und tiefe, dass wir die Natur
selbst, die Realität — zwar nicht der Dinge, aber doch aller un-
serer Verhältnisse zu den Dingen direkt erkennen und darüber
den Philosophen selbst ausser Acht lassen dürfen. Die Anschauung
ist es, von der Kant ausgeht; aber die Anschauung genügt ihm
nicht, er sucht die Wirklichkeit und nie sich selbst im Weg
stehend dringt er bis zur Grenze des Erkennbaren vor. Er deutet
nicht, er erfindet nicht, er sieht nur mit einer genial naiven, d. h.
völlig unbefangenen Anschauung; sein Blick hat daher keine indi-
viduellen, sondern nur die menschhch-generellen Schranken des
Sehens. Darin liegt seine Bedeutung für das Individuum, für das
1) De mimdi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis 1770
Sectio III u, IV. — Kuno Fischer, Iitim. Kaut, I, 356 f.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 3
ganze Geschlecht der Menschen. Die Tiefe, die Wahrheit seiner
geistig-en Anschauung überträgt er auf uns; daher ist die nach-
kantische Menschheit eine ganz andere als die vorkantische war;
und niemals kann sie die von Kant gewonnenen Grundlagen
wieder aufgeben.
Wie kommt es aber, dass ein solcher Mann, dessen un-
vergängliche Hauptwerke und Hauptwirkungen auf einem ganz
anderen Gebiete liegen, von der Geographie gleichsam seinen Aus-
gang nahm? Dass er später noch, als er auf der Höhe seiner
philosophischen Thätigkeit stand, sich mit geographischen und
namentlich mit anthropologischen Arbeiten beschäftigte? Dass er
unablässig Vorlesungen über Geographie und Anthropologie hielt,
vierstündige Vorlesungen? Was bedeuten diese Studien für Kant
und seine Philosophie ? Aber auch umgekehrt : was bedeutet Kant
für die Wissensgebiete der Geographie und Anthropologie? Das
sind Fragen, die sich uns so lebhaft aufdrängen, dass wir uns
gleich hier wenigstens einigermassen orientieren müssen.
Kaufs Blick war schon seiner Naturanlage nach ein weiter;
er war durch seine akademischen Studien und nicht zum wenig-
sten durch den Einfluss Martin Knutzen's, durch den Kant
mit Newton's Werken bekannt wurde, i) und den Physiker Teske«)
auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet immer umfassender ge-
worden. Aber auch Kant's Freude an der Welt war gross; er las
besonders gern Reisebeschreibungen und seine Vorlesungen über
physische Geographie beweisen, dass er seinen Zuhörern ein Ge-
samtbild des Erdlebens mit vielen Einzelnheiten zu geben beab-
sichtigte. Doch hat er nie direkt-sachliche Forschungen, Experi-
mente u. s. w. angestellt; auch nie Objekte nach der Natur be-
schrieben. Es kam ihm auf die Vorstellung, nicht auf die sinnliche
Wahrnehmung an, und so entnahm er, was er mitteilte, seiner Lek-
türe. Dabei hatte er eine grosse Kraft der Phantasie, wie wir in
seineu Schilderungen der brennenden Sonne sehen; ein anderes,
sehr merkwürdiges Beispiel giebt K. Fischer : '^) einst schilderte
er die Westminsterbrücke nach Gestalt und Maassen so deutlich,
dass ein zuhörender Engländer ihn für einen Architekten hielt,
der einige Jahre in London gelebt habe. Auch darf hier wohl an
1) K. Fischer, Kant I, 48.
'^) Reicke, Kantiana S. 31.
3) I, 68.
1*
4 G. Gerland,
den oft sehr prägnanten bildlichen Ausdruck erinnert werden, den
Kant in späteren Werken öfters anwendet. Schiller zeigt hierin,
wie in manchem anderen, Ähuliclikeit mit Kant.
Und hier ist noch eine merkwürdige Thatsache hervorzuheben.
Die Eiuzeldinge, die Kant im Gebiet der Aussenwelt sah und
wusste, haben für ihn nur individuellen, keinen selbständig-
wissenschaftlichen Wert; es ist für seine geographisch-anthropolo-
gische Thätigkeit charakteristisch, dass er solche Eiuzelgedankeu
über Einzeldinge, die er einmal ausgesprochen hat, nicht weiter
verfolgt und entwickelt, wohl aber sie festhält und auch in seinen
späteren Werken meist ganz unverändert weiter benutzt. Hatte
er sich einen Gegenstand gedanklich angeeignet, so war er für
ihn abgethan, fertig und in der Hauptsache fest. So machtvoll
er auf philosophischem Gebiet sich weiter entwickelte, so wenig
that er es auf dem Gebiet der Erdkunde. Auch sind die
meisten seiner hierhergehörigen Schriften durch äussere Um-
stände oder Anregungen veranlasst und also bis zu einem ge-
wissen Grad Gelegenheitsschriften, selbst die Naturgeschichte des
Himmels.
Daher ergiebt sich gleich noch eine andere für unser Ver-
ständnis Kant's wichtige Gedankenreihe : jeder Prioritätsstreit, der
sich an solche einzelne Gedankenfunde anknüpft, hat höchstens nur
individuellen Wert. Daher liegt es mir sehr fern, Ihnen nachzu-
weisen, von welchen Tieren, Sternen, Völkern, Naturvorgängen
Kant gewusst, welche Dinge er schon erwähnt hat, die Andere
auch gesehen und vielleicht als grosse Funde gepriesen haben.
Jeder gescheite Mensch sieht eine Menge Dinge und erwähnt sie
oder erwähnt sie nicht, viele Andere sehen sie auch — das sind
Selbstverständlichkeiten, bei denen jeder Streit um die Priorität
lächerlich ist. Nicht auf das erste Sehen kommt es an: sondern
auf die Gedankenarbeit des ersten begrifflichen Festlegens, Be-
weisens, mit welcher der Einzelne sich das Gesehene aneignet,
mit welcher er es zum geistigen Gesamtbesitz der Menschheit er-
hebt. Und nur wer letzteres vermocht hat, besitzt das Recht der
Priorität: denn für die Geschichte des menschlichen Geistes haben
die besten Funde keinen Wert, wenn sie nicht auf diese Weise
zu unserem Gemeingut erhoben werden. Nicht in den Einzel-
gedanken, den Einzelfunden liegt Kant's Bedeutung, wie man wohl
öfters gemeint hat. Bei Kaut ist Grösseres zu thun, als Priori-
täten nachzuspüren.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 5
Denn die Auschauung der einzelnen Ding-e als solcher ge-
nügt ihm nicht, auch in ihrer Vielheit nicht, die eher verwirrt
und für die Grundfragen der Philosophie: was ist die Welt? was
ich? was mein Verhältnis zur Welt? keine Lösung bringt. Hier
kam ihm nun die Geographie zu Hülfe; sie war, richtig gefasst —
er übernahm sie, wie wir seten werden, hauptsächlich in Varen's Auf-
fassung, nach welcher auch die Anthropologie zu ihr gehört — , die
Wissenschaft, die ihm für seine Anfänge den Boden bereiten konnte,
wie sie ja von Thaies' und Pythagoras' Zeiten her die Anfangs- und
Grundwissenschaft der Philosophie, der Welterkenntnis gewesen
war. Weil die Geographie, besser gesagt die Erdwisseuschaft
im wahren und weitesten Sinne, eine so unendliche Tiefe, Fülle
und Erhabenheit hat, gerade deshalb zog sie Kant an, bot sie
ihm, was er bedurfte. Weil sie, in ihrer richtigen Entwickelung,
eine Methode verlangt, die allen Erscheinungen des tellurischen
Seins und Werdens gerecht wird und auch die unendlichen kos-
mischen Vorgänge in festgeschlossenem Zusammenhang mit den
kleinsten Zügen des täglichen Geschehens nachweist, die Welt also
frei von aller scheinbaren „Verworrenheit" 0 als grosse Einheit
und einheitliche Grösse zu zeigen vermag; weil diese Methode die
ganze Fülle der Erscheinungen mit der sicheren Unwiderleglichkeit
mathematisch-physikalischer Gewissheit zu umschliesseu die Pflicht
und die Fähigkeit hat: deshalb fühlte sich Kaut dauernd von ihr
gefesselt. „Es ist das Geschäft der Weltweisheit," sagt er an
der angeführten Stelle, „Begriffe, die als verworren gegeben sind,
zu zergliedern, ausführlich und bestimmt zu machen; der Mathe-
matik aber, gegebene Begriffe von Grössen, die klar und sicher
sind, zu verknüpfen und zu vergleichen." Denn mit festem Klar-
und Tiefblick sah er, wie Geister seiner Art immer, die für uns
erkennbaren Realitäten anders als wir. Nicht die verworrene
Vielheit, er sah die Zusammenhänge, die Summe der Dinge und
Bedingtheiten; er vermochte diese Summe zur Einheit zu er-
heben, auf die es ihm ankam und die in seinem Sinne noch nicht
gefunden war. Das Einzelne hat für ihn nur als Teil des Ganzen,
nur durch und für das Ganze Bedeutung; es sind die grossen
Ganzheiten der Erscheinungswelt, die er kennen, erkennen
will, das Weltall, die Menschheit. Die Erdwissenschaft umfasst
1) Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natür-
lichen Theologie und Moral, S. 1. 1764. Hartenst. 2, 286.
6 G. Gerland,
alle tellurischeii und alle tellurisch-kosmischen Wechselbeziehungen ;
die Wissenschaft vom Menschen die Allheit des menschlichen
Wesens mit seineu sämtlichen Kräften, Seiten, zeitlichen und
räumlichen Zuständen; in der tiefst gefassten Einigung beider
' All- oder Ganzheiten besteht die Kantische Philosophie. Sie lehrt
uns Wesen und Wert der gesamten Welt in Beziehung zu Wert
und Wesen des Menschen, der Menschheit begreifen. Sie fasst
diese Einigung als letzte menschlich erreichbare Ganzheit — jen-
seits derselben das Ding an sich, Gott. Indem wir also Kant's
Geographie und Anthropologie kenneu lernen, erfassen wir damit
die äusseren Elemente oder Grundlagen seiner Philosophie; er-
kennen wir aber zugleich auch die tiefste, die ganze Bedeutung
der Erdwissenschaft. Kant's Philosophie heisst kritische Philoso-
phie: sie ist in Wahrheit nach Leibniz die einzig schöpferische,
das heisst denn doch mit vollendeter Kritik des Erkennens aufge-
baute, objektive, in ihren Grundlagen menschlich-generelle Philo-
sophie; nirgends ist die Grundfrage nach Mensch und Welt,
Denken und Sein unbefangener und dadurch rückhaltloser und
erschöpfender beantwortet, als von ihr. Wenn ich also ange-
kündigt habe: „Kant als Geograph und Anthropolog", so war dies,
wie sich jetzt zeigt, keine nur äusserliche Zusammenstellung;
beides gehört auf das engste zusammen; beides müssen wir be-
trachten.
Die für unsere Kantbetrachtung wichtigsten Werke sind:
K. Fischer, Imm. Kant und seine Lehre, 4. Aufl. (Jubiläums-
ausgabe), Heidelberg 1898/9. Wilh. Windelband, Geschichte
der neueren Philosophie, 2 Bde., Leipzig 1899. Friedr. Paulsen,
Imm. Kant, sein Leben und seine Werke, Stuttgart 1898. AI. Riehl,
Der philosophische Kritizismus und seine Bedeutung für die posi-
tive Wissenschaft, 2 Bde., Leipzig 1876—1887. Em. Arnoldt,
Kritische Exkurse zur Kantforschung, Königsberg 1894. Eisler,
Wörterbuch der philosophischen Begriffe und Ausdrücke, Berlin
1899. Anderes wird beiläufig genannt.
Von Ausgaben sind benutzt: Kant's sämtliche Werke. In
chronologischer Reihenfolge herausgegeben von G. Hartenstein,
neue Ausgabe 1867 f. — Kant's Werke, Akademie-Ausgabe, Bd. 1,
Berlin 1902, Bd. 4, 1903.
Ich gebe nun zunächst ein Verzeichnis der Werke Kant's,
welche für unsere Betrachtung, für die Beantwortung der beiden
soeben gestellten Fragen unerlässlich sind. Die beigefügten
Immanuel Kant, seine geograpli. und anthropolog. Arbeiten. 7
Jahreszahlen geben uns einen chronologischen Überblick über
Kant's naturwissenschaftliche Thätigkeit; sie sind für die Ent-
wickelimgsgeschichte Kant's sowie für die Bedeutung der geogra-
phischen und anthropologischen Studien für ihn von Wichtigkeit,
deren erstere ihn vorzüglich in seiner Vorbereitungszeit beschäftigten,
deren letztere der Epoche der Kritiken, also seinen späteren
Jahren angehören.
1747. Gedanken von der wahren Schätzung der leben-
digen Kräfte und Beurteilung des Beweise, deren sich
Herr v. Leibnitz und andere Mechaniker in der Streitsache
bedient haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen,
welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen. Harten-
stein Bd. 1, I; S. Vni; 3—177.0
1754. Untersuchung der Frage, ob die Erde in ihrer Um-
drehung um die Achse, wodurch sie die Abwechselung
des Tages und der Nacht hervorbringt, einige Veränderung
seit den ersten Zeiten ihres Ursprungs erlitten habe. Eb.
1, II; S. IX; 181-186.
1754. Die Frage: ob die Erde veralte? physikalisch erwogen.
Eb. 1, HI; S. IX; 189—206.
1755. Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des
Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem me-
chanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach New-
tonischen Grundsätzen abgehandelt. Eb. 1, IV; S. X;
209—345. Separatausgabe von A. J. v. Oettingen (Ostwald's
Klassiker der exakten Wissenschaften No. 12, Leipzig 1898).
1756. Von den Ursachen der Erderschütterungen bei Ge-
legenheit des Unglücks, welches die westlichen Länder
Europas gegen Ende des vorigen Jahres betroffen hat.
Hartenstein 1, VII; S. XIV; 403—411.
1756. Geschichte und Naturbeschreibung der merkwür-
digen Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des
1755sten Jahres einen grossen Teil der Erde erschüttert
hat. Eb. 1, VHI; S. XII; 415-445.
1756. Fortgesetzte Betrachtung der seit einiger Zeit wahr-
genommenen Erderschütterimgen. Eb. 1, IX; S. XV;
449-456.
1) Bd. 1, I = Band 1 No. I; S. VIII = Seite VIII der Vorrede des
des Bandes, Die arabischen Ziffern geben die Seitenzahl des Bandes nach
Beginn und Ende des Kantischen Textes.
8 G. Gerland,
1756. Neue Anmerkungen zur Erläuterung- der Theorie
der Winde. Eb. 1, XI; S. XV; 475-487.
1756. Motaphysicae cum geometria junctae usus in phi-
losophia naturali, specimen I: Monadologia physica.
El). 1, X; S. XV; 459—472.
1757. Entwurf und Ankündigung eines Collegii der phy-
sischen Geographie, nebst dem Anhange einer kurzen
Betrachtung über die Frage: ob die Westwinde in unseren
Gegenden darum feucht seien, weil sie über ein grosses
Meer streichen. Hartenstein 2, I; S. III; 3 — 11.
1758. Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe und der
damit verknüpften Folgerungen in den ersten Gründen der
Naturwissenschaft. Eb. 2, II; S. IV; 15-25.
1762. Versuch, die negativen Grössen in die Weltweisheit
einzuführen. Eb. 2, VII; S. V; 71—106.
1763. Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer De-
monstration für das Dasein Gottes. Eb. 2, VIII;
S. V; 109—205.
1765. Nachrichten von der Einrichtung seiner Vor-
lesungen im Winterhalbjahre von 1765-1766. Eb. 2, XIII;
313—321.
1771. Recension der Schrift von Moscati über den Unterschied
der Menschen und Tiere. Eb. 2, XVII; S. IX; 429—31.
1775. Von den verschiedenen Racen der Menschen.
Eb. 2, XVm; S. X; 435—51.
1784. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürger-
licher Absicht. Hartenstein 4, III; S. V; 142—57.
1785. Recensionen von J. G. Herder's Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit. Eb. 4, V; S. V; 171—191.
1785. Über die Vulkane im Mond. Eb. 4,VI; S. V; 195—202.
1785. Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace.
Eb. 4, VHI; S. VI; 217-231.
1786. Muthmasslicher Anfang der Menschengeschichte.
Eb. 4, X; S. VII; 315—329.
1786. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissen-
schaft. Eb. 4, XIII; S. VII; 357—462.
1788. tiber den Gebrauch teleologischer Prinzipien in
der Philosophie. Eb. 4, XV; S. VHI; 471-496.
1794. Etwas über den Einfluss des Mondes auf die
Witterung. Hartenstem 6, VI; S. V; 349—356.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 9
1796. Zu Söramering, über das Organ der Seele. Eb. 6, X;
S. Vir, 457—61.
1798. Authropolog-ie in pragmatischer Hinsicht. Eb. 7,
VI; S. VII; 481-658.
1802. I. Kant's physische Geographie. Auf Verlangen des
Verfassers aus seiner eigenen Handschrift herausgegeben
und zum Teil bearbeitet von Dr. Friedr. Theod. Riuk. —
Supplemente zur physischen Geographie aus dem hand-
schriftlichen Nachlasse Kant's. Hartenstein 8, 11; S. III—
Vni: 147—435. — Suppl. S. 436—52.
Hier ist nun gleich ein Doppeltes zu bemerken. Erstlich,
dass die für uns in erster Linie stehenden Werke im Vergleich
zu den philosophischen Arbeiten Kant's sehr kurz sind — begreif-
lich für Gelegenheitsschriften; die Originalausgabe der Natur-
geschichte des Himmels ist ein Buch von 200 Seiten in Klein-
Oktav; in der Anzeige der Vorlesungen von 1765 nimmt die
physische Geographie eine Seite ein (320 f.). Die physische
Geographie aus 1802 ist nicht von Kant herausgegeben, kommt
also hier nicht in Betracht. Dieser Umstand ist wohl zu beachten,
ebenso aber zweitens die wichtige Erscheinung, auf welche auch
Kuno Fischer aufmerksam macht, dass Kaut in seinen philoso-
phischen Werken sich mit Vorliebe geographischer Beispiele und
Nachweise bedient. In der Kritik der reinen Vernunft wird die
Geographie oft herbeigezogen.
Diese Erscheinung, auf die wir zurückkommen, beweist,
welchen Wert die kosmologisch-geographischen Thatsachen und
Begriffe für Kant hatten. Auch auf die „naturphüosophen" Ar-
beiten Kant's, welche sich auf die Physik der Materie beziehen,
ist hier nochmals hinzuweisen.
Und so sei diese Einleitung abgeschlossen mit Wiederholung
der beiden schon vorhin gestellten Fragen, deren erste und wich-
tigste lautet:
Was bedeutet Geographie und Anthropologie für Kant?
und die zweite, bisher schon oft gestellte, aber minder wichtige :
Was bedeutet Kant für Geographie und Anthropologie?
Beide Fragen scheinen mir bisher noch nicht genügend beant-
wortet. Ihre Lösung soll im Folgenden versucht werden.
10 G. Gerland,
2. Vorlesung-.
Enhvickeliing der Erdwissenschaft bis Kant.
Wollen wir die Stellung- Kant's zur Geographie beg-reifen, so
müssen wir fragen, wie war der Kntwickelungsstand dieser Wissen-
schaft, den Kant überkam '? Die eingehende Beantwortung dieser
Frag-e ist wichtig für die Geschichte der Philosophie überhaupt.
Betrachten wir zunächst das 17. Jahrhundert.
Neben der ursprünglich vorwiegend mathematisch-astro-
nomischen Erdkunde hatte sich aus und neben dieser eine
vorwiegend historische entwickelt. Geographia, so definiert
Ph. Clüver, ') est terrae . . . universae descriptio. Differt Geo-
graphia a Cosmographia ut pars a toto; a Chorographia, ut totum
a parte. Cosmographia est totius universi seu mundi tam elemeu-
taris quam aetherei descriptio. Aber diese desci'iptio terrae wird
von ihm (auch in seinen Spezial werken, Germania, Italia antiqua,
de tribus Rheni alveis et ostiis), so wie von anderen, wie von
dem seiner Zeit berühmten J. Chr. Becmann in seiner Historia
orbis terrarum geographica et civilis, 2) auf topographischer Grund-
lage nur historisch genommen, mit Einschiebung einer Beschreibung
des Meeres, seiner Teile, Buchten, Inseln u. s. w'. sowie der Schiff-
fahrt. Ausserdem werden die Flüsse (und die an ihnen gelegenen
Städte) genauer beschrieben, von Becmann, der auch den Winden
ein Kapitel wddmet, in einer besonderen Hydrographia.
Wie nun Clüver und Becmann und ebenso noch viele andere
Schriftsteller ihre Erdkunde w'euigstens mit einer mathematischen
(bei Clüver besonders dürftigen) Einleitung beginnen: so schieben
ihrerseits auch die Verfasser mathematisch-geographischer Werke
ein Kapitel über Hydrographie, über geographische Topographie ihren
mathematischen Darstellungen ein. So der als Astronom berühmte.Tesuit
Joh.Bapt. Riccioli: denn seine Geographia et Hydrographia reformata,
selbständig in einem Folioband erschienen,^) war bestimmt, einen
Teil des 2. Bandes des mathematisch-astronomischen Almagestum
110 vum zu bilden, w^elcher Band des übergross angelegten Werkes
aber ebensowenig wie der dritte erschien. Auch diese wie andere
1) Ph. Chiverii introductionis in universam geographiam libri VI,
1. Ausgabe 1624, S. 1.
-) Erste Ausgabe 1673; zweite 1667; dritte 1702. J. Fr. Reimmann, Ein-
leitung in die historiam literariam derer Teutsclien III, 2. S. 448, Halle 1710.
3) Erste Ausgabe 1661; zweite 1667; dritte 1672. cf. Weidlerus, bist.
astron. Gap. XV. § 75.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 11
Hydrographien der Zeit (ich nenne nur einige typische Werke) ist
nur beschreibend* oder, in Betreff der Flüsse, aufzählend; ein um-
fassender liber onomaticus folgt ihr! Auch sie geht, wie die
meisten übrigen, sehr genau auf die Schiffahrt ein , in ganz
mathematischer Behandlung, namentlich der Loxodromie. Eine
nicht zu übersehende Eigenschaft aller dieser Werke des 17. Jahr-
hunderts ist ferner, dass sie ganz in der antiken Litteratur
wurzeln.
Wie kommen nun diese mathematischen oder historisch-topo-
graphischen Werke zu einer solchen Vorliebe für das Meer? Zu-
nächst aus praktischen Gründen; sind doch die meisten dieser
Werke von seefahrenden Nationen, Niederländern, Italienern,
Franzosen ausgegangen. Die grosse Hydrographie des Jesuiten
G. Fournier ^) bezeichnet sich sehr mit Eecht als contenant la
Theorie et la pratique de toutes les parties de la navigätion; sie
ist nur praktisch, mit zufällig eingestreuten mehr wissenschaft-
lichen Notizen; Geographisches enthält sie trotz des Abschnittes
über die Gezeiten so gut wie gar nicht.
In fast allen diesen Werken findet sich nichts weiter als
Länder- und Meeresbeschreibung, die ganz auf dem Stand der
damaligen Kartographie beruht: ein Umstand, der sehr zu
beachten ist. Daher ist alle Beschi'eibung des Geländes auf
die Herzählung der Flüsse beschränkt; Gebirge werden kaum er-
wähnt (wie z. B., interessant genug, der Harz bei Clüver und
Varen), wie sie ja auch auf den Karten nur höchst schematisch dar-
gestellt wurden; und so besprechen, meist ebenfalls rein topographisch,
die geographischen Schriftsteller auch das Meer, welches und weil
es ja topographisch einen so gi"ossen Raum einnimmt. So ist diese
Art der Geographie kaum von solchen Werken verschieden, welche
mehr w^eniger ausführliche Erläuterungen zu Lokalkarten geben,
Pubikationen, die im 17. Jahrhundert sehr beliebt waren. 2) In-
teressanter für uns und wertvoller sind die rein topographischen
Werke und ihre Städtebilder, deren schönste wir in Merian's
Chronik finden.
Wichtig und auch für uns noch von oft hohem Quellenwert
ist jedoch die ausgedehnte Reiselitteratur, die vom 16. Jahrhundert
an in frischer Beobachtungskraft reiche Originalnachrichten von
1) Paris 1643.
2) z. B. Bertius 1603; Gerh. Mercator a I. Hondio auctus 1607.
Ortelius, Sanson ec.
12 G. Gerland,
Läiulürii iiiul Völkorii bi-achten, deren viele ebeu erst entdeckt
waren. ReichhaRig-e Sammliuig-en solcher Reiseberichte wurden vom
16. Jahrhundert an veröffentlicht und viel gelesen. Sie wirkten
als mächtiges Ferment auf die Völker, auf die Wissenschaft.
Unter ihrem Einfluss hatte sich seit der Mitte des 17. Jahr-
hunderts eine wirklich wissenschaftliche, nicht bloss sammelnd
gelehrte Erdkunde (entwickelt, die methodisch durchdacht und ab-
gegrenzt von Bernhard Varenius man kann wohl sagen ge-
schaffen war, in seiner 1650 zu Amsterdam erschienenen Geogra-
phia generalis.') Neu ist in ihr die eingehende Darstellung der Erd-
oberfläche, die nach ihren natürlichen Erscheinungsformen behandelt
von der blossen Anschauung zu wissenschaftlichem Verständnis er-
hoben werden soll. Das merkwürdige Buch erlebte nach Varen's
frühzeitigem Tode noch mehrere Auflagen und wurde 1672 und
1681 von Js. Newton mit einigen Verbesserungen und Zusätzen
neu herausgegeben. Die letzte Ausgabe besorgte 1712 James
Jurin mit Appendix von 54 Seiten und der Windkarte Halley's;^)
Übersetzungen, englische, holländische und französische folgten
1738, 1750, 1755. Das Buch ist also viel gelesen; auch Riccioli
hat es reichlich benutzt; doch blieb es ein ganzes Jahrhundert
lang in seiner Art das einzige wenn uuch grundlegende, was
wohl zu beachten ist. Doch blieben auch hier Beschränkungen.
Geographia, so lautet Varen's Definition, =*) dicitur scientia
Mathematica mixta, quae Telluris partiumque illius affectiones a
quantitate dependentes, nempe figuram, locum, magnitudinem,
coelestes apparentias atque alias proprietates affines docet. — Ob-
jectum Geographiae, sive subjectum circa quod, est Tellus, impri-
1) Über B. Varenius bringt die Akademie- Ausgabe der gesammelten
Schriften Kant's, Bd. 1, S. 571 (zu S. 444 2) recht falsche Daten. B. Waren
(Varenius) wurde 1622 zu Hitzacker geboren und in Ülzen erzogen, wohin
sein Vater 1627 als Probst versetzt wurde. Er lebte seit 1647 als Dr. med.
zu Amsterdam, wo er 1650 starb. In demselben Jahre erschien die erste
Ausgabe der Geographia generalis in 12^, eine zweite, ebenfalls in 12",
nur in Format und Paginierung etwas verschieden, 1664, die dritte, zur
zweiten stimmend, 1671, alle bei Elzevir; die späteren von Newton be-
sorgten Ausgaben sind in 8*^ und zu Cambridge erschienen, alle so genau
zu den früheren stimmend, dass selbst noch die letzte Ausgabe, die von
J. Jurin, den fehlerhaften, zu Anfang der 1. Ausgabe stehenden Index bei-
behielt. Das Werk war also von Anfang an in Wahrheit ein Standard
Work und verdiente es zu sein.
2) Aus Philos. transactions Bd. 16 für 1686|7 (London 1688).
3) S. 1 f.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 13
mis superficies ejus et partes. So beginnt das Buch mit „an-
gewandter" (mixta) Mathematik: de geometricis praecognitis, de
telluris figura, dimensione, magnitudine, motu; de loco telkiris
in mundi systemate. Nachdem dann die Naturbeschaffenheit der
Erde, des Meeres, der Atmosphäre in der erwähnten Art und
Ausführlichkeit geschildert ist, geht das zweite und dritte Buch
wieder zur mathematisch-astronomischen Geographie zurück, indem
daselbst Breite, Polhöhe, Taglänge, die Schatten in den verschie-
denen Erdzonen, die Zeitbestimmungen u. s. w., dann Länge,
Kartographie, Berechnung der Lage, Horizont und endlich die
Schiffskunst, die Histiodromie u. s. w. abgehandelt werden. Auch
das 100 Jahre später erschienene Werk von Lulof, die „Ein-
leitung zu der mathematischen und physikalischen Kenntnis der
Erdkugel" zeigt genau dasselbe und nicht anders 1749 die Histoire
naturelle Büffon's : die Theorie der Erde, die Gesamtgeschichte der
Erde ist die Hauptsache, an welche als „Beweise" sich zunächst
die Bildungsgeschichte der Planeten, die Darlegung der wichtigsten
Erdtheorien anderer Gelehrten und hierauf die Besprechung der
fih' die Erdeutwickelung wichtigsten Thatsachen der Gesamterde
anreihen, eine kurze Schilderung der Kontinentalbilduug, der
Schichtenbildung, der ubiquitären Meeresüberreste, der Gebirge,
Flüsse, Meere, Winde etc., des Wechsels der Meere und Fest-
länder: denn Büffon führt die Bildung der Gesamtoberfläche der
Erde auf die Wirkung des Wassers zurück, welches früher die
ganze Erde umhüllend bedeckte. Sein Programm ist: Theorie de
la Terre, Formation des Planetes, Generation des Animaux. i) Die
Gesamtfragen nach Form, Grösse, kosmischer Stellung der Erde
beherrschten die Erdkunde in direktem Anschluss an die Frage
nach der Natur des Himmelsgewölbes, der Himmelskörper; dieselben
Fragen und Anschauungen also, welche die griechische Wissenschaft
beherrschten; welche herrschen mussten, so lange die Erde kosmischer
Mittelpunkt war. Sie blieben, vielfach noch in ihrer antiken Form,
Grundlage der Erdwissenschaft bis tief in das achtzehnte, in Kaut's
Jahrhundert hinein; sie hatten nicht wenig zu den grossen Entdeck-
ungen des 15. und 16. Jahrhunderts beigetragen; sie waren es, welche
Coppernikus und Kepler leiteten. Auch Bernhard Varen steht noch
im Banne dieser Gedankenkreise, in welche sich das Neue, was er
1) Hist. natur. 1749, 4", 1, 62. Die Generation des animaux (Bd. 2
und namentlich Bd. 4) führt auf ein anderes Gebiet, welches uns hier nicht
beschäftigen kann.
14 G. Gerland,
zuerst, was Robert Boyle und Andere brachten zunächst nur ein-
schiebt, wie der frisch austreibende Keim in die Samenschale.
Diese Fragen, welche die gTiechischen Forscher zuerst in
mehr spekulativ-metaphysischer Fassung-, später in streng- wissen-
schaftlicher Einfachheit beschäftig-t hatten, waren auf das Mittelalter
übergeg-angon, welches sich fast noch ausschliesslicher von ihnen be-
herrscht zeig-t und seine Auffassungen unter dem Zwang kirchlicher
Autorität weiter vererbte. Das dürftig trockene Büchlein, die Sphaera
von Sakro Bosko (Joh. v. Holywood, um 1250 in Paris lehrend),
welches in einen computus ecclesiasticus ausläuft, ist der Ausdruck
der wissenschaftlichen Erdkunde des Mittelalters und wurde noch
im Beginn des 16. Jahrhunderts von Melanthon als Schulbuch mit
ausführlichen Einleitungen neu ausgegeben; es giebt Ausgaben
noch aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts und wohl kein Buch
des Mittelalters hat sich so lange und in solcher Verbreitung
lebend erhalten, als die Sphaera. —
Die Geschichte der Erdkunde, von der wir soeben gleichsam als
einen vergrösserteu Querschnitt die Geschichte des 17. Jahrhunderts,
des Jahrhunderts vor Kant, betrachteten, ist deshalb so merkwürdig
und so wichtig, weil sie die Geschichte des geistigen Ein-
lebens der Menschheit in die Welt darstellt, d.h. weil sie uns
die Entwickelung des Sehens und Bemerkenleruens, des Auffassens,
also die Entwickelung der wichtigsten Funktionen des psycho-
physischen Apparates vorführt, nicht bloss für den Einzelnen,
sondern für die ganze menschliche Gesellschaft. Zugleich zeigt
sie uns sehr klar die Gesetzmässigkeit der Grenzen, der Art des
Sehens und Auffassens, bei welchem jede Zufälligkeit ausge-
schlossen ist, für jede ihrer Eutwickelungsstufen.
Dieser Stufen giebt es vier. Aber auch hier tritt ein sonderbarer
Umstand ein. Die erste dieser vier Stufen hat keinen Anfang und
für jetzt und für noch viele, vielleicht für alle kommende Jahrhunderte
auch kein Ende. Diese erste Stufe ist die vor aller geschicht-
lichen Entwickelung liegende, vielfach noch ganz unbewusste,
blind unter dem Zwang des Haupteindrucks und des Projektions-
gesetzes stehende, die es nie zu anderen als anthropomorphisti-
schen, mythischen, mehr oder weniger distinkten Vorstellungen
bringt. Auch auf jener ersten, anfanglosen Stufe, zu der wir
über Griechenland, Egypten, Babylonien in die allerältesten Zeiten der
sich eben entwickelnden Menschheit zurückgehen müssen, handelt
es sich schon um eine Summe von Kenntnissen, allerdings nicht
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 15
um ein Wissen, sondern um ein psych ophysisch notwendiges
System von fest gehaltenen Sinneswahruehmungen, Empfindungen
und Projektionen, welches sich zunächst auf den Himmel, dann
aber auch auf die Haupterscheinungen der Erde bezieht und überall
über die Erde hin bei allen Völkern das gleiche ist.
Das begreift sich wohl. Denn die Allheit der übereinstim-
menden Eindrücke, welche jedes, auch das roheste Volk empfing,
musste überall die gleiche Deutung des unscharf, aber stark und
unablässig Empfundenen, die gleiche Antwort auf die unbewusste
Frage: was sehen wir? auslösen. Mit diesen urältesten dumpfen,
ebenfalls unfreiwilligen, rein anthropomorphistischen Beantwort-
ungen dieser Frage stehen aber die klarbewussten, hellen, my-
thischen Auffassungen der Babylonier in direktem Zusammenhang;
ebenso die ersten mythischen Auffassungen der griechischen Phi-
losophen und nicht zum wenigsten auch die vielfach mystischen
Auffassungen des Neuplatonismus.
Denn diese erste Stufe der Entwickelung menschlicher Welt-
kenntnis, also der noch untrennbaren Erd- und Himmelskunde, ist
die Stufe der Naturvölker und ihre Auffassungen leben zu-
nächst mit den Naturvölkern selbst bis in die Gegenwart fort.
Aber auch unter den Kulturvölkern, in jedem einzelnen Kultur-
menschen bleiben sie in zahlreichen Relikten bewahrt — Volks-
glauben, Aberglauben u. s. w. — denn sie gehören zu der psychö-
physischen Uranlage, zum ältesten und innersten Eigentum der
Menschheit. Naturgemäss zeigen sie sich jedesmal dann be-
sonders stark, wenn Naturvölker in den Kreis der Kulturvölker
eintreten. Eine solche soziale Assimilation bedarf für das innerste,
oft kaum bewusste geistige Leben, für die Überwindung uralt
vererbter Apperceptioneu lange Zeit. Dass auch auf etwas ab-
liegenden, aber doch verwandten Gebieten die gleiche Erscheinung
auftritt, beweist eine hochinteressante Veröffentlichung von G.
Hellmann, ») in welcher auch der Wetteraberglaube der „zwölf
Nächte" auf Alt-Babylonien zurückgeführt wird — wenn er nicht
in noch ältere Zeiten zurückgeht.
Die zweite Stufe dieser geographischen Entwickelung um-
fasst das Altertum, die dritte das Mittelalter, die vierte die
Neuzeit. Alle vier Stufen stehen unter der strengen Herrschaft
eines ebenso wichtigen als durchgreifenden psychologischen Ge-
1) Neudruck von Schriften und Karten über Meteorologie und Erd-
magnetismus. No. 5. Die Bauern-Praktik 1508. Berl. 1896. S. 64 f.
16 G. Gerland,
setzes: je unentwickelter der Mensch ist, um so mehr steht er,
einzeln oder als Sozietät, unter dem Zwang der Gesamteindrücke,
um so weniger vermag er Eiuzelnheiten als solche aufzufassen;
er vermag das nur bei Dingen, auf welche er sein Gefühl und
Empfinden projicieren, in welchen er also sich selbst sehen und
empfinden kann; die er also teils aus sich selbst begreift, teils zu
sich selbst hin, weil er sie braucht, weil er sie benutzen muss. Diese
Projektionen sind soziale Thaten; sie werden also auch durch
die Sozietät in Summa vererbt. Aber mit der Entwickelung der
Menschheit bildet sich ihre Freiheit, ihr Reichtum an sicheren
Vorstellungen, die nun vom Menschen beherrscht werden, nicht
mehr er von ihnen.
Daher herrschte im Altertum zunächst die unwillkürliche
Gesamtvorstellung der Erde, des Himmelgewölbes, des Verhält-
nisses beider zu einander, welche Vorstellung immer mehr in rein
verstandesgemässe Eiuzelbegriffe, Erde, Meer, Himmel, Himmels-
körper, auseinanderging. Neben ihr aber hatte sich mit der zu-
nehmenden Aufnahmefähigkeit eine zweite Art der Erdbetrachtung
entwickelt, die von der Anschauung der Einzeldinge ausgegangen,
sich immer mehr zu einer neuen Gesamtauffassuug erhob; wir
haben sie im Zauber der höchsten Poesie bei Homer, in wissen-
schaftlicher Behandlung bei Aristoteles und in der Länderbeschrei-
bung des Strabo. Wirkte bei den Homeriden zunächst noch der
Reiz des Schönen, die Weltfreude, in den Zeiten und der
Schule des Aristoteles das Streben nach Weltbegreifen, bei
Strabo nach Welterschliessuug, so rückte bei den Römern das
praktische, das politisch-militärische Bedürfnis, die Weltnutzung,
immer mehr in den herrschenden Mittelpunkt.
Beides, die Freude am Leben, an der Erde, und das Streben
nach wissenschaftlicher Erschliessung der letzteren vereinte sich
in Griechenland mit jeuer älteren, mit der mathematisch-astrono-
mischen Gesamtauffassung, zu höchster wissenschaftlicher Höhe
im Zeitalter Alexander des Grossen. Das beweist das Beispiel
des grössten Erderforschers des Altertums, Pytheas, beweist ferner,
wenn auch in anderer Art, das Beispiel Plato's, des grössten Phi-
losophen Griechenlands.
Es ist soziologisch merkwürdig, wie die Änderungen, die
Fortschritte dieser grossen Auffassungskreise entstehen und sich
ausbreiten. Es fehlt nicht an einer Inkubationszeit, die zunächst
durch das Auftreten einzelner bedeutender Individuen, welche das
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 17
Neue verkündig-eu, begründet, dann durch oft ung'emein rasche
allgemeine Annahme des Neuen beendet wird. Die Zahl der
Jahrhunderte schon bestehender Kultur ist von äusserster Be-
deutung für die Kulturfähigkeit, d. h. für die Fähigkeit der
Völker, Kultur aufzunehmen und weiter zu entwickeln; es ergiebt
sich der soziologisch wichtige Satz: die Länge der Inkubations-
zeit steht in umgekehrtem Verhältnis zur Länge der Zeit vorhan-
dener Kultureinflüsse. Es ist erstaunlich, um wie viel länger die
Inkubationszeit im Altertum und namentlich im Mittelalter, als in
späteren Zeiten ist, wo sie sich immer mehr, oft bis zur Unkennt-
lichkeit verkürzt; erstaunlich, wie sich heute das Neue rasch
durch die ganze Masse der Völker, der Menschheit ausbreitet
gegenüber der Engigkeit der Verbreitung in jenen früheren
Epochen. Ja das Mittelalter, im Vergleich mit dem Altertum von
roheren, weit weniger lange und weit weniger mannigfaltig mit
der Kultur in Berührung stehenden Völkern getragen, kann ge-
radezu als die Inkubationsperiode zwischen Altertum und Neuzeit
betrachtet werden.
Die beiden natürlich gegebenen Ströme der antiken geogra-
phiscben Auffassung blieben bestehen; aber in dem einen der-
selben, in der Gesamt-uiffassung der Welt, trat jener uralte
mythisch-religiöse Zug, den auch das Griechentum nie völlig über-
wunden hatte, wieder in neuer Kraft und Ausdehnung hervor zu-
nächst durch das Eintreten unkultivierterer, aber kraftvoller
Völker in die Geschichte. Nirgends drängen sich dem unent-
wickelten Menschen religiös-mythische Vorstellungen mit stärker
zwingender Kraft auf, als bei der Vorstellung des Himmels, des
VTeltganzen, die stets mit dem Gefühl des Erhabenen verbunden
ist. Die psychische Roheit namentlich des früheren Mittelalters
zwang ferner stets zu anthropomorphistischer Auffassung, die um
so stärker und bleibender war, je stärker und bleibender die mit
den Eindrücken verbundenen Gefühle auftraten.
Aber auch die kulturellen Überlieferungen lehrten und ver-
stärkten durch ihre Lehre die Vergötterung des Himmels. Denn
die Kultur des Altertums wurde vornehmhch durch die Kirche
verbreitet; die Kirche aber lehrte direkt die Göttlichkeit des
Himmels, zunächst beeinflusst von babylouisch-jüdisch-orientalischen
Auffassungen, die eine sehr grosse Verbreitung und Geltung
hatten, dann aber und fast noch mehr durch das Eindringen
der spätgriechischen Philosophie, der Lehre vom persönlichen,
Kautstudieu X, 2
18 G. Gerland,
göttlichen, schaffenden Logos, wie dies Harnack') sehr gut her-
vorhebt. Die Zeitrechnung, die neuen Feste, welche, im Anschluss
an die jahreszeitlichen Götterfeste des Heidentums, in neuer,
machtvollerer Heiligkeit das ganze Leben ordneten und beherrschten,
wurden durch die Bewegungen der Himmelskörper bestimmt — die
Sphaera schloss mit dem computus ; um das Weihnachtsfest grup-
pierte sich der Wetteraberglaube. Und dabei wirkte Sozietät auf
Sozietät, die Kirche, die Vertreterin der kultivierten Sozietät, in
ihrer Ganzheit auf die Sozietäten der heidnischen Völker; nicht
einzelne Individuen, die Summe der Individuen wurde gleichzeitig
und gleich mächtig erfasst. Denn die Kirche erstrebte — und
liierin liegt ihre ungeheure soziale Macht — die Gesamtheit der
Seelen zu gewinnen, zu retten, zu vereinen; und zugleich kam die
Kultur der Religionsbringer, deren Person selber geheiligt war,
als eine ungemein reiche, schöne, allen imponierende, allen be-
gehrenswerte und doch zunächst — auch klimatisch, was wichtig
ist — nicht völlig erreichbare herüber. Gerade diese Unerreich-
barkeit der Kulturhöhe und der geographische Gegensatz zwischen
Nord und Süd ist von hoher Bedeutung. Beides gab, durch leib-
liche wie geistige Einwirkungen, der Kirche und ihrer Lehre neue
Macht, der Weltauffassung des Mittelalters den Charakter des
Sentimentalischen dem naiven Altertum gegenüber und musste ihn
geben, auch wenn die Lehre der neuen Religion nicht mitgewirkt
hätte. Denn sentimentalische Geistesrichtungen entwickeln sich
immer da, wo ethisch begehrenswerteren, in sich fertigen Zu-
ständen unfertige und als solche empfundene gegenüberstehen.
Alles dies bedingte die Ausschliesslichkeit und verstärkte die
Macht der religiösen Auffassung der Welt, die Leben und Weltall
in lückenlosem Zusammenhang erfüllte, erklärte, ordnete, leitete,
ohne Anspruch an individuelle Geistesarbeit der Gläubigen zu er-
heben. Aber gerade wegen ihrer festen, überindividuellen Gleich-
mässigkeit wurde die religiöse Auffassung der Welt zur stärksten
Gemütsmacht, die alles um so fester beherrschte, als sie zum
grossen Teil unbewusst war. Jedem schallte sie von Jedem ent-
gegen. Niemand also konnte an der Göttlichkeit, der göttlichen
Individualität des Himmels zweifeln und wer dies dennoch that,
der löste sich von der Weltauffassung aller Mitlebenden, welche
Auffassung selber, eben weil sie so allgemein und ein äusserer
1) Das Wesen des Christentums. Leipzig 1900.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 19
Grund für sie nicht vorhanden war, von Gott stammen musste.
Die alten Tabubegriffe menschlicher Urzeiten lebten in der Kirche
kräftig- weiter. Auch der Himmel, als Wohnsitz Gottes, war tabu
im strengsten Sinne dieses uralten Begriffes und jede Verletzung
dieses Tabu, wie sie die neuen Auffassungen so vielfach mit sich
brachten, war schwerer Frevel gegen das höchste Tabu, gegen
Gott selbst. Alles, was vom Himmel kam, konnte nur, ja musste
von Gott bestimmt sein: Gott also sandte den Regen, den Wind,
das Wetter, Gott hatte die Bewegungen des Himmels, der Ge-
stirne angeordnet; die Erde war ganz vom Himmel abhängig, es
war also alles, was von Naturereignissen auf der Erde geschah, gutes
und böses Wetter, Blitzschlag, Erdbeben, Überschwemmungen
u. s. w. direkt, als Strafe oder Lohn, von Gott angeordnet und
„Gottes Finger" beherrschte und betrieb alles. Es war aber nicht
eine grosse gewaltige Gottesauffassung die vorherrschende: es
war der Gott des kleinen Mannes, der hausbackene Gott, der sich
in alles einmischte und zugleich stark mit dem Teufel und dessen
Anhängern zu kämpfen hatte. Natürlich herrscht der Anthropo-
morphismus wie im Leben, so auch in der Kunst: kleinlich im
Leben, in der Kunst grossartig. Diese Gesamtauffassung der
Welt, die vom Volk, von den Laien überall geglaubt, gesehen,
aber nur sehr selten und dann stets mit Lebensgefahr in eigener
Denkarbeit geprüft und begriffen wurde, beherrschte das Mittel-
alter ganz ; sie wurde mit dem sinkenden Mittelalter immer platter
und roher in der Masse des Volkes ; sie stammt ganz und gar aus
den Anschauungen der Naturvölker.
Daneben lebte in voller Kraft nun auch die Freude an den
Einzeldingen, der Gegenwart, der Umgebung, dem Leben, aber
nur im Bereich der persönlichen Projektion, des Wohlgefallens,
des Nutzens. Was darüber hinausging, fehlte dem Gesamtgeist
des Mittelalters noch mehr, als dem des Altertums. Daher z. B.
auch die rohe Art der mittelalterlichen Landkarten, die noch in
späteren Jahrhunderten, obgleich unendlich verbessert, über eine
schematischleere Darstellung des Terrains nicht hinauskommen
und nur auf die Darstellung der politischen Grenzen, der Handels-
und der Verkehrsstrassen, der Flüsse, auf die Angabe der Städte
ausging, ein Zustand, der sich völlig erst in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts auslebte. So war nach keiner Seite hin eine
wirkhche Auffassung der Erdnatur und ihrer Thätigkeit und Viel-
heit als eines Ganzen im Anfang des 17. Jahrhunderts vorhanden.
20 G. Gerland,
im Anfang des 18. ein wissenschaftliches Begreifen der Einheit
der Erdnatur noch keineswegs verbreitet.
Aber im 17. Jahrhundert ging die Inkubationszeit für das
richtige Erfassen dessen, was man sah und was aus dem Alter-
tum überliefert war, zu Ende, nachdem das Mittelalter durch Re-
formation und Renaissance zu Grabe gebracht war; und so ent-
wickelte sich in der neuen Zeit eine neue Welt des Geistes. Wie
klar spiegelt auch dies die Geschichte der Erdkunde — der Erd-
und Weltauffassung der Völker!
Ich kann hier nur einiges Wichtigste hervorheben. In erster
Linie ist abermals Varen und seine Geographia generalis zu
nennen; sodann die einschlagenden Einzelarbeiten, wie Gilbert's
berühmtes Buch über die magnetische Kraft der Erde, wie die
Abhandlungen des Grafen Robert Boyle, des Freundes Newton's.
Und welche Fülle von neuen Auffassungen brachte Leibniz, dessen
für die Erdkunde so besonders wichtige Protogäa fi'eilich erst
1749 ganz veröffentlicht wurde, deren Grundgedanken Leibniz
schon 1693 bekannt gemacht und in seiner praktischen Thätigkeit,
der er sie verdankte, und gewiss auch sonst verwertet hatte. Von
grosser Bedeutung waren ferner die ebenfalls dem praktischen
Leben angehörigen Kolouiegründungen, die von England, Frank-
reich, den Niederlanden sich über die verschiedenen Erdteile ver-
breiteten. Die Völker sahen immer mehr; sie mussten das Ge-
sehene, um es richtig zu verwerten, immer richtiger auffassen,
auch wieder aus praktischen Gründen, die in der Geschichte der
Wissenschaften und namentlich der Erdkunde eine so bedeutende
Rolle spielen. Naturgemäss trat das Neuerrungene mit dem Alten
in lebhaften Kampf, dessen Wirkungen wir auch bei Kant, bei
Newton und anderen deutlich erkennen. In Folge dieser neuen,
schärferen Auffassungen trat auch die Wissenschaft vom Menschen
in ein neues Stadium. Auch hier schlug Bernhard Varen als
erster die neuen Wege ein. Freilich hatte sich auch der vielge-
reiste Abt Giovanni Botero in seinem merkwürdigen Relationi
universalis) ganz frei von Mathematik gehalten und von Geogra-
phie nur soviel gebracht, als für seine an sich wertvollen histo-
risch-politischen Schilderungen der Völker unentbehrlich war, wenn
wir von der aufzählenden Besprechung der Inseln sowie von seinem
1) 1596. 1640. Deutsche Übersetzung: Allgemeine Weltbeschreibung
etc. Kühl 1596.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 21
Bericht über das Meer ^ absehen. Auch steht er nicht in jener
corapilatorischeu Abhängigkeit vom Altertum. Varenius, der jeden-
falls Botero's Werke kannte, hat nur eine ethnologisch-historische
Arbeit geschrieben, seine Descriptio Regni Japonici, mit einer Ein-
leitung über die verschiedenen Staatsformen der Völker, 2) aber in
wissenschaftlicher Methode, in allseitiger Durchdringung und
wissenschaftlicher Beherrschung des Stoffs steht er schon auf
einem Standpunkt, den man w^ohl den modernen nennen kann
und weit über Botero.
Ein sehr beachtenswerter Zug aller dieser Kosmographien ist
das Interesse, welches sie für die Religionen der Staaten und
Völker zeigen. Öfters geschieht dies in Folge der durch die Re-
formation geschaffenen Gegensätze; mit Leidenschaftlichkeit z. B.
bei dem in Frankreich zum Katholizismus übergetretenen Holländer
Peter Bertius.^) Meist aber wurzeln diese Angaben in dem alle
Gemüter beherrschenden religiös-biblischen Sinn, von welchem aus
Riccioli, Paulus Merula*) und Andere die ganze Geographie nach
den Darstellungen der Genesis auffassten. Lebhaft beschäftigte
sich auch Botero mit der Religion der christlichen wie der heid-
nischen Völker, mit der Einführung des Christentums in Indien,
in Japan u. s. w., der Gottesidee der Indianer Amerikas und der Aus-
breitung des Christentums unter ihnen widmet er vier Bücher .s) Auch
Varen hat einige religionsgeschichthche Abhandlungen geschrieben,
von welchen das soeben über ihn Gesagte gleichfalls gilt: seinen
tractatus de religione in regnis Japoniae, welcher, der Königin
Christine von Schweden gewidmet, über die Religion der Japaner
sowie über die Einführung und spätere Ausrottung des Christentums
in Japan handelt, mit einem Anhang über die Religion Slams; und
ferner seine brevis informatio de diversis gentium religionibus, die
erste vergleichende Zusammenstellung möglichst vieler Religionen
der Erde, die von wissenschaftlichen Gesichtspunkten ausgeht.
Wie stand es aber bei so vielem Neuem mit der alten Grund-
wissenschaft der Erdkunde, mit der Wissenschaft von der Gesamt-
1) Relatione del mare 1599. 1649. — cf. C. Gioda, la vita e le
opere di Giov. Botero. 3 Bde. Mailand 1894|5.
2) Amsterdam 1649. 16«. Der tractatus de Japanorum religione
ebend. im gleichen Jahr.
3) Breviarium Totius orbis terrarum. Paris 1626.
*) Cosmographiae generalis libri tres ec. Amsterdam 1636.
5) Relationi univ. 1640. Teil 4, Buch 1—4.
22 G. Gerland,
erde, ihrer Gestalt und ihren Beziehung-eu zum Himmelsgewölbe,
mit der mathematisch-astronomischen Geographie? Kurz sei nur
der „Eratüsthenes Batavus'', Willibrord Suellius, sein neues Maass-
verfahren und der daran sich kuiii)fende Streit über die Abplattung
der Erde erwähnt, wie er sich zwischen Cassini und Newton er-
hob und vor allem des Siegers in diesem Streit Mewton's Haupt-
werk, die 1686. 1713 und in 3. Auflage 1726 erschienenen princi-
})ia mathematica philosophiae naturalis — in welchem freilich die
religiöse Heiligkeit, das Tabu des Himmels, das direkte Eingreifen
Gottes noch deutlich weiter lebt. Varen blieb in seiner wissen-
schaftlichen Darstellung gänzlich frei von dieser Auffassung ; allein
noch hundert Jahre nach dem Erscheinen der geographia naturalis,
noch 1750 tadelt ihn Lulof wegen seiner Abweichungen von den
mosaischen Berichten sehr ernstlich.
Auch an Cassini's Namen knüpft sich der Ruhm einer ge-
waltigen That auf geographischem Gebiet, die für das praktische
Leben, man kann wohl sagen, gleich hohen Wert hat, wie Newton's
principia für die Theorie; einer That, die, ebenfalls auf den von
Willibrord Snellius gelegten Grundlagen beruhend, mit ihrer Aus-
führung das ganze 18. Jahrhundert ausfüllt. Diese That war die
Schaffung der wissenschaftlichen, naturwahren Topographie. Durch
die wissenschaftlichen Fortschritte seit 1650, durch die unter
Ludwig XIV. sich neu entwickelnde Kriegskunst hatte sich ein
richtiges Sehen auch der natürlichen Bodenbeschaffenheit der
Länder entwickelt : und dies technisch, ja man kann sagen künst-
lerisch richtig wiedergegeben zu haben, anstatt der alten ganz
willkürlich-schematischen Art der Zeichnung, ist das unsterbliche
Verdienst der Cassini. Ihre Karte ist die Grundlage unserer mo-
dernen Terrainzeichnung.
Und dazu kam noch ein anderes, welches den grossen Kreis
der Erdwissenschaft abschloss, indem es neue, freilich erst später,
in der Mitte des 18. Jahrhunderts betretene Wege eröffnete: auch
die ungeheure Formenfülle der gesamten organischen Welt lernte
man sehen, wissenschaftlich auffassen und festlegen. Hier sind
zwei grösste Namen zu nennen: Büffon, der im Anschluss an
seine Theorie de la terre, vom Menschen ausgehend auch die
histoire naturelle der Tiere gab, indem er die Arten der Tiere,
ihre Festigkeit, ihre Veränderlichkeit, ihr Werden und Vergehen
wissenschaftlich untersuchte und weithin wirkende Ideen ent-
wickelte; indem er zugleich die zahllosen Spezies zum erstenmale
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 23
mit eingehendster Genauigkeit beschrieb. Und ferner und vor
Allen Liune, der die Fülle der vorhandenen Pflanzen- und Tier-
formen mit festem Blick einteilte, zusammenordnete und dadurch
erst zugänglich und begreiflich machte — eine herrlich geniale,
nie genug zu verdankende That!
So liegt ein ungemeiner Glanz des geistigen Lebens über
dem 17., dem 18. Jahrhundert, eine Fülle, eine Grösse der erd-
wissenschaftlichen Leistungen, die den Betrachter stets zu neuer
bewundernder Freude erhebt. In der Entwickelung dieses Lebens,
dieser Ideen stehen auch wir noch, wenn wir auch durch die
Länge der verflossenen Zeit, durch die Erschliessung der Erde
und nicht zum wenigsten durch die unbeschränkte Zahl der Mit-
arbeiter eine neue Stufe erreicht haben. Im 17., auch noch im
18. Jahrhundert waren es nur die wenigen Grössten, welche dies
neue Licht sahen und zu verbreiten anfingen; die Thäler lagen
noch im Schatten. Aber unaufhaltsam drang das Licht vor; und
in diese Welt hinein ward am 22. April 1724 Immanuel Kant ge-
boren.
3. Vorlesung.
Stellung Kant's zur naturwissenschaftlichen Forschung
seiner Zeit.
Es war eine Zeit des Übergangs, in die er eintrat. In der
Erd- und Himmelskunde konnte unmöglich die leichtfertige Viel-
wisserei eines Athanas. Kircher oder Compilationen wie die Becmann's
oder der veraltete Standpunkt Riccioli's neben Varen und Boyle
und Newton Geltung behalten; doch wurde Becmann und nament-
lich Kircher noch viel gebraucht, i) Die Geographie war noch
immer eine Art von methodelosem Gesamtwissen, aus mathema-
tischen, historischen, topographischen, nautischen Materialien zu-
sammengehäuft, eine in Worte übertragene Kartographie, den
Verkehrsbeziehungen dienend. Zur Wissenschaft war sie durch
Varen, durch Newton erhoben. Die mathematisch-physikalischen
1) Z. B. von Lulof, der gegen Kircher zwar Bedenken ausspricht,
aber Varen mit ihm auf gleiche Stufe stellt ! (Vorrede S. 7.) Kircher wird
am besten von Morhof, dem Freunde und öfteren Gast Rob. Boyle's, ge-
schildert durch den kurzen Ausspruch im Polyhistor I, S. 357: saltavit et
in hoc theatro (ars Lulliana) Athanasius Kircherus, centum ille doctor
artium.
24 G. Gerland,
Lehreu des letzteren verbreiteten sich rasch, die telhirische Ge-
samtauffassung Varen's viel langsamer: brachte sie doch etwas
ganz Neues, das Auffassungs- und Denkvermögen der Menschheit
völlig Umformendes.
So war die Zeit des Übergangs auch eine Zeit der Gegen-
sätze, der A\'idersi)rüche. Neues und Altes standen, oft freilich
feindselig — Riccioli veröffentlicht im Almagestum novum Bd. I
Teil II, S. 497—500 die Abschwörung Galiläi's mit den Anklagen
der Kardinäle gegen ihn; und auch Büffon musste sich über ver-
schiedene Punkte mit den Deputes und dem Syudic der Pariser
Theologischen Fakultät auseinandersetzen — , meist aber in mehr
oder weniger unbewusster Naivität einander gegenüber.
Die Betrachtung und Erklärung von Himmel und Erde stand
noch ganz in Abhängigkeit von den Lehreu der Kirche, von den
Erzählungen der „Offenbarung", dem Schöpfungsbericht, dem Sint-
flutmythus der Genesis und diese herrschende Gesamtauffassung der
Welt, welche sich über alle Gebiete des Lebens erstreckte, bildete
den grössten Widerspruch zunächst zur erwachenden Erdwissenschaft,
w'elche ja die mechanische Abhängigkeit der grossen Erderschein-
ungen, der Winde, der Strömungen, der Sternbewegungen immer
deutlicher sah und lehrte; sodann zu der sich immer mehr auf-
drängenden und unentbehrlicher werdenden Kenntnis der Einzel-
dinge, welche die Welt erfüllen, der Naturgesetze, welche die
Welt beherrschen. Die Bedeutung der Erdkunde auch für diese
Zeit liegt klar auf der Hand. Die Welt, Himmel und Erde zeigten
sich immer klarer in ihren Einzelerscheinungen, hier lag das
Neue; das Alte lag in dem Tabubegriff, in der platt anthropo-
morphischen Auffassung Gottes und der Erdvorgänge in ihrer
direkten Abhängigkeit von Gott, Avie sie noch überall herrschte.
Auch in der Philosophie: Descartes, Spinoza, auch noch Leibniz
haben ruhig den alten Gottesbegriff herübergenommen und an die
Spitze oder an das Ende ihrer Phüosophie gestellt. Die Dichter
thaten ihrerseits das Gleiche : man lese die von Kant selbst in der
Naturgeschichte des Himmels zitierten platten Überschwenglichkeiten
Pope's, Addisson's, v. Haller's, die freilich schon auf einen Um-
schwung deuten, der sich in Klopstock vollzogen hat. Auch die
Naturforschung hielt sich noch auf der alten Strasse des her-
kömmlichen Gottesbegriffs : das beweist Newton, Büffon und ebenso
jener Wright, dessen „Neue Theorie des Weltalls" für Kant so
bedeutsam wurde.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 25
Diese Widersprüche, dies Neue zum Alten war von ^össter
Wichtigkeit. Zunächst entwickelte sich ein ungeheurer Reichtum
von Vorstellungen und Begriffen, die nicht mehr das Eigentum
Weniger bleiben konnten, die übergingen auf die Geister aller
Lebenden, die zu bewältigen, aufzufassen, unterzubringen die Ar-
beit aller Denkenden verlangte. Dazu kam die Gedankenfülle der
Renaissance, der Reformation. Wie passte dieser so rapid an-
wachsende neue Inhalt der Welt zu jener alten Form, wie sie in der
bisherigen Gesamtauffassung dem bisherigen Gedankenvorrat genügt
hatte? Das Neue musste begriffen und mit dem Alten in Ein-
klang gebracht, das Alte an dem Neuen gemessen werden: eine
kritische Zeit also musste kommen, auf allen Gebieten, um dieser
Aufgabe gerecht zu werden. Wo aber war in der allgemeinen Be-
wegung ein fester Punkt, der Ruhe und Kraft und Freiheit genug
bot, um diese Kritik, welche doch nur durch ruhige Kraft und
freien Blick geschaffen werden konnte, zu ermöglichen?
Nachdem Italien im 15. und 16. Jahrhundert die Renaissance ge-
schaffen, gingen später die neugestaltenden Ideen hauptsächlich von
England, den Niederlanden und Frankreich aus, von den Nationen,
deren Schiffe am meisten mit der ganzen Welt in Berührung
kamen. Im 18. Jahrhundert war Frankreich Träger und Mittel-
punkt der geistigen Bewegung, die sich von hier aus überallhin
verbreitete, namentlich aber Deutschland beeinflusste, und zwar,
in Folge des lebhaften Interesses, welches ihr Friedlich der Grosse
entgegenbrachte, den Norden fast noch mehr als den Süden des Reichs.
Dies wissenschaftiiche Milieu herrschte auch in Königsberg. Die
Lage der Stadt war günstig; hier konnte, ja musste alles, was
die Welt bewegte, ruhiger und objektiver aufgefasst werden. Hier
lebte der Mann, der in der Ruhe seiner Heimat das immer mehr
erschlossene Leben der Welt zunächst aus Reiseberichten und
erdwissenschaftlichen Studien mit weitem Blick und tiefer Geistes-
kraft in sich aufnahm und durch das unablässige Studium des
Weltlebens zu jener Kritik emporstieg, welche zum ersten
Male in der Geschichte der Menschheit auf dem Ge-
biete des Geistes, der Welterkenntnis und Weltauf-
fassung, das Alte, Uranfängliche, welches die Mensch-
heit seit ihrem Anbeginn beherrscht hat, als unwahr
und unbrauchbar erkannte, der es beseitigte und
ein neues Leben heraufführte. Dieser Mann war
Kant.
26 G. Gerland,
Kant studierte hauptsächlich Philosophie, Mathematik und
Naturwissenschaften, daneben auch lateinische Philologie und
Theologie, letztere, wie er selbst sagte,») „aus Wissbegierde".
Es blieb gewiss nicht ohne Einfluss auf ihn, dass sein Lehrer
Martin Knutzen nicht nur das Verhältnis von Leib und Seele,
sondern überhaupt die Wechselwirkung der Dinge auf mechanische
Prinzipien zurückführte. 2) Diese mechanische Weltauffassung
machte auch Kant immer mehr zu der seinen; von ihren beiden
grössten Vertretern, von Leibniz und Newton, nahm er seinen
schriftstellerischen Ausgang; und dass ihn in dieser Weltansicht
seine geographischen Studien immer mehr befestigen mussten,
leuchtet ein.
Diese physikalisch-philosophischen Studien (neben denen die
mathematischen sehr zurücktreten) zu seinem 1746 vollendeten
Erstlingswerk, den „Gedanken von der wahren Schätzung der
lebendigen Kräfte" beschäftigten ihn, wie Aruoldt gewiss sehr
richtig annimmt, 3) schon in den letzten Semestern seiner Stu-
dentenzeit. Mit dem Studium Newton's waren auch astronomische
Betrachtungen gegeben, um so mehr, als auch Knutzen dieselben
eifrig betrieb.*) Zu diesen Studienkreisen trat in den 9 Jahren
der Hauslehrerzeit Kant's (1746—55) ein neues Element, welches
vielleicht auch schon den Studenten Kant beschäftigte, ohne dass
wir es nachweisen können : das Studium der Einzeldinge der Erde,
von den Kontinenten und Meeren an bis zu den kleinsten Orga-
nismen. Hierfür beweisend und auch sonst sehr merkwürdig ist
der 1757 geschriebene kurze Artikel „Entwurf und Ankündigung
eines CoUegii der Physischen Geographie" u. s. w.,"^) welches
Kolleg Kant auch schon 1756«) las. Die Vorrede dieses Entwurfs
1) K. Fischer 1, 52; vgl. Heilsberg's Erzählung über Veranlassung
und Beantwortung dieses Ausspruchs bei Reicke, Kantiana 50.
2) B. Erdmann, Martin Knutzen u. seine Zeit, S. 103 f. S. 143. 146.
K. Fischer 1, 48 f.
3) E. Arnoldt, Kant's Jugend und die fünf ersten Jahre seiner Pri-
vatdozentur, Altpreuss. Monatsschr. XVIII, 1881, S. 646.
4) Die Behauptung, die Schrift Knutzen's über die Kometen habe
Kant wohl erst zu seinen kosmologischen Studien geliracht (Kraus in
Reicke, Kantiana 8. 7, Anm. 11), ist völüg irrig. Man vgl. die Besprechung
von Knutzen's „Vernünftige Gedanken von den Kometen" (1744) bei B.
Erdmann S. 122 f.
5) S. oben S. 8.
6) E. Arnoldt, kritische Exkurse, 284 f.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. -^7
ist für uns sehr wichtig-. Sie lautet:') „der vernünftige Geschmack
unserer aufgeklärten Zeiten ist vermutlich so allgemein geworden,
dass man voraussetzen kann, es werden Wenige gefunden werden,
denen es gleichgiltig wäre, diejenigen Merkwürdigkeiten der Natur
zu kennen, die die Erdkugel auch in anderen Gegenden in sich
fasst, welche sich ausser ihrem Gesichtskreise befinden. Es ist
auch für keinen geringen Vorzug anzusehen, dass die leichtgläubige
Bewunderung, die Pflegerin unendlicher Hirngespinnste, der behut-
samen Prüfung Platz gemacht hat, wodurch wir in den Stand ge-
setzt werden, aus beglaubigten Zeugnissen sichere Kenntnisse ein-
zuziehen, ohne in Gefahr zu sein, statt der Erlangung einer rich-
tigen Wissenschaft der natürlichen Merkwürdigkeiten uns in einer
Welt von Fabeln zu verwirren."
„Die Betrachtung der Erde ist vornehmlich dreifach. Die
mathematische sieht die Erde als einen beinahe kugelförmigen und
von Geschöpfen leeren Weltkörper an, dessen Grösse, Figur und
Cirkel, die auf ihm müssen gedacht werden, sie erwägt; die poli-
tische lehrt die Völkerschaften, die Gemeinschaft, die die Menschen
unter einander durch die Regierungsform, Handlung und gegen-
seitiges Interesse haben, die Religion, Gebräuche u. s. w. kennen;
die physische Geographie erwägt bloss die Naturbeschaffenheit der
Erdkugel und was auf ihr befindlich ist; die Meere, das feste
Land, die Gebirge, Flüsse, den Luftkreis, den Menschen, die Tiere,
Pflanzen und Mineralien. Alles dieses aber nicht mit derjenigen
Vollständigkeit und philosophischcMi Genauigkeit in den Teilen,
welche ein Geschäft der Physik und Naturgeschichte ist, sondern
mit der vernünftigen Neugierde eines Reisenden, der allent-
halben das Menkwürdige, das Sonderbare und Schöne aufsucht,
seine gemachten Beobachtungen vergleicht und seinen Plan über-
denkt."
„Ich glaube bemerkt zu haben, dass die ersten zwei Gat-
tungen der Erdbetrachtung Hilfsmittel genug für sich finden,
wodurch ein Lehrbegieriger auf eine so bequeme als hinreichende
Art fortzukommen im Stande ist; allein eine vollständige und
richtige Einsicht in der dritten führt mehr Bemühung und Hinder-
nisse mit sich. Die Nachrichten, die hierzu dienen, sind in vielen
und grossen Werken zerstreut, und es fehlt noch an einem Lehr-
buche, vermittelst dessen diese Wissenschaft zum akademischen
') Hartenstein, 2, 3 f.
28 G. Gerland,
Gebrauche geschickt g-emacht werden könne. Daher fasste ich
gleich zu Anfang meiner akadunüschen Lehrstunden den Entschhiss,
diese Wissenschaft in besonderen Vorlesungen nach Anleitung eines
summarischen Entwurfes vorzutragen. Dieses habe ich in einem
halbjährigen Kollegium zur Geuugthuung meiner Zuhörer geleistet.
Seitdem habe ich meinen Plan ansehnlich erweitert. Ich habe aus
aUen Quellen geschöpft, allen Vorrat aufgesucht und ausser dem-
jenigen, was die Werke des Varenius, Büffon und Lulof von den
allgemeinen Gründen der physischen Geographie enthalten, die
gründlichsten Beschreibungen besonderer Länder von geschickten
Reisenden, die allgemeine Historie aller Reisen, die Göttingsche
Sammlung neuer Reisen, das Hamburgsche und Leipziger Maga-
zin, die Schriften der Akademie der Wissenschaften zu Paris und
Stockholm u. a. m. durchgegangen und aus Allem, was zu diesem
Zweck gehörte, ein System gemacht. Ich gebe hiervon einen
kurzen Entwurf. Man wird urteilen können, ob es, ohne dem
Namen eines Gelehrten Abbruch zu thun, erlaubt sei, in diesen
Dingen unwissend zu sein."
Die genannten Werke und Sammlungen kann Kant nicht aber
erst nach seiner ersten Vorlesung über phj^sikalische Geographie
gelesen haben. Er hat sie gewiss eine Reihe von Jahren noch
als Student, dann als Hauslehrer benutzt und hierzu stimmt die
Art, wie Kant zu lesen pflegte, ^) sehr gut. Nach Prof. Pörschke's
Mitteilung''*) las er Reisebeschreibungen besonders gern. Seinen
Studienplan aber hat er nach der ersten Vorlesung ansehnlich er-
weitert: Docendo discimus. „Mit der vernünftigen Neubegierde
eines Reisenden" hat er über die ganze Erdkugel hin das Merk-
würdige, das Sonderbare und Schöne aufgesucht und gesammelt,
nicht zu wissenschaftlichen Detailstudien, sondern vergleichend,
nach einem festen Plan überdenkend, alles in ein System zusam-
menfassend. Diese Worte sind sehr merkwürdig. Kant sagt sie
ohne besondere Betonung, schlicht und anspruchslos : aber in dieser
Schlichtheit hat er vieles Wichtigste ausgesprochen, sie gehört zu
seiner ganzen Art zu sprechen, zu seinem ganzen Wesen. Bei
ihm hat man auf jedes Wort Acht zu geben. Von Newton aus-
gehend kam er wohl durch diesen zunächst zu Varen, den er in
der letzten von .Turin besorgten Ausgabe benutzte ; denn die Karte, für
1) Reicke, Kantiana S. 16. 18.
2) Ebendas. S. 16.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 29
die er sich in den „neuen Anmerkungen zur Theorie der Winde"
auf Varen beruft, ^) findet sich nur in dieser Ausgabe. Varen war
der erste, welcher auch physisch, geophysikahsch die Erde als
eine wissenschaftliche P^inheit auffasste. Wir haben von ihm nur
den ersten Teil der von ihm geplanten Erdkunde, die Geographia
generalis, vom zweiten, der Geographia specialis, nur den Plan 2)
einer erschöpfenden, vortrefflichen Landes- und Bevölkerungskunde.
Durch beide Forscher, Newton und Varen, musste Kant zu einer
neuen Weltauffassung kommen, welche das Studium kaum Lulof's,
wohl aber Büffon's sowie der Reisewerke mit dem unentbehrlichen
Detail versah. Die „allgemeine Historie der Reisen" ist aus des
Abbe Prevost französischer Übersetzung des englischen Originals
ins Deutsche übersetzt, in 21 reich illustrierten Quartbänden, von
1747—1774, die wichtigsten Reisen vom 16. Jahrhundert an um-
fassend; 1757 erschien der 15. Band. Die „Göttiugsche Sammlung
neuer Reisen" ist wohl die „Sammlung neuer und merkwürdiger
Reisen zu Wasser und zu Lande", die in 11 (illustrierten) Teilen
von 1750—1755 in Göttiugen erschienen. Das „Hamburgische
Magazin oder gesammelte Schriften zum Unterricht und Ver-
gnügen aus der Naturwissenschaft und den angenehmen Wissen-
schaften überhaupt" 3) erschien von 1748—1763 (Hamburg S^;
1756 Bd. 16) und brachte Mitteilungen aus dem Gebiet der Geo-
graphie, Kosmologie, Zoologie, Botanik, Physik, Chemie, sodann
philosophische und technischpraktische Aufsätze; auch Gedichte
fehlen nicht. Das „Leipziger Magazin" ist wohl das in Leipzig seit
1753 (bis 1767) herausgegebene „Allgemeine Magazin der Natur,
Kunst und Wissenschaften" gleichen Inhalts. Die Schriften der Aka-
demie zu Stockholm benutzte Kant sicher in der Übersetzung A. G.
Kästner's: der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften
Abhandlungen, aus der Naturlehre, Haushaltungskunst und Mecha-
nik, aus dem Schwedischen übersetzt; der erste Band auf die
1) Hartenstein 1, 477. Ak. Ausg. 1, 493.
2) Geogr. gener. Kap. 1, propos. 9.
3) Ein Band mit dreifachem Register über alle 26 Bände erschien
1767, doch lautet hier der Titel anders als der oben angeführte aller 26
einzelnen Bände, nämlich: Hamburgisches Magazin oder gesammelte
Schriften aus der Naturforschung, der Ökonomie und den nützlichen
Wissenschaften. Noch anders giebt ihn Kayser im Bücherlexikon Bd. 2,
wo er lautet: Hamb. Mag. oder ges. Sehr. a. d. Naturforschung, der Vor-
sehung und den gesamten Wissenschaften.
30 G. Gerland,
Jahre 1739 und 1740 erschien 1749, 1756 der 15. und 16. Band
auf die Jahre 1753 und 1754, der erläuternde Zusatz des Titels
ist von Kästner; die Übersetzung gieU das schwedische Original
vollständig wieder, welches mancherlei naturwissenschaftliche und
geographische Abhandlungen enthält, unter diesen meteorologische
Arbeiten von Celsius.
Solche Mühe gab sich Kant um die physische Geographie,
um die Erdwissenschaft. Und doch hat er nur Vorlesungen über
sie gehalten, kein grosses Werk, nur einzelne mehr zufällige Ab-
handlungen über sie geschrieben. TTnd seine geographischen wie
seine athropologischen Vorlesungen waren die besuchtesten von
allen, die er las. i) Diese Wissenschaft war ihm für ihn selbst,
er hielt sie für Andere unentbehrlich. Sie war ihm nicht bloss
das Feld seiner Erholung, seiner wissenschaftlichen Phantasie,
aus welchem er ja gern Vergleichungeu, Anspielungen entnahm:
er brauchte sie zu viel grösserem, er konnte sie nicht entbehren,
da er die Welt und unser Verhältnis zur Welt erkennen wollte.
Er war von der äusseren Grösse der Welt der Erscheinung und
von der inneren Grösse der Weltorduung so ergriffen, dass er
diesen Eindruck in seiner Ganzheit und zugleich in seiner Fülle
bewältigen musste: bewältigen musste aber auch nach der ihm
eigenen ganzen Kraft, also nicht bloss in der äusseren Form,
sondern im innersten Wesen der Erscheinung. Hier kommt eben
Kant als Kant zur Geltung. Es ist wichtig, hier einen Augenblick
stehen zu bleiben.
Was heisst einen Eindruck bewältigen? Jeder Eindruck be-
ruht auf einem Reiz, einer Aktion von aussen; er bringt stets
eine psychophysische Reaktion hervor, die in einer inneren Thätig-
keit und zugleich in einer Kraftwirkuug nach aussen besteht; es
giebt keinen Reiz, der nicht zugleich auch eine solche Aussen-
wirkung hervorriefe, eine Projektion; der Projektionszwang ist
eine der tiefstwurzelnden, bedeutungsvollsten Thatsachen in der
gesamten Entwickelungsgeschichte der Organismen. Die Bewäl-
tigung eines jeden Reizes oder Eindrucks geschieht durch die psycho-
physische Umsetzung desselben in eine mehr weniger feste gedächtnis-
starke Vorstellung der inneren unbewussten Aktion, und zugleich
einer mehr weniger bewussten Aktion, Wirkung nach aussen, der
Projektion. Diese kann sehr verschieden sein: sie kann bestehen
1) K. Fischer 1, 66.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 31
in der Hiiiausverleg'ung' der durch die Empfindungen bewirkten
(einfachen oder komplizierten) Vorstellung; in Tönung, in Hand-
lung (Schlag gegen Schlag), in Wiedervergeltung, Rache, die nur
eine lang zurückgehaltene Projektion summierter Empfindungs-
reize ist. Zunächst werden Eiuzelreize empfunden; die Reaktion
gegen Einzelempfiudungen besteht in der Tönung — Weinen,
Jauchzen, Singen, Schreien u. s. w. Summieren sich die Einzel-
reize zu Vorstellungen von Einzeldingen, so bringen auch diese
Vorstellungen Lautungen hervor, wie die Sprechversuche der heran-
wachsenden Säuglinge beweisen. Nun lebt der Mensch nicht
allein, er ist ein soziales Wesen; es ist leicht nachzuweisen, dass
es auch, unter anfangs möglichst gleich empfindenden und gleich
reagierenden Wesen, durch die Summation der Individuen eine
soziale Projektion der summierten Einzelvorstellungen geben
muss. Das Hauptmittel der sozialen Projektion dieser letzteren
ist der geregelte Ton, die Sprache. So hat die Menschheit
sich die Gesamtwelt mit allen ihren Verhältnissen projizierend
umgeschaffen in ein System von luftigen Klängen, die Sprache,
durch 24 Mundstellungen alles Vorhandene von Dingen und Be-
ziehungen wiedergebend; die wunderbarste Leistung, die ich
kenne.
Handelt es sich hier um eine Summe von Einzelvor-
stellungen, die erst nach und nach zu einem System sich
zusammenschliessen, so gilt es doch auch Totalauffassungen
des gesaraten Weltbildes, die freilich jünger sind. Jeder
Mensch bewältigt psychisch die Welt nach seiner Art durch
eine mehr oder minder scharfe Zusammenfassung alles von
ihm Empfundenen; natürlich nur in einer ihm allein ange-
hörigeu Partialauffassung. Aber er lebt ja nicht allein; er
lebt mit anderen zusammen in einer Sozietät mit gleicher
Umgebung, gleichen Eindrücken, im beständigen Empfindungs-
austausch: so bildet sich aus der Summe der an sich schon
sehr gleichmässigen Partialauffassungen mit Ausmerzung aller
individuellen Abweichungen eine soziale Totalauffassung der Welt.
Diese der Sozietät angehörige Totalauffassung wird dadurch,
dass sie jeder bei jedem vorfindet, dass auch sie von Allen gleich-
massig projiziert wird, eine auch für den Einzelnen um so grössere
Macht, mit um so festerer Vererblichkeit, je einfacher die Vor-
stellungen, je unentwickelter die Vorstellenden sind. In Folge
dieser Festigkeit und Vererblichkeitskraft leben, uns selber
32 G. Gerland,
imbewusst, die Urvorstellimgeu der Naturvölker noch in uns
weiter.
Diese Totalauffassungeu der Welt sind nun, in der Sozietät
und im Individuum, von doppelter Art. Entweder das Aufge-
fasste ist die Hauptsache, völlig- die Auffassenden (Individuum
oder Summe von Individuen) überwältig:end, ja knechtend. Die
Gesamterscheinung- wird, unwillkürlich durch die Empfindung auf-
genommen, zur Gemütsmacht, sie beherrscht ganz das Gemüt in
der Form, welche die unbewussten, durch das Milieu gegebenen
Gemütsbedüiiuisse diesen übermächtigen P^indrücken geben. Der
Weg ist hier von aussen nach innen; die Welt Avird durch diese
Auffassung harmonisiert, d. h. als Ganzes aufgefasst und zugleich
diesen Gemütsbedürfnisseu angepasst, ja untergeordnet. Aber auch
bei dieser von aussen, vom äusseren Schein nach innen, in das
Gemütslebeu dringenden Auffassung tritt, je nach dem Entwicke-
lungszustand der Aufnehmenden, ein Doppeltes ein: zunächst das
völlige Überwältigt-werden durch die Naturübermacht, die ohne Beach-
tung und Souderung der Einzelerscheinungen als ungeheures völlig
übermächtiges Ganzes auf Empfindung und Gemüt wirkt. Hierdurch
entsteht ein religiöses Harmonisieren, eine religiöse Weltauffassuug,
mit völliger Unterordnung des Aufnehmenden (Sozietät wielndividuum)
in Folge der Weltfurcht. Die Projektionsform dieser Totalauffas-
sung ist der anthropomorphische, die Welt durchdringende, im
Himmel lokalisierte Gottesbegriff. Sodann aber, bei weiter fort-
geschrittener Entwickelung, bei welcher neben dem Weltganzen
die Einzeldinge in ihrer Fülle und Uneutbehrlichkeit aufgefasst
werden, aber immer abhängig von jener anthropomorphisch-reli-
giösen Auffassung, erfolgt die Harmonisierung dieser Welt, der
Fülle der nützlichen und schädlichen Kräfte, auf ästhetischem Weg
in Folge der Weltfreude, die künstlerische Weltauffassung; beide
Auffassungen in völliger Naivität die Welt abschliessend als ob-
jektive Einheit. In beiden nimmt der Mensch die Welt passiv
auf, unselbständig; er empfindet sie nur und seine Eeaktion ist
sein Weltbegriff und dessen Projektion.
Völlig verschieden ist die zweite Totalauffassung der Welt
in späteren, entwickelteren Zeiten, in denen die Vorstellungen der
Einzeldinge über die Gesamtvorstellung wohl eher vorherrschen,
letztere wenigstens erst aus jenen resultiert. Diese Weltauffassung
nimmt den umgekehrten Weg von innen nach aussen, ausgehend
von den Bedürfnissen des menschlichen Verstandes und vermittelst
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten, 33
dieser „Spontaneität der Erkenntnis"') die „Gesetze der Natur
und mithin die formale Natur'"'') darstellend. Sie ist die begriff-
lich erklärende, die Erscheinungsform den menschlichen Ver-'
staudesbegriffen und Verstandesbedürfuisseu unterordnend, das
Weltganze aber dem Menschen überordnend, da es nicht
mehr durch einen Gefühlsakt harmonisch zu bewältigen ist.
Sie ist reproduzierend und zugleich grundlegend für die all-
gemeine Weiterentwickelung des Menschengeschlechts. Sie ent-
wickelt sich sehr laugsam und allmählich, giebt auch nie das in
jener ersten sozialen Totalauffassung Errungene ganz auf, die sie
auch nie in allgemeiner Gleichheit und gleicher Allgemeinheit er-
reicht. Sie ist die Gesamtauffassung des Denkers, des Philo-
sophen, die Auffassung, welche Kant immer mehr in sich ausge-
bildet hat. Dass es daneben noch eine dritte Gesamtauffassung
der Welt giebt, die beides im höchsten Sinne vereinigt, sei nur
kurz erwähnt. Das ist die dichterische, die ideale Weltauffassung
der Vernunft, wie sie bei Schiller, Goethe, Shakespeare herrscht.
Auch Kant streift an sie, obwohl ihm freilich die innere, die lo-
gisch-begriffliche, die Hauptauffassuug bleibt. Aber ein genialer
Mensch ist nicht einseitig; so hat auch Kant die künstlerische
Auffassung der Welt, sie zeigt sich bei ihm in der Freude an den
Dingen und den Formen der Welt, in seinen geographischen
Studien. Der intellektuellen Auffassung dagegen angehört die
Kritik der reinen Vernunft, der dichterischen vieles in der Kritik
der Urteilskraft.
Gerade bei der Bewusstseinsenge muss jede Gesamtauffassung
der Weltmasse besonders drückend empfunden werden. Die Welt-
auffassung von aussen nach innen konnte von innen nach aussen
leicht projiziert werden: ihr Gesamteiudruck ging über in den
Gottesbegriff, der seinen Sitz fand in dem stets leuchtenden un-
endlich ausgedehnten Himmel. Anders aber die Weltauffassung
von innen nach aussen, die auf den heterogenen Projektionsmassen
gleich stark entwickelter Nervenfasern beruht, die Weltauffassung
des Denkers, des Philosophen.
Zunächst kann sie, auf ganz andere Weise zu Stande kommend
als jene erste naive, auch das Endergebnis dieser letzteren, jenen alles
1) Kant, Krit. d. r. Vernunft 1781, Ak. Ausg. Bd. 4. S. 50. Die an-
gegebenen Seitenzahlen sind die der Originalausgabe, welche in der
Akademie-Ausgabe als Randzahlen beigegeben sind.
2) Ebenda S. 127.
Kantstudien X, 3
84 Ö. Grerland,
beherrschenden Gottesbeo^riff, nicht annehmen, Kant lehnte ihn ab.
Diese Weltauffassung nach Verstandsbeg-riffen kann sich überhaupt
nur stufenweis vollziehen. Niclit die bunte Summe der Einzel-
dinge, wohl aber die Summe aller Beziehungen lässt sich in eine
Vorstellung zusammenfassen. Das hatte schon Newton gethan,
wenn auch nicht in letzter Vollendung. Was ist die Welt? er ant-
wortet: ein gewaltiger Mechanismus. Diese Antwort nahm Kant auf.
Aber er fragte weiter : was ist dieser Weltmechanismus? eine unge-
heure P^inheit, antwortete Wright und diese neue Hypothese vom
Weltall, die wir gleich kennen lernen wollen, traf Kant wie ein
zündender Blitz. Jetzt konnte er dem von Newton gefassten Be-
griff die noch fehlende Vollendung geben. Wie ist die Welt ge-
worden? mechanisch aus den in ihr zusammengehäuften materiellen
Elementen. Was wissen wir von ihr? gar nichts, was über das
menschlich-Subjektive, d.h. also das Generell-objektive hinausginge;
und so bildete die Naturgeschichte des Himmels und die physi-
kalische Erdbetrachtung, zunächst ganz unbewusst, die natürliche
Vorstufe zur Kritik der reinen Vernunft, so dass sich letztere
auf das engste mit seinen geographischen Studien verbindet. Sie
sind das Aussengewand der ersten Phase seiner philosophischen
Entwickelung.
TTnd dafür spricht noch eins. Kant war sich über den Gang
durch die Welt, den er vor hatte, schon beim Anfang desselben
sehr klar. In seiner ersten Schrift, die er 1746, 22 Jahre alt,
vollendete, in den „Gedanken von der wahren Schätzung der
lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise, deren sich Herr
V. Leibnitz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedient
haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die
Kraft der Körper überhaupt treffen", sagt er die berühmten
Worte:') „ich stehe in der Einbildung, es sei zuweilen nicht un-
nütz, ein gewisses edles Vertrauen in seine eigenen Kräfte zu
setzen. Eine Zuversicht von der Art belebt alle unsere Be-
mühungen und erteilet ihnen einen gewissen Schwung, welcher
der Untersuchung der Wahrheit sehr beförderlich ist.
Wenn man in der Verfassung steht, sich überreden zu können,
dass man seiner Beobachtung noch etwas zutrauen dürfe, und
dass es möglich sei, einen Herrn v. Leibnitz auf Fehlern zu er-
1) Hartenstein 1,1 — 176; Vorrede VII. Ak.-Ausg. I, 1—181. Sper-
rungen im Citat niclit von Kant.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 35
tappen, so wendet man alles an, seine Vermutung- wahr zu
machen. Nachdem man sich nun tausendmal bei einem
Unterfangen verirrt hat, so wird der Gewinnst, der
hierdurch der Erkenntnis der Wahrheit zugewachsen
ist, dennoch viel erheblicher sein, als wenn man nur die
Heerstrasse gehalten hätte.
Hierauf gründe ich mich. Ich habe mir die Bahn
schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde
meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern,
ihn fortzusetzen". Mau kann uumög-lich diese merkwürdigen
Worte auf sein Verhalten gegen Leibniz beziehen, auch nicht auf
seine „Naturgeschichte des Himmels", deren Plan ihm erst durch
Wright's Schrift 1750 aufging. Um so merkwürdiger sind sie.
Er will nicht die Heerstrasse halten. Er will dadurch die Wahr-
heit fördern. Sein Entschluss bewegt ihn selbst sehr, erscheint
ihm selbst sehr wichtig, es ist ein schwerer, kühner Entschluss,
der ihn auf neue unbetretene Bahnen führt: die Worte sind so
wuchtig, dass sie nur auf den ganz neuen Lebensplan der Natur-
studien, der Weltbetrachtung und Welterschliessung, die er plante,
deuten können. Wenn er auch den ganzen Weg erst später er-
kannte: der Plan der Abweisung jener falschen, nur von aussen
kommenden älteren Weltauffassung, der geistigen Bewältigung des
Weltganzen, wie Leibniz, Newton, Varen dasselbe darlegten, von
dem er einzelne Etappen (z. B. die mechanische Weltauffassung)
klar vor sich sah, bewegte ihn, durchdrang ihn ganz; ihm galten
diese Worte.
Die Ausführung dieses Planes wird durch die Reihenfolge
seiner Veröffentlichungen dargelegt, die trotz mancher äusseren
Einwirkungen keine bloss zufällige ist.
Vierte Vorlesung.
Kani's ersie naturwissenschaftliche Arbeiten.
Gleich das Erstlingswerk Kant's, seine „Gedanken von der
wahren Schätzung der lebendigen Kräfte", ist für uns von Be-
deutung, da es uns ja die ersten wohlüberlegten Schritte jener
langen Bahn zeigt, welche Kant zu gehen entschlossen war. Er
will Wesen und Entstehung der Bewegungen in der Natur kennen
lernen, und findet zwei Arten: erstlich diejenige, welche sich,
einmal mitgeteilt, selbst erhält ins Unendliche, im leeren Raum
36 G. Gerland,
in Ewigkeit, die Bewegung, von der Kant eigentlich reden will,
die freie Bewegung, angeregt durch die lebendigen Kräfte; und
zweitens die unfreie Bewegung, durch tote Kräfte mitgeteilt und
mit ihnen aufhörend. -) Letztere entsprechen der mathematischen
Auffassung des Cartesius, erstere der dynamischen (physikalischen)
des Leibniz. Allein nicht bloss die letztere, auch die erstere, die
lebendige Kraft, wird von Leibniz als eine unselbständige aufge-
fasst. „Es ist nämlich zu einer Grundlehre in der Naturlehre ge-
worden, dass keine Bewegung der Natur entstehe, als vermittelst
einer Materie, die auch in wirklicher Bewegung ist ; und dass also
die Bewegung, die in einem Teile der Welt verloren gegangen,
durch nichts anderes, als entweder durch eine andere wirkliche
Bewegung, oder die unmittelbare Hand Gottes könne hergestellt
werden." 2) Die Anhänger dieser Ansicht „müssen eine Hypothese
auf die andere bauen", . . . „anstatt dass sie uns endlich zu einem
solchen Plan des Weltgebäudes führen sollten, der einfach und
begreiflich genug ist, um die zusammengesetzten Erscheinungen
der Natur daraus herzuleiten".^)
So ist aber, behauptet Kant, die Entstehung und Ordnung
eines Weltgebäudes nicht möglich. „Es kommt alles darauf an,
fährt er fort,^) dass ein Körper eine Bewegung ei-halten könne
auch durch die Wirkung einer Materie, welche in Ruhe ist. Hier-
auf gründe ich mich. Die allerersten Bewegungen in diesem
Weltgebäude sind nicht durch die Kraft einer bewegten Materie
hervorgebracht worden; denn sonst würden sie nicht die ersten
sein. Sie sind aber auch nicht durch unmittelbare Gewalt Gottes,
oder irgend einer Intelligenz verursacht worden, so lange es noch
möglich ist, dass sie durch Wirkung einer Materie, welche im
Ruhestande ist, haben entstehen können; denn Gott erspart sich
so viele Wirkungen, als er ohne den Nachteil der Weltmaschine
thun kann, hingegen macht er die Natur so thätig und wirksam,
als es nur möglich ist. Ist nun die Bewegung durch die Kraft
einer an sich toten und unbewegten Materie in die Welt zu aller-
erst hineingebracht worden, so wird sie sich auch durch dieselbe
erhalten und, wo sie eingebüsset hat, wieder herstellen können."
Unter der Kraft der an sich toten Materie ist nur die Anziehungs-
1) Gedanken etc. § 17. § 15. Hartenstein 1, 26 f.
2) Gedanken § 51. Hartenstein 1, 57.
3) Hartenstein 58.
4) Hartenstein 1, 59 f. Gedanken § 51.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 37
kraft Newton's g-emeint; und hieraus ergiebt sich uns die Bedeu-
tung- und Wichtig-keit dieser Vorstudie, ferner aus der Art, wie
die Thätig-keit Gottes in derselben besprochen wird, sowie endlich
aus dem Bestreben, die Entstehung und Ordnung- des Weltgebäudes
einfach und begreiflich zu erklären.
Die Abhandlung ist aber auch deshalb wichtig, weil sie den
jungen Kant ganz auf dem Standpunkt der Leibnizischen Kraft-
lehre zeigt, indem auch er die natürlichen Körper mit selbstän-
diger Kraft begabt, als Kraftcentren auffasst und ihm eine Ant-
wort auf die dunkle Frage: wie kann die Seele auf die Materie
und umgekehrt diese auf jene wirken, von hier aus möglich
scheint.') Die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Welt
bewegt ihn also auch hier; sie ist es, welche ihn an dem Streit
der Philosophen sich beteiligen lässt. Welche Kräfte gelten in
der Welt und wie gelten sie? Die Körper der Natur bringen,
einmal angeregt, die anregende Kraft stets von neuem und ver-
grössert hervor, sie haben eigene Realität: nicht so die bloss
gedachten Körper, die mathematischen. 2) Den Begriff der leben-
digen Kräfte will er nach ihrer Wirklichkeit, wie sie sich in
der Natur vorfinden, auffassen und abschätzen lernen; er will in
ihnen die Welt und die Natur ihrer Kräfte erkennen. Der eigen-
tümliche Gedanke der Vivifikation toter Kräfte, 3) die Möglichkeit
ihres Übergangs in lebende Kräfte, würde allerdings, wenn Kant
ihn mechanisch genommen hätte, so absurd und ungeheuerlich sein,
wie Dühring behauptet;^) allein Kant geht ohne Zweifel von der
Definition beider Kräfte als soUicitatio (vis mortua, vis elemen-
taris) und als impetus (vis viva, ordinaria) aus, welche Leibniz
giebt;5) und diese Auffassung, wie sie Kant z. B. in § 124 dar-
legt, kann sehr wohl auf das Seelenleben angewendet werden.
Im § 124 heisst es unter 2), „dass der Körper diese Kraft nicht
von der äusserlichen Ursache her habe, die ihn in Bewegung ge-
setzt, sondern dass sie nach der äusserlichen Anreizung" (soUici-
tatio!) „aus der inneren Naturkraft des Körpers selbst entspringe".
Und wenn wir § 124 unter 1 lesen, dass der sich frei bewegende
Körper den Grund in sich enthalten muss, „in einem nicht wider-
1) Gedanken § 5. § 115.
2) Ebendas.
3) Ebendas. § 123.
*) Geschichte der Prinzipien der Mechanik S. 389.
5) Vgl. Lasswitz, Ak. Ausg. 1, 523.
38 G. Gerland,
steheuden Raum seine Bewegung gleichförmig, frei und immer-
während zu erhalten", so ist damit ein wichtiger Satz für die
Erkenntnis der Bewegungen im Weltall gewonnen.
Andere Vorstudien Kaufs über Wesen und Verhalten der
Materie seien hier, trotz ihres grossen Interesses, nur genannt:
die Meditationen über die Natur des Feuers (1755), die Habili-
tationsschrift: neue Darlegung der Grundprinzipien der metaphy-
sischen Erkenntnis (1755), die physische Monadologie (Metaphysi-
cae cum geometria junctae usus in philosophia naturali 1756),
welche mit der Erstliugsarbeit Kaut's und ebenso mit der Natur-
geschichte des Himmels in nahem Zusammenhang steht, sowie
endlich der „neue Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe und der
damit verknüpften Folgerungen in den ersten Gründen der Natur-
wissenschaft", i) mit welcher Kant seine Vorlesungen für den
Sommer 1758 ankündigte. Ich verweise für sie, abgesehen von
den Ausgaben, auf Kuno Fischer und namentlich auf die scharf-
sinnige Darlegung ihres Inhalts durch Windelband. 2) Schon da-
mals fasste Kant den Raum nicht wie Newton als etwas Absolutes,
sondern, wie Leibniz, als etwas Relatives auf. ^)
Dagegen sind einige direkt geographische Abhandlungen et-
was ausführlicher zu besprechen. Zunächst die „Untersuchung
der Frage, ob die Erde in ihrer Umdrehung um die Achse, wo-
durch sie die Abwechselung des Tages und der Nacht hervorbringt,
einige Veränderungen seit den ersten Zeiten ihres Ursprungs er-
litten habe, und woraus mau sich ihrer versichern könne? welche
von der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Preise für das
jetzt laufende Jahr aufgegeben worden" (1754). Kant hat seine
Abhandlung, die in den „Königsberger Frage- und Anzeigungs-
nachrichten" erschien, nicht zur Preisbewerbung eingesandt, weil
er „nur die physikalische Seite des Vorwurfs" erwogen und ein-
gesehen habe, dass derselbe „seiner Natur nach auf dieser Seite
unfähig" sei, zu demjenigen Grad der Vollkommenheit gebracht
zu werden, welche eine Arbeit, um den Preis zu erringen,
haben muss.^) Und hierin ist Kant nur beizustimmen. So richtig
und beachtenswert der Gedanke war, den er zuerst aussprach,
dass „die beständige Bewegung des Oceans von Morgen gegen
1) Hartenstein 2, 15 f.
2) Geschichte der neueren Philosophie 2, 18 f.
3) Ebend. 19. K. Fischer 1, 141 f.
*) Hartenstein 1, 181.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 39
Abend der Achsendrehimg- der Erde entg-egeugesetzt" in Folge
des Anschlageus au die Ostküsten, in Folge der Reibimg am
Meeresgründe eine verzögernde Wirknng auf die Umdrehung der
Erde ausüben müsse, welche fortwährend weitergehend endlich die
Erde zum Stillstand bringen werde: so wenig genügt doch seine
x\usführung. Die ungefähre Berechnung der Wasserkraft ist nicht
sehr überzeugend, die eigentlich mathematische Behandlung ist bei
Seite gelassen ; das ganze ist mehr für ein allgemeines, denkendes
Publikum ausgesprochen, als für den Kreis der Gelehrten, der
Forscher. So ist die wenig umfangreiche Arbeit, die noch
dazu in einem unbekannten Lokalblatt erschien, von der da-
maligen Wissenschaft begreiflicher Weise nicht beachtet worden,
auch nicht ihr Schluss, die schöne Darlegung der Entstehung und
allmählichen Verlangsanuing des Mondes bis zu der Art seines
heutigen Umlaufs ; die Berliner Akademie hat die Beantwortung
der Preisfrage durch den Pisaner Professor, den Abbe Paul Frisi,
welcher Veränderungen in der Umdrehungszeit verneinte, 1756
mit dem Preis gekrönt. Frisi reichte eine im gleichen Sinn ge-
schriebene Arbeit bei einer Preisbewerbung in Petersburg 1783
ein, ebenso der Leidener Professor Joh. Friedr. Hennert, dessen
Arbeit die des Frisi bei weitem übertrifft. Beide erhielten den
Preis, aber keiner erwähnt Kant, offenbar, weil sie seine Arbeit
nicht kannten. Erst die spätere Kantforschung hat sie wieder in
das Leben gerufen. Und doch enthielt sie Gedanken, wie sie nur
eine geniale Anschauung zu geben vermag; Gedanken aber,
mit denen sich ihr Urheber einmal eingehend beschäftigt, dann
aber, als er von ihnen überzeugt war, sich ein für allemal mit
ihnen abgefunden hatte, ohne sie wissenschaftlich streng zu be-
weisen. Schon bei Varen wird eine westöstliche Bewegung der
Oceanischeu Gewässer erwähnt») und zu ihrer Erklärung die
Winde oder die Gezeiten herbeigezogen. Büffon^) spricht be-
sonders lebhaft von diesem ostwestlichen Strom und seiner mäch-
tigen Wirkung an den Westküsten der Meere ; er schreibt ihn
ganz auf Rechnung der Gezeiten. Kant studierte Büffon eifrig;
die Lektüre der betreffenden Kapitel und die Frage der Aka-
demie mussten in ihm jene Auffassung und Antwort auslösen,
die er mehr sich als Anderen gab. Später in einer Notiz aus
1) Geogr. natur. XIV, VII.
2) Histoire natur. I, Art. XU.
40 G. Gerland,
dem Nachlass, die Schubert ') der Handschrift nach zwischen
1780—1790 niedergeschrieben glaubt, nahm Kant an, dass die
Erde durch Verdichtung, sei es in Folge des Aneinanderrückens
ihrer Teile, sei es durch centrales Absinken schwererer Massen,
im Durchmesser etwas abnehme. Ich kann darin keinen Wider-
spruch gegen die Annahme der Verlangsamung durch die Gezeiten-
reibung sehen, wie Schöne 2) ihn behauptet, denn beides verträgt
sich recht wohl mit einander. Auch glaube ich nicht, dass Kant
früher ein „überzeugter Neptunist" war und später ein Plutonist
geworden sei. Solche Stellungnahmen lagen dem Philosophen
Kant, der in der Geographie keineswegs selbständig war, sehr
fern. Die Annahme einer Beschleunigung der Achsendrehung ging
(nach Kant, Hart. 8, 439) von Euler aus; ihre Erklärung durch
Verdichtung, also durch Zusammenziehung der Erde, gehört wohl
Kant an.
Dies bew^eist die zweite, ebenfalls 1754 in einigen spä-
teren Nummern der Königsberger Frag- und Anzeigenachrichten
erschienene Abhandlung, „die Frage, ob die Erde veralte, physi-
kalisch erwogen", die zwar kein so bedeutendes Resultat bringt,
wie die erste, aber zur Charakteristik der Kantischen Forschung
besonders wichtig ist. Die Erde, heisst es, 3) war, als sie sich
aus dem Chaos erhob, unfehlbar in flüssigem Zustande, mit all-
mählicher sich härtender Oberfläche; unter ihr schuf das „unter-
mengte" „elastische Luftelement" des Innern „weite Höhlen",
deren Einsturz das feste Land, die Gebirge, den Meeresgrund
hervorbrachten. Zum Schluss sagt Kant; 4) „in dem Inw^endigen
der Erde scheint selber das Reich des Vulcans und ein grosser
Vorrat entzündeter und feuriger Materie verborgen zu sein, welche
unter der obersten Rinde vielleicht immer mehr und mehr über-
hand nimmt, die Feuerschätze häuft, und an der Gruudfcste der
obersten Gewölbe nagt, deren etwa verhängter Einsturz das
flammende Element über die Oberfläche führen und ihren Unter-
gang im Feuer verursachen könnte".
Hervorzuheben sind die Worte, mit welchem die Abhandlung
nach kurzer Einleitung beginnt i'^) „wir haben keine Merkmale in
1) Rosenkr. und Schubert 6, 782 f. Hartenst. 8, 436 f.
2) Dr. G. H. Schöne, die SteUung I. Kant's innerhalb der geograph.
Wissenschaft. Altpreuss. Monatsschr. 33 (1897) S. 262 f.
3) Hartenstein 1, 192.
4) Ebend. 1, 206. ^) Ebend. 189 f.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 41
der Offenbarung-, woraus wir abnehmen können, ob die Erde
anjetzt jung oder alt, als in der Blüte ihrer Vollkommenheit oder
in dem Verfall ihrer Kräfte begriffen, könne angesehen werden.
Sie hat uns zwar die Zeit ihrer Ausbildung und den Zeitpunkt
ihrer Kindheit entdeckt, aber wir wissen nicht, welchem von den
beiden Endpunkten ihrer Dauer, dem Punkte ihres Anfanges oder
Unterganges, sie anjetzt näher sei. Es scheint in der That ein der
Untersuchung würdiger Vorwurf zu sein, zu bestimmen, ob die
Erde veralte und sich durch eine allmähliche Abnahme ihrer
Kräfte dem Untergang nähere, ob sie jetzt in der Periode ihres
abnehmenden Alters, oder ob ihre Verfassung annoch im Wohl-
stande sei, oder wohl gar die Vollkommenheit, zu der sie sich
entwickeln soll, noch nicht erreicht, und sie also ihre Kindheit
vielleicht noch nicht überschritten habe?" Den Begriff des Ver-
altens bestimmt Kant dahin, dass das Veralten eines Wesens in
dem Ablauf seiner Veränderungen ohne äussere und gewaltsame
Ursachen eintrete. „Ebendieselben Ursachen, durch welche ein
Ding zur Vollkommenheit gelangt und darin erhalten wird, bringen
es durch unmerkliche Stufen der Veränderungen seinem Untergang
wieder nahe . . . Alle Naturdinge sind diesem Gesetze unter-
worfen, dass derselbe Mechanismus, der im Anfange an ihrer
Vollkommenheit arbeitete, ... sie dem Verderben mit unmerk-
lichen Schritten endlich überliefere." So Pflanzen, Tiere, der
Mensch; so auch die Erde. Doch wird die letztere nicht in allen
ihren Teilen gleichmässig von dem Verfall betroffen. Einige
Teile sind jung und frisch, andere roh und nur halb gebildet.
Die höchsten Teile der Erde sind die ältesten; sie nähern sich
dem Verderben zunächst; die Menschen sind in die tieferen, jetzt
blühenden Gegenden gezogen, die früher noch Moräste und Meer-
busen waren. Das Wasser zog sich zurück und nur die Flüsse
blieben. Ihre Bildung und Thätigkeit, die Uferbildung u. s. w.
setzt Kant dann sehr klar und auch für heute noch völlig brauch-
bar in kurzer Übersicht auseinander, die klarer und besser ist,
als das, was die Supplemente aus dem Nachlass^) enthalten. Vier
Gründe werden für das Veralten der Erde angeführt: 1. die Ab-
nahme des Salzes auf den Festländern durch Einschwemmung des-
selben in das Meer; 2. die zunehmende Ausfüllung der Meere
durch eingeführten Schlamm und dadurch bewirkte Überflutung
1) Hart. 8, 440—444. Schubert 6, 787—94. Vgl. Schöne S. 271.
42 G. Gerland,
des Festlandf^s; 8. Austrocknen der Meere, Verzehrimg des flüs-
sig-eu Elements durch eine Art der Transformation in einen festen
Zustand; 4. Verbrauch eines gewissen allgemeinen Weltgeistes,
einer allgemein wirksamen Kraft des Lebens in der Natur, der bei
allen Zeugungen und der Ökonomie aller drei Naturreiche ge-
schäftig ist. Gemeint ist der Sauerstoff: und Kant denkt daran,
ob nicht die im Vergleich zum Altertum grössere Kaltsinnigkeit
der modernen Zeiten auf diesem Verbrauch beruhe. Die 3 ersten
Gründe lehnt er ab, obwohl er die Möglichkeit zugiebt, dass
durch die beständige Nivellierung und Durchweichung des Erd-
reiches seitens der Niederschläge die Bewohnbarkeit der Erde
nach und nach vernichtet werden könne: gerade deshalb aber, so
schliesst er diese Betrachtung, wird dies vielleicht niemals er-
reicht, „weil die Offenbarung der Erde ein plötzliches Schicksal
vorher verkündigt"', welches ihr zu einem natürlichen Tod „nicht
Zeit lassen soll." Auch den vierten Grund bezweifelt er in Folge
der sozialen Eutwickelung der Völker. Aber er betont, „dass die
Vollendung des Veraltens der Erde, ob sie gleich in langen Zeiten
kaum merklich werden kann, dennoch ein gegründeter und
wissenswürdiger Vorwurf der philosophischen Betrachtung sei".i)
Und so hat er die Frage „nicht entscheidend, sondern prüfend,
wie es die Beschaffenheit des Vorwurfs selber mit sich bringt,
abgehandelt" und „den Begriff richtiger zu bestimmen gesucht,
den man sich von dieser Veränderung zu machen hat". 2)
In der philosophischen Bedeutung, welche Kaut dieser Unter-
suchung beilegt, liegt für uns die hauptsächliche Bedeutung dieser
Schrift, die zugleich Kaut's Gasamtauffassung der Erde darlegt, wäh-
rend sie sonst auch für die damalige Zeit nichts eigentlich neues,
wissenswertes bringt. Die Erde als Ganzes, die Gesaratbeschaffenheit,
die Gesamtthätigkeit derselben, die grossen Veränderungen, welche
sich in Folge ihrer Gesamtnatur an ihr vollziehen; das sind die
Fragen, die Kant beschäftigen und alle Einzelnheiten, so richtig
und neu er auch einige behandelt, interessieren ihn nur durch
ihren Zusammenhang mit dem Gesamtleben des Planeten.
So auch die an die Berliner Preisfrage sich anschliessende
Untersuchung über die Veränderung der Achsendrehung der Erde.
Kant war, als er beide Abhandlungen schrieb, im Begriff, seine
1) H. 1, 204.
2) S. 206.
Immanuel Kant, seine geograph. nnd anthropolog. Arbeiten. 43
Natiu'geschichte und Theorie des Himmels abzuschliessen. Man
begreift aus der ganzen Art der Fragestellung und Behandlung,
warum er diese kleineren Abhandlungen gerade damals unter-
nahm: es sind Vorstudien für die kosmologischen Betrachtungen,
die ihn beschäftigten. Dies spricht er am Schluss der Abhandlung
über die Achsendrehuug auf das klarste aus : *) „Man kann die
letztere Beuierkung-' (dass der Mond ein späterer Himmelskörper
sei, der schon verfesteten Erde beigegeben, die er, wenn sie noch
flüssig gewesen wäre, seinerseits zu langsamerer Umdrehung ge-
zwungen haben würde) „als eine Probe der Naturgeschichte des
Himmels ansehen, in welcher der erste Zustand der Natur, die
Erzeugung der Weltkörper und die Ursachen ihrer systematischen
Beziehungen, aus den Merkmaleu, die die Verhältnisse des Welt-
baues an sich zeigen, mussten bestimmt werden. Diese Be-
trachtung, die dasjenige im Grossen oder vielmehr im
Unendlichen ist, was die Historie der Erde im Kleinen
enthält, kann in solcher weiten Ausdehnung ebenso
zuverlässig begriffen werden, als man sie in Ansehung
unserer 'Erdkugel in unseren Tagen zu entwerfen be-
müht geweseu.2) Ich habe diesem Vorwurf eine lange Reihe
Betrachtungen gewidmet und sie in ein System verbunden,
welches unter dem Titel : Kosmogonie, oder Versuch, den Ursprung
des Weltgebäudes, die Bildung der Himmelskörper und die Ur-
sachen ihrer Bewegung, aus den allgemeinen Bewegungsgesetzen
der Materie, die Theorie des Newton gemäss herzuleiten, in
kurzem öffentlich erscheinen wird." [Fortsetzung folgt.]
1) Hartenstein 1, 186.
2) Sperrung nicht im Original.
Der Gegenstand der Wahrnehmung.
Von Franz Staudinger.
In Bd. VIII Heft 2/3 der Kantstudien (S. 321—335) hat
A. Messer in Giessen meine im ersten Hefte (S. 21) enthaltene
Behauptung bestritten, dass Kant die psycholog-ische mit der kri-
tischen Betrachtungsweise vermenge. Worauf der Fehler Kants
beruht, das glaubte ich trotz aller Kürze doch deuthch dargethan
zu haben. Messers Entgegnung aber zeigt mir, dass dem nicht
so gewesen sein muss. Denn ich werde au einem Punkte ange-
griffen, den ich gar nicht in die Diskussion gezogen habe und
mit Gründen, die zum Teil gerade das enthalten, was ich be-
streite, die mir gegenüber also ihrerseits zu erweisen wären, aber
nichts beweisen können. So muss ich denn versuchen, den Stein
nochmals aufwärts zu wälzen, hoffentlich diesmal mit besserem
Erfolge. Es geschehe die neue Erörterung zunächst in An-
knüpfung an solche Sätze von Messer, an denen diejenigen Unter-
scheidungen, auf die ich Wert lege, am leichtesten zu ent-
wickeln sind.
Auf S. 321 sagt Messer, „zwischen Wahrnehmung') und
Gegenstand" werde in gewöhnlicher Auffassung nicht unter-
schieden. Komme etwa infolge einer Sinnestäuschung oder eines
Irrtums „die Thatsache der Wahrnehmung und der Erkenntnis"
als solche zum Bewusstseiu, so werde „ohne weiteres vorausge-
setzt", dass „in der Erkenntnis, der richtigen wenigstens, die
Aussenwelt so aufgefasst wird, wie sie an sich ist".
In diesen Sätzen müssen wir zunächst den einen Gedanken her-
vorheben und festhalten: Dann, wenn wir uns eines Irrtums be-
1) Ich bemerke, was schon in meiner Kritik Cohens, VIII, H. 1, betont
wurde, dass ich unter Wahrnehmung nicht die einzelne sinnliche Anschau-
ung, sondern die Gesamtheit dessen verstehe, was dem natürlichen Be-
wusstseiu den Gegenstand als wahr bestimmt. (Wahr-Nehmung.)
Der Gegenstand der Wahrnehmung. 45
wusst werden, kommt die Thatsache der Wahrnehmung und der
Erkenntnis als solcher zum Bewusstsein. Es wird somit ganz in-
stinktiv zwischen Gegenstand und Vorstelhing unterschieden.
Lassen wir einmal zunächst die folgende Behauptung Messers un-
angefochten und nehmen wir an, in der für richtig gehaltenen
Erkenntnis fasse das naive Bewusstsein die Aussenwelt so auf,
wie sie an sich ist. Dann unterscheidet doch ebendies Bewusst-
sein in dem Momente, wo es einen Irrtum konstatiert, zwischen
solchen Inhalten, die es richtigerweise, und solchen, die es fälsch-
licherweise auf einen bestimmten Gegenstand bezogen hat. Indem
er dies thut, verändert es aber instinktiv den Gesichts-
punkt der Betrachtung. Es bezieht nicht mehr unmittel-
bar auf den Gegenstand, sondern reflektiert auf diese Be-
ziehung als auf seine eigene Bewusstseinsthätigkeit. Noch
deutlicher tritt dies hervor im Augenblicke des Zweifels; wenn
ich z. B. schwanke, ob ein heller Streif am Berge da drüben
Schnee oder eine GeröUehalde bedeutet. Da treten die beiden
Beziehungsarten auf den Gegenstand reihum hervor. Jeder der
psychischen Inhalte versucht sich an den Gegenstand anzu-
knüpfen. Eeflexion in Bezug auf den Gegenstand und Reflexion
inbezug auf die Psj'che gehen da hin und her. Und sobald die
Sache durch irgend ein Merkmal entschieden ist, so wird sofort
der eine der beiden Gedanken fest auf den Gegenstand bezogen,
der andere — als „falsche Vorstellung" — in die Psj'che reflek-
tiert. Wir achten jetzt nicht mehr darauf, dass wir eben noch
versucht hatten, sie auf den Gegenstand zu beziehen und ebenso
achten wir betreffs der Vorstellung, die wir jetzt auf den Gegen-
stand beziehen, nicht mehr darauf, dass wir diese Beziehung eben
erst in Zweifel gestellt, und gefragt hatten, ob nicht eine gegen-
standlose Vorstellung vorliege. So beweist gerade die Beobach-
tung des Irrtums und des Zweifels, dass auch das naive Bewusst-
sein beide Beziehungsarten durchaus zu unterscheiden weiss. Es
unterscheidet sie durch die That, indem es die Vorstellung so
oder so bezieht. Eine Reflexion über diese That übt es freilich
nicht so ohne weiteres. Es liegt aber zweifellos eine zwiefache
Gegenstandsbeziehung zu Grunde, die auf den Wahrnehmungs-
gegenstand und die auf die Psyche, wie wir diesen Gegenstand
späterhin nennen.
Nach dieser Feststellung aber müssen wir auch den vorhin
vorläufig zugegebenen Gedanken Messers anzweifeln, dass das
46 F. Staudinger,
naive Bewusstsein die farbige und tönende Welt der Wahrnehniung'
als die Welt „wie sie au sich ist", auffasse und glaube, es bilde
sie einfach in sich ab. — So ist es keineswegs. Wir müssen hier
weiter unterscheiden zwischen der uatüilichen Wahrnehmung und
der naiven Reflexion über diese Wahrnehmung. In bezug auf
letztere mag Messer-s Satz oft zutreffen. Eine genauere Betrachtung
der wirklichen Wahrnehmung z. B. der „farbigen und tönenden"
Glocke selbst aber zeigt, das solche Reflexion eine Selbst-
täuschung ist.
Die Gesamt- Wahrnehmung als solche unterscheidet nämlich
ganz unmittelbar und ganz instinktiv zwischen dem, was die
Sinnesempfindung giebt, und dem, was dem „Ding an sich" zu-
gewiesen wird. Das ergiebt sich deutlich schon daraus, dass sie
Töne, Tastempfindungen etc. von vorn herein nicht als Bestand-
teile, sondern als Wirkungen des Dinges auffasst. Bei den Ge-
sichtsempfiudungen scheint freilich bei oberflächlicher Betrachtung
die Farbe, die Helligkeit am Dinge selbst zu haften. Aber man
beachte nur Folgendes: Die Wahrnehmung erklärt die Glocke, die
im Sonnenschein glänzt, die bei wolkigem Himmel schwarz her-
unterleuchtet, die in der Dämmerung kaum die Umrisse erkennen
lässt, die dann ganz unsichtbar wird und am Morgen wieder
sichtbar ist —, für dieselbe Glocke. Sie abstrahiert also ganz
instinktiv von den Farben als von Modifikationen, die nur unter
bestimmten Bedingungen auftreten. Der Komplex von Grössen-
beziehuugen allein, das ist schon für die Wahrnehmung „die
Glocke", w'ie sie es auch für das wissenschaftliche Bewusstsein
ist. Von den Anschauungen bezw. Empfindungen wird ganz in-
stinktiv und unmittelbar in der Wahrnehmung das losgelöst, was
blosses Kennzeichen ist, bezw^ was bloss macht, dass wir ein
Ding wahrnehmen, das uns sonst verborgen bliebe. Dass dagegen
die Glocke an dem bestimmten Ort, von der bestimmten Grösse
ist, dauernd da oben hängt, das erklärt die Wahrnehmung un-
mittelbar für Bestimmungen, die der Glocke an sich zukommen,
auch wenn sie, wie bei Nacht, gar nicht wahrgenommen wird, ja
wenn sie überhaupt nicht wahrgenommen würde.
In der Sprache sagen wir freilich ebensowohl die Glocke
„ist" schwarz, glänzend, wie wir sagen die Glocke „ist" so und
so gross, so und so schwer. Die Sprache drückt nicht die Wahr-
nehmung als solche, sondern schon Reflexionen über die Wahr-
nehmung aus, die uns mit ihr verschmelzen und erst wieder durch
Der Cregenstand der Wahrnehmung. 47
sorgsame Analyse g-esondert werden müssen. Bei genannter ganz
einfacher Analyse aber tritt die wirkliche Aussage der Wahr-
nehmung auf das deutlichste hervor. Es tritt daher auch eben-
sodeutlich hervor, dass die Empfindungen als Wirkungen, als Be-
ziehungen der Gegenstände zu . . . — ja zu was? . . . aufgefasst
werden. In der Wahrnehmung offenbar zu nichts anderem als zu
dem ebenfalls im Raum wahrgeuommenen Selbst, dem empi-
rischen Ich. Was in diesem als Bewusstsein zu unterscheiden ist,
das sagt die Wahrnehmung selbst nicht. Diese Reflexion eröffnet
uns, wie Messer richtig gesagt hat, der Irrtum, oder wie oben
erörtert, schon der Zweifel, nicht aber die Wahrnehmung.
Wir haben also dreierlei zu unterscheiden: 1. die natürliche
Wahrnehmung in ihrer unmittelbaren Beziehung auf ihren Gegen-
stand, auf die in ihr als an sich bestehend vorgestellte Natur, 2. die
Wahrnehmung für sich als Gegenstand genommen, 3. die Wahr-
nehmung als Bewusstseinsfaktor, d. h. in ihrer Beziehung zum
Ich. — Diese drei Arten der Gegeustandsbeziehung, die sich im
Akte des Wahrnehmens fortwährend verbinden und ablösen, sind
in der Reflexion darüber auf das schärfste auseinanderzuhalten.
Das ist der analytische Sachverhalt, der uns zunächst vor-
liegt, den wir weiter verfolgen müssen, ehe wir uns an so weit-
ausgreifende Fragen wagen, auf welchem „Grunde" diese Be-
ziehungen alle „ruhen". Ehe wir an Nebenreflexionen über die
Beziehungen herantreten, müssen wir die Beziehungen selbst
einmal sondern und feststellen. Hier liegt freilich die eigentliche
Schwierigkeit. Während wir in der thatsächlichen Wahrnehmung
jene Unterscheidungen und Beziehungen instinktiv vornehmen,
schweift bei der reflektierenden Betrachtung der Blick leicht ein-
mal ordnungslos auf den Inhalt der Wahrnehmung als solcher,
einmal auf eine Seite von ihr, einmal darauf, dass Wahrnehmen
eine Handlung des Bewusstseins ist etc. Das heisst aber: Der
„Gegenstand" der Betrachtung selbst wird verändert.
Während in der aktiven Wahrnehmung „der Berg", „das Haus" etc.
Gegenstand ist, wird sod*inn die Wahrnehmung des Berges, des
Hauses ihrerseits zum Gegenstand neuer Betrachtung, oder es wird
gar das Bewusstsein selbst der Gegenstand, auf den die Wahrnehmung
bezogen wird. Indem der Blick so von einem Gesichtspunkt auf
den anderen herüberspringt, womöglich noch an allerlei Zwischen-
beziehungen haften bleibt, gerät gerade das, worauf alles an-
kommt, der „Gegenstand", in Verwirrung. Der Gegenstand der
48 F. Staudinger,
einen Betrachtungsart wird mit dem der anderen Betraclitungsart
vermengt, und es werden daraus allerlei voreilige Schlüsse ge-
zogen.
Es ist vielleicht, damit das folg;ende leichter erfasst werde,
gut, da gleich einige Proben zu geben. Wenn wir den Gegenstand
aktiv wahrnehmen, so sondern sich, wie gezeigt, die in verschie-
denen Momenten auftauchenden, verschwindenden, ja wechselnden
Empfindungen unmittelbar von den Bestimmungen des Gegen-
standes als solchen ab. Wenn wir uns nun aber reflektierend
etwa eine Einzelanschauung, d. i. eine Teilwahrnehmung selbst
zum Gegenstande machen, so merken wir von jenem Thatbestande
nichts. Von dieser Einzelbetrachtung aus scheinen die Empfin-
dungen und die Raumzeitbestimmungen in ein ununterscheidbares
Ganzes zusammenzufliessen. Und — auch der Gegenstand, auf
den die aktive Wahrnehmung ohne weiteres als auf etwas von ihr
Verschiedenes, als auf etwas Unabhängiges bezieht, tritt bei dieser
reflektierenden Betrachtung weit ab, bezw. er wird Ei'inneruug an
ein Etwas, das die Anschauung bezw. Empfindung hervorgerufen
hatte. Erst dadurch, dass wir die Gesamtwahruehmung scharf ins
Auge fassen, verschwindet dieser Schein wieder und der richtige
Sachverhalt kommt zum Bewusstsein.
Wenn wir ferner derart reflektieren, dass wir die Wahr-
nehmung oder gar den gesamten Wahrnehmungszusammenhang
als Bewusstseinsfaktor ins Auge fassen, also zum Bewusst-
sein, der Psyche, dem Ich oder wie man es nennen will, in Be-
ziehung setzen, so erscheint er als ein wundersamer, in sich
geschlossener Zusammenhang, als eine Einheit der Apperception,
in der der Gegenstand nunmehr weiter gar nichts ist, als der
Einheitsgedanke. Der Zusammenhang des Einzeldings wie der
Zusammenhang des Ganzen ist hier der Gegenstand selbst. —
Wir müssen uns, um die Täuschung aufzuheben, wieder an die
aktive Wahrnehmung zurückerinnern. Sonst wird uns von hier
aus unrettbar die ursprüngliche Beziehungsrichtung verdunkelt.
Die letzte Beziehungsrichtung ist nun aber gerade diejenige,
von welcher Kant ausgeht. Auf sie kommt er stets wieder als
auf die Gruudbeziehung zurück. Gerade diesen Gesichtspunkt
spricht er als den „transscendentalen" heilig. Und in der That,
er hätte kein passenderes Wort wählen können. Denn während
die wirkliche Wahrnehmung schlankweg die transscendente
Behauptung aufstellt, ihre Bestimmungen hätten für einen Gegen-
Der Gegenstand der Wahrnehmung. 49
stand Geltung, der gänzlich unabhängig von ihr besteht, so
sagt jener Gesichtspunkt, sie bezeichneten wohl ein Objekt, aber
dieses Objekt sei doch nur Einheit in der Erscheinung.
Dieser Anschauung habe ich in meinem früheren Aufsatz das
Urteil der Wahrnehmung gegenübei'gestellt und das Recht des
Wahrnehmungsurteils verteidigt, indem ich dessen Unerlässlichkeit
zeigte. Hier ist also anzusetzen, wenn man widerlegen will. Es
muss bewiesen werden, dass der sog. transscendeutale Gesichts-
punkt richtig und leistungsfähig, der trausscendeute Gesichtspunkt
der Wahrnehmung irrig und leistungsunfähig ist. Aber dieser Be-
weis darf nicht von vorn herein aus dem bestrittenen Standpunkte
heraus und mit dessen Argumenten geführt werden. Denn dann
nimmt man ja schon als erwiesen an, was zu erweisen ist.
In letzterer Weise aber argumentiert Messer gegen mich.
Schon auf S. 322, also noch fast im Anfang seiner Erörterung
stehend, redet er von der Beziehung des Gegenstandes zu uns.
„Diejenigen Momente, so sagt er, die den Gegenstand selbst kon-
stituieren, sind uns nicht durch die Dinge an sich unmittelbar ge-
geben." Man könnte da freilich gleich sagen : Nun, wenn nicht
unmittelbar, so doch vielleicht mittelbar. Aber wir sind ja hier
noch gar nicht an der Beziehung eines Dinges an sich zum Be-
wusstsein. Wir sind noch lange, lange nicht an die von Messer
hier schon vorgelegte „Kantische Problemstellung", nicht „an die
schwierige Frage" gelangt: „Auf welchem Grund beruht die
Beziehung unserer Vorstellungen auf den Gegenstand?" Eine
solche Frage habe ich in der Kritik Cohens gar nicht mehr er-
örtert, bloss von ferne angedeutet. Denn sie ist die aller-aller-
letzte Frage, an die wir erst dann herantreten können, wenn der
Thatbestand selber gänzlich klargelegt ist. In einem Aufsatz
über den „Streit um das Ding an sich" etc. (KSt. IV, 164 f.)
hatte ich selbst etwas voreilig diese Frage angeschnitten
und habe nur den Erfolg gehabt, dass niemand wusste, was ich
eigentlich wollte. Das musste zur Vorsicht mahnen. Es muss
daher, ehe die genannte Frage auch nur augetupft wird, erst ein-
mal klar gestellt sein, was Beziehung der Vorstellung auf den
Gegenstand besagt, was insbesondere diejenige Vorstellungsbe-
ziehung, die wir Wahrnehmung nennen, thatsächlich enthält.
Die Frage, was von den Gegenstandsbestimmungen der Wahr-
nehmung im Geiste geschaffen sein mag und was nicht, hat darum
zunächst ganz wegzubleiben.
Kantstvdien X. A
50 F. Staudinger,
Messer seinerseits stellt dageg-en ohne weiteres — frei-
lich auch im Anschluss an Kant — die Behauptung auf, „dass
die Welt von räumlicli-zeitlichcMi Dingen und Vorgängen als
Gegenstand für uns erst im Geiste geschaffen wird". Das ist
aber eine mehrdeutige Behauptung. Man muss sie vielleicht in
einer Hinsicht gelten lassen: darin, dass die Wahrnehmungs eie-
rn ente erst im Geiste geordnet werden; man hat sie aber viel-
leicht in einer anderen Beziehung sehr lebhaft zu bestreiten, darin
nämlich, dass, wie Kant meint, durch die P^mpfindungeu bloss an-
geregt, Raum, Zeit, Kategorien gleichsam vermöge einer Epigene-
sis vom Geiste geschaffen werden. Auf alle Fälle aber gehört
die Erörterung, oder gar die Entscheidung dieser Frage noch
lange nicht hierher.
So, wie sie nur allzurasch bei Kant entschieden wird, ruht
sie auf den oft wiederholten Sätzen : Wir haben doch nichts als
unsere eigenen Bestimmungen, unsere Vorstellungen. Diese ge-
statten uns nicht, aus uns herauszulaugen. Also ist es ganz
ausser unserer Erkenntnissphäre, von Dingen an sich etwas aus-
sagen zu wollen. -- Wir sehen hier deutlich, dass Kant einfach die
faktische Aussage der Wahrnehmung für nichts erachtet und sich
einseitig und voreilig an die Beziehung der Wahrnehmung zum
bewussten Ich heftet. Wenn das keine Vermengung des psycho-
logischen Gesichtspunkts mit der kritisch alle Gesichtspunkte unter-
scheidenden und in gleicher Weise prüfenden Betrachtung ist, so
muss ich allerdings blind sein.
Demgegenüber aber ist zu sagen : Mit dem aus einem
einzelnen Gesichtspunkte erst reflektiert herausgeholten Ar-
gumente kann mau die völlig entgegengesetzte direkte Aussage,
die von einem anderen Gesichtspunkte aus stattfindet, nicht so
ohne weiteres widerlegen. Wenn, um das an einer Analogie zu
zeigen, die Sinueswahrnehmung die Sonne um die Erde gehen
lässt und die Kopernikanische Anschauung die Erde um die Sonne
führt, so stehen sich da zunächst zwei Gesichtspunkte gegenüber.
Welcher richtig ist, ist nicht dadurch zu entscheiden, dass man
sofort für einen von beiden Partei ergreift, sondern nur dadurch,
dass einer von beiden, oder in anderen Fällen ein dritter, die
sämtlichen widerstreitenden Aussagen aufklärt. Wenn wir nicht
die abweichende Sinneswahrnehmung gerade auf Grund der Koper-
nikanischen Vorstellung erklären könnten, so würden wir stets
noch an der Richtigkeit der letzteren zweifeln müssen. Kant und
Der Gegenstand der Wahrnehmung. 51
der Kantianismiis hat aber mit seiner vermeintlich Kopernikani-
schen Behauptung, dass Raum, Zeit, Kategorien, als vom Geiste
beigeschaffen, nicht für Dinge an sich gelten können, die abwei-
chende, in der Wahrnehmung wurzelnde Aussage des Realismus
bis jetzt nicht erklären können. Er hat uns im Gegenteil in
immer tiefere Labyrinthe geführt.
Umgekehrt hat freilich auch der naive Realismus bis jetzt
das Bedenken nicht lösen können, das in dem von Messer allzu-
früh, abei' doch richtig gestellten Kantischen Problem steckt: „Auf
welchem Grunde beruht die Beziehung unserer Vorstellungen auf
den Gegenstand?" Daraus ergiebt sich, dass wir von neuem
bohren und die richtige Stelle suchen müssen, aus welcher der
Quell fliesst. Diese Stelle sehe ich nun nicht, wie Cohen, in einer
Idee, von der alles abzuleiten wäre, und ebensowenig in dem Ge-
samtzusammenhang der wahrgenommenen Gegenstände, den wir
Welt nennen. Letzterer Gegenstand ist der Gegenstand der
Naturwissenschaft. Aber diese Naturwissenschaft ebenso, wie
schon die geraeinen Urteile über die Welt, beruhen auf der Wahr-
nehmung dieser Welt. Also ist diese Wahrnehmung als solche
zum Gegenstande der philosophischen Untersuchung zu machen.
In ihr finden sich dann vielleicht die Fäden, die uns einerseits
die Welt, andererseits die Idee wenigstens soweit verständlich
machen, dass wir den Zusammenhang zwischen ihnen erfassen.
In dieser Hinsicht glaubte ich denn, trotz aller Kürze schon
in der Kritik Cohens die Frage wenigstens ein Stückchen gefördert
zu haben. Ich zeigte nämlich — in Fortführung der in den
„Analogien der Erfahrung" angestellten Analyse, dass die Wahr-
nehmung thatsächlich Beziehungen zu einem Gegenstande ent-
hält, der von ihr jenseits ihrer selbst verlegt wird. Sie sagt
thatsächlich aus, dass die von ihr bezeichneten Grössenzusammen-
hänge in einer transscendenten Welt „an sich" existieren. Und
ich zeigte, dass die Wahrnehmung selbst in sich zusammenstürzt,
sobald man diese Urteile aus ihr entfernt. Der sog. Idealismus ist also
unmöglich, wenn man die Wahrnehmung auch nur als Wahr-
nehmungszusammenhang anerkennt. Denn man muss nicht bloss
ihre Aussagen, sondern ihren Zusammenhang selbst vernichten,
wenn man auf dem Idealismus, sei es dem Kants, sei es dem
Berkeleys bestehen will. Die in ihr enthaltenen instinktiven Ur-
teile sagen aus, dass die raumzeitlichen Bestimmungen für unab-
hängig vom Bewusstsein bestehende Verhältnisse Geltung haben
'o'o
52 F. Staudinger,
und sie machen ebendadurch die Wahrnehmung zur Wahrnehmung.
Wie dies zugehen mag, woher Raum, Zeit, Kategorien stammen,
woraus die Befugnis zu jenen Urteilen erklärt werden möge, das
ist eine Frage für sich, die späterhin erledigt werden mag. Vor
der Frage ([uid juris, kommt die Fi-age quid facti. Und das
Faktum ist, 1. dass die in der Wahi'uehmung enthalteneu Urteile
unzweideutig Geltung für eine jenseits des Bewusstseius liegende
Welt beanspruchen, 2. dass der Wahrnehmungszusaiumenhang
selbst zerstört werden muss, wenn man die Giltigkeit seiner Ur-
teile für einen transscendenten Weltzusannuenhang: bestreitet.
'fc>
An diesen Thatsachen sollte die Philosophie doch nicht so
leichthin vorbeigehen und mit phänomenalistischen Umdeutungs-
versuchen kommen, deren Grundlage einem ganz anderen Gesichts-
punkt entspringt. Will man widerlegen, so rauss man nachweisen,
dass der Wahrnehmungszusammenhang jene Urteile nicht uner-
lässlich enthält, oder aber, dass er als Ganzes ein Blendwerk ist,
und dass wir uns ohne ihn behelfen können und müssen. Jst
beides unmöglich, so ist auch eine Widerlegung unmöglich.
Von diesen Feststellungen aus wird es nun verhältnismässig
geringer Mühe bedürfen, um Messer sowie die, welche von gleichen
Gesichtspunkten ausgehen, wenigstens dahin zu überzeugen, dass
die aus Kant entnommenen Gegenbehauptungen gegen meine Auf-
stellungen unmöglich stichhaltig sein können. Oben sahen wir,
dass wir dann, wenn wir nicht dem Gesichtspunkte, den die
Wahrnehmung direkt auf ihren Gegenstand hat, nachgehen, son-
dern die Wahrnehmung als Bewusstseinsfaktor behandeln, in natüi"-
lichster Weise einen ganz anderen Gegenstandsbegriff bekommen,
als den, der in der Wahrnehmung selber enthalten ist. Es ist
hier genau so, wie wenn wir in der Natur z. B. den Blick vom
beleuchteten Gegenstand auf die Lichtquelle werfen, in deren
Schein er so oder so beleuchtet ist. Da wird unser ganzes Unter-
suchungsobjekt verändert. Im ersten E'alle betrachten wir den
Gegenstand selbst; das Licht, das darauf fiel, war uns Voraus-
setzung; im zweiten Falle wird die Erscheinung des Gegenstands
zur Voraussetzung; die Natur der Beleuchtung zu studieren, ist
das Problem. AVas die Erscheinung für ihren Gegenstand be-
deutet, tritt dabei völlig aus der Blicklinie heraus. Er ist jetzt
nur das im übrigen gänzlich irrelevante x auf dem die Lichtquelle
in den oder den bestimmten Lichtern spiegelt.
Der Gegenstand der Wahrnehmung. 53
Nun ist es allerdings eine bedeutsame Aufgabe, die durch
die Lichtquelle hervorgerufenen Modi der Erscheinung von denen
zu sondern, die sich auf den Gegenstand selbst beziehen, damit
nicht etwa eine Bestimmung, die der I-iichtquelle zukommt, dem
Gegenstände zugeschrieben werde. Aber auch umgekehrt.
Den ersten Gesichtspunkt fasst Kant auf dem Gebiete der Er-
kenntnislehre ins Auge. Den zweiten Gesichtspunkt aber hat er
darüber ganz ausser Acht gelassen. Hätte er sich freilich damit
begnügt, den ersten Gesichtspunkt scharf abzusondern und zu
sagen, er wolle einmal sehen, in welchem Zusammenhange der
Gegenstand erscheine, wenn man ihn bloss in seiner Bedeutung
als Bewusstseinsfaktor betrachte, so Aväre nicht das mindeste da-
gegen zu sagen. Eine mit vollem Bewusstsein unter einem be-
stimmten Gesichtspunkte durchgeführte Analyse ist zweifellos stets
sehr wertvoll. Aber der Gesichtspunkt muss dann auch fest-
gehalten werden. Es dürfen dann nicht Bestimmungen hinzu-
treten, die unvermerkt auf einen anderen Gesichtspunkt hinüber-
greifen, und sagen wollen, was die Erscheinung bedeutet.
Das aber ist bei Kant leider durchweg der P'all. Wollte er
die Weltvorstelluug bloss als Bewusstseinsfaktor behandeln, so
waren die bezeichnenderweise in der zweiten Auflage der Kr. d.
r. V. weggebliebenen Abschnitte über Apprehension, Reproduktion
und Rekognition durchaus am Platze, ebenso die Erörterung über
Anschauung und Begriff, über die Einheit der Apperception u. dgl.
mehr. Dann aber musste die Weltvorstellung bezw. Natur Wahr-
nehmung in ihren Aussagen über ihren Gegenstand entweder
als abgethan oder als ein später zu erörterndes Problem behandelt
Averden. Keinenfalls aber konnten beide Untersuchungsarten der-
art ineinandergemengt werden, dass der ersten ohne weiteres die
führende, der zweiten die untergeordnete Rolle zukam. Da das
Kant that, und den Gegenstand der Wahrnehmung aus dem Ge-
sichtspunkte der transscendentalen Einheit bestimmen wollte, so
musste gerade der Zentralbegriff der Erkenntniskritik, der Begriff
vom Gegenstand in ein Schwanken und Schillern geraten, dadurch
er kaum noch greifbar erschien.
Da entstand zunächst, indem man die Einzelvvahrnehmung
bezw. ein Moment in ihr, die Empfindung, herausnahm und ge-
sondert vor Augen führte, die genannte Vorstellung, dass diese
Empfindung ihrerseits nichts von uns Gemachtes, sondern etwas
Gegebenes sei, das also auf etwas hinweise, was ausserhalb des
54 F. Staudinger,
Bewusstseins liegt, was „Ursache" der Erscheinimgen ist. Dieser
Geg-enstand aber kann nunmehr, da ja bei Kant Raum, Zeit,
Kategorien einzig als Bewusstseinsfaktoren auftreten, nicht be-
stimmt werden. p]r bleibt also „unbekannte" Ursache der Er-
scheinungen, ein blosses x.
Aber diesem x' tritt ein x^^ zur Seite, das jede Reminiscenz
an einen auswärtigen Ursprung der Empfindungen verloren hat
und reines Erzeugnis der Einheit der Apperception ist. Wenn
wir Wahrnehmung bloss als Bewusstseiusfaktor behandeln, so tritt
ja in der That der Gegenstand, was Messer (S. 324) merkwürdiger-
weise gegen mich ins Feld führt, bloss als Etwas auf, was da-
wider ist, dass unsere Erkenntnisse nicht aufs Geratewohl . . .
bestimmt seien, d. h. als „die formale Einheit des Bewusstseins
in der Sjmthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen" (I. A.
S. 104 f.). Dieser Gegenstandsbegriff, der transscendentale Gegen-
stand spielt auch in der s, Z. von mir hervorgehobenen Stelle
(II. A. S. 236) die allein massgebende Rolle. Von diesem Ge-
sichtspunkte aus gesehen bildet er die Einheit, darin sich alle
Bestimmungen des Gegenstandes verbinden. Wenn wir nun aber
— immer den vorliegenden Gesichtspunkt festhaltend — die zu-
gehörigen Bestimmungen in Gedanken wegthun, so geht es uns
genau so, wie wenn wir vom Zentrum einer Kugel alle Kugel-
bestandteile entfernen. Es bleibt nur der imaginäre Punkt übrig,
um dt'U die Kugelbestandteile sich gruppiert hatten. Das ist ein
zweites x, das bei Kant stets mit dem ersten x, das ganz ver-
schiedenen Ursprungs ist, durcheinanderläuft, der Grenzbegriff, der
positiv gefasst, zu einem gespenstischen Gegenstande, dem Nou-
menou werden würde.
Wenn man sich einmal die genannten verschiedenen Gesichts-
punkte vor Augen führt, so wird die vorher so verworrene Sache
ganz klar und verständlich und wir können au der Hand dieser
verschiedenen Gesichtspunkte das Gewebe der Kritik der reinen
Vernunft ziemlich klar durchschauen. Und wenn man da bemerkt,
wie der empirische Gegenstand, der, z. B. in der Widerlegung des
Idealismus, ziemlich deutlich als der gemeine „unmittelbare" Wahr-
nehmungsgegenstand hervortritt, „bewiesen" werden soll, so hat
man im Grunde den Schlüssel zum Ganzen. Statt die unmittel-
bare Beziehung zu analysieren und ihrem Gesichtspunkt min-
destens einmal dem „trausscendentalen" gleichwägend gegenüber-
zustellen, wird sogar diese vom trausscendentalen aus „bewiesen",
Der Gegenstand der Wahrnehmung. 55
damit aber ihres imniittelbaren luhalts entleert. Und so wird
dann nicht bloss der Wahrnehmungsinhalt als psychischer Inhalt,
sondern auch dessen Bedeutung unter den transscendentalen
Gesichtspunkt gestellt und die Wahrnehmung wird auch in letz-
terer Hinsicht zur blossen Erscheinung, der dann, jenachdem die
Empfindung oder das Denken mehr in den Vordergrund der Be-
trachtung rückt, bald die uul)ekanute Ursache x\ bald der blosse
Einheitsbegriff X'^ korrespondiert. Das hat Messer noch nicht
durchschaut, und so erklärt sich, dass er mich mit Gründen
widerlegen will, die dem von mir bestritteneu Gebiet ent-
nommen sind.
Es trifft sich nun gut, dass in demselben Hefte, in dem
Messers Entgegnung erscheint, eine eingehende Abhandlung von
A. Thomsen über den gleichen Gegenstand veröffentlicht wird,
und dass darin ebenfalls — im Anschluss an ältere Kritiker —
der Widerspruch zwischen dem „transscendentalen Ding an sich"
und dem „empirischen Ding an sich" dargelegt wird. Letzteres
ist für Thomsen freilich nicht jenes x>, d. h. nicht der aus der
Pistole geschossene unbekannte Grund der Erscheinungen, sondern
das „phänomenale objektive Substrat", das aus Grössen besteht.
Dies nenne Kant freilich nicht Ding an sich, ziehe aber seine
Bestimmungen mit in den Begriff des Dinges au sich herein, und
darauf beruhe seine Grund Verwechselung. Das ist wohl im Kern
der Sache richtig, aber in der Argumentatiousart schief. Hätte
Kant dieses Objekt — das Thomsen ganz richtig als aus Grössen
bestehend bezeichnet, selbst als Ding an sich anerkannt, d. h. als
ein Ding, dessen Bestimmungen unabhängig vom Bewusstsein
gelten, so wäre viel Streit vermieden. Als solches Ding be-
zeichnet es die Wahrnehmung freilich thatsächhch, indem sie be-
hauptet, der eben geschaute Baum sei derselbe, wie der gestrige.
Damit aber, dass Kant dies Ding an sich bloss zur Einheit unter
unseren Vorstellungen verflüchtigt, dass er also die objektive
Giltigkeit, die er doch behaupten muss, psychologisch auflöst, liegt
der Fehler.
Dass Thomsen hier fehl geht, liegt daran, dass auch er die-
Gesichtspunkte nicht scharf scheidet, unter denen wir die Wahr
nehmung betrachten können: Wahnehmung als Erscheinung im
Bewusstsein, als ein Gegenstand, den wir für sich vorstellen
können und als die unmittelbare Beziehung zu äusseren Gegen-
ständen. Diese drei Gesichtspunkte gilt es aiü's klarste ausein-
56 F. Staudinger,
audei" zu halten. Der dritte erg-iebt die natürliche (wirkliche)
Wahnehmiiug-, der zweite Gesichtspunkt nimmt diese Wahrnehmung-
als Gegenstand der Analyse, der erste ist der psycholog^ische, ver-
meintlich „transscendeutale" Gesichtspunkt. Springt nun im ge-
ring-steu die Betrachtungsweise von einem auf den anderen Ge-
sichtspunkt über, ohne dass man sich dessen klar bewusst bleibt,
so giebt es ähnliche Vermeugung-eu, wie wenn wir im Auge be-
findliche mouchcs volantes, und auf dem Hintergrund beweg-te
Gegenstände durcheinandermengen.
Wenn Thomseu mit Lichtenberg, Helmholtz u. a. behauptet,
der konsequente Idealismus sei unwiderleglich, so betrachtet er
von vorn herein die Wahrnehmung unter bloss psychologischem
Gesichtspunkt und projiziert die Reflexion aus ihm auf den naiven
Gesichtspunkt. Wenn wir dagegen diesen naiven Gesichtspunkt
selbst unter dem zweiten Gesichtpunte kritisch betrachten, so er-
giebt sich, wie oben gezeigt, handgreiflich die Unmöglichkeit so-
wohl des Kantischen, wie des Berkeleyschen Idealismus. Bliebe
nur noch der Idealismus übrig, der wie Hegel und wie neuerdings
Cohen alles Erkennen aus der Idee ableiten und die Wahr-
nehmungsbestaudteile einschliesslich der Empfindung thatsächlich
von hier aus auflösen will. Dieser Idealismus kann nur leider
seinen Ikarusflug nicht vollenden; denn er stürzt bei der ersten
besten Gelegenheit doch wieder herab in die sinnliche Wahr-
nehmung, die aufzulösen er nicht im Stande ist. Aber er ist in
sich jedenfalls folgerichtiger als derjenige Idealismus, der in
einem Atem behauptet, das empirische Haus von gestern sei das
empirische Haus von heute, und doch sei diese Identität im „trans-
scendentalen Sinne" nur ein Zusammenhang blosser Vorstel-
lungen von Etwas, das uns gänzlich unbekannt sei. Diese Be-
hauptung gleicht der des Eastenpredigers, der nach einem guten
Mahle die Güter dieser Welt für Staub und Moder erklärt.
Da Thomsen die notwendigen grundlegenden Unterscheidungen
der verschiedenen Gegenstandsgesichtspunkte so wenig wie Messer
vornimmt, so gerät auch ihm die Kritik nicht durchgreifend.
Wohl hat er durchaus recht, wenn er z. B. S. 217 ff. die Ver-
mengung zwischen transscendentalem und empirischem Ding an
sich zerfasert; aber er sieht die Vermengung unvollständig; sonst
würde er merken, dass es sich keineswegs um eine blosse Ver-
mengung von Empirisch und Transscendental, sondern um eine
Vermengung zwischen jenem x^ und x*-* bandelt, dass dagegen der
Der Gegenstand der Wahrnehmung. 57
empirische, d. h. der iu der Wahrnehmung: nicht bloss bezeichnete,
sondern bestimmte Geg-enstand bei Kaut zu einer psychologischen
mouche volante geworden ist, oder besser zu einem Schatten, der
von seinem Urgründe, dem nun unbekannten x' , getrennt ist, wie die
Schatten des Hades vom Dasein, zu dem für sie kein Nachen,
keine Brücke mehr herüberführt.
Vorstehende Erörterung hat nun hoffentlich deutlich uud klar
gezeigt, auf welche Fragen und auf welche Gesichtspunkte für
ihre Beantwortung es ankommt. Gleich zu Anfang zeigte sich,
dass von der Wahrnehmung aus und schon in ihr sich der Gegensatz
zwischen Wahrnehmung und Gegenstand entwickelt, dass erstere
Bestandteile in sich enthält, die sie unmittelbar und instinktiv,
nicht, wie die gemeine Reflexion meint, dem Gegenstände zumisst,
sondern als dessen Wirkungen auf das empirische Ich bezeichnet.
Und weiter ergab sich, dass da, wo Wahrnehmungsbeziehungen
als irrig oder zweifelhaft bezeichnet werden, eine weitere Schei-
dung, die Scheidung zwischen Bewusstsein und Gegenstand zu
Tage tritt. So haben wir ganz unmittelbar in der Wahrnehmung
jene drei Gesichtspunkte: Beziehung der Wahrnehmung auf ihren
Gegenstand, Beziehung auf die Wahrnehmung als Gegenstand und
Beziehung der ^^'ahruehnu^ng auf das Bewusstsein (ihre Betrach-
tung als blossen Bewusstseinsfaktor) vorbereitet gefunden. Um-
gekehrt aber hat sich gezeigt, dass wir dann, wenn wir von vorn
herein von letzterem Gesichtspunkt ausgehen, nicht nur den
ganzen Gegenstaudsbegriff iu Unklarheit bringen, sondern auch
von hier aus die Brücke zur Wahrnehmungsaussage abbrechen.
Also muss von der Wahrnehmung ausgegangen
werden! Das ist die Folgerung, die, sollte ich denken, aus alle-
dem gezogen werden muss. Zur Anahse der Wahrnehmung hat
Kant selbst ja die wertvollste Vorarbeit geliefert, die vom ge-
wöhnlichen Empirismus noch gar wenig beachtet wird.
Erst dann, wenn wir diese Arbeit geleistet haben, dann erst
und nicht früher ist auf die von Kant und ihm nach von Messer
in den Anfang gestellte Frage einzugehen: Auf welchem
Grunde beruht die Beziehung unserer Vorstellung auf den
Gegenstand? Hier wird dann die andere Frage zur Entscheidung
zu bringen sein, ob wirklich Raum, Zeit, Kausalität auf Grund
der Sinneseindrücke bloss epigeuetisch als Vorstellungen zu
Stande kommen. Aber wie diese Frage auch selöst werden muss:
zu betonen ist, dass die Frage nach der Bedeutung jene)- Vor-
58 F. Staudinger, Der Gegenstand der Wahrnehmung.
stelliingeu nicht vou ihr abhäugip: zu machen ist. Sollte die
Frage in Kants Sinn zu beantworten sein, so würde dessen Frage,
wie subjektive Bedingungen des Anschauens und Denkens objektive
Bedeutung hab(Mi können, allerdings von neuem auftauchen. Aber
die Frage w'ürde dann doch viel genauer bestimmt sein. Wir
wissen jetzt, was das Wort „objektiv" vom Gesichtspunkte der
Wahrnehmung aus zu bedeuten hat und lassen uns nicht mehr
mit einer Deduktion aus der transscendentalen Kinheit der Apper-
ception abspeisen. Wir müssen vielmehr in jedem Falle fragen,
wie die Aussagen, die vom Gesichtspunkte dieser transscendentalen
Einheit stattfinden, mit dem unvertilgbaren Geltuugsanspruch der
Wahrnehmung zusammenhängen.
Das ist das Problem, an dem wir arbeiten müssen. Die
Frage, an der das letzte Jahrhundert sich abquälte, ob Raum,
Zeit und Kategorien für Dinge, die unabhängig vom Bewusstsein
bestehen, Geltung haben, ist gegen Kant entschieden, sobald
wir die Wahrnehmung einmal unbeeinflusst vom „transscenden-
talen" Gesichtspunkt analysieren. Dann müssen wir uns klar
werden, dass diese Wahrnehmung jenen Geltungsanspruch uot-
w^endig enthält, und dass sie für uns in keiner Weise zu ent-
fernen ist.
Der Begriff der sittlichen Erfahrung.
Von Hugo Renner.
I.
Eine interessante Deutung- hat Kants Lehre vom katego-
rischen Imperativ in Bruno Bauchs Schrift „Glückselig-keit und
Persönlichkeit in der kritischen Ethik" (Stuttg-art 1902) erfahren,
die er trotz Vaihingers Kritik in dieser Zeitschrift auch neuer-
dings in seiner Jubiläumsschrift zu Kuno Fischers 80. Geburts-
tage „Die Ethik" (in der von Windelband herausgegebenen
Festschrift: Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts) fest-
zuhalten scheint. Er folgert aus seinen Ausführungen, „dass der
Inhalt der Handlung selbst ganz gleichgültig gegen ihren Wert,
absolut wertindifferent ist, dass der Wille, das Wollen allein, die
reine Form des Willens, der sich um der Pflicht willen selbst be-
stimmt, das allein Wertentscheidende ist" (S. 91). Der katego-
rische Imperativ bezieht sich auf die Art des WoUens, nicht aber
auf die Inhalte des Wollens.
Mit Recht hat meines Erachtens Vaihinger darauf hinge-
wiesen, dass dieser Standpunkt nicht eigentlich Kantisch ge-
nannt werden könne, dass er dem Subjektivismus Fichtes ent-
spricht, der den kategorischen Imperativ in ein „Handle aus dem
Bewusstsein deiner Pflicht" verflüchtigte, eine Fortbildung, die
nur die eine, die subjektive Seite der Kantischen Morallehre zum
Ausdruck bringt.^) Windelband hat diese Fortbildung in seinen
1) Ich bemerke hier, dass sich meine Einwendungen gegen Bauch
nicht auf dessen Gesamttendenz, sondern nur auf einen für mich wichtigen
Punkt richten. Zudem hatte Bauch die Liebenswürdigkeit, mir durch
schriftliche Mitteihing zu zeigen, dass wir auch hier nicht allzuweit in
unseren Ansichten auseinander stehen. Immerhin könnte seine Ethik
leicht eine bloss subjektive Auffassung, wie sie ja in neuester Zeit öfter
vertreten Wird, begünstigen. Der objektive Charakter des Sittengesetzes
und des Verhältnisses des kategorischen Imperativs dazu schien mir des-
60 H. Renner,
Präludien aufofeDommeu uud vou ihm haben sie seine Schüler
überkommen. Vaihing-er scheint mir daher durchaus im Rechte
zu sein, wenn er bei den Ausführung-en Bauchs mehr den Geist
Fi cht es als die Einwirkung Kants spürte.
halb schärfer betont werden zu müssen, als Bauch das gethan hat. Nichts-
destoweniger rede auch ich einer formalen Etliik das Wort, wie später
ersichtlich werden wird, und insofern teile ich selbst den allgemeinen kri-
tischen Standpunkt mit Bauch. Ich niuss das umsomehr hervorheben, als
die bereits erwähnte Ethik Bauchs, die ich, nebenbei bemerkt, für die
beste wissenschafthche Einleitung in die Behandlung dieser Disziplin halte,
die ich kenne, im Litt. Centralblatt von einem sich Drng nennenden Re-
censenteurin einer Weise besproclien wurde, dass ich damit meine Einwen-
dungen nicht gern auf eine Stufe stellen möchte, was ich glaube be-
tonen zu müssen, weil man sonst in ihnen vielleicht eine Begünstigung
gewisser „heteronomer Gedankengewohnheiten" erblicken könnte, die
ernsthaft zu verkünden heutigentags doch eine allzu grosse wissenschaft-
liche Naivität voraussetzen würde.
Redaktionelle Bemerkung. Ich will mich hier nicht eingehend mit
Renner auseinandersetzen, zumal noch ein zweiter Artikel folgt. Ich komme
vielleicht später darauf zurück. — Noch weniger will ich meinem von Renner
erwähnten Recensenten hier schon die gebührende Antwort geben. Auch dazu
findet sich vielleicht später einmal Gelegenheit. Wie köstlich der Recen-
sent selbst seine — seien wir mild! —antikritische Geistesverfassung durch
seine Stellung zu Kant charakterisiert, möchte ich, da er nun einmal überhaupt
erwähnt ist, doch nicht gern unbemerkt lassen. Die Vernichtung meiner, wie
der an Kant anknüpfenden kritischen Ethik überhaupt gipfelt in der grotesken
Erklärung, dass „Kant es nicht zu einer wirklichen Ethik ge-
bracht hat", und dass, was Renner dem Recensenten schon heimgegeben
hat, Kants vermeintliche Ethik „aus einem anklebenden Reste
heteronomer Gedankengewohnheiten entsprungen ist". Eine
Kritik dieser an eine Urteilslosigkeit des Publikums, für die sich wohl
auch die Leser des Litt. Centralblattes bedanken möchten, appellierenden
Erklärung ist eigentlich für den denkfähigen Sachkenner überflüssig.
Darum begnüge ich micli damit, zu bemerken, dass auf der anderen
Seite — das darf aus Billigkeitsgründen ebenfalls nicht verschwiegen
werden — mein Recensent auch Kant gegenüber sehr wohlwollend
sein kann. Er bemüht sich nämlich, eine „Entschuldigung" —
nicht für jene seine Erklärung, sondern — für Kants ethische Anschau-
ungen zu suchen und glaubt sie im „Transscendentalismus" gefunden
zu haben. Wie war doch der vermeintlich so bescheidene Kant in Wahr-
heit unbescheiden ! Ihm ist es, unseres Wissens, niemals in den Sinn ge-
kommen, .sich wegen seiner Ethik, die „nicht eine wirkliche Ethik"
ist, zu „entsciiuldigen". Es ist nur gut, dass es heute so einsichtige und
edle Menschen giebt, die diese seine Schuld tilgen und bei der Nachwelt
für Kants Werk um „Entschuldigung" bitten. Bruno Bauch.
Der Begriff der sittlichen Erfahrung. 61
Es lässt sich für den Standpunkt anführen, dass in der That
sittlich oder unsittlich nur die Wolhing-en sind, die Vorg-änge aber,
die erst durch die Verbindung- mit WoUung-en zu Handhingen
werden, an und für sich sittlich indifferent sind ; und ich glaube,
man wird diese Auffassung- um so eher festzuhalten haben, weil
der Naturalismus der Gegenwart und die äusserliche Beurteilungs-
weise der Gegenwart sich mehr au die That als an den Thäter
hält. Sieht man doch sogar in der Strafe nur eine Reaktion
der Gesellschaft gegen bestimmte ihr schädliche; Thaten, eine Be-
griffsverschleiernng, an der nur der mode gewordene Naturalismus
die Schuld trägt. „So wenig, wie irgend ein anderes Wesen, kann
der Mensch für Eigenschaften, Umstände, Handlungen", so drückt
sich ein Anhänger der ethischen Kultui- aus, einer Bewegung, die,
wie kaum eine zweite, an der Verwirrung der ethischen Grund-
begriffe arbeitet und einige sentimentale Modethorheiten, wie
z. B. Frauenemanzipation, Antivivisektion etc. etc. als ethische
Aufgaben der Gegenwart hinstellt. Und etwas pathetischer drückt
derselbe Autor seine Weisheit noch in den Worten aus : „In diese
Welt hineingeboren mit einem bestimmten Kostüm, einer be-
stimmten Maske, einer bestimmten Rolle, hängen wir als Helden
und Feiglinge, als Tugendhafte und Verbrecher, als Kluge, Dumme,
Reiche, Arme an den Drähten unserer Beschaffenheit im Puppen-
theater der irdischen Komödie. Alle Marionetten sind zugleich
Schauspieler und Zuschauer. Schon an den Kleidern erkennt mau
die Guten und die Bösen, die anständigen Menschen und die
Lumpen (so nach ihrer selbstgewählten Tracht genannt). Stets
herrscht wildes Gewühl durcheinander drängender, stossender
Puppen". Es ist „nur seine That und nicht der Verbrecher
hassenswert". Ich würde mich darnach nicht mehr wundern,
wenn man im Deichbau eine Strafe für die Überschwemmungen
sehen würde.
Gegen diesen flachen Naturalismus ist die Betonung dieser
subjektiven und für den individuellen, persönlichen Menschen auch
wichtigsten Seite durchaus angebracht, auch ist dieses Gebiet noch
immer nicht so abgegrast, dass jede weitere Arbeit auf ihm zweck-
los wäre.
In Kants Ethik ist diese Seite in der Lehre enthalten, dass
der sittlich handle, der zu seiner Handlung durch seine Achtung
vor dem Sittengesetz bestimmt werde. Fichtes „Handle aus
dem Bewusstsein deiner Pflicht" scheint mir damit im Wesent-
62 H. Renner,
liclieu übereinzustimmen. Ich kann Bauch darin aber nicht zu-
stimmen, dass hierin der Begriff der sittlichen Autonomie schon
umschrieben wäre, hierzu möchte ich als Geg-eniustanz anführen,
dass auch die rehgiösen Moralen, die doch in der Regel ausge-
sprochen heteronom sind, auch jene ethische Gesinnung erheischen,
wenn sie einigermassen kulturell entwickelt sind. Sie verlangen
auch Gehorsam gegen die Pflicht und sehen nur in solchen Hand-
lungen sittlich vollkommene, die eben aus jener Gesinnung ent-
springen, das stoische xaT6QÜo)f.ia ist z. B. auch in das Christen-
tum aufgegangen, das xaifijxov ist eine unvollkommene Handlung;
das erstreckt sich bis zur vollkommenen und unvollkommenen Reue,
von denen die erste der ethischen Gesinnung, die zweite der
Furcht vor Strafe entspringt.
Diese Ethik ist vom Standpunkte Kants ebenso zweifellos
heteronom, wie sie von dem Bauchs autonom ist.
Das Letztere ist sie, denn sie verlegt den Wert in die Ge-
sinnung der handelnden Person, in die QuaUtät der Wollung aus
der die Handlung hervorgeht; nur dass sie dieser — jedem Inhalt
ja gleich zugänglichen — den Inhalt, also die objektive Pflicht
bestimmt. Ethisch richtig würde dann der handeln, der sich pure
durch das Bewusstsein zu seiner Handlung bestimmt, dass etwas
seine Pflicht ist.
Das aber ist nach Kant erst autonom, dass man sich nicht
einfach sagen lässt, dieses oder jenes ist deine Pflicht — wie es
die religiösen, die utilitaristischen etc. überhaupt alle Inhalts-
m oralen behaupten, die irgend welchen möglichen Handlungen
dogmatisch den Wert festsetzen — sondern dass man sich durch
vernünftige Überlegung selbst entscheidet, was denn
nun im Einzelfall und damit objektiv als sittliche Pflicht zu
gelten habe, ganz analog dem, dass ich auf dem Gebiete der Er-
kenntnis nicht das für Wahrheit halten soll, was mir als Wahr-
heit gepredigt wird, sondern das, was ich als wahr einzusehen
vermag.
Deshalb ist Kants Moralprinzip kein Individuahsmus in dem
Sinne, dass die persönlichen Optionen auch schon als sittliche
Gebote gelten dürften; die „Vernünftigkeit" der Überlegung
schliesst zwar nicht den Irrtum und damit ethische Meinungsver-
schiedenheiten, wohl aber die Willkür a limine aus. Der katego-
rische Imperativ scheint mir nun ausschliesslich dazu da zu sein,
den Begriff des sittlichen Inhalts, der objektiven sittlichen
Der Begriff der sittlichen Erfahrung. 63
Pflicht ZU bestimmeD. Bauchs Auffassung des kategorischen Im-
perativs: „Nur auf die Verallgemeineruugsfähigkeit der Maxime,
nicht etwelchen Handlungs- und Willensinhaltes kommt es dieser
Formel des ethischen Prinzipes an" (Ethik S. 9) scheint mir daher
unzutreffend zu sein ; den Grund zu seinem IiTtum glaube ich aber
darin sehen zu müssen, dass er die Verallgemeinerungsfähigkeit,
die der kategorische Imperativ — wie wir ihn vertreten — fordert,
nicht als eine ethische, sondern als eine begriffliche Allge-
meinheit auffasst und wir werden später zu zeigen haben, dass
diese Interpretation — in die Kant vielfach selbst verfallen ist —
durchaus irrig ist.
Lehnt man aber diese Seite in der Ethik zu behandeln ab,
erklärt man sie vielleicht gar für sinnlos, so giebt es vielleicht
noch immer sittliches Handeln, aber gewiss keine sittlichen Hand-
lungen. Es Hesse sich nicht bestimmen, was man wollen soll,
was nicht. Gerade dies scheint mir aber das Hauptbestreben der
Ethiker gewesen zu sein. Über die subjektive Ethik war mau
sich verhältnismässig einig, bei der Bestimmung des objektiv Rich-
tigen fangen erst die Schwierigkeiten an. Die Feststellung dessen,
was objektiv richtiges Verhalten ist, nenne ich nun die sittliche
Erfahrung. Es ergeben sich daher folgende Fragen, kann man
sich mit einer rein subjektiven, nur auf die Art des Wollens
gehenden Ethik begnügen? (II); diese Frage ist zu verneinen,
wenn es möglich ist, (III) den Begriff eines objektiv richtigen Ver-
haltens zu begründen und damit kommen wir dann zu unserem
speziellen Problem, über das die Ethiker zumeist stillschweigend
hinwegzugehen pflegen, wie bestimme ich im Einzelfalle, w^elches
Verhalten unter den verschiedenen möglichen das objektiv richtige
sei. (IV.)
II.
Zwei metaphysische Richtungen der Gegenwart sind es vor
allem, denen eine wissenschaftliche Ethik zu begegnen hat: der
Naturalismus und der Historismus. Dass beide auch ver-
schwistert vorkommen, ist bei den vielen Verwirrungen, die der
Darwinismus, diese Vereinigung von Natui-alismus und Historismus
par excellence, auch sonst angerichtet hat, nicht wunderbar. Ich
werde zu zeigen haben, dass die blosse Gesiunungsethik diesen
metaphysischen und destruierenden Tendenzen nicht zu begegnen
64 H. Renner,
weiss, wenigstens nicht hinreichend zu beg-egnen weiss. Doch das
wäre noch kein innerer Fehler, erscheint wenigstens vorläufig
nicht als solcher, wenn auch letzten Endes solange nicht die
Möglichkeit der Feststellung eines Reiches der Zwecke neben und
trotz dem Reiche der Naturgesetzlichkeit und damit die Möglich-
keit der Feststellung von etwas Beharrlichem dem Strom der Ent-
wickelung sich begründen Hesse, sich von einer Ethik als der
Wissenschaft vom Sollenden, nicht nur in Betracht der Handlungen,
sondern auch des Handelns nicht reden Hesse; denn die subjektive
Ethik weist über sich hinaus und erheischt eine objektive Ethik,
will sie nicht Dogmatismus oder nihilistischei- Skeptizismus werden.
Um diese Behauptung zu beweisen, will ich mich an die Formel
Fichtes halten: „Handle aus dem ßewusstseiu deiner PfHcht".
Das gebe ich ohne weiteres zu, dass nur ein solches Handeln
sittHch gewertet werden kann, für das ein solches Bewusstsein
als Motiv in Frage kommt. Thatsächlich ist nur solches Handeln
sittlich, das aus dem Bewusstsein der Pflicht entsprungen ist.
Aber schon das wird man sehr in Zweifel ziehen dürfen, ob nur-
solches Handeln unsittlich ist, das gegen unsei- Pflichtbewusstsein
voHzogen wird. Oft ist das xadT^xor unsittlich, wie das Wohlthun
um eines guten Naciens willen, nicht bloss weil man dabei auf
seinen Nutzen ausgeht, bei gewissen Handlungen macheu keines-
wegs nicht-sittliche Motive das Handeln unsittlich, sondern vor
allem, weil man dabei heuchelt. Doch gestehe ich gern, dass
man durch eine Erweiterung des Begriffes der Handlung diesem
Dilemma wohl begegnen kann.
Es erhebt sich aber nunmehr die Frage, was ist denn dieses
Bewusstsein der Pflicht: Ist es eine besondere Art von Bewusst-
sein, und wenn, welche Art, oder wird damit nur ein besonderer
Inhalt unseres Bewusstseius bezeichnet. So wie es ein Bewusst-
sein von Wahrheiten gäbe, d. h. so wie wir wissen, dass dieses
oder jenes wahr sei, ebenso gäbe es auch ein Pflichtbewusstsein,
d. h. wir wären uns bewusst, dieses oder jenes wäre unsere
PfHcht und zwar in unserem spezieHen Fall unsere sittliche Pflicht,
da die Berufspflichten. Bürgerpflichten etc. für uns vorderhand nicht
in Frage kommen. Da nun etwas deshalb nicht schon wahr ist,
weil man es für wahr hält, so braucht uns das noch nicht Pflicht
zu sein, was man dafür hält, — oder wir haben es hier mit einer
besonderen Bewusstseinsart zu thun, worüber wir nachher reden
woHeu.
Der Begriff der sittlichen Erfahrung. 65
Woran erkenne ich mm, dass etwas „Pflicht" sei. Entweder
doch nur dadurch, dass mir etwas befohlen wird, z. B. von Gott
— heteronomer Staudpunkt, oder aber, dass ich auf Grund eigener
Erwägung prüfe uud feststelle, was meine sittliche Pflicht sei —
autonomer Staudpunkt.
Der heteronome Standpunkt ist letztlich immer dogmatisch,
er steht und fällt mit dem Dogma, auf dem er basiert; der auto-
nome ist zetetisch. Mit dem heteronomen Standpunkt fällt die
Ethik in ihrer Eigenart hinweg.
Welchen Standpunkt man auch einnimmt, ist das Pflicht-
bewusstsein nur das Bewusstsein von einem besonderen Inhalt, so
liegt in einer solchen Auffassung implicite das Zugeständnis, dass
die subjektive Ethik dringend einer objektiven zur Ergänzung be-
darf, welche auf Grund einwandfreier Gründe mich lehrt, wie ich
bestimme, was im Einzelfall meine sittliche Pflicht sei. Und
hierin hat meines Erachtens das, was Bauch die Erfolgsethik
nennt, seinen Grund, dass mau nämlich irgend ein Prinzip an-
geben kann, auf Grund dessen man im Einzelfall die sittliche
Entscheidung fällen kann.
Der Historismus wird diese Möglichkeit ja sicher ableugnen,
vor allem, weil er in der schwankenden Sitte den einzig und
allein auffindbaren Ausdruck der objektiven Sittlichkeit sieht.
Sieht man des fernereu in der moralischen Entscheidung einen
begrifflich (theoretisch)- allgemeinen Satz, statt einen ethisch-all-
gemeinen, sieht man also in den moralischen Entscheidungen auch
schon Gesetze der W^ollungen, d. h. erklärt man eine einmalige
sittliche Entscheidung für alle Zeiten und alle Umstände gefällt,
dann wird uns die Geschichte durch die Belehrung, wie wechsel-
reich die Bewertung eines Inhaltes stets gewesen ist, von unserem
Irrtum befreien, der im wesentlichen ja darauf beruht, dass wir
die ethische Allgemeinheit im Sinne eines Naturgesetzes oder eines
allgemeinen Naturbegriffes auffassen. Bauch hat ganz Recht:
„Aller auf den äusseren Erfolg abzielende Dogmatismus mit seiner
gleichmacherischen Tendenz scheitert an der absolut individuellen
Bestimmtheit alles Wirklichen. Gegen ihn hat der Individualismus
vollkommen recht, seine Einsicht zur Geltung zu bringen, dass es
in der ganzen Wirklichkeit nicht zwei gleiche Handlungen, weil
nicht zwei gleiche Individuen giebt, dass wu* immer etwas Ein-
maliges sind und daher auch nur Einmaliges thun, dass es also
einfach ungereimt ist, inhaltlich gleiche Handlungen als sittliches
Kautatudiea X, 5
66 H. n
enner
Gebot zu fordern, da sich ein solches Gebot doch sowieso niemals
realisieren lässt." (Ethik S. 97.) Bauch hat darin völlig- recht, so
sehr dies auch alle und jede heterononie Ethik bestreiten mag,
eben weil deren Auffassung- strikt aus einem der Ethik
fremden Gesichtspunkte, nämlich dem theoretischen Verhältnis
der Begriffe, also einem für die Ethik metaphysischen Gesichts-
punkte entnommen ist. Dieses Argument ist aber noch nicht hin-
reichend, weil z. B. des Aristoteles richtige Mitte diese individu-
ellen Momente hinreichend berücksichtigt, also an sich doch wohl
zur Bestimmung des objektiv Sittlichen dienlich sein könnte.
Dass dessen Prinzip dennoch dazu nicht dienlich sein kann, hängt
von einem anderen Moment ab; aber dieser Hinweis genügt doch
schon, um zu zeigen, dass nicht jede objektive Bestimmung des
Sittlichen gleichmacherische Tendenzen in sich bergen muss.
Um irgend eine objektive Bestimmung des Sittlichen wird
letztlich eine Ethik nicht herumkommen. Es wird schliesslich die
Art der Wollung — die ethische Gesinnung — selbst als ein
objektives ethisches Gebot, also als ein ethischer Inhalt hingestellt
werden können. Ist die ethische Gesinnung das allein Wertent-
scheidende und sittlich Wertvolle, dann ist damit gesagt, dass
man diese Gesinnung haben oder in sich erwecken soll. Fasst
man Kants kategorischen Imperativ so auf, dass die Allgemeinheit,
die er ausdrückt, auf die ethische Gesinnung geht, so ward damit
doch nur ein näher zu charakterisierender psychologischer Vorgang
als sittlich wertvoll herausgeschält und damit zu einem inhaltlich
genau so gut bestimmten sittlichen Gebote gemacht, wie wenn
ich die Nächstenliebe, die Treue oder sonst etwas als sittliche
Pflicht hinstelle. Wenn diese Gesinnung auch mit sehr verschieden-
artigen Handlungen verknüpft sein kann, so wird sie doch dadurch
keineswegs zur Form, so wenig wie die Lust dadurch bloss et-
was Formales wird, dass ihr Inhalt ein sehr verschiedener ist.
Man kann den formalen Charakter des Fichteschen Prinzips ( —
mit Kants kategorischem Imperativ ist es — wie wir sehen
werden, etwas ganz anderes — ) auch damit nicht retten, dass
man ihn als das Prinzip hinstellt, durch das die an sich indiffe-
renten Handlungen erst einen sittlichen Wert erhielten. Denn das
wäre von diesem Standpunkte aus gar nicht einmal wahr, die
Handlungen müssen auch dann noch indifferent bleiben, an dem
ganzen Komplex, den wir Handlung nennen, ist nur der enge Be-
zirk sittlich in Frage zu stellen^ den wir etliische Gesinnung
Der Begriff der sittlichen Erfahrung. 67
nennen; denn nicht ein bestimmter Erfolg-, sondern eine
bestimmte Gesinnung wird gefordert; diese ist damit ein
bestimmter sittlicher Inhalt — ein objektiver ethischer
Wert und indem Fichtes Formel die Realisierung dieses AVertes
heischt, ist sie kein formales Prinzip, sondern ein mate-
riales ethisches Urteil (eine mögliche sittliche Erfahrung),
oder ich weiss nicht, was Foroi, was Materie in der Philosophie
Kants zu bedeuten hat.
Sehr wohl kann etwas nach Stammlers Lehre — was ja
in etwas anderem Sinne schon Aristoteles behauptete — in
einer Betrachtung formal, in anderer aber material sein. Fordert
Fichte für sein Bewusstsein der Pflicht auch keinen bestimmten
mit ihm verbundenen äusseren Vorgang, so ist sie doch auch
diesen gegenüber nicht Form; da bestimmte Vorgänge für diese
rein subjektivistische Ethik überhaupt nicht gefordert werden und
in Frage kommen, können sie auch zu diesem Prinzip gar keine
Beziehung haben. So erhebt sich auch gegenüber Fichtes mate-
rialem Urteil die ethische Doppelfrage: Mit welchem
Rechte darf ich überhaupt von objektiven ethischen
Werten reden (kritische, von Kant gestellte Frage) und: mit
welchem Recht darf ich — die Möglichkeit objektiver ethischer
Werte zugegeben, in dem Prinzip Fichtes nicht nur eine
mögliche — den kritischen Voraussetzungen entsprechende —
sondern auch eine wirkliche — den positiven ethischen That-
sachen, Solkingen entsprechende — ethische Erfahrung
sehen? So lange ich diese Fragen nicht beantworte, muss diese
Formel für die Wissenschaft in Schwebe bleiben. Der Naturalis-
mus, der die Teleologie überhaupt leugnet und die Heraushebung
ethischer Werte überhaupt negiert, wie der Historismus, der nur
relative Werte zugiebt, objektive aber überhaupt leugnet, lässt
den Dogmatismus nicht zu. Was gegen den Dogmatismus über-
haupt gilt, gilt auch vom Dogmatismus Fichtes.
Hier möchte ich nun den Satz betonen, dass die Ethik
keineswegs die Aufgabe hat, die Sittlichkeit zu schaffen. Es
kann ihr auch nicht einmal der Beweis dafür zugeschoben werden,
dass es so etwas wie Sittlichkeit überhaupt gebe. Analog dem,
dass die theoretische Philosophie die Erfahrungen nicht erst
schafft, oder Sätze aufstellt, aus dem die wii'klichen Erfahrungen
abf Hessen, sondern vielmehr die Thatsache der Erfahrung inter-
pretiert und einen begründeten Begriff von ihr aufstellt —
5*
68 H. Renner,
begründet im Sinne von der wirklichen Erfahrung entsprechend
und auf die Berechtigung- seiner Voraussetzungen geprüft — ana-
log und genau ebenso setzt die Ethik die Tbatsache der Sittlich-
keit voraus, setzt voraus, dass es ein sittliches Sollen giebt. Be-
stände diese Thatsache nicht, so wäre jeder Versuch einer Ethik
ebenso sinnlos, wie der Vei-such einer Erkenntnistheorie ohne die
Thatsache der Erfahrung. Nur darin hat die Ethik ihren Wert
und ihre Berechtigung, dass sie dem subjektiven Etwas-für-ein-
ethisches-Sollen-Halten abhilft und dafür zur Erkenntnis der ob-
jektiven Pflicht führt; ihre Aufgabe ist die doppelte, den Begriff
der objektiven Pflicht oder besser, des kategorischen Zwecks fest-
zustellen und zu begründen, und anzugeben, wie ich im Einzelfall
zur Bestimmung eines objektiven ethischen Zweckes komme. Die
subjektive Gesinnung müsste selbst als ein objektiver ethischer
Zweck sich erweisen. Ich denke, das ist ganz im Sinne Kants
geredet, der ja an der ethischen Erfahrung des guten Willens —
der Feststellung, dass der gute Wille einen objektiven ethischen
Pluswert besitzt, selbst ein Beispiel gegeben hat. Dass der gute
Wille etwas Psychologisches, also theoretisch Subjektives ist, be-
streite ich nicht, aber nur dadurch, dass Fichte ihre ethische
Objektivität nicht erkannte, konnte er der Kantischeu Lehre
eine Fortbildung geben, die von seinem nicht-ethischen Ausgang
her den Charakter eines formalen Prinzips gewinnen, der im
Sinne einer objektiven Ethik materialer Dogmatismus ist, weil ein
einzelner positiver ethischer Wert zur Norm aller positiven
Werte gemacht wird, oder vielleicht auch der einzige bleibt. Da-
bei will ich aber gern zugeben, dass der Nachweis immer interes-
sant bleibt, wie in sich widerspruchsvoll der ethische Skeptizismus
ist. Die Ausführungen, die Bauch darüber in seinen beiden er-
wähnten Arbeiten bringt, sind der Beachtung wohl wert. Doch
würde ich darauf nie den Nachdruck legen; der Skeptizismus
scheint mir eben auch eine falsche Auffassung von der Aufgabe
der Ethik zu haben. Er scheint zu glauben, dass der Philosoph
ethische Werte erst zu schaffen, statt vorgefunden zu erklären
habe — ein Fehler, der bei Fichte zum Prinzip wird.
Durch den Nachweis der Aufweisbarkeit des Pflichtbewusst-
seins würde zudem der Skeptizismus weder in objektiver noch in
subjektiver Hinsicht beseitigt sein. Um jedoch den Anhängern Fichtes
nicht Unrecht zu thun, will ich nur betonen, dass deren Pflicht-
bewusstsein nicht ein psychologisches Bewusstsein von Normen,
Der Begriff der sittlichen Erfahrung. 69
sondern ein normatives Bewusstsein ist. Der Relativismus, der
vom Psychologismiis lierf Hessen muss, würde sie nicht umfassen.
Der Begriff eines normativen Bewusstseins ist aber m. E. eine
metaphysische Fiktion; will man ihm einen Inhalt anweisen, wird
man die Bestimmungen nur der empirischen Psychologie entnehmen
können. Dennoch darf der Unterschied in der Absicht nicht über-
sehen werden.
Ich resümiere also: fasst mau das Prinzip , Handle aus dem
Bewusstsein der Pflicht', so auf, dass damit die Gesinnung allein
ethisch gewertet werde, der Versuch der Bestimmung einer ethischen
Pflicht, eines Inhalts aber abgelehnt wird, so wird man unmöglich
eine objektive Ethik im Sinne Kants erhalten. In dem Begriff eines
normativen Bewusstseins hat zwar anscheinend die Fichte sehe
Schule ein Mittel, das objektiv-sittlich als das dem normativen Be-
wusstsein entsprechenden zu bestimmen. Aber eben nur anscheinend.
Da nämlich das normative Bewusstsein das psychologische Bewusst-
sein nicht sein soll, nach Rickerts Bestimmungen sogar über-
haupt nichts Wirkliches, sondern nur ein Begriff ist, kann es nichts
anderes als eben derselbe Begriff sein, den wir als den der
ethischen Erfahrung — der objektiv richtigen Handlung ansehen, sein.
Der Ausdruck „normatives Bewusstsein oder Bewusstsein über-
haupt" ist nur eine andere Bezeichnung, keineswegs aber der er-
klärende Begriff für die ethische Erfahrung. Nur der Doppelsinn,
etwas Seiendes oder ein Begriff zu sein, konnte den Glauben er-
wecken, dass mit diesem Terminus etwas für die Lösung unseres
Problems geleistet wäre. Durch diese bloss terminologische Ver-
schiebung wird die Erklärung unseres Problems nicht ersetzt.
Das Bewusstsein hiervon mag wohl die Fichte sehe Schule
veranlasst haben, die Betonung der Gesinnung unter Vernachläs-
sigung des Versuchs, den sittlichen Inhalt zu bestimmen, als Kar-
dinalpunkt der kritischen Ethik hinzustellen. Es liegt durchaus
in dieser Richtung, wenn Bauch Kants kategorischen Imperativ
auf die Verallgemeinerungsfähigkeit der Gesinnung, nicht des In-
halts, anwendet, damit wnrd implicite der Begriff des objektiv
Richtigen eliminiert und doch glaube ich, ist Bauch bei allem
Scharfsinn, den seine Arbeit zeigt, in eine Schhnge geraten, die
ihn selbst genötigt hat, aus seinem eingeengten Standpunkte her-
auszutreten. Seite 50 ff. seines Buches Glückseligkeit etc. sucht
er z. B. das Verhältnis zwischen Pflichtbewusstsein und Neigung
in der ethischen Wertung zu bestimmen. Beide können zufällig
70 H. Renner,
zusammenkommen, „dann kann die Neigung für sich zu einer
Handlung führen, die zwar auch das Sittengesetz gebietet (!), die
aber das handelnde Subjekt nicht auf dieses Gebot hin (!), sondern
unter dem Antriebe seiner Neigungen vollbracht hat. Diese
Handlung ist weder moralisch noch unmoralisch. Wertungen, die
ja nur in Rücksicht auf das Sittengesetz Sinn haben — , sondern
nach Kants Bezeichnung bloss legal. Sie kommt der gleich, die
ohne alle Beziehung auf das Sittengesetz geschieht, denn ihre
Übereinstimmung mit diesem ist ja nur zufällig." Was heisst
hier, ein Sittengesetz gebiete eine Handlung? Heisst es, der ka-
tegorische Imperativ steht in Beziehung zu den Inhalten der
Handlungen, er drücke den Begriff eines objektiven, inhaltlich be-
stimmten sittlichen Zweckes aus? Ist also eine bestimmte
Handlung sittlich gefordert, dann und nur dann kann
ich sagen, ihre Realisierung sei legal, wenn sie nicht
der sittlichen Gesinnung entsprungen ist. Nur durch
eiuen ungenauen Gebrauch der Worte können die Gesinnungs-
ethiker von legalen Handlungen sprechen. Sie sollen das Wort
Handlung ganz aus dem Spiele lassen und nur von Handeln
reden, nicht in dem Sinne einer noch nicht vollendeten Hand-
lung, — diese kommt für sie nicht in Frage — sondern von
einer logisch angebbaren und abgrenzbaren Bestimmtheit eigener
Art; nicht insofern sie ein Vorgang ist, — der stets einen mög-
lichen objektiven Wert darstellt — , sondern nur mit Rücksicht
auf die ihn bedingende Gesinnung, also ganz subjektiv. Ist die
Bestimmung eines objektiven sittlichen Inhalts unmöglich oder
vielleicht, ist ein Inhalt sittlich, dessen Realisierung aus der sitt-
lichen Gesinnung fliesst, dann kann man nicht sagen, der sittliche
Inhalt sei aus Neigung, nicht aus dem Pflichtbewusstsein realisiert
worden. Genau ebenso könnte man nicht von unsittlichen Hand-
lungen reden, da es ja stets nur auf die Art des Handelns, nicht
auf den Inhalt, den zu realisierenden Zweck ankommt.
Man kann noch weiter gehen. Lässt sich das Recht objek-
tiver Zwecke nicht nachweisen, so kann man auch nicht einmal
von einer Gesinnungsethik reden. Sie hat selbst einen objektiven
ethischen Inhalt zum Grunde. Lassen sich die Rechtsame einer
objektiven ethischen Teleologie positiv nicht begründen, — der
negative Nachweis, dass die Leugnung ethischer Werte wider-
spruchsvoll ist, reicht nicht aus, da der Widerspruch nur die
Existenz ausschliesst, die obendrein noch einen positiven Grund
Der Begriff der sittlichen Erfahrung. 71
voraussetzt, — dann lässt sich dem konsequenten Naturalismus
nichts einwenden, wenn er alle teleologische Wertung ablehnt.
Die ethische Gesinnung ist dann nur ein psychologisch beschreib-
barer Vorgang, die ethische Wertung derselben — so sehr sie
auch im Gebrauche ist — , wäre innerlich nicht gerechtfertigt,
sondern allenfalls ein aus der inneren Motivation sich ergebender
Zwang. Der ethische Idealismus wäre damit ein psychologischer
des subjektiven Scheins, und er würde sich von dem moral sense
wohl dem bestimmten Objekte nach, nicht aber dem logischen
Charakter nach unterscheiden.
III.
Kants kategorischer Imperativ scheint mir also ausge-
sprochen den Zweck zu haben, den Begriff eines möglichen sitt-
lichen Inhaltes zu bestimmen. Seine Ethik scheint mir eine seiner
Erkenntniskritik durchaus analoge Aufgabe zu haben. Wie diese
den Begriff eines möglichen Objektes der Erfahrung
aufstellt und begründet, so soll in erster Instanz die Kritik der
praktischen Vernunft dazu dienen, den Begriff eines möglichen
Objektes des sittlichen Handelns, also eines möglichen
sittlichen Inhaltes festzustellen und zu begründen. Dass
es ihm durchaus angängig erschien, mögliche sittliche Inhalte
zu bestimmen, dafür ist sein ganzes Buch : „Metaphysische An-
fangsgründe der Tugendlehre" der beste Beweis. Doch schon in
der Schrift, die am reinsten den Charakter der ethischen Gesin-
nung betont, und herausarbeitet, in der Grundlegung zur Meta-
physik der Sitten findet sich diese Tendenz; so in einer schönen
Stelle IL Aufl. S. 36 : „Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Ge-
setzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach
der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien zu handeln,
oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen
Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anderes als
praktische Vernunft. Wenn die Vernunft den Willen unausbleib-
lich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die
als objektiv notwendig erkannt werden, auch subjektiv notwendig,
d. i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was
die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch notwendig,
d. i. als gut erkennt. Bestimmt die Vernunft aber für sich allein
72 H. Renner,
den Willen nicht hinlänglich, ist dieser noch subjektiven Beding-
ungen (gewissen Triebfedern) unterworfen, die nicht immer mit
den objektiven übereinstimmen, so sind die Handlungen, die
objektiv als notwendig erkannt werden, subjektiv zufällig, und
die Bestimmung eines solchen Willens, objektiven Gesetzen gemäss,
ist Nötigung."
Von der folgenden Stelle spricht geradezu jedes einzelne
Wort für unsere Auffassung: „Die Vorstellung eines objektiven
Prinzips, sofern es (— nicht sie — ) für einen AVillen nötigend
ist, heisst ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebotes
heisst Imperativ." Schon hieraus darf ich schliessen, dass der
kategorische Imperativ der Begriff der objektiven sittlichen Pflicht
ist. Die ethische Gesinnung fällt unter ihn und steht damit unter
der Forderung der ethischen Verallgemeinerungsfähigkeit, weil sie
selbst ein objektiver ethischer Wert ist.
Ich könnte die Belege für meine Ausführung noch häufen:
S. 37 „Alle Imperative werden durch ein Sollen ausgedrückt . . .
Sie sagen, dass etwas zu thun oder zu unterlassen gut sein
würde." S. 39: „Der kategorische Imperativ würde der sein,
welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf
einen anderen Zweck als objektiv-notwendig vorstellte." 0 • • •
Weil jedes praktische Gesetz eine mögliche Handlung als gut und
darum für ein durch Vernunft bestimmbares Subjekt, als notwendig
vorstellt ... S. 40: „Der Imperativ sagt also, welche durch
mich mögliche Handlung gut wäre und stellt die praktische Regel
im Verhältnis auf einen Willen vor, der darum nicht sofort eine
Handlung thut, weil sie gut ist, teils weil das Subjekt nicht immer
weiss, dass sie gut sei, teils weil, wenn es dies auch wüsste, die
Maximen desselben doch den objektiven Prinzipien einer praktischen
Vernunft zuwider sein könnte." Das mag genügen zum Schluss:
S. 51 Maxime ist das subjektive Prinzip zu handeln und muss
vom objektiven Prinzip, nämlich dem praktischen Gesetze, unter-
schieden werden. Jene enthält die praktische Regel, die die Ver-
nunft den Bedingungen des Subjekts gemäss (öfters der Unwissen-
heit oder auch den Neigungen desselben) bestimmt, und ist also
der Grundsatz, nach welchem das Subjekt handelt; das Gesetz
1) Eine treffliche, damit völlig übereinstimmende Auffassung finde
ich bei Lipps Eth. Grundfragen und in seinem Kant-Artikel in „Deutsch-
land."
Der Begriff der sittlichen Erfahrung. 73
aber ist das objektive Prinzip, gültig für jedes vernünftige
Wesen, und der Grundsatz, nach dem es handeln soll, d. i. ein
Imperativ.
Hieraus entsprang Kant das Grund problem aller Philosophie,
die Frage nach der Zusammenstimmung des Reiches der Freiheit
mit dem Reiche der Natur, der teleologischen Ordnimg mit der
mechanischen.
Wenn die Sittlichkeit Forderungen aufstellt, so müssen sie
zwar erfüllbar sein, aber es muss sich nicht verstehen, dass sie
durch die natürliche Ordnung der Dinge eo ipso erreicht werden,
oder gar erreicht werden müssen. Das sittliche Sollen würde
seinen ethischen Charakter verlieren, es würde sich als ein blosses
Endglied eines naturnotwendigen Entwickelungsprozesses charak-
terisieren lassen, wenn es anders wäre. Es hätte alsdann nicht
den geringsten Sinn, Zwecke als schlechthin zu realisierende Auf-
gaben hervorzuheben: was ohnehin gethan wird, zu befehlen, ist
überflüssig, was nicht erreicht wird, unvernünftig. Der Natui-a-
lismus, der alles als in seinen gegebenen, natürlichen Bedingungen
enthalten ansieht, darf keine Imperativische Ethik kennen: selbst
seine heteronome Ethik ist, abgesehen von dem ethischen Dogma-
tismus, der ihr zu gründe liegt, nur durch einen, wenn auch noch
so künstlich verkleisterten Widerspruch gegen das naturalistische
Prinzip, möglich. Ein Problem braucht aber nicht vorzuliegen,
wenn man die Ethik nur in rein subjektivistischem Sinne auffasst,
wenn man einfach nur solches Handeln sittlich nennt, das aus dem
einfachen Pflichtbewusstsein entspringt, d. h. im psychologischen
Sinne;!) ^eun eine solche Auffassung würde nichts anderes als
eine naturalistische Vergewaltigung der Thatsache des sittlichen
Lebens sein. Eine Erklärung und Würdigung der sittlichen Auf-
gaben würde sie nicht sein. Sie würde zudem Dogmatismus sein,
wenn sie sich nicht der Forderung einer objektiven wissenschaft-
lichen Prüfung unterwerfen würde. Damit kämen wir zur For-
derung objektiver Zwecke und ihrem Verhältnis zur Naturordnung
zusammen. Dieses Kardinalproblem hat Kant, wie den Begriff
der Natur, so den des sittlichen Zwecks gegeben. Wie die Natur
1) Wenn ich Bauch recht verstehe, fasst er das Pflichtbewusstsein
logisch auf, d. h. als Einsicht, dass etwas Pflicht ist, womit er mit
meiner Auffassung trotz einiger Differenzen im Einzelnen übereinstimmen
würde.
74 H. Renner,
ihrem formalen Begriffe nach nichts anderes ist, als der Aus-
drnck der P^inheit des Selbstbewusstseins, der sich im
Erkennen realisiert, so ist g-enau ebenso das Reich der Frei-
heit, der sittlichen Zwecke nur der Ausdruck der Einheit
des Selbstbewusstseins, der sich im Wollen realisiert.
In dem Ur[)hänomen der Einheit des Ich ist die Sittlichkeit ihrem
Begriffe nach erklärt und begründet. Wie dieses Ich als er-
kennendes Ich ohne die Gesetzmässigkeit der Natur als seinem
Wechselbegriff nicht bestehen könnte, so könnte es als wollendes
Ich nicht sein, ohne eine Gesetzmässigkeit und Ordnung der sitt-
lichen Aufgaben als dessen Wechselbegriff, und wie Wollen
und Erkennen zusammen bestehen, ohne die Einheit des Selbst-
bewusstseins aufzuheben, genau so können das Reich der Natur
und das Reich der Zwecke, Notwendigkeit und Freiheit ohne sich
aufzuheben, miteinander bestehen; denn Freiheit ist Kant nicht
psychologische Indeterminiertheit, sondern die Fähigkeit des
Willens, die Realisierung der Gesetze der praktischen Vernunft —
und Wille und praktische Vernunft sind ihm dasselbe — zu
wollen. Indem wir uns auf diese Leistungen Kants berufen,
können wir es uns ersparen, noch einen eigenen Beweis für diese
unsere Behauptung von der Notwendigkeit objektiver ethischer
Aufgaben zu erbringen. Wir hätten deren Richtigkeit für unsere
eigentliche Aufgabe ja auch dogmatisch voraussetzen können,
da unsere Absicht mehr eine positive denn eine metalogische
ist, wenn nicht die Eigenart ethischer Untersuchungen die obigen
Erinnerungen nötig gemacht hätten.
Wir haben gezeigt, dass zum Begriff der sittlichen Handlung
es nicht nur gehört gut zu handeln, sondern auch gutes zu
handeln; selbst das gut handeln stellte sich als das Thun von et-
was Gutem, d. h. möglicherweise Gutem heraus. Aber wir sind
nur zur Anerkennung des allgemeinen Begriffs des Sittlichen ge-
kommen. Aus diesem lassen sich jedoch bei dem Widerstreit der
sittlichen Urteile die positiven sittlichen Werte anscheinend
ebensowenig ableiten, wie die Sätze der Naturwissenschaft aus
dem allgemeinen Begriff der Natur.
Gerade hier erhebt sich eine wichtige Aufgabe für die
wissenschaftliche Ethik, das Verfahren festzustellen, an dem
man im Einzelfall, bei der nicht wogleugbaren Verschiedenheit der
sittlichen Urteile, bestimmen kann, welches die sittliche Entschei-
Der Begriff der sittlichen Erfahrung. 75
diing sein soll; d. h. eine Art luduktiouslehre der sittlichen
Erfahrung- festzustellen. Hier ist auch der Punkt gegeben,
von dem aus — neben der Verschiedenartig-keit der metalo-
gischen ßetrachtung-sweise (kritische, genetische mit allen Ab-
arten) — die Abweichungen der Ethiker von einander verständ-
lich werden.
(Ein zweiter Artikel folgt.)
Hamlet und der Melancholiker in „Kants Beobachtungen
über das Gefühl des Schönen und Erhabenen'^
Von Dr. Tim Klein.
Nicht um die berufene „empfindliche Lücke" auszufüllen,
welche sich in der Reihe der Erklärungen des Hamletcharakters
etwa noch fände, sondern nur um einen kleinen Beitrag zur Be-
W'ährung des von Kant in den „Beobachtungen über das Gefühl
des Schönen und Erhabenen" aufgestellten melancholischen Typus
zu liefern, sind diese Zeilen geschrieben. Sie wollen zeigen, wie
glücklich und scharf Kant dort das melancholische Temperament
aufgefasst und dargestellt hat. Kant hält ebenso wie Shakespeare
die alte Bestimmung und Einteilung der Temperamente für zu-
treffend. Hamlet ist — mag er im übrigen was sonst sein, etwa
das Genie schlechthin — auf jeden Fall Melancholiker. Sein
Selbstzeugnis (Akt H, Scene 2, Ende) spricht klar aus, was das
ganze Stück verrät. Wenn auch Hamlets Individualität, wie dies
gewiss ist, über jenen Typus weit hinausragt, so wird man doch
in Erstaunen versetzt über die frappante Ähnlichkeit des Indivi-
duums Hamlet mit dem Typus, wie ihn Kant gezeichnet hat.
Verzichtet man für einen Augenblick auf metaphysische Ausdeu-
tungen und hält sich ausschliesslich au die psychologische Analyse,
so wird man finden, dass aus dem Kantischen Typus — nicht
über das ganze Antlitz — aber in scharfen Hauptzügen und in
manchen schwächeren Nebenlinien Hamlet hervorschaut. Ein merk-
würdiges Zusammentreffen der Konzeption des Philosophen mit
der des Dichters!
Zuvörderst beschreibt Kaut im Eingang seiner Schilderung
des MelanchoUkers (1. Druck 1771 S. 27) sogleich den allgemeinen
Habitus und den Spezialfall Hamlets. „Ein innigliches Ge-
fühl für die Schönheit und Würde der menschlichen
Natur, und eine Fassung und Stärke des Gemüths hierauf, als
Hamlet und der Melancholiker etc. 77
auf einen allgemeinen Grund, seine gesamte Handlungen zu be-
ziehen, ist ernsthaft, und gesellet sich nicht wohl mit einer
flatterhaften Lustigkeit, noch mit dem Unbestande eines Leicht-
sinnigen. Es nähert sich so gar der Schwerniuth, einer
sanften und edlen Empfindung, in so fern sie sich auf das-
jenige Grausen gründet, das eine eingeschränkte Seele
kühlt (fühlt!), wenn sie, von einem grossen Vorsatze
voll, die Gefahren sieht, die sie zu überstehen hat, und
den schweren, aber grossen Sieg der Selbstüberwindung vor
Augen hat." „Der, dessen Gefühl ins Melancholische einschlägt,
wird nicht darum so genannt, weil er, der Freuden des Lebens
beraubt, sich in finsterer Schwermuth härmet, sondern weil seine
Empfindungen, wenn sie über einen gewissen Grad vergrössert
würden, oder durch einige Ursachen eine falsche Richtung
bekämen, auf dieselbe leichter als auf einen anderen Zustand
auslaufen würden."
Vor allem aber ist der klaffende Gegensatz, der Hamlets
Seele spaltet, mit der Bestimmung: „Er hat vorzüglich ein
Gelühl für das Erhabene" gegeben, wenn nun dieses Gefühl
bei Hamlet niedergeschlagen wird durch die sich in seiner nächsten
Umgebung offenbarende Niedrigkeit der Triebe: neben seinem er-
habenen Vater, Apollo — Claudius der Satyr u. s. w.
Die feine Unterscheidung Kants, dass Melancholie unter
besonderen Umständen, nicht notwendig, auf Schwermut
hinausläuft, trifft durchaus auf Hamlet zu. Am nächsten
kommt Kants Auffassung des Melancholikers der Goe theschen
Deutung des Hamlet. Die „eingeschränkte" Seele, von einem
grossen Vorsatz voll und im Angesichte der grossen Gefahren
von Grausen erfüllt, stimmt zu dem köstlichen, aber engeren Ge-
fässe, das nur liebliche Blumen in seinem Schoss hätte aufnehmen
sollen und das der Eichbaum auseinandersprengt.
Die souveräne Selbständigkeit, mit welcher Hamlet der
Welt gegenübersteht, forschend, grübelnd, ja gewissermassen ex-
perimentierend (die Pantomime!) findet sich beim Melancholiker
Kants mit den Worten ausgedrückt: „Der Mensch von melancho-
lischer Gemüthsverfassung bekümmert sich wenig darum, was andere
urtheilen, was sie für gut oder wahr halten, er stützet sich des-
falls bloss auf seine eigene Einsicht. Weil die Bewegungsgründe
in ihm die Natur der Grundsätze annehmen: so ist er nicht leicht
auf andere Gedanken zu bringen; seine Staudhaftigkeit artet auch
78 T. Klein,
bisweilen iu Eig-ensinn aus." So ist Hamlet von dem Motiv der
Rache wie von einer Idiosynkrasie beherrscht, im Buche seiner
Seele ist ganz allein das Racheg-ebot eingeschrieben, es ist ihm
alleinige Losung, heiliger Schwur.
„Freundschaft ist erhaben und daher für sein Gefühl . . .
Selbst das Andenken der erloschenen Freundschaft ist
ihm noch ehrwürdig." Man braucht sich hier nur der Freundschaft
Hamlets mit Horatio und der herrhchen Worte an diesen Freund
zu erinnern (III. Akt, 2. Scene, Vers 59 — 79) und der überschweng-
lichen Worte, mit denen er der Liebe zu Ophelien gedenkt (IH, 1,
Vers 292 — 94), um in Kants Worten mehr als eine vage Ähnlich-
keit zu sehen.
„Gesprächigkeit ist schön, gedankenvolle Verschwiegenheit
erhaben. Er ist ein guter Verwahrer seiner und anderer Ge-
heimnisse." Man vergleiche die Verachtung des Schwätzers
Polonius und Akt III, Scene 6, 9 — 13, ferner I, 5. Scene.
„Wahrhaftigkeit ist erhaben, und er hasset Lügen oder
Verstellung," Hamlets Verstellung entspringt dem Zweifel über
die Wahrhaftigkeit des Geistes, ebenso die Inseenieruug der Pan-
tomime dem Bedürfnis, vollkommene Klarheit zu bekommen ; der
Falschheit, die ihn ausholen will (Rosenkranz und Güldenstem),
begegnet er mit Verachtung und Stolz.
„Er hat ein hohes Gefühl von der Würde der mensch-
lichen Natur." Die klassische Stelle hiefür ist die Äusserung
gegen Rosenkranz und Güldenstern: „Welch ein Meisterstück ist
der Mensch!" u. s. f.
„Er duldet keine verworfene ünterthänigkeit, und athmet
Freyheit in einem edlen Busen. Alle Ketten, von denen ver-
goldeten au, die man am Hofe trägt, bis zu dem schweren Eisen
des Galeerensclaven sind ihm abscheulich;" — Dänemark ist dem
Hamlet ein Gefängnis, weil in ihm die Gewalt herrscht, die durch
Mord zur Herrschaft kam. Sein königlich offener Sinn verhöhnt
die Liebedienerei des Polonius, der in einem Atem die Wolke
für ein Kameel und ein Wiesel erklärt.
„Er ist ein strenger Richter seiner selbst und anderer,
und nicht selten seiner so wohl, als der Welt überdrüssig."
Dieser Zug ist so offenkundig hamletisch, dass er keines Beleges
bedarf, so wenig wie die folgenden:
„In der Ausartung dieses Charakters neiget sich die Ernst-
haftigkeit zur Schwermuth, die Andacht zur Schwärmerey,
Hamlet und der Melancholiker etc. 79
der Freyheitseifer zum Enthusiasmus, Beleidigung- und Un-
gerechtigkeit zünden in ihm Rachbegierde an. Er ist
dann sehr zu fürchten." Hamlet: „Denn ob ich schon nicht jäh
und heftig bin, So ist doch was Gefährliches in mir, Das ich zu
scheun Dir rate." Und wie Hamlet sich tollkühn in die Gefahr
stürzt, so der Melancholiker: „Kr trotzet der Gefahr, und
verachtet den Tod." Endlich: „Bey der Verkehrtheit
seines Gefühls und dem Maugel einer aufgeheiterten
Vernunft verfällt er aufs Abentheuerliche." — — Soweit
die sich aufdrängenden Ähnlichkeiten.
Es will uns im übrigen scheinen, als sei mit dem Umschlag
der optimistischen in die entgegengesetzte pessimistische Weltauf-
fassung, wie sie besonders Hermann Türck und Kuno Fischer be-
tonen, nicht das Richtige gesagt — so blendend die Antithese
auch ist. Obwohl natürlich Kant nicht entfernt auf den Hamlet
exemplificiert hat, so giebt er doch einen entscheidenden Hinweis
durch die Bemerkung: „er hat vorzüglich ein Gefühl für das Er-
habene." Der Optimist glaubt in der besten der Welten zu
leben, der Pessimist in der schlechtesten; anders der Mensch,
welchen die Grundstimmung des Erhabenen beseelt. Er weiss,
dass die erscheinende Welt schlecht ist, aber er glaubt auch, dass
sich das Grosse und Erhabene in ihr offenbart. Er steht von
vornherein — wie dies bei Schiller z. B. klar hervortritt — in
einem satirischen Grund Verhältnis zur erschehienden Welt. Das
trifft auf Hamlet zu. Seine Sarkasmen sind die Pfeile des er-
habenen Satirikers. Liesse er in dieser Grundstimmung einen
Augenblick nach, dann wäre der quälende Dorn des Widerspruchs
aus seiner Seele gezogen. Aber das geschieht nicht. Er hält am
Erhabenen fest, nur erscheint ihm nicht eben Claudius oder
seine Mutter oder Polonius so. — Aber sein Vater bleibt ihm
gleich gross, Horatio gleich gut, Fortinbras in seiner erhabenen
Gesinnung gleich bewunderungswürdig. Dem wirklich Erhabenen
gegenüber also verhält er sich durchaus positiv, bejahend. Die
Antithese: Optimismus und Pessimismus setzt einen radikalen
Bruch im Charakter Hamlets voraus, einen vollständigen Um-
schlag. Gerade die Bewunderung des naiven Helden Fortinbras
ist bei einem gebeizten Pessimisten eine bare Unmöglichkeit.
Welche Worte findet er der Mutter gegenüber, um den Segen
der Übung im Guten zu preisen, mag auch die satirische Grund-
stimmung wieder durchbrechen! — das thut kein Pessimist. Der
80 T. Klein, Hamlet und der Melancholiker etc.
Optimist denkt wohlwollend vom Menschen, sein Element ist
der Humor. Der Pessimist denkt schlecht vom Menschen, sein
Element ist die Verachtung, der Hass. Der Mensch mit er-
habener Gesinnung denkt gross vom Menschen, sein Element ist
positiv Enthusiasmus, negativ Satire; ist er Melancholiker,
dann tritt hinzu der Schmerz als Stimmung, die Schwermut. Und
so ist Hamlet beschaffen. Was ihn zerstört, ist nicht ein kom-
pleter Bruch seiner Natur, sondern sein dem Grossen, Erhabenen zu-
geneigtes Wesen — und eben dies ist tragisch in einer Welt der
Niedertracht. — Damit soll keineswegs Shakespeares Wunderwerk
„erklärt" sein — sondern von Kant ausgehend ist vielleicht ein
Wink zu empfangen, um die oben genannte Antithese zu über-
winden, die vor allem auch noch den Fehler in sich schlichst, dass
sie die Verzweiflung voraussetzt. Es ist keine Frage, dass
Hamlet am Abgrund der Verzweiflung umhertaumelt; der verstellte
Wahnsinn verstärkt noch diesen Eindruck. Aber da es eben ver-
stellter Wahn ist, muss dieser Eindruck von seinem wirklichen
Zustand abgezogen werden. Und endlich setzt jene Auffassung
an die Stelle der Ent Wickelung des Charakters, die bei der
satirischen, verneinenden Grundstimmuug des Erhabenen möglich
und notwendig so ist, wie sie ist, — den Bruch, den vollstän-
digen Umschlag des Charakters, das heisst im Grunde eine
psychologische Unmöglichkeit.
Euckens philosophische Aufsätze/^
Besprochen von Bruno Bauch.
Die freudig zu begrüssende Sammhmg von Euckens Aufsätzen zer-
fällt in zwei Hauptteile, deren erster „Zur Moral und Lebensanschauung",
und deren zweiter „Zum religiösen und religionsphilosophischen Probleme"
Stellung nimmt. Der erste gliedert sich wiederum in zwei Unterabteilungen,
deren eine „Allgemeines" behandelt, während die andere „Auf Persönlich-
keiten bezüglich" ist.
Den Schluss bildet ein kurzer Anhang, der zum Gegenstande die
Frage hat: „Was sollte zur Hebung philosophischer Bildung geschehen?"
Die Zerfahrenheit und Zerrissenheit, die uns heute in „Moral und
Lebensanschauung" begegnen, nötigen dem Philosophen wahrhaft „Ein Wort
zur Ehrenrettung der Moral", wie Eucken den ersten Aufsatz überschreibt,
ab. Die Verflachung und Veräusserlichung, die auf der einen Seite die
Sucht nach dem äusseren Massenerfolg, auf der anderen Seite einen radi-
kalen Subjektivismus in der heutigen Ethik gezeitigt haben, würdigen
diese selber herab.
Da ist ein energisches Wort aus der Feder eines gewichtigen
Denkers immer höchst erfreulich, und es ist dankbar hinzunehmen, wenn
der Verfasser mit einem erhellenden Blick auf die Geschichte zeigt, welche
Würde im Wesen der Moral wurzelt, mögen viele einzelne Moraltheorien
heutigentags auch noch so würdelos sein. Dass „echte Grösse" und kraft-
volle That die wahren Vorzeichen der Moral sind, so wenig man das
auch nach dem allgemeinen Stande der heutigen Ethik erwarten
dürfte, das zu zeigen ist die Aufgabe von Euckens erstem Aufsatz, der in
erster Linie historischer Natur sein will. Mit den erfreulichsten Lichtern
weiss er dem Leser die Geschichte zu erhellen, um an der Hand eben der
Geschichte ihn zu belehren. Die erhabenste Grösse zeigt sich hier mit
der kräftigsten Sittlichkeit geeint. Ein Piaton, ein Luther, ein Kant, die
ersten Heldengestalten der Menschheit sind zugleich sittliche Heroen, und
die tiefsten sittlichen Probleme, über die unsere leichte Zeit leicht hinweg-
eilt, bewegen ihre grossen Seelen mit innerlichster Gewalt.
Schon der grosse Grieche erkennt in der Idee des Guten die allge-
meingiltige sittliche Bestimmung an, und doch beugt sich der Weise
nicht unter bloss allgemeine, nicht allgemeingiltige menschliche Satzungen,
1) Gesammelte Aufsätze zur Philosophie und Lebensanschauung von
Rudolf Eucken. Leipzig 1903. Verlag der Dürrschen Buchhandlung.
Hlantstudieu X. 6
8ä B. Bauch,
verwirft vielmehr als elende Schwäche jene materialistische Richtung, die
sich, nach dem äusseren Erfolg schielend, an den „Durchschnitt des Lebens"
klammert. „Der Mensch fragt nicht mehr, ob er den anderen und seiner
Umgebung, sondern ob er sich selbst und der Gottheit gefalle." So for-
muliert Eucken treffend die Grösse der platonischen Moral. Und wie hier
schon die materiale Ethik überwunden erscheint, so liegt auch bereits der
schrankenlose Subjektivismus unserer Zeit hinter ihr im wesenlosen
Scheine. „Wo ist nun mehr Kraft und Leistungsfähigkeit : bei einer
solchen von der Hoheit der Moral erfüllten Persönlichkeit oder bei unseren
neu-romantischen oder sophistischen Bekrittlern der Moral?" Diese Frage
Euckens scheint nach meiner Meinung gerade den crudesten Subjektivis-
mus unserer Zeit glänzend zu treffen.
Die sittliche Verinnerlichung vollzieht sich weiter in der Lehre der
Stoiker, die auch auf das alte Christentum übergreift. Nur wandelt sich
hier die „Tapferkeit" „in ein standhaftes Ausharren", nicht also in „eine
stumpfe Passivität", sondern in eine „heldenhafte Gesinnung".
Erhöht ward diese noch durch die Reformation. Luther selbst, bei
aller Kindlichkeit und Schlichtheit seines Gemütes, eine edle Heldennatur,
trägt einen grösseren Ernst in das menschliche Leben, steigert „das Be-
wusstsein der persönlichen Verantwortlichkeit". Ebenso schön, wie treffend
sagt Eucken : „Tradition und Autorität, äussere Formeln und heilige
Werke, alles verblasst vor der grossen wesensbewegenden Wendung in
das Innere." Wer Luthem auch nur flüchtig kennt, mag er vielleicht nur
mit vorurteilslosem Ernste sich in die „Freiheit eines Christenmenschen"
oder in die Schrift „Von zweierlei Menschen, wie sie es im Glauben
halten" vertieft haben, der wird Euckens Auffassung nur voll und ganz
zustimmen können. Um wieviel mehr jeder, dem das Lebenswerk des
Reformators in seiner Totalität zu ernst würdigendem Bewusstsein ge-
langt ist!
„Eine neue Epoche" auch in der Moral sieht Eucken durch die
Kantische Philosophie herbeigeführt. Überall treffend ist sein Urteil; und
wie gebührend er mit wenig Worten all die entstellenden Verzerrungen
und die vagen Missverständnisse zurückweist, die Kants autonome Ethik
von gegnerischer Seite erfahren hat, das kann alle, die Kants Ethik wirk-
lich verstanden haben, und die leider auch heute noch zu zählen sind,
nur herzlich erfreuen. So weist Eucken an der Hand der Geschichte von
der Moral nach : „An den Gipfelpunkten erschien sie deutlich als ein Ver-
mögen nicht der Erniedrigung, sondern der Erhöhung, nicht der Unter-
drückung, sondern der Befreiung" . . . „Wo ist denn mehr echte Kraft :
bei unseren neumodischen Romantikem mit ihren schwelgenden Stim-
mungen und ihrem Sich-Einreden eines grossen Vermögens, oder bei jenen
Helden, Männern, wie Piaton, Luther, Kant, die freilich viel zu sehr von
der Schwere der Aufgabe erfüllt waren, um einen Überschuss von Kraft
zu empfinden und darüber viel zu reden, deren Vermögen aber ein grosses
Lebenswerk besiegelte ?"
Diente die jetzt besprochene Abhandlung mehr den moralischen
Prinzipienfragen in ihrer historischen Entfaltung, so behandelt die zweite
„die moralischen Triebkräfte im Leben der Gegenwart" ; wie dieser ihr Titel
Euckens philosophische Aufsätze. 83
besagt. Sie wendet sich also weniger den moralischen Prinzipien unserer Zeit
— wenn man dieser im allgemeinen überhaupt die Ehre, solche zu haben,
lassen will — als den „moralischen Triebkräften" selbst, d. h. der that-
sächlichen Entfaltung, ihrem Werden und Wachsen innerhalb des mensch-
lichen Kreises" zu ; und zwar eben, ihrem Vorhaben gemäss, innerhalb des
engen Kulturkreises unserer Zeit. Im Leben der Gegenwart ist der her-
vorstechendste Zug die Verneinung: „Die Abweisung aller unsichtbaren
Zusammenhänge und übernatürlichen Ordnungen." Über den unleugbaren
oft ausser-, ja un-moralischen Wirkungen der Religion werden deren ebenso
unleugbaren moralischen Wirkungen übersehen und geleugnet. Das Un-
genügen des gegenwärtigen Religionszustandes sucht unsere Zeit „durch
eine energische Erfassung der unmittelbaren Wirklichkeit" zu ersetzen.
Die Entfaltung sozialer Arbeit greift Platz und wirkt bestimmend auf die
Moral. Man möchte die Ethik durch eine allgemeine Gesellschaftslehre,
eine Sozialethik, ersetzen. So wenig gewisse Vorzüge solchen Strebens zu
verkennen sind, ebenso wenig ist die Gefahr allgemeiner Verflachung zu
unterschätzen, die für die Moral aus solchen Gegenwartsbestrebungen er-
wächst. Das Leben wird veräusserlicht, äussere Güter, Glück, Vermögen,
gesellschaftliche Stellung werden gierig ergriffen. Die „inneren Probleme",
die Schätze, die nicht Rost und Motten fressen, werden vernachlässigt.
Danach macht sich breit eine schrankenlose Willkür, ein extremer Subjek-
tivismus. Auch ihn durchschaut Eucken bis auf den tiefsten Grund in
seiner Haltlosigkeit.
Aber gerade ihm müssen wir jener, sehr stark materialistisch be-
stimmten, auf den äusseren Erfolg gerichteten Tendenz der Sozialethik
einen gewissen Relativitätswert anerkennen. Auch Eucken bleibt das
keineswegs verborgen. Er erkennt gar wohl die in ihm schlummernden
moralischen Potenzen, seine latenten Energien : Von der materialistisch
bestimmten Ethik lässt sich für die Innerlichkeit der Persönlichkeit nichts
erhoffen. Aber der Subjektivismus, in so falsche Bahnen er auch heute
lenkt, weist doch die Persönlichkeit wenigstens mittelbar auf ihr Innerstes
und lässt eher „auf die Wendung von aussen nach innen vertrauen".
An uns ist es, die Wendung faktisch zu vollziehen, das Unhaltbare
unserer Zeit zu überwinden, und ihre wertvollen Potenzen aus der Latenz
in Wirksamkeit umzusetzen. Die Reformation und die kritische Philo-
sophie haben uns allen, denen an den ewigen Werten gelegen ist, die
Wege gewiesen.
„Die innere Bewegung des modernen Lebens", die Euckens nächste
Abhandlung zum Gegenstande hat, weist dieselbe Zerfahrenheit und Zer-
rissenheit auf, wie sie in den moralischen Triebkräften der Gegenwart
wirksam sind. Denn diese greifen auf jene über. „Die Lösung lässt sich
nur in der Richtung suchen, dass im menschlichen Kreise selbst eine Welt
aufgedeckt, im Menschen selbst etwas Übermenschliches ergriffen wird".
— Dazu aber „bedarf es der Erschliessung einer neuen Wirklichkeit durch
Leistung und That, es bedarf einer Erhöhung unseres Lebens und Wesens",
die sich erhebt über die Anschauungsweise der Gegenwart, „welche die
vorhandenen Verwickelungen und Gegensätze vollauf anerkennt, aber über
sie hinaus zu einer Tiefe vordringt, wo der Lebensprozess aus innerer
6*
Si B. Bauch,
Festigkeit die Kluft überspannt und in sich selbst einen Weltcharakter
gewinnt." Für den nach dieser Richtung hin einzuschlagenden Weg ver-
weist Eucken auf seine Werke: „Der Kampf um einen geistigen Lebens-
inhalt" und „Der Wahrheitsgehalt der Religion".
Einen hochbedeutsamen, ebenso lehrreichen, wie interessanten Aus-
blick auf die Complikation dieser Probleme, auf ihr Entstehen aus einer
reichen Vergangenheit für unsere Zeit bietet uns die „Festrede zur Jahr-
hundertfeier" : Die gigantische, gewaltige Organisation der Arbeit, in deren
gesellschaftlichem Zusammenschluss selbst die Indi\ädualtendenz zum
Durchbruch gelangt, wird ebenso, wie diese selbst, dem Verständnis in
klarstes Licht gerückt. Die Bedeutung der nationalen Ideen, das Er-
wachen des Geschichtsverständnisses, die wissenschaftlichen und künstlerischen
Errungenschaften werden uns mit lebendiger Anschaulichkeit und tief-
dringender Schärfe zu ebenso eindrucksvollem Verstehen gebracht, wie die
Kehrseite, die diese Erfolge haben : die Gefahr der persönlichen Ver-
flachung, die in den gesellschaftlichen Zusammenschlüssen liegt. Und zu-
gleich wird uns auch hier wieder die Überwindung dieser Gefahr, in die
unsere Zeit eng verstrickt ist, als die Aufgabe eben unserer Zeit eindring-
lich zum Bewusstsein gebracht. Für uns Deutsche bedeutet die Einigung
unseres Vaterlandes, das kostbarste Geschenk des verflossenen Jahrhunderts,
selbst den Hinweis auf die Erfüllung dieser Aufgabe, und zugleich die
Möglichkeit, sie zu lösen. Im Staate vollzieht sich ja die Einigung des
Allgemeinen mit dem Besonderen. Unter diesem Betracht erwächst auch
die hohe sittliche Bedeutung der nationalen Idee, der Nation, nicht nur
die des grossen mächtigen Staates, sondern auch
„die Bedeutung der kleinen Nationen", die von Eucken in einem
besonderen Aufsatz behandelt wird. Eine reiche Fülle feinster Bemerk-
ungen ist geeignet, vielfach übliche, vorgefasste Meinungen zu zerstreuen.
Bei aller Anerkennung des Wertes extensiver Staatenbedeutung sichern
wir uns vor Unterschätznng der kleinen Nationen, wenn wir die Wertbe-
trachtung hier in das intensive Staatsleben verlegen. „Dass in ihnen das
Interesse an den grossen Weltkämpfen mit ihren Leidenschaften nicht so
direkt erregt wird, muss der Ruhe der Betrachtung und der Gerechtigkeit
des Urteils zu gute kommen ; es lässt sich von hier aus zur Verständigung
und Ausgleichung der Gegensätze wirken, auch können hier die rein
menschlichen Probleme mit besonderer Kraft durchlebt und gefördert
werden. Eine Mannigfaltigkeit individueller Bildungen wird sich hier
eher neben einander vertragen, als da, wo alles zu grosser gemeinsamer
Leistung zusammendrängt; endlich sind Versuche zu Neugestaltungen in
günstigerer liage, als da, wo es ungeheure Massen zu bewegen gilt."
Freilich sind das nur Möglichkeiten, und wieviel von ihnen „zur Wirklich-
keit wird, das liegt an den einzelnen Völkern selbst." Aber für die Kul-
tur sind eben auch Möglichkeiten, sofern sie reale, historische Möglichkeiten
sind — und das sind die von Eucken dargestellten — doch reale Potenzen
und darum selbst Realitäts werte. Durch einen glücklichen Hinweis auf die
Schweiz und die Niederlande illustriert Eucken seine Thesen in treffender
Weise. Und die Art, das Schicksal Finnlands zu beleuchten, ist sachüch
ebenso fein, wie menschlich anziehend und sympatisch.
Euckens philosophische Aufsätze. 85
An die Abhandhingen allgemeineren Inhaltes schliessen sich die
Aufsätze über einzelne Persönlichkeiten an, aber derart, dass sie mit jenen
in fortlaufender innerer Beziehung bleiben. Es ist die Stellung eben
dieser Persönlichkeiten zu den gleichen oder ähnlichen Problemen, was
uns im weiteren vorgeführt wird.
„Aristoteles' Urteil über Menschen" gelangt an erster Stelle zu an-
ziehender und fesselnder Darstellung. Es steht in gewisser Rücksicht
ausserhalb seiner centralen Lehre. Das stark persönliche Moment und die
in ihm zur Geltung gelangende zeitliche Bestimmtheit, die plastisch und
lebendig aus Euckens Darstellung herausspringen, geben ihm einen ganz
besonderen Reiz. Freilich tritt der Eudaimonismus der griechischen Ethik
auch in der persönlichen Äusserung des Aristoteles zu Tage. Aber ebenso
sicher grenzt sich in seinem Wesen dieser Eudaimonismus ab gegen den
flachen und platten Hedonismus und Utilismus; strebt kraftvoll über sie
hinaus. Die gemeine Selbstliebe, das steht zwar für den grossen Griechen
in seinem Urteile über die Menschen fest, treibt den Einzelnen zu seiner
Gattung, den Menschen zu Menschen, wie das Tier zum Tiere seines
Gleichen. Allein die menschliche Gemeinschaft selbst schafft unter der
Bestimmung des göttlichen Gesetzes selbst an dessen Verwirklichung.
Und in der Art, in der ein jeder sein Glück sucht, in der sich die Selbst-
liebe auswirkt, statuiert Aristoteles den grossen Wertunterschied der
Menschen. Nach diesem hochbedeutsamen Gesichtspunkte weiss er gar
wohl den Helden vom Frevler, den Tüchtigen vom Ehrgeizigen und vom
Gewinnsüchtigen zu unterscheiden, sie alle einer wohlgeordneten Wert-
skala einzugliedern; sodass die persönliche Wertung in letzter Linie doch
aus dem Vernunftideale fliesst.
Der folgende Aufsatz behandelt „Goethe und die Philosophie". Der
Titel weist schon darauf hin, dass es Eucken nicht darauf ankommt, ein
Bild von Goethes Philosophie im Sinne seiner allgemeinen, wenn auch
nur in den schärfsten Zügen umrissenen Weltanschauung zu geben,') nicht
Goethes Philosophie, sondern die persönliche Eigenart des Dichters, zur Philo-
sophie Stellung zu nehmen, zu beleuchten. Dieses Verfahren hat natürlich
eben wegen der durchaus individuellen Bestimmtheit des Gegenstandes
seine volle Berechtigung. Nur tritt da die Einheit der Totalität des ob-
jektiven Gehaltes eben der Weltanschauung etwas sehr in den Hintergrund.
Gegen den Aufsatz Euckens bedeutet das natürlich nicht den leisesten
Vorwurf, da sein Problem eben von vornherein anders gestellt und ge-
kennzeichnet ist, da er nicht Goethes Philosophie, sondern sein Verhältnis
zur Philosophie, seine persönliche Stellungnahme zu dieser behandeln will;
nicht wie aus seiner Seele seine Gesamtanschauung von Welt und Leben
herauswächst, sondern wie der Dichter an diese herantritt. Es gewährt
zwar gerade einen ganz besonderen Genuss, zu sehen, wie sich für die
subjektive Individualität Goethes die Einheit und Totalität des Weltbildes
objektiviert, und es wäre ferner interessant zu beobachten, in welcher
Weise ein Denker, wie Eucken, jene objektivierte Totalität rekonstruieren
1) Ähnlich wie ich es selbst einmal versucht habe; vgl. meine An-
trittsvorlesung „Über Goethes philosophische Weltanschauung" in den
„Preussischen Jahrbüchern" Bd. 115, DI. Heft.
86 B. Bauch,
möchte. Aber gerade durch die Art, wie Eucken sein Problem stellt und
behandelt, wie er mehr nach der subjektiven Richtimg' des Persönlichen
in Goethes Philosophie, als nach deren objektiven Gehalt tendiert, ge-
winnt seine Untersuchung auch einen ganz besonderen Reiz: eben den
Reiz des Individuellen, des Persönlichen. Dieses darf natürlich auch von
der auf den einheitlichen Gesamtinhalt gerichteten Betrachtung nicht
übersehen werden, weil jener selbst durchaus persönlich bestimmt ist,
muss für sie aber mehr als eine stillschweigende Voraussetzung hinge-
nommen werden und vor dem allgemeinen Inhalt der Weltanschauung in
den Hintergrund treten, sofern man es nicht auf eine umfassende und um-
fangreiche Arbeit absieht, genau wie Eucken seinerseits neben der subjek-
tiven Analyse in dem Rahmen eines Aufsatzes wohl kaum noch hätte
den Umriss des objektiven Totalinhaltes von Goethes Philosophie geben
können.
Was er nun in dieser subjektiven Analyse bietet, ist so überaus fein
gedacht und fein gefühlt, so scharf und klar herausgearbeitet, so schön
dargestellt, wie man es nur erwarten kann; mag es sich nun um Goethes
Stellungnahme zur Natur, zum Leben, zur Ethik, zur Religion, zur Kunst
handeln.
Nicht minder reizvoll ist der nächste Aufsatz über „Pichte und die
Aufgaben unserer Zeit". Die Ideale unseres nationalen Philosophen im
besten Sinne des Wortes werden „mit den Erfahrungen des Jahrhunderts
und den Aufgaben der lebendigen Gegenwart zusammengehalten".
Mit persönlicher Wärme wird Fichtes warmes und energisches
Leben für die vaterländische Idee, für die deutsche That und Kraft, für
das „deutsche Gemüt", die deutsche Innerlichkeit und Religiosität — mit
einem treffenden Hinblick auf Fichtes Auffassung vom Wesen und Wirken
Luthers — und für die deutsche Philosophie, das deutsche Staats- und
Gesellschaftsleben kurz und präcis gekennzeichnet, wird gezeigt, wie er
in diesen Erscheinungen des deutschen Geistes „sichere Beweise einer un-
vergleichlichen Grösse und Tiefe" eben dieses „deutschen Geistes sah",
die dieser „in der Vergangenheit gegeben und die die Seele der neueren
Geschichte" bilden. Sie sichern zugleich den Grund seines festen Ver-
trauens in der schwersten Zeit seines Vaterlandes, um eine neue kraftvolle
Lebensentfaltung in der Zukunft erwarten zu können. Seine Erwartungen
haben ihn nicht getäuscht; seine Hoffnungen sind Wirklichkeit geworden.
Aber die Geschichte ist auch über sie hinausgegangen. Das nationale
Leben sucht sich zu erdumspannender, extensivster Macht auszudehnen.
Und wenn es auch in diesem Streben sich wird notwendig begrenzen
müssen, wenn es für dieses Streben wird gewisse Schranken anerkennen
müssen, so wird doch der deutsche Geist durch intensive Wirksamkeit er-
setzen, was ihm extensiv vielleicht nicht beschieden ist. „Dann wird sich
die deutsche Art innerlich als eine Weltmacht erhalten, auch wenn sie
äusserlich zurückstehen sollte. Schliesslich ist das Stärkste der Geist, er
kann, er wird sich behaupten gegen alle blosse Ausdehnung." Dazu aber
darf über der Sorge um die materielle Existenz — die Gefahr unserer
Zeit! — der selbsteigene Wert des geistigen Lebens nicht vergessen
werden.
Euckens philosophische Aufsätze. 87
Im Anschhiss an die beiden Geistesgewaltigen, an Goethe und
Fichte, werden einige zwar erheblich minder bedeutende, in ihrer Eigen-
art doch ungemein anziehende Persönlichkeiten, interessante und gehalt-
volle Charaktere behandelt. Und da erweist Eucken seine Darstellungs-
kunst in neuer trefflicher Art. Mit Innigkeit ergreift er das Wesen der
Individualität dieser Männer, mit Sicherheit erfasst er das Bedeutsame ihrer
Eigenart und weiss ihren Wert in das sympathische Licht liebevoller
Teilnahme und edler Gerechtigkeit zu rücken; mag es sich um „Friedrich
Fröbel als Vorkämpfer innerer Kultur" handeln, der die Weltanschauung
teilt, die die Denker und Dichter unserer klassischen Zeit vereinigte,
dessen ganzes Wesen auf kraftvolle Eigenbethätigung drang, und der auf
sie und die Bildung der Menschen von Innen her auch die Erziehung an-
gelegt wissen wollte; — mag Eucken „Zur Erinnerung an Immanuel Her-
mann Fichte" schreiben. Ein Aufsatz, der bei aller Kürze uns ganz be-
sonders liebenswürdig anmutet. Dem auf die gerechte Würdigung aller
philosophischen Leistungen bedachten jüngeren Fichte, — mit seinem auf
Versöhnung der Systeme und auf die harmonische Vereinigung der philo-
sophischen Disziplinen der Erkenntnistheorie und der Metaphysik, sowie
endlich der Philosophie selbst mit der Religion gerichteten edlen Geiste
— ist hier eine ganz besonders innige, aus Gesinnungsverwandtschaft ent-
sprungene Erinnerung geweiht; — mögen wir mit des finnländischen
Dichters, des Idealisten „Runebergs Lebensanschauung", der Kunst und
Leben, Sittlichkeit und Religion aufs Innigste vereint, bekannt gemacht
werden, — oder mag der Autor das ungemein reiche Lebensbild des un-
ermüdlich wirksamen, thätigkeitsfrohen „Moritz Seebeck" vor uns entrollen,
— oder mag er uns endlich „Zur Erinnerung an Karl Steffensen" dessen
stilles Schaffen und Wirken, dessen philosophische Bethätigung nach der
Richtung der Schellingschen Religions- und Geschichtsphilosophie mit
seiner innigen Anlehnung an Piaton vor Augen führen, und uns die Be-
sonderheit seines Denkens in der innigen Beziehung der Philosophie zum
Reinraenschlichen erschliessen. Überall finden wir das gleiche, liebevolle
Eingehen auf die Persönlichkeit und das glücklichste Ergreifen ihres
Wesens, das auch das Bild ihres Wirkens in lichte Klarheit zu heben
vermag.
Der zweite Teil von Euckens Buch, an Umfang nur ein Drittel
desselben, nimmt Stellung „Zum religiösen und religionsphilosophischen
Probleme". Der erste seiner Aufsätze behandelt „die Stellung der Philo-
sophie zur religiösen Bewegung der Gegenwart" : Die Zeit der Äusserlich-
keit und Veräusserlichung, als welche sich die letzten Jahrzehnte trotz
der grossen äusseren Erfolge auf Einzelgebieten, ja in gewissem Zusammen-
hange mit diesen Erfolgen charakterisieren, hat den inneren Menschen leer
gelassen. Die Persönlichkeit sehnt sich nach Innerlichkeit. Das ist die
Wendung zur Religion.
Die überlieferten Religionssysteme aber können dem Menschen kein
Genüge thun. Ihre herkömmlichen Vorstellungsformen widersprechen den
geistigen Errungenschaften und den neuen geschichtlichen Werten unserer
Zeit. Aufgabe dieser Zeit aber ist es, die religiösen Werte mit denen
unserer Kultur zur Einheit zu bringen. Darum darf die Religion „die
88 B. Bauch,
lebendigen Probleme nicht fliehen". Deren Werte aber gar zu leugnen
wäre selbst Unglaube; es ist „ein Unglaube an die Macht des Göttliclien
in der Geschichte, anzunehmen, dass die tiefen, geistigen Wandlungen
und die schweren Erschütterungen der letzten Jahrhunderte ganz frucht-
los geblieben sind für die innerste Seele des Menschen und für sein Ver-
hältnis zum Göttlichen", Die Pliilosophie ihrerseits hat entschieden die
Zeitlosigkeit der ewigen Wahi-heit anzuerkennen und sie nicht an die
Sprache dieser oder jener Epoche gebunden zu denken. Sie selbst aber
kann die Religion nicht erneuern. Diese Erneuerung hat von der Reli-
gion selbst auszugehen. Aber die Philosophie kann sie unterstützen; nicht
für den Einzelnen zwar, sondern für „das Ganze der Menschheit". Die
religiöse Wendung zur Innerlichkeit und die philosophische Wendung zum
Subjekt kommen sich da trefflich entgegen. Beide weisen auf überindivi-
duelle Zusammenhänge hin, um dem Einzelnen einen allgemeingiltigen
Wert, dem Historischen einen Ewigkeitsgehalt zu sichern, hoch erhaben
über jedes individuelle Belieben und subjektive Willkür, geläutert von
aller unedlen und veräusserlichenden Nützlichkeitsrücksicht auf den sinn-
fälligen Erfolg, die in unserer Zeit eine hochbedeutende Rolle spielen.
„Der moderne Mensch und die Religion" in ihrer Wechselbeziehung,
die der zweite dieser Aufsätze behandelt, zeigen das. Der Naturalismus
und der Subjektivismus treten heute der Religion noch entgegen; jener,
weil er den Menschen lediglich und ausschliesslich in seiner phänomenalen
Verstricktheit in die mechanischen Zusammenhänge der Natur zu be-
trachten weiss, dieser, weil er allgemeingiltige, übersubjektive Bestim-
mungen der menschlichen Innerlichkeit nicht gelten lassen will und die
Unterordnung der Persönlichkeit unter jene als eine menschliche Schwäche
verspottet. Aber ihnen zum Trotz beginnt die Religion zu erstarken, und
dafür kann sie selbst Kraft ziehen aus den Errungenschaften imserer Zeit.
Dem Naturalismus gegenüber verweist eine vertiefte Erkenntnis den
Menschen auf übermenschliche Zusammenhänge, wie sie ihn dem Subjek-
tivismus gegenüber auf allgemeine Werte verweist, indem selbst der
Wert des Individuellen, des Subjektiven auf solche rekurriert.
Das geschichtliche Bild eines grossen ernst und ehrlich ringenden
Zweiflers, der auch für unsere Zeit von ganz hervorragendem Interesse
ist, bietet uns der nächste Aufsatz : „Pierre Bayle, der grosse Skeptiker" dar.
Eine künstlerisch feinsinnige Analyse entwickelt uns die Eigenart dieses oft
verdächtigten, weil schwer verständlichen Mannes, der in Wahrheit nur
um der Wahrheit willen zweifelt, die überkommenen Vorstellungsweisen
mit unnachlässlicher Zähigkeit und unerbittlicher Kritik zersetzt, der im
ewigen Sehnen nach Erkenntnis an der Erkenntnis verzweifelt, der da
meint, dass wir nie sicher sind „die Wahrheit zu haben, sondern nur des
Glaubens, sie zu haben". Dieser Subjektivismus im Theoretischen findet
sein Analogon bei ihm im Praktischen. Die allgemeinen Werte weichen
der Eigenliebe, dem Glückseligkeitstriebe, der sehr treffend in seiner Un-
fähigkeit zum allgemeinen Prinzip zu dienen, weil in seinem Wechsel,
erkannt wird.
Aber dieser eigentlich „vorwissenschaftliche" Skeptizismus erhält
eine höhere, positive Bedeutung durch seine Wendung zum Wissenschaft-
Euckens philosophische Aufsätze. 89
liehen Skeptizismus. Denn dieser besinnt sich darauf, dass selbst alle
Skepsis, die etwas bedeuten und nicht bloss leeres Geschwätz sein will,
„das Wirken einer Vernunft im Menschen anerkennen" muss. Nur auf
dieser Voraussetzung, „auf Grund von Vernunft und Wissenschaft" kann
ein höherer Skeptizismus entstehen, der sich bewusst wird, dass bei aller
Anerkennung der formalen Vernunftgesetzmässigkeit doch das Vernunft-
streben nach inhaltlicher Wahrheit auf unüberwindliche Schwierigkeiten
stösst. Nach Bayle zeigt sich, wie Eucken das treffend formuliert, „un-
sere Vernunft unvermögend, auszuführen, was sie begonnen hat und be-
ginnen musste". So ergeht es der Vernunft nicht minder, wenn sie sich
ein Gesamtbild der in Zeit und Raum befassten Welt entwerfen will, als
wenn sie in das Seelenleben des Menschen oder des Tieres einzudringen
versucht. Überall gerät sie in antithetische Verwickelungen.
Etwas ganz Ähnliches findet auch für die wissenschaftliche Skepsis
in praktischer Beziehung statt. Auch hier giebt es eine höchste, un-
zweifelhafte Gewissheit: das innere moralische Gesetz. Aber auch hier
gewahrt Bayle eine tiefgehende Gegensätzlichkeit: nämlich zwischen der
Wirklichkeit und den Forderungen dieses Gesetzes ; ein Gegensatz viel
tieferer Art, als ihn die vorwissenschaftliche Skepsis kannte, da diese den
Menschen ja viel mehr als Naturwesen, denn in seiner moralischen Anlage
betrachtete, und so das Höhere in ihm nicht fasste.
Von der Religion erhofft und erwartet Bayle Überwindung dieses
Zwiespaltes. Aber die Wirklichkeit zeigt auch da ein erschütterndes
Bild : Die Religionen widersprechen der Religion. Und der Unterschied
des Bekenntnisses thut hier nicht das Geringste ; überall besteht das
gleiche Missverhältnis. Der Wert des Menschen ist unabhängig von seinem
Glaubensbekenntnis.
Anstatt, dass die Religion das Leben zu gestalten vermöchte, zieht
das Leben die Religion, in der Form der Religionen, in seinen verwelt-
lichenden und veräusserlichenden Dienst. Anstatt den Frieden der Reli-
gion bringt das Leben religiösen Unfrieden. Die Seele des Menschen
leidet Schaden durch den dogmatischen Streit der Parteien, die sich in
blindem Sektenwahn befehden.
Unermüdlich ringt sich der Mann mit den Problemen in ernster
Arbeit ab. Bis in die einzelnen Dogmen, soweit ihr Kern ein moralischer
ist, versenkt sich sein heissestes Bemühen. Aber „in aller unermesslichen,
staunenswerten Beweglichkeit fehlt dem Manne die eigentliche Thatkraft
des Denkens, w^elche den Kampf gegen die Widersprüche aufnimmt und
sie schliesslich in irgend einer Weise heroisch überwindet".
Unter dem Titel „Ein neuer Durchblick der Weltgeschichte" be-
schliesst eine recht ausführliche Besprechung von Willmanns Geschichte
des Idealismus den religionsphilosophischen Teil . des Werkes. Um hier
nicht eine Besprechung der Besprechung zu geben, wollen wir uns kurz
fassen, und nur das bemerken : Euckens Aufsatz ist als edle, vornehme
Streitschrift geradezu vorbildlich. Dass seine moderne Weltanschauung
von der mittelalterlichen Willmanns durch unendliche Kluften getrennt
bleibt, das tritt mit ebensolcher Deutlichkeit an den Tag, wie die Achtung
der persönlichen Überzeugung des anderen. In der Bewertung von Willmann s
90 B. Bauch,
Werk kann ich allerdings Eiicken nicht ganz zustimmen. Dass Willmanns Ge-
schichte des Idealismus „keine Tendenzschrift" sei, — dies Urteil scheint
mir einer starken Einschränkung bedürftig. Wir dürfen vielleicht zugeben,
dass das Werk nicht ganz in der Tendenz aufgeht, dass es nicht ganz und
gar Tendenzschrift ist. Seine ersten Teile mögen immerhin den Anspruch
auf tendenzfreie Sachlichkeit erheben dürfen, so gilt doch das nicht von
der Darstellung der Neuzeit. Namentlich sehen wir die Behandlung des
kritischen Idealismus, insonderheit die Kants von einer so beklagenswerten
Tendenz erfüllt, dass der Gesamtwert des Buches erhebliche Einbusse er-
leidet. Gerade darum ist uns Euckens durch und durch vornehmer und
immer treffender von einem hohen Bewusstsein der allgemeinen kulturellen
Werte getragener Protest aus der Seele geschrieben.
Im Anhang beantwortet Eucken noch kurz die Frage: „Was sollte
zur Hebung philosophischer Bildung geschehen?" und giebt eine Fülle
beherzigenswerter Richtpunkte sowohl für die philosophische Belehrung
auf der Schule als auch für die Arbeit auf der Universität. Um nur das
Wichtigste hervorzuheben, machen wir auf den glücklichen Hinweis auf-
merksam, den er für den philosophischen Schulunterricht giebt: „ein Ver-
trautwerden mit den grossen Helden des Denkens, namentlich mit solchen,
die von starker Bewegung erfüllt sind", hält Eucken in diesem Betracht
für sehr wertvoll. Und dass er neben Piaton auch Kant zur Geltung ge-
bracht wissen will, findet unseren vollen Beifall.
Für den Universitätsunterricht fordert Eucken mit Recht mehr Be-
rücksichtigung der allgemeinen Weltanschauungsprobleme gegenüber der
heute zu hoher Geltung gelangten naturwissenschaftlichen (psychologischen)
Richtung und auch der rein historischen Behandlung, so wertvoll diese
immerhin an und für sich sein mögen. Sehr riclitig sieht Eucken eine
starke Schädigung in der „unseligen Verschärfung des konfessionellen
Gegensatzes".
Auch macht er eine Reihe von höchst annehmbaren Vorschlägen,
wie Abschaffung des philosophischen Promotionszwanges, Einrichtung von
Übungen und Repetitorien neben den Seminarien.
Mit dem Gefühle der Dankbarkeit gegen den Schriftsteller legen
wir sein Werk aus der Hand. Eine Fülle von Belehrung und Anregung
geht von diesen vortrefflichen, in durchgehendem Zusammenhange stehen-
den Aufsätzen aus. Ihr wissenschaftlicher Wert verbindet sich aufs glück-
lichste mit jener vornehmen Popularität, von der Schiller meinte, sie würde
der Philosophie die weitesten Kreise erobern. Und wir sind der Überzeugung
und der Hoffnung, dass die Sammlung dieser Aufsätze philosophisches
Interesse wirklich in den weitesten Kreisen finden und erwecken werde.
Es wächst und regt sich ja allenthalben, und eine reiche Popularlitteratur
bietet sich ja auch bereits an, es zu befriedigen, leider aber meist in
Euckens philosophische Aufsätze. 91
Schriften jener populären Art, die hätten ebensogut oder besser unge-
schrieben bleiben können. Im Gegensatz zu dieser Art von Popularlitte-
ratur ist nun gerade ein Buch, wie Euckens Aufsatzsammlung, das in
gleicher Weise die Wissenschaftlichkeit auf das sorgfältigste wahrt, wie
es doch durchaus für jeden Gebildeten verständlich ist, um so freudiger
zu begrüssen. Hier kann jeder philosophisch Interessierte wirklich Gewinn
und Belehnmg finden. Die schöne, klare Sprache macht es ihm leicht, den
ernsten, philosophischen Gedanken zu folgen ; die edle Form bietet ihm
den gediegenen Gehalt aufs gefälligste dar; und so hoffen und wünschen
wir für dieses Buch allseitige Verbreitung.
Renouvier und der französische Kritizismus.'^
Von M. Ascher.
Am 1. September 1903 starb im 89. Lebensjahre Charles Renouvier,
der Begründer des französischen Neu-Kritizismus. Unter den philosophi-
schen Lehrgebäuden nimmt der Renouviersche Kritizismus eine hervor-
ragende Stellung ein und vermutlich wird dies System in den kommenden
Jahren noch weit mehr Anhänger gewinnen als es heute schon besitzt.
Renouvier hat, auf Kantische Prinzipien gegründet, ein vollständiges
System von philosophischem Phänomenalismus geschaffen. Kant hatte die
Metaphysik als wissenschaftliche Erkenntnis allerdings verworfen, aber als
vernünftiges Denken über den mundus intelligibilis hatte er sie gelten
lassen, ja in gewisser Beziehung als notwendig befunden. Der von Re-
nouvier gegründete Neu-Kritizismus hat es sich zur Aufgabe gemacht,
innerhalb der Grenzen menschlichen Erkennens einzig die Wirklichkeit
zu erklären, und jede Existenz, welche man sich in einer anderen Sphäre
vorstellt, als der der sinnlichen Erfahrung, ist für ihn nur Chimäre. Die
noumenale Welt Kants entzieht sich den Regeln der Erkenntnisthätigkeit,
weshalb sie von einer wahrhaft kritizistischen Methode nicht gebilligt
werden kann.
Der Renouviersche Kritizismus knüpft sowohl an Hume wie an
Kant an. Er versöhnt beide, indem er beide sich gegenseitig ergänzen
lässt. Kant hatte Humes Lehre verbessert, indem er die Kategorien darin
einführte und bewies, dass kategoriale Bestimmungen a priori unentbehr-
lich seien. Renouvier aber verbessert wieder Kants Lehre, indem er mit
Humes Belegen aus den Kantischen Verstandesgesetzen die Idee der Sub-
stanz streicht. — Renouvier selbst hat bei jeder Gelegenheit betont, dass
er das Werk Kants nur habe fortsetzen resp. vollenden wollen. Renouvier
will den Kantianismus verbessern, die Thesen Kants, wo es not thut, um-
arbeiten, ohne jedoch die Grundideen Kants zu bestreiten. Es wird wohl
niemand geben, der mit der Kantischen Einteilung der Kategorien völlig
einverstanden ist und dieselbe für unanfechtbar hält Doch mit Recht
hat schon in der Revue de Metaphysique et de Morale Mai 1904, in seinem
Artikel „La critique des categories kantiennes chez Charles Renouvier"
der Verfasser D. Parodi manche der Renouvierschen Einwürfe gegen Kant
1) Mit Rücksicht auf: Janssens, „Le Neo-Criticisme de Charles Renou-
vier" und besonders auf: Prat, ,,Les Derniers Entretiens de Charles Re-
Renouvier und der französische Kritizismus. 93
entkräftet, wenn auch vom logischen Standpunkt aus die Renouviersche
Kritik ihre Kraft beibehält. Auch in dem kürzlich erschienenen vortreff-
lichen Werke über Renouvier „Le Neo-Criticisme de Charles Renouvier",
Paris, Felix Alcan, 1904, ist es dem Verfasser E. Janssens zuweilen ge-
lungen, Kant gegen Renouvier in Schutz zu nehmen. — Übrigens geben
selbst die Gegner der Renouvierschen Philosophie zu, dass man über den
imposanten Charakter dieses grossartigen philosophischen Lehrgebäudes
staunen muss.
Den Widerspruch vermeiden, das ist für Renouvier das Bedeut-
samste bei allem Forschen. Da handelt es sich für den Kritizismus in
vorderster Reihe um die Widerlegung des Unendlichkeitsbegriffs. Es
liegt ein grosser Widerspruch in dem Begriff einer unendHchen Zahl. Zu
jeder Zahl, wie gross sie auch sei, ist es immer möglich, eine noch grössere
Zahl hinzuzudenken. Gäbe es nun ein Unendliches, so wäre es eine Zahl,
die grösser ist als jegliche denkbare Zahl, was an und für sich etwas Un-
sinniges ist. Deshalb auch muss die Welt zeitlich einen Anfang gehabt
haben, denn es kann nicht eine unendliche Anzahl von Augenblicken oder
Jahren verflossen sein. AUe Dinge müssen einmal begonnen haben und
vor diesem Anfang war nichts. Es wird uns niemals gelingen, die Uran-
fänge zu ergründen, und niemals werden wir bis an die Quelle des Flusses
gelangen, dessen Lauf uns mit sicli zieht.
Kants Lehre, „man kennt nur Phänomena", besagt allerdings, dass es
uns unmöglich ist, die Metaphysik zu begreifen, aber sie giebt die Mög-
lichkeit einer Metaphysik zu. Renouviers Lehre, „es giebt nur Phänomena'-,
bestreitet eine Metaphysik überhaupt. Man könnte nun glauben, dass Re-
nouvier alle jene Begriffe verneint, die man im allgemeinen als metaphy-
sisch versteht und deshalb auch sich veranlasst sieht, die Religion zu
negieren. Keineswegs! Renouvier stützt vielmehr die Metaphysik nur
auf die Forderung des sittlichen Bewusstseins, und es giebt wohl keine
Philosophie, die sich so sehr mit den Grundprinzipien der Religion deckt,
als der französische Neu-Kritizismus. Das moralische Gesetz drängt sich
nach Renouvier den Individuen sowohl wie den Gesellschaften auf und
befiehlt die Pflichten gegen sich selbst, die Tugend und die Pflichten den
Mitmenschen gegenüber, die Gerechtigkeit. Nach Renouvier hat der
Mensch das Recht, ja die Pflicht zu behaupten, dass er frei sei, dass seine
Seele unsterblich sei, und dass es einen Gott giebt. Wenn nämüch von
Freiheit die Rede ist, so meint man damit die Freiheit des in der Zeit
und im Räume befindlichen Menschen, also die Freiheit in der realen
Welt und nicht die transscendentale Freiheit. Wenn die mit jedem Wesen
verbundenen Zwecke in Realisierung gehen sollen und die Aufrechthaltung
der moralischen Ordnung der Welt sicher gestellt sein soll, so müssen wir
zu dem Glauben an ein höchstes Wesen gelangen. Es ist unnütz, über die
Natur Gottes in Beziehung zu Raum, Zeit und Kausalität Betrachtungen
anzustellen, da nach dem Kritizismus sich unser Wissen nur auf das Gebiet
der Phänomena und ihrer Gesetze erstrecken darf. Es ist deshalb unmög-
lich, sich die Natur Gottes anders vorzustellen als in Beziehung zu der
Schöpfung. Wir müssen Gott als Ursache der Welt begreifen, welche er
durch einen Willensakt geschaffen. Das Geheimnis des ersten Ursprungs
94 M. Ascher,
des göttlichen Wesens vermögen wir nicht zu durchdringen. Und wenn
für uns Gott existiert, so ist damit auch klar, dass wir nicht leere Natur-
produkte imd die höheren Bestrebungen unseres Geistes nicht leere Phan-
tasien sind, sondern dass wir nach einer Seite unseres Wesens über jede
Natur uns erheben. Wenn wir an Freilieit, Gott und Unsterblichkeit
glauben, so thun wir nichts anderes, als durch vernunftgemässen Glauben
Verhältnisse zu bejahen, die uns in der phänomenalen Welt gegeben
werden. Ohne dieselben würden wir der im Bewusstsein sich vorfinden-
den Idee der mensclilichen Bestimmung nicht zu genügen vermögen.
Vor einigen Monaten erschien im Verlag von Armand Colin, Paris,
„Les Derniers Entretiens" de Charles Renouvier, recueillis par L. Prat.
Dies sehr bemerkenswerte Buch hat — was man von einem philosophischen
Buch gewiss selten sagen kann — neben seinem tiefen philosophischen
und moralischen Gehalt noch den Vorzug, dass es überaus spannend ist.
Der alte Meister Renouvier liegt im Sterben und vermacht seinem besten
Freund und Mitarbeiter Prof. Louis Prat sein philosophisches Testament.
Der grosse Philosoph fühlt es, dass es ihm nur noch vergönnt ist, höchstens
einige Tage zu leben und fühlt sich bewogen, die Quintessenz seines
ganzen Systems in die knappste Form zu giessen und alle grossen welt-
bewegenden Gedanken, die ihm am Herzen liegen, kurz zusammenzufassen.
Mit grossen Zügen giebt er noch einmal die hauptsächlichsten Thesen
seines Systems an. Ganz besonderes Interesse bieten die herrlichen Be-
trachtungen des Philosophen über das Mitleid, die Gerechtigkeit, das
Schicksal, die Ziikunft der Philosophie, die Zukunft der Demokratie etc.
Der auf dem Sterbelager liegende Philosoph unterhält sich so eifrig mit
seinem Freund über die bedeutsamsten Fragen der Philosophie, dass er
ganz sein Leiden und die Nähe des Todes vergisst. Doch allmählich macht
auch ihm eine immer grösser werdende Schwäche sich bemerkbar. Indes
leidet nur sein Körper an den Folgen der Schwäche, sein Geist jedoch ist
noch so klar wie ehedem. Renouvier ist bei so vollem Bewusstsein, dass
er selbst, während sein Körper schon den eisigen Hauch des Todes ver-
spürt, noch Betrachtungen über die letzten Stunden des Menschenlebens
und über den Tod anzustellen vermag. Es ist ihm, „als ob er sanft über
einen Abhang gleite, und das Reich des Unbekannten übt grossen Zauber
auf ihn aus." Er glaubt in innigster Überzeugung an die Güte Gottes,
und dass er in einer anderen Welt unter anderen Verhältnissen zu einem
neuen Leben erwachen wird. Mit berechtigtem Stolz gestellt er sich ein,
dass er stets viel gearbeitet und in aufrichtigster Weise stets nach Wahr-
heit geforscht habe. Als Renouvier merkt, dass er nur noch mit der
grössten Mühe zu sprechen vermag, da rafft er noch einmal alle Kraft zu-
sammen, um von den höchsten Problemen zu reden. Er wünscht allen
Menschen eine vernunf tgemässe Religion, wie sie der Kritizismus erheischt :
eine Religion ohne Dogma, ohne Priester, ohne Kirche, — eine pliiloso-
phische Religion, deren Gegenstand darin besteht, das Problem des Übels
zu lösen. Und wie er beginnen will, die Begriffe Gott und Unsterblichkeit
zu klären und sein klarer Geist eben sich anschickt, Dinge zu enthüllen,
die kein Sterblicher bisher zu enträtseln vermochte, da entschwindet seine
Seele in die lichten Sphären einer schöneren Welt.
Renouvier und der französische Kritizismus. 95
Selbst diejenigen, welche in Renouviers Philosophie nicht die end-
gültige wahre Philosophie erblicken und nicht daran glauben, dass es dem
französischen Neu-Kritizismus gelingen wird, das moderne Bewusstsein in
seine Gefolgschaft zu ziehen, werden immerhin eingestehen müssen, dass
diese Philosophie in der Geschichte des menschlichen Geistes eine bedeut-
same Etappe nach vorwärts darstellt und dass der vornehme Geist dieser
Lehre das moderne Bewusstsein läutern und veredeln muss. Das gross-
artige philosophische Lehrgebäude Renouviers, das in der Schweiz, in
Frankreich, Dänemark, England und Amerika schon viele Anhänger ge-
funden, — diese Philosophie, von der kein Geringerer als Ueberweg-Heinze
(Grundriss der Geschichte der Philosophie) sagt, dass sie in Frankreich
seit Malebranche das einzige vollständige System sei — verdient in der
That, dass auch die deutsche Gelehrtenwelt sich eingehend damit be-
schäftigt.
Der IV. Band der Berliner Kant-Ausgabe.
Von Ernst v. Aster.
Der IV. Band der Werke Kants, der noch im vergangenen Jahr zur
Ausgabe gelangt ist, umfasst 652 Seiten, von denen 565 auf den Kantischen
Text entfallen. Er enthält die Kritik der reinen Vernunft in der
Fassung der 1. Auflage bis zu den Paralogismen einschl. (der vollständige
Text der 2. Auflage ist dem III. Bande vorbehalten), die Prolegomena,
die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und die Metaphy-
sischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Herausgeber der
ersten beiden Schriften ist Benno Erdmann, der Grundlegung Paul Menzer,
der metaphysischen Anfangsgründe Alois Höfler. Wie im I. Band ist
jeder Schrift eine Einleitung und ein Bericht über die „Lesarten" aus der
Feder des Herausgebers, ausserdem ein Abschnitt über „Orthographie,
Interpunktion und Sprache" von dem germanistischen Mitarbeiter E. Frey
beigegeben ; von sachlichen Erläuterungen hat man dagegen bei den Schriften
rein philosophischen Inhalts aus leicht verständlichen Gründen Abstand
genommen, nur die metaphysischen Anfangsgründe sind damit versehen.
Dagegen nimmt die Einleitung der Herausgeber einen erheblich breiteren
Raum ein, weil hier die Aufgabe vorlag, in kurzen Zügen eine Ge-
schichte der betreffenden Schriften zu geben. Diese Geschichte kann
natürlich von vorn herein nur eine „äussere" sein, d. h. eine Angabe der
für die Abfassung der Schrift in Betracht kommenden Daten ; eine Ent-
wickelungsgeschichte der kritischen Philosophie kann nicht als zum Ge-
schäft des Herausgebers gehörig betrachtet werden. Auch bei dieser
„äusseren Geschichte" hat man sich nach Möglichkeit des Eingehens auf
den Inhalt der Schriften enthalten — ein Umstand, der namentlich für
die Einleitung der Prolegomena seine Konsequenzen gehabt hat — absolut
ist dies freilich schon aus dem Grunde nicht möglich gewesen, weil viel-
fach die gewünschte Terminbestimmung sich erst aus der Vergleichung
einer Reihe von brieflichen u. dgl. Äusserungen ergab. Hervorzuheben
ist, dass in diesen historischen Excursen zum ersten Mal das gesamte Ma-
terial des Kantischen Briefwechsels, wie es im X., XI. und XII. Bande
der Akademie-Ausgabe schon gesammelt vorliegt, zur Verwendung ge-
kommen ist. Dies ist natürlich beim Vergleich mit den Resultaten der
bisherigen Forschung in dieser Richtung, namentlich mit Bezug auf die
vielumstrittene Geschichte der Kritik der reinen Vernunft, in Rechnung
zu ziehen.
Der IV. Band der Berliner Kant-Ausgabe. 97
Erdmanns Einleitung zur 1. Auflage der Kritik 'giebt die Ge-
schichte des Werkes „von der ersten Konzeption des kritischen Gedankens"
bis zum Jahre 1781 (S. 569 — 587). Genauer betrachtet Erdmann als Aus-
gangspunkt das Jahr 1765, mit Rücksicht auf Äusserungen Kants in Briefen
an Reccard und BernouUi 1781. In einem dieser Briefe teilt Kant, indem
er die Gründe angiebt, die seinen Briefwechsel mit Lambert zu jener Zeit
(1764) ins Stocken geraten Hessen, mit, er habe damals angefangen, „die
Natur desjenigen Vernunftgebrauchs, den man Metaphysik nennt, zu ent-
wickeln", sei dabei aber in immer weitere Gedankenreihen geraten, die
die schriftliche Fixierung verhinderten, bis er endlich zu dem „Aufschluss"
gelangt sei, dessen „Resultat in der Kritik d. r. Vernunft vorgetragen
worden".!) Danach scheint Kant selbst die ganze Zeit von 1765 — 81 als
mehr oder minder einheitliche Entwickelung zum Kritizismus anzusehen
und wenn er zu gleicher Zeit in einem Briefe an Lambert 2) von dem
Plan spricht, eine Schrift über die eigentümliche Methode der Metaphysik
zu verfassen, so erscheint dieses Projekt als erste Vorstufe der Kritik
d. r. V.
Die ganze Entwickelung von 1765 — 81 teilt Erdmann in 3 Perioden :
1765 — 69, 69—76, 76—81. Die erste Periode wird in wörtlicher Anlehnung
an eine in den „Reflexionen" veröffentlichte Bemerkung Kants in seinem
Handbuch von Baumgartens Metaphysik als die „Dämmerungsperiode der
Idee" bezeichnet. Als ihren Repräsentanten betrachtet Erdmann den
Plan zu der erwähnten Schrift über die eigentümliche Methode der Meta-
physik. Das Jahr 1769 ist bekanntlich mehrfach von Kant selbst als be-
sonders bedeutungsvoll für die Entwickelung seiner Gedanken genannt
worden (vgl. die eben erwähnte Stelle der Reflexionen und den Brief an
Lambert vom 2. September 1770 — X. S. 93). In der That haben wir
zweifellos dieses Jahr als den Zeitpunkt anzusehen, von dem ab für Kant
die Unterscheidung der sinnlichen und begrifflichen Erkenntnis und damit
auch des mundus sensibilis und intelligibilis im spezifisch Kantischen
Sinn, aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Einsicht in die Antinomieen
datiert.
Die zweite Periode, von 1769—76, nennt Erdmann die Periode der
„definitiven Entwickelung der Idee". Sie zerfällt nach ihm in zwei
Phasen. Die erste, von 69 — 71 gerechnet, wird durch die „Scheidung des
Sinnlichen vom Intellektuellen" charakterisiert, ein Ausdruck, der schon
durch die eben kurz erwähnten Ergebnisse des Jahres 1769 genügend ge-
rechtfertigt ist. Als Repräsentant dieses Abschnitts findet natürlich in
erster Linie die Inauguraldissertation aus dem Jahre 70 ihre Stelle. Vor
ihr hätte vielleicht noch als Eingang zu der ganzen Entwickelung dieser
Phase der kleine Aufsatz über den Unterschied der Gegenden im Raum
genannt werden können, wenn auch seine Entstehung noch in das Jahr
68 fällt, ist doch sein Zusammenhang mit der wichtigen Wendung von
1769 deutlich genug. Dagegen macht Erdmann ausdrücklich aufmerksam
auf den Plan zu einer Sclirift über „Die Grentzen der Sinnlichkeit und
1) Akademie-Ausgabe Bd. X. S. 25314.
2) a. a. 0. S. 53.
Kantstudien X.
98 E. V. Aster,
der Vernunft", über den sich Kant in Briefen an M. Herz aus dem Jahre
1771,1) also nach dem Erscheinen der Inauguraldissertation, äussert, einer
Schrift, die, wie aus den Worten Kants hervorgeht, das ganze System
der Philosophie einschliesslich der Ethik umfassen sollte. Die Arbeit an
diesem Werk dürfte es dann gewesen sein, die in Kant die Frage wach-
gerufen hat, über die er sich in dem bekannten Brief an Marcus Herz
ausspricht, die Frage: „Auf welchem Grunde beruhet die Beziehung des-
jenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?" oder
mit noch speziellerem Hinweis auf das Problem der Deduktion der Kate-
gorien: woher kommt die Übereinstimmung, die unsere Begriffe mit
Gegenständen haben sollen, die doch durch sie nicht hervorgebracht sind ?
Mit dieser Frage ist für Kant eine „bedeutsame Voraussetzung seines
Denkens problematisch geworden" (Erdmann): Die Möglichkeit einer Er-
kenntnis der Noumena; es ist ein neues Problem für ihn entstanden und
„in den Mittelpunkt seines Denkens gerückt": Das Problem der Kritik der
reinen Verstandeserkenntnis; ein neues Glied der Gedankenkette, die seit
1769 den Philosophen beschäftigte und zwar „ein Glied aus dem Material
des eigenen Denkens, geformt aus dem Zusammenhang der Idee, nicht
von aussen her angefügt". Mit dieser Wendung, die 1771 172 anzusetzen
ist, haben wir daher die zweite Phase der „Periode der definitiven Ent-
wickelung der Idee" zu beginnen. Als Ziel der Untersuchung bezeichnet
Erdmann hier die Frage nach dem Ursprung des Intellektuellen — ich
weiss nicht, ob das Wort „Ursprung" unzweideutig genug ist, um das Kan-
tische Problem wiederzugeben, der Ausdruck „Kritik" des Intellektuellen
würde mir eher angebracht erscheinen und, wie ich glaube, weniger Be-
denken erregen. FreiHch hat Erdmann seine Bezeichnung einem Brief an
BernouUi entnommen, in dem Kant mitteilt, nach dem Abschluss der Dis-
sertation habe „der Ursprung des Intellektuellen ihm neue und unvorher-
gesehene Schwierigkeiten" bereitet; das zweifellos berechtigte Streben,
sich möglichst objektiv an die eigenen Ausdrücke Kants anzuschliessen,
hat den Herausgeber wohl veranlasst, die Bezeichnung zur Charakteristik
der ganzen Periode hier beizubehalten.
1776 steht nach Erdmann für Kant die leitende Idee der Kritik der
reinen Vernunft endgiltig fest und ist die Gliederung des Werkes — be-
reits unter Ausschluss der Ethik — in den allgemeinsten Zügen gegeben.
Als „leitende Idee" bestimmt Erdmann genauer den „Grundgedanken für
die Ableitung und Beziehung der Kategorieen auf ihre Gegenstände im
reinen Denken, sowie im Erkennen als Lösung des Problems von 1772".
Genauer wird jener Endtermin nach brieflichen Äusserungen (Brief an
M. Herz im November 1776) auf das Ende des Sommers 1776 festgelegt.
Die Jahre 1766—81 haben wir als die Zeit der schriftlichen Fixierung
des Werkes anzusehen. Natürlich hat auch währenddem der Plan noch
mannigfache Änderungen erfahren, im Besonderen will Erdmann mindestens
zwei Entwürfe, einen ausführlicheren und einen gekürzten, unterscheiden
— an welchen Zeitpunkten dieselben anzusetzen sind, kann nicht mit
Sicherheit entschieden werden. Auf die letzte überarbeitende Schluss-
») X, S. 117 und 124.
Der IV. Band der Berliner Kant-Ausgabe. 99
redaktion, von der nicht zu sagen ist, ob sie mit dem zweiten der letzt-
genannten Entwürfe zusammenfällt oder noch eine eigene Stufe darstellt,
ist dann die bekannte Äusserung Kants zu beziehen, er habe die Nieder-
schrift in 4—5 Monaten zu Stande gebracht. Als sicher ist anzunehmen,
dass schon vor dieser Schlussredaktion dem Philosophen eine grössere
Zahl schriftlich fixierter Materialien vorlag, die dann in das endgiltige
Manuskript der Kritik hineingearbeitet wurden. Die Vorrede ist im April
1781 abgeschlossen worden.
Soviel zur Charakteristik der Erdmannschen Einleitung, von der im
Vorstehenden natürlich nur die wichtigsten Resultate angedeutet
werden konnten. Es ist zu hoffen, dass der Rahmen, den Erdmann hier
durch seine „äussere" Geschichte der Vernunftkritik gegeben hat, auch
die Untersuchung der Probleme der „inneren" Entwickelung der kritischen
Philosophie neu in Fluss bringen wird, zumal er ihnen einen nach Mass-
gabe der erhaltenen Nachrichten sicheren Ausgangspunkt verspricht.
Im Verzeichnis der Lesarten sind sämtliche Veränderungen aufge-
führt, denen der Text des Originals unterworfen wurde, doch sind text-
kritische Bemerkungen nur beigefügt, wo es sich um Stellen handelte,
die nur der ersten Auflage angehören, die übrigen sind dem III. Bande
vorbehalten. Es wird sich also hier Gelegenheit bieten, auf die wichtigsten
Änderungen zurückzukommen. Verbesserungen, die Kant in der zweiten
Auflage angebracht hat, haben natürlich nur Aufnahme gefunden, soweit
sie sich auf offenbare Schreib- und Druckfehler bezogen.
Konnte eine äussere Geschichte der Kritik der reinen Vernunft fast
vollständig geschrieben werden, so ist diese Aufgabe dagegen nach B.
Erdmann für die Prolegomena nicht in gleicher Weise lösbar, da wir
es hier mit einem Werke zu thun haben, dessen Textbestand auffallende
innere Ungleichheiten aufweist. Um eine Geschichte des Buches zu liefern,
ist es daher in erster Linie erforderlich, den Text auf diese Verschieden-
heiten hin zu analysieren und ihrem Ursprung nachzuspüren: Eine Auf-
gabe, die ohne ganz spezielles Eingehen auf den Inhalt und die Ziele der
kleinen Schrift nicht möglich ist. Aus dieser Überzeugung heraus begnügt
sich Erdmann hier mit dem Abdruck einiger Brief stellen, die er selbst
als isolierte Materialien zur Geschichte der Prolegomena bezeichnen will.
Die angezogenen Stellen (die sich über die Zeit vom Januar 1779 bis zum
Februar 1784 erstrecken) beziehen sich auf die Absichten Kants, eine po-
puläre Bearbeitung, einen Auszug aus der Kritik, eine Behandlung der
Probleme nach analytischer Methode, endlich eine Antwort auf die Miss-
verständnisse der Garve-Federschen Recension zu verfassen; alles- Dinge,
die bei der Abfassung der Prolegomena eine Rolle gespielt haben. — Be-
kanntlich hat sich Erdmann selbst wissenschaftlich mit der Entstehung der
Prolegomena beschäftigt, eine Untersuchung, die ihn zu seiner Theorie
einer zweifachen Redaktion der Schrift geführt hat (Ausgabe der Proleg.
1878). Diese Theorie ist von ihm auf der Grundlage des vollständigeren
Materials neu begründet, erweitert und in einzelnen Punkten berichtigt
worden in einem im Anfang dieses Jahres bei Niemeyer in Halle erschie-
nenen Buch: „Historische Untersuchungen über Kants Prolegomena", das
7*
100 E. V. Astet,
demnach zu der „Einleitung" im vorliegenden Band der Kant-Ausgabe die
gewünschte Ergänzung bildet.
Auf die Briefauszüge folgt eine mühsame Untersuchung, die vom
Herausgeber selbst als unerfreuliche Kärrnerarbeit bezeichnet wird. Schon
Hartenstein hatte darauf aufmerksam gemacht, dass verschiedene Drucke
— er spricht von zwei — der Prolegomena mit gleicher Bezeichnung des
Verlags und gleicher Jahreszahl vorliegen. Unter Zugrundelegung von 10
Original-Exemplaren ist nun eine genaue Untersuchung dieser Verschieden-
heiten vorgenommen und bei dieser Gelegenheit eine ganze Reihe ver-
schiedener Drucke konstatiert worden. Als Resultat der langwierigen
Untersuchung hebe ich hervor, dass wir mit grosser Wahrscheinlichkeit
4 Auflagen der Prolegomenen annehmen dürfen und zwar haben wir in
diesen Auflagen Originaldrucke, keine unbefugten Nachdrucke zu sehen.
Bis auf ganz unwesentliche Veränderungen sind die späteren einfache
Wiederholungen der ersten Auflage, augenscheinlich ist aus diesem Grunde
auch die Jahreszahl auf dem Titelblatt nicht geändert worden. Über den
wahren Zeitpunkt der Auflagen lässt sich schwer etwas ausmachen, die
ersten drei sind wahrscheinlich schnell aufeinander gefolgt.
Die Textkritik der Prolegomenen ist bei der grossen Anzahl von
Fehlern des Satzes eine nicht minder mühsame Arbeit. Allgemein wird
man finden, dass der Herausgeber sehr vorsichtig arbeitet, er legt überall
den grössten Wert darauf, dass der überlieferte Text sich leicht aus den
vorgeschlagenen Konjekturen herleiten lässt und giebt lieber eine korrum-
pierte Stelle unverändert, als dass er Veränderungen einschiebt, die will-
kürlich erscheinen könnten. Nur auf zwei Punkte möchte ich in diesem
Zusammenhang etwas näher eingehen, weil sie mir geeignet scheinen,
einige Bedenken zu erregen.
Am Ende des 12. Absatzes des § 57 (Ak.-Ausg. S. 356) spricht Kant
von der versuchsweise vorgenommenen Bestimmung der Noumena — als
Beispiel wird der Gottesbegriff gebraucht — durch Inhalte der Sinnenwelt,
Der Schlusssatz heisst wörtlich: „Eben das widerfährt mir auch, wenn ich
dem höchsten Wesen einen Willen beilege: denn ich habe diesen Begriff
nur, indem ich ihn aus meiner Innern Erfahrung ziehe, dabei aber meiner
Abhängigkeit der Zufriedenheit von Gegenständen, deren Existenz wir
bedürfen, und also Sinnlichkeit zum Grunde liegt, welches dem Begriffe
des höchsten Wesens gänzlich widerspricht". Erdmann hat die sinnlose
Wendung „meiner Abhängigkeit der Zufriedenheit von" stehen lassen, wie
er bemerkt, aus Mangel an geeigneten Verändenmgen, die mit dem über-
lieferten Text in Einklang zu bringen wären. Ich meinesteils sehe nicht
recht ein, warum man sich nicht der doch im Grunde recht nahe liegen-
den Konjektur Hartensteins bedienen und einfach „Abhängigkeit meiner
Zufriedenheit von . . ." lesen soll, der sich auch Erdmann in seiner fmheren
Ausgabe der Prolegomenen angeschlossen hat (1878; S. 115). Merkwürdig
ist, dass im Verzeichnis der Lesarten die Korrektur gar keine Erwähnung
findet, sondern anstatt dessen Hartenstein die sinnlose Verändenmg zuge-
schrieben wird „meiner Abhängigkeit aber Zufriedenheit von . . ." Es
muss hier wohl ein Versehen oder ein Druckfehler vorliegen. Erdmann
neigt am ersten dazu, das Wort „Zufriedenheit" ganz auszumerzen oder
Der IV. Band der Berliner Kant-Ausgabe. 101
durch ein ganz anderes zu ersetzen („Einfluss von"). In der That ist der
Text ja auch ohne Weiteres verständlich, wenn man liest „dabei aber
meine Abhängigkeit von Gegenständen zum Grunde liegt". Indessen
scheint mir das doch schliesslich nicht nötig zu sein, da das Wort Zu-
friedenheit in Verbindung mit dem Willen gebraucht einen guten Sinn
giebt. Unser Wollen, so wie wir es allein kennen, setzt Abhängigkeit
unserer, der Wollenden, Zufriedenheit oder unseres Wohlbefindens von
der Erreichung der gewollten Gegenstände oder, Kantisch ausgedrückt,
von der Materie des Wollens voraus; anders gesagt: Unser Wollen ent-
steht stets aus einem gefühlten Bedürfnis heraus, ein Moment, das dem
göttlichen Wollen fremd sein muss. Nur um zu zeigen, dass diese Inter-
pretation nicht unkantisch ist, eitlere ich eine Stelle aus der Kritik der
praktischen Vernunft, deren Vergleich mit dem obigen Satz aus den Pro-
legomenen ich wohl dem Leser überlassen darf. „Nun ist freilich unleug-
bar, dass alles Wollen auch einen Gegenstand, mithin eine Materie haben
müsse; aber diese ist darum nicht eben der Bestimmungsgrund der
Maxime; denn ist sie es, so lässt diese sich nicht in allgemein gesetz-
gebender Form darstellen, weil die Erwartung der Existenz des Gegen-
standes alsdann die bestimmende Ursache der Willkür sein würde, und die
Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von der Existenz irgend einer
Sache dem Wollen zum Grunde gelegt werden müsste ... So wird
fremder Wesen Glückseligkeit das Objekt des Willens eines vernünftigen
Wesens sein können. Wäre sie aber der Bestimmungsgrund der Maxime,
so müsste man voraussetzen, dass wir in dem Wohlsein Anderer nicht
allein ein natürliches Vergnügen, sondern auch ein Bedürfnis finden . . .
Aber dieses Bedürfnis kann ich nicht bei jedem vernünftigen
Wesen (bei Gott gar nicht) voraussetzen. (Anm. I. zu § 8, Ausg.
von Kehrbach S. 40.)
An der anderen Stelle handelt es sich nicht um eine Korrektur,
sondern um eine Interpretation, wie sie Erdmann, um dem Leser zu Hilfe
zu kommen, einige Male beigefügt hat, wo die Kantische Satzkonstruktion
besonders undurchsichtig ist. Von den Analogieen der Erfahrung heisst
es in § 26 (S. 309|310) : „. . . weil diese nicht ... die Erzeugung der An-
schauungen, sondern die Verknüpfung ihres Daseins in einer Erfahrung
betreffen, diese aber nichts andres, als die Bestimmung der Existenz in
der Zeit nach notwendigen Gesetzen sein kann, unter denen sie allein ob-
jektiv-gültig, mithin Erfahrung ist: so geht der Beweis nicht auf die syn-
thetische Einheit der Dinge an sich selbst, sondern der Wahrnehm-
ungen, und zwar dieser nicht in Ansehung ihres Inhalts, sondern der
Zeitbestimmung und des Verhältnisses des Daseins in ihr nach allgemeinen
Gesetzen." Erdmann fügt hinzu „Man interpretiere: und zwar auf diese
Einheit nicht in Ansehung der in ihr enthaltenen Wahrnehmungen, sondern
... in dieser Einheit (ihr)" (S. 617) ; er interpretiert also „das Verhältnis
des Daseins in ihr" als „d. V. d. D. in dieser synthetischen Ein-
heit". Mir scheint dagegen, das einzige Hauptwort, auf das sich das „in
ihr" beziehen kann, ist die Zeit. Das ist grammatisch nicht ganz richtig
— es geht nicht Zeit, sondern Zeitbestimmung vorher — aber sachlich
giebt es, meine ich, einen sehr viel ungezwungeneren Sinn. Auf die syn-
102 E. V. Aster,
thetische Einheit in der Verknüpfung der Wahrnehmungen in Ansehung
des Verhältnisses ihres Daseins in der Zeit geht der Beweis. Die Verhält-
nisse des Daseins in der Zeit sind die „Modi" der Zeit. Im Übrigen ver-
gleiche man den durchaus entsprechenden Satz aus der Kritik der reinen
Vernunft (Kelirbach S. 171). „Da aber Erfahrung ein Erkenntnis der Ob-
jekte durch Wahrnehmungen ist, folglich das Verhältnis im Dasein
des Mannigfaltigen . . ., wie es objektiv in der Zeit ist . . ." u. s. w.
und ebenso die Formulierung des „allgemeinen Grundsatzes" der Analogieen
in der 1. Auflage.
Paul Menzers Einleitung der Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten (S. 623 — 630) giebt zunächst eine Zusammenstellung der vor-
handenen schriftlichen Dokumente, die auf die Abfassung der Schrift Be-
zug haben, danmter Mitteilungen aus bisher ungedruckten Briefen Ha-
manns, die dem Herausgeber durch A. Warda mitgeteilt wurden. Dann
folgt auf der Grimdlage dieses Materials eine kurze Rekonstruktion des
Entwickelungsganges, soweit er urkundlich festgelegt werden kann. Da-
nach liegen bestimmte Mitteilungen darüber vor, dass Kant schon 1765 an
einer Schrift ethischen Inhalts arbeitete. Er scheint dann die Absicht ge-
habt zu haben, diese Arbeiten mit den Vorstudien zur Grundlegung der
theoretischen Metaphysik zu verschmelzen in dem geplanten umfassenden
Werk über die Grenzen der Sittlichkeit imd der Vernunft, von dem schon
in der Erdmannschen Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft die Rede
war. Nachdem die Idee der Kritik dann in ihren Grundzügen feststand,
sind die ethischen Arbeiten wahrscheinlich bis zum Abschluss der Trans-
scendentalphilosophie zurückgelegt worden, dagegen haben wir aus dem
Anfang des Jahres 83 die sichere Nachricht, dass Kant sie wieder aufge-
nommen hat, der Gegenstand seiner Schrift wird direkt als „Metaphysik
der Sitten" genannt (Brief Hamanns an Hartknoch, Januar 83). Endlich
nimmt Menzer an, dass Kant zu Anfang 84 den Entschluss einer vorbe-
reitenden Schrift in ethischer Absicht fasste. Was den Titel angeht, so
erscheint die Schrift zuerst als Antikritik gegen Garve, angeknüpft an
dessen Cicero, dann als Prodromus zur Moral, doch lässt sich nach einem
bisher ungedruckten Briefe Hamanns an Herder vermuten, dass die Kritik
Garves überhaupt nur als Anhang gedacht war. In einem Brief Hamanns
vom 19. September 84 wird dann zum ersten Mal der jetzige Titel ge-
nannt. Was Kant zu dem Entschluss gebracht hat, der Metaphysik der
Sitten diesen Auftakt vorauszuschicken, lässt sich nicht mit Sicherheit
entscheiden, der später ganz fallen gelassene Gedanke der Kritik gegen
Garve mag mitgewirkt haben, doch wird wohl die Schwierigkeit der
Probleme und das Bewusstsein, dem er gelegentlich Ausdruck gegeben
hatte, dass hier eine gewisse Popularität möglich und notwendig sei, aus-
schlaggebend gewesen sein. Ebenso lässt sich nicht sagen, wie weit der
Gedanke einer Kritik der praktischen Vernunft, deren Notwendigkeit für
Kant schon damals feststand, wie die einleitenden Worte der „Grund-
legung" zeigen, einer Ausführung nahe gerückt war.
Von den erschienenen 4 Auflagen ist die zweite als die korrekteste
und sicherlich noch von Kant selbst bearbeitete zu Grunde gelegt worden ;
die 3, und 4. Auflage sind nach Menzer als blosse Wiederholungen der 2. zu
Der IV. Band der Berliner Kant-Ausgabe. 103
betrachten. Der Text selbst wird — im Vergleich zu andern Kantdrucken
— als ein korrekter bezeichnet, Ändeningen sind nur in geringer Zahl
notwendig gewesen.
Aus den wenigen Nachrichten, die wir über die Abfassung der
„Metaphysischen Anfangsgründe" besitzen, erfahren wir, dass die (1786
erschienene) Schrift wesentlich im Sommer 1785 entstanden ist. Im Üb-
rigen hebt der Herausgeber hervor, dass sich dem Historiker der Schrift
gegenüber zwei Fragen aufdrängen : „Erstens, inwieweit die mitten in die
kritische Zeit fallende Schrift doch Bestandteile aus der vorkritischen in
sich aufgenommen haben mag, so dass etwa das Kategorieenschema, wie
vermutet worden ist, nur äusserlich angeheftet wäre. Zweitens, inwie-
weit gleichzeitig mit, ja schon vor den „Metaphj'sischen Anfangsgründen
der Naturwissenschaft" auch an dem nicht mehr zum Abschluss gelangten
„Übergang von den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft
zur Physik" gearbeitet worden sei." Die Beantwortung dieser Fragen
geht natürlich über den Rahmen der „Einleitung" hinaus, Höfler begnügt
sich damit, auf die Stellen hinzuweisen, die für eine Untersuchung in
dieser Hinsicht in Betracht kommen würden.
Dass die metaphysischen Anfangsgründe im vorliegenden Bande
allein mit sachlichen Erläuterungen versehen sind, erwähnte ich schon
zu Anfang. Vielleicht kann man der Meinung sein, dass diese Erläuter-
ungen (auf S. 638—649) speziell, soweit sie auf die moderne Mechanik Be-
zug nehmen, etwas weiter ausgedehnt sind, als es das Bedürfnis des
Lesers erfordert. Höfler ist freilich als Spezialist auf diesem Gebiete be-
kannt, wie es ja auch seine frühere Ausgabe der metaphysischen Anfangs-
gründe (mit einem Nachwort: Studien zur gegenwärtigen Philosophie der
Mechanik — Leipzig 1900) gezeigt hat. Besonders hinweisen möchte ich
zunächst auf die ausführliche Anmerkung über die Recension der „institu-
tiones logicae et metaphysicae" von Ulrich (1785) in der Allgemeinen
Litt. Zeitung, mit deren Einwänden gegen die Kategorientafel sich Kant
in einer längeren Anmerkung der Vorrede (S. 474) auseinandersetzt. Die
Behauptung Kants, dass der Blutumlauf eines kleinen Vogels viel ge-
schwinder sei, als der eines Menschen, wird an der Hand von Aussprüchen
moderner Physiologen geprüft und im Grossen und Ganzen bestätigt ge-
funden; eine kürzere Anmerkung orientiert über die Stellung des „Unab-
hängigkeitsprinzips" (das die einem Körper erteilten verschiedenen Be-
schleunigungen als von einander unabhängig betrachtet — in Kants
FormuKerung, „dass der Körper mit der ersten Geschwindigkeit in freier
Bewegung sich erhalte, indem die zweite hinzukommt") in der modernen
Physik. — Für den Historiker und Kantleser von besonderem Interesse
ist die Anmerkung, die sich mit der Äusserung Kants beschäftigt (S. 507;
2. Zusatz zum IV. Lehrsatz des IL Hauptstücks), in der er auf einen Vor-
gänger seiner Raumlehre hinweist, ohne dessen Namen zu nennen. („Ein
grosser Mann, der vielleicht mehr, als sonst jemand das Ansehen der Ma-
thematik in Deutschland zu erhalten beiträgt, hat mehrmals die meta-
physischen Anmassungen, Lehrsätze der Geometrie von der unendlichen
Teilbarkeit des Raumes umzustossen, durch die gegriindete Erinnerung
abgewiesen: dass der Raum nur zu der Erscheinung äusserer Dinge ge-
104 E. V. Aster, Der IV. Band der Berliner Kant-Ausgabe.
höre; allein er ist nicht verstanden worden.") Vaihinger hat die Stelle
auf Leibniz, Kirchmann auf Wolff bezogen, Höfler führt aus, dass ausser-
dem noch Euler, Lambert und Kästner in Betracht kommen könnten.
Doch geht meiner Meinung nach auch aus seiner Darlegung hervor, dass
Vaihingers Deutung weitaus die grösste Wahrscheinlichkeit für sich bean-
spruchen kann. — Sehr dankenswert ist es endlich, dass zu den auf New-
ton bezüglichen Stellen in den Erläuterungen der entsprechende Passus
der Newtonschen Schriften lateinisch wiedergegeben ist.
Die in den Text gedruckten Figuren sind der Verweisungen halber
mit Nummern versehen worden.
7
■Vi
"ii
Das Kantjubiiäum im Jahre 1904.
Von H. Vaihinger.
Die hundertste Wiederkehr des Todestages von Immanuel Kant ist in
und ausser Deutschland in vielfacher Weise gefeiert worden. Es sind zur
Feier des 12. Februars eine grosse Anzahl von festlichen Veranstaltungen
getroffen worden. Es sind dabei Gedächtnisreden gehalten worden ; es
sind Festartikel und Pestschriften in Hülle und Fülle erschienen. Die-
jenigen, die den Philosophen in dieser Weise ehrten, haben sich damit
zugleich selbst ein ehrenvolles Zeugnis ausgestellt. Es wird auch für
kommende Zeiten von kulturhistorischem Wert sein, wenn wir hier eine
Übersicht über all das geben, was zu diesem Tage geschehen ist. Absolute
Vollständigkeit kann freilich hierbei nicht garantiert werden. Es ist wohl
der Redaktion der KSt. sehr Vieles direkt oder indirekt bekannt geworden ;
aber vieles wird derselben entgangen sein. Wir werden deshalb
dankbar sein im Interesse der Sache, wenn wir auf dasjenige,
was wir übersehen haben, aufmerksam gemacht werden. Ein
Na chtrag soll dann all dieses zusammenstellen. Aber auch schon das bisher
Zusammengestellte beweist, dass Kant heutzutage eine Macht ist.
I. Festfeiern.
A. Pestfeiern in Königsberg.
Naturgemäss ist die grösste und umfassendste Festfeier in Königsberg
selbst zustande gekommen. Universität, Stadt, Provinz wetteiferten, um
ihrem grossen Landsmann zu huldigen. Natürlich war das Rauch'sche
Kantdenkmal in den Anlagen vor der Universität mit Fahnen und Guir-
landen geschmückt; auch dasjenige Haus in der Prinzessinstrasse, an dessen
Stelle das leider im Jahre 1893 niedergerissene Kantische Wohnhaus stand
und das jetzt eine eherne Gedächtnistafel daran trägt, war geschmückt.
Auch sonst zeigten manche Häuser und besonders Läden charakteristischen
Schmuck. Die Königsberger Feier wurde noch erhöht durch die Einladung
auswärtiger Gäste. Eine besondere Bedeutung erhielt sie durch die persön-
liche Teilnahme des Kultusministers Dr. Studt, der mit zweien seiner
Räte, Geh. Reg.-Rat Dr. R. Schmidt und Reg.-Rat Eilsberger der Feier
beiwohnte. Ausserdem waren eine Anzahl von Freunden der Kantischen
Philosophie eingeladen worden, von denen freilich nur wenige angesichts
der Jahreszeit und der entlegenen Lage nach Königsberg gekommen waren.
106 H. Vaihinger,
Als Delegierter der Akademie der Wissenschaften in Berlin erschien
Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Stumpf; ausserdem waren anwesend u. A. Prof.
Cohen aus Marburg, Prof. Stammler und Prof. Vaihinger aus Halle.
Einen kurzen Bericht über die Feier gab Professor L. Busse in der
Zeitschrift f. Philos. u. ph. Kr., Bd. 124, H. 1., S. 121—123.
Ausführliche Schilderungen der Feier finden sich natürlich in den
gleichzeitigen Königsberger Zeitungen. (Hartung'sche Zeitung, No. 71 ff.,
Allgemeine Zeitung, No. 71 ff., Ostpreussische Zeitung, No. 41 ff.) Von
Berichten auswärtiger Organe seien erwähnt der Bericht der Vossischen
Zeitung (von Prof. A. Klaar) in No. 74, sowie der in echt französischem
Esjn-it gehaltene Bericht des bekannten Pariser Schriftstellers und Reporters
Gaston Leroux im „Matin" (No. 7297, Paris 17 Fevrier 1904, nebst Porträt
Kants). — Im übrigen glaubte die Presse, bei der Anweisung von Plätzen
nicht genügend berücksichtigt worden zu sein. Vgl. speziell die Kontro-
verse der Vossischen Zeitung in ihrer Nummer 86 (vom 20. Februar) mit
dem Rektor Jeep. Vgl. auch Berl. Tagebl. No. 84, „Nachklänge zur Kant-
feier".
1. Gedächtnisfeier in der Stoa Kantiana. Am Freitag, dem
12. Februar, fand um 9 Uhr an der Grabstätte Kants in der wirkungsvoll
geschmückten Stoa Kantiana eine ernste Feier statt, zu der sehr viele
Teilnehmer erschienen, welche durch eine Allee von Tannenbäumen, Guir-
landen und Flaggen, wie durch eine, dem grossen Philosophen eigens erbaute
Via triumphalis vom Domplatz bis zum Eingang der Kapelle schritten. Es
wurden Kranzspenden niedergelegt, mehrfach in Verbindung mit kurzen
Ansprachen. Im Namen der Stadt Königsberg legte der Oberbürgermeister
Körte einen Lorbeerkranz auf die steinerne Grabtafel zur Erinnerung „an
den welterleuchtenden Geist". Im Namen der Universität sprach der
Rektor Prof. Dr. Jeep; im Namen der Berliner Akademie, welche die
Werke des Philosophen eben neu herauszugeben im Begriff steht, sprach
Prof. Dr. Stumpf zu Ehren Kants, der „der deutschen Philosophie Kraft
und Tiefe wiedergewonnen habe".
2. Enthüllung einer Kant-Gedenktafel an der „Zyklopen-
mauer" des Schlosses. Gegen 10 Uhr hatte sich an dieser Stelle eine
zahlreiche Festversammlung zusammengefunden, in welcher die Spitzen
der Zivil- und Militärbehörden und fast alle Notabilitäten der Stadt ver-
treten waren. Magistrat und Stadtverordnete waren m corpore anwesend,
da die Gedenktafel eine Stiftung der Stadt ist. Ein verborgener Chor
sang die Beethovensche Hymne „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre",
worauf der Oberbürgermeister Körte eine längere, schwungvolle Ansprache
hielt. „Uns galt es, da wohlgelungene Bildwerke sein äusseres Bild der
Nachwelt überliefert haben, auch dem unsterblichen Wesen unseres
grössten Bürgers ein würdiges Denkmal zu errichten. Besteht aber die
Unsterblichkeit des Menschen in der Unverlöschlichkeit, in dem Fortwirken
seines Geisteslebens, dann wird der Gedanke, eines der schönsten und be-
zeichnendsten Worte eines Geistesheroen der Nachwelt zu täglichem
Nachdenken vor Augen zu halten, nicht unbedingt zu tadeln sein." Die
Hülle fiel unter den Klängen des Mozartschen Weiheliedes: „O Isis und
Osiris", und man erblickte eine schöne blanke Erztafel. Auf der sich nach
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. 107
oben verjüngenden Tafel, unter den Strahlen einer aufgehenden Sonne im
oberen Felde, zeigt sich in grosser lateinischer Schrift der Name des
Philosophen und darunter unter einem Kranzgehänge im Stile der Frideri-
zianischen Zeit Geburts- und Todesjahr sowie der bekannte Spruch aus
der Kr. d. prakt. V. Die Inschrift der hohen, fast die ganze Höhe der
Mauer einnehmenden, 2V2Meter grossen Tafel präsentiert sich in folgender
Weise •
IMMANUEL
KANT
1724 * t 1804
Zwei Dinge erfüllen
das Gemüt mit immer neuer
und zunehmender Bewunde-
rung und Ehrfurcht, je öfter
und anhaltender sich das Nach-
denken damit beschäftigt:
Der bestirnte Himmel über mir
und das moralische
Gesetz in mir.
Von der ganzen Enthüllungsfeier wurde natürlich auch eine Moment-
aufnahme gemacht (von dem photographischen Institut „Kopernikus").
Dass diese Aufnahme nachher in der Wochenschrift: „Die Woche" repro-
duciert wurde, ist in unserer „fortgeschrittenen Jetztzeit" ebenso selbst-
verständlich, als dass auch in Königsberg eine illustrierte Postkarte mit
der Abbildung der Tafel zu haben war, wie auch ausserdem natürlich ver-
schiedene Ansichtspostkarten, teilweise mit guten Reproduktionen von
Kantporträts, zu haben waren.
3. Der Gedächtnisakt in der Universität. Der Hauptfestakt
spielte sich um 11 Uhr ab im Auditorium maximum, das die glänzende
und zahlreiche Versammlung kaum zu fassen vermochte. Palmen und
Lorbeerarrangements schmückten die Kathedra, vor welcher die Schadow-
sche Kantbüste aufgestellt war. Der Chor „Ewiger, mächtiger, gütiger
Gott" aus Haydns „Jahreszeiten" leitete die Hauptfeier ein. Hierauf hielt
der Rector magnificus, Prof. Dr. Jeep, eine kurze Ansprache, in welcher
er den Kultusminister Studt begrüsste „als den Hort deutscher Wissen-
schaft und deutscher Bildung auf hoher Warte". Der Kultusminister Dr.
Studt begrüsste die Versammlung im Namen Sr. Majestät des Kaisers und
Königs, welcher an diesem Ehrentage der Albertina herzlichst Anteil
nehme. „In Kant ging uns ein neues Licht im Osten auf, das heute noch
leuchtet und die suchende Menschenseele mit neuem Hoffen erfüllt . . .
Wissen und Glauben, wie viel Unruhe imd Not hat beides im wechsel-
seitigen Widerstreit dem Deutschen schon gebracht ! Da hat Kant Beides
seiner Kritik unterzogen, er hat zwischen ihnen die Grenze aufgedeckt,
und jedem, soweit menschliches Vermögen reicht, Weg und Ziel gewiesen.
. Aus dem Streite der Meinungen ertönt auch heute noch Allen ver-
nehmlich der klärende Ruf: Zurück zu Kant! Ist doch auch noch so
Manches zu erforschen und zu ergründen in seinem umfassenden Geiste:
108 H. Vaihinger,
wie er selbst einmal gesagt hat, dass man ihn erst nach 100 Jahren werde
recht verstehen können." In Erinnerung an Kant, „der so gerne die Wohl-
thätigkeit pflegte", übergab der Minister der Witwenhilfskasse der Uni-
versität ein Kapital von 10000 Mark. Die Festrede hielt hierauf Professor
Dr. Walter. Seine Festrede ist gedruckt (Königsberg, Gräfe & Unzer,
1904), und die KSt. haben über sie im vorigen Hefte IX. 519 berichtet,
worauf wir unsere Leser verweisen. Der Redner gab im knappen Rahmen
eines einstündigen Vortrags ein Gesamtbild der Kantischen Philosophie
in klarer Übersicht und gemeinverständlicher Sprache. „Kant hat unsere
Heimat ihrer weiteren Volksgemeinschaft dadurch erst recht zugeeignet,
dass er sie aus einer wesentlich noch empfangenden geistigen Kolonial-
existenz zu selbstbewusst schöpferischer Mitarbeit an jener Erhebung des
deutschen Geistes berief, in der er selbst, auch andere bald nach sich
ziehend, den Grössten ebenbürtig an die Seite trat." „Dass jeder philo-
sophische Denker in selbsteigenem Gebrauche der Vernunft sozusagen auf
den Trümmern eines anderen sein Werk erbaue, hat Kant als das unter-
scheidende Gesetz seiner "Wissenschaft geltend gemacht. Aber auch, dass
die Geschichte dieser Wissenschaft nicht nur von Trümmern Nachricht
giebt, sondern sie ihrer Gestalt und ihrem Zusammenhalte nach einem
Aufbau höherer Ordnung einzufügen weiss, hatte sich dem Tiefsinn Kants
zuerst in voller Klarheit erschlossen." Auch in der Auffassung der Lehren
Kants herrsche durchaus keine Einhelligkeit. Aber „je verschiedener die
Gesichtspunkte sind, unter denen diese Ideen eine Beleuchtung erfahren,
um so allgemeiner auch spricht sich das Bewusstsein der Notwendigkeit
aus, sich mit ihnen auseinanderzusetzen." Im übrigen gliederte er die
Übersicht über die Kantische Philosophie nach den bekannten drei Ge-
sichtspunkten : Was kann ich wissen ? Was soll ich thun ? Was darf ich
hoffen ? Hierauf sprach im Namen der Berliner Akademie Prof. Dr. Stumpf.
„In der Vereinigung der Tiefe der Forschung mit der Genauigkeit bleibt
Kant unser Vorbild, wie das seine darin einst Leibniz gewesen ist. Eifer-
süchtig wollen wir darüber wachen, dass diese beiden Eigenschaften
bleiben; dann wird es gut stehen um die deutsche Philosophie." Hierauf
verlas der Oberbürgermeister Körte eine Adresse, welche die städtischen
Kollegien an die Universität richteten, und in welcher sie der Universität
ein Kapital von 10000 Mark überwiesen „mit der Bestimmung, dass die
Zinsen dieses Kapitals jedesmal am Todestage Kants demjenigen Studie-
renden der hiesigen Universität zufallen sollen, welcher die nach dem Ur-
teil der philosophischen Fakultät beste Ai'beit über ein freigewähltes
Thema eingereicht hat." Der Rektor nahm die Stiftung mit einigen
Dankesworten an, mit dem Ausdruck der Freude, dass sich die Kant-Stadt
in so engem Verhältnis mit der Kant-Universität fühle. Die Dekane der
Fakultäten verlasen sodann die zu diesem Tage vollzogenen Ehrenpromo-
tionen. Zu Ehrendoktoren der Theologie wurden ernannt u. a. Professor
Dr. Dilthey-Berlin, Professor Dr. Günther Thiele-Berlin, Pastor Dr. Ernst
Wyneken-Edesheim ; zum juristischen Ehrendoktor Professor Dr. Kuno
Fischer-Heidelberg, zu Ehrendoktoren der philosophisclien Fakultät Pro-
fessor Carlo Cantoni-Pavia, Professor Dr. Rudolf Stammler-Halle, Professor
Dr. Edward Caird-Oxford. AnlässHch der Kantfeier wurden ferner durch
Das Itautjubiläum im Jahre 1904. 109
den Kultusminister die bekannten Kantforscher Oberbibliothekar Dr.
R. Reicke und Privatgelehrter Dr. E. Arnoldt zu Professoren ernannt.
(Letzterer hat die Ernennung abgelehnt.) Händeis Chor „Hallelujah" aus
dem „Messias" beschloss die erhebende Feier würdig.
4. Festbankett in der Palaestra. Nachmittags 4 Uhr fand im
Festsaal der Palaestra Albertina ein Festessen statt, welches die Universi-
tät ihren Gästen gab, das durch Ausschluss der Presse einen ganz privaten
Charakter trug. Es wurden natürlich verschiedene Reden gehalten, u. a.
vom Minister Studt, Rektor Jeep u. s. w. Auch Begrüssungstelegramme
liefen ein, u. A. von der „Kantgesellschaft" in Wien.
5. Festkommers. Sonnabend, den 13. Februar, abends, fand in
dem festlich geschmückten grossen Saale der Palaestra Albertina ein
grosser Kommers statt, der vor allem den Studierenden der Universität
Gelegenheit geben sollte, auch ihrerseits in grösserer Anzahl an den Kant-
feierlichkeiten teilnehmen zu können, da die Aula zu wenig Raum geboten
hatte. Es waren wohl nahezu 1000 Personen anwesend, Gäste, Dozenten,
Studierende und alte Herren u. s. w. Die Ansprache an die Studierenden
hielt der zweite Ordinarius der Philosophie, Professor Busse. Er führte
den Gedanken aus, dass Kant als „Lehrer im Ideal" der studierenden
Jugend zum Vorbild für ihre wissenschaftlichen Bestrebungen dienen könne
und solle. Die Rede, in welcher Gedanken mitklingen, welche in den
KSt. I, 154 f. in Bezug auf den „Lehrer im Ideal" ausgeführt sind, wurde
ausserordentlich beifällig aufgenommen, da sie in der That in sehr wir-
kungsvoller Weise Kants Lehre und Persönlichkeit den Studierenden vor-
führte. Sie findet sich abgedruckt in der Ztschr. f. Philos. u. philos.Kr., Bd.l24,
Heft 1, S. 1—9 (vgl. die Besprechung der auch separat erschienenen Rede im
vorigen Heft der KSt. IX, 3 4, S. 519). An diese Rede schloss sich ein von Prof.
Uhl verfasstes, den Manen Kants huldigendes Gedicht, und dieses bildete den
Übergang und die Einleitung zu einem nach dem Entwurf von Kunstmaler
Prof. Knorr gestellten lebenden Bilde: die überlebensgrosse Büste Kants,
umgeben von den ihm huldigenden Figuren der Albertina und der Philo-
sophie nebst Professoren in Talar, Studenten in Wichs u. s. w. Selbstver-
ständlich wurden ausserdem noch viele Ansprachen gehalten, u. A. vom
Minister Dr. Studt, vom kommandierenden General Dr. von der Goltz,
von Prof. Stammler u. s. w. Ein Teil der Teilnehmer des Kommerses
machte am Sonntag noch einen gemeinsamen Ausflug an die Samländische
Küste — jedenfalls Kants äusserstes Reiseziel, wenn es überhaupt so weit
gekommen ist
6. Festschrift der Universität. Eine offizielle Sammlung von
Abhandlungen von 15 Mitgliedern des Lehrkörpers war zum 12. Februar
geplant. Dieselbe wurde aber zu diesem Tage nicht fertig und erschien
erst im Oktober des Jahres. Der Inhalt des stattlichen Bandes (374 S.)
ist daher nicht hier, sondern unten bei den Festschriften angegeben.
7. Kantausst eilung. Die Firma Gräfe & Unzer (früher Kanter-
sche Buchhandlung, mit welcher ja Kant in Verbindung gestanden hat)
veranstaltete eine Kantausstellung, welche einen offiziellen Charakter er-
hielt nicht bloss dadurch, dass die kommunalen, provinzialen und staat-
lichen Behörden die in ihrem Besitz befindlichen Kantiaua hergaben,
110 H. Vaihinger,
sondern auch dadurch, dass die Ausstellung durch den Rektor mit einer
Ansprache eröffnet worden war, und zwar schon am Donnerstag, dem
11. Februar. Die Ausstellung war sehr gelungen arrangiert und sehr
reichhaltig. Sie umfasst 1. die Gräfe & Unzersche Sammlung von Kant-
Porträts, 2. die Manuskripte, Buchausgaben, Reliquien und bildlichen Dar-
stellungen aus dem Besitze der Königl. Universitätsbibliothek, 3. den Be-
sitz des Prussia-Museums, 4. der Stadtbibliothek und 5. des Stadtmuseums,
sowie 6. Stücke aus Privatbesitz. Abbildungen des Philosophen waren
vorhanden in Form von Stichen, Radierungen, Zeichnungen, Gemälden,
Silhouetten, Gipsbüsten u. s. w., im Ganzen weit über hundert. Auch das
Originalgemälde von Döbler aus dem Besitz der Totenkopfloge war da.
Ferner vor allem das ausgezeichnete Kantporträt aus dem städt. Museum,
welches die Stadt Königsberg im Jahre 1897 angekauft hat und das in
Dresden aufgefunden wurde. [Die KSt. haben eine Abbildung dieses
Porträts gebracht im Bande III, Heft 12, sowie im Festheft, IX, 1/2.
Dieses weitaus beste Porträt Kants wird, nebenbei bemerkt, in Königs-
berg selbst zum Teil, wie es scheint, nicht in seiner ganzen Bedeutung
gewürdigt.] Ausserdem war eine Reihe moderner Kantbilder in verschie-
denen Variationen und Ausführungen zu sehen. Auch die von uns im
Festheft reproduzierte Plakette von A. Heinrich „Kant und Friedrich der
Grosse" war in grosser Bronzeausführung da; ferner Abbildungen von
Kants Wohnhaus u. s. w.; dann das grosse Gemälde von Dörstling, Kant
und seine Tischgenossen, das, wie wir in den KSt. VI, 112 f. erwähnt
haben, von Stadtrat Professor Dr. Walter Simon veranlasst und der Stadt
geschenkt worden ist; ferner viele Originaldrucke der Werke Kants, Ma-
nuskripte und Briefe desselben, nachgeschriebene Kollegienhefte, sowie
eine Anzahl sonstiger interessanter Reliquien. Es waren auch die ver-
schiedenen, in den KSt. erschienenen Abbildungen vertreten. Die Firma
Gräfe & Unzer Hess einen ausführlichen Katalog der Ausstellung drucken,
welcher auch durch den Buchhandel zn beziehen ist und der auch für
solche, die die Ausstellung nicht gesehen haben, sehr vieles wertvolles
und noch nicht ausgenütztes Material enthält. Der Katalog umfasst auf
39 Seiten über 200 Nummern.
8. Schulfeiern. In den meisten der höheren Schulen fanden Ge-
denkfeiern statt, wobei mehrere auf die Bedeutung Kants und den Tag
bezügliche Reden gehalten wurden. In einigen höheren Lehranstalten
wurde der Vormittagsunterricht abgekürzt, um den Schülern Gelegenheit
zu geben, Kants Begräbnisstätte zu besuchen.
9. Gedächtnisfeier des Goethebundes. Der Königsberger
Goethebund feierte am Mittwoch, dem 10. Februar, im Festsaale der
Palaestra Albertina den Erinnerungstag in zahlreicher Versammlung. Den
Festvortrag hielt Direktor a. D. Richard Schultz. Er entwarf ein Lebens-
bild Kants, um zum Schlüsse Kant als „Welterzieher" zu feiern. Redak-
teur Dr. Goldstein las Stellen aus Kants Schriften vor, u. a. aus den „Be-
obachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" sowie aus der
Abhandlung „von der Macht des Gemüts" u. s. w.
10. Feier im evangelischen Arbeiterverein. Die Festrede
hielt Herr Prediger Konschell. Er führte aus, wenn auch zunächst
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. 111
zwischen einem Arbeiter und dem grossen Denker ein ungeheurer Abstand
vorhanden zu sein scheine, so dürfe der Verein doch nicht an der Feier
vorübergehen, da Kants Wirksamkeit für unser Vaterland und für unsere
Kirche von grösster Bedeutung gewesen sei. Angriffe, wie sie z. B. auf
dem Ärzte- und Naturforscherkongress gegen die Religion gerichtet worden
seien (von Ladenburg), wären unmöglich, wenn die Redner nur ein wenig
von Kant wüssten u. s. w.
11. Kantfeier des Arbeiter-Bildungsvereins. Freitag Abend
hatte sich dieser Verein in der Phönixhalle versammelt, um auch seiner-
seits den Manen Kants zu huldigen. Dr. Siegfried Stern berührte dabe
den Konflikt Kants mit WöUner und führte dann weiterhin aus, dass die
konsequente Befolgung von Kants kategorischem Imperativ notwendig
zum Sozialismus führe ; denn Kant habe die Forderung erhoben, den
Menschen niemals als Mittel zu benützen, sondern in ihm stets die ganze
Menschheit zu achten u. s. w. „Genosse" Gottschalk bestritt diese Aus-
führungen mit Recht: denn sehr viele konsequente und wahre Kantianer
seien durchaus nicht Sozialisten und brauchten es nicht zu sein.
12. Festartikel der Königsberger Zeitungen. Die be-
merkenswerteste Huldigung für Kant in dieser Hinsicht bietet die
„Sondernummer zum Gedächtnis des 100. Todestages Immanuel Kants"
der Königsberger „Hartungschen Zeitung" (10 Folioseiten) mit den Bildern
Kants von Becker und von Döbler, seinem Wohnhaus, sowie mit der Ab-
bildung der am 12. Februar enthüllten Gedenktafel (nebst einem erläutern-
den Artikel von Prof. Dr. Busse) ; vgl. oben No. 2. Otto Schöndörffer
schildert zuerst in einem scliwungvoUen Artikel Kants Leben, Kants
Charakter und Kants Philosophie. Emil Arnoldt lieferte eine scharfsinnige
Untersuchung „über die drei Formeln des kategorischen Imperativs in
der ,Grundlegung zur Metaphysik der Sitten'". Professor der Geschichte
Franz Kühl schildert Kant als Geschichtsphilosophen. Redakteur Dr. Lud-
wig Goldstein schildert in einem Artikel „Vor hundert Jahren" Kants Tod
und Begräbnis. Hierauf folgen „Stimmen der Gegenwart über Kant", zu-
nächst aus dem Inland, wo wir folgenden, teilweise sehr interessanten
Beiträgen und Aussprüchen begegnen: Reichskanzler Graf Bülow, Staats-
sekretär Posadowsky, Präsident des Reichsbank-Direktoriums Dr. Koch,
Wilhelm Oncken, Albert Ladenburg, Richard Maria Werner, Friedrich
Paulsen, Otto Liebmann, Ludwig Goldschmidt, Houston Stewart Chamber-
lain, Max Nordau, Robert Schweichel, L. Passarge, Max Grube, Ernst
V. Possart, Josef Lewinsky. Hierzu kommen noch einige grössere Aus-
führungen, so von Eduard v. Hartmann, welcher Kant nur als Moralphilo-
sophen gelten lassen will, von Dr. Richard M. Meyer-Berlin über „Kant
und die deutsche Dichtung", von Paul Schienther- Wien über die Sattler-
gasse in Königsberg (Kants Geburtsstätte). Last not least seien noch er-
wähnt zwei schwungvolle Gedichte von Felix Dahn und Rudolf v. Gott-
schall „An Immanuel Kant". Es folgen dann weiterhin „Stimmen der
Gegenwart über Kant aus dem Auslande", voran ein Ausspruch des eng-
lischen Premierministers Lord Arthur J. Balfour. Die Äusserung des fran-
zösischen Unterrichtsministers Chaumie, resp. seines Kabinettchefs de
Monzie über „Kant in Frankreich" traf zu spät ein und ist abgedruckt iu
112 H. Vaihinger,
der No. 72 der Königsberger Hartungschen Zeitung. Einen weiteren
Nachtrag bietet No. 74 der Hartungschen Zeitung in einer ziemlich aus-
führlichen Äusserung des Prof. Feiice Tocco-Florenz über Kant und
Spencer. In der Festnummer selbst aber finden wir Aussprüche von
M. Berthelot-Paris, Alfred Fouillöe-Menton, SuUy Prudhomme-Chätenay,
Jules Claretie-Paris, Albert Sorel-Paris, d'Estouruelles de Constant-Paris,
Charles Beauquier, Joseph Reinach, Charles Richet-Paris, Gabriel Söailles-
Paris, Yves Guyot, Frederic Passy. Den Schluss bilden briefliche Äusser-
ungen von Heinrich Prinz Schönaich-Carolath, Friedrich Spielhagen, J. V.
Widmann und Paul Heyse über die Kantfeier. Ein Teil dieser Aussprüche
sind von vielen Zeitungen nachgedruckt worden. — Die No. 70 der Har-
tungschen Zeitung enthielt ferner einen kleinen Artikel „Unbekanntes
über Kant", Mitteilungen aus dem Handexemplar von Wasianskis Werk
„Kant in seinen letzten Lebensjahren", das handschriftliche, bisher noch
niclit publizierte Mitteilungen über Kant enthält.
Im Besitz der Hartungschen Zeitung befindet sich auch das „Königs-
berger Tageblatt, Volksblatt für Ostpreussen", das ebenfalls zum 12. Februar
eine Gedächtnisnunini er mit Abbildung herausgab. Dieselbe enthält ein
Gedicht von Oskar Schwender an die Manen Kants, einen (auch von vielen
anderen Zeitungen abgedruckten) Artikel von Paul Pasig „Der Weise von
Königsberg", sowie einige Mitteilungen über Kants Tod und Begräbnis.
Auch die „Ostpreussische Zeitung" veranstaltete eine Sonderbeilage
„Zu Kants Gedächtnis" mit drei Abbildungen. Dr. phil. Karl v. Flotow
entwickelt in einem Fest-Artikel Kants Bedeutung und Grösse. Paul Sohr
giebt Schilderungen „aus Kants Leben". Den Schluss bilden eine Anzahl
von Kant-Aussprüchen.
Die Königsberger „Allgemeine Zeitung" feierte den Tag durch einen
grossen feierlichen Leitartikel von Prof. Hermann Baumgart-Königsberg;
in ihrer No. 76 brachte sie zwei amüsante Feuilletons „Kant und die Tafel-
freuden", und „Kant und die Königsberger Studenten".
Auch das sozialdemokratische Organ für Ost- und Westpreussen, die
„Königsberger Volks-Zeitung", feierte Kant in ihrer Weise. Sie brachte
schon am 11. Februar ein kurz gefasstes Lebensbild Kants und eine ge-
drängte Gesamtdarstellung seines philosophischen Denkens und führte in
ihrem Leitartikel zum 12. Februar „Kant und Wir" aus, dass die Sozial-
demokratie die wahre Erbin Kants sei. „Sie werde ihm das herrlichste
Monument errichten, das einem Menschen errichtet werden kann: Sie
wird seinen Willen vollstrecken, seine Ideen verwirklichen, indem sie sein
soziales Ideal: die Gemeinschaft gleichberechtigter, sich selbst verwalten-
der, freiwollender Menschen zu schaffen sich zum Ziele setzt." Diese
Äusserung eines „gelegentlichen Mitarbeiters" wurde jedoch am 13. Februar
durch die Redaktion selbst desavouiert und es wurde mit Recht konsta-
tiert, dass der Sozialismus an und für sich in seiner wissenschaftlichen
Begründung nichts mit Kant zu thun habe.
13. Nachfeier der Kantgesellschaft. Die Königsberger Kant-
gesellschaft hatte am Todestage Kants in der Stoa Kantiana einen Kranz
niederlegen lassen, sonst aber keine Gelegenheit gefunden, an der offi-
ziellen Festlichkeit teilzunehmen. Dieselbe benützte den 22. April, den
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. 113
Geburtstag Kants, den sie alljährlich feiert {vgl. unsere Berichte in
früheren Jahren), dazu, das Jubiläum des 100jährigen Todestages Kants
nachträglich zu begehen. Der verdiente Förderer der Kantforschung,
Herr Dr. Emil Amoldt, übernahm in diesem Säkularjahre die Festrede.
Er sprach über den ersten Teil der ersten Antinomie aus Kants Kr. d. r.
V. Der Vortrag ist gedruckt in der Altpreuss. Monatsschrift, Bd. XLI,
H. 3 u. 4, S. 234—256. Die Anregung zu der Feier gab der „Bohnenkönig" Dr.
S. Cohn; neuer Bohnenkönig wurde Oberlehrer Prof. Dr. Alfred Döring.
Arnoldt will in seiner Rede die Kantische Antinomienlehre gegen-
über den auf sie erhobenen Augriffen rechtfertigen. „Wenn es mir ge-
lingt, im Sinne Kants und im Anschlüsse an ihn auch nur den ersten Teil
der ersten Antinomie in der Art zu rechtfertigen, dass ich seine Beweise
für die Thesis wie für die Antithesis, wie er behauptet hat, als einleuchtend
und unwiderstehlich darthue, so darf m. E. mit Recht das Präjudiz ent-
stehen, dass auch seine Beweise für den zweiten Teil jener Antinomie,
wie seine Beweise für die übrigen Antinomien bündig seien." So tritt er
zunächst den Beweis für den ersten Teil der Thesis der ersten Antinomie
an : die Welt hat einen Anfang in der Zeit, sowie für den ersten Teil der
entsprechenden Antithesis : die Welt hat keinen Anfang in der Zeit oder
sie ist in Ansehung der Zeit unendlich. Arnoldt weist dann auf ein „bis-
her nicht genug beachtetes Faktum" hin, „welches Kants Ansicht von der
Antithetik der reinen Vernunft in merkwürdiger Weise bestätigt. Denn
Herbart und Schopenhauer stellten über die Antinomien diametral einander
entgegengesetzte Behauptungen auf, und zwar so, dass Herbart im Allge-
meinen die Thesen und deren Beweise, Schopenhauer dagegen die Anti-
thesen und deren Beweise in Schutz nahm". Die „Dogmatiker" Herbart
und Schopenhauer bestätigen so indirekt die Richtigkeit der Antinomien
des Kritikers Kant. Der Redner schloss mit einer Aussicht auf den
22. April 1924, den 200jährigen Geburtstag Kants, und hofft, „dass die
dann wohl verstandene und dann neu erstandene Philosophie Kants in dem
Geistesleben zunächst der deutschen Nation ein Ferment bilde, das sich
in den wissenschaftlichen Forschungen, den religiösen Bekenntnissen, den
staatlichen Einrichtungen und den sozialen Bildungen wohlthätig und
machtvoll auswirkt".
14. Eine weitere Nachfeier bildet der Festvortrag des Prof. Dr.
L. Busse auf der Deutschen Lehrerversammlung in Königsberg,
Pfingsten 1904. Seine Ansprache (gedruckt in der „Pädagogischen Zeit-
schrift"j feiert vor dieser Lehrerversammlung Kant als den Lehrer der
Menschheit, welcher theoretisch die Begründung und die Grenzen der
wissenschaftlichen Erkenntnis festgesetzt und durch seine praktische Phi-
losophie die Sicherung einer idealen Welt- und Lebensanschauung voll-
zogen habe. V^or allem sei nie eine erhabenere Begründung des L^nsterb-
lichkeitsgedankens in der Philosophie gegeben worden. Die Hervorkehrung
des Begriffs der Persönlichkeit sei gerade für Lehrer von besonderer
Wichtigkeit: denn der Lehre)' müsse seine ganze Persönlichkeit einsetzen,
um aus dem Kinde eine Persönlichkeit zu machen. Vor allem der Lehrer
könne den Kantischen Satz würdigen, den Menschen niemals als Mittel,
sondern immer nur als Selbstzweck zu betrachten.
Kantstudien X. g
114 H. Vaihini2:er,
B. Festfeieru ausserhalb Königsberg.
1. In Berlin hat die Universität selbst keine offizielle Feier veran-
staltet, wie verlautet angesichts des Mangels einer geeignet grossen Aula.
Eine solche Universitätsfeier wurde jedoch ersetzt durch die Feier, welche
die Berliner Philosophische Gesellschaft im Berliner Rathause
veranstaltet hat, und zu welcher eine Anzahl von Universitätsprofessoren
nebst dem Rektor erschienen war und bei welcher auch die Regierung
sich hatte vertreten lassen. Die Feier wurde durch Musik eingeleitet und
beschlossen (Erkscher Chor). Die Denkrede hielt Universitätsprofessor
Adolf Lasson. Die Rede ist im Druck erschienen: Immanuel Kant zu
seinem 100jährigen Todestage, Berlin, Weidmann ; auch wieder abgedruckt
in den Philosophischen Aufsätzen, herausg. von der Philos. Gesellschaft zu
Berlin zur Feier ihres 60jährigen Bestehens, BerUn, Weidmann 1904. Die
KSt. werden voraussichtlich auf die Rede näher eingehen, weshalb nur
einige Gedanken erwähnt seien. Der greise Redner begann, man habe
gerade ihm als einem der Ältesten die Rede auf Kant übertragen, weil er
mit den Anfängen seiner philosophischen Bildung noch in die Zeit zurück-
reiche, wo der Streit um Kant noch ein lebendiges Interesse hatte, während
für die jüngeren Geschlechter Kant schon geschichtlich geworden sei.
Aber auch heute herrsche der grosse Philosoph noch als ein Lebender
überall da, wo Wissenschaft getrieben werde. Wir verdanken Kant das
Wesentlichste : unsere Selbstbehauptung. Kant hat auf ganz neuem Boden
ein neues Verhältnis des Menschen zur Welt begründet: die Herrschaft
des Geistes. Darin bestehe der Idealismus. (Vgl. Vossische Zeitung
No. 73, Berl. Tageblatt No. 79.)
Der Berliner Zweigverein des evangelischen Bundes veran-
staltete eine Gedächtnisfeier in der Aula des Friedrich Wilhelm-Gymna-
siums. Der Vorsitzende, Prof. Schmidt, betonte die Pflicht des Protestan-
tismus, auch das Gedächtnis der grossen Geisteshelden zu pflegen, welche
vom Ultramontanismus bitter gehasst werden. Den Festvortrag hielt Pro-
fessor D. Dr. Kaftan über „Kant als Philosoph des Protestantismus".
Über die im Verlag von Reuther & Reichard in Berlin erschienene fein-
sinnige Rede haben die KSt. berichtet IX, 521. Der Redner schilderte
Aristoteles als den Philosophen der römisch-katholischen Kirche, Piaton
als den geistigen Führer der griechisch-katholischen Kirche und sagt von
Kant : er gehört zu den grossen Lehrern der Kirche : denn er hat dem
Kultursystem des Protestantismus die ihm entsprechende Philosophie ge-
geben. (Vgl. Vossische Zeitung No. 73.)
Die psychologische Gesellschaft versammelte ebenfalls ihre
Mitglieder zu einer Kantfeier. Unter den Erschienenen befand sich Pro-
fessor Zeller, einer der Erneuerer der Kantischen Philosopliie in den
60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, dessen körperliche Frische nicht
vermuten Hess, dass er eben seinen 90. Geburtstag gefeiert hatte. Der
Vorsitzende, Dr. A. Moll, entwickelte zunächst die Bedeutung Kants für
das deutsche Geistesleben. Den Festvortrag hielt Professor Dr. Max
Dessoir über Kant und die Psychologie. Bei aller Würdigung für Kants
gewaltige, unsterbliche Verdienste glaubte er darauf hinweisen zu müssen,
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. 115
dass Kant für die Psychologie nicht diejenige Bedeutung besitze wie für
die übrigen Geisteswissenschaften. (Vgl. Vossische Zeitung No. 73.)
Die Humboldt-Akademie veranstaltete in der Aula des König-
städtischen Realgymnasiums eine Festfeier. Dozent Dr. Maximilian Runze
hielt die Festrede. Im Anschluss an den Satz von Kuno Fischer „Kant
richtig verstehen, heisst, ihn historisch ableiten", schilderte er zunächst
Kants Entwickelung und die Entstehung der „Grundfrage der Kantischen
Philosophie": so lautete das Thema des Vortrags, Die Grundfrage „Wie
sind synthetische Urteile a priori möglich?" gliedert sich bekanntlich in
3 Unterfragen. In der ersten „Wie ist reine Mathematik möglich?" hat
das „Wie" explikative Bedeutung. Ebenso in der zweiten „Wie ist reine
Naturwissenschaft möglich?" Bei der dritten Unterfrage „Wie ist Meta-
physik möglich ?" hat das „Wie" skeptische Bedeutung im Sinne von „ob".
Der Redner schloss mit den Worten Kants: „So viel ist aber gewiss: wer
einmal Kritik gekostet hat, den ekelt auf immer alles dogmatische Ge-
wäsche." (Vgl. National-Zeitung No. 104.)
In der Lessing-Gesellschaf t sprach Professor Dessoir über
„Kants Bedeutung für die Gegenwart".
In der Treptower Sternwarte hielt Direktor Dr. Archenhold
einen Vortrag über das Thema „Die Kant-Laplacesche Entstehungshypo-
these unseres Planetensystems".
Bei der Kantfeier des Berliner Handwerker- Vereins sprach Dr.
Apel über „Kants Persönlichkeit und Denken".
2. Dresden. Die Königl. technische Hochschule veranstaltete
eine offizielle Feier in der Aula, welche nach den Intentionen des Profes-
sors Schumacher künstlerisch ausgeschmückt war. Die Festrede hielt
Professor Dr. Fritz Schnitze, welcher bekanntlich schon seit vielen
Jahren in Dresden den Neukantianismus energisch vertritt und dessen
kräftigem Eintreten auch die „Kantstiftung" einen sehr namhaften Beitrag
aus Dresden verdankt. Die Rede ist zum Teil abgedruckt in der Sonn-
tagsbeilage zum Dresdener Anzeiger vom 14. Februar. Der Redner unter-
scheidet Systeme der Schwäche, in denen der Mensch als ein wertloses
Objekt der stofflichen Welt betrachtet wird, wodurch der Wille geschwächt
wird ; und andererseits Systeme der Kraft, in denen der Mensch als wert-
volles Subjekt einer geistigen Welt betrachtet wird. Jene betrachten den
Menschen vorzugsweise quantitativ, diese vorzugsweise qualitativ. Der
qualitativ denkende Leibniz erhebt die Individualität zum Urprinzip des
Weltalls, während der quantitativ denkende Spinoza ihr gänzlich ratlos
gegenüberstehe. Kants System gehört zu den Systemen der Kraft.
Redner entwickelt dann zunächst Kants naturwissenschaftliche Bedeutung
(kosmologische Hypothese, Begriff der Entwickelung, energetische Natur-
anschauung u. s. w.) und behandelt dann Kants Lösung der 6 Haupt- und
Grundfragen: der erkenntnistheoretischen, der moralischen, der religiösen,
der rechtsphilosophischen, der teleologischen und der ästhetischen. Die
Lösung aller dieser Fragen habe Kant bewirkt durch Unterscheidung des
individuellen Selbst und des wie ein oberes Stockwerk sich darüber er-
hebenden überindividuellen allgemeinen Selbst (Gattungsselbst, Gattungs-
vernunft). In diesem überindividuellen Ich liegen die allgemeingiltigen
8*
116 H. Vaihingen,
logischen, sittlichen, ästhetischen Normen. Kant habe damit das Reich
der kritischen Vernunftherrschaft begründet. Der Redner schloss mit
Humboldts Wort auf Kant: „Er hat eine Reform gestiftet, wie sie die
Geschichte der Menschheit nie wieder aufweist."
Die Litterarische Gesellschaft veranstaltete im Musenhaus eine
Festfeier, bei welcher Professor Dr. Simmel aus Berlin die Rede hielt.
Er stellte die Persönlichkeit, dass Ich, als den festen Pol in der Vielheit
der Erscheinungen in dreifacher Hinsicht, in erkenntnistheoretischer, sitt-
licher und religiöser Beziehung hin.
Der Litterarische Verein veranstaltete „zum Besten der Kant-
stiftung" mit grossem Erfolg Sonntag, den 7. Februar, eine Matinee : „Feier
zur Erinnerung an Immanuel Kants Todestag". Der Vorsitzende, Professor
Dr. Zschalig, sprach einleitende Worte. Die Festrede hielt Privatdozent
der Philosophie Dr. Bruno Bauch aus Halle. Der Titel des Vortrags war:
„Kant und unsere Dichterfürsten". Die Rede ist abgedruckt in der Bei-
lage z. AUg. Zeitung, No. 47, Freitag, 26. Februar. Während die Dichter
Klopstock, Gleim und Herder im Gegensatz zu Kant standen, stellten sich
unsere grössten Dichter Goetlie und Schiller positiv zu dem Königsberger
Weisen. Allerdings assimilierte Goethe nur dasjenige von Kants Lehre,
was sich in seine wesentlich spinozistische Lebensanscliauung ohne Zwang
fügte. Wenn aber Goethe die Persönlichkeit als höchstes Glück der
Erdenkinder preist, so ist das weniger Spinozistisch als Kantisch em-
pfunden und gedacht. Am längsten verweilte der Redner natürlich bei
Schiller, wobei er besonders die Lehre Kants vom Mechanismus des Natur-
geschehens einerseits und der Zweckmässigkeit andererseits und damit zu-
sammenhängend die Lehre Kants von Notwendigkeit und Freiheit be-
handelte. Zum Schluss berührte der Redner noch die Verwandtschaft
Kants und der Klassiker in der Auffassung des Genies und der Kunst-
philosophie überhaupt. Anschliessend wurden „Kantische Dichtungen"
Schillers sowie einige philosophische Gedichte Goethes von Hofschauspieler
A. Winds deklamiert Der Verlagsbuchhändler Heinrich Minden hatte in
dem Saale eine Sammlung von Kantreliquien ausgestellt.
3. In Meiuel fand in der Aula des Luisengymnasiums eine Feier
statt, bei welcher Oberlehrer Dr. Lagenpusch die Rede hielt. Es folgten
darauf Deklamationen, u. a. die „Worte des Glaubens" von Schiller und
das Gedicht Johannes Kant von Schwab. Die Rede ist gedruckt in der
2. Beilage zu No. 50 des „Memeler Dampfboot". Die Rede nimmt zu-
nächst Bezug darauf, dass Kants Vater in Memel geboren ist, und schliesst
sich im Übrigen teilweise an Paulsen und Chamberlain an. Von Kants
Persönlichkeit heisst es u. a. : „Er gehört zu den wenigen Männern, die es
verstehen, alles von sich fern zu halten, was ihre innere Harmonie stören
könnte — auch eine grosse Weisheit." Kant habe das bien raisonner
Friedrichs des Grossen zur Geltung gebracht. Er habe darunter ver-
standen, dass die Jugend nicht zu frühe „vernünfteln lernen solle ohne
genaue historische Kenntnisse", und habe deshalb vor Allem Wert, gelegt
auf Verbreitung naturwissenschaftlicher, geographischer, anthropologischer
Kenntnisse, um „der Ausbildung der Talente die einzig zweckmässige
Richtung zu geben". Als Schriftsteller zeige Kant juristischen Verstand :
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. 117
er gebe seinen Problemen eine juristische Fassung, er formuliere sie als
streitige Rechtsfragen und erörtere sie in dieser Weise. Gegenüber
fremden Systemen zeige Kant wie alle echten Genies ein herrisches
Wesen. Er biege sie zu seinen Zwecken um. Über seinen Schriften seit
1781 liege ein furchtbarer, tiefer, Ehrfurcht gebietender Ernst ausgebreitet.
Im Übrigen hebt der Verfasser die Ähnlichkeit von Kants Lehre mit der
von Sokrates und von Christus hervor. Die Rede schliesst mit den
Worten: „Vielleicht rüttelt diese Kantfeier unsere Generation aus dem
dogmatischen Schlummer auf. Erreicht das diese Gedenkfeier, dann hat
sie ihren Zweck erreicht."
4. In Tilsit veranstaltete der Litterarische Verein eine Feier, bei
welcher Frau Professor Krüger ein Lebensbild Kants entwarf, worauf
eine Erläuterung verschiedener Kantischer Begriffe folgte.
5. In Weblau in Ostpreussen feierte das Gymnasium den Tag durch
eine Gedenkrede des Oberlehrers Scheibert.
6. In Graz feierte nicht die Universität als solche den grossen
Denker; aber Universitätsprofessor Dr. Spitzer sprach in seiner Vor-
lesung über Psychologie ausführlich über Kants Bedeutung für die Philo-
sophie und insbesondere für die Psychologie. Kant stehe zwar dem ganz
ferne, was man Psychologismus nenne; er habe aber die Psychologie zu-
nächst als empirische Seelenforschung wesentlich gefördert, zunächst durch
seine Theorie des Bewusstseins, sodann durch seine neue Klassifikation der
Seelenvorgänge in Vorstellungen, Gefühle und Begehrungen; endlich habe
er auch psychologische Spezialfragen durch seinen Scharfsinn gefördert,
z. B. die Affektenlehre in seiner Anthropologie. Noch wichtiger sei aber
seine Bedeutung für die spekulative Psychologie, indem er den Monismus
in der einzig haltbaren Form begründet habe : die Materie, die bloss die
Eigenschaften der Ausdehnung, Bewegung und Grösse habe, könne als
solche Vorstellungen, Gefühle und den Willen nicht hervorbringen, sei
aber auch nur Erscheinung eines Dinges an sich, welches sehr wohl zu-
gleich Träger oder Erzeuger unseres Bewusstseins sein könne. Der Ur-
heber der kritischen Philosopliie habe sich um die Wissenschaft von der
menschlichen Seele die grössten Verdienste erworben.
7. In Wien veranstaltete die Philosophische Gesellschaft
welche auch der „Kantstiftung" einen namhaften Beitrag zugewendet hat,
im Festsaale der Universität eine Gedächtnisfeier, welche durch die An-
wesenheit des Rektors und des Senates zugleich einen offiziellen Charakter
erhielt und zur Universitätsfeier gestempelt wurde. Zuerst sprach Pro-
fessor Jodl einleitende Worte zu Ehren Kants und seines Jüngers K. L.
Reinhold, eines Wieners, der als Erster 1787 Kantische Philosophie an einer
deutschen Hochschule lehrte. Die Festrede hielt sodann Professor Dr.
Wilh. Jerusalem über „Kants Bedeutung für die Gegenwart". Die Rede,
welche im Druck erschienen ist (Wien, W. Braumüller), ist auszugsweise
wiedergegeben in den KSt. IX, 530 f.
Die Wiener Kantgesellschaft (gegründet 80. Dezember 1902,
Obmann Ingenieur Dr. phil. Otto Bryk, Obmann-Stellvertreter, früher Dr.
0. Weininger, jetzt Dr. O. Ewald, Sekretär Emil Lucka) veranstaltete eine
Kantfei^r am 6. Februar; zuerst redete Dr. Bryk über „Kant und die
118 H. Vaihinger,
Naturwissenschaft", und sodann Herr Dr. Ewald über „Kants Bedeutung
für die Gegenwart".
In der Grillparzer-Gesellschaft sprach Privatdozent Dr. Emil
Reich über den Einfluss Kants auf Grillparzer,
Die Sozial-wissenschaftliche Vereinigung veranstaltete
eine Nachfeier, bei welcher Oberlehrer Dr. Vorländer aus Solingen einen
Vortrag hielt über: „Marx und Kant".
Im „Sozialwissenschaftlichen Bildungsverein" fand am 9. Februar
eine Feier statt. Die Gedenkrede hielt Dr. Max Adler. Dieselbe ist im
Druck erschienen : „Immanuel Kant zum Gedächtnis !" (Wien, Deuticke
1904, 47 S. als Sonderausgabe aus dem Februarheft der von Engelbert
Pernerstorfer herausgeg. Monatshefte: „Deutsche Worte".)
Im „Wiener Volksheim" hielt am 13. Februar Privatdozent Dr. Ro-
bert Reininger eine Gedächtnisrede auf Kant. Dieselbe findet sich ge-
druckt in dem „Wissen für Alle. Volkstümliche Vorträge und populär-
wissenschaftliche Rundschau", Jahrg. IV, No, 9 und 10.
8. In Tübingen veranstaltete die philosophische Fakultät eine Feier,
bei welcher Professor Dr. Heinrich Maier die Gedächtnisrede hielt. Die-
selbe ist nicht gedruckt. Wir berichten über sie nach dem „Schwäbischen
Merkur" No. 73. In Kants philosophischer Entwickelung habe Newton im
Laufe der Zeit über Wolff den Sieg davongetragen. In der Kr. d. r. V.
habe Kant einen neuen Wirklichkeitsbegriff begründet. Sein Hauptver-
dienst sei, trotzdem er selbst noch teilweise im Banne der Aufklärung ge-
standen habe, die Überwindung des Intellektualismus der Aufklärung
durch den praktischen Primat. Das Ergebnis der Erkenntniskritik Kants
habe etwas Niederdrückendes, worein wir uns aber finden müssen: eine
letzte abschliessende Lösung der Welträtsel ist uns versagt. Allein ein
sicheres Bewusstsein um die Grenzen unserer Kraft ist zugleich eine
Quelle der Kraft. Denn es richtet unser Streben auf erreichbare Ziele,
und dieses Bewusstsein hat uns Kant gegeben.
9. In Frankfurt a. M. veranstaltete das Freie deutsche Hoch-
stift eine akademische Feier im Saale des Hochschen Konservatoriums.
Die Festrede hielt Professor Dr. A dickes aus Münster (jetzt Tübingen)
über „Kant als Ästhetiker". Die Rede ist nicht gedruckt. Einen Auszug
enthält der Frankfurter „General-Anzeiger" No. 39. Kants Einfluss sei
gegenwärtig noch grösser als vor 100 Jahren. Die Grösse Kants zeige
sich vor allem darin, dass, obgleich er selbst den schönen Künsten ziem-
lich fremd gegenübergestanden sei, er doch der Ästhetik neue Anstösse
gegeben habe. Ja, erst durch "Kant habe die Ästhetik sich ein Heimat-
recht in der Philosophie erworben.
10. In Darmstadt veranstaltete der Zweigverein der Deutschen
Gesellschaft für ethische Kultur eine Gedächtnisfeier, bei welcher
Professor Dr. Staudinger die Rede hielt. Sie ist nicht gedruckt; einen
Auszug giebt der Darmstädter tägliche Anzeiger No. 38. Kant habe nicht
Philosophie, sondern Philosophieren lehren wollen; er habe eine Methode
geben wollen, nicht die Sache. Die jetzige Zeit habe diese Methode auf
neue Probleme angewendet, speziell auf die ethisch-politisch-juristischen.
Kant selbst habe übrigens schon wichtige Verfassungsprobleme theoretisch
Das Kantjubilänm im Jahre 1904. ^19
behandelt. Hoffentlich gehe man jetzt in Staat und Recht auf Kant zu-
rück, so dass sein Todestag ein Tag der Auferstehung für ihn werde.
Der Verein für Kunst, Wissenschaft und Litteratur ver-
anstaltete eine Feier zum Gedächtnis Kants, bei welcher Privatdozent Dr.
Schrader den Festvortrag hielt.
11. In Löbau in Sachsen veranstaltete der Humboldt-Verein
eine Kantfeier. An zwei Abenden sprach Pastor primarius Dr. Katzer,
welcher auch früher schon in Löbau vielbesuchte Kantvorträge gehalten
hat, über Kant und die moderne Weltanschauung. Am ersten Abend ent-
wickelte der Redner Kants theoretische Weltanschauung, am zweiten
Abend Kants praktische Philosophie. Detaillierte Berichte liegen nicht
vor ; einen kurzen Bericht schliesst eine dortige Zeitung mit den charakte-
ristischen Worten: „So erscheinen die Vorträge des Herrn Dr. Katzer
über Kant geradezu als eine sittliche That. Die Geschichte unserer Tage
wird bemerken, wie mit dem Auftreten des Herrn Primarius Dr, Katzer
in der Lausitz die religiösen Vorstellungen daselbst eine glückliche Läu-
terung erfahren haben und zwar in dem Geiste Kants. Mit Kant wird es
gelingen, die materialistischen Anschauungen der Sozialdemokraten und
Spiritisten ebenso zu überwinden wie die Dogmen der Buddhisten."
In Löbau i. S. veranstaltete ferner die Lehrerschaft des Lö-
bauer Schulaufsichts-Bezirks eine Feier, bei welcher Pastor prim.
Dr. Katzer über Kant und seine Bedeutung für die Pädagogik sprach.
Die Rede ist nicht gedruckt; wir berichten über sie nach der Oberlausitzer
Dorfzeitung No. ß. Der Redner entwickelte zunächst, was Kant geleistet
habe in Beziehung auf die Erziehung der Menschheit durch seine Kr. d.
r. V. und die Kr. d. prakt. V. „Hat sich der Mensch der Welt denkend
bemächtigt, so muss er danach trachten, sich durch sein Handeln siegreich
über sie emporzuheben." Zu diesem Zweck empfiehlt Kant 3 Stufen der
Erziehung: 1. dem Zögling ein Urteil darüber beizubringen, was gut und
böse ist ; 2. der Zögling lerne die allgemeine Gesetzmässigkeit kennen,
unter der die ganze Menschheit steht; 3. der Zögling lerne das moralische
Gesetz in seiner Brust verstehen, die Pflicht. Man rede freilich heute
viel zu viel von einem Kampf ums Recht, aber zu wenig von der Pflicht.
„So lange der Mensch eine Pflicht erfüllt, so lange ist er stark genug, alle
Misshelligkeiten zu überwinden."
12. In Plauen i. V. veranstaltete der Zweigverein des Evangeli-
schen Bundes eine Feier im Freundschaftssaal, bei der Pastor prim. Dr.
Katzer aus Löbau i. S. den Festvortrag hielt, über den wir nach dem
„Vogtländischen Anzeiger" No. 25 kurz berichten. Der Redner sprach
über die beiden Geisteshelden Luther und Kant; er zeigte zunächst im
ersten Teile manche Ähnlichkeiten des Lebens und Charakters beider in
kleinen Zügen und Episoden; andererseits die wesentlichen Unterschiede
in Leben und Charakter. Beide waren „Kampfnaturen in des Wortes
schönster Bedeutung". Im zweiten Teile schilderte der Redner die innere
Verwandtschaft der beiden Geistesheroen. „Beide Männer waren einzig in
den Grundideen ihrer Geistesrichtung, in der Anschauung über die mensch-
liche Vernunft und der Betonung des Willens. Luther und Kant haben
uns grosse Aufgaben hinterlassen, an deren Erfüllung wir arbeiten müssen."
120 H. Vaihinger,
13. In Pirna veranstaltete die Ephoralversammlung der Geist-
lichen der Umgebung eine Feier, bei welcher Pastor prim. Dr, K atz er
aus Löbau i. S., der auch Mitglied der „Kantgesellschaft" ist, über die
Philosophie Kants gesprochen hat. Ein Bericht liegt nicht vor.
14. In Bonn veranstaltete die Universität eine Feier, w^elcher auch
der Prinz Eitel Friedrich anwohnte. Die Festrede hielt Professor Dr.
Benno Erdmann. Sie ist gedruckt erschienen im Verlag von F. Cohen
in Bonn; die KSt. haben über dieselbe berichtet IX, 523. Wir heben da-
raus den Gedanken hervor : entgegen der auf Grund der heutigen mate-
rialistischen wirtschaftlichen Geschichtsauffassung entstandenen Anschauung,
der zufolge die Geistesarbeit selbst der hervorragendsten Denker nichts
weiter sei als der Ausdruck der geistigen, sozialen, schliesslich sogar wirt-
schaftlichen Bewegung der breiten Volksmasse, haben wir gerade in Kant
den überragenden Geist zu verehren, der wie kaum ein zweiter aus ori-
ginaler Gedankenarbeit heraus auf das Kulturleben der Menschheit ge-
wirkt habe.
15. In Kiel veranstaltete die Christiana-Albertina eine Gedächtnis-
feier, bei welcher Professor Dr. Götz Martins (Mitglied der „Kantge-
sellschaft") die Rede hielt. Sie ist gedruckt erschienen (bei Lipsius &
Tischer in Kiel) ; die KSt. berichten über sie IX, 529 f. Kant habe mit
Recht gesagt, dass er hundert Jahre '^u früh aufgetreten sei. Selten habe
sich ein Wort so bestätigt wie diese Behauptung. Das Dauernde in Kants
Ideenwelt komme erst jetzt voll zur Geltung. Kant sei Vollender und
zugleich Zerstörer des Rationalismus. Nach Kants Auffassung ist das
Sittengesetz nicht von Gott stammend, aber zu Gott hinführend. Alle
Schöpfungsgeschichte ist Mythe; aber der Schöpfungsgedanke sei not-
wendig. Kant trifft hierin mit dem Geist des Protestantismus zusammen.
Die Kantische Philosophie sei eine Philosophie des Friedens, in der Wissen
und Glauben sich vereinigen. Wenn man sich frage, wie sich Kant zu
den modernen sozialen Problemen gestellt haben würde, so ist gewiss,
er würde jede Bevorzugung eines Standes nachdrücklich verurteilt haben.
Aber ebenso sicher hätte er die positiv sozialistischen Ideen abge-
wiesen.
16. In Erlangen veranstaltete die Universität eine Feier, bei welcher
Professor Dr. Richard Falckenberg (Mitglied der „Kantgesellschaft")
die Rede hielt (gedruckt von Jung & Sohn in Erlangen). Einen ausführ-
lichen Bericht brachten die KSt. IX, 531 f. Falckenberg schildert bes.
eingehend die Vielseitigkeit der Impulse, die für unser ganzes gegen-
wärtiges Geistesleben von Kant ausgegangen sind, und berührte auch
dessen Beziehungen zur Erlanger Universität.
17. In Jena versammelte sich die Universität in der Kollegienkirche,
um den Festvortrag von Professor Dr. Otto Liebmann (Mitglied der
„Kantgesellschaft") zu hören. (Der Vortrag ist erschienen in Strassburg
bei Trübner; die KSt. berichten über ihn IX, 525 f.) Der Redner sprach
zunächst von der Bedeutung Jenas als der eigentlichen Kantischen Uni-
versität und ihrem hervorragenden Anteil an der Ausbreitung und Weiter-
fortbildung der Kantischen Philosophie. Er führte in die Gedankenwelt
Kants ein an der Hand seiner Hauptwerke. Einen stimmungsvollen
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. J21
Schluss gab der Redner seinem Vortrag durch eine poetische Huldigung
für den grossen Toten, indem er das in dem Festheft der KSt. zum Ein-
gang abgedruckte Festgedicht auf den 12, Februar 1904 wirkungsvoll
vortrug.
18. Die Heidelberger Carolo-Ruperta hielt eine Festfeier am
12. Februar, Abends 7 Uhr. Die Festfeier wurde eingeleitet durch Bachs
Passacaglia. Die Festrede hielt Professor Dr. Windel band. Sie ist er-
schienen in Heidelberg bei C. Winter; die KSt. berichten über sie IX,
520 f. In der Erkenntnistheorie habe Kant nach mancherlei Umkippungen
Stellung gefunden zu dem fundamentalen Gegensatz der sinnlichen und
der übersinnlichen Welt. In der Ethik kehre ein ähnlicher Gegensatz
wieder zwischen Neigung und Pflicht. Mit der Aufstellung des katego-
rischen Imperativs wird Kant der siegreiche Gegner jener billigen Moral,
die gern und willig ihren Tugenddienst verrichtet, dabei aber die Hand
ausstreckt, ob dabei vielleicht noch etwas von Glück abfällt. Niemand
hat vorher höher von der Würde der Persönlichkeit gedacht, und niemals
ist das Leben der Persönlichkeit strenger unter ein unpersönliches Gesetz
gebeugt worden. Kant versteht alles wirkliche Menschenleben als die Ar-
beit des sittlichen Willens, sich in dem widerstrebenden Reiche der
Sinnenwelt zu verwirklichen. Für ihn bleibt das Menschenlos ein nie
endendes Ringen, kein freudloses Thun oder seufzendes Tragen, sondern
die vom Errungenen zu neuem Erringen rastlos fortschreitende Selbstbe-
thätigung. Das Endziel ist die Gestaltung der Sinnenwelt nach den
Zwecken der Vernunft oder, wie Kant sich ausdrückt, die Verwirklichung
des Reiches Gottes auf Erden.
19. In Halle feierte die Universität den Tag durch eine Pestrede
von Professor Dr. Alois Riehl (Mitglied der „Kantgesellschaft") (er-
schienen bei Max Niemeyer in Halle a. S.). Einen Auszug der Rede
brachten die KSt. IX, 526 f. Kant habe noch in seinen letzten Lebens-
tagen, als ihm sein Gedächtnis geschwunden sei, neue Werke geplant,
und „tantalisch" war sein Schmerz, nicht mehr die Kraft zu ihrer Aus-
führung zu besitzen. Aber durch das, was er uns hinterlassen, ist er ein
unsterblicher Lehrer der Menschheit geworden. Was er selbst einst pro-
phetischen Geistes vorausgesehen hat: jetzt, nach 100 Jahren, wird er erst
recht verstunden. Der Ruf „Zurück zu Kant!" begann auf die Anregung
eines Helmholtz, der versuchte, die Portschritte des Naturerkennens mit
der Lehre Kants zu verbinden. Diese Rückkehr war ein Fortschritt, kein
Rückschritt. So wurde der Faden geknüpft, der Naturerkenntnis und
Philosophie wieder verbinden sollte. Kant habe selbst als Naturforscher
eine Fülle neuer Gedanken entwickelt. Er wagte den zweiten Versuch
einer physischen Kosmogonie nach Descartes. Er hat die Welt, wie sie
sich den Sinnen darstellt, zuerst geschaut, ehe er die Form der Anschau-
ung entdeckte. In seiner Kr. d. r. V. kämpft er gegen zwei Fronten,
gegen reine Empirie und gegen Metaphysik. Durch die Form seiner
Fragestellung ist er im Stande, nach beiden Seiten zu siegen. Kant hat
das rechte Verhältnis der Philosophie zur Wissenschaft gezeigt: die Philo-
sophie ergänzt die wissenschaftliche Forschung, aber sie ersetzt sie nicht.
In der Autonomie des mit der Vernunft identischen Willens findet er die
122 H. Vaili inger,
Selbstgesetzgebung. Diese Freiheit der Vernunft bedeutet nicht Indeter-
minismus, sondern Abhängigkeit von objektiven Gründen. Im geistigen
Reiche der Sittlichkeit waltet das Moralgesetz imabhängig, da es sich
selbst Zwecke schafft. Hier kann der Mensch sich über die Sinnenwelt
erheben ; er zwingt sie zu seinen Füssen durch die sittliche Persönliclikeit,
die ihm allein durch die Vernunft zukommt. Diese Persönlichkeit ist der
wahre Wille zur Macht. Die Moralphilosophie eines Nietzsche, die wie
ein Gewitter sich über veraltete Anschauungen entlade, lenke die Blicke
zurück zur Erforschung des sittlichen Bewusstseins, zurück zu Kant.
Die Philosophische Gesellschaft zu Halle a. S. (Akad. Verein)
veranstaltete an demselben Abend eine Feier, bei welcher Privatdozent
Dr. Bruno Bauch (Mitglied der „Kantgesellschaft") den Festvortrag
hielt über die Persönlichkeit Kants. Der Vortrag ist gedruckt erschienen
in der Festschrift der KSt. IX, 196-210.
Eine Nachfeier veranstaltete die Lateinische Hauptschule der
Franck eschen Stiftungen, indem bei der Feier zur Entlassung der Abitu-
rienten am 27. Februar Direktor Dr. Rausch (Mitglied der „Kantgesell-
schaft") eine Rede hielt, in welcher er den scheidenden Jünglingen die
Lebensbilder der grossen Philosophen „Sokrates und Kant" vorführte. Die
Rede ist gedruckt in den „Deutsch-evangelischen Blättern", Mai 1904 und
auch separat erschienen im Verlag von E. Strien in Halle a. S. In knappen
Zügen wies Rausch auf den Parallelismus in Leben und Lehre dieser Männer
hin. Er verglich die Perikleische Zeit, in welcher Sokrates erstand, mit
der Fridericianischen, welcher Kant entstammte. Er verglich den Prozess
gegen den 70jährigen Sokrates mit dem Zensurkonflikt Kants und dem
Einschreiten des Ministers Wöllner und des Königs Friedrich Wilhelm II.
gegen Kant und wies auch darauf hin, wie beide im Einklang mit ihrer
Lehre, ohne sich etwas zu vergeben, sich willig der Aiitorität des Staates
fügten, führte weiter aus, wie beide mit den scharfen Waffen der Kritik
das Schein- und Halbwissen ihrer Zeit bekämpften. In beiden zeigt sich
endlich der Gegensatz von Wissenschaft und Religion versöhnt, so dass
sie auch der heutigen Jugend treue Führer durchs Leben sein können.
Eine weitere Nachfeier des 100jährigen Todestages Kants fand in
HaUe statt am 22. April, dem Geburtstage Kants. An diesem Tage wurde
die konstituierende Versammlung der Kantgesellschaft abgehalten, zu
welcher im Festheft der KSt. IX, 1|2, S. 344 ff. ein Aufruf „An die
Freunde der Kantischen Philosophie" ergangen war. Die Festfeier begann
mit einer Begrüssungsrede von Professor Vaihinger, in welcher derselbe
auf die nahen Beziehungen zwischen Kant einerseits und HaUe anderer-
seits hinwies. Er erinnerte zunächst an die rein äusserlichen Zufälle, dass
Kant zweimal durch den Minister von Zedlitz nach Halle berufen wurde,
ohne diesem Rufe zu folgen, sowie daran, dass die Kr. d. r. V. in Halle
in der Gebauer-Schwetschkeschen Buchdruckerei gedruckt worden ist.
In HaUe erstand der Kantischen Philosophie zunächst ihr heftigster
Gegner, der Vertreter des Leibnizschen Dogmatismus, Eberhard. Aber
nach kurzem Kampfe siegte auch in Halle wie anderwärts die Kantische
Philosophie und fand in Jakob, Maass, Beck, Niemeyer und Anderen ener-
gische und einflussreiche Vertreter, und jetzt ist in Halle, nachdem schon
Das Kantjubilänm im Jahre 1901. l2o
Haym immer auf Kant hingewiesen hatte, die Kantische Philosophie mehr-
fach vertreten. — Nach dem Vortrag der Sonate op. 1 von J. Fr. Herbart,
dem Nachfolger auf Kants Lehrstuhl in Königsberg, wurde der bis dahin
gesammelte Fonds der Kantstiftung in der Höhe von 15000 M. an den
Kurator der Universität Halle, Geh. Reg. -Rat G. Meyer übergeben. Es
folgte darauf der Festvortrag von Privatdozeut Dr. B. Bauch ,,Kant und
die deutschen Dichterfürsten". Über die darauf erfolgte Konstitution der
KantgeseUschaft haben die KSt. IX, 3/4, S. 568 ff. berichtet. Mit der
Feier war eine Kantausstellung verbunden : Kantautographen, Kantbilder,
Kantbüsten, erste Drucke, Festschriften u. s. w. (vgl. den Bericht über
dieselbe in der Saale-Zeitung vom 25. April 1904, No. 192).
Noch eine dritte Nachfeier fand schliesslich am Ende des Jubiläums-
jahres in Halle statt, indem der Vortragsclub „Vespertina" sich am 9. De-
zember durch Professor Dr. Uphues entwickeln Hess, „Was wir von Kant
lernen können". Die Rede erscheint im Druck.
20. In Würzburg veranstaltete die Alma Julia-Universität einen
Festaktus, bei welchem zunächst der Prorektor Professor Dr. Kunkel eine
einleitende Ansprache hielt. Die Festrede war Professor Dr. Külpe über-
tragen. Beide Reden liegen gedruckt vor (Würzburg, H. Stürtz); s. den
Bericht der KSt. IX, 529. Es wurde bei der Gelegenheit daran erinnert,
dass an der Würzburger Universität zuerst die Kantische Erkenntnislehre
zum Gegenstand einer eigenen Disziplin gemacht wurde. Der Fürstbischof
Franz Ludwig von Erthal, ein begeisterter Anhänger der Kantischen Phi-
losophie, entsandte im Jahre 1792 eigens den Prof. Matern Reuss (vom
Orden der Franziskanerminoriten) nach Königsberg, um die Kantische
Lehre an der Quelle zu studieren und später in Würzburg vorzutragen.
Später wirkte in Würzburg im Sinne des Kantischen Rationalismus der
Philosoph Paulus.
21. Die Universität Marburg, an welcher seit Jahrzehnten das Kant-
studium durch den Einfluss Friedrich Albert Langes, Cohens und Natorps
ja besonders blüht, veranstaltete eine Feier, bei welcher Professor Cohen,
eilig von der Königsberger Feier zurückkehrend, die Festrede hielt. Die-
selbe ist gedruckt (Marburg, Elwert), einen Auszug brachten die KSt.
IX, 527.
22. Die Universität Breslau veranstaltete eine Feier, bei welcher
die Festrede dem Professor Dr. Freudenthal übertragen war. Die Fest-
rede liegt gedruckt vor (Breslau, Marcus); die KSt. haben über sie be-
richtet IX, 524.
23. Die Universität München feierte den Tag durch eine Rede von
Professor Dr. Lipps, welche in der Monatsschrift „Deutschland" II, 673 ff .
gedruckt vorliegt. Vgl. den Bericht der KSt. IX, 522 f.
24. In Posen veranstaltete die Akademie eine Feier, bei welcher
der Rektor, Professor Dr. Eugen Kühne mann (Mitglied der „Kantgesell-
schaft"), den Vortrag hielt. Derselbe ist abgedruckt im „Kunstwart" XVII,
Heft 11, S. 618-627. Vgl. den Bericht in den KSt. IX, 522. Die Feier
, begann mit dem Trauermarsch aus der Eroica imd schloss mit dem Largo
von Händel.
124 H. Vailiinger,
25. In Leipzig veranstalteten die Geistlichen der Ephorie Leipzig II
auf ihrer Jahreskonferenz am 13. Juni 1904 eine Art Nachfeier, indem
Pfarrer Dr. F. Schnedermann einen Vortrag hielt: „die bleibende Be-
deutung Kants, in einigen Hauptpunkten gezeichnet*'. Der Vortrag ist
im Verlag der J. C. Hinrichschen Buchhandlung in Leipzig erschienen.
26. In Wittenberg veranstaltete der Vorstand des Paul Gerhard-
Stiftes am 14. Januar in der Aula des Melanchthon-Gymnasiums eine Ver-
sammlung, in welcher Professor D. Reischle (Mitglied der „Kantgesell-
schaft") aus Halle einen populären Vortrag hielt über das Thema „Kant
und unsere Zeit". Er betrachtete den Satz „Erkenne dich selbst" als das
Grundthema der Kantischen Philosophie und berührte zum Schluss die
Beziehungen zwischen Kant und Luther.
27. In Chemnitz wurde am iß. April auf der sächs. kirchlichen Kon-
ferenz ein Gedächtnisvortrag von Professor D. Reischle aus Halle a. S.
gehalten : Kant und die Theologie der Gegenwart, wobei sich an der De-
batte nachher Pastor prim. Dr. Katzer und D. Mehlhorn beteiligten. Der
Vortrag ist gedruckt in der Zeitschrift f. Theol. u. Kirche, hrsg. von Prof.
D. Gottschick XIV, 5, 357-388.
28. In Braunschweig veranstaltete die Ulrici-Gemeinde einen Ge-
meindeabend zur Säkularfeier, bei welcher Professor Dr. Alexander
Wernicke (Mitglied der „Kantgesellschaft) einen populären Vortrag hielt.
29. In Görlitz veranstaltete die naturforschende Gesellschaft eine
Feier, bei welcher dem Dr. W. Lorey der Festvortrag übertragen war.
„Zur Erinnerung an Kant". Der Vortrag liegt im Druck vor in den Abh.
d. naturf. Ges. zu Görlitz, Bd. XXIV.
30. In Paris veranstaltete die Societe fran^aise de Philosophie (Ad-
ministrateur : M. Xavier Leon, Secretaire general ; M. Andre Lalaude) am
20. März in der Sorbonne im „Amphitheätre Descartes" eine „Seance com-
memorative sous le pati'onage du conseil de l'universite de Paris et sous
la presidence de M. L. Liard, Vice-Recteur". Auf diese Weise erhielt die
Sitzung „une sorte de consecration officielle". M. Liard eröffnete die
Sitzung mit einigen Worten und bemerkte u. a.: „Comme notre Descartes,
Kant a ete un de ces genies dont l'action franchit vite les limites de leur
pays d'origine, pour s'etendre ä tous les pays oü l'on pense, et se faire
sentir dans tous les domaines de la philosophie et de la science". Die
Gesellschaft hatte ihre Mitglieder Couturat, Boutroux und Delbos beauf-
tragt, „d'etudier la portee de la Critique de la Raison pure speculative,
de la Critique de la Raison pratique, de la Critique de la Faculte de
juger, d'examiner ainsi la triple assise de la philosophie critique qui a
penetre au XIXe siecle la conscience intellectuelle et la conscience morale
de l'humanite, qui a exerce en particulier une influence decisive sur l'evo-
lution de la pensee fran^aise". Infolge dessen sprachen Couturat über
„Kant et la Mathematique moderne", Boutroux (Mitglied der „Kantge-
sellschaft") über „La Morale de Kant et le temps present" und Delbos
(Mitglied der „Kantgesellschaft") über „Les Harmonies de la pensee
kantienne d'apres la Critique de la Faculte de juger". Die Reden sind
gedruckt in dem „Bulletin de la Societe fran^aise de Philosophie" IV,
No. 5, Mai 1904 (Paris, Armand Colin).
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. 125
Auch die Pariser Friedensgesellschaft benützte die Gelegen-
heit ihres jährlichen Banketts am 22. Februar im Hotel des Societes
savantes unter dem Vorsitz von Frederic Passy, Mitglied derAcademie
des Sciences morales et politiques, „um den Arbeiten und dem Gedächt-
nis Kants eine Ehrung zu erweisen, der vor nunmehr einem Jahrhundert
der hauptsächlichste Vertreter der Ideen war, die vertreten zu haben wir
uns zur Ehre anrechnen".
31. In Brüssel stellte am 12. Februar in der belgischen Kammer
der Professor Denis einen Antrag zu einer Ehrung Kants seitens der
ganzen belgischen Kammer, indem er auf die universelle Bedeutung Kants
und speziell auf sein Werk „Zum ewigen Frieden" hinwies. Der Sozialist
van der Velden unterstützte den Antrag. Der klerikale Kammerpäsident
Woeste widersprach dem Antrag, da Kant ein Feind der Religion gewesen
sei. Infolge dessen fiel der Antrag durch die Gegnerschaft der Kleri-
kalen durch.
Dagegen hielt in derselben Stadt Professor G, Dwelshauvers in
der unter den Brü.sseler höheren Lehranstalten am meisten besuchten
„Universite populaire" der Stadt eine zweistündige Rede über Kant. Das
Publikum war sehr zahlreich, der Andrang grösser als der verfügbare
Raum. Eine Zusammenfassung des Vortrags hat der Redner in der
Jugendzeitschrift „La Jeunesse Laique" (Tournai) gegeben, in der „Nu-
mero de Floreal", No. 11, unter dem Titel: „Kant et le rationalisme".
32. In Kopenhagen hielt Professor Hoff ding in der königl. däni-
schen Gesellschaft der Wissenschaften einen Vortrag zur Erinnerung an
Kant, welcher in den Abhandlungen der Gesellschaft vom Jahre 1904,
Heft 1, S. 13-21, abgedruckt Ist. Einen Auszug der Rede brachten die
KSt. IX, 535.
Ferner hielt in Kopenhagen Privatdozeut Dr. A. Thomsen (Mitglied
der „Kantgesellschaft") einen Festvortrag, welcher in der Teologisk Tids-
skrift V, 273 f. gedruckt ist. Vgl. den Bericht der KSt. IX, 536 f.
33. In Genf veranstaltete die Universität eine offizielle Feier, bei
welcher Professor Th. Flournoy die Festrede hielt.
84. In Lemberg wurde, wie schon im vorigen Heft S. 568 berichtet
worden ist, am 12. Februar zur Feier des Tages die „Polnische Philoso-
phische Gesellschaft" begründet. Nach der Eröffnungsrede durch den
Vorsitzenden Professor Dr. Twardowski hielt Professor Dr. Chmie-
lowski die Festrede: „Kant in Polen".
35. In Ithaca (N. Y.) veranstaltete die Cornell University ein
Commemorative meeting. Professor Ernest Albee sprach über Kants
Leben und Werk, Professor J. E. Creighton (Mitglied der „Kantgesell-
schaft") über die Prinzipien der kritischen Philosophie und Professor
MacGilvary über Kants Beitrag zur Ethik.
36. In Berkeley veranstaltete an der University of California
die Philosoph ical Union, „desiring to join in this general recognition
of the important Services rendered to the cause of philosophy by the
greatest philosopher of the modern world" ein „special meeting" in dem
„Philosophy Building" unter dem Vorsitz von Professor Gayley. Professor
Howison, Mitglied der „Kantgesellschaft", hielt die „commemoration
126 H. Vaihinger,
address" über Kants Vermächtlnis an die Philosophie in Resultaten und
Problemen. Die „Philosophical Union", welche dieses Meeting veranstaltet
hat, ist infolge dieser Kantfeier nachher selbst auch als Korporation
Dauermitglied der „Kantgesellschaft" geworden.
37. In St. Louis (Mo.) veranstaltete die 1886 gegründete Ethical
Society eine grosse Kantfeier. Der Lecturer W. L. Sheldon gab eine
kurze Biographie Kants; ausser ihm sprachen folgende Herren: Professor
Frank Thilly (University of Missouri), Professor 0. A. Lovejoy
[Washington University), Dr. Max Hempel, Rev. George R. Dodson,
Rev. James W. Lee, Professor F.Louis Soldan. Am Schluss wurde eine
Sammlung veranstaltet für unsere Hallische Kantstiftung (the Kant Me-
morial Fund) durch Professor Lovejoy. Diese Sammlung, an der sich 12
Beitragende beteiligten, gab ein sehr erfreuliches Resultat (vgl. den Be-
richt über die Kant-Gesellschaft am Schluss dieses Heftes).
38. In Washington (D. C.) widmete die Society for Philoso-
phical Inquiry ihr „Meeting" vom 16. Februar to the Kant Centennial.
Vorträge wurden gehalten von dem Vorsitzenden der Gesellschaft, Pro-
fessor J. Macbride Sterrett über den Neukantianismus, von Mr. Wm. M.
Coleman über Kants politische Lehren, von Professor Edw. S. Steel e
über Kants Logik, von Red. Dr. Frank Sewall über Kants transscenden-
talen Idealismus.
39. Die Universität von Alabama in Tuscaloosa hielt in dem
physikalischen Laboratorium unter dem Vorsitz des President Abrecrombie
als Chairman folgende „exercises" ab: Professor Dr. E. F. Buchner,
welcher durch sein 1896 erschienenes Werk über Kants Psychologie sowie
durch sein vor kurzem erschienenes Buch über Kants Pädagogik sich als
Kenner Kants erwiesen hat, sprach über das Leben Kants und über seinen
Einfluss auf die Philosophie; Dr. H. A. Sayre sprach über Kants Anteil
an der Astronomie und der Naturwissenschaft; Dr. J. Y. Graham be-
handelte Kants Beitrag zur Entwickelungstheorie ; Prof. T. W. Palm er
erörterte Kants Verhältnis zur Entwickelung der Mathematik; Mrs. J. Y.
Graham endlich, eine geborene Deutsche, fand grosses Interesse für ihren
Vortrag über Kant als Faktor in der deutschen Litteratur. Vgl. den Be-
richt der Tuscaloosa-Times-Gazette vom 13. Februar 1904, welche einen
Artikel enthält zu Ehren des „master thinker" als „the most brilliant
figure in that group of men who made the inner life of man capable of
profound analysis."
40. In Warschau ist die Kantfeier durch den an der Universität
bestehenden Verein für Geschichte, Philologie und Rechtswissenschaft
begangen worden. Am 13. Februar fand eine besondere Festsitzung statt.
Prof. Bobroff sprach über das Leben und die Werke Kants und über
das Schicksal seiner Philosophie; Herr Flaksberge r über Kants philo-
sophische und naturwissenschaftliche Ansichten ; Privatdozent Spectorski
über die Bedeutung der Philosophie Kants für die GesellschaftSA\ässenschaft
und Privatdozent Taranowski über historische Beziehungen der Theorien
Kants und des „Rechtsstaates".
41. In London hielten die Mitglieder der Britischen Akademie eine
Gedächtnisfeier ab. Vorsitzender war Lord Reay. Die Festrede hielt
Das Kantjubiläutn im Jahre 1904. 127
Shadworth Hodgson. Verschiedene Männer von hohem Rang waren
zugegen; der deutsche Botschafter hatte sein Bedauern ausgesprochen,
wegen Abwesenheit von London nicht teilnehmen zu können.
42. In Chicago veranstaltete die Universität einen Festakt, der die
Bedeutung Kants für die verschiedensten Zweige des Kulturlebens illust-
rieren sollte. Ein Theologe, Dr. Foster, sprach über Kants Einfluss
auf die Theologie; Dr. Moore von der naturwissenschaftlichen Abteilung
über Kants Einfluss auf die Naturwissenschaft; Dr. Schnitze, Vertreter
der deutschen Litteratur, über Kants Ästhetik; Dr. Merriam von der
Abteilung für politische Wissenschaften über Kants Bedeutung für dieses
Gebiet; Dr. Dewey endlich über Kants Bedeutung für die Pliilosophie.
Die Feier verlief sehr eindrucksvoll, um so mehr, als sämtliche Redner in
ihrer Hochschätzung Kants übereinstimm.ten, so dass sich durch die Ver-
schiedenheit der Gesichtspunkte hindurch ein einheitliches Bild ergab.
43. In New-York hielt an der Columbia University Professor Felix
Adler eine Gedächtnisrede über Kants Leben und Philosophie.
44. In Kasan veranstaltete die (zur Universität gehörige) Physico-
mathematische Gesellschaft am 13., 26. März eine öffentliche Feier. Die
Festrede hielt Privatdozent Dr. Wl. Iwanovsky (Mitglied der „Kantge-
sellschaft") „I. Kant zum Gedächtnis". Die Rede ist gedruckt in den
„Nachrichten der Physico-mathematischen Gesellschaft an der Kaiserl.
Universität zu Kasan".
45. In Strassburg 1. E. hielt der naturwissenschaftlich-medizinische
Verein im Juni eine Sitzung, in welcher Sanitätsrat Dr. med. H. Kröll
„die Grundzüge der Kantischen und der physiologischen Erkenntnistheorie"
entwickelte. Die Rede ist u. d. T. im Druck erschienen bei L. Beust in
Strassburg i E.
46. In Neapel hielt in der „Reale Academia di Scienze morali e
politiche" deren Mitglied Professor Dr. Filippo Masci einen „Discorso
commemorativo, pronunciato nella ricorrenza dei primo centenario Kan-
tiana". Der Vortrag ist (mit dem Döblerschen Kantbild geschmückt) im
Druck erschienen in den Atti chella Academia etc., Vol. XXXV, und ist
auch separat erschienen (59 Seiten).
47. In Lauban in Schlesien veranstaltete der „Wissenschaftliche
Verein" eine Feier, bei welcher Gymnasialoberlehrer Otto Richter über
Kants Lehre von „Glauben und Wissen" sprach. Der Vortrag ist gedruckt
in Webskys Protestantischen Monatsheften, 8. Jalirg., Heft 3.
II. Festpublikationen.
Es sind aus Anlass des Jubiläums sowohl in Verbindung mit den
oben geschilderten Festfeiem als unabhängig davon eine Reihe von Publi-
kationen erschienen, teils Sammelschriften, teils Einzelschriften, teils Zeit-
schriften- und Zeitungsartikel. Diejenigen Publikationen, welche mit Fest-
feiern in Verbindung stehen, sind schon oben aufgezählt, und meistens
kurz charakterisiert worden. Über die meisten Anderen werden die KSt,
128 H. Vaihingen,
voraussichtlich noch später eingehende Berichte bringen, weshalb hier vor-
läufig nur ihre Titel aufgezählt werden. Von Anderen dagegen werden
schon jetzt Auszüge gegeben ; es gilt dies speziell von den 33 Artikeln in
Tageszeitungen, mit deren Aufzählung begonnen wird. Gerade diese
Kinder der Tageslitteratur, welche gestern empfangen sind, heute geboren
werden, um morgen wieder in dem Alles vei'schlingenden Orkus zu ver-
sinken, geben ein anschauliches Bild der allgemeinen Beteiligung an der
Festfeier in allen Kreisen und Teilen Deutschlands, und der Gedanken,
welche in verschiedenartigster Ausprägung an den Jubiläumstag geknüpft
worden sind, sowie auch überhaupt des geistigen Höhenstandes der deut-
schen Journalistik. Unter diesen Tageserzeugnissen, von denen aber natur-
gemäss nur die wenigsten, aber doch wohl die bedeutendsten der Redak-
tion der KSt. bekannt geworden sind, sind z. Tl. sehr bemerkenswerte
Äusserungen bekannter und auch weniger bekannter Autoren ; diese
Stimmen würden für immer verrauschen, wenn sie nicht hier dauernd
fixiert würden, um auch ferneren Zeiten ein Bild unserer Tage und spe-
ziell jenes Jubiläumtages zu geben. Anders ist es mit den in Zeitschriften
sowie in Buchform erschienenen Äusserungen, welche naturgemäss mehr
Chancen haben, auf die Nachwelt zu kommen, über welche die KSt. aber
auch, wie gesagt, thunlichst noch speziellere Referate bringen werden,
soweit der Raum dazu vorhanden ist.
A. Festartikel in Tageszeitungen.
Achelis, Th. Zum Andenken Kants. Hamburgischer Correspondent
No. 71 [wiederholt im Sonntagsblatt der New-Yorker Staatszeitung
7. Februar 1904. Mit Abbildung].
Bartning, A. Kant, sein Werk und seine Bedeutung für die Gegen-
wart. Grazer Tagespost No. 43.
Bauch, B. Kant und unsere Dichterfürsten. Beil. zur Allg. Zeitung
No. 47. München, 26. Februar 1904.
[Gar ring.] Kant. "Volksblatt für Harburg, Wilhelmsburg und Umgegend
No. 36.
Clemens, F. Der Weise von Königsberg. Minden-Lübbecker Kreis-
Blatt No. 35 [wiederholt im 3. Beiblatt z. d. Düsseldorfer Neuesten
Nachrichten No. 36. Mit Abbildung].
Dessoir, M. Kant. „Der Tag", 1904, No. 71 (mit Abbildung in No. 73).
Drill, R. Der Weise von Königsberg. Mit 6 Abbildungen. Tägliches
Unterhaltungsblatt zur Dortmunder Morgenpost. 12. Februar 1904.
Frick, A. Kant. Gladbacher Zeitung, 78. Jahrg., No. 35 [wiederholt in
der Ostdeutschen Volkszeitung, Insterburg, 12. Februar 1904, sowie im
Leerer Anzeigeblatt, 13. Februar 1904].
Frisch, H. Der Lehrer der reinen Vernunft. Ein Gedenkblatt. Allge-
meine Zeitung, Wittenberg, 12. Februar 1904.
Frommel, O. Immanuel Kant. Hallesche Zeitung, Jahrg. 197, No. 71.
Gensch, B. Der Philosoph von Königsberg. „Für Alle", Beilage z.
General-Anzeiger für Mülheim a. d. Ruhr. 19. Februar 1904.
Grimm. Immanuel Kant und sein Werk. Wiss. Beilage der Leipziger
Zeitung No. 18.
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. 129
Goldschmidt, L. Immamiel Kant. Frankfurter Zeitung No. 40 und 41.
Goldstein, L. Kants Wohnhaus in Königsberg. Frankfurter Zeitung No. 41.
Hoff mann, A. Immanuel Kant. Saale-Zeitung, Halle a. S. No. 72.
Joel, K. Zu Kants Gedächtnis. Basler Nachrichten No. 38.
Kappstein, Th. Immanuel Kant. Heilbronner Unterhaltungs-Blatt, Bei-
lage zur Neckar-Zeitung, 11. Februar 1904 [wiederholt im Frankfurter
General-Anzeiger No. 36 (mit Bildnis), sowie in der Breslauer Morgen-
Zeitung No. 71 (mit Bildnis)].
— Kant und wir. N. Hamburger Zeitung No. 70.
Kleinpeter, H. Immanuel Kant. Linzer Tagespost, 14. Februar 1904.
Kreus ebner, K, R. Immanuel Kant. Chemnitzer Neueste Nachrichten
No. 32 und 34.
Lagenpusch, Emil, Dr., Über Kants Leben undLehre. Rede. Memeler
Dampfboot No. 50 (2, Beil.).
Lasson, A. Immanuel Kant. Berliner National-Zeitung No. 95.
Lasswitz, Kurd. Kant und Goethe. Eine Betrachtung zur Weltan-
schauung zur 100. Wiederkehr von Kants Todestag. „Der Zeitgeist",
Beiblatt zum „Berliner Tageblatt", 8. Februar 1904.
Mauthner, F. Nach der Kant-Feier. Aus den neuen Totengesprächen.
Berliner Tageblatt 1904, No. 160 (28. März).
Ortner, M. Kant in Österreich. Ein Gedenkblatt. Wiener Neue Freie
Presse, No. 14178.
Rudolph, F. Immanuel Kant. Baseler National-Zeitung, 12. Febr. 1904.
Sc heier, M. I. Kant und die moderne Kultur. Ein Gedenkblatt. Beil.
z. AUg. Zeitung, München, 12. Februar 1904.
Schmid, F. A. Kant und seine Zeitgenossen. Beilage z. Allg. Zeitung,
München, 13. Mai 1904.
Schultze, F. Kants letzte Stunden und Begräbnis. Dresdner Anzeiger,
174. Jahrg., No. 41.
Schultze, Fritz, Professor, Über Kants philosophische That und ihre
Bedeutung für unsere Zeit. Festrede im Dresdener Polytechnikum.
Sonntagsbeilage zum Dresdener Anzeiger 1904, No. 7 (14. Februar).
Simmel, G. Kant und der Individualismus. Vossische Zeitung 1904,
No. 7 (6. Januar).
Simon, Th. Immanuel Kant. Unterhaltungsbeil. z. Tägl. Rundschau,
Berlin, 11., 12., 15. Februar 1904.
Tocco, F. Kant und Spencer. Königsberger Hartungsche Zeitung No. 74.
Wenck, M. Immanuel Kant. Mit 2 Abbildungen. General-Anzeiger f.
Leipzig und Umgebung, No. 43.
Werner, E. Kants Witz und Humor. Grazer Tagespost No. 42.
Ziegler, Th. Kant. Münchener Neueste Nachrichten, No. 69 und 70.
Hierzu kommen noch die Festartikel der 5 Königsberger Tages-
zeitungen, welche schon in No. I (S. 111—112) aufgezählt und zum Teil
kurz charakterisiert worden sind.
Achelis erhebt die Frage : Was kann uns Kant sein gegenüber dem
Zerfallen der Wissenschaften in einzelne auseinanderstrebende Tendenzen ?
Was bedeutet er ganz allgemein für unsere Weltanschauung und Kultur?
Kantstudien X. 9
130 H. Vaihin^ef , \
Der entscheidende Punkt, welcher Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik
Kants mit einander verknüpf t, ist der: alle Wirklichkeit, von einer letzten,
umfassenden Warte aus gesehen, bildet ein in sich zusammenhängendes
Stufenreich von Zwecken, auf deren höchster Staffel die volle sittliche
Persönlichkeit des Menschen steht. Kant hat gegenüber der schlaffen
Moral des 18. Jahrhunderts die Unvergänglichkeit allgemeiner Werte ent-
deckt, die Sphäre des Ideals, dessen, das freilich noch nicht ist und nie
so werden wird, wie wir es uns vorstellen, der Werte, die all unser Thun
regeln, oder in seiner Schulsprache : den Primat der praktischen Vernunft
vor der theoretischen, den Vorrang des Ethischen vor dem Logischen.
Ihm ist die Welt der Werte das wichtigste und kostbarste Stück des
ganzen Seins, während wir uns heute so gerne von falschen Propheten
vorreden lassen, wir stünden jenseits von Gut und Böse.
Bartning meint, in Kants Persönlichkeit ist Mensch und Denker
nicht zu trennen. Wie seinem Leben bedeutende Ereignisse, so fehlt
seinen Schriften alles, was glänzen, überreden, hinreissen kann. Er schreibt
wohl einen Stil von hoher Kraft und Eigenart ; aber dieser empfängt seine
Überzeugungsgewalt doch nur aus dem grimmigen Ernst, womit die Pro-
bleme aufgefasst, und der unerbittlichen Schärfe, womit alle Gedanken
bis zu Ende gedacht werden. Gewiss zeigt auch Kant eine gewisse Pe-
danterie, aber ohne ein gewisses Mass derselben ist noch nie und nirgends
etwas Dauerhaftes geleistet worden. Kants Leben ist in anderem, aber
nicht geringerem Sinne wie das Goethes, ein Kunstwerk. In ihren beiden
Namen liegt die höchste Steigerung deutschen Geistes beschlossen. Alle
Werke Goethes sind freilich Selbstbekenntnisse. Dagegen ist in Kants
Arbeit das Persönliche völlig ausgeschaltet. In diesem Sinne ist der Satz
aus dem Motto Bacons in der Kr. d. r. V. zu verstehen : De nohis ipsis
silemus. Die Kr. d. r. V. ist das tiefste und scharfsinnigste Buch, das die
Menschheit besitzt. Rückkehr zu Kant ist Rückkehr zur Klarheit, Ehr-
lichkeit und Gründlichkeit.
Bauch : Kant selbst gehörte in seiner nordischen Abgeschlossenheit
mit seinen künstlerischen Neigungen einer bereits untergehenden Zeit an,
als das aufsteigende Zweigestirn unserer Dichterfürsten sein Licht ver-
breitete. Nicht bloss die äussere lokale Abgeschlossenheit in Ostpreussen,
sondern das innere Abgeschlossenhaben hinderte Kant, die neu aufkom-
mende Jugend voll zu verstehen. Ganz anders aber wie er zu Schiller
und Goethe, standen sie zu ihm. Schiller entnahm sein Bestes von Kant.
Goethe freilich war von Kants durch und durch kritischer Denkweise
durch seine dogmatische getrennt. Aber er assimiliert doch durch
Schillers Vermittlung, was seiner starken Individualität gemäss ist und
sich frei und leicht in seine stets kontinuierlich sich entwickelnde An-
schauungsweise fügt. Sein und Sollen, Notwendigkeit und Freiheit, me-
chanische Natur und Zweckmässigkeit: das sind die Pole, um die sich die
Kantische Philosophie bewegt. Als Teile der Natur sind wir den Gesetzen
derselben unterworfen ; aber diese Gesetze, sie bezeichnen nicht eine
Herrschaft des Objekts über das Subjekt, sondern gerade das Gegenteil:
die Herrschaft des Subjekts über das Objekt, d. h. des Subjekts, das
selbst niemals Objekt ist. Das Subjekt in diesem Sinne ist nicht die
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. 131
Person, sondern die Persönlichkeit, oder vielmehr das Überpersönliche, in
welchem der Grund sowohl der Naturgesetze, als der Sittengesetze liegt.
In diesem Sinne schreibt Schiller an W. v. Humboldt : „Am Ende sind wir
doch beide Idealisten und würden uns schämen, uns nachsagen zu lassen,
dass dieDinge uns formten und nicht wir dieDinge." In diesem
Sinne trägt die Persönlichkeit die Norm des Sollens in sich, um das Sein
danach zu bilden, das Ideal, um danach das Leben zu gestalten, um in die
Welt der Notwendigkeit nach Zwecken einzugreifen. Aber diese Zwecke
sind nicht Sache der persönlichen Willkür, sondern der überpersönlichen
Vernunft, die wir in uns selbst finden. Dies drückt Goethe trefflich aus:
Sofort nun wende dich nach innen,
Das Zentrum findest du da drinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel da vermissen.
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.
Und Schillers Wort: „In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne", das
gilt auch vom sittlichen Schicksal der Persönlichkeit. Jenes Überpersön-
liche in uns, das ist nicht der gesunde Menschenverstand der Aufklärung,
sondern die gesunde Vernunft, von der Schiller sagt: „Kant, dem
unsterblichen Verfasser der Kritik, gebührt der Ruhm, die gesunde Ver-
nunft aus der philosophierenden wiederhergestellt zu haben." Diese „ge-
sunde Vernunft" zeigt sich vor allem in der freien Unterordnung unter
das Gesetz : denn „des Gesetzes Fessel bindet nur den Sklavensinn, der
es verschmäht". Darin ist Kants Prinzip der freien Autonomie ausge-
sprochen, das auch nicht schöner und klarer zum Ausdruck gebracht
werden kann als durch Goethes Worte:
Nach seinem Sinne leben ist gemein,
Der Edle strebt nach Ordnung und Gesetz.
Dieses Prinzip ist das Göttliche im Menschen, von welchem Schiller sagt:
Nehmt die Gottheit auf in euren Willen,
Und sie steigt von ihrem Weltenthron.
Wenn Schiller gegenüber diesem sittlichen Energismus andrerseits das
Ideal der schönen Seele aufstellt, so ist es nur eine Idee, welche in der
empirischen Wirklichkeit von keinem Menschen erfüllt werden kann. Der
empirische Mensch muss seine subjektive Willkür unterdrücken; er muss
dieser zweckwidrigen Willkür absterben, um in zweckvoller Freiheit
wahrhaft zu leben : dies macht das Leben überhaupt erst lebenswert.
Dies ist auch der Sinn des Goetheschen Wortes
Und so lang du das nicht hast.
Dieses : Stirb und werde !
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
Stirb der Willkür und werde frei! Dies ist auch der wahre Sinn des
Goetheschen Wortes, dass wir nur frei sind, wenn wir uns beschränken :
Wer Grosses will, muss sich zusammenraffen,
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
9*
132 H. Vaihinger,
Carring wiederholt die schon so oft von sozialistischer Seite aufge-
stellte Behauptung : wenn Kant lehre, der Mensch als sittliches Wesen ist
von unvergänglichem Wert, er darf nie zum blossen Mittel für irgend
einen Zweck gemacht werden, so sei dies die Grundlage der sozialistischen
Gesellschaftsauffassung. Auf eine Widerlegung dieser auf gänzlichem
Missverständnis der Kantischen Ethik beruhenden Meinung köinien wir
hier nicht eingehen.
Clemens bemerkt u. a. folgendes : Die grosse Masse der Gebildeten
weiss von Kant nicht viel mehr als den Ausdruck „kategorischer Impera-
tiv" und den Titel „Kritik der reinen Vernunft". Sie ahnen aber nicht,
wie innig sein Werk noch verkettet ist mit allem Grossen, Schönen,
Guten und Erhabenen, was noch heute die Menschheit hervorbringt und
besitzt. Und doch ist vielleicht eben Kant der eigentliche Urheber so
mancher gewaltiger Idee und mancher grossen Handlung.
Dessoir: Es müsse freilich vom Kantischen System viel Schulstaub
weggeblasen werden, aber es bleibt zweierlei : Kants Erkenntniskritik hat
die eigentliche Arbeit der wissenschaftlichen Philosophie dauernd beein-
flusst und seine idealistische Weltanschauung ist zu einer allgemein
menschlichen Macht geworden. In erster Hinsicht hat Kant die Be-
dingungen unseres Bewusstseins entwickelt, durch die Erfahrungswissen
zustande kommt; er nennt die Gesamtheit der Mittel, durch die wir die
Erfahrung konstruieren, das Apriori. Wenn er in der zweiten Hinsicht
den kategorischen Imperativ aufstellt, so ist zu beachten, dass dieser
zwar durchaus nicht immer dem Handeln, wohl aber immer der mora-
lischen Beurteilung des eigenen und fremden Handelns zugrunde liegt.
In der sittlichen Freiheit und Verantwortlichkeit besitzt der Mensch den
Schlüssel, der ihm das An-sich aufschliesst.
Drill : Wenn wir heute mit Kant uns beschäftigen, so ist sein Todes-
tag nur ein äusserer, gleichsam zufälliger Anlass, und der tiefere Grund
die Überzeugung, dass man erst in den Anfängen der richtigen Würdigung
Kants steht, dass er der Gegenwart viel mehr bedeuten könnte, dass er
der Zukunft noch viel mehr bedeuten wird, ja dass es sein Geist ist, an
dem die Kulturmenschheit noch einmal genesen wird. Wenn es möglich
wäre, heute zu sehen, wie Kant im Jahre 2004 dastehen wird : ich glaube,
sogar das Jahr 1904 würde sich schämen. Drill weist dann des weiteren
darauf hin, dass es ein Missverständnis sei, dass durch die Einführung des
Kollektivismus der absolute Rechtsstaat im Kantischen Sinne erreicht
werden würde.
Frommel: Kant hat uns auf seine Weise gezeigt, und darin offen-
bart er sich als ein echter Sohn der Reformation Li;thers, dass von der
persönlichen That der Freiheit, vom Charakter aus sich in erster Linie die
rechte Weltanschauung bildet.
Goldschmidt: Kant ist der Hauptvertreter jener grossen Epoche, in
der sich die Menschheit mündig sprach. In Kant vollendet sich die Auf-
klärung, die vom historischen Vorurteil frei macht und nur von mystisch
erleuchteten Schwärmern oder von Liebhabern des geistreichen Unsinns
der Seichtigkeit geziehen wird. Kant vei'nichtet die Geltung der bis-
herigen Autoritäten. Auch auf jede persönliche Autorität seiner selbst
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. 13^
verzichtet er zu Gunsten der Gründe. „Von mir selbst schweige ich" ist
der Vemunftkritik vorgeschrieben, die alle Anmassungen der Metaphysik
mit dem Probierstein der Vernunft prüft. So wird selbst Kants Polemik
in der Regel von den Personen frei. Allgemeine Fehler der Urteilskraft
werden gerichtet, negative Kritik durch Aufdeckung des Irrtums in
fruchtbare Belehrung verwandelt. Der Erfolg des Denkers im abgelau-
fenen Jahrhundert war freilich mehr laut als wahrhaft. In der alle Rich-
tungen umspannenden Totalität seiner Philosophie liegt eine ähnliche
Gefahr, wie sie die früheren Anstrengungen getroffen hatte: Teile setzen
sich an Stelle des Ganzen und kämpfen mit einander, als ob sie das
Ganze wären: auf die That des Prometheus folgte der Unsegen der
Pandora. Kants Prinzip ist, die Vernunft überall zur Geltung zu bringen.
Überall hat die Vernunft die Führung zu übernehmen, zuerst in der Phi-
losophie selbst. In diesem Sinne ist Kants Hauptfrage: Wie lässt sich in
der Metaphysik der Streit schlichten? Alle metaphysischen Irrtümer
kommen daher, dass der denkende Mensch bei den Anstrengungen seines
grübelnden Verstandes sich selbst ausschaltet, um zu ergründen,
was die Welt an sich selbst bedeuten möchte. Auf Dinge jenseits unserer
Erkenntnissphäre lassen Raum, Zeit und Kategorien sich nicht erstrecken ;
sie bezeichnen vielmehr deren Grenze selbst. Die Metaphysik sonderte
von den Kategorien bei deren Anwendung auf das Transscendente jeden
sinnlichen Inhalt ab, glaubte nach ihrer Einbildung damit die Dinge und
die Welt an sich zu beschreiben, beschrieb aber in Wahrheit nur die
Leistungen des eigenen Verstandes auf einer Grenze, in der es für uns
Nacht wird. Seit Kant darf man Ideen nicht mehr mit Objekten, Fragen
nicht mehr mit Antworten verwechseln.
Goldstein schildert die Königsberger Stätten, die der grosse Mann
betrat, welche nun alle leider von der Erde verschwninden sind: das Ge-
burtshaus in der Sattlergasse, das Wohnhaus in der Prinzessinstrasse und
den Philosophendamm, auf dem Kant spazieren ging. Im Jahre 1844, im
Jubiläumsjahr der Universität Königsberg, hat der Nachfolger auf Kants
Lehrstuhl, der geistvolle Karl Rosenkranz, die Idee vertreten, aus dem
Kantischen Wohnhaus ein Kantmuseum zu machen. Leider hat diese Idee,
die damals sich sehr gut hätte ausführen lassen, keinen Anklang gefunden ;
[während das Wohnhäuschen von Spinoza pietätvoll erhalten wird, wäh-
rend die Wohnhäuser der viel früher lebenden deutschen Heroen Luther,
Melanchthon, Dürer erhalten sind und gepflegt werden, hat die Stadt
Königsberg, die Geburtsstadt, Wirkungsstadt und Sterbestadt des grössten
Philosophen der Neuzeit, es geduldet, dass Kants Wohnhaus im Jahre
1893 vernichtet wurde. Hätte eine andere Stadt dies zugelassen?]
Grimm : Zum Ziele der Philosophie kann nur ein viel überblickender,
Welt und Gewissen gleichmässig überschauender, vorsichtig scheidender
und auch stark zusammenfassender Genius leiten. Als solcher steht Kant
vor uns. Er hat zuerst die grosse, dann die kleine Welt durchmessen,
er war aber kein Geist, der bloss verneinte; seine Sittenlehre ist in der
That, wie man mit Recht gesagt hat, die wahre Herrenmoral. Wie er
als Kind einmal, da er, auf schwankendem Balken ein Gewässer über-
schreitend, vom Schwindel erfasst wurde, diese Anwandlung überwand,
134 H. Vaihinger,
indem er einen festen Punkt am sicheren Ufer fixierte, so hat er sein
ganzes Leben hindurch und durch seine ganze Philosophie hindurch den
Blick nach festen Richtpunkten gerichtet, die ihm kein Toben und Brausen
unter und neben ihm verrücken konnte. So hat er im 18. Jahrhundert
eine Reform der Philosophie herbeigeführt, in einer Zeit, der längst ein
mächtig zwingender Gedankenzug fehlte, wie ihn einst die Reformation
mit sich gebracht hatte: einen solchen schuf er.
Hoffmann, bekannt und verdient durch seine neue Ausgabe der
Kantbiographien von Jachmann, Borowski, Wasianski, weist darauf hin,
dass Kants Ethik nicht, wie manche meinen, zur Knechtung, sondern zur
Befreiung der Geister gewirkt hat. Erst die Kantische Auffassung der
Moral befreit die Menschen von jedem drückenden Zwange, wandelt den
Knechtsgehorsam in sittliche Freiheit, sichert dem Menschen seine innere
Würde und Hoheit, macht ihn zur sittlichen Persönlichkeit.
Joel: Kant ist der Philosoph des Nordens, dem Wolken den Hori-
zont begrenzen und den Himmel abschneiden, und der im Nebel kämpfend
sich den Weg bahnt. Seit 100 Jahren heisst „philosophieren": zu Kant
Stellung nehmen. Kant ist die Grenzscheide des Toten und Lebendigen
in der Philosophie. Er hat dem denkenden Geiste nicht nur Mut ge-
macht, sondern auch Grenzen gewiesen. Die erste Phase des Neukantia-
nismus (F. A. Lange) hat die erkenntnistheoretische Seite Kants betont;
aber dieser erste Neukantianismus verblasste als eine blosse theoretische
Philosophie der kritischen Vorsicht, der Defensive. Das erneute Studium
hat einen anderen, positiveren Kant entdeckt als jenen erkenntnistheore-
tischen Grenzwächter: vor den erwachenden ethischen Tendenzen des
Zeitgeistes steigt riesengross jener Kant empor, der die Moral rein auf
sich selbst gestellt und weiterhin auf die Moral die Religion begründet.
Man hat den theoretischen Kant zuerst erneuert und dann den praktischen :
man wird jetzt vielleicht die dritte Kritik Kants emporheben und in
seinem subjektiven Formalismus z. B. die grosse neue Kunstlehre von
Hüdebrands Problem der Form angelegt finden. Ja, Simmel sehe sogar
den Impressionismus durch Kants Erscheinungslehre begründet. Wie
ferner vor 100 Jahren die grossen Extreme der theoretischen Hauptrich-
tungen, so werde Kant auch heute die praktischen Extreme Nietzsches
und des Sozialismus in sich vereinigen und richten : Kant der Sieger über
scholastische Restauration, über Materialismus und Sozialismus, über Hegel
und Nietzsche, Kant der Überwinder des 19. Jahrhunderts. Wenn
Nietzsche die Überhebung des Willens über den Intellekt lehrt, so habe
Kant das in richtigerer Form schon gethan.
Kappstein : Kants nächster Geisteserbe, J. G. Fichte, hat einmal die
Lebensarbeit des grossen Königsberger Denkers dahin charakterisiert, sie
haben ganz neue tiefe Schachte des Gedankens eröffnet: sie habe Fels-
massen von Gedanken geschleudert, aus denen die zukünftigen Zeitalter
sich Wohnungen erbauen. Heute, hundert Jahre nach Kants Tode, em-
pfinden wir es mit besonderer Lebhaftigkeit, wie viel edler Steinbruch
noch ungenützt da üegt in den FeLenschluchten dieses Geistesheroen.
Und wie viel hätte gerade Kant unserem Geschlechte zu bieten? Freiheit
als Unabhängigkeit des Geistes von dem Materiellen und Humanität sind
Das Kantjubilätim im Jahre 1904. 135
die hervorstechendsten Merkmale im Denken und Leben Kants. Es
kommt in beides dadurch ein antik heroischer Zug. — In einem Satz ist
das Entscheidende gesagt, was uns heutige („Kant und wir") für immer
mit Kant verbinden wird : er hat uns aus dem mittelalterlichen gebundenen
Denken endgiltig zur Würde unserer Vernunft zurückgeführt. Kant ist
der bahnbrechende Aufklärer. Das befreite Denken, ohne das wir nicht
mehr zu atmen vermöchten, blickt mit Stolz auf ihn als einen seiner
grössten Wohlthäter. Kant vertritt in erkenntnistheoretischer Hinsicht
einen konsequenten Skeptizismus, und der Glaube ist für ihn eine ledig-
lich moralische Angelegenheit. Den Kantischen Gedanken der sittlichen
Autonomie hat Nietzsche in neuer Weise ausgeführt. Indem aber Kant
der Pflicht jenen bekannten erhabenen Hymnus widmet, huldigt der sonst
so nüchterne Philosoph seiner Gottheit. Kant bildet dauernd einen Damm
gegen Veräusserlichung und Verweichlichung des Lebens.
Kleinpeter: Wir finden in Kant eine Reihe einflussreichster Ge-
danken vereinigt, von denen sich aber keiner bis jetzt definitiv behaupten
konnte. Worin liegt nun das Geheimnis seines Erfolges? Die Lösung
des Rätsels liegt einzig und allein in der wunderbaren Macht der wissen-
schaftlichen Methode. Kant kann als Vorläufer der wissenschaftlich
methodischen Arbeitsweise des 19. Jahrhunderts gelten. Er hat durch
unermesslichen Fleiss und peinlichste Sorgfalt die Fäden zwischen den
heterogensten Gebieten gesponnen, und mag auch die Art der Ver-
knüpfung nicht immer die richtige sein, so kann er doch den Ruhm für
sich in Anspruch nehmen, eine solche als erster gewollt und durch be-
harrliche Arbeit vollführt zu haben.
Kreuschner: Kant wurde für die deutschen Denker und Dichter
der Führer zur geistigen Freiheit der Menschheit, die in dem modernen
Hellenentum Goethes, Schillers und auch schon Herders ihre genialsten
Vertreterfand. Der Verfasser schUesst mit den folgenden Versen Herders :
Wenn Zeit, einst nach zertrümmertem All,
Du deiner Brust tief deinen Liebling eingräbst.
Dann mit den Phönixschwingen dir ein Feuer anfachst,
So brenne, der Ewigkeit Nacht unüberglänzbar zu leuchten,
Auch dein Name, Kant!
Lasson: Im Todesjahre Kants schrieb Schelling, Kants Philosophie
werde ausserhalb Deutschlands keinen bedeutenden Erfolg haben; denn
in Kant habe sich der deutsche Geist in seiner Totalität lebendig ange-
schaut. Diese Voraussage ist durch die Folgezeit nicht bestätigt worden.
Im Gegenteil, es giebt keinen Geist, der die Forscher und Denker aller
Kultumationen fortwährend mit noch grösserer Macht in seine Bahnen
zwänge als Immanuel Kant. Was ist das Neue, was die Deutschen durch
das Medium Kants zu der ästhetischen Kultur Italiens, den ritterlichen
Idealen Spaniens, der entfesselten Persönlichkeit Englands, der rationalen
Formensprache Frankreichs hinzugebracht haben? Vielleicht darf man es
in der kurzen Formel zusammenfassen: das eigentümlich Deutsche, was
durch Kant zum Ausdruck gekommen ist, ist die Erfüllung der freien
Persönlichkeit mit einem objektiven Gehalte, den sich eben diese freie
Persönlichkeit selbstthätig gewinnt. Es ist die Subjektivität, die sich,
136 H. Vaihinj^er,
frei mit allen überkommenen Ideen schaltend und durch keine gebunden,
allgemeingiltigen Gehalt aus den eigenen Kräften der Innerlichkeit zu
geben vermag. Indem Kant in seiner Erkenntnistheorie zeigt, dass wir
die Natur nach unserer Form schaffen, befreit er uns von der Natur.
Nicht die Natur, die bloss die Welt der Erscheinung ist, sondern die Ge-
schichte, die "Welt der sittlichen Thaten, ist unseres Geistes wahre Heimat,
unsere wirkliche Welt. Männer von unausmessbarer Art wie Kant werden
jedesmal einem neuen Geschlecht ein neues Antlitz zeigen. Ihre Be-
deutung lässt sich zu keiner Zeit ausschöpfen. Ein Gestirn wie Kant
mag vielleicht einmal vorübergehend verdunkelt werden können; aber es
kann seine lichtspendende Kraft für die geistige Bewegung der Mensch-
heit niemals mehr verlieren. Jahrzehnte lang ist jener Idealismus Kants
bei uns in den Hintergrund getreten. „Man hört wohl die Leute sagen:
Im 19. Jahrhundert ist der Idealismus zusammengebrochen. O nein! Der
Idealismus ist nicht zusammengebrochen, nur die Leute sind zusammen-
gebrochen." Im Gegensatz gegen Schopenhauer und Nietzsche u. s. w.
soll uns Kant für immer der Führer zum ethischen Idealismus sein. Einer
Gestalt wie derjenigen Kants gegenüber ist die Gefahr der Überschwäng-
lichkeit im Lobe weit weniger zu befürchten als die der Kleinlichkeit in
der Beurteilung,
Lagenpusch. Vgl. den Bericht oben S. 116.
Lasswitz: Kant und Goethe, zwei Männer, wie ich meine, die
grössten, die der Erde geschenkt waren, der eine als Denker, der andere
als Dichter. Man hört manchmal den Ruf: Hie Kant! Hie Goethe! Als
ob der Genius der Menschheit gegen sich selbst streiten könnte. Nein !
Ihr Gegensatz ist nur der, dass derselbe Grundgedanke sich verschieden
darstellen muss in der zergliedernden Stärke des Denkers und in der an-
schaulich hinstellenden Kraft des Künstlers. Daraus entsteht ein Gegen-
satz der Methode, nicht der Gesinnung beider Männer. Ihre Gedanken
sind geboren aus derselben Schöpfermacht der Neuzeit, aus der Selbstbe-
sinnung der menschlichen Vernunft auf ihre Freiheit. Ihre Wege, wie sie
von einem Punkte ausgehen, von der Eigenkraft der Persönlichkeit, treffen
wieder in einem Ziele zusammen, in der Idee der Menschheit. Ihre Per-
sönlichkeiten ergänzen sich. Das Verständnis unserer Kultur und die
Fähigkeit der Persönlichkeit, sie voll zu durchleben, werden wir nur
haben, wenn wir den Ruf erfassen: Hie Kant und Goethe! Wer meint,
einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen der Grundanschauung Kants
und Goethes konstruieren zu können, unterschätzt den verschiedenen Ge-
brauch der Worte bei beiden Männern, speziell des Wortes „Natur". Das
Wort Natur hat bei Goethe eine ganz andere Bedeutung als bei Kant.
Die Allnatur bei Goethe bezeichnet jene Bedingung der Möglichkeit aller
Erfahrung, auf der sowohl die Gesetze des individuellen Bewusstseins, als
die Entwicklung der Natur, die Gegenstände, wie die Vorstellungen davon
beruhen, jene Bedingung etwa, für welche Kant den Ausdruck „Bewusst-
sein überhaupt" geprägt hat. Das eine wie das andere ist das allgemeine
Gesetz, das allem Individuellen übergeordnet ist. Um unbefangen zu
sehen, wie weit die Goethesche Auffassung von den Bedingungen der
Erfahrung, von dem Zusammenhang des menschlichen Erlebens und Er-
Das Kautjubiläum im Jahre 1904. 137
kenneiis, von dem individuellen Geiste und von den allgemeinen Bildungs-
gesetzen der Natur mit den Grundgedanken Kants übereingeht, müssen
w^ir uns von der beiderseitigen Terminologie frei machen. Beide sagen
uns: wir als Einzelbewusstsein sind selbst Natur, leben mitten in ihr und
unter den Gegenständen, sind der sich selbst erlebende Weltinhalt ; aber
zugleich finden wir in unserem Ich vereinigt mit der denknotwendigen
Natur die realisierbare Forderung der Sittlichkeit und Schönheit. Das
Recht der Freiheit der menschlichen Vernunft haben uns Kant und
Goethe erobert. Was uns Kant aus der Zergliederung der Begriffe ge-
wann, die Selbständigkeit der Wirklichkeitsgebiete in Wissenschaft, Kunst
und Moral und ihren Zusammenschluss in der Persönlichkeit, das setzte
Goethe in künstlerische Anschauung um. Dass eine solche einheitliche
Wirkung der beiden — nicht im Inhalt, nur in der Form verschiedenen —
grössten Genien nicht nur möglich ist, sondern wirklich besteht, dass sie
bereits vollzogen wurde, dafür liegt der historische und lebendige Beweis
in der ihnen ebenbürtigen Persönlichkeit Schillers. In Schiller leben Kant
und Goethe gemeinsam als die grossen Kulturträger des philosophischen
und künstlerischen Bewusstseins. Gegenüber all den vorübergehenden
oberflächlichen Strömungen der Gegenwart bleibt die Tiefenströmung,
durch die unsere Kultur getragen wird, die gleiche. Sie geht nach dem
Ziele, das uns Kant und Goethe gesetzt haben.
Mauthner : Witzeleien des bekannten Satirikers über lauten Nach-
ruhm und stille Nachwirkung in Form eines Lucianischen Totengesprächs
zwischen Sokrates, Piaton, Aristoteles, Epikuros, Hobbes, Spinoza, Leibniz,
Kant und Schopenhauer. „Schauplatz : eine himmlische Kegelbahn".
Ortner. Über die Stellung der Kantischen Philosophie in dem
Geistesleben Österreichs am Ausgang des 18. und Anfang des 19. Jahr-
hunderts hat in Österreich in der letzten Zeit eine heftige, aber
sehr interessante Debatte stattgefunden zwischen dem Wiener Gymnasial-
professor Wotke und dem Klagenfurter Bibliothekar Ortner. Über diese
ausgedehnte Kontroverse werden die KSt. eingehend in einer besonderen
Mitteilung sich äussern und müssen sich für heute darauf beschränken, den
auf dieses Thema bezüglichen Festartikel Ortners zum 12. Februar hier
kurz zu erwähnen. Ortner, welcher sich um die Aufhellung dieser Ver-
hältnisse sehr grosse Verdienste erworben hat und einer schiefen Auf-
fassung derselben durch Wotke vorgebeugt hat, erinnert in diesem Artikel
an die Hauptdaten, welche, wie. er sagt, von Anfang an für die vorherr-
schende geistige Verfassung Wiens und der Monarchie um jene Zeit be-
schämend sind. Franz JI. und seine Regierung suchte mit allen Mitteln
die kurze Blütezeit des josefinischen Geistes der Aufklärung zu unter-
drücken, und dazu gehörte auch die Bekämpfung der Kantischen Philo-
sophie. Dieselbe hatte zuerst (wahrscheinlich durch die Beziehungen von
Reinhold zu Wien) einigen Anklang gefunden schon bei Pepermann und
Andreas Richter, als im Jahre 1793 Lazar Bendavid aus Berlin nach Wien
kam, um über die Kantische Philosophie in einem Hörsaal der Universität
Vorlesungen zu halten. Dieselben wurden aber bald verboten und gleich-
zeitig wurde die freisinnige ,,Österreichische Monatsschrift" von Josef
Schreyvogel unterdrückt. „Die kritische Philosophie ist in der öster-
138 H. Yaihinger,
reichischen Monarchie als Feindin erklärt, und wehe dem, der sie lehren
will"; so berichtet der Würzburger Conrad Stang, der Freund des Pro-
fessors Matern Reuss an Kant am 22. Oktober 1796. Der Kaiser selbst sei
dagegen eingenommen, und als der Studiendirektor v. Birkenstock ihm in
einem Vortrag das kritische System anpries, habe sich der Kaiser herum-
gedreht und gesagt: .,Ich will ein für allemal von diesem gefährlichen
System nichts wissen". Es wurden infolgedessen denn auch mehrere Ver-
treter desselben einfacli abgesetzt „propter pennciosum systema ad scepticis-
mum dncens". Im Jahre 1798 wies eine eigens dazu eingesetzte „Studien-
Revisions-Hof-Kommission" den Gedanken der Einführung der Kantischen
Philosophie ziemlich unverblümt zurück. So mussten die Ansätze der
Verbreitung der Kantischen Philosophie in Österreich bald verkümmern,
und so ging auch der bekannte begeisterte Kantianer Frhr. v. Herbert,
der sein Haus zu einem Tempel der Kantischen Philosophie umgestaltet
hatte, zugrunde, da er als Anhänger der „neuphilosophischen Richtung"
verdächtigt wurde. Er fiel als Märtyrer der Kantischen Philosophie im
vormärzlichen Österreich, als Kämpfer für Selbstbestimmungsrecht und
Selbstverantwortlichkeit, für Denk- und Forschimgsfreiheit. Das Licht,
das Ende des 18. Jahrhunderts von Königsberg, Jena, Weimar aus über
die deutschen Gaue sich ergoss, verlor seine Wirkung in den dunklen
Gebieten des jesuitisch beherrschten Österreich.
Rudolph: „Wir vermögen fast nicht zu glauben, dass Kant tot sei:
denn unserem Denken ist er so lebendig wie nur irgend etwas." Gerade
in der jüngsten Vergangenheit und in der Jetztzeit übte Kants Gedanken-
welt einen so mächtigen Einfluss auf die Geister aus, dass wir diesen
nicht hoch genug werten können. Durch Kant wurde Königsberg ein
Leuchtturm im fernen Norden, wohin die Geister zusammenströmten, oder
wonach sie wenigstens sich in ihrem Kurs orientierten. Man wird immer
wieder über Kant hinausgehen müssen ; aber ebenso sicher wird man
immer wieder zu ihm zurückkehren.
Scheler: Es gab keinen, der Dasein und Leben gerechter ange-
schaut hat, als I. Kant. Was uns überwindet, indem es uns erhebt und
frei macht, das ist die königliche Art seiner grenzrichterlichen Thätigkeit
in der Absteckung der Provinzen des geistigen Lebens. Kant hat nicht
eine neue Philosophie zu den historisch vorhandenen hinzugefügt, sondern
den Begriff der Philosophie grundlegend verändert. Er hat das Gesamt-
gebiet der Vernunftthätigkeit kritisch durchschritten, um deren willen es
ihm allein wert schien, dass Völker, Nationen, die Menschheit leben.
Dieser Gesichtspunkt ist freilich heute verloren gegangen im geistreicheln-
den Übermenschentum, im zielbewussten Anbeten autoritärer Fetische
aller Art, in dem Tosen der Masseninstinkte. Aber ein Denker wie Kant
richtet die Zeit, nicht die Zeit ihn. Soll allgemein gesagt werden: was
macht die Philosophie Kants zum philosophischen Bewusstsein der Neu-
zeit? so würde ich antworten: es ist die das Gesamtwerk Kants durch-
dringende Einsicht, dass vor dem Richtspruch der Vernunft die gesamte
Welt, das Reich der Natur und das Reich der Sittlichkeit nicht eine ge-
gebene fertige Ordnung ist oder überhaupt etwas schlechthin in sich Be-
gründetes, sondern eine unvollendete Grösse, eine ewige Aufgabe. Was
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. 139
immer als unüberwindbare Gewalt uns entgegen tritt, sei es die Empfin-
dung der Sinne oder irgend eine beherrschende Autorität: es muss vorbei
an einer unsichtbaren Rieht- und Messtelle, an der entschieden wird,
welche objektive Bedeutung, welcher Realitätswert ihm zukommt. Kurz,
es ist das Übergewicht und die Souveränität des Geistes über alles, was
mit blosser Macht ausgerüstet, durch seine force majeure uns zwingen will,
was Kant als die Lebenswurzel der neueren Kultur zum Bewusstsein der
Menschheit gebracht hat : das Herrenrecht der Vernunft auf theoretischem
und praktischem Gebiet. So lange Vernunft Spielball einer sich nach
ihrem eigenen Rechte bewegenden Natur ist, so lange ist auch aller Ver-
such, die praktische Welt nach Gesetzen der Vernunft einzurichten, nur
ein willkürliches Sich-Aufblähen. Welches ist das prinzipielle Verhältnis
von Vernunft und Natur? Das ist die Grundfrage der Kantischen Philo-
sophie. Im Zusammenhang damit führt nun Scheler einen Gedanken aus,
der in ähnlicher Weise schon von Windelband in seinen „Präludien", in
seinem „Piaton", in seiner „Geschichte der Philosophie" kurz ausgesprochen
worden ist: der gesamten griechisch-mittelalterlichen Kultur ist der mo-
derne, und erst durch Kants Philosophie der modernen Zeit zum Bewusst-
sein gebrachte Gedanke eines schöpferischen Denkens verschlossen
geblieben, d. h. der Gedanke, dass das Denken eine gegebene Natur
nicht abbildet, sondern durch seine aktive Synthese in diese Natur
erst Sinn und Zusammenhang hineinbildet. Unter der Herrschaft des
Budes vom „Bilde" stand alles und jedes philosophische Nachdenken bis
zu Kant. Man setzte der Erkenntnis die Aufgabe, eine Realität abzu-
bilden, d. h. etwas irgendwie Gegebenes und vom Geiste Unabhängiges
zu erfassen, zu erreichen Aber für uns ist seit Kant die Anschauung nur
ein Anreiz, eine Erkenntnis zu suchen : ich verhalte mich aktiv zu ihm,
nicht abbilden will ich ihn, sondern ihn bilden, bis er mir Rede steht.
Aus der Idee einer abbildenden Wissenschaft floss konsequenter Weise
der Mangel des antiken Wissenschaftsbetriebes, der Mangel des Experi-
ments. Moderne Wissenschaft ist bildende, schöpferische Wissenschaft im
Gegensatz zur abbildenden kontemplativen Wissenschaft der Griechen, in-
sofern sie es nicht als ihre Aufgabe ansieht, eine vorausgesetzte Ordnung
von Gedankendingen wiederzugeben, sondern vielmehr Natur erst ver-
nünftig zu machen, besser: einen geschlossenen Zusammenhang von Be-
griffen und Gesetzen zu dem Ende zu schaffen, dass die diskontinuierlichen
Zusammenhangs- und gesetzlosen Sinneswahmehmungen eine „Natur"
bilden. Nur wenn Wissenschaft Schöpfung ist, rechtfertigt sich das der
modernen Wissenschaft eigentümliche Bewusstsein, stets eine unendliche
Aufgabe noch vor sich zu haben. Dieser Grundgedanke ist erst von Kant
als berechtigt erwiesen und zugleich nach seiner Möglichkeit erklärt
worden. Griechisch denken heisst femer: unter der Herrschaft der Ding-
kategorie denken; dies ist die letzte Konsequenz der Idee griechischer
Wissenschaft, d. h. des Bildcharakters der Erkenntnis. Modern denken
heisst: alles unter der Herrschaft der Beziehungskategorie denken. Be-
ziehungen lassen sich aber nicht abbilden: sie sind Akte des Geistes, Er-
gebnisse thätigen Beziehens. vSie sind nur in, nicht vor dieser That.
Dies ist die moderne Wissenschaft, die nicht abbilden will, sondern aus
140 H. Vaihinger,
Anlass von Empfindungen ein gesetzmässiges Gedankenreich aufbauen. —
Analog ist es in der Ethik. Von Sokrates bis zu Plotin bleibt dies der
felsenfeste Glaube der griechischen Philosophie, dass die sittliche Aufgabe
des Menschen aus seiner unwandelbaren Naturorganisation herauswächst
und durch ewige grosse Ordnungen des Kosmos beschränkt ist, welche die
sittliche Persönlichkeit binden und begrenzen. Erst seit und mit der
Lehre Kants giebt es eine unendliche sittliche Aufgabe, die nicht, wie
es griechische Weltbetrachtung wollte, von Natur als äusserem Kosmos
und innerem Triebsystem, d. h. von der menschlichen Natur begrenzt
ist: erst in ihr ist der Erweis der Überlegenheit, des Herrenrechtes des
Geistes auch über alle Formen praktischer Autorität erbracht; erst in ihr
ist ein „Reich Gottes in uns, das nicht von dieser Welt ist", in des
Wortes Wahrhaftigkeit philosophisch bezeugt. So sind Natur und Frei-
heit nur 2 verschiedene methodische Richtungen meines Verhaltens. Beide
Ordnungen gehen den gesetzmässigen Verknüpfungsakten der Vernunft
nicht vorher, sondern existieren nur durch sie und werden fort und fort
durch sie getragen. Der folgende Weltzustand ist noch unbestimmt, so
lange ich mich noch nicht entschloss, aus Anlass des Empfindungs-
komplexes (E) entweder ein gesetzmässiges Objekt der Natur (O) zu
bilden oder ihn zum Anlass einer sittlichen Zwecksetzung (Z) zu machen.
So ist in dieser doppelten Hinsicht unser Geist das die wahre Wirklich-
keit erst in unendlicher Fortsetzung Schaffende, nicht ein Gegebenes als
Fertiges Hinnehmende. Auch Kants Lehre selbst ist nicht etwas Fertiges.
Wie Sokrates, mit dem man ihn oft treffend verglich, hat er vielmehr ein
Prinzip von unabsehbarer Entwickelungskraft in die Geschichte des
Geistes geworfen. Es gehört zum Inhalt seiner Philosophie, dass Welt-
erkenntnis nur eine „Idee" ist, welche die Richtung unserer Forschung
regelt. Insofern hat Kant selbst jeden voreiligen Abschluss unseres
Wissens abgewehrt und damit die Entwickelungsfähigkeit seiner Lehre zu
einem Teilgedanken der eigenen Theorie gemacht. So wird sein Andenken
fortgetragen werden in die noch ungelebten Jahrhunderte der Menschheit.
F. A. Schraid: Kant und seine Zeitgenossen. Eine äusserst fein-
sinnige Studie, die sich sehr eng mit dem Aufsatz desselben Autors in
unserer Festschrift berührt.
F. Schnitze: Auszüge aus den Werken von Jachmann, Borowski und
Wasianski (neu hrsg. durch A. Hoffmann, im Verlag v. H. Peter in Halle a. S.
1902) betr. Kants Sterbestunden. Über die schöne Festrede F. Schultzes am
Dresdener Polytechnikum haben wir schon oben S. 116 eingehend berichtet.
Siramels Aufsatz bildet einen Teil seiner Monographie über Kant,
welche zum Jubiläumstage erschien, und über welche die KSt. noch be-
sonders berichten werden. Doch seien aus diesem Aufsatz selbst speziell
einige Gedanken angeführt : Die prinzipiellen Lebensprobleme der Neuzeit
bewegen sich im Wesentlichen um den Begriff der Individualität: wie
sich ihre Selbständigkeit gegenüber der Macht der Natur einerseits und
dem Recht der Gesellschaft andererseits gewährleisten lässt, ist das
Problem. Auch Kants gesamtes Denken dreht sich um den Individualitäts-
begriff, und die Art und Weise, wie die Kantische Philosophie dieses
Problem beantwortet, ist einer der grossen Menschheitsgedanken, deren
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. 141
Auftreten in einer Einzelepoche nur wie das zeitliche Bewusstwerden
eines überzeitlichen Besitzes unseres Geistes erscheint. Grundmotiv Kants
ist, dass in jedem Individuum ein Kern enthalten ist, der das Wesentliche
an ihm, und der zugleich in allen Menschen derselbe ist. Dieses allge-
meine überindividuelle Ich, durch welches die Einheit unseres Denkens,
wie seines Gegenstandes erst geschaffen wird, ist aber qualitätslos: denn
jede bestimmte Qualität dieses allgemeinen Menschen würde unvermeidlich
die Allgemeinheit aufheben. Dieses allgemeine Ich ist in allen gleich und
durch seine Freiheit charakterisiert. Die politischen Ideen der Freiheit
und Gleichheit erscheinen hier in philosophisch feinster Sublimierung.
Der zufällige Einzelmensch, den Kant als unser empirisches Ich bezeichnet,
interessiert ihn ebenso wenig als der historische, variable und qualitativ
individualisierte Mensch. Ihm ist es nur um das reine Ich zu thun, und
für dieses reine allgemeine Ich, und insofern für alle Menschen, ist die
Welt ein und dieselbe. So sind wir im Sinne Kants eigentlich nicht In-
dividualitäten, sondern wir haben nur als empirische Darstellungen des
allgemeinen Ich nebenbei auch Individualität. Dasjenige, was man die
charakterologische Einheit der Persönlichkeit nennen kann, das Unver-
tauschbare an jeder einzelnen Persönlichkeit, findet bei Kant sein Recht
nicht. Erst nach Kant entsteht ein ganz neues Ideal der Individualität,
das dem 18. Jahrhundert noch ganz fern lag, das den „empirischen
Charakter" in seiner Eigentümlichkeit in den Vordergrund stellt, und das
die Romantiker und Goethe entdeckt haben. Diesen Begriff der Indivi-
dualität hat dann Nietzsche in eigentümlicher Weise weiter gebildet.
Während die Kantische Auffassung der wesentlich gleichen Menschen-
natur zu einem allgemeinen nivellierenden Moralismus führt, handelt es
sich bei der anderen Richtung darum, das individuelle Handeln der Ein-
zelnen in ihrer Mannigfaltigkeit zu rechtfertigen. Mag Nietzsches Ver-
such gelungen sein oder nicht: es ist. damit der Absicht nach das Indivi-
duum für seine innerlichsten Werte von der zweiten grossen Potenz,
gegen die seine Selbsterhaltung sich wehrt, von der Gesellschaft losge-
bunden, wie es durch Kant von der anderen, der Natur geschehen war.
So enthüllt sich diejenige Lehre, die als der schärfste Gegensatz der
Kantischen auftrat, schliesslich als die Portsetzung ebenderselben geistes-
geschichtlichen Lebenstendenz, deren erste Aufgabe in Kant ihr prinzi-
pielles Bewusstsein gewonnen hatte.
Simon: Man feiert heute Kant nicht bloss, so weit die deutsche
Zunge klingt, sondern jenseits der Meere in der ganzen Welt, so weit sie
überhaupt in die geistige Bewegung der Neuzeit hineingezogen ist —
Beweis, dass Kants Werk noch nicht der geschichtlichen Vergangenheit
angehört, sondern eine wirksame Gegenwart besitzt. Wie Kant in seinem
Leben sich die Freiheit nach allen Seiten hin zu bewahren suchte, wie er
seine eigenen ökonomischen Verhältnisse nur auf gesicherten Boden stellen
wollte, so vertritt er auch auf geistigem Gebiete die Freiheit und will
auch unser geistiges Besitztum auf gesicherte Basis stellen. Wer seine
persönliche Lebensführung Philistrosität schilt, fasst sie selbst vom Stand-
punkt eines engherzigen Philistertums auf, ebenso wie derjenige, der seine
Pedanterie in der Terminologie u. s. w. zum Gegenstand des Spottes
142 H. Vaihin^er,
macht. — Alles Erkennen ist im letzten Grunde bloss ein Bewusstwerden
der Gesetze, nach denen die Welt nach Massgabe unserer Sinnlichkeit
und unseres Verstandes sich für uns aufgebaut hat. Aber unsere Vernunft
strebt aus der Enge in die Weite. Die Vemunftideen sind gleichsam
Sterne, die uns im grossen Stil Richtung und Weg anzeigen können.
Aber wer einen Stern irriger Weise für ein Licht hält, das ihm auf der
Erde etwa aus einer menschlichen Wohnung entgegenschimmert, gerät in
die Irre: die Idee Gottes darf nicht wie der Begriff eines Einzeldinges
aus der anschaulichen Erfahrungswelt behandelt werden. Nicht auf Ver-
standesgründen beruht die Geltung der Ideen, sondern auf dem Grunde
der praktischen Vernunft. Kant hat den Begriff der Vernunft unendlich
tiefer erfasst, als es die Flachheit seines Zeitalters bis dahin gethan
hatte. Nicht die Vernunft des durchschnittlichen W eltbürgers ist berufen,
Wert und Anspruch der Religion zu beurteilen, sondern die Vernunft, die
das Sittengesetz in sich selbst als das höchste findet und gewillt ist,
seinen Forderungen ohne Rückhalt Raum zu geben. Die Vernunft, die
für Kant autonom ist, ist ihm nicht die Willkür des Einzelnen, sondern
steht über dem Einzelnen. Der Menschengeist ist in diesem Sinne ein
Teil des göttlichen Geistes. Die Sprache der christlichen Religion drückt
jenes von Kant gemeinte Verhältnis der Einzelvernunft zur allgemeinen
Vernunft mit dem Worte aus: Gottes-Ebenbildlichkeit. In der Kantischen
Betonung der autonomen Selbstbestimmung erkennen wir den Pulsschlag
des Protestantismus, Und wie den Begriff der Vernunft, so hat Kant den
der Freiheit tiefer gefasst. Welcher Unterschied zwischen der Freiheit,
der im Westen die Festbäume errichtet werden, und der Freiheit, die
Kant meint! Dort Zügellosigkeit, hier die Fähigkeit, sich vernunftgemäss
zu bestimmen. Infolge dieser Verdienste ist Kant bis auf diesen Tag im Kampfe
der Geister Schild, Schutzwehr und Schlachtruf. Ja, Kant kämpft zuweilen
selbst gegen Kant. Dies ist aber nur ein Beweis der Tiefe seiner Wirkung.
Tocco's kleiner Aufsatz über Kant und Spencer ist leider sehr
schlecht übersetzt, so dass wir nur weniges mit Sicherheit daraus hervor-
heben können: Die Kantische Philosophie ist mehr als ein System, sie ist
vielmehr die Kritik eines jeden Systems oder Dogmas, und sofern Spencer
eben ein solches System oder Dogma vertritt, steht die Kantische Philo-
sophie über ihm. Allerdings weht uns aus dem ersten Teil der „First
Principles" ein Hauch Kantischer Kritik entgegen. Aber die ganze Dar-
stellung Spencers ist doch so, als ob das Werk Humes, das den Königs-
berger Denker aus seiner Lethargie erweckte, nie existiert hätte. Dieser
Mangel an kritischer Haltung zeigt sich auch in demjenigen Teil der
„First Principles", der sich der Kantischen Philosophie am meisten nähert :
sein Innehalten vor der Grenze, die zu überschreiten den menschlichen
Gedanken nicht gegeben ist, ist mehr scheinbar als wirklich; er spielt
mehr mit dem Agnostizismus, als dass er ihn vertritt; denn er ist selbst
Vertreter eines dogmatischen Monismus.
Wenck hofft, dass auch in den Kreisen unseres Volkes, wo sonst
kein Interesse für Philosophie vorhanden ist, durch das Jubiläum ein Ver-
ständnis für die Grösse des Mannes erwachen werde, den wir seit 100
Jahren zu den grossen Toten unseres Volkes zählen, der aber als ein Re-
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. 143
volutionär des Geistes in der wissenschaftlichen Erkenntnis ewig fortlebt.
Er wurde auch deshalb von seiner Regierung als Ketzer verunglimpft von
dem damaligen Minister WöUner. Heute, nach 100 Jahren aber reist der
preussische Kultusminister zu Ehren Kants nach Königslierg und beweist
damit abermals, wie so mancher, der einst als gefälirlicher Revolutionär
verfolgt wurde, dann von der Nachwelt in der Grösse seines geistigen
und sittlichen Werkes anerkannt und als Bahnbrecher neuer Ideen ge-
priesen wird, in denen niemand mehr etwas Staatsgefährliches sieht.
Werner weist darauf hin, wie es psychologisch in der Natur Kants
gewissermassen angelegt sei, dass er ein Freund des Witzes und des
Humors gewesen sei, und belegt dies mit einer Reihe mehr oder minder
bekannter Anekdoten, speziell auch aus den Gebrauchsspuren, welche in
dem Kantischen Handexemplar der Aphorismen Lichtenbergs enthalten
sind (im Besitz des Dresdener Verlagsbuchhändlers Minden).
Ziegler weist darauf hin, wie Kant durch den kategorischen Impe-
rativ seinem preussischen Volke Eisen in das Blut gegeben habe. Er
wurde wie damals, so auch jetzt von den Vertretern der Riickständigkeit
verfolgt und gilt für die, deren Denken durch kirchliche Voraussetzungen
gebunden ist, als Zerstörer des Glaubens. Keiner ist übler mit ihm um-
gesprungen als der ultramontane O. Willmann in seiner geradezu tra-
gischen Geschichte des Idealismus, in der alles Grosse klein und vieles ganz
Kleine gross gemacht wird. Übrigens seien in Kants Philosophie selbst
mystische, ja mythologische Elemente enthalten, speziell in seiner Lehre
von der transscendentalen Freiheit. Im Übrigen habe Kant mit seiner
Religionsphilosophie nichts anderes gewollt als das christliche, speziell
das protestantische Bewusstsein philosophisch rechtfertigen. In seinem
Kampf gegen blossen Religionswahn und Afterdienst berühre sich Kant
mit den tiefsten und feinsten Gedanken Lessings. Mit Goethe dagegen
dürfe man Kant nicht zusammenbringen, resp. nicht Goethe mit Kant.
Es giebt zwei Arten zu philosophieren und die Welt anzuschauen, die
Kants und die Goethes: sie sind prinzipiell und diametral verschieden.
Man darf diejenigen nicht schelten, die lieber mit Goethe zusammen-
schauen, als mit dem grossen Scheidekünstler trennen und isolieren wollen.
Kant war ein Sohn des rationalistischen und individualistischen 18. Jahr-
hunderts; unsere Zeit ist für das Denken realistischer, für das Wollen
sozialistischer. Wir werden uns daher im 20. Jahrhundert nicht ohne
weiteres in den Bannkreis des Kantischen Idealismus und Individualismus
schlagen lassen. Auch den Kantischen Schulen, von denen jede ihren
eigenen Kant hat und verehrt, spürt man diesen Einfluss der modernen
Zeit an. Aber dennoch muss der Ruf „Zurück zu Kant!", richtig ver-
standen, das Motto unserer Philosophie sein.
Den vorstehend charakterisierten, mit dem Autornamen versehenen
Artikeln in Tageszeitungen seien noch folgende uns bekannt gewordenen,
nicht unterzeichneten Artikel der Tagespresse hinzugefügt, zum Beweis,
wie weitgehend die Teilnahme an dem Erinnerungstage des Philo-
sophen gewesen ist, und wie sehr demnach das Interesse an Kant in
144 H. Vaihinger,
Kreisen verbreitet ist, denen sonst Philosophie ferner steht. Selbst wenn
man von solchen Erzeugnissen der Tagespresse geringer denkt, als recht
und billig ist, muss man doch anerkennen, dass der gute Wille — und
dieser ist ja nach Kant das allein Ausschlaggebende — vorhanden ist,
dem grossen Philosophen gerecht zu werden. Und dies ist doch immerhin
ein sehr erfreuliches Zeichen. Kein Land der Erde besitzt einen Philo-
sophen, der trotz seiner streng wissenschaftlichen, ja esoterischen Sprache
und Richtung doch in diesem Masse populär geworden ist, wie Kant in
Deutschland. Und dabei wolle man bedenken, dass unsere Übersicht der
Tageszeitungen naturgemäss ganz lückenhaft ist. Es ist in dieser
Übersicht nur dasjenige berücksichtigt, was der Redaktion der KSt. zu-
gesandt worden ist. Es fehlen in dieser Übersicht auch noch die zahl-
reichen Artikel, welche in den sozialdemokratischen Tageszeitungen bei
dieser Gelegenheit erschienen sind.
Fränkischer Kurier, Nürnberg, No. 79, 12. Februar 1904. Immanuel Kant.
Vossische Zeitung, Berlin, No. 72, 12. Februar 1904. Kant als Politiker.
Der Gesellige, Graudenz, No. 35, 36, 37, 11., 12., 13. Februar 1904. Imma-
nuel Kant. Gedenkblätter zum lOOjähr. Todestage des grossen Königs-
berger Philosophen. Mit Abbildung. Dazu noch Auszüge „Aus der
Philosophie Kants" im Unterh.-Blatt zu No. 36.
Lüneburgsche Anzeigen, No. 36, 12. Februar 1904. Zum Gedächtnis Kants.
General-Anzeiger, Halle a. S., No. 31, 6. Februar 1904. Der Weise von
Königsberg. Mit Abbildung.
Heidelberger Tageblatt, No. 36, 12. Februar 1904. Zum lOOjähr. Todestage
Immanuel Kants. Mit Abbildung.
Jenaische Zeitung, Sonntagsbeilage No. 7, 14. Februar 1904. Immanuel
Kant.
Coburger Tageblatt, No. 36, 12. Februar 1904. Immanuel Kant.
Dorf Zeitung, Hildburghausen, Sonntagsblatt No. 6, 7. Februar 1904. Kant.
Mit Bildnis.
General-Anzeiger, Nürnberg, No, 35, 11. Februar 1904. Immanuel Kant.
Zu seinem lOOjähr. Todestage. Mit 2 Abbildungen,
Schwäbischer Merkur, Sonntagsbeilage (Schwäbische Kronik), No. 60,
6. Februar 1904. Zu Kants 100. Todestag.
Schwäbischer Merkur, No. 70 : „Zum Todestage Kants".
Dresdner Journal, No. 35, 12. Februar 1904. Zum Gedächtnis Immanuel
Kants.
Volksblatt, Halle a. S., No. 36, 12. Februar 1904. Kant. — In der Beilage:
Kant unter der Knute.
Lüneburgsche Anzeigen, No. 38, 14. Februar 1904. Vom Büchertisch
(Romundt).
Neue Preussische (Kreuz-) Zeitung, No. 77, Morgenausg., 2. Beil. „Wie
Kant Professor wurde". (C. B.)
Hamburgischer Correspondent vom 13. Februar 1904 „Der Hamburgische
Correspondent im Jahre 1804 über I. Kant".
Breisgauer Zeitung, Unterhaltungsblatt vom 12. Februar 1904 „Zum 100.
Todestage Kants". (A. M.)
Berliner Tageblatt, No. 73 (10. Februar 1904). Ein Brief Kants.
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. 145
Kieler Zeitung, No. 22060: „Eine Kantreliquie".
Memeler Dampfboot, No. 34: „Kants Vorfahren in und bei Memel" und
No. 37, Beil.: „Erinnerungen an Kant".
Tageblatt der Stadt St. Gallen, No. 36, 12. Februar 1904. Vom Tage (der
100. Todestag Immanuel Kants).
Utrechtsch Provincial en Stedelijk Dagblad, No. 97, 16. Februar 1904.
Kants Sterfdag.
Zum Schlüsse dieser Übersicht sei noch erwähnt, dass die „Wiener
Feuilleton- und Notizen-Correspondenz" (von Ludwig Wiener) eine Enquete
(„passives Interview") bei verschiedenen Gelehrten veranstaltete, um „eine
kleine Anzahl ausgewählter Urteile über die fortwirkende Bedeutung
Kants zu erhalten". Professor Deussen (Kiel), E. v. Hartmann (Berlin) und
Professor Jodl (Wien) haben ihre Urteile eingesandt: Das erstere ist un-
bedingt anerkennend, das zweite ist so ziemlich ablehnend, das dritte
nimmt eine vermittelnde Stellung ein. Deussen führt aus, dass Kant
nicht bloss die „Kartenhäuser" der alten Metaphysik umgestürzt, sondern
auch selbst eine neue metaphysische Anschauung begründet habe, welche
für alle Zukunft das Fundament echter Philosophie bleiben wird. Kant
habe streng wissenschaftlich bewiesen, was die tiefsten Denker bis dahin
nur ahnten; dass die Welt in Raum, Zeit und Kausalverknüpfung nur unser
„Bewusstseinsphänomen" sei. Aber eben dadurch sei nun eine religiöse
Auffassung des Daseins erst wieder möglich, nachdem sie durch die Ent-
deckung des Copernikus verloren gegangen war, dass der Raum, in welchem
unsere Körperwelt sich bewegt, unendlich sei. Ist der Raum nur Phä-
nomen, so giebt es eine raumlose absolute Realität und göttliche Ordnung
der Dinge, die freilich unserem Intellekt nicht begreiflich sei, da dieser
nur für diese empirische Welt bestimmt sei. — Während E. v. Hartmann
dagegen leugnet, dass Kant „Resultate geschaffen habe, die in aller Folge-
zeit anerkannt werden müssen", ist Jodl der Meinung, dass Kant den
„Typus einer Weltansicht geschaffen hat, welcher sich dem menschlichen
Denken unverlierbar einprägen wird" — es wird, wie es seit Aristoteles
immer Aristoteliker, seit Spinoza immer Spinozisten gegeben hat, so auch
nach Kant stets Kantianer geben. Die Kr. d. r. V. mit ihrem „unge-
heuren Reichtum an Gedanken und Problemen" wird stets eines der be-
wunderungswürdigsten Gebilde menschlichen Scharfsinns bleiben, aber
eben darum wird sie niemals populär werden können. Von den drei
grossen kritischen Hauptwerken enthält die „Kritik der Urteilskraft" die
„grösste Fülle solcher Gedanken, welche auch für denjenigen, der nicht
Kantianer ist, unmittelbar verwertbar sind, wie sie ja auch auf Goethe
vorzugsweise gewirkt hat".
Diese Urteile sind in verschiedenen Tageszeitungen zum Abdruck
gelangt; wir entnehmen die Urteile speziell der „Kieler Zeitung",
No. 22051.
Kantstadien X. 10
146 H. Vaihinger,
B. Artikel in Zeitschriften.
A dickes, E., Kant als Mensch. Zu Kants lOOjähr. Todestag:. Deutsche
Rundschau XXX, Heft 5, S. 195—221. (Zum Teil wieder abgedr. in
der Saale-Zeitung, Beil. No. 41.)
— Auf wem ruht Kants Geist? Eine Säkvxlarbetrachtung. Arch. f. syst.
Philos. X (1904), 1—19.
— Kant als Denker. Eine Betrachtung zu seinem lOOjähr. Todestage
(12. Februar 1904). „Deutsche Monatsschrift" (Berlin, AI. Duncker),
III, Heft 5, S. 651-674.
Baeumker, C, Immanuel Kant. (Zum 100. Todestage), „Hochland" I,
Heft 5. (17 S.) Kempten, J. Kösel, 1904.
Basch, V., Le Centenaire de Kant. „La Renaissance Latine" III, 2
(15. F6vr. 1904), p. 289-261. Paris 1904.
Braig, K., „Kant, der Philosoph des Protestantismus". [Mit Beziehung
auf Kaftan.] „Hist.-polit. Blätter f. d. kath. Deutschland". Bd. 134,
Heft 2, S. 81—103.
Busse, L., Zum Gedächtnis Kants. Festvortrag auf der Deutschen Lehrer-
vers, in Königsberg, Pfingsten 1904. Abdr. a. d. „Pädag. Zeitung". 8 S.
— Die Königsberger Kantfeier (12. und 13. Februar 1904). Ztschr. f.
Philos. u. philos. Kr., Bd. 124, S. 121 -123.
Cantoni, C, Nel primo Centenario della Morte di Emanuele Kant.
Estr. dalla Rivista Filos. Pavia, Bizzoni, 1904. 8 p.
— Un capitolo d'introduzione alla Critica della Ragione Pnra. Rivista
Filosofica, Jan.-Febr. 04.
Cohn, J., Le Centenaire de Kant. La Belgique Contemporaine, Mai,
S. 140—147.
Dorner, A., Zu Kants Gedächtnis. Prot. Mtshfte. (Websky) VIII, 2,
S. 49—65. Berlin, Schwetschke.
Drews, A., Der transscendentale Idealismus der Gegenwart. „Preuss.
Jahrbücher", Bd. 117, Heft 2, S. 193-224.
Dwelshauvers, G., Kant et le rationalisme. „La Jeunesse laique",
Revue de la jeunesse laique beige (Dir.: N. Barthelemy). Tournai,
Avril 1904. (p. 232-237.)
Pastenrath, Joh., Imm. Kant in der Illustracion Espanola y Americana,
Madrid, Febr. 1904.
Friedländer, S, Kants Vermächtnis. „Neue Metaph. Rundschau« XI,
1—12. Gr. Lichterfelde, Paul Zillmann.
Gebert, K., Kants Philosophie, ein sicherer Weg zu geistiger Verinner-
hchung und Vertiefung. Ein Gedenk- und Mahnwort. „Das 20. Jahr-
hundert" (München, St. Bernhards- Verlag) IV, No. 10, S. 105-107.
Harden, Max., Satirische Bemerkungen über die Kantfeier. Zukunft,
No. 21 und Nachtrag dazu von Dr. Fr. Jünemann, in No. 25.
Herrmann, W., Unsere Kantfeier. Christi. Welt XVIII, 7.
Höffding, Harald, Professor, Til minde om L Kant. Abhandlungen
der Kön. Dan. Ges. d. Wiss. Kopenhagen 1904, No. 1, S. 13—21.
Jacobi, M., Ein Vorläufer der Kant-Laplaceschen Theorie von der Welt-
entstehung. [Thomas Wright]. Preuss. Jahrb., Bd. 117, 244—254.
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. 147
Jacobi , M., Über Kant und seinen Vorgänger Thomas Wright. „Prometheus",
(Berlin, R. Mückenberger), Jahrg. XV, No. 754.
— Immanuel Kant als Alpenfreund. Mitteilungen des deutschen und
österr. Alpenvereins. München- Wien, 31. Jänner 1904.
Jünemann, F. Dr., Über Kants politische Anschauungen. „Zukunft",
No. 21 und 23.
— Pädagogische Aussprüche Kants. Chronologisch zusammengestellt,
eingeleitet und erläutert. „Aus der Schule — für die Schule«, heraus-
gegeben von A. Falcke, XVI. Jahrg., No. 8 und 9.
Jugend, No. 6 und 8.
Katzer, E., Immanuel Kant. Zur Hundertjahrfeier seines Todestags —
am 12. Februar 1904. Neues Sächsisches Kirchenblatt XI, 6, Leipzig,
7, Februar 1904.
— Kantiana (Übersicht über die neueste Kantlitteratur). Die christliche
Welt, vom 11. Februar 1904.
Keferstein, H., Zum Gedächtnis Immanuel Kants; gest. am 12. Februar
1804. Ztschr. f. d. physik. u. ehem. Unterricht XVII, Heft 2, S. 65— 68.
Kohnt, A., Immanuel Kants Lieblingsspeisen und Getränke. Ein Ge-
dächtnisblatt zu seinem 100. Todestage. „Der Weinkenner" (Berlin,
Verl. Ph. Brand & Co.), VI, No. 5, S. 52—54. Wieder abgedruckt in
der Beil. zum „Sammler", Beil zur Augsburger „Abendzeitung", No. 44.
Klein, Tim Dr., Kants Tischgewohnheiten. Entgegnung zu dem vor-
stehenden Aufsatz, „Sammler", No. 49.
Kronenberg, M., Kant und die Aufklärung. Zum lOOjähr. Todestage
Kants am 12. Februar 1904. „Das freie Wort", Frankfurt a. M., III,
No. 22, S. 864-873.
Kühnemann, E., Kant. Kunstwart XVII, 11. München, Callwey,
März 1904. (S. 618-627.)
Lasswitz, K., Der kritische Gedanke. „Die Nation" (Berlin, Verl. G.
Reimer), XXI, No. 19, S. 290-292.
Lipps, Th., Zur Jahrhundertfeier des Todestages Immanuel Kants.
„Deutschland, Monatsschr. f. d. ges. Kultur" (herausgeg. von Graf
von Hoensbroech), No. 18. Berlin, Schwetschke, März 1904. (S. 673-689.)
Lorey, W., Zur Erinnerung an Kant. Vortrag, gehalten am 5. Februar
1904 in der Naturforschenden Gesellschaft. S.-A. aus den Abhandl.
d. Naturf. Gesellsch. zu Görlitz, Bd. XXIV, 1904. (11 S.)
Münch, Imm. Kant zum 100. Todestage. Über Land und Meer, 1904,
No. 26 (nebst dem Döblerschen Kantbild).
Pfleiderer, Otto, Prof. der Theologie, Berlin. Herder und Kant in
ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Preuss. Jahrb., Juni 1904.
Reinke, J., Kants Erkenntnislehre und die moderne Biologie. Halb-
monatshefte der Deutschen Rundschau (Berlin, Paetel), Bd. III, S. 459
—467 (15. Juni 1904).
Reininger, R., Kant (Zum 100. Todestage). „Das Wissen für Alle"
(Wien, Verl. M. Perles), IV (1904), No. 9, S. 129—131 und No. 10,
S. 147—149.
Reischle, M., Kant und die Theologie der Gegenwart. S.-A. a. Ztschr.
f. Theol. u. Kirche XIV, 5, S. 367—388. Tübingen, Mohr, 1904.
10*
148 H. Vaihinger,
R. M. [Reischle, M.], Kant. Zum 12. Februar 1904. Beilage zu No. 9
der Korrespondenz für Innere Mission. 1904.
Richter, Otto, Gymnasialoberlehrer. Kants Lehre vom Glauben und
Wissen. Protest. Monatsh. (Websky), Jahrg. 8, Heft X
Richter, Raoul, Professor, Zum hundertjährigen Todestage I. Kants.
(Mit 7 Abbildungen.) Leipziger Illustrierte Zeitung No. .3163.
Rossig noli, G., Torniamo a Kant? Scuola Cattolica. März 1904.
Rost, G., Kant. „Es werde Licht", 35. Jahrg., Heft 5, S. 144-154.
München, O. Th. Scholl.
Simon, The od., Kant als Bibelausleger. Neue kirchl. Ztschr. XV, Heft 2,
113—138.
— Kant und die Frauen. „Westermanns illustr. deutsche Monatsliefte"
(Braunschweig, Westermann). Märzheft 1904, S. 810-815.
Staudinger, F., Kant und der Sozialismus, Ein Gedenkwort zu Kants
Todestage. Sozialistische Monatshefte, Februar 1904, S 103—114.
Stein, L., Prof., Hat Kant Hume widerlegt? Zukunft, XII, No. 46
(6. August 1904).
Thomsen, A., Privatdozent, Kant. Teologisk Tidsskrift. Kopenhagen V,
S. 273 ff.
Tschirn, G., Kant. Sonntags-Blatt (Freireligiöses Familien-Blatt) für
freie Gemeinden und deren Freunde. Jahrg. VH!, No. 11. Breslau,
13. März 1904, S. 81—86.
Weis, L., Prof., Was kann Kant dem bibelgläubigen Christen im Beginn
des 20. Jahrlumderts sein? Kons. Monatsschrift für Stadt und Land.
März 1904.
— Der spekulative und der praktische Gottesbegriff Kants. Theolog.
Studien u. Kritiken (Gotha, Perthes), Jahrg. 1904, Heft 4, S. 554—692.
W^ellmer, Aug., Pa.stor, Imm. Kant. Ein Gedenkblatt. Daheim 1904,
No. 19 (6. Februar 1904).
Wendland, J., Die Philosophie Kants und der Neukantianismus unserer
Zeit. Deutsch-evang. Blätter XXIX, Heft 4, S. 271-287.
.1
C. Einzelachriften.
Adler, Max Dr., Immanuel Kant zum Gedächtnis! In den „Vorträgen
und Abhandlungen, herausgeg. vom Sozialwissenschaftlichen Bildungs-
verein in Wien". Wien und Leipzig, Deutinger. (47 S.)
Arnoldt, Emil, Über den ersten Teil der ersten Antinomie der speku-
lativen Vernunft. [Endlichkeit und Unendlichkeit der Welt in An-
sehung der Zeit.] Sep.-Abdr. a. d. Altpr. Monatsschr. XLI. Königs-
berg, Leupold. (23 S.)
Apel, Max, Immanuel Kant. Ein Bild seines Lebens und Denkens. Ein
Gedenkblatt zum lOOjähr. Todestage des Weltphilosophen. Berlin,
C. Skopnik (VIII u. 102 S.)
Bilharz, Alfons, Mit Kant - über Kant hinaus. Ein Nachtrag zur
Centenarfeier. Wiesbaden, J. F. Bergmann 1904. (61 S.)
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. 149
Brix, Th., Wider die Halben im Namen der Ganzen oder: die Vernich-
tung Kants durch die Entwicklungslehre. Ein Protest gegen die
Kantverehrung. Berlin, Herm. Walther. (51 S.)
Busse, L., Immanuel Kant. Ansprache an die Königsberger Studenten-
schaft. Leipzig, R. Voigtländer. (11 S.)
Cohen, H., Immanuel Kant. (Marburger akad. Reden. 1904. No 10)
Marburg, N. G. Elwert. (31 S.)
Cresson, A., La morale, de Kant. 2e edition. Paris, Alcan 1904.
Elsenhans, Th., Kants Rassen theorie und ihre bleibende Bedeutung.
Ein Nachtrag zur Kant-Gedächtnisfeier. Leipzig, Engelmann. (53 S )
Erdmann, B, Immanuel Kant. Bonn, Friedr. Cohen. (39 S.)
Ewald, Oskar Dr , Romantik und Gegenwart. [Bd I. Die Probleme der
Romantik als Grundfragen der Gegenwart] Den Manen 1. Kants
zum hundertsten Todesjahre. Berlin, E. Hofmann & Cie. (227 S.)
Falckenberg, R., Gedächtnisrede auf Kant. Erlangen, Junge & Sohn.
23 S. 4«.
Freudenthal, J., Immanuel Kant. Breslau, M. & H. Marcus. (32 S.)
Goldschmidt, L., Kant über Freiheit, Unsterblichkeit, Gott. Gemein-
verständliche Würdigung. Gotha, Thienemann, 1904. (40 S.)
Güttier, Wissen und Glauben. 2. Aufl. München, Beck 1904.
Huber, G., Benedikt Stattler und sein Anti-Kant. Ein Beitrag zur Ge-
schichte der Kantischen Philosophie und zur 100jährigen Gedächtnis-
feier des Todestages Kants. I. Teil: Stattler und seine Kritik der
transsc. Ästhetik und Kategorienlehre Kants. Diss. München, Lentner
(XII u. 109 S.).
Iwanowski, Wladimir, I. Kant zum Gedächtnis (Russisch). Kasan
1904. (22 S.)
Jerusalem, W., Kants Bedeutung für die Gegenwart. Wien, W. Brau-
müller 1904. (51 S.)
Kaftan, J., Kant, der Philosoph des Protestantismus. Berlin, Reuther
& Reichard. (34 S )
Kai weit, Paul, Lic. Dr., Kants Stellung zur Kirche. Schriften der Sy-
notalkommission für ostpreussische Kirchengeschichte. Heft 2. Königs-
berg i. Pr., Ferd. Beyer, 1904. (88 S.)
Katalog zu der anlässlich des 100. Todestages von der Gräfe & Unzer-
schen Buchhandlung veranstalteten Kantausstellung. Königsberg i. Pr.
Gräfe & Unzer. (39 S.)
Kr 0 eil, H., Sanitäts-Rat Dr., Die Grundzüge der Kantischen und der
physiologischen Erkenntnistheorie. Strassburg, Beust, 1904. (48 S.)
Kronenberg, M., Dr., Kant. Sein Leben und seine Werke. 2. neu be-
arbeitete und verm. Auflage [mit Vorrede zum 100. Todestage(.
München, C. H. Beck, 1904.
Külpe, O., Festrede in Kant-Feier der Würzburger Universität. Würz-
burg, H. Stürtz. (23 S.)
Labanca, Baldassare, La religione cristiana secondo E. Kant (nel suo
centenario). Estratto della Nuova Parola. Roma 04.
Lasson, A., Immanuel Kant. Berlin, Weidmann. (.32 S.)
LVebmann, 0., Immanuel Kant. Strassburg, Trübner. (18 S.)
1
150 H. Vaihinger, *'
Martins, G., Kant. Kiel, Lipsius & Fischer. (27 S.)
Masci, F., Emanuele Kant. Napoli, Stab. Tip. della Universitä. (59 p.)
Meyer-Benf ey, H., Herder und Kant. Der deutsche Idealismus und
seine Bedeutung für die Gegenwart. Halle a. S., Gebauer-Schwetschke.
(114 S.)
Natorp, P., Zum Gedächtnis Kants. S.-A. a. „Deutsche Schule", Heft II,
1904. Leipzig, J. Klinkhardt. (23 S.)
Pacaut et Tremesaygues, Traduction de la Critique de la Raison pure.
Avec notes. Paris, Alcan 1904.
Paulsen, Friedr., Imm. Kant. Sein Leben und seine Lehre. 4. Auflage
[mit Vorrede zum hundertsten Todestage]. Stuttgart, Frommann 1904.
Rausch, A., Sokrates und Kant. Halle a. S., E. Strien. (10 S.)
Riehl, A., Immanuel Kant. Halle a. S., Niemeyer. (30 S.)
Rom und t, H., Kants „Widerlegung des Idealismus". Ein Lebenszeichen
der Vernunftkritik zu ihres Urhebers lOOjähr, Todestage. Gotha,
Thienemann. (24 S.)
Rupp, J., Kants Stellung zur Reform des Christentums. Aufs neue ab-
gedruckt aus der „Religiösen Reform" von 1873. Königsberg i. Pr.,
W. Koch. (23 S.)
Schade, Rod., Dr., Kant e le Donne. Tradutto del tedesco di Adele
Davidsohn. Roma, Tip. Marghera 1904.
Schnedermann, F., Dr. Pfarrer, Die bleibende Bedeutung I. Kants in
einigen Hauptpunkten gezeichnet. Leipzig, Hinrichs 1904. (19 S.)
Simmel, G., Kant. Sechzehn Vorlesungen, gehalten an der Berliner
Universität. Leipzig, Duncker & Humblot, (VI u. 181 S.)
Simon, Th., Immanuel Kant. Ein Umriss seines Lebens und seiner
Lehre. (= Zeitfragen des christl. Volkslebens XXIX, 2.) Stuttgart,
Belser. (58 S.)
Struve, H., Kant und die historische Tragweite seines Kritizismus (Pol-
nisch). Warszawa, Bibljoteki Warszawskiej 1904.
Troilo, E., La dotfrina della conoscenza nei moderni precursori di Kant.
Torino, Bocca 1904.
Uphues, K. G., Professor, Was wir von Kant lernen können. Oster-
wieck, Zickfeld 1905.
Walter, J., Zum Gedächtnis Kants, Königsberg i. Pr., Gräfe & Unzer.
(24 S.)
Wernicke, A., Die Theorie des Gegenstandes und die Lehre vom Dmge
an sich bei Immanuel Kant. Oberrealschul-Progr. Braunschweig.
(32 S. 40.)
Windelband, W., Immanuel Kant und seine Weltanschauung. Gedenk-
rede. Heidelberg, Winter.
Zahn, H., „Das Schöne" nach Kants Kritik der Urteilskraft. Programm
der Unterrichts-Anstalten des Klosters St. Johannes. Hamburg.
(31 S. 40.)
Das Kantjiibilänm im Jahre 1904. 151
D. Sammelschriften.
Zur Erinnerung- an Immanuel Kant. Abhandlungen aus An-
lass der hundertsten Wiederkehr des Tages seines Todes, herausgeg. von
der Universität Königsberg. Halle a. S., Buchhandlung des Waisen-
hauses, VIU und 374 S.
Walter, J., Zum Gedächtnis Kants.
Busse, L., Kants erkenntnis-theoretischer Standpunkt in der „Nova
Dilucidatio".
Dorner, A., Über die Entwickelimgsidee bei Kant.
Hahn, F., Einige Gedanken über Kant und Peschel.
Franke, O., Kant und die altindische Philosophie.
Manigk, A., Über Rechtswirkungen und juristische Thatsachen.
Uhl, W., Wortschatz und Sprachgebrauch bei Kant.
Gradenwitz, O., Der Wille des Stifters: 1. Kant und die Stiftungen,
2. Eine Stiftungsverhandlung unter Kants Mitwirkung, 3. Ausblick in
die Zukunft.
Baum gart, H., Die Grundlagen von Kants Kritik der ästhetischen
Urteilskraft.
Bezzenberger, A., Die sprachwissenschaftlichen Äusserungen Kants.
Kohlrausch, E., Über deskriptive und normative Elemente im Ver-
geltungsbegriff des Strafrechts.
Jeep, L., Die Kantischen Kategorien und die Behandlung der antiken
Grammatik.
Weiss, O., Die Synergie von Akkomodation und Pupillenreaktion.
Mit 3 Figuren.
Meyer, F., Kant und das Wesen des Neuen in der Mathematik.
Kowalewski, A,, Kants Stellung zum Problem der Aussen weltexistenz.
Altpreussische Monatsschrift. Herausgeg. von R. Reicke.
Bd. 41, 1. u. 2. Heft, Jan.-März 1904, S. 1—136: Kant gewidmet.
Königsberg i. Pr., Thomas & Oppermann 1904.
Zum 100. Todestage (12. Februar) Immanuel Kants. Facsimile des ältesten
im Original vorhandenen Kantbriefes.
Marcus, E., Ein Weg zur widerspruchsfreien Auslegung der Kr. d. r. V.,
S. 1—60.
Warda, A., Kants „Erklärung wegen der v. Hippeischen Autorschaft",
S. 61—98.
Kossmann, E. F., Ein unbekannter Brief Kants an Biester über Dirk
van Hogendorp, S. 94 — 100.
Goldschmidt, L., Kantorthodoxie wider Kantorthodoxie, S. 101—125.
Thiele, G., Bemerkungen zum 1. Bande der von der Preuss. Akademie
herausgeg. Schriften Kants, S. 126 — 130.
Warda, A., Zur Frage: Wann hörte Kant zu lesen auf? S. 131—135.
Ortner, M., Für Kant-Liebhaber, S. 136.
152 H. Vaihinger,
Zu Kants Gedächtnis. Zwölf Festgaben zu seinem 100jährigen
Todestage. Herausgeg. von H. Vaihinger und B. Bauch. Mit vier
Beilagen. Berlin, Reuther & Reichard 1904. 350 S. (Kantstudien
IX, 12.)
Lieb mann, 0., Kant. Gedicht zur Erinnerung an den 12. Februar 1804.
Windelband, W., Nach hundert Jahren.
Troeltsch, E., Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich
ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Ge-
schichte.
He man, F., Immanuel Kants philosophisches Vermächtnis. Ein Gedenk-
.blatt zum hundertjährigen Todestag des Philosophen.
Bauch, B., Die Persönlichkeit Kants.
Staudinger, F., Kants Bedeutung für die Pädagogik der Gegenwart
Zum Streite Natorps mit den Herbartianern. '
Kühne mann, E., Herder und Kant an ihrem 100jährigen Todestage.
Riehl, A., Helmholtz in seinem Verhältnis zu Kant. JL
Paulsen, F., Zum hundertjährigen Todestage Kants. *
Kunze, G., Emerson und Kant.
Schmid, F. A., Kant im Spiegel seiner Briefe.
V. Aster, P., Die Neue Kant-Ausgabe und ihr erster Band. |
Vaihinger, H., Erklärung der vier Beilagen.
— An die Freunde der Kantischen Philosophie. Bericht über die Begründung
einer „Kantgesellschaft" und die Errichtung einer „Kantstiftung".
Philosophische Aufsätze. Herausgeg. von der Philoso-
phischen Gesellschaft zu Berlin zur Feier ihres GOjährigen Be-
stehens und zugleich den Manen Immanuel Kants zur 100jährigen Gedenk-
feier seines Todestages gewidmet. Berlin, Weidmann, 1904. XII u. 257 S.
Lasson, A., Immanuel Kant. Zu seinem 100jährigen Todestage.
— Festrede, gehalten bei der Kantfeier im Jahre 1904.
Döring, A., Zum Begriff der Philosophie und zu ihrer Stellung im Ge-
samtsysteme der Wissenschaften.
Wenzel, A., Der Humor als Weltanschauung.
Stern, W., Über den Begriff der Handlung.
Ulrich, G., Denken und Sein.
Kahle, E., Über den Begriff des Bewusstseins mit Berücksichtigung der
Ansichten Ferdinand Jacob Schmidts.
Lasson, A., Kausalität.
Lew in, F., Die Wege zur Wahrheit.
Schubart, J., Hegels ReUgionsphilosophie.
Jacobsen, E., Energie und Entelechie.
— Naturphilosophische Psalmen.
Wartburgstimmen. Monatsschrift für deutsche Kidtur. Heraus-
geber: Hans K. E. Buhmann. I. Jahrg., 10. Heft, Januar 1904. Thürin-
gische Verlagsanstalt Eisenach und Leipzig. Das Heft ist dem Andenken
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. 153
Kants gewidmet; spezielle Berücksichtigung findet Kant in folgenden
Beiträgen :
C lausen, E., Deutscher Gruss, S, 237—239.
Pfleiderer, 0., Die Religionsphilosophie Kants, S. 240—250,
V. Schnehen, W., Religion und Unerkennbarkeit des Übersinnlichen,
S. 250-258.
Goldschmidt, L., Immanuel Kant und unsere Zeit, S, 288—299.
Die Wartburg. Deutsch-evangelische Wochenschrift. München.
J. F. Lehmann, III. Jahrg., Xo. 6, 5. Februar 1904. Kant-Nummer. Mit
einem Bilde Kants (farbige Steinzeichnung von Schaupp in Anlehnung an
Veit Schnorr).
Paulsen, F., Wochenspruch.
Eucken, R., Kant und der Protestantismus.
Kaftan, J., Das Verdienst Kants um die evangelische Theologie.
Reinke, J., Kaut und der Zweckbegriff in der Natur.
Revue de Metaphysique et de Morale (Secretaire de la Re-
daction: M. Xavier Leon). Paris, Armand Colin, 12e Annöe, No. 3, Mai
1904. Numero specialement consacre au centenaire de la mort de Kant.
Avec une Heliogravüre d'apr^s une plaquette inedite de Mademoiselle
Louise Staudinger. Page 279-620 (4 27 P. Supplement).
Natorp, P., A la memoire de Kant.
Paulsen, F., Pour le centenaire.
Cantoni, C„ Sur l'apriorite de l'espace et du temps.
Couturat, L., La philosophie des mathematiques de Kant.
Milhaud, G., La connaissance mathematique et Tidealisme transcendental.
Hannequin, A., Les principes de l'entendement pur, leur fondement,
leur importance.
Basch, V., L'imagination dans la theorie kantienne de la connaissance.
Eucken, R., L'äme teile que Kant l'a depeinte.
Erdmann, B., La critique kantienne de la connaissance comme synthese
du rationalisme et de Tempirisme.
Blunt, H., La refutation kantienne de l'idealisme.
Fouillee, A., Kant a-t-il etabli l'existence du devoir?
Boutroux, E., La morale de Kant et la conscience moderne.
Ruyssen, Th., Kant est-il pessimiste?
Delbos, V., Les harmonies de la pensee kantienne d'apres la critique de
la faculte de juger.
Delacroix, H., Kant et Swedenborg.
Riehl, A., Helmholz et Kant.
Parodi, D., La critique des categories kantiennes chez Charles Renouvier.
Bulletin de la Societe fran^aise de Philosophie. 4e Annee,
No. 5, Mai 1904. Seance commemorative du Centenaire de la Mort de Kant.
154 H. Vaihinger,
üellios, V,, la „Critique de la Faciüte de juger". P. 117-124.
Couturat, L., Kant et la Mathematique moderne. P. 125—134.
Boutroux, E., La Morale de Kant et le temps present. P. 135—144.
Przeglad Filozoficzny. Polnische Philosophische Zeitschrift.
HeraiLsgeg. von Dr. W. Weryho-Warschau. Jahrg. VII (1904), Heft 4.
Kant gewidmet. Mit Bildnis.
Chmielowski, P., Kant in Polen.
Kodis, J., Die Rolle Kants in der Philosophie der Gegenwart.
Woroniecki, A,, Jean Sniadeckis Abhängigkeit von D^gerando. (Ein
Beitrag zum Studium der Beziehungen zwischen Sniadecki und Kant.)
Kozlowski, W. M., Kant und die Fragen .'^einer Zeit (Kant als Publizist).
Struve, H., Selbstanzeige über „Kant und die historische Tragweite
seines Kritizismus". *
Nebst weiteren Selbstanzeigen, Recensionen, Mitteilungen und No-
tizen (auf Kant bezüglich).
Auch das im März erscheinende nächste Heft der Zeitschrift ist
Kant gewidmet und wird folgende Studien enthalten:
Wartenberg, M., Kants Verhältnis zur Metaphysik.
Twardowski, K., Über die Übersetzung der philosophischen Termino-
logie Kants
Lewkowicz, J., Über Kants Lehre von Gott.
Wasserberg, J., Einige Bemerkungen über den Kritizismus Kants (über
seine Genesis und über seine Bedeutung dem Materialismus gegen-
über).
Nachlese.
An der Universität Charkow, welche im Todesjahre Kants gegründet
worden ist, und an welcher der Hallesche Kantianer L. H. v, Jakob von
1807 — 1815 Philosophie und Staatswissenschaften gelehrt hat, veranstaltete
der Verein „Russische Versammlung" eine Feier, bei welcher Herr Stra-
chow, Professor am geistlichen Seminar, einen Vortrag über „Kant als
Sittenlehrer" hielt.
In Philadelphia veranstaltete die „University of Pensylvania", welche
im Verein mit der ,.John Hopkins University" zu Baltimore die „Southern
Society for Philosophy and Psychology" bildet, Ende Dezember 1904 das
erste „Annual Meeting" dieser Gesellschaft („in conjunction with the Ame-
rican association for the Advancement of Science and affiliated Societies").
Die Sitzung am 28. Dezember wurde („in Cooperation with the American
Philosophical Association") zu einer Nachfeier für Kant gestaltet, bei
welcher u. A. Professor J. Mark Baldwin und Professor Edward Frank-
lin Buchner sprachen. Die Rede des letzteren hatte zum Thema: „Kants
attitude towards Idealism and Realism".
Zur Kantfeier ist auch die deutsche Kunst mit verschiedenen Er-
zeugnissen auf dem Plan erschienen. Es sind uns folgende bekannt ge-
worden :
Das Kantjubiläum im Jahre 1904. 155
1. Plakette von Fräulein Louise Stau ding er in Darmstadt:
Kopf Kants im Anschluss an das Dresden-Königsberger Kantbild modelliert
(Abgüsse in Bronze, 12X12 cm, ä 50 M.). Näheres über dieses ausgezeich-
nete Kunstwerk s. KSt. IX, S. 567.
2. Radierung von Fräulein Clara Meilin in Berlin: Halbfigur
Kants im Anschluss an Rauchs Statue (Abdrücke 12X29 cm, ä 3 M.).
Näheres über diese wohlgelungene Darstellung s. KSt. IX, S. 566.
.'{. Medaille von A. M. Wolff in BerHn; Avers: Kopf Kants in
Anlehnung an das Döblersche Bild; Revers: Allegorische Figur zur Ver-
sinnlichung der Worte : ..der bestirnte Himmel über mir und das mora-
lische Gesetz in mir" (Abgüsse in Bronze oder Silber zu 41/2 oder 12 M.
in der Medaillenmünze von A. Werner & Söhne in Berlin). Näheres über
die Medaille s. KSt. IX, 567.
4. Relief von A. Heinrich in Berlin: Kant und Friedrich d. Gr.
nebst einem Ausspruch von Kuno Fischer über das Verhältnis beider. Das
ReHef ist auf Veranlassung von Herrn John A. Leber verfertigt (Ab-
güsse des Reliefs, 24i'2X20 cm, in Bronze zu 60 M. in der Bildgiesserei
von H. Gladenbeck & Sohn in Friedrichshagen). Abbildung des Reliefs
nebst Text s. im Festheft- der KSt. IX, S. 343.
5. Ausserdem hat die Firma Gräfe & Unzer in Königsberg nach
der in ihrem Besitz befindlichen Collinschen Paste eine Reproduktion
(in Gyps und in Porzellan) herstellen lassen, da die früheren Abgüsse seit
vielen Jahren vergriffen waren. Die Collinsche Paste, von der die KSt.
im 1. Heft des VH. Bandes eine Avohlgelungene Abbildung gebracht haben
(vgl. KSt. VU, S. 168, 382 ff., 505), ist im Jahre 1782 verfertigt worden
und ist eines der besten Kantbilder.
6. Bemerkenswert ist noch die (schon oben S. 153 erwähnte) Bei-
lage zu No. 6 der ,, Wartburg " : eine farbige Steinzeichnung von Schaupp,
in Anlehnung an das Kantbild von Veit Schnorr (Abzüge des Kunst-
druckes, 22X29 cm zu 60 Pf. durch den Verlag von J. F. Lehmann in
München).
7. Die übrigen Reproduktionen von Kantbildern in Zeitschriften
u. s. w. brachten nur bekannte Bilder ; das einzig bisher unbekannte Kant-
bild, das bei dieser Gelegenheit zum Vorschein kam, brachten die „Kant-
studien" in ihrem Festheft: eine sehr gelungene Silhouette Kants,
welche seitdem das ständige Emblem der „Kantstudien" geworden ist.
Erwähnt seien hier endlich noch mehrere mit Kantbildern ge-
schmückte Buchhändlerkataloge (von Alfred Lorentz in Leipzig,
J. Ricker in Giessen und E. Kantorowicz in Berlin), in welchen sehr
viele antiquarische Kantiana enthalten sind. Da die älteren Kantiana
immer seltener werden, seien Liebhaber darauf aufmerksam gemacht.
Endlich — Jasf, not least — sei noch erwähnt, dass Herr Konsul
Bernhard Brons in Emden (Mitglied der „Kantgesellschaft"), ein
schwungvolles Erinnerungsgedicht auf Kant in einem Privatdruck hat her-
stellen lassen.
Kants Tod, seine letzten Worte und sein Begräbnis.
Eine synoptische Studie.
Von Dr. Franz Jünemann.
Nach der Bibel; „Unser Leben währet siebzig Jahr, und
wenn'g hoch kommt achtzig Jahr, und
wenn 's köstlich war, ist es Mühe und
Arbeit gewesen."
Kant iu seinem MerkbUchlein
unter dem aO. April 1803.
Am 12. FeVtruar 1904, wo wir uns all das Grosse und Unsterbliche
vergegenwärtigten, was der gewaltigste Denker deutscher Nation ge-
schaffen hat, wo wir uns aber auch liebevoll versenkten in den Menschen
Kant, in die edle Einfalt und stille Grösse seiner Persönlichkeit nicht
minder wie in all das Zufällige, Kleine und manchmal Kleinliche des
trotz hoher Triumphe doch vielleicht von stiller, herber Tragik, von
schmerzlicher Resignation durchbebten') äusseren Lebens . . ., wo wir
Zwiesprache hielten mit den Geisteni jener Zeit, wo die vergilbten Blätter,
vom Hauche des Unsterblichen berührt, neues Leben atmen, — da war es be-
sonders ein Symbol, das mich erinnerungsmächtig an die Stunde seines Heim-
ganges gemahnte: Reusch, einer der letzten Tischgenossen des Philo-
sophen, berichtet uns: „Der Tag, an welchem Kant verschieden, war so
klar und wolkenlos, wie es bei uns nur wenige giebt; nur ein kleines,
leichtes Wölkchen im Zenith schwebte am azurblauen Himmel. Man er-
zählte, ein Soldat habe auf der Schmiedebrücke die Umstehenden darauf
aufmerksam gemacht mit den Worten: Sehet, das ist die Seele Kants, die
gen Himmel fliegt" ... 2) Und auch am säkularen Gedächtnistage und in
Jena, wo ich ihn zubrachte, in Jena, wo die Seele des Denkers Kant,
seine Philosophie, ihre reichste, ihre fruchtbarste Wirkung entfaltet,
wo sie während eines Jahrhunderts ihr bestes Leben gelebt hat, ange-
fangen ven Reinhold und Schiller und Fichte bis zur Gegenwart, — auch
liier strahlte die Sonne am blauen Himmel, an dem sich nur wenige lichte
Wölkchen blicken Hessen, und sie ergoss ihren milden, wärmenden Schein
über Berge und Stadt.
Die gebrechliche Hülle jedoch, die solch unermessenes Geistes- und
Kulturwerk barg, sie musste der ehernen Notwendigkeit ihren Tribut ent-
richten. Spät zwar, erstaunlich spät für ihre Schwäche und erst nach
langen Kämpfen mit dem sich dawider aufbäumenden Herrn ; doch endlich,
am 12. Februar vor hundert Jahren um 11 Uhr Vormittags, da war auch
ihre Zeit abgelaufen, da stand ihr Herz im Tode still.
1) Vgl. die feinsinnige Studie: Kant im Spiegel seiner Briefe von
F. A. Schmid (in: Zu Kants Gedächtnis; 12 Festgaben zu seinem hundert-
jährigen Todestage, herausgeg. von H. Vaihinger und B. Bauch, 1904).
~) Kant und seine Tischgenossen, S. 11. (Vgl. Schopenhauer, Sänitl.
W., herausgeg. von E. Grisebach, V. Band, S. 693.)
Kants Tod, seine letzten Worte und sein Begräbnis. 157
Verg-änglichkeit ! — Erloschen ist das Licht,
Erstarrt das Auge, das die Welt durchdrungen,
Geknickt der Flügel, der im Angesicht
Der Menschheit sich zum Himmel aufgeschwungen
Ein Sonnenuntergang — , und Xacht umflicht
Den Geist, der sich zum Tag emporgerungen.
Otto Liebmann, Kant; zur Erinnerung an den
12. Februar 1804 (Zu Kants Gedächtnis).
1797 war Kant von dem akademischen Lehramte zurückgetreten, i) Die
Kräfte seines Körpers, der von Xatur ungemein zart gebaut und nur
durch streng geregelte und befolgte Diät so lange erhalten war, nahmen
mit wachsender Schnelligkeit ab. Schon 1799 erklärte der Greis: Meine
Herni, ich bin alt und schwach; Sie müssen mich wie ein Kind betrachten.
Dem Tode blickte er jetzt nicht nur gefasst, sondern selbst freudig ent-
gegen. Er, daran gewöhnt, um zehn Uhr zu Bett zu gehen und um die
fünfte Stunde sicli wieder zu erheben, sah sich genötigt, der Nachtruhe
immer längere Zeit zu widmen ; dabei erschreckten ihn aber häufig phan-
tastische Träume, und er glaubte sich noch im wachen Zustande von
Räubern und Mördern umgeben. Die täglichen Spaziergänge fielen all-
mählig ganz fort, da ihn die Füsse kaum noch zu tragen vermochten.
Auch die Esslust verminderte sich. Am 22. April 1803 feierte eine fröh-
liche Tafelrunde zum letzten Male bei ihm seinen Geburtstag. Kant, der
sich auf das Fest sehr gefreut hatte, machte jedoch an dem Tage selbst
einen matten und abgestumpften Eindruck. Die Sinnes- und Geistesfähig-
keiten begannen ebenfalls zu schwinden; namentlich litt das früher aus-
gezeichnete Gedächtnis. Er legte sich deshalb kleine Erinnerungsbücher
an, in die er in rapsodischer Form eintrug, was für ihn interessant und
zu merken 2) war. So verzeichnet er zwei Tage nach dem 80. Geburts-
feste das oben als Motto benutzte Bibelwort. Sein körperlicher Scliwäche-
zustand, der ihn oft zu Falle kommen Hess, wuchs derartig, dass er um die
Mitte des Jahres I8(f3 ausser dem Diener und dem ehemaligen Schüler
und getreuen Freunde Wasianski noch einer beständigen weiblichen
Pflegerin bedurfte. Man wählte dazu seine allein noch lebende Schwe.ster,
Frau Theuerin mit Namen, die Wittwe eines Handwerkers, der ihr Bruder
eine lebenslängliche Rente ausgesetzt hatte. Sechs Jahre jünger als er,
war sie noch im Vollbesitz ihrer Körper- und Geisteskräfte. — Aus dieser
Zeit besitzen wir eine Schilderung Jachmanns, die so schlicht und doch
so ergreifend, so packend und so innerlich lebenswahr ist, dass ich nichts
kenne, was den Leser so unmittelbar in die damalige Verfassung des
Greises versetzen möchte. Ich denke daher, er wird mir für eine mög-
lichst vollständige Widergabe Dank wissen. „Am 1. August," erzählt
Jachmann, „sah ich zum letzten Mal meinen grossen Lehrer und Freund.
Aber welch eine traurige Veränderung hatte sich mit dem grossen Manne
zugetragen! Meine Freunde in Königsberg hatten mich zwar schon auf
einen schmerzhaften Anblick vorbereitet, ja sie hatten mir selbst von
einem Besuche abgeraten, aber ich konnte meinem Herzensdrange nicht
1) Das Folgende in der Hauptsache nach. C. A Ch. Wasianski, Imm.
Kant in seinen letzten Lebensjahren, 1804 (vgl. die Zusammenfassung bei
Schubert, Leben Kants, 1842, S. 170 ff.) und F. Bessel-Hagen. Die Grab-
stätte 1mm. Kants u. s. w., 1880. Ferner weise ich hin auf die Notizen
der Königsberger „Königlich Preussischen Staats-, Krieges- und Friedens-
Zeitungen" vom 13., 16., 23. und 26. Februar 1804, sowie auf die ausführ-
liche Schilderung des Leichenbegängnisses ebenda in der Nummer vom
1. März. (Wieder abgedruckt in der Festnummer der „Königsberger Har-
tungschen Zeitung" zum verflossenen Kant-Jubiläum.)
2j Schubert a. a. 0. S. 161, Anmerkung, berichtet, dass er in einem
solchen Büchlein, das etwa 4 Wochen gereicht habe, fünfmal verzeichnet
fand: „Mein Barbier heisst Rogall!"
158 F. Jünemann',
widerstehen . . . Mit einer nie gehabten Empfindung öffnete ich das Stu-
dierzimmer des Weltweisen, wo ich sonst in dem engeren Kreise seiner
Freunde das Glück seines besonderen Unterrichts und seiner vertrauten
Freimdschaft genoss. Aber denken Sie sich mein Gefühl! Kaum war ich
ins Zimmer getreten, so erhob sich der gebückte Greis von seinem Stuhle
und kam mit schwankendem Tritte mir entgegen. Ich flog mit weh-
mütigem Herzen an seine Brust, ich drückte ihm meinen kindlichen Kuss
auf die Lippen. Ich bekannte ihm meine Freude, ihn wiederzusehen und
er, — er blickte mich mit mattem, forschendem Auge an und fragte mich
mit freundlicher Miene, wer ich wäre. Mein Kant kannte mich nicht
mehr ! Er bat sogleich darauf um die Erlaubnis, sich setzen zu dürfen, . . .
nötigte mich gleichfalls mit seiner gewöhnlichen Freundlichkeit zum
Sitzen und erkundigte sich von neuem, wer ich wäre. Ich führte ihm
verschiedene, ihm sonst wohlbekannte Umstände aus meinem Leben an,
aber sie waren gänzlich aus seinem Gedächtnis verwischt. Ich nannte ihm
verschiedene wichtige Dinge, bei welchen wir gemeinschaftlich thätig ge-
wesen waren, aber sie hatten in seiner Seele keine Spur mehr zurück-
gelassen. Ich machte ihn auf Orte und Personen aufmerksam, wo und
mit welchen wir öfter zusammen gewesen waren, ich führte ihm Hand-
lungen an, die er selbst für mich mit so vieler Teilnahme verübt hatte,
aber auch diese konnten mich ihm nicht mehr in Erinnerung bringen. Es
war schmerzhaft zu sehen, wie der schwache Greis sich anstrengte, um in
die Vergangenheit von wenigen Jahren zurückzublicken und die gegen-
wärtige Anschauung von mir mit vormals gehabten Vorstellungen zu ver-
knüpfen, und doch gelang es ihm nicht. Um das Gespräch nicht gänzlich
sinken zu lassen, erkundigte ich mich bei ihm nach solchen körperlichen
Umständen, über welche er sonst gewöhnlich zu sprechen pflegte, und es
schien ihm angenehm zu sein, dass ich ihn in seinen engen und vertrauten
Gedankenkreis zurückführte. Er sprach nun dieselben Sachen und Worte,
die ich schon sonst öfter aus seinem Munde gehört hatte; aber auch bei
diesem, ihm so vertrauten Gespräche blieben ihm die Gedanken stehen,
und er konnte zu manchem kleinen Satze nicht das Schlusswort finden,
sodass seine hochbejahrte Schwester, welche hinter seinem Stuhle sass und
dasselbe Gespräch vielleicht schon oft gehört hatte, ihm das fehlende
Wort vorsprach, was er dann selbst hinzufügte. Während unseres Ge-
sprächs, bei welchem er mich ununterbrochen ansah, rief er einige Male
mit einer Äusserung von Freude aus: ,Ihr Blick wird mir immer be-
kannter!' Ich hoffte mit Entzücken bei diesem frolien Ausruf, dass er
sich meiner vielleicht doch noch erinnern würde, aber vergebens. Es
blieb bei diesem sich aufhellenden Sinnenbilde, das in keinen Verstandes-
begriff melir umgeformt werden konnte. Ich musste ihn verlassen, ohne
von ihm wiedererkannt worden zu sein. Der Greis selbst schien über
sein geschwächtes Erinnerungsvermögen einige Rührung zu empfinden.
Als ich mich zum Abschied anschickte, bat er mich einige Male: ich
möchte mich doch nur seiner Schwester umständlich erklären, wer ich
wäre; sie würde es ihm dann wohl gelegentlich beibringen. Ich that es,
und das gute Mütterchen kannte mich auch aus früherer Zeit noch genug,
um mich ihm womöglich noch einmal ins Gedächtnis zurückzurufen. Hier-
auf umarmte ich meinen grossen Lehrer zum letzten Mal und schied von
ihm mit wehmütigem Herzen und mit thränenden Augen", i) . . . Eine
gewaltige Tragik spricht aus dieser Schilderung; die gesamte Geschichte
von Menschengrösse und Menschenkleinheit ist hierin zusammengedrängt.
Der Mann, der eine neue Welt in seinen Begriffen geschaffen und ge-
tragen, er musste sich von der einfachen Schwester, von der Armut im
Geiste belehren lassen. — Seine Augen, die ehemals durch ihr Feuer und
durch ihr tiefes Blau so faszinierend wirkten, wurden täglich schwächer;
während er mit dem linken schon seit 20 Jahren nicht mehr sah, büsste
1) Jachmann, Imm. Kant geschildert in Briefen an einen Freund,
1804; 17. Brief.
Kants Tod, seine letzten Worte und sein Begräbnis. 159
nun auch das rechte die Sehkraft allmählig: ein. Im Oktober befiel ihn
eine ernstere Krankheit. Bisher hatte er weder Doktoren noch Medika-
mente gebraucht, teils weil er ihrer nie wirklich bedurfte, zum Teil auch,
weil er nichts von ihnen hielt. Jetzt freilich wird das anders. Als er
nach fünf Tagen von der Krankheit wieder ziemlich genesen war, besass
sein Gemüt die frühere Heiterkeit nicht mehr. Zu Anfang des Jalires
1804 wurde er für jede Bescliäftigung, selbst für das Essen, gänzlich teil-
nahmslos. Nur mit Mühe vermochte er sich noch auf dem hochgepolsterten
Sessel zu halten Am .3. Februar besuchte ihn, wie in der letzten Epoche
alltäglich, sein Arzt, Professor Eisner. Kant geht ihm zur Begrüssung
entgegen. Von Eisner wird er aufgefordert, sich wieder zu setzen: er
zaudert aber, obwohl er vor Schwäche fast hinsinkt. Wasianski, der
hierin die weltmännische Feinheit des Philosophen erkennt, sucht den
Arzt zu überzeugen, dass sich der Kranke nicht setzen wolle, bevor sein
Besucher Platz genommen. Der Professor, dem dies kaum glaublich er-
scheint, ist doch beinahe zu Thränen gerührt, als Kant nun mit An-
strengung aller Kräfte erklärt: Das Gefülü für Humanität hat mich noch
nicht verlassen! „Das ist ein edler, feiner und guter Mann! riefen wir
wie aus einem Munde uns zu", so schliesst der Biograph die hübsche
Episode.
Am 8. Februar legte sich der gebrechliche Greis auf sein Sterbe-
lager. Die Bewusstlosigkeit, die schon am folgenden Tage eintrat, wich
teilweise am 10. wieder. Am 11. fand ihn Wasianski beim Besuche mit
gebrochenen Augen vor. Kant bot ihm die Lippen zum Kusse dar, womit
er dem Treuen wohl für so ergebene Freundschaft und so langjährige
Dienste danken wollte. In der Nacht vor seinem Tode wünschte er noch-
mals etwas zu trinken. Wasianski reichte ihm eine Mischung von Wein
und Wasser. Als der Sterbende den Durst gelöscht hatte, sagte er mit
leiser, aber vernehmlicher Stimme: „Es ist gut." Das war sein letztes
Wort. Um ^ ^4 Uhr Morgens legte er sich gleichsam entgültig zu dem
Schlussakte zurecht, und er behielt diese Lage bis zum Tode bei. Der
Körper ist schon schwer erkaltet, als um 10 Uhr Vormittags die letzten
Zeichen der Auflösung nahen : das Auge wird völlig starr, die Lippen ent-
färben sich, Totenblässe bedeckt das Gesicht. Die Schwester steht am
Fussende des Bettes, ein Neffe an der gegenüberliegenden Seite. Wa-
sianski kniet zur bessern Beobachtung nieder, um keinen Zug dieses
grossen Dramas zu verlieren. Ein Freund Kants und der Diener betreten
das Zimmer noch im letzten Augenblick. Schon wird der Atem schwächer,
schon wird er unregelmässig. Da . . ., die Oberlippe zuckt ein wenig, ein
leiser, letzter Atemzug . . ., der Genius ist entflohen. Maschinenartig
geht der Puls noch einige Sekunden, dann stockt auch dieser Mechanismus
für immer . . . Ein Sonntag ists und gerade schlägt die Uhr elf. — Kants
Tod war, wie der Augenzeuge urteilt, kein gewaltsamer Akt der Natur ;
er glich dem langsamen Erlöschen eines flackernden Lichtes.
Trotzdem man in der Stadt längst auf alles gefasst war, machte die
blitzartig sich verbreitende Nachricht von dem Hinscheiden des Grossen
doch einen gewaltigen Eindruck auf die Gemüter. Jeder fühlte den Ver-
lust dessen, der fast drei Menschenalter mit der Heimat aufs Innigste
verwachsen und seit einem Vierteljahrhundert der Ruhm und Stolz seiner
Mitbürger gewesen war. — An dem darauf folgenden Montage brachte
die dortige Staats-, Kriegs- und Friedenszeitung an ihrer Spitze folgende
Notiz: „Königsberg, den Id. Februar. Heute Mittag um 11 Uhr starb hier
an völliger Entkräftung im 80sten Jahr seines Alters Immanuel Kant.
Seine Verdienste um die Revision der speculativen Philosophie kennt und
ehrt die Welt. Was ihn sonst auszeichnete, Treue, Wohlwollen, Recht-
schaffenheit, Umgänglichkeit — dieser Verlust kann nur an unserm Orte
ganz empfunden werden, wo also auch das Andenken des Verstorbenen
am ehrenvollsten und dauerhaftesten sich erhalten wird." Die wenigen,
aber würdig gehaltenen Zeilen entstammen vielleicht der Feder Wasianskis.
Einige Tage später, am 16. und nochmals am 20. Februar, veröffentlichte
160 F. Jünemann,
er in demselben Blatte die Todesanzeige. Sie besagt: „Den 12. Februar c.
Mittags um 11 Uhr starb Herr Professor Immanuel Kant, alt 79 Jahre
10 Monathe, ohne vorhergegangene Kranklieit an der eigentlichen Ent-
kräftung vor Alter. Im Namen seiner hiesigen und abwesenden Ver-
wandten meldet diesen Todesfall seinen gesamten Freunden der Diakonus
Wasianscki als Cur.[ator] Fun [eris] und Executor Testament!". Inzwischen
hatte schon eine förmliche Wallfahrt nach dem Trauerhause begonnen.
Gross imd Klein, Jung und Alt, Reicli und Arm, Vornehm und Gering,
alles pilgerte zu der weihevoll-ernsten Stätte, um noch einmal die Hülle
des teuren Entschlafenen zu schauen. Selbst der alltäglichste Mensch em-
pfand die Majestät des Todes an diesem Könige im Reiche der Geister.
Zu seinen Füssen wurde von unbekannter Hand ein Gedicht niedergelegt
mit der Aufschrift: Den Manen Kants. Wasianski meint freilich scherzend,
weder er noch seine Freunde hätten die hohe Sprache fassen können.
Allgemeine Verwunderung erregte die beispiellose Abgezehrtheit des
Körpers. Bemerkte doch der Philosoph zu Lebzeiten öfter den Tischge-
nossen gegenüber, er habe nun wohl bald das Minimum von Muskular-Sub-
stanz erreicht ; und über einen gewissen Körperteil setzte er humorvoll
hinzu : auf diesem Punkte scheine er alle Eminenz verloren zu haben, i)
Nur bei einer so völligen Fleischlosigkeit war es möglich, den Toten
sechszehn Tage lang aufgebahrt liegen zu lassen, ohne ihn einzubalsa-
mieren. Ursprünglich dürfte allerdings die Bestattung früher angesetzt
gewesen sein ; wenigstens muss man das folgern aus einer Notiz der ge-
nannten Königsberger Zeitung vom 23. Februar. Einen Gypsabguss des
ganzen Kopfes nahm damals Professor Knorr. Der Schädel wurde nach
der Methode Galls von dem Prosector Dr. Kelch in einer besonderen Ab-
handlung beschrieben. Da der Kopf jenes Abgusses wegen geschoren
wurde, so entstand kurz darauf ein bedeutender Handel mit Ringen, die
aus dem Silberhaar des Verblichenen geflochten waren. Jachmann giebt
sogar der Ansicht Ausdruck, es würden schliesslich mehr Kantische Haar-
ringe im Publikum sein, als der Philosoph je einzelne Haare gehabt habe!^)
Bestimmungen über sein Begräbnis fanden sich in Kants Nachlass
auf einem Zettel aus dem Jahre 1799. Der Wortlaut zeugt von dem Ver-
fall der geistigen Kräfte des grossen Mannes. „Ich will,'' so liest man da,
„dass mein Begräbnis den dritten Tag nach meinem Tode unter Begleitung
zweier oder dreier Kutschen mit meiner [!] dazu erbetenen Umgangs-
freunde früh Vormittags und zwar auf den neuen Kirchhof am Steindamra-
schen Thor (wo auch Hippel eingesenkt worden ehe sein Körper in sein
Majorat übergebracht ward) begraben worden [!!] nach Anleitung und im
Beisein des dazu erbetenen Hm. Regierungsrat Vigilantius (oder im Wei-
gerungsfalle) Herrn Professor Rink u. s. w. welche auch die Güte haben
wollen ohne dass sich irgend einer meiner Verwandten dabei einmischen
muss über die dem [!] im Sterbehause zu reichende anständige Erfrisch-
ungen sowohl vor dem Hinzuge als dem Abtreten nach Rückfahrt nach
Belieben zu disponieren." 3) Es ist das jedenfalls derselbe Zettel, von dem
auch Wasianski berichtet; nämlich, dass er ihn gefunden und gegen der-
artige Anordnungen aus Gründen der Zweckmässigkeit bei Kant freimütig
protestiert habe. Dieser hätte gar keinen Wert darauf gelegt, das Blatt
vielmehr — — zerrissen und die Saclie gänzlich Wasianski überlassen.
Seit Menschengedenken hatte Königsberg ein derartiges Leichen-
begängnis nicht gesehen. Am 28. Februar um zwei Uhr Nachmittags ver-
sammelten sich in der Schlosskirche die Notabein der Stadt, an ihrer
Spitze der Gouverneur von Ostpreussen, General von Brüneck. In feier-
licher Weise wurde dies Ehrengefolge von den Studenten, die sich am
1) Jachmaun a. a. O., 18. Brief.
2) Jachmann a. a. 0., 16. Brief.
^) Abgedruckt in Kants gesammelten Schriften, herausgegeben von
der königlich preussischen Akademie der Wissenschaften, XII. Band 1902,
S. 417.
Kants Tod, seine letzten Worte und sein Begräbnis. 161
Universitätsplatze aufgestellt hatten, zum Trauerhause geleitet. Dort
setzte sich dann der unabsehbare Zug bei heiterem Wetter unter dem Ge-
läute aller Glocken um drei Uhr in Bewegung. Eine Rangordnung beob-
achtete man nicht. Bewusst oder unbewusst ehrte man so das Andenken
des bescheidenen Mannes. Voraus schritt eine Militär- Abteilung. Der
Sarg, der von Studierenden getragen wurde, war mit schwarzem Man-
chester, Fransen und Quasten beschlagen. Als Hauptwappen zierte ihn
eine einfache Totenurne mit vergoldetem Deckel und Fusse. Von dem
dunklen Untergrund hob sich in leuchtendem Golde die Inschrift ab :
Cineres mortales immortales Kantii. Am Fussende war zu lesen: Orbi
datus d. XXn i) Aprilis 1724, ereptus d. XH. Februar. 1804. Unmittelbar
hinter dem Sarge folgten vier Verwandte des Verstorbenen und seine ver-
trautesten Freunde. Darauf das bereits erwähnte Ehrengeleit. Von dem
historischen, leider nun längst vernichteten Häuschen in der Prinzessin-
strasse zog man am Schloss vorbei durch die mit Tausenden von Zu-
schauern erfüllten Strassen der Altstadt zur Dom- und Universitätskirche.
Hier wurde die Leiche empfangen von dem Kurator der Universität,
Staatsminister und Oberburggrafen von Ostau, sowie von dem Rektor,
dem Kanzler, den Senatoren und den übrigen Dozenten der Albertina.
Unter feierlich-ernsten Musikklängen fand der Einzug in die durch Hun-
derte von Wachskerzen erhellte Kirche statt. Vor dem Altare war neben
den gewöhnlichen Professorenplätzen ein Trauergerüst aufgeschlagen, auf
dem der Sarg niedergelassen wurde. An seinem Kopfende brannten zwei
Lampen in alabasternen Urnen; zwischen ihnen stand die Marmorbüste
Kants von Schadow. An dem gegenüberliegenden Ende lagen zwei um-
gekehrte Fackeln als Symbol des erloschenen Lebens und weiterhin die
bedeutendsten Werke des Philosoplien. Zu beiden Seiten des Sarges
spendeten acht grosse, silberne Leuchter milden Schein, Vor dem schwarz
überzogenen Katafalk hielt Baron von Schrötter aus Marienwerder die
Trauerrede. Dann wurde durch die Königsberger Theater-Gesellschaft
unter Leitung des Musikdirektors Hiller eine Trauercantate aufgeführt.
Zwischen dem ersten und zweiten Teil richtete der Kandidat der Theolo-
gie Böckel aus Danzig im Namen der Studentenschaft eine Ansprache an
die Versammlung. Währenddessen übergab der Reichsgraf und Truchsess
von Waldburg dem Staatsminister von Ostau einen poetischen Nachruf
auf den Verstorbenen. Bei der Absingung des letzten Chorals wurde die
entseelte Hülle nach dem unter den Arkaden an der Nordseite des Domes
gelegenen Professorengewölbe überführt. — Eine besondere akademische
Gedenkfeier, die sonst nicht üblich war, wie Borowski zu berichten weiss,
war vom Senate schon am 20. Februar beschlossen worden. Sie fand am
Montag, den 23. April, einen Tag nach dem Geburtsfeste des Entschlafenen,
im grossen Hörsaal der Universität statt. Die Gedächtnisrede 2) liielt
Konsistorialrat Samuel Wald, Professor der Theologie und Beredsamkeit.
Da das Professorengewölbe später zu seinem ursprünglichen Zwecke
nicht mehr gebraucht wurde, so bestimmte man es 1809 auf Veranlassung
des Kriegsgerichtsrates Scheffner, Kants ehemaligem Freunde, zu einer
Wandelhalle für Studenten und Lehrer, die dann den Namen Stoa Kantiana
erhielt. Kants Sarg wurde nun auf dem östlichen Flügel beigesetzt und
darüber seine von Hagemann noch bei Lebzeiten in carrarischem Marmor
modellierte Büste aufgestellt. Sie trug die Inschrift: Immanuel Kant.
Sapienti Amicorum Pietas. Auf einem Steine der Grabstätte waren fol-
gende Worte zu lesen: Sepulcrum Immanuelis Kant nati a. d. X. Calend.
Maji a. MDCCXXIV, denati prid. Jd. Februar, a. MDCCCIV. hoc monu-
mento signavit amicus Scheffner MDCCCIX. In der Stoa Kantiana selbst
wurde das Distichon angebracht:
1) In der Festnummer der Königsberger Hartg. Ztg. steht versehent-
lich die Ziffer XH.
^) Abgedruckt bei Reicke, Kantiana, 1860.
KautBtudien X. Jl
162 F. Jünemann, Kants Tod, seine letzten Worte und sein Begräbnis.
Hier von den Geistern durchsclnvebt ehrwürdig:er Lehrer der Vorzeit,
Sinne, dass Jüngling auch dich rühme noch spätes Geschlecht.
Die Einweihung geschah am 22. April 1810, wobei Herbart die Festrede
hielt. Um die Büste vor Beschädigungen zu bewahren, wurde sie später
nach dem Auditorium maximum der Universität übertragen. Am 12. Fe-
bruar 1842 kam als Geschenk des preussischen Ministeriums eine kleine
Broncestatue Kants hinzu, ausgeführt von Adolf Bräunlich, einem Schüler
Rauchs. — Da die Ruhestätte des Toten nur durch ein Holzgitter ge-
schützt war, so geriet sie allmählig in Verfall. Erst in den siebziger
Jahren wurde dieser Zustand durch den Bau einer gotischen Kapelle
beseitigt. Die sterblichen Überreste Kants wurden wieder ausgegraben
und hier am 21. November 1880 entgültig beigesetzt. Im Inneren be-
findet sich eine von Siemering angefertigte Kopie der Hagemannschen
Büste. Dahinter an der Wand Rafaels Scliule von Athen von Professor
Neide, Auf der gegenüberliegenden Wand liest man den berühmten
Schluss der Kritik der praktischen Vernunft: „Zwei Dinge erfüllen das
Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung, je öfter und
anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt : der bestirnte Himmel
über mir und das moralische Gesetz in mir." — Eine heilige Stille um-
wehet die Grabstätte ; Schweigen ringsum. Die Majestät des Denkers, die
Majestät des Todes erfüllen den Raum.
Wer durch seine Geistesanlage bestimmt ist, bei Verhältnissen und
Individualitäten immer das Gemeinsame, überall das Ähnliche heraus-
zuspüren, dem muss sich eine merkwürdige Parallele zwischen den letzten
Worten Kants und Goethes aufdrängen. Beide beziehen sich zunächst
auf rein thatsächliche, zufälüge Begebnisse, aber beide — nicht nur
Goethes „Mehr Licht!" — können zur Höhe des Symbols erhoben, dürfen
als Spiegel und Gleichnis ihres natürlichen Berufes wie ihrer Persönlich-
keit betrachtet werden. Als Symbol der Berufe: Licht ist das not-
wendigste, das lebenspendende Element aller Künste, der bildenden nicht
nur, sondern auch (in anderer Weise) der Dichtkunst ; ') die Idee des
Guten hinwiederum ist der erste Wertbegriff der Philosophie, ist nach
Plato die Gottheit selbst. Symbol der Persönlichkeiten : Goethe kam von
der Wirklichkeit zum Gedanken, Kant vom Gedanken zur Wirklichkeit.
Goethe stürzte sich in den brausenden Vollstrom des Lebens und schwamm
auf ihm der Höhe der Geisteswelt zu; Kant schuf und webte in der Er-
kenntnis, auf deren Gipfel er doch das Handeln, das moralische Handeln
als das Höchste pries. Mit absoluter Deutlichkeit hat Kant diese Über-
zeugung auch in seinem Gedenkvers auf den 1782 verstorbenen Professor
Lilienthal zum Ausdruck gebracht:
Was auf das Leben folgt, deckt tiefe Finsternis;
Was uns zu thun gebührt, des sind wir nur gewiss.
Dem kann . . . kein Tod die Hoffnung rauben.
Der glaubt, um recht zu thun, recht thut, um froh zu glauben.
Der Philosoph meint also nicht mit Goethe-Faust: Im Anfang war die
That, sondern er erblickt in ihr das letzte Heil, nach aller vergeblichen
Spekulation unser einziges Heil, unserer Weisheit letzten Schluss. Und
so birgt es zwar ein wunderbares Geheimnis, aber keinen Widerspruch in
sich, dass des grössten Realisten Endwort auf der Bühne dieser Welt ein
theoretisches, 2) das des grössten Idealisten ein praktisches ist.
1) Diese ästhetische Seite des Goetheschen Wortes ist meines
Wissens auch noch nicht hervorgehoben worden.
2) Seiner unmittelbaren Thatsächlichkeit und seinem Zwecke nach
ist natürlich Goethes „Mehr Licht" rein praktischer Natur.
Recensionen.
Windelband, Wilh. Über Willensfreiheit. Zwölf Vorlesungen.
Tübingen und Leipzig, Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 1904.
223 S.
Die ruhige, klare und sachliche Erörterung, die Windelband dem
viel verhandelten Problem angedeihen lässt, ist wohl geeignet, die Dis-
kussion darüber aller Leidenschaftlichkeit und Gehässigkeit, mit der sie
häufig geführt wird, zu entrücken. Man muss sich klar darüber werden,
dass es sich in dem Gegensatz von Determinismus und Indeterminismus
nicht darum handeln kann, die menschliche Freiheit zu leugnen oder zu
verteidigen, sondern ihren Begriff richtig zu fassen. Mit Recht darf ein
so besonnener Vertreter des Determinismus wie Windelband verlangen,
dass man ihn nicht als Freiheitsleugner denunziere, andererseits sollte
man von deterministischer Seite nicht dazu greifen, den Indeterminismus
als längst abgethane scholastische Grille und Spitzfindigkeit lächerlich zu
machen.
Windelbands Methode in der Behandlung unseres Problems ist da-
durch charakterisiert, dass er bemüht ist, die verschiedenen Fragen, die
sich in ihm verschlingen, reinlich von einander zu sondern und einzeln zu
beantworten.
So scheidet er zunächst die theoretische Frage, ob und in welchem
Masse der Mensch frei sei, von der praktischen nach der Verantwort-
lichkeit. Die Erwägung des Freiheitsbegriffs selbst ergiebt, dass er,
mag er Funktionen, Zustände oder Substanzen betreffen, stets relativ ist.
Die Verneinung, die das Grundmerkmal des Begriffes bildet, ist nie abso-
lut, es wird jeweils nur die Abhängigkeit in einer bestimmten Rücksicht
negiert, während doch in anderer Hinsicht unausgesprochen eine Bedingt-
heit als selbstverständlich vorausgesetzt wird.
Im Wollen aber lassen sich drei Phasen seines Ablaufs unter-
scheiden. Das Entstehen der einzelnen Begehrungen (Wollungen); ihre
gegenseitige Hemmung und Ausgleichung durch die Wahl; endlich die
Umsetzung des ungehemmten oder aus der Überlegung siegreich hervor-
gehenden Wollens in die Handlung. Mit Rücksicht auf diese drei Stadien
zerlegt W. die theoretische Frage nach der Willensfreiheit in die drei
besonderen Fragen nach der Freiheit des Wollens, des Wählens und des
Handelns, die er — um vom Leichteren zum Schwereren fortzuschreiten —
in umgekehrter Ordnung behandelt.
Die Freiheit des Handelns besteht in der Freiheit zu thun, was
man will. Begrenzt ist diese Fähigkeit einerseits nach der Richtung der
reflektorischen Leibesbewegungen, andererseits nach der Richtung der er-
folglosen Willensimpulse. Die Grenzen sind keine scharf bestimmten ; die
allmählichen Übergänge aber zwischen Freiheit und Unfreiheit des Handelns
*verden einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Die Erwägung des
Segriffs der bürgerlichen oder sozialen Freiheit, deren Beschränkung nicht
11*
164 Recensionen (Wiudelband).
durch physischen Zwang', der das Handeln direkt trifft, sondern durch
psychischen Eiufiuss auf die Wahlentscheiduug zustande kommt, führt
auf die Freiheit des Wähleus.
Die Betrachtung der Innenvorgänge beim Wählen zeigt, dass sich
dieses sowohl mit dem Gefühl der Freiheit (ich kann ja jede der mög-
lichen Handlungen ausführen!) als mit dem der Unfreiheit (ich niuss
mich für eine entscheiden!) verbindet.
Bei zwei entgegenstehenden Motiven fällt die Wahl für das stärkere
aus, wenn sich beide ausschliessen ; ja wir erkennen erst durch die Wahl-
entscheidung, welches das stärkere sei. Je geringer der Intensitätsunter-
schied der Motive ist, um so schwerer ist die Wahl. In solchen Fällen
des unentschiedenen Schwankens verzichtet man wohl auf die eigene
Wahlentscheidung und überlässt die Entscheidung dem Spiel des psyclio-
physischen Mechanismus (wenn ich etwa eine beliebige dreizifferige Zahl
zu nennen habe), oder man nimmt zu einem Mechanismus seine Zuflucht
(beim „Ausknobeln" oder „an den Knöpfen Abzählen"). Solche Fälle sind
nicht als Beispiele einer motivlosen Wahlentscheidung, eines liberum ar-
bitrium indifferentiae anzusehen; ein solches giebt es nicht.
Der Fall, dass wir zwischen zwei einfachen Motiven zu wählen
haben, ist nicht der häufigste, meist Liegt, wie W. näher ausführt, der
Motivationsprozess viel verwickelter. Alsdann verstärken sich die Motive,
die in derselben (positiven oder negativen) Richtung wirken, während ent-
gegengesetzte sich abschwächen. Diese Vereinbarkeit der Motive aber
setzt einen psychischen Einheitspunkt voraus, dem die Motive durch ihre
gegenseitige Ausgleichung schliesslich eine Bewegung in bestimmter Rich-
tung und Stärke mitteilen. Für diesen Einheitspunkt aber, der als „der
Wille", das „Bewusstsein", die „Persönlichkeit" bezeichnet wird, bleibt
aber nach Abzug der (konstanten und momentanen) Motive kein Inhalt ;
es ist kein dinghaftes Etwas, das von den einzelnen Motiven noch als ein
eigenes, inhaltlich bestimmbares und angebbares Wollen zu unterscheiden
wäre, vielmehr machen die momentanen mit den konstanten Motiven den
ganzen Willen inhaltlich aus und bestimmen in dieser Vereinigung die
Wahl. Bezüglich des Wählens, meint W., laufe so der Streit des Deter-
minismus und Indeterminismus auf einen Wortstreit hinaus. Denn der
Indeterminist sträube sich nur, das letztentscheidende Wollen auch Motiv
zu nennen, er wolle eigentlich nur das anerkannt wissen, dass neben allen
anderen Motiven der persönliche Wille selbst vermöge seines Wesens sich
für eine bestimmte Seite entscheide. Aber genau dasselbe wolle auch,
der Determinist: denn jenes ,Wesen' sei inhaltlich doch eben nichts An-
deres als ein dauerndes Wollen, d. h. ein konstantes Motiv.
Es werden sodann die mannigfachen Grade und wechselnden Grenzen '*
der Wahlfreiheit dargestellt. Niemals giebt es eine absolute, grenzenlose
Willkür, immer hat sich die Wahl zu entscheiden zwischen gegebenen
Möglichkeiten, die ihr oft nur einen sehr engen Spielraum lassen. Be-
schränkungen der Wahlfreiheit treten ferner ein durch die Begrenztheit
und Mangelhaftigkeit unserer Erkenntnis (von zufälliger Unkenntnis der
Verhältnisse bis zum Stumpfsinn des Schwachsinnigen), durch krankhafte
Störungen (Abgespanntheit, Fieber, Trunkenheit, Hypnose etc.), durch
Mangel an Zeit zur Überlegung, durch Affekte. — Dagegen sind die
Leidenschaften nicht als Beeinträchtigung der Wahlfreiheit (in rein psy-
chologischem, nicht in ethischem Sinne) anzusehen. Denn der Mensch
wählt frei, wo er seiner Natur gemäss entscheidet; zu der Natur des ein- ^
zelnen Menschen, die freilich nur relativ konstant ist, gehören auch seine |H
Ijeidenschaften, solange sie bestehen. Wenn wir gleichwohl einen i
Menschen, der unter dem Einfluss einer Leidenschaft handelt, unfrei
nennen, so erklärt sich dies aus einer weiteren Bedeutung der Freiheit,
nämlich der sittlichen Freiheit.
Diese letztere ist ein Wertbegriff, ein Ideal, während die Wahlfrei-
heit im psychologischen Sinne eine thatsächlich vorhandene, aber ver-
Recensionen (Windelband). 165
schieden begrenzte und beschränkte Fähigkeit bezeichnet. Wahlfreiheit
kann vorhanden sein, wo sittliche Freiheit fehlt, andererseits liegt in der
sittlichen Freiheit eine Einschränkung der Wahlfreiheit. Inwieweit der
Mensch zur ethischen Autonomie gelangt, das sittliche Gesetz aufnimmt
in seinen Willen, fallen sittliche Freiheit und Wahlfreiheit zusammen;
denn dann herrscht die sittliche Xorm, in der der Mensch jetzt sein
eigentliches Wesen sieht, im Motivationsprozess und bestimmt die Wahl;
dieser aber kommt Freiheit zu, weil sich darin ja das Wesen des Menschen
zur Geltung bringt.
Die bisher betrachteten Freiheitsbegriffe gingen zurück auf den Be-
griff der ungehinderten Kausalität eines schon bestehenden Wollens: sie
zeigen das Handeln wie das Wählen des Menschen als von seinem Wollen
abhängig; nunmehr tritt uns die Frage entgegen: wie steht es mit der
Ursache dieses Wollens ? Besteht zwischen dem Wollen selbst und seiner
Ursache ein derartiges Kausalverhältnis, dass dabei noch einmal von
Willensfreiheit geredet werden darf ?
Man hat nun in dem metaphysischen (oder makrokosmischen)
Freiheitsbegriff teils dem einzelnen Wollen, teils dem dauernden
Wesen (der Individualität) der wollenden Persönlichkeit eine Freiheit von
der Kausalität zugesprochen, aber eine solche Ausnahme vom Kausalgesetz
widerspricht der obersten Voraussetzung, mit der wir an die Erklärung der
Thatsachen herantreten. Auch zeigt es sich unmöglich, für diese ursprüng-
liche, aus sich seiende Individualität einen bestimmten Inhalt zu erdenken ;
denn alle besonderen Willensrichtungen würden empirisch bedingt sein.
Endlich verträgt sich die kausale Selbstherrlichkeit der Individualität nicht
mit dem Gedanken eines einzigen, alles umfassenden Wirklichkeit.sgrundes;
besonders nicht, wie W. näher zu zeigen sucht, mit der Weltschöpfung
und der Präscienz des Schöpfers.
Kants tiefsinnige Lehre vom empirischen und intelligiblen Charakter
kann nur dann von ihren Widersprüchen befreit werden, wenn sie ihres
metaphysischen Charakters entkleidet wird. Die beiden Charaktere sind
nicht zwei verschieden seiende Dinge, sondern zwei Erscheinungsweisen
für zwei menschliche Betrachtungsarten, die ebenbürtig neben einander
stehen: die theoretische der kausalen Erklärung und die praktische der
Wertbeurteilung imter dem Gesichtspunkt der Norm. Bei der letzteren
stellen wir uns nach W. den Menschen und ihren Handlungen gegenüber,
ohne auf das Kausalverhältnis Rücksicht zu nehmen, mithin „als ob" sie
kausalitätslos und in diesem Sinne „frei" seien.
Diese Erwägungen leiten endlich hinüber zu der praktischen Seite
unseres ganzen Problems, zur Beantwortung der Frage nach dem Recht
des Verantwortlichmachens.
Es wird dabei die Persönlichkeit stets unter dem Gesichtspunkt be-
trachtet, dass sie berufen sei, in ihrer Gesinnung und in ihren Handlungen
eine allgemein gültige Xorm zu verwirklichen. Das Verantwortlichmachen
ruht aber auf der Erkenntnis, dass die Person als wollendes Wesen die
Norm verletzt hat, und sie besteht in einer solchen Einwirkung auf die
Person, wodurch in ihr die Herrschaft der Norm über ihr Wollen herge-
stellt oder wiederhergestellt werden soll. Das Recht des Verantwortlich-
machens - — das natürlich über die fühlenden und wollenden Personen
nicht hinausgehen kann — gründet sich aber auf den Wert der Normen,
die dadurch verwirklicht werden sollen und allein mit seiner Hilfe ver-
wirklicht werden können. —
Ich habe diesem Referat, das natürlich von der Fülle der feinsinnigen
und geistvollen Einzelausftihningen keine Vorstellung geben kann, nur
wenige kritische Bemerkungen hinzuzufügen.
Mir scheint es, dass es sich bei dem Widerstreben des Indeterminis-
mus, das Letztentscheidende in der Wahl Motiv zu nennen, nicht bloss um
einen Wortstreit handelt, vielmehr dürfte sich hierin gerade deutHch do-
166 Recensionen (Kaiweit).
kumentieren, dass der Determinismus und Indeterminismus in einem ver-
schiedenen inneren Verhältnis zu dem Willensleben ihre Wurzel haben.
Der erstere ist am Platze bei der theoretischen Betrachtung der Willens-
vorgängre. Dabei werden diese vom Ich gleichsam abgelöst und objekti-
viert, und auch die konstanten Willensrichtungen, in die sich das empirische
(praktische) Ich zerlegen lässt, erscheinen als Motive, die gleichsam ohne
Zuthun des (nunmehr lediglich betrachtenden und vorfindenden) Ich ihre
Kraft gegenüber anderen geltend machen Der Indeterminismus aber fusst
auf dem unmittelbaren Erleben der Wahlentscheidungen selbst. Er findet
seine Nahrung in der unmittelbaren Gewissheit, dass unsere Entscheidungen
von unserer eigensten innersten Aktivität abhängen, und nicht als not-
wendige Ergebnisse aus einem berechenbaren Kräftespiel, dem wir sozu-
sagen nur passiv zuschauen, resultieren. Dass die deterministische Be-
trachtungsweise mit ihrer Voraussetzung der alles beherrschenden Kau-
salität für unser theoretisches Verhalten Berechtigung habe, soll damit
zunächst nicht bestritten werden, nur das soll betont werden, dass sie sich
hinsichtlich ihrer Gefühlsresonanz nicht zur Deckung bringen lässt mit
unserem wirklichen, lebendigen Wollen und dessen unmittelbarem Erleben.
Dies regt allerdings zu der Erwägung an, ob nicht der Determinismus
mit seiner Betrachtungsweise die psychischen Vorgänge zu sehr nach Art
der physischen auffasst. Doch dies näher darzulegen, würde hier zu weit
führen.
Mit W. stimme ich überein, dass Kants Lehre vom intelligibeln und
empirischen Charakter nur aufrecht zu erhalten ist, wenn wir ihre meta-
physische Tendenz ausscheiden, wenn wir darin — wie ja Kant gelegent-
lich selbst sagt — die Kennzeichnung zweier verschiedener „Standpunkte"
sehen, die wir dem menschlichen Wollen gegenüber einnehmen können.
Ich bin jedoch der Ansicht, dass der praktische Standpunkt nicht lediglich
in der Wertbeurteilung (unter völligem Absehen von der Verursachung)
bestehe. Ich kann W. nicht zustimmen, wenn er sagt : „Diese moralischen)
Urteile beziehen sich lediglich auf die Angemessenheit oder Unangemessen-
heit des wirklichen Wollens zu der Norm oder zu dem Ideal des sittlichen
Bewusstseins, und wir fragen, wenn wir über diesen sittlichen Wert der
Gesinnung oder des Charakters urteilen, nicht mehr, wie die eine oder
der andere zustande gekommen ist". Mir will scheinen, dass zu dem
Werturteil doch, mehr oder minder klar bewusst, noch der Zusatz hinzu-
tritt : der Mensch hätte anders werden oder handeln können. Dieser
Zusatz ist es aber gerade auch, der unserer Wertbeurteilung von Menschen
einen anderen Gefülilscharakter giebt wie der von untermenschlichen
Wesen, und der auch unserer praktischen Gegenwirkung den eigenartigen
Charakter aufprägt, der die „Strafe" von dem „Heilmittel" unterscheidet.
Endlich scheint mir auch der feste Glaube, dass wir und die anderen
können, weil und was wir sollen, die notwendige Voraussetzung zu sein
für jedes kraftvolle Arbeiten an der sittlichen Erziehung unserer Mit-
menschen und unserer eigenen Person.
Diese Andeutungen mögen hier genügen, eine nähere Ausführung
dieser Gedanken findet sich in dem letzten Kapitel meines Buches über
„Kants Ethik«, Leipzig 1904.
Giessen. August Messer.
Kaiweit, Paul, Lic. Dr. Kants Stellung zur Kirche. Königs-
berg i. Pr. 1904, Com.-Verlag Ferd. Beyers Buchhandlung. 88 S.
Die Arbeit von Kaiweit beschäftigt sich im Ganzen mit dem gleichen
Problem, das ich in diesen Studien zur Säkularfeier von Kants Todestage
beantwortet habe, und kommt im Wesentlichen auch zu den gleichen Re-
sultaten, eine gegenseitige Bestätigung, die bei der vollständigen Unab-
hängigkeit unserer Arbeiten von einander jedem von uns beiden gleich
wertvoll sein muss. Kaiweit stellt das Problem insofern in engerem
Rahmen, als es sich für ihn wesentlich um die Stellung Kants zu der ihm
Recensionen (Kaiweit). 167
gegebenen Kirche handelt, also um Kants Verhältnis zu dem preussischen
und weiterhin zu dem protestantischen Staats- und Landeskirchentum der
damaligen Verhältnisse, in denen die verhältnismässige heutige Trennung
von Staat und Kirche noch nicht vollzogen war, sondern der aufgeklärte
und späterhin reaktionäre Absolutismus die Kirche als reinen Bestandteil
der öffentlichen Ordnung und als Hauptmittel der Volksbeeinflussung in
festen Händen hielt. Da nun aber diese Kirche die historische und ge-
gebene Gestalt der Religion darstellt, auf welche Kant mit seinen kriti-
schen Religionslehren einwirken wollte, so ist darin auch das weitere
Problem enthalten, das ich meiner Arbeit zum Gegenstand gegeben habe,
das Verhältnis einer kritischen und wissenschaftlich geleiteten Fortbildung
der Religion zu den geschichtlichen Formationen des religiösen ßewusst-
seins. Jedoch begnügt sich Kaiweit damit, das Problem als solches an
diesem Spezialpunkte zu illustrieren, während ich das Problem in den
weiteren Zusammenhang des Verhältnisses Kants zur Geschichte überhaupt
gestellt habe. So kommt es, dass die Arbeit Kalweits jedenfalls den Vor-
zug vor der meinen hat, das Spezialproblem des Verhältnisses zur ge-
gebenen preussischen Landeskirche sehr viel eingehender zu behandeln,
als das mir möglich gewesen ist.
Kaiweit sammelt zunächst mit äusserster Sorgfalt alle biographischen
und persönlichen Notizen, die er über dieses Thema finden konnte. So
sorgfältig wie die Materialsammlung, so vernünftig xmd besonnen ist das
Urteil. Die Wirkung des Pietismus wird m. E. vollständig zutreffend
(S. 11) dahin abgeschätzt, dass ihm aus seiner Schulzeit unter dem Einfluss
des Pietismus zwar die Hochachtung vor dem sittlichen Ernst verblieben
ist, aber im übrigen gerade durch ihn alles spezifisch kirchliche Wesen
für immer verleidet worden ist. Eine persönliche Beziehung zur Kirche
hat er seit Abschluss seiner Schulzeit nicht mehr besessen, auch seine
mehrfachen freundschaftlichen Beziehungen zu Geistlichen Hessen die Kirche
gänzlich unberührt. Auch ein persönliches Verhältnis zur Bibel hat er
nicht ; er will nur die historisch-kritische Bibelforschung, in der er zu
jedem Radicalismus bereit ist, von der dogmatisch-erbaulichen Verwendung
femgehalten wissen, wobei er aber diese Verwendung immer nur auf das
Volk und nicht auf sich bezieht. Wie weit er selbst von ihr erbaulich
Gebrauch gemacht haben möge, ist nicht zu sagen. Wenn er erkärt „sie
gern zu lesen und ihren Enthusiasmus zu bewundern," so ist das keine
eigentliche Erbauung. Sehr interessant sind die Mitteilungen über Kants
Kenntnis theologischer Litteratur. Ich stimme K. durchaus zu, wenn er
bei Abwägung der Zeugnisse und des Befundes der Kantischen Schriften
meint, dass Kant auch hier solide und keineswegs veraltete Kenntnisse
gehabt habe, wobei freilich diese sich w^esentlich auf die Urgeschichte
des Christentums imd die Kirchengeschichte beziehen. Und dabei war es
eine Besonderheit Kants, dass er den Unterschied zwischen der dogma-
tischen Volksreligion und der fortschrittlichen Theologenreligion sah und
als einen wesentlichen unverwischbaren anerkannte. Er schätzte die histo-
rische Bibelkritik, aber er wollte historisch-kritische Untersuchungen weder
in die eigene wissenschaftliche, noch in die dogmatische Volksreligion
hineingetragen sehen.
Alles das betrifft nur die persönliche Stellung Kants zur Kirche.
Etwas ganz anderes ist die in dem zweiten Abschnitt behandelte Stellung
zur Kirche als öffentlicher Institution. Hier hat er in dem für ihn charak-
teristischen konservativen Legitimismus die Kirche als einen gegebenen
Bestandteil der gesetzlichen Ordnung angesehen, der wie Regierung und
Gesetz zum Wesen des Staates und der Gesellschaft gehört und eine
organische Bedeutung für die Gesundheit des Volkslebens hat. Das ist
eine Schätzung der Kirche, die mit der persönlichen Stellung zu ihr und
etwa mit pietistischen Einflüssen gar nichts zu thun hat. Sie fliesst viel-
mehr direkt aus der Anerkennung des preussischen Staates. Eben deshalb
war er auch hier, wie auf politischem Gebiet, weit entfernt von jeder ge-
168 Recensionen (Kaiweit).
waltsamen oder überstürzten Reform. Der Gesetzesbuchstabe sollte ein-
gehalten werden, so lange er galt; und soweit er eine vor der Wissen-
schaft und dem Fortschritt unhaltbare Idee vertrat, sollte nur die berufene
wissenschaftliche Presse und der zur Gedankenfreiheit berechtigte Philo-
soph die öffentliche Meinung und die Einsiclit der Regierungsvertreter
bearbeiten, bis dieser Buchstabe auf legitime Weise dem Fortschritt
wich und neue bessere Gesetze die neue Einsicht legitim machten. In
diesem Sinne einer schonenden Fortentwickelung und der Vorbereitung
einer legalen Reform war auch seine Lehrthätigkeit gegenüber der Theo-
logen gemeint, denen er eben deshalb nie den vollen Radicalismus seiner
Lehre, sondern nur eine kritisch ihrer bedenklichsten Dogmen entkleidete
und in den Geist der Moralreligion getauchte Umformung der Dogmatik
vorzutragen pflegte. „Für ihn war die Kirche wohl eine wichtige
Institution im Hinblick auf die religiös-sittliche Volkserziehung
und deshalb lag ihm daran, auch an seinem Teile mitzuwirken, dass
sie ihre Aufgabe erfülle, aber ein eigentlich persönliches Problem
ist sie ihm nicht gewesen, er konnte auch ausserhalb ihres Schattens
stehen".
Auf dieser Grundlage untersucht dann der dritte und längste Ab-
schnitt die begriffliche Stellung, welche Kant der Kirche in seiner Reli-
gionsphilosophie einräumt. Auch hier beseitigt Kaiweit zunächst mit Recht
die Legende, welche Kants Lehre in Zusammenhang mit einer besonderen
Einwirkung des Pietismus bringt. Der pietistische Katechismus, der nach
Hollmanns Konstruktion dem Hauptwerk zu Grunde liegen soll, trägt
keine besonders starken pietistischen Züge und ist nur ein Repräsentant ortho-
dox-katechetischer Tradition überhaupt. Sollte ihn Kant benützt haben,
so würde er ihn nur als Dokument der rechtsgiltigen traditionellen Kirchen-
religion überhaupt betrachtet haben. Kants Lehre von der Religion
wächst völlig selbständig und organisch aus seinem ganzen Denken heraus
und ist gegenüber Pietismus und theologischem Rationalismus eine ganz
ursprüngliche Konzeption. Aber indem diese Konzeption der Religion
den Vernunftgedanken der Beurteilung der Dinge unter dem Gesichts-
punkt einer zielsicheren sittlichen Vollendung aufstellte, wurde ihm
die geschichtliche Kirche zum Problem und zwar zu dem Problem
des Verhältnisses der rationalen Religionsidee zu ihren geschichtlichen
Formen und Durchsetzungsmitteln. Für den Kirchenglauben war die
Kirche als wunderbare Organisation für einen durch das Wunder ge-
sicherten Wahrheitsinhalt immer selbstverständlich. Für die Vernunft-
religion wurde sie ein Problem, und zwar wurde sie das Problem des
Verhältnisses des Rationalen zum Historischen. „Für Schultz war die
Kirche kein Problem, für Kant war sie es ; zwar keines das ihn persönlich
tiefer berührt hätte — er konnte, wie wir sahen, auch ohne Kirche leben
— aber eins, das seinem Denken zu schaffen machte. Er sah die Kirche
als eine starke Realität im Volksleben. Was gab ihr die nicht zu bestrei-
tende Macht? Unleugbar war in ihrem Bestände manche Unvernunft,
manche Verkehrtheit. Wie konnte sie trotzdem sich behaupten ? Welche
Notwendigkeiten lagen hier vor? War es noch möglich, Vernunft und
Kirche mit einander zu verknüpfen, und auf welche Weise konnte diese
Verbindung vorgenommen werden? Würde eine Kirche immer nötig sein,
oder würde sie einmal aufhören können?" Damit ist in der That der
Nerv der Kantischen Problemstellung getroffen, und dieser Nerv hat
selbstverständlich mit dem Pietismus gar nichts zu thun. Ich würde dem
letzteren meinerseits eine Wirkung auf Kants Kirchenidee nur insofern
doch zu schieben, als das Zurücktreten des sakramentalen und objekti-
vistischen Charakters der Kirche im Pietismus und die Betonung der Ge-
meinschaft praktischer Heiligkeit und des Reiches Gottes doch auf die
besondere Art, in der Kant den Kirchenbegriff handhabt und voraussetzt,
eine gevdsse, übrigens von ihm bereits als Selbstverständlichkeit empfun-
dene, Wirkung gehabt hat.
\\
Recensionen (Kaiweit). 169
Die Auflösung des Problems führt dann hinein in eine Analyse der
Grundbegriffe von Kants Religionsphilosophie. K. stellt zunächst in einer
vortrefflichen Untersuchung das nach Kant der Religion zu Grunde
liegende synthetische Urteil a priori dar und gewinnt von hier aus den
reinen rationalen Begriff der Kirche a priori, die unsichtbare Kiche oder
das Gottesreich, die Vereinigung aller Rechtschaffenen unter einer gött-
lichen moralischen Regierung. Das so deducierte Ideal dient als Beur-
teilungsmassstab aller empirischen Religionsgemeinschaften, wobei voraus-
gesetzt ist, dass das transscendentale Ideal der psychologischen Verwirk-
lichungsmittel und das heisst einer organisierten Gemeinschaft, bedarf.
Das ideal der Religion oder die unsichtbare Kirche setzt sich nur in einer
langen Entwickelung durch allerhand psychologische Vermittelung hin-
durch in. die Wirklichkeit. Von da aus entstehen die Mittel zu einer ge-
schichtsphilosophischen Beurteilung der verschiedenen geschichtlichen
Kirchen- und Glaubensgemeinschaften. Diese geschichtlichen Gemein-
schaften können zum Zweck bindender Organisation den Offenbarungs-
glauben, Dogmen und Kultus nicht wohl entbehren als psychologische
Mittel und Vehikel für die Verwirklichung der Idee. Diejenige Kirche
ist die beste, welche in ihrer Organisation am reinsten die apriorische
Idee ausdrückt, aber auch diese ist durch eine bewusste religionsphiloso-
phische Arbeit zu läutern und zu reinigen, indem ihre Bücher und Ord-
nungen der moralischen Auslegung zu unterwerfen sind, d.h. möglichst zum
Vehikel der Vernunftideen durch Interpretation gemacht werden. Das
ergiebt nun Kants Stellung zur christlichen Kirche. Sie ist die vernunft-
gemässeste Kirche und muss immer mehr durch moralische Auslegung der
Dogmen und des Kultus der Vernunft angenähert werden als dem Ziel
der Entwickelung. Aber diese Fortentwickelung findet ihre gegebene
Situation durch das protestantische Staatskirchentum und darf nur unter
Schonung des legalen Buchstabens die Regierung für Aufklärung zu ge-
winnen suchen, damit sie ihrerseits die Folgerungen aus der fortschritt-
lichen Entwickelung in die geltende Kirche und in die Dogmen der
Kirche einführe. Kants eigene Religionslehre will daher nicht die unbe-
dingte Vernunftreligion, sondern eine solche Umbildung und Annäherung
des Kirchenglaubens an die Venunftreligion sein, wie sie von der gegen-
wärtigen Situation gefordert ist und den Übergang vom statutarischen
Dogmenglauben zur freien Moralreligion anzubahnen helfen kann. Die
Mitarbeit an dieser Umformung ist die Art, in der Kant an der Kirche
Teil nimmt. Die empirische Staatskirche ist für das Volk, und der Philo-
soph macht praktisch keinen Gebrauch von ilir. Aber als Mitglied der in
der Staatskirche doch sich äussernden unsichtbaren Kirche gehört auch er
zur Kirche überhaupt und macht den auch für ihn bestehenden Zusammen-
hang der Kirche überhaupt mit der Staatskirche in der Gestalt seines Bei-
trages für die rationelle Portentwickelung der Staatskirche geltend. Kai-
weit ist befremdet durch den Widerspruch dieser theoretischen Anerkennung
und Mitarbeit an der Kirche wider das persönliche Verhalten Kants gegenüber
der Kirche, das ein Verhalten des Misstrauens und der stillschweigenden
Ablehnung ist. Allein eine wirkliche Inkonsequenz scheint mir hier nicht
vorhanden zu sein, es ist eben die beim Denker sehr häufige und bei
einem so konservativ-legalen Denker wie Kant ganz begreifliche Unter-
scheidung^ einer exoterischen und einer esoterischen Religion, zwischen
denen er in dieser Weise vermittelt hat und, wie ich glaube, mit vollem
Bewusstsein vermittelt hat. Die Unsicherheit liegt in einem ganz anderen
Punkte; sie liegt in der eigentümlichen Fassung des Apriori der prak-
tischen Vernunft, das bald in der Analogie zur theoretischen Vernunft
die psychologische Wirklichkeit in sich befasst, bald in völliger Aufhebung
dieser Analogie lediglich einen Gegensatz zwischen der Vernunftwahrheit
und der psychologischen Wirklichkeit sieht. Wird das erstere betont,
dann steigt die Bedeutung der Kirche und der konkret-historischen Reli-
gion, wird das letztere betont, dann wird der individuelle Denker mit
170 Recensionen (Simmel).
seiner transscendeutalen Überzeugungsbegründung der Träger der Reli-
gion. Das aber führt in die allgemeinen Probleme der Kantischen Ethik
und Religionsphilosophie, die Kaiweit nur gestreift hat Soweit, wie sein
Thema reicht, hat er die Untersuchung vortrefflich geführt. Es sind nur
vielleicht Kants Konzessionen an den Offenbarungsgedanken zu ernst ge-
nommen. Aber allerdings lässt sich das Thema im Kern erst fassen, wenn
jenes Grundproblem des Verhältnisses des Apriorischen zum Psychologi-
schen in Kants praktischer Philosophie prinzipiell aufgeworfen wird. Kai-
weit hat sich hier mit Andeutungen begnügt (S. 81), die zeigen, dass er
den eigentlichen Sitz des Problems kennt.
Troeltsch.
Simmel, Georg. K a n t. Sechzehn Vorlesungen, gehalten an der
Berliner Universität. Leipzig 1904. Dunker & Humblot. (181 S.)
Ein Buch von Simmel ist immer interessant. Es regt zum Nach-
denken auch dort an, wo man geneigt ist zu widersprechen. Und selbst
wenn man mit Tendenz und Inhalt nicht einverstanden ist, wird man dem
geistreichen Scharfsinn, den auch dieses Werk Simmeis zeigt, seine Aner-
kennung nicht versagen. Wollte ich sein Buch loben, so brauche ich nur
zu schildern, welche Freude mir auch die wiederholte Lektüre der Schrift
gemacht hat, und ich könnte mich mit der Konstatierung der Thatsache
begnügen, dass in vielen Punkten eine wesentliche Förderung und Klärung
der Anschauungen zu erblicken ist. Ich glaube aber, mit einem solchen
blossen Lobe würde man einem derartigen Werke nicht gerecht werden.
Es ist nicht eine der Mode- und Durchschnittsschriften, es ist etwas
Eigenes und Eigenstes, was uns Simmel hier giebt. Es ist Kant, wie er
sich in Simmeis Geist abspielt.
Wir haben es hier mit einem philosophischen Werke zu thun, nicht
mit Philologenarbeit. Es kann unsere Aufgabe daher nicht sein, im Ein-
zelnen daran herumzuflicken, hie oder da die Auffassung mit all der
peinlichen Genauigkeit eines Philologen auf den Urtext zurückzuführen.
Auf den Sinn des Werkes soll es uns ankommen. Schon äusserlich ladet
Simmeis Buch dazu ein ; fast keine Citate, keine Litteraturangabe, aus
einem Kopf fliesst alles. Und um es kurz zu sagen, es scheint aus einem
Kopf zu fliessen, in dem das Kantproblem noch in Entwickelung begriffen
ist. S. hat sich dem Gedanken der transscendeutalen Methode wohl ge-
nähert, aber er hat ihn noch nicht ei'reicht. Dies scheint mir der Fehler
des Buches zu sein, den man bedauern muss, auch wenn man nicht Kan-
tianer ist. Es ist interessant, zu bemerken, dass S. das Transscendentale,
das er doch noch immer zu transscendent auffasst, an Kant lobt; dass er
aber die transscendenten Umbiegungen, die er doch erst selbst in Kants
Philosophie hineinträgt, in überzeugendster Weise als unbegründete und
widerspruchsvolle Lehren zurückweist. Schade nur, dass S. diese Um-
biegungen als solche nicht zu Bewusstsein gekommen sind, dann würde
die transscendentale Seite — der er immerhin von allen Gesamtdarstel-
lungen noch am meisten gerecht wird — eine ganz andere Kraft erhalten
haben.
Bei Kant spielen ja gewiss auch die transscendenten Motive eine
gewisse Rolle. Die Metaphysik des Übersinnlichen, nach der er so lange
gesucht hat, lässt sich nicht so leicht abstreifen. Aber man wird zuge-
stehen, dass in diesen Fragen und Anschauungen nicht die Besonderheit
Kantischer Denkarbeit gegenüber der anderer Philosophen bestehe ; und wer
in diesen Punkten das Wesen und Ziel der Bestrebungen Kants sieht,
kann in Simmeis Buch ein treffliches Kathartikon finden. Hier sieht er,
wie wenig geklärt und geeint sich diese Vorstellungen gegenüberstehen.
Weil ich S.s Werk für wertvoll halte, weil ich glaube, dass es den
Durchschnitt durchaus überragt, glaube ich mich nicht mit einer kurzen
Empfehlung oder Ablehnung begnügen zu dürfen. Das Buch drängt eher
zur Mitarbeit, denn zu Lob oder Tadel.
Recensionen (Simmel). 171
Suchen wir uns zunächst mit dem Zweck des Buches vertraut zu
machen.
„Die Absicht dieses Buches ist keine philosophie-g:eschichtliche,
sondern eine rein philosophische. Es gilt ausschliesslich, diejenigen Kern-
gedanken, in denen Kant ein neues Weltbild gegründet hat, in das zeit-
liche Inventar des philosophischen Besitzes . . . einzustellen, unabhängig
von allen Anwendungen und Ergänzungen, die zwar innerhalb des Kan-
tischen Gesamtsystems, nicht aber nach inneren und für die Weltan-
schauung entscheidenden Gesichtspunkten mit jenen Hauptsachen ver-
bunden sind."
Es „sollen die Kantischen Lehren hier durch Analyse und Kritik
mit den überhistorischen Lebensfragen der Philosophie konfrontiert
werden". Das Buch „will die fachmässig sachlichen Sätze Kants nach
ihrem eigentlich philosophischen Wert darstellen, nämlich als die Antwort
einer Seele von vorbildlicher Weite und Tiefe auf den Gesamteindruck
des Daseins; mit einer Kantischen Formel; es möchte den , Schulbegriff'
seiner Philosophie durch ihren .Weltbegriff' interpretieren".
Auf Vollständigkeit sieht es S. nicht ab. Sein Buch enthält im
Wesentlichen eine Analyse des Gedankengehalts der drei Kritiken, auch
hierin ist die Vollständigkeit nicht sehr weitgehend, die Ideenlehre und
die Teleologie in ihrer Bedeutung für die Erkenntnis sind z. B. kaum
angedeutet. Beschränkt man sich aber auf das enge Gebiet, was lag dann
näher, als der Versuch, das zu zeichnen, worin Kant selbst die Besonder-
heit seiner Philosophie gesehen hat, was sich überall und an allen Enden,
als seine Intention zu erkennen giebt, nämlich die transscendentale Me-
thode. Auf sie hätte S. mehr Wert legen sollen, und sich nicht so sehr
auf die Feststellung des Weltbildes, der Stellung des Individuums zur
Gesellschaft etc., versteifen sollen, diese Probleme würden dann, in ihrer
Selbständigkeit erfasst, gerechter und vorurteilsloser behandelt worden
sein. Die Fragen der theoretischen Weltauffassung sind für die Wissen-
schaft nur von sekundärem Interesse, wenn nicht irrelevant.
Wenn ich einmal kurz mir erlauben darf, den Gegensatz der Auf-
fassung Kants, der zwischen S.s Werk und der diesem Referat zu Grunde
liegenden Anschauung besteht, zu erläutern, so möchte ich es an einem
Problem thun, das mir in Deutschland seit Leibniz im Vordergrunde des
Philosophierens zu stehen scheint, das schon in Plato und Aristoteles von
wesentlicher Bedeutung war, an der Frage nach der Möglichkeit einer
Einstimmigkeit zwischen Teleologie und Mechanismus, die sich beide an-
scheinend ausschliessen. Wie beide als Erklärungsgründe der Wirklich-
keit auftraten, so schien man auch beide durch eine metaphysische Welt-
anschauung, in die sie als Teilgebiete eingingen, in Einklang setzen zu
können; ihren bestrickendsten und tiefsten Ausdruck fand diese Tendenz
in Leibniz' Lehre von der prästabilierten Harmonie ; oder man ging an
das Problem mit Hilfe des psychologischen Räsonnements heran, und
suchte diese Tendenzen als Inhalte oder Strukturen der Psyche — oder
wie S. es thut, als geistige Energien — nachzuweisen. Beiden ist die
Tendenz gemein, die Facticität des Kausalgesetzes und der Teleologie zu
finden, die eine im Weltzusammenhange, die andere in der Psyche. Und
wie die erste in Kants kritischem Werke aufgelöst wurde, so löste die
zweite in Humes Untersuchungen sich selbst auf. So war der Thatbestand
bis Kant, und es ist die Eigenart gerade dieses Denkers, diese Versuche
als Versuche mit untauglichen Mitteln nachgewiesen zu haben, und an die
Lösung solcher philosophischer Probleme mit einer ganz neuen Frage-
stellung herangetreten zu sein. Er fragt, quid iuris. Er sucht die lo-
gische Berechtigung, nicht den thatsächlich en Grund, die
geistigen Energien, deren Existenz man füglich bezweifeln kann; da
nur das, was angeblich „ihr Produkt" ist, wissenschaftlich als Objekt
gelten kann, geistige Energien aber eine verzweifelte Ähnlichkeit mit ge-
heimen Kräften haben. Kants Frage schliesst in ihrer Lösung den
172 Recensionen (Simmel).
Nachweis des logischen Grundes und der Grenzen der An-
wendbarkeit der problematischen Begriffe, nicht aber den
Nachweis der ihnen zu Grunde liegenden geistigen Energien
und der Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit ein. Wenn er auch
an der quaestio facti nicht \orbeigehen kann, so ist doch ihre Stellung in
seinem Systeme eine andere, ihre Auflösung überlässt er der Psychologie.
Von hier aus kann ich auch sofort meine Stellung zu dem fixieren,
was S. als Kern der kritischen Philosophie ansieht. Er stellt sich der
Auffassung gegenüber, die als das Wesen der Philosophie Kants die Ent-
rechtung und Entwertung des Erkennens gegenüber den Rechtsamen der
praktischen Vernunft ansieht; nach ihr erkennen wir die übersinnlichen
Urgründe der Welt nicht, zu ihnen vermittelt uns nur die praktische Ver-
nunft den Zugang; die Frage nach dem Werte des Lebens ist einzig in
der Provinz der Wollungen heimisch, das Erkennen ist in den Umkreis
der Erscheinungen gebannt, das Ding an sich bleibt iins verschlossen.
Demgegenüber betont S. „Kant und sein System sind völlig intellektua-
listisch, sein Interesse, wie es aus dem Inhalt seiner Lehre hervorleuchtet,
ist: die für das Denken gültigen Normen, als auf allen Lebensgebieten
gültig zu erweisen." Hieraus erklärt sich auch die unnachlässliche Strenge
seiner Moral; sie „stammt aus seinem logischen Fanatismus, der dem ge-
samten Leben die Form mathematischer Exaktheit aufdrängen möchte."
Ich kann mir diesen Gegensatz sehr wohl vereinheitlichen Man
muss festhalten, dass Kants Untersuchung eine metalogische, keine That-
sachenerkenntnis ist. Er sucht die Idee der Erfahrung, die Idee der Sitt-
lichkeit etc logisch zu rechtfertigen; damit ist die Logik die bestim-
mende Macht seiner Untersuchungen; eine ganz andere Frage
ist die Wertung der verschiedenen Provinzen menschlicher
Thätigkeit; sie bilden so wenig einen unvereinbaren Gegensatz wie
„hart" und „weiss".
Anders freilich verhält es sich, wenn man, wie S. es thut, Kant die
„geistigen Energien" bestimmen lässt, dann kann freilich nur das eine
oder das andere gelten. Wir werden es aber zu prüfen haben, wie weit
S. im Rechte ist, denn sein Wort, dass Kant zu den ganz grossen Geistern
gehört, die mit dauernd der Entwickelung eingefügt, mit dem Wandel der
Geschichte sich selbst wandeln, und nicht eindeutig sagen, wie sie ver-
standen sein wollen, sondern jeden Geist berechtigen und auffordern, „sein
eignes Sein und Können an ihrer Deutung zu bewähren"; diese Bemerkung
also hat ihre Gerechtsame doch nur innerhalb der Grenzen möglicher,
d. h. durchführbarer Variationen und Deutungen. Zeigt es sich, dass eine
Deutung nur gezwungen und unter Annahme einer Reihe von Inkonse-
quenzen, die sonst in Wegfall kommen, sich aufrecht erhalten lassen, so
kann sie wenigstens nicht für eine ,philosophische' gelten, die den best-
möglichen Sinn festzuhalten hat.
In der Erkenntnistheorie hat Kant nach S. von der in Mathematik
und Erfahrung vorliegenden Erkenntnissen auf die geistigen Energien,
die sie bilden, zurückgeschlossen. Die Wahrnehmungen bilden den Stoff
der Erfahrung, der vom Intellekt mit Hilfe der ihm eigenen Formen zu
Erfahrung geformt wird. Damit wird die Einseitigkeit des Empirismus
und des Rationalismus überwunden: „das wahre Weltbild entsteht durch
das Zusammenwirken sämtlicher geistiger Energien, die Einseitigkeit
aller Lehren, die eine derselben auf Kosten der andern zum Träger der
Wahrheit machen, ist überwunden, während die Wertung der geistigen
Energien überhaupt als Quell der Welt, von der wir sprechen können, er-
halten bleibt. Wenn Objektivität heisst, subjektive Ansprüche ausgleichen
und sie in eine höhere Einheit jenseits ihrer Einseitigkeiten überzuführen,
so spiegelt sich die Objektivität des Ausgangspunktes, den Kant nahm,
in der Objektivität dieses schliesslichen und entscheidenden Gedankens."
Kurz gesagt, die Erfahrung ist vom Subjekt abhängig, das den
Stoff, die Wahrnehmungen, auf Grund apriorischer Formen zu objektiven
f!
Recensionen (Simmel). 173
und damit wahren Erkenntnissen maclit. Wollten wir einmal die trans-
scendeuten UmbiegungKn S.s eliminieren, so würden wir sagen, Erfahrung
ist gewisslich vom Subjekt abhängig, denn sie wird nicht vorgefunden,
sie ist eine Idee, die das Subjekt zu realisieren sucht. Die Ergebnisse
geistiger Thätigkeit, das Resultat der Verarbeitung der Wahrnehmungen
werden nur dann Erfahrungen sein, wenn sie die Bedingungen des Be-
griffs der Erfahrung erfüllen. Die begrifflichen Voraussetzungen des Er-
fahrungsbegriffs sind die Bedingung sine qua non, was ihr nicht ge-
nügt, kann unter den Begriff der Erfahrung nicht subsumiert werden,
kann Erfahrung nicht genannt werden. So wenig aber irgendwo in der
Wissenschaft sonst aus einem allgemeinen Begriff das Besondere in seiner
Besonderheit deduziert werden kann, ebenso wenig kann aus der Idee der
Erfahrung, aus dem „Begriff der Erfahrung überhaupt" die Einzelerfahrung
erschlossen werden ; denn die in der Idee der Erfahrung liegenden Ele-
mente machen nicht die Objektivität, sie drücken sie nur aus. In der
Erkenntnis dieses Umstandes schied Kant die reine Synthesis von der em-
pirischen. Auf Grund welcher geistiger Energien sie zustande kommen,
ist irrelevant, festzustellen aber, welchen Forderungen sie zu genügen
haben, dürfte die unausweichbare Aufgabe der Erkenntnistheorie sein.
Drei Schwierigkeiten hebt S. an der Aprioritätslehre hervor:
1. „Der Gedanke, dass die Beschaffenheit des erkennenden Subjekts
selbst die Bedingung des Erkennens ist, da.ss man also von jedem eifahr-
baren Gegenstande von vornherein und ohne ihn zu untersuchen, diejenigen
Bestimmungen aussagen kann, die die Erkenntniskräfte des Subjekts, der
Prozess des Erkennens selbst ihm aufprägt, — dieser Gedanke ist zwar
in seiner Einfachheit — unmittelbar einleuchtend, allein die unbedingte
Gültigkeit irgend eines bestimmt formulierten Satzes folgt daraus nicht
so unmittelbar, wie Kant meint." Meinte das Kant? „Niemand wird be-
haupten, dass das Kausalgesetz als ein bewusstes Prinzip in uu'^ wirkte,
wenn wir unsere Wahrnehmungen ihm gemäss deuten." Kant würde ge-
wiss der Letzte gewesen sein, der dies behauptet hätte. Also die psy-
chische Funktion ist das a priori, nicht der Satz, der sie ausdrückt. Dass
Kant an der Hand der Urteilsformen jene psychischen Funktionen a priori
in ihrer Vollständigkeit herleiten wollte, das ist wahrhaft „wunderlich und
abstrus" und wenig befriedigend. „Die Schwäche dieser Methode liegt
heute auf der Hand"; dazu wäre es noch gar nicht einmal vonnöten ge-
wesen, „den Geist in den Fluss der Entwickelung zu ziehen", zu wie
schönen Bemerkungen auch diese Betraclitung Anlass geben mag.
2. „Unser Geist hat nicht diese Formen, sondern er ist sie." „Die
Gesetze der Geometrie sind die abstrakten Formeln für diejenigen Ener-
gien, die regelmässig unsere Sinneseindrücke zu Raumgestalten bilden.
Aber Unsicherheiten, Alterationen, Täuschungen gehen doch auch hier vor
sich. . . . Ganz unzweideutig sind bei einer anderen apriorischen Form,
der Kausalität, die Fälle, in denen sie eben nicht herrscht, in denen wir,
unfreiwillig aber gelegentlich auch freiwillig, keineswegs dem Kausalgesetz
gemäss denken. Wie vereinigt sich dies nun mit der Allgemeinheit und
Notwendigkeit dieser Denkformen, und damit, dass unser Geist sie a priori
in sich trägt und sie dadurch seineu Einzelinhalten unvermeidlich aufprägt ?"
Gar nicht vereinigt sich das, absolut gar nicht. Man kann die Undurch-
führbarkeit der Deutung S.s gar nicht besser beleuchten, als S. es selber
gethan hat. Sind Kausalität etc. Funktionen a priori der Seele, sind sie
unser Geist, dann in der That stehen wir liier vor einem unlösbaren
Räthsel. Aber wir brauchen, ja wir dürfen sie nicht so betrachten. Kants
eigene Auslassungen verbieten das. Das a priori bezieht sich niemals auf
unseren Geist, sondern stets nur auf die Erfahrung, ') als die „Form" der
1) Der Unterschied kann kaum treffender gekennzeichnet werden,
als durch die von der Marburger Schule getroffene Scheidung von Be-
wusstsein und Bewusstheit.
174 Recensionen (Siramel).
Erfahrung, nicht als „das die Erfahrung Formende"; als Begriff, nicht als
Sache. S. gräbt seinen Gedanken tiefer und seine weiteren Ausführungen
sind ebenso ein Beweis für seinen Scharfsinn wie für die Undurchführbar-
keit seiner Interpretation.
S. meint, Kant würde auf den von ihm skizzierten Einwand „sehr
einfach antworten : das Apriori ist eben nur ein Apriori des Erkennens,
wo wir es nicht anwenden, erkennen wir nicht, sondern vollziehen nur
irgend welche subjektiven seelischen Prozesse, die aber nicht Erfahrungen
sind. Dass diese Formen unserem Geiste immanente Energien sind, be-
deute doch nicht, dass sie fortwährend funktionieren müssen . . . Das
Apriori werde durch die Mängel seiner Anwendung . . . seiner gesetz-
lichen Gültigkeit [nicht] beraubt . . . Dies ist durchaus richtig, aber es
führt, wie mir scheint, zu einem verderblichen Zirkel. Jene Normen be-
herrschen nur die gültige Erfahrung. Aber woher wissen wir denn, was
gültige Erfahrung ist, ausser dadurch, dass wir diese Normen in ihr geltend
linden?" [das klingt nach Fichte]. Die Normen „sind also sozusagen in
eigener Sache Richter und der Wahrheitsbegriff dreht sich im Kreise".
Nota bene wenn für Kant die Begriffe a priori geistige Energien sind,
die die Wahrnehmuugen zu Erfahrungen und damit zu Wahrheiten um-
bilden.
Auch die Einheit der Vorstellungen biete keine hinreichende Le-
gitimierung, da diese sich „nach jenen formenden Kategorien" richtet,
„für die wir erst nach einer Bestätigung suchten" . . . „Der Kantische
Zirkel, unsere Erkenntnisse sind wahr, weil und soweit sie von apriori-
schen Normen bestimmt sind, — und diese sind gültig, weil jene von
ihnen normierte Wissenschaft unbezweifelt gilt — dieser Zirkel ist der
unmittelbare Ausdruck des absolut theoretischen Charakters der Kantischen
Philosophie, den ich hervorhob."
3. Die dritte Schwierigkeit liegt für S. darin, dass der Umschwung,
die Umwandlung des Wahrnehmungsurteils in ein Erfahrungsurteil nicht
hinreichend dargethan ist. Es ist dies ohne Zweifel eine Frage von
grossem psychologisclien Interesse ; dass hierin aber für die Erkenntnis-
kritik ein Problem nicht vorliegt, da sie nicht zur Aufgabe hat, die Ent-
stehung der Erfahrung zu erklären, habe ich bereits vor einigen Jaliren
ausführlich dargethan, und ich kann es mir um so eher ersparen, meine
damaligen Auseinandersetzungen zu wiederholen, weil S. auf den beiden
Seiten, die er dem Problem widmet, sich mit einer Erläuterung des be-
treffenden Kapitels der Prolegomena und der Konstatierung der Schwierig-
keit begnügt, die die Psychologie bis heute noch nicht überwunden hat.
Erfahrung kann durch Erfahrung umgestossen werden. Wie kommt
das, wenn sie, durch apriorische geistige Energien gebildet, Objektivität,
d. h. Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit besitzt ? Die blossen Kate-
gorien geben uns nur ein blutloses Schema der Erkenntnis, als dessen
Gegensatz das Wahrnehmungsurteil gilt. Die Erfahrung ist ein Gemischtes
aus beiden, ein Mittleres zwischen beiden, eine Entwickelung von dem
einen zum anderen. Darin liegt die Möglichkeit ihrer Korrigierbarkeit.
Die Wahrnehmung wird in unendlicher Reihe von den Normen geformt,
und diese Formung ist eine Thätigkeit des Subjekts, das ist der Sinn von
Kants Idealismus. „Der objektive Gegenstand entsteht, indem die ein-
zelnen Sinnesempfindungen zu einer Einheit, die sie aneinanderhält, kristal-
lisieren ; dadurch werden sie das, was man die Eigenschaften des Dinges
nennt." Zu dieser Einheit können sie sich zusammenschliessen, weil unsere
Seele ein Ich bildet. „Das Ich ist — die Einheit, in der alle meine Vor-
stellungen sich zusammenfinden ; ja die einzige, absolute Einheit innerhalb
unsers Wesens, gegenüber der Extensität und Vielseitigkeit der Materie
unsres Seelenlebens, und als solche einzig geeignet, jene Vereinheitlichung
von Elementen, in der das Objekt und seine Erkennbarkeit erwächst, in
sich und durch sich zu vollziehen". Hierin liegt die Macht unserer Seele
über die Dinge und „weil es der Gipfelpunkt alles menschlichen Thuns
Recensionen (Simmel). 175
ist, leuchtet in ihm am sichtbarsten Kants grosser Gedanke auf, dass die
Objektivität der Dinge unserer Seele gegenüber in jener Einheit ihrer
liegt, die unsere Seele selbst ihnen verleiht und mit der sie deren eigene
Form wiederholten".
Treffend weist S. den Versuch zurück, aus dem formalen Idealismus
Kants einen materialen zu machen. Die Welt ist nur meine Vorstellung,
ist ein Kant mit Unrecht untergeschobenes Theorem. „Es giebt dem
Kantischen Idealismus eine Bedei;tung für das subjektiv-persönliche Leben
und sein Verhältnis zum Dasein überhaupt, die völlig über die Absicht
Kants hinausgeht. Das Ich, das die Welt zusammenhält und sie dadurch
als objektives Sein schafft — dieses Ich . . . ist durchaus kein persön-
liches, ist durchaus nicht die Seele, der das Gewährtsein oder Versagtsein
der Welt ausser ihr eine Frage des Lebenswertes wäre . . . „Was wir das
Ich nennen, ist nichts als die Einheit, zu der die einzelnen Inhalte der
vorgestellten Welt sich zusammenfinden : es giebt keine Einheit ohne Ele-
mente, die von ihr oder zu ihr geformt werden, zum mindesten nicht in
den Grenzen der erkennbaren Welt." S. erläutert diese These am Raum-
problem ganz vorzüglich und seine Ausführungen scheinen mir bei weitem '
eher mit der von mir skizzierten Auffassung der transscendentalen Me-
thode zu harmonieren, als mit den transscendenten Umbiegungen S.s.
Diesen gegenüber erscheinen sie eher als eine Inkonsequenz. Hier bricht
auch eigentlich die Auffassung durch, dass es sich für Kant darum ge-
handelt habe, das bestehende Wissen in der Erfahrung und mathema-
tischen Naturwissenschaft „zu analysieren und aus seinen Elementen zu
erklären"; aus seinen Elementen, d. h. doch aber offenbar nicht aus
letzten geistigen Energien.
Mit Recht weist S. den fruchtlosen Streit zurück, wie sich die Ver-
nunftkritik zu den absoluten Dingen an sich stelle ; die empirische Reali-
tät der Aussendinge hat Kant in keiner Weise in Zweifel gezogen, sie
sind ihm um so weniger blosse Vorstellungen, als ja auch das Seelenleben
nur Erscheinung ist. „Diese Koordination, die die Aussen- und die Innen-
welt von der Frage nach ihrem Erkanntwerden aus gewinnen, ergiebt als
weiteres Resultat für Kant die Lösung eines Hauptproblems alles neu-
zeitlichen Philosophierens: der Wechselwirkung von Geist und Körper."
„Was die Metaphysik für die der Erklärung bedürftige Thatsache
gehalten hatte: die unausgedehnte Substanz der Seele, die von dem
Geistigen unabhängige Raumeswelt und irgend eine Art Vereinheitlichung
zwischen ihnen, — eben das erklärt Kant für eine naive und willkürliche
Annahme. Denn gerade jene Substanzen sind nicht gegeben, sondern nur
körperliche und seelische Erscheinungen, deren Einheit darin liegt, dass
sie eine einheitliche, d. h. allenthalben die gleichen Regelmässigkeiten
aufweisende Erfahrung bilden."
Damit wird aller Materialismus und Spiritualismus beseitigt und aus
einer metaphysischen Schwierigkeit eine empirische gemacht. Es giebt
nur eine einheitliche Welt, wie es nur eine Erfahrung giebt.
Kants Ethik hat den Freiheitsbegriff vertieft; zeigt aber auch die
ganze naturwissenschaftliche Denkgewohnheit des Philosophen, die Gesetze
der Sittlichkeit sind allgemein, d. h. für jedermann etc. gültig. Diese
beide Gedanken finden darin ihre Einheit, dass nicht das pflichtmässige
Handeln, sondern allein das Handeln aus Pflicht dem sittlichen Anspruch
genügt. Kants Formulierung der ethischen Grundgesetze will nicht eine
neue Sittlichkeit schaffen, sie enthüllt sich „als blosses Mittel für die
Klärung und Auseinanderlegung von anderweitig — durch sittlichen In-
stinkt oder sonst — schon anerkannten sittlichen Werten. Wie in der
Erkenntnislehre die Thatsache der Erfahrung, wird hier die Thatsache der
Sittlichkeit als das zu erklärende Problem vorausgesetzt. Die Analyse
der ethischen Probleme, ein Gebiet, auf dem sich S. auch sonst schon als
Meister erwiesen hat, gehört zu den besten und trefflichsten Partien des
Buches, Man kann sie nicht lesen, ohne dem eindringenden Scharfsinn
176 Recensionen (Simmel).
S. seine Bewunderung' zu zollen. In ihnen scheint sich S. gegenüber
früheren Ausfülirungeu Kant sehr genähert zu haben. Ich hätte nur ge-
wünscht, dass er in der Kritik der Kantischen Lehren dem neuerdings mit
Eifer ausgefochtenen Streit zwischen formaler- und Inhalts-Ethik einige
Aufmerksamkeit zugewandt hätte. Auch die Ethik scheint er mir nicht
hinreichend formal aufzufassen. Der kategorische Imperativ schafft nach
ihm die sittlichen Werte analog wie die Kategorien die Erfahrung schufen.
Ich halte diesen ethischen Gedanken für transscendent, für Metaphysik.
Kant hat freilich aus seinem formalen Prinzip ethische Inhalte abgeleitet;
in harter Inkonsequenz gegen seine erkenntnistheoretischen Anschauungen.
So spricht denn nicht wenig für die Auffassung S.s Wie er aber
den Freiheitsbegriff, den Begriff der Tugend, des Sittengesetzes, des Ver-
hältnisses von Tugend und Glückseligkeit, die Rolle, die das Ding an
sich in Kants Ethik etc. spielt, bespricht, der geistvolle Scharfsinn, den
er dabei bekundet, die ernste Eindringlichkeit und Sachlichkeit, alles das
bedeute eine wertvolle Klärung ethischer Begriffe, auch für den, der J
^ andere Bahnen zu gehen gewohnt ist. 1
Geistvoll sind auch die Erörterungen der ästhetischen Probleme.
In der Schlussvorlesung fasst S. seine Ausführungen in einer Art
soziologischen Würdigung Kant zusammen. „Die prinzipiellen Lebens-
probleme der Neuzeit bewegen sich im Wesentlichen um den Begriff der
Individualität." Kants Begriff der Individualität ist die philosophische
Sublimierung des Begriffs vom Individuum, wie ihn das 18. Jahrhundert
hervorgebracht hat, er drückt das aus, „was eben allein allen gemeinsam
ist", er ist der Ausdruck „des Allgemein-Menschlichen in uns, des über-
historischen, überindividuellen ,Menschen überliaupt', der sich zu allen ein-
zelnen verhält, wie der Allgemeinbegriff zu seinen Exemplaren". Die Ro-
mantik brachte uns den Menschen in seiner Besonderheit, die Würdigung
des Menschen in seiner qualitativen Bestimmtheit; und darin liegt gewiss
ein Fortschritt. Aber Kants „Deutung des menschlichen Daseins, die von
der Idee der Freiheit und Gleichheit getragen ist, ist nicht in dem Sinne
historisch, dass die Veränderung der Umstände sie einfach antiquierte. Ich
glaube vielmehr, dass sie ähnlich gewissen Gedanken des Griechentums
und des Christentums als dauerndes Element der Lebensdeutung und
der Idealbildung die Zeit ihrer Alleinherrschaft überleben wird".
Es wird niemand an Simmeis Buch vorbeigehen können, der sich
ein wirklich gutes Buch nicht entgehen lassen will. Und ich glaube, es
wird auch niemand dazu Lust haben. Es ist ein durchaus philosophisches
Buch, das auf jeder Seite die Eigenart des Verfassers zeigt. Und solche
Werke sind selten, doppelt selten, wenn sie zum Thema die Schilderung
der Philosophie einer so überragenden Persönlichkeit wie die Kants haben.
So wertvoll aber auch ein solches Werk nach dieser Richtung sein mag,
so wird doch die Kritik auch nach einer anderen Seite hin, nach der phi-
lologischen, ihre Aufmerksamkeit zu richten haben ; denn die Arbeit ist
eine Variation des Thema Kant und sie hat sich als solche innerhalb der
Grenzen möglicher Variationen zu halten : Kant bedeutet uns eine not-
wendige Stufe der Entwickelung der philosophischen Einsicht. Erst wenn
seine Lehren seinen Absichten nach in möglichst vollkommener Klarheit
dargestellt sind, wird ein dauernder Fortschritt über ihn hinaus möglich
sein. Und am Fortschritt der Wissenschaft wünschen wir doch alle zu
arbeiten. Daher muss auch Kant gegenüber der Wunsch individueller
Deutung stumm bleiben. Hiergegen muss die wissenschaftliche Kritik
Front machen. Es ist daher auch natürlich, dass in meinem Referat die
Kritik vorwaltet. Es wäre aber gegen alle meine Absichten, wenn dies
den Anschein erwecken würde, dass meine Darlegungen den Wert des
Buches schmälern sollten. Ich möchte daher meine Besprechung ausdrück-
lich mit dem Ausdruck des Dankes für die vielfachen Belehrungen und
Anregungen von Simmeis Buch schliessen.
BerHn-Charlottenburg. • Hugo Renner.
Recensionen (Söailles — Görland). 177
Seailles, Gabriel. Das künstlerische Genie. Eine Studie.
Übersetzt von Marie Borst. Leipzig, E.A.Seemann. 19U4. (XII u. 292 S.)
Kant hat bekanntlich (im 47. Paragraphen der Kr. d. Urt.) bestritten,
dass das Genie auch in der Wissenschaft seine Stelle habe : er will nur
von künstlerischen Genies gesprochen wissen. Zu den vielen Gegnern,
die diese Lehre Kants von Anbeginn an gefunden hat, ist ein neuer ge-
kommen: Gabriel Seailles, Professor der Philosophie an der Universi-
tät Paris. In dem geistreichen Buche „Das künstlerische Genie"
stellt er in instruktiver Weise Kunst und Wissenschaft neben einander.
Beide „sind Formen des Lebens; sie fliessen aus derselben Quelle, aus den
spontanen Regungen des Geistes, die Sein und Handeln desselben be-
stimmen" (7). „Was der Geist auch thun mag, er arbeitet stets für die
Ordnung; er lebt nur dadurch, dass er eine gewisse Schönheit in die
Dinge bringt" (39). Allein die Erscheinungen widerstreben den Forder-
ungen des Geistes; es kommt dem Gegebenen gegenüber zu keiner vollen
Überwindung der Materie. Das wissenschaftliche Genie zwingt den Er-
scheinungen die in ihm wohnende Schönheit „gewissermassen gewaltsam"
auf. Es ist das Vorrecht der Kunst, eine freie Offenbarung des Genies zu
verstatten, und die Bedingung ihrer Möglichkeit ist, „dass im Geiste ge-
fügige Elemente leben, dass sich eine Art geistiger Materie bilde und an-
häufe, welche, obgleich die Welt darstellend, doch mit dem Geist identisch
ist und seinen Gesetzen nicht mehr widerstrebt". Die Kunst ersteht „aus
der freien Bewegung des Lebens, das mit seinen eigenen Gesetzen spielt
und sich selbst geniesst" (71). „Wir erkennen das Objekt nur mit Hilfe
der Empfindung ; aber die Empfindung entschwindet nicht ganz, sie bildet
vom Augenblick ihres Auftretens an ein Element unseres inneren Lebens ;
sie kann wiedererstehen ; und auf diese Weise häufen sich in uns die
Bilder, welche — weil sie etwas Geistiges sind — allen Bewegungen des
Geistes folgen, keine anderen Gesetze kennen als die seinigen, und welche
imstande sind, durch ihre Kombinationen eine ganz geistige Welt zu schaffen.
Diese Welt, in welcher der Geist alles ist, weil ja sogar ihre Materie geistig
ist, ist die Welt der Kunst; jene Allmacht des Denkens aber, das sich in
ihr in vollster Freiheit kundgiebt und sich ganz und gar zum Ausdruck
bringt, ist das Genie" (239). Ein jedes Gefühl nun strebt sich auszu-
drücken, jedes Bild will sich realisieren: so drängt das im Geist konzi-
pierte Kunstwerk zum sinnlichen Dasein.
Man wird nicht verkennen, dass die in dem Buche vertretene Theo-
rie des wissenschaftlichen Erkennens stark von dem subjektivistischen
Moment der Kantischen Erkeuntnislehre beeinflusst ist. Die Doktrinen
der Kr. d. r. V. erscheinen hier in einer interessanten Beleuchtung — man
möchte sagen : unter dem Primat der ästhetischen Vernunft. — Mit be-
sonderer Anerkennung sei noch die — trotz der nicht immer leichten
Gedankengänge — überall flüssige und elegante Darstellung hervor-
gehoben.
Görland, A. Paul Natorp als Pädagoge. Zugleich mit
einem Beitrag zur Bestimmung des Begriffs der Sozialpäda-
gogik. Leipzig, Julius Klinkhardt, 1904. (78 S.)
Paul Natorp, Sozialpädagogik. Zweite vermehrte Auflage.
Stuttgart, Fr. Frommann, 1904. (XXIV u. 400 S.)
Nachdem Hermann Cohen als erstem der „Neukantianer" eine im
VII. Bande der „Kantstudien" (S. 150 ff.) besprochene Monographie zu
Teil geworden ist, ist nun auch seinem philosophischen Gesinnungsge-
nossen Paul Natorp die gleiche Ehre widerfahren. Der Verfasser, A.
Görland, der sich zuerst durch eine Dissertation über ,Aristoteles und die
Mathematik' (Marburg 1899) bekannt gemacht hat, wirkt seit mehreren
Jahren in Hamburg, namentlich in den philosophisch interessierten Kreisen
des Volksschullehrerstandes, dem er selbst früher angehört hat, für die
Gedanken des Kritizismus in derjenigen Form, in der ihn die „Marburger
Schule" — wie Görland lieber statt „Neukantianismus" gesagt haben will
Kantstudien X. 1 .-j
178 Recensionen (Görland).
— weiterzubilden bestrebt ist. In der That scheinen Natorps pädag'Ogische
Grundsätze bei einem Teile derjenigen Volksbcliulpädagogen, die sich für
die philosophische Fundamentierung der Erziehungskunst interessieren und
früher fast ausnahmslos auf Herbart schworen, sich eines nicht geringen
Ansehens zu erfreuen; ist er doch von Otto Ernst in dessen bekanntem
.Flachsniann als Erzieher' als erfolgreicher Rivale Herbarts sogar auf die
Bühne gebracht worden ! Auch die vorliegende Schrift Görlands ist der
Sonderdruck einer Aufsatzreihe, die den Verfasser in der ,Deutschen Schule',
einer im Auftrage des Deutschen Lehrervereins von Rissmann herausge-
gebenen pädagogischen Monatsschrift, veröffentlicht hat. Sie schildert in
ihrem ersten (kleineren) Teil Natorp freilich nur als Pädagogen. Aber,
da Natorps pädagogische Anschauungen untrennbar mit seiner philoso-
pliischen Grundstellung verbunden sind, so wird auch diese mit charak-
terisiert.
Wir glauben auf diesen ersten, referierenden Teil der Schrift hier
nicht näher eingehen zu sollen, da wir selbst bereits über Natorps „Sozial-
pädagogik" an anderen Stellen ^) berichtet haben. Mit Recht sieht Görland
in der Ausdehnung der kritischen Methode auf eine soziale Pädagogik
grossen Stils gerade das, was Natorps Philosophie im Unterschiede von
erjenigen seiner Gesinnungsverwandten Cohen, Stammler, Staudinger u. a.
ihr besonderes Gepräge giebt. Die Schriften und Aufsätze des Marburger
Philosophen, die er seiner Darstellung zu Grunde legt, sind: 1. ein Auf-
satz ,Zur Schulfrage' in der Ethischen Kultur von 1893, 2. die Religion
innerhalb der Grenzen der Humanität (1894), die sich ja ausdrücklich be-
reits als „ein Kapitel zur Grundlegung der Sozialpädagogik" bezeichnete,
3. zwei kleinere Arbeiten über Pestalozzi und den platonischen Staat (1894),
4. Herbart, Pestalozzi und die heutigen Aufgaben der Erziehungslehre (1897,8),
und endlich 5. das Hauptwerk: die Sozialpädagogik (1899). Darstellung
und Ton sind warm und begeistert, verraten aber eine selbständige Durch-
dringung des Themas.
Dass Görland kein blosser Nachbeter fremder Weisheit, dass
er ein Selbstdenker ist, beweisen seine, beinahe zwei Drittel der
ganzen Schrift (S. 29—78) einnehmenden, eigen en Ausführungen über
den Begriff der Sozialpädagogik, die zwar aus der „Stimmung" des
Natorpschen Werkes herausgeschrieben sind, aber doch „in freier Selbst-
entwickelung", wie der Verfasser mit Grund von sich sagen kann (S. 46),
und von neuen Gesichtspunkten aus ähnliche Gedanken entwickeln. Dem
positiv aufbauenden Teile gehen zunächst zwei kürzere kritische Abschnitte
zur Charakterisierung der Individualpädagogik (S. 30 — 38) und der
„sozial interessierten" Pädagogik (38 — 46) vorauf. Die erstere, der
pädagogische und historische Ausdruck des politischen Liberalismus, die
den Menschen bloss als Individuum betrachtet, versagt schon vor
den Problemen der Gesellschaft, die ihr nur eine Summe von Individuen
ist, und des Staates, den sie bloss als lästige, die freie Entwickelung der
Kräfte hemmende „Regierung" empfindet (vgl. Wilhelm v. Humboldt); erst
recht natürlich vor dem ethischen Zentralbegriff der Gemeinschaft
und ihrem Verhältnis zur Person, ebenso wie von den Problemen der
Kultur und des Erkennens. Aber, wie „epikureisch-egoistisch" im letzten
Grunde ihr Persönlichkeitsideal auch sein mag, wie oberflächlich ihr ge-
sellschaftliches Prinzip : „Geht es dem einzelnen gut, so auch der Gesell-
schaft", auch gedacht ist: sie hat wenigstens das ästhetische Ziel einer
harmonischen Ausbildung der einzelnen Persönlichkeit im Auge. —
Anders die sogenannte „sozial interessierte", die vulgäre Form der „Sozial"-
Pädagogik. Sie will für die Gesellschaft vorbereiten, den „Bürger im
Menschen" ausbilden. Nur als Glied des grossen Organismus der Arbeit
soll das Individuum noch einen Wert haben. Aber dieser grosse Organis-
1) K. Vorländer, Gesch. der Philosophie II, 466—468; ders., Kant
und der Sozialismus S. 21 — 28, am ausführlichsten in Ztschr. f. Philos. u.
pUlos. Kritik 114, S. 216—240.
Üecensionen (Görland). 179
mus der ,, Gesellschaft" macht sich nur zu oft als rein ökonomischer Faktor
geltend; der nackte Nützlichkeitsmassstab tritt hervor, das Talent wird
bloss und schon von früh auf zum künftigen Berufe ausgebildet, zur Spe-
zialität anstatt zur Originalität. Der „Staat", das „Volk" sind an sich zu
vieldeutige Begriffe, als dass sie als brauchbares Korrektiv, als vollgültiges
Kriterium genügen könnten. Ist doch noch nicht einmal der Gedanke der
allgemeinen Volksschule Gemeingut der Gesamtheit geworden; vorher
aber kann man von keiner Einheit eines Volkes reden (45). Wenn die
soziale Pädagogik daher sich nicht bloss von mehr oder weniger wert-
vollen Gefühlen und Instinkten und von einer höchst unbestimmten „Er-
fahrung" leiten lassen will, so bedarf sie bestimmter, fester Ziele und
Prinzipien. Diese liefert ihr die kritische Sozialpädagogik auf Grund
der Methode Kants, aber über diesen selbst hinausgeführt.
Die Gesetze der Sozialpädagogik können nicht mathematischer
Art, sondern müssen Entwickelungsgesetze der Bildung, Bildungsgesetze
des Menschen sein. Ob alle Entwickelung so unbedingt und schlechthin
nur unter dem Gesichtspunkt von Mittel und Zweck begreifbar ist, wie
es Görland (S. 49 f.) will, scheint uns zweifelhaft. Jedenfalls muss „Zw^eck"
dann in dem allerallgemeinsten Sinne einer in dem Chaos der Erscheinungen
überhaupt erst Sinn und Ordnung schaffenden „Hypothese" genommen
werden. Sehr hübsch ist es, wie der „Zweck" als „retrospektives"
Prinzip für die gegebenen und vergangenen Erscheinungen (z. B.
der Biologie), als „prospektives" dagegen' für die zukünftigen, noch zu er-
zeugenden, somit in erster Linie für das menschliche Handeln aufgezeigt
wird (Kants Naturteleologie und Ethik, „formale" und praktische Zweck-
mässigkeit, vgl. § 47 und 49 meiner Gesch. d. Philosophie, Bd. 11.). So
dient der „Zweck" zugleich dem Verständnisse der vergangenen und dem
Schaffen der zukünftigen Zeit (S. 51). Freilich darf der methodische
Unterschied der beiden „Welten", genauer „Gesetzesgebiete" (Gesetz der
Natur — Idee der Freiheit) auch nicht überspannt werden. Auch der be-
wusste Wille des Menschen kommt doch nie, wie es nach Görlands
Worten (ebd.) wenigstens scheinen kann, „aus dem Ursachenzwang her-
aus, an den ihn seine Natürlichkeit kettet", sondern, um mit Natorp
[Socialpädagogik, 2. Außage, S. XX) zu reden: „die Behauptung der unein-
geschränkten Geltung des Kausalgesetzes für allen zeitlichen Eintritt
von Ereignissen gehört zum eisernen Bestand der Lehre Kants und, soviel
ich weiss, aller Kantianer", — vermutlich auch Görlands.
Beachtenswert, wenngleich etwas künstlich, erscheint uns weiter die
Formulierung der „fremden Kausalität", von der die „Eigenenergie" un-
seres Bewusstseins bedroht wird. Sie äussert sich entweder in der Ge-
stalt des „materialen" Bedürfnisses (z. B. Hunger, Langeweile, Heimweh),
oder der des „sozialen" Zwanges (Krankheit, Furcht, Hass). Zur Befrie-
digung bezw. Bewältigung des ersteren zum Behuf der eigenen Glück-
seligkeit dient die ganze ökonomische Arbeit der Gesellschaft, deren Mo-
tiv das Klugheitsprinzip des grössten eigenen Vorteils ist; zu der des
letzteren der (ideale) Staat, der — ein marxistischer Gedanke — die
„anarchische Willkür" der „blinden" Ökonomie in ein „System der Arbeits-
beziehungen" „hinaufführt" (54), wie es beispielsweise das staatliche
Beamtentum in Post, Eisenbahn, Bildungswesen u. s. w. jetzt schon in
grossartiger Weise darstellt (56). Allerdings ist der Staatsgedanke an sich
noch kein sittlicher Begriff, sondern „beinahe" nur die „Logik" der so-
zialen Arbeit; aber sein Prinzip, der Schutz des Schwächeren, der Allge-
meinheit, des Individuums als Menschen entspringt sittlicher Überlegung.
Er ist mindestens die conditio sine qua non der sittlichen Aufgabe, schränkt
die ökonomische „Freiheit" durch die staatliche „Gleichheit" ein. Allein
durch ihn wäre erst Kants „Legalität" im Gegensatz zu seiner „Moraütät"
repräsentiert, w-enn nicht zu dem Postulat des Menschen als Naturwesens
(der Freiheit des Individuums) und dem des Naturuntergrundes für Sitt-
lichkeit (der Gleichheit des Staatsbürgers), als drittes im Bunde das-
12*
180 Recensionen (Görland).
jenige der sittlichen Welt selbst, die Brüderlichkeit, hinzukäme, die
nichts anderes als sittliche „Freiheit im Gesetz", d. i. das Freiwerden des
Gesetzes der Menschheit in uns bedeutet 63). Soziale Pädagogik heisst,
wie der Autor in etwas schwerfälliger Sprache sagt, „den Naturbegriff
des Individuums überwinden unter der Idee der Gleichheit im Unend-
lichen" (66), nämlich des in unendlicher Ferne vor uns liegenden End-
zwecks aller Kulturarbeit, des „Menschen der Idee". Das ist auch der
einzig fruchtbare, weil soziale, Sinn der „Unsterblichkeit" : nicht Unsterb-
lichkeit der Kreatur, sondern Unsterblichkeit ihrer Aufgabe (67).
Das eben ist nun die praktische Wirklichkeitsaufgabe einer wahrhaft
sozialen Pädagogik, dass sie jenen dreifachen Charakter des Menschen als
zugleich ökonomischen, staatsbürgerlichen und sittlichen Individuums
als stetes Ziel vor Augen habe, somit l.das Talent als den ökonomischen,
2 den Charakter als den staatsbürgerlichen und 3. das — Genie als
den sittlichen Wertausdruck des Individuums fördere. Sache der Schule
ist es, das Individuum zu diesen seinen drei Wertausdrücken zu erheben :
zuvörderst durch Lehre und Übung den Eigen- und Einzelwert des
„Talentes" zu schaffen, sodann durch die Zucht den „Charakter" als den
„Humusboden" des sittlichen Arbeitens zu erzielen, und endlich beide,
Talent und Charakter, zu ihrer Erfüllung zu bringen im „Genie", d. h. der
freien systematischen Durchdringung der Gesetze des menschlichen Be-
wusstseins. Der Schulweg des Talentes endet in der Fachschule, der des
Charakters verlangt die Form der Staatsschule, der des Genies ist die
Universität. Die letzte Absicht aber der Sozialpädagogik, als des „Systems
einer einzig möglichen Pädagogik als Wissenschaft", ist die Allgemeine
Volksschule, im weitesten Sinne des Wortes. —
Wir haben den Gedankengang des Verfassers durch sich selbst
wirken lassen wollen und ihn daher nur stellenweise durch ein kritisches
Wort unterbrochen; wir konnten es um so eher, weil wir im grosssen
und ganzen durchaus einverstanden mit ihm sind. Deshalb wollen wir
aber auch bekennen, dass uns manche Entwickelungen unseres Philosophen
allzukünstlich und nicht sehr gelungen erscheinen, so in den letzten Aus-
führungen die Stellung und Bedeutung, die er dem „Charakter" und na-
mentlich dem „Genie" zuweist, das uns — und wir befinden uns da auch
im Einklang mit Kant (Kritik der Urteilskraft) — gerade völlig abseits
von der — Methode zu liegen scheint, durch die Görland es „erzogen"
wissen will. Desgleichen liegt, dünkt uns, der Zusammenhang der von
Görland angenommenen drei „Wertausdrücke des Individuums" (Talent,
Charakter, Genie) mit Kants drei „regulativen Prinzipien" der — Natur-
teleologie (Spezifikation, Homogeneität, Kontinuität), wenn er auch her-
stellbar ist, doch nicht so auf der Hand, wie ihr Urheber in seiner Ent-
deckerfreude annimmt. Das möchten wir überhaupt dem Verfasser, ge-
rade weil wir seine Arbeit für eine dankenswerte und tüchtige, aus
ernstem und tiefem Denken hervorgegangene halten, nicht verhehlen,
dass er weitere, mit der Art und Methode Natorps und anderer Neu-
kantianer noch nicht vertraute und doch philosopisch und sozialpädago-
gisch interessierte Leserkreise nur durch grössere Anpassung an ihre Ver-
ständnisfähigkeit gewinnen wird. Er sagt selbst im Vorwort, „über dem
Versuche, die Gedanken zusammenzuschweissen", habe er die „Leichtles-
barkeit" in zweite Reihe stellen müssen. Aber auch philosophische
Schriften, die nicht populär sein wollen oder können, sollten doch nicht
mit leicht vermeidbaren Fremdwörtern (wie: Ordination, superordiniert,
explicit machen, inindividuell u. a.) und neuen Wortbildungen (wie : Fremd-
gesetz, Erscheinungsabfolge, gefahren, die Wegbahnung geben u. a.) ge-
spickt werden, die das Verständnis nur erschweren oder doch wenigstens
in der Lektüre nutzlos aufhalten. Dass Görland klar und doch tief
schreiben kann, hat er an anderen Stellen, insbesondere auch in dem
ersten Teil seiner Schrift, genügend gezeigt.
Nun noch mit ein paar Worten von dem Jünger zum Meister.
\
Recensionen (Görland). 181
Es ist ein erfreuliches Zeichen des (um mit Kant zu reden) noch
nicht erstorbenen Geistes der Gründlichkeit in Deutschland, dass ein so
tief gründendes Werk wie Paul Natorps .So/ialpädagogik' nach kaum
einem halben Jahrzehnt jetzt eine zweite Auflage erlebt hat. Da das
Werk selbst den Lesern der „Kantstudien" bekannt ist, so sei hier nur
auf die Veränderungen der zweiten Auflage hingewiesen. Neu ist vor
allem die ausführliche Vorrede, die sich mit den Kritikern der 1. Auflage
— nur kurz mit Bergemann und P. Barth, ausführlicher mit Zenker,
Volkelt und Gramzow, am eingehendsten mit Ferd. Tönnies — auseinander-
setzt. Görlands soeben erschienene Schrift konnte nicht mehr berücksich-
tigt werden. Die Art, wie Natorp zu polemisieren pflegt, erweitert —
was von aller wissenschaftlichen Polemik zu wünschen wäre — immer
auch das sachliche Verständnis. So ist die Kritik Zenkers zugleich eine
Auseinandersetzung mit der Spencerschen Methode, die mit Tönnies zu-
gleich eine solche mit dem Marxismus (vgl. bes. S. XIH— XVI). Dass er
selbst zu „geradlinig" konstruiert hat für solche, die dem Buche unmittel-
bare Anweisungen für die Praxis entnehmen wollten, dass „eine durchge-
führte praktische Pädagogik ebenso wie eine durchgeführte empirische
Soziologie auf die Masse und Macht des Allzumenschlichen . . . ganz
anders Rücksicht zu nehmen hätte", giebt Natorp ohne weiteres zu
(XVIII); der deduktive Aufbau war es und soll es gerade sein, der dem
Buche seinen Charakter giebt. Sachliche Erweiterungen haben namentlich
die §§ 6 (über Willensfreiheit), 7—9 (Stufen des Willens), 16 (Stammlers
,richtiges Recht'), 18 (Sein eines sozialen Entwickelungsgesetzes, Begriff
der Geschichte), 23 (Parallelismus der formalen Stufen des Unterrichts und
der Willensbildung) und 32 (Prinzip des Ästhetischen) erfahren. Ohne
prinzipiell neue Aufstellungen zu enthalten, dienen sie entweder der wei-
teren Klarstellung besonders wichtiger Punkte, vor allem noch deutlicherer
Durchführung des erkenntniskritischen Gesichtspunkts und Wahrung des-
selben vor Missverständnissen, wobei dann gelegentlich neue SchlagHchter
auf andere Anschauungen wie den Pessimismus oder Spencers Entwicke-
lungsphilosophie fallen, oder neuer methodischer und sachlicher Anwen-
dungen des gefundenen Prinzips. Über die methodische Trennung von
Ethik und Recht in Stammlers letztem Buche urteilt er ähnlich wie wir in
KSt. VIII, 330 f. Auch ist der neuen Auflage jetzt ein Namen- und ein
vortreffliches S a c h register beigegeben ; namentlich für das letztere werden
dem Verfasser viele dankbar sein.
Ein der , Sozialpädagogik' vorausgeschicktes Verzeichnis neuerer, in
innerem Zusammenhang mit dem Werke stehender Natorpschen Schriften
zeigen, wie fleissig der Marburger Philosoph auf allen mit seinem Thema
in Beziehung stehenden Gebieten arbeitet. Für die erste Einführung in
seine Denkart und Methode dürften die Leitsätze zu akademischen Vor-
lesungen (zur Philosophischen Propädeutik 1903, zur Allgemeinen Psychologie
1904, zur Pädagogischen Psychologie 1901 und zur Logik 1904)i) besonders ge-
eignet sein. Von der Erfüllung des Görlandschen Wunsches, dass Natorps popu-
lärere Schriften, wie die ,Religion^ und ,Herbart und Pestalozzi', als Lektüre der
Lehrerseminare benutzt werden möchten, sind wir freilich leider noch
recht weit entfernt. Auch über die religiöse Krise unserer Zeit denkt
Natorp, scheint uns, etwas zu optimistisch (Schlussseite der .Sozialpäda-
gogik'). Die „Religion der Transscendenz" besitzt in unserem Volke, wenn
auch vielleicht nicht mehr in seinen „lebenskräftigsten Schichten", noch
eine grosse Macht und rettet sich zum Teil durch immer neue Verklei-
dungen. Um so wichtiger ist es, dass Schriften, wie diejenigen Natorps
und Görlands, auf der Wacht stehen für unsere heiligsten wissenschaftlichen
und ethischen Güter im Geiste Kants. Vorläufig gehören sie noch nicht
in die „Rumpelkammer der Geschichte". Sie haben vielmehr „noch eine
Funktion zu erfüllen", haben noch ihren „Mann zu stehen" (Natorp, Vor-
wort S. XXI). K. Vorländer.
1) SämtUch in dem Verlage von N. G. Elwert, Marburg, erschienen.
182 Recensionen (Sidgwick).
Philosophy, its Scope and Relations, by tlie late Professor
Henry Sidgwick. pp. 247. 1902.
Der ausgezeichnete Verfasser der Schrift „Methods of Ethics", welche in
sechster Auflage erschienen ist, hat das vorliegende Buch, das eine Reihe
von einleitenden Vorlesungen bildet, im M. S. hinterlassen, welches vor
kurzer Zeit von Professor James Ward herausgegeben wurde. Die zwei
ersten Vorlesungen, welche „the scope of Philosophy" darstellen wollen,
haben den Zweck, eine klare, brauchbare und soweit wie möglich mit dem
allgemeinen Gebrauche übereinstimmende Definition der Philosophie zu
geben. Aber der Verfasser erkennt an, dass die letzte Forderung schwer
zn erfüllen sei. Wie Kant vor 12.0 Jahren, so muss auch er klagen, dass
„the lack of a ,consensus of experts' as to the method and main conclusions
of Philosophy, is strong evidence that study of it is still — after so many
centuries — in a rudimentary condition as compared with the more spe-
cial studies of the branches of systematised knowledge that we call Scien-
ces" (S. 1H). Er will einen Beitrag zur Beseitigung dieses Mangels da-
durch liefern, dass er die Aufmerksamkeit eher auf die Probleme der
Philosophie, als auf die Antworten oder Lösungsversuche richtet — „the
knowledge we want rather than the knowledge we think we have got".
(S. 13.)
Man versucht gelegentlich zwischen Wissenschaft und Philosophie
dadurch zu unterscheiden, dass gesagt wird : jene habe mit den Erschein-
ungen, diese mit der letzten Realität (ultimate reality) zu thun. Nun sei
es, meint S., weder richtig noch möglich, diejenigen Phaenomene, mit
welchen die Naturwissenschaften sich beschäftigen, vom Bereiche der
Philosophie auszuschliessen, denn diese Phaenomene bilden auch einen Teil
der Welt und müssen deshalb als Erscheinungen der als subsistierend ge-
dachten Realität aufgefasst werden. S. teilt nicht die merkwürdige
eleatisch-Herbartische Ansicht, die neuerdings in der englischen Philosophie
der Gegenwart wiederbelebt wird, dass die Fundamentalbegriffe der
Naturwissenschaft, wie Veränderung, Zeit und Kausalität, alle widerspruchs-
voll seien. Der Unterschied zwischen den Wissenschaften und der Philo-
sophie sei vielmehr dieser : dass, während jene die verschiedenen durch Ab-
straktion getrennten Teile der Wirklichkeit (oder des erkennbaren Uni-
versums) untersuchen, diese eine Kenntnis des Ganzen als solchen zu ge-
winnen sucht. Nun ist es keineswegs unwahrscheinlich, dass das Universum
als Ganzes betrachtet, andere Eigenschaften besitze, als die durch die be-
sonderen Wissenschaften angezeigten, und daher, dass Kenntnisse bezüglich
derselben auf anderem, als rein phj^sikalischem Wege erreichbar seien. —
Es sei, meint S., unzweckmässig, bei der Bestimmung der Aufgabe der
Philosophie, wie Spencer zu verfahren und vorauszusetzen, dass ,the
underlying Reality is unknowable'. Denn dadurch schliesst man in diese
Bestimmung eine Ansicht ein, welche allein als Endresultat der Unter-
suchung möglicherweise eine Berechtigung erlangen könne. Ausserdem
gestatte Spencers Auslegung der Aufgabe der Philosophie keinen Platz
für die Ethik oder Moralphilosophie, die sicher etwas anderes ist als eine
Untersuchung der „allgemeinsten Coexistenzen und Successionen der
Phaenomene". (S. 22—24.)
Das Material, welches die Wissenschaft der Philosophie als eine un-
erlässliche Bedingung vorbereitet, ist nicht das ganze Material der Philo-
sophie. Diese muss auch die Prinzipien und Methoden „of rationally de-
termining what ought to be as distinct from the principles and methods of
ascertainmg what is, has been and will be" untersuchen. Und die Auf-
gabe der Philosophie im weitesten Sinne besteht darin, „to comprehend
all rational human thought whether in relation to ,what is' or to ,what
ought to be' as one coherent whole". (S. 34.) Dieses Problem aber sei
ausserordentlich schwieriger Natur. Wäre es gelöst, so sollten „wir im
Stande sein, die Frage zu beantworten : How comes it that what ought to
be is not and yet ought to be?" Und er fügt hinzu: „Any one who
►
Recensionen (Sidgwick). 183
knows anything of the history of human thought may well despair of
attaining a satisfactory aiiswer to this question; unless he holds firmly
to the conviction that such despair, at any rate, is one of the things that
ought not to be " (S. 30 ) Sie werden damit an die Grenzlinie zwischen
Philosophie und Religion geführt, ein Thema, welches in einem kurzen
Anhange gestreift wird. (S 38—40.)
Die dritte bis einschliesslich die elfte Vorlesung untersuchen die Be-
ziehungen zwischen Philosophie und Psychologie, die Aufgaben der Meta-
physik, Erkenntnistheorie und Logik, das Verhältnis von Philosophie und
Geschichte und Philosophie und Sociologie. Sie enthalten vorzüglich kri-
tische Bemerkungen gegen den Positivismus, Idealismus, und jene an-
spruchsvolle, alles in sich einschliessen wollende Sociologie. Es bedarf
heutzutage keiner tiefen Überlegung, um das Material der Psychologie von
demjenigen der Philosophie zu unterscheiden, welche beide Disciplinen
noch gelegentlich in England unter der alten Bezeichnung „Mental Philo-
sophy" zusammengestellt werden. Die Unterscheidung zwischen beiden wird
vom Verfasser sehr klar vollzogen (S. 49— 51), worauf er ihre verschiedenen
Standpunkte bezüglich des Problems des Verhältnisses des Denkens zur
Aussenwelt beleuchtet und zugleich die Grenze der Psychologie als einer
empirischen Wissenschaft andeutet. Aus einer doppelten Beziehung
zwischen „Mind" und „Matter" (S. 60) geht nach S. die materialistische
und idealistische Auslegung der Wirklichkeit hervor. Die erstere sei zu
unklar und unbedeutend, um weitere Berichtigung zu verdienen, der Idea-
lismus, welcher eine Form von ,Mentalism' bildet, sei mehr plausibel und
bedürfe daher einer näheren Prüfung. (S. 61, 62.) Als Resultat der
Untersuchung der verschiedenen Methoden der Analyse des Begriffs der
Materie wird behauptet, dass die psychologisierende Philosophie, welche
die Elemente alles Erkennbaren in blosse psychische Thatsachen auflösen
möchte, nicht weniger einseitig sei als die materialistische und positivistische
Philosophie. Der natürliche Dualismus sei in der Psychologie als besondere
Wissenschaft durchaus berechtigt. —
Weniger befriedigend als das Vorhergehende erscheint uns dasjenige,
was S. über die Stellung der Metaphysik, Erkenntnistheorie und Logik
zu einander zu sagen hat. (Kap. IV, V.) Er erkennt keinen festen
Unterschied zwischen Erkenntnistheorie und Metaphysik an. Demgemäss
versteht er unter Transscendentalphilosophie mehr den Idealismus der neo-
Kantischen und hegelisierenden Engländer als den erkenntnistheoretischen
Idealismus (oder besser gesagt, die kritische Erkenntnistheorie) Kants. Er
meint, dass die Trennung der Erkenntnistheorie von der Ontologie nur
,formal and superficial' sei (S. 112); denn, „the object of knowledge is
Being, ,what is' ; when we truly prove a thing we believe that it really is
what we perceive or think it to be. Thus any general theory of the
nature of the object of knowledge cannot properly be divided from a
general view as to the nature of Being", sagt er in einer kritischen Aus-
lassung gegen Külpes erkenntnistheoretische Gegensätze des Idealismus,
Realismus und Phaenomenalismus. (S. 119.) Würde aber hieraus folgen,
dass wir das Sein der Dinge ganz begreifen können, wie die Metaphysik
will, und dass kein Unterschied der Methoden vorhanden sei? S. selbst
giebt zu, dass die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft von der
Erkenntnistheorie geprüft werden müsse. Ob es denn eine Metaphysik
gebe? Sollte die Metaphysik im Sinne der Ontologie jemals zur allge-
meinen Anerkennung gelangen und als eine sichere Wissenschaft hervor-
treten können, dann würde es zweckmässig sein, meint er, eine Trennung
zwischen derselben und der Erkenntnistheorie zu vollziehen. Wer auf
kritischem Standpunkte steht, wird eine solche Möglichkeit nur als eitle
Hoffnung betrachten, denn er kann die Metaphysik nur als etwas Histo-
risches ansehen, eine Ansicht, welche durch gewisse neueste Versuche eine
weitere empirische Bestätigung erfahren hat.
184 Recensionen (Sidgwick).
Die Behandlung der Frage nach dem Verhältnis der Logik, insbe-
sondere desjenigen Teiles, welcher Methodenlehre heisst, zur Erkenntnis-
theorie, ist von S. in ziemlich mangelhafter Weise ausgeführt, wie vom
Herausgeber zugestanden wird. Untersucht nun die Erkenntnistheorie die
Bedingungen der Möglichkeit, die Natur und den Umfang des Erkennens
überhaupt, so geht sie tiefer und weiter zurück als die Logik. Sie hat
als Aufgabe ein letztes Kriterium der Wahrheit aufzustellen, und ebenso
die Gründe und Postulate der Logik zu prüfen Sie muss sich aber der
Logik bedienen, weil diese die allgemeingültige Lehre der Beweisführung
angiebt. Die Methodenlehre hat z. B. als Aufgabe ein allgemeingültiges
Kriterium der Kausalbeziehung festzustellen, überlässt es aber der Er-
kenntnistheorie, die Gültigkeit und Grenzen des Kausalprinzips aufzu-
zeigen und zu begründen.
Eine Prüfung der Behauptungen der Geschichte „to present not
only facts in chronological order. but laws of development" und der
historischen Methode „to have invaded and transformed all departments
of thought" bildet das Thema mehrerer folgenden Kapitel. Dass die histo-
rische Methode weder die Methoden noch die Prinzipien der Mathematik,
rationellen Physik oder sogar der Chemie geändert hat, noch ändern kann,
ist sicher: sie hat sogar das Problem der thatsächlichen Gestalt des Kos-
mos unerklärt gelassen (S. 127—134). Ist die entwickelungsgeschichtliche
Betrachtung von unverkennbarer Bedeutung für die Biologie gewesen, so
wird ihre Bedeutung für die Anthropologie und Psychologie gänzlich
überschätzt, wenn man glaubt, dass hierdurch das metaphysische Problem
von der Beziehung zwischen Materie und Geist irgendwie einer Lösung
näher gebracht sei (S. 148—150). Die psychologischen Prozesse und ihre
Entwickelung, welche durch die Psychogonie festgestellt wird, sind als
Thatsachen von der Bedeutung und Gültigkeit der Produkte dieser Pro-
zesse ganz verschieden (S. 150). S. stimmt mit dem Kantischen Kritizis-
mus überein, in seiner Ablehnung der Ansprüche derartiger .genetischer'
Untersuchungen die Erkenntnistheorie zu vertreten, und etwa durch eine
Untersuchung der Geschichte der menschlichen Meinungen einen Massstab
zur Beurteilung der Wahrheit oder Unwahrheit dieser Meinungen zu ge-
winnen.
Die Behandlung dieser Frage führt ins Gebiet der Sociologie, der
eine engere Bedeutung zukommt, als der Geschichte. Hier geht der Ver-
fasser auf zwei Theorien ein, die aus der Betrachtung vergangener sozialer
Zustände ein Kriterium des Endzieles der menschlichen Entwickelung zu
erreichen und zu beweisen suchen. Diese nennt er „Relativism" and „Pro-
gressivism". (Kap. IX, X.) Keines von Beiden vermag das Problem zu
lösen, weil dasselbe nicht ohne die Heranziehung der Philosophie und
Ethik lösbar sei. Sehr gut bemerkt er: „The history of opinion is a
most interesting part of Sociology, but it has not in itself any criterium
of the truth of opinion". (S. 236.)
Ein Fortschritt der Civilisation, z. B. der Wissenschaft, wird nicht
notwendigerweise von einer Vermehrung der selbsterhaltenden Fähigkeit
des sozialen Organismus begleitet. Zwischen diesen beiden braucht kein
übereinstimmendes Verhältnis stattzufinden, „. . . an examination of the
facts of history seemed to show that historically ascertained chauges in
human Society have certainly no universal tendency to increase the
efficiency of the organism f or self-preservation ; and in particular that
the historically ascertained changes in beliefs have no such general ten-
dency" (S. 213). Der Massstab des sozialen Fortschritts ist kein anderer
und kein engerer als „conduciveness to the welfare of humanity at large"
(S. 216), freilich ein etwas vager Begriff! Natürlich entsteht die Frage,
wie wir zum adaequaten Begriffe „of social well-being" gelangen. Bei der
Entscheidung derselben will die Sociologie auch ein Wort mitsprechen.
(S. 217—230.)
Recensionen (Schlapp). 185
Gesetzt nun, dass unsere theoretischen Erkenntnisse, obwohl keines-
wegs vollendet, doch in einen gewissen Zusammenhang gebracht (reduced
to coherency) und dass dasselbe mit unseren ethischen Begriffen und
Prinzipien geschehen sei, so wirft sich die Frage auf: „whether the
distinction between what is and what ought to be is ultimate and irre-
ducible." (S. 235.) Dieses, von der zwölften und letzten Vorlesung be-
handelte Problem wird nicht mit Bestimmtheit beantwortet. S. sieht ein,
dass die Theologie, und wenn sogar der Theismus begründet wäre, sehr
wenig in dieser Hinsicht leisten könne. Wir können eine moralische
Weltordnung postulieren, ohne den Theismus anzuerkennen; umgekehrt
würde seine Anerkennung uns keineswegs eine moralische Weltordnung
verbürgen; . . . „the chief abstract arguments (except one) used to prov'e
Theism, do not tend to prove moral order". (S. 244, 245)
Gewiss macht das Buch in einigen Punkten einen skizzenhaften und
fragmentarischen Eindruck; aber dennoch sind es die Ausführungen eines
sehr überlegenden Denkers, der trotz seiner Teilnahme an den Standpunkt
des „Common Sense" in gewissen wichtigen Eesultaten mit den Ergebnissen
der Kantischen Kritik übereinstimmt. Es ist zu hoffen, dass dies nicht das
einzige von Sidgwick hinterlassene Manuskript ist, welches zum Erscheinen
kommen wird.
Montreal. J. W. Hickson.
Schlapp, Otto. Kants Lehre vom Genie und die Ent-
stehung der „Kritik der Urteilskraft". Göttingen 1901. XII
und 463 S.
Die Frage nach der Entwickelung der Kantischen Ästhetik gehört
zu den bisher ungelösten Problemen der Kantforschung. Der Grund hier-
für ist wohl hauptsächlich in dem Mangel des Materials zu finden.
Zwischen den frühesten ästhetischen Anschauungen Kants, wie sie in
seinen Schriften hier und dort hervortreten, und dem fertigen System
klafft eine grosse Lücke, welche bis jetzt auszufüllen kaum möglich war.
In diesem Falle können und werden die Vorlesungsnachschriften, deren Ver-
öffentlichung die Berliner Akademie vorbereitet, wertvolle Hilfe bringen
und die Lösung der Aufgabe erheblich fördern. S. hat die für jene Aus-
gabe gesammelten Hefte über Anthropologie und Logik benutzen dürfen
und damit zum ersten Mal dies Material teilweise der Forschung über-
mittelt. Darin liegt die eigentliche Bedeutung seines Buches. Leider
aber wird uns die Freude an der Bereicherung unseres Wissens rasch ver-
kümmert, wenn vär sehen, wie S. mit dem Stoff verfahren ist. Er hat
aus den Heften Excerpte gegeben, welche er nach gewissen Schlagworten,
die sie enthalten, auswählte, ohne den Versuch einer einheitlichen Auf-
fassung des Vorhandenen zu machen. Wo er Worte wie „Genie, Ge-
schmack-' etc. fand, notierte er sie auf, stellte die Unterschiede der
Begriffsbestimmungen in den verschiedenen Heften fest, ohne die Gründe
dieser Änderungen entweder aus den Heften selbst oder der Entwicke-
lungsgeschichte Kants nachzuweisen. S. versucht die Einwände gegen die
Verwertung der Nachschriften abzuweisen, ja glaubt sie endgiltig erledigt
zu haben (S. 403 ff.) : er hat nur ein Beispiel gegeben, wie es nicht ge-
macht werden darf, denn wir sind abhängig von einer allzu subjektiven
Auswalil, ohne uns ein Gesamtbild machen zu können. Herrscht so eine
gewisse Willkür in der Auswahl, so hat S. andererseits den vorhandenen
Text im Einzelnen zu sklavisch treu bewahrt und behandelt, als stände
die Autorität Kants selbst hinter den Aufzeichnungen seiner Zuhörer. Ja,
wo das Vorhandene sinnlos war, hat er es liebevoll erhalten und solche
vermeintlichen Ansichten Kants dann kommentiert. Aus der grossen Zahl
führe ich 2 Stellen an. S. 194 citiert S.: Das Vergnügen an Tragödien
oder Komödien liegt also „nicht in der Idee, sondern im Magen".
Die gesperrt gedruckten Worte sollen aus der Nachschrift stammen. Dann
fährt S. fort : „Daher (!) ist einem ein Stück nicht tragisch genug, und für.
den andern hat es wieder zu viel tragische Auftritte, der wahre Ge
186 Receusionen (Schlapp).
schmack (!) ist von alledem verschieden." Erkennt man nicht sofort den
Widerspruch in den beiden Sätzen? S. scheint dies entgangen zu sein.
Er macht zu „Magen" folgende Anmerkung: „Davon hat sich allerdings
Schiller nichts träumen lassen, als er seine Abhandlungen vom moralischen
Nutzen der Schaubühne, vom Erhabenen, vom Tragischen schrieb. „Das
grosse gewaltige Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den
Menschen zermalmt" wurde von ihm nicht aufgerufen, um das Geschäft
der Verdauung zu befördern." Es folgt im Anschluss an ein Citat aus
Hamann dann die Bemerkung: „Man.wird es uns nicht verdenken, wenn
uns die Psychologie Kants in obiger Äusserung etwas — kurländisch vor-
kommt". S. 174 wird ein Satz citiert, den S. selbst für vielleicht verderbt
hält, trotzdem kommentiert er ihn mit einem: Man sollte es nicht für
möglich halten! Ja. Man sollte es nicht für möglich halten! Auf die
Gefahr hin, für einen Kantfanatiker gehalten zu werden, erkläre ich es
für ein Vergehen gegen die Grösse des Kantischen Denkens, wenn man
ihm solche Sätze zutraut und den eigenen vermeintlichen Witz an ihnen
zu üben unternimmt. Wenn S. das nicht fühlt, muss es ihm gesagt werden.
Alle seine Komplimente gegenüber dem „grossen Philosophen" sind über-
flüssig, notwendig aber, dass er von dieser Grösse so viel innerlich erfahren
habe, dass die Feder ihm stockt, wenn er solchen Unsinn als Kantische
Sätze niederschreibt, i)
Aber ist S. überhaupt ein Kenner Kants? Zwar scheint es so, da
er intime Schilderungen von Kants Persönlichkeit versucht (49 f.), aber es
scheint doch nur so. Sein Wissen zeigt bedenkliche Lücken. S. 111 wird
Kant der Satz von Crusius: „Was ich nicht anders als wahr oder falsch
denken kann, das ist wahr oder falsch" zugeschrieben. S. 430 hat S.
zwar selbst die darauf gebauten Vermutungen zurückgenommen, aber ein
solches Versehen geht über die Grenze des Entschuldbaren hinaus. Wer
die Entwickelung der Kantischen Ästhetik schreiben will, muss seine
Hauptschriften und Lehren genau kennen und darf nicht von der „subjek-
tiven Erkenntnistheorie Kants", die „den Menschengeist zum Mass der
Wahrheit und zum Gesetzgeber der Dinge der Erscheinungswelt naacht",
sprechen, wenn er seinen Standpunkt vor dem Jahre 1767 charakterisieren
will. Ferner wird als Ergebnis aus Kants Schriften und den Heften vor
1775 geschlossen: „die Geschmackskritik ist der Entstehungszeit
nach die erste seiner drei Kritiken". In der „Nachricht von der
Einrichtung seiner Vorlesungen im Winterhalbjahre 1765 — 1766" heisst es
ausdrücklich : „Wobei zugleich die sehr nahe Verwandtschaft der Materien
Anlass giebt, bei der Kritik der Vernunft einige Blicke auf die Kri-
tik des Geschmacks, d. i. Ästhetik zu werfen." Damit ist das Ver-
hältnis richtig bestimmt, die tiefere Frage, ob und wie die in der Ästhe-
tik der damaligen Zeit sich geltend machende höhere Schätzung der
Sinnlichkeit Kants Erkenntnistheorie beeinflusst habe, hat S. nicht ge-
sehen. S. 70 wird gesagt: „Hier (Heft aus dem Jahre 1772) klingt zum
ersten Male das bekannte antike ästhetische Prinzip der „Einheit in der
Mannigfaltigkeit" an, welches in der Leibnizschen Psychologie und der
Vollkommenheitslehre und Ästhetik seiner Schüler eine interessante (? !)
Rolle gespielt hat." Weiss S. nicht, dass der Gedanke der Einheit in der
Vielheit in der „Naturgeschichte und Theorie des Himmels" den Gedanken
der Harmonie und einer ästhetischen Betrachtung des Weltalls vermittelt?
Wie konnte er, wenn er die Grundlagen der Kantischen Ästhetik auf-
finden wollte, an dieser Schrift vorübergehen? War nicht gerade hier
Gelegenheit, auf ein Erlebnis Kants hinzuweisen ? Es erledigen sich auch
leicht S.s Einwände gegen Sommer (42/43), welche ausserdem deshalb
hinfällig sind, weil Kant in den „Beobachtungen über das Gefühl des
Schönen und Erhabenen" nicht ein System der Ästhetik, sondern nur
1) Sonderbar sind doch auch wohl Anmerkungen wie die: ,,Iphi-
genie" ging wohl über, und „Faust" fiel gewiss unter seinen (Kants) ästhe-
tischen Horizont. S. 71, A. 1.
Recensionen (Schlapp). 187
ästhetische Einzelbetraclitungen gab. Höchst sonderbar ist es, wenn S.
an dieser Stelle darauf hinweist, dass die Nouveaux essais erst 1765 er-
schienen sind ixnd darin den Grund sucht: „dass Kants Ästhetik in den
„Beobachtungen" noch keine Spur von einer Einrückung der für die Ent-
wickelung der deutschen Ästhetik in jener Zeit höchst bedeutungsvollen (!)
Leibnizschen Philosophie aufweist". Weiss S nicht . . . Doch ich müsste
den Leser durch die zu häufigen Wiederholungen des: Weiss S. nicht?
ermüden und will ihm nicht sagen, was er selbst weiss.
Damit habe ich den Hauptmangel der Buches schon berührt: S. hat
das Material, aber nicht eine Bearbeitung und geistige Durchdringung
desselben gegeben. Es erscheint ohne den Hintergrund, auf dem
es allein -wertvoll und nutzbringend wird: der allgemeinen Entwickelung
der Ästhetik und insbesondere der Kantischen und dieser letzteren im
Rahmen der Ausbildung seines philosophischen Systems überhaupt. Bei
S. führen einzelne Lehren und Sätze ein gesondertes Dasein, ohne ein
Ganzes zu bilden. Deshalb werden sie von ihm auch nur durch Citate
erläutert und das Buch ist zu einem grossen Teil angefüllt durch Hinweise
auf mögliche Entlehnungen. S. nennt dies „Methode der cumulativen Ar-
gumentation" (412). Es ist die bekannte Parallelstellenmethode, welche
schon so viel Unheil angerichtet hat und niemals zu einem wirklichen Er-
fassen des Werdeprozesses grosser Gedanken führen kann. Wenn durch
sie erwiesen werden soll, dass auch Kant von seiner Zeit abhängig war,
so rennt man offene Thüren ein. Nicht dass es so war, steht in Frage,
sondern wie unter den nachweisbaren Einflüssen seine Philosophie, insbe-
sondere seine Ästhetik, sich auf Grundlage der Eigenart seiner Persönlich-
keit und seines Denkens und der aus diesem auf anderen Gebieten ge-
wonnenen Erkenntnisse bildete, das ist die Frage. Dies leistet man aber
nicht durch einfaches Abschreiben von Collegnachschriften und unend-
liche Citatensammlungen aus dem Schatze der Weltlitteratur. Und welche
Anregungen nimmt S. nicht an! Ich muss Beispiele geben, damit der
Leser sieht, dass ich S. nicht Unrecht thue. S. 175 sagt Kant von Klop-
stock: „Wenn man seine Schriften mit kaltem Blute liest, so verlieren sie
viel." i)azu S.: „Das hatte Kant zuei'st mit den Schriften Rousseaus er-
probt. Vgl. das Fragment: Ich muss den Rousseau so lange lesen etc."
Wirklich zuerst? Die ersten Gesänge des „Messias" erschienen 1748, die
erste Schrift Rousseaus 1750 und es ist äusserst wahrscheinlich, dass Kant
erst in den 60er Jahren Rousseau kennen lernte. S. 82 wird eine kritische
Bemerkung Kants über die Frauen mitgeteilt. Dazu S.: In den „Beobach-
tungen" hatte sich Kant weniger kritisch gezeigt. Cherchez la femme?
Seine vergeblichen Heiratspläne fallen in die Zeit dieser Vorlesung."
(1772.) Ist die Zeit so bestimmt erwiesen? aber vor allem: ist das ge-
schmackvoll ? S. 58 heisst es : „Bei den Fabeln, in denen Tiere reden,
stellt man etwas als möglich vor." Dazu S.: Das weist auf Leibnizens
„mögliche Welten" (!) und Baumgartens „veiitas heterocosmica". Vgl.
auch Lessings Gedicht an Marpurg etc." S. 249 heisst es : Das Genie ist
auf das Missverhältnis gegründet, wie eine Missgebiirt, bei der einige
Glieder übel gebaut sind". Dazu S.: „Man denkt unwillkürlich an Goethe.
Er hatte zwar etwas zu kurze Beine, wie der redegewaltige Odysseus (!),
aber mit seinem Genie hatte das wohl nichts zu thun." Überboten, wenn
dies möglich ist, wird aber alles durch die auf S. 213 mitgeteilte Weisheit.
Dort heisst es: „. . . besonders thut der Umgang einer Mannsperson mit
dem Frauenzimmer sehr viel" Dazu S.: „Das hatte Voltaire zuerst (?)
hervorgehoben. "
Da ich einmal bei den Anmerkungen bin, will ich noch zwei Bei-
spiele anführen für die Art, in welcher S. gelegentlich Kritik übt an den
aus den Vorlesungsheften genommenen Sätzen. S. 211 heisst es : „Der Ocean
ist erhaben, aber nicht mehr für einen Seefahrer, der schon einmal in
Indien gewesen " Dazu S.: „Das wird doch sehr auf den Seefahrer an-
kommen." Auf derselben Seite weiter unten: „Es giebt Menschen, die
188 Recensionen (Schlapp).
sich aus der Musik nichts machen, und diese halten oft auch nichts von
einer schönen Schreibart und von Poesieen, ja gegen die Reize der Natur
sind sie ganz gefühllos." Dazu S.: „Diese Auffassung, die an ein geflügel-
tes Wort Shakespeares aus dem Kaufmann von Venedig erinnert (!), hält
vor der P>fahruns: nicht Stand."
*&
Ich komme zu den Ergebnissen des Buches und lasse S. selbst
sprechen. Nachdem er die „Beobachtungen" und die Vorlesungshefte 1764
—1770 besprochen und excerpiert hat, heisst es S. lOf) 7: Die Ästhetik ist
keine Doktrin, sondern Kritik (Meier, Home). Schöne Wissenschaften
giebt es nicht. Die Regeln des Geschmacks sind empirisch (Hume) und
indemonstrabel (gegen Bodmer, Meier), sie sind allgemeingiltig (Home).
Doch heisst es auch: Sie sind unbeständig und wechseln nach den
Urteilen der Menschen. Muster des richtigen Geschmacks sind
die Alten (Winckelmann). — Der Sinn für das Schöne beruht auf dem
Thätigkeitsbedürfnis der Seele (Leibniz, Sulzer). Daher gefällt u. A. das
Neue und Wunderbare (Addison, Schweizer), daher ist auch das Gebräuch-
liche nicht schön (Burke) und Nachahmung kein Prinzip der schönen
Künste (gegen Batteux). Das Schöne verlangt Mannigfaltigkeit und Ein-
heit (Leibniz). Dazu gehört Ordnung, Harmonie, Symmetrie, Contrast
(Montesquieu), allmähliger Übergang (Burke, Hogarth, Winckelmann), Klar-
heit, leichte Fasslichkeit der Form (Sulzer, Mendelssohn)." Und so geht
es endlos weiter. Für manche Lehren vermag S. 4 ja 5 Pathen aufzu-
führen (1(8)- Ich habe schon oben S.s Hypothese über das Verhältnis der
Kritik des Geschmacks zu den anderen Kritik zurückgewiesen, dies ist
das einzige „Ergebnis". Auch in den Übersichten über die Jahre 1775 —
1790 werden nur Zusammenstellungen, nicht wirkliche Forschungsergeb-
nisse mitgeteilt. Man sollte erwarten, dass S. die Frage, wie die Kritik
der reinen Vernunft die ästhetischen Lehren Kants beeinflusst habe, er-
örtert und als eine der wichtigsten behandelt. Aber auch hier kommt er
über Äusserlichkeiten nicht hinaus, das Problem, wie die Systematik des
Hauptwerkes System bildend gewirkt habe, hat er anscheinend nicht ge-
sehen. Es folgt eine Darstellung der „Kritik des Geschmacks und des
Genies in der Urteilskraft" und „Welt- und Menschenkenntnis" 1790 - 91
ed. Starke 18.31, begleitet von einer erdrückenden Menge von Anmerkungen.
Dass die Zeit nach 1790 eine weitere Entwickelung nicht zeigt, war zu
erwarten und die Ergebnisse bringen nichts Neues. Aus einer letzten Zu-
sammenfassung sei schliesslich hervorgehoben : ,, Jetzt erst lässt sich über-
sehen, was originell und eigenartig an Kants Lehre ist : die kühle
Haltung dem Gegenstand gegenüber; der abstrakte, an Beispielen arme
Vortrag, der systematische Charakter der erschöpfenden Untersuchung ;
die Energie der eklektischen Tendenz, die sich in der Universalität der
Gesichtspunkte sowohl, als in dem Widerspruchsvollen und Antinomischen
der Resultate zeigt., die enge Verbindung von Genielehre und Ästhetik;
die centrale Stellung der ersteren und der Lehre vom subjektiv zweck-
mässigen Spiel der Gemütskräfte in der Geschmackskritik; die exempla-
rische Notwendigkeit; die doppelte Begründung der AUgemeingiltigkeit
auf das teleologische und das moralische Prinzip - endlich die encyclo-
pädische (?) Einführung der Ästhetik ins System des Kriticismus zur Ueber-
brückung der unabsehbaren (?) Kluft zwischen dem Reiche der Natur und
dem der Freiheit.
Viel, ausserordentlich viel verdankt Kant seinen Vorgängern und
seiner Zeit. Man hat seither den Einfluss der Überlieferung auf Kant be-
deutend unterschätzt. Sein Verdienst liegt in dem Versuch einer eigen-
tümlichen Gruppierung des Vorhandenen zu einem geschlossenen Ge-
dankensystem etc." Man frage sich: enthält diese allgemeinste Fassung
der Ergebnisse etwas wesentlich Neues? Ist irgend eines der Probleme
auf diese Weise gelöst? Sind nicht vielmehr überall unsichere, unbe-
stimmte und die Eigenart des Kantischen Systems garnicht ausdrückende
Begriffe verwertet?
Recensionen (Schlapp). 189
Ungern widerstehe ich der Versuchung, einige Linien aufzuzeigen,
in denen sich eine zukünftige Geschichte der Kantischen Ästhetik etwa
bewegen würde. Das Neue, was das mitgeteilte Material enthält, verlockt
dazu, aber die Art, wie es mitgeteilt ist, bereitet keinen sicheren Boden,
auch liegt noch viel unveröffentlichtes in dem handschriftlichen Nachlass
bereit, welches erst in der Akademieausgabe zugänglich werden wird.
Deshalb möchte ich und muss mich bescheiden und nur noch im Einzelnen
hervorheben, dass S. aus dem vorhandenen Material vor Allem einen
starken Einfluss Winckelmanns nachweisen und weiter zeigen konnte, dass
Kants Lehre vom Genie massgebend von Gerard beeinflusst ist. Die in-
neren Beziehungen dieser Lehre zu Kants Ästhetik darzulegen, wäre seine
Aufgabe gewesen, er versag't aber auch hier und man wird wohl die be-
gründetsten Zweifel haben dürfen an der Ansicht, dass diese Lehre es war,
„die Kant den letzten Anstoss zur Abfassung der Kritik der Urteilskraft
gab" (,409). Verdienstlich ist S.s Versuch, die Beziehung Kants zu Herder
und umgekehrt aufzufinden. Seine Auffassung, dass letzterer stark von
ersterem beeinflusst sei, ist zutreffend, kann aber auf eine sicherere Basis
gestellt werden durch Herders eigene Vorlesungshefte, welche ich in
seinem Nachlasse auffand, und seiner Zeit mitteilen werde.
Verdienste hat sich S. femer erworben durch die Sorgfalt, mit
welcher er die einzelnen Hefte zu datieren versucht hat. Ein Eingehen
auf diese Dinge ist hier aber nicht am Platze und muss der späteren Aus-
gabe der Akademie überlassen bleiben. Nur sei erwähnt, wie auch bei
dieser Gelegenheit S. einer sonderbaren Micrologie sich schuldig macht.
Zur Beurteilung des Umfangs der Vorlesungen giebt er die Zahl der
Worte der einzelnen Hefte an und kommt auf Zahlen wie 120000, 100000
etc. Wie kann man nur seine Zeit so gering achten ! Und weiss S. nicht
als Psychologe, dass solche Zahlen ganz unanschaulich sind, also garnicht
helfen?
Ein letztes Wort sei über den Wert der Vorlesungsnachschriften
gesagt. S. tritt für sie ein und wendet sich auch polemisch gegen meinen
Standpunkt, wie ich ihn in den „KSt." Hl, 57 ff. präcisiert habe. In be-
zug darauf sagt S. S. 405 „ob Kant aus pädagogischen Rücksichten seinen
Zuhörern nicht überall seine wirklichen Anschauungen offenbarte, das
alles lässt sich doch erst entscheiden, wenn man diese Hefte einer ernst-
lichen Prüfung unterzogen hat." Auf S. 302 hat S. diesen Gesichtspunkt
dann selbst verwertet und so verstehe ich nicht recht den Vorwurf, der
in seiner Forderung einer „ernstlichen Prüfung" liegt, auch hat er meine
Datierung der Ausgaben von Pölitz und Starke i) in beiden Fällen accep-
tiert. Wenn er dann vielleicht in dem Mitarbeiterverzeichnis des ersten
Bandes der Akademieausgabe meinen Namen gefunden hat, so wird er
mir wohl eine Kenntnis solcher Nachschriften zutrauen. Aber je mehr
ich von solchen erfahre, desto mehr werde ich in meinem früheren Stand-
punkte bestärkt. Dieser war keineswegs ablehnend, wie S. es darstellt
(S. 404), sondern mahnte nur zur Vorsicht. Ich habe die Hoffnung aus-
gesprochen, dass bei kritischer Vorsicht aus den Vorlesungen ,, wertvolle
Rückschlüsse auf Kants Entwickelungsgeschichte gemacht werden können"
(a. a. 0. S. 60). Was die Akademieausgabe mit der Vorlesungsedition
wolle, hat inzwischen Dilthey in dem allgemeinen Vorwort (Bd. I,
S. XIII f.) gesagt. Dadurch erledigen sich alle Vermutungen, welche s!
1) Die Einwände S.s gegen meine Gründe zur Datierung dieser Vor-
lesung vermag ich nicht recht anzuerkennen. Einmal citiert S. den Satz
über Buffon (vgl. KSt. III, S. 67) nicht in seinem ganzen Wortlaut. Ferner
habe ich meinen Hinweis auf die Übereinstimmung zwischen den ge-
schichtsphilosophischen Anschauungen in dem Heft und der „Idee zu einer
allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" nicht als entscheidend
bezeichnet, sondern nur von einer „Vermutung" gesprochen, dass deshalb
die Vorlesung ums Jahr 1785 anzusetzen sei. Wenn dies sich jetzt be-
stätigt, kann ich mich nur freuen.
190 Recensionen (Dreyer).
darüber aufgestellt hat. Erst durch die Darbietung des gesamten Mate-
rials, wie es der Ausgabe der Akademie zu Gebote steht, wird die Be-
nutzung der Vorlesungen gesichert und wertvoll werden können.
Ich habe es lebhaft bedauert, eine so negative Kritik des Buches
schreiben zu müssen. Ich will es nicht unterlassen, den Fleiss, mit
welchem S. gearbeitet hat, gebührend hervorzuheben, aber ich konnte und
durfte das Urteil nicht zurückhalten, dass er seiner Aufgabe nicht ge-
wachsen war. Ich durfte es vor Allem deswegen nicht, weil die Gefahr
vorliegt, dass das abfällige Urteil über die Vorlesungen neue Begründung
dem Buche entnimmt. Wenn meine Besprechung den Erfolg hat dies zu
verhindern, wird sie auch einen positiven Nutzen haben.
Paul Menzel.
Dreyer, Friedrich. Studien zu Methodenlehre und Erkennt-
niskritik. II. Band. III. Die Kontinuitätsmethodik eines Dreidimensio-
nalen. Anhänge. Leipzig. Engelmann, 190'5. (XXI u. 498 S.)
Der Verfasser bezeichnet seinen Standpunkt (Vorrede VIII) als „kri-
tischen Phänomenalismus" und ausserdem S. 300 als „kritischen, reinen
Phänomenalismus". „Unsere Philosophie sucht, durch die metaphysischen
Gespenster der Stoffe, Kräfte, Dinge u. s. w. hindurch, das zu erfassen,
was thatsächlich ist, die Thatsächlichkeit rein phänomenal, rein als solche
zu erfassen, und i n der Erforschung des Getriebes der Phänomene zu einer
allgemeinen Methodenlehre in höherem Sinne zu gelangen" (VIIIjIX).
Alles, was über das Phänomenal-Thatsächliche hinausgeht, bezeichnet der
Verf. bald als hypothetisch, bald als fiktiv. Insbesondere ist alles das-
jenige in diesem Sinne hypothetisch hinzugefügt, wodurch das Diskonti-
nuierliche in Kontinuierliches verwandelt wird. Das Kontinuierliche ist
von uns hinzugefügt zum Zweck methodischer Erleichterung, jedoch ohne
reale Berechtigung. In diesem Sinne spricht der Verf. von einer „Kotiti-
nuitätsmethodik" und sagt S. 12 f.: „Unter dem Begriffe der Kontinuitäts-
methodik lässt sich ein mächtiges Geschlecht von Hypothesenregeln er-
kennen, die sich alle, jede in ihrer Art, durch das gemeinsame Streben
charakterisieren, das verschiedenartige, diskontinixierliche und fragmenta-
rische Durcheinander des unmittelbar Gegebenen zu einem kontinuierlichen
und einheitlichen Gesamtzusammenhange zu verweben. Es sind die Regeln,
nach denen das psychische Getriebe von Vorstellung, Denken, Association
in dem verschiedenartig und diskontinuierlich Gegebenen der Wahrnehmung
die Hilfslinien zieht, es in Bezug auf Zusammenhang und Einheitlichkeit
kompletiert, ausbildet imd interpretiert. Der ganze Bereich der Weltaus-
einandersetzung und der Bearbeitung, Verarbeitung und Durcharbeitung
,der Natur', von dem verhältnismässig einfachen Schaffen des groben
Unterbaues der Gemeinanschauung an bis zu den raffinierten Ansprüchen
der höchst abstrahierenden Wissenschaft ist mit Vertretungen dieses
Heeres von Pionieren besetzt, von denen jeder seinem Posten entsprechend
spezifisch ausgebildet ist und funktioniert: derselbe Geist arbeitend unter
den verschiedenen, seinem Wirken sich öffnenden Verhältnissen." Der
Verf. erinnert daran, dass er schon in dem ersten Bande seiner „Studien"
ähnliche Gedanken entwickelt hat: „Mit einer Gattung von Hypothesen-
regeln der Kontinuitätsmethodik hatten uns schon die beiden diesem
Werke vorangeschickten kritischen Exkursionen in nähere Berührung ge-
bracht. Als typische Repräsentanten dieser Gattung lassen sich z. B.
nennen die Atomhypothese, die mechanische Wärmehypothese, die Undula-
tionshypothese des Lichts" (13).
Der vorliegende Band beschäftigt sich nun mit einer besonderen
Art dieser „Kontinuitätsmethodik" : es ist dies die Hinzufügung der dritten
Dimension als einer besonderen Hypothese in dem oben angegebenen
Sinne, zu dem thatsächlich gegebenen Material des Zweidimensionalen.
So ist der Sinn des zuerst so auffallenden Titels zu verstehen „Die Kon-
tinuitätsmethodik eines Dreidimensionalen". Der Verf. sagt selbst (V):
„Der Gegenstand unserer dritten Studie ist die Untersuchung dessen, was
Recensionen (Dreyer). 191
die Gemeinanschauung' als die Räumlichkeit unserer Welt, als unseren
dreidimensionalen euklidischen Raum bezeichnet. — Die Untersuchung
zeigt, dass es einen solchen dreidimensionalen euklidischen Raum nicht
giebt; das aber, was die Gemeinanschauung als solchen zu haben meint,
zerfällt der Analyse in zwei Teile: Einerseits haben wir eine zweifache
Mannigfaltigkeit der Gesichtsthatsächlichkeit, in der sphärische Geoinetrie
herrscht, als die thatsächliche Räumlichkeit. Andererseits sehen wir auf
ein wunderbares, flinkes irrlichterierendes Spiel von Erinnerungsvorstel-
lungen, die simultanassociativ die thatsächliche Räumlichkeit durchsetzen
und deren Inhalt auf ein euklidisches Dreidimensionales hypothetisch re-
präsentativ interpretieren. Mit merkwürdiger Sicherheit täuscht dieses
Spiel nach vier Gesetzen aus dem thatsächlich sphärisch geometiischen
Zweidimensionalen eine in sich stimmende Welt eines euklidischen Drei-
dimensionalen vor. Es sind diese vier Hypothesenregeln die Geister, die
dort hinaus in ein euklidisches Dreidimensionales ,die Welt' allererst
schaffen, die fundierenden Bauleiter der Welt, die in diesem ihrem
Schaffen fort und fort am Werke sind, die aber mit einer solchen som-
nambulen Sicherheit schaffen, dass eben daher ihr Schaffen und sie selbst
nicht zum Bewusstsein kommen, und dass es uns aufgespart bleiben musste,
sie zu entdecken und in ihrer Bedeutung klarzustellen." Das fasst der
Verf. auch S. VIII Kant gegenüber so zusammen: „Es ergiebt sich uns,
dass das euklidische Dreidimensionale, weit davon entfernt, eine reine
Anschauung a priori zu sein, nicht einmal realisierbar ist, sondern nur das
Produkt einer virtuosen hypothesierenden Fiktionsroutine ist." „Die in-
stinktive Methodik und Metaphysik umfasst uns eben innig und fest", wie
der Verf. drastisch sagt (48). Die Aufgabe seines kritischen Phänomena-
lismus sieht der Verf., wie wir hörten, darin, die metaphysischen Gespenster
als solche zu demaskieren; sie zu verscheuchen, ist aber unmöglich, da sie,
wie wir schon hörten, notwendige methodische Hilfsmittel sind zur Er-
fassung der phänomenalen Wirklichkeit. Zu diesen Gespenstern gehört
nun eben der Gegenstand des zweiten Bandes der „Studien", das Drei-
dimensionale, und so sagt der Verfasser S. 55: „Die kritische Besinnung
sagt sich, dass man Gespenster eben nicht fassen kann. Alles Gegebene
und, setzen wir noch — uns der Tragweite dessen, was wir hiermit gegen-
über aller Metaphysik sagen und vertreten, wohl bewusst — weiter hinzu,
Alles, was es giebt, ist hiermit Phänomenales, ist , Erscheinung' ; eine
dritte Dimension des Raumes aber, speziell in unserer vorliegenden An-
gelegenheit ein drittdimensionaler Abstand von Gegenstand und Augenpunkt,
ist eine gedankliche Fiktion, zu der ein thatsächliches Korrelat im Sinne
der hypothetischen Annahme nie und nie gegeben ist, nicht vorstellbar ist
und es nicht giebt." Meinen wir, diese Fiktion „in die Thatsächlichkeit
der Wahrnehmung übertragen zu haben" (54), so haben wir eben nicht
mehr die Fiktion als solche, sondern die gewöhnliche und falsche Gemein-
anschauung, die aber trotz ihrer Falschheit methodisch notwendig ist. In
diesem Sinne sagt der Verf. : „An und für sich unterscheidet sich die
Metageometrie des Dreidimensionalen als Metaph3\sik in nichts von der
weitergehenden Metageometrie : sie ist ebenso hypothetisch resp. meta-
physisch, ebenso gedanklich fiktiv und ebenso unvorstellbar, wie diese.
Nur eben ist sie zur Weltverarbeitung methodologisch brauchbar und er-
forderlich, während dies eine weitergehende Metageometrie nicht ist"
(112 3). Der Verf. führt dann weiter aus, dass, wenn Phänomene sich er-
geben würden, zu deren Konstruktion die gebräuchliche dreidimensionale
Metageometrie nicht ausreichen würde, dann eine „Fiktion einer vierten
Dimension ebenso zu ihrem Rechte kommen würde wie jetzt die dritte
Dimension". Die Metaphysik des Dreidimensionalen genügt aber für
unsere Thatsächlichkeit, aus der die dritte Dimension, wie es S. 198
heisst, „als metaphysische Fiktion ausgesponnen ist." So kommt es, dass
wir, wie der Verf. S. 211 sagt, „in dem hoch zusammengesetzten Ge-
triebe einer Metaphysik uns bewegen, ohne zu ahnen, wie und dass über-
192 Recensionen (Dreyer).
haupt wir dies tlmn, dass wie durch ein zauberisches Blendwerk That-
sächlichkeit und metaphysische Fiktion uns vertauscht sind".
Schon oben trat uns der Gedanke entgegen, dass die Umkleidung
der nackten Thatsächlichkeit mit solchen methodisch metaphysischen Be-
griffen eine zweckmässige Einrichtung ist zur Beherrschung der Wirk-
lichkeit. Diesen Grundgedanken wiederliolt der Verf. sehr oft. So sagt
er z. B. S. 220: Wir sehen „die vitale Zweckthätigkeit als Meisterin,
als die Meisterin, die ein vollendetes System von Orientierungsregeln
spann und so aus dem hieroglyphischen einfach Gegebenen das Medium,
die Welt schuf, in der wir uns zurechtfinden, in der wir leben und
weben können, ohne nur zu wissen wie". In diesem Sinne nennt er diese
metaphysisch fingierte Welt auch 212 „eine Schöpfung der grossen Natur
selbst". Dies wird noch öfters ausgeführt, z. B. 433: „In dem wunder-
baren, von der vitalen Zweckthätigkeit schon unterhalb der Schwelle re-
flektierenden Bewusstseins gebildeten System der Regeln der Weltverar-
beitung wurde die metaphysische Auffassung schon mit grossgezogen, da
sie insofern zweckdienlich ist, als sie dem kindlichen Menschengeiste die
Kontinuitätskonstruktion fassbarer, greifbarer macht." Ferner vgl. 484:
„Das Wellenspiel der Thatsächlichkeit kennt solche Balken [so nennt der
Verf jene metaphysischen Begriffe hier] nicht, sondern diese, all dies
Feste wurde allererst geschaffen, erst fingiert durch den Kontinuitäts-
geist der vitalen Zweckthätigkeit."
Überall geht der Gedanke durch, dass diese vitale Zweckthätigkeit
solche Hilfsbegriffe geschaffen habe. So heisst es gleich weiter an der
eben angeführten Stelle : „Ein seine ,Eigenschaften' tragendes ,Ding'
finden wir nicht in der Thatsächlichkeit, sondern nur jene , Eigenschaften';
eine das ,Psychische' produzierende und tragende ,Seele', ein ,Ich' im üb-
lichen Sinne finden wir nicht, sondern nur jenes ,Psychische' allein als
einen wechselnden .Gesellschaftsbau der Triebe und Gefühle'" (484). Und
weiter: „Auch das , Psychische' einerseits, das , Physische' andererseits, das
, Geistige' hier, das ,Körperliche' dort, kennt die elementare Thatsächlich-
keit ebenso wenig, wie ein , Subjektives' und ein ,Objektives' " (485). Vgl.
800: Aus dem Subjektiven wird erst das Objektive herauskonstruiert, und
dann wird ein fiktiver Bezug des Subjektiven auf das fingierte Objektive
erst hineingelegt. Sehr bezeichnend ist die Stelle S. 339, wo es von den
objektiven Dingen heisst: „Das historische Empfinden gründet sich vor
Allem auf die kontinuitätsmethodische Fiktion der unter den veränder-
lichen Mosaikfeldern der Gesichtsthatsächlichkeit hindurch sich beständig
erhaltenden Dinge." Weitere derartige Hilfsbegriffe sind z. B. nach
S, 219 „astronomische Begriffe wie Himmelspol und Himmelsäquator,
Tierkreis, circumpolar, Rektascension und Deklination u. s. w." Ferner
z. B. auch 225: „die metaphysische Fiktion verschieden gekrümmter
Flächen oder höherer Mannigfaltigkeiten". Von weiteren derartigen fik-
tiven geometrischen Annahmen spricht der Verf. 241 ff.
Sehr klar sagt der Verf. 259: „Methodologisch, d. h. für die
Technik der Weltverarbeitung können solche Begriffe recht dienlich sein.
Dass sie für die Praxis des täglichen Lebens in vollendetem Grade zweck-
mässig sind, zeigt ja die von der Meisterin der vitalen Zweckthätigkeit
hierzu ausgebildete Gemeinanschauung; ob und wie weit sie auch für die
feinere theoretische Weltverarbeitung passend sein und bleiben werden,
wird in der künftigen Entwickelung von Erkenntniskritik und Methoden-
lehre zu untersuchen sein." So untersucht der Verf. überall den methodo-
logischen Wert jener Hilfsmittel ; vgl. 281 ff. über den methodologischen
Wert des Hilfsmittels der perspektivischen Interpretation.
Ein besonders oft wiederholter Gedanke des Verf. ist die mit Mach
koinzidierende Behauptung, dass auch die Naturwissenschaft von solchen
metaphysischen Fiktionen durchsetzt sei, z. B. 433 : „Die so modern selbst-
herrliche Naturwissenschaft stellte sich dann auf den unanalysierten Boden
dieser Gemeinanschauung, übernahm hiermit auch den metaphysischen
Recensionen (Löwenberg). 193
Geist dieser, um ihn in ihrem Lehrgebäude nun weiter und weiter leben
und schaffen zu lassen. Die Naturwissenschaft steckt — und noch dazu,
ohne das zu wissen — bekanntlich selbst bis über die Ohren in Metaphy-
sik." In einem ähnlichen Zusammenhang spricht der Verf. S. 249 den be-
merkenswerten Gedanken aus, dass hier „eine interessante vergleichende
Untersuchung der hypothetischen Fiktion in Mathematik und Naturwissen-
schaft einsetzen könnte, mit der sich eine eindringendere Beleuchtung und
Aufklärung des Wesens der naturwissenschaftlichen Forschung einerseits,
der mathematischen andererseits ergeben würde".
Bei einer solchen Untersuchung würde der Verf. aber zwei funda-
mentale Fehler vermeiden müssen, welche er durchgängig in seinen Unter-
suchungen macht, und welche beweisen, dass er nicht zur vollen Klarheit
durchgedrungen ist : Erstens, er müsste einen prinzipiellen Unterschied
machen zwischen Hypothesen einerseits, welche zur Ergänzung der
Thatsächlichkeit nicht bloss notwendig sind, sondern auch causae verae
treffen wollen, resp. das nicht gegebene Thatsächliche aus dem wirklich
gegebenen Thatsächlichen ergänzen, und andererseits zwischen Fiktionen,
welche nur dazu dienen, das Thatsächliche mit erdachten Hilfsbegriffen zu
umspannen. Vgl. hiergegen 449 450 Anm. Auf Dreyers Standpunkt
muss dieser Unterschied wegfallen. Es ist ein Hauptmangel des Ver-
fassers, dass ihm dieser Unterschied nicht zum Bewusstsein gekommen ist.
Es sei hier nur verwiesen auf die Bemerkungen in der Anmerkung auf
S. 248. — Ein zweiter Fehler ist folgender: Der Verf spricht von Fik-
tionen im Sinne von Annahmen, welche mit dem Bewusstsein davon ge-
macht sind, dass sie Falsches enthalten, das aber zur Berechnung der
Wirklichkeit zweckmässig ist, einerseits, und andererseits wird der Aus-
druck Fiktion aber auch noch von ihm verwendet, ohne dass er auf diesen
Doppelsinn aufmerksam macht, für falsche Annahme, welche unbewusst
gern; c.it werden, oder auch ohne Bewusstsein ihrer Zweckmässigkeit zu-
gleich und ihrer Falschheit. Er müsste sodann darauf aufmerksam machen,
dass die Fiktionen im letztgenannten Sinne das Erste sind, was von uns
unbewusst hervorgebracht wird, und dass dann derartige unbewusst ent-
standene Hilfslinien im Laufe der Zeit für den Forscher zu bewussten
Fiktionen werden können. Thatsächlich hat der Verf. das eingesehen,
wenn er es auch nicht vollständig deutlich formuliert hat. Er sagt wenig-
stens sehr treffend S. 496: „Durch die Illusionen des objektiv Festen und
des dogmatisch so oder so einzig Möglichen müsste die Entwickelung
wohl führen. Die Meisterin der vitalen Zweckthätigkeit hatte diese festen
Horizontumreissungen als provisorisches Gerüstwerk geschaffen. Unbe-
wusst bedienten sich dieser Balken das Volk sowohl als auch der gelehrte
Herr, bis die Weltverarbeitung allmählich die Höhen jener Allgemeinheit
gewinnt, von denen aus der schwindelnde Blick hinabsieht auf die be-
kannten positiven Ausprägungen und materialen Realisationen innerhalb
einer Mannigfaltigkeit noch weiterer Möglichkeiten, und wo vor den
durchbrechenden Lichtbahnen der höher auf ihrer Bahn emporsteigenden
Sonne des Intellektes die Gebilde des alten Begriffes der objektiven Rea-
litäten und Wahrheiten sich auflösen und an ihrer Stelle sehen lassen
perspektivische Fluchten des unbeschränkten Weltalls in diesem höheren,
,geistig'-phänomenalistischen Verstände dieses Wortes. Die Balken ,der
Wahrheit' können fallen, nun, wo der ,menschliche Geist' das Schweben
lernt in den freien Höhen."
Halle a. S, H. Vaihinger.
Löwenberg, Adolf. Fried. E. Benekes Stellung zur Kant-
schen Moralphilosophie. Berlin, Meyer & Müller, 1902. (104 S.)
Die von Löwenberg behandelte Frage wird jedem, der sich mit
Benekes Ethik beschäftigt, nahe liegen ; ein nicht geringer Teil der letz-
teren ist eine Polemik gegen Kant, und was Beneke in der Geschichte
der deutschen Ethik seine bedeutende Stellung giebt, ist vor allen Dingen
sein Versuch — in Opposition zu Kant und der Romantik — der Ethik
Kantstudien X, IQ
194 Receusionen (Löwenberg).
eine rein empirische Grundlage zu schaffen. Ohne eigentlich Neues her-
vorgehoben zu haben, hat Löwenberg das Verdienst, dass er dies auf zu-
verlässige Weise dargestellt hat, dass er zugleich verstanden hat, wie
Kants Ethik tiefere Gedanken enthält als die im Aufbau seines Systems
zum Vorschein kommenden, und endlich, dass er an entscheidenden
Punkten gezeigt hat, wie gross die Entfernung ist zwischen dem, was
Benekes Ethik auf Grundlage der Erfahrung zu erreichen beabsichtigte,
und dem, was sie wirklich erreichte.
Die Kritik, die Beneke gegen die Methode und die Grundbegriffe
des praktischen Systems Kants richtet, fällt bei der Untersuchung seiner
Stellung zu Kants Ethik am leichtesten ins Auge. Dieselbe ist der Pro-
test der gesunden Vernunft gegen Kants verwickeltes metaphysisches
System ; Beneke verlangt eine empirische Ethik, die sich auf Untersuch-
ungen der Natur des Menschen stützt, und die Polemik, die er von diesem
Standpunkt aus gegen Kant führt, erscheint uns jetzt sehr richtig und
sehr selbstverständlich ; um Benekes Bedeutung aber auf rechte Weise zu
schätzen, muss man eingedenk sein, dass er der erste war, der in Deutsch-
land Kants ethisches System an allen Hauptpunkten einer systematischen
Kritik unterwarf und zwar einer Kritik, die hier wirklich das entschei-
dende Wort sprach. Freilich ist es wahr, dass Beneke die grossen und
bedeutungsvollen Gedanken nicht hervorzog, die in Kants ethischem
Systeme den Hintergrund bilden, deren Schätzung dazu führen wird, Kant
einen noch höheren Platz, auch in der Geschichte der Ethik, anzuweisen,
als Beneke sich vielleicht dachte ; hierbei ist aber zu bedenken, dass
Beneke mitten im Kampfe stand, dass es seine Aufgabe wurde, Kants
Fehler zu bekämpfen, nicht aber, das hinter allen Fehlern liegende und
alle Fehler überragende Grosse geschichtlich zu schätzen. Einem gar zu
nahe stehenden Beschauer fällt es oft schwer, das Grosse zu entdecken,
und zu allen Zeiten werden Hegels Worte gelten: „die Eule der Minerva
beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug" ; gerade in
der Dämmerung darf man aber die Männer nicht vergessen, die den Streit
des Tages auskämpften, die diesen mit solchem wissenschaftlichen Ernst
und wissenschaftlicher Gründlichkeit führten, wie Beneke seinen Angriff
gegen Kant.
Das Psychologisch-analytische und das Metaphysisch-konstruktive
gehen bei Kant Hand in Hand; obschon man jetzt imstande ist, histo-
risch die psychologische Grundlage zu finden, die für Kants Etliik ent-
scheidend war, war für Kant selbst die Basis metaphysisch und die Me-
thode rein konstruktiv. Als Grundlage betrachtet (der Emotionalismus)
war das Gefühl für Kant das Irrationale, als Prinzip betrachtet (der Eu-
daimonismus) das Egoistische; dass man methodisch auf psychologischem
Wege in der Ethik zu einer allgemeingültigen Wertung gelangen könne,
bezweifelte er, da die verschiedenen Neigungen stets verschiedene Wertung
geben müssten ; die Grundlage suchte er deshalb in der Form. Mit
Recht hebt Löwenberg hier die Zweiseitigkeit des Apriorischen hervor
(67). Der psychologische Ausdruck für die notwendigen Voraussetzungen
der Erkenntnis ist der Begriff der Synthese, die Äusserung der Einheit
des Bewusstseins ; in der Ethik wird diese Einheit aber zugleich als die
Übereinstimmung des Individuums mit sich selbst real bestimmt, und das
ethische Kriterium des allgemeingültigen Gesetzes wird deshalb rein for-
mell eben die Allgemeingültigkeit des Gesetzes, die Erhebung der Maxime
des Einzelnen zu einem universellen Gesetze (22). Dieser Kantische For-
malismus, der wieder mit Kants scharfem Dualismus zwischen Moral und
Natur in enger Verbindung steht, hat die Geschichte der deutschen Ethik
stark beeinflusst; Verzweigungen desselben treffen wir bei J. G. Fichte,
Schleiermacher und Herbart an.
Gegen Kant stehen hier aber zwei weit verschiedene Eichtungen
deren Kritik von grossem Interesse ist. Aufs entschiedenste hat Hegel,
darauf aufmerksam gemacht, dass Kants Kriterium ein durchaus unge-
Recensionen (Löwenberg). 195
nügendes ist (Rechtslehre § 13B). Einen Inhalt habe Kants Ethik prinzi-
piell nur durch den Begriff der „Würde des Menschen" und dadurch er-
langt, dass die Form, homo noumenon, in der That sozial bestimmt sei.
In seiner Kritik gerät Hegel aber durch eine Verwechselung der Gesichts-
punkte und durch sein fortwährendes Streben, das Objektive gegen den
Einzelnen und gegen die Überzeugung des Einzelnen zu behaupten, dahin,
dass er auch Kants letztes, unwiderlegliches Prinzip der Ethik : Nichts ist
gut als nur der gute Wille (Rechtslehre § 140), erschüttert. Mit Recht
hielt die andere Richtung in der Geschichte der deutschen Ethik, die
sich gegen Kants Formalismus kehrte, an diesem wichtigen Prinzipe fest.
Jacobi verficht die Berechtigung des Gefühls gegen Kants ethische
Form, die strengen Grundsätze, und in enger Verbindung hiermit die Re-
lativität, die Bedeutung der individuellen Verschiedenheiten, und im
Gegensatz zu Kants scharfem Dualismus zwischen Moral und Natur die
Bedeutung der natürlichen Moral neben der durch Kampf erworbenen.
Zu Jacobis Richtung gehörte Beneke anfänglich, und mit Recht macht
Löwenberg darauf aufmerksam, wie grosse Impulse Beneke von Jacobi
erhalten hat (28 — 31). Durch die „Physik der Sitten" geht das fortwäh-
rende Streben — im Gegensatz zu Hegels fast gleichzeitiger „Rechtslehre"
— dem Einzelnen sein Recht und den individuellen Verschiedenheiten ihre
ethische Berechtigung zu wahren. Kein anderer ist mit solcher Kraft wie
Kant für die Persönlichkeit des Einzelnen eingetreten, die metaphysische
Voraussetzung des Kantischen Persönlichkeitsbegriffes war aber die, dass
die einzelnen Persönlichkeiten sich gleich seien, dass der Mensch als Ding
an sich — wie dies auch in der theoretischen Philosophie die Voraus-
setzung für das Ding an sich war — konstant wirke. Dass die Menschen,
tiefinnerst betrachtet, dasselbe wollten, dass das Gewissen oder der Ver-
nunft-Wille sozial bestimmt sei, war die stillschweigende Voraussetzung
für Kants ethische Metaphysik, und von diesem Standpunkt aus stellte er
die Überzeugung des Einzelnen als das Höchste auf, übersah dabei aber,
wie unendlich kompliziert die Natur der Menschen ist, wie grosse Berech-
tigung die individuellen Verschiedenheiten haben. Kant blieb bei den
grossen, typischen Formen stehen, mit Recht behaupten Jacobi und Beneke
die Berechtigung der unzähligen Abweichitngen innerhalb dieser Formen.
Hier hat Löwenberg (vgl. 35) nun nicht bemerkt, dass gerade diese
Behauptung — wie sonderbar es auch aussehen kann — Beneke zum
Kantischen Formalismus zurückführt, natürlich nicht so, wie dieser in
Kants definitiver metaphysischer Ethik vorliegt, nachdem er mit dem
scharfen Dualismus zwischen Form und Stoff in Verbindung gebracht war,
sondern so, wie wir ihn im zweiten ethischen Stadium, wo Kant noch
wesentlich auf dem Boden der Erfahrung steht, finden, hauptsächlich re-
präsentiert durch das Reickesche Fragment (Lose Blätter aus Kants Nach-
lass I, 6). Von den individuellen Verschiedenheiten, den streitigen Ge-
lüsten und Neigimgen aus bezweifelt Beneke die Möglichkeit einer objek-
tiven Wertung, weshalb er mit dem rein formalen Kriterium endet : gut
ist, was mit dem Gewissen übereinstimmt („rein durch seine Wertgebung
bestimmt zu sein". Physik der Sitten, 175, 211 — 2l2j. Die subjektive Be-
trachtung muss notwendigerweise zu diesem Prinzip als dem letzten
führen ; was nicht aus dem Gewissen, dem Zentralen des Bewusstseins,
entspringt, das ist nicht gut, wie seine Wirkungen, auch werden möchten,
und bei jeder Wertung muss die Sanktion des Individuums die letzte
werden. Es scheint hier auf einem Missverständnis zu beruhen, wenn
Löwenberg polemisiert gegen „den Rigorismus der Benekeschen Ethik :
dass diese nur dann ein Handeln als sittlich vollwertig gelten lässt, wenn
dasselbe seinen Grund hat in dem bleibenden inneren oder unbewussten
Seelensein (45-48). Das Bedeutende der „Physik" ist — ausser der ent-
schiedenen Behauptung der empirischen Methode — eben die Präzisierung
des Begriffes „Wertgebung". Jede ethische Wertung muss konsequent
auf den Charakter, das Konstante und Bleibende des Bewusstseins zurück-
IS*
196 Recensionen (Löwenberg).
führen. Wir beurteilen eine Handlung: nur als Ausschlag des Charakters;
dits ist kein Rigorismus, sondern nur die Konsequenz, zu der jede psy-
chologische Betrachtung des Ethischen führen inuss. Eben das Verhalten
zwischen dem Zentralen und dem Peripheren des Bewusstseins konnte
mittels der quantitativ-psychologischen Methode Benekes klar präzisiert
werden, und durch seinen Begriff der „Wertgebung" erzielt er einen
richtigeren und deutlicheren Ausdruck dessen, was Kant durch seinen
Vernunft-Willen hervorheben wollte, der psychologisch in der That das-
selbe ist wie „die Spontaneität" des Reickeschen Fragments und Avie das
von der modernen Psychologie jetzt nur das Gewissen, der Charakter oder
die ethische Seite der „realen Einheit" des Bewusstseins (Höffding) Ge-
nannte. Von seinen Grundbegriffen aus bestimmt Beneke dies als „das
den grössten Raum Einnehmende"; eine Psychologie, die nicht so viel wie
die Benekesche quantitative Bilder anwendet, würde diesen vortrefflichen
Ausdruck übersetzen durch: die Vorstellungen, die stärker gefühlsbetont
sind, die deshalb stets wieder im Bewusstsein zum Vorschein kommen,
und mittels deren das Individuum sich selbst wiedererkennt. Löwenberg
hat deswegen auch gewiss unrecht, wenn er einen Unterschied zwischen
der „Physik" und den „Gnmdlinien" darin behaupten will , dass
die Wertung in jener „die innere That", in diesen „die bleibende innere
Gesinnung" zum Objekte habe (48j ; die „Wertgebung" in der „Physik"
ist gerade der Ausdruck für „die bleibende innere Gesinnung", auf die
alle Wertung zurückzuführen ist, die Beneke aber zugleich einseitig als
das einzige Kriterium des Guten aufstellt. Die rein subjektiv-psycholo-
gische Betrachtung, die mithin nur zum formalen Kriterium des Gewissens
führen kann, ist durch eine objektive zu ergänzen, der reale Inhalt des
Gewissens muss bestimmt werden. In der „Physik" gelang dies Beneke
nicht, weil er die Relativität so stark behauptete, in den „Grundlinien"
dagegen präzisiert er diesen Inhalt klar (^man sehe die Beweisstellen im
Archiv f. Gesch. d. Philos. XVI, 204—217, vgl. Jodl : Geschichte der Ethik
II, 549). In der „Physik" steht Beneke, von Jacobi beeinflusst, ähnlicher-
weise da wie Kant im Reickeschen Fragment; erst unter Benthams
Einwirkung gelangte er über den Formalismus hinweg, stellte er das ob-
jektive Prinzip als das Wohlfahrtsprinzip auf und kritisierte nun Kant am
entscheidenden Punkte, dem Eudaimonismus. Mit Recht erörtert Löwen-
berg den Unterschied zwischen Benekes und Benthams Ethik (43 — 44),
doch glaube ich, dass er nicht mit genügender Klai'heit gewahrt hat,
welche grosse Bedeutung Benthams Einwirkung für Beneke erhielt, und
dies hängt wieder damit zusammen, dass in der Darstellung an vielen
Punkten eine schärfere Entwickelung der prinzipiellen Grundprobleme der
Ethik zu wünschen gewesen wäre.
Es ist noch ein anderer Grund des Formalismus der „Physik" her-
vorzuheben, nämlich Benekes eigentümliche psychologische Methode,
und schon an diesem Punkte wird der Unterschied zwischen ihm und
Bentham ein durchaus entscheidender. Benthams Ausgangspunkt und
ganzes Interesse bewogen ihn, dem Psychologischen gar zu geringes Ge-
wicht beizulegen, Beneke wollte thatsächlich seine ganze Ethik aus dem
Psychologischen allein konstruieren. Einerseits giebt nun die quantitative
Methode in der Psychologie in gar zu grossem Umfang ganz abstrakte
Grundbegriffe, die als leere Schattenrisse dastehen, und mit denen man
bei konkreten psychologischen und ethischen Untersuchungen unmöglich
operieren kann, anderseits führt Benekes Sinn für individuelle Verschieden-
heiten, seine Behauptung der Relativität hiermit im Verein zu Unklar-
heiten und zu einer kasuistischen Darstellung, deren grosse Linien sich
nur schwer klar ziehen lassen. In seiner Methode ei'blickte Beneke aber
nicht nur den Weg des weiteren Forschens, sondern auch zugleich einen
Weg, auf dem man seiner Meinung nach mit derselben Sicherheit wie in
der Mathematik Schritt für Schritt vorwärts gelangen könnte. Kant
unterschätzte die Psychologie und strebte deshalb über die Erfahrung
Recensionen (Löwenberg). 19«
hinaus, Beneke überschätzt auf dem Boden der Erfalirung in hohem
Grade, was die Psychologie der Ethik zu gewähren vermag, und indem
er — wie Locke 'in seiner theologischen Ethik die speziellen Regeln
mathematisch deduzieren zu können glaubte — die Ansicht hegte, mittels
seiner Methode zu mathematischer Gewissheit gelangen zu können, ent-
ging es seiner Aufmerksamkeit, dass er eigentlich, von einer ganz anderen
Grundlage als der von Kant benutzten aus, einen ähnlichen Fehler begeht
wie dieser selbst. Trotz seiner Behauptung der individuellenV erschiedenheiten
erhielt seine Ethik ebenso wie die Kantische an vielen Punkten einen
durchaus abstrakten und formalen Charakter. Mit Recht hebt Löwenberg
hervor, in wne hohem Grade Beneke sein psychologisches System über-
schätzte, und wie wenig seine psychologische Methode in der Ethik ge-
nügte (15-18, 75—84).
Mittels seiner psychologischen Methode glaubte Beneke eine ratio-
nale Ethik, ein allgemeingültiges empirisches System erreichen zu können.
Es wäre hier ein Anlass, Kant gewissermassen zu verteidigen, insofern
sich sagen lässt, dass dies Beneke nicht gelang. Kant wollte eine objek-
tive und allgemeingültige Ethik und verliess darum die psychologische
Begründung, indem er, wie Löwenberg richtig bemerkt {8V, in weit
höherem Masse als Beneke die der Psychologie ihrer Xatur nach anhaften-
den Schwächen erblickte. Dass er selbst der Meinung war, von seiner
metaphysischen Grundlage aus zu einer rationalen, allgemeingültigen Ethik
gelangen zu können, war eine Illusion; ist Benekes empirische Ethik an
diesem Punkte aber eigentlich viel günstiger gestellt als Kants Ethik?
Es wird sich thatsächlich ebenso unmöglich erweisen, eine rationale Ethik
zu erzielen, als den Punkt des Archimedes zu finden, von dem man die
Erde bewegen könnte, denn jede Wertung wird von Menschen angestellt,
und die psychologische Betrachtung führt gerade zu der Begrenzung der
Ethik, dass' die Überzeugung des einzelnen Individuums das Letzte werden
mu''s. Eine Handlung kann dem Gewissen eines Menschen ^^^derstreiten,
und wird dann absolut verdammt; wer aber seinem Gewissen gehorcht,
der ist ethisch unwiderleglich; jeder Mensch muss von seiner eigentüm-
lichen Grundlage, von seiner eigenen „Wertgebung" aus handeln und
werten. Das letzte subjektive Prinzip der Ethik, die Sanktion des Ge-
wissens, bezeichnet die Grenze der Ethik. Inkonsequent ging Beneke in
der „Physik" (siehe z. B. 214, 264) über diese Grenze hinaus, wo er an
einzelnen Punkten, im Widerspruch mit einem eigenen Prinzip, das Ge-
wissen selbst ethisch versteht. Man kann aber durch eine objektive
Untersuchung, nachdem man psychologisch gewisse Grundtendenzen des
Menschen hervorgehoben hat, den Ausdruck dieser Tendenzen z. B. im
Wohlfahrtsprinzipe finden, und zu bestimmen suchen, was man die ethische
Idee und deren Stellung zur Wirklichkeit nennen könnte. Sehr richtig
behauptet Beneke in den „Grundlinien", wo auch das Objektive anzutreffen
ist, ich könne das allgemeine Wohl fördern, ohne mir der Tendenz oder
der Idee der Handlung bewusst zu sein (Löwenberg, 49); es muss ausser
dem subjektiven Gesichtspunkte also noch einen anderen geben. Diesen
Gesichtspunkt, dessen die „Physik" ermangelte, präzisiert Beneke in den
, .Grundlinien", ohne ihn jedoch mit seinem Ausgangspunkte recht in Har-
monie bringen zu können, wiewohl er glaubt, in seinen 5 ethischen Kate-
gorien gerade das allen Menschen gemeinschaftliche Psychologische ge-
funden zu haben. Die Schuld hieran ist in Benekes engem individual-
psychologischem Standpunkte zu suchen; die genauere Untersuchung des
objektiven Prinzips muss mittels der geschichtlichen Methode ge-
schehen, namentlich durch die Entwickelung des Rechtes und der öffent-
lichen „Moral". An diesem Punkte hätte Beneke noch mehr lernen können,
nicht nur von Bentham, sondern auch von Kant und Hegel. Von
Benekes Mängeln abgesehen, wird eine rationale, allgemeingültige Ethik
jedoch nie auf dem Wege der Erfahrung — ebensowenig wie auf irgend
einem anderen Wege — zu erreichen sein. Die psychologische Analyse
198 Recensioneii (Löwenberg).
kann vielleicht irgend eine — mehr oder weniger bewusste — Tendenz
nachweisen, die objektive Analyse vermag vielleicht zu zeigen, dass diese
Tendenz im Laufe der Zeiten stärker geworden ist, dass die ethische Idee
grössere Klarheit erlangt hat, — dennoch liegt die Grenze immer im Ge-
wissen des Einzelnen, dennoch muss in letzter Instanz die Sanktion des
Einzelnen das Entscheidende werden; was nun auch immer in der Welt
wirklich werden mag, so muss doch stets jeder einzelne Mensch für sich
entscheiden, ob dieses Wirkliche denn aucli vernünftig ist. Etwas muss
den Menschen gemeinschaftlich sein, sonst wäre keine objektive Ethik
möglich ; und dennoch — so viele Menschen, so viele Wertgebungen ; nur
wenn alle Menschen sich gleich wären, und es sich beweisen liesse, dass
sie sich fortwährend gleich blieben, würde eine rationale, allgemeingültige
Ethik möglich sein. Eine solche konnte Kant aufstellen, weil er glaubte,
auf metaphysischem Wege zu diesem Gemeinschaftlichen und Allgemein-
gültigen gelangt zu sein, einen Ausdruck für homo noumenon gefunden
zu haben, für das Absolute des Menschen, das über alle Relativität er-
haben sei ; Beneke hat aber nicht die grosse Begrenzung erblickt, die sein
empirischer Standpunkt hier herbeiführen musste.
Hiermit in Verbindung möchte ich einen anderen Punkt in Benekes
Beziehung zu Kant hervorheben, auf den Löwenberg sich nicht näher ein-
gelassen hat, nämlich den tiefen persönlichen Unterschied inbetreff der
ethischen Grundanschauung der beiden Forscher. Im homo noumenon
fand Kant das Gemeinschaftliche und Allgemeingültige; der Grund, weshalb
er dieses behauptet, liegt aber gewiss zuguterletzt, was auch die nähere
Ausführung seines ethischen Systems zeigt, in seinem tiefen Drange, die
Persönlichkeit zu behaupten, für Menschenwert und Menschenrecht zu
kämpfen. Darin besteht Kants Grösse, dass er trotz aller Metaphysik be-
hauptete, der Einzelne sei das Letzte, dass er den letzten und einzigen
Wert in dem guten Willen fand. Hinter Kants scharfem Dualismus,
zwischen Moral und Natur liegt ein tiefer ethischer Gedanke; Kant über-
sah den Einzelnen nicht; als ,, empirischer Pessimist" erblickte er die
Werte als im Leben kämpfend, die Moral des Einzelnen als durch Kampf
errungen — oft, indem alles geopfert wird. Trotz der Postulate der Re-
ligionsphilosophie, die thatsächlich mit dem kategorischen Imperativ im
Widerspruch stehen, glaube ich, dass dieser Gegensatz zwischen Ideal und
Wirklichkeit, zwischen dem Kampfe des Einzelnen und dem Laufe der
Welt das Grösste und Tiefste in Kants Ethik bezeichnet. Darin, dass der
einzelne Mensch trotz aller und allem, das, was er für recht hält, zu be-
haupten und verfechten wagt, sah Kant den ewigen Adelsbrief des
Menschengeschlechtes. Nur wenige haben hier Kant so gut verstanden
und seine Ethik auf so grossartige Weise weiter geführt wie J. G.
Fichte. Hegel gelangte erst, nachdem er in allen Akten seines grossen
Dramas ,,Die Phänomenologie des Geistes" den Einzelnen und dessen
Recht vernichtet hatte, zu seiner stolzen Proklamation :
„Was vernünftig ist, das ist wirklich;
und was wirklich ist, das ist vernünftig."
Gerade Beneke gegenüber liegt an diesem Punkte ein Grund vor, das
Grosse der Kantischen Ethik hervorzuheben. Mit Recht kritisierte Beneke
Kants Sonderung zwischen Moral und Natur, er legte aber keinen ge-
nügenden Nachdruck darauf, dass die Moral nur durch Kampf zu erringen
ist (vgl. Löwenberg 28), er sah den tiefen Grundgedanken nicht, der hinter
Kants Dualismus liegt, und er hat nicht verstanden, dass der kategorische
Imperativ und die Freiheit bei Kant ein — in seiner Form freilich unge-
eigneter — Ausdruck für das Recht des Einzelnen und ein Versuch waren,
die Unabhängigkeit des Einzelnen von allem Äusseren zu behaupten.
Trotz seiner Behauptung der Relativität war Beneke geneigt, ebenso wie
Shaftesbury, Hutcheson und Hume — denen er in den „Grund-
linien" an vielen Punkten nahe steht — eine gar zu grosse Harmonie der
Natur mit der Moral herzustellen. Wie kein anderer hatte Kant Blick
Recensionen (Löwenberg). 199
für den grossen Konflikt des Lebens, während die Engländer und Beneke
oft zu sehr bei den kleineren Konflikten im Leben verweilten. Wegen
ihrer Behauptung dieser Hai'monie, wegen ihi'es ethischen Ideals, der
Hannonie unter den verschiedenen Affekten (Physik S. 168), steht Benekes
Ethik, wie Löwenberg ganz recht andeutet (43), an vielen Punkten der
griechischen nahe. Hier steht Beneke allerdings Bentham fern, aber
Shaftesbury und Hume um so näher.
Es macht sich in Löwenbergs Schrift überhaupt der Mangel einer
deutlicheren Schilderung des geschichtlichen Hintergrundes etwas fühlbar ;
viele prinzipielle Fragen würden sonst klarer hervorgetreten sein ; vielleicht
wären auch mehrere Eigentümlichkeiten der Benekeschen Ethik mehr zu
ihrem Rechte gelangt. In Benekes Verhalten zu Kant verzweigen sich
die Fäden weit mehr, als Löwenberg meines Erachtens es gewahrt hat.
Obgleich Beneke in seiner Ethik gewissermassen stets wieder zu Kant
zurückkehrt, indem er dessen strenge kritische Methode gegen Kants
eigene Ethik in Anwendung bringen wiU, und obgleich er die Romantik
eigentlich nur als eine Richtung Kantischer Epigonen betrachtet, die mit-
getroffen werden, wenn er Kant trifft, die sich sonst aber von Kants
richtigen Gedanken so weit entfernt hätten, dass sie keiner erheblichen
Polemik wert seien, glaube ich doch, dass es an mehreren Punkten mehr
Licht über Benekes Verhalten zu Kant verbreitet haben Avürde, wenn
Löwenberg Benekes Beziehung zur Romantik mit in seine Untersuchung
hineingezogen hätte. Besonders die Ähnlichkeit zwischen Beneke und
Schopenhauer ist geschichtlich interessant. Zugleich würde dies Beneke
den Hintergrund verleihen, der ihm gebührt, um das Grosse sowohl seiner
Lehre als seiner Persönlichkeit klar zum Vorschein zu bringen. Benekes
Grösse wird sich als mit seiner Begrenzung eng zusammenhängend er-
weisen. In der Geschichte der deutschen Philosophie ist seine Ethik
eigentlich die der englischen am nächsten stehende — selbst wegen der
Breite ihrer Form. Beneke bildet das bedeutungsvolle Bindeglied zwischen
der deutschen und der englischen Ethik, er hat es wie wenige andere
verstanden, von beiden Seiten wertvolle Gedanken aufzunehmen, und er
steht da als der erste Vertreter der rein positiven Ethik in Deutschland
seit Kant. Es trug zu Benekes Grösse bei, dass seine Thätigkeit in jene
Zeit fällt; es wurde seine Aufgabe, für die objektive, streng wissenschaft-
liche Betrachtung in der Philosophie einzutreten gegen die von den
grossen Persönlichkeiten getragenen genialen Dichtungen, gegen die
Kunst der Philosophie bei den Heroen der Romantik. Der Weg, den
Beneke zeigte, wurde der Weg, den die vielen einschlagen mussten ;
die Einzelnen, die Grossen der Romantik, wagten es, den Himmel selbst
zu stürmen ; auch diesen Geringeren, wiewohl augenblicklich weniger Be-
achteten, die sich an der Erde halten und hier der Wissenschaft den Weg
zu bahnen suchen, kommt aber auch eine Bedeutung zu. Schopenhauer
nennt Beneke verächtlich „einen armen empirischen Teufel", und doch ist
es gerade dessen grosses Werk, dass er trotz Verhöhnung und Nicht-
achtung unerschütterlich daran festhielt, dass der Weg der Erfahrung in
der Wissenschaft der einzige sichere ist. Den Weg, den jetzt aUe Psy-
chologen und Ethiker betreten, behauptete Beneke wider die herrschende,
romantische Richtung der damaligen Zeit; seine unbestechliche Redlichkeit
und Treue in diesem Kampfe verleihen seinen Werken ihr grosses ge-
schichtliches Interesse und umgeben zugleich sein Leben mit einem
tragischen Schimmer. In seinem Kampfe stand Beneke da als ein ein-
samer Mann, als Feind der mächtigen Hegeischen Schule, von Altenstein
der venia legendi beraubt, von den Herbartianern des Plagiats bezichtigt,
von Schopenhauer auf ungerechteste Weise verhöhnt. Während der
Blütezeit des Hegelianismus erlitt er dasselbe Schicksal wie Schopenhauer ;
letzterer sah aber in seinem hohen Alter die Frucht seines Lebenswerkes
reifen und genoss eines Weltrufes, während Beneke der einsame, unbe-
achtete Forscher blieb, der jedoch der Wissenschaft alles opferte und im
200 Recensionen (Boucher).
Glauben an das Recht seiner Sache unverdrossen weiter kämpfte, bis der
Missmut schliesslich seine optimistische, arbeitsame Natur überwältigte.
Wie Benekes Philosophie, besass auch seine Persönlichkeit die grosse
Eigenschaft, dass es ihr nur auf die Sache, nie auf die Person ankam.
Was in seiner Wissenschaft zum streng sachlichen Verfahren wurde, war
schliesslich in seinem innersten Wesen begründet, in der Persönlichkeit,
für die stets nur die Sache, nie aber sie selbst das Ziel war, und die sogar
stets zu vermeiden suchte, was eigentümlich und persönlich sein könnte.
Hier liegt, nun auch seine Begrenzung; obschon wenige andere die indivi-
duellen Eigentümlichkeiten so kräftig verfochten haben wie gerade er,
erhält seine nähere Entwickelung eben hierdurch ein abstraktes und un-
persönliches Gepräge, und dies miisste auch seiner Stellung zur Romantik
seine Farbe geben. Seine Einseitigkeit in dieser Beziehung tritt am
klarsten vielleicht in seiner Beurteilung J. G. Fichtes hervor (vgl. Gram-
zow S. 78 — 83); von Benekes Standpunkt aus erscheint Fichtes gewaltige
Persönlichkeit als ein Usurpator, der in der Philosophie nur das : Sic volo,
sie jubeo ! seines eigenen Ich setzte. Er sah nicht, dass das Tiefinnerste
dieser Persönlichkeit die Liebe zur Sache war, die Sache, die im eigent-
lichsten Sinne ein Teil der Persönlichkeit geworden war. So wie es ihm
oft auch in seiner Polemik gegen Kant erging, zerbrach er die Schalen —
und zwar gründlich, — Hess mitunter aber die Kerne liegen. Trotz alle-
dem wird Beneke aber noch bei weitem nicht hinlänglich geschätzt, und
es ist deshalb jede Schrift über ihn mit Freuden zu begrüssen, die wie
die vorliegende allen Parteien ihr Recht wiederfahren zu lassen sucht,
denn gerade dies ist ganz im Sinne Benekes, und gerade hierdurch wird
ihm am sichersten der Platz angewiesen, der ilim gebührt. Schliesslich
erwähne ich nur zwei untergeordnete Punkte in Löwenbergs Schrift, die
mir hier kritische Erinnerung zu verdienen scheinen, weil sie Kant be-
treffen. Kants spätere Stellung zum Eudaimonismus betrachtet Löwenberg
als die eines Renegaten, der am leidenschaftlichsten bekämpft, was einst
seine Überzeugung war (59). Diese Auffassung beruht auf ungenügender
Kenntnis der interessanten Entwickelung der Kantischen Ethik, in welcher
durch alle Stadien hindurch ein enger innerer Zusammenhang der Grund-
gedanken sich nachweisen lässt. Löwenberg hat, wie hervorgehoben, an
vielen Punkten mit Recht Beneke kritisiert, ich möchte aber entschieden
behaupten, dass Beneke in der Frage nach dem Verhalten des homo nou-
menon zur Kausalitätskategorie gegen Kant und Löwenberg (88—89) recht
hat. Eine genauere Untersuchung von Benekes Kritik der Kantischen
Erkenntnistheorie ist eine Aufgabe, die an vielen Punkten grosses Inter-
esse darbieten würde.
Kopenhagen. Anton Thomsen.
Boucher, M. Essai sur l'hyperespace , le temps, la matifere
et r^nergie. Paris, F. Alcan. 1903.
Wenn eine Lehre dadurch an Richtigkeit gewinnen könnte dass
man sie recht oft wiederholt und sie in recht vielen Schriften, be-
handelt, so müssten die Gespinnste des „Überraumes", der Nicht-Euklidi-
schen Raumformen bereits zu dem sichersten Bestände unserer Erkenntnis
gehören. Leider steht die grosse Zahl populärer und philosophischer Auf-
sätze (von den speziell mathematischen sehe ich natürlich ab) über die
Pangeometrie nicht im Einklang mit der recht geringen Produktion neuer
Gedanken, so dass man immer noch auf Gauss, Riemann und Helmholtz
hinweisen muss als diejenigen, welche dem neuen Gebäude den philoso-
phischen Grund zu geben versuchten. Zwar hat die Psychologie teilneh-
mend die gestellten Fragen angehört und scheinbar günstige Antwort ge-
geben ; prüft man aber näher, so bemerkt man, dass sie es vorsichtig ver-
meidet, den wunden Punkt zu berühren, dass die Hauptentscheidung nicht
in ihrer Macht steht. Sie erzählt uns sehr viel Schönes von den räum-
lichen Vorstellungen und deren Entstehung, aber nichts über den Raum"
begriff, welcher der Geometrie zu Grunde liegt, sie beschreibt uns da^
Recensionen (Boucher). 201
subjektive Erlebnis, verschweigt uns aber seinen objektiven Sinn. Daran
thut sie recht. Der Mathematiker aber thäte unrecht, ihren Worten als
einem Evangelium zu lauschen und sich der wahren und einzigen Schieds-
richterin, der Erkenntniskritik; hartnäckig zu entziehen. Fast gar nichts
ist von Seiten unserer Pangeometer gethan, was auf ein Bemühen schliessen
Hesse, mit der Philosophie in Berührung zu treten. Sie haben ihre eigene
Philosophie, welche mit Kant in drei bis vier Sätzen fertig wird und das
Wort „Erfahrung" hätschelt.
Die vorliegende Schrift zeigt das Bemühen, an diesem Verhältnis
etwas zu ändern und die Bestrebungen Helmholtz' wieder aufzunehmen. Ich
habe sie als das angesehen, was der Titel sagt: als einen Essai. Es ist
kein in die Tiefe gehendes Werk, wenn wir auch mitunter treffliche, ori-
ginale Gedanken auffinden. Man kann es als durchaus populär bezeichnen.
Dadurch vermag es sich aber ein Verdienst um alle Philosophen zu er-
werben, welche, mathematisch nicht übermässig geschult, gleichwohl gern
einen Blick in die Gedankenwelt der modernen mathematischen Forschung
werfen würden, um sich mit eigenem Verstände zu überzeugen, ob Kant
durch die exakte Wissenschaft wirklich schon so weit überwunden ist, wie
es manchmal den Anschein hat.
Der Hauptgegenstand der Schrift ist nach des Verfassers eigenen
Worten die Darstellung und Verteidigung der mehrdimensionalen Geo-
metrie. Die vierte Dimension vornehmlich dem Verständnis der Gebildeten
näher zu bringen, damit wir in ihr eine Hypothese erkennen sollen, welche
vielen anderen gleichberechtigt ist, das lässt sich der Verfasser mit grossem
Eifer angelegen sein. Alles andere, die Behandlung der Zeit, Materie und
Energie, ist daneben von keiner selbständigen Bedeutung, sondern nur
Mittel zum Zweck. In mehreren Abschnitten führt uns der Verfasser
durch die Grundlagen der Geometrie und Physik, immer den Blick auf
das Ziel gerichtet, bei jeder Gelegenheit wird es uns gleichsam als eine
Anwendung der vorgebrachten Gedanken gewiesen. In dem letzten Teile
tritt dann die vierte Dimension in ihrem Verhältnis zur Geometrie und
Natur in den Vordergrund. Hier finden wir die Darstellung einer Welt
von zwei Dimensionen, welche Gauss zuerst erdacht, Helmholtz flüchtig
skizziert hatte, ferner einen interessanten Versuch, Naturerscheinungen durch
die Hypothese einer vierten Dimension zu „erklären"; einen Bericht über die
bezüglichen mathematischen Forschungen, soweit sie wichtig sind, eine An-
weisung, sich die ungewohnten Vorstellungen durch Mittel der Kombination
anschaulich zu machen. Im Anhange befindet sich eine elementare, leicht
fassliche Entwickelung der regulären Formen höherer Räume. Alles, wie
schon erwähnt, in nicht allzu originaler Auffassung, sondern immer hübsch
durchwoben von den Gedanken der Zeitgenossen, darum geeignet, ein Bild
von der viel beachteten Lehre zu geben. Das Studium des Buches wird
zur Kenntnis führen, wenn auch nicht immer zur Erkenntnis.
Es ist interessant, zu sehen, auf wie verschiedene Weise man die
Pangeometrie zu verteidigen sucht. Die einen flüchten sich in den unbe-
stimmten Bereich, welchen das Wort Erfahrung bezeichnet, andere wieder-
um erklären den Sinnen ihr Misstrauen, um sich zum mehrdimensionalen
Raum erheben zu können So sehr sich beides zu widerstreben scheint, so
sehr geht es doch Hand in Hand: die Erfahrung soll uns über die wirklich
vorhandene Raumform aufklären, die Abstraktion die Möglichkeit ver-
schiedener nahe legen. Auf diese Weise werden Geometrie und Physik
in dasselbe Fach gezwungen. Unser Scliriftsteller betont die ausgedehnte
Macht des Verstandes gegenüber der armseligen Beschränktheit unserer
Sinne. Durch sinnliche Wahrnehmung seien wir nicht auf Atome und
Äther gestossen, der Verstand stelle Hypothesen auf, um die Naturvor-
gänge zu begreifen. Der Gesichtspunkt, nach dem wir die Hypothesen
bilden, sei nicht immer der der Allgemeinheit und Widerspruclislosigkeit,
sondern der der Bequemlichkeit. Hypothesen seien ja nie absolut sicher.
Es ist indes fraglich, ob man sie alle für wesensgleich halten darf. Auch
202 Recensionen (Boucher).
die Grundg'esetze unserer Physik könnte man in gewissem Sinne Hypo-
thesen nennen, da das Experiment doch immer nur annähernde Ricliti;^:-
keit zu erweisen vermag. Indem wir dieselben zu Gesetzen erheben,
geben wir der Physik schon Form und Methode, erteilen wir ihr eine
Aufgabe : alle merklichen Abweichungen auf andere Ursachen zurück-
zuführen.
Die Aufgabe der Philosophie ist es nach B., der Wissenschaft nach-
zugehen, damit sie sich nicht mit Vergeblichem abmüht und in Wider-
spruch mit sich selbst gerät. Was ist denn dies für eine Aufgabe, welche
die Wissenschaft ihr zur Nachlese überlässt? Ich meine, dass gerade der
philosophische Geist der Spekulation erst den Fortschritt der Wissenschaft
möglich macht. Der Gedanke folgt nicht dem Experiment, sondern ordnet
dasselbe an. So wahr jedes Instrument einem bestimmten Zwecke dient,
so wahr leitet erst die Hypothese zur rechten Erfahrung.
Um die Auffassung der Pangeometer beurteilen zu können, ist
es wichtig, sich über die Methode der mathematischen Naturwissenschaft
klar zu werden. Denn sie sehen seit Gauss die Geometrie gar zu gern
als einen Teil der Mechanik an. Darum geht auch B. auf die Methode
der Physik ein, darum lesen wir neben Überraum auch Zeit, Materie,
Energie im Titel des Werkes. Überall tritt dies Bestreben zu Tage. So
heisst es an einer Stelle, eins der besten Mittel zur Erweiterung unserer
Erkenntnis sei „de mettre en doute tout ce qui peut nous sembler limite,
d'une mani^re arbitraire ou irrationelle, dans le domaine de nos connais-
sances". Ein merkwürdiger Einfall! Als ehemalige oder künftige Opfer
dieses Zweifels werden aufgeführt die Permanenz der G^ise, die Zahl der
Aggregatzustände und ■ — die Zahl der Dimensionen des Raumes. An
einer anderen Stelle wird für die vierte Dimension aus demselben Grunde
Anerkennung gefordert, wie für Atom- und Äthertheorie : weil sie eben-
falls ein bequemes Mittel zur Erklärung gewisser Naturerscheinungen sei.
B. hat sicherlich zu einem eingehenden Studium Kants keine rechte
Anleitung gehabt. Er betrachtet ihn durch die bekannte Helmholtz-Brille,
welche sich bei den Mathematikern immer noch grosser Beliebtheit er-
freut. Kants Haupteinwurf gegen die Realität des Raumes sei der, dass
er sonst Substanz oder Attribut sein müsse. Indessen sei die Definition
der Substanz recht unklar und unvollständig. Hier hat vermutlich Stallos
scharfsinnige Kritik Einfluss gehabt, welcher den Pangeometern Verding-
lichung des Raumes vorwirft, so dass nunmehr alles entweder Raum oder
Materie heissen müsse. (Man vgl. Stallo, die Begriffe und Theorieen der
modernen Physik.) B. glaubt, sie wohl durch seinen Einwand abgethan
zu haben.
Wenn sich B. durch Annahme der Realität des Raumes in Gegen-
satz ziuTi „Idealismus" Kants stellt, so zeigt er leider nur mangelnde
Kenntnis der Kantischen Philosophie. Kant verneint nicht die sinn-
liche Realität, sondern nur die übersinnliche. Immerhin ist dieser
Irrtum für einen Anhänger der physiologischen Theorie erklärlich. Da
heisst es, die Art unserer Raumvorstellung hänge von unserer Organisation
ab, der Raum könne noch viele Eigenschaften besitzen, deren Kenntnis
uns versagt ist. Hier haben wir in der That eine „Verdinglichung des
Raumes". So muss man den Raum betrachten, um überhaupt zu der Frage
zu kommen: Kann er nicht mehr als drei Dimensionen haben? Wie
sollen wir aber dann seine weiteren Eigenschaften kennen lernen ? Auf
dem Wege der Abstraktion, antwortet B. Er gerät durch diesen Schluss
in eine merkwürdige Lage: Er sieht den Raum als ein Unbekanntes an
und will ihn dennoch ohne Erfahrung durch Abstraktion erforschen. Er
beschreibt Gebiete, die er niemals durchwanderte. Da hilft auch der
Einwand nicht, dass der vierdimensionale Raum nur eine Hypothese sein
solle. Er konstruiert ihn vor, zeigt die Erzeugung der regulären Formen
in ihm. Wie aus dem Quadrat durch Bewegung in der dritten Dimension
der Würfel entsteht, so soll aus diesem durch Bewegung nach der vierten
Recensioneu (Boucher). 203
Dimension der Körper a* hervorgehen. Allein durch Analogie mit dem
dreidimensionalen Räume kommt er zur Kenntnis dieser Gesetzlichkeit.
Wäre eine derartige Erweiterung bei etwas anderem, als dem Räume mög-
lich, eine gänzliche Änderung des Wesens und dennoch ein völliger
Einblick ?
In derThat ist ja das, was uns der Mathematiker liefert, kein neuer Raum,
sondern die imaginäre Fortsetzung der Operationen der Konstruktion, welche
sich nur analytisch, nicht anschaulich streng darstellen lässt. Die Gebilde
höherer Räume sind nichts als Namen für gewisse analytische Ausdrücke,
deren Berechtigung in der Analogie mit den analytischen Ausdrücken der
Formen unseres Raumes zu suchen wäre. Riemann hat in seiner berühm-
ten Abhandlung nicht den Überraum entdeckt, sondern nur die Beding-
ungen festgestellt, unter denen sich analytische Ausdrücke rein geometrisch
deuten lassen. Die dadurch gelieferte Definition unseres Raumbegriffs ist
das wahre Verdienst seiner Schrift.
Nun versucht allerdings B. in einem ganzen Kapitel die Brauchbar-
keit der Hypothese der vierten Dimension darzuthun. Sie tritt ein als
Ersatz für die Hypothese des Äthers, erklärt die Gravitation u. s. w.
Man dürfe nicht einwenden, dass die vierte Dimension über die sinnliche
Erfahrung hinausgehe. Unsere Sinne versagen uns auch jede Kenntnis
des Äthers und der Atome, selbst des Magnetismus und der Elektricität ;
wollen wir sie deshalb aufgeben?
B. kennt die Lehre NeM'tons vom absoluten Räume. Er erwähnt,
dass Kant die Notwendigkeit des absoluten Raumes zur Lösung des Sym-
metrieproblemes betonte. Gleichwohl ist er, wie viele andere, auf die
wahre Bedeutung nicht gekommen. Der absolute Raum ist das, was Kant
Form der Sinnlichkeit nennt: die Grundlage aller Naturwissenschaft und
daher auch aller Hypothesenbildung. Atomtheorie, Ätherhypothese u. s. w.
feben uns Vorstellungen im Räume und nicht über den Raum, wie
ie Hypothese der vierten Dimension. Die Physik muss als mathema-
tische Lehre der Naturgesetzlichkeit unbedingt von der Geometrie ge-
tragen werden. Der Satz Kants, der Raum ist Grundlage aller Dinge als
Erscheinungen (oder der sinnlichen Erfahrung), ist noch niemals widerlegt,
wenn auch oft missverstanden worden. Räumliche und zeitliche Ab-
grenzung ist die Voraussetzung, unter der wir einen Gehalt an Empfind-
ungen im Dinge vereinigen, Einheit und Einerleiheit des Raumes die
Bedingung, unter der wir allein verschiedene Qualitäten auf dasselbe Ding
zurückführen können. Es müsste doch ein merkwürdiges Ding sein, dieser
unbekannte Raum ausser uns von beliebig vielen Dimensionen. Wenn
unsere Organisation wirklich schuld ist, dass wir nicht mehr als drei Di-
mensionen anschauen können, verschuldet sie nicht noch mehr, vielleicht
den Raum seihst ? Soweit kommt B. nicht. Sogar die leidige Krümmung
des Raumes, die er kürzer behandelt, als man gewohnt ist, wird dem
Räume selbst, nicht unserer Organisation, zugeschoben.
Was ich im Vorigen gegen B. eingewandt habe, kann man fast bei
jedem Buche wiederholen, was von mathematischer Seite über dieses Ka-
pitel geschrieben wird. Noch bleibt mir übrig, auf einige Stellen auf-
merksam zu machen, welche treffende Gedanken enthalten. B. zerstört
den Glauben an einen Unterschied zwischen wissenschaftlicher und meta-
physischer Hypothese. Jede Hypothese ist philosophisch. Allerdings kann
man die Hypothesen noch in anderer Weise trennen. Das Verhältnis des
Unendlichen zum Unbegrenzten scheint mir treffend gegeben zu sein.
Das Unendliche mache erst das unbestimmt Grosse möglich, nicht umge-
kehrt. Nicht die Zahl, sondern Raum und Zeit bringen das Unendliche
zum Ausdruck. Durch Teilung einer Strecke komme man nie zum Unend-
lichkleinen, sondern allein durch stetige Bewegung eines Punktes. Stetig-
keit und Unendlichkeit sind also in ihrer Gegenseitigkeit erkannt worden.
Kleinere Ungenauigkeiten des Kapitels über Stetigkeit und Unendlichkeit
will ich übergehen. Angeführt werden muss aber, dass er die erste Anti-
204 Recensionen (Duboc).
iiomie Kants mit der UnencUichkeit von Raum und Zeit zusammenbringt,
während sie nur die raum-zeitliclie Ausdehnung der Welt betrifft.
Die Darstellung besitzt alle Vorzüge, welche man französischen
Büchern mit Recht nachrühmt. Das Buch kann zum Studium einer mo-
dernen mathematischen Richtung nur empfohlen werden und ist auch ge-
eignet, dem Philosophen die Notwendigkeit eines solchen Studiums zu
beweisen. Denn der Verfasser hat seine Ausführungen nicht nur für den
Verstand, sondern auch für das Gemüt berechnet. Seine Einleitung schliesst
mit einem fast poetischen Lobe zu Guusten des Überraumes, welcher uns
die Möglichkeit anderer Existenzbedingungen vor Augen führen und zu
einer höheren Auffassung des Weltalls erheben soll. An ihm beweise die
Vernunft, dass sie wirklich von etwas anderem sei^ als die Materie, da sie
von ihr den Sinnen zum Trotz abstrahieren könne. Es liegt ja sehr nahe,
auf eine nach der Meinung des Verfassers geradezu kopernikanische Idee
eine neue Weltanschauung zu gründen. Das klassische Beispiel giebt der
immer noch nicht überwundene Materialismus.
Das aber muss für den Philosophen eine Mahnung sein, an den kri-
tischen Forschungen über die Grundlagen der Geometrie nicht vorbeizu-
gehen als einem Spezialgebiet, sondern in ihren Ergebnissen die weit-
gehende Bedeutung zu erfassen, welche sich in die praktische Philosophie
erstrecken kann, und den Gefahren einer falschen Überzeugung bei Zeiten
entgegenzutreten.
Magdeburg. Dr. W. Reinecke.
Duboc, Dr. J. und Wiegler, F. Geschichte der deutschen
Philosophie im XIX. Jahrhundert. (Das deutsche Jahrhundert in Einzel-
schriften.) Berlin, Schneider 1901.
Nichts ist für Kants historische und aktuelle Bedeutung bezeich-
nender, als dass die Verfasser vorliegender Schrift, in deren Augen Kant
eigentlich nur „ein kleinbürgerlicher und gedrückter Mensch" war (S. 334),
in ihrer Geschichte der deutschen Philosophie im 19. Jahrh. von circa
l.öO Seiten der Darstellung Kantischer Lehren 22 Seiten gewidmet haben.
Die Schrift ist ein Versuch, die philosophischen Richtungen des vergange-
nen Jahrhunderts (die ziemlich willkürlich und unübersichtlich gruppiert
werden) aus den subjektiven Stimmungen ihrer Träger heraus zu ent-
wickeln; sie dokumentiert sich damit als ein Erzeugnis der Nietzsche-
schen Schule. Aber sie vergisst, dass die gewissenhafte Durchführung
des Gedankens, die Systeme als Ausdruck persönlicher Instinkte und ge-
heimster Gefühle zu begreifen, weit schwerer ist, als eine sachliche Dar-
legung ihrer Lehren. Speziell für Kant hatte Gaultier in seinem (Kant-
studien, VII, S. 460 ff. besprochenen) Buche: De Kant ä Nietzsche diese
rein philosophie-psychologische Methode geistreich anzuwenden ver-
sucht, und die Grundauffassung unserer Schrift stimmt denn auch im
Wesentlichen mit derjenigen des hochbewunderten Franzosen (S. 331) über-
ein. Das Leitmotiv dieser Auffassung lautet: „Es ist ein unheilbarer Bruch
in ihm. Mit grossem Ernst schwört er der Erkenntnis ab, weil sein
Lebenstrieb es will, der des Christentums bedarf. Von da an ist er ein
Rechtfertiger, kein Befreier" (S. 332). Dass unter dieser psychologischen
Perspektive die logische und thatsächliche Darstellung nicht sehr exakt
ausfällt, i.st begreiflich. Bis in den Stil und die Nachlässigkeit der Druck-
legung hinein erstreckt sich der Mangel an genügender Ehrfurcht vor
dem Stoff und der Aufgabe. Ich hebe ein paar Beispiele heraus, S. 321:
1803 Schwächung der Sehkraft; körperlicher Vorfall (Verfall); S. 323: von
1792 (1762 1 an beunruhigen ihn die Probleme der eigentlichen Metaphysik;
S. 325: wird Natorp in Natory verunstaltet, ebenda Liebmann, Zur Ana-
lysis der Wichtigkeit (Wirklichkeit j aufgeführt; S. 337: wird der Schluss
des dritten Absatzes durch ein ausgelassenes „in" völlig unverständlich.
Von den „Träumen eines Geistersehers" heisst es: „Dieser Teil von Kants
philosophischem Werk ist darum bedeutsam, weil seine stilistische Ge-
wandheit nachher sich verringert hat" (S. 325). Die gleiche flüchtige Be-
Recensionen (Erdmann). 205
handlung- kehrt in den übrigen Partien des Buches wieder. Selbst Nietzsche,
dessen Weltanschauung die Verfasser am meisten anspricht, wird in seiner
Entwicklung völlig verkannt, wenn uns auch hier wieder die Legende von
den „plötzlichen Überwindungen'' vorgesetzt wird (S. 44H). Kein Reich-
tum pointierter Ausdrücke (vom heldischsten Zertrümmerer des Absoluten,
S. 414 und ähnliches) vermag den Mangel gründlicher Vertiefung auf-
zuwiegen.
Leipzig. Raoul Richter.
Erdmann, B. Historische Untersuchungen über Kants Prole-
gomen a. Halle a. S., Niemeyer 1904. V und 144 S.
Die Erdmannschen Untersuchungen über die Prolegomen gehen bis
in das Jahr ]878 zurück. Aus diesem Jahr stammt Erdmanns Ausgabe der
Prolegomena, in deren Einleitung er seine bekannte Hypothese einer zwei-
fachen Redaktion der kleinen Schrift auseinandersetzte und begründete.
Diese Hypothese aufs Neue einer umsichtigen Prüfung zu unterwerfen,
wurde E. durch das umfangreiche Material veranlasst, das die neue Kant-
ausgabe der Berliner Akademie, namentlich die Reickesche Sammlung des
Briefwechsels zu Tage förderte, zumal da für ihn, als den Herausgeber der
Kritik der reinen Vernunft, wie der Prolegomenen, die eingehende Durch-
arbeitung dieses Materials so wie so geboten war. Das Resultat dieser
Prüfung ist die vorliegende Schrift. Sie ist zugleich als eine ausführliche
Ergänzung der kurzen Angaben in Erdmauns Einleitung zu den Prole-
gomenen der Akademie-Ausgabe zu betrachten.
Nach E. hat Kant zuerst und zwar sehr bald nach dem Abschluss
der Kritik d. r. V. sich mit dem Plan getragen, einen populären Auszug,
„für Laien bestimmt" (Hamann), zu veranstalten. Als Charakteristikum
dieser geplanten Bearbeitung finden wir die Äusserung (Fragment eines
Briefes an M Herz, nach Reicke nach dem 11. Mai 1781 gesclirieben), es
solle in ihr eine Darstellung der Antinomieen an den Anfang des Ganzen
gestellt werden — als desjenigen Punktes, der am ersten geeignet sei, die
Notwendigkeit der kritischen Untersuchung ins Licht zu setzen. Wir
müssen dann annehmen, dass Kant diesen Plan aufgegeben hat, ohne zu
seiner Verwirklichung Schritte gethan zu haben. Dagegen erfahren wir,
dass Kant im August 1781 an einem Auszug aus der Kritik arbeitet, der
nicht mehr als populäre Bearbeitung bezeichnet wird, von dem wir auch
anzunehmen haben, dass seine Darstellung die Reihenfolge der Abschnitte
beibehält, wie sie in der Kritik gegeben ist. (Brief Hamanns an Hart-
knoch vom 14., an Herder vom 15. Sept., Hartknochs au Kant vom 19. Nov.
1781. Wenn Hamann an denselben Stellen von einem „Lesebuch der
Metaphysik" spricht, an dem Kant zugleich arbeite, so wird dies von E.
zweifellos mit Recht auf ein Missverständnis zurückgeführt.) Was den
Zweck des Auszugs angeht, so ist er bezeichnet durch die Absicht Kants,
zur Aufstellung der ihm selbst aufgefallenen „Dunkelheiten'' an ver-
schiedenen Stellen seines Hauptwerks, die durch eine gewisse „Weit-
läufigkeit'' des Plans, wie der Darstellung veranlasst sind, etwas beizu-
tragen (Vorrede der Prolegomena) — m. a. W. er soll durch eine möglichst
klare Herausarbeitung der leitenden Fragestellung und des führenden
Fadens der Untersuchung die Lektüre der Kritik — nicht entbehrlich
machen, sondern erleichtern. Auch damit ist zur Genüge der Unterschied
des hier besprochenen Auszugs von der vorher geplanten populären Be-
arbeitung bezeichnet, nicht für „Laien", sondern für die berufenen Leser
der Kritik ist der erstere bestimmt. E. nimmt als wahrscheinlich an, dass
die äussere Veranlassung zu jenem Entschluss Kants in der Aufnahme zu
suchen ist, die die Kritik d. r. V. in der näheren Umgebung des Philo-
sophen gefunden hatte, neben Hamann, M. Herz, Mendelssohn will E, liier
auch namentlich Kraus genannt wissen (im 7. Abschnitt der Schrift,
S. 111 — 120). Es ist femer als sicher zu betrachten, dass der geplante
Auszug nicht nur geplant, sondern jedenfalls zum grössten Teil auch
niedergeschrieben worden ist. Durch das Erscheinen der Garve-Federscheu
206 Recensionen (Erdmann).
Recension aber ist Kant im Januar 1782 nach E. noch einmal veranlasst
worden, das Manuskript durch Einschiebungen zu verändern, die gegen
die Einwände und Missverständnisse gerichtet sind, und als das Endergeb-
nis dieser Redaktion haben wir unsere Prolegomena zu betrachten.
Soweit die Erdmannsche Theorie, die gegenüber ihrer ersten Ver-
öffentlichung von 1878 in der vorliegenden Schrift eine erheblich ausführ-
lichere Darstellung und umfassendere Begründung erfahren hat. Im Be-
sonderen ist ein Abschnitt eingefügt Avorden (No. 6), der auch an der
Hand späterer Briefstellen von und über Kant, soweit sie sich auf die
Prolegomenen beziehen (E. hatte 1878 geschlossen mit dem Brief Hamanns
vom 21. April 1782, in dem die Schrift zuerst mit ihrem vollen Titel ge-
nannt wird), die Theorie einer Prüfung unterwirft und nicht unwesentliche
Bestätigungen bringt.
Nicht übergehen möchte ich den „Anhang", den E. der Schrift bei-
gegeben hat. Auf Grund seiner Theorie hatte E. bekanntlich in seiner
damaligen Ausgabe der Prolegomenen die Bestandteile des ursprünglichen
Auszugs von den polemischen Zusätzen aus Anlass der Göttinger Recen-
sion zu trennen gesucht. Dies Ergebnis der damaligen Veröffentlichung
wird hier mit Rücksicht auf die ersten 5 Paragraphen einer Revision
unterworfen. Nach seiner früheren Ansicht hatte E. die vollständigen
§ 1 und 2, § 4 mit Ausnahme des 3. und 8. Absatzes und § 5 mit Aus-
nahme der Absätze 3 und 4 der ursprünglichen Redaktion zugewiesen.
Nach der neuen Untersuchung ist von § 4 auch der mit dem 3. zusam.men-
gehörige 2. Absatz spätere Zugabe — beide sollen im Gegensatz zu Hume
die synthetische Natur der mathematischen Sätze feststellen — , der § 5
dagegen ist als einheitliches Ganzes zu betrachten, demnach einschliesslich
der in ihm enthaltenen Polemik gegen Hume dem ursprünglichen Auszug
zuzuweisen.
Vor allen Dingen hat E. seine Aufmerksamkeit dem § 4 zugewandt,
der für jeden kundigen Leser eine crux darstellt. Ohne sich näher auf
Hypothesen einzulassen, wie die hier herrschende Verwirrung zu Stande
gekommen ist, stellt E fest, dass der 1., wie der nach Form und Inhalt
direkt sich anschliessende 7. und 9. Absatz die Beantwortung der in der
Überschrift des § 4 gestellten Frage „Ist überall Metaphysik möglich ?"
enthalten, Absatz 4— fi dagegen unzweideutig Fortsetzung und Schluss des
§ 2 bilden mit dem Nachweis der synthethischen Natur der metaphysischen
Sätze; Absatz 2, 3 und 8 sind wie gesagt Zusatz aus Anlass der Göttinger
Recension. (Mit dieser Analyse ist zugleich den Thatsachen Rechnung
getragen, auf welche Vaihinger in seinem Aufsatz über die Blattversetzung
im Jahre 1879 hingewiesen hatte), i) Näher auf die Begründung dieser
Resultate einzugehen, würde zu weit führen; ich muss in dieser Hinsicht
auf die äusserst klaren Ausführungen der Schrift selbst verweisen, deren
Verfasser sich mit dieser Darstellung in der That um das Verständnis der
Prolegomena ein sehr schätzbares Verdienst erworben hat.
Nur hingewiesen sei endlich auch auf die Analyse der Überschrift
der §§ 4 und 5. Beide sind bekanntlich als „allgemeine Frage" der Prole-
gomenen überschrieben, die aber in § 4 näher präcisiert wird in der Form
„Ist überall Metaph3-sik möglich?", während es in § 5 heisst: „Wie ist Er-
kenntnis aus reiner Vernunft möglich?" Nach E. schliesst die 2. Frage
unmittelbar an die des (vervollständigten) § 2 an, während die Unter-
suchung des § 4 darauf abzielt, Metaphysik von Naturwissenschaft und
Mathematik zu trennen und die verschiedene Behandlung beider zu recht-
fertigen: Die Wirklichkeit synthetischer Erkenntnisse a priori in Mathe-
matik und Naturwissenschaft erlaubt uns die Frage nach der Möglichkeit
überhaupt zu stellen — eine Frage, die die Metaphj'^sik mitbetrifft.
E. V. Aster.
1) Vgl, die weiteren Ausführungen von Vaihinger im vorigen Bande
der KSt., S. 539— ö44.
Recensionen (v. Aster). 207
V. Aster, E, Dr. Über Aufgabe und Methode in den Be-
weisen der Analogien der Erfahrung in Kants Kritik d. r. V.
Separatdruck aus dem Archiv für Geschichte der Philosophie, XVI. Bd.,
Heft 2, S 218—251 und Heft .3, S. 334—366. 1903 (Münchener Dissertation).
Die Analogien der Erfahrung darf man wohl als die bedeutsamsten
unter den Grundsätzen des reinen Verstandes ansprechen. Sie einer be-
sonderen Untersuchung zu würdigen, rechtfertigt sich also von selbst.
Und wir dürfen sagen, dass von Aster diese Untersuchung durch Auf-
deckung der mannigfachen Elemente und Faktoren, die in der Kantischen
Beweisführung wirksam sind, in anerkennenswerter Weise geleistet hat.
Besonders dankenswert ist der Nachweis des Zusammenhanges der Ana-
logien mit der ihnen vorangehenden Gedankenführung der Kantischen
Vernunftkritik : einerseits der transscendentalen Ästhetik, andererseits der
Kategorien-Analytik, die beide für die Analogien die wichtigsten Be-
weisstücke liefern. Da der masslosen Überschätzung der transscendentalen
Ästhetik durch Schopenhauer eine fast ebenso grosse Unterschätzung ge-
folgt war, so ist der besondere Hinweis darauf, dass die transscendentale
Ästhetik im eigentlichen Sinne doch für die Analytik die condicio sine
qua non war, und dass gerade der Centralbegriff von Kants Kritizismus,
der Begriff der Sj'nthesis ohne jene Vorarbeit seine fundamentale logische
Wirksamkeit nicht hätte entfalten können, entschieden sehr wichtig. Wir
glauben, dass es von Aster gelungen ist, diesen Nachweis recht geschickt
zu erbringen, indem er beständig die in der Beweisführung der Analogien
enthaltenen transscendental-ästhetischen Beweisstücke sorgfältig heraus-
arbeitet und in ihrer Bedeutung und Verwendung für die Beweise selbst
verfolgt, wie auch deren logische Bestimmtheit durch die Kontinuität der
Analytik-Entwickelung klar und deutlich herausgestellt wird. Wir selien
so, dass die auf die Möglichkeit der Erfahrung tendierende Gedanken-
führung, die mit der transscendentalen Ästhetik anhebt und in der Ana-
lytik der Begriffe ihre bedeutsamste und wirkungsvollste Tiefe erreicht,
dann in den Grundsätzen gipfelt und insbesondere in den Analogien ihre
wirksamste Zuspitzung auf das Erfahrungsproblem erfährt.
Soweit von Aster diese Analyse rein historisch im Anschluss an das
ihm in der Vernunftkritik vorliegende Material vollzieht, hat sie meine
vollste Anerkennung. Soweit sie sich jedoch mit mehr systematischen
Ausführungen des Verfassers verbindet, kann ich einige Bedenken nicht
unterdrücken.
Seine Aufgabe, — um nun kurz noch seinen methodischen Ge-
dankengang zu skizzieren, — löst er, indem er zuerst die Aufgabe der Er-
kenntnistheorie überhaupt umschreibt. Wenn er dabei ausgeht von der
Frage: „Ist die Welt wirklich so, wie wir sie in der Wissenschaft denken'?",
dann fortschreitet zu der Bestimmung : „wenn wir fragen, ob zwei Dinge
übereinstimmen, so müssen wir sie vergleichen können. Die Welt aber,
wie sie wirklich ist, und die Welt, wie wir sie denken, können wir nicht
vergleichen ; denn soweit wir die Welt, wie sie wirklich ist, kennen, ist
sie eben die Welt, wie wir sie denken", so haben wir in diesem Gedanken-
gang in der That eine recht glückliche Präcisierung des erkenntnistheore-
tischen Problems zu sehen. Denn nun sind wir vor die Frage gestellt :
Haben wir die Welt so zu denken, wie wir sie denken? Leider aber
schillert gerade in dieser Kardinalfrage eine gewisse Unbestimmtheit des
Verfassers zwischen der quaestio facti und der quaestio juris hinüber und
herüber. Denn es ist leider nicht streng genug unterschieden zwischen
der Frage: ,,Müssen wir die Welt so denken, wie wir sie thatsächlich
denken?" (die einfach analytisch zu lösen wäre) und der anderen, kri-
tischen: „Sind wir dazu berechtigt?" Es kann niclit ausbleiben, dass
diese Unbestimmtheit auch auf die weitere Untersuchung ihren Einfluss
mehrfach geltend macht. Zwar ist sie im Grunde schon bei der näheren
Bestimmung der synthetischen Urteile, deren Charakter am Wesen der
mathematischen Sätze im Sinne Kants erörtert wird, glücklich vermieden,
208 Recensionen (v. Aster).
denn deren Unterscheidung von den analytischen beruht in letzter Linie
ja doch auch auf der Unterscheidung der juridischen von der faktischen,
der kritischen von der genetischen Fragestellung Weniger glücklich aber
ist der Verfasser um diese nicht ungefährliche Problemklippe herumgelangt,
dort, wo er „die Denknotvvendigkeit der Grundsätze des reinen Ver-
standes" nach jener Erörterung von „Kants Lösung der gestellten Frage
in Betreff der mathematischen Sätze" behandelt, indem er — den Unter-
schied in der Beweisführung aufhebend — in gleicher Weise „beide auf
eine unmittelbar erlebte Notwendigkeit stützen" will, und plötzlich der
Erkenntnistheorie ihren Ort in der „psychologischen Analyse", allerdings
— darauf müssen wir mit besonderem Nachdruck hinweisen — nicht im
Sinne der empirischen, sondern im Sinne einer Transscendentalpsychologie
anweist. So vermag er auch durch begrifflich scharfe Unterscheidung die
bekannten Missverständnisse und Einwände empirisch-psychologischer Art,
M'ie sie gegen die für ihn als „Grundlage des Beweises der Analogien" in
Betracht kommende transscendentale Ästhetik erhoben worden sind, fein
und treffend abzuthun, obwohl das transscendentale Wert Verhältnis von
Raum und Zeit selbst für den Zusammenhang des kritischen Systems
m. E. nicht recht befriedigend entschieden ist.
Auf einem so verhältnismässig breiten Fundament erhebt sich nun
die Untersuchung über Wirklichkeitserkenntnis überhaupt und Erfahrung
in ihrem Verhältnis zu einander, sowie über den Begriff des Gegenstandes.
Wir erhalten durchweg eine scharfsinnige Analyse der Kantischen Dar-
legungen, auf die wir im Einzelnen leider nicht näher eingehen können.
Als besonders wertvoll möchte ich nur noch von Asters Versuch, fünf Be-
deutungen des Gegenstandsbegriffs bei Kant herauszuarbeiten, hervor-
heben, der, sei es auch zwecks Auseinandersetzung, entschieden Beachtung
verdient und für das Verständnis mannigfach aufklärend und fruchtbar ist.
Die Bedeutung dieser Untersuchung für das Ganze der Analytik ist frag-
los und wird vom Verfasser selbst augenscheinlich gemacht, wenn man
auch im Einzelnen seiner Ausführungen einerseits über das Verhältnis von
Kategorien und Grundsätzen, wie andererseits namentlich über den Schema-
tismus schwerlich durchgängig zustimmen darf.
„Die Beweise der einzelnen Analogien" nehmen nun nach der Auf-
deckung ihrer Prämissen einen verhältnismässig geringen Raum (ungefähr
ein Fünftel der ganzen Abhandlung) ein. Die Funktion der Synthesis wird
mit Recht an ihre Spitze gestellt: „1. Alle Gegenstände müssen notwen-
dige Einheiten eines Mannigfaltigen sein. 2. Diesen Gegenständen muss,
damit sie Gegenstände der Erfahrungserkenntnis sind, jederzeit eine Stelle
in Raum und Zeit angewiesen werden können." Diese für die Grundsätze
überhaupt notwendigen Forderungen werden nun im besonderen in ihrer
Verwirklichung durch die Analogien aufgezeigt. Dabei wird die trans-
scendentale Bedeutung der Zeit für die Beweise entschieden in das rechte
Licht gerückt. Von Aster schliesst sich hier recht eng an Stadler an,
nimmt auch für seine eigene Argumentation dessen bekannte Berufung
auf den Raum zu Hilfe. Aber gerade diese scheint mir, so wichtig und
so richtig sie in mancher Hinsicht auch sein mag, doch einer nicht uner-
heblichen Einschränkung bedürftig. Eine Erinnerung an Lotze wäre hier
vielleicht angebracht gewesen.
Zum Schluss möchte ich als wesentlich auch noch Eines nicht un-
erwähnt lassen: Von Aster weist m. E. zutreffend darauf hin, dass zwischen
der zweiten und dritten Analogie unter einander ein innigerer Zusammen-
hang besteht, als zwischen ihnen und der ersten.
Wir konnten hier natürlich nur kurz Dr. von Asters Ausführungen
skizzieren und mussten deshalb eine genauere Bekanntschaft und Gegen-
wärtigkeit der Vernunftkritik in viel höherem Masse voraussetzen, als der
Verfasser selbst es zu thun brauchte. Trotz mancherlei, gelegentlich an-
gedeuteten Einwendungen erscheint uns von Asters Untersuchung doch
Recensionen (Schrader). 209
als eine nicht unerhebliche Klärung und wertvolle Förderung des von ihm
behandelten Problems.
Halle a. S. Bruno Bauch.
Schrader, Ernst, Dr. Zur Grundlegung der Psychologie des
Urteils. (Habilitationsschrift der techn. Hochschule zu Darmstadt.) Leip-
zig, Joh. Ambr. Barth. 1903. 98 S.
Die unabhängig von logischen und erkenntnistheoretischen Gesichts-
punkten geführte psychologische Analyse des Urteils hat in der Psycho-
logie bisher eine sehr geringe Bearbeitung gefunden — mit Rücksicht
hierauf ist daher die Seh. sehe Schrift sehr zu begrüssen. Sie ist eine
Grundlegung, d. h. es sollen nur die elementaren psychischen That-
sachen zur Darstellung gebracht werden, die zur Erklärung der einfachsten
sprachlichen Urteile nötig sind. Das ganze 1. Kapitel, „Beiträge zur
psychologischen Methodenlehre" betitelt, hat freilich mit dem Urteil selbst
wenig zu thun; der Verfasser verteidigt hier die Möglicnkeit einer psycho-
logischen Beobachtung, namentlich gegen die bekannten Einwände von
Comte und Brentano. Seine Ausführungen sind im Einzelnen zweifellos
oft treffend und dankenswert, ich halte mich jedoch mit ihrer Wieder-
gabe nicht auf, um dem Kernpunkt der Schrift einige Worte zu widmen.
Das eigentliche Problem stellt Seh. im Anschluss an ein von ihm ge-
wähltes Beispiel. ,, Eines Tages ging ich am Ufer eines Flusses spazieren.
Am gegenüberliegenden Ufer erblickte ich eine Person, welche ich anfangs
für eine Dame in einem gelblich-grauen Kleide hielt. . . . Darauf sah ich
jedoch, dass die Person eine Karre schob. IVun erkannte ich, dass es ein
Arbeitsmann war, der eine Schürze der betr. Farbe trug." Einen Fall,
wie diesen, pflegen wir nach Seh. dahin zu interpretieren, dass die Auf-
fassung der Person als einer Dame, die „Vorstellung Dame" falsch ge-
wesen sei, und zwar stellte sie sich als falsch heraus durch den später
gewonnenen Eindruck des Karrenschiebens Das Wahr- oder Falschsein
aber ist das Charakteristikum des Urteils. Also haben wir in der betr.
Beobachtung ein Urteil und zwar nach dem Verf. ein sehr elementares
Urteil vor uns. Ausgeliend von dem m. M. n. sehr richtigen Gesichtspunkt,
dass für die Erklärung des Urteils in erster Linie wichtig ist eine Analyse
des „für falsch erklärens", stellt nun Seh. die Frage: Wodurch unterscheidet
sich die falsche Vorstellung der Dame in jenem Beispiel von einer rich-
tigen Vorstellung, z. B. der des Tisches hier vor mir? Was macht für
mein Bewusstsein jene Vorstellung zur falschen, im Gegensatz zu dieser?
Zur Beantwortung der Frage werden die Erlebnisse in dem er-
wähnten Beispiel einzeln vorgenommen. Einmal, meint der Verf., haben
wir die Vorstellung „Dame", dann die des Karrenschiebens, die von der
des Arbeitsmannes gefolgt wird. In den Vorstellungen selbst liegt das
gesuchte Moment nicht, ebensowenig in dem Bewusstseinszustand des
Glaubens, der die falsche Vorstellung nicht minder begleitet, wie die
richtige — solange ich sie zu sehen glaube, halte ich die Dame für eben-
so wirklich, wie den Tisch vor mir. Dagegen findet nun Seh. das Cha-
rakteristische in der Beziehung und zwar genauer in dem, was er die
negative Beziehung der Vorstellungen nennt. Dieselbe äussert
sich darin, dass von der Vorstellung „Dame" ein Teil verschwindet und
die Vorstellung des karreschiebenden Arbeitsmannes als Ganzes an ihre
Stelle tritt. Verstehe ich den Verf. recht, so sieht er in dieser negativen
Beziehung das einfachste Phänomen des Urteils.
Ich verstehe in dieser Analyse zunächst nicht ganz, was es heissen
soll, die Vorstellung „Dame" sei ursprünglich vorhanden und werde durch
jene andere abgelöst. Ist in der That das Wahrnehmungsbild einer Dame
gegeben, um sich nachher in das eines Arbeitsmannes zu verwandeln ? Seh.
scheint dieser Meinung zu sein, zumal da er von einem nachher in Weg-
fall kommenden Teil dieses Wahrnehmungsbildes spricht — doch wohl
demjenigen Teil, der das Wahrnehmungsbild der Dame von dem des Ar-
beitsmannes unterscheidet. Aber es ist zunächst entschieden nicht bc-
EantBtudien X, ^^
210 Ilecensionen (Marcus).
wiesen, dass notwendigerweise, wenn ich einen entfernten Geg:enstand als
Dame erkenne, auch das Wahrnehmungsbild einer Dame an der betr.
Stelle vorhanden sein müsse. M. a. W. die Frage, die zunächst eine ge-
nauere Diskussion verlangt, ist diese: Was liegt eigentlich vor, wenn wir
einen bestimmten vorgefundenen Inhalt als dies oder jenes erkennen oder
was schliesslich auf dasselbe herauskommen dürfte, so oder so benennen?
Diese Frage scheint mir in dem Seh. sehen Buch nicht genügend berück-
sichtigt zu sein.
Am Schluss weist der Verf. die Ansicht zurück, als liege im t>teil
noch das Erlebnis einer besonderen psychischen Aktivität.
Schöneberg bei Berlin. ' v. Aster.
Marcus, Ernst, Kants Revolutionsprinzip (Kopernikanisches
Prinzip). Herford, Verlag von W. Meuckhoff, 1902. XII u. 181 S.
Die Lehre Kants und im Besonderen die Kritik der reinen Vernunft
ist für den Verf. ein Werk ausserordentlicher Bedeutung. Sie ist nichts
mehr und nichts weniger, als eine Wissenschaft für sich, deren Resultate
ebenso sicher begründet sind, wie diejenigen der Mathematik. Dies
gegenüber den tastenden und irrenden Interpretationskünsten der heutigen
Kantianer, vor allem derer, die Widersprüche in den Worten Kants finden
zu müssen glauben, nachzuweisen und zugleich den Sinn dieser bisher
nicht genügend gewürdigten Wissenschaft ans Licht zu ziehen, ist die
Aufgabe des Buches. Der Verf. geht dabei nicht als Interpret der Sätze
Kants, sondern in selbständiger Behandlung der Probleme vor, die nur mit
beständigen Hinweisen auf die Kritik der reinen Vernunft durchsetzt
ist; der IL Teil (S. 127—181) ist dann speziell dem Nachweis der Über-
einstimmung des Vorgetragenen mit Kant in einzelnen näher bezeichneten
Punkten gewidmet.
Die Grundthatsache, von der Kant ausgeht, ist nach M. das Vor-
handensein von apodiktisch zuverlässigen und von uns als notwendig
richtig angesehenen Sätzen, die nicht nur über die gegenwärtige, sondern
auch über die künftige und vergangene Natur, genauer über den Zu-
sammenhang, die „Organisation" der Vorgänge in dieser Natur etwas
aussagen. Die systematisch vollständige Aufstellung dieser Sätze und der
in ihnen enthaltenen Kategorien ist die erste, die systematische Auf-
gabe der Kritik. Auf diese Thatsache aber gründet Kant nach M. 2
Probleme, deren erstes lautet: „Wie ist es möglich, dass ich jene apriori-
schen Sätze als notwendig richtig ansehe, derart, dass es mir unmög-
lich ist, mir ihre Unrichtigkeit in irgendwie fassbarer Form auch nur vor-
zustellen?" (S. 11) Mit Recht bezeichnet der Verf. dies Problem als das
eigentlich kritische und seine Lösung als die kritische Aufgabe Kants.
Auch der Kernpunkt dieser Lösung selbst wird von M. in klarer, zutref-
fender und ansprechender Form in den zwei Sätzen Aviedergegeben : „Es
lässt sich unmittelbar einsehen (evident beweisen^, dass jene sog. Apriorica
von allen Gegenständen, die wir auch immer kennen lernen mögen, stets
bestätigt, und dass sie niemals widerlegt werden können, weil sich
einsehen (bezw. beweisen) lässt, dass diese ihre objektive Giltigkeit die
Voraussetzung der Erkennbarkeit von Gegenständen ist." (S. 13.)
Was jene Apriorica selbst angeht, so glaubt sie der Verf. zusammen-
fassen zu können in das eine „Gesetz von der Erhaltung des dyna-
mischen Charakters": Jede Realität muss ihrem einmal bethätigten
dynamischen Charakter treu bleiben. Ist z. B. festgestellt, dass Wasser-
stoff und Sauerstoff sich zu Wasser verbinden, so darf aus ihrem Zusam-
mensein nicht ein andres Mal Gold sich ergeben. Dass in der That ohne
die Giltigkeit dieses Satzes eine Erfahrung, ein Wissen, ja auch nur ein
Wiedererkennen und -finden des einmal wahrgenommenen Gegenstandes
unmöglich wäre, leuchtet ohne Weiteres ein und wird von M. auch an
speziellen Beispielen illustriert. Ist aber der Satz eine Bedingung der
Erfahrung, so kann er durch keine Erfahrung an Gegenständen widerlegt
werden, d h. er gilt für alle Gegenstände, von denen wir Erfahrung ge-
Üecensionen (Marcus). 211
winiien können. Unter Erfahrung ist dabei, wie M. besonders hervorhebt,
nicht nur die wissenschaftliche, sondern auch jede vulgäre Erfahrung zu
verstehen. — üass diese Auseinandersetzungen den Sinn von Kants kri-
tischem Problem im Wesentlichen treffend wiedergeben, und dass sie dies
im Einzelnen vielfach in recht glücklicher und klarer Form thun, ist
m. E. n. wohl zuzugeben, dass sie aber etwas so ungemein Neues ent-
halten, wie es nach den Ansprüchen und polemischen Äusserungen des
Verf. fast den Anschein gewinnt, vermag ich auch bezüglich des Gesetzes
der Erhaltung des dynamischen Charakters nicht einzusehen.
Im folgenden Paragraphen werden Kants drei Analogien der Erfah-
rung aus dem erwähnten Gesetz abgeleitet. Das Substanzgesetz wird da-
bei dahin interpretiert, dass jede Sinneserscheinung, die in den Erfahnmgs-
zusammenhang soll eingeordnet werden können, zu einem bestimmten
empirischen Raum gehören und an ihm haften müsse. Diese Behauptung
halte ich für sachlich sehr bedenklich, insofern sie jede Psychologie ohne
physiologisches Material schlechtweg für unmöglich erklären würde. Da-
mit würde sich freilich vielleicht auch Kant einverstanden erklären, in-
dessen finde ich andererseits bei Kant weder in der Formulierung der ersten
Analogie, noch in ihrem Beweis eine Bezugnahme auf den Raum, vielmehr
stützt sich der letzte auf das Vorhandensein der Zeit, im Besonderen der
Beharrlichkeit der Zeit, Dinge, von denen in den hierher gehörigen Aus-
führungen von M. gar nicht die Rede ist. Das Kausalgesetz erscheint im
Wesentlichen in derselben Form, wie bei Kant, das Gesetz der Wechsel-
wirkung wird darauf gegründet, dass kein Zustand einer Substanz von
selbst wechseln könne — nach der 2. Analogie — daher an jeder solchen
Veränderung mindestens zwei Substanzen beteiligt sein oder in Gemein-
schaft stehen müssen. Diese drei Gesetze enthalten, wie M. sich ausdrückt,
das Minimum und zugleich das zureichende Maximum der Regeln, die
eine Realität beobachten muss, um Erfahrungsobjekt zu werden.
Erst an dieser Stelle werden von M. die Anschauungsformen Raum
und Zeit in die Betrachtung eingeführt. Die Begründung ist diese : Die
in den erwähnten Grundsätzen gegebenen Kategorien enthalten eine be-
stimmte Regelmässigkeit der Naturthatsachen. Diese Regelmässigkeit aber
kann nur von uns erkannt werden, wenn den gegebenen sinnlichen Er-
scheinungen, den Thatsachen der Natur selbst eine gewisse Ordnung, eine
sinnliche Form zukommt. So erkennen wir, dass das logisch-kategoriale
Verhältnis der Ursache und Wirkung auf zwei Thatsachen Anwendung
finden kann, daran, dass diese Thatsachen zeitlich aufeinander folgen, also
an ihrem Verhältnis zu der sinnlichen Form, der Zeit. Dass gerade Raum
und Zeit diese Formen, die „Voraussetzungen der Wahrnehmbarkeit des
regelmässigen Verhaltens der Objekte" sind, steht als Thatsache fest, doch
lässt es sich keineswegs logisch beweisen, dass nur diese Formen als
solche denkbar sind. — Als Moment in der Begründung des Schematismus,
in seiner logischen Angliederung an die vorhergehenden Teile der Kritik
scheinen mir diese Ausführungen namentlich interessant zu sein. Ver-
wirrend wirkt es, dass die Formulierung der Grundsätze bei M. der Lehre
von Raum und Zeit voraufgeht; so wie sie dastehen, setzen die Analo-
gien bereits Raum und Zeit voraus. Nicht unterdrücken möchte ich die
Bemerkung, dass es sich der Verf. mit der Polemik gegen die empirisch-
psychologische Ableitung des Raumbegriffs sehr leicht gemacht hat: Psy-
chologen, die so geistreich gewesen wären, eine raumlose Empfindung
anzunehmen und sie dann im Räume des Gehirns schweben zu lassen,
kenne ich nicht.
Das 2. Problem, das Kant nach M. den apriorischen Sätzen gegen-
über aufstellt, das objektive Problem, wird folgendermassen formuliert:
„Wie kommt es, dass die als notwendig richtig vorgestellten Sätze in der
That durch Erfahrung bestätigt werden, d. h. wie ist es auf natür-
lichem Wege_ zu erklären, dass es ein Objekt, die Natur giebt, das ^e-
nau so organisiert ist, dass seine Organisation mit jenen Sätzen überein-
14*
Sl2 Recensionen (Marcus).
stimmt?" M. a. W. es war gezeigt worden, dass, wenn wir von Objekten
etwas sollen wissen können, diese Objekte den apriorischen Gesetzen
folgen müssen. Nun giebt es solche Objekte — wir haben thatsächlich
eine Erfahrungswissenschaft. Ihr Vorhandensein war nicht notwendig,
nicht a priori erkennbar, daher die Frage : Wie ist es „natürlich erklär-
bar"? Die Beantwortung dieser Frage oder die Lösung der dynami-
schen Aufgabe der Kritik führt nun zum Ding an sich und zwar auf
folgendem Wege. Wir haben auf der einen Seite den „Zusammenhang
apriorischer Vorstellungen", den „apriorischen Organismus", auf der andern
Seite die nicht apriorische Natur. Zwischen beiden besteht die „trans-
scendentale Harmonie", nach deren Erklärung eben gefragt wird. Diese
Harmonie ist nun nur dadurch entstanden zu denken, dass die Natur „dem
apriorischen Organismus sich anpasst", eine „Modifikation" desselben ist.
(Die Behauptung, der apriorische Organismus habe sich der Natur ange-
passt, würde den apriorischen Charakter der fraglichen Sätze unerklärt
lassen; eine prästabilierte Harmonie der Forderung einer „natürlichen"
Erklärung widersprechen.) Damit sind nach M. die apriorischen Prinzipien
nicht mehr kritisch, sondern dynamisch, als „Mittel des Erfahrungserwerbs"
gefasst, als etwas das wirkt, bezw. Wirkungen empfängt. Gleichwohl
haben wir keine Veranlassung, den apriorischen Organismus selbst als
transscendent zu betrachten, er ist weder transscendent, noch immanent,
sondern dasjenige, „durch das der Gegensatz der Transscendenz und Im-
manenz erst seinen Sinn bekommt".
Die Modifikationen des apriorischen Organismus oder die „Ver-
änderungen eines bestehenden Zustandes des apriorischen Organismus"
sind nun nicht denkbar ohne ein Agens, d. h. eine Ursache, die sie her-
vorrief. Diese Ursache aber kann kein Erfahrungsobjekt sein, da diese
selbst Modifikationen des apriorischen Organismus sind, es bleibt also nur
übrig, es als transscendentes Etwas und demnach als unerkennbar, weil
nicht mehr unter den apriorischen Gesetzen stehend, zu betrachten.
Nehmen wir an, K. sei auf diesem Wege zum Ding an sich ge-
kommen, so liegt natürlich der altbekannte Einwand nahe, Kant wider-
spreche sich selbst, wenn er auf der einen Seite das Ding an sich für die
Ursache der Erscheinungen erkläre und es auf der andern Seite den aprio-
rischen Naturgesetzen, also auch dem Kausalgesetz nicht unterstellen wolle.
Diesen Einwand weist M. ab, indem er bei Kant einen doppelten Kausal-
begriff unterscheidet. Der eipe enthält nichts Anderes, als den Gedanken
der gesetzmässigen Aufeinanderfolge, er ist der Ausdruck, die Folge des
Kausalgesetzes und kann wie dieses nur Anwendung finden innerhalb der
Erscheinungswelt ; der andere enthält das Moment der eigentlichen Pro-
duktivität, der Kraft. (Sein Vorhandensein in der Kritik wird namentlich
in dem zu Anfang erwähnten 2. Teil des Buches mit Rücksicht auf die
Antinomien nachgewiesen.)
In dieser letzten Unterscheidung wird man m. E. n. dem Verf. nicht
Unrecht geben können, namentlich auch, wenn er Kant dagegen verwahrt,
er habe von vom herein, gewissermassen a priori, jede Anwendung der
Kategorien (nicht der Grundsätze !) auf eine jenseits der Erfahrungsgrenzen
gedachte Welt „an sich" verboten : Was Kant zurückweist, ist nur die
dogmatische, unkritische Verwendung, die zu beweislosen Behauptungen
oder zu nachweisbaren Antinomien und Paralogismen führt, und was er
verlangt, ist, dass, wo wir die Kategorien verwenden, wir eine entsprechende
Begründung dieses Verfahrens zu geben wissen.
Dagegen vermag ich mich mit der von M. angeblich in Kants Sinn
gegebenen Ableitung des Dinges an sich durchaus nicht zu befreunden.
Zunächst : Was heisst es überhaupt : Die gegebenen Thatsachen der Natur
seien Modifikationen des apriorischen Organismus ? Entweder es heisst
nur : Alles, was an Empfindungsthatsachen uns gegeben wird, muss als
raumzeitlich bestimmt, als Teil des Raumes und der Zeit gegeben werden,
und durch die Kategorien bestimmt werden können. Das wäre indessen
Recensionen (Koppelmann). 213
rein kritisch und räbe uns keineswegs das Recht, eine transscendente Ur-
sache dieser Modifikationen zu konstruieren. Thut man nun aber dies, so
muss das, worauf diese Ursache wirkt, doch der apriorische Organismus
sein und dann sehe ich wiederum niclit ein , wieso der apriorische Orga-
nismus weder transscendent, noch immanent sein soll — er muss dann
eben ein transscendentes Ding an sich vorstellen von genau derselben
Realität, wie das andere, das auf ihn wirkt.
Schliesslich würde sich Kant trotz der Verwahrungen M.s in einen
Widerspruch verwickeln, wenn er so verführe, wie M. behauptet. Die
ganze Kritik d. r. V. geht darauf aus, zu zeigen, dass wir gewisse Begriffe
und Sätze als für die Natur giltig ansetzen dürfen, bezw. müssen, weil
ohne diese Gesetze und Begriffe eine Erkenntnis oder, was auf dasselbe
hinauskommt, eine Erklärung der gegebenen Naturthatsachen nicht
möglich ist. Und wie beweist Kant dies? Indem er durch seine Analyse
zeigt, dass „die Natur erklären" nichts Anderes heisst, als unter den That-
sachen der Anschauung einen bestimmten Zusammenhang herstellen, näm-
lich einen solchen, der die apriorischen Gesetze bereits in sich schliesst,
und der sich auf die Formen der Anschauung, auf Raum und Zeit gründet.
Ist dies aber der Sinn der Kantischen Ausführungen, dann muss jede Er-
klärung von Naturthatsachen notwendigerweise in diesen Zusammenhang,
m. a. W. in den Erfahrungszusammenhang, in den Zusammenhang der
Welt der Phänomena liineingehören und jede Erklärung, die über diese
Welt scheinbar hinausführt, widerspricht dem Begriff der Erklärung. Da-
rum ist das einzige Mittel, das uns wirklich die Erhebung in eine andere
Welt jenseits des Phänomenalen, des Erfahrungszusammenhangs in Raum
und Zeit, ermöglicht und die Überzeugung ihres Vorhandenseins giebt,
nicht die theoretische Erkenntnis und Erklärung, sondern das praktisch-
sittliche Bewusstsein und auf ihm ruhend der religiöse Glaube.
Schöneberg bei Berlin. E. v. Aster.
Koppelmann, Wilhelm. Kritik des sittlichen Bewusstseins
vom philosophischen und historischen Standpunkt. Berlin, Reuther &
Reichard. 1904. 385 S.
Ich versuche zunächst einen kurzen Überblick über den Inhalt des
Buches zu geben.
Das erste Kapitel ist der Widerlegung der Wohlfahrtstheorie
und der anderen von den Wirkungen des Handelns ausgehenden ethischen
Theorien gewidmet. Es \\'ird hier zu zeigen gesucht, dass die Wohlfahrts-
theorie, mag sie nun mehr eudämonistischen oder mehr evolutionistischen
Charakter tragen, und überhaupt jede teleologisch verfahrende ethische
Theorie unfähig sei, die thatsächlichen sittlichen Anschauungen, ferner
das Pflichtbewusstsein und die sittliche Beurteilung unserer selbst und
anderer zu erklären.
Das zweite Kapitel entwickelt unter der Überschrift „Das gute
Prinzip" im Anschluss an Kant die ethische Theorie des Verfassers.
Ausgegangen wird dabei von dem Begriff der unbedingten Ver-
pflichtung^ als dem Zentralbegriff der Ethik. Und zwar erscheint die
Wahrhaftigkeit als die eigentliche Grundpflicht, als „ein kategorischer
Imperativ, welcher aus dem Wesen der Vemunftgemeinschaft entspringt"
(93). Sie wird als apriorisch bezeichnet, weil sie nicht Ursprung, Inhalt
und Beglaubigung der Erfahrung verdanke, sondern weil sie aus den Be-
wusstwerden des Wesens unserer Vernunft und unserer geistigen Funk-
tionen hervorgehe. Formal sei sie, weil sie lediglich eine gewisse Form
unseres Verhaltens, nämlich Übereinstimmung von Innerem und Äusserem
bei allem Reden und Handeln verlange. Der Inhalt dieser Grundpflicht
wird unter Berücksichtigung der Verschiedenheit des theoretischen und
praktischen Gebiets folgendermassen formuliert :
1. Du sollst für die Vemunftgemeinschaft auf dem theoretischen
Gebiet, insbesondere das Recht, das Selbsterkannte zu äussern, nach
214 Recensionen (Koppeiniann).
Kräften eintreten und im Gedankenaustausch mit anderen das Selbster-
kannte zu Grunde legen, d. h. wahrhaftig sein.
2. Du sollst für die Vernunftgemeinschaft auf dem praktischen Ge-
biet, insbesondere für das Recht, dem Selbsterkannten entsprechend zu
handeln, nach Kräften eintreten und von dem einmal vernunftmässig Be-
stimmten nicht durch heterogene Einflüsse (Drohungen, Lockungen, Affekte
etc.) dich abbringen lassen, d. h. zuverlässig sein.
Alle übrigen Pflichten sollen nun sekundäre Pflichten sein, d. h.
in ihnen kommen nicht neue Pflichten zu der Grundpflicht hinzu, sondern
nur neues Pflichtmaterial. Dass der Mensch sekundäre Pflichten auf
sich nimmt, mag empirische Gründe haben, z. B. eigenes Bedürfnis oder
"Vorteil, und auch der Inhalt dieser sekundären Pflichten ist empirisch,
aber dass wir uns an solche Pflichten, wenn wir sie einmal übernommen
haben, gebunden fühlen, ruht auf dem Bewusstsein der Grimdpflicht, das
als das sittliche Bewusstsein oder Gewissen schlechthin bezeichnet werden
kann. Alle diese sekundären Verpflichtungen, die wir übernehmen, finden
ihre natürliche Grenze an der Grundpflicht, mit der also keine in Wider-
spruch stehen darf; andererseits müssen wir darauf bedacht sein, keine
Verpflichtungen zu übernehmen, die früher übernommenen widerstreiten,
oder wir müssen uns von jenen älteren, soweit möglich, entbinden lassen.
So erledigen sich die scheinbaren Konflikte der Pflichten.
Als einfache Folge der Grundpflicht erscheint die Tugendbildung.
Die Pflicht besteht für sich unabhängig von ihrer Verwirklichung. Ge-
langt aber das Pflichtbewusstsein zur Herrschaft über das Denken und
Handeln des Menschen, so besitzt er Tugend. Entsprechend der Doppel-
seitigkeit der Grundpflicht äussert sicli die Grundtugend einerseits als
Wahrhaftigkeit, andererseits als Zuverlässigkeit. Unmittelbar mit dieser
Grundtugend fallen zusammen Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Treue, Weisheit.
Die sekundären Tugenden lassen sich unter dem Begriff der Selbstbe-
herrschung zusammenfassen, da sie alle die Disciplinierung des natürlichen
Trieblebens, sowie der Affekte, Stimmungen und Leidenschaften zum
Gegenstand haben. Dahin gehören Tapferkeit, Beharrlichkeit und Energie,
Massigkeit und Keuschheit, Ordnungsliebe, Fleiss u. a. Alle diese sekun-
dären Tugenden können auch aus anderen als sittlichen Motiven, etwa aus
Ehrgeiz, Gewinnsucht, Furcht vor Krankheit, erworben werden, sie decken
sich also nicht mit der Sittlichkeit ; dagegen ist dies bei der Grundtugend
der Fall, die ihrerseits allerdings auch jene sekundären Tugenden not-
wendig erheischt.
Je mehr nun das sittliche Selbstbewusstsein sich entwickelt, um so
höher wird die Schätzung des Menschen als solchen, insofern jeder zu
dieser Sittlichkeit Anlage und Berufung in sich trägt. Darauf beruht
eben die Würde des Menschen, der das eigenartige Gefühl der Achtung
entspricht. Die Achtung aber wird sich auf der höchsten Stufe der sitt-
lichen Entwickelung zur Liebe im christlichen Sinne steigern.
Das dritte Kapitel behandelt die geschichtliche Entwicke-
lung des sittlichen Bewusstseins. Der Verf. sucht hier zu zeigen,
dass auch nach dem Zeugnis der Geschichte das Bewusstsein der Grund-
pflicht (der Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit) der ganzen Menschheit
gemeinsam sei ; dass ferner die sekundären Pflicliten allgemein als auf
der Grundpflicht ruhend aufgefasst würden. Zugleich giebt dieses Kapitel
einen Überblick über den Einfluss der mannigfaltigen und wechselnden
Verhältnisse des Lebens auf die Gestaltung des Systems der Pflichten
gegen andere.
Das vierte Kapitel trägt die Überschrift: „Das böse Prinzip".
Die Quelle des Bösen wird hier gefunden in der Entartung des Trieb-
lebens zu Genuss- und Ehrsucht. Aus jener entspringen die Laster, aus
dieser die Leidenschaften. Weitere Folgen sind die Überschätzung
der natürlichen Güter, die Entartung der Affekte und Stimmungen und
die Entartung der Kunst unter dem Einfluss der Genuss- und Ehrsucht.
Eecensionen (Koppelmann). 215
Ferner wird der Zusammenluiiig des Bösen in der Menschlieit dargestellt
und die Selbstsucht als logische Konsequenz der Genuss- und Ehrsucht
und zugleich als Vollendung des Individuell-Bösen aufgewiesen.
Der Gegenstand des fünften Kapitel ist „Der Kampf des
guten Prinzips mit dem bösen''. In dem unfertigen sittlichen Zu-
stand, in dem sich vielleicht die meisten befinden, stehen das gute und
das böse Prinzip im Menschen nebeneinander; der Mensch wiegt sich ge-
wöhnlich in dem Wahn, beiden zugleich huldigen zu können. Aber so
häufig auch dieses Nebeneinander psychologische Thatsache sein mag,
logisch ist es unhaltbar, die Gesetze der geistigen Entwickelung drängen
zur inneren Einheit und damit zur grundsätzlichen Entscheidung für das
eine oder das andere Prinzip. Nun ist es dabei möglich, dass das böse
Prinzip siegt ; es werden dann die moralischen Rücksichten grundsätzlich
den Forderungen des Vorteils, d. h. der Genuss- und Ehrsucht, unterge-
ordnet. Eine weitere Möglichkeit ist, dass die Macht des bösen Prinzips
gebrochen wird durch die Einsicht in seine Nichtigkeit, durch die Über-
zeugung, dass alles selbstsüchtige Streben eine wirkliche Befriedigung
nicht zu gewähren vermöge. Dabei ist es aber noch nicht notwendig,
dass das Heil im guten Prinzip gesucht Averde, was zum wirklichen Sieg
desselben erforderlich wäre. Diese Erscheinung der mehr oder minder
vollkommenen Erlösung von der Macht des Bösen ohne lebendige und
positive Hinwendung zum Guten sucht der Verf. in der religiösen und
philosophischen Weltflucht (im Brahmanismus und Buddhismus, femer bei
den Cynikern, Stoikern und Neuplatonikern) aufzuweisen. Den wirklichen
Sieg des guten Prinzips hält er nur im Zusammenhang mit einer zuversicht-
lichen Hoffnung auf Befriedigung unseres Glücksstrebens für möglich.
Soll der Mensch „sich wirklich dem guten Prinzip vertrauensvoll und be-
dingungslos in die Arme werfen, so ist es notwendig, dass er in ihm auch
die Sicherheit, die feste Basis in den Wechselfällen des Schicksals zu
finden hoffe". Dies setzt aber voraus, dass er in dem guten Prinzip nicht
bloss einen im Menschen wirkenden subjektiven Faktor sieht, sondern
eine objektive Realität, im Sinne einer kosmischen Potenz, einer schick-
salbestimmenden Macht. So erscheint das sittliche Bewusstsein als Grund-
lage der Religion, die aber ihrerseits dann erst den Sieg des guten Prin-
zips ermöglichen soll. Der Gottesglaube soll aber als Postulat in sich
schliessen, dass der Lauf der Dinge bis ins kleinste vom Willen Gottes
abhängig sei. Die absolute Beherrschung des Naturlaufs durch den abso-
luten Geist sei vorzustellen nach Analogie derjenigen menschlichen Thätig-
keit, durch die wir die uns bekannten, gesetzmässig wirkenden Natur-
kräfte unseren Zwecken dienstbar machen. Zu einer Objektivierung des
bösen Prinzips in einem Gott gegenüberstehenden Teufel liege dagegen
keine Berechtigung vor.
Der volle Sieg des guten Prinzips erscheint so an Voraussetzungen
gebunden, die bisher wohl nur auf dem Boden des Christentums aufge-
funden werden. „Die Ethik Jesu ist die reinste, konsequenteste und
höchste Entfaltung des in jedem Menschen wirksamen sittlichen Grund-
prinzips." —
Die vorstehende Übersicht wird genügen, um zu zeigen, dass in dem
Buche Koppelmanns ein bedeutsames, lichtvoll und klar durchgeführtes
ethisches System vorliegt. Es ist zugleich ein schönes Zeugnis für die
fortwirkende und stets die Geister neu befruchtende Kraft der Kantischen
Ethik und für ihre innere Verwandtschaft mit dem Geist der christlichen
Sittenlehre. Auch dieses Buch bestätigt wieder, dass zwar Kant, aber
nicht die eudämonistischen und evolutionistischen Erfolgsethiker den
Grundforderungen unseres thatsächlichen sittlichen Bewusstseins Genüge
zu leisten vermögen.
Trotz der innigen Anlehnung an Kant liegt nun bei Koppelmann
doch zugleich eine eigenartige Um- und Weiterbildung Kantischer Ge-
216 Recensionen (Koppelmann).
danken vor. Eine nähere Erwägung derselben wird uns zugleich Gesichts-
punkte für die Kritik an die Hand geben.
Koppelmann vindiziert seiner „Grnndpflicht" der Wahrhaftigkeit
den formalen Cliarakter und die Apriorität, die Kant seinem „katego-
rischen Imperativ" zusclireibt, ja es wird sozusagen diese „Grundpflicht"
an die Stelle des Kantischen „kategorischen Imperativs" gerückt. Nun ist
aber augenscheinlich der letztere noch in höherem Grade formal als jener.
Setzt der kategorische Imperativ lediglich eine Vielheit wollender und
handelnder Vernunftwesen voraus, so zeigt die oben angeführte genauere
Formulierung der „Grundpflicht", dass hier schon eine Reihe empirisch
gegebener Bedingungen berücksichtigt sind (die geistig-sinnliche Natur
der Menschen, die eine Nichtübereinstimmung des Inneren inid Äusseren
ermöglicht, das Bedürfnis und die Fähigkeit des Gedankenaustausches, das
Vorhandensein von Hindernissen desselben, die Thatsache heterogener
Einflüsse, die geeignet sind, uns von der Leitung durch die Vernunft ab-
wendig zu machen).
Was also bei Koppelmann als „Grundpflicht" erscheint, das würde
sich nach Kant darstellen als eine bestimmte Anwendung des kategorischen
Imperativs auf die empirisch gegebene Menschennatur. Ist dies aber
richtig, so würde auch keine Notwendigkeit bestellen, alle anderen Pflichten
aus dieser „Grnndpflicht" abzuleiten (was doch auch hier und da nicht
ohne Zwang und künstliches Verfahren sich durchführen lässt), sondern
sie würden sich ergeben durch selbständige Anwendung des kategorischen
Imperativs auf die verschiedenen Seiten des Menschen und der mensch-
lichen Gemeinschaften in ihrer ganzen konkreten Gestaltung, wie sie sich
historisch entwickelt haben.
Verschiebt sich so der formale Charakter des obersten sittlichen
Satzes gegenüber Kant, so gilt ein Ähnliches für das Merkmal der Apri-
orität. Zwar hebt der Verf. hervor, der Begriff des a priori habe nichts
zu thun mit „angeboren" und „anerschaffen", aber er ist doch ernstlich
bemüht, den apriorischen Charakter des Pflichtbewusstseins dadurch zu
sichern, dass er gegenüber Versuchen, es empirisch zu erklären, zu zeigen
sucht, dass er „nicht von aussen her auferlegt oder von unserer Umgebung
uns eingeprägt worden ist" (81, 84 f.). Nun besagt aber der Kantische
Begriff der transscendentalen Apriorität lediglich, dass der kategorische
Imperativ der erzeugende Gedanke, die oberste Voraussetzung der Sittlich-
keit ist. Gemeint ist also damit nur eine begriffliche, inhaltliche Priorität
im Verhältnis zu den einzelnen konkreten sittlichen Geboten. Wo immer
Sittlichkeit ist, da lässt sich der kategorische Imperativ als das oberste
Prinzip ihrer Forderungen herausanalysieren. Ist aber mit der Apriorität
nichts weiter behauptet, so bleibt die Frage der Entwickelung des sitt-
lichen Bewusstseins im einzelnen Menschen (wde auch im menschlichen
Geschlecht) als eine offene der empirischen Forschung überantwortet.
Auch wenn diese nachwiese, dass der Einzelne nur durch die mannigfachen
erzieherischen Einwirkungen der Umgebung zum sittlichen Bewiisstsein
gelangen kann, so wäre damit der apriorische Charakter des Sittlichen im
Sinne Kants wohl vereinbar. Dass aber dieser Sachverhalt bei Koppel- tij
mann nicht unzweideutig hervortritt, hat seinen tieferen Grund darin, P|
dass er schliesslich doch die Apriorität metaphysisch fasst, also im Sinne
des Anerschaffenen. Ausdrücklich erklärt er (332), da die Pflicht der
Wahrhaftigkeit (der ja die Apriorität allein im eigentlichen Sinne zu-
kommen soll), „ebenso wie unsere Vernunftanlage selbst, ohne unser
Zu thun, ohne unseren Willen da sei", so ergebe sich, sobald die Re-
flexion darüber einsetze, „der notwendige Schluss, dass sie aus derselben
Quelle stamme, aus der unsere höhere Natur als Vernunftwesen stamme,
dass sie also in irgend einer Weise dem Urgründe des Seins ent-
springe".
Diese Tendenz, die Apriorität des Sittengesetzes gleich zu setzen
seiner Einpflanzung in den Menschen durch den Schöpfer, findet nun ihre
Recensionen (Mellin-Goldschmidt). 217
Entsprechung in der Neigung, die Geltung des Vemunftgesetzes zu
sichern durch seine Zurückführnng auf Gott. So heisst es von dem reli-
giösen Menschen, dass er „in dem guten Prinzip nicht bloss das Vernunft-
gesetz sehe, nicht bloss einen im Menschen wirkenden subjektiven Faktor,
sondern eine objektive Realität" (328). Dem gegenüber wäre mit Kant
zu sagen, dass der subjektive Charakter des Sittengesetzes sein Dasein
und seine Wirksamkeit im Subjekt, seine objektive Realität im Sinne der
Geltung für alle Vernunftwesen durchaus nicht ausschliesse, sondern dass
darin gerade ein wesentliches Merkmal des Sittlichen bestehe.
Inwiefern aber der Einzelne der Religion und der durch sie gewähr-
leisteten Befriedigung unseres Glückstrebens bedarf, um sittlich zu handeln,
darüber wird man nur auf Grund der Erfahrung entscheiden können. So
wenig sich Kants Lehre vom höchsten Gut und den Postulaten zwingend aus
den ethischen Grundlehren ableiten lässt, so wenig gilt dies von dem reli-
giösen Überbau, den unser Verf. auf dem Gebäude seiner Ethik errichtet.
Das schliesst nicht aus, dass gleichgestimmte Seelen mit diesen religiösen
Anschauungen sj-mpathisieren und in ihnen Halt und Förderung in dem
sittlichen Kampfe finden.
Giessen. August Messer.
3Iellin. Marginalien und Register zu Kants Kritik der Er-
kenntnisvermögen; 2. Teil. Grundlegimg zur Metaphysik der Sitten,
Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft. Neu heraus-
gegeben und mit einer Begleitschrift: der Zusammenhang der Kantischen
Kritiken versehen, von Ludwig Goldschmidt. Gotha, Thienemann 1902.
X und 342 S.
Das Buch zerfällt wiederum, wie die frühere Publikation des Heraus-
gebers von Mellins Marginalien zur Kritik der reinen Vernunft (Gotha
1900, besprochen Kantstudien, Bd. VI, 83 ff.), in zwei dem L^mfang wie
dem Werte nach ungleiche Teile; in die einleitende Begleitschrift Gold-
schmidts (S. 1 - 69) mit Vorwort (S. V — X) und in die Arbeit MeUins.
(S. 1—237; dieser Teil beginnt mit frischer Paginierung in gleichfalls ara-
laischen Zahlen). In der schlichten Vorrede MeUins geben sich die Margi-
nalien als das, was sie sind, als ein „Auszug aus den auf dem Titel ge-
nannten unsterblichen Werken" (S. 3). Auf den wörtlichen Abdruck der
von Kant den betreffenden Schriften beigegebenen Inhaltsangaben (S. 5 — 14)
folgen die Marginalien selbst (S. 15 — 199). Sämtliche Auszüge Mellins sind
übersichtlich, klar und knapp, leisten also alles, was von Auszügen ver-
langt werden kann. Dass sie die Ecken und Widersprüche nicht hervor-
kehren, sondern eher abschleifen, wird man ihrem Zweck zu gute halten:
den einheitlichen Gedankenbau, den Kant beabsichtigte, in grossen Linien
vor uns erstehen zu lassen. Auch in dem Register zu den drei Kantischen
Schriften, das unser Buch beschliesst (S. 200—237), bethätigt Mellin seine
treue Anhängerschaft an Kant nur auf thatsächlichen Gebieten, deren Be-
arbeitung jedermann willkommen heissen wird. Goldschmidts Begieit-
schrift ist ein wahres Gegenstück zu dieser Art des Kantianismus. Sehen
wir Mellin das Verständnis der kritischen Philosophie dadurch zu fördern
bemüht, dass er die Werke Kants durch anspruchslose Zusammenfassung
uns zugänglicher zu machen sucht, so will Goldschmidt durch seine Studie
über den „Zusammenhang der drei Kritiken" zugleich die Richtigkeit der
Kantischen Lehre als der allein selig machenden erweisen. Nachdem er
in einem pathetischen Vorwort die Zerrissenheit der modernen Philosophie
— die wir gern zugeben — beklagt und die unbedingte Unterwerfung
unter die Autorität Kants als einzige „Erlösung aus dieser Verwirrung"
— was wir nicht zugeben — gefordert, bietet er in dem „Zusammenhang
der drei Kritiken" nur eine Wiedergabe der Kantischen Gedankengänge.
Diese hält sich aber nicht in den Grenzen Mellinscher Nai^ätät an die ur-
sprünglichen Dokumente Kants, sondern giebt eine übrigens nicht einmal
sehr gelungene freie Rekonstruktion mit allerhand Seitenhieben auf die
Gegner. Da Goldschmidt aber auf allen zweifelhaften Punkten nur Kants
218 Recensionen (Vorländer).
Eutscheiduiigen anführt, mit den pi'oblematisclieu Bejiriffen wie objektiv,
subjektiv. Erscheinung:, Geg:enstand, Glaube ganz in Kantischer Vieldeutig-
keit arbeitet, so bleiben alle seine orthodoxen Behauptungen eben bloss
— Behauptungen. Wenn er z. B. den kühnen Satz aufstellt: „Kants
Hauptwerk löst diese Frage (nach dem wahrhaften, unbestreitbaren und
unwiderlegbaren Gebrauch der eigenen Erkenntniskräfte) in .systematischer
Vollkommenheit Widerspruchs- und lückenlos" (S. 2); oder ein andermal:
„Kants Kritiken haben weder Ersatz noch Nachhilfe neuer Gründe für das
sehende, geübte Auge nötig" (S. 3); „wir wollen an dieser Stelle auf den
straffen Zusammenhang der drei Kritiken eingehen" (S. 5); „für diese,
wenn auch objektiv unergründlichen Ideen ist mit Leichtigkeit (!) ein
jedermann bekannter immanenter Gebrauch praktisch- objektiver Begriffe
nachgewiesen" (S. 16) — so hat Goldschmidt weder die Lückenlosigkeit,
noch die Unnötigkeit neuer Gründe, noch den straffen Zusammenhang,
noch die Notwendigkeit der Vernunftideen (Gott-Freiheit-Unsterblichkeit)
zum Behuf der Sittlichkeit irgendwie erwiesen. Und so muss man es
immer wieder betonen: derartige Ausführungen dienen nicht der Sache
Kants, der stets in der Erforschung und Begründung, nicht in dogmatischer
Verkündigung der Wahrheit seine Aufgabe erblickte. Der Dank aber für
die Neuherausgabe auch dieses 2. und letzten Teils der Mellinschen Mar-
ginalien und Register wird dadurch nicht al)geschwächt, dass wir dem
eigenen Standpunkt des Herausgebers grundsätzlich nicht zuzustimmen
vermögen.
Leipzig. Raoul Richter.
Vorländer, Karl, Dr. Geschichte der Philosophie. I.Band.
Philosophie des Altertums und des Mittelalters. X u. 292. II. Band.
Philosophie der Neuzeit. VIII u. 539. Leipzig. Verlag der Dürr'schen
Buchhandlung. 1903.
Ein Werk von mittlerem Umfang will K. Vorländers „Geschichte
der Philosophie" die Lücke ausfüllen, welche zwischen den grossen philo-
sophiegeschichtlichen Werken und den kleineren Kompendien klafft. Sie
wül vor allem den Interessen des Studierenden dienen und diesem eine
wissenschaftlich einwandsfreie, ja selbständige Darstellung der philosophi-
schen Systeme und Richtungen der Vergangenheit und Gegenwart bieten.
Unter dem Gesichtspunkte dieser Aufgabe muss das Werk beurteilt werden.
— Seine ganze Anlage, die anregende und übersichtliche, von Farblosig-
keit und Überschätzung der eigenen Massstäbe gleich weit entfernte Dar-
stellung, eine knappe, aber klare und präcise Sprache, die kritische Ver-
wertung der Ergebnisse der neueren philologischen Forschung und ausführ-
liche, aber das zulässige Mass eines Lehrbuches nicht überschreitende
Litteraturangaben lassen es seiner Aitfgabe in hervorragender Weise ge-
recht werden.
Die Darstellung der Geschichte der Philosophie des Altertums domi-
niert die Philosophie der Griechen. Vorländer hat hier im Grossen und
Ganzen die übliche Einteilung der Perioden beibehalten. Inbetreff der
historischen imd systematischen Stellung Heraklits vertritt er im wesent-
lichen den Standpunkt von Windelbands Geschichte der alten Philosophie,
welche Xenophanes von den übrigen Eleaten trennt. Eine solche Ein-
teilung erscheint uns mehr historisch - Heraklit ist jünger, als Xeno-
phanes itnd älter, als Parmenides — , denn systematisch gerechtfertigt.
Der „grosse" Parmenides hat von den Lehren des Xenophanes die inten-
sivsten Anregungen empfangen. l> yag IIuQ^Evi^rts tovtov (nämlich Toi>
Seyorfäyovi) 'üytiai fj.ad^rjKi'; — sagt Aristoteles über das Verhältnis der
beiden Denker. Parmenides hat die pantheistisch gefärbte poetische Ein-
heitslehre des Xenophanes systematisch vollendet. Auch die systematische
Darstellung ihrer Lehren gehört darum — unseres Erachtens — zusammen.
Aber davon abgesehen — müsste der Gegensatz des einsamen Denkers
von Ephesus zur eleatischen Schule didaktisch umso eindrucksvoller her-
vortreten, je schärfer seine Lehre dem geschlossenen Systeme der Eleaten
Recensionen (Vorländer). 219
gegenübergestellt würde. Überhaupt sollte Heraklit — wie wir glauben —
eine besondere Stelle unter den griechischen Philosophen eingeräumt
werden. Seine Lehre vom Mass und Gesetz im Werden trennt ihn, den
ersten Systemphilosophen, gleich scharf von der Naturphilosophie der alten
milesischen Denker, wie von der Metaphysik der Eleaten. Er ist der erste
antike Vorläufer der modernen, erkenntnistheoretisch an dem philoso-
phischen Kritizismus orientierten Naturforschung. Seine Logoslehre, der
Begriff der Naturgesetzlichkeit steht an der Spitze seines philosophischen
Systems. Die milesischen Elemente seiner Philosophie, die Lehre vom
„ewigen Fluss" und vom „ewig lebenden Feuer" sind Symbole seines
philosophischen Prinzips, nicht sein philosophisches Prinzip selbst: die
schaffende, beständig wirksame Thätigkeit der Vernunft. — Die Lehre
Heraklits kann trotz ihrer mannigfachen historischen und sachlichen Be-
ziehungen keinem philosophischen Systeme des klassischen Altertums
— auch äusserlich nicht — angegliedert werden, wenn sie uns in ihrer
ganzen originellen Grösse zu Bewusstsein kommen soll. —
Nächst Heraklit bietet der historischen Darstellung kaum ein Denker
der vorplatonischen Periode so grosse Schwierigkeiten, wie Demokrit.
Von vielen als der grösste Philosoph des klassischen Altertums überhaupt
verehrt, gehört er sicherlich zu den tiefsten und für die Theorie der
Naturerklärung und die Erkenntniswissenschaft massgebendsten Denkern
aller Zeiten. — Demokrit ist Rationalist. Sein berühmter Satz: ovdey
XQrjfxa ficar^p yiyetca, cc'/.ku nc'tpTu ix '/.öyov x(d vn uvuyxr^i ist der Ausdruck
einer in logischem Sinne kritischen Erfahrungstheorie. Er hat — ohne es
auf die Formel des modernen Kritizismus gebracht und theoretisch be-
gründet zu haben — die synthetische, d. h. für Dinge und nicht nur für
Begriffe verbindliche Geltung des Satzes vom Gnmde erkannt. Er hat
ein Ergebnis der kritischen Philosophie ausgesprochen, ohne noch deren
Begriff formuliert zu haben. Seine vnod-daeig sind die mathematischen
Grundlagen der Naturerklärung, aber er kennt noch nicht das Problem
der mathematischen Naturwissenschaft, kurz die Frage, „wie synthetische
Urteile a priori möglich sind". Ihm fehlt der kritische Begriff der Er-
scheinung. Gleich Descartes gilt ihm die Abstraktion von der Qualität
der Phänomene als eine realis distinctio. Die mathematischen Naturge-
setze sind für ihn nicht die Formen der Erscheinungen, sie verdichten sich
für ihn zu den, dem Verstände allein zugänglichen wahren Dingen. Sein
Rationalismus äussert sich in metaphysischem Materialismus und gjaivo^evu
werden für ihn zu Gegenständen , beziehungsweise Elementen einer
„dunklen" Erkenntnis {axorir^), mitbedingt durch die spezifische Energie
imserer Sinnesorgane. — Ist nun Demokrit — wie Vorländer meint —
kritischer Idealist? Wir werden diese Frage schon auf Grund der unter
dem Gesichtspunkte des philosophischen Kritizismus eben entworfenen
Skizze seiner Lehre verneinen müssen. Demokrits — freilich überaus
bedeutsamen — Beziehungen zum kritischen Idealismus erschöpfen sich
in dem Begriffe der logischen Notwendigkeit des natürlichen Geschehens,
in der quantitativen Formulierung des Substanzsatzes, in dem von ihm
angenommenen Verhältnis des letzteren zum Kausalgesetz, in der Trennung
von Raum und Körperlichkeit, ein Gedanke, welchen er aller Wahr-
scheinlichkeit nach fertig von Leukipp übernommen hatte. Es sind dies
die Beziehungen Demokrits zur wissenschaftlichen. Naturforschung über-
haupt, welche am Beginne der Neuzeit wieder entdeckt, den mittelalter-
lichen Gegensatz der sublunaren und der himmlischen Regionen vernich-
teten. Wer aber, wie Demokrit, das wahre Objekt der Erkenntnis in
einer intelligiblen Welt qualitätsloser und beharrlicher Korpuskeln gefunden
zu haben glaubt, wer vor allem den leeren Raum für eine Realität hält,
ist, im Grunde genommen, ein Gegner des kritischen Idealismus. — Es
ist dies der einzige wichtige Einwand, den wir gegen die Darstellung der
theoretischen Philosopliie Demokrits durch Vorländer zu erheben hätten,
ein Beweis zugleich, wie wenig das griechische Denken im allgemeinen
220 Recensionen (Vorländer).
der Systematik der inodernen Wissenschaftslehre eing'eordnet zu werden
vermag:. Mit umso grösserem Nachdruck möchten wir der Vorzüge er-
wähnen, durch welche sich die kurze Darstellung- der Ethik Demokrits
auszeichnet. Vorländer, der verdienstvolle Übersetzer der ethischen Frag-
mente des grossen Naturphilosophen (Vgl. Ztschrift. f. Philos. und philos.
Kritik. Bd. 107 ) hat hier nicht allein eine packende Charakteristik der
rationalistischen Züge in Demokrits Ethik geliefert, er bietet dem Leser
auch eine Auswahl charakteristischer Proben aus den ethischen Fragmenten
des Abderiten selbst. — Einen der trefflichsten, auch litterarisch wert-
vollsten Abschnitte des Vorländerschen Werkes bilden die allgemeinen
Betrachtungen über die Entstehung und die Grundzüge der Sophistik. In
scharfen Umrissen schildert der Verfasser die Menschen und die Stim-
mungen der griechischen Aufklärungsperiode. Scharf und klar sehen wir
die markanten Gestalten der Relativisten und Rhetoren des perikleischen
Zeitalters und deren grossen Gegner, Sokrates, vor uns, dessen Lehre die
klassische Periode der griechischen Philosophie, deren höchste Blüte im
Systeme Piatons vorbereitet. In trefflicher Weise zeichnet Vorländer den
ethischen Rationalismus des Athener Revolutionärs. Was in unserer, von
der Philosophie Schopenhauers immer noch stark beeinflussten Zeit viel-
leicht eine intensivere Betonung verdient hätte, ist die sokratische Lehre
von der Selbstgesetzgebung, der Aktivität der praktischen Vernunft, der
Einheit von Vernunft und Wille. Selbsterkenntnis heisst für Sokrates
Selbstüberwindung. Wollen bedeutet für ihn ICrkennen. Sein „Wille"
hemeistert das „blinde" Walten der Triebe und Leidenschaften. Er ist die
zum Affekt gewordene Vernunft. —
Von einer Entwickelungsgeschichte der Lehre Piatons hat Vor-
länder prinzipiell abgesehen. Dennoch bietet er unter Berücksichtigung
der Ergebnisse der historisch-philologischen Erforschung dieses Gegen-
standes eine verdienstvolle kritische Gruppierung der platonischen Dialoge.
Vorländers Darstellung der platonischen Philosophie selbst lässt an Schärfe
und Klarheit nichts zu wünschen übrig. Nichtsdestoweniger glauben wir
sie durch einige Bemerkungen ergänzen, beziehungsweise berichtigen zu
sollen. — Piaton hat — wie Vorländer bemerkt — den sokratischen Be-
griff vertieft und zur Idee erhoben. Er hat — so möchten wir hinzu-
setzen — alle Begriffe als Wertbegriffe betrachtet in HinbHck auf das
unwandelbare Sein der ethischen und ästhetischen Prädikate ihres nur
durch den Geist zu erfassenden Gegenstandes. Die Idee ist das Objekt
der begrifflichen Erkenntnis und das unerreichbare, von allen Mängeln
der Sinnlichkeit freie Ziel des ethischen Strebens und des ästhetischen
Schaffens. Sie ist der metaphysische Träger der platonisch-sokratischen
Grundvoraussetzung von der Einheit der Erkenntnis und der Tugend. Sie
ist der zeitlos-ewige und absolute Massstab allen Erkennens und Handelns,
der zeitlose Massstab der im Hinblick auf diesen unvollkommenen Natur
selbst. Die Idee ist nicht, weil sie gedacht wird (vgl. I. Bd. S. 94', sie
wird gedacht, weil sie ist. Denn Denken heisst den Geist auf die ewige
Idee richten. Ideen sind absolute Werte. Gewiss, auch sie werden im
Geiste „erzeugt", aber nicht durch das Erzeugtwerden zugleich in ihrer
Geltung begründet. Die platonische uereitg ist ein teleologisches, nicht
ein räumliches oder dynamisches, aber auch gewiss nicht ein rein erkennt-
nistheoretisches Verhältnis. Die Ideen ^ sagt Vorländer — bekommen
Sinn und Geltung erst dadurch, dass sie sich in Erfahrung umsetzen lassen,
am letzten Ende auf Sinnendinge beziehen (I. Bd. S. 98). Ideen sind
— so möchten wir die naonvai« Piatons verstanden wissen — kraft ihrer
Zweckwirkung in den Dingen der sinnlichen Erfahrung vorhanden. Sie
sind die Gesetze der sinnlichen Welt, nur sofern sie das Ziel sind, dem
diese zustrebt, die Zweckursache, der die Sinnenwelt gehorcht. „Sinn und
Geltung" der platonischen Ideen könnte von den Sinnendingen nur dann
abhängen, wenn die Idee ein kategoriales Fornigesetz der Erscheinungen,
wenn die Ideenlehre mit anderen Worten nicht teleologischer Dualismus
Hecensionön (Vorländer). 221
wäre. — Je schärfer dieser Dualismus in der Darstellung: hervortritt, umso
mehr erhebt sich uns die platonische Idee über den sokratischen Begriff,
umso mehr durchdringt uns die Überzeugung von der historischen Mission
des Piatonismus überhaupt, den unverrückbaren Wertmassstab für das
Trachten und Streben des Menschen in der erhabenen Welt der Ideale
erkannt zu haben. — Ihrem Inhalte nach war die platonisclie Ideenlehre
für die Naturforschung unfruchtbar, die Methode ihrer Begründung durch
Piaton aber ist die deduktive Methode Galileis. Mit Schärfe und Klar-
heit hat Vorländer die Bedeutung der von Piaton entdeckten analytischen
Methode der Geometrie erörtert. Wenn er hier der Beziehungen Piatons
zur Methode Galileis niclit gedenkt, so hat er dabei offenbar den — unseres
Erachtens — für das Prinzip der platonischen Deduktion freilich nicht
wesentlichen, wenn auch für die natur^\^ssenschaftliche Bedeutung der
Galileischen Methode ausschlaggebenden Unterschied in der Stellung der
beiden Denker zum Experiment vor Augen: Piaton prüft die begriff-
liche Notwendigkeit, Galilei die sachliche Gültigkeit der vnod-tctg —
Und nun noch ein Wort über die Darstellung des platonischen Staats-
ideals! Sie zeichnet sich bei aller Knappheit durch eine verständnisvolle
Würdigung dieser vielleicht grossartigsten Schöpfung des platonischen
Geistes aus. Zwei Punkte könnten bei einer Neuauflage des Werkes im
Interesse der Vollkommenheit der Darstellung ohne nennenswerte Ver-
grösserung des Kapitels über den Staat Piatons — unseres Erachtens —
eingehender berücksichtigt werden: sein hierarchisch - spiritualistischer
Charakter, die transscendenten Ziele, welchen auch er zustrebt und der
hier zum erstenmal systematisch durchgeführte Gedanke einer beruflichen
Ausbildung der Jugend. Es sind dies Punkte, in welchen sich zwei wesent-
liche Elemente des platonischen Gedankenkreises manifestieren: die Be-
einflussung Piatons durch die hierarchischen Institutionen der alten Egypter
und die dem hellenischem Geiste als solchem ferneliegende Schätzung der
Fachbildung.
Die dreissig Seiten seines Buches, welche Vorländer der Philosophie
des Aristoteles widmet, enthalten eine treffliche Skizze der Gedanken-
welt des Stagiriten. Klar und eindringlich schildert er uns den für die
Entwickelung der neueren Philosophie so bedeutungsvoll gewordenen
Gegensatz zwischen Piaton und Aristoteles. Die Sympathien des Kantia-
ners besitzt natürlich der Erkenntnistheoretiker Piaton, nicht der nüch-
terne Systematiker Aristoteles, dessen Sorge weniger die Theorie der
wissenschaftlichen Forschung, als vielmehr die Methode der Darstellung
bildet. Auf Einzelheiten einzugehen, müssen wir uns hier versagen. Wir
beschränken uns darauf, einen Punkt hervorzuheben, der vielleicht einer
eingehenderen Darstellung bedürftig gewesen wäre: die metaphysische
Rolle der aristotelischen Logik. — Von den philosophischen Systemen des
Altertums möchten wir nur noch kurz der Neuplatoniker und deren Vor-
läufer Erwähnung thun. welche in Vorländers Geschichte der Philosophie
eine besonders glückliche Darstellung gefunden haben. Mit Geschick und
Selbständigkeit weiss er hier die mannigfachen Tendenzen blosszulegen,
welche in dieser eigenartigen, an der Grenzscheide zweier Kulturperioden
stehenden Lehre ineinanderlaufen, ohne doch allgemeinen kulturhistorischen
Erörterungen allzuviel Raum zu gewähren.
Als ein besonderes Verdienst seiner Philosophiegeschichte möchten
wir hier noch die relative Ausführlichkeit in der Behandlung der Philo-
sophie des Mittelalters hervorheben und uns dann sogleich der Betrach-
tung des zweiten, der Philosophie der Neuzeit gewidmeten Bandes zu-
wenden, nicht um die Ausführungen des Verfassers Schritt für Schritt zu
verfolgen, sondern um uns an einigen wenigen Punkten die Eigentümlich-
keiten auch dieses Teiles der Vorländerschen Philosophiegeschichte vor
Augen zu führen. Zunächst möchten wir auf den schönen Abschnitt über
Galilei und auf die scharfe, aber gerechte Kritik des baconischen
Empirismus hingewiesen haben, der von Vielen immer noch für den Aus-
222 Recensionen (Vorländer).
g:arij2:spnnkt der neueren Philosophie und Wissenschaft g:ehalten wird. Die
Darstellung der Lehre des Descartes k-itet dann zur Schilderung der
grossen dogmatischen Sj'steme der Neuzeit hinüber. Mit kritischem Scharf-
blick stellt der Verfasser die Methode, nicht die Metaphysik des Carte-
sius an die Spitze seiner Ausführungen über den Philosophen. Denn in
der That: die Metaphysik steht bei Cartesius im Dienste der Methode,
sie ist ein Hülfsmittel zum Beweise der Realität der physikalischen Grund-
begriffe. Dabei gilt für Cartesius die Auffindung der richtigen Methode
zugleich als metaphysische Entdeckung, denn sein Streben ist auf ein
Prinzip gerichtet, das Wahrheit und Wirklichkeit in sich vereinigt. Des-
cartes macht die Begreiflichkeit der Dinge zum Masse ihrer Realität, die
Sinnenwelt wird für ihn zu einem baren mathematischen Objekt. „Er
sah nicht" — so sagen wir mit Riehl — , „dass dieses Objekt nichts als
den Niederschlag seiner eigenen Abstraktion darstellt und dass nur als
Abstraktion genommen sein Verfahren berechtigt war."i) Er unterschied
nicht zwischen einem mathematischen Objekt und den mathematischen
Gesetzen der Objekte und deren Beziehungen. Das bestimmt seinen von
Vorländer, unseres Erachtens, zu wenig gewürdigten Abstand von Galilei
und sein, trotz aller Genialität auf dem Gebiete der Mathematik und der
Naturforschung im ganzen negatives Verhältnis zu der theoretischen Natur-
wissenschaft und der kritischen Erkenntnistheorie. — Als besonders ver-
dienstvoll möchten wir Voi'länders Darstellung der Philosophie des Thomas
Hobbes bezeichnen, der lange als Materialist und Atheist verschrieen,
erst unserer Zeit als ein genialer, nur Galilei an die Seite zu stellender
Vorläufer der kritischen Wissenschaftslehre bekannt zu werden beginnt.
Hobbes ist kritischer Phänomenalist, seine Methode die Methode
Galileis. Seine Lehre von der formalen Natur der Raum Vorstellung, von
den ursprünglichen und den sekundären Bestimmungen des Körpers, von
der logischen Notwendigkeit des ursächlichen Geschehens, der fundamen-
tale Satz, dass das Mögliche, nicht das Wirkliche den Gegenstand der
Wissenschaft bilde, setzen ihn in unmittelbare sachliche Beziehung zum
philosophischen Kritizismus, wie er andererseits durch seine mathematischen
Arbeiten die Entdeckung der Infinitesiraalmethode vorbereitet und sich
durch seine physiologische Theorie der Empfindungen mit den modernsten
energetischen Anschauungen berührt. Vielleicht entschliesst sich der Ver-
fasser, das Kapitel über die Philosophie des Hobbes in einer zweiten Auf-
lage seines Werkes der gewaltigen philosophiegeschichtlichen Bedeutung
des englischen Denkers entsprechend zu erweitern.
Wir übergehen die schöne Darstellung der Philosophie Spinozas und
Leibnizens, um mit wenigen Worten der Schilderung zu gedenken, welche
die kritische Philosophie im Vorländerschen Werke gefunden hat. —
John Lockes Fragestellung hält Vorländer nicht für erkenntnistheoretisch,
sondern für psychologisch-entwickelungsgeschichtlich. Wir können dieser
Anschauung nicht unbedingt zustimmen. Gewiss, eine strenge Scheidung
des logischen vom psychologischen Erfahrungsproblem findet sich bei
Locke noch nicht. Dass aber seine Philosophie die Frage nach dem Be-
griffe der Erfahrung völlig unberücksichtigt gelassen habe, möchten wdr
nicht behaupten. Den Kritiker und Vernichter des metaphysischen Sub-
stanzbegriffes, den Fortbildner der Galileischen, Cartesianischen und
Hobbesschen Gedanken von den primären und den sekundären Qualitäten,
deren Unterschied für Locke unzweifelhaft in ihrem Verhältnis zum Be-
friffe des Objektes begründet ist, schätzen wir vielmehr als einen der
edeutendsten Erkenntnistheoretiker. Wir teilen darum auch nicht die
Anschauung Vorländers, dass Lockes Erkenntnislehre eigentlich nichts
anderes sei, „als ein inkonsequent durchgeführter Sensualismus, der wohl
manchen guten psychologischen Gedanken enthält, aber zur Kritik der
Erkenntnis nur wenig beiträgt". Locke gilt uns — um es noch einmal zu
betonen — als ein manchmal bis zur Höhe des Kantischen Gedankenkreises
') Riehl, Philosophie der Gegenwart. Leipzig 1903. S. 45.
Hecensionen (Wandschneider). 223
sich erhebender, wenn auch von den sensualistischen Tendenzen seiner
Zeit und seiner Heimat merklich beeinflusster Kritiker des Erfahrungsbe-
griffes. — Zu der im ganzen treffenden Darstellung der Philosophie
Humes möchten wir uns nur eine kritische Bemerkung gestatten. Sie
betrifft das Verhältnis Humes zu Berkeley, das wir an anderer Stelle aus-
führlicher erörtert haben. i) Im Gegensatz zu Vorländer halten wir Hume
inbezug auf eine der wichtigsten Fragen seiner Erkenntnislehre nicht für
einen Schüler, sondern geradezu für einen Gegner Berkeleys. Hume hat,
unseres Erachtens, nicht den Konscientalismus Berkeleys vollendet — wie
so häufig behauptet worden — , sondern bekämpft, so gewiss dem Kritiker
Hume das metaphysische Dogma vom Esse = Percipi fremd ist, so gewiss er
die Existenz unerkennbarer Realitäten in der strengsten Bedeutung des
Wortes „Existenz" gelehrt hatte. Es ist dies ein Punkt, welcher den
drei grössten Vertretern des philosophischen Kritizismus, Locke, Hume
und Kant gemeinsam, die fundamentale metaphysische Voraussetzung jedes
kritischen Denkens überhaupt bildet und nebst manchen anderen die Kon-
tinuität im Entwickelungsgange der kritischen Philosophie begründet. Die
metaphysische Gleichung Berkeleys vom Esse = Percipi aber steht ausserhalb
des Gedankenkreises dieser Philosophie. — Die Darstellung des Kritizis-
mus Kants im Buche Vorländers ist scharf und treffend. Die hervor-
ragende Sachkenntnis des Verfassers vereinigt sich hier in glücklichster
Weise mit grosser stylistischer Gewandtheit. Schärfer zu betonen ge-
wesen wäre — unseres Erachtens — nur die streng realistische Bedeutung
des „Dinges an sich" bei Kant im Sinne unserer eben skizzierten Anschau-
ungen. Auch würde es sich vielleicht empfehlen, in eine Neuauflage des
Werkes eine dem Anfänger gewiss willkommene kurze Erläuterung des
Kantischen Begriffes der „möglichen" Erfahrung aufzunehmen. — Die
Darstellung der nachkantischen philosophischen Systeme muss als durchaus
wohlgelungen bezeichnet werden. Bei Besprechung der in unserer Zeit
noch mächtig nachwirkenden Philosophie Schopenhauers wäre eine kurze
Dai legung der Beziehungen zwischen der illusionistischen Erkenntnislehre
und der pessimistischen Grundstimmung des Philosophen vielleicht er-
wünscht gewesen.
Der letzte grössere Abschnitt des Vorländerschen Werkes, die Dar-
stellung der „Philosophie der Gegenwart", bildet angesichts der Thatsache,
dass die meisten Philosophiehistoriker eine eingehende geschichtliche Ge-
samtbehandlung der Philosophie der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts unterlassen, eine Leistung von unbestreitbarem Verdienste.
Nur glauben wir, dass hier — gerade im Hinblick auf den eben erwähnten
Umstand — grössere Ausführlichkeit notthäte. Vielleicht entwickelt sich
der letzte Abschnitt zu einem selbständigen dritten Bande. Es würde
dies, unserer Ansicht nach, den didaktischen Wert des Werkes nicht un-
bedeutend erhöhen, ein Vorteil, dem gegenüber die Vergrösserung des
Umfanges kaum in Betracht käme.
Wir erblicken — und damit schliessen wir unser Referat — in der
„Geschichte der Philosophie" Vorländers, trotz der mannigfachen Ein-
wände, welche wir gegen einzelne Punkte erheben zu müssen geglaubt
haben, eine in didaktischer, litterarischer und wissenschaftlicher Beziehung
höchst verdienstliche Leistung und wünschen ihr im Interesse eines erfolg-
reichen Studiums der Philosophiegeschichte die weiteste Verbreitung.
Graz. R. Hönigswald.
Wandschneidei-, Albrecht, Dr. phil. Die Metaphysik Benekes.
Mittler & Sohn, Berlin 1903. (155 S.)
Der Verfasser meint, dass gegenwärtig der Neukantianismus einem
gemässigten metaphysikfreundlichen Kritizismus zu weichen scheint, und
so „lenkt sich naturgemäss der Blick auf die Vorgänger dieser Richtung
1) Vgl. Hönigswald, Über die Lehre Humes von der Realität der
Aussendinge, Berlin, C. A. Schwetschke & Sohn 1904.
224 Recensionen (Leibniz-Buchenau'Cassirer).
in der nachkantischen Zeit". Dabei kann man dann Beneke nicht über-
sehen. „Auf solidem Grunde und mit ruhiger Überlegung und scharfer
Beweisführung erbaut Beneke ein System der IMetaphysik, das entschieden
unsere Bewunderurg verdient."
Bei so viel Bewunderung ist es gar kein Wunder, dass sich die
Arbeit die Aufgabe stellt, nicht eine Kritik, sondern eine Darstellung der
Benekeschen Metapliysik zu sein. Und das war vielleicht ganz gut. Die
Naivität Benekes, die ja gewiss einigen Reiz ausübt, aber wie schon
Herbart bemerkte, dem wissenschaftlichen Denker als Halbheit erscheinen
muss, tritt damit auch bei dieser Arbeit in ihr gutes Recht.
Die Arbeit giebt ein klares Bild von Benekes Metaphysik. Die
Hauptzüge sind treffend und gut systematisiert erwähnt. Gegenüber der
vorzüglichen Darstellung Gramzows (Benekes Leben und Lehre) dürfte
diese Arbeit den Wert haben, die Metaphysik ausführlicher und genauer
dargestellt zu haben. Zu wünschen wäre gewesen, dass der Verf. die
Werke und ihre Seitenzahl sub linea citierte, damit die störenden Unter-
brechungen der Gedankenführung wegblieben, so sehr sie auch von dem
Fleiss unseres Autors Zeugnis ablegen.
Berlin. Hugo Renner.
Leibniz, G. W. Hauptschriften zur Grundlegung der Phi-
losophie. Übersetzt von Dr. A. Buche nau. Durchgesehen und mit
Einleitungen und Erläuterungen herausgegeben von Dr. E. Cassirer.
Bd. 1. . Leipzig. Dürrsche Buchhandlung. (375 S.)
Das vorzügliche und empfelilenswerte Buch bringt eine Auswahl
Leibnizscher Schriften zur Logik und Methodenlehre, zur Mathematik, zur
Phoronomie und Dynamik und zur Metaphysik. Im letzten Abschnitt sind
zunächst nur solche Schriften aufgenommen, aus denen man ein Bild der
gescliichtlichen Stellung des Systems gewinnen kann. Der vorliegende
erste Band soll nach Angabe des Herausgebers die vorbereitenden Schriften
zur Logik und Wissenschaftstheorie enthalten, während die metaphysischen
Abhandlungen im engeren Sinne ein zweiter Band bringen soll.
Mit Recht betont der Herausgeber, dass bei der universalistischen
Denkart Leibnizens eine Auswahl nur unter dem Gesichtspunkt der All-
heit der Probleme, aus deren Bearbeitung Leibniz seine Theorien gebildet
hat, zu treffen sei, dass es nur so möglich sei, dem universalistischen
Charakter dieses Denkers gerecht zu werden. Die übliclien Sammlungen
von Hauptschriften geben „im günstigsten Falle einen Überblick über den
Inhalt der Lehre; aber sie bezeichnen nicht die gedankliche Entwicke-
lung, die zu ihnen hingeführt hat, und die gemeinsame Wurzel, der sie
entstammen". Leibniz ist nicht bloss Metaphysiker, er hat auch einen
grossen Teil der positiven Wissenschaften mit Erfolg bearbeitet. Aus der
Tendenz, den einzelnen Arbeitsgebieten ihre Eigentümlichkeit und ihre
Rechtsame zu wahren und doch diese in einheitlichem Zusammenhang
auszugleichen, ist Leibniz' Philosophie erwachsen. Bei ihm sind Einzel-
forschung und Philosophie gegenseitig bedingt. Dieser Sachlage sucht
unser Werk gerecht zu werden. „Vollständigkeit der Übersicht galt, wenn
nicht im extensiven, so doch im intensiven Sinne als Vorbild und Aufgabe,
sofern alle begrifflichen Momente, die das System bilden halfen, durch
einen charakteristischen Repräsentanten wiedergegeben werden sollten".
Hierin spiegelt sich das Eigentümliche dieser Ausgabe ab. Es
handelt sich also nicht darum, eine Auswahl dahin zu treffen, um einen
kurzen Inhalt der Lehren zu geben, auch nicht darum, etwa die historische
Entwickelung zu charakterisieren, die Ausgabe will den pragmatischen
Zusammenhang der einzelnen Probleme zeigen. Durch die nachdenkende
Beschäftigung mit den Problemen soll sich der Leser „die gegenseitige
Abhängigkeit der einzelnen Faktoren und ihre Wechselwirkung" zum
Bewusstsein bringen, und so führt uns das Buch von der Logik und Ma-
thematik zur Dynamik und von dieser zu den Anfängen der Meta-
physik,
Selbstanzeigen (Elsenhans). 225
Den Schriften zur Logik und Mathematik lässt der Herausgeber
eine Einleitung vorausgehen, in der er das Kardinalproblem, das Verhältnis
von Einheit und Vielheit, hervorhebt und seine Bestimmung in den ein-
zelnen Abhandlungen andeutet. Ebenso lässt der Herausgeber den
Schriften zur Phoronomie und Dynamik eine besondere Einleitimg vor-
ausgehen.
Alles in allem, Einleitung und Anmerkungen, wie Ausw^ahl der
Stücke (deren namentliche Aufzählung ich mir hier wohl sparen darf) sind
durchgehend von dem methodischen Gesichtspunkte bestimmt, ein einheit-
liches Ganzes zu geben, in dem die einzelnen Teile sich als Glieder geben.
Dass die Auffassung des Herausgebers von Leibnizens Philosophie und
seine Wertschätzung dieses Denkers sich auch bei diesem Werk geltend
macht, konnte dem Zweck des Buches nur nützlich sein.
Wenn auch ein abschliessendes Urteil sich erst geben lässt, sobald
der n. Band vorliegt, so berechtigt doch der I. Band schon zu den besten
Hoffnungen auch für den zweiten. Die anerkennenswerte philosophische
Leistung, als die sich diese Ausgabe zeigt, bildet eine wertvolle Be-
reicherung der Kirchmannschen Bibliothek. Eine ausführlichere kritische
Besprechung behalte ich mir bis nach Erscheinen des IL Bandes vor.
Berlin. Hugo Renner.
Selbstanzeigen.
Eisenbaus, Theodor. Kants Rassentheorie und ihre blei-
bende Bedeutung. Ein Nachtrag zur Kant-Gedächtnisfeier. Leipzig,
Engelmann. (52 S.)
Die vorliegende kleine Schrift entstand aus dem Wunsch, unter den
vielen Schriften zu Kants Gedächtnis auch seine naturwissenschaftliche
Bedeutung, und zwar an einem bestimmten, dem Interessenkr?is der
Gegenwart besonders naheliegenden Punkte, zur Geltung zu bringen.
Ursprünglich als eine kurze Darstellung des Kantischen Begriffs der Rasse
geplant, die auch Fernerstehenden die bleibende Bedeutung Kants als
Naturforschers und seiner Abhandlungen über diese Frage verständlich
machen sollten, führte sie zur Erörterung verschiedener, teils Kants Stel-
lung zu der Frage, teils die Behandlung des Rassenproblems überhaupt
betreffender Punkte, die auch für den Fachmann einiges Intere.sse haben
dürften So ist z. B. im Anschluss an das von Kant entworfene grosse
Programm einer „Naturgeschichte" im Gegensatz zur blossen „Natur-
beschreibung" eine Übersicht über die verschiedenen Ansätze gegeben,
welche sich bereits bei Kant für die im Darwinismus ausgebaute Ent-
wickelungstheorie finden. In der auf dieser Grundlage gegebenen
Begriffsbestimmung und Einteilung der Menschenrassen tritt ein Grundzug
Kantischen Denkens unverkennbar hervor, die Tendenz, an die Stelle leerer
logischer Formen Massstäbe zu setzen, die aus der lebendigen Wirklichkeit
gewonnen sind. Wie er schon in seinen frühesten Schriften zeigt, dass
der Gegensatz zweier Bewegungsrichtuugen etwas anderes ist als ein lo-
gischer Widerspruch, oder dass sich aus blossen logischen Formeln keine
wirkliche Erkenntnis herausholen lässt, so setzt er hier an die Stelle der
Kantstudien X. l^
226 Selbstanzeigen (Hönigswald).
blossen logischen Systematik eine Klassifikation nach Le b ensfunktlonen.
Kants Auseinandersetzung mit Förster iührt dann zu einer Erörterung des
Zweckgedankens in seinem Verhältnis zur Rassentheorie und zur
Naturwissenschaft überhaupt, welche in der Konsequenz der Kantischen
Forderung, einer ,grösstmöglichen Kühnheit' der mechanischen Erklärung
und seines Begriffs der Teleologie zu der Unmöglichkeit gelangt, eigens
eine Gruppe „materieller Wesen" oder ihre „Stammmutter" der mecha-
nischen Erklärung grundsätzlich zu entziehen und damit innerhalb der
Erfahrung der Erfahrungswissenschaft selbst Grenzen zu
setzen. Die teleologische Beurteilungsweise ist damit keineswegs aus-
geschlossen, vielmehr für die letzten Fragen gefordert.
Heidelberg. H. Elsenhans.
Hönigswald, Richard, Dr. Über die Lehre Humes von der
Realität der Aussendinge. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung.
Berlin. C. A. Schwetschke & Sohn. 1904. (Diss. Halensis.)
Die vorliegende Arbeit versucht eine kritische Darstellung der theo-
retischen Philosophie Humes unter dem Gesichtspunkte seiner Realitäts-
lehre. Sie will vor allem dieser letzteren den ihr gebührenden Platz in
dem erkenntnistheoretischen System des grossen schottischen Denkers
selbst und weiterhin im Rahmen des philosophischen Kritizismus überhaupt
anweisen. An eine durch die Gesichtspunkte der Humeschen Realitäts-
lehre bestimmte Analyse der Erkenntnistheorie des Philosophen knüpft
sie darum eine Erörterung des Verhältnisses der letzteren zu der logischen
Erfahrungstheorie Kants, um mit einer Darlegung der metaphysischen
Voraussetzungen des Kritizismus und derjenigen Annahmen abzuschliessen,
welche auf Grund jener Erfahrungstheorie über die materiale Vo-raus-
setzung der Erkenntnis, die Dinge an sich, gemacht werden müssen.
Zunächst musste die Natur des Humeschen Empirismus erläutert
werden. Indem dieser als ein streng methodischer dem metaphysischen
Berkeleys und des modernen Empiriokritizismus gegenübergestellt wird,
rückt als ein wesentliches Merkmal der Humeschen Erkenntnislehre der
Phänomenalismus des Philosophen und seine Verwandtschaft mit dem
Kritizismus Kants in den Vordergrund. Hume ist — systematisch be-
trachtet — mehr, als der Erwecker Kants aus „dogmatischem Schlummer".
Er hat als kritischer Phänomenalist die Kantsche Lehre vom Gegenstande
der Erfahrung vorbereitet und fordert als eine Voraussetzung seiner Er-
kenntnistheorie, wie später Kant, die Amiahme der realen Existenz von
Dingen. Die prinzipielle Differenz zwischen den erkenntnistheoretischen
Lehren der beiden Denker tritt dabei nur um so schärfer hervor. Hume
besitzt schon einen kritischen Begriff des Gegenstandes der Erfahrung als
eines durch die aktive Bethätigung des Intellektes geschaffenen Symbols
der Realität im Bewusstsein, aber er verkennt noch die Bedingungen der
allgemeinen, d. h. objektiven Geltung dieses Symbols. Und weil in Folge
dessen einer Verwendung der Formalbegriffe, in welchen diese Beding-
ungen zum Ausdrucke kommen, keine objektiv gültigen Grenzen gesetzt
sind, erweitert sich bei Hume das Gebiet des gefühlsmässigen Glaubens
auf Kosten desjenigen erfahrungsgemässer Erkenntnis: Beharrlichkeit ist
für Hume nicht eine rationale Bedingung der Dinge als Erscheinungen,
sondern ein gefühlsmässig, oder instinktiv anzunehmendes Merkrnal der
Dinge an sich selbst. — Der Widerspruch, in welchen so Praxis imd
Theorie der Erkenntnis mit einander geraten müssen, kann nur auf dem
Standpunkte eines logischen Kritizismus beseitigt werden. — Nur eine
logische Erfahrungstheorie ermöglicht aber auch eine klare Beantwortung
der Frage nach Sinn und Bedeutung einer kritischen Metaphysik. Ihr
sind die beiden letzten Kapitel dieser Arbeit gewidmet. Kritische Meta-
physik hat die Aufgabe, festzustellen, wie die unerkennbaren Realitäten
unter dem Gesichtspunkte einer logischen Erfahrungstheorie gedacht
werden müssen. Die Erörterung dieser Frage geschieht teilweise im
Rahmen einer Kritik der neuerdings wieder von Busse mit Energie ver-
Selbstanzeigen (Meyer-Benfey— Franck). 227
tretenen Theorie einer Wechselwirkung zwischen Physischem und Psychi-
schem und führt schliesslich zu einer Darlegung der Umstände, welche
die Entwickelung einer an den Aufgaben einer logischen Erfahrungstheorie
orientierten kritischen Metaphysik in der theoretischen Philosophie Humes
vereiteln.
Graz. R. Hönigswald.
Meyer-Benfey, Heinricli. Herder und Kant. Der deutsche Idea-
lismus und seine Bedeutung für die Gegenwart. Halle a. S., Gebauer-
Schwetschke 1904. (114 S.)
Die Schrift vereinigt zwei Aufsätze, die für die Gedächtnisfeiern
der beiden Grossen, die der Titel nennt, bestimmt waren. Diese wollen
„auf die Frage aiitworten: was haben jene Männer für die deutsche Kultur
bedeutet, und was können sie uns heute noch bedeuten ?" Die Antwort
ist in beiden Fällen verschieden. Herder liat heute wesentlich historisches
Interesse. „Ungleich allgemeiner und unmittelbarer ist die Bedeutung
Kants für die Gegenwart. Wir können ihn alle nicht entbehren, wenn
wir in unserem Denken und Leben einen festen Standpunkt gewinnen
wollen. Die Einsicht in diese Unentbehrlichkeit Kants zu verbreiten und
neben der nüchternen Einsicht auch ein wenig Liebe für ihn zu erwecken,
dadurch viele zu ihm zu führen — das ist der eigentliche Zweck dieser
Schrift. Denn auch der Herder-Aufsatz ist in gewisser Weise eine Hin-
weisung zu Kant. Besonders liegt es mir auch daran, die Überzeugung
zu begründen, dass Kant nicht ein Privileg der zünftigen Philosophie ist,
sondern dass er der ganzen Menschheit angehört." (Vorrede.) Darin liegt
zugleich die Rechtfertigung für das Wagnis, dass hier ein Laie über Kant
schreibt und für Kant wirbt. — Die Studie über Kant erörtert zunächst
seine geschichtliche Stellung und Bedeutung, giebt sodann in freier Dar-
stellung einen kurzen Abriss der theoretischen und der praktischen Philo-
sophie Kants, mit besonderer Hervorhebung ihrer Fruchtbarkeit für
Wissenschaft, Weltanschauung und Leben und bespricht endlich, mit Be-
zugnahme auf Quellenpublikationen der letzten Zeit, Kants Persönlichkeit
und die Beziehungen zwischen ihr und seiner Philosophie. Besonders in
den Abschnitten, die von der Ethik und im Anschlüsse daran von der Be-
gründung der Geschichtswissenschaft handeln, mussten zuweilen eigene
Aufstellungen gewagt werden, über deren Haltbarkeit erst eine längere
Anwendung entscheiden kann, und die ich einstweilen einer freundlichen
Prüfung der Kenner empfehle.
H. Meyer-Benfey.
Franck, Ernst. Der Primat der praktischen Vernunft in
der f rühnachkantischen Philosophie. Dissert. Erlangen 1904. (71 S.)
Ich habe die Entwicklung darzulegen unternommen, welche Kants
Lehre vom Primate der praktischen Vernunft in der frühesten nach-
kantischen Periode erfahren bat. Es ist für die Denker jener Epoche,
soweit sie sich mit diesem Problem überhaupt eingehender befasst haben,
charakteristisch, dass sie den Primat der praktischen Vernunft ausschliess-
lich in seiner religiös-ethischen Bedeutung und Wirkung verstanden, dass
aber sein tiefster erkenntnistheoretischer Sinn, den zuerst Fichte erfasst
und in neuester Zeit Rickert demonstriert hat, hie und da von ihnen
wohl dunkel geahnt, aber nie klar begriffen und ausgesprochen wurde.
Auch bei Kant ist von einer erkenntnistheoretischen Deutung und Be-
deutung des Primats der praktischen Vernunft noch nicht die Rede. Auch
ihm ist er vor allem ein Primat der ethischen Werte und das Fundament,
der letzte Beweisgrund für die Realität des Unbedingten und seiner
Postulate.
Um zu zeigen, wie sich die Entwicklung des Problems über Kant
hinaus weiter gestaltet hat, war es zuvor notwendig, die Wurzeln der
Lehre im Boden des Kantischen Vernunftsystems aufzusuchen, sie bis in
die im Freiheitdogma ruhenden Fasern zu verfolgen und zu der von Kant
15*
2^8 Öelbstanzeigen (Heim).
gewählten gedanklichen Formulierung Stellung zu nehmen. Letzteres ist
in dem Sinne geschehen, dass der faktische Primat der praktischen Ver-
nunft, in dessen Proklamation ich mit Kuno Fischer die Krönung des
Systems erblicke, zugegeben und als tiefe psychologische Einsicht erkannt
wurde. Hingegen musste die prinzipielle Berechtigung, aus dieser Ein-
sicht Schlüsse für das religiöse und ethische Leben zu ziehen, strikt ver-
neint werden. Die im Weiteren historisch verlaufende Darstellung be-
handelt nun die Gestaltung des Problems bei Reinhold, Aenesidem,
Maimon, Beck und Jacobi. Reinholds eigenartige Persönlichkeit, die seine
Wandlungen erst verständlich macht, wird scharf beleuchtet und die
Leistung seiner Elementarphilosophie gegen die seines Kantianismus ab-
gewogen. Aenesidems skeptische Argumentation gegen die Primatlehre
und ihre moraltheologischen Konsequenzen hält einer Prüfung auf ihre
bleibende Giltigkeit Stand, muss aber einer immanenten Kritik der Kan-
tischen Gedanken, wie schon Fichte sie in seiner bekannten Rezension
übte, trotzdem weichen. Maimons intellektuaUstischer Moralismus stellt
sich als die subtile Begründung eines Primats der theoretischen Ver-
nunft, Becks Stellung zum Problem als eine höchst unzureichend fundierte,
aber aus seinem Idealismus verständliche Modifikation des Kantischen Ge-
dankens heraus. Jacobi endlich, für dessen geistreiches aber unwissen-
schaftliches und unsystematisches Philosophieren der Primat der praktischen
Vernunft gewissermassen das Zentralproblem bildet, erfährt eine besonders
eingehende, kritische Würdigung. Seine subjektiv bestimmten Einwände
werden als auf gänzlichem Verkennen der Kantischen Absicht beruhend
zurückgewiesen, sein vielfach noch recht überschätztes Denken in seiner
Sprunghaftigkeit und Unfruchtbarkeit charakterisiert.
Eine kurze Einleitung meiner Schrift erörtert die Identität der
Kantischen Lehre vom Primate der praktischen Vernunft mit der alten,
schon von Augustin vertretenen Doktrin vom Primate des Willens. Damit
stellt sich diese historische Spezialuntersuchung als Abschnitt der Ge-
schichte eines Problems dar, welches sich durch die gesamte Geschichte
der Philosophie Schritt für Schritt verfolgen lässt. Zugleich bildet die
Arbeit den ersten Teil einer Abhandlung, welche die Entwicklung des
Problems von Kant an bis auf die Philosophie der Gegenwart (etwa bis
auf Rickert) umfassen soll.
Dr. Ernst Franck.
Heim, Karl Dr. Das Weltbild der Zukunft. Eine Auseinander-
setzung zwischen Philosophie, Naturwissenschaft und Theologie. Berlin,
C. A. Schwetschke & Sohn 1904. (IX u. 299 S.)
Inhalt: Einleitung. — Das Problem. — Das Wirkliche. — Die Welt-
formel. — Die Zeit. — Der Raum. — Das Du. — Der Wille. — Das Natur-
gesetz. — Das energetische Weltbild. — Die Geschichte des Denkens. —
Das Problem der religiösen Gewissheit.
Obwohl sich diese Schrift zunächst als eine für ein weiteres Publi-
kum bestimmte und darum im leichten Essay-Stil geschriebene Reihe von
Aufsätzen über Weltanschauungsfragen darstellt, so ist sie doch, genauer
betrachtet, die Durchführung eines einzigen philosophischen Grundge-
dankens, der nur für fachmännisch Gebildete vollständig verständlich sein
dürfte. Man könnte sie eine Monographie über ein in der bisherigen phi-
losophischen Arbeit vielleicht noch nicht genügend zur Geltung gekom-
menes Prinzip der philosophischen Methode nennen, von dessen Frucht-
barkeit diese Schrift eine Probe geben möchte, um zur genaueren logischen
Untersuchung desselben anzuregen. Das methodische Prinzip, um das es
sich handelt, ergiebt sich aus der Berücksichtigung der beiden bekannten
Thatsachen, dass wir 1., wie die unendliche Teilbarkeit aller Grössen zeigt,
bei der Apperzeption der Empfindungen niemals auf Einheiten stossen,
die sich nicht wieder in Mannigfaltigkeiten auflösen Hessen, und dass 2.
auf dem ganzen Gebiet der Empfindungsqualitäten, wie der Verhältnis-
charakter der Ton- und Farbenphänomene zeigt, jede Erscheinung nur
Selbstanzeigen (Lipsius). 229
durch Relation zu einer anderen Erscheinung ihren bestimmten Inhalt be-
kommt. Beachtet man diese Thatsachen, so erscheint es als eine unter
dem Einfluss der mathematischen Methode entstandene dogmatische Ver-
gewaltigung der Erfahrung, wenn sowohl der vorkantische, als der mo-
derne Empirismus bei der Analyse der Empfindung von vermeintlich iso-
lierbaren Gegebenheiten, „Perzeptionen" oder Empfindungsgrössen E, E',
E", E'" . . . ausgeht, um dann erst hinterher die Verhältnisse zu betrachten,
in welche diese zunächst isolierten Gegebenheiten zu einander treten
können. Vielmehr muss dieses eigentümliche Ineinandergeschlunffensein
von Einheit und Verhältnis, die Auflösbarkeit aller Einheiten in Verhält-
nisse und Verwandelbarkeit aller Verhältnisse in Einheiten, wie sie die
reine Erfahrung darbietet, schon in den ersten Ansatz der Erfahrungs-
analyse aufgenommen werden. Damit tritt aber an die Stelle der seit-
herigen Einheitslogik, für welche die Verhältnisse nur durch Zusammen-
treten isolierbarer Einheiten entstehen, eine Verhältnisloffik, für welche
die Einheiten nur durch Verhältnisse Zustandekommen. Und es entsteht
die Aufgabe, den Begriff der Relativität als den philosophischen Grund-
begriff nach allen Seiten hin zu untersuchen. Zu einer solchen Unter-
suchung des alten Problems der Relativität möchte die vorliegende Schrift
einen Beitrag liefern. In dem Abschnitt: „Die Weltformel", der den
Grundgedanken des Ganzen enthält, wird versucht, drei Arten von Rela-
tivität, die vielfach mit einander konfundiert werden, klar auseinander-
zuhalten, das gewöhnliche Verhältnis des spezifischen Unterschieds, das
relative Verhältnis im eigentlichen Sinn, wie es z. B. zwischen Ruhe und
Bewegung besteht, und endlich das so schwer analysierbare Abstraktions-
verhältnis, in dem sich z. B. Form und Inhalt einer Farbenfläche zu ein-
ander befinden. Die weiteren Abschnitte über Raum- und Farbentheorie,
über das Ich-Problem, über die Ostwaldsche Energetik, über die Geschichte
der Philosophie und Theologie, in denen viele Einzelausführungen natur-
wissenschaftliclier und historischer Art sehr stark hypothetischen Charakter
tragen, haben, philosophisch betrachtet, nur den Zweck, die Konfundierung
jener drei Verhältnisarten als eine unerschöpfliche Quelle mythologischer
Verirrungen und metaphysischer Gedankendichtungfen auf philosophischem,
naturwissenschaftlichem und theologischem Gebiet darzuthun Neben
dieser kritischen Absicht hat die Schrift zugleich die positive Tendenz,
den von Avenarius und Mach beeinflussten Kreisen von ihrem eigenen
erkenntnistheoretischen Standpunkt aus einen neuen Weg zum Verständ-
nis für das Unvergängliche an Kants Gedankenarbeit zu eröffnen. Ist
nämlich einmal das Ausgehen von beziehungslosen Empfindungfseinheiten
als dogmatische Vergewaltigung der „reinen Erfahrung" erkannt, wird
also die Relation bei der Analyse der Empfindungen zum Ausgangspunkt
genommen, so wird gerade dann, wenn man wirklich voraussetzungslos an
die Erfahrung: herantreten will, eine Relationslogik zur Vorbedingung
jeder empirischen Forschung. Eine logische Analyse der Verhältnisse aber
lässt Kants apriorische Formen, die die Erfahrung allererst möglich
machen, wenn auch in wesentlicher Vereinfachung wieder aufleben.
Halle a. S. Dr. Karl Heim.
Lipsins, Friedr. Reinh., Lic. Privatdozent. Kritik der theolo-
gischen Erkenntnis. Berlin, C. A. Schwetschke & Sohn, 1904.
Der Verfasser hat es unternommen, die mannigfachen Versuche der
neueren protestantischen Theologie, für die Hauptsätze der christlichen
Dogmatik eine gegen wissenschaftlichen Einspruch möglichst gesicherte
Grundlage zu gewinnen, von einem unbefangenen philosophischen Stand-
punkt aus zu kritisieren. Dabei betrachtet er es als seine ^vichtigste Auf-
gabe, die psychologische und erkenntnistheoretische Unhaltbarkeit der
heute herrschenden „Theologie der inneren Erfahrung" nachzuweisen. Sie,
die doch auf das äussere Naturwunder als Beglaubigung der religiösen
Weltanschauung meist Verzicht leisten zu müssen meint, hält entweder
an der Möglichkeit himmlischer, in den Kausalzusammenhang der seelischen
230 Selbstanzeigen (Döring).
Vorgänge eintretender Offenbarungen unbefangen fest — oder aber sie
beruft sicli, ihre Blosse mit einem Fetzen Kantisclier Philosophie deckend,
auf die angebliche Subjektivität aller unserer Erkenntnisse. Aus ihr
glaubt sie folgern zu dürfen, dass die Erlebnisse des frommen Bewusst-
seins nicht mehr und nicht weniger Realitätswert besitzen als die sinnen-
fällige Wirklichkeit, mit der es die Naturwissenschaft zu thun hat.
Demgegenüber wird gezeigt, wie jedenfalls die Gefühle, in deren
relativ dunkeles Gebiet man sich mit besonderer Vorliebe zurückzieht,
noch in ganz anderem Sinne als subjektiv zu bezeichnen sind, wie die
Vorstellungen und für sich weder überhaupt ein gegenständliches Wissen,
noch ins Besondere ein solches von überweltlichen Objekten vermitteln.
Im Anschluss hieran wird auch die Kantische Moraltheologie abge-
lehnt; teils weil Kants Lehre vom kategorischen Imperativ nach des Ver-
fassers Überzeugung mit Psychologie und Geschichte streitet, teils weil
die daran geknüpften drei Postulate nicht unausweichlich sind. Albert
Schweitzers treffliche Analyse der Kantischen Religionsphilosophie ist in
diesem Abschnitt mit Dank benutzt worden.
Dagegen wenden sich nun die folgenden Abschnitte gegen die Be-
mühungen, die von Kant aufgelösten alten Schulbeweise für das Dasein
Gottes zu rehabilitieren. Zum Schlüsse entwickelt der Verfasser die
Grundzüge seiner eigenen Anschauung, die auf einen metaphysischen
Idealismus, wie ihn Wundt vertritt, hinausläuft. Dabei sucht er jedoch
mit Kant Führung zu behalten. Obwohl den Beweisen der transscenden-
talen Ästhetik für die Apriorität und Idealität des Raumes und der
Zeit eine durchschlagende Kraft nicht zuerkannt wird, ist doch einzu-
räumen, dass alle Untersuchung äusserer Objekte zuletzt bei relativen Ver-
hältnisbestirrtmungen stehen bleiben muss, also in das innere Wesen der
Dinge nicht eindringt. Dagegen giebt nun der Einblick in die seelischen
Prozesse, für die Kants Unterscheidung von Erscheinung und Ding-an-sich
keine Giltigkeit besitzt, eine allgemeine Anleitung, wie wir uns den Kos-
mos nach seinem eigenen Sein zu denken haben. Jeder Versuch aber,
hieraus positive Einzelerkenntnise entwickeln und die Welt im Sinne der
älteren Metaphysik von oben herab konstruieren zu wollen, verwickelt in
unlösbare Schwierigkeiten, die die gleichen sind, ob man letzten Endes
einen theistischen oder einen plura listisch-atheistischen Standpunkt ein-
nimmt.
Die Gottesvorstellung behält jedoch dauernd ihre Bedeutung als
subjektiv unaufgebbares und sachlich angemessenes Symbol für die Idee
des absoluten Einheitsprinzips und Entwickelungsgrundes der Welt. Be-
sonders in diesen letzten Erörterungen hat sich der Verfasser nahe an die
tiefen und für die Religionsphilosophie noch Innge nicht genügend aus-
gewerteten Gedanken der Kantischen Ideenlehre und der „Kritik aller
spekulativen Theologie" angeschlossen.
Jena. F. Lipsius.
Döring, O. Der Anhang zum analytischen Teile der Kritik
der reinen Vernunft über die Amphibolie der Reflexionsbe-
griffe. Dissertation, Leipzig 1904.
Der Verfasser hat versucht, die mannigfachen Dunkelheiten und
Widersprüche im Anhange über die Amphibolie der Reflexionsbegriffe mit
den Grundgedanken Kantischer Philosophie, speziell Kantischer Logik in
Einklang zu bringen. Von den zahlreichen Fragen, die einer Beant-
wortung harrten, erwiesen sich namentlich drei von wesentlicher Bedeutung
für das Verständnis des Ganzen:
1. Worin besteht das Wesen der Reflexion, spez. der trans-
scendentalen Reflexion?
2. Wo findet sich die von Kant angekündigte transscenden-
tale Topik?
3. Wo ist das Prinzip, das uns im Hinblick auf das Wesen der
Reflexion mit zwingender Kraft das Nichtmehr und Nicht-
Selbstanzeigen (Döring:). 231
weniger der Reflexionsbegriffe verbürgt und uns über die
Natur dieser Begriffe aufklärt?
Die erste Frage fand ihre Antwort in der allgemeinen Reflexions-
definition: „Reflexion ist diejenie:e Thätigkeit unseres Gemütes,
durch welche das bestimmte Verhältnis gegebener Vorstellungen
zu unseren Erkenntniskräften oder das unbestimmte Verhält-
nis zueinander festgestellt ist;'' und in der besonderen Definition:
„Die transscendentale Reflexion ist eine mit Hilfe der Reflexions-
begriffe stattfindende Comparation reiner Anschauungen untereinander."
Die Untersuchung der zweiten Frage nach der transscendentalen
Topik ergab das überraschende Resultat, dass Kant die ausdrücklich an-
gekündigte Topik überhaupt nicht geleistet hat, und stellte den Verfasser
vor die Aufgabe, in Kants Sinne selbst solch eine „Anweisung nach Regeln"
zu geben, nach denen man den Vorstellungen in den einzelnen Erkenntnis-
vermögen ihre Stelle bestimmen kann, deren Lösung in folgender Formu-
lierung versucht wurde:
„Wenn uns eine Vorstellung gegeben ist, die sich nicht
durch ein passives Bewusstsein unmittelbar als empirische An-
schauung erweist, so müssen wir die Reflexion im besonderen
anwenden, die darin besteht, dass wir auf die An- oder Ab-
wesenheit bestimmter oder allgemeiner Raum- und Zeitbe-
ziehungen aufmerken und die Vorste llungen mitbestimmten
solchen Beziehungen den reinen Anschauungen, die Vorstel-
lungen mit allgemeinen solchen Beziehungen den empirischen
Begriffen und die Vorstellungen ohne solche Beziehungen den
reinen Begriffen zuweisen."
Das Eingehen auf die dritte Frage endlich ergab, dass Kant die
Reflexionsbegriffe ohne solches Prinzip unter Anlehnung an die Vierzahl
in seinem Kategorienschema und im Hinblick auf die Möglichkeit be-
quemer Leibnizkritik aufgestellt hat. Verfasser glaubt das Auffindungs-
prinzip in dem Zwecke dieser Begriffe (Feststellung der Subsumtions-
möglichkeit und des Subsumtionsumfanges zweier zu vergleichenden Vor-
stellungen) erkannt zu haben und zusammenfassend sagen zu dürfen:
„Da Kant von den Reflexionsbegriffen verlangt, dass sie zum
Zwecke der Begriffsbildung in der Vergleichung (logischen
und objektiven) erforderlich seien, so ergiebt sich, dass es in
seinem Sinne nur die beiden Reflexionsbegriffspaare Einerlei-
heit und Verschiedenheit, Einstimmung und Widerstreit geben
kann, dass dagegen alle übrigen von Kant als Reflexionsbe-
griffe bezeichneten Vorstellungen zu den Unterscheidungsbe-
griffen gehören, deren es eine grosse Zahl (ursprüngliche und
abgeleitete) giebt, und die im Gegensatze zu den blossen Ver-
gleichungsbegriffen auf bestimmte, die gegebenen Vorstel-
lungen deutlich trennende Verhältnisse hinzielen."
Der zweite Teil der Abhandlung, der an der Hand der Kant- und
Leibnizschriften die von Kant im Anhange über die Amphibolie gegebene
Leibnizkritik einer Nachkritik unterzieht, gelangt zu dem Resultate, dass
Kant bei dieser Darstellung Leibnizscher Sätze wenij»' guten Willen zu
einwandfreier Auffassung, zum mindesten wenig historischen Sinn an den
Tag gelegt hat. Als nicht uninteressantes Resultat ergab sich nebenbei
die Thatsache eines inneren Zusammenhanges zwischen der dem Anhange
über die Amphibolie noch hinzugefügten Unterscheidung der Begriffe
Nichts und Etwas mit den Ausführungen im Anschluss an das Reflexions-
begriffspaar Einstimmung und Widerstreit. Zum Schlüsse sei noch der,
wie Verfasser glaubt, mit zwingenden Gründen gestützte textkritische
Vorschlag zur Ergänzung des auf S. 240 Kr. d. r. V. (Kehrbach) unvoll-
ständigen Satzes gegenüber den Vorschlägen von Meilin und Erdmann
erwähnt.
0. Döring.
282 Selbstanzeigen (Heymans— Drexler).
Heymana, G. Einführung in die Metapbvsik auf Grundlage
der Erfahrung. Leipzig. J. A. Barth 1905. (VIII u. 348 S.)
Vorliegendes Buch versucht nachzuweisen, dass und wie die empi-
rische, besonders in der Naturwissenschaft geübte und ausgebildete For-
schungs- und Beweismethode, wenn man sie auf ein umfassenderes Tat-
sachenmaterial, als der Naturwissenschaft zu Gebote steht, anwendet, bei
stetig zunehmender Kenntnis dieses Materials zu verschiedenen, stets besser
dem Materiale angepassten Welthypothesen führt ; und wie diese Entwicke-
lung für unsere Zeit in der Hypothese des psychischen (auch wohl: idea-
listischen, spiritualistischen) Monismus mit kriticistischen Ausblicken ihren
vorläufigen Abschluss findet. Zu diesem Zwecke wird von der äusserst
unvollständigen und ungenauen Thatsachenkenntnis, über welche das vor-
wissenschaftliche Denken verfügt, ausgegangen; werden sodann Schritt
für Schritt weitere Kenntnisse, welche Naturwissenschaft, Psychologie und
Erkenntnistheorie bieten, mit in Betracht gezogen; und wird für jede
einzelne Erkenntnisstufe untersucht, warum die auf die vorhergehende
Stufe passende Welthypothese ihr nicht mehr genügen kann, und welche
Ergänzungen oder Veränderungen sie sich demzufolge in dieselbe anzu-
bringen genötigt findet. So entsteht, auf dem Wege einer fortgesetzten
Prüfung und Anpassung an die gegebenen, Thatsachen, da.«jenige Welt-
bild, welches der Verfasser (in wesentlicher Übereinstimmung mit Fechner,
Paulsen, Ebbinghaus, Strong u. a.) als die grö.sste Annäherung an die voll-
ständige Wahrheit betrachtet, welche das Wissen unserer Zeit gestattet.
Groningen. G. Heymans.
Drexler, Hans, Dr. Die doppelte Affektion des erkennen-
den Subjekts (durch Dinge an sich und durch Erscheinungen)
im Kantischen System. (Gekr. Preisschr. u. Diss. Monast.) Beuthen
0-S., Th. Kirsch. 1904. 61 S.
Auch heute noch gehen die Ansichten über den Charakter des Kan-
tischen Idealismus weit auseinander. Manche Forscher sehen mit Jacobi,
Schulze und Maimon in der dem erkennenden Subjekt gegenüber selbst-
ständigen, den Stoff der Vorstellungen liefernden Realität die Dinge an
sich, andere, insbesondere die Neukantianer, suchen mit Beck und Fichte
die transscendenten Dinge an sich bei der Erklärung des Erfahrungspro-
zesses zu eliminieren und die Erscheinungen als die das Subjekt affi-
zierende Wirklichkeit zu erweisen. Es ist das Verdienst Vaihingers, zum
ersten Male die Behauptung aufgestellt und ausgeführt zu haben, dass
Kant eine Affektion des Subjekts durch die Dinge an sich und durch die
Erscheinungen, also eine doppelte Affektion, unzweideutig lehre.
Die Abhandlung erörtert in ihrem ersten Teile das Problem der
doppelten Affektion aus dem Ganzen des Kantischen Systems heraus; sie
sucht durch eine Analyse der Fundamentalpositionen und Hauptlehren
Kants die Möglichkeit und Bedeutung der beiden Affektionen, sowie ihr
Verhältnis zueinander klar zu legen. Die vom empirischen Subjekte unab-
hängigen (empirisch realen) Gegenstände affizieren nach Kant das empi-
rische Subjekt und rufen dadurch in ihm die Sinnesqualitäten (Farbe, Ge-
schmack u. s. w.) hervor; die empirischen Gegenstände sind aber selbst
nur Erscheinungen unbekannter Dinge, hervorgerufen durch eine Ein-
wirkung dieser unbekannten Dinge an sich auf das transscendentale
Subjekt.
Im zweiten Teile wird der Charakter der Affektion in den einzelnen,
in Betracht kommenden W^erken Kants (Ästhetik, Analytik und Dialektik,
naturphilos. Schriften) näher untersucht. Die doppelte Affektion klärt,
wie aus dieser Untersuchung hervorgeht, manche bei Kant gefundenen
Schwierigkeiten auf (besonders in der Deduktion der Kategorien, den
Grundsätzen des reinen Verstandes und der Widerlegung des Idealismus),
ist aber selbst, wenigstens wie Kant sie lehrt, nicht widerspruchslos.
Der Abhandlung ist eine detaillierte Inhaltsangabe vorausgeschickt.
Breslau. Hans Drexler.
Selbstanzeigen (Kleinpeter— Yeronnet). 233
Kleinpeter, H. Dr. Die Erkenntnistheorie der Natur-
forschung der Gegenwart. Unter Zugrundelegung der Anschauungen
von Mach, Stallo, Clifford, Kirchhoff, Hertz, Pearson und Ostwald darge-
stellt. Leipzig, Barth 1905.
Vorliegender Entwurf einer Erkenntnislehre beabsichtigt eine von
allgemeinen Gesichtspunkten ausgehende, soweit als thunlich systematische
Darstellung der in den Werken der genannten Forscher niedergelegten
Grundanschauungen über das Wesen unserer Erkenntnis. Sie sieht dabei
von deren spezifisch philosophischen Ansichten völlig ab, und lässt z. B.
Cliffords Metaphysik wie Ostwalds energetisches Weltbild ganz unberück-
sichtigt; wogegen sie sich zu zeigen bemüht, dass das Streben nach einer
rein phänomenologischen Auffassung identisch ist mit der Forderung
strenger Wissenschaftlichkeit. Mit Kants Erkenntnistheorie hat sie die
Betonung der Selbstthätigkeit des erkennenden Subjektes gemein ; wäh-
rend aber diese hieraus auf eine Apriorität des Wissens schliesst, macht
sie den gerade entgegengesetzten Schluss. Ausserdem reicht der Zweifel
bei ihr weit tiefer als bei Kant oder selbst Hume. Ein unbedingtes Wissen
im Sinne Piatons vermag sie nirgends zu erkennen, ihr Standpunkt ist
relativistisch, phänomenalistisch, kritisch und empiristisch, wenn auch nicht
im Sinne J. St. Mills.
Die Darstellung ist keine historisch-kritische ; auf die Besprechung
der Anteile der einzelnen Forscher geht sie nicht ein. Sie will nur rein
sachlich nach der Richtung ihrer Stichhaltigkeit hier beurteilt sein ; auch
polemische Auseinandersetzungen gehen ihr fast ganz ab. Sie will eben
nur in möglichster Kürze zeigen, dass auf dem Boden der exakten Wissen-
schaften sich eine Erkenntnistheorie ausgebildet hat, die den Anspruch
erhebt, in ihren Grundzügen richtig zu sein. Der Verfasser hat sich
bemüht, sie nach Analogie anderer Erkenntnistheorien von allgemeinen
Gesichtspunkten aus zu begriinden, und sie so dem philosophisch gebil-
deten Leser zugänglicher zu gestalten; er kann sich aber nicht verhehlen,
dass sie ihren eigentlichen Rückhalt an der positven Wissenschaft zu
suchen hat, und wäre zufrieden, wenn sie ihren Teil dazu beitragen
würde, die Erkenntnis von der Notwendigkeit wissenschaftliclier Bildung
in philosophischen Kreisen zu einer allgemeinen zu machen.
Dr. H. Kleinpeter.
Veronnet, Alex. L'Infini-Cat^gorie et rea ite. Paris, Roger-
Chemoviz 7 Rue des Grands Augustins 1903, (88 p.)
Dans cette etude sur Tinfini l'auteur s'est efforce de se placer sur
un terrain independant de tout Systeme et de toute hypo-
these. II fait Tetude comparee, ä la fois philosophique et scientifique
(meme mathematique) de cette idee, dont il determine et poursuit Tevo-
lution necessaire, incessante dans Tesprit, jusqu'ä ce qu'il nous la fasse
voir corame trop riebe, trop vivante et trop feconde pour pouvoir etre
contenue dans les limites de notre pauvre esprit. Elle s'objective donc et
entraine avec eile les autres determinations qui sont en nous sans nous
et qui, elles aussi, participent ä son infinite.
L'auteur nous fait saisir d'abord ce qu'est cette notion de l'infini
dans la science, son importance, sa fecondite. On se trouve ainsi conduit
par le d^veloppement de cette idee, aux analogies les plus curieuses,
entre l'infini tel que le mathematicien le concoit et l'infini du philosophe.
Ces deux notious, en se fondant, se complfetent s'expHquent et s'ecla-
rent l'uue l'autre. Cette idee de l'infini est le principe directeur
qui nous permet de coordonner et de classer nos idees et nos sensations,
de leur donner un sens, une explication derniere ; sans eile l'unite et la
continuite de la pensee seraient rendues impossibles. Tout en nous
postule l'infini, l'ap pelle et en vit. Que ce soit dans la nature ou
en lui-meme, dans le developpement de son activite volontaire ou dans
celui de sa pensee pure, k la base et au sommet de tout l'homme decouvre
toujours l'infini.
234 Selbstanzeigen (Chapman).
L'impossibilile d'une regression inddfinie dans le pass6, la
degradation de l'energie, etc., etudiees d'une maniere eminerament
scientifique, eclairent d'un nouveau jour le fait de la contingence du
monde, donne une nouvelle vie ä cette preuve qui elle-meme vient se
fondre dans une autre plus generale plus comprehensive. Ca r cette preuve,
comme les autres d'ailleurs, suppose encore l'objectivite du monde et de
nous-memes, suppose la realite et la legitimite des principes de raison et
de moiale. On peut toutefois faire abstraction de la valeur de ces
principes, les considerer ä un point de vue purement subjectif. On
arrive tonjours cependant comme le montre l'auteur, ä reconnaitre comme
absolumeut necessaire cette idee de l'infini pour expliquer l'enchainement
de nos concepts et de nos sensations, pour expliquer les principes memes
que sont en notre äme et forment le fond de toute notre vie intellectuelle
et morale, instincts psy chol ogi ques qui nous depassent, que nous
n'avons pas que construire par consequent, que nous apportons en naissant
et qui sont comme le secan de l'infini en nous. C'est ainsi en derniere
analyse que nous reconnaissons Dieu present en nous par ces principes et
que nous saisissons sa realite et celle du monde, en meme
temps que notre propre r6alite.
Paris. A. Veronnet.
Chapman, William John. Die Teleologie Kants. Dissertation
Halle 1904.
Die Kantische Teleologie stellt sich im Gegensatz einerseits zu der
Entelechielehre des Aristoteles, andererseits zu der Physikotheologie des
17. und 18. .Jahrhunderts. Die Zielstrebigkeit, die Aristoteles den Ele-
menten zuschrieb, zeigt uns, dass seine Physik selbst teleologisch zu ver-
stehen ist (§ 1). Dagegen setzte die Physikotheologie die zweckähnlichen
Erscheinungen der Natur auf das Niveau der bloss zufälligen Nützlichkeit
herab. In erster Linie stellte Kant den Begriff einer „innei'en Zweck-
mässigkeit'' wieder her. In seiner Auffassung jedoch enthält dieser Be-
griff ein Problem und nicht, wie es Aristoteles gemeint hat, ein Erklärungs-
prinzip (§ 12). Erst durch Kant wurde das Endursachliche (folglich auch
die Zweckförmigkeit des organischen Geschehens) auf bestimmte Weise
zum Problem erhoben.
„Der Einzig mögliche Beweisgrund" zeigt uns den Zusammenhang
zwischen der Kantischen Teleologie und der exakten Wissenschaft. Schon
in der vorkritischen Zeit, als bei Kant das naturwissenschaftliche Interesse
vorwiegend war, sind alle Bestandteile seiner Teleologie, und zwar auf
mathematischem, ästhetischem und biologischem Gebiete, nachweisbar. In
erkenntnistheoretischer Hinsicht ist der „Einzig mögliche Beweisgrund"
von nicht geringerer Bedeutung. Denn das methodologische Problem ist
hier wie später in der kritischen Teleologie vornehmlich ein Problem des
Urteilens (§ 6). Die kritische Teleologie ist daher eine Fortsetzung der
vorkritischen und keineswegs eine bloss logische Konsequenz des Kritizis-
mus (§ 12).
Die systematischen Ergebnisse der Dissertation lassen sich folgender-
niassen darstellen.
a) In erster Linie ist die Art und Weise der Kantischen Problem-
stellung hervorzuheben (§ 9, 10). Erklärung kann nur die gesetzliche
Form des Geschehens betreffen, denn eben dadurch, dass sie eine Gesetz-
mässigkeit auf konstitutiven Prinzipien zurückführt, also uns Einsicht in
ihre Notwendigkeit gewährt, kann sie allein Erklärung heissen (§ '^). Im
Unterschied davon wird eine jede willkürliche Ergänzung des Thatbe-
standes der zu erklärenden Erscheinungen nie als eine Erklärung gelten
können (§ 5 b, § 11). Die Resultate solcher Erklärungsversuche sind, wie
Kant sag-t, „ebenso unverständlich als die Sache selbst, oder ganz willkür-
lich erdacht".
b) Die post-Darwinische Wendung in der Biologie bildet, abgesehen
von den mit ihr verbundenen Spekulationen, vielfach eine Parallele zu der
Selbstanzeigen (Steckelmacher). 235
Kantischen Teleologie. Denn hier handelt es sich um den Versuch einer
experimentellen Auflösung des Organischen in die Vorgänge, die seine
Gestaltungsweise ausmachen. Schon bei Kant aber ist es nicht die Struk-
tur der organischen Gebilde (Möglichkeit der Teile nur in Beziehung auf
das Ganze), sondern die damit verknüpfte „wechselseitige Hervorbringung",
die das Grundproblem ausmacht. Demnach ist die ganze Aufgabe einer
Teleologie in der einfachen Beschaffenheit der organisierten Materie un-
vermindert enthalten.
c) Endlich ist die Kantische Teleologie für das Problem einer Bio-
logie überhaupt von grosser Wichtigkeit. Wie bei Aristoteles die Entele-
chie (= Vollendungstrieb) nur eine Spezialisierung des Eormprinzips war,
so finden sich bei Kant Spuren eines sowohl der Biologie, wie auch der
allgemeinen Naturlehre gemeinscliaftlichen Problems (§ 11, S. 49 ff). Ge-
mäss des Verwickelungsgrades der in ihnen verknüpften Auslösungs-
momente lassen sieh die Gestaltungsweisen der Natur in einer Reihenfolge
aufstellen. Es giebt also ein allgemeines Fonnproblem, das seiner Lösung
im Gebiet der Physik zuerst bedarf, ehe man eine Anwendung desselben
im Bereich der Biologie mit Sicherheit fortzuführen vermag (§§10,11, 12).
W. J. Chapman.
Steckelmacher, Ernst. Der transscendentale und der em-
pirische Idealismus bei Kant. Erlanger Dissertation. Heidelberg
1904. (102 S.)
Der Verf. untersucht in Anknüpfung an Robert Reiningers Schrift:
Kants Lehre vom inneren Sinn und seine Theorie der Erfahrung, 1900, die
Natur des Kantischen Idealismus und kommt im wesentlichen zu folgendem
Resultate :
1. Der Widerspruch, den Reininger in der Kantischen Sinneslehre
aufzeigt, ist vorhanden. Einerseits wird in der transscendentalen Ästhetik
das Zeitproblem in transscendental-idealistischem Sinne gelöst: die Zeit
wird von einer transscendentalen Organisation geschaffen, die Dinge
brauchen nicht, um zeitlich geordnet zu sein, ins Bewusstsein gerufen zu
werden, sondern alle Erscheinungen, auch wenn sie nicht im Sinnfeld
unseres Bewusstseins sich befinden, stehen unter dem Banne zeitlicher
Formulierung ; andererseits finden wir eine empirisch-idealistische Fassung :
der empirische innere Sinn bewirkt die zeitliche Ordnung. Während die
Zeit nach jener Fassung Daseinsform der Erscheinungswelt ist, ist sie
nach dieser nur noch Bewusstseinsform. Obwohl dieser Widerspruch
nicht weggedeutet werden kann, so ist trotzdem die Sinneslehre auf
einheitlichem Grunde — in transscendental-idealistischem Sinne —
aufgebaut. Jene empirisch-idealistischen Stellen der Sinneslehre geben
nicht einen zweiten Standpunkt wieder, den Kant neben dem ursprüng-
lichen eingenommen hat, sondern sind nur eine allerdigs missglückte Er-
klärung der transscendental-idealistischen Fassung der Sinneslehre.
2 Die empirisch-idealistischen Stellen der Sinneslehre haben nicht
auf die Erfahrungslehre eingewirkt. Die Erfahrungslehre ist auf einer
einzigen Basis aufgebaut. Die transscendental-idealistische Lehre, dass
nicht wir einzelne Menschen die Erscheinungswelt formieren, dass wir nur
ins Bewusstsein rufen, was eine „transscendentale Gattungsvernunft" an
dem gegebenen Stoff geordnet hat, beherrscht die gesamte Erfahrungs-
lehre. Das Kriterium, das Reininger anführt, um eine empirisch-idea-
listische Fassung der Erfahrungslehre nachzuweisen : Alle Synthesis gelit
vom Verstände des Einzelnen aus, die Kategorien werden nicht durch eine
vorempirische, transscendentale Funktion den Wahrnehmungen eingefügt,
sondern der Verstand des Einzelnen bewirkt die kategoriale Ordnung,
findet sich nicht in der Erfahrungslehre. Auch die Lehre vom „Ding an
sich" liefert uns kein Merkmal, um zwei verschiedene Phasen — eine
transscendental-idealistische und eine empirisch-idealistische — in Kants
Erfahrungslehre erkennen zu können.
236 Mitteilungen (Mattersberger Kantbüste).
3. Die „Widerlegungen des Idealismus" weisen widerspi-echende
Ansichten auf. Der transscendental-idealistische Standpunkt wird nicht
immer gewahrt. Als Ursache für diesen Widerspruch sind die empirisch-
idealistischen Wendungen der transscendentalen Ästhetik anzusehen.
Ernst Steckelmacher.
Mitteilungen.
Die Mattersbergersche Kantbiiste.
Wie in einer stattlichen Reihe älterer Hefte, so sind die KSt. auch
diesmal wieder in der Lage, ihren Lesern ein Bildnis Kants zu bringen:
die Abbildung der fast völlig verschollenen Mattersbergersclien Büste.
Den Anlass zu dieser Reproduktion — sie erscheint (ebenso wie die Sil-
houette im Festheft IX, 1/2) gleichzeitig auch in der „Illustrierten Zeitung"
(J. J. Weber, Leipzig) nebst einem kleinen Orientierungsartikel in No. 3215 —
hat die Gründung der Kantgesellschaft geboten: als am 22. April vorigen
Jahres, dem Geburtstage Kants, die konstituierende Versammlung der Ge-
sellschaft in Halle stattfand, war unter anderen Veranstaltungen auch eine
Kantausstellung arrangiert worden (vgl den Bericht KSt. IX, 569). Herr
Geh. Justizrat Professor Dr. R. Stammler, den Angehörigen der Kant-
gemeinde längst bekannt als selbständiger und bahnbrechender Vertreter
der kritischen Methode auf den Gebieten der Rechts- und Sozialphilosophie,
hatte die Freundlichkeit, die in seinem Besitz befindliche Büste hierfür
zur Verfügung zu stellen, und der bedeutende Eindruck, den sie damals
machte, ist der Grund dafür gewesen, dass ihre Abbildung in den KSt.
beschlossen wurde.
Dieses Exemplar ist einer der wenigen noch vorhandenen Abgüsse
der Büste, die Joseph Mattersberger im Jahre 1795 in Königsberg
— wohl nach dem Leben — modelliert hat. Nach Naglers Künstlerlexikon
ist Mattersberger 1754 in Windisch-Matrey in T^yrol geboren, und wurde
in Salzburg und Mailand ausgebildet. Seine Thätigkeit entfaltete er zuerst
in der Lombardei als Modelleur von Heiligenstatuen. 1788 war er in
Dresden, wo er eine Büste des Grafen Einsiedel hinterlassen hat. Dann
wirkte er in Petersburg und Moskau; liier brachte er es zum „kaiserlich
russischen Kabinettsbildhauer", und hier befinden sich auch die meisten
seiner Werke. 1804 wurde er Professor an der Kunstschule in Breslau.
Er starb 18'25.
Was nun seine Kantbüste betrifft, so scheint sie überhaupt nur in
verhältnismässig wenig Abgüssen existiert zu haben. In dauerhaftem
Material ist sie wohl nie ausgeführt worden. Absprechende Urteile über
ihren Wert mögen dann auch dazu beigetragen haben, dass die vorhande-
nen Exemplare nicht sonderlich gehütet wurden: in D. Mindens be-
kannter Abhandlung „Über Porträts und Abbildungen Immanuel Kants"
(Königsberg 1868) lesen, wir, die Büste könne „weder in künstlerischer
Beziehung!!], noch der Ähnlichkeit nach auf Beachtung Anspruch machen"
(S. 11). So begreift es sich, dass heute die Büste zu den grössten Selten-
heiten gehört. Ein Exemplar befand sich ehedem in Halle im Besitz des
Kantianers Professor Johann Heinrich Tieftrunk (1760— 18.^7), und
hiervon wurden vor etwa 25 Jahren von dem Hallischen Bildhauer Otto
Rudolph einige wenige Abgüsse genommen. Leider scheint die Form
Mitteilungen (Mattersberger Kantbiiste— KantgeseÜschaft.). 237
nicht mehr vorhanden zu sein. Das Tieftrunksche Original ist jedenfalls
nicht mehr in Halle vorhanden; einer von den Rudolphschen Abgüssen
aber ist das Stamm 1er 'sehe Exemplar, nach dem unsere Abbildung an-
gefertigt ist. Auf der Rückseite trägt die Büste die Inschrift : „Immanuel
Kant Nat. d. 22. Aug. [sie!] J. Mattersberger fec. 1795.« Ein anderer Ab-
guss, im Besitz des Professor Dr. Ger lach in Königsberg, befand sich
auch auf der Königsberger Kantausstellung (vgl. oben S. 609 ; ein dritter
Abguss ist im Besitz von Professor D. Dr. Gottschick in Tübingen.
Übrigens existiert auch ein alter, jetzt sehr selten grewordener Stich,
der in seiner Auffassung Kants ziemlich genau mit der Büste überein-
stimmt. Die Unterschrift lautet: „Mattersberger del. — A. Thilo sc. Bresl.
1799. Imanuel Kant, Professor der Logik und Metaphisik zu Königsberg,
daselbst gebohren d. 22ten April 1724. In Breslau bey August Schall zu
haben." Über dieses Blatt schreibt Minden: „Dieser in punktierter
Manier ausgeführte Stich muss lediglich als ein Phantasiegebilde angesehen
vi^erden, da weder Haltung und Gewandung, noch das hochaufstehende
Haupthaar mit der Wirklichkeit etwas gemein haben" (S. 9).
In dem Vorwurf, dass Kants Tracht eine andere gewesen sei, hat
freilich Minden mehr sein eigenes Kunstverständnis als Mattersbergers
Werk kritisiert. Wenn er aber die Porträtähnlichkeit überhaupt bestreitet
(s. auch das oben angeführte Urteil über die Büste selbst), so wird man
allerdings zuzugeben haben, dass von photographischer Treue nicht die
Rede sein kann. Die Komposition ist durchaus grosszügig gehalten, und
alle Einzelheiten sind mit souveräner Freiheit behandelt. Aber wenn man
sich sagt, dass es dem Künstler offenbar darauf angekommen ist, die
geistige Überlegenheit des Dargestellten in die Erscheinung treten zu
lassen, so versteht man, dass gerade diese imponierende Haltung — so
wenig sie auch dem Körper des Königsberger Professors zukam — nicht
ohne Grund gewählt ist. Die Kühnheit des vorwärts dringenden Geistes,
das sichere Selbstbewusstsein, die Majestät des Herrschers im Reiche der
Gedanken: das hat Mattersberger in seiner Kantbüste wiedergeben oder
wenigstens geben wollen, diesem Zwecke dient auch sowohl der ausdrucks-
voll um die Schultern gelegte Philosophenmantel, als die Weglassung des
Zopfes, welche die eigenartig wirkende Behandlung des Haupthaares be-
dingt. So ist diese Mattersbergersche Büste eine wertvolle Bereicherung
unseres nicht allzureichen Besitzstandes an Kantbildern.
P. S. Die Bildhauerei von Franz Grummich & Bergk in Leipzig
teilt mit, dass sie ein Exemplar der Büste besitzt und Abgüsse derselben
anfertigt.
Kanigesellschaft.
Erster Jahresbericht (für das Jahr 1904).
Im letzten Heft der KSt. (IX, H. 3 u. 4, S. 568-570) wurde über
den Stand der Kantgesellschaft am L August 1904 Bericht erstattet, auch
wurden die nötigen Mitteilungen gemacht über Verlauf und Ergebnis der
konstituierenden Versammlung am 22. April v. J. Wie berichtet, wurden
zu Vorstandsmitgliedern folgende Herren gewählt:
Geh. Reg.-Rat G. Meyer, Kurator der Universität Halle.
Hofrat Professor Dr. A. Riehl, Halle.
Geh. Justizrat Prof. Dr. Stammler, z. Z. Rektor d. Univers. Halle,
Dr. C. Gerhard, Direktor der Universitätsbibliothek Halle.
Geh. Kommerzienrat H. Lehmann, Halle.
Professor Dr. Hans Vaihinger, Halle (Geschäftsführer;.
238 Mitteilungen (Kantgesellscliaft).
Diese 6 Vorstandsmitglieder, sowie der Mitredakteur der KSt. Privatdozent
Dr. Bauch vereinigten sich Sonnabend, den 14. Januar, abends 6 Uhr zu
einer Sitzung in den Räumen des Kuratoriums der Universität Halle.
Der Geschäftsführer gab eine Übersicht über den Stand der Kant-
stiftung. Dieselbe war bis zu diesem Tage auf die Höhe von 24598 Mark
gestiegen. Von dieser Summe sind 20000 Mark der Universitätskasse ein-
gehändigt worden ; der Rest liegt bei dem Bankhause H. F. Lehmann in
Halle und wird ebenfalls derselben Kasse übergeben werden, sobald durch
weitere Donationen eine runde Summe erreicht ist.
Der Geschäftsführer gab sodann eine Übersicht über den Stand der
Einnahmen und Ausgaben des Jahres 1904. Die Einnahmen setzen sich
zusammen aus 667 Mark 85 Pf. Zinsen aus dem obigen Stiftungskapital,
sowie aus 1580 Mark Beiträgen von Jahresmitgliedern (79 Mitglieder
ä 20 Mk.), wozu noch 8 Mark 8 Pf. Mehrzahiungen von einigen Jahres-
mitgliedern kommen; zusammen 2255 Mark 93 Pf. — Die Ausgaben
sind folgende: Honorar an Mitarbeiter der KSt. 791 Mark 2ö Pf., ferner
Entschädigung an die Firma Reuther & Reichard in Berlin, Verleger der
„Kantstudien", für Lieferung von Freiexemplaren an die Mitglieder der
Kantgesellschaft 47;{ Mark 50 Pf., zusammen 1264 Mark 75 Pf. — Sonach
betrug der am 14. Januar 1905 vorhandene Überschuss 991 Mark 18 Pf.
Die beträchtliche Höhe dieses Überschusses wird dem günstigen
Umstand verdankt, dass die bedeutenden LTnkosten für die Agitation (ca.
700 Mark) aus älteren Beständen gedeckt werden konnten, welche der
Redaktion der KSt. früher privatim von verschiedenen Gönnern (speziell
von Herrn Stadtrat Prof. Dr. Walter Simon in Königsberg) zur Ver-
fügung gesteUt worden waren.
Nachdem dem Geschäftsführer Decharge erteilt war, wurde über die
Verwendung des Überschusses beraten und beschlossen, denselben zu einer
(von Professor Dr. Riehl formulierten) Preisaufgabe zu verwenden, welche
gleichzeitig in diesem Hefte der KSt. ausgeschrieben wird. Es wurden
für dieselbe jedoch einstweilen nur 500 Mark ausgeworfen. Dazu nötigten
folgende Gründe. Eistens hat die Kantstiftung möglicherweise noch nach
dem Preussischen Stempelgesetz einen Stempel von 4" y des Stiftungs-
kapitals an den Fiskus zu bezahlen ; sollte dieser unangenehme Fall ein-
treten, so würde diese Summe mehr als den Zinsenertrag eines Jahres in
Anspruch nehmen. Zweitens ist noch nicht sicher, wie viel Jahresbeiträge
das Jahr 1905 bringen wird. Für den Fall, dass die finanzielle Lage der
Gesellschaft sich auch weiterhin günstig gestalten sollte, ist eine Erhöhung
der für die Preisaufgabe ausgeworfenen Summe in Aussicht genommen.
Es ist noch mitzuteilen, dass die Kantstiftung, welche nach Mass-
gabe des „Aufrufes an die Freunde der Kantischen Philosophie", und nach
dem Beschluss der Generalversammlung am 22. April v. J. der Universität
Halle zugewiesen worden ist, am 24. Oktober v. J. die landesherrliche Be-
stätigung durch Se. Majestät den Kaiser und König erhalten hat, unter
Genehmigung der von der Kantgesellschaft an diese Stiftung in ihren
Statuten geknüpften Bedingungen. Die Verwendung der Zinsen der „Kant-
stiftung" unterliegt der Beschlussfassung des in jeder Generalversammlung
teilweise neu zu wählenden Vorstandes der Kantgesellschaft, nach Mass-
gabe der von ihr am 22. April v. J. beschlossenen Statuten.
Die Statuten der Kantgesellschaft werden nunmehr im diesen Hefte
veröffentlicht, nachdem vom Kgl. Amtsgericht in Halle die Gesellschaft
in das Vereinsregister eintragen worden ist am 28. Januar 1905, unter No. 74.
Laut unseren Statuten findet die Generalversammlung alljährlich am
22. April (Kants Geburtstag) im Kuratorium der Universität Halle statt.
Demgemäss werden zu der am Sonnabend, den 22. April d. J., Nachm.
6 Uhr im Universitätskuratoriura in Halle stattfindenden Generalversamm-
lung alle Mitglieder der Kantgesellschaft gebührend eingeladen.
Bis zu diesem Termin hoffen wir auch unsere „Kantstiftung" auf
die Höhe von 30000 Mark bringen zu können, da nur durch einen solchen
Mitteilungen (Kantgesellschaft).
239
stattlichen Fonds unsere Zwecke erfolgreich ausgeführt werden können.
Wir bitten daher unsere Freunde, die Sammelthätigkeit fortzusetzen.
Alle die „Kantgesellschaft" betreffenden Korrespondenzen, sowie die
Einsendung aller Beiträge werden an den Unterzeichneten erbeten.
Halle a. S., den 31. Januar 1905.
Der Geschäftsführer der „Kantgesellschaft"
Prof. Dr. H. Vaihingen
A. Danernittglleder
dnrcli einiualigen Beitrag zur .«Kautstiftnng*^
Professor Dr. H. Vaihinger, Halle
Geh. Reg. Rath Gottfried Meyer,
Curator der Universität Halle
Geh. Just. Rath Professor Dr. S t a m m 1 e r, z. Z. Rektor d. Universität Halle
Professor Dr. Walter Simon, Stadtrat in Königsberg i. Pr
Professor Dr. Fr. Paulsen, Berlin
Geh. Rath Professor Dr. Heinze, Leipzig
Geh. Reg. Rath Professor Dr. Dilthey, Berlin .
Geh. Hofrath Professor Dr. O. Liebmann, Jena
Geh. Reg. Rath Professor Dr. Bergmann, Marburg
Hofrath Professor Dr. A. Riehl, Halle ....
Professor Dr. Alfred Weber, Strassburg ....
Professor Dr. K. Groos, Giessen
Bibliotheksdirektor Dr. Gerhard, Halle ....
Privatdozent Dr. Max Scheler, Jena . : . .
Privatdozent Dr. Bauch, Halle
Reuther & Reichard, Verlag der „Kantstudien', Berlin
Advocat J. A. Levy, Amsterdam
Geh. Kommerzienrath R. Riedel, Halle ....
Geh. Kommerzienrath H. Lehmann, Halle
Geh. Kommerzienrath A. Dehne, Halle ....
Fabrikbesitzer Ernst Weise, Halle
J. G. Schurman, Präsident der Cornell University, Ithaca, New York
Rentier H. Vorländer, Dresden
Rentier John A. Leber, Berlin
M. Fessel, Redacteur, Halberstadt .
W. Doelle, Buchdruckereibesitzer, Halberstadt
Fräulein B. Grabe, Freiburg i. B.
Professor Dr. R. Friedberg, Mitgl. d. Preuss. Landtages, Halle-Berlin
Dr. phil. h. c. E r n s t V 0 1 1 e r t, Mitinh. d. Weidmann'schen Buchhdlg., Berlin
Baumeister F. Kuhnt, Fabrikbesitzer, Halle
Dr. Arthur Pfungst, Frankfurt a. M
Professor Dr. Simmel, Berlin
Rektor Dr. Rausch, Mitdirektor der Franckeschen Stiftungen, Halle
Privatdozent Dr. Fritz Medicus, Halle
Professor D. Dr. Baumgarten, z. Z. Rektor der Universität Kiel
Professor Dr. Götz Martius, Kiel
Ethical Society, New York (Professor Dr. F. Adler) -.
Verlagsbuchhändler August Scherl, Berlin ....
Privatdozent Dr. Raoul Richter, Leipzig ....
Professor Dr. E. v. Lippmann, Direktor der Zuckerraffinerie, Halle
Professor Dr. Güttier, München
Professor Dr. E Kühnemann, Rektor der K. Akademie, Posen
M. Rödiger, Direktor der Halleschen Maschinenfabrik
Dr. Friedrich Alfred Schmid, Freiburg i. B.
Konsul B. Brons jr., Emden
M.
300
50
50
1000
400
100
100
100
100
125
100
100
25
60
60
100
100
100
500
500
500
100
60
100
30
30
25
200
400
1000
100
30
25
25
50
400
400
100
100
100
100
50
25
30
400
240
Mitteilungen (Kantgesellschaft).
Verlagsbuchhändler Hermann Schroedel, Halle . . . . M.
Kommerzienrath Jacobi, Apolda
Dr. phil. Erich Prieger, Bonn
Generalarzt Dr. med. Kern, Berlin
Dr. R. Jorges, Düsseldorf
Dr. Jan van Delden, Gronau i. Westf.
Professor Dr med. K. B. Hofmann, Graz
Praktischer Arzt Dr. med. R. Gaul , Stolp i. P.
Banquier Moritz Frenkel, Berlin ....
Hauptpastor D. theol. Dr. phil. Ed. Grimm, Hamburg
Generalconsul Baron von Rosenthal, Amsterdam .
R. P. Mees, Rotterdam
Justizrat Rudolf Vogel, Königsberg i. Pr.
Privatdozent Dr. Carl Siegel, Wien
Kaufmann Karl Haenert, Halle ....
Dr. L. Darmstaedter, Berlin
Geh. Med. Rat Professor Dr. Stieda, Königsberg i. Pr.
Dr. phil. Ernst Saenger, Hirschberg i. Schi.
Professor Dr. J. E. Creighton, Cornell University Ithaca (N.-Y.)
Philosophische Gesellschaft in Wien (Professor Dr. Jodl)
Professor Dr. phil. h. c. Carl Cantoni, Senatore del Regno, Pavia
Professor der Chemie Dr. Harri es, Kiel
Oberbürgermeister a. D. Geh. Reg. Rath Fr. v. Voss, Halle .
Kgl. Kommerzienrath G. Schlaegel, Halle ....
Banquier Ernst Haassengier, Halle
Kgl. Kommerzienrath Konsul Palmie, Dresden
Professor G. H. Howison, Berkeley, California
Professor D. theol. Max Reischle, Halle ....
Professor Dr. jur. J. C. Schwartz, Halle ....
Generalarzt Dr. med. Stechow, Hannover ....
Referendar cand. phil Fritz Münch, Strassburg i. E. .
Geh.Ober-Justizr. Dr. jur A. v. S c h m i d t , Kammergerichtspräsident Berlin
Justizrath Dr. Hermann Kähne, Rechtsanwalt, Halle
Hofbuchdruckerei Kaemmerer & Co., Halle ....
Frau Geheimraths-Wittwe Sanio, Halle
Professor Dr. Hugo Münsterberg, Cambridge (Mass.) .
Professor Dr Zschalig, Dresden
A. Rüben, Hamburg
W. T. Harris, President of the Bureau of Education, Washington
Kommerzienrath K. A. Lingner, Dresden
Banquier Albert Steckner, Halle
Dr. phil. Rob. C. Hafferberg, Privatgelehrter, Riga
Professor Dr. August Stadler, Zürich
Professor Dr. Hans Kleinpeter, Gmunden ....
Professor Dr. Edmund Husserl, Göttingen ....
Geh. Kommerzienrat Carl Wessel, Bernburg ...
Generalkonsul Robert von Mendelssohn, Berlin
Geh. Kommerzienrat Ernst von Mendelssohn-Bartholdy, Mitgl
des Herrenhauses, Berlin
Generalkonsul Franz von Mendelssohn, Berlin
Fabrikbesitzer Dr. rer. nat. h. c. Hans Hauswaldt, Magdeburg
Dr. Walter Rathenau, Direktor der Berl. Handelsges., Berlin
t Geh Kommerzienrat Otto Hubbe, Magdeburg .
Geh. Oberregierungsrat Dr. ErnstvonMeier, Universitätskurator a. D.
Berlin
Dr. iur. Hermann Gruson, Magdeburg ....
Hans Heinrich Reclam, (Verlagsbuchhdl. Phil. Reclam jr.), Leipzig
Geh. Kommerzienrat A. Frentzel, Berlin
Kommerzienrat W. Kopetzky, Berlin
Mitteilungen (KantgeseÜschaft).
241
Geh. Kommer2ienrat R. Wolf, Magdeburg ....
Geh. Kommerzienrdt Selve, Altena i. W. — Bonn
Verlagsbuchhändler und Rittergutsbesitzer Rudolf Messe, Berlin
Banquier Dr. Karl Sulzbach, Frankfurt a. M.
Dr. iur. Robert Faber, Verleger der Magdeburger Zeitung, Magdeburg
Justizrat Dr. jur. Edmund Lachmann, Berlin
Geh. Kommerzienrat L. M. Goldberger, Berlin
Kommerzienrat Dr. iur. Georg Caro, Berlin
Dr. Georg Huber, München ....
Banquier Alfred Cohn, Berlin
Rev. D. theol. James Lindsay, Kilmarnock, Scotland
Frau Geh, Kommerzienrat Luise Delbrück, Berlin
Kommerzienrat J. Seiler, Dessau
Generaldirektor Dr. ing. W. von Oechelh äuser, Dessau
Kammerherr Dr. phil. h.c. Freiherr Hermann Hartmann von Erffa
Mitgl. d. Abgeordnetenh., Schloss Wernburg
Charles L. Hallgarten, Frankfurt a. M.
Realschuldirektor Dr. A. Gille, Ems
Professor D. Dr. F. Loofs, Halle a. S.
Professor Dr. Eduard Caird, Oxford
Banquier Jakob H. Epstein, Frankfurt a. M.
Eduard Parrot, Privatier, München
Albert Salomon, Pfaffendorf bei Coblenz
H. W. Blunt, Oxford (Christ Church College) .
The Philosophical Union of the University of California, Berkeley,
Cal , U. S. A. (J. K. Moffitt, Prof. C. H. Rieber, Ph. D., Hon. W. Al-
vord, W. Keith, Prof. C. M. Bakeweil, Ph. D., Hon. J. Garber,
Prof, G. M. Stratton, Ph. D , T. Addison, M. D., E. R. Taylor, M. D.,
Prof. W. E. Ritter, Ph, D., Prof. S. B. Christy, Sc. D , A. G. Erles,
W. Olney jr., A. S. Blake, J. Sutton, Prof, J. H. Senger, Ph. D.,
M. E. Blanehard, Ph. D., W. H. Stryth, T. R. Kelley, Mrs E. Probert,
Mrs E H M. Van Duyna, Miss M. L. Thornton)
Professor Dr. C. A. Strong, Columbia University, New- York
Professor Dr. Emile Boutroux, Membre de l'Institut, Paris
Geh. Justizrat Carl Robert Lessing, Berlin
Geh. Kommerzienrat Dr. Siegle, Stuttgart
Königl. Sachs. Kommerzienrat Dr. Schwabe, Leipzig
Bankdirektor M. Stein thal, Berlin
Stadtrat Reichardt, MitgL d. Abgeordnetenhauses, Magdeburg
C. C. J. Webb, Oxford (Magdalen College)
M.
100
100
500
100
400
400
100
50
40
100
25
25
30
100
50
100
25
30
42
30
lüO
50
50
627
400
50
100
500
100
100
y
50
25
Hierzn folgende Gescbeuke au die „Hantsliftang**:
VomKgl. Preuss, Ministerium der geistlich en, Unterrichts-
und Medizinal-Angelegenheiten in Berlin . . . M.
Banquier Sigmund Hirschmann, Arnstadt
Von Angehörigen und Freunden der Universität Basel . . ,
Von den Ärzten der Kaiser-Wilhelms-Akademie für das militär-
ärztliche Bildungswesen in Berlin (Dr. Dr. med. Garlipp, Henrici,
Pfuhl, Rauschke, Salzwedel)
Von Hörerinnen des Professor Dr. Fritz Schnitze in Dresden
Professor Dr. Geo Runze, Gross-Lichterfelde .
t Frau Lina Mühlmann, Halle ....
Stadtrath A. Keferstein, Halle ....
Rentier Julius Wagner, Halle ....
Fräulein Dr. Ellen Bliss Tal bot, Mt. Holyoke Coli. (U. S. A.)
Mr. M. P. Mason, Boston, Mass. (U. S. A )
Sammlung in St. Louis und Umgebung (Professor Dr. Thilly,
Professor Dr. Lovejoy, Dr. E. Preetorius, Dr. L. Bremer, Dr.
Kant8tudien X. \Q
2500
10
200
25
260
5
10
20
10
21
21
242
Mitteilungen (Kantgesellschaft).
W. L. Sheldon, Rev. J. W. Lee, Rev. S. Säle, G. H. Brauti,
E. C. Kehr, W. H. Mayo, R.Moore, F. L. Soldan, O. L. Teich-
mann, J.Walter, C. E. Bradley, W. E. Ebert, Men's Philo-
sophy Club) M
Sammlung und Geschenk des Literarischen Vereins zu Dresden
Ungenannt v. S
Ungenannt
Ungenannt St
Ungenannter Hallenser
Ungenannt M
Ungenannt L.
Dr. A. Halle . . ^
Frau Professor Boretius,* Berlin
Ungenannt T.
Ungenannt M. in B
Frau St.-H
Frau P.-St
Summa: 24,598 M.
441
100
5
10
300
500
30
200
100
20
30
200
200
100
B. Jakresinitglleder.
(Jahresbeitrag 20 M.)
Staatsminister a. D. Oberpräsident Dr. v. Bötticher, Exe, Magdeburg.
Professor Dr. A. Lasson, Berlin-Friedenau.
Dr. P. Deussen, Kiel.
D essoir, Berlin.
Theobald Ziegler, Strassburg i. E.
Clemens Bäumker, Strassburg i. E.
Berlin.
Magdeburg.
Professor
Professor
Professor
Professor
Dr
Dr
Dr.
Dr.
Dr.
Hugo Renner,
W. Rein ecke.
Dr. Br. Christiansen, Freiburg i. B.
Amtsrichter Arthur Warda, Schippenbeil i. Ostpr.
Pastor prim. Dr. Katzer, Löbau i. S.
Dr. med. Iwan Bloch, Berlin.
Stud. jur. et cam. G. A E. Bogeng, Berlin.
Dr. med. Hermann Gutzmann, Berlin.
Schriftsteller Emil Lucka, Wien.
Hauptmann a. D. Franz Schraube, Halberstadt.
Diakonus Dreyer, Camburg a. S.
Dr. phil. Felix Kuberka, Halle a. S.
Dr. phil. Jacob Herz, Wien.
Kommerzienrath Dr. jur. W. Simon, Berlin.
Walter B. Waterman, Roxbury (Mass.) U. S. A.
Dr. jur. J. Sacker, Odessa.
Verlagsbuchhändler Johannes Fr. Dürr, Leipzig.
Lic. Dr. E. Vowinkel, Mettmann (Rheinl.).
Cand. phil. Georg Küspert, München.
Frau Direktor Julie Rödiger geb. Jaeger, Halle a. S.
Professor Dr. Levy-Bruhl, Paris.
Stud. phil. Ferdinand Harnisch, Halle.
K. K. Studienbibliothek Klagenfurt (Custos Dr. Ortner).
Direktor A. Schulze, Halle.
Dr. phil. Max Apel, Berlin-Charlottenburg.
Professor Dr. Fritz Schultze, Dresden.
Professor Dr. med. Koblanck, Berlin.
Professor P. Tichomiroff, Moskau.
Professor Dr. W. Jerusalem, Wien.
Dr. phil. Dawes Hicks, London,
Mitteilungen (Kantgesellschaft). 243
Dr. phil. J. W. Hickson, Montreal (Canada).
Dr. med. Kalker, Köln a. Rh.
Rittergutsbesitzer Siebert, Corben bei Mollehnen (Ostpr.).
Fabrikdirektor Eugen Hecker, Braunschweig.
Buchdruckereibesitzer Karl Maisch, Karlsruhe.
Privatgelehrter Dr. R. Wedel, München.
Friedrich Freiherr von Hügel, London.
Professor Dr. A. Höfler, Prag.
Privatdozent Dr. R. Re in in g er,- Wien.
Rud. Goldscheid, Wien.
Dr. R. Hönigswald, Graz.
Fabrikbesitzer Friedr. Curti us-Nohl, Duisburg.
Dr. Victor Lowinski, Berlin.
Professor Dr. Victor Delbos, Paris.
Professor Dr. Volkelt, Leipzig.
Frau Bertha Meyer, Dresden.
Frau Justizrat Meyer, Dresden.
Dr. Anton Thomsen, Kopenhagen.
Regierungs-Referendar Dr. Sitzler, Aurich.
Professor Dr. A. Wernicke, Braunschweig.
Stud. Armin Lusser, Luzern.
Privatmann Gustav Wagner, Achern.
Dr. Gay v. Brockdorff, Privatdocent der Philosophie, Braunschweig.
Dr. David Wiktoroff, Privatdocent, Moskau.
Magistrat der Stadt Hildesheim (für die Stadtbibliothek).
Dr. Karl Gebert. München.
Professor Dr. Th. Ruyssen, Aix-en-Provence.
Kommerzienrath Edmund Wirth, Sorau.
Professor Dr. J H. Stirling, Edinburgh.
Lic. Dr. W. Koppelmann, Leer.
Privatdocent Dr. W. N. Iwanowsky, Kasan.
Amtsrichter G. Vocke in Günzburg.
Versicherungsbeamter Max Schersath in Berlin.
Ein ungenannt bleibendes Mitglied.
Geh. Kommerzienrath R. Riedel, Halle
Dr. phil. h. c. E. Vollert, Verlagsbuchhändler, Berlin
Advokat J. A. Levy, Amsterdam
Professor Dr. E. v. Lippmann, Halle
Generalarzt Dr. Kern, Berlin.
Dr. R. Jorges, Düsseldorf.
Dr. med. R. Gaul, Stolp i. P.
Professor D. Dr. Fr. Loofs, Halle a. S.
Jacob H. Epstein, Frankfurt a. M.
Summa : 79 Mitglieder.
Anhang: Neu angemeldete Jahresmitglieder.
Professor Dr. K. B. Hof mann in Graz. — Privatdocent Dr. Menzer in
Berlin. — Privatdocent Dr. Ernst Schrader in Darmstadt. — Hermann
Bollmann in Olvenstedt bei Magdeburg. — Stadtrath Reichardt in Magde-
burg, Mitgl. d, Abgeordnetenhauses. — Oberlehrer Dr. Ellissen in Einbeck.
— Dr. med. C. J. M. Schmidt in Odessa. — Dr. med. Bordes in Berlin. —
Professor Dr. Staudinger in Darmstadt.— Prediger Dr. Maximilian Runze
in Berlin. — Professor Dr. Falckenberg in Erlangen. — Stud. phil. Wilh.
Börner in Wien.
Nachtrag: Seine Excellenz Herr Wirkl. Geh. Rat D. Dr. Eduard
Zeller in Stuttgart ist als Dauermitglied der Kantgesellschaft beigetreten mit
einem einmaligen Beitrag von 100 M.
16*
Gleichzeitig
Dauer-
mitglieder.
Satzungen der Kantgesellschaft
Bei Gelegenheit des Imndertjährigen Todestages Immanuel Kants
— 12. Februar 1904 — hat sich auf Anregung des Professors Dr. Vaihinger-
Halle eine Kantgesellschaft gebildet, deren Satzung in der ersten
Mitgliederversammlung am 22. April 1904, wie folgt, beschlossen worden ist:
§ 1-
Die Kantgesellschaft hat ihren Sitz in Halle a. S. und soll dort ins
Vereinsregister eingetragen werden. Sie verfolgt den Zweck, das Studium
der Kantischen Philosophie zu fördern und zu verbreiten. Sie will dies
erreichen :
a) durch Unterstützung eines der Kantischen Philosophie besonders
gewidmeten Organs, zur Zeit der seit 1896 bestehenden philoso-
phischen, in zwanglosen Heften erscheinenden Zeitschrift „Kant-
studien".
b) durch andere, zur Förderung und Verbreitung der Kantischen
Philosophie geeignete Massregeln, so durch Veranstaltung von
Preisausschreiben, durch Unterstützung von Publikationen (eventuell
auch von Dissertationen") über Kant und die von ihm ausgehende
Lehre, durch Verleihung von Ehrengaben an verdiente Kant-
forscher, durch Stipendien an jüngere Gelehrte (insbesondere an
Privatdozenten) Kantischer Richtung oder verwandter Richtungen
und dergleichen. Sollte es jemals an wissenschaftlichen Be-
strebungen Kantischer oder verwandter Richtung fehlen, so
können die Mittel auch zur Förderung und Unterstützung der
Philosophie und ihrer Vertreter im allgemeinen verwendet Averden.
§ 2.
Die Unterstützung der jeweils als Vereinsorgan dienenden Zeitschrift
erfolgt in erster Linie durch Bereitstellung von Mitteln zur Gewinnung
tüchtiger Mitarbeiter und zur Beschaffung sonstiger geeigneter Beiträge.
Je nach Umständen kann die Unterstützung der Zeitschrift in anderer Art
erfolgen. Die Zeitschrift erhält auf dem Titel den Zusatz „mit Unter-
stützung der Kantgesellschaft herausgegeben". Den hierauf bezüglichen
Vertrag mit dem betreffenden Verlage der Zeitschrift schliesst die Gesell-
schaft ab.
§ 3.
Die Verwendung der vorhandenen Mittel zu den in § 1 Abs. a sowie
in § 2 genannten Zwecken ist Aufgabe der Redaktion der Zeitschrift. Sie
untersteht in dieser Hinsicht der Aufsicht des Verwaltungs-Ausschusses
imd hat demselben auf Verlangen jederzeit, insbesondere aber nach dem
Abschluss eines jeden Bandes der Zeitschrift, über die statutengemässe
Verwendung der Mittel Rechenschaft abzulegen. Die Redaktion stellt am
Anfang jedes Kalenderjahres einen Überschlag über die voraussichtlich
notwendigen Ausgaben auf, legt diesen Überschlag dem Verwaltungs-Aus-
schuss zur Prüfung und Genehmigung vor, welcher die Herausgeber der
Zeitschrift bei seiner Beschlussfassung mit Stimmberechtigung zuzieht.
Hierauf empfängt die Redaktion durch die Hand des Geschäftsführers die
für ihre Zwecke bewilligten Mittel. Etwa später notwendige Änderungen
des Voranschlages werden hierdurch nicht ausgeschlossen.
Mitteilungen (Kantgesellscliaft). 245
§4.
Über die Verwendung der noch übrigen verfügbaren Mittel zu den
im § 1 Abs. b genannten Zwecken beschliesst der Vorstand in einer Sitzung,
zu der auch die ortsanwesenden Herausgeber der Zeitschrift mit beratender
Stimme eingeladen werden. Sind die Herausgeber nicht ortsanwesend, so
ist ihnen der Tag der Sitzung mitzuteilen, damit sie ihre Meinung über die
Verwendung des Restes der Mittel dem Vorstand schriftlich mitteilen können.
Es kann aber auch der Rest der verfügbaren Mittel zur Erhöhung
des als Kantstiftung bezeichneten Kapitals (§ 12) verwendet werden.
§5.
Organe der Gesellschaft sind:
der Verwaltungs-Ausschuss,
der Geschäftsführer und
der Kassenführer, falls ein solcher bestellt werden sollte Tf 6), welche ge-
meinschaftlich den Vorstand bilden, sowie die Mitglieder-Versammlung.
Der Verwaltungs-Ausschuss besteht aus mindestens 5 Mitgliedern.
An seiner Spitze steht als Vorsitzender der jedesmalige Kurator der Uni-
versität Halle, oder sein Stellvertreter. Sollte das Amt eines Kurators
jemals fortfallen, so tritt an seine Stelle der jedesmalige Rektor der Uni-
versität. Weitere Mitglieder des Verwaltungs-Ausschusses sind stets die
ordentlichen Professoren der Philosophie an der Universität Halle, soweit
sie nicht ablehnen oder ein anderes Amt der Gesellschaft haben. Die
anderen Mitglieder werden für jedes Jahr in der Mitglieder- Versammlung
durch einfache Stimmenmehrheit gewählt. Kommt eine Mitglieder- Ver-
sammlung nicht zustande, so gelten die bisherigen Mitglieder des Ver-
waltungs-Ausschusses als wiedergewählt. Nehmen diese das Amt nicht
wieder an, so kann der Vorsitzende des Verwaltungs-Ausschusses geeignete
Persönlichkeiten zu Mitgliedern des Verwaltungs-Ausschusses bestimmen.
Bis dahin kann er auch den Verwaltungs-Ausschuss allein vertreten. Der
Verwaltungs-Ausschuss hat auch das Recht, sich über die Zahl 5 hinaus
durch weitere geeignete Personen zu ergänzen.
Der Verwaltungs-Ausschuss hat die Ausgaben der Redaktion auf ihre
Statutengemässheit hin zu prüfen, sowie die Tätigkeit des Geschäftsführers
zu überwachen.
§ 6.
Der Geschäftsführer wird ebenfalls in der Mitglieder-Versammlung
gewählt. Kommt eine solche nicht zustande, so gilt der bisherige Ge-
schäftsführer als wiedergewählt. Will er das Amt nicht wieder annehmen,
so hat der Vorsitzende des Verwaltungs-Ausschusses das Recht, einer dazu
geeigneten Persönlichkeit das Amt bis zur nächsten Mitglieder- Versamm-
lung zu übertragen.
Der Geschäftsfülirer hat die Korrespondenz der Gesellschaft zu
führen, alle auf diese bezüglichen Schriftstücke aufzubewahren und neue
Mitglieder zu werben. Er hat ferner die Kasse der Gesellschaft, abgesehen
von dem als Kantstiftung (§ 12) bezeichneten Fonds, zu verwalten. Hierfür
kann auch ein besonderer Kassenführer von der Mitglieder- Versammlung
bestellt werden, der zugleich zum Stellvertreter des Geschäftsführers er-
nannt werden kann.
§ 7.
Der Vorstand entscheidet ausser über die im §4 erwähnten Fragen
auch über alle sonstigen wichtigen allgemeinen Angelegenheiten der Ge-
sellschaft. Die Vorstandssitzungen werden nach Benehmen mit dem Vor-
sitzenden des Verwaltungs-Ausschusses durch den Geschäftsführer einbe-
rufen. Auch auf Verlangen des Vorsitzenden des Verwaltuugs-Ausschusses
246 Mitteilungen (Kantgesellschaft).
oder von mindestens 3 der übrigen Mitglieder des Vorstandes hat der Ge-
schäftsführer eine Sitzung einzuberufen. In diesen Sitzungen führt der
Vorsitzende des Verwaltungs-Ausschusses oder sein Stellvertreter den
Vorsitz, in deren Behinderung der Geschäftsführer.
Auch zu diesen Sitzungen werden die ortsanwesenden Mitglieder
der Redaktion der Zeitschrift mit beratender Stimme eingeladen. Ist
keiner der Herausgeber ortsanwesend, so werden Tag und Gegenstand der
Sitzung der Redaktion der Zeitschrift vorher rechtzeitig mitgeteilt, damit
dieselbe schriftlich über den betreffenden Gegenstand ihre Meinung dem
Vorstand mitteilen kann.
Die Beschlüsse erfolgen durch einfache Stimmenmehrheit der An-
wesenden. Bei Stinmiengleichheit entscheidet die Stimme des Vorsitzenden.
Der Vorstand entscheidet insbesondere über alle von der Gesellschaft
einzugehenden Verpflichtungen. Darauf bezügliche Schriftstücke, Ver-
träge u s. w. müssen vom Geschäftsführer und vom Vorsitzenden des Ver-
waltungs-Ausschusses gemeinsam gezeichnet sein.
§ 8.
Die Mitglieder-Versammlung findet mindestens einmal jährlich, am
22. April, dem Geburtstage Kants statt und zwar, wenn nichts Anderes bestimmt
wird, Nachmittags 6 Uhr in den Räumen des Kuratoriums der Universität
Halle. Regelmässige Gegenstände dieser Mitglieder-Versammlung sind:
1. Ablegung der Rechnung,
2. Wahl der Mitglieder des Vorstandes.
Aus dringenden Gründen kann der Vorstand diese ordentliche Mit-
glieder-Versammlung auf einen anderen Tag verlegen. Kann in diesem
Fall die Einberufung der Mitglieder nicht mehr rechtzeitig durch das Vereins-
Organ, die Zeitschrift, erfolgen, so sind alle Mitglieder schriftlich einzuladen.
Der Vorstand beruft eine ausserordentliche Mitglieder-Versammlung,
wenn eine wichtige, bei der Einberufung besonders zu bezeichnende Ver-
anlassung vorliegt.
In allen Fragen entscheidet die einfache Stimmenmehrheit; bei
Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Vorsitzenden. Den Vorsitz
führt der Vorsitzende des Verwaltungs-Ausschusses oder sein Stellvertreter,
in deren Behinderung der Geschäftsführer.
Der Mitglieder- Versammlung wird die vom Verwaltungs-Ausschuss
revidierte Übersicht der Einnahmen und Ausgaben zur Entlastung vor-
gelegt. Dieselbe hat ferner die Wahl der wechselnden Mitglieder des
Verwaltungs-Ausschusses, sowie des Geschäftsführers und seines Stellver-
treters (des Kassenführers) vorzunehmen. Änderungen der Satzungen
kann die Mitglieder-Versammlung nur vornehmen, insofern dadurch die in
§ 1 und § 2 niedergelegten Grundbestimmungen der Gesellschaft nicht be-
rührt werden. Unabänderlich sind ferner die im § 12 und 13 enthaltenen
Bestimmungen über den als Kantstiftung bezeichneten Fonds.
Die Protokolle der Mitglieder-Versammlung werden durch die Vor-
stands-Mitglieder, soweit dieselben an der Versammlung teilgenommen
haben, unterzeichnet.
§ 9-
Mitglied der Gesellschaft kann jeder Freund der Kantischen Philo-
sophie werden. Auch Korporationen, Bibliotheken u s. w. können die
Mitgliedschaft erwerben. Die Aufnahme vollzieht der Geschäftsführer;
in frag'lichen Fällen entscheidet der Vorstand über die Aufnahme. Die Mit-
glieder sind teils Jahres-Mitglieder, teils Dauer-Mitglieder. Beide Formen
des Beitritts sind vereinbar.
Mitteilungen (Kantgesellscliaft). 247
§ 10.
Jahres-Mitglieder zahlen einen regelmässigen jährlichen Beitrag,
der bis auf weiteres auf 20 Mark festgesetzt ist. Die Jahres-Mitglieder er-
halten die Zeitschrift unentgeltlich und portofrei zugesendet. Die Namen
der Jahres-Mitglieder werden in einer gemeinsamen Liste alljährlicli in
der Zeitschrift veröffentlicht. Ist der Jahresbeitrag bis zum 1. Februar
nicht bezahlt, so wird der Säumige schriftlich vom Geschäftsführer gemahnt.
Ist dies erfolglos, so erfolgt die Einziehung des Beitrages durch Postnachnahme.
Der Austritt aus der Gesellschaft ist dem Geschäftsführer schriftlicli bis
zum 1. November mitzuteilen, anderenfalls ist der folgende Jahresbeitrag
noch zu entrichten.
§ 11.
Dauer-Mitglieder sind solche, welche an die Gesellschaft einen
einmaligen Beitrag von mindestens 25 Mark zahlen. Wenn der einmalige
Beitrag mindestens 400 Mark beträgt, so erhält der Spender die Zeitschrift
auf Lebenszeit unentgeltlich und portofrei zugesendet.
Einmalige Beiträge unter 25 Mark werden als Geschenke betrachtet,
die kein Stimmrecht in der Mitglieder- Versammlung gewähren, doch können
solche Spender als ausserordentliche Mitglieder an allen Mitglieder-Ver-
sammlungen sowie an etwaigen anderen Veranstaltungen der Gesellschaft
teilnehmen. Die Namen der Spender einmaliger Beiträge werden mit
Angabe der Summen gleichfalls in der Zeitschrift veröffentlicht.
§ l'i.
Die in § 11 erwähnten einmaligen Beiträge werden zu einem Fonds
vereinigt, welcher die Bezeichnung Kantstiftung erhält und mündelsicher
angelegt wird. Die Kantgesellscliaft kann nur über die Zinsen verfügen.
Das Kapital selbst nebst etwa späterem Zuwachs desselben ist unangreifbar,
wird der Universität Halle als Eigentum überwiesen und untersteht der
Verwaltung des Universitäts-Kurators, oder desjenigen, der nach §5 an
seine Stelle tritt. Die Zinsen stellt derselbe dem Geschäftsführer zur Ver-
fügung. Über die Verwendung derselben siehe § 1 bis 4.
§ 13.
Wenn sich die Kantgesellschaft auflöst, so fallen ihre sämtlichen
verfügbaren Mittel der Kantstiftung (§ 12) anheim.
Die Universität Halle kann von da an über die Zinsen der Stiftung
nach folgenden Bestimmungen verfügen:
a) Besteht die von der Kantgesellschaft bis dahin unterstützte Zeit-
schrift noch fort, und ist sie der Unterstützung noch würdig, so
finden die Zinsen zu den in § 1 Abs. a und in § 2 genannten
Zwecken in erster Linie Verwendung.
b) Trifft diese Voraussetzung nicht zu, so werden die Zinsen aus-
schliesslich zu den in § 1 Abs. b genannten Zwecken verwendet
und zwar ohne Beschränkung auf Angehörige der Universität Halle.
c) Ist zeitweise eine satzungsgemässe Verwendung der Zinsen oder
eines Teiles derselben nicht angezeigt, so werden die Zinsen zum
Kapital geschlagen.
d) Der Senat ernennt aus Angehörigen der Universität eine mindestens
dreigliedrige Kommission, welche über die Verwendung der Zinsen
beschliesst.
e) Die Verwendung der Zinsen bedarf der Bestätigung des Universitäts-
Kurators oder desjenigen, der nach § 5 an seine Stelle tritt.
Die „Kantgesellschaft" ist am 28. Januar 1905 beim Kgl. Amtsgericht
Halle a. S, in das Vereins reg ist er eingetragen ivorden unter Nu. 74.
Preisautgabe der „Kantgesellschaff.
Kants Begriff der Erkenntnis,
verglichen mit dem des Aristoteles.
Besümmungen :
1. Ablieferungsfrist: 1. Oktober 1906.
2. Die Arbeiten sind, als „Preisaufgabe der Kantgesellschaft" bezeichnet,
einzusenden an das „Kuratorium der Universität Halle".
3. Die Verkündigung der Preiserteilung findet statt am 22. April (Kants
Geburtstag) des Jahres 1907 in der Generalversammlung der „Kant-
gesellschaft" in Halle.
4. Die gekrönte Arbeit erhält den Preis von 500 Mark. Wenn es die
im Jahre 1907 verfügbaren Mittel der „Kantgesellschaft" gestatten,
kann der Preis von 500 Mark eventuell erhöht werden; auch kann
dann eventuell ein zweiter und dritter Preis gewährt werden.
5. Jede Arbeit ist mit einem Motto zu versehen. Der Name des Ver-
fassers ist in geschlossenem Couvert beizufügen, das mit dem gleichen
Motto zu überschreiben ist.
6. Jeder Arbeit ist ein genaues Verzeichnis der benützten Litteratur,
sowie eine detaillierte Inhaltsangabe beizufügen.
7. Nur deutlich geschriebene Manuskripte werden berücksichtigt. Es
empfiehlt sich Herstellung des Manuskripts durch Kopisten oder durch
Schreibmaschine.
8. Die Arbeiten können in deutscher, englischer, französischer oder ita-
lienischer Sprache abgefasst sein.
9. Als Preisrichter fungieren: Geheimer Rat Professor Dr. Max Heinze
in Leipzig, Hofrat Professor Dr. Alois Rielil und Professor Dr. Hans
Vaihinger in Halle.
10. Die Redaktion der „Kantstudien" ist berechtigt, aber nicht verpflichtet,
preisgekrönte Arbeiten in ihrer Zeitschrift zu dem bei derselben
üblichen Honorar abzudrucken.
Halle a. S., den 22. Februar 1905.
Der Geschäftsführer der „Kantgesellschaft".
Professor Dr. H. Vaihinger.
Uon)uobdraek«r«i C. A. Eftemmerer & Co. Ball* «j9>
»Erlag Don C£. 3?. ScEmann in JCEUijig.
Dn Schillers (garten.
^ur Erinnerung an den 9. jVtai 1805.
Dm Bläfferffüstern unter hohen Räumen
Umhegt von schattenkühler 6insamkeit,
T)ie uns verführt zum Sinnen, J^uhen, Träumen
fern dem bedräng, vom JJIItagslärm befreit,
J)en ^lick nacl] B^^ff^^^öhn in Ximmelsräumen
J^agt hier, entrückt dem Wandeißuss der Jeit,
2es J)ichters ßrustbild an geweihter Stelle
Und drunten rauscht der ßacl] hin Well' auf Welle.
^ier traf er oft den herrlichen genossen,
J)er neu erweckt was keimend in ihm schlief;
Wort lockt das Wort, die Wechselreden flössen
Schönheitbegeistert und gedankentief;
J)er hohe freundesbund ward abgeschlossen,
J)er so viel herrliches zum Seben rief.
Sieh dort den Steintisc/j am bewachsnen Q runde,
J)er 3^uff^ ^öT mancl] glückbeseelter Stunde!
Kantstadien X. |^7
Wenn Jahrelang, nach jugendwildem J)ichten,
J)es ])enkens 6rnst den Qeisf gefesselt hielt,
Philosophie, die spähen will und richten,
Vernunftkritik, die nacl] der Weisheit zielt,
T)ie streng uns lehrt zu prüfen, zu verzichten,
Jndess die Xunst in Schöpferwonne spielt, —
Jetzt eint sich beides ; der beschichte Qeister
Umschweben ihn; er wird der T)ichtung freister.
Schönheit und Weisheit reichen sic/j die J{ände,
Shakespeare und Rousseau, Sophokles und J{ant,
Griechisches ßfaass, des Griten Qeistesspende,
T)ie ^erzensglut, der zügelnde Verstand
Verbünden sich, dass formend er vollende,
Was pi^antasie geheimnissvoll erfand.
Und aus der inneren Kräfte Schöpferwalten
Quillt eine Welt ergreifender (gestalten.
J)er Qrössenwahn vom Schicksalsßuc/j vernic/jtet,
J)ie Jfeldenjungfrau, die im Sorbeer stirbt,
J)ie sc/juldge J{önigin verdammt, gerichtet
Vom Weiberstolz, der fronen sich erwirbt,
Verblendung, Jrrtum auf ein J{aus geschichtet,
J)as mörderiscfj durch eignen Stahl verdirbt,
Jyrannenwut auf kaiserlichen Thronen
Und freiheiissieg geknechteter jYationen.
So ^ild auf ^ild entrollt sich. JYun betrachtet
J)en Seelenschwung, der ^u den Sternen eilt,
Begeisterung, die Schmutziges verachtet,
j)ie im Erhabnen, göttlichen verweilt,
2)en €delsinn, der, wenn das Seben nachtet,
J/Iit mächtgem Schlag die finsternis zerteilt I —
l)em JJdler gleichend überm jYebelthale
Schwebt €r im lichten l^eic/j der Jdeale. —
3u f^ü/j entrissen diesem Erdenwallen
jYahmst J)u mit J)ir manct] ungeborenes Wort,
T)as künftigen Geschlechtern sollt' erschallen;
jYun ists verstummt, verwelkt am l^ätsetortl
2)ocl} was J)u schufst wird ewig wiederhatten
Von J/tund zu J/lund, von 3^11 ^^ Jetten fort.
Bewundert ihn! — den Jhoren lasst das Tadeln —
Verehret ihn, euci] selbst durcl] ihn zu adeln!
Jena. Otto Liebmann.
17*
Was können wir heute aus Schiller gewinnen?
Einleitende Erwäg-ung-en
von Rudolf Eucken.
Immer stärker sehen wir die Ziirüstungeu zur Schillerfeier
anschwellen, aber, wie so oft in unserer Zeit, entspricht der äus-
seren Betriebsamkeit keineswegs der innere Gehalt der Bewegung.
Ist es wirklich ein echtes Bedürfnis, das uns zu dem grossen
Dichter zurücktreibt, oder befassen wir uns mit ihm nur, weil der
Kalender an seinen Todestag erinnert, und wir nun als wohler-
zogene Kulturmenschen uns der vermeintlichen Verpflichtung einer
Huldigung nicht entziehen möchten? Einer blossen sozialen An-
standspflicht müsste die Gedenkfeier entwachsen, wenn sie mehr
sein sollte als ein hohles Schaugepräuge ; sie könnte das aber nur,
wenn das Lebenswerk des Gefeierten uns in unseren eigenen
Aufgaben, Sorgen und Kämpfen wesentlich zu fördern vermöchte.
Denn das ist ja klar, eine derartige Feier wird nicht sowohl des
Helden als unser selbst wegen begangen. Der Held ist nach
knapp bemessener, aber herrlich verwandter Lebeusfrist in Ge-
filde eingegangen, wo ihn unser Lob nicht mehr berührt, ihn kann
es nicht höher heben, als er schon steht. Empfinden wir kein
Bedürfnis, aus ihm zu schöpfen und uns durch ihn für die eigne
Aufgabe zu stärken, so ist die Feier ein blosses Beispiel jener
gedankenlosen Festlust, jener eitlen Dekorationssucht, an welcher
die Gegenwart krankt.
Unsere Unsicherheit gegenüber der aufgeworfenen Frage
kommt besonders deutlich zur Empfindung, wenn wir die heutige
Lage mit der Stimmung der Zeit vergleichen, in welche die Ge-
denkfeier des Gebmtstages Schillers fiel. Inmitten aller Ver-
worrenheit und Unsicherheit der politischen und nationalen Ver-
hältnisse fühlte man sich damals eines geistigen Aufsteigens sicher,
ein trüber Druck war im Schwinden begriffen, der unsichtbare
Zusammenhang, dessen sich das deutsche Volk bis in seine ver-
254 R. Eucken,
sprengtesten Teile hinein an dem grossen Dichter bewusst wurde,
schien ihm auch in der sichtbaren Welt eine bedeutende Zukunft zu
verbürgen, von der Erreichung der nationalen Ziele aber wurde
zugleich der reichste Gewinn im Eeinnienschlichen erwartet. So
fassten sich die Ideale in Eins zusammen, und als eine Verkörperung
dessen erschien die Gestalt des grossen Dichters. Kein Wunder,
dass sich an ihm die Geister sammelten und die Gemüter erhoben.
Inzwischen ist vieles von dem errungen, was damals in vager
Hoffnung vorschwebte, bei engerem Zusammenschluss ist deutsches
Wesen in der sichtbaren Welt unvergleichlich mächtiger geworden.
Aber der innere Aufschwung, den die frühere Zeit dem äusseren
untrennbar verbunden dachte, ist nicht mit eingetreten, innerlich
sind wir vielmehr weiter und weiter in Verwicklungen und schliess-
lich in eine völlige Unsicherheit geraten. Es ist diese Wendung
viel zu oft geschildert, und sie steht uns allen viel zu deutlich
vor Augen, als dass sie einer näheren Darlegung bedürfte; unbe-
streitbar ist eine starke Unklarheit über die letzten Ziele unseres
Lebens und zugleich über seinen Sinn und Gehalt, unbestreitbar
eine Erschütterung des Gleichgewichts unseres Wesens, da dem
Wachstum der Arbeit an der Umgebung keine Stärkung des
Inneren entspricht, unbestreitbar auch ein Sinken des geistigen
Schaffens inmitten alles Gewinns an der Peripherie des Lebens.
Unsere geistige Energie ist den Gegensätzen nicht gewachsen,
welche die Bewegung der Kultur hervorgebracht hat; so werden
wir zwischen ihnen hin- und hergeworfen und drohen ioi Streit
der Parteien alle innere Gemeinschaft zu verlieren. Dessen werden
wir jetzt mehr und mehr inne und verlangen daher immer stärker
nach einer Gegenwirkung ; sollte uns nicht eine engere Berührung,
die Herstellung eines unmittelbaren Kontaktes mit dem grossen
Dichter einiges für die Probleme gewinnen lassen, die immer deut-
licher als die Hauptprobleme hervortreten?
Unser Leben hat sich unermesslich in die Weite ausgebreitet,
immer stärker wird das Bedürfnis nach einer Konzentration gegen-
über der Zerstreuung au eine unübersehbare Mannigfaltigkeit.
Schiller hält uns durch sein ganzes Leben und Sein eine kräftige
Konzentration, eine alle Fülle des Stoffes beherrschende und
durchwirkende Lebensenergie entgegen. Er ist in dem Kreise
unserer Dichter vor allem der Mann des Handelns und der
That, der Mann, der sich der zuströmenden Welt nicht unter-
wirft, sondern ihr gegenüber eine unablässige Gegenwirkung übt.
"Was können wir heute aus Schiller gewinnen? 255
Solche Art beseelt und erhöht nicht nur sein dramatisches
Schaffen, dräuet hier 7a\ raschem Fortgang und verbindet alle
Mannig-faltigkeit zu fester Gliederung, sie giebt auch seiner wissen-
schaftlichen Forschung einen eigentümlichen Charakter, indem
einige wenige Hauptprobleme die Arbeit bis in alle Verzweigung
beherrschen und ihre belebende Kraft an jeder Stelle erweisen,
indem auch die Darstellung durch scharfe Herausarbeitung der
Unterschiede und Gegensätze, durch klare Gliederung und sicheren
Aufbau mit besonderer Eindringlichkeit wirkt und zu eigener Ent-
scheidung aufruft. Schliesslich ist es das ganze Lebenswerk, das
mit hinreissender Aufforderung von Seele zu Seele spricht, das
zwingend zu einer eigenen Entscheidung drängt.
So hält uns Schillers Lebenswerk schon in der Form etwas
entgegen, dessen wir für uns selber dringend bedürfen. Nicht
anders aber steht es beim Inhalt. Die Hauptrichtung des Lebens
hat sich uns im Lauf des 19. Jahrhunderts dahin verschoben,
dass uns mehr und mehr die Menschheit zum Ausgangs- wie zum
Endpunkt unseres Strebens geworden ist; des Menschen Wesen
und Zusammenhänge suchten wir genauer zu erforschen, in seinem
Kreise fanden wir die höchsten Aufgaben unserer Arbeit, nur
durch den Menschen hindurch schien sich uns ein Blick in das
All zu eröffnen. Aber auf dem neuen Boden entstand eine eigen-
tümliche Verwicklung, ja ein schroffer Widerspruch. Für den
Mut des Lebens bedürfen wir eines freudigen Glaubens an die
Grösse und Würde der Menschheit, die Erfahrung aber scheint
uns ihr Bild mehr und mehr zu verkleinern. Nicht nur verkettet
uns die Forschung enger und enger der blossen Natur und nimmt
uns mehr und mehr alle Auszeichnung, auch die Entwickelung
des gesellschaftlichen Lebens zeigt so viel Kleines und Gemeines
am Menschen, sie hat den Kampf ums Dasein, die Gier nach Be-
sitz und Genuss, den Streit der Parteien so gesteigert, dass die
Bilder von Grösse und Würde mehr und mehr zu verblassen be-
ginnen. Halten wir aber die Schätzung der Menschheit aufrecht,
ohne sie innerlich begründen, ohne sie gegenüber jenen Erfahr-
ungen rechtfertigen zu können, so droht eine Halbwahrheit, ja
UnWahrhaftigkeit des Empfindens ; wir müssen über solchen Zwie-
spalt hinaus, wenn die Idee der Menschheit und des Menschen-
wesens eine belebende und erhöhende Macht auf uns üben soll.
Nun hat unter unseren grossen Dichtern niemand die Menschheit
mehr in Ehren gehalten, niemand sie mehr in den Mittelpunkt
256 R. Eucken,
alles Strebens gestellt als Schiller. Aus dieser Idee strömt ihm
Lebeu in alle Einzelarbeit, aus ihr erwärmen sich ihm alle Be-
griffe. Aber wenn Schiller die Menschheit so hoch stellt, so sorgt
er zugleich für eine Begründung solcher Schätzung, er verherr-
licht nicht den Menschen in seiner unmittelbaren Erscheinung, den
Menschen wie er leibt und lebt, sondern er giebt ihm zur geistigen
Grundlage seines Seins eine Welt der EYeiheit und der Vernunft,
er erhöht seinen Begriff von innen her und macht ihm sein eigenes
Wesen zur Aufgabe aller Aufgaben. Bei solcher Denkweise kann
Schiller die vorhandenen Schäden vollauf anerkennen und
sich aller Liebedienerei gegen den empirischen Menschen ent-
halten, und zugleich einen festen Glauben au das Menschenwesen
wahren und daraus kräftige Antriebe zu freudigem Wirken
schöpfen. Nie ist es hier der blosse Mensch, sondern es ist die
neue Welt, die in ihm durchbricht, woraus sich die Schätzung
rechtfertigt; so liegt in der Idee der Menschheit hier eine auf-
rüttelnde und vorwärtstreibende Kraft.
Die Würde des Menschen ergab sich für Schiller erstvvesent-
lich aus seiner moralischen Natur; die Moral aber ist es, in der
er wiederum dem Streben der Gegenwart entgegenkommt. Ein
Verlangen .nach Erstarkung der Moral geht heute durch die Welt ;
in tausendfachen Erfahrungen empfinden wir viel zu schmerzlich
den Mangel moralischer Kräfte, als dass wir uns nicht nach einer
Wiederbelebung sehnen sollten. Aber in der Entwickelung dieses
Strebens geraten wir unter die Macht eines Gegensatzes, der von
der empirischen Lage aus unüberwindlich scheint. Das blosse
Individuum wird zu sehr von seiner engen Natur festgehalten, um
zu selbstverleugnendem Handeln kommen zu können, das gesell-
schaftliche Lebeu aber greift nicht tief genug ins Innere, um von
sich aus mehr als die äussere Haltung der Moral hervorbringen
zu können; auch droht die hier gestellte Forderung der Unter-
ordnung des Individuums unter ein sichtbares Ganzes den Menschen
arg einzuschränken und seine Lebensenergie herabzudrücken. So
muss das moralische Problem über den Gegensatz von Individuum
und Gesellschaft hinausgehoben werden, die Moral muss unser
Eigenstes sein und zugleich eine Aufnahme des Ganzen in unseren
Willen in sich schliessen, Ohne eine Erhebung über das Gebiet
der Erfahrung, ohne eine Umwandlung, ja Umkehrung der ersten
Lage ist das schwerlich erreichbar. Schiller vollzieht eine solche
Erhebung und Umkehrung und zugleich eine Überwindung jenes
Was können wir heute aus Schiller gewinnen? 257
Gegensatzes ; er verdankt sie, der wissenschaftlichen Beg-rüudung-
nach, der Kantischen Philosophie, aber er hat das Empfangene
aus der Glut seiner künstlerischen Seele weitergebildet, er hat
dem Gerüst des ethischen Systems mehr Frische, Freude, Jugend-
lichkeit eiugeflösst. So wirkt von ihm her mit besonderer Kraft
eine Moral der inneren Befreiung und Erhöhung des ganzen
Menschen, ein gewaltiger Antrieb zur Aufraffung und Vollendung
des Selbst, aber eines Selbst, in dem unmittelbar eine neue Welt
gewonnen, der Mensch sicher über allen Druck der äusseren Ver-
hältnisse wie über die Kleinheit des gesellschaftlichen Getriebes
hinausgehoben wird. In dieser Richtung aber wirkt zu uns nicht
die blosse Lehre, es wirkt mehr noch das Lebenswerk und die
gesamte Gestalt des Mannes, der aus hartem Ringen mit dem Ge-
schick nie herauskam, der in unermüdlicher Arbeit seine hohen
Ziele sicher verfolgte, in aller Bemühung vor allem sich selbst zu
vollenden strebte, der in dem allen die Freiheit und Überlegen-
heit geistigen Lebens anschaulich vor Augen stellt.
Die moralischen Bestrebungen der Gegenwart begegnen und
durchkreuzen sich mannigfach mit den künstlerischen. Was immer
bei diesen verworren und problematisch sein mag, die Echtheit
des Verlangens nach Schönheit und Kunst in unserer Zeit ist nicht
zu bestreiten. Wir bedürfen der Kunst zur Beseelung unseres
Daseins gegenüber wachsender Mechanisierung, zur Behauptung
eines lebendigen Fürsichseins gegenüber der unablässig wachsen-
den Inanspruchnahme durch die Aussenwelt, zur Individualisierung
unseres Daseins gegenüber drohender Gleichförmigkeit, zur Freude,
Frische, Leichtigkeit gegenüber der Schwere und Arbeitslast des
modernen Kulturlebens; es ist ein Stück geistiger Selbsterhaltung,
wenn wir der Kunst wieder einen hervorragenderen Platz in un-
serem Leben einräumen und zugleich sie bei sich selbst anders —
seelischer, lyrischer, stimmungsvoller — zu gestalten suchen. Aber
wenn eine stärkere Belebung des Subjekts notwendig war, die
Gefahr eines Beharrens beim leeren Subjekt, eines blossen Aus-
malens und Verfeinerns subjektiver Zustände, eines Verfallens in
einen einseitigen künstlerischen Subjektivismus ist augenscheinlich;
mit allem Gewinn an Darstellungsvermögen und Stimmung droht
die Kunst den Zusammenhang mit den letzten Lebensfragen auf-
zugeben und einen geistigen Gehalt einzubüssen, auch einer
weichen Romantik der Farben und Töne alle männliche Kraft auf-
zuopfern. Innere Erhöhungen thun hier dringend not, wir sehneu
258 R. Eucken,
lins nach einer Kunst, die uns nicht in den Niederung'en des
Lebens festhält oder in einen verfeinerten Epikureismus eins])innt,
sondern die unser Herz öffnet für- die grossen Probleme unseres
Lebens und uns im Kampf um ein geistiges Dasein hülfreich zur
Seite steht. Wer aber kann bei dem Streben nach einer hohen
und wesenhaften Kunst ein besserer Bundesgenosse sein als
Schiller? Ihm wurde die Kunst und die ästhetische Bildung ein
unentbehrlicher Bestandteil aller echten Geisteskultur und stellte
sie jeden Augenblick eigentümliche Forderungen an den Menschen,
aber zugleich blieb sie frei von jener Ausschliesslichkeit einer
bloss ästhetischen Weltanschauung, die das Leben weichlich und
selbstisch macht und die sich mit der Moral unversöhnlich entzweit.
Vom Ganzen der Menschheit dürfen wir auch heute sagen,
dass es Kunst und Moral, ästhetische und ethische Kultur mitein-
ander festhalten will; aber es fällt uns unter mannigfachen Ver-
wickelungen und Verwirrungen unsäglich schwer, beides friedlich
und freundhch zusammenzubringen. Schiller hält uns hier eine
charaktervolle Lösung vor, bei der Moral und Kunst eng
zusammengehören, ja einander gegenseitig fordern. Mögen wir
diese Lösung nicht einfach annehmen können, in ihr liegt eine
Richtung bezeichnet, die sich nicht leicht aufgeben lässt, in ihr
ist eine Höhe der Behandlung erreicht, zu der es immer von
neuem aufzustreben gilt. — So aber steht es überhaupt bei
Schiller. Überall ein Emporheben der Arbeit über das klein-
menschliche Thiin und Treiben und die landläufigen Gegensätze,
eine Befestigung in sicherer Höhe, eine energische Kraft der Be-
wegung, eine Konzentration aller Kräfte auf die entscheidenden
Fragen. Wie wichtig ist das für uns Kinder der Gegenwart, die
wir vom hastigen Getriebe des Alltages, vom geringen Durchschnitt
des gesellschaftlichen Lebens, von der Last der Arbeit au der
Weltumgcbung so bedrückt und oft niedergedrückt werden!
Nicht minder aber als die Lebensarbeit kann die Lebens-
stimmung stärkende und befreiende Antriebe von Schiller ge-
winnen. Auch hier umfängt uns eine verworrene Lage. Das
Missverhältnis zwischen leidenschaftlicher Anspannung der Kraft
und geringer Befriedigung der Seele giebt dem Pessimismus eine
gewaltige Macht über uns; wie sehr hat sich gegenüber der Zeit
unserer grosseu Dichter die Lebensstimmung verdüstert! Wii-
sträuben uns gegen diesen Pessimismus mit seiner entmutigenden
Wirkung, wir möchten unserem Leben, das voller schwerer Auf-
Was können wir heute aus Schiller gewinnen? 259
gaben, Mut und Freude bewahren. Aber bei dem Streben danach
soll oft subjektives Pathos die innere Wahrheit ersetzen, wir
suchen uns ein positives Lebensg-efühl, eine freudige Stimmung
einzureden, die ira Grunde nicht echt ist, ein blosser Machtspruch
soll den ungeheuren Druck aufheben, mit dem uns das moderne
Leben belastet. So verbleiben wir in haltlosem Schwanken
zwischen der Empfindung schwerster Verwickelungen in unserem
Dasein und der Sehnsucht nach freudiger Bejahung des Lebens,
wir bedürfen einer Denkweise und Überzeugung, die jene Ver-
wickelungen voll anzuerkennen gestattet und doch den ersehnten
Mut zum Leben rechtfertigt. Eine solche Überzeugung aber
wirkt uns aus Schiller mächtig entgegen. Denn nichts ist ver-
kehrter und ungerechter als ihm eine Abschwächung der grellen
Kontraste, einen bequemen Kompromiss mit den Welt- und Lebens-
verhältnissen, eine unwalu*e Idealisierung der vorgefundenen Wirk-
lichkeit beizulegen. Er hat die Widersprüche des Lebens in ihrer
vollen Herbigkeit empfunden und solcher Empfindung oft einen
packenden Ausdruck gegeben. Aber er hat sich zugleich die volle
Frische und Freudigkeit des Lebens, sowie den Glauben an die
Überlegenheit der Vernunft bewahrt, bewahrt durch eine innere
Befreiung von der Sphäre der Widersprüche, durch die Erhebung
in eine neue Welt geistiger Freiheit und Selbstthätigkeit. — Nach
eingreifenden Wandlungen des Lebens lässt sich schwerlich die
Denkweise Schillers einfach zur uusrigen machen. Aber die Ver-
schmelzung von Ernst und Freudigkeit, von tiefer Empfindung
und vordringendem Schaffen, jenes sichere Überwinden des trüben
Dunkels, wie sie aus Schillers Leben und Persönlichkeit an uns
kommen, sie sind einer fortdauernden Wirkung fähig, sie dürfen
auch uns nicht verloren sein.
Nun und nimmer kann solche Wirkung eine einfache Aneig-
nung, ein Einstellen eigenen Urteils, eine sklavische Unterwerfung
bedeuten. So ist überhaupt nicht unser Verhältnis zu den Grossen
und Grössteu, dass sie uns eigene Arbeit abnehmen könnten. Zu
diesem Wahn, zu diesem asylura inertiae hat ein gutes Stüek wohl
auch der unglückliche Begriff des Klassischen beigetragen, als
eines Mustergültigen und für alle Zeiten Normierenden. Kant hat
mit Recht gesagt, dass es in der Philosophie keine Klassiker
gebe; weitergehend möchten wir sagen, dass es überhaupt keine
Klassiker giebt. Denn wohl heben sich aus der Schaar der Mitt-
leren und Geringen einzelne Grosse heraus, leider recht wenig au
260 R. Eucken,
Zahl ; aber auch diese Grossen sind, am höchsten Ziele der Wahr-
heit g-eniesseu, ledig-lich Strebende und immerfort Lernende, nicht
schon Besitzende und aus satter Fülle Lehrende. Was sie uns
mitteilen können, sind nicht fertig-e Ergebnisse, um so mehr, da
der Wandel der Zeit immer neue Lagen erzeugt und vor neue
Aufgaben stellt. Aber wenn das Grosse nun und nimmer als ein
Klassisches uns die eigene Arbeit abnehmen kann, es kann dahin
wirken, diese Arbeit zu steigern und auf die rechte Höhe zu
heben. Das Wirksame sind hier nicht die einzelnen Gedanken
und Behauptungen, sondern der Lebensprozess, aus dem sie her-
vorquellen; zu ihm aber lässt eine innere Vergegenwärtigung des
Grossen, ein Einleben in seine Art vordringen; von dort wird
unserem Streben ein Niveau vorgehalten, zu dem es emporklimmen
muss, von dort kann eine Kraft zur Belebung und Erweckung
verwandter Art ausgehen. So steht es auch mit unserem Ver-
hältnis zu Schiller; nur wenn ein kritikloser Anschluss fernliegt,
können die gewaltigen geistigen Kräfte, die aus ihm strömen,
auch uns fördern. Die Konzentration seines Strebens gegenüber
der heutigen Zerfahrenheit, die Erhebung über Gegensätze, die
uns heute zerspalten und entzweien, die männliche Kraft des
Schaffens gegenüber der jetzt vorwaltenden Mattheit, das freudige
Vertrauen inmitten alles Dunkels gegenüber einem grämlichen
Pessimismus sowohl als einem verflachenden Optimismus, die Ge-
sundheit des Ganzen bei geistiger Höhe gegenüber so vielen Krank-
heitserscheinungen der eigenen Zeit, in denen manche wohl gar
ihre Höhe finden, sie können und müssen uns Leitsterne bleiben,
wenn anders wir nicht der Dekadenz, mit der wir zu spielen
lieben, in Wahrheit verfallen wollen.
Steht es aber so, so muss an Schiller eine Scheidung der
Geister erfolgen, eine Scheidung des Wesenhaften -von dem bloss
Scheinenden, des Gesunden von dem Kranken, des Jugendfrischen
von dem Greisenhaften, einer echten Geisteskultur von der Kultur-
komödie des Alltags. Die frühere Schillerfeier hat zur Sammlung
der Geister gewirkt, die bevorstehende — schon durch den Ge-
danken an den frühzeitigen Tod des Helden ni?hr zum Ernst ge-
stimmt — würde uns am meisten fördern, wenn sie zu kräftiger
Scheidung der Geister wirkte. Denn nichts thut dem geistigen
Chaos der Gegenwart mehr not als dies, und nichts würde mehr
im Sinne des Helden sein, dessen Lebenswerk wir dankbar und
ehrerbietig feiern.
Schiller als theoretischer Philosoph.
Von Friedrich Alfred Schmid.
1.
Schiller als theoretischer Philosoph : Das ist eine Abstraktion.
Es ist gut, dies zu betonen; gerade gegenüber dem Bestreben,
die Bedeutung Schillers für die Philosophie ins Licht zu setzen
und ihm selber neben den historischen Trägern der spekulativen
Problementwickelung den vollen und gerechten Platz einzuräumen.
Die Gefahr der einseitigen Überschätzung liegt dann erfahrungs-
gemäss nahe; einer Überschätzung, die gegenüber einem geistigen
Phänomen von der Grösse Schillers einer Unterschätzung höherer
Werte gleich käme.
Mit Schiller verhält es sich dabei nicht wesentlich anders,
als mit Goethe, dem grosszügigen Widerspiel seiner Natur. Man
ist leicht geneigt, Goethes spekulativen Drang hinter der Fülle
seiner anders gearteten Gaben und Neigungen zurückstehen zu
lassen, weil sein suchender Geist die Wahrheit am liebsten im
Symbol ergriff, das Forschen ihm stets zum Schauen, der Begriff
zum Bilde ward. Und doch war in Goethe mehr theoretischer
Trieb und mehr philosophischer Charakter, als in manchem Manne
vom Fach, vor und nach ihm. Da aber jeuer Trieb nach aussen
ging und im lebendigen Wirken der Natur sich seine möglichst
konkreten Formeln suchte, so schien er in Goethes Natur ein
überwiegend praktisches IVIoment zu offenbaren, das in Wahrheit
ihrem tiefsten Wesen durchaus fremd war.
Diese einseitige Überschätzung einer geistigen Wirkungsart
im Vergleich zu der eigentlichen Grundtendenz des ganzen, intelli-
giblen Wesens läuft Gefahr, aus Goethe den praktischen, welt-
frohen und zuletzt ziemlich unbekümmerten Draufgänger, aus
Schiller aber, in rechtem Gegensatz dazu, den passiven Grübler
und theoretischen Ästhetiker zu machen, und so das wahre Ver-
262 F. A. Schmid,
hältnis, in dem die beiden Geistesgenossen zu einander erscheinen,
geradezu umzukehren.
Denn Schillers philosophisches Interesse war in erheblich
höherem Grade praktischer und ästhetischer, als theoretischer Art.
Aber sein spekulativer Trieb war nach innen gekehrt und öffnete
ihm, als das walilverwandte Gebiet seines Erkenntnisdranges, die
Welt der geistigen Kräfte des Menschen, den Schauplatz ihrer
fruchtbaren Gegensätze und ihrer harmonischen Ausgleichungen.
Auf diese Weise moclite es den Anschein nehmen, als bedeute der
nach innen gerichtete Blick soviel, wie theoretische Abkehr; als
stehe demnach der dichtende Philosoph dem Leben ungleich fremder
gegenüber, als der weise Dichter neben ihm. Und doch war in
Schiller mehr praktische Energie und mehr persönliche Impulsivi-
tät, als selbst Goethe im letzten Grunde je besessen hat.
W^ährend Goethes stark kontemplativer Instinkt in der
aristotelischen Theoria, im spiuozistischen Schauen den sicheren
Ruhepunkt seines Wesens fand, strebte Schillers aktives Persöu-
lichkeitsbewusstsein überall über die Schranken der Theorie hinaus
und suchte in der Kunst, wie im Leben, ungestüm nach den
äussersten Zielen der Daseinsauf gäbe zu greifen.
Von dieser Seite her gesehen, könnte es daher fast berech-
tigter und lohnender scheinen, von Goethes, als von Schillers
theoretischer Philosophie zu reden, während Goethes moralische
und ästhetische Überzeugungen schwerlich die systematische For-
mulierung wohl vertrügen. Schiller selber hatte davon ein deut-
liches Bewusstsein, und es spiegelt sowohl dies eigentümliche Ver-
hältnis der Interessen, wie die glückliche Art der ergänzenden
Übereinstimmung wider, was Schiller unter dieser Epigrammüber-
schrift gesagt hat :
„Wahrheit suchen wir Beide, du aussen im Leben, ich innen
In dem Herzen, und so findet sie jeder gewiss.
Ist das Auge gesund, so begegnet es aussen dem Schöpfer,
Ist es das Herz, dann gewiss spiegelt es innen die Welt."
Schiller bedurfte der theoretisch zuschauenden Erkenntnis nur so-
weit, als sie ihm zur Begründung und Stütze seiner sittlich-ästhe-
tischen Fragen und Forderungen notwendig war. Darum ist er
auch, trotz des reichlichen Kautstudiums, das einige wertvolle
Jahre seines Lebens füllte, doch dem eigentlich kritischen Teil
der Kantischen Lehre innerlich fremd geblieben. Die Erkenntnis-
theorie kam in seinem philosophischen Bewusstsein zeitlebens nicht
Schiller als theoretischer Philosoph. 263
Über die Skizze hinaus, während ihre spekulative Krönung-, die
Metaphysik, von seinem Geiste zwar lebhafter ergriffen, aber
methodisch gleichfalls nicht zu Ende g-edacht und schliesslich in
einer Weise mit den Kantischeu Grundlagen verschmolzen wurde,
wie es zuletzt dem streng- genommenen Geiste der kritischen
Philosophie stracks zuwider lief.
Die Persönlichkeit war stärker, als der gute Wille des kri-
tischen Adepten. Die Art Schillers im philosophischen Aufnehmen
und Selbstschaffen hat keiner besser gekennzeichnet, als Wilhelm
von Humboldt in seiner „Vorerinnerung" : i)
„Dem Inhalte und der Form nach waren Schillers philoso-
phische Ideen ein g-etreuer Abdruck seiner ganzen, geistigen
Wirksamkeit überhaupt. Beide bewegten sich immer im nämlichen
Gleise und strebten dem g-leichen Ziele zu, allein auf eine Weise,
dass die lebendig-ere Aneignung immer reicheren Stoffs, und die
Kraft des ihn beherrschenden Gedankens sich unaufhörlich zu
wechselseitiger Steigerung- bestimmten. Der Endpunkt, an den er
alles knüpfte, war die Totalität in der menschlichen Natur durch
das Zusanmienstimmeu ihrer geschiedenen Kräfte in ihrer absoluten
Freiheit. Beide dem Ich, das nur eins und ein unteilbares sein
kann, angehörend, aber die eine Mannigfaltigkeit und Stoff, die
andere Einheit und Form suchend, sollten sie durch ihre freiwillige
Harmonie schon hier auf einen über alle Endlichkeit hinaus lie-
genden Ursprung hindeuten."
Daraus ist von vornherein zu entnehmen, was eine Unter-
suchung über Schillers theoretische Philosophie und Methaphysik
an Resultaten erwarten lässt; nämlich einen Beitrag zur näheren
Kenntnis der einzelnen Ideenniotive, die Schillers gesamte Lebens-
arbeit beherrschten, und darum ein gesteigertes Verständnis für
die Absichten und Wirkungen des grossen Dichters und des einzig-
artigen Menschen; mehr nicht. Aber das ist der Anstrengung
wert und genug, wenn auch kein System der theoretischen Philo-
sophie dabei zum Vorschein kommt, das allein genügte, um
Schillers Namen in der Geschichte dieser Disziplin unsterblich zu
machen.
Die Stärke, mit der Humboldts Charakteristik die bestim-
mende Persönlichkeit des Dichterphilosophen in den Vordergrund
stellt, ist der Bedeutung angemessen, die ihr in der Entwickelung
1) Zu der Herausgabe seines Briefwechsels mit Schiller.
264 F. A. Schmid,
vou Schillers philosophischem Denken zukommt. Denn diese
scharf persönlich geprägten Denkvoraussetzungen verleugnen sich
am wenigsten dort, wo ein Umschwung in der philosophischen
Meinung Schillers eingetreten ist.
Ein solcher Umschwung aus Prinzipien heraus hat in Schillers
spekulativem Entwickelungsgange bekanntlich nur das eine Mal
stattgefunden, als er auf Kant traf. Aber gerade hier gestattet
die Einheit der geschlossenen Persönlichkeit, deren innerste Stütze,
unabhängig von der Spekulation, auf die Dichternatur ihres Trägers
gegründet war, stets einen mehr oder minder bündigen Nachweis
leiser Übergänge, früher Antizipationen von später erst geklärten
Einsichten, oder späte Erinnerungen an jugendliche Ideale. Und
ein solches Gewebe übergreifender Fäden lässt darum in seiner
Gesamtheit den Eindruck niemals aufkommen, als stehe der
Schiller von 1785 dem von 1795 durch eine Kluft getrennt gegen-
über. Die Illustration im Einzelnen zu diesem Sachverhalt wird
die folgende Darstellung wohl mehrfach bringen.
2.
Erkenntnistheorie und Metaphysik stehen untereinander nicht
nur in einem systematischen, sondern auch in einem psycholo-
gischen Zusammenhange.
Unter systematischen Gesichtspunkten ist die Metaphysik in
den meisten Fällen und grossenteils das System vollendende Schluss-
kapitel der theoretischen Philosophie, mit der rückwirkenden Kraft
einer zwar a posteriori gefundenen, aber a priori giltigen Be-
gründung des ganzen Erkenntnisverlaufs: Jeder Metaphysik werden
die Resultate der Erkenntnistheorie zum Problem.
Psychologisch betrachtet, ist der Erkenntnistrieb selber die
Äusserung eines metaphysischen Bedürfnisses; und da er sich
im ungeschulten Bewusstsein nur naiv zu geben pflegt, so ist seine
Tendenz dort schon in den ersten Erkenutnisanfängen metaphysisch
bestimmt: für den naiven Geist fallen Erkenntnistheorie und Meta-
physik zusammen.
Auf diesem Punkte finden wir den jungen Schiller auf der
Karlsschule. In dem „Versuch über den Zusammenhang der
tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen" i) mag einer
1) 1780.
Scliiller als theoretischer Philosoph, 265
seiner ersten Versuche zu einer Erkenntnisbegründung auf diesem
Wege o-esehen werden. Das einzig-e Kriterium ist hier dem
Zwanzigjähilg-en die innere Gewissheit von der Einheit seiner
eig-enen und von dem Bedürfnis der Natur nach Eiuheit über-
haupt, soweit ihm unter diesem Namen bisher die Erfahrung- ent-
g-eg-eng-etreten ist. Diese Gewissheitsempfindung- in ihm ist von
durchaus ästhetischer Art, auch da, wo er ihr einen rein objektiv-
sachlichen Ausdruck in seiner Examensarbeit zu g-eben g-laubt.
Gleichzeitig aber enthüllt ihm der empirische Mangel der geforderten
Einheit, der „Zwiespalt der Erscheinung in geistigem und
tierischem", wie er sich ausdrückt, jene Einheit als ideale For-
derung, als eine Wahrheit, die nur jenseits der Erscheinung gilt,
oder, wie er hier das Wort gebraucht, als „Idee". Es ist die
Idee der Einheit von Geist und Materie; sie ist zunächst bezogen
auf den Menschen, sodann aber auch, in unmittelbarer Übertragung
auf das Universum, die Idee der makrokosmischen Einheit der
dualistischen Prinzipien.
Das Auftreten dieser Idee als Forderung bringt ein neues
Moment des Zusammenhangs in der Natur zutage, nämlich die
ideale Vollziehbarkeit dieser Forderung, oder wenigstens das Mo-
ment ihrer Bedingung, den auf die Idee hinstrebeuden Willen.
Dieser Wille erscheint als durchaus bewusst, da er einem er-
kannten Ziele nachgeht. Sein Bewusstsein ist zugleich ein Wissen
von etwas Höherem. Da aber alles Wissen aus der Erfahrung
stammt, aus der Affektion des Willens durch Empfindung, so ist
die Voraussetzung zur Empfindung, odei- das Empfindende selber,
die Quelle dieses ganzen Prozesses. Das Empfindende ist nun
nichts anderes, als die „organisierte Materie". Sie ist letzte Be-
dingung zur Empfindung, sie ist die Basis jedes Willensimpulses
und darum auch Trägerin der Willensentfaltung im Sinne der
idealen Forderung, zu der der Geist in Begriffen aufsteigt: Der
erste Antrieb zur Erkenntnis ist die Sinnlichkeit. Das ist das
Resultat.
Es ist leicht zu bemerken, mit welcher erkenntniskritischen
Unbefangenheit sich das ungeübte und popukirphilosophisch beein-
flusste Denken des jungen Schiller über die nächsten Schwierig-
keiten hinwegsetzt. Denn wo Wissen nur aus sinnlichen Affekten
stammt, da ist das Aufsteigen zu einer Idee, aus der zuletzt die
einheitliche Entwickelung des ganzen Erkenntnisverlaufes ver-
standen werden soll, ein unmöglicher Sprung durch das Leere.
Kantatudien X. ig
266 F. A. Schmid,
Unklar, aber darum von ihm selber nicht unbemerkt, steckt das
Gefühl dieser Anfechtbarkeit in dem skeptischen Element, das den
gewagtesten Gedankengängen Schillers in dieser Zeit typisch bei-
gemischt erscheint: Über das tiefste Wesen des Zusammenhangs
will der junge Arzt keine bestimmte Meinung äussern, sondern
die Frage danach lieber offen lassen; er begnügt sich mit empi-
rischen Exemplifikationen, die, unbeschadet der eigentlichen Natur
jenes Zusammenhanges, wenigstens sein faktisches Vorhandensein
äusserst wahrscheinlich machen.
Sofort aber wächst ihm aus dieser Beispielsammlung die
Lust zu ihrer Anwendung auf das Kulturproblem im allgemeinen
und überhaupt, energisch auf. Mit seinem „alles durchsuchenden
Geist" und mit dem ungestümen „Feuer" seiner „guten und auf-
fallenden Seelenkräfte", das nach seines Herzogs Meinung nur
„iumittelst noch ein wenig gedämpft werden" sollte, fand er eine
Anwendung, die für den eminent historischen Sinn Schillers von
grundlegender Bedeutung war.
„Nun noch einen gewagten Blick über die Universalgeschichte
des ganzen menschlichen Geschlechts," ruft der junge Denker am
Ende seiner halb medizinischen, halb philosophischen Dissertation
aus, und zeichnet in kühnen Linien den grossen Grundriss einer
Geschichtsbetrachtung, die hier schon im wesentlichen getreu die
Auffassung widerspiegelt, die in den „Künstlern" ihre klassische
Formel gefunden hat. Das ästhetische Moment drängt sich gegen
das Ende der zu Anfang physiologisch angelegten Untersuchung
beherrschend in den Vordergrund. Es ist überflüssig, alle die
Unter- und Obertöne zu berücksichtigen, die bei diesen und anderen,
verwandten Glaubensbekenntnissen philosophischer Art aus Schillers
Jugendjahren mitgeklungen haben. Flachste Glückseligkeitsmoral
und erste Ansätze eines Strebens um des Strebens willen, Ge-
danken Shaftesburys und der Leibniz-Wolffischen Schule mischen
sich in ihnen auf eine oft bunte und wunderliche Weise. Nur dies
Eine ringt in allen diesen Versuchen und Bemühungen um Ein-
sicht und Klarheit des Gedankens sich immer wieder siegreich
empor, und befestigt sich so zum eigenthchen eisernen Bestand der
Überzeugung, gegenüber dem wechselnden Fluss der Meinungen
Schillers: Dass der Mensch, entkleidet von allen den kleinen Zu-
fälligkeiten seiner sinnlichen Bedingtheit und im Ganzen genommen,
in sinnvoller Verknüpfung seiner unerlässlichen Elemente, eine
höhere, harmonische Einheit darstelle, die in dieser Harmonie be-
Schiller als theoretischer Philosoph. 267
sondere Werte zug-leich hervorbringt und anerkennt. Ganz allge-
mein gesagt, sind diese Elemente seines höheren Wesens Natur
und Geist. Unter diesem Namen begreift sie Schillers Ausdrucks-
weise bis auf weiteres am liebsten. So spricht sich Schiller in
dem Aufsatz über „die Schaubühne als moralische Anstalt", so
spricht er sich in jenem „über das gegenwärtige deutsche Theater"
aus. Grössere Klarheit gewinnen seine Gedanken erst im Verkehr
mit dem die Genauigkeit liebenden Körner. Das Resultat dieses
Austausches sind die „philosophischen Briefe".
In diesen bekennt Schiller: „Ich habe Philosophie gesucht
und habe mir Träume untergeschoben." Eine Selbsterkenntnis von
nicht geringem Werte. Ereilich ist auch jetzt noch die Art des
philosophischen Raisonnements von der früheren nicht erheblich
verschieden. Erkennen und Erkenntnis-begreifen vermischt sich
in seinem naiven Bewusstsein immer noch mit dem Aufsuchen und
planlosen Aufgreifen von Bruchstücken eines „Wissens überhaupt".
Jeder Versuch zur Erkenntnis wird ihm zur Metaphysik.
Aber „die Theosophie des Julius" ist imgrunde nicht tadelns-
werter, als alle philosophischen Systeme vor Kant, insofern sie
Erkenntnisse zu besitzen vorgaben, ohne dafüi- den Nachweis ihrer
Qualifikation aufzubringen, den ihnen nur die immanente Veruunft-
kritik hätte gewährleisten können.
Inzwischen beantwortet jetzt „die Theosophie des Julius"
jene Erage, die in der Examensarbeit des Karlsschülers offen ge-
blieben war, mit aller Kühnheit einer naiven und begeisterten
Metaphysik. Auf diese Weise schliesst sich äusserlich wenigstens
auch diese letzte Lücke in seinem Weltgebäude, und es wird da-
durch hier zum ersten Male von Schiller eine gewisse, syste-
matische Einheitlichkeit des Entwurfs und der gedanklichen Dar-
stellung erreicht, die zugleich einen tieferen Einblick in die Art
der treibenden Motive gewährt, von denen sie beherrscht ist.
Diese Motive liegen ganz in der Persönlichkeit des philo-
sophierenden Dichters, die sich ihrer sittlich-ästhetischen Bestim-
mung im höchsten Grade bewusst ist. Dadurch bekommen auch
alle Motive des Erkenntnistriebes einen vorwiegend praktischen
Charakter. Jene Idee der theoretisch postulierten Einheit ist,
richtiger genommen, vielmehr die Idee der charaktervollen Ge-
schlossenheit des persönlichen Wesens, die Idee der harmonischen
Vollkommenheit. Jener erste Empfindungserreger, der den Willen
zur Ei-keuntnis spornt, ist selber nur ein Ausdruck der Vollkomm en-
18*
268 F. A. Schmid.
heit der Natur. Denn nur insofern die Natur, als organisierte
Materie, in dem harmonischen Gleichwerte ihrer Faktoren die Idee
der Einheit von ordnendem, geistigem, und gegenständlich-mate-
riellem Prinzip möglich macht, kann sie zugleich auch die Voll-
kommenheit der Geister bedeuten und vorauskünden.
Aus Anlass dieses Strebens nach dem kosmischen Ideal der
vollkommenen Einheit berühren sich Natur und Geist im Einzel-
iudividuum, in den Monaden, nach Analogie der Metaphysik des
Leibniz. Ihr gemeinsamer Weg ist die Zielsehnsucht, die in
ihrer Erfüllung die höchste Glückseligkeit verheisst. Der Eudä-
monismus der populären Aufklärungsphilosophie wirkt mit weit-
gehendem Einfluss auf den intimeren Charakter der hieraus von
Schiller gefolgerten Zweckkonstruktion des Daseins : Der Glück-
seligkeit entgegen streben alle Geister. Sie liegt in der Richtung
des idealen Zieles. Wo die Zieluähe ist, da ist die Glücksehgkeit,
da ist Gott. Darum ist es die Aufgabe des Einzelindividuums, in
seinem strebenden Bemühen möglichst viel Glückseligkeit selber
zu erleben und aus seinem Wirken für Andere fliessen zu lassen.
Denn so nur fördert der Einzelne das grosse und allgemeine Ziel:
„Liebe, Liebe leitet nur
Zu dem Vater der Natur,
Liebe nur die Geister."
Wie aus der Energie der elementaren Anziehung im Körper,
so entsteht Gott aus der Energie der Geisterliebe. Die Natur ist
der unendlich geteilte Gott. Gott ist die in die Einheit durch
Liebe zurückgenommene Natur:
„Freudlos war der grosse Weltenmeister,
Fühlte Mangel; darum schuf er Geister,
Sel'ge Spiegel seiner Seligkeit.
Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches,
Aus dem Kelch des ganzen Wesenreiches
Schäumt ihm die Unendlichkeit."
Damit ist das bescheidene uon liquet des Karlsschülers kühn
zurückgenommen. Aber in demselben Augenblick tritt auch zum
ersten Male deutlich der wirkliche, erkenntnistheoretische Zweifel
an der suveränen Erkenntniskraft der Vernunft hervor. Die Mög-
lichkeit tritt in den Kreis der Erwägung, dass alles Wissen des
Menschen anthropomorph, dass unsere Vernunft eine P>denvernunft
sein möchte, und dass darum, was für die subjektive Einsicht
dieses Plaueteube wohners gilt, nicht darum auch W^ahrheit im
Schiller als theoretischer Philosoph. 269
Uiiiversutn heissen miiss':'. „Unsere Gedanken von diesen Dingen
sind nur die endemischen Formen, worin sie uns der Planet über-
liefert, den Avir bewohnen." Aber, so fährt der Briefschreiber
fort, „die Kraft der Seele ist eig-entümlich, notwendig- und immer
sich selbst gleich."
Mit vollkommener Deutlichkeit vollzieht sich hier der kritische
Prozess; freilich ist es in erster Linie nicht die theoretische Ein-
sicht, sondern das zwingende Bedürfnis der Persönlichkeit, die der
festen Grundlegung bedarf, unter deren Einfluss die Wandlung
von statten geht.
Das Materiale der Erkenntnis verfällt von hier aus aufs
neue der Skepsis und bleibt in diesem Zustande bis auf Weiteres
unbeachtet liegen. So lange, bis der aus der Schule Kants ge-
wonnene, kritische Standpunkt diesen Skeptizismus, als widersinnig,
vollends stillschweigend resorbiert.
Das Formale der Erkenntnis aber wird als das objektiv
und gesetzmässig Gewisse erkannt, der Standpunkt der Trans-
scendentalphilosophie somit im Prinzip gewonnen und für die in-
haltlichen Bestimmungen unmittelbar vorbereitet, die ihm aus dem
kritisch geweckten Bewusstseiu voraussichtlich bald erstehen
mussten.
Zweierlei ist hier für die Beurteilung der Art und Weise
bemerkenswert, mit der sich Schillers fortschreitende Denkkraft
ihrer Gegenstände bemächtigte. Unter beiden Gesichtspunkten
wird dabei aufs deutlichste die Stellung erleuchtet, die Schiller
unter allem Philosophieren, kraft seiner Persönlichkeit, sich gegen-
über den spekulativen Aufgaben gewahrt hat.
Einmal nämlich ist dies zu beachten:
In relativ selbständiger Denkarbeit hatte sich das philoso-
phische Verständnis Schillers bis zu einer solchen Höhe herauf-
gearbeitet, dass alle Motive und Kräfte mit innerster Wahlver-
wandtschaft nach der Kantischen Lösung der letzten Probleme der
Erkenntnis hinzielten. Es bestand also auf der gegenwärtigen
Höhe seiner Einsichten eine notwendige, intellektuelle Spannung
des Gemütes zwischen dem soeben noch von ihm Begriffeneu und
der höchsten erkeuntnistheoretischeu Problemlösung, wie sie Kants
Kritik der reinen Vernunft für ihn erwarten Hess, so, dass die An-
nahme fast zwingend erscheint, als ob die Lösung gerade dieser
unmittelbaren, erkeuntnistheoretischen Spannung in Schiller, seiner
270 F. A. Schmid,
g-aiizen, impulsiven Natur oiitsprechpiid, unter lebhaften und vom
Eindruck beweg-teu Äusserungen hätte vor sich gehen müssen.
Davon ist aber nie die Rede gewesen; es ist vielmehr be-
kannt, dass Schiller sich wirklich heimisch nur in den beiden
späteren Kritiken, und schliesslich ganz vertraut nur mit der
Kritik der Urteilskraft gefühlt hat. Es ist offenbar, welches
Interesse in ihm die Oberhand behielt. Der ganze Apparat jener
Metaphysik des Julius, zu was Ende war er für Schillers Geist
gut und notwendig? Doch nur dazu, um seiner spekulativ einmal
nicht bedürfnislosen Natur eine befriedigende Grundlage für das
Einzige zu geben, worauf es ihm als Persönlichkeit ankam und
was ihm als Künstler not that: Den Glauben au die Würde der
Kunst und" darum an seine eigene Bestimmung. Die Beobachtung
lässt sich ja häufig wiederholen, dass, noch ehe die Sache selber
erwogen ist, um die sich das Interesse zusammenzieht, der Geist
halb unbewusst und wesentlich instinktiv sich den Mitteln
zuwendet, durch die jener Sache Bestand und Klarheit verliehen
werden soll und kann.
Zum andern ist es sehr bezeichnend, dass auch an diesem
Punkte, wo der erste Ansatz zu einer wissenschaftlich strengeren
und nüchterneren Auffassung vom Wesen des erkennenden Geistes
in Schillers Denken sich bemerkbar macht, dieser doch weder den
Mut des abbruchloseu Weiteraufbauens, noch die Kühnheit des Ver-
trauens in den letzten, realen Grund einer vernünftigen Gesetz-
mässigkeit verliert, die für ihn nach wie vor in der durchaus real-
absoluten Übereinstimmung von Natur und Geist verbürgt ist.
Wie wenig die Kantische Schulung au dieser prinzipiellen Stellung-
nahme zu den letzten Voraussetzungen seiner persönlichen Gewiss-
heit, zu den Problemen der Transscendenz ändern konnte, beweist
das späte Wort:
„Mit dem Genius steht die Natur in ewigem Bunde:
Was der eine verspricht, leistet die andre gewiss."
Und die diesen Zeilen vorausgehende Hyperbel spricht höchstens
noch energischer aus, was zuletzt „die Theosophie des Julius"
erklärt: „Einen ähnlichen Calcul macht die menschliche Vernunft,
wenn sie das Unsinnliche mit Hülfe des Sinnlichen ausmisst und
die Mathematik ihrer Schlüsse auf die verborgene Physik des
Übermenschlichen anwendet;" — beides will für den Dichter be-
sagen : Wenn der Genius die Mannigfaltigkeit im Ideal der Einheit
überwindet. In dieser Beleuchtung verharren Darstellung und Be-
Schiller als theoretischer Philosoph. 271
griff von diesem Geg-eiistande unverändert in Sdiillors Bewusst-
sein, so, wie auch er selber immer der Gleiche blieb. Mit dem
Bewusstsein, oder wenigstens mit dem instinktiv sicheren Gefühl
für die notwendige Immanenz aller theoretischen Erkenntnis, trat
Schiller an die Lektüre der Kantischeu Lehre heran. Und mit
dem gleich starken Lebensgefühl der künstlerischen Persönlichkeit,
und darum mit der felsenfesten Überzeugung von der notwendigen
Realität eines sinn- und zw^eckvoUen Substrats für alle künst-
lerischen Aufgaben unterzog er sich der weiteren, kritischen Er-
kenntnisarbeit. Ohne jene Voraussetzungen des sicheren Gefühls
wäre ihm diese unmöglich und widersinnig gewesen. Denn eine
Natur von Schillers Eigenart und Kraft konnte den Sinn ihres
Daseins, den sie so innig suchte, nie finden, wenn ihr mit dem
Glauben an die metaphysisch-realen, absoluten Werte der Kunst
der Glaube an sich selber hätte entzogen werden können.
„Die Künstler" fassen, indem sie zugleich den bis dahin
gediehenen, geistigen Entwickeluugsgang ihres Dichters wunderbar
harmonisch abschliessen und seine Resultate in prächtigen Worten
auskUngen lassen, das Beste seiner ganzen Jugendarbeit mit glück-
lichen Formeln zusammen. Die geschichtsphilosophischen Versuche
des jungen Mediziners, die Theosophie des Julius und die pathe-
tische Freundschaftsbegeisterung des erwachten Dramatikers fliessen
geläutert in Eins, in der Aufforderung an die Künstler:
„Wie sieben Regenbogenfarben
Zerrinnen in das weisse Licht,
So spielt in tausendfacher Klarheit
Bezaubernd um den trunknen Blick,
So fliesst in einen Bund der Wahrheit
In einen Strom des Lichts zurück!"
Mau pflegt den Beginn der zweiten, bedeutenderen Epoche
in Schillers philosophischem Entwickelungsgang zwischen die Jahre
1790 und 1791 zu legen. Es ist die Zeit, in der sich Schiller mit
der Lektüre der drei Kautischen Kritiken beschäftigt und mit der
Denk- und Redeweise der kritischen Philosophie vertraut gemacht
hat. Aber es ist sehr bezeichnend, dass die ersten Früchte aus
dieser Beschäftigung zunächst in Arbeiten rein ästhetischen Inhalts
bestanden. Die Verarbeitung und Wiedergabe der erkeuntnistheo-
^
272 F. A, Schniid,
rctiscluMi IvL'Sultate aus dein Studium Kants Hessen auf sich warten.
Erst der grössere Aufsatz „über Anmut und Würde' ') zeigt
wieder deutlichere Ansätze zu Erörterungen theoretischer Natur.
Und betrachtet man die spärlich einj^esprengten und stark mit
anders g-earteten Elementen durchsetzten Partien, die einen solchen
theoretischen Charakter tragen, näher, so erscheint ihre Verwandt-
schaft mit den Ergebnissen des „voikantischen Denkens" erstaun-
lich gross. Nur ein einziger Begriff, der bisher, zwar der ab-
sichtlich gewollten Interpretation jederzeit leicht erreichbar, doch
immerhin im Hintergrund, oder jedenfalls nicht in der ersten
Reihe des Interesses stand, tritt nun in den Vordeigrund, von
jetzt ab alle Gedankengänge beherrschend und bestimmend. Das
ist der in seiner neu geprägten Formulierung aus der Kritik der
praktischen Vernunft gewonnene Begriff der sittlichen Freiheit,
mit dem nun auch der Dramatiker und der epische Lyriker zu
wuchern beginnt.
Bisher hiess der metaphysisch-dogmatische Gegensatz: „Geist
und Natur"'. Von jetzt ab heisst er transscendental-kritisch : „Natur
und Freiheit".
Das Kantische Moment, das den Begriffswechsel an die im
übrigen kaum veränderte Sache herangetragen hat, ist leicht fest-
zustellen. Was in der Metaphysik, die sich Schiller auf der Karls-
schule zurechtgelegt hatte, und was späterhin das treibende Motiv
der Spekulation in der „Theosophie des Julius" war, w^as die
theoretische Vernunft zum praktischen Postulat hinauf geleitete,
das war der Wille zur Harmonie von Geist und Natur. Es war
mehr eine begeisterte Paraphrase, als eine sachliche Steigerung des
Inhalts dieses Ideals, wenn Schiller schliesslich diesen Willen zur
Harmonie als den Willen zur Gottheit bezeichnete. Insofern dieser
Wille nun bestimmend war für alle Erfahrbarkeit, war er absolut
und einer weiteren Begründung nicht zugänglich. Er war, weil
die Aufgabe da war.
Die Aufgabe ihrerseits war so notwendig, als das Dasein
selber, dem sie den Sinn gab. Als Daseinszweck fand sich die
harmonische Ineinssetzung von Geist und Natur durch die An-
strengung der vernünftigen Individuen, und die Summe ihres
Willens bestimmte sich gänzlich aus der Intensität des Strebens
nach diesem Ziel. Die parallel im System Kants angelegten Ten-
1) 1793.
Schillei- als theoretischer Philosoph. 273
denzeu siud deutlich, und Schiller niusste in der besseren, begriff-
lichen E'orniulierung, die er davon bei Kant antraf, das vorteil-
hafteste Mittel zur Klärung und neuen Anordnung seiner eigenen
Gedanken erkennen. Die von ihm in ihrer absoluten Notwendig-
keit begriffene Aufgabe ist das Sitteugesetz Kants. Der Wert
seiner Geltung entspricht dem Wert seiner idealen Wirklichkeit,
die erstrebt wird aus der Freiheit der Vernuuftwesen. In diesem
neuen Gewand bleibt doch der alte Gedanke der gleiche:
Der Mensch ist Geist und Natur in Einem, so sagte der
Verfasser der philosophischen ICxamensdissertation ; der Mensch
ist ein Bürger zweier Welten, so drückt sich der gereifte Denker
aus, der die Schule Kants durchgemacht hat.
Vormals war das der Sinn der Welt, dass die Geister sich
in der unendlichen Aufgabe zusammenfanden, durch Liebe zum
Übersinnlichen die Natur dem Geiste harmonisch zu verschmelzen.
Dann, wenn in der Harmonie der „zahlenlosen Geister*' „sterbend
untertauchen Mass und Zeit", ist der letzte Gegensatz geschwunden
und die Welt ist Gott.
Jetzt tritt als die höchste Wahrheit, die zugleich als höchster
Wert erstrebt werden soll, die Forderung der Verschmelzung von
Sinnlichkeit und Sittlichkeit in der Autonomie der „schönen Seele"
heraus, als das Ideal, das der kritischen Besonnenheit zwar nicht
mehr den metaphysischen, geeinten Makrokosmos ausdrücklich
verspricht, wohl aber ästhetisch sozusagen durchscheinen lässt.
Wesentlich ist, dass vormals ein Teil der Liebe wenigstens,
die glückselig macht, dem jungen Philosophen als zeitlich-sinnlich
durchaus erreichbar galt. Zeitlich-sinnlich erreichbar bleibt näm-
lich auch jetzt, und nach wie vor, trotz Kant, für Schiller die
Autonomie in den teilweiseu Äusserungen einer schönen Seele.
Die Schönheit des Charakters, die reifste Frucht aus der
Vereinigung der beiden Ideen : Humanität und Individualität, kann
mit dem Antagonismus der sinnlich-sittlichen Kräfte in der Zeit
wenigstens unter gewissen Bedingungen bestehen : In der Gabe
der Anmut besitzt der Mensch das Mittel zu einer glücklichen
und zwanglosen Harmonisierung der natürlichen Gegensätze seines
Wesens; in der Würde besitzt er das Vermögen der Kraft, den
autonomen Willen zum freien Beherrscher der Natur zu erheben.
Dauernder und eigentlicher Friede ist freilich in keinem der
beiden Zustände. Dieser Friede bleibt Vernunftideal, das zwar
menschlich- wirklich im Phänomen des freien Willens angelegt er-
274 F. A. Schraid,
scheint, dag-egeu im Bereich der Siimeuwelt niemals ^auz erreicht
werden kann. Anf diese Weise ist auch zugleich mit der neuen
Erkenntnisbestimmung, die das Denken lehrt, theoretische Deduk-
tion und praktisches Wirken zu unterscheiden, auch das Verhält-
nis der theoretischen und praktischen Gesetze unter einander fest-
gelegt: Wo beide zusammenstimmen, da ist das Gute.
Aus diesen formal durchaus Kantischen Grundlagen ent-
wickeln sich nun in vielfach klareren und systematischeren Um-
rissen die erkenntnistheoretischeu Gedanken Schillers auch metho-
disch originell. Metaphysik und P^rkeuntnistheorie sind Pole in
seinem Denken geworden. Ihre unkritische Verquickung hat auf-
gehört. Sie kommen einander auf wohl überlegtem Wege ent-
gegen und vereinigen sich erst zuletzt und an der rechten Stelle
im System.
Von hier aus tritt Schillers Intellektualität und Moralität
erst in die rechte, energisch persönliche Beherrschtheit, die sein
ganzes Wesen so eigentümlich auszeichnet, dass sie im Bewusst-
sein unserer Tage eine geradezu typische Bedeutung gewon-
nen hat.
Wer darum Schillers Persönlichkeit ganz begriffen hat, der
versteht auch seine Philosophie aus dem Grunde, in allen ihren
Abzweigungen. Denn zuletzt ist es doch seine tiefste Natur, die
des Künstlers, die die Welt ihrer poetischen Schöpfungen selber
begreifen möchte. Dazu ist notwendig, dass sie zuerst ihre
eigenen, organischen Gesetze verstehe, und darum wird Schiller,
wo er diesen Dingen nachgeht, zum Ästhetiker, zum Ästhetiker
vor allem andern. Die Lust an der Erforschung der Gesetze
bringt es von selber mit sich, dass der zur Erkenntnis dienende,
gesetzmässige Apparat, der jene Gesetze formulieren hilft, in den
Kreis des kritischen Interesses tritt, und so wird Schiller zum
theoretischen Pilosophen. Die Frage nach dem wirkenden Wesen
der Erkenntnis schliesst sich aber unmittelbar an ihren theore-
tischen Besitz, weshalb, zumal bei so stark praktisch betonten
Grundzügen des Charakters, Schillers Beschäftigung mit Ethik und
wohl auch mit Politik nicht ausbleiben konnte. Endlich treibt
den Geist, der so entschieden, wie der Schillers, die harmonische
Abrundung der festen Weltanschauung sucht, der Zusammenhang
aller Probleme mit Notwendigkeit in das Problem ihrer absoluten
Begründung, und darum ist Schiller zuletzt auch Metaphysiker,
soweit es ein Mensch wohl sein muss, der zu seiner Erfahrungs-
Schiller als theoretischer Philosoph. 275
erkeuutnis eine auch noch so bescheidene Parallele höherer Ord-
nung- finden will.
Darum, weil Schiller Dichter, und zuerst Dichter ist, darum
ist er Philosoph; oder weuig-stens der Philosoph, der er ist.
Die kritische und methodische Besonnenheit, die von jetzt
ab das Denken Schillers durch alle Stadien der Untersuchung be-
gleitet, hatte übrigens gleichfalls in den künstlerischen Einsichten
der vorausgegangenen Epoche schon ihre Vorläufer, „Die Künstler"
haben es gezeigt, dass die Not den Menschen viel früher klug
und geistig regsam machte, als die Reflexion; ihnen rief
Schiller zu:
„Dem prangenden, dem heitern Geiste,
Der die Notwendigkeit mit Grazie umzogen,
Der seinen Äther, seinen Sternenbogen
Mit Anmut uns bedienen heisst.
Dem grossen Künstler ahmt ihr nach."
Doch ist die Höhe der geistigen Entfaltung, die durch die naive
Übung der Kunst ermöglicht scheint, für uns, als schon entwickelte
Vernunftwesen, im Augenblick der beginnenden, theoretischen Re-
flexion nur ein geschenkter oder ererbter, kein erworbener Besitz.
Darum muss der schon zurückgelegte Weg noch einmal von An-
fang an, aber mit Bewusstheit und Freiheit gegangen werden.
Denn „eben das macht ihn zum ]\[euschen, dass er bei dem nicht
stille steht, was die blosse Natur aus ihm machte, sondern die
Fähigkeit besitzt, die Schritte, w^elche jene mit ihm antizipierte,
durch Vernunft wieder rückwärts zu thun, das Werk der Not in
ein Werk seiner freien Wahl umzuschaffeu." i)
Jener ,.Weg der Not" eröffnet eine lehrreiche Perspektive
auf die Entwickelungsgeschichte des spekulativen Vermögens;
dieser „Weg der freien Vernunft" zeigt seine a priori giltige
Struktur.
Der Fortschritt in der Untersuchung geschieht nun zunächst
in durchaus ähnlicher Weise, wie es mit gewissen Teilen der
frühesten Argumentation des jungen Denkers, der die theoso-
phischen Briefe schrieb, der Fall war. Der vielleicht nicht ganz
äusserlich zufällige Umstand kommt hinzu, dass, wie damals, so
auch jetzt die neuen Resultate der philosophischen Erkenntnisarbeit
ihre Darstellung in der Form von Briefen finden. Diesmal sind
1) Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Dritter Brief.
276 F. A. Schmid,
es die Briefe an den Herzog- vuii Augiisteiibiirg, die deu luiupt-
sächiichsteu Gehalt seiner neu befestigten Theorien wiedergeben.
Der methodische Fortgang ist in kurzem so: Die Vernunft
hat die Gesetze des Denkens zu finden und aufzustellen; diese
Thätigkeit der Vernunft, das Inkrafttreten ihrer theoretischen
Funktionen als solcher, stellt einen Willensakt dar. Die Be-
dingung zur theoretischen Erkenntnisthat ist also ein praktisches
Verhalten der Vernunft. Beide Äusserungsarten der Vernunft-
funktionen fordern sich gegenseitig und durchaus reziprok. Hier
ist der Einfluss, den Fichte inzwischen auf Schiller mit der dia-
lektischen Methode seiner Wissenschaftslehre gewonnen hat, unver-
kennbar, ebenso, wie späterhin Fichtes Einfluss auf Schillers
nioral- und staatsphilosophische Anschauungen stark zur Geltung
gelangt. Jedoch darf man sich darauf besinnen, dass auch der
Eleve der Karlsschule schon vor dem Problem dieses Wechselver-
hältnisses von theoretischem und vou praktischem Verhalten ge-
standen hatte. Der Unterschied ist nur, dass jetzt, in den Briefen
an den Herzog, das Dilemma zum Bewusstsein gebracht und zu-
gleich erheblich schärfer formuliert und herausgehoben ist. Thesis
und Antithesis des Theoretischen und des Praktischen lassen sich
nicht zugunsten eines Primates umgehen. Sie müssen vielmehr,
falls ein weiterer Fortschritt in der methodischen Erkenntnis ge-
schehen soll, aufgehoben werden iu einer höheren Synthese. Eine
solche höhere Einheit findet sich analog der Synthese Fichtes.
Diese Einheit muss wieder ein Vermögen darstellen, und zwar ein
Vermögen, das form- und stoffgebendes Prinzip in sich befasst,
derart, dass die Forderung des Primates, wie ihn der antithetische
Grundsatz einzuführen schien, hinfällig werden kann. Dies Ver-
mögen zu suchen ist die nächste Aufgabe.
Nun ist bekannt, wo bei Schiller der nicht weiter ableitbare
Rest, der nicht weiter reduzierbare, eiserne Bestand seiner Philo-
sophie zu tage tritt. Das ist in der unmittelbaren Gewissheit,
mit der die Persönlichkeit sich selber als einen positiven und ge-
schlossenen W^rt weiss und hat. Zu ihr führt jede Abstraktion
zurück. In der Persönlichkeit ist denn in der That auch die Ein-
heit von theoretischem und praktischem Verhalten gegeben. Das
iutelligible Ich ist theoretisch und praktisch ,.in einem Schlage"'.
Aber ein letzter und höchster Gegensatz bleibt auch im Be-
griff der Persönlichkeit bestehen. Die Synthese nimmt die anti-
thetische Dialektik noch einmal auf. Es bleibt nämlich iu ihr der
Schiller als theoretischer Philosoph, 277
Geg-ensatz des Wechsels und des Beharrens, die Antithese von
Wesen und Zustand, Ich und Aufgabe.
Das Ich beruht allein auf sich selber, da es „ausserhalb
seiner Gesetztheit Nichts ist".
Es wäre leicht, in der Terminologie Fichtes hier die ganze
Erkeuntnislehre Schilleis mit wenigen Schlagworten abzuwickeln,
wenn jene Terminologie geeignet wäre, die Klarheit der Darstel-
lung zu erhöhen.
Das „schlechthinige Beruhen" der Persönlichkeit in sich
selber ist ausgedi'iickt in der Idee der Freiheit. Zuständlichkeit
hingegen ist nur in der Zeit und in der Notwendigkeit des natür-
lichen Zusammenhangs und Ablaufs. Nun erscheint aber der
Mensch in einem Zustand, das heisst in die Sinnlichkeit gestellt,
also, mit Rücksicht auf die reinen Daseinsbedingungen seiner in-
telligiblen Persönlichkeit, in eine Aufgabe. Und zwar soll er sich
dieser Aufgabe gewachsen fühlen gerade kraft seiner Freiheit,
deren absolute Realisation es gilt. Darum ist es notwendig, den
Menschen als frei und als unfrei zugleich, als Intelligenz und als
Sinnenwesen aufzufassen.
In seinem Wesen als Intelligenz, oder als freie Persönlichkeit,
ist die formale Bedingung zur unendlichen Äusserung, die Ten-
denz zur absoluten Formalität, angelegt; insofern er in der
räumlich-zeitlichen Welt seine Aufgaben vorfindet, wirkt er sinn-
lich, das heisst material bedingt, und formverwirklichend mit der
Tendenz zur absoluten Realität. Beide Tendenzen, in ihrer
Einheit und Vollkommenheit gedacht, führen zur spekulativen Idee
der Gottheit. So findet sich die Gottes-Idee in der methodischen
Erkenntnistheorie als ein regulatives Prinzip, ganz im Sinne Kants
und seiner theoretischen Vernunftkritik.
Indessen äussert sich im endlichen Menschen die Doppelnatur
seines Wesens triebartig. Insofern der Mensch dem Bereich der
sinnlichen Erscheinungswelt angehört, wirkt sein Wille, durch
Empfindung, als sinnlicher Trieb. Insofern der Mensch der
intelligiblen Welt teilhaftig ist, wirkt in ihm der Wille als freier
Fornitrieb.
Der sinnliche Trieb geht auf das Zufällige, auf das hier und
dort; er schafft Einzelfälle und hindert die Vollkommenheit, die
soviel ist, wie Einheit.
278 V. A. Schmid,
Der Formtrieb ist Äusserung- der reinen Persönlichkeit, also
zeitlos. Er formuliert das Gesetzliche und schafft so die Not-
wendigkeit.
Der g-emeinsamen und wechselseitigen Wirksamkeit beider
Triebe im Gefühls- und Vernunftvermögen liegt die Aufgabe des
Menschen zugrunde:
Aus dem sinnlichen Trieb die Welt zu ergreifen, aus dem
Form trieb heraus sie zu begreifen, gleich weit entfernt von Sen-
sualismus und von Rationalismus der Betrachtungsweise. Nur in-
sofern der Mensch in jener Wechselwirkung seiner Grundtriebe,
sich, indem er durch sie „schrankensetzend" wirkt, als ein „durch
Schranken gesetztes" Individualwesen erkennt, kann er sich gleich-
zeitig begreifen als „Ich" und als „Nicht-Ich'' — so würde Fichte
sagen; nur so begreift er sich zugleich als Subjekt und als Objekt
seiner Aufgabe — so sagt Schiller. Dieses Sichselbstverstehen
kann erst dort eintreten, wo das formale Vermögen sich am ge-
formten Stoff durch die Kraft der lebendigen Gestalt erweist, und
wo zugleich das dem sinnlichen Trieb Entrungene sich als ge-
staltetes Leben offenbart; wo der Stoff nicht zufällig seine
Form, und die Form sich am Stoff nicht notwendig zeigt, das
heisst also, nur in einem Akte spontaner Freiheit.^)
Hier ist nun jenes dritte Vermögen gefunden, das die These
und die Antithese des bloss subjektiven und des bloss objektiven
Verhaltens in einer vollkommenen Synthesis aufnimmt. Das for-
male Vermögen ist im Forintrieb, das praktische Vermögen im
sinnlichen Trieb begriffen; wir begreifen das vermittelnde Ver-
mögen im Spieltrieb. Damit ist die Lösung des erkenntnis-
theoretischen Grundproblems gefunden, das für Schiller in der
Frage formuliert war: Wie ist der Dualismus von Natur und Frei-
heit in der einheitlich gefassten Persönlichkeit zu verstehen und
zu überwinden?
Die Persönlichkeit des Menschen steht zwischen moralischer
Freiheit und sinnlicher Unfreiheit. „Zwischen den physischen oder
sinnlichen Zustand des Gemüts, in welchem der Mensch die Macht
der Natur bloss erleidet, und den moralischen, in welchem er sie
beherrscht, tritt dieser ästhetische Zustand in die Mitte. Es
ist der Zustand der schönen Seele, für welche der Gegensatz
zwischen Notwendigkeit und Freiheit, Sinnlichkeit und Vernunft,
1) Vgl. den 15. Brief der „ästhetischen Erziehung".
Schiller als theoretischer Philosoph. 279
Natur und Sittlichkeit seinen Stachel verloren hat, weil sie ge-
wöhnt ist, in dem geg-ebeuen Stoffe der Erfahrung die Idee zu
sehen, uud, was mehr in ihrer Gewalt ist, sich gewöhnt hat, als
Natur edler zu begehren, damit sie nicht nötig hat, als Wille er-
habener zu wollen;" mit diesen Worten beschreibt Lotze treffend
den zentralen Standpunkt in der Betrachtungsweise Schillers. ^)
Die dualistische Kluft wird durch die ästhetische Freiheit über-
wunden, die aus dem Spieltrieb kommt. So führt der Weg vom
sinnlichen Empfinden im passiven Affekt durch die ästhetische
Freiheit zur sittlich-freien, aktiven Äusserung. Die ästhetische
Kultur trägt das Ideal der Harmonie, die den Menschen erst zum
Menschen macht, seiner Vollendung entgegen durch die Ausbildung
jener Humanität, die unsere höchste Aufgabe ist. In der Kunst
ist somit der Widerspruch überwunden, in den für sich allein
theoretisches und praktisches Vermögen geraten müssten.
Im Einzelnen die Folgerungen aus diesem Sachverhalt zu
ziehen, ist Sache der kritischen Ästhetik. Ihre Ergebnisse ge-
statten indessen hie und da einige erläuternde Einblicke in das
Wesen und in die Methode des reinen Erkennens. Reines Er-
kennen hat mit dem, was etwa aus teleologischen Absichten aus
ihm abgeleitet werden kann, selber nichts zu thun. Dies weiss
Schiller, und das ist für ihn um so bedeutsamer, als in seinen
Händen die theoretische x\rbeit keineswegs von solcher Teleologie
frei ist. Sie soll ihn zum Wesen der Schönheit hindurchführen.
Eben deshalb darf also im Erkennen selber ein ästhetischer Reiz
nicht liegen. Die Methode muss rein logisch sein. Wo ihre
Deduktion ästhetisch wirken will, da läuft sie Gefahr, zu entgleisen
und wertlos zu werden. Deshalb betritt Schiller das im Gleich-
gewicht der ästhetischen Freiheit schwebende Reich der produk-
tiven Einbildungskraft, des Spieltriebs, mit methodisch gesicherten
Grundsätzen, und darum fühlt sich hier, wo die eigentlichen Inter-
essen seines Geistes wurzeln, Schillers dialektisches Vermögen am
meisten zu Hause und mit allen Begriffen vertraut. Es ist natür-
lich, dass seine Erkenntnistheorie von hier aus, wenn überhaupt,
die metaphysische Zuspitzung gewinnen musste.
Das Resultat aus der Erkenntnistheorie ist die Zweiwelten-
stellung des Menschen, mit der damit verbundeneu Zerrissenheit
seines Wesens, die durch die ästhetische Freiheit des Spieltriebs
1) Vgl. H. Lotze, Geschichte der Ästhetik in Deutschland. S. 366 f.
280 F. A. Schmid,
nur imvollkommeii aufg-ehoben und mehr bloss gemildert, als über-
wunden werden kann, insofern der Spieltrieb nach Umfang" und
Qualität seiner Äusserung beschränkt und stark intermittierend ist.
Es lässt sich voraussehen, dass, wie überall in Schillers
Denken, so auch hier in den Anschauung-en seiner vorkantischen
Epoche zum voraus ang'elegt gefunden werden kann, was später
dem gebildeten Kantianer des Versuches der transscendenten
Spekulation wert scheinen mochte.
Den .Spieltrieb in Permanenz zu erklären, und auf diese Art
das Ideal der harmonischen Einheit zu schaffen, konnte ihm nicht
beifalleu. Nach ihm hat es F. v. Schlegel damit wohl vorsucht,
und die Romantik blieb in dieser ironischen Aufgabe stecken, die
sich notwendig selbst bald ironisieren musste. Auch darin geht
Lotze^) schon zu weit, wenn er Schillers Lehre von der „Bestimm-
barkeit und Selbstbestimmung, als den beiden Grundzügen unseres
geistigen Wesens" so auf ihn selber einwirkend darstellt, dass
„ihm ästhetische Stimnumg immer mehr zu dem Selbstgenuss eines
Gemütszustandes wird, dessen ganze Weihe ebenfalls nur in dem
Formalen des Gleichgewichts jener beiden besteht", und wenn er
daraus Schiller direkt für die Entwickelung des i-omantischen
Ironiebegriffs verantwortlich macht.
Das Schwergewicht der ganzen Argumentation ruhte bei
Schiller, auch in den Fragen der reinen Ästhetik, zu sehr auf der
Basis der moralischen Freiheit, als dass er in dem Ausgleich
zwischen Natur und Freiheit durch den Spieltrieb mehr hätte er-
blicken können, als eine blosse Hülfskonstruktion. Ihre Verab-
solutierung im romantischen Ideal erscheint dagegen als die voll-
endete Karrikatur.
In Wahrheit liegt das Ideal für Schiller wo ganz anders.
Wo, das lehrt „die Theosophie des Julius". Dort ist „Gott die
unendlich geteilte Natur, die Natur der unendlich geteilte Gott".
In der Sprache Kants und Fichtes lautet der Satz: Sein und
Wechsel, Person und Zustand geben in ihrer Summe erst die
wahre Realität: Das absolute Ich in seiner absoluten Selbstbestim-
mung. Der Spinozismus, der sich, wenn mau will, aus der „Theo-
sophie des Julius" prinzipiell herauslesen lässt, kommt in der
neuen Formulierung des Gedankens eigentümlich zum Ausdruck.
Er erscheint in seiner typischen Verschmelzung mit der Transscen-
1) Vgl. ebenda, S. 366 und 368 ff.
Schiller als theoretischer Philosoph. 2ol
dentalphilosopliie, wie er sie in der deutschen, nachkantischen
Spekulation überall dort erlebt hat, wo diese metaphysisch inter-
essiert war. Dadurch wird die Verwandtschaft des Schillerschen
Gedankens mit gTOSsen Bestandteilen der Philosophie Fichtes für
den Historiker der Philosophie bemerkenswert.
Beharren und Wechsel macheu, in theoretischer Hinsicht, die
Einheit der Erscheinung- aus. Sie besagen die Notwendigkeit des
Wirklichen, oder die Wirklichkeit aller Möglichkeiten im theoretisch
Absoluten, Es ist die Gottheit, als regulatives Prinzip der voll-
endeten Erkenntnis; als konstitutives Prinzip des Handelns ist es
für den Menschen die ideale Harmonie der Persönlichkeit, die in
der Welt, in der wir leben, zur unendlichen Aufgabe wird. Da
dies Ideal auf Harmonie geht, also jeden Primat der Kräfte aus-
schliesst, kann Schiller die Schönheit, die ihrem Wesen nach nichts
anderes ist, als der Versuch jener Harmonie, „die zweite Schöpferin
des Menschen" nennen. Deshalb, weil sie ihn zu seiner wahren
Bestimmung, zum Ideal vollkommenen Menschentums, erweckt.
Aber die von hier aus nahe liegende Entwickelung der Speku-
lation zu einer das ganze Gebiet der Wirklichkeit systematisch
uraspaunenden und begründenden Metaphysik des Schönen bleibt
in diesen ersten Anfängen schon stecken. Einmal mochte sich
Schiller wohl darauf besinnen, dass die Schönheit der Kunst, die
jene unendliche Aufgabe ihrer Verwirklichung entgegenführen
soll, doch nur im Bereich strenger, spekulativer Immanenz ihren
spezifischen Wert zu behaupten vermag; und zum andern empfand
er wohl mehr instinktiv, als aus streng kritischem Bewusstsein,
die Unmöglichkeit, etwa in den neospinozistischen Konsequenzen,
so sehr sie ihm auch durch Goethes Freundschaft und die
zeitgenössische Philosophie nahegelegt schienen, für seine Phi-
losophie der Persönlichkeit den rechten Ankergrund finden zu
können. Und dieser Umstand, verbunden mit dem weiteren Moment,
dass für Schiller das philosophische Interesse, und damit auch die
philosophische Arbeit mit der begrifflichen Herausarbeituug der
Schönheitslehre imgrunde erschöpft war, macht es durchaus be-
greiflich, dass sich Schiller um eine methodisch entwickelte und
ausgeführte Metaphysik niemals bemüht hat. Sein Dichtertum,
im weitesten Sinne dieses Wortes, philosophisch zu erfassen, den
Sinn seines eigenen, auf das Höchste ihn hinweisenden Mikrokos-
mos in den grossen Kosmos der Welt begrifflich einzuordnen, das
war seine Aufgabe; seine Metaphysik war seine Kunst in ihrer
Kantstudien X. ig
282 F. A. Schmid,
unmittelbaren Betätigung. Darüber hinaus benügte er sich, prak-
tisch wohl ebenso sehr, als begrifflich, mit Andeutungen. In der
That ist zum Beispiel auch aus seinen wenigen und zerstreuten
Bemerkungen über die Religion und ihr Wesen kaum mehr zu
entnehmen, als ein allgemeiner Eindruck von der Art seines Ur-
teils über solche und verwandte Gegenstände. Wo aber solche
Bemerkungen inhaltlich greifbar hervortreten, da zeigen sie Schiller
auf der einen Seite als ächten Sohn des Zeitalters der Aufklärung
und auf der anderen Seite als den in dieser Rücksicht kaum
anders, als dilettantischen Schüler Kants. Wenn Schiller in der
Abhandlung „über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten"
die Religion gelegenthch die Paroxysmusfessel des natürlichen
Menschen, an einer anderen Stelle die Unsterblichkeit das Ideal
der Begierde nennt, so stehen diese Äusserungen einer kapriziös
einseitigen Hervoi'kehruug gewisser, allerdings grundlegender Ten-
denzen in seiner Weltanschauung vielen anderen Stellen, nament-
lich seiner poetischen Bekenntnisse, nur scheinbar entgegen. Ihr
Für und Wider ist imgrunde an dem Geiste des Distichons zu
messen, dessen spezifischer Wert, im Umkreis der hierher ge-
hörigen Ideen, durchaus der eigentümlichen Geistesart Schillers
entspricht :
„Welche Religion ich bekenne? Kerne von allen,
Die du mir nennst — und warum keine? — Aus Religion."
Im Effekt werden sich alle diese Äusserungen dahin berichtigen,
dass dem erkenntnissuchenden, gereiften Geiste Schillers
der Kantisch-Fichtesche Standpunkt der strengen, transscenden-
talen Immanenz angemessen erschien; seinem praktischen Be-
dürfnis aber, soweit es philosophischer Natur war, das Leben im
Reich der moralischen Freiheit, soweit es hingegen unmittel-
bar vvillensmässiger Natur, Bedürfnis seines lebendigen Wirken-
woUens war, die Religion der Schönheit im eminentesten
Sinn entsprach. Dies Wirken in der lebendig erkannten und auf-
genommenen, unendlichen Aufgabe des Dichters erfüllte sein
Leben ganz und machte ihm am Ende die systematische Konsti-
tuierung einer metaphysischen Wertgruppe, in der gedanklich
durchgearbeiteten Bestimmtheit der dogmatischen Formel, durchaus
überflüssig.
Schiller als theoretischer Philosoph. 283
4.
Die Resultate dieser Betrachtung zeigen, dass gegenüber der
individuellen Klarheit der Gedanken, wie sie Schiller im Laufe
seines Lebens entwickelt und herausgearbeitet hat, eine eigenthche,
dialektische Kritik kaum zulässig ist. Denn soweit sich eine
solche Kritik auf Schülers Erkenntnistheorie bezöge, würde sie
mehr auf die Kritik anderer, philosophischer Systeme hinauslaufen;
soweit sie aber auf Schillers Art der Assimilation oder auf
Schillers Metaphysik ginge, müsste sie zu einer Kritik seiner Per-
sönhchkeit werden. Es könnte jedoch daraus mit gutem Sinn
nicht viel zu machen sein, denn eine Persönlichkeit soll verstanden
und nicht kritisiert werden, zumal wenn sie uns als eine einmalige
Erscheinung in solcher Grösse entgegentritt, wie die Persönüchkeit
Schillers. Aus ihrem Verstehen ist ungleich mehr zu lernen und
Wertvolles für uns zu schöpfen, als aus ihrer Kritik.
Mit einem Hauptproblem ist Schillers theoretische Energie
lebenslänglich beschäftigt gewesen. Es ist sein Problem: Wie
kommt die Kunst in die Welt? Wer ist das Mädchen aus der
Fremde? Was ist sein verborgenes Wesen, seine wunderbare
Herkunft, der geheime Sinn seines Daseins? Diese Fragen beant-
worten sich nicht dort, wo sie entstanden sind, im Bereich des
naiven Erlebens. Denn sie enthalten für die Sinnlichkeit irratio-
nale Bestandteile. Sie wollen begrifflich durchforscht, kritisch
verstanden sein.
Der naive Theoretiker ist zugleich stets auch Metaphysiker.
Darum schreibt der junge Schiller „die Theosophie des Julius".
Der naiven Methode des Erkennens, wie sie dort geübt wird, steht
die Grundfrage der naiven Skepsis, das Problem der universalen
Giltigkeit unserer „Planetenvernunft" gegenüber.
An diesem Gegensatz ist Schiller für Kant reif geworden.
Die methodische und begriffliche Schule, die er hier durch-
macht, lassen ihn erkennen, dass die Wege der Erkenntnistheorie
und der Metaphysik unterschieden werden müssen und zu getrennten
Zielen führen.
Auf die dialektische Ausmessung der immanenten Erkenntnis
gegründet, ergiebt sich nun bald das sittlich-ästhetische Resultat,
das die ganze Welt der Erfahrbarkeit -hinreichend beleuchtet.
Darüber hinaus winkt zwar die metaphysische Spekulation und
zeigt verhüllt neue Probleme, Aber Schiller hat keine Lust,
sich ihretwegen aufs neue heiss zu bemühen. Es fehlt das innerste,
19*
284 F. A. Schmid,
treibende Interesse. Denn im Bereich jener Metaphysik würde
wieder zum ästhetischen Schein, was an dem Punkte g-erade, auf
dem Schiller steht, lebendiges Wirken und praktische Aufgabe
ist. Und Schillers Motiv und Ziel zugleich, durch alle Anstreng-
ungen seines Denkens hindurch, ist es doch nur, eben diese Auf-
gabe recht zu begreifen. In ihr ist seine Persönlichkeit mit der
ganzen Kraft ihrer grossen Einheit beschlossen.
Wo Schiller eine weitere Erläuterung der ausserpersönhchen
Existenz des Menschen, etwa in metaphysischem Sinne, versucht,
da thut er es stets in der ihm angemessenen Sprache des poetisch
schönen Bildes, ohne Anspruch auf spekulative, geschweige denn
begriffliche Bündigkeit. So angeschaut, zeigt sich der Fortschritt
vom unkritisch der Skepsis zuneigenden Metaphysiker, wie er
noch in der „Resignation" das Wort führt, zum kritisch geklärten
Seher im Reich der sittlichen Freiheit und Schönheit, deutlich in
dem Dichter von „Ideal und Leben".
„Geniesse, wer nicht glauben kann! Die Lehre
Ist ewig, wie die Welt. Wer glauben kann, entbehre!"
So lautet in der Resignation des Zweiflers die immerhin äusserst
problematische Alternative. Und dass es dem Dichter mit dieser
Alternative innerlich durchaus ernst war, darf heute wohl kaum
mehr in Frage gezogen werden. *)
Zehn Jahre später ist die schmerzlich erlebte Kluft der
schroffen Gegensätze des Lebens zwar nicht beseitigt, aber im
Sieg des hohen Ideals der Kunst überwunden:
„Nur der Körper eignet jenen Mächten,
Die das dunkle Schicksal flechten ;
Aber frei von jeder Zeitgewalt,
Die Gespielin seliger Naturen,
Wandelt oben in des Lichtes Fluren
Göttlich unter Göttern die Gestalt.
Wollt ihr hoch auf ihren Flügeln schweben,
Werft die Angst des Irdischen von euch!
Fliehet aus dem engen, dumpfen Leben
In der Schönheit Schattenreich!" 2)
1) Vgl. Minor, Schiller II, S. 333—353.
2j Dies die Lesart der Hören vom Jahre 1795. (Erster Druck des
Gedichtes.) Die spätere Wendung: „In des Ideales Reich" mag poetisch
berechtigter scheinen. Die Klarheit des Gedankens wird durch sie nicht
gefördert.
Schiller als theoretischer Philosoph. 285
Es ist eine gewissheitsfeste, kategorische Forderung an den
intelligiblen Charakter, an die Gesamtpersönlichkeit des Menschen
in ihrem höchsten Eigenwert, die sich hier ausspricht. Die har-
monische Würde des hohen Zieles genügt völlig, um auch das
reichste Leben zu füllen.
Zwischen den Gegensätzen dieser beiden, poetischen Glaubens-
bekenntnisse bewegt sich die Linie der gesamten spekulativen
Geistesentwickeluug Schillers. Diese Gegensätze in ihrem Wider-
streben und in ihrem Ausgleich verfolgen, die Übergänge kon-
struieren und die Ansatzpunkte heraussuchen, von denen aus ihre
Versöhnung möglich wird, heisst Schillers Entwickelungsgang
historisch folgen und ihn begreifen lernen; in beiden Bekennt-
nissen aber den gemeinsamen Grundgedanken erkennen und den
tiefen Drang nach harmonischer Vollendung des Lebens und seiner
höchsten Inhalte spüren, der mächtig alle Kräfte des Erkennens
und des Willens spannt, das heisst Schiller als Persönlichkeit
erfassen, wie sie als eine That der Freiheit vor uns steht.
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung.
Schillers philosophischer Einfluss auf Goethe.
Von Jonas Cohn.
Nicht selten bestimmt man Schillers Bedeutung in der Ge-
schichte des deutschen Denkens dadurch, dass man ihn als den
Vermittler zwischen den scheinbar durch eine Welt getrennten
Ideen Goethes und Kants bezeichnet. Man pflegt dabei im Auge
zu haben, dass er in seiner Person Kants und Goethes Denkweise
zu origineller Einheit verbindet. Aber noch in einem anderen
Sinne war er Vermittler. Er gab Goethe in der für ihn einzig
möglichen Form, was dem Dichter von Kant förderlich werden
konnte. Wenn man das Verhältnis Goethes zur Kantischen Philo-
sophie richtig verstehen will, muss man stets des Freundes ge-
denken, der Goethe an die Grenzen des fremden Gebietes führte
und ihm dessen unverständliche Sprache verdolmetschte.
Die herkömmliche Darstellung macht Goethe bis heute gern
zum Spinozisten, oder bekauptet doch, Spinoza sei der einzige
Philosoph gewesen, der auf Goethe entschiedeneren Einfluss hatte. i)
Wirkliche Kenner haben dem gegenüber schon lange Kants Ein-
fluss betont.-) In neuerer Zeit hat Otto Harnack"^) sich das
entschiedene Verdienst erworben, Kants Bedeutung für Goethe in
1) So — um nur eine neuere Darstellung: zu nennen: Bielschowsky,
Goethe, Bd. 11, Kap. 4. Auch Theobald Ziegler pflichtet ihm in d. Anni.
zu S. 92 (S. 689) darin gegen Vorländer und Harnack hei.
'^) Hier ist bes. Karl Rosenkranz zu erwähnen, der „Goethe und
seine Werke", Königsberg 1847 S. 83, sagt: „die zweite Assimilation einer
Philosophie, welche Goethe machte, war die der Kantischen" . . . „in
seinen Briefen mit Schiller, der ihn recht eigentlich in das tiefere Ver-
ständnis Kants einführte, während Niethammer ihm die Terminologie ge-
läufig machte, spielte das Zurtickgehen auf Kant eine grosse Rolle."
3) Goethe in der Epoche seiner Vollendung. 1. Aufl. Leipzig 1887.
XXXIII ff., 2. Aufl. Leipzig 1901. 22 ff.
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 287
der Epoche seiner VoUondnng energisch hervorzuheben und Karl
Vorland er 1) hat in dankenswertester Weise alle Daten, die
Goethes Kantstudien und Kauturteile betreffen, zusammengestellt.
Aber noch fehlt, soviel ich sehe, der Nachweis dessen, was nun
eigentlich Goethe sich von Kant angeeignet hat. Umfang und
Inhalt dieses Gewinnes darzustellen ist Aufgabe der folgenden
Arbeit. 2)
Wenn man, wie es zu diesem Zwecke nötig ist, zwischen
Wesentlichem und Unwesentlichem scheidet, so entdeckt mau, dass
alle wesentlichen Richtungen des Einflusses auf Schiller weisen.
Einige äussere Daten könnten das zweifelhaft erscheinen lassen.
Wir wissen, dass Goethe im März 1791 sich die Überschriften der
Paragi-aphen aus der Kritik der reinen Vernunft abschrieb. Körner
berichtet am 6. September 1790 an Schiller, dass er mit Goethe
bei dessen Besuch in Dresden die meisten Berührungspunkte im
Kant gefunden habe. In der Kritik der teleologischen Urteilskraft
habe Goethe Nahrung für seine Philosophie gefunden. So inter-
essant diese und ähnliche Notizen für Goethes allseitige Aufmerk-
samkeit sind, so wenig bedeuten sie für seine geistige Entwicke-
lung. Bei seinem expansiven Geiste kam er in mindestens ober-
flächliche Berührung fast mit allem, was seine Zeitgenossen
bewegte. Daher will es nicht viel sagen, dass Goethe die Kritik
der reinen Vernunft zu leseu wenigstens versucht hat. Wichtiger
pflegt man seine Beschäftigung mit der Kritik der teleologischen
Urteilskraft zu nehmen, und sicher vermochte der Natui^orscher
Goethe dieser Schrift mehr abzugewinnen. Indessen regt ihn Kant
hier kaum zum Fortbilden seiner Gedanken au, bestätigt ihm viel-
mehr längst vertraute Denkweisen. Kants Kampf gegen die falsche
und oberflächliche Vorstellung der Zweckmässigkeit aller Wesen
1) Goethes Verhältnis zu Kant in seiner historischen Entwickelung.
Kantstudien I u. IL 1897 u. 1898 — Siebeck: Goethe als Denker, Stutt-
gart 1902 bespricht, S. :}2 ff. Goethes Verhältnis zu Kant inbezug auf die
Erkenntnislehre. Georg Simmel: Kant und Goethe, Beilage zur Allge-
meinen Zeitung 3., 5. und 6. Juni 1899, hat den tiefen Gegensatz zwischen
Kants und Goethes Geistesart dargestellt. Mit den Ergebnissen dieser
bedeutenden Arbeit, der ich viel verdanke, verträgt sich ein Einfluss Kants
auf Goethe, wie ich ihn verstehe, durchaus.
2j Es soll hier das gegeben werden, was Vorländer ursprünglich noch
zu leisten vorhatte, aber dann (cf. Kantstudien II, 205 f.) nicht mehr aus-
führte. Vorländers Arbeit setze ich insofern voraus, als ich die von ihm
sicher gestellten Resultate nicht nochmals begründe.
288 J. Cohn,
für den Menschen musste Goethe als eine wertvolle Bundesge-
nossenschaft erscheinen; er fand seine aus Spinoza und aus der
Naturforschung gewonnene Überzeugung hier wieder. Gern hörte
er, der gerade in jenen Jahren sich so einsam fühlte, aus den
Worten des grossen Philosophen das P>ho der eigenen Stimme
heraus. So durfte er auch die Verbindung der Ästhetik und der
Teleologie in einem Werke als Rechtfertigung seines eigenen
Strebens empfinden.^) Fühlte er sich doch gerade in jenen Jahren
ebenso stark als Naturforscher wie als Poet. Von einem Einfluss,
von einer Veränderung in Goethes Denkweise ist dabei nirgends
die Rede. Das wirklich Neue in der Kritik der teleologischen
Urteilskraft konnte er kaum verstehen, da er in die Gedanken der
Kritik der reinen Vernunft nicht tiefer eingedrungen war. Auch als
er in den nächsten Jahren im Gespräch mit Kantianern sich über die
merkwürdige Bewegung, zu unterrichten suchte, die ganz Deutsch-
land ergriffen hatte und in Jena ihren zweiten Mittelpunkt fand,
blieb eine Verständigung unmöglich. „Mehr als einmal begegnete es
mir, dass einer oder der andere mit lächelnder Verwunderung zu-
gestand: es sei freilich ein Analogon Kantischer Vorstellungsart,
aber ein seltsames." '^)
Es entspricht ganz Goethes Eigenart, dass nicht Bücher noch
gleichgültige Personen tiefer auf ihn wirkten, sondern dass ein in
entscheidender Stunde ausgesprochenes Wort nötig war, um seinen
Geist zu beeinflussen. Wichtiger als alles Vorangehende war der
grosse Moment, als Schiller und Goethe einander zum ersten Male
im Gespräch fanden. Ein glückliches Ereignis hat Goethe selbst
jene berühmte Unterredung genannt, als er sie im Jahre 1817 zu-
erst der Öffentlichkeit mitteilte. Es ist ja bezeichnend für ihn,
dass er in seinen naturwissenschaftlichen Schriften immer wieder
auf die Geschichte seiner Studien zurückkommt. Auch seine For-
1) Campagne in Frankreich 25-10-1792. W. I, 33, 154, 15. Ich eitlere
als „W" die Weimarer (Sophien) Ausgabe nach Abteilung, Band, Seite,
wo nötig, Zeile. Die Sprüche in Prosa citiere ich nach der Hempelschen
Ausgabe, die Loeper besorgt hat, und nach Loepers Numerierung als „8.
i. P.", Gespräche nach Biedermann (B.). Ich gebe dabei möglichst Kapitel
etc. an, damit die Stellen auch in anderen Ausgaben gefunden werden
können.
2) „Einwirkung der neueren Philosophie" 1819. W. II, 11, 51, 27.
Der Ausspruch wird ausdrücklich auf die vor-schillersche Zeit bezogen.
Allerdings blieb in gewissem Sinne Goethes „Analogon Kantischer Vor-
stellungsart" immer „ein seltsames".
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 289
schuug"en sind ihm Erlebnisse. Wenn er in späteren Jahren kein
Freundschaftsverhältnis ohne den Hintergrund g-enieinsamer geistiger
Interessen knüpft oder aufrecht erhält, so führt ihn umgekehrt
doch auch jede geistige Förderung zu persönlicher Anteilnahme
fort. So ist Schillers Freundschaft und die Kautische Philosophie
in seinem Geiste zu einer Einheit zusammengeschmolzen. In dem
erwähnten Aufsatze ,.glückliches Ereignis" heisstes: „Nach diesem
glücklichen Beginnen entwickelten sich in Verfolg eines zehn-
jährigen Umgangs die philosophischen Anlagen, inwiefern sie meine
Natur enthielt, nach und nach."^) Verwandte Darstellungen
kehren oft wieder; überall bezeichnet Goethe Schiller als den, der
ihn zur Philosophie herangeführt habe. Aber nicht immer wird
diese Vermittlung als „glückliches Ereignis" gepriesen. Neben
zahlreichen Äusserungen der Dankbarkeit 2) finden sich doch auch
Zeichen des Unwillens. So sagt er zu S. Boisseree am 2. August
1815 „Was möchte daraus geworden sein, wenn ich mit wenigen
Freunden vor 30 Jahren nach Amerika gegangen wäre und von
Kant u. s. w. nichts gehört hätte? Was hat nicht der Winterl
in Pest in der Chemie geleistet, weil er 40 Jahre lang Lavoisier
und alle neuen Entdeckengen und Fortschritte rein bei Seite ge-
lassen." 3) Und zu Eckermann äusserte er sich am 14. November
1823 über Schiller: „Es ist betrübend, wenn man sieht, wie ein
so ausserordentlich begabter Mensch sich mit philosophischen
Denkweisen herumquälte, die ihm nichts helfen konnten. Hum-
boldt hat mir Briefe mitgebracht, die Schiller in der unseligen
Zeit jener Spekulationen an ihn geschrieben."'*) Ähnlich über den
Einfluss der Philosophie auf Schillers Anforderungen an seine und
Goethes Dichtungen zu Eckermann am 23. März 1829 „Er war so
wie alle Menschen, die von der Idee ausgehen. Auch hatte er
keine Ruhe und konnte nie fertig werden, wie Sie an den Briefen
über den W'ilhelm Meister sehen, den er bald so, bald anders
1) W. II, 11, 19, 4. Die Schildenmg- des Gesprächs ist von Goethe
in die „Annalen" (1794) übernommen worden. Dabei blieb aber der Schluss,
der mit der im Texte angeführten Stelle beginnt, fort. Dieser ganze
Schluss (auch das hier nicht Citierte) ist sehr bezeichnend und wichtig.
-) z. B.: Einwirkung der neueren Philosophie 1819. Gespräche mit
Cousin 10. Oktober 1817. B. III, 290. Mit Eckermann 12. Mai 1825. B.
V, 203; mit demselben 11. April 1827. B. VI, 100 f.
3) B. m, 185.
*) B. IV, 318 f.
290 J. Colin,
habeu will. Ich hatte mir immer zu thun, dass ich feststand und
seine und meine Sachen von solchen Einflüssen freihielt und
schützte." ')
Diese abwehrende Tonart findet sich zeitlich mit jener aner-
kennenden ganz untermischt. Goethe hat sein Urteil nicht etwa
gewandelt, sondern es traten wechselnd zwei stets vorhandene
Strömung-en au die Oberfläche. Während die Bereicherung seiner
Erkenntnis, die Möglichkeit der Verständigung mit hochgeschätzten
Zeitgenossen, die grössere Freiheit und Sicherheit seiner Anschau-
ungen als eiu Gewinn ihm vor Augen standen, fühlte er doch,
dass die strenge, trennende Art des Kantischen Denkens eiu
fremder Tropfen in seinem Blute war. Wohl mochte er da manch-
mal bedauern, dem Wahlspruch nicht gefolgt zu seiu, den er im
Faust einmal den Engeln in den Mund legt:
„Was euch nicht angehört.
Müsset ihr meiden."
Aber freilich, wie zart man über solche geistigen Dinge reden
muss, wird deutlich, wenn man an dieser Stelle auf die nächsten
Verse hinüberblickt. Denn wer sich in diese Verhältnisse hinein-
gefühlt hat, wird sich scheuen, in Bezug auf Goethe und Kant-
Schiller — sei es auch mit Einschränkungen — zu sagen :
„Was euch das Innere stört,
Dürft ihr nicht leiden."
Goethe hat die Einwirkung erlitten — aber eben doch nicht er-
litten, sondern den fremden Stoff sich fruchtbar umgestaltet.
Was Goethe aufnahm, das verwandelte er in ein Stück seines
eigenen Wesens. Diese produktive Art der Benutzung macht den
Nachweis eines Einflusses besonders schwierig und warnt vor jeder
äusserlichen Nebeneinanderstellung einzelner Aussprüche. Freilich
wird es nun dadurch auch sehr reizvoll, zu verfolgen, wie in
Goethes anschaulichem Denken die philosophischen Begriffe gleich-
sam Körper gewinnen und zu Wesen von Fleisch und Blut werden.
Goethes eigene Äusserungen über sein Verhältnis zur Philosophie
helfen uns hier nicht sehr viel; sie geben nur allgemeinste An-
deutungen und weisen uns doch wieder auf die schwierige Prüfung
') B. VII, 36 f. — Schon in der Zeit der Beschäftigung- mit der
Philosophie schreibt G. (am 18. März 1797) an Meyer: „Denn für uns
andere, die wir doch eigentlich zu Künstlern geboren sind, bleiben doch
immer die Spekulation, sowie das Studium der elementaren Naturlehre,
falsche Tendenzen . , ."
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 291
der Gesamtmasse von Goethes wissenschaftlichen und poetischen
Schriften zurück. Diese Prüfung erg-iebt zunächst ein äusseres
Resultat, das als wegweisend hier vorweg genommen sei. Zwei
Worte, die in der späteren Zeit in Goethes philosophischen Be-
trachtungen eine herrschende Stellung einnehmen, gewinnen diese
ihre Bedeutung erst seit dem Umgänge mit Schiller. Es sind die
Termini „Idee" und „Symbol", in die sich für Goethe die wichtig-
sten Probleme gleichsam konzentrieren, i) Schon diese äussere
Thatsache für sich ist nicht bedeutungslos. Dem Dichter ist
ein Wort mehr als eine äussere Bezeichnung für einen fest defi-
nierten Begriff. Wenn in der strengen Wissenschaft der Gedanke
sich von der Herrschaft der Sprache befreien und die Wörter zur
Geltung willkürlicher Merkzeichen und Rechenpfennige herabsetzen
will, so hat der Poet das Gefühl der Entweihung. Für ihn lebt
im Worte die Geschichte des Menschengeistes, ja das Wort lebt
eigentlich selbst und gewinnt magische Kräfte. Wohl hat Goethe,
wo er forschend und denkend sich bemühte, nach Klarheit ge-
strebt und die trüben Fluten mystischer Wortschwelgerei von sich
abgewehrt; aber immer blieb ihm ein bedeutendes Wort ein wich-
tiger Gewinn. Aus dem Worte trank der blasse Gedanke Leben
und in ihm gewann der flüchtige Dauer. Dabei schränkt sich die
Bedeutung eines Wortes wie Idee oder Symbol nicht auf ein Ge-
biet ein. Idee umfasst zunächst den Inbegriff dessen, was Goethe
aus Kants Erkenntnistheorie gewinnen konnte. Da dieser Gewinn
wesentlich dem Naturforscher Goethe zu gute kam, so verbanden
sich die erkenntnistheoretischeu Gedanken aufs Innigste mit natur-
philosophischen. Ferner hat Idee schon bei Kant einen ethischen
Inhalt, der für Goethe ebenfalls wichtig wird und ebenso wie der
naturphilosophische auf das ästhetische und religiöse Gebiet hin-
überreicht. „Symbol" ist zuerst ein für die Ästhetik bedeutsames
Wort; doch gewinnt es auch eine Anwendung auf das Natur-
erkennen und, wie es seine tiefere Bedeutung vermutlich der Re-
ligion verdankt, wird es auch von Goethe auf rehgiöse Verhält-
nisse angewandt. Schon diese zwei Kernwörter weisen also darauf
hin, dass keines der Hauptgebiete der Philosophie unberücksichtigt
bleiben darf. Wir werden daher nacheinander Erkenntnistheorie,
Ethik, x\sthetik und Religionsphilosophie zu betrachten haben.
1) Für „Symbol" werde ich das später aus den Quellen beweisen, für
„Idee" folgt es aus der Bedeutung des Wortes und aus dem erten Ge-
spräch mit Schiller unmittelbar.
292 J. Cohn,
I.
Es ist Goethe oft genug- nacherzählt worden, wie er nach
langer Fremdheit zum ei'sten Mal sich mit Schiller zusammenfand.
Diese berühmte Unterredung nach einer Sitzung der naturforscheu-
den Gesellschaft in Jena im Sommer 1794 war nicht nur der
Anfang jener einzig dastehenden B'reundschaft, sondern gab Goethe
zugleich die wichtigste Anregung, die er je von Kants Erkenntnis-
theorie empfing. Beide Dichter fühlten sich gleichmässig unbe-
friedigt von der nur empirischen Behandlung naturwissenschaft-
licher Einzelheiten. Im Gegensatze zu dieser Manier entwickelte
Goethe an dem Beispiel der Pflauzenmetamorphose die Art, wie er
in jeder einzelnen Erscheinung das gesetzliche Walten der Natur zu
erschauen bestrebt war. Er zeichnete die Urpflanze hin, über-
zeugt, eine unmittelbare Erfahrung mitzuteilen. „Das ist keine
Erfahrung, das ist eine Idee," war Schillers berühmte Antwort.
Schiller „als gebildeter Kantianer" meinte damit: es ist eine zu-
gleich notwendige und unlösbare Aufgabe. Goethe fühlte sich zu-
nächst abgestossen. Die Gemeinsamkeit beider Geister schien nur
in der Ablehnung geistloser Behandlung zu bestehen; sobald man
positiv seine Meinung zu entwickeln suchte, öffnete sich von neuem
eine Kluft zwischen ihren Denkweisen. Und doch überschätzte
Goethe das Trennende; in Wahrheit zielte auch sein Streben auf
geistige Beherrschung der Natur, obwohl er vorläufig noch wähnte,
in der Arbeit seines Geistes eine unmittelbare Erfahrung der
Gottnatur passiv zu empfangen. Jenes Wort Schillers, das bei
einer so bedeutenden Gelegenheit gefallen war, zwang Goethe,
über die wahre Bedeutung seines Forschens nachzudenken. Er
eignete sich die Bezeichnung „Idee" für seine Urpflanze an^) und
als er am 13. Juni 1797 eine Sammlung von Steinen an Schiller
schickte, begleitete er das Geschenk mit den Versen:
Von vielen Steinen sendet dir
Der Freund ein Musterstück.
Ideen giebst du bald dafür
Ihm tausendfach zurück.
In den beiden ersten Monaten des Jahres 1798 ist der Briefwechsel
voll von Untersuchungen über die Methode der Naturforschung.
In dieser Diskussion bildeten sich Goethes Überzeugungen heran.
1) An Schiller 22. Juni 1796.
Das Kantische Element in Goethes Weltanschaiuing. 293
und wir müssen daher näher auf sie zurückkommen. Da aber
Schiller hier der Gebende war, so muss eine Übersicht dessen,
was er zu g-eben hatte, voranstehen.
Schiller hat die Ästhetik durch seine Arbeiten begründen
helfen, in der Kthik hat er eigene Ansichten entwickelt; in der
Erkenntnistheorie aber verhielt er sich nur empfangend. Kant er-
löste ihn aus einem unsicheren Schwanken zwischen phantastischer
Schwärmerei und skeptischer Verzweiflung-. Als jugendlicher
Künstler fühlte sich Schiller in liebender Entzückung- eins mit der
Welt, die er als eine grosse Geistesharmonie träumte. Aber als
Mediziner war er auf die Abhäng-igkeit unserer geistigen Zustände
von den körperlichen aufmerksam g-eworden ; diese Studien stärkten
den eindringenden, ja zersetzenden Verstand, der doch auch in ihm
angelegt war. Der g-rosse Satiriker Schiller richtete in nüchternen
Stunden die Schärfe seines Geistes g-egen die Geburten seiner
eig-enen Schwärmerei. Aus solcher Mischung hätte eine Ironie
entstehen können, die der romantischen verwandt war. Der
Dichter des Geistersehers und der Resignation näherte sich hier
und da dieser Haltung-; aber das Erz seiner Natur, die sittliche
Energ-ie seines Charakters überwand den Kraukheitsstoff unter der
Mithilfe der grossen Gedanken Kants. Die Grundgedanken der Kritik
der reinen Vernunft räumten mit der Schwärmerei auf. Was Schiller
in glücklichen Stunden zu erfassen glaubte, war, das sah er nun ein,
keine Wirklichkeit, sondern ein Erzeugnis seines Geistes. In diesen
Schwärmereien überflog der Geist die ihm gesetzten Schranken,
er musste kritisch zurechtgewiesen werden und erkennen lernen,
dass er seiner Subjektivität nicht entrinnen kann, dass seine
höchsten Ahnungen nur Idee sind. Aber in der Idee durfte der
Geist den notwendigen Abschluss des eigenen Thuns ahnen. Nach
Kants Lehre ist Erkennen ja niemals passive iVuf nähme eines Ge-
gebenen, sondern überall eine That des Geistes, ein grenzenloses
Streben nach einem Ziele, das unerreichbar aus der Ferne winkt
und trotz dieser Unerreichkarkeit dem Streben Wert und Richtung
giebt. So vereinen sich in dem Worte Idee drei Hauptgedanken
Kants : Die Subjektivität alles Erkennens, die Spontaneität des
erkennenden Geistes und die Unerreichbarkeit des Erkenntniszieles.
Diese drei Grundgedanken hat sich Schiller angeeignet, um die
übrigen Bestandteile der Erkenntnistheorie hat er sich kaum be-
kümmert. Nachdem er sich von der Philosophie zum künstlerischen
Schaffen zurückgewendet hatte, verblasste vielleicht unter dem Eiuf luss
294 J. Cohn,
Schellings die antimetaphysische Färbung- ein wenig-,') sonst aber
hielt Schiller an diesen Grundg-edanken fest. Vollg-ültiges Zeugnis
dafür legt der Brief ab, den er einen Monat vor seinem Tode'«*)
an Wilhelm von Humboldt schrieb und in dem es heisst: .,Die
spekulative Philosophie, wenn sie mich je gehabt hat, hat mich
durch ihre hohle Formeln verscheucht, ich habe auf diesem kahlen
Gefild keine lebendige Quelle und keine Nahrung für mich ge-
funden ; aber die tiefen Grundideen der Idealphilosophie bleiben
ein ewiger Schatz und schon allein um ihretwillen muss man sich
glücklich preisen, in dieser Zeit gelebt zu haben." Diesen Grund-
ideen hat Schiller in demselben Briefe eine Form verliehen, die
freilich lebendiger ist als die abstrakten Formeln der Schulen, er
sagt von sich und Humboldt : „und am Ende sind wir doch beide
Idealisten und würden uns schämen, uns nachsagen zu lassen,
dass die Dinge uns formen und nicht wir die Dinge."
An die Subjektivität des Erkennens, die Spontaneität des
Geistes und die Unerreichbarkeit des Zieles dachte also Schiller
gleichmässig bei dem Worte Idee. Alle diese verschiedenen Ge-
danken erregten in Goethes Geist harmonische Mitschwingungen,
keiner wurde unverändert aufgenommen. Goethe war noch viel
weniger als Schiller Erkenntnistheoretiker, vieloiehr begehrte er
als Naturforscher von der Kritik der Erkenntnisvermögen lediglich
Aufklärung über seine eigenen Ziele. Dabei blieb ihm verborgen,
dass Kants Naturbegriff, ebenso übrigens wie der Spinozas, von
der mechanistischen Naturwissenschaft hergenommen war, die
Goethes lebendiger Anschauung so entschieden widerstrebte. Auch
Schiller konnte ja bei seiner ganzen luteressenrichtung kaum da-
rauf aufmerksam werden, dass die Kritik der reinen Vernunft die
logische Rechtfertigung von Newtons Naturforschung enthielt. So
kam Goethe der entschiedenste Gegensatz, der zwischen ihm und
Kant besteht, niemals zum Bewusstsein. Man muss sich das
immer gegenwärtig halten, wenn mau Goethes Abhandlungen und
Aphorismen über das Erkennen verstehen will.
Keinem Beobachter der Natur können die Störungen ver-
borgen bleiben, die durch wechselnde Stimmungen und dauernde
Eigentümlichkeiten des beobachtenden Subjekts hervorgerufen
1) Dies beweist die „Vorerinnerung zur Braut von Messina" („Über
den Gebrauch des Chors in der Tragödie") cf. Karl Tomaschek : Schiller
in seinem Verhältnis zur Wissenschaft. Wien 1862. S. 423 ff.
'-i) Am 2. April 1805.
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 295
werden. Wer wissenschaftliche Theorien gegen einander abwägt
lind die Art ihrer Verteidigung- studiert, wird bemerken, dass Vor-
liebe und Abneigung auch hier häufig an Stelle der Gründe treten.
Diesen Einfluss der Individualität auf die Denkweise hatte Spinoza
in seiner Art abgeleitet, und Goethe spann den Faden weiter, noch
ehe er sich mit Kant beschäftigte. In dem Aufsatze, den er Frau
von Stein diktierte und den man neuerdings als „Studie über
Spinoza" bezeichnet hat, heisst es:^) ,.Wir müssen also alle
Existenz und Vollkommenheit in unsere Seele dergestalt be-
schränken, dass sie unserer Natur und unserer Art zu denken und
zu empfinden angemessen werden; dann sagen wir erst, dass wir
eine Sache begreifen oder geniessen." Schon die ersten Kant-
studien regten ihn dann dazu an, das Verhältnis von Objekt und
Subjekt in der Forschung genauer zu betrachten. Im Jahre 1792
schrieb er den erst 1823 gedruckten Aufsatz: „Der Versuch als
Vermittler von Objekt und Subjekt." ^j Ganz seiner aufs Positive
gerichteten Natur gemäss, verweilt Goethe nicht bei den Mängeln
des einzelnen, sondern fragt, wie sie gehoben oder doch gemindeit
werden können. Das Mittel dazu sieht er im Zusammenarbeiten
mit Anderen. Er betont dabei den Gegensatz zwischen Wissen-
schaft und Kunst: der Künstler thue wohl, erst das vollendete
Werk fremdem Urteil preiszugeben, der Forscher solle jede einzelne
Erfahrung und Vermutung öffertlich mitteilen. Denn isolierte
Versuche werden leicht als blosse „Argumente" willkürlich ver-
wendet und führen in die Irre. Erst, wenn man die Versuche
vermannigfacht und die ganze Reihe der Phänomene in ihrer
natürlichen Ordnung überblickt, folgert man mit Zusammenhang
das Nächste aus dem Nächsten. Es bedarf dann mehr der „Dar-
legung" als des Beweises. Der ganze Aufsatz bleibt der wissen-
schaftlichen Praxis sehr nahe.») Eine mehr theoretische Fassung
1) W. n, 11, 317, Ifi. Das Fragment wird von Steiner und Suphan
(in W.) den Jahren 1784/5 zugewiesen. F. Brass, Goethe-Jahrbuch 18, 174,
g'laubt nachweisen zu können, dass «Herders : „Gott", den Goethe am
28. Auo^ust 1787 in Italien erliielt, in der Studie nachklingt, dass also deren
Abfassung später (1787— 89) anzusetzen sei. Die Differenz der Datierungen
ist für unseren Zusammenliang unwesentlich, da die Studie jedenfalls vor
G.s Beschäftigung mit Kant entstanden ist.
2) W. 11, 11, 21. Über die Datierung W. U, 11, 331.
3) Ziemlich am Beginn sagt Goethe, man werde „den Seelenkräften,
in welchen diese Erfahrungen aufgefasst, zusammengenommen, geordnet
und ausgebildet werden, ihre hohe und gleichsam schöpferisch unabhängige
296 J. Colin,
g-ewinneii die Gedanken erst durch die Einwirkung- Schillers. Ihm
näiiilich schickte üoethe unseren Aufsatz am 10. Januar 1798.
Die Erörterungen, die sich im Briefwechsel daran schliessen, sind
so wichtig- und g-erade in ihrem Fortschritte so interessant, dass
es nötig wird, hier ausnahmsweise eine chronologische Darstellung
einzuflechten. Schiller geht in dem Briefe vom 12. Januar auf
den Aufsatz ein, er fordert, dass man das treue Auffassen des
Objektes und die Freiheit des Kombinatiousvermögens gleichmässig
begünstige, dabei aber beide kritisch in dem Sinne auseinander-
halte, „dass die vorstellende Kraft auch nur in ihrer eigenen Welt
und nie in dem Faktum etwas zu konstituieren suche." Er ver-
langt also die Anerkennung und zugleich die kritische Einschrän-
kung des Verstandes gegenüber der Anschauung. Ist schon bei
ihm der Ausdruck konkreter, als ein strenger Kantianer billigen
möchte, so übersetzt Goethe sich diese Anregung ganz ins Kon-
krete. Seine Vorliebe für Entwickeluugsreihen führt ihn zu einer
genetischen Konstruktion, die er in einem jetzt unter dem Titel
„Erfahrung und Wissenschaft" veröffentlichten^) Aufsatz nieder-
legt und Schiller einsendet. Er unterscheidet hier drei Stufen der
Forschung: Das empirische Phänomen wird durch Versuche zum
wissenschaftlichen Phänomen erhoben. Aber diese verstandes-
mässige Bearbeitung ist nicht das Letzte, vielmehr müssen schliess-
lich die Resultate aller Erfahrungen im „reinen Phänomen" dar-
gestellt w^erden. Man sieht, für Goethe ist der Verstand ein
Mittel, von den zerstreuten Einzelheiten der Erfahrung zur reinen
Anschauung vorzudringen, während die Anschauung Ziel aller
Forschung bleibt. In dieser besseren Würdigung des Verstandes
und in der schärferen Bezeichnung der 3 Stufen liegt der Haupt-
fortschritt gegen den ersten Aufsatz. Schiller erfasst diese Ab-
sicht und konstruiert sie nach dem Schema der Kantischen Philo-
sophie.2) Er ordnet der Stufenfolge der Resultate, die Goethe
entworfen hatte, drei Stufen der Erkenntnisart zu und bezeichnet
sie als gemeinen Empirism, Rationalism und rationellen Empirism.
Die wesentlichen Eigentümlichkeiten dieser drei Stufen konstruiert
Kraft" nicht absprechen. Aber diese Stelle bleibt in einen Nebensatz ge-
bannt und ohne Einfluss auf das Folgende. — Dass der Aufsatz zugleich
eine Darlegung der Goetheschen, im Gegensatz zur Newtonschen Methode
in der Farbenlehre enthält, gehört nicht hierher.
1) W. II, 11, 38-41.
2) Brief vom 19. Januar 1798.
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 297
er nach Kauts Kateg-orientafel, indem er die drei Kategorien jeder
Gruppe in aufsteigender Ordnung auf die drei Stufen verteilt und
so einen an Fichte erinnernden Fortschritt von Thesis, Antithesis
und Synthesis erhält, ^j Für eine Geschichtskonstruktion nach
dieser Methode war Goethe damals, da er sich mit der Geschichte
der Farbenlehre beschäftigte, nicht unempfänglich. Selten wohl
stand er der spekulativen Philosophie so nahe, wie am 24. Januar
1798, als er an Schiller schrieb: „Wenn man die Reihe von
geistigen Begebenheiten, woraus doch eigentlich die Geschichte der
Wissenschaften besteht, so vor Augen sieht, so lacht man nicht
mehr über den Einfall, eine Geschichte a priori zu schreiben.
Denn es entwickelt sich wirklich alles aus den vor- und rück-
schreitenden Eigenschaften des menschlichen Geistes, aus der
strebenden und sich selbst wieder retardierenden Natur." Während
dies eine vorübergehende Anwandlung bleibt, beschäftigt sich
Goethe weiter mit Schillers Anforderungen an die rationelle Em-
pirie, wie. er dem Freunde am 21. Februar mitteilt. Schiller ant-
wortet am 23,: „Bei der Art, wie Sie jetzt Ihre Arbeiten treiben,
haben Sie immer den schönen, doppelten Gewinn, erstlich die
Einsicht in den Gegenstand und dann zweitens die Einsicht in
die Operationen des Geistes, gleichsam eine Philosophie des Ge-
schäfts, und das letzte ist fast der grössere Gewinn, weil eine
Kenntnis der Geistes «'erkzeuge und eine deutliche Erkenntnis der
Methode den Menschen schon gewissermassen zum Herrn über alle
Gegenstände macht." Einen Abschluss dieser ganzen Diskussion
giebt Goethes Brief, der am 21. Februar begonnen, aber erst am
25. beendet und abgeschickt wurde. In gewissem Sinne kommt
Goethe hier auf seine ersten Erwägungen über die Abhilfe der
subjektiven Mängel zurück, aber sie sind jetzt vertieft und prin-
zipieller gefasst. Goethe fordert, dass der rationelle Empirismus
kritisch sei, d. h. verschiedene Vorstellungsweisen neben einander
gelten lasse. Alle Ideen, die man aus dem Eeiche des Denkens
iu das Erfahrungsreich hinüberbringe, passen nur auf einen Teil
der Phänomene: „Und ich möchte sagen, die Natur ist deswegen
unergründlich, weil sie nicht Ein Mensch begreifen kann, obgleich
die ganze Menschheit sie wohl begreifen könnte. Weil aber die
1) Die Konstruktion nach der Kategorientafel hat Goethe auf die
Farbenlehre angewandt (Brief an Seh, vom 14. Februar 1798). Schillers
ablehnende Kritik dieses Versuchs (16. Febr. 98) scheint Goetlie für immer
von solchen äusserlichen Anlehnungen abgeschreckt zu haben.
Eantatudien X, 20
Ö98 J. Cohn,
liebe Menschheit niemals beisammen ist, so hat die Natur gut
Spiel, sich vor unsern Augen zu verstecken." Dieser Gedanke
„frappierte" Schiller. ^) Es ist in der That höchst bezeichnend
für Goethes Denkart, welche Form hier schliesslich die Kautischen
Anregungen annehmen. Unter der Subjektivität des Erkenuens
versteht Goethe dauernd den Einfluss des konkreten, individuellen
Subjekts. Den Ausgleich der Störungen, die diese Individualität
hervorruft, sieht er in der Menschheit. Dieser konkrete Inbegriff
aller menschlichen Kräfte nimmt bei ihm die Stelle ein, die der
strenge Philosoph dem abstrakten Zielbegriff des Bewusstseius
überhaupt, des überiudividuellen Bewusstseius giebt. An diesen
Gedanken hat Goethe ebenso festgehalten, wie an der Forderung
der Toleranz, die das praktische Resultat der Subjektivität des
Erkenuens ist. Indem wir in den vermeintlich rein objektiven
Erkenntnissen den Anteil des Subjektes abschätzen, lernen wir
auch gegen fremde Vorstellungsarten gerecht werden. Goethe hat
diese Toleranz gegen Newtons Farbenlehre allerdings nicht zu
üben vermocht, sonst aber sie überall wenigstens erstrebt, wie
besonders aus seinen geologischen Arbeiten erhellt. Hier bemüht
sich Goethe wiederholt, dem ihm aufs tiefste widerstrebenden
Plutonismus eine positive Seite abzugewinnen.'-^) Dass ich dabei
nicht willkürlich Kants Einfluss vermute, beweist eiu Ausspruch
Goethes in der Unterredung mit Victor Cousin am 20. Oktober
1817: „la methode de Kant est un principe d'humanite et de
tolerance."3)
1) Brief vom 27. Februar 1798. Das ethische Analogon dieses Ge-
dankens hatte Goethe übrigens schon früher in den Lehrjahren 8. Buch,
5. Kap. ausgesprochen, wo es in der 7Aveiten Hälfte des Lehrbriefs heisst:
„Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammen-
genommen die Welt."
2) Vgl. z. B.: „Wunderbares Ereignis" W. II, 10, 171. — Dieser Auf-
satz ist Einleitung zu der Anzeige von A. v. Humboldts Schrift über die
Vulkane, W. II, 9, 299. Aus Gründen, die mir nicht begreiflich sind, hat
Steiner in W. die Einleitung von der Anzeige getrennt. Dies ist ein be-
sonders krasses Beispiel der in W. II leider beliebten Anordnung, die
Goethe zu Gunsten eines von Steiner in ihn hineingelegten Systems ver-
gewaltigt. — Ferner: Verschiedene Bekenntnisse, W. II, 9, 259. — Dazu
noch „Vorschlag zur Güte", 1817, W. II, 11, 65 — wo Freiheit für alle
Arten menschlicher Geisteskräfte in der Naturforschung gefordert wird.
3) B. ni, 290.
Das Kantische Element in Goetlies Weltanschauung. 299
Toleranz ist in Goethes Sinn kein letztes Ziel, sie soll zur
positiven Anerkennung jedes Verdienstes führen. ^) Wenn wir das
Resultat der dargestellten Diskussion mit Schiller betrachten, so
fällt vielleicht am deutlichsten ins Auge, dass der Anteil des
Subjektes und der individuell verschiedenen subjektiven Anlagen an
der Erkenntnis nicht mehr als blosse Trübung des Objekts ange-
sehen wird, sondern als fördernde Kraft. In der Stufenfolge des Er-
kenntnisfortschrittes erhält der Rationalismus sein Recht, wenn auch
nur das Recht eines Momentes, einer notwendigen Durchgangsstufe.
Damit wird in der Subjektivität die Spontaneität des Geistes anerkannt.
Aber auch hier nimmt Goethe nicht etwa die Kantischen Gedanken
rein auf, sondern er verwandelt sie in konkrete Vorstellungen.
Für Kant liegt die Aktivität des Geistes in der kategorialen Form
jedes Denkaktes, für Goethe in dem lebendigen Thun des Forschers.
Goethe wird nicht müde, zu wiederholen, dass in der Naturforschung
sich nichts aus passiver Überlieferung aufnehmen lasse, sondern
dass alles durch eigene Mitarbeit gewonnen werden müsse. „Auch
in Wissenschaften kann man eigentlich nichts wissen; es will
immer gethan sein."^) Soll dieses Thun zielbewusst sein, so muss
es seine Instrumente kennen, daher fordert Goethe eine Kritik der
Sinne und des Menschenverstandes. 3) Jede Kraft soll ihre Leistungs-
fähigkeit und ihre Grenzen kennen. Als eine solche Kraft sieht
Goethe nun vor allem seine eigene Natur an. Sein ganzes inneres
Wirken bezeichnet er einmal als eine Heuristik,*) d. h. als ein
Mittel, Wahrheiten zu finden. Die Erkenntnis seiner eigenen
wissenschaftlichen Begabung wird ihm Aufgabe. Wohl hat Goethe
einmal gesagt: „Ich habe nie über das Denken gedacht." °) Das
trifft zu, wenn man dabei an abstrakte erkenntuistheoretische
Analyse denkt. Dagegen hat sich Goethe in immer wiederholten
Versuchen um Klarheit über die Eigenart seiner Erkenntnisweise,
seiner persönlichen erkennenden Kräfte bemüht. Freilich diese
Selbsterkenntnis erlangte er nicht durch grübelnde Vertiefung in
das eigene Ich, sondern durch Betrachtung seiner Forschungsergeb-
1) S. i. P. 575.
2) S. i. P. 1052. Als Ergänzung vergleiche man die Purkinje-Recen-
sion (1821), wo W. II, 11,271,18 gefordert wird, man solle das Produktive
mit dem Historischen verbinden.
3) S. i. P. 634, 760. Mit Eckermann 17. Februar 1829. B. VII, 20.
4) S. i. P. 287.
5) Zahme Xenien VH, W. I, 5. 1, 92.
20*
300 J. Colin,
nisse und des Eindrucks, den sein Geist auf Andere machte.
Goethe gelaugte dazu, einzusehen, welche Rolle der Verstand in
dem spielt, was er ursprünglich fih- reine Anschauung zu halten
geneigt war; auch der sondernden und begrifflich abgrenzenden
Thätigkeit suchte er gerecht zu werden, aber im Grunde war
nicht Scheiden und Trennen seine Sache, sondern Zusammensehen
und Ordnen. Kr verwandelt die anschaulichen Phänomene nicht
in Begriffe, sondern ordnet sie nach innerer Verwandtschaft in
stetige Reihen, so dass sich die komplizierteren aus den einfachsten
entwickeln. Die richtige Erfassung der letzten, nicht mehr auf
andere zurückzuführenden Urphänomene bleibt dabei die Hauptsache.
Denn in diesen Urphänomenen hat Goethe eine anschauliche Er-
kenntnis der Naturgesetzlichkeit. Das Naturgesetz ist ihm kein
abstrakter Satz, keine mathematische Formel, sondern eine typische
Anschauung, deren Analogie ganze Gruppen anderer Erscheinungen
verständUch macht. So sind die farbigen Erscheinungen bei trüben
Medien die Urphänomene der Farbe, so ist der Magnet, in dem
das Gesetz der Polarität zur einfachsten Anschauung kommt, ein
Urphänomen von allgemeinster Bedeutung. Ein Geist, der solche
Resultate erstrebt, braucht eine eigentümliche, vom Denken durch-
drungene Anschauung. „Exakte sinnliche Phantasie," schreibt
Goethe einmal dem Künstler zu, i) sie ist auch die Naturgabe des
künstlerischen Forschers. Kant hatte den „intellectus archetypus"
durch eine anschauende Urteilskraft charakterisiert. Was hier von
einem Idealbegriff ausgesagt war, möchte Goethe auf sich selbst
zu beziehen wagen. 2) Wir werden dabei an ScheUings intellek-
tuelle Anschauung erinnert und denken zugleich daran, dass Spi-
nozas intuitive Erkenntnis Goethe von jeher eine besonders sym-
pathische Lehre war. Auch Heinroths Bezeichnung „Gegenständ-
liches Denken" eignet sich Goethe in demselben Sinne an. 3)
Wieweit auch solche Bemühung um Erkenntnis seines eigenen
Geistes von Kants Gedanken abliegt, immer verdankt es Goethe
der durch Schiller vermittelten Anregung Kants, dass er über-
1) Recension von Stiedenroths Psychologie — 1824 — W. II, 11, 75, 21.
2) Anschauende Urteilskraft 1819. W. II, 11, 54 f. Goethe glaubt,
Kant Selbst habe hier „ironisch" eine Anwendung auf den Menschen nahe
gelegt. Die kommentierte Stelle steht Kritik der Urteilskraft § 77. ed.
Kehrbach 295 f.
3] Bedeutende Fordernis durcli ein einziges geistreiches Wort. W.
II, 11, 58.
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 301
haiipt den Eigenthätig'keiten seines Geistes seine Aufmerksamkeit
zuwendete und in seiner realistischen Art die Abhängigkeit alles
Erkannten von der Thätigkeit des Erkennens zugab und würdigte.
Das Ziel dieser Thätigkeit bestimmte Goethe einmal ganz
subjektivistisch dahin, die Welt kopfrecht zu haben, wie die
praktischen Menschen sie handrecht machen wollen. ^) Aber diese
Stelle bleibt vereinzelt; gewöhnlich tritt für das Ziel des Er-
kennens der Terminus „Idee" ein. In diesem Worte ist, wie
schon gezeigt wurde, angedeutet, dass in die Resultate des Er-
kennens die Eigenart des Subjekts als schaffende Thätigkeit ein-
geht. Aber der Inhalt dieses vielsagenden Wortes ist damit nicht
erschöpft. Goethe unterscheidet Idee und Begriff: „Begriff ist
Summe, Idee Resultat der Erfahrung. •'"'ä) Der Begriff etwa
einer Tier- oder Pflanzenart fasst einfach zusammen, was in einer
Anzahl einzelner Erfahrungen immer wiederkehrt. Die Idee zieht
die allwalteude Gesetzlichkeit, die in ewig wechselnden Formen
doch aller Erfahrung zu Grunde liegt, als Resultat aus der Ge-
samtheit der Erfahrung heraus. Die Urpflanze ist nicht durch
Summation, durch blosse Vergleichung zu gewinnen. Man schaut
sie au, wenn man die ganze Mannigfaltigkeit pflanzlicher Bil-
dungen auf einen Typus zurückführt. Diese anschauliche Gesetz-
lichkeit der Natur ist im Grunde überall ein und dieselbe; aber
ihre Einheit vermögen wir als solche mehr zu ahnen als zu er-
kennen. Zugänglicher sind uns ihre Erscheinungsweisen, die wir
als Mehrheit von Ideen, als Urphänomene uns verdeutlichen. Auf
diese Weise erhält das Wort Idee zwei Bedeutungen, eine strengere
und eine laxere. Nur im lässlichen Sinne des Wortes kann etwa
die Urpflanze eine Idee heissen; von der Idee im strengen Sinne
gilt der Spruch: „Die Idee ist ewig und einzig; dass wir auch den
Plural brauchen, ist nicht wohlgethan. Alles, was wir gewahr
werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen
der Idee; Begriffe sprechen wir aus, und insofern ist die Idee
selbst ein Begriff." 3) Hier ist augenscheinlich mit der Erhöhung
1) S. i. P. 642.
2) S. i. P. 1016. Etwas anders ist das Verhältnis von Begriff und Idee
gefasst in „Wolkengestalt nach Howard" 1817. W. II, 12, 12, 20. Hier führt
die genetische Anordnung der Phänomene zur lebendigen Übersicht, „aus
welcher ein Begriff sich bildet, der sodann in aufsteigender Linie der
Idee begegnen wird."
3) S. i. P. 334.
302 J. Cohn,
der Idee auch der Begriff g-ehoben; alles Aussprechliche ist als
Begriff bezeichnet. Gerade in diesem höchsten Sinne gewiinit nun
Idee wieder eine objektive Bedeutung. Für Goethe wie für Schel-
liüg steht die Überzeugung fest, dass der Natur eine Idee zu
Grunde liege, „wonach (jott in der Natur, die Natur in Gott von
Ewigkeit zu Ewigkeit schaffen und wirken möge." ^) Der Kan-
tische Eiufluss hat sich mit Goethes Naturvergötteruug ver-
schmolzen, wobei aber betont werden muss, dass Goethes Natur-
begriff sich fortdauernd vergeistigte. Als Goethe den Dithyrambus
„die Natur", 48 Jahre, nachdem er ihn geschrieben hatte, zum
ersten Male wieder las, vermisste er in dieser frühen Arbeit die
Anschauung der zwei grossen Triebräder aller Natur, die Begriffe
von Polarität und Steigerung. -) In der Polarität tritt die einheit-
liche Natur in Gegensätze auseinander, die Unterschiede werden
als der Natur wesentlich angehörend nicht mehr, wie bei Spinoza,
als blosse Negationen begriffen. Die Steigerung führt einen Wert
in die Natur ein; sie ermöglicht es, die Natur als Vorstufe des
Geistes zu fassen. Beide Begriffe hat Goethe nicht etwa der
Philosophie entnommen, vielmehr findet sich die Polarität lange
vor Schelling in den Beiträgen zur Optik, •'') die Steigerung, zwar
nicht dem Worte, wohl aber der Sache nach, vor der Einwirkung
Kants auf Goethe in der Metamorphose der Pflanzen.^) Durch
diesen in biologischer Forschung gewonnenen Begriff der Steige-
rung kommt die Naturauffassung Goethes der ideahstischen Philo-
sophie entgegen. Der Geist ist nun nicht mehr ein beliebiger Teil
der Natur und als solcher allen anderen Teilen gleichwertig, son-
dern er ist Steigerung, Ziel der Natur und hat in der Aktivität
seines Erkennens eine Ahnung des grossen Wesens aller Dinge.
Wenn wir Goethes Meinung so interpretieren, müssen wir das
Wort Ahnung betonen. Dem Gefühle frommer Scheu, mit
dem Goethe von jeher an die Erforschung der Naturgeheim-
nisse herangetreten war, musste Kants kritisches Verhalten
1) Bedenken und Ergebung 1819. W. II, 11, 56. Vgl. in den Apho-
rismen, die nach Steiners Angaben 1829 bei der Lektüre von De Candolles
Organograpliie geschrieben wurden. W. II, 6, 348.
2) „Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz : Die Natur". An den
Kanzler von Müller, 24. Mai 1828. W. II, 11, 10.
3) I. stück 1791. § 72 (Recapitulation) No. 15—16. cf. § 75. Im
Briefe an Sömmering, 2. Juli 1792, benutzt G. die Polarität, um optische
und chemische Erscheinungen mit einander zu verlnnden.
*) 1790. bes. § 6 „fortschreitende" Metamorphose.
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 303
sympathisch sein. In die Bedentnng- des Wortes „Idee" bei Goethe
würden wir nicht eindring-en, wenn wir das Moment der Unerreich-
barkeit vero-ässen. „Das schönste Glück des denkenden Menschen
ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche
ruhig zu verehren." ') Diese Scheu vor dem Unerforschlichem be-
hütet Goethe bei aller Verwandtschaft mit Schelling davor, sich
in das Ausspinnen von Spekulationen über die Natur zu verlieren
oder gar bestimmte naturphilosophische Systeme in sich starr
werden zu lassen. Jeden Versuch, die Idee zu ergreifen, durfte
er als Gleichnis des Unerreichlichen gelten lassen, aber eben doch
nur als Gleichnis. Im Grunde hätte er mit Kant sagen können,
dass sein Feld das fruchtbare Bathos der Erfahrung sei. Beide,
Goethe und Kant, stimmen auch darin überein, dass innerhalb der
Erfahrung dem Forschen keine Grenze zu setzen ist. Goethe sagt
in diesem Sinn: „Unsre Meinung ist: dass es dem Menschen gar
wohl gezieme, ein Unerforschliches anzunehmen, dass er dagegen
aber seinem Forschen keine Grenze zu setzen habe." 2) Wäh-
rend aber das Unerforschliche für Kant ein Grenzbegriff bleibt,
durchdringt es bei Goethe überall die Erfahrung und kann daher
zwar nicht erkannt, aber doch geahnt werden. An Gehalt gewinnt
diese Ahnung um so mehr, je vielseitiger und treuer wir die Natur
erforschen. Hierdurch erst versteht mau den berühmten Spruch:
„Willst du ins Unendliche schreiten.
Geh' nur im Endlichen nach allen Seiten." '')
Das will sagen : wenn man das Endliche allseitig durchforscht, er-
langt man vom Unendlichen, vom absoluten Wesen der Dinge so
viel Kenntnis, wae dem Menschen überhaupt zugänglich werden
kann. Kants kritische Grenzsetzung hat sich so bei Goethe in
eine lebendige Gesinnung verwandelt; die nähere Begründung von
Kants Gedanken ist Goethe fremd geblieben. Wo er die Kantischeu
Kunstausdrücke braucht, deutet er sie auf seine Weise um. So
spricht er einmal mit Riemer über das Ding an sich und findet
1) S. i. P. 1019.
2) Karl Wilhelm Nose, 1820. W. II, 9, 195, 2.
3) W. I, 2, 216 (Abteilung „Gott, Gemüt und Welt"). Lotze, Kleine
Schriften III, 1. 445 Anm. will nach der ersten Zeile ein „?" gesetzt
wissen, sodass die zweite als Widerspruch gegen das Schreiten ins Unend-
liche aufzufassen wäre. Diese Änderung, die an sich den Sinn ins Platt-
Verständige umbiegen würde, wird durch Goethes eigene Interpretation
des Spruches — „Zwischenrede" 1819, W. II, 11, 45, widerlegt.
304 J. Cohn,
sich hier insofern mit Kant in Übereinstimninng-, als der Mensch
das Objekt nie g-auz ansspreche. Ja im Grunde sei das Objekt
nur eines, alle Verschiedenheiten der Dinge seien durch den
Menschen gesetzt.^) Das klingt an die eig-entümliche Synthese
von Spinoza und Kant an, die durch Schopenhauer 2) einfiussreich
g-eworden ist. Doch darf man auf eine solche Äusserung im Ge-
spräch, noch dazu mit Riemer, wenn sie vereinzelt bleibt, nicht
zuviel g-eben.
Trotzdem Goethe der wissenschaftlichen Erkenntnistheorie im
Grunde fern geblieben ist, hat er doch bedeutenden Gewinn aus ihr
gezogen. Er lernte die Aktivität des Geistes im Erkennen be-
achten, 3) sein eigener Geist wurde ihm zum Problem, Kants Kritik
schützte ihn vor metaphysischen Schwärmereien.*) Dazu kam,
dass Goethe sich durch die Näherung an die Philosophie mit vielen
unter seinen bedeutendsten Zeitgenossen besser verständigen konnte.
Alles aber, was er je aus der Vernunftkritik sich angeeignet hat,
bewegt sich in den Bahnen, die Schiller;^ Anregung ihm gewiesen
hatte.
1) 2. August 1807. B. II, 180 f. Im Gespräch mit S. Boisseree,
2. August 1815, missversteht Goethe die Kantische Antinomie so, als sei
damit das gemeint, was der Vorstellungsart eines Menschen widerstrebt.
-) Schopenhauer hat Goethe allerdings als „Realisten" hingestellt.
Goethe habe gesagt: „Was! das Licht sollte nur da sein, insofern Sie es
sehen? Nein! Sie wären nicht da, wenn das Licht Sie nicht sähe,"
181.S? B. III, 122. Aber Goethe wendet sich hier nur unwillig gegen
eine wirklich absurde Folgerung des Subjektivismus, in den Schopenhauer
die Kantische Erkenntnistheorie verkehrt hat.
3) G. tadelt an Stiedenroths sonst von ihm hochgeschätzter Psycho-
logie ausdrücklich, dass die Aktivität des Geistes vernachlässigt sei (1825).
W. I, 41, 2, 159 f.
*) Goethe hat diesen Gewinn in dem Brief an die Fürstin Gallitzin
vom 6. Februar 1797 zusammengef asst : „Diese (seil, naturwissenschaftlichen)
Arbeiten haben mich genötigt, meinen Geist zu prüfen und zu üben, und
wenn auch für die Wissenschaft kein Resultat daraus entspränge, so würde
der Vorteil, den ich selbst daraus ziehe, mir immer unschätzbar sein. Denn
wie bedeutend ist es, die Grenzen des menschlichen Geistes immer näher
kennen zu lernen, und dabei immer deutlicher einzusehen, dass man nur
desto mehr verrichten kann, je reiner und sicherer man das Organ braucht,
das uns überhaupt als Menschen und besonders als individuellen Naturen
gegeben ist."
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 305
II.
Zu Kants Ethik hatte Goethe aufaugs ein ganz anderes
Verhältnis als zur Erkenntnistheorie. Während jene ihm einfach
fremd war, erschien ihm diese direkt feindlich. Kants schroffe
Entgegensetzung von Pflicht und Neigung, von Sittlichkeit und
Natur schien der Naturinnigkeit und Natursittlichkeit Goethes so
entschieden zu widersprechen, wie nur irgend eine asketische Moral.
So empfand Goethe selbst ursprünglich das Verhältnis, aber in
Wahrheit standen seine Überzeugungen der Kantischen Ethik viel
näher. Uns steht auf diesem Gebiet das Material nicht zu Ge-
bote, um den Aneignungsprozess im Einzelnen zu verfolgen. Das
ist wahrscheinlich kein Zufall, vielmehr fehlt hier wirklich die be-
wusste Arbeit, die Goethe auf die Ausbildung seiner Methoden-
lehre verwandte. Wir sehen uns daher, wenn wir Goethes spätere
Aussprüche verstehen wollen, genötigt, die Entwickelung seiner
sittlichen Überzeugungen bis zur Freundschaft mit Schiller rasch
zu überblicken.
Als Jüngling hasste Goethe, wie alle Stürmer und Dränger,
jeden Zwang, der die Entfaltung der freien, genialen Persönlich-
keit hindern könnte; Kraft war das Ideal dieser Jugend, auf die
Richtung der Kraft kam ihr wenig an. Die Ziele des bürgerlichen
Lebens waren verdächtig. Das ganze Gebäude der Kultur, auf
das die Aufklärung mit so viel Stolz blickte, schien durch Rous-
seaus Angriffe in seinen Grundfesten erschüttert. So wurde die
Persönlichkeit zum einzigen Wert ; das junge Geschlecht wollte jede
Anlage sich ausleben lassen, jeden schönen Moment auskosten,
jeden menschlichen Zustand ganz durchfühlen. Die Feindschaft
gegen die Trennung der Stände und die Enge des bürgerlichen
Lebens, die damit verbunden war, führte wenigstens bei Goethe
nur zur Abneigung gegen ein Eingreifen in dieses verhasste Räder-
werk, nicht zu revolutionären Plänen. Denn nicht die Gesell-
schaft, sondern das Individuum galt als die Hauptsache. Diese
Gesinnungen stehen von Kant gewiss weit ab; aber man darf
nicht vergessen, dass beide einen gemeinsamen Einfluss empfangen
haben. Auch in Kants Leben bedeuteten Rousseaus Schriften ein
entscheidendes Ereignis, auch ihm wurde durch Rousseau der naive
(xlaube zerstört, dass Kulturfortschritt Glücksvermehrung bedeute.
Der Bruch mit dem Eudämonismus wurde dadurch nötig. Von
Rousseaus Kulturfeindschaft, von seiner Liebe zu einem natur-
gemässen Leben hat auch Goethe Einwirkungen erfahren; aber
306 J. Cohn,
die von Rousseau vertretene sentimentale Naturauffassung, die
sich einreden will, dass die Natur in Harmonie mit unsei-en
weichen und humanen Empfindungen stehe, widerstrebte ihm.
Auf Kraftentwickelung- ist die Natur angelegt. ^) Im Namen der
Kraft wendet sich der junge Goethe gegen Wielauds sentimental
lüsterne Tugendrednerei. Aus verschiedenen Gründen wurden
Goethe und Kant Gegner der gewöhnlichen Aufklärungsmoral, die
alle Schärfen in scheinbare Harmonie abstumpfte. Aber die gemein-
same Gegnerschaft darf uns für den Gegensatz zwischen ihnen nicht
blind machen. Kant suchte eine strengere Begründung der Moral,
der Sturm und Drang blieb bei der Kraft des Gefühles stehen und
widerstrebte durchaus jeder sittlichen Forderung, die den Menschen
einschränkt, Opfer au unmittelbarer Lebensfülle erheischt und
ihm nicht erlaubt, sich seinen Leidenschaften mit Inbrunst hin-
zugeben.
Goethe war der Führer dieser kraftvollen, stürmenden, über-
schwänglichen Jugend ; und doch prägt sich in der Stellung zu den
Fragen der Sittlichkeit mehr die allgemeine Jüngliugsart und ins-
besondere die Eigenart jeuer merkwürdigen Epoche, in der Jüng-
linge zu geistigen Führern berufen wurden, aus als Goethes Eigen-
art. In Goethe lag neben dem Drängen der Gefühle und dem
Ungestüm des Erlebens vom Vater her eine Liebe für Ordnung
und Festigkeit, die sich in seinen Werken zum küustlerischen
Masse verklärte. Wenn man Goetz und Werther mit irgend
welchen andern Werken der Stürmer und Dränger vergleicht,
fühlt man das sofort. Das Schicksal sorgte dafür, dass diese Anlagen
zu voller Ausbildung gelangten, es machte ihn zum erziehenden Freund
eines reichbegabten, aber ungezügelten Fürsten und zwang ihn zu-
gleich thätig in die Regierung eines kleinen Landes einzugreifen.
Wie unter diesen Aufgaben Goethes moralische Persönlichkeit sich
festigte, davon geben die Tagebücher der ersten Weimarer Jahre
lebendiges Zeugnis. Die Märchenpossen, mit denen er anfangs
sich und den Freunden die Zeit vertrieb, wurden ihm bald fremd.
An diesem Gefühl der Fremdheit, als ein Genosse am 2. September
1777 die alten Scherze wiederholte, merkte er, wie sich sein In-
neres seit einem Jahre befestigt hatte. 2) Er ist gezwungen, sich
^) Vgl. z, B. die Recension von Sulzer: „Die schönen Künste in
ihrem Ursprung" in d. Frankf. Gel.-Anz. 1772. W. I, 37, 209, 9.
') W. III, 1, 4B, 23.
Das Kautische Element in Goethes Weltanschauung. 307
mit den ökonomischen Verhältnissen des Landes, des Hofes und
seiner eigenen Person zu beschäftigen, er lernt den Wert von
Stätigkeit und Ordnung kennen und bildet in sich entsprechende
Gesinnungen aus. ^) Wohl kehrt die wertherische Gleichgültigkeit
gegen alles äussere Wirken als Stimmung noch manchmal zurück.
Aber Goethe nennt das jetzt ein „leidig Gefühl der Adiaphorie so
vieler wichtig sein sollender Sachen." -) Die Bedeutung des Thuns,
des Handelns wird ihm im Handeln erschlossen; auch die Ziele
seines eigenen Wesens lernt er dabei erkennen. Die bestimmte
Meisterschaft einseitiger Menschen in ihrem Geschäft zieht ihn an
und wird in gewissem Sinne sogar vorbildlich für ihn, aber er
weiss, dass seine Natur eine andere Art von Vollendung fordert,
„Ich darf nicht von dem mir vorgeschriebenen Wege abgehen,
mein Dasein ist einmal nicht einfach, nur w^ünsche ich, dass nach
und nach alles Anmassliche versiege, mir aber schöne Kraft übrig
bleibe, die wahren Röhren in gleicher Höhe neben einander auf-
zuplurapen."^) An die Stelle des Nachgebens gegen das liebe,
eigene Herz ist bewusste Arbeit und entschiedener Kampf ge-
treten „Nemo coronatur nisi qui certaverit ante. Sauer Hess
ich mir's denn doch werden."^) So bilden sich die Gesinnungen
aus, die das Gedicht „Ilmenau" erfüllen. Goethe ist damit praktisch
über den blossen Naturalismus hinausgelangt, aber er fasst doch
alles bewusste Wirken als einen Ausfluss der Natur. Sobald er
sich den höchsten Fragen zuwendet, spricht er ganz als Natura-
list. Beweis genug sind die Worte, mit denen er das Fragment,
„die Natur*', abschliesst. Er redet die Allmutter an: „Siehatmich
hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue
mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nicht
hassen. Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr und was
falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles
ist ihr Verdienst." Diese religiöse Hingabe an die Natur wurde
durch die italienische Reise womöglich noch gesteigert. Die reiche,
freie, südliche Natur stand im Gegensatz zu dem engen, nordischen
Zwang der Sitten; der Natur sollte für alles Grosse die Ehre ge-
1) Vgl. z. B. Februar 1778. W. III, 1, 61, 17; 6. Okt. 78. III, 1, 70,
2.3; Okt.-Nov. 1781 III, 1, 132, 19.
2) 9. Dez. 1778. W. III, 1, 73, 4.
3) 14. Juli 1779. III, 1, 89. Vgl. auch das der citierten Stelle Vor-
aufgehende und Folgende.
^) 31. März 1780. III, 1, 114, 3.
308 J. Cohn,
g-eben werden. Nur so versteht man, dass 1793 Schillers ,.Auniut
und Würde" Goethe aufs Tiefste verletzte; er fand, Schiller habe
hier von der grossen Mutter unehrerbietig- gesprochen und meinte
gewisse Stellen als gegen sich gerichtet deuten zu müssen.^) Mau
wird bei diesen Anlagen etwa an die Herabsetzung der bloss natürlichen
Schönheit, der Venus ohne den Gürtel der Grazien, denken dürfen,
oder an Sätze wie diesen: „Grazie ist immer nur die Schönheit
der durch Freiheit bewegten Gestalt und Bewegungen, die
bloss der Natur angehören, können nie diesen Namen ver-
dienen." Wenn man erwägt, dass Schiller in „Anmut und Würde"
den vermeinten Rigorismus der Kantischen Ethik zu Gunsten des
ästhetischen Ausgleichs zwischen Natur und Freiheit zu mildern
suchte, so tritt der Gegensatz Goethes gegen Kant selbst noch schärfer
hervor. Und doch änderte Goethe in diesem Punkte seine Ge-
fühle so schnell, dass er am 26. Oktober 1794 von den Briefen
über ästhetische Erziehung schrieb, er fände darin auf eine zu-
sammenhängende und edle Weise vorgetragen, was er für recht
seit lauger Zeit erkannte, was er teils lebte, teils zu leben
wünschte. Dabei ist das Verhältnis von Natur und Sittlichkeit in
den Briefen über die ästhetische Erziehung ganz ebenso aufge-
fasst, wie in „Anmut und Würde". 2) Dieser Umschwung ist für
uns nicht leicht zu erklären, zumal nähere Nachrichten fehlen.
Vielleicht hat zu dem üblen Eindruck von Anmut und Würde bei-
getragen, dass Goethe bei der Lektüre philosophischer Schriften
leicht an einzelnen Sätzen haften blieb. Im Umgang mit Schiller
erkannte er dann die wahre Bedeutung der Kantischen Ethik und
fühlte, dass sein früherer Naturalismus nicht im Stande war, sein
eigenes Verhalten im praktischen Leben zu erklären. Jedenfalls
hat Goethe in der späteren Zeit dauernd an der Verehrung der
1) „Glückliches Ereignis" resp. Annalen 1794 cf. S. ?i, Anm. 1.
2) Goethe freilich schreibt „Einwirkung der neueren Philosophie" :
.,Aus freundschaftlicher Neigung gegen mich, vielleicht mehr als aus ei-
gener Überzeugung, behandelte er in den ästhetischen Briefen die
gute Mutter nicht mit jenen harten Ausdrücken, die mir den Aufsatz
über Anmut und Würde so verhasst gemacht hatten." — Indessen be-
ruht der veränderte Eindruck lediglich auf Goethes veränderter Stellung
Schiller gegenüber. Sonst hätte Goethe z. B. an der SteUe im 3. Brief,
dnss der natüiliche Charakter des Menschen, „selbstsüchtig und gewalt-
thätig, vielmehr auf Zerstörung, als auf Erhaltung der Geseilschaft zielt",
ebensogut Anstoss nehmen können, wie an irgend einem Satze in „Anmut
und Würde".
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 309
Kantischeu Ethik festgehalten und nur ganz in Schillers Art
ihren „Eigorismus" zu mildern gesucht. Dass es sich hierbei nicht
um eine blosse äussere Anpassung handeln kann, beweisen viel-
leicht am deutlichsten die Worte, die Goethe am 29. April 1818
sprach, als der Kanzler Müller mit Caroline und Julie von Egloff-
stein ihn in Dornburg besuchte. Denn in späteren Jahren hat er
selten so offen seine Gesinnungen enthüllt, wie an diesem denk-
würdigen Tage. Damals sagte er: „Die Moral ist ein ewiger
Friedensversuch zwischen unseren persönlichen Anforderungen und
den Gesetzen jenes unsichtbaren Reiches; sie war gegen Ende
des letzten Jahrhunderts schlaff und knechtisch geworden, als
man sie dem schwankenden Kalkül einer blossen Glücksseligkeits-
theorie unterwerfen wollte; Kaut fasste sie zuerst in ihrer über-
sinnlichen Bedeutung auf, und wie überstreng er sie auch in
seinem kategorischen Imperativ ausprägen wollte, so hat er doch
das unsterbliche Verdienst, uns von jener Weichlichkeit, in die wir
versunken waren, zurückgebracht zu haben." ^)
Dieselbe Gesinnung spricht sich überall in Goethes Maximen
und Eeflexionen aus. Gleich am Anfang ergänzt er seinen alten
Grundsatz, dass man sich niemals durch Betrachten, wohl aber
durch Handeln kennen lerne, durch die W^orte : „Versuche, deine
Pflicht zu tliun und du weisst gleich, was an dir ist." Goethe
sagt nicht etwa, wie die meisten Ausleger von ihm erwarten
würden : folge deiner Natur und du weisst, was an dir ist.
Ganz im Geiste seiner konkreten Betrachtungsart, fügt er
1) B. III, .S09. Das Gespräch ist auch in Caroline v. Egloffsteins
Redaktion überliefert, die im Prinzip dasselbe giebt aber dürftiger und
flacher ist (B. III, 305). — Vgl. die Bem. über Charakter und Sittlichkeit
im histor. Teil d. Farbenlehre. 6. Abt., 1. Epoche, Abschnitt: Newtons
Persönlichkeit W. 11, 4, 99 f. — In der Anzeige der „Briefe eines Verstor-
benen" hebt G. eine Stelle heraus, weil er darin einen Ausdruck von
Kants kategorischem Imperativ in empirischer Form findet. W. I, 42, 1,
59, 11. — Allerdings stellt Goethe in seinem „Zeugnis für Carlyle" vom
14. März 1828 (Goethes und Carlyles Briefwechsel, Berlin 1887, S. 37) auch
das „apodiktische Pflichtgebot" als einseitiges Moralprinzip hin {neben
„Eigennutz" und „Trieb nach Glückseligkeit") und findet es demgegen-
über am geratensten, „aus dem ganzen Komplex der gesunden, menschlichen
Natur das Sittliche so wie das Schöne zu entwickeln". Aber dabei ist zu
bedenken, dass es sich hier um Empfehlung Carlyles für eine schottische
Lehrstelle der Moralphilosophie handelt, dass also G. lässlich und für Eng-
länder schreibt — er lobt bei dieser Gelegenheit sogar Gellerts Wirksam-
keit, die ihm doch sonst nicht besonders hoch steht.
BIO J. Cohn,
hinzu: „Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung- des
Tages."!) Der ^pag fordert von uns bestimmte Thätigkeit; um
diese auszuführen, uns für sie geeignet zu machen, müssen wir
den unbeding'ten Trieben unserer Natur entsagen lernen. Der
Begriff der Eutsag-ung steht im Mittelpunkt von Goethes sittlichen
Anschauungen. Der Jüngling-, der faustisch die höchsten Sterne
des Himmels und jede Lust der Erde für sich begehrte, fühlte
sich überall eingeengt und presst in Fausts Worte:
„Entbehren sollst du! sollst entbehren!"
den ganzen Jammer des Daseins zusammen. Als Goethe dann in
Weimar ins thätige Leben eingriff, erkannte er in der Ent-
behrung die notwendige Bedingung der Herrschaft:
„Der kann sich manchen Wunsch gewähren,
Der kalt sich selbst und seinein Willen lebt;
Allein wer andre wohl zu leiten strebt,
Muss fähig sein, viel zu entbehren." (Ilmenau.)
Aber hier wird die Entbehrung immer erst hingenommen, sie ist
ein bitteres Muss, dem wir nicht entrinnen können. Der einzige
Weg, uns von diesem Zwange zu befreien, ist, dass wir den
Zwang freiwillig anerkennen. Eben diesen Weg weist Schiller:
„Nehmt die Gottheit auf in euren Willen
Und sie steigt von ihrem Wolkenthron."
Geiadezu wie eine Anwendung dieses Wortes auf die Bedingtheit
des Menschen erscheint der Spruch: „Es darf sich einer nur für
frei erklären, so fühlt er sich den Augenblick als bedingt. Wagt
er es, sich für bedingt zu erklären, so fühlt er sich frei." -) Das
Ziel ist also, die Entbehrung in unseren Willen aufzunehmen,
freiwillig zu entsagen. „Die Entsagenden" lautet darum der
Untertitel von Wilhelm Meisters Wanderjahren, einem Werk, das
wir füglich als Goethes sittliches Vermächtnis ansprechen dürfen.
Indem Schiller Kants ethische Grundsätze von der einzelnen
Handlung auf die ganze Persönlichkeit anwandte, machte er sie
Goethe zugänglich. Die Pflicht erschien nun nicht mehr als ein
Fremdes, sondern als inneres Gesetz der Person selbst. So stimmt
Goethe Schillers Bestimmungen völlig bei, wenn er definiert:
„Pflicht: wo man liebt, was man sich selbst befiehlt." 3)
1) S. i. P. 2, 3.
2) S. i. P. 388.
3) S, i. P. 656.
iDas Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 311
Ist die Pflicht als das innere Gesetz der Persönlichkeit er-
kannt, so wird auch ihre Unerreichbarkeit nicht mehr schrecken.
Goethe hat die Unmöglichkeit, der sittlichen Forderung- genug zu
thun, einmal als Erlebnis ausgesprochen: ,.Erfüllte Pflicht em-
pfindet sich immer noch als Schuld, weil man sich nie ganz genug
gethan."') Die Unerbittlichkeit des sittlichen Gesetzes ist auch
in einem Spruche gemeint, den Loeper nicht verstanden zu haben
bekennt:-) „In Rücksicht aufs Praktische ist der unerbittüche
Verstand Vernunft, weil vis-ä-vis des Verstandes es der Vernunft
Höchstes ist, den Verstand unerbittlich zu machen." Bei Goethe
wie bei Kant ist Vernunft das höhere Vermögen; dem Verstand
entspricht der Begriff, der Vernunft die Idee. Im Theoretischen
ist die iutuitive Vernunft für Goethe vom Verstände qualitativ
verschieden, wie die Idee vom Begriff verschieden ist. Während
der Verstand durch begriffliche Trennungen die Erscheinungen
übersehen und nutzen lehrt, schaut die Vernunft in aller Mannig-
faltigkeit die Einheit ?n und erfasst in jeder Erscheinung die
Idee. Der Idee aber entspricht im Praktischen der unbedingte
kategorische Imperativ; dieser nun lässt sich durchaus begrifflich
aussprechen und verstandesmässig erfassen, er unterscheidet sich
von den Maximen der blossen Klugheit wesentlich durch seine un-
erbittliche Strenge, die der Neigung oder Schwäche keinen Spiel-
raum gewährt. Nicht also überhaupt und in jeder Beziehung, wohl
aber „vis-ä-vis des Verstandes" darf es als höchste Leistung der
Vernunft bezeichnet werden, den Verstand unerbittlich zu machen,
und hier fällt dann der unerbittliche Verstand, der seine Gesetze
mit kategorischer Allgemeinheit ausspricht, mit der Vernunft zu-
sammen.
Die Erklärung dieses Spruches leitet uns ganz natürlich zu
der Bedeutung der Idee auf sittlichem Gebiet über; denn die Idee
ist für das Handeln, wie für das Erkennen das unerreichbare und
doch Sichtung gebende Ziel. ,.In der Idee leben, heisst, das Un-
mögliche behandeln, als wenn es möglich wäre." Merkwürdig berührt
es uns, wenn Goethe beim Weiterspinnen dieses Gedankens 3) von
Napoleon sagt, dass er ganz in der Idee lebte, sie aber nicht im
Bewusstsein erfassen konnte. Hier ist augenscheinlich weniger an
1) S. i. P. 44.
2) Vorbemerkung zu S. i. P. S. 9. S. i. P. 638.
3) S. i. P. 345. 346.
312 J. Cohn,
den sittlichen Inhalt der Idee als an ihre Unerreichbarkeit ge-
dacht, obwohl ja (jroethe in der g-rossen Persönlichkeit des ICr-
oberers auch einen sittlichen Kei-n anerkannte. Aber nicht jedes
unerreichbare Ziel ist Idee, dazu gehört vielmehr die innere Not-
wendigkeit, die sie von aller blossen Phantastik unterscheidet.
„Höchst bemerkenswert bleibt es innner, dass Menschen, deren
Persönlichkeit fast ganz Idee ist, sich so äusserst vor dem Phan-
tastischen scheuen," ') sagt Goethe und belegt es durch Hamanns
Beispiel. Dass Goethe sich mit dem Verhältnis von Idee und Phan-
tastik wiederholt beschäftigte, entspricht durchaus seiner Natur, die
stets von den allgemeinen Grundsätzen konkrete Anwendung zu
machen liebte ; denn im Konkreten, im einzelnen Falle ist der Held
und der Don Quixote schwer zu unterscheiden, „die Idee, wie sie
unmittelbar in die Erscheinung, ins Leben, in die Wirklichkeit
eintritt, muss, insofern sie nicht tragisch und ernst wirkt, notwen-
dig für Phantasterei gehalten werden, und dazu, dahin, verirrt,
verliert sie sich auch, weil sie ihre hohe Reinheit nicht zu erhalten
weiss." Diese Worte stehen in einer Recensiou humoristischer
spanischer Romanzen -), und Goethe erinnert dabei an den Don
Quixote. Ihre Reinheit kann die Idee nur wahren, Avenn das Be-
wusstsein der Unerreichbarkeit bestehen bleibt, sonst verwickelt
sie sich komisch mit den kleinen Vorgängen und Hinderungen des
alltäglichen Lebens. Die Stellung der Idee ist im Praktischen eine ganz
ähnliche wie im Theoretischen: sie ist Richtung gebend, sie soll alles
Einzelne durchdringen, aber es ist unmöglich, dass sie in einem
einzelnen Falle vollkommen erscheine oder sich verwirkliche. Darum
stellt Goethe mit der theoretischen Idee der UnsterbUchkeit, die durch
unser Streben gefordert sei, aber jeder Ausmalung widerstreite, die
praktische Unausführbarkeit sittlicher Forderungen zusammen. „Fast
alle Gesetze seien Synthesen des Unmöglichen, z. B. das Institut
der Ehe. Und doch sei es gut, dass dem so sei, es werde dadurch
das Möglichste erstrebt, dass man das Unmögliche postuliere." 3)
Die Unerreichbarkeit und Unbedingtheit der praktischen Idee führt
Goethe zuweilen so weit von seinem ursprünglichen Naturalismus
ab, dass er das Reich der Freiheit, der Werte, der Kultur ganz
dualistisch dem Reich der Natur gegenüberstellt und den sittlichen
1) S. i. P. 348.
2j Spanische Romanzen, übersetzt von Beauregard Pandin — 1823
W. I, 41, 2, 70. 19.
3) Gespräch mit Müller, 19. Oktober 1823. B. IV, 294 f.
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. Bio
Willen über alle Naturbedingtheit hinaushebt. Wenn diese ethi-
schen Aussprüche nicht mit Goethes Naturanschauung überein-
stimmen wollen, so muss man bedenken, dass Goethe kein Syste-
matiker war und mit Bewusstseiu verschiedene Denkrichtungen
auf verschiedenen Gebieten nebeneinander verfolgte. ») Abfer mau
wird nie dem ganzen Goethe gerecht werden, wenn man Aus-
sprüche ignoriert, wie den folgenden: „was die Kultur der Natur
abgewonnen habe, dürfe man nicht wieder fahren lassen, es um
keinen Preis aufgeben. So sei auch der Begriff der Heiligkeit der
Ehe eine solche Kulturerrungenschaft des Christentums und von
unschätzbarem Wert, obgleich die Ehe eigentlich unnatürlich sei."-)
Nach dieser Auffassung trägt die Ehe den Keim zu
tragischen Konflikten in sich, wie sie in den Wahlverwandt-
schaften künstlerisch gestaltet sind, dem einzigen Werke von
grösserem Umfange, in dem Goethe sich bewusst war, auf die
Darstellung einer durchgreifenden Idee hingearbeitet zu haben. 3)
Die landläufige Meinung nicht nur der Zeitgenossen glaubt
freilich, dass diese Idee ganz und gar naturalistisch sei. Wie
die chemischen Elemente durch übermächtigen Zwang alte
Verbindungen lösen, um einer stärkeren Wahlverwandtschaft
zu folgen, so seien die menschlichen Verbindungen dem Natur-
zwang unerklärlicher Sympathien rettungslos preisgegeben. Der
Titel des Werkes, der, wie Goethe selbst in seiner Voranzeige"^)
sagt, durch seine fortgesetzten physikalischen Arbeiten veran-
lasst ist, könnte zu einer solchen Auslegung verführen. Aber
in derselben Voranzeige betont Goethe die ethische Herkunft des
Gleichnisses, das er zu seinem geistigen Ursprünge zurückführen
wolle, „um so mehr, als doch überall nur eine Natur ist, und
auch durch das Reich der heitern Vernunftfreiheit die Spui-en
trüber leidenschaftlicher Notwendigkeit sich unaufhaltsam hin-
durchziehen, die nur durch eine höhere Hand und vielleicht auch
uicht in diesem Leben völlig auszulöschen sind." Goethe leugnet
also die Freiheit der Vernunft und die sittliche Heiligkeit der
Ehe nicht. Im Roman selbst lässt er in der den Titel erklärenden
1) Vgl. z. B. den Brief an F. H. Jacobi 6. Jan. 1813.
«) Mit Müller 7. April 1830. B. VII, 294.
3) Mit p:ckermann 6. Mai 1827. B. VI, 136.
*) Graef: Goethe über seine Dichtungen I, 1, 389. Ich eitlere das
unentbehrliche Werk, dem ich vielen Dank schulde, künftig einfach als
„Graef \ W. I, 41, 1, 34.
Eantstudien X. 21
314 J. Cohn,
Unterhaltung^) Charlotten sagen: „diese Gloichnisreden sind artig
und unterhaltend, und wer spielt nicht gern mit Ähnlichkeiten?
Aber der Mensch ist doch um so manche Stufe über jene Elemente
erhöht; und wenn er hier mit den schönen Worten Wahl und
Wahlverwandtschaft etwas freigebig gewesen, so thut er wohl,
wieder in sich selbst zurückzukehren und den Wert solcher Aus-
drücke bei diesem Anlass recht zu bedenken." Noch entschiedener
drückt sich Goethe selbst in einem Brief an Zauper aus: „der
sehr einfache Text dieses weitläufigen Büchleins sind die Worte
Christi: wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren etc."«)
In der That ist der tragische Ausgang des Romans nur begreif-
lich, wenn eine strenge Auffassung von Ehe und Pflicht zu Grunde
liegt. Man denke einmal denselben Stoff von einem Anhänger
des unbedingten Rechtes der Individualität, von einem Friedrich
Schlegel in seiner Jugend etwa, behandelt: würde sich ihm
nicht die ganze Irrung der Gefühle in schönste Harmonie lösen?
Goethe hat das im Roman selbst mit einer bei ihm ganz
ungewöhnlichen Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht. Er führt
als Kontrastfiguren zwei leichte Tagesmenschen ein, den Grafen
und die Baronesse, die ein unerlaubtes Verhältnis mit frivoler
Heiterkeit behandeln, ohne sich im Gewissen irgendwie da-
von anfechten zu lassen. Ottilie dagegen, Goethes Lieb-
lingsfigur, verurteilt sich zu freiwilligem Tode, weil sie sich von
Eduards Leidenschaft zu frevelhaften Wünschen hat hinreissen
lassen. In Abekeus Besprechung des Romanes, der Goethe durch
sein hohes Lob besondere Bedeutung verliehen hat, wird hervor-
gehoben, dass in Ottilie die Würde der menschlichen Natur in dem
furchtbaren Drange der Not und des Leids erst recht hervortrete.
Selbst im Ausdruck wird man an Schillers ethische Ausführungen
erinnert, wenn Abeken sagt: „ergriffen konnte sie werden von
jener Notwendigkeit, beherrscht konnte sie werden von ihr, sie,
die sogar das dringendste, furchtbarste Bedürfnis der Speise sich
verwehren kann; vernichtet werden konnte sie, aber nicht
überwunden."^)
Will man, was immer misslich ist, die Idee der Wahlver-
wandtschaften in dürren Worten aussprechen, so kann man sagen:
1) 1. Teil, 4. Kap.
2) 7. Sept. 1821. Graef, I, 1, 464.
3) Abgedruckt bei Gracf I, 1, 438 ff.; die citierte Stelle 445, 23;
Goethes Lob 437, 3.
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 3 15
Ud erklärliche, natürliche Verwandtschaft zieht den Menschen zum
Menschen und löst Baude, von denen unsere Sittlichkeit verlangt,
dass sie unauflöslich seien. Wenn der sittlich höher stehende
Mensch diesen Neigung-en Einlass gewährt, so kann er sein wahres
Wesen nur durch den irdischen Untergang erhalten. Oder allge-
meiner gesagt: Es ist der ewige tragische Konflikt zwischen der
Kraft naturbestimmter Leidenschaften und dem unbedingten Gebote
der Sittlichkeit. Goethe hat dabei hier wie überall die tiefsten
inneren Kämpfe mehr ahnen lassen, als eigentlich dargestellt.^)
Er hat ferner echt dichterisch die Teilnahme besonders für Ottilie
durch alle Mittel gehoben. Das aber kann nur den verwirren, der
für den Unterschied des Dichters und des Moralisten kein Gefühl
hat. Auch Schiller schiebt im Wallenstein die grössere Hälfte der
Schuld seines Helden den unglückseligen Gestirnen zu. Verständ-
nis, Einfühlung, Liebe will und soll der Dichter erregen, nicht
kühles Urteil oder richterliche Strenge. Will er eine moralische
Idee darstellen, so muss sie in den Personen und ihren Schicksalen
zum Ausdruck kommen, nicht im Urteile des Dichters über diese
Personen. Wenn die Heiligkeit der Ehe als Idee der Wahlver-
wandtschaften bezeichnet wird, so heisst das auch nicht, Goethe
habe die Wahlverwandtschaften mit der Absicht geschrieben, die
Heiligkeit der Ehe zu verteidigen. Eine solche ausserästhetische
Tendenz hat Goethe mindestens in seinen grossen Werken niemals
verfolgt und wo er, seinem tiefsten Wesen ungetreu, praktischen
Zwecken als Dichter dienen wollte, wie im Bürgergeneral oder
Gross-Kophta, hat er Schiffbruch gelitten. Vielmehr erlebte Goethe
in sich selbst jene ethischen Überzeugungen und Konflikte und
stellte sie dar, weil er sie erlebte.
III.
Die Wahlverwandtschaften haben uns bisher durch ihren
Gehalt beschäftigt, sie können aber auch der Ausgangspunkt einer
anderen Reihe von Betrachtungen werden, wenn wir fragen, wie
denn dieser ideelle Gehalt künstlerisch gestaltet ist. Das Ver-
hältnis von Idee und Erscheinung wurde erst durch Schiller,
wie auf dem Gebiete der Natur und der Sittlichkeit, so auf
^) Er begründet dies im Gespräch mit Riemer Dezbr. 1809. Graef
I, 1, 427.
21*
316 J. Colin,
dem der Kunst für Goethe zu einem wesentlichen Problem.
Mau darf sich fragen, ob das nur auf Goethes ästhetische An-
sichten oder auch auf seine dichterische Thätig-keit eingewirkt
hat. Dass die Wahlverwandtschaften überhaupt durch eine Idee
organisiert sind, hob Goethe selbst als auffallend hervor. Steht
nun dieser Fall wirklich so vereinzelt da, wie Goethe glaubt, oder
lässt er sich in eine Reihe verwandter Erscheinungen einordnen?
Es ist Schiller unendlich oft nachgesprochen worden, dass Goethe
überall von der Empfindung, vom Erlebnis ausgehe, dass er ein
naiver Dichter sei im Gegensatz zu Schiller selbst, der als senti-
mentalischer Dichter Ideen zu verkörpern suche. Diesem Schema
scheinen die Wahlverwandtschaften zu widersprechen. Aber man
beachtet meist nicht genug, dass Goethe von Schiller nicht als
naiver Dichter schlechthin, sondern als naiver Dichter in einer
Sentimentalischen Zeit bezeichnet wird.') Jene schöne und unbe-
wusste Einheit von Natur und Genius war in Goethe wohl ange-
legt, aber die Umwelt musste störende Einflüsse ausüben. So kann
man bereits von Goethes Jugeuddichtungen, von Götz und Werther
sagen, dass ihre Form die schöne Einheit des Naiven hat,
ihr Inhalt aber von sentimeutalischer oder, wie man später sagte,
romantischer Sehnsucht erfüllt ist. Auch in Iphigenie und Tasso
lässt sich dasselbe Verhältnis erkennen, Goethe selbst ist die
Iphigenie dadurch späterhin fremd geworden. Aber in allen diesen
Dichtungen ist Sehnsucht und Reflexion ganz und gar in die
Seele der Helden verlegt; sie liegt nicht in der künstlerischen
Darstellung, sondern im Stoff, oder wenn man will, in den Erleb-
nissen, die Goethe in jenen Werken objektiviert hat. Auch einige
spätere Werke, besonders Hermann und Dorothea, sind in der
Behandlung ganz „naiv". Anders ist es zum ersten Male in den
späteren Teilen von Wilhelm Meisters Lehrjahren, besonders im
8. Buche. Auf dieses Buch aber hat Schiller bekanntlich Einfluss
gehabt, es liegt daher im Rahmen unseres Themas, ein wenig da-
bei zu verweilen.
Der Roman hat Goethe auf einer so grossen Strecke seines
Lebens begleitet, er hat so viel von Goethes Entwickelung in sich
1) Über naive inid sentimentalische Dichtung. Die Schilderung am
Ende des ersten Teils „Über das Naive" — naiver Dichter in sentimeuta-
lischer Zeit — Werke, krit. Ausgabe von Goedeke, X, 449, geht deutlich
auf Goethe. Im zweiten Teil „Die sentimentalischen Dichter" wird Goethe
dann ausdrücklich als Beispiel eines naiven Dichters mit sentimentalischem
Stoffe betrachtet, a. a. 0. 475.
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 317
aufg-enommen, dass er darin nur noch vom Faust übertroffen wird.
Aus Wilhelm Meisters theatralischer Sendung- waren Wilhelm
Meisters Lehrjahre geworden, der Schauspielerroman hatte sich in
einen Bildung-sroman verwandelt, das Theater, anfangs wohl der
Hauptpunkt des Ganzen, wurde zu der Rolle eines Bildungsmittels,
einer zu überwindenden Entwickelungsstufe herabgedrückt. Wie
Goethe in Weimar, so sollte auch sein Held sich zu einem thätigeu
Leben herauf bilden. Goethe hatte für sein eigenes Wesen erst
von Schiller die Lösungsformel erhalten; auch für seinen Roman
verdankte er dem Freunde die Auslegung seiner Träume, die Be-
wusstwerduug dessen, was unbewusst in der Dichtung geschlum-
mert hatte. So sprach schliesslich auch Schiller, nicht Goethe
selbst, die Idee der Lehrjahre in den Worten aus: „er (Wilhelm)
tritt von einem leeren und unbestimmten Ideal in ein bestimmtes,
thätiges Leben, aber ohne die idealisierende Kraft dabei einzu-
büsseu." 1) Indessen als Schiller dies schrieb, lag die Dichtung
vollendet vor, nur das 8. Buch wurde noch der Feile unterworfen,
wobei Schillers Anderungsvorschläge Berücksichtigung fanden.
Sein Einfluss würde unterschätzt werden, wollte man ihn auf
dieses letzte Stadium beschränken. Vom dritten Buche an hatte
er den Roman im Manuskript gelesen und meist mündlich, zu-
weilen auch schriftlich, Goethe seine Eindrücke und Bemerkungen
mitgeteilt. Wenn wir im Geiste ergänzen, wie viel die beiden
Dichter zusammen über Plan und Einzelheiten des Werkes ver-
handelt haben mögen, so verstehen wir, was Goethe am 7. Juli
1796 au Schiller über das 8. Buch schreibt: „Wenn dieses nach
Ihrem Sinne ist, so werden Sie auch Ihren eigenen Einfluss da-
rauf nicht verkennen, denn gewiss, ohne unser Verhältnis hätte
ich das Ganze kaum, wenigstens nicht auf diese Weise, zustande
bringen können. Hundert Mal, wenn ich mich mit Ihnen über
Theorie und Beispiel unterhielt, hatte ich die Situationen im Sinne,
die jetzt vor Ihnen liegen und beurteilte sie im Stillen nach den
Grundsätzen, über die wir uns vereinigten."' Wir dürfen danach
annehmen, dass schon in dieser ersten Gestalt des 8. Buches die
Grundideen schärfer hervortraten, als das sonst Goethes Eigenart
entsprach. AVährend wir aber dafür auf Vermutungen angewiesen
sind, die sich naturgemäss nie zur Gewissheit erheben lassen,
können wir den Einfluss, den Schiller auf die letzte Umarbeitung
>) Brief vom 8. Juli 1796,
318 J. Cohn,
des 8. Buchos hatte, an der Hand des Briefwechsels im Einzelnen
verfolgen. Schiller hat seine AussteUung-en in zwei Gruppen mit-
geteilt, deren erste sich in den Briefen vom 2. und 8. Juli 1796
findet. Es handelt sich dabei zum grössten Teile um Einzelheiten
der Motivation, die uns weniger berühren. ') Wichtiger ist schon,
wenn Schiller sagt, Mignons Tod werde zu schnell verlassen und
Wilhelm wende sein Interesse von der Leiche zu rasch auf die
Instrumententasche der Chirurgen ab. Goethe bezeichnete diese
Forderung als sentimental, suchte sie aber doch zu erfüllen,
denn Schiller erklärt sich auch in diesem Punkte im Wesentlichen
für befriedigt. 2) Kommt hier Schillers Empfindungsweise, die eine
stärkere Berücksichtigung des Gefühles verlaugt, zu ihrem Rechte,
so zeigt ein anderer Wunsch den Denker Schiller. Er bedauert
nämlich, dass die Stiftsdame Natalien das Prädikat der schönen
Seele vorweggenommen habe. Goethe hat hier Abhilfe geschaffen
und diese Ehrenbezeichnung auf Natalien abgeleitet. Nicht die
einseitig kontemplative Stiftsdame, sondern die im reinen Einklänge
mit ihrer Natur unberührt von dem Kampf gegen die Leiden-
schaften sittlich thätige Natalie entspricht der hohen Vorstel-
lung, die Schiller mit dem Worte „schöne Seele" verbindet.
1) Er fordert z. B., dass die Erscheinung des Marchese und der
Gräfin im 8. Buche erklärt werde, und rechnet einen chronologischen
Verstoss im Alter von Werners Kindern nach. Goethe hat diese Dinge
verbessert. Man pflegt Goethes Drängen auf Motivation in Schillers Dich-
tungen, z. B. die bekannte Einfügung von 2 Versen in Wallensteins Lager,
als Beweis für Goethes Realismus anzuführen. Es scheint sich aber hier
viel weniger um einen Unterschied der Naturen als um den Gegensatz
des Schaffenden und des Kritisierenden zu handeln. Der Künstler erfindet
seine Situationen aus ästhetischer Notwendigkeit. Er braucht sie in der
Komposition — das ist zunächst Motiv genug. Erst nachträglich begründet
er auch äusserlich realistisch. Das aber gehört jenem Stadium der Arbeit
an, in dem er selbst sich seinem Werk gegenüber kritisch verhält und
daher auch von fremder einsiclitsvoller Kritik unterstützt werden kann.
Goethe hat seinem Briefe vom 9. Juli ein Blatt beigelegt, auf dem er die
auf Sch.s Rat vorzunehmenden Änderungen verzeichnet. Danach (W. I,
21, 333 und Graef I, 2; 828, 8) hat er alle Vorschläge der ersten Gruppe
ausser einem, den Schiller selbst am 8. Juli zurücknahm, und einem tiefer
einschneidenden (Bedenken, ob Wilhelm sich unter Adligen halten und
„den Bürger ganz vergessen" wird) berücksichtigt. Die betreffenden Än-
derungen wurden thatsächlich durchgeführt.
2) Brief vom 19. Oktbf 1796. Nach blosser Lektüre des Textes
könnte die Erfüllung von Sch.s Forderung zweifelhaft erscheinen.
Das Kantisclie Element in Goethes Weltanschauung. 319
Weit entschiedener tritt in der zweiten Gruppe von Än-
dernng-svorschläg-en') Schillers Verlangen nach klarerer Durch-
führung- der Idee hervor, die Goethe, wie er selbst schreibt,^)
aus einem „gewissen realistischen Tic" seiner Natur heraus
immer uoeh zu sehr im Dunkeln gelassen hatte. ■^) Wir verdanken
es den Mahnungen des Freundes, dass wir in die Absichten des
Abbe wenig-stens einigermassen Einblick erhalten.*) Auch Schillers
Vorschlag, die zweite Hälfte des Lehrbriefes, die im 7. Buch durch
einen Zufall weg-geblieben war, zur Darstellung der Idee zu be-
nutzen, ist von Goethe befolgt worden. Ferner wünschte Schiller,
dass Wilhelms Verhältnis zur Kunst sich der Grundidee des Bil-
dungsronianes gemäss erhöhe und reinige. Aus seinem Tadel
geht hervor, dass Wilhelm ursprünglich auch im Saal der Ver-
gangenheit lediglich von dem Stoff der Kunstwerke berührt wurde
und sich am Schlüsse der Kunst gegenüber noch ebenso ver-
hielt wie als Knabe im Hause seines Grossvaters. „Wäre hier,"
so frigt Schiller, „nicht der Ort gewesen, den Anfang einer
glücklicheren Krise bei ihm zu zeigen, ihn zwar nicht als Kenner,
denn das ist unmöglich, aber doch als einen mehr objektiven Be-
tracliter darzustellen, so dass etwa ein Freund wie unser Meyer
Hofr'nung von ihm fassen könnte?" Goethe hat diesen Rat genau
befolgt. In der uns vorliegenden Fassung bemerkt Wilhelm die
reia künstlerische Wirkung des Saales der Vergangenheit, ohne
1) Brief vom 9. Juli 179«.
2) Brief vom 9. .Juli (kreuzt sich also mit Sch.s Vorschlägen).
•■') Auch unter dieser zweiten Gruppe finden sich einige Details, die
reit der Idee nichts zu thun haben. Seh. v^^ünscht zu wissen, ob der Abbe
und seine Freunde vor Werners Erscheinen im Schlosse gewusst haben,
dass das Gut für Wilhelm gekauft werden sollte. Goethe willfahrte durch
den Satz : „.Jarno und der Abbe schienen über diese Erkennung (seil. Wil-
lelms und Werners) keineswegs verwundert." Gebrauch hat G. auch von
Seh.s Vorschlag gemacht, dass der Graf die günstige Änderung in Wil-
helms äusserer Erscheinung durch sein Benehmen beim Wiedersehen ins
Licht setzen sollte. Dagegen blieb der Wunsch unberücksichtigt, die
Quelle zu erfahren, aus der der Abbe Theresens Geschichte kennt.
4) Schiller fordert, es solle gesagt werden, warum der Abbe oder
sein Helfershelfer den Geist des alten Hamlet spielt und warum ferner
dieser unbekannte Freund den Zettel „flieh, flieh" in dem Momente zurück-
lässt, da er Wilhelmen zu seinem Debüt behilflich ist. Für Beides ist
im fünften Kapitel ein Grund angegeben, der ganz der Erziehungsmaxime
des Abbe entspricht, man müsse den Menschen seinen Irrtum bis zu Ende
durchführen lassen, damit er von Grund aus davon geheilt werde.
320 J. Cohn,
sich von dem (irmuh' Rechenschaft ablog-en zu können. „Was ist
das," rief er aus, „das unabhäno-i»- von aller Bedeutung-, frei von
alhMU Mitg-efühl, das uns menschliche Begebenheiten und Schick-
sale einflössen, so stark und zugleich so anmutig auf mich zu
wirken vermag?" Hier ist besonders deutlich, wie Schiller auf
Durchführung- der Idee durch alle Einzelheiten dringt nud seinen
Willen erreicht. Nebenbei sei bemerkt, dass man iu Wilhelms
Ausruf die Nachwirkung der berühmten Kantischen Formeln, ohne
Beg-riff, ohne Reiz und Rührung, erkennt. Einige andere For-
deruug-en Schillers blieben allerdings unerfüllt, so der AVunsch,
Jarno solle Wilhelmen über seinen Irrtum bei der Wahl Theresens
aufklären. Goethe hat das wohl mit Recht für überflüssig ge-
halten, da der Leser hier ohne ausdrücklichen Hinweis das Rich-
tige erkennt.') Tiefer in den Organismus des Kunstwerks griff
Schillers Verlangen ein, Goethe möge erklären, warum Wilhelm
die Philosophie bei seiner Bildung entbehren konnte; eben darum
aber überschritt er die Grenze der Nachgiebigkeit, über die
Goethe nicht hinausgehen durfte, ohne seiner Natur Gewalt
anzuthuu. Aus Besorgnis, über das Mass des Zulässigen hinaus
beeinflusst zu werden, zeigte er Schiller mit dessen Billigung das
durchgearbeitete Manuskript nicht mehr. 2)
Die Änderung in Goethes Betrachtungsweise, die sich im
8. Buch der Lehrjahre erkennen lässt, kam dem Dichter erst ein
Jahr später auf der Reise über Frankfurt und Stuttgart nach Jer
Schweiz zum Bewusstsein. Man hat daher seit Gerviuus^) öfter
iu dieser Reise und besonders in dem Brief aus Frankfurt m
Schiller vom 16. August 1797 einen Wendepunkt gesehen. Goetie
berichtet, er finde in sich eine Art Sentimentalität den Gegei-
ständen gegenüber. Es ist nicht mehr wie einst, wo einzelus
Eindrücke eine starke Empfindung in ihm erregten ; vielmehr bleib*:,
er den besonderen Objekten gegenüber ruhig, fast gleichgültig
während ihn eine allgemeine poetische Stimmung beherrscht.
Aber der alte Realist ist noch so mächtig in ihm, dass er auch
1) Dagegen ist Jarno zum Träger der übrigen Aufklärungen Wilhelm
gegenüber gemacht worden.
2) Vgl. Goethes Briefe vom 10., 13., IG. August, Schillers Briefe vom
10. August und 19. Oktober.
1) Geschichte der deutschen Dichtung \\, 641 f., V5, 785 f. vgl.
auch : Tomaschek, Schiller in seinem Verhältnisse zur Wissenschaft. Wien
1862. S. 485 f. I
1.
' Das Kantische Element in Goethes "Weltanschauung. 321
an dieser allgemeinen Gefiihlslag-o den Gegenständen einen
bedeutenden Auteil zuschreibt. Mit Recht macht Schiller in
seiner Antwort darauf aufmerksam, dass nicht der Gegenstand,
sondern das Gemüt des Betrachtenden die Ursache dieser Senti-
mentalität sei, und dass jeder Gegenstand, der auf eine solche
Geistesbeschaffenheit treffe, allgemeine Gefühle und Betrachtungen
auslösen könne.
Goethe hat hier zum ersten Male eine Eigentüuilichkeit an
sich beobachtet, die doch schon im 8. Buche der Lehrjahre hervor-
tritt und später zur Ausbildung seines Altersstils beiträgt. Es ist
nicht ganz leicht, sie mit Worten auszudrücken. Vor allem muss
man nicht glauben, dass der neue Stil von einer gewissen
Zeit an überall bei Goethe hervortritt. Es kann sich nur
um die Hervorhebung von Zügen handeln, die sich bald hier, bald
da mit den Jahren in w^achsendem Masse geltend machen und erst
in den Hauptwerken des höheren Alters, in späteren Teilen des
Faust und der Wanderjahre herrschend w^erdeu. Am meisten fällt
wohl die weniger individuelle Durchbildung der Charaktere auf; schon
Lothario und NataUe im 7. und 8. Buch der Lehrjahre zeigen das,
wenn man sie mit den Menschen der frühereu Teile des Romans
vergleicht. Begleitet man Faust und Mephisto aus dem ersten in
den zweiten Teil, so hat man das Gefühl, als seien sie aus Dürers
in Michel-Angelos Stil umgesetzt. Gleichzeitig mit dieser Ver-
allgemeinerung der Personen kühlt sich das Interesse an den
einzelnen Dingen ab. Nicht als ob Goethe in der Schilde-
rung gegenständlichen Details knapper würde; die Einzelzüge
werden eher gehäuft wie in der Schlacht im 4. Akte des 2. Teils
Faust oder in der Schilderung der Weber in den Wauderjahren.
Aber für den geringeren Anteil des Dichters an diesen einzelnen
Zügen ist bezeichnend, dass Goethe, der früher nur Selbstgesehenes
schilderte, in den Wanderjahren Meyers Beschreibung der schwei-
zerischen Hausindustrie ausgiebig verwendete. Menschen und
Dinge erregen nicht mehr als solche den leidenschaftlichen Anteil
des Dichters; sein Geist lebt nicht mehr ganz in ihnen, sondern
scheint sich zeitweise von ihnen zu lösen und in freier Betrach-
tung über ihnen zu schweben. Nochmals sei betont, dass das
nicht für alle späteren Werke gilt. Nicht nur Hermann und Do-
rothea ist fast von jeder Spur dieser späteren Art frei, noch die
Hauptfiguren der Wahlverwandtschaften sind höchst individuell
und mit stärkstem Anteil an ihrer Eigenart geschildert. Aber
322 J. Cohn,
wo der Altersstil einsetzt, da wird man sagen dürfen, dass
Menschen und Dinge nicht mehr für sich allein stehen sondern in
ihnen eine tiefere Bedeutung mitklingt. Sie sind nicht etwa
Allegorien, die etwas Anderes sagen sollen, als sie unmittelbar
sagen, aber sie stehen mit Bewusstsein des Dichters als Vertreter
eines allgemeinen Verhältnisses da, das an ihrem einzelnen Falle zu
typischer Anschauung gebracht wird.i) Auf das Bewusstsein des
Dichters ist hierbei der Ton zu legen. Auch Werther oder Tasso,
Gretchen oder Dorothea können als Typen gelten, aber nur, weil die in
ihnen verkörperten Erlebnisse und Erfahrungen an sich etwas Ty-
pisches haben. Gewiss auch der Faust des ersten Teiles ver-
körpert das menschliche Streben nach grenzenlosem Wissen und
Thun, aber er ist dabei ein ganz bestimmter, spät-mittelalterlicher
Gelehrter, zu dem sein Studierzimmer, die engen Strassen der
Stadt als notwendiger Hintergrund gehören. Am Kaiserhof im
2. Teil ist das Zeitkostüm nur noch leise angedeutet, und Fausts
eigenes, meerentrungenes Schloss und Reich wächst über jede be-
sondere örtliche und zeitliche Bestimmung zu monumentaler, fast
mythologischer Grösse empor. ÜberaU sind die Werke zu Aus-
drucksmitteln all der Weisheit geworden, die Goethe dem eigenen
Leben und der Überlieferung der Jahrtausende verdankt, einer Weisheit,
die sich nicht in dürren Worten, sondern in geheimnisvollen, ahnungs-
reichen Bildern ausspricht; denn auch der Gedanke wird bei Goethe
zur Dichtung. Man hat oft beklagt, dass den späteren Werken
die Frische und Leidenschaft der Jugend, die plastische Klarheit
und Vollendung des besten Mannesalters fehle; aber dieser Ver-
lust ist keine Folge des Gedankenreichtums, sondern mit diesem
zugleich eine Folge des Alters. Die Erlebnisse sind dem Dichter
nicht mehr so neu, so lebendig wie einst, sie erhalten Bedeutung
wesentlich durch das, was sein Geist Bedeutendes in sie hiuein-
1) In der Anzeige von Manzonis „II conte di Carmagnola" 1820 hat
sicli Goethe über diesen typischen Stil ausgesprochen. Hier heisst es
W. I, 41, 1, 206, 26: „Herrn Manzoni dürfen wir zum Ruhm nachsagen,
dass seine Figuren alle aus Einem Guss sind, eine so ideell wie die andere.
Sie gehören alle zu einem gewissen politisch-sittlichen Kreise; sie haben
zwar keine individuellen Züge, aber, Avas wir bewundern müssen, ein jeder,
ob er gleich einen bestimmten Begriff ausdrückt, hat doch ein so gründ-
liches, eigenes, von allen übrigen verschiedenes Leben, dass man, wenn auf
dem Theater die Schauspieler an Gestalt, Geist und Stimme zu diesen
dichterischen Gebilden passend gefunden werden, man sie durchaus für
Individuen halten wird und rauss".
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 323
leg-t. Vor allem darf man nicht meinen, dass eine Theorie an dem
Verlust der Lebensfülle schuld sei. Hermann und Dorothea g-e-
hört derselben Zeit an, in der Goethe sich am nächsten an philo-
sophische Theorien heranwagte. Kants und Schillers Ästhetik
stellt ebenso wie die Goethes das unmittelbare, unreflektierte
Schaffen des Genies am höchsten. Umg-ekehrt wird kein Ver-
ständigter diese Ausführungen so deuten, als solle der Ideenreich-
tum der Alterswerke als blosser Nachklang- Kant-Schillerscher
Philosophie hingestellt werden; er ist vielmehr der Ertrag von
Goethes ganzem Leben. Aber die Berührung mit der Kantischen
Philosophie gab Goethe die Anregung, seine Aufmerksamkeit
auch dem Schaffen und den Zielen des Geistes zuzuwenden.
Goethe hegte eine religiöse Scheu vor jeder Profanation der
höchsten Dinge durch das AVort. Hier wie in der Darstellung
persönhcher Erlebnisse hat der Mitteilungsdrang des Dichters mit
einer gewissen keuschen Zurückhaltung des Menschen zu kämpfen.
Wenn Goethe uns trotz dieser strengeren Haltung in seinen Werken
ein fortgesetztes Bekenntnis abgelegt hat, so dürfen wir dafür der
überschwängliehen, mitteilungsfrohen Empfindsamkeit der Sturm-
und Drangperiode dankbar sein. Es war damals der Stolz aller
höheren Menschen, in Gefühlen zu schwelgen. Diese Stimmung
der ganzen Umgebung wirkte auch auf Goethe und überwand seine
persönliche Schamhaftigkeit. Eine ähnliche Stellung wie diese
Strömungen zu den persönlichen Bekenntnissen des jungen Goethe
nimmt die von Kant ausgehende idealistische Philosophie zu den
Offenbarungen der Altersweisheit ein. Dass ein Mann wie Schiller
in der Betrachtung der höchsten Ziele des allgemeinen Geistes
lebte, gab auch Goethe den Mut und die Gelegenheit, seine tiefen
Ahnungen auszusprechen.
Zwischen der geschilderten Wandlung des Stils und der Um-
bildung von Goethes ästhetischer Theorie unter Schillers Einfluss
besteht ein inniger Zusammenhang. Wie in jener „sentimentalen"
Betrachtungsart der selbstbewusste Geist den Dingen gegenüber
mächtig wird, so gelaugt theoretisch mehr und mehr die schaffende
Kraft des Künstlers zur Anerkennung. Goethes lateresse war in seinen
früheren Schriften auf das Kunstwerk und seinen Stil gerichtet,
die Kantische Ästhetik sucht dagegen allgemein die Merkmale des
ästhetischen Wertes, des Schönen zu erfassen. Von diesen ver-
schiedenen Ausgangspunkten waren aber Beide in wichtigen
Punkten zu den gleichen Resultaten gelangt, vor allem strebten
324 J. Cohn,
sie mit deniselbeu Kifer danacli, dio Kunst aus der Umg-aruuuf?
durch fremde Interessen zu befreien. Die Forderung des Künstlers
nacli freier Entfaltung- seines Genius konnte sich leicht mit dem
Streben des Philosophen nach reiner, begrifflicher Abgrenzung
verbinden. Für Beide entstand nun auch dasselbe Problem, wie
nämlich diese in ihrer Selbständigkeit erfasste Kunst zu dem
ausserkünstlerischen Gebiete der Natur und des Geistes sich
verhalte. Insbesondere an der Stellungnahme zu dem Verhältnis
von Natur und Kuust kann man die Wandlungen von Goethes
Ansichten verfolgen.
Die Ästhetik des Sturmes und Dranges ist entschiedener
Naturalismus. Werther schreibt einmal, bei Gelegenheit einer
Zeichnung nach der Natur, die ihm gelingt: „Das bestätigte mich
in meinem Vorsatze, mich künftig allein an die Natur zu halten.
Sie allein ist unendlich reich und sie allein bildet den grossen
Künstler." ') Charakteristik der Darstellung, Stärke des Gefühles,
Fülle des Erlebens sind die Ziele dieser, wie jeder naturalistischen
Kunst. Besondere Färbung gewinnt ihr Naturbegriff durch das
Herüberwirken der Rousseauschen Kulturfeindschaft und durch jene
Verehrung der Kraft, die wir schon auf ethischem Gebiete beob-
achtet haben. Bei Goethe gesellt sich dazu das innige Gefühl
für die Einheit der Natur, deren Herrlichkeit sich in den kleinsten
wie in den grössten Erscheinungen offenbart. „Ehr' jede krüpp-
liche Kartoffel," ruft er Freuud Merck zu 2) und verkündet:
„Wer mit seiner Mutter, der Natur, sich hält,
Find't im Stengelglas wohl eine Welt." 3)
Aber schon im Jahre 1775 beginnt eine Wandlung oder min-
destens Ergänzung dieses Naturalismus. Das entschiedene Form-
gefühl Goethes fängt auch theoretisch au, zur Geltung zu kommen,
vielleicht tritt der Einfluss Winckelmanns, den Goethe in Leipzig
durch Oeser empfangen hatte, dabei wieder an die Oberfläche.
In dem Aufsatze, den H. L. Wagner unter dem 'JMtel „aus Goethes
Brieftasche" seiner Übersetzung von Merciers neuem Versuch über
1) Brief vom 26. Mai 1771. Der junge Goethe 3, 244 f. Ähnlich
sagt Lotte, 16. Juni 1771. a. a. O. 3, 252 f. „Und der Autor ist mir der
liebste^ in dem ich meine Welt wiederfinde, bei dem's zugeht wie um
mich, und dessen Geschichte mir doch so interessant, so herzlich wird, als
mein eigen häuslich Leben" . . .
2) „In eine Zeichenmappe" Der junge Goethe III, 156.
3) „Brief", a. a. 0. III, 169 f.
ö
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 325
die Schauspielkunst angehäng-t hat, wird bei aller Gegnerschaft
gegen die äussere konventionelle Form des französischen Theaters
doch die Wichtigkeit einer „inneren Form'' betont. Diese „innere
Form" prägt das unmittelbare Kuustgefühl des Dichters dem Werke
auf ; sie ist eine Veränderung der Natur, deren Notwendigkeit
Goethe hier zum ersten Male hervorhebt. „Jede Form, auch die
gefühlteste, hat etwas Unwahres, allein sie ist ein für allemal
das Glas, wodurch wir die heiligen Strahlen der verbreiteten
Natur in das Herz der Menschen zum Feuerblick sammeln." ') In
den Beiträgen zu Lavaters physiognomischen Fragmenten, die
durch E. von der Hellens Untersuchungen für Goethe gesichert
sind, wird sogar einmal, bei Gelegenheit eines Kopfes nach Ea-
phael, künstlerische Wahrheit und Naturwahrheit einander ent-
gegengestellt: „und die übermässig vorstehende Oberlippe, ein
Beispiel zur Bemerkung, wie Raphael um Wahrheit, Bedeutung
und Wirkung hervorzubringen, selbst die Wahrheit aufopfert."'-^)
In gerader Linie führt von hier aus Goethes Entwickelung bis zu
jenen Aufsätzen, in denen er die ästhetischen Resultate der ita-
lienischen Reise niedergelegt hat: Jetzt erscheint die einfache
Nachahmung der Natur nur noch als bescheidene Vorstufe, von
der aus der grosse Künstler sich zum Stil erhebt. Aber auch
der Stil wird als Darstellung der Natur aufgefasst; auf dieser
höchsten Stufe erfasst der Künstler hinter den zufälligen Erschei-
nungen der blossen Wirklichkeit das wahre Wesen der Dinge.
Diese Unterscheidung von Wahrheit und Wirklichkeit ist ein
vielfach vermittelter Nachklang der platonischen Ideenlehre, der
wohl von Winckelmann zu Goethe herübertönte. Doch erhalten bei
diesem die überlieferten Gedanken neuen Inhalt durch die Erfahrungen
des künstlerisch intuitiven Naturforschers, der die schaffende
Natur beim Werk zu belauschen glaubt. „Wie die einfache
Nachahmung auf dem ruhigen Dasein und einer liebevollen
Gegenwart beruht, die Manier eine Erscheinung mit einem
leichten, fähigen Gemüt ergreift, so ruht der Stil auf den tiefsten
Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern
uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greifbaren Gestalten zu er-
kennen." 3) Moritz hatte unter Goethes Einfluss ähnliche Gedanken
1) a. a. 0. 3, 686 f.
2) w. I, 37, ms, 6.
3; W. I, 47, 80, 10.
326 J. Cohn,
in seiner Schrift über die bildende Nachahmung des Schönen an
ältere der Leibnizischen Schule ang-ehörige Auffassungen auge-
knüpft und im einzelnen Kunstwerk einen verkleinerten Abdruck
der h(3chsten Schönheit des Universums gesehen. Diese Wendung,
die uns schon bei Lessing begegnet, billigt Goethe ausdrückUch
in seiner Anzeige von IVIoritz' Arbeit. ') Stimmen doch Beide darin
überein, dass Kunstschaffen und Kunstgenuss eine gemeinsame
Voraussetzung haben: „Ruhige Betrachtung der Natur und Kunst
als eines einzigen, grossen Ganzen."
Die naive Sicherheit des Glaubens, dass der wahre Künstler
das Wesen der Dinge erfasse, wird durch Schillers Einfluss zer-
stört, aber die Analogie von Naturforschung und Kunst bleibt be-
stehen. Auf beiden Gebieten zugleich, so kann man w^ohl sagen, wird
die platonische Idee durch die Idee im Sinne Kants und Schillers
ersetzt. Nicht mehr in passivem Anschauen empfängt der Mensch
eine fertige objektiv vorliegende Idee, sondern durch das Thuu des
Geistes bringt er sie hervor. Dabei bleibt die Einheit von
Geist und Natur Goethes Grundüberzeugung, aber die Natur selbst
wird inniier bewusster vergeistigt, und die Einheit ist nicht mehr
selbstverständliche Voraussetzung sondern höchstes nie ganz er-
reichbares Ziel des Erkennens. Diese gleichartige Entwickelung
auf naturwissenschaftlichem und kunsttheoretischem Gebiete er-
möglicht es Goethe auch spät noch, beide als eine Einheit zu be-
handeln. So rühmt er 1823 von dem Künstler des Parthenon-
giebels, dass er in dem Pferdekopf, den Lord Elgin nach London
gebracht hatte, ein „Urpferd" geschaffen habe.'^) Ähnlich heisst
es 1830, dass die phantastischen Metamorphosen der Arabesken
sich um so anmutiger und zugleich möglicher darstellen, je mehr
sie sich der natürlichen Metamorphose anschUessen. ^) Bleibt es
so Goethes Streben, Kunst und Naturforschung in eins zu fassen,
so ist doch das Verhältnis beider Gebiete durch die philosophische
Betrachtungsweise problematischer geworden. Wer die Produk-
tivität des Geistes in der Idee anerkennt, der muss auch die
verschiedene Richtung der Produktion beim Künstler und beim
Naturforscher bemerken. Zu der Frage nach dem Verhältnis von
1) W. I, 47, 84—90.
2) ^jtiber die Anforderungen an naturhistorische Abbildungen". W.
II, 12, 147.
2) Anzeige von Zahns ponipejanischen Ornamenten und Gemälden.
W. I, 49, 1, 181, 24.
Bas Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 327
Geist und Natur im Kunstschaffen gesellt sich die andere nach
dem Verhältnis des künstlerischen und des wissenschaftlichen Geistes
zu einander. Beide Probleme sind für Goethe erst durch Schiller
wichtig geworden. Während in den Aufsätzen, die sich an die ita-
lienische Reise anschliessen, wahres Wesen der Natur, Ergeb-
nis der Naturforschung und künstlerische Wiedergabe der wahren
Natur kurz und wie selbstverständlich in eins gesetzt wird,i) ist
das in den Aufsätzen der Propyläen und den Entwürfen und Stu-
dien, die sich um diese Zeitschrift gruppieren ganz anders geworden.
In der Einleitung zu den Propyläen will Goethe die Absicht recht-
fertigen, im Interesse der Künstler auch Naturwissenschaftliches
in seine Zeitschrift aufzunehmen. Zehn Jahre früher wäre ihm
das selbstverständlich gewesen, jetzt bedarf es der Begründung.
Man bedenke im allgemeinen nicht, wie ungeheuer die Anforderung
sei, sich an die Natur zu halten, die an den Künstler leichthin
gestellt werde. Alles Wahrgenommene ist für den Künstler
„roher Stoff'', selten und schwer genug gelangt er dazu, auch
nur' durch geschmackvolle Auswahl den Dingen „ihre äussere
schöne Seite abzugewinnen". Aber noch viel seltener ist es, „dass
ein Künstler sowohl in die Tiefe der Gegenstände, als in die Tiefe
seines eigenen Gemüts zu dringen vermag, um in seinen Werken
nicht bloss etwas leicht und oberflächlich Wirkendes, sondern
wetteifernd mit der Natur etwas geistig Organisches hervorzu-
bringen und seinem Kunstwerk einen solchen Gehalt, eine solche
Form zu geben, wodurch es natürlich zugleich und übernatürlich
erscheint."-) Durch einen Doppelsinn kommt Goethe hier zu
seinem Ziele. Er will dem Künstler die Anatomie anpreisen und
setzt dazu das im körperlichen Sinne „tiefe" Innere mit der
geistigen „Vertiefung" gleich. Beides hängt in der That für ihn
zusammen, da ein tieferes Verständnis des Körpers nur durch die
^) Die Anordnung der Weimarer Ausgabe erschwert diese Ver-
gleichung. Chronologische Folge war durcli den Plan der Ausgabe
ausgeschlossen. Warum aber z. B. der Aufsatz „Von Arabesken" nicht
wie in allen von Goethe selbst besorgten Ausgaben hinter „Einfache
Nachahmung etc." direkt folgt, sondern durch ca. 150 S. davon getrennt
ist, erscheint unverständlich. Den innigen sachlichen Zusammenhang
beider Aufsätze hat H. v. Stein : Goethe und Schiller, Beiträge zur Ästhe-
tik der deutschen Klassiker (Reclam) S. 30 dargelegt. In der Cottaschen
Jubiläumsausgabe hat W. v. Oettingen mit Recht die Schriften zur Kunst
chronologisch geordnet (Bd. 33 f.)
2) W. I, 47, 12.
328 .T. Cohn,
Kenntnis dessen zu gewinnen ist, was unter der Haut liegt. In-
dessen bleibt die Natur für den Künstler immer nur die Schatz-
kammer der Stoffe. ,.Indem der Künstler irgend einen Gegenstand
der Natur ergreift, so gehört dieser schon nicht mehr der Natur
au, ja man kann sagen, dass der Künstler ihn in diesem Augen-
blick erschaffe, indem er ihm das Bedeutende, Charakteristische,
Interessante abgewinnt oder vielmehr erst den höheren Wert hin-
einlegt."') Viel entschiedener noch hat Goethe in den Anmerkungen
zu Diderots Versuch über die Malerei Künstler und Naturforscher
kontrastiert, während Diderot sie unterschiedslos neben einander ge-
stellt hat. „Das Äussere des Gefässes, das lebendige Ganze, das zu
allen unseren geistigen und sinnlichen Kräften spricht, unser Ver-
langen reift, unseru Geist erhebt, dessen Besitz uns glücklich
macht, das Lebensvolle, Kräftige, Ausgebildete, Schöne, dahin ist
der Künstler angewiesen. Auf einem ganz anderen Wege muss
der Naturbetrachter gehen. Er muss das Ganze trennen, die
Oberfläche durchdringen, die Schönheit zerstören, das Notwendige
kennen lernen und, wenn er es fähig ist, die Labyrinte des orga-
nischen Baues wie den Grundriss eines Irrgartens, in dessen
Gängen sich so viele Spaziergänger abmüden, vor seiner Seele
festhalten.""^) In dem Gespräch über Wahrheit und Wahrschein-
lichkeit der Kunstwerke wurd an den extremen und deshalb so
lehrreichen Fällen der Theaterdekoration und der Oper der Unter-
schied von Naturwahrheit und innerer Wahrheit erläutert. Auf
die Konsequenz der Durchführung kommt es im Kunstwerk an.
Nur der ganz ungebildete Zuschauer, der wie die Sperlinge dv^s
Zeuxis seine Gier an das Kunstwerk heranbringt, will Natur sehen,
wo ihm Kunst vor Augen geführt wird. Trotzdem bleibt auch für
einen gebildeten Geschmack im Kunstwerk etwas Naturartiges be-
stehen. Das war auch von Kant in dem Ausspruche hervorgehoben
worden, die Kunst sei schön, wenn wir uns bewusst seien, sie sei
Kunst, und sie uns doch wie Natur aussehe. Im Anschluss an
diese Andeutung Kants entwickelte Schiller seine Lehre von der
Freiheit in der Technik.^) Goethe steht Beiden nahe, nur
') W. I, 47, 17, 17.
-) G. plante die Übersetzung und Kommentierung seit August 1796.
Die Arbeit gehört dem August-November 1798 an und erscliien in d.
Propyläen 1799. W. I, 45, 352 f. Die citierte Stelle : W. I, 45, 254, 27.
3) Kritik der Urteilskraft §45. ed. Kehrbach S. 173. Schillers Brief
an Körner, 23. Febr. 1793.
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 329
klingt bei ihm eine metaphysische Auffassung- der Einheit von
Menschengeist und Natur entschiedener mit. Als Werk des
menschlichen Geistes ist das vollkommene Kunstwerk zugleich ein
Werk der Natur, aber durch die vereinigende und veredelnde
Thätigkeit des Geistes erhebt es sich trotzdem über die
Natur.») In einem Fragmente, das unter den Paralipomenis zu
den Propj'läen in der Weimarer Ausgabe veröffentlicht ist und
dort den Titel „von der Natur zur Kunst" führt, 2) können wir
Goethe gleichsam beim Nachdenken über diese Fragen belauschen,
wir hören fast, wie er abgerissene Sätze und Kernworte in Geists
Feder diktiert. Von dem Naturforscher geht er aus. Dieser gelangt
bei seinem Bemühen, immer ausgebildetere und bestimmtere Ge-
stalten zu fassen, bis zu den Nationalphysioguomien. „Hier aber
kann er nicht weiter." Augenscheinlich muss man an dieser Stelle
des Fragments den Gedanken ergänzen, dass zur höchsten Be-
stimmtheit der individuellen Gestalt nur die Anschauung des
Schönen führen kann. Denn Goethe fährt fort: „Alle Naturen,
die Verhältnis haben, suchen sich, und finden sich angenehm. —
Wo nicht schön — Erfahrung bringt Zweifel, was schön sei. —
Für den Künstler ist nichts geschehen. ^) — Die Erfahrung mag
nicht Recht schaffen. — Und die Erfahrung keinen Künstler. —
Die Kunst ist konstitutiv. — Der Künstler bestimmt die Schön-
keit, er nimmt sie nicht an." Goethe sucht seiner genetischen
Geistesrichtung gemäss die Schönheit an einfache Naturverhält-
1) W. I, 47, 265, 5. Das Gespräch gehört innig mit dem kleinen
Kunstroman „Der Sammler und die Seinigen" zusammen. Eine der Haupt-
figuren dieses Werkchens, der junge Philosoph, ist begeisterter Anhänger
Kants nnd Schillers. Er führt alle Künste auf ihre gemeinsame Wurzel,
das menschliche Gemüt zurück und lässt deutlich durchblicken, dass
auch die Natur ein Produkt des schaffenden Geistes ist. „Es giebt keine
Erfahrung, die nicht produziert, hervorgebracht, erschaffen wird." (W. I,
47, 175, 4.) Man könnte gegen die Beweiskraft solcher Aussprüche frei-
lich anführen, dass Goethe sich keineswegs ohne weiteres mit dem jungen
Philosophen identifiziert. Ich lege daher auch auf die angeführten Stellen
aus der Einleitung in die Propyläen und dem Gespräch über Wahrheit
und Wahrscheinlichkeit ein weit grösseres Gewicht als auf die Aussprüche
des Philosophen im Sammler.
2) W. I, 47, 292.
3) So steht im Manuskript. 0. Harnack, der Herausgeber von W. I,
47, hält „geschehen" für einen Hörfehler und verbessert es in „schön".
Die folgende Interpretation zeigt, warum ich den Text für richtig über-
liefert halte.
Kantatudisn X. 22
330 J. Cohn,
nisse, an die Sympathie verschiedener Wesen zu einander anzu-
knüpfen. Aber gerade die Verschiedenheit der natürlichen Sym-
pathien bringt die belcannten empiristischen Zweifel au der Norm
des Schönen mit sich. Für den Künstler ist durch Heranziehung
solcher Erfahrungen nichts geschehen. An dieser Stelle gewinnt
dann der Kant-Schillersche Gedanke von der schaffenden Macht
des Künstlers, von dem normativen, konstitutiven Charakter der
Kunst seine Bedeutung. Beobachten wir hier, wie die neuen,
philosophischen Gedanken Aufnahme in den alten Kreis von Goethe-
Überzeugungen finden, so ist das Resultat dieses Verschmelzuugs-
prozesses ^) in prägnantester Form in einer zusammenhängenden
Reihe der erst aus dem Nachlass veröffentlichten Sprüche in Prosa
niedergelegt."^) Ausdrücklich fordert hier Goethe von jedem, der
gegenwärtig über Kunst schreiben oder streiten will, einige Ahnung
von dem, was die Philosophie in unseren Tagen geleistet hat und
zu leisten fortfährt (704), Unter dieser Philosophie ist, wie sich
im Folgenden zeigt, die Kantische zu verstehen, die zur Bekämpf-
ung des Naturalismus und zur Aufklärung des Künstlers über sein
eigenes Thun die Mittel darbietet. Es ist eine alte Erfahrung,
dass der Künstler überschätzt, was ihm die Natur unmittelbar
entgegenbringt. „Wenn Künstler von Natur sprechen, subiutelli-
gieren sie immer die Idee, ohne sichs deutlich bewusst zu sein"
(711). Sie vergessen den Anteil ihres eigenen Geistes und gleichen
denen, die ausschliesslich die Erfahrung anpreisen; „sie bedenken
nicht, dass die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist" (712).
Batteux Begriff einer Nachahmung der schönen Natur ist haltlos;
denn die Wahl des Schönen bedarf einer Norm, die nicht in der
Natur liegen kann (713). An dem Beispiel der malerischen Dar-
stellung eines Baumes wird dann der aktive Anteil des künstle-
rischen Geistes deutlich gemacht (714). Als das Resultat dieser
Überlegungen erscheint der Spruch : „Gerade das, was ungebildeten
^j Vgl. aucli die neuen Unterhaltungen über verschiedene Gegen-
stände der Kunst, 1808, wo es W. I, 48, 137,1 heisst : „Die Natur ist schön,
bis an eine gewisse Grenze. Die Kunst ist schön durch ein gewisses
Mass. Die Naturschönheit ist den Gesetzen der Notwendigkeit unter-
worfen, die Kunstschönheit den Gesetzen des liöchstgebildeten mensch-
lichen Geistes, jene erscheint uns daher gleichsam gebunden, diese gleich-
sam frei."
2) S. i. P. 704 — 720, die einen zusammenhängenden Abschnitt bilden;
710—717 enthalten den Kern des Gedankenganges. Ich setze im Text die
Nummern eingeklammert bei.
Bas Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 331
Menschen am Kunstwerk als Natur auffällt, das ist nicM Natur
(von aussen), sondern der Mensch (Natur von innen)" (716),
Klingt schon hier die Einheit von Geist und Natur an, so tritt
Goethes Grundüberzeuguug, dass die höchste That unseres Denkens
schliesslich wieder mit der Gottnatur übereinstimmen wird, deut-
licher in den zwei Sprüchen hervor, mit denen Goethe diese ganze
Betrachtungsreihe einrahmt. Am Anfang heisst es kurz und fast
rätselhaft: ,.Natur und Idee lässt sich nicht trennen, ohne dass
die Kunst so wie das Leben zerstreut werde" (710). Am Schlüsse ist
das Rätsel gleichsam gelöst, im Herzen des Menschen liegt der Kern
der Natur, wir dürfen die Zuversicht hegen, dass die notwendigen
Erzeugnisse unseres Geistes von der Natur nicht verleugnet
werden: „Suchet in euch, so werdet ihr alles finden und erfreuet
euch, wenn da draussen, wie ihr es immer heissen möget, eine
Natur liegt, die Ja und Amen zu allem sagt, was ihr in euch
selbst gefunden habt" (720).
Mit alle dem ist die Frage noch nicht in Angriff genommen,
wie denn nun die Idee in der geschlossenen Form des Kunstwerks
zum Ausdruck kommt. Schon die Unerreichbarkeit der Idee be-
weist, dass es sich nicht um eine direkte, einfache Darstellung
handeln kann; ebensowenig darf man an ein gewöhnliches Gleich-
nis denken. Vielmehr besteht ein ganz eigenartiges Verhältnis,
für das der Ausdiuck „Symbol" eintritt. Bei der Bedeutung, die
dies Wort in Goethes späteren Schriften gewinnt, ist es wichtig,
hervorzuheben, dass es vor Schillers Einfluss nicht vorzukommen
scheint. In den Aufsätzen über Kunst, die sich an die italienische
Reise anschliessen, fehlt es ebenso, wie in den frühen naturwissen-
schaftlichen Schriften. Auch in den Schriften der Sturm- und
Draugzeit und in den Dichtungen der vorschillerschen Periode
habe ich es bisher nicht gefunden, i) Die älteste Stelle, an der
ich es nachweisen kann, steht im 7. Kapitel des 8. Buches der
Lehrjahre. 2) Häufiger wird der Gebrauch seit dem Jahre 1797.
1) Dass Goethe noch 1791 das Wort „Symbol" fehlte, aber auch, wie
nahe ihm der Symbolbegriff schon damals lag, beweist schlagend die Bei-
lage zu dem Brief an Meyer vom 13. März 1791, in der es heisst: „Was
die Erfindung betrifft, so haben Sie, dünkt mich, die glückliche Linie ge-
troffen, worüber die Allegorie nicht hinausgehen sollte. Es sind alles be-
deutende Figuren, sie bedeuten aber nicht mehr, als sie zeigen, und ich
darf wohl sagen, nicht mehr als sie sind."
2) „Diese Kunstwerke, die sein Vater verkauft hatte, schienen ihm
ein Symbol, dass auch er von einem ruhigen und gründlichen Besitz des
22*
332 J. Cohn,
So findet sich im Briefwechsel mit Schiller Symbol in Goethes
Briefen zum ersten Mal am 16. August 1797;^) aus dem Tage-
buche ist einen Monat später ersichtlich (13. September 1797),
dass Goethe Symbol und Allegorie unterscheidet.
Unter diesen Umständen wird man in den Sinn von Goethes
Symbolbegriff nur eindringen, wenn man dessen Ursprung bei
Kant und seine Weiterbildung durch Schiller heranzieht. Das reine
Denken kann nach Kants Grundüberzeugung für sich allein dem
Menschen keine Erkenntnis geben, sondern muss sich überall mit der
Anschauung verbinden. So gewinnen die Kategorien, die reinen
Formen des theoretischen Denkens ihre Anwendbarkeit erst durch
Aufnahme der reinen Anschauungsform der Zeit, im Schematismus.
Für die reine praktische Vernunft, für das freie, durch eigenes
Gesetz allein bestimmte sittliche Handeln ist eine solche direkte
Aufnahme eines Elementes der reinen Anschauung ebenso wenig
möglich wie eine Darstellung durch ein Beispiel. Die Veranschau-
lichung, die doch auch hier nötig ist, wenn die Vernunftidee wirk-
sam werden soll, wird in der Kritik der praktischen Vernunft
durch das Naturgesetz geleistet. Durch die Form der unbedingten
Gesetzlichkeit wird es zum Typus oder, wie einmal gleichbedeutend
mit Typus gesagt ist, zum „Symbol" der Sittlichkeit. 2) Dagegen
erscheint in der Kritik der Urteilskraft das Schöne als Symbol
des Sittlichen. 3) Auch hier liegt die symbolisierende Kraft in
den formalen Eigentümlichkeiten; die Allgemeinheit, Notwendig-
keit, Interesselosigkeit und Freiheit des Schönen symbolisieren die
reine Sittlichkeit. Wollen wir diesen Begriff des Symbols genauer
bestimmen, so müssen wir drei Punkte beachten : was im Schönen
symbolisch dargestellt ist, wodurch es dargestellt ist, und wie die
Vermittelung zwischen Dargestelltem und Darstellendem zu denken
ist. Das symbolisch Dargestellte ist die Sittlichkeit, die Idee der
praktischen Vernunft, Darstellungsmittel sind die formalen Eigen-
Wünschenswerten in der Welt teils ausgeschlossen, teils desselben durch
eigene und fremde Schuld beraubt werden sollte." Zur selben Zeit, als G.
am 8. Buch arbeitete, Hess er für Meyer eine das Symbol betreffende
Stelle aus der Kritik der Urteilskraft abschreiben (20. Juni 1796).
1) An der schon zitierten Stelle über die sentimentale Stimmung in
Frankfurt'.
2) I. Teil, ]. Buch, 2. Hauptstück: „Von der Typik etc." Werke,
2. Hartensteinsche Ausgabe V, 75.
3) § ö9. ed. Kehrbach S. 228 ff., cf. meine „Allgemeine Ästhetik"
166-158.
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 333
tümlichkeiteu des Schönen, die Art der Verraitteluug wird als
intuitiv bezeichnet. Diese letzte Bestiraniung' bedeutet, dass in
der symbolischen Anschauung die Idee unmittelbar erfasst wird,
während bei der Allegorie die Anschauung verlassen werden
muss, damit man in diskursiven Vergleichungsurteilen das Ge-
meinte verstehe.
Die Weiterbildung der Kantischen Gedanken bei unseren
Dichtern erfolgt nun so, dass die intuitive Vermittelung als der
eigentlich konstante Kern des Gedankens festgehalten wird, wäh-
rend die Auffassung des Dargestellten und des Darstellungsmittels
sich allmählich w^andelt. Zu dieser Entwickeluug bot Kant selbst
die Keime dar. Er bezeichnet direkt das Schöne freilich nur als
Symbol der Sittlichkeit ; aber in dem Grenzbegriff der Idee treffen
bei ihm theoretische und praktische Vernunft zusammen. Idee ist
nicht nur die Vollendung der Sittlichkeit, sondern ebenso der ge-
forderte und doch unerreichbare Abschluss der theoretischen Er-
kenntnis. Beide Bedeutungen hängen aufs Innigste zusammen, da
die theoretischen Ideen dem Menschen nur als Postulate der prak-
tischen Vernunft zugänglich sind. Kant selbst sagt in dem ent-
scheidenden Paragraphen der Kritik der Urteilskraft, dass unsere
Erkenntnis von Gott bloss symbolisch ist, ohne allerdings von
diesem Satze eine ästhetische Anwendung zu machen. Immerhin
ist damit nahegelegt, das Gebiet des im Schönen symbolisch Dar-
gestellten auf den ganzen Umkreis der Ideen zu erweitern. In
Bezug auf das Darstellungsmittel ferner hat Kant in dem letzten
iVbsatz seiner Ausführungen selbst schon mit der Erweiterung
begonnen. AVenn er hier als Beispiele ästhetischer Symbolisierung
anführt, dass wir schöne Gegenstände der Natur oder Kunst als
majestätisch, lieblich u. s. w. bezeichnen, so ist dabei augenschein-
lich nicht mehr an die Form des Geschmacksurteils gedacht,
sondern an die Seite des Ästhetischen, die Neuere als Ausdruck
zu bezeichnen pflegen. Kant hatte das Gefühl, sich in dieser
Schlussweudung zum gemeinen Menschenverstand herabzulassen,
aber eben dadurch machte er seine Gedanken anwendbar. Es
ist sehr bezeichnend, dass Goethe gerade diesen Abschnitt einem
Briefe au Meyer im Abschrift beilegen lässt. i)
Noch stärker zeigt sich bei Schiller der überwiegende Einfluss
dieses letzten Absatzes. Er hatte schon vor dem Erscheinen der Kritik
1) 20. Juni 1796. cf. S. 331, Anm. 2.
334 J. Cohn.
der Urteilskraft in den Künstlern das Schöne und Grosse als Sym-
bol der Wahrheit g-epriesen, ») wurde aber doch erst durch Kant
zu eingehenderem Nachdenken über diesen Begriff veranlasst. In
den Vorlesungen über Ästhetik, die er im Winter 1792—93 hielt,
begnügte er sich mit einem einfachen Referate von Kants Lehre ;
aber schon der grosse Brief an Körner vom 23. Februar 1793
zeigt den Beginn einer Weiterbildung. Unter den formalen
Analogien, die Kant zwischen Geschmacksurteil und sittlichem Ur-
teil aufstellt, wird eine für Schiller entscheidend: im Schönen
stellen wir die Freiheit unserer sinnlichen Einbildungskraft als
einstimmig mit der Gesetzmässigkeit des Verstandes vor, ebenso
wie im moralischen Urteil die Freiheit des Willens als seine Zu-
sammeustimmung mit sich selbst nach allgemeinen Veruunftgesetzen
gedacht wird. Schiller bildet diesen Gedanken so um, dass er das
Mittel der Symbolisieruug aus dem ästhetischen Urteil in das ästhe-
tische Objekt verlegt. Danach ist schön, was so erscheint, als habe
es sich aus innerer Freiheit nach einem Gesetze entwickelt, dessen
Gesetzmässigkeit also nichts Gezwungenes hat. In Anknüpfung
an einen anderen Kantischen Gedanken spricht Schiller von Frei-
heit in der Technik. Die Regelmässigkeit der Wellenlinie ist
schön, nicht die der gebrochenen Linie. ,.Darum ist das Reich
des Geschmacks ein Reich der Freiheit, — die schöne Sinnenwelt
das glücklichste Symbol wie die moraUsche sein soll, und jedes
schöne Naturwesen ausser mir ein glücklicher Bürge, der mir zu-
ruft: Sei frei wie ich." 2) Sehr bald erweitert er auch den
Kreis des symbolisch Dargestellten. In der Recension über
Matthisons Gedichte, die den ersten Monaten der Freundschaft
mit Goethe angehört, wird das höhere Recht von Landschafts-
malerei und Landschaftsdichtung mit Hilfe der Symbolik abgeleitet.
Dabei erscheinen zwei Wege gangbar, auf denen die unbeseelte
Natur ein Symbol der menschlichen werden kann: durch Darstel-
lung von Ideen, was ganz mit Kants Meinung übereinstimmt, oder
durch Darstellung von Empfindungen. Mit dieser zweiten Art meint
1) Ob hier ein durch Körner vermittelter Einfluss der Kritik der
praktischen Vernunft (cf . S. 332 Anm. 2) vorliegt? Undenkbar ist das nicht;
Seh. benutzt am 10. Septbr. 1787 die Formel des kategorischen Imperativs
(Briefe ed. Jonas I, 409). „Symbol" finde ich vor den Künstlern (1789) nur
im gewöhnlichen Sinne (= Sinnbild) — an Huber 5. Okt. 1785. Briefe
I, 270.
2) Briefe III, 284 f.
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 335
Schiller die gleichsam musikalische Wirkung- der Landschaft, die
Analogie, die zwischen unseren Gemütsbewegungen und ge-
wissen äusseren Erscheinungen besteht, jenen allgemeinen Aus-
druckswert der Landschaft, den man heute Stimmung zu nennen
pflegt. Das symbolisch Dargestellte sind hier menschliche Ge-
mütsbewegungen, also durchaus nichts Transscendentes im abso-
luten Sinne sondern nur Inhalte, die dem dargelegten Gegenstand
nicht für sich eigentümlich sind. Auf dem Wege dieser Erweiter-
ung schreitet Schiller fort, wenn er in dem Brief an Goethe vom
28. November 1797 über Richard III. sagt: „Zu bewundern ist's,
wie der Dichter dem unbehilflichen Stoffe immer die poetische
Ausbeute abzugewinnen wusste, und wie geschickt er das reprä-
sentiert, was sich nicht präsentieren lässt, ich meine die Kunst,
Symbole zu gebrauchen, wo die Natur nicht kann dargestellt
werden." An dieser Stelle zeigt sich aber neben der Erweiterung
des symbolisch Dargestellten noch eine Änderung in der Auffassung
des Darstellungsmittels. Nicht mehr der Ausdruckswert des
Schönen ist gemeint, sondern die typische Bedeutung des Kunst-
werks, die Fähigkeit des Künstlers, in einem einzelnen Falle ein
allgemeines Gesetz zum Ausdruck zu bringen. ^ Noch deutlicher
tritt dieser Gedanke, in dem sich der Einfluss der Goetheschen
Naturforschung nicht verkennen lässt, hervor, wenn Schiller am
23. Juni 1797 über den Faust schreibt, dass er bei aller seiner
dichterischen Individualität die Forderung an eine symbolische Be-
deutsamkeit nicht ganz von sich weisen könne. „Die Duplicität
der menschlichen Natur und das verunglückte Bestreben, das
Göttliche und das Physische im Menschen zu vereinigen, verliert
man nicht aus den Augen; und weil die Fabel ins Grelle und
Formlose geht und gehen muss, so will mau nicht bei dem Gegen-
stand stille stehen, sondern von ihm zu Ideen geleitet werden."
Mit dieser letzten Ausbildung des Symbolbegriffes stimmt
Goethe im wesentlichen überein. Nur hat er in zahlreichen
Äusserungen durchgeführt, was in den wenigen Schillerschen
Briefstellen angedeutet liegt. Da übrigens Schiller an den ange-
führten Orten Goethes Einfluss deutlich erkennen lässt, so dürfen
wir füglich diese Ausbildung des Symbolbegriffes als gemeinsames
1) Ähnlich ist wohl die Stelle in Sch.s Brief an G. vom 29. Dez. 97
zu verstehen, an der von symbolischen Behelfen im Drama die Rede ist.
„Ich habe mir diesen Begriff vom Symbolischen in der Poesie noch nicht
recht entw^ickeln können, aber es scheint mir viel darin zu liegen."
336 J. Cohn,
Eigentum beider Freunde ansprechen. Wie schon hervorgehoben
wurde, bleibt in allem Wechsel die Ansicht über die Vermitteluugs-
art konstaut. Auch Goethe hebt den intuitiven Charakter des
Symbolischen überall hervor, ohne allerdings dieses Wort zu ge-
brauchen. Sein gegenständliches Denken erlaubt ihm das, was
Kant nur allgemein gefordert hatte, näher aus eigener Erfahrung
zu erläutern. Er verdeutlicht seine Meinung ähnlich wie Kant
durch die Entgegensetzung von Symbol und Allegorie. „Die Alle-
gorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in
ein Bild, doch so, dass der Begriff im Bilde immer noch begrenzt
und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszu-
sprechen sei." „Die Symbohk verwandelt die Erscheinung in
Idee, die Idee in ein Bild, und so, dass die Idee im Bild immer
unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen
Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe." >) Man
kann sich die Meinung dieser Sprüche vielleicht am besten an
Goethes eigenen Dichtungen, etwa am Faust, verdeutlichen. Faust
ist zunächst eine ganz bestimmte Individualität, die der Dichter aus
den Sagen der Reformationszeit schon mit bestimmten Zügen
übernimmt, dann durch seine eigenen Schicksale und Erlebnisse
ausbildet und bereichert. Aber jeder spürt, dass Faust noch mehr
ist und im zweiten Teile des Gedichtes wird dieses Mehr dem Dichter
selbst bewusst; der Held des Dramas soll hier zugleich eine Idee dar-
stellen. Wenn wir das Streben des Menschen nach den höchsten
Zielen des Erkeuneus und des Handelns, das trotz seiner Irr-
tümer und seiner Endlosigkeit allein Wert und Würde verleiht,
als diese Idee bezeichnen, oder wenn wir hundert andere Ausdrücke
für sie suchen, so fühlen wir doch, dass sie unaussprechlich bleibt;
denn jeder begriffliche Ausdruck der Idee steht hinter dem Bilde
des Dichters, in dem sie unendlich wirksam ist, weit zurück. An
untergeordneten Stellen seines grossen Gedichtes hat Goethe auch
Allegorien verwendet, Figuren, die etwas bedeuten, was sie nicht
sind. Eine von ihnen, der „Knabe Lenker" im Caruevalszuge,
sagt zum ej'klärenden Herold :
„Denn wir sind Allegorien,
Und so solltest Du uns kennen".
Hier hat man in der That ein Recht, nach der begrifflichen Be-
deutung jedes einzelnen Zuges der Darstellung zu fragen; denn
1) S. i. P. 7421743.
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung, 337
in jedem ist eine besondere Beziehung versteckt, die man kennen
soll. Der Begriff bleibt im Bilde gesondert für sich und kann
am Bilde ausgesprochen werden. Im Symbol dagegen ist Bild
und Idee im Grunde eins, hier offenbart das Kunstwerk dem
tieferen Sinne seine ideelle Bedeutung, während der naive Be-
trachter in seiner Weise mit Recht bei dem Bild als solchem
stehen bleibt. „Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere
das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten,
sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforsch-
lichen."!)
Dieser Spruch führt uns von der Art der Darstellung zum
Inhalt des symbolisch Dargestellten hinüber; denn der Inhalt
wird hier und öfter einfach als das Allgemeine bezeichnet. Wäh-
rend Kants Interesse auf die gleichartige Bedeutung aller Kunst
gerichtet ist und sein Symbolbegriff auf alles Ästhetische gleich-
massig Anwendung findet, trennt Goethe, den als Künstler die
besonderen Probleme der verschiedeneu Darstellungsarten näher
angehen, die symbolische Kunstart von anderen ab. In dem erst
neuerdings veröffentlichten Aufsatze über die Gegenstände der
bildenden Kunst wird von der Darstellung, die wesentlich auf das
Objekt gerichtet ist, eine andere unterschieden, bei der der Geist
des Künstlers sich selbständiger geltend macht. In diesem Falle
werden die Gegenstände des Kunstwerks durch tiefes Gefühl mit
den besten und höchsten Gegenständen koincidieren und dadurch
symbolisch werden. „Die auf diese Weise dargestellten Gegen-
stände scheinen bloss für sich zu stehen und sind doch wieder
im Tiefsten bedeutend, und das wegen des Idealen, das immer eine
Allgemeinheit mit sich führt. Wenn das SymboUsche ausser der
Darstellung noch etwas bezeugt, so wird es immer auf indirekte
Weise geschehen." 2) Man erinnert sich hier sogleich an Goethes
sentimentalische Stimmung auf der Reise in Frankfurt und an
die Eigenart seines Altersstiles. Übrigens betont er auch in
dem erwähnten Aufsatz den Unterschied von Symbol und Alle-
gorie. Das Allegorische wird getadelt, weil es das Interesse an
der Darstellung zerstört und den Geist in sich selbst zurücktreibt.
Bei der Allegorie bleibt ja der Begriff selbständig, man vergisst
daher die Darstellung, sobald man ihn erfasst hat, dagegen kann
1) S. i. P. 273.
2) W. I, 47, 94. Der Aufsatz ist 1797 geschrieben.
3:-38 J. Cohn,
mau den luhalt des Symbols nur danu zu verstehen hoffen, wenn
man sich g-anz iu Geist und Form des Kunstwerks vertieft.
Wir i^ennen nun bereits verschiedene Bestimmungen des
symbolisierten Inhalts, die durchaus nicht ganz mit einander über-
einstimmen; wir müssen suchen, iu den Zusammenhang dieser
verschiedenen Auffassungen einzudringen. An einer Reihe von
entscheidenden Stellen war von ,.Idee", von „besten und höchsten
Gegenständen" die Rede, wobei unter Idee ebenso die vollendete
Sittlichkeit wie die Ahnung der Einheit von Mensch und Natur
zu verstehen ist. Mau kann allerdings sagen, dass die Sittlichkeit
aus der herrschenden Stellung, die sie bei Kant und bis 1796 bei
Schiller einnimmt, etwas herausgedrängt wird; denn für Goethe liegt
iu jeder Naturerscheinung eine göttliche Wahrheit verborgen, die sich
nur symbolisch begreifen lässt. „Das Wahre, mit dem Göttlichen
identisch, lässt sich niemals von uns direkt erkennen, wnr schauen
es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und ver-
wandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches
Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu
begreifen." ') Hier tritt der Zusammenhang von Goethes Natur-
und Kunstauffassung auch iu den Symbolbegriff hinein. Im Ur-
phänomen wird die Gesetzmässigkeit der all-einen Natur anschau-
lich, hier steht der einzelne Fall als Repräsentant des Allgemeinen,
das nicht als abstrakter Begriff, sondei-n als konkrete Natureinheit
gedacht ist. So ist das Urphänomen „symbolisch", „weü es alle
Fälle begreift". 2) Es handelt sich hier um etwas Höheres als
bloss verstandesmässige Erkenntnis. „Vor den Urphänomenen,
wenn sie unsern Sinnen enthüllt erscheinen, fühlen wir eine Art
ton Scheu bis zur Angst. Die sinnlichen Menschen retten sich
ins Erstaunen; geschwind aber kommt der thätige Kuppler Ver-
stand und will auf seine Weise das Edelste mit dem Gemeinsten
vermitteln." „Die wahre Vermittlerin ist die Kunst."-^) . . . Unter
dem Gemeinen versteht Goethe „das zufällig Wirkliche, au dem
wir weder ein Gesetz der Natur noch der Freiheit für den Augen-
blick entdecken."^) Wir begreifen aus dieser Nebeneinander-
1) Versucli einer Witterimgslehre. 1825. W. II, 12, 74, 5.
2) W. II, 11, 161, 5. (unter den erst in W. veröffentlichten Apho-
rismen), cf. auch das von Goethe mit interessanten Änderungen benutzte
Citat aus Campanella in Zwischenrede 1819. W. 11, 11, 45 f.; über die
Änderungen Kalischers Anm. in der Herapelschen Ausgabe 34, 250.
3) S. i. P. 1049—1050. *) S. i. P. 102
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 339
Stellung von Natur- und Sittengesetz, warum die Kunst, wenn sie
im einzelnen Fall die sittlichen Urverhältnisse der Menschheit
anschaulich vorführt, als Symbolisierung des Höchsten bezeichnet
werden darf. Soweit sich diese Erweiterung des symbolisierten
Inhalts von Kants Meinung zu entfernen scheint, immerhin bleibt sie
noch durch Goethes Auffassung der Idee mit ihr verbunden. Das
Allgemeine ist als begriffliche Näherung an die Idee uuan-
schaulich wie diese, nur durch „Symbolik" zu veranschaulichen,
wenn es auch nicht absolut unerreichbar ist, wie die Idee im
strengen Sinne des Wortes. Es giebt nun aber auch anschauliche
Verhältnisse, die doch für eine bestimmte Kunstart undarstellbar
sind, weil ihre Darstellung den Gesetzen dieser Kunst widerstreiten
würde. Dass in solchen Fällen bei Shakespeare symbolische Behelfe
eintreten, hatte Schiller hervorgehoben, dem also diese letzte Er-
weiterung des Symbolbegriffes ursprünglich angehört. An ähnliche
Verhältnisse der bildenden Kunst denkt Goethe in dem Aufsatze über
Philostrats Gemälde, wenn er seineu Begriff des Symbolischen durch
das Beispiel eines Kupferstichs verdeutlicht, auf dem ein lodern-
der Holzstoss durch ein kleines Flämmchen dargestellt ist. Das
ist keine Allegorie, denn Feuer ist durch Feuer dargestellt, „es
ist die Sache, ohne die Sache zu sein und doch die Sache, ein im
geistigen Spiegel zusammengezogenes Bild und doch mit dem
Gegenstand identisch." i) Man erkennt auch hier, dass die intuitive
Vermittelung das wesentliche Merkmal des Symbolischen ist, wäh-
rend das Symbolisierte die ganze Reihe von der Idee im abso-
luten Sinne bis zu anschaulichen, nur im Rahmen eines bestimmten
Kunstwerkes nicht stilgerecht darstellbaren Gegenständen umfasst.
Als Mittel der Symbolisierung erscheinen bei Goethe nirgends
die formalen Eigenschaften des Geschmacksurteils, solche abstrakte
Bestimmungen liegen ihm vielmehr ganz fern und werden kaum
irgendwo erwähnt. Auch der Ausdruckswert wird nur gelegent-
lich als symbolisch bezeichnet, z. B. nennt Goethe in der Farben-
lehre einmal einen Gebrauch der Farbe, der ihrem natürlichen
Stimmungston entspricht, symbolisch.**) Zur Würde des Symbols
^) W. I, 49, 1, 142. Die ganze Stelle — auch das dem Citat Voran-
gehende und Folgende — ist wichtig. Sie steht unter „Nachträgliches I"
und fehlt in den gewöhnlichen Ausgaben. Vgl. auch „Beispiele symbo-
lischer Behandlung". W. I, 49, 1, 191.
2) z. B. Purpur als Bezeichnung der Majestät. Didaktischer Teil
§ 916. Im Gegensatz dazu wird ein Gebrauch, bei dem etwas Kon-
340 J. Cohn,
wird vielmehr der einzelne Gegenstand wesentlich durch die
höchste Form der künstlerischen Gestaltung, durch den Stil,
erhoben. Nicht auf den Inhalt kommt es dabei an, der echte
Künstler läutert jeden Stoff, „die Kunst an und für sich
selbst ist edel; deshalb fürchtet sich der Künstler nicht vor
dem Gemeinen. Ja, indem er es aufnimmt, ist es schon geadelt,
und so sehen wir die grössten Künstler mit Kühnheit ihr Ma-
jestätsrecht ausüben." i) Uer Begriff des Symboles ist für Goethe
das Mittel, die Einheit von Wissenschaft und Kunst nach Über-
windung einer naiven Metaphysik aufrecht zu erhalten. Die
höchste, zugleich unbewusste und gesetzliche Produktivität des
Künstlers vermittelt uns die höchste Erkenntnis, die wir erreichen
können. Vor Kants P'inwirkung dachte Goethe dieses Ziel des
Erkeunens als unmittelbares Erfassen der wahren Natur, später
nahm es die Form der Idee an.
IV.
Symbol ist einer der Centralbegriffe in Goethes Denken,
der nicht nur Ästhetik und Naturphilosophie verbindet sondern
auch für die Behandlung der religiösen Probleme entscheidend
wird. Der Teilnahme an den kirchlichen Gebräuchen hatte
Goethe sich früh entzogen, jetzt wurden sie ihm wenigstens
in Gedanken wieder wert, da er sie sich als Symbole des
Göttlichen zurechtlegen konnte, das unser ganzes Leben durch-
wirkt. Ja er preist unter diesem Gesichtspunkt die Fülle
der katholischen Sakramente im Gegensatz zu der isolierten
Stellung, durch die Taufe und Abendmahl im Protestantis-
mus wirkungslos werden. 2) Wenn die Vermutung richtig sein
sollte, dass der tiefere Sinn von Symbol von dem Gebrauch dieses
Wortes für die kirchlichen Sakramente herstammt,'') so hätte es
Goethe damit in seine eigentliche Heimat zurückgeführt.
Diese Anwendung von Symbol auf das Religiöse findet sich
zwar bei Kant aber, wie es scheint, nicht bei Schiller. Das ist
für Schillers Stellung in der Entwickelung von Goethes Religions-
ventionelles hinzukommt (z. B: Grün für Hoffnung), als allegorisch be-
zeichnet § 917. W. II, 1, 357.
1) S. i. P. 697.
2) Dichtung und Wahrheit, Buch 7. W. I, 27, 118-124.
3) Vgl. meine „Allgemeine Ästhetik", S. 156.
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 341
Philosophie recht bezeichnend, er hat hier viel weniger als
auf den übrigen Gebieten direkt anregend gewirkt, aber seine An-
regungen haben auch auf dieses Gebiet herübergewirkt. Religiöse
Fragen lagen Goethe näher als Schiller; denn Goethes Naturgefühl
hat von vorn herein einen stark religiösen Zug. Er fühlt dankbar
und verehrend die Abhängigkeit seines Seins und Wirkens von
einer grossen, unbekannten Macht, die ihm doch nicht fremd
gegenübersteht, sondern ihre Einheit in ihm wie in allem Andern
offenbart. Dieses Gefühl der Ergebenheit tritt bei Schiller, dem
Mann des Willens und der bewussten Kraft, der seinem siechen
Körper der Natur zum Trotz höchste Leistung im Dienste der
Idee aufzwingt, zurück. Er war gewiss nicht unreligiös; aber
die religiöse Erfüllung, in der alle Unruhe des Strebens ihre Be-
friedigung findet, blieb ihm als Ideal in der Ferne stehen; inner-
halb unseres Leben nahm für ihn die Kunst die Stelle der Reli-
gion ein, die Worte des Glaubens sind die höchste und letzte
Hoffnung, an dei- der Kämpfer sich aufrichtet. Bei Goethe ist
alles höhere Streben von einem Gefühle religiöser Abhängigkeit
und religiöser Einheit durchdrungen. i) Schiller hatte also hier dem
Freunde weniger zu geben ; im Briefwechsel treten religiöse Fragen
selten hervor. Einmal ä) sucht Schiller Goethe zu einer gerechteren
Beurteüung des Christentums zu veranlassen, indem er bemerkt, dass
in den Bekenntnissen einer schönen Seele das Eigentümliche der
christlichen Religion oder vielmehr das, was eine schöne Seele aus
ihr macheu könnte, noch nicht zu seinem Recht gekommen sei.
„Ich finde in der christlichen Religion virtualiter die Anlage zu
dem Höchsten und Edelsten und die verschiedenen Erscheinungen
derselben im Leben scheinen mir bloss deswegen so widrig und
abgeschmackt, weil sie verfehlte Darstellungen dieses Höchsten
sind. Hält man sich an den eigentümlichen Charakterzug des
Christentums, der es von allen monotheistischen Religionen unter-
scheidet, so liegt er in nichts anderem, als in der Aufhebung
des Gesetzes oder des Kantischen Imperativs, an dessen Stelle
1) Das zahme Xenion, das dem zu widersprechen scheint. „Wer
Wissenschaft und Kunst besitzt, Hat auch Religion. Wer diese beiden
nicht besitzt, Der habe Religion." W. I, 5, 1, 134 halte ich nicht für be-
weisend. Ich nehme das zweite „Religion" hier im Sinne dogmatischer
Religion und verstehe den Spruch als Abwehr der anmasslichen Forderungen
positiv gläubiger Eiferer an den Dichter.
2) Brief vom 17. August 1795.
342 J. Cohn,
das Christentum eine freie Neig'ung- gesetzt iiaben will. Es ist
also in seiner reinen Form Darstellung schöner Sittlichkeit oder
der Menschwerdung des Heiligen und in diesem Sinne die einzige
ästhetische Religion." Bemerkenswert ist hiej- das Hervortreten
einer Konstruktion des Christentums durch Kantische Begriffe,
wiewohl durchaus nicht im Sinne von Kants Religionsphilosophie.
Goethe antwortet,') er sei ganz mit dem, was Schiller schreibe,
einverstanden. Er hätte sich dafür auf „die Geheimnisse" be-
rufen können, in denen dem Christentum eine herrschende Stellung
unter den Religionen zuerteilt worden war. Was den Roman be-
trifft, so wolle er die christliche Religion in ihrem reinsten Sinne
erst im 8. Buche in einer folgenden Generation erscheinen lassen.
Die hier angedeutete Absicht, Natalie, die eigentliche schöne Seele,
zur Vertreterin des reinsten Christentums zu machen, hat Goethe
nicht ausgeführt, um so entschiedener aber in den Wauderjahren den
besonderen Wert der christlichen Religion zur Geltung gebracht. Sie
entspricht in der bekannten Stufenfolge der Ehrfurchteu und der zuge-
hörigen Religionen der Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist und
wird als ein Letztes bezeichnet, wozu die Menschheit gelangen
konnte und musste. „Aber was gehörte dazu, die Erde nicht allein
unter sich liegen zu lassen und sich auf einen höheren Geburtsort
zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Ver-
achtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als göttlich anzu-
erkennen, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse,
sond 3rn als Eördernisse des Heiligen zu verehren und lieb zu ge-
winnen."'^) Wer diese Worte mit Schillers oben angeführter Kon-
struktion des Christentums vergleicht, wird Verwandtschaft und
Unterschied leicht entdecken. Für beide Dichter hegt die Haupt-
bedeutung des Christentums darin, dass es von der Anerkennung
zur Liebe führt ; aber die Liebe ist bei Schiller Liebe zum Gesetz,
bei Goethe Liebe zum Leiden und selbst zur Sünde. Sicherlich
ist Goethe damit dem Sinn des Christentums näher gekommen.
In wie weit Schillers Konstruktion des Christentums in Goethes
ähnlichen Versuchen fortwn-kte, wird sich schwer entscheiden
lassen, da jener ganzen Zeit solche Betrachtungen nahe lagen.
Auch Goethe benutzt Kantische Begriffe, um sich selbst und
Zelter zu einer würdigen Auffassung von Luthers Leistung zu
1) 18. August 1795.
2) 2. Buch 1. Kap. W. I, 24, 243, 24.
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung. 343
führen, als sie beabsichtigten, gemeinsam eine Cantate zum Refor-
mationsfest zu machen. Der Grund des Luthertums beruhe auf
dem entschiedenen Gegensatz von Gesetz und Evangelium und
auf der Vermittelung solcher Extreme. „Setzt mau nun, um auf
einen höheren Standpunkt zu gelangen, die Ausdrücke: Not-
wendigkeit und Freiheit mit ihren Synonymen, mit ihrer Ent-
fernung und Annäherung, so siehst du deutlich, dass in diesem
Kreise alles enthalten ist, was den Menschen interessieren kann."')
Wichtiger als solche einzelne Anlehnungen ist die Ver-
änderung von Goethes Frömmigkeit aus einer blossen Naturver-
ehruug in eine Vergöttlichung des menschlich Höchsten. Kan-
tischer Geist hat dabei sicher mitgewirkt, ja es scheint, als ob
hier und hier allein es Schillers Vermittelung nicht bedurft hätte.
Unter den Randbemerkungen, die Goethe wohl bald nach 1790
zur Kritik der teleologischen Urteilskraft gemacht hat, ist eine
besonders wichtig. Zu der Anmerkung hinter § 86, in der Kant
den moralischen Gottesglauben in seinen subjektiven Erscheinungen
darstellt, schrieb Goethe an den Rand: „Gefühl von Menschen-
würde objektiviert = Gott."^) Diese lapidare Zusammenfassung von
Kants Gedanken enthält den Keim zu jenem Religionsbegriff, der
sich in den Wanderjahren in der Religion der Ehrfurcht voll ent-
faltet zeigt. Doch hätte diese einzelne Bemerkung in Goethes
Geist kaum so stark fortgewirkt, wenn nicht die ganze, von Kant
ausgehende Gedankenwelt ihm durch Schiller näher gebracht
worden wäre. Goethes Religiousphilosophie knüpft in späterer
Zeit immer an ethische Ideale und Bedürfnisse an, ist aber im
einzelnen sicherlich von Kant und seinen Nachfolgern unab-
hängig. Auch zeigt sich hier dieselbe Umwendung der Gedanken
ins Konkrete und Einzelne wie überall bei Goethe. Recht be-
zeichnend dafür sind seine Äusserungen über die Unsterblichkeit.
Zu Eckermauu sagt er am 4. Februar 1829: „Die Überzeugung
unserer Fortdauer entspringt mir aus dem Begriff der Thätigkeit;
denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur
verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn
die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag.''^) Man
wird hier sogleich an die Postulate der praktischen Vernunft er-
1) Brief vom 14. November 1816, Beilage.
2) W. II, 11, 382 (durch einen Druckfehler ist die kommentierte
Kantstelle hier als § 76 — statt 86 — bezeichnet).
3) B. VII, 5.
344 J. Cohn,
innert; aber Goethe setzt wieder die Thätigkeit überhaupt an die
Stelle des Konfliktes zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit und
personificiert die Natur. Noch lässlicher drückt er sich in einer
zahmen Xenie aus :
„Du hast Unsterblichkeit im Sinn,
Kannst Du uns Deine Gründe nennen ?
Gar wohl ! der Hauptgrund liegt darin,
Dass wir sie nicht entbehren können." i)
Der Gedanke des Bedürfnisses der reinen praktischen Vernunft
wird ins menschlich Individuelle umg-esetzt. Goethes Religions-
philosophie im einzehien mit Kant zu vergleichen, würde über die
Grenzen unseres Gegenstandes hinausführen, da hier von Schillers
Vermittelung nicht mehr die Rede sein kann Überhaupt wird
man kaum an einen Einfluss von Kants Religionsphilosophie,
sondern nur an ein Herüberwirken allgemeinster Resultate von
Kants Geist denken dürfen.
Wenn man die Ergebnisse unserer Untersuchung überblickt,
so erkennt man, dass Goethe niemals Kantianer war, doch aber
wesentliche Einwirkungen von Kant empfangen hat, die sich
mit einziger Ausnahme der Religionsphilosophie alle direkt auf
Schiller zurückführen lassen. Goethe beschäftigte sich um das
Jahr 1817 von neuem mit Kant, aber er hat damals kaum
mehr neue Gesichtspunkte gewonnen, vielmehr lediglich sich
die alte Wirkung wieder zurückgerufen und befestigt. Wir
konnten daher aus den Aufsätzen dieser Zeit überall Belege
für Schillers Einfluss entnehmen. War Goethes Denken ursprüng-
lich auf die Natur, auf das Objekt, auf die Einheit gerichtet, so
wurde ihm nun zugleich der denkende, wollende, schaffende Geist
nahe gerückt. Die Bedeutung des Subjektes trat hervor; es
wurde ihm offenbar, dass die Überwindung der Dualität in die
Einheit nichts Selbstverständliches, sondern eine dem Menschen
überall gestellte, aber niemals völlig lösbare Aufgabe ist. Ver-
folgt man die Ent Wickelung der Begriffe auf dem Wege von Kant
über Schiller zu Goethe, so hat man an einem wichtigen Beispiel
die Art vor Augen, wie strenge philosophische Gedanken wirksam
werden. Neben den Einzelwissenschaften und mehr als sie bilden
überall Religion und Poesie die Vermittler zwischen der Philoso-
1) Zahme Xenien UI. W. I, 3, 278.
Das Kantische Element in Goethes Weltanschauung'. 345
phie und dem populären Denken. Auf diesem Wege müssen die
Begriffe an Schärfe und Bestimmtheit verlieren, au Konkretheit
und Anwendbarkeit aber gewinnen. Wenn der Philosoph dabei
ein Gefühl des Bedauerns und der Unsicherheit nicht unterdrücken
kann, so soll er doch bedenken, wie Grosses dadurch erreicht
wird. Die Wirksamkeit unserer Begriffe hängt davon ab, dass sie
wieder ins Leben zurückkehren. Braucht man das Wort Anschauung
in dem allgemeinen und übertragenen Sinne, in dem es uns durch
Kant geläufig ist, so darf mau sagen, es ist das Ziel des Be-
griffes, zum Mittel der Anschauung zu dienen. Wenigstens so-
fern man nicht auf den Eigenwert der Wissenschaft sondern auf
ihre Kulturbsdeutung sieht, besteht dieser Satz zu recht. Was
wir erleben, was von den möglichen Anschauungen in uns wirk-
lich und wirksam wird, hängt überall von den Gesichtspunkten
ab, unter denen unser Geist Erlebnisse und Dinge betrachtet.
Dadurch wird uns der Sinn eines Wortes deutlich, das der
Deutsche nicht ohne Ehrfurcht aussprechen sollte, des Wortes
Weltanschauung. Die ganze Welt in eine Anschauung zu
fassen, ist ein ebenso gigantischer wie unmöglicher Gedanke.
Diese Einheit durch ein encyklopädisches Nebeneinander der Er-
gebnisse aller Einzelwissenschaften zu ersetzen, kann nur zu einer
Halbheit des Wissens, niemals zur Ganzheit der Anschauung
führen. Die allgemeinen und strengen Begriffe der kritischen Phi-
losophie endlich können für sich allein wohl Überzeugungen, nicht
aber Anschauungen bilden. Aber Begriffe und Überzeugungen
organisieren unsere Anschauung, leiten uns in der Wahl des Wich-
tigen, bestimmen unsere Art, anzuschauen. Nichts anderes kann
Weltanschauung bedeuten, als eine bestimmte, einheitliche Art,
die Fülle der Dinge, deren geahnte Einheit wir als Welt be-
zeichnen, anzuschauen. Fassen wir den Sinn des Wortes so,
dann wird Weltanschauung das höchste persönliche Ziel jedes
denkenden Menschen. Wir verstehen dann auch, dass sich in der
Weltanschauung wissenschaftliche und rein persönliche Elemente,
Beweisbares und Unbeweisbares, Begriff und Gefühl unlösbar ver-
binden. Eine Weltanschauung in diesem Sinne, keine Philosophie
in der strengen Bedeutung des Wortes hatte Goethe, ja mau
könnte meinen, dass das Wort Weltanschauung recht eigentlich
auf ihn geprägt sei.
Kantstudiea X,
23
Schiller und die Idee der Freiheit.
Von Bruno Bauch.
„Schillers eigentliche Produktivität lag- im Idealen, und es
lässt sich sagen, dass er so wenig in der deutschen als einer an-
deren Litteratur seinesgleichen hat." So hat Goethe die einzig-
artige Bedeutung seines Freundes angesprochen. Das „Ideale"
hatte er bald nach dessen Tode als das „Ewige des Wahren,
Guten, Schönen" charakterisiert. Es ist das Reich der Freiheit,
zu dem Schillers „Geist gewaltig fortschritt" und der Menschheit
„vorleuchtete".
Aber weil dieses Reich Idee ist, ebendarum ist es eine un-
endliche Aufgabe, die ewiges Streben und Thätigkeit verlangt.
Nur von der Idee aus erhält Leben und Streben Wert, aber sie
verlangt eben auch beständige und bestimmt gerichtete Thätigkeit.
„P^.s ist nichts als die Thätigkeit nach einem bestimmten Ziele,
was das Leben erträglich macht," erklärt Schiller selbst.
Das Leben im Dienste der Idee — als solches charakterisiert
Goethe das Leben seines Freundes. Das Leben im Dienste der
Idee aber ist Thätigkeit; — als solche hat Schiller sein eigenes
Dasein mit stolzem Rechte ansehen dürfen.
Es war ein langer, mühevoller Weg, den der Dichter wandeln
sollte, aber er ist ihn gewandelt, ohne je sein Ziel aus den Augen
zu verlieren. „Durch alle Werke Schillers," so sagt darum der
herrliche Freund, „geht die Idee von Freiheit." Zwischen dem
Philosophen der Physiologie oder dem Dichter der Räuber auf der
einen Seite und andererseits etwa dem Dichter des Teil liegt frei-
lich eine Welt, aber eine durchlebte, durcharbeitete, in kontinuier-
lichem Zusammenhange stehende; Welt, ein stetes Hinanführen des
blossen Daseins und Lebens zu seiner Bestimmung nach der Idee.
Die wahrhafte Vorbildlichkeit verlangt das „gewaltige Fort-
schreiten" und Sich-Empor-Arbeiten, die ständige und stetige An-
Schiller und die Idee der Freiheit. 347
näheriing. Darum sagt Goethe, dass durch alle Werke Schillers
die Idee von Freiheit geht, und darum fügt er jedoch auch hin-
zu: „diese Idee nahm eine andere Gestalt au, sowie Schiller in
seiner Kultur weiter ging und selbst ein anderer wurde."
Bezeichnend aber ist es, dass schon der philosophierende
Physiologe, freilich noch ohne die spätere spekulative Kraft, ohne
kritische Schulung, ja mit ausdrücklicher Berufung auf den ge-
sunden Menschenverstand und ganz nach Art der Aufklärung in
der von seinen Lehrern als medizinische Probeschrift abgelehnten
ersten Arbeit nicht bloss viel mehr Philosophie als Physiologie
treibt, sondern dass er nicht ganz ohne begrifflichen Zwang und
natürlich auch mit ganz untauglichen begrifflichen Mitteln das
Freiheitsproblem in seine Untersuchung hineinzieht. Das Problem
liegt ihm zwar an, aber es will sich ihm auch nicht einmal als
Problem gestalten. Das konnte ihm auch nicht in seiner zweiten
fs^
wissenschaftlichen Arbeit glücken. Durfte er ihr doch fraglos
unter dem Druck äusserer Verhältnisse von allen seinen Werken
am wenigsten eigenes Leben einhauchen, obwohl auch in ihr die
philosophische Reflexion den breitesten Raum einnimmt, und trotz
der allerliebsten Citatenepisode des ,life of Moor, tragedy by Krakel
Doch was ihm mit den ersten Anfängen der Wissenschaft nicht
gelingen konnte, das sollte ihm allmählig sein Eigenstes, die Kunst,
zur Reife bringen. Der Grund dazu war ja längst gelegt. Wer
freilich in den Räubern einen scharfen, abgeklärten Begriff der
Freiheit, die sie verkünden, suchen wollte, der würde im ratio-
nellen Inhalt der Idee schwerlich einen Fortschritt erblicken
dürfen. Aber das Problem, wenn auch abermals nicht einmal als
Problem abgeklärt, beginnt sich doch zu gestalten, es erhält ein
ganz anderes Leben, eine ganz andere Wucht durch die künst-
lerische Intuition, die sich in der Behandlung eines konkreten
Stoffes auswirkt. Hier wird das Innerste aufgewühlt, ein heisses
Ringen der Gedanken strebt zwar nicht zur Höhe empor, aber es
wälzt die Riesenmassen des Stoffes mit Titanengewalt gegen ein-
ander. „Mein Geist dürstet nach Thaten, mein Atem nach Frei-
heit."' — Jedoch die Freiheit, die hier ihre Stimme erhebt, gelangt
über die zwar edle, aber unbestimmte Negation der Unfreiheit
nicht hinaus und schwingt sich nicht auf zu der Höhe, von der
23*
348 B. Bauch,
aus sie sich selbst das Gesetz giebt und Ziel und Mass weist.
Sie ahnt nichts vom Gesetz der Freiheit. Ja im Gegenteil, sie
giebt sich nicht bloss nicht das Gesetz, sondern setzt sich über
das Gesetz weg. Sie stellt sich, ins Grenzenlose des unbestimmt
Kolossalischen strebend, in Gegensatz zum Gesetz: „Das Gesetz
hat noch keinen grossen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet
Kolosse . . . aus.'' In ihr lebt zwar die Empörung darüber, dass
„die Gesetze der Welt sind Würfelspiel worden"; aber sie „wähnte"
in ewiger Vermengung von Gesetz und Zwang, von Freiheit und
Gesetzlosigkeit, von Freiheitsordnung und Zwangsordnung, und
erst am Ende sich selbst verstehend, „die Gesetze durch Gesetz-
losigkeit aufrecht zu halten". Noch erfasst sich das Individuum,
das sie fordert, nicht in seinem Verhältnis zu dem historischeu
Zusammenhange, in den es gestellt ist, den es zu durchbrechen
sucht, ohne den Bruch durch eigene positive That überbrücken
und überwinden zu können. Noch ahnt der Jüngling, in dessen
„Adern Feuer rollt", der Gewalt bloss mit Gewalt zu bekämpfen
weiss, nichts von den „ew'gen Rechten, die droben hangen unver-
äusserlich" im „Himmel", auf die sich der spätere Held der Frei-
heit berufen kann, um ebenfalls ,in tyraunos' zu erklären: „Nein,
eine Grenze hat Tyi-annenmacht." Nicht will er noch „nicht un-
gezügelt nach dem Neuen greifen". Er ahnt nur sein eigenes
Recht auf Freiheit, die er mit glühender Empfindung umfasst;
deshalb gehört ihm unsere Sympathie und Billigung. Aber er
weiss sein Recht auf Freiheit nicht anders geltend zu machen,
als durch Gefährdung der Freiheit anderer; deshalb bleibt ihm
unsere Billigung versagt. Darin liegt seine Tragik. Deutlich
treten hier für das unmittelbare Gefühl zwei Wertungsweisen her-
vor, sie komplizieren sich, aber sie werden nicht einmal für das Ge-
fühl auf ihre objektive Bedeutung, eine ihnen korrespondierende
objektive Idee bezogen und so auf ihren Rechtsgrund hin orien-
tiert, so dass sie auch nicht von einander klar unterschieden werden
können. Das grosse Problem der Freiheit taucht mit seiner
ganzen Gewalt und gleich auch mit seiner ganzen Komplikation vor
einer grossen drangvollen Seele, einem stürmischen Gemüte auf, aber
der Geist hat es nicht geläutert und geklärt. Genug, dass er, der
ganzen Tragik seines Wesens inne werden und mit ergreifendem
Schmer'ze am Ende verstehen kann: „Ich er*fahre, dass zwei
Menschen, wie ich, deir Bau der sittlichen Welt zu Grunde
richten würden." Denn über ihn „fuhr nur der Traum der
Schiller und die Idee der Freiheit. 349
Freiheit, wie ein Blitz iü die Nacht, der sie finsterer zurück-
lässt".
So klar auch dieses Erstlingswerk den Stempel des Genius,
des g-eboreueu Künstlers, trägt, so sehr ist der inhaltlichen Ideen-
gestaltung doch die Spur des erst Werdenden aufgedrückt; und
merkwürdig, gerade das konnte hier die künstlerische Wirkung
thun. Das Genie ist ja nicht bloss Form-, sondern Wirklichkeits-
schöpfer, es schafft, wie Schiller selbst einmal sagt, zwar nicht
eine neue Wirklichkeit, aber es schafft die Wirklichkeit von neuem.
Und es schafft sie immer aufs neue, von neuen schöpferischen
Ideen aus. Die künstlerische Wirklichkeit nun, auf die wir bisher
geblickt, musste, um ihre ganze Wirkung thun zu können, gerade
aus den Ideen geflossen sein, aus denen sie geflossen ist, und sie
bleibt gross, selbst wenn ihr ideeller Ursprung des Fortschritts
fähig, ja bedürftig ist. Ihn sehen wir auch bald vollzogen.
Die Idee der Freiheit bleibt auch ferner das beherrschende
Prinzip. Aber sie nimmt, wie Goethe es gesagt, neue Gestalten
an. Sie entwindet sich zunächst, wenn auch allmählig, der Unbe-
stimmtheit. Zwar bleibt sie in positiver Bedeutung noch unbe-
stimmt; und nur mittelbar, durch deutlichere Bestimmung der Ne-
gation tritt sie anfänglich selbst in ein klareres Licht. Wenn das
eine Mal der Druck der Standesrücksichten bekämpft und gefordert
wird, dass endlich „von uns abspringen all die verhassten Hülsen
des Standes, — Menschen nur Menschen sind" , so erfährt
mittelbar doch dadurch das Recht der Persönlichkeit und der
individuellen Selbstbestimmung bereits ebenso eine schärfere
Beleuchtung, wie das andere Mal die Empörung gegen politische
Herrschsucht und brutale Gewalt die soziale Selbstbestimmung in
ein schärferes Licht rückt. Aber solange das Recht solcher
Selbstbestimmung nicht auch seinerseits objektiv gegründet ist,
solange ist der tumultarische Subjektivismus und der zum Teil
skeptische Individualismus, der zwar Ausgangspunkt, aber nie Ziel-
punkt sein darf, nicht endgültig überwunden, mag formaliter
die Betrachtungsweise von ihm auch noch so weit abgerückt sein.
Zu seiner inhaltlichen Überwindung aber gehört die Besinnung
auf den objektiven Wert.
Auch dieser Schritt wird vollzogen; und zwar herrlicher,
oder wenigstens unzweifelhaft klarer, als in der ausdrücklichen
philosophischen Reflexion, wiederum durch die Kunst, so eng beide,
zeitlich, wie innerlich, zusammengehen. Die ursprünglich ins
350 B. Bauch,
Grenzenlose gehende und sich vag- verlierende Freiheit soll als
Geistesfreiheit, die sich selbst mit stillem Dulden grosser Seelen
vereint, g-efasst, soll als „Gedankenfreiheit" bestimmt werden, die
ein edler Jüngling in der Zeit ihrer traurigsten Unterdrückung
mutvoll fordert. Und er erstrebt sie — das ist wichtig, weil er
sie so objektiv zu gründen sucht, — als einen, zw^ar unscharf ge-
fassten, sittlichen Zweck der Menschheit. Die eigene Freiheit
wird auch hier gefordert:
„Ich kann nicht Fürstendiener sein."
Aber die persönliche Freiheit soll ruhen auf einem überper-
söulicheu Zwecke, dem Zwecke der Menschheit selbst: „Ich liebe
die Menschheit." Und wieweit ist diese persönliche Freiheitsliebe
jetzt davon entfernt, sich mit Gewalt durchsetzen zu wollen:
„Die lächerliche Wut
Der Neuerung, die nur der Ketten Last,
Die sie nicht ganz zerbrechen kann, vergrössert,
Wird mein Blut nie erhitzen."
Aber hier wdrd eine seltsame Verwickelung deutlich. Der
Geistesfreie hat sich vom ehemaligen Freigeist zwar im Prinzip
getrennt; aber er zeigt gerade in seineu Forderungen, dass ihm
die letzten Spuren des überwundenen Zustandes noch ankleben. ^)
Das Individuum fühlt und erfasst sich als Glied eines allgemeinen
Zusammenhanges, in dem es seine freie Bestimmung auswirken
soll. Allein in einem eigenartigen Widerspruch übersieht es, dass
es persönlich für seineu Teil nur wirken kann gerade in dem Zu-
sammenhange, in den es geschichtlich eingeordnet ist. Es macht
aber nach der negativen Seite hin, für das Nicht-Wirken-Könneu,
Staats-, ja Standes-Zustände, kurz geschichtliche Situationen ver-
antwortlich. Indem es ihm an einem Prinzip der Vermitteluug
zwischen Ideal und Leben gebricht, begiebt es sich selbst seiner
1) Es ist ungemein interessant, wie deutlich das durch die verschie-
denen Redaktionen des Don Carlos wird. Für die Entwickelung des
Freiheitsbegriffs sind sie ein ungemein wichtiges Dokument, viel wichtiger
als die Briefe. Der durch Kant geläuterte Gedanke macht sich in fast jeder
Änderung bemerkbar, und doch darf diese aus ästhetischen Gründen nicht
die künstlerische Einheit und damit auch nicht den Gesamtwurf der ersten
Konzeption stören. Aber wer zu prüfen versteht, ist gar wohl im Stande,
herauszufinden, wie im Künstler selbst die Gedanken weiter reiften, als
er sie eben im Gesamtwurf ausprägte. Das Werk als Ganzes bleibt für
den Freiheitsbegriff, was es war: Übergangsepoche; aber jede Redaktion
ist zugleich immanente Kritik.
Schiller und die Idee der Freiheit. 351
Eig-euwirksamkeit, und vertröstet sich in stolzer Resignation auf
kommende Jahrhunderte, fiir die und auf die es doch nicht
wirken kann, wenn es in dem seinigeu nicht wirkt:
„Das Jahrhundert
Ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe
Ein Bürger derer, welche kommen werden."
Und doch, in abermaligem ^^'iderspruch und in neuer Yer-
kennung der Bedeutung der jeweiligen Lage für die Auswirkung
der Idee wagt es, obschon aus edelstem Wollen, die ausschweifend-
sten „Abenteuer der Vernunft", wie es in der Sprache dessen
heisseu würde, dessen begriffliche Schulung der Dichter noch ge-
messen sollte. Die erste Abklärung ist mächtig fortgeschritten,
aber noch ist sie nicht vollendet. Gegenüber den früheren For-
derungen ist viel gewonnen, zu wenig aber doch mit Rücksicht
auf das letzte Ziel. Noch ist der Dichter nicht in die Hallen
jener Ideenschule eingetreten, die für ihn von der grössten Be-
deutung werden sollte, er steht noch an ihrer Pforte. „Noch bist
du nicht in derjenigen Stimmung, wo die demütigenden Wahrheiten
von den Grenzen des menschlichen Wissens dir interessant werden
können." So schreibt der Freund, der sich für seinen Teil mit
der bescheidensten, nicht einmal ihm ganz gemässen und gerecht
werdenden Rolle des philosophischen Briefwechsels begnügt hatte,
und der ihn vor allem dem grossen Lehrer zuführen wollte, an
dessen Ideen die noch halb in subjektivistischer Skepsis, halb
in allzu phantasievoller Metaph3'sik befangenen Anschauungen
des Dichters geläutert werden sollten. Der aber ahnt be-
reits, worauf der Freund hinauswill: „Ich müsste mich sehr
irren, wenn das, was du von trockenen Untersuchungen über
menschliche Erkenntnis und demütigenden Grenzen des mensch-
lichen Wissens fallen Messest, nicht eine entfernte Drohung
mit dem Kant iu sich fasst. Was gilts, den bringst du noch?
Ich kenne den Wolf am Heulen." So antwortet Schiller seinem
Freunde Körner. Und es ist bezeichnend: er giebt ihm objektiv
recht, fühlt sich aber subjektiv noch nicht genugsam für Kant
vorbereitet. „In der That glaube ich, dass du sehr recht hast,
aber mit mir will es noch nicht so recht fort, in dieses Fach hin-
einzugehen."
Doch von sich selbst aus beginnt er mehr und mehr in dieses
hineinzuwachsen. Kunst und geschichtliches Leben kreuzen sich
wunderbar in seinem Interessenkreise. An der Geschichte — von
352 B. Bauch,
dereu Philosophie aus er übrigens Kaut selbst zum ersten Male
beg-eguete, allerdings ohne sich in ihn ganz zu versenkeu —
läutert sich sein Freiheitsbegriff. Die Freiheit des Geistes, die
er zunächst in jenem Kunstwerk gefordert, das ihn unmittelbar
und innig mit der Geschichte verband, zeigt ihm diese jetzt in
der geläuterten Gestalt des protestantischen Freiheitsbegriffes.
Ohne jemals seiner Abneigung gegen alles statutarische Kirchen-
tum untreu zu werden, fasst er doch jetzt das tiefste Verständnis
für das protestantische Prinzip in der vom Dogmatischen ge-
reinigten Form und weiss es selbst von allen Dogmen in seinem
Werte zu trennen.
Der grosse kritische Wendepunkt ist vorbereitet. Und dem-
selben Freunde, dem er erklärt hatte, es „wolle mit ihm noch
nicht so recht fort, in dieses Fach hineinzugehen," dem kann er
bald eröffnen : „Ich ahne, dass Kant für mich kein so unübcrsteig-
licher Berg ist, und ich werde mich gewiss noch genauer mit ihm
einlassen."
Noch ehe seitdem ein Jahr verflossen, darf er seinem Freunde
Körner mitteilen : „Ich treibe jetzt mit grossem Eifer Kantische Philo-
sophie und gäbe viel darum, wenn ich jeden Abend mit dir darüber
verplaudern könnte. Mein Entschluss ist unwiderruflich gefasst,
sie nicht eher zu verlassen, bis ich sie ergriuidet habe, wenn
mich dieses auch drei Jahre kosten könnte." Damit sind wir
aber über die blosse Wende schon hinaus; denn es heisst weiter:
„Übrigens habe ich mir schon sehr vieles daraus genommen und
in mein Eigentum verwandelt." Und das thut er mehr und mehr.
Er geht ganz und gar in die Schule des grössten kritischen
Denkers.
Freilich der Mann, dessen ganzes Wesen auf das Ideal der
Freiheit gerichtet ist, er darf zwar den „verehrungswürdigsten
Mann", den „vortrefflichen Lehrer" seines „lebhaftesten Dankes
für das wohlthätige Licht", das er in seinem „Geiste augezündet
habe", versichern, aber er macht sich nicht zum Sklaven der verba
magistri. Das ist eines grossen Schülers unwürdig. Ja, es hiesse
selbst die Würde eines grossen Lehrers, der für mehr, als für
eine Schule lehrt, verletzen. Eine arme Seele, ein kleiner Geist
mag ängstlich darüber wachen, dass seine Worte auch nachge-
sprochen werden, da er nur wenig Nachsprechenswertes zu sagen
Schiller und die Idee der Freiheit. 353
hat und es wohl selber fühlt, er vermög-e nur wenig Lehrwürdiges
zu verkünden. Das mag er dann zu erhalten wünschen, und so
mag er nach seiner Art kleine Schüler werben, deren Folgsamkeit
er eifersüchtig hütet. Der grosse Geist vertraut der Macht der
Wahrheit. Er findet ungeworbene Schüler und weiss, dass die
freiesten seine besten sind ; ^) nur sie vermögen aus eigener Kraft
die Wahrheit weiter zu fördern, und daran kann auch dem der
Kraft eigener Wahrheit vertrauenden grossen Lehrer allein gelegen
sein. Freiheit also bezeichnet allein das Verhältnis zwischen
reichen Geistern und grossen Seelen, selbst wenn sie sich als
Lehrer und Schüler gegenübertreten. Hier ist kein Werben,
sondern ein sich-Finden das Bindeglied, hier ist kein Lehren und
Lernen für die Schule, sondern für das lebendige Wirken, auf
dass der Lernende selbst dereinst zum Lehrer werde. Nicht bloss
„im Vortrage philosophischer Wahrheiten", sondern auch in ihrer
Empfängnis herrscht Freiheit; auch hier herrscht jene Form per-
sönlichen Verkehrs, die wir als „schöne Geselligkeit" noch werden
genauer kennen lernen. Nur in diesem weiten und freien Sinne
ist Schiller des grossen Kant grosser Schüler geworden. Darum
konnte mit derselben Freiheit auch Schiller seinem edlen Schüler,
dem Herzog von Holstein-Augustenburg später schreiben, es seien
zwar „grösstenteils Kantische Grundsätze, auf denen seine Be-
hauptungen ruhen"; aber von jeder Bindung an „eine besondere
philosophische Schule" dürfe, ja solle er sich frei halten. „Nein,
die Freiheit Ihres Geistes soll mir unverletzlich sein."
Kants Einfluss spüren wir allenthalben, aber der Schüler
hat ihn selbständig verarbeitet, und zwar als Künstler, der durch
die Kunst zur Philosophie gelangt :
„Nur durch das Morgentor des Schönen
Drangst du in der Erkenntnis Land.''
Diese am Ausgang der ersten philosophischen Epoche stehen-
den Worte sind programmatisch für die zweite und charakteristisch
für die ganze philosophische Entwickelung Schillers.
Die Freiheit, die unser grösster Dramatiker in stets ge-
läutertem Fortschritt verkündet, vermag er mit Hilfe des Weisen
völlig begrifflich abzuklären. Er lernt seine eigene Kunst tiefer
1) Das glaube ich trotz der „Erklärung in Beziehung auf Fichtes
Wissenschaftslehre" sagen zu können, die viel leichter eine angemessene
Deutung erfahren könnte, als sie zuweilen erfährt, und zwar selbst von
solchen, die sonst für Kant das feinste Verständnis haben.
.^54 B. Bauch,
verstehen, indem er das „Trag-ische" auf das „Erhabene" orientiert.
Dessen logischen Ort findet er in der allgemeing-ültig'en überindi-
viduelleu Venuuiftsbestiiiinmng-, und damit in dem übersinnlichen,
dem sittlichen Wesen des Menschen. Das g-anz im Anschluss an
Kant, zugleich aber doch auch schon mit einer „weiteren Aus-
führung- einiger Kantischer Ideen". Jetzt hat er das Prinzip
der Freiheit erfasst als „ein inneres Prinzip unserer autonomischen
Vernunft", als einen absoluten Wert der Vernunft. Der letzte
Rest von vagem Subjektivismus und blossem Individualismus ist
verschwunden. Das Individuum erkennt, dass es nichts sei, wenn
es seinen Wert nicht von einem überindividuellen Prinzip em-
pfängt. Es opfert sich als blosses Individuum der Idee des
Prinzips und empfängt sich von ihm als wertvolles Individuum
selbst zurück. Kants Prinzip der Autonomie hat der Dichter zu
dem seiuigeu gemacht. Die Gesetzgebung durch Freiheit und aus
Freiheit ist erreicht. Die Freiheit ist Gesetz geworden und hat
die Willkühr, die gesetzlose Freiheit hinter sich gelassen. Das
Individuum unterwirft sich dem Gesetze; ebendarum ist es frei:
frei von Willkühr, weil es sein Gesetz anerkennt und sich ihm
unterordnet, frei von Zwang, weil es selbst es ist, das sich
unterordnet.
Wenn Schiller, wie wir gleich sehen werden, sich auch gegen
manche, allerdings nur scheinbare und bloss in der Auffassung des
Dichters rigoristische Konseciuenzen ablehnend verhält, so hat er
sich doch das Prinzip der Autonomie als der „Pflichtmässigkeit
der Gesinnungen", das „oberste Prinzip der Moral", durchaus zu
eigen gemacht. Damit hat er auch die schlaffen ethischen Theo-
rien des landläufigen Eudämonismus abgewiesen. Diesen gegen-
über fühlt er sich selbst als „Rigorist" : „Bis hierher glaube ich
mit den Rigoristen der Moral vollkommen einstimmig zu sein."
Hier findet der Dichter in der „menschlichen Person" eine
neue Wirklichkeit, das „Reich der Freiheit" erschlossen. Gar
bald macht sich jedoch der Unterschied von Kant geltend. Dieser
ist letztlich in der Person des Dichters selbst angelegt und findet
seinen Grund in einer poetischen Metaphysik. Natur und Freiheit
treten aus dem kritischen Verhältnis mit einander in ein metaphy-
sisches. Man darf wohl annehmen, dass die Centralideo der Kritik
der Urteilskraft, die Idee des intellectus archetypus, dem Dichter
dazu den ersten günstigen Anhaltspunkt gegeben habe. Frei und
selbständig gestaltet sich ihm jedoch in dem Begriff der „bestim-
Schiller und die Idee der Freiheit. 355
niendeü Veruuiift", der zunächst an die Stelle von Kants „be-
stimmender Urteilskraft" tritt, die kritische Idealität, die Wert-
wirklichkeit zur metaphysischen Realität. Auf Grund solcher
Hypostase wird nun weiter nicht bloss „die Naturnotwendigkeit
durch die Notwendigkeit des sie bestimmenden teleologischen
Grundes'' „unterstützt", sondern das „Zusammentreffen" der ,,For-
derung-en" der Vernunft „mit der Notwendigkeit der Natur" wird
auf metaphysischer Basis, indem die Vernunft von dem ., Effekt
der blossen Sinnenwelt einen transscendenten Gebrauch macht",
„erklärt". Und die rein kritische Betrachtung wendet sich in eine
kausal-metaphysische, sucht auf Grund innerlich-künstlerischer
Nötigung ihren Halt in einer „Ursache, die über die Sinnenwelt
hinausliegt".
Der Dichter thut das zunächst, um „die Objektivität des
Schönen", die die „Kantische Kritik leugnet", behaupten zu können.
Das ästhetische Bedürfnis vor allem führt zu der "Wandlung der
kritischen Grundlagen ins Metaphysische; und die neu gewonnene
Metaphysik selbst bildet den Grund zu einer freien Fortbildung
der kritischen Ethik und damit auch der Freiheitslehre. Wie die
Metaphysik auf das „Zusammentreffen" von Vernunft und Natur,
so ist die Ethik auf das Zusammenstimmen von Sittlichkeit und
Sinnlichkeit, von Pflicht und Neigung gerichtet. Weltanschauung
und Lebensanschauung werden auf einander orientiert und gehen
in dem Streben der versöhnenden Vereinheitlichung des Gegensätz-
lichen einander durchaus parallel „Dadurch schon, dass sie ihn
zum vernünftig sinnlichen Wesen, d. i. zum Menschen machte,
kündigt ihm die Natur die Verpflichtung an, nicht zu trennen, was
sie verbunden hat, auch in den reinsten Äusserungen seines gött-
lichen Teiles den sinnlichen nicht hinter sich zu lassen und den
Triumph des einen nicht auf die Unterdrückung des anderen zu
gründen."
Im Prinzip der Autonomie schliesst sich der Dichter durch-
aus an Kant an. Aber auf Grund verselbständigter metaphy-
sischer Grundauschauuugen und zugleich auch infolge eines nicht
belanglosen Missverständnisses der Kantischen Lehre scheint er
sich in eigener Weiterbildung von Kant zu entfernen. Von der
Metaphysik jetzt ganz abgesehen ist des Dichters Elutfer-
nung von Kant, sein Hinausgehen über seinen „vortrefflichen
356 B. Bauch,
Lehrer" von grosser Bedeutung und besonderem Interesse. Der
Dichter geht über Kaut hinaus und giebt sich, wie er selbst ein-
mal au diesen schreibt, den Schein und das Ansehen eines Gegners.
Aber mau hat Gegnerschaft und Hinausgehen über die Kautische
Lehre gar wohl und schärfer zu unterscheiden, als der Dichter es
selbst gethan. Er hat sich über Kants Lehre selbst getäuscht,
und wäre er iu dem Verhältnis zu ihr gestanden, in dem er zu
stehen glaubte, so hätte er sich in der That nicht bloss das An-
sehen eines Geguers gegeben, sondern wäre ein Gegner gewesen.
Iu solcher Weise verschob sich ihm der subjektive mit dem objek-
tiven Gesichtspunkte.
Er brachte nun eiue — bei allem Misslingeu in der Ent-
gegensetzung und Polemik — gelungene und willkommene Er-
gänzung zur Kantisehen Lehre, die sich auch mit dieser gai- wohl
vei-trägt. Die Verkeuuung der Verträglichkeit dieser Ergänzung,
soweit es sich eben nur um eine solche handelt, bedeutet eine
Verkeuuung der Kantischen Lehre selbst. Diese wäre aus sich
selbst heraus, ohne des Dichters eigene metaphysische Wendung,
die ihn allerdings erst dazu führte, der Ergänzung auf rein kri-
tischer Basis fähig gewesen.
Die Autonomie in Kants Sinne ist zugleich das Prinzip des
„reinen Willens". So sehr der dichterische Philosoph sich von
ihm angesprocheu fühlte, so sehr er dem „unsterblicheu Verfasser
der Kritik" den „Ruhm" zuerkennt, gerade durch dieses sein Prin-
zip „die gesuude Vernunft^ aus der philosophierenden wieder her-
gestellt zu haben", so wenig kanu sich doch der harmouiebegehrende
philosophische Dichter mit deu durchaus notwendigen Konsequenzen
zufrieden geben. Dem grössteu kritischen Denker kam es auf
scharfe, logisch-begriffliche Unterscheidung an. Der Dichter suchte
reale Vereinheitlichung und Verbindung. Indem er nun die lo-
gische Unterscheidung der Kritik selbst als realen Gegensatz auf-
fasst und für seinen Teil die Gegensätzlichkeit zu überwinden
strebt, gelangt er auf der einen Seite iu einen unvermeidlichen
Widerspruch nicht bloss mit Kant, soudern auch mit sich selbst
und erzielt doch auf der anderen Seite eiue glückliche und wert-
volle Weiterbildung der kritischen Lehre.
Kaut hatte, um ein Prinzip des sittlichen Bandeins zu ge-
winnen, dieses aufs strengste von den aussersittlichen Bestimmuugeu
der Glückseligkeitsrücksichten unterscheiden müssen. Damit ge-
wann er sowohl eiu logisch wertvolles Kriterium der Beurteüung,
g
Schiller und die Idee der Freiheit. 357
wie die Formel für das Freiheitsprinzip im Sinne der Autonomie.
Durch sie wurde der logische Geg-ensatz zu aller aussersittlichen
Bestimmung- auf vollkommen klaren Ausdruck g-eh rächt. Alles ma-
teriale Glückseligkeitsstreben war für die freie Selbstbestimmung
als unzulänglich erwiesen, die Pflicht war von der Neigung aufs
schärfste logisch geschieden. Aber die Bedeutung dieser logischen
Scheidung verkennt der Dichter. Es übeisieht die Art des Gegen-
satzes. Die Scheidung verletzt den auf Einheit dringenden poe-
tischen Genius, denn sie scheint ihm die Einheit des Menschen
selbst aufzuheben, ja sogar dessen Freiheit zu gefährden. Dieser
Schein entsteht ihm daraus, dass er das, was Kant als aussersitt-
lich erwiesen, als unsittlich gekennzeichnet wähnt. Der Dichter,
der in seiner Kunst über das Heer der menschlichen Neigungen
und Leidenschaften gebietet, der unter ihnen das Edle vom Ge-
meinen mit Götterblick herauszufinden weiss, der überhaupt inne
ist, dass auch Neigung und Leidenschaft edel sein kijnnen, der
muss natürlich, so wie e r die Kantische Lehre auf fasst, erklären :
„In der Kantischen Moralphilosophie ist die Idee der Pflicht mit
einer solchen Härte vorgetragen, die alle Grazien davon zurück-
schreckt." Dieser vermeintlichen Härte gegenüber, die dem Künst-
ler zugleich als eine Entzweiung des Menschen mit sich selbst
gilt, fordert er: „Der Mensch ist aber als Erscheinung zugleich
Gegenstand des Sinnes. Wo das moralische Gefühl Befriedigung
findet, da will das ästhetische nicht verkürzt sein, und die Über-
einstimmung mit einer Idee darf in der Erscheinung kein Opfer
kosten. So streng also auch immer die Vernunft einen Ausdruck
der Sittlichkeit fordert, so unnachlässlich fordert das Auge Schön-
heit. Da diese beiden Forderungen an dasselbe Objekt, obgleich
von verschiedenen Instanzen der Beurteilung ergehen, so muss
durch eine und dieselbe Ursache für beider Befriedigung gesorgt
sein. Diejenige Gemütsverfassung, wodurch er am fähigsten wird,
seine Bestimmung als moralische Person zu erfüllen, muss einen
solchen Ausdruck gestatten, der ihm auch als blosser Erscheinung
am vorteilhaftesten ist. Mit anderen Worten : seine sittliche
Fertigkeit muss sich durch Grazie offenbaren." Der Idee der
Freiheit soll also „die Freiheit in der Erscheinung" auch
im sittlichen Leben entsprechen. Die sittliche Autonomie soll als
ästhetische „Heautonomie",^) die der Ausdruck des Schönen ist,
1) Kein Begriff ist für Schillers Auffassung und Umdeutung Kan-
tischer Lehren vielleicht so charakteristisch, wie der der Heautonomie.
358 B. Bauch,
in die Erscheiuiing- treten. Die Sittlichkeit soll die Sinnlichkeit
nicht „niederwerfen", wie Kant das nach des Dichters Meinung
gefordert haben soll, sondern sie soll diese „versöhnen". Die
Pflicht soll selbst zur Neigung, die Sittlichkeit soll zum Instinkt,
zum natürlichen Bedürfnis werden. Nur die vollkommene Über-
einstimmung beider Prinzipien, ja ihre Einheit bezeichnet „das
vollkouunene Siegel der Menschheit und dasjenige was man unter
einer schönen Seele versteht". Das ist Schillers Ideal der „mora-
lischen Freiheit" in seiner Übereinstimmung, wie in seinem Gegen-
satze zu Kant. Beide Seiten dieses Ideals hat Kant selbst sehr
deutlich unterschieden: „Herr Professor Schiller missbilligt in
seiner mit Meisterhand geschriebenen Abhandlung (Thalia 1793,
3. Stück) über Anmut und Würde in der Moral diese Vorstellungs-
art der Verbindlichkeit, als ob sie eine karthäuserische Gemüts-
stimmung bei sich führe ; allein ich kann, da wir in den wich-
tigsten Prinzipien einig sind, auch in diesem keine Uneinigkeit
statuieren ; wenn wir uns nur unter einander verständlich machen
können. — Ich gestehe gern: dass ich dem Pflichtbegriffe, gerade
um seiner Würde willen, keine Anmut beigesellen kann. Denn er
enthält unbedingte Nötigung, womit Anmut in geradem Wider-
spruch steht. Die Majestät des Gesetzes (gleich dem auf Sinai)
flösst Ehrfurcht ein (nicht Scheu, welche zurückstösst, auch nicht
den Reiz, der zur Vertraulichkeit einladet), welche Achtung des
Untergebenen gegen seineu Gebieter, in diesem Falle aber, da
dieser in uns selbst liegt, ein Gefühl des Erhabenen unserer
eigenen Bestimmung erweckt, was uns mehr hinreisst, als alles
All keinem anderen wird wenigstens die Verschiebung der rein kritischen
Betrachtung in so prägnanter und konzentrierter Form khir, wie an ihm.
Bei Kant drückt er die transscendentale Gesetzgebung der Urteilskraft
lediglich für sich selbst, nicht wie die Kategorie die des Verstandes für
Gegenstände aus. Er ist wohl der immanenteste Begriff des ganzen kri-
tischen Geschäftes unseres Philosophen. Darum ist es um so merkwürdiger,
dass Schiller in der Freiheit der Erscheinung, die ihm mit der Heautono-
mie doch zusammenfällt, und in der das Freiheitsprinzip selbst die ganze
ästhetische Anschauungsweise beherrscht, meint gerade die objektive Ba-
sierung des Schönen, „die die Kantische Kritik leugnet," geben zu können.
Die Umbiegung des Transscendentalen ins Transscendente wird bei Schiller
also gerade an diesem Begriff ungemein deutlich, den er übrigens von
Kant selbst entlehnt und nicht, wie man in einem ganz bezeichnenden
Verständnis für Schillers Ideen und deren historisclien Zusammenhang ge-
meint, durch souverän-willkürliche Behandlung der griechischen Sprache
gebildet hat.
Schiller und die Idee der Freiheit. 359
Schöne. — Aber die Tug^end, d. i. die festgegründete Gesinnung,
seine Pflicht genau zu erfüllen, ist in ihren Folgen auch wohl-
thätig, mehr, wie alles, was Natur und Kunst in der Welt leisten
mag; und das herrliche Bild der Menschheit in dieser Gestalt
aufgestellt, verstattet gar wohl die Begleitung der Grazien, die
aber, wenn noch von Pflicht allein die Rede ist, sich in ehrer-
bietiger Entfernung halten." . . .
„Fragt man nun, welcherlei ist die ästhetische Beschaffen-
heit, gleichsam das Temperament der Tugend, mutig, mithin fröh-
lich, oder ängstlich-gebeugt und niedergeschlagen? so ist kaum
eine Antwort nötig. Die letztere sklavische Gemütsstimmuug kann
nie ohne einen verborgeneu Hass des Gesetzes stattfinden, und
das fröhliche Herz in Befolgung seiner Pflicht (nicht die Behag-
lichkeit in Anerkennung derselben) ist ein Zeichen der Echtheit
tugendhafter (^esinnung, selbst in der Frömmigkeit, die nicht in
der Selbstpeinigung des reuigen Sünders (welche sehr zweideutig
ist und gemeiniglich nur innerer Vorwurf ist, wider die Klugheits-
regel Verstössen zu haben), sondern im festen Vorsatz, es künftig
besser zu machen, besteht, der dui'ch den guten Fortgang ange-
feuert, eine fröhliche Gemütsstimmung bewirken muss, ohne welche
man nie gewiss ist, das Gute auch lieb gewonnen, d. i. es in seine
Maxime aufgenommen zu haben."
Ich habe diese Stelle fast vollständig hierhergesetzt, nicht
bloss weil sie in ihrer Konzentration das Verhältnis von Kant und
Schiller am schärften zu beleuchten vermag, sondern auch weil
unser spezielles Problem, Schillers Freiheitsidee, von hier aus ihre
gerechte Würdigung erfahren kann.
Der Vorwurf der „Rigidität", den Schiller gegen Kant er-
hoben, und der sich seit des Dichters Ausführungen mit der Vor-
stellung der Kantischen Moral, wie es scheint, unausrottbar ver-
bunden hat, beruht auf einem Missverständnis. ^) Denn sie bringt
Pflicht und Neigung, Tugend und „Grazie" nicht in das Verhält-
nis realen gegenseitigen Ausschlusses und unversöhnlichen Gegen-
1) Bekanntlich hat diesem der Dichter den ivlassischsten Ausdruck
gegeben in dem „Gewissensskrupel":
„Gerne dient ich den Freunden, doch thu' ich es leider mit Neigung,
Und so wurmt es mich oft, dass ich nicht tugendhaft bin."
und in dessen „Entscheidung":
„Da ist kein anderer Rat, du musst suchen, sie zai verachten
Und mit Abscheu alsdann thun, was die Pflicht dir gebeut."
3G0 B. Bauch,
Satzes. Sie kann nur aus logischen Gründen nicht ihre prinzipielle
Verquickung- gestatten, „wenn noch von Pflicht allein die Rede
ist". Die Neigung darf nicht in die Bestimmung des Prinzips mit
aufgenommen werden, da dieses volles Bewusstseiu der Pflicht
erheischt, das im natürlichen Bedürfnis der „schönen Seele" unter-
gehen müsste. Diese soll ein sittliches Ideal sein, aber sie wäre
ein Ideal, das aus der Sittlichkeit, weil aus der unbedingten Nöti-
gung des Sittengesetzes, herausführt. B^s enthält also einen Wider-
spruch in sich selbst, ganz davon abgesehen, dass wir bei dem
Wandel und Wechsel der Neigungen niemals eine Gewähr a priori
für ihr Zusammenstimmen mit dem waudel- und wechsellosen
Prinzip der Autonomie haben könnten.
Die vom Dichter geforderte Einheit beider Prinzipien darf
der kritische Denker darum nicht zugeben. Aber die Tugend
„verstattet gar wohl die Begleitung der Grazien". Also nicht
Einheit, aber doch Synthese ermöglicht die Kritik. Ja „das fröh-
liche Herz" ist sogar die Gewähr der „Echtheit tugendhafter Ge-
sinnung".
In dem Gegensatz, in dem sich der Dichter zu Kant zu be-
finden wähnt, befindet er sich in Wahrheit nicht. Eür diesen sind
Tugend und Neigung ebenso wenig Faktoren gegenseitiger Aus-
schliessung, wie für ihn. Aber er steht zu Kant in einem an-
deren Gegensatz, den er selbst nicht durchschaut. Die Art der
Verbindung, die beide zwischen sittlicher und sinnlicher Be-
stimmung statuieren, ist es, was sie trennt. Der Dichter fordert
ein Ideal analytischer Vereinheitlichung. Der „unsterbliche Ver-
fasser der Kritik" ist sich der logischen Unvollziehbarkeit eines
solchen Ideals bewusst, aber erkennt die Möglichkeit der synthe-
tischen Beziehung beider Bestimmungsstücke an.
Wir haben zwecks prinzipieller Klärung das Verhältnis Kants
und Schillers zu einander erwogen, ihre (ibereinstimmung und ihre
Differenz betrachtet und innerhalb dieser die vom Dichter nur ge-
wähnte von der wirklichen, die er nicht scharf genug erkannt,
unterschieden. Dabei mussten wir uns gegen den Dichter auf die
Seite des Philosophen stellen. Wir haben dabei aber noch nicht
die positive Bedeutung seines Hinausgehens über Kant gewürdigt,
die uns nun nötigen wird, uns gegen den Philosophen auf die
Seite des Dichters zu stellen.
Schiller und die Idee der Freiheit. 361
Durch seinen Begriff der „Freiheit in der Erscheinung" hat
er in praktischer Hinsicht in der That eine neue Wertwirklichkeit
erschlossen. Er mag immerhin den Fehler begangen haben, durch
die Beziehung „von verschiedenen Instanzen der Beurteilung" auf
„eine und dieselbe Ursache" in metaphysischer Bedeutung, auch
eine Idealeinheit gefordert zu haben, so liegt doch gerade darin
sein Verdienst, dass er überhaupt die „verschiedenen Instanzen
der Beurteilung" einmal hervorkehrte, und sie, um das thun zu
können, klar und deutlich von einander unterschied. Dass er die
Unterscheidung in seinem Ideal der schönen Seele implizite wieder
aufliob, das lehnen wir nicht bloss des logischen Widerspruchs,
sondern gerade auch deswegen ab, weil es sehr wertvoll ist, dass
er sie vollzog. Das ist seine eigenste über Kant hinausweisende
Leistung, die er trotz jenes widerspruchsvollen Ideals selbst aufs
schönste fruchtbar gemacht hat.
Es ist oft genug behauptet worden, das Kantische Moral-
prinzip sei einseitig. Wenn man die Ethik als die Lehre von der
wert- und zweckvollen Lebensgestaltung ansehe und ihr nun ein
Prinzip, wie das Kantische, zu geben versuche, so könne man ge-
rade ganz eminenten Lebenswerteu und Lebenszwecken nicht ge-
recht werden. Und um diese Behauptung zu bekräftigen und sie
gleichsam ad oculos zu demonstrieren, fragt man, nicht ohne einen
Auflug von Spott, aber doch etwas ahnungslos, wie denn Kants
leere Formel des kategorischen Imperativs den Wert auch nur
einer einzigen grossen Persönlichkeit und ihrer Leistung (etwa
Goethes, damit ich selbst das schlagendste Beispiel wähle) aus-
messen könne.
So wenig solche Einwendungen Kant zu treffen vermögen --
dass Schiller so nicht argumentiert hat, sei ausdrücklich bemerkt!
— so liegt dem Gedanken doch eine Berechtigung zu Grunde.
Gewiss lässt sich etwa Goethes Wert an der Formel des katego-
rischen Imperativs nicht aus messen. Nur ist zu bedenken, dass
das auch gar nicht Zweck und Aufgabe dieser Formel ist. Kant
suchte ein Prinzip des sittlichen Handelns und fand es in der
Autonomie, deren Formel der kategorische Imperativ darstellt. Er
sollte einen allgemeingültigen Zweck umschreiben.
Nun sind im Begriff der normativen Allgemeingültigkeit aber
zwei Seiten zu unterscheiden : erstens die Allgemeingültigkeit bloss
im Sinne der allgemeinen Anerkennungsnotwendigkeit und zweitens
die Allgemeingültigkeit im Sinne sowohl der allgemeinen Auer-
KftDtiitudieii X. 24
J
362 ß. Bauch,
keniiung-snotwenclig-keit, wie auch in dem der allg-emeiuen Reali-
sierimg-snotweiidig-keit. Allgemeiugültig- im ersten Sinne sind die
Fallg-esetze ebenso wie der Faust, insofern beide den Rechtsanspruch
auf allgemeine Anerkennung haben. Aber gerade diese Beispiele
zeigen, dass hier die allgemeine Realisierungsnotwendigkeit nicht
nur nicht eingeschlossen, sondern geradezu begrifflich ausge-
schlossen ist. Gerade Goethes Faust noch einmal zu schreiben,
wäre ebenso ungereimt wie gerade Galileis Gesetze noch
einmal aufzustellen. ^) Der Wert beider besteht ja nicht zu-
letzt darin, dass sie nicht noch einmal geleistet zu werden
brauchen und geleistet werden können. Wohl wäre es denkbar,
dass aus demselben Stoffe ein anderer Künstler ein neues Kunst-
werk schüfe, oder auch dass ein anderer- Forscher auf dem Wege
anderer, bisher unbekannter Ableitung zu demselben mathematisch-
mechanischen Resultate gelangte. Beides wären aber doch wieder
neue Leistungen, deren Wert auch in ihrer Einmaligkeit zum Aus-
druck gelaugte. Die blosse Wiederholung aber wäre keine Leistung,
sondern wertlose Kopie.
Im Gegensatz zu solchen Einmaligkeitswerten hat gerade
der kategorische Imperativ etwas auszudrücken, das immer und
überall, von jedem geleistet, also nicht bloss allgemein anerkannt,
sondern auch allgemein realisiert werden soll, das also auch muss
wiederholt werden könrren. Daher musste er sich alles Inhalts
begeben, formal sein und bleiben. Ebendarum kann und darf er
irr dem Gesamtgebiete des Wertes irur eine Sphäre bezeichnen.
Inbezug auf den Begriff des Wertes oder Zweckes überhaupt
ist er- partikular, in Bezug auf die Individuen ist er in der For-
derung sowohl seiner Anerkennurrg wie seiner Realisierung gene-
rell. Da er aber nur eirre partikular-e Wertsphäre umschreibt,
hebt er sich von jener anderen ab, für die sich auf Grund logischer
Disjurrktion er-giebt, dass auch sie als Wertsphäre partikular, als
1) Es ist sehr genau darauf zu achten, dass ich, wie von der All-
gemeingültigkeit überliaupt, so auch von der allgemeinen Realisierungs-
notwendigkeit immer nur im normativen Sinne rede. Denn sonst könnte
man ja sagen : die Fallgesetze drücken selbst eine allgemeine Realisierungs-
notwendigkeit aus, was ganz richtig wäre. Nur ist das eine kausale
Realisierungsnotwendigkeit, aber keine normative, von der allein ich hier
rede. Dies nur zur Vermeidung von Missverständnissen. Ausführlicher
auf diese Fragen einzugehen ist hier nicht der Ort. Das sei einer späteren
Gelegenheit vorbehalten.
Sctiiller und die Idee der Freiheit. 36ö
Wertfordenmg- für die Auerkeunimg- generell, für die Eealisierung-
siug-iilär sein muss.
Es ist nun keine Frage, dass Kant, so richtig er das Prin-
zip der Ethik bestimmt hatte, und so wenig ihn alle Einwendungen
dagegen treffen konnten, doch der ausserethischen Wertsphäre zu
wenig Beachtung geschenkt hatte. Und indem er die rein ethische
Betrachtungsweise allein kultivierte, machte er sie auf Kosten der
anderen geltend. Daraus entstand der Schein ihrer „Verabsolu-
tierung", wie man gesagt hat; und darauf gründeten sich auch die
rechtmässigen Bedenken gegen sein Verfahren.
Schillers Verdienst ist es, ihm gegenüber die „verschiedenen
Instanzen der Beurteilung eines und desselben Objektes" betont zu
haben, wenn er sie auch, wie bereits bemerkt, selbst wieder mit
einander verquickte und sich noch nicht zu vollkommener Klarheit
durchrang. Aber er dringt doch der „einseitigen moralischen
Schätzung" gegenüber auf die „vollständige anthropologische ')
Schätzung".
Sein Widerspruch gegen Kant beruht auf der ganz anderen
Stellung, die der Dichter von vornherein dem Glückseligkeits-
problem gegenüber innehatte. Hier griff er gerade den Punkt
auf, den Kant in seiner im Prinzip durchaus richtigen, aber im
Verhältnis zu den übrigen Werten doch einseitigen ethischen
Fragestellung völlig übergangen hatte. Der Dichter erst drängte
auf eine Unterscheidung innerhalb des Glückseligkeitsproblems
selbst hin, durch die er über Kant hinausging, wie er bei der
Unterscheidung des Glückseligkeitsproblems vom rein ethischen
hinter Kant zurückgeblieben war. Der Philosoph unterschied klar
und deutlich die sittliche Bestimmung von der Neigung, aber er
achtete nicht auf deren Modifikationen selbst. Der Dichter merkte
im Gegenteil fein und soi'gfältig auf diese, aber er übersah ihren
prinzipiellen logischen Unterschied von der sittlichen Bestimmung.
Was er in der Kunst längst behandelt, das klärte ihm die
begriffliche Reflexion weiter ab. Und wie er zunächst auf die
verschiedenen Instanzen der Beurteilung hingewiesen, so wies er
auch auf die verschiedenen Modifikationen des Glückseligkeits-
begriffs hin, wies er darauf hin, dass es ein Unterschied sei, wo-
1) Dass dieses Wort lediglich die Universalität der Beurteilung aus-
drückt und mit der modernen anthropologischen Schätzung im Sinne der
Biologie und Soziologie nichts zu thun hat, bedarf kaum der Erwähnung.
24*
364 B. Bauch,
rin einer gerade seine Glückseligkeit setze, und dass die Ver-
schiedenheit des Glückseligkeitsstrebens selbst verschiedene Instanzen
der Beurteilung erheische. Nach diesem Gesichtspunkte hatte ja
einst schon Aristoteles die Skala der menschlichen Wertbeurteilung
gegliedert, und auf demselben Gesichtspunkte beruhte es, dass der
Dichter das autonomische Freiheitsprinzip der Pflicht in so engen
Zusammenhang mit der Neigung zu bringen vermochte. Leider
freilich, wie bemerkt, in einen analytischen. Für den synthetischen
fehlte ihm das Prinzip der Synthesis, das Kant besass, ohne von
ihm einen ergiebigeren Gebrauch zu machen und ohne dadurch
seine „Einseitigkeit" zu überwinden, während der Dichter diese
Einseitigkeit glücklich überwand, ohne das richtige prinzipielle
Verhältnis zur Klarheit zu bringen.
Die Unterscheidung aber, die er vollzog, befähigte ihn zu
einer fruchtbaren begrifflichen Weiterbildung kritischer Gedanken-
richtuug. Dass „Lust und Liebe die Fittiche zu grossen Thaten"
seien — dies Wort hätte er nun auch zu dem seinigen machen
können, und er durfte es um so mehr, als er der Neigung und
der Liebe durch ihre Beziehung auf objektive Zwecke selbst einen
objektiven Gehalt zu geben vermochte. Das alles hatte Kant in-
bezug auf den rein sittlichen Zweck auch gethan, und ebendarum
schon konnte ihn der Vorwurf der „Rigidität" nicht treffen.
Schiller that es aber auch inbezug auf an sich aussersittliche
und in sich doch objektive Zwecke. Darin liegt die Grösse und
Bedeutung seines Hinausgehens über Kant, dass er — trotz der
unrechtmässigen Vereinheitlichung von sittlichem und aussersitt-
lichem Zwecke — das Reich der Freiheit erweiterte.
Durch diese Erweiterung, dadurch, dass er in der Freiheit
der Erscheinung selbst einen Wert entdeckte, den er als Anmut
der Würde beizugesellen suchte, erschloss er in Wahrheit eine
neue Wertsphäre, die, bei aller logischen Unzulänglichkeit, doch
von der grössten Bedeutung ist. Denn sie stellt eine neue Auf-
gabe, auf deren Erfüllung der Mensch hinzuleiten, zu „erziehen"
ist, und durch die das Problem der Freiheit selbst in ein neues
Licht gerückt werden sollte, „weil es die Schönheit ist, durch
welche man zu der Freiheit wandert". Darum heisst jene Er-
ziehung auf die neuen an sich aussersittlichen, aber doch dem
sittlichen Zwecke selbst dienenden Werte „ästhetische Erziehung",
weil sie die „Freiheit in der Erscheinung" darstellen und aus-
wirken soll, um von ihr zur sittlichen, iutelligiblen Freiheit, die
Schiller und die Idee der Freiheit. 365
„nie erscheint", hinzuführen und deren ideale Bestimmung Avirk-
lich zu macheu.
* *
*
Diese Realisierung- aber ist nur möglich in einer zu ihrem
Zwecke verbundenen Gemeinschaft, — „in dem Staate-'. Freilich
nicht im „Notstaate", nicht im „Naturstaate", in den die Natur,
„der Zwang der Bedürfnisse" den Menschen „hineingeworfen, ehe
er in seiner Freiheit diesen Stand wählen konnte". „Denn das
Werk blinder Kräfte besitzt keine Autorität, vor welcher die Frei-
heit sich zu beugen brauchte, und alles muss sich dem höchsten
Endzwecke fügen, den die Vernunft in seiner Persönlichkeit auf-
stellt. Auf diese Weise rechtfertigt sich der Versuch eines mündig
gewordenen Volkes, seinen Naturstaat in einen sittlichen umzu-
wandeln."
Bis hierher dürfte in der Gegenüberstellung von „Natur-
staat" und „Staat der Freiheit" der Einfluss der Kantischen
Unterscheidung von „Naturstaat" und „ethischer Gemeinschaft" zu
statuieren sein, sowie der Begriff des menschlichen „Endzwecks,
den die Vernunft in seiner Persönlichkeit aufstellt", geradezu das
Gepräge Kantischer Terminologie trägt. Die Art und Weise, wie
der Dichter das Bild von jener Umformung entwirft, weist indes
auf den grossen Schüler Kants hin, der dessen Lehre so weiter-
bilden sollte, dass wir erst heute ihre Segnungen, wahrhaft frucht-
bar gemacht, zu empfangen im Stande sind, auf Fichte. Ja selbst
den Einfluss der dialektischen Methode seiner Gedankenführung,
deren „äusserst zugespitzte Apices" Kant bald energisch abwehren
sollte, und von der Fichte trotzdem stolz erklärte, er rechne sich
dieses „Verdienst der Darstellung" sehr hoch an, „und werde nie
ablassen, da, wo es die Sache erlaubt, Fleiss auf sie zu wenden",
— selbst den Einfluss dieser Methode können wir in der bedeut-
samsten Vertiefung seiner philosophischen Ideen wahrnehmen.
Und wir wären dazu im Stande, selbst wenn er sich nicht aus-
drücklich „auf seinen Freund Fichte beziehen" würde.
Dessen Einfluss erstreckt sich auf nicht mehr und nicht we-
niger als auf Schillers vollständig ausgeführten Entwurf einer
Umformung des „Naturstaates in einen sittlichen", über die Kant
sich im grossen und ganzen doch nur andeutend ausgesprochen
hatte.
366 B. Bauch,
Der „Natnrstaat" (wie jeder iiolitischc Körper heissen kann,
der seine Einrieb tuug- nrsprüng-lich von Kräften, nicht von Ge-
setzen ableitet) widerspricht nun zwar dem nioraliscben Menseben,
dem die blosse Gesetzmässip:keit znm Gesetz dienen soll; aber er
ist docb die Existenzbeding-uug- für den „physischen". Dieser
aber ist znuächst „wirklich, nnd der sittliche nur problematisch".
„Hebt also die Vernunft den Naturstaat auf, wie sie not-
wendig" muss, wenn sie den ihrigen an die Stelle setzen will, so
wagt sie den physischen und wirklichen Menschen an den proble-
matischen sittlichen, so wagt sie die Existenz der Gesellschaft an
ein bloss mögliches (wenngleich moralisch notwendiges) Ideal von
Gesellschaft. Sie nimmt dem Menschen etwas, das er wirklich
besitzt, und ohne welches er nichts besitzt, und weist ihn dafür
an etwas an, das er besitzen könnte und sollte; und hätte sie
zuviel auf ihn gerechnet, so würde sie ihm für eine Menschheit,
die ihm noch mangelt und unbeschadet seiner Existenz mangeln
kann, auch selbst die Mittel zur Tierheit entrissen haben, die doch
die Bedingungen zu seiner Menschheit sind."
Um die ideelle Menschheit auszuwirken, darf also die phy-
sische nicht verloren gehen. Ihre Existenz ist die reale Bedingung
für die Auswirkung ihrer idealen Bestimmung. „Das grosse Be-
denken also ist, dass die physische Gesellschaft in der Zeit keinen
Augenblick aufhören darf, indem die moralische in der Idee sich
bildet, dass um der Würde des Menschen willen seine Existenz
nicht in Gefahr geraten darf. Wenn der Künstler an einem Uhr-
werk zu bessern hat, so lässt er die Bäder ablaufen; aber das
lebendige Uhrwerk des Staats muss gebessert werden, indem es
schlägt, und hier gilt es, das rollende Rad während seines Um-
schwungs auszutauschen. Man muss also für die Fortdauer der
Gesellschaft eine Stütze suchen, die sie von dem Naturstaate, den
man auflösen will, unabhängig macht."
Wie anders ist hier das Problem von Staat, Gesellschaft
und Geschichte angesehen, als auf jenem Standpunkte, wo das
Individuum nicht sich der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft
sich opfern wollte; oder auch noch da, wo es sich, weil es seine
Zeit seinem Ideal nicht reif Avähnte, auf sich selbst zurückzog!
Jetzt ist endlich erkannt, dass es selbst eine Aufgabe ist, dahin
zu wirken, dass nicht etwa sich die Idee dem Joch der Zeit
beuge, sondern dass die Zeit der Idee zureife, dass das „Jahr-
hundert" für ein Ideal „erzogen" werde, und dass auch „eine
Schiller und die Idee der Freiheit. 367
Aufgabe für mehr als ein Jabrliimdert" iu Angriff genommen
werden soll.
Nur fragt es sich weiter: was ist die Stütze dafür? Sie
liegt nicht im physischen Menschen, denn er bedarf ja dieser
Stütze, um zum sittlichen erzogen zu werden ; noch liegt sie im
sittlichen Menschen, denn der ist ja die Aufgabe, für die der
physische Mensch vermittels jener ..Stütze" erst erzogen werden
soll. Sie muss in einem „dritten Oharakter" liegen, „der, mit
jenen beiden verwandt, von der Herrschaft blosser Kräfte zu der
Herrschaft der Gesetze einen Übergang bahnte und, ohne den
moralischen Chai-akter an seiner Entwickelung zu verhindern, viel-
mehr zu einem sinnlichen Pfände der unsichtbaren Sittlichkeit
diente".
Von hier aus gelangt Schiller zu der „vollständigen anthro-
pologischen Schätzung-', deren Methode kurz folgendermassen be-
zeichnet ist. Mit Fichte hält er fest: „Jeder individuelle Mensch,
kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen
reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher
Einheit in allen Abwechselungen übereinzustimmen die grosse
Aufgabe seines Daseins ist."^) Seine Repräsentation findet er im
Staate. Dieser aber soll nicht bloss den objektiven reinen Gat-
tungsmenschen, sondern auch den subjektiven und spezifischen „in
den Individuen ehren und, indem er das unsichtbare Reich der
Sitten ausbreitet, das Reich der Erscheinung nicht entvölkern".
Die Bewahrung des Individuellen, auf die Kant in der That kein
besonderes Augenmerk gerichtet, ist somit die Aufgabe jener uni-
versalen Schätzung, die „der politische und pädagogische Künstler"
zu lösen hat. Damit ist der über Kant hinausführende Gesichts-
punkt aufs klarste gekennzeichnet. Der „Wert des Individuellen",
um mit Goethe zu reden, tritt hier aus Licht. Aber auch dieser
Wert darf nicht in der Luft schweben. Die „subjektive Mensch-
1) Hier beruft sich dt-r Dichter ausdrücklich auf Fichte : „Ich beziehe
mich hier auf eine kürzlich erschienene Schrift: Vorlesungen über die Be-
stimmung des Gelehrten, von meinem Freunde Fichte, wo sich eine sehr
lichtvolle und noch nie auf diesem Wege versuchte Ableitung dieses Satzes
findet." — Zur Begründung seiner metaphysischen Anschauungen zieht
der Dichter auch die Grundlage der gesamten Wissenscliaftslehre heran.
Doch liegt es nicht im Bereiche meiner Abhandlung, darauf näher einzu-
gehen, zumal diese lediglicli theoretischen Erwägungen ja an anderer
Stelle in diesem Hefte von Schmid behandelt werden.
868 B. Bauch,
heit" bedarf selbst einer „objektiven" Basierung- ibres Wertes, die
in ihrer „objektiven Veredlung" zum Ausdruck kommt. Im Staate
hat sich der Einzelne einerseits von aller „willkührlichen Wildheit",
andererseits aus aller „Barbarei" zur „Bildung" und „Kultur"
durchzuarbeiten. Dazu muss er seine subjektiven „Gefühle" mit
objektiven „Grundsätzen" zur Übereinstimmung zu bringen suchen.
Jene dürfen nicht über diese „herrschen"; diese dürfen nicht jene
„zerstören". Der Mensch ist nicht als „Bruchstück" auszubilden,
die „Totalität des Charakters" ist so zu entfalten, dass die sub-
jektiven natürlichen Anlagen zu Energien auf objektive Ziele
werden, die dem Einzelnen die allgemeine gesellschaftliche Organi-
sation, „das organische Leben" in ihr anzuweisen hat. Dafür hat
diese aber „den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren und
wahre Freiheit zur Grundlage der politischen zu machen".
Das formal begrifflich unzulängliche Ideal der „schönen
Seele" erhält dadurch gleichsam eine immanente Korrektur, die es
inhaltlich durch schärfere Unterscheidung der vormals in ihm be-
reits ausgedrückten Bestimmungsstücke annehmbarer macht. Dem
sittlichen Ideale werden in den Werten der „Bildung" und „Kul-
tur" Inhalte gesetzt, ohne dass es, Avie der Begriff der schönen
Seele es eigentlich verlangte, selbst ver in halt licht zu werden
braucht. Denn auch das in der „Totalität des Charakters" ge-
wiesene Ideal wird ja nicht mehr als ein ethisches angesehen,
vielmehr wird es gerade der „einseitigen moralischen Schätzung"
gegenübergestellt.
Zu jenen Werten nun gehört, um die universale Bestimmung
des Menschen wirklich zu machen, in erster Linie der Wert der
Wahrheit. Um ihrer Idee aber auf uns Einfluss zu verschaffen
bedarf es nicht bloss der Erkenntnis überhaupt. Die Vernunft
hat Wahngebilde, Sinuentrug und Fanatismus zerstört und doch
sind „wir noch immer Barbaren" und nicht im Besitze der wahren
Freiheit, zu der uns die Wahrheit führen soll. Dazu gehört von
uns selbst Wahrheitsmut. „Ein alter Weiser hat es empfunden,
und es liegt in dem vielbedeutenden Ausdruck versteckt: sapere
aude. Erkühne dich, weise zu sein."
So soll „die theoretische Kultur die praktische herbeiführen
und die praktische doch die Bedingung der theoretischen sein". Das
ist ein „Cirkel", aber ein notwendiger. Ihn kann weder der Ein-
zelne, noch der Staat auflösen. Das vermag allein ein ganz be-
sonderes Werkzeug. „Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst" . . .
Schiller und die Idee der Freiheit. 369
„mit ihren unsterblichen Mustern". Für die Erziehung zur Frei-
heit haben sich so „Kunst und Wissenschaft" zu verbinden, um
das Zeitlose, das Ewige „in die unendliche Zeit zu werfen". Die
Kunst, die jenen Cirkel auflösen soll, ist unabhängig von allem
Historischen. Au kein Zeitalter und keinen Geschmack gebunden
soll sie vielmehr Zeitalter und Geschmack au sich binden durch
den „reinen Vernuuftbegrif f der Schönheit". Er vermag
den Menschen „von einem beschränkten zu einem absoluteu Da-
sein zu führen", indem er ihn von der Natur zur Freiheit, vom
Zeitlichen ins Ewige unmittelbar und ursprünglich erhebt.
Dadurch verbindet das Schöne beide Seiten des menschlichen
Wesens, die „sinnliche" und die „intelligible" mit einander und
erzeugt so Einheit iu der Totalität seines Charakters.
Auf diesem Wege hat Schiller nun das Reich der Freiheit
erweitert und die objektiven Werte aufgewiesen, auf denen die
verschiedenen Instanzen der Beurteilung gegründet sind, und die
dem Individuellen seine Bewahrung garantieren. Denn auf sie
kann und darf der Einzelne seine ganze Liebe und Neigung
richten; ja er soll das. Und so wird er in seiner ganz bestimmten
Besonderheit zur Geltung gelangen können, indem er gerade seine
Individualität auf überindividuellc objektive Zwecke richtet. Das
wird noch deutlicher, sobald nicht bloss das „Dass", sondern auch
das „Wie" dieser Wirksamkeit in Frage kommt.
Die Kunst liefert nämlich durch Erzeugung des einheitlichen
Ganzen des Charakters auch die vorhin geforderte „Stütze".
Während wissenschaftliches und sittliches Ideal sich allein an
den vernünftigen Meuscheu wenden, wendet sich das Schöne auch
an den sinnlichen. Sie versetzt den Menschen, indem sie seine
beiderlei Kräfte ins Spiel bringt, iu eineu Zustand, in dem
er sich zu seiner Bestimmung erheben kann, giebt ihm „die Frei-
heit, zu sein, was er sein soll" und „den sinnlichen Menschen
vernünftig zu machen". „Wahrheit und Pflicht" freilich müssen
allein für sich und um ihretwillen wirken und Einfluss haben.
„Aber dass sie dieses überhaupt können — dass es überhaupt nur
eine reine Form für den sinnhcheu Menschen gebe, dies . . .
muss durch die ästhetische Stimmung des Gemüts erst möglich ge-
macht werden". Denn nur deren Gegenstand, das Schöne, hat
Beziehung auf den sinnlichen Menschen. Aus dem „physischen
Zustand" zum „ästhetischen", „von der Schönheit zur Wahrheit
und zur Pflicht" — das ist der Weg, den er zu gehen hat.
370 B. Bauch,
Hat das Sohöne seine Mission erst am Individuum erfüllt, so
hat es auch schon die Gesellschaft gewonnen. Lieht der Einzelne
erst das Schöne, so will er es auch verbreiten und als „Freiheit
in der Erscheinuno" selber wirken. Aber er kann die eigene
Freiheit nur dai-stellen, wenn er auch die der anderen schont und
fördert. Dazu muss er sich zu „fremder Vorstellungsart erweitern
können", muss er „fremde Natur treu und Avahr in sich auf-
nehmen, fremde Situationen sich aneignen, fremde Gefühle zu den
seinigen machen können" durch „Regsamkeit" seines eigenen Ge-
fühls. Diese Kunst des Individualisiereus und zugleich der Scho-
nung fremder Individualität, ist rein ästhetischen Ursprungs. Sie
ist das wahre Wesen des „guten Tones" und der „Schönheit des
Umgangs", begründet edle „Geselligkeit" und formt so zunächst
den Naturstaat in einen ästhetischen um, in dem sich der „ge-
sellige Charakter" erzeugt. Das Prinzip des guten Tones schliesst
zvvei Gesetze in sich. „Das erste Gesetz des guten Tones ist:
schone fremde Freiheit; das zweite: zeige selbst Freiheit." Und
da in ihm das Grundgesetz des ästhetischen Staates gegeben ist,
so ist „E^reiheit zu geben durch Freiheit, das Grundge-
setz dieses Reichs."
In ihm aber gewinnt eine besondere Gestalt der Gemeinschaft
eine besondere Bedeutung: „Die schönere Notwendigkeit, die die
Geschlechter zusammenkettet, der Herzen Anteil, der das Bediu'f-
nis bew^ahren hilft, das die Begierde nur launisch und wandelbar
knüpft", die Familie, jene fundamentalste und zarteste Form des
Gesellschaftslebeus erhält hier ihre rechtmässige Stelle und sichert
dem Individuellsten des menschlichen Seins seinen überindividuellen
Wert. Die persönlichste Liebe erhält hier überpersöuliche Weihe
und Heiligung.
Und das Recht, das dem Individuellen in dieser Gemeinschaft
wird, das widerfährt ihm auch in dem allgemeinen gesellschaft-
lichen Zusammenhange. Die dem Einzelnen aus diesem erwachsen-
den Aufgaben kann er am besten lösen, wenn er sie mit Lust und
Liebe ergreift. Darum soll er sich auch nach Möglichkeit denen
zuwenden, zu denen ihn persönliche Neigung drängt. Denn diese
wirkt sich allein da aus, wo auch eigene Anlage zui- Wirksamkeit
gelangt, wo seine wertvollen individuellen Kräfte in freies Spiel
gesetzt werden. Dann also Avird der Einzelne gerade durch seine
Individualität am besten der Gesamtheit dienen. Und für diesen
Dienst hat er ja seine objektiven Richtpunkte in jenen objektiven
Schiller und die Idee der Freiheit. 371
Ideen, die die Universalität der Freiheit bezeichnen, von denen
aus der überindividuelle Wert in das individuelle, wie gemein-
schaftliche Leben einströmt.
So giebt das Schöne zunächst individuelle Freiheit. Diese
führt unmittelbar zur geselligen. Da diese nun den Naturstaat,
den Staat der Not, zum Staat der Freiheit im ästhetischen Sinne
umformt, so kann sich auf diesem als seiner realen Stütze der
sittliche mit der Idee der sittlichen Freiheit aufbauen. Was Kant
von diesem gefordert hatte, dass in ihm eines jeden Freiheit mit
der aller übrigen müsse zusammen bestehen können, — für die
Erfüllung dieser Forderung hat Schiller die reale Bedingung im
ästhetischen Staate aufzuweisen versucht. So hat er genau den-
selben Weg, den er im dialektischen Teile seiner Untersuchung
bei der Frage nach der logischen Dependenz gegangen ist, nun
umgekehrt, zurückgelegt, wo es sich ihm um die reale Dependenz
handelte Die sittliche Freiheit, die der Ausgangspunkt seiner
Untersuchung war, ist nun auch deren Zielpunkt geblieben. Für
die logische Reflexion das Prius ist sie für die Realisierung das
Posterius, zu dem „die ästhetische Erziehung'' führt.
Wenn je ein Mensch als künstlerischer P'rzieher auch „päda-
gogischer Künstler" war, und die Menschheit durch die Freiheit
der Kunst auch dem Ideal der sittlichen Freiheit näher gebracht
hat, dann ist es unser Schiller gewesen. Das in der begrifflichen
Arbeit, auch in der über die Kunst aufgegangene Licht ver-
breitet nun seineu Glanz der Ideen auf diese Kunst selbst, aber
so, dass sie ihren verklärenden Schein auf die philosophische Re-
flexion selbst zurückwirft. Seine Kunst weist dem Individuum den
Weg zu sich selbst, zur autonomen Innerlichkeit, weist es darauf
hin, dass der „schönste Sieg", den es im Kami)fe des Lebens er-
ringen kann, die Selbstbestimmung, Selbstbezwingung und Selbst-
beherrschung ist und lässt es für den Schicksalsweg des Lebens
in der eigenen Brust auch des Schicksals Sterne suchen. Die
Familie, das intimste und innerlichste Band der schönen Gesell-
schaft, em})fängt aus seiner Kunst eine Würdigung, die ewig im
Gemüte der Deutscheu als Gemeingut fortleben wird. Und zu
welchen reinen, klaren Höhen hat sich seine Kunst nicht aus
jenen stürmischen Anfängen emporgearbeitet in der Auffassung
372 B. Bauch, Schiller und die Idee der Freiheit,
vou do.m grossen Zusammenhange, in den der P^inzelne zur Ver-
wirklichung- seiner Bestimmung gestellt ist, von „dem verwickelten
Ganzen der Gesellschaft"! Das unbestimmte Weltbürgertum weicht
dem nationalen Gedanken. Denn „elend ist die Nation, die nicht
ihr Alles setzt au ihre Ehre". Und als ihr Glied hat der Mann,
„an's Vaterland, an's teure" sich anschliessend, einzustehen für
alles, was es an Wert birgt:
„Wir stehn für unser Land,
Wir stehn für unsre Weiber, unsre Kinder."
Erst wenn die Nation sich in ihrer Bedeutung ergriffen hat,
erst dann können die Nationen, sich selbst als Individuen wahrend,
eine abgeklärte geistige Weltbürgei-schaft im ganzen darstellen.
Autonome Person, Familie, Vaterland sind notwendige und unauf-
gebbare, überhistorische und allgemeingültige Etappen der Mensch-
heit geworden. Ihr Recht ist entdeckt und ihr Wert ist gegründet
in des Ideales Reich, von dem alles Leben allein seinen Wert
empfangen kann, und auf das es sich beziehen muss, damit es
Wert habe. Denn „das Leben ist der Güter höchstes nicht".
Ja, es ist als blosses Dasein, als „enges, dumpfes Leben" über-
haupt kein Gut. Um das zu werden, muss es über sich selbst
hiuausstreben, muss es dahin zielen, wohin, nach Goethes Wort,
seines Freundes Geist gewaltig f ortschritt: nach dem Ewigen, dem
Idealen, „ins Ewige des Wahren, Guten, Schönen", in das Reich
der Freiheit
Zwei Queilenfunde zu Schillers philosophischer
Entwickelung.
Von H. V a i h i n g e r.
I.
Eine Disputation in der Karlsschule
im November 1776.
Vorbemerkungen.
Vor einigen Jahren fiel mir hier zufällig- ein dicker Sammel-
band von alten Dissertationen in die Hände; die meisten waren
ganz wertlos, aber eine derselben erreg-te meine Aufmerksamkeit,
ihr Titel lautet:
DISSERTATIO
DE
ORIGINE CHARACTERIS ANIMI
QUAM
ACADEMIAE MILITARIS
STATORE ET PROTECTORE SUMMO
SERENISSIMO ATQUE POTENTISSIMO
DUCE AC DOMINO
DOMINO
CAROLO
DUCE WURTEMBERGIAE & TECC.
REGXANTE &C.&C.
PRAESIDE
lACOBO FRIDERICO ABEL
PROFESSORE PHILOSOPHIAE
IN ACADEMIA MILITARI P. O.
STUTTGARDIAE D. XXVII NOVEMBRIS MDCCLXXVI
PUBLICE DEFENDENT
RESPONDENTES
J. F. de Schönfeld, A. E. de Haertheustein, C. J. T. de Landsee,
E. H. de Rumauu, J. L. de Breitschweidt, J. L. Parrot,
374 H. Vaihingei',
J. E. A. M. Kapf, F. G. A. Miller, F. F. Pfeiffer, J. W. Petersen,
C. F. Duttenhoffei-, \V. F. de Hoven, Th. Pliening'er, F. L. Lieschiiig-,
J. F. Schiller, F. C. Kaussler, F. P. de Steinheil, J. G. Elvert.
Die Dissertation stammt also von Jac. Fried r. Abel, dem
bekannten Lehrer Schillers an der „Hohen Karlsschule" oder wie
sie damals offiziell hiess „Militär-Akademie-' (Acadcmia miUtarisJ;
sie stammt aus dem Jahre 1776 (27. Nov.) und was nun das
grösste Interesse erre^-t: unter den Eespondenten ist Friedrich
Schiller genannt. Schiller war also damals eben 17 Jahre alt
g-eworden. Besonderes Hochg-efiihl schwellte in diesen Tagen seine
Brust: einige Wochen vorher hatte mein Ururgrossvater, der Stifts-
prediger und Professor am Gymnasium, sowie an der Karlsschule,
seit 1769 „Kaiserlicher Hof- und Pfalzgraf", M. Balthasar
Hang, im „Schwäbischen Magazin" Schillers Ode: „Der Abend"
veröffentlicht — das Erste, was von Schiller gedruckt worden ist,
jedoch nicht mit seinem vollen Namen gezeichnet, sondern nur mit
den Anfangsbuchstaben Seh. Diesem Gedicht gab nuMU Ururgross-
vater jenes später so berühmt gewordene pi'ophetische Geleitwort
mit: „es dünkt mich, der Jüngling habe schon gute Aidores ge-
lesen und bekomme mit der Zeit os vicujna sonaturum.'' Dieser
Jüngling war nun also unter den Uespondentes jener Abel'schen
Dissertation, und hier ist der volle Name Schillers über-
haupt zum ersten Male gedruckt worden.
Ein grosser Teil der übrigen liespondoifas ist aus Schillers
Leben mehr oder weniger bekannt: am bekanntesten sind
F. V. Hoven und W. Petersen als intime BYeunde des jugeud-
lichen Dichters. Schon 1774 hat der Erstere über den 15jährigen
BYeund das Urteil abgegeben: „Seine Hauptneigung geht auf die
Poesie, und nichts ist im Stande, ihn davon abzubringen. Zur
Tragödie zeigt er den grössten Geschmack." F. v. Hoven war
auch gleichzeitig mit Schiller- 1775 in die medizinische Abteilung
eingetreten, zur Zeit der Übersiedelung der Karlsschule von der
Solitüde nach Stuttgart, welche damals im Ganzen ca. 300 „Eleven"
zählte. Jener medizinischen Abteilung gehörten unter den liespon-
dentes auch noch Folgende an: Plieninger, Liesching, Elwert;
von den anderen Respondmtes spielen in Schillers Jugend noch
Folgende eine Rolle: Miller, Pfeiffer und besonders Kapf, mit
welchem zusammen Schiller später als Regimentsmedicus bei der
Witwe Vischer (der „Laura" der Jugendgedichte) wohnte. Fast
Zwei Quellenfunde zu Schillere philosophischer Entwickelung. 375
alle Respondenies waren g-leichaltrig* mit Schiller: Diese „Siebzen-
jälirig-en" waren eine brausende, gährende, leidenschaftliche Gene-
ration. (Vgl. Julius Hartniann, Schillers Jug-eudfreunde. Mit zahl-
reichen Abbildungen. Stuttgart 1904.)
Die Karlsschule pflegte nach der Sitte der damaligen Zeit
und auf Befehl des Herzogs mit besonderer Vorliebe die öffent-
lichen Disputationen. Die Professoren Hessen irgend eine kleine
Abhandlung aus ihrem Fach drucken und veranstalteten darüber
mit den Schülern der betr. Klasse oder den Zuhörern der betr.
Vorlesung eine Disputation, zu welcher sich dieselben natürlich
gründlich vorbereiteten; die Disputationen waren öffentlich,
meistens in Gegenwart, vielfach auch unter direkter aktiver Teil-
nahme des Herzogs, und dienten zugleich als Prüfungen nach Ab-
schluss eines Kursus.
In dem Spezialwerk von H. Wagner, Geschichte der Hohen
Karlsschule (Würzburg 1856) Bd. I, S. 630 ff., in dem Verzeich-
nis der Schriften der Stuttgarter Akademie, findet sich auch
unsere Dissertation erwähnt; auch befindet sich, wie mir Herr
Oberbibliothekar Dr. Steiff aus Stuttgart mitteilt, ein Exemplar der-
selben auf der Bibliothek daselbst, ebenso eins in Tübingen. (Das
von mir aufgefundene Exemplar habe ich dem Marbacher Schiller-
Museum geschenkt.) Aber die Dissertation ist bis jetzt, soweit
ich sehe, von den Schillerforschern nicht berücksichtigt worden,
insbesondere nicht von denjenigen, welche Schillers Jugend- und
Bildungsjahre am gründlichsten dargestellt haben, von E. Wel-
trich (Friedrich Schiller. Erster Band, 1899) und von J. Minor
(Schiller. Sein Leben und seine Werke. I und II, 1890); ja
Minor sagt sogar (I, 197) ausdrücklich: „über den Fortgang der
philosophischen Studien in den folgenden Jahren [nach 1775] sind
wir leider wenig genau unterrichtet, weil für die Jahre 1776 und
1777 dieLehrpläue fehlen." So füllt unsere Dissertation von 1776
eine schmerzlich empfundene Lücke aus.
Die Philosophie spielte in dem Lehrplan der Karlsschule eine
sehr grosse Rolle, entsprechend der Sitte der damaligen Zeit:
des „philosophischen Jahrhunderts". Näheres findet sich bei
Minor I, 192, sowie bei Weltrich I, 115 ff. Der Herzog selbst
legte, in Nachahmung Friedrich des Grossen, auf die Philosophie
ganz besonderen Wert. Schon 1773 trieb die Schillersche Ab-
teilung — also durchschnittlich aus 14jährigen Jungen zusannneu-
gesetzt — wöchentlich 6 Stunden Metaphysik, Logik und Ge-
376 H. Vaihingen,
schichte der Philosophie ! Im Jahre 1775 wurden nicht weniger
als 15 Stunden wöchentlich für Philosophie und Redekunst zu-
sammen angesetzt!
Den Unterricht in Philosophie erteilte in der Schillerschen
Abteilung- zuerst ein alter Schulmann, Namens Jahn, in unzuläng-
licher Weise. An seine Stelle trat im Jahre 1775 der ausser-
ordentliche Professor Bock aus Tübingen, ein sehr kenntnisreicher
Mann, ein guter Redner und ein selbstdenkender Philosoph, aber
ohne Schwung und daher ohne tiefere Einwirkung auf Schiller.
Nach Bocks Abgang kam Schiller in die Hand von Abel.
„Magister" Abel wirkte seit 1772 an der Akademie. Als er ein-
trat, war er erst 22 Jahre alt, aber sein Unterricht war äusserst
anregend: die Schüler hörten ihn mit Begeisterung, seine Richtung
war eklektisch dem Zug der Zeit entsprechend. Die strenge
Wolfsche Methode wurde gemildert durch Einflüsse der Engländer
(Locke, Ferguson, Shaftesbury) und der Franzosen (Robinet und
Bonnet). Noch nicht 23jährig, entwarf Abel 1773 einen neuen
Lehrplan für Philosophie, über welchen Minor aus den Akten Fol-
gendes berichtet :
„Die Philosophie ist ihm nicht bloss eine Sache für den
Kopf, sondern auch für das Herz der Schüler; und von den aus-
wendig gelernten Distinktionen und Definitionen will er sich weder
einen Gewinn für den einen noch für das andere versprechen.
Nach seiner Methode sollten die übrigen Fächer des Unterrichtes,
besonders die realen, den Stoff liefern, aus welchem vermittelst
der sokratischen Methode eine Philosophie der Natur und des
Menschen zu abstrahieren sei. Auf diese Weise sollte das Denken
der Schüler geschärft und eine „natürliche Logik" in ihnen ein-
gepflanzt werden. Um aber der jungen Pflanze Raum zum
Wachstum zu geben, sollten unmittelbar auf die philosophischen
Lehrstuuden ein paar Stunden der Selbst beschäftigung folgen, in
welchen die Zöglinge angehalten werden sollten, das Gelerute
selbstthätig zu verarbeiten."
Nach dieser trefflichen Methode unterrichtete Abel seit 1776
nun auch den Eleven Schiller und eben aus dieser Zeit stammt
auch unsere Dissertation. Wie schon bemerkt, fehlen aus dem
Jahre 1776 die Lehrpläne. Unsere Dissertation füllt diese Lücke
aus. Und dies ist um so wertvoller, als die Lehrweise von Abel
bald nachher eine bemerkenswerte Störung und Änderung erlebte.
Im Dezember 1777 kam der Professor Plouciiuet aus Tübingen,
iiiilliiilliiiiiBI
Schiller in der Karlsschule.
Original im Besitz der Kgl. Landesbibliothek in Stuttgart.
Aus dem „Marbacher Schillerbuch ", Verlag von .T. G. Cotta Nachfolger, Stuttgart u. Berliu.
Kantstudien X.
Zwei Quellenfunde zu SclüUers philosophischer Entwickelung. 377
um den philosophischen Unterricht zu begutachten. Der alte
Ploucquet konnte als strenger Wolfianer weder an der Abel'schen
Methode noch an der Richtung desselben Gefallen finden. Plouc-
quet, welchen Minor treffend „ein kaltes Licht" nennt, fand Abels
Unterricht „nicht nur wenig gründlich, sondern auch bedenklich
zum Materialismus neigend" (Minor I, 197). Besonders tadelte
er auch Abels Methode, die Dichter zur Illustration herbeizu-
ziehen.
Die Erinnerungen Ploucquets haben auf Abel Eindruck ge-
macht; der leichtbewegliche Mann modifizierte seine Ansichten
„bald darauf wesentlich", wie Minor I, 200 bemerkt. Schiller ge-
noss Abels Unterricht auch in den folgenden Jahren. Abel trat
nun sehr energisch für die Einfachheit und Unsterblichkeit der
menschlichen Seele ein — ein Gedanke, welcher bei Schiller selbst
stets eine bedeutsame Rolle gespielt hat.
Abel blieb aber immerhin auch insofern seiner alten Richtung
treu, als das Grenzgebiet zwischen Psychologie und Physiologie
seine Lieblingsbeschäftigung blieb; und er musste ja gerade darum
auf Schiller dauernden Einfluss gewinnen, der ja das medizinische
Studium aus dem Grunde mit dem juristischen vertauscht hatte,
weil jenes ihm mehr als dieses als Hilfsmittel zum Studium der
Seele verwertbar schien. Abels Vorträge ergänzten den rein me-
dizinischen Unterricht in willkommenster Weise. Abels Einfluss
ist darum auch unverkennbar in den beiden medizinisch-philoso-
phischen Dissertationen Schillers aus den Jahren 1779 und 1780,
mit deren zweiter er sein Studium in der Karlsschule abschloss.
Abel war und blieb Schillers geliebtester Lehrer. Mit Abel
blieb Schiller befreundet, auch nachdem er die Karlsschule ver-
lassen hatte und in Stuttgart als Regimentsmedicus lebte. Ja
Abel besuchte den Flüchtigen in Mannheim. Auch hinterliess
Abel, der später als Tübinger Professor sich der Kantischen Phi-
losophie zum Teil anschloss und zuletzt als Württembergischer
Prälat 1829 hochbetagt starb, intereesante Erinnerungen an
Schiller, welche bei Weltrich I, 836 ff. abgedruckt sind. Ein
Bildnis Abels bringt Wychgram in seinem Schillerbuch (4. Aufl.
1901, S. 42); eine Silhouette desselben aus dem Stammbuch eines
alten Karlsschülers ist soeben in „Westermanns Illustrierten
Monatsheften" (Maiheft 1905) veröffentlicht worden.
Aus Abels eigenen Jugendjahren, als er noch ohne „Rück-
sichten" philosophierte und den jugendlichen Schiller inspirierte,
KautBtudien X. g5
378 H. Vaihinger,
stammt nun unser Programm, zu dessen Analyse wir jetzt
schreiten.
Dasselbe ist lateinisch geschrieben : in dem Latein des XVIII.
Jahrhunderts vor dem Aufkommen des Nouhumanismus. Die Citate
aus Schriftstellern sind alle deutsch, diejenigen aus Shakespeare
in der Wielandschen Übersetzung. Die Disputation selbst fand,
wie es scheint, in lateinischer Sprache statt, in dem im Mittelbau
der Karlsschule befindlichen Examinationssaal, der jetzt als Schloss-
wache dient.
Analyse des Abelschen Programms:
De Origine characteris animi.
Der Verfasser will den Ursprung der Charaktere, d. h. der
verschiedenen Bestimmtheiten der einzelnen Seelen untersuchen.
In einem ersten Kapitel wirft er zunächst die Frage auf, ob
für jene Bestimmtheiten in dem anmii siatus origmaUs Gründe auf-
zufinden sind, und zwar untersucht er, ob in der anima pet^ se
sine conjunctione cum hoc corpore spectata Gründe für jene Ver-
schiedenheit aufzufinden sind. Diese Gründe könnten nur gefunden
werden in den verschiedenen vires, welche die Seele hat. Der
alten Psychologie folgend, stellt der Verf. als solche nur auf die
vis cogitandi et voJendi. Natürlich können diese Kräfte nicht in
Betracht kommen, wie sie sind in adulto, sondern wie sie ur-
sprünglich sind. Hier findet nun Abel keine restigia idearum in-
natarum. In wesentlichem Auschluss an Locke leugnet er die
Möglichkeit und Wirklichkeit solcher ideae innatae. Es giebt für
ihn nur ideae sensiiales, abgeleitet ex corporum ohjectis, und no7i
sensuales, abgeleitet entweder ex nostrae animae miitationihus oder
notiones genercdissimae, welche vel mediale rel immediate auf jene
beiden Quellen zurückgehen. „Ita e. g. idea Del supponit ideas de
intellecta, voluntate et potentia, quae tanquam difficiliores sensuallbvs
post eas demum oUifientur.'' Ausserdem entstehen sämtliche Ideen
vel mediate vel immediate impresslonihus cerehri. Es ist nun weiter-
hin die Frage, ob die Seelen sich von einander unterscheiden, wo-
bei zunächst nur graduelle Unterschiede in Betracht kommen
könnten. Abel erörtert die Argumente, welche pro et contra vor-
gebracht werden, und entscheidet sich dafür, dass weder für die
eine noch für die andere Ansicht entscheidende Gründe vorgebracht
Zwei Quellenfunde zu Schillers philosophischer Entwickelung. 379
werden können. Es sei überhaupt semper maxime peiiculoswn, in
disquisiüonihus hitjus generis aliud quam experientiam sequi. Das
erste Kapitel hat also ein negatives Ergebnis.
Zweierlei ist, was uns in demselben auffallen muss, was aber
bereits aus Locke stammt; einmal die antimetaphysische Haltung;
von transceudenten Erörterungen will Abel nichts wissen.
Bekanntlich hat Schiller später unter dem Einfluss Kants
sich über die Metaphysiker und ihre luftigen Gebäude lustig ge-
macht; dieser antimetaphysischen Stimmung war also schon durch
Abel's frühen Einfluss vorgearbeitet, welcher sich gegen die prae-
judicia metaphysica spöttisch wandte.
Aber auch ein Zweites fällt uns auf: wiederum im Anschluss
an Locke verkennt Abel ganz die individuelle Vererbung und
die durch sie hervorgebrachte weitgehende ursprüngliche innere
Verschiedenheit der Menschen, deren Unterschiede er gänzlich auf
äussere Umstände zurückführen will. Ich glaube, hier werden ihn
seine Schüler selbst stark opponiert haben, und nicht zum wenigsten
unser Schiller, der ja überhaupt sich lebhaft an den Disputationen
beteiligte (vgl. Streichers Schilderung bei Minor I, 252) und der
sich nachweislich gerade mit diesem Thema später mehrfach be-
schäftigt hat. So hat er 1782 in der scharfen Recension des
Stäudlinschen Almanach einmal das prächtige Wort hingeschleudert:
„der Gärtner muss die Ananas von keinem Holzapfelkern erwarten."
Wie Minor (I, 520 und 531) richtig bemerkt, hat Schiller dieses
auch in den „Räubern" wiederholte Lieblingsbild „der väterlichen
Baumzucht entlehnt" — und gerade die hier gemachten praktischen
Erfahrungen können ihn schon frühzeitig die Unhaltbarkeit der
rein theoretisch ausgeklügelten Meinung von der ursprünghchen
Gleichheit aller Meuschenseelen gelehrt haben. Schon sein
Vater konnte ihm hierin der „Lehrer der Ungleichheit der
Menschen" sein.
Das zweite Kapitel handelt de influxu corporis. Dieses
Verhältniss sei bisher noch nicht genügend untersucht worden,
propter paniciwi quemdam terrorem materialitatem animae in phi-
losophiam inferendi. Abel lässt sich durch diese „panische Furcht"
nicht abhalten von der Behauptung, omnes animae vires omnesque
ideas idearumque genefra a corpore dependere. Denn viele Er-
fahrungen lehren, animae operationes cum corriiptione corporis
corruptas, cum emendatione corporis emendatas esse. Abel beruft
sich hier auf den in jener Zeit so berühmten Arzt Zimmermann;
25*
B80 H. Vaihinger,
SO erzählt dieser u. A. von einem sehr bedeutenden Menschen:
„auf einmal verlohr dieser mächtige Geist durch eine Krankheit
alle Empfindlichkeit, die sämtlichen Verrichtuiig-en seiner Maschine
nehmen ab, endlich hörten sie auf, nachdem eine ganze Woche
hindurch alle Merkmale eines vernünftigen Geschöpfs bey ihm ver-
schwunden waren. Nach seinem Tode fand man in den . . . Hirn-
höhlen . . . Wasser. Folglich hatte ein Pfund Wasser aus einem
so grossen Genie ein Tier gemacht." Im Weiteren führt Abel
aus, dass alle Produktion und Reproduktion von Vorstellungen
jeder Art motus in cerehro voraussetze, resp. motus nervorum.
Ebenso apimret affidunm dependeniia a corpore. Wieder erfolgen
Berufungen auf Zimmermann, der diese Sätze u. A. durch die
Beispiele von Swift und Newton belegt, die durch körperliche Ein-
flüsse zuletzt geistig ganz verfielen. So stellt denn Abel den all-
gemeinen Satz auf: Organisatloni^ praesianÜa sita est imnydiaie in
statu fluldi nervei nervoriimque, medlate im'o in iis omnihiis, quae in
nervös spiritusque miimales influunt. Auffallend ist, dass Abel
noch ganz und uneingeschränkt der Theorie des Nervenfluidums
folgt, der Spiritus cmimales, welche nach der von Cartesius ge-
lehrten, aber von ihm aus dem Altertum übernonniieneu An-
schauung in den Nervenröhren {canales fluidi, wie Abel sich aus-
drückt) auf- und abfliessen sollten, wie in einem System communi-
cierender Röhren. Es ist dies auffallend, weil um jene Zeit schon
die mit der Undulationstheorie zusammenhängende Anschauung auf-
gekommen war, die Nerven seien vielmehr schwingende Saiten:
eine Auffassung, welche sich in der schönen Litteratur jener Zeit
vielfach findet und die auch Schiller selbst einige Jahre später in
seinen beiden medizinischen Abhandlungen erwähnt. Abel beruft
sich für seine Auffassung speziell auf Platners Anthropologie: die
celeritas idearum hängt ab von der Schnelligkeit und Leichtigkeit
der Spiritus aminales; dies sei besonders in tempore juventiitis der
Fall: bei seinen Zöglingen, bei einem Schiller glaubte er ja wohl
die besten Beispiele für diese Behauptung zu finden. Aus jener
Voraussetzung folgt: omnia, quae corpus determinant, aer, cihus,
potus, somnus etc. etiam ingeninm deferminare — was weiter mit
Berufungen auf Tissot und Zimmermann belegt wird. Der letzte
Satz Abels ist ein merkwürdiges Vorspiel zu dem bekannten Aus-
spruch Moleschotts: „der Mensch ist eine Summe von Eltern
und Amme, von Ort und Zeit, von Luft und Wetter, von Schall
und Licht, von Kost und Kleidung". Diese philosophischen Lehren
Zwei Quellenfunde zu Schillers philosophischer Entwickelung. 381
Abels gingen also Hand in Hand mit der gleichzeitigen medizini-
schen Ausbildung Schillers; es ist bekannt, wie sehr diese An-
schauungen nicht nur in seinen beiden physiologisch-philosophischen
Dissertationen von 1779 und 1780, sondern auch in allen Schöpf-
ungen und überhaupt in allen Äusserungen aus der ersten, kraft-
genialischen Periode wiederklingen. Es ist bemerkenswert, dass
auch der philosophische Unterricht diese physiologische, um nicht
zu sagen materialistische Betrachtung, genährt hat — diesen
liherfinismum simtkndi, wie sich der alte Ploucquet warnend aus-
drückt (Minor I, 194).
Das dritte Kapitel handelt de ivfluxu climatis: clima com-
prehendit omnia, quae propfer sitiim nodrnm in fellure in corpus
influnnt. Abel unterscheidet 4 Klimata: das heisse (maxime cali-
dum), das kalte (maxime frigidum) und die beiden gemässigten,
das warme (calidum) und das kühle (frigidum). Unter Berufung
auf Home und Ferguson wird der Einfluss jener Himmelsstriche
auf den Charakter, resp. die sjnritu^ animales im Einzelnen ge-
schildert. Das calidum clima pluribus viriidilms gaudet: Spiritus
sunt magis vividi, celeres, subtiles, cerehrumque magis molle et irri-
tabile; hinc impressiones celeres, viridae, midiae, in inßnitum com-
binatae . . . Poesis, oratoria, libri romanenses, artificia praestan-
tissima, omniaque magna et mirabilia ab hisce nationihis pjroficis-
cimtur.
Von den Bewohnern des kühleren Klimas, also auch den
Deutschen, heisst es: Clima frigidum gignit impressiones tardiores
quidem et pauciores, sed magis diutiirnas, et solidas; talis est illorum
sensus, talis imaginatio. Hunc et judicia illorum saepe magis solida.
Hi sunt, qui Mathesi artibusque mechanicis, metaphgsicae, vel enim
scientiis longa experientia fundatis magis apti sunt. Sed ad Poesiu
artesque omnes imaginationis splendorem ubertatemque requirentes
minus idonei reperiuntur. Zum Glück hat sich die letztere fragliche
Behauptung Abels bei seinem bedeutendsten Zögling, eben unserem
Schiller, nicht bewährt.
Aber auch Schiller selbst hat gegen diese Überschätzung des
Klimas für die Entwickelung der Geistesfähigkeiten wohl direkt
opponiert. Es war allerdings, wie Minor I, 531 sagt, „dem Jahr-
hundert Winkelmanns geläufig, den Einfluss des Klima auf die
Fähigkeiten der Menschen ins Auge zu fassen." Aber es ent-
sprach auch andererseits dem kraftgenialischen Selbstbewusstsein,
die Menschen nicht allzusehr den äusseren Faktoren unterthänig
382 H. Vaihinger,
ZU machen. Tm IL Akt der „Räuber" bringt Spiegelberg dies
Thema auf das Tapet, wo er in jener bekannten Stelle, welche
dem Dichter später so grosse Ungelegenheiten brachte, Graubimden
als ein Spitzbubenklima bezeichnet, unter welchem alle Arten von
Gaunern besonders gut gedeihen. Aber Spiegelberg lässt dieser
Behauptung sogleich die widersprechende zweite folgen, dass das
Klima nicht sonderlich viel bedeute: „Genie kommt überall fort,
und das übrige, Bruder — ein Holzapfel, weisst du wohl, wird im
Paradiesgärtlein selbst ewig keine Ananas." Und wo Schiller das-
selbe Bild gegen Stäudlin gebraucht — vgl. oben — da leitet er
es ein mit den Worten : „Wahr ists, viel thut die Milde der Zone
. . . aber der Gärtner muss die Ananas von keinem Holzapfelkern
erwarten." Das wird Schiller wohl auch schon 1776 gegen Abel
eingewendet haben.
Das vierte Kapitel handelt de mfluxu exercitü. Das Ge-
setz der Übung, der repetitio wird in seiner tiefen und ausgebreiteten
Bedeutung von Abel eingehend gewürdigt, unter Berufung auf
Tissot, Home, Addison, aus denen interessante Belege aus-
führlich mitgeteilt werden : ovganisaÜonc etiam pcrfectissima et in-
dole p-aestanüssima tarnen non nisi diatmna cxercitatione perßcitur
dirigiturque anima. Feine Bemerkungen folgen über Erhöhung
des Übungswertes durch unterstützende (^ese adjuvantia) verwandte
Vorstellungen, sowie durch Gefühle, sodann über Verminderung des
Übungswertes durch ungünstige Nebenumstände, ferner über Mo-
nomanie, sowie über die schädigenden Folgen zu häufiger Wieder-
holung einer und derselben Funktion ; endlich über die Entstehung
inseparabler Associationen : Saepe homines jungunt ideas qiiasdam
per exercitiiim ita, ut non nisi conjunctas cogitare ^^ossint.
Ein fünftes Kapitel behandelt den iyifluxns cireumdantia-
nun cxternarum. Und energisch setzt Abel sogleich unter § 31
den bedeutsamen Satz hin: Circumsiantiae externae iantum in-
fluiint, ut sine Ulis siimmnm mgenium in turhani stuUorum detur-
hetiir. Dieser Satz zeugt von tiefer Lebenskenntuis des Vei-fassers,
der sich nicht von dem schon damals oft wiederholten, aber da-
mals wie heute grundfalschen Satze irreführen lässt: ein Genie
setzt sich unter allen Umständen durch. Abel weiss als
Kenner der Geschichte, der Litteratur, des Lebens, dass und wie
äussere Umstände bei der Entwickelung grosser Geister hemmend
oder begünstigend einwirken; jenen energischen Satz wird sich
auch unser Schiller gemerkt haben und vielleicht schwebte er
Zwei Quellenfunde zu Schillers philosophischer Entwickelung. 383
ihm noch voi-, als er den engen Verhältnissen der Heimat entfloh,
um bessere circumstanüae externae für die p:nt\vickelung seines
snmmum ingenium zu finden. Charakteristisch ist auch noch eine
andere Stelle bei Abel, durch die er jenen Satz belegt, dass die
äusseren Umstände für die Entwickelung der Charaktere bestim-
mend sind: 'da e. g. sicdus reipiihlicae romanae gignii Bndos et
Catones, quia et ohjecta, in quihus versahanüir romani cives, et af-
fcdus eorwn pemlehcmt a reipuUicae romanae statu : wie schüchtern
und vorsichtig und doch andererseits wie deutlich weist Abel auf
jene Männer hin, welche der Tyrannei sich eutgegenwarfen, und
wie mag schon da in der Seele des jungen Schiller der Ruf : In
tymnnos erklungen sein, der 6 Jahre später auf den Titel der
2. Auflage seiner „Räuber" gesetzt wurde.
Abel muss auf Brutus häufiger hingewiesen haben. Wie
Minor I, 202 bezeugt, hat Abel auch in Schriften aus den Jahren
1778 und 1779 Brutus und Cäsar kontrastiert, wobei er den Letz-
teren als Ehrsüchtigen und „Eroberer" verdammt. Hier ist nicht
bloss die Quelle für Schillers Gedicht: „Der Eroberer", sondern
auch für das Gespräch zwischen Cäsar und Brutus, das in die
Räuber eingefügt ist: Karl Moor singt vor Amalie zur Laute das
Lied von Brutus und Cäsar; dem ehrgeizigen Eroberer wird das
Ideal des selbstlosen Freiheitskämpfers gegenübergestellt. Also
nicht bloss indirekt aus Klopstock, dessen Petschaft einen Brutus-
kopf trug (Minor I, 347), hat Schiller diese Brutusstimmung her-
übergenommen; sein Lehrer Abel hat sie ihm direkt eiugeflösst
(vgl. auch Minor I, 485). Wie sehr gerade diese Brutusstimmung
bei Schiller in den Jahren der „Räuber" überwog, lehrt ja auch
der Umstand, dass die Schlussvignette der ersten Auflage der
Räuber gerade das Gespräch zwischen Cäsar und Brutus an den
Ufern des Styx illustriert (abgebildet in Wychgrams Schillerbuch
4. Aufl. S. 67). Dieselbe Brutusstimmung erzeugte ja auch den
Gegensatz zwischen Fiesco und Verrina: „Verrina und Fiesco
stehen sich auf dem schmalen Brett, das zur Galeere führt, wie
Cäsar und Brutus in dem Wechselgesang der Räuber am Strande
Lethes gegenüber" (Minor H, 43). Nun verstehen wir auch, wa-
rum Schiller gerade den Fiesco seinem ehemaligen Lehrer Abel
gewidmet hat: Dieser hatte die Brutusstimmung bei ihm schon
von 1776 an genährt. Im Übrigen zeigt Abel weiter in diesem
Kapitel an einzelnen Beispielen, dass und wie gradiis diredioque
sensimm, imaginationis, attentionis, comparationis, affeduum, sensus
384 H. Vaihinger,
jiulchri, idearnm abhängen von äusseren Umständen: er beruft
sich auf Helvetius, der gezeigt habe, wie Moliere und Vaucauson
sowie Rousseau und Kafael durch äussere Umstände beeinflusst
und determiniert gewesen seien. Was aber für Schiller, dessen
dramatische Neigung oder vielmehr Leidenschaft ja schon damals
rege war, besonders interessant gewesen sein muss, das ist ein
Citat aus Shakespeares Richard IIL, der in dem bekannten Mo-
nolog seinen Entschluss, ein Bösewicht zu werden, aus dem Ver-
halten der Menschen seiner Hässlichkeit gegenüber ableitet —
wer erinnert sich nicht notwendig hier des Franz von Moor, dessen
ähnlicher Monolog ja ganz an diese Stelle Shakespeares anklingt.
Noch ist aus demselben Kapitel folgende Stelle beachtens-
wert, in welcher Abel die cirmmstantiae schildert, wie sie zu-
sammenkommen müssen ad formandam charadens praestaniiam :
excitetur per illas impi^imis affectuum ope animae fortis appllcaüo
diuturnaque, sed non nimls vehemens, non ad plura distracta.
Äpplicatio versetur in ohjectis gravihus, omnes voluntatis intellcchis-
que vires requirenühua ; demde determinatmie f'mis medioriimque et
impedimentoriwi ind'widualium ita determ'mentur actus comparationis
volimtatisqm, ut Judicium affedusque evadant sani veriqne ex in-
dividualihis circumstantüs petiti Die hierin indirekt enthaltenen
trefflichen Ratschläge zur Selbsterziehung hat sich der junge
Schiller, der später so hart an sich arbeiten musste, sicherlich ge-
merkt: er hat es auch verstanden, die impedimcnta individiiaUa zu
seinem Besten zu wenden und zu verwenden; er hat es selbst an
sich erprobt, das schöne Wort: „Es bildet ein Talent sich in der
Stille, doch ein Charakter in dem Strom der Welt" — sind
doch diese Worte selbst nur eine dichterische, aber fast wörtliche
Übersetzung des Abel'schen Satzes von der Zusammenwirkung der
drciimstantiae externae ad formandam diaraderis praestantiam.
Das sechste Kapitel handelt de influxu mutno facultatum
singularum. Hier beschäftigt sich Abel vorzugsweise mit der Beein-
flussung der Einbildungskraft durch die anderen Vermögen: der
Affekt beeinflusse die Imagination mehr als der Intellekt — also
eine direkt auf die Psychologie des Dichtens bezügliche Bemerkung,
welche unserem Schiller besonders wichtig gewesen sein muss,
und deren Richtigkeit er an sich selbst noch zwanzig Jahre später
zu erproben Gelegenheit hatte, als er vielleicht doch wohl zum
Schaden der dichterischen Produktionskraft seinen Intellekt durch
philosophische Studien schärfte. Abel verfolgt dann noch spezieller
Zwei Quellenfunde zu Schillers philosophischer Entwickelung. 385
den Einfluss des Affekts auf die übrig-eu seelischen Operationen,
welcher eben sehr gross ist, quia atientio semper dirigitur ad ideam
affedui maxime respondentem : sine affeciibus omnia sunt debilia.
Auch die schädlichen Einflüsse des Affekts kommen zur Sprache;
nocet vero, quod non omnes sed partem tantum idearum confert,
adeoque Judicium efficit falsum, imprimis cum omnes imaginationis
ideas vividissime celerrimeque proferat. Als Beispiel hierfür wird
sehr passend Shakespeare's Mohr von Venedig- angeführt, welcher
sich durch seine jähzornige Eifersucht zu ganz urteilslosem Handeln
verführen lässt. Zum Beweis dafür, quantum ordo idearum ab
affectu dependeat, werden ferner längere Stelleu aus Macbeth und
aus dem Kaufmann von Venedig citiert, endlich wird auf die
Constanze in König Johann hingewiesen.
Das siebente Kapitel handelt de inflaxu sgstematis ide-
arum in characterem. Hier stellt Abel den wichtigen und richtigen
Satz auf, dass der Charakter sehr wesentlich mitbestimmt ist durch
die unbewussten impressiones, welche in cirehro hominis de omnibus
ideis conserranfur.
Das achte und letzte Kapitel handelt endlich de linguae
infiiixu, und hier wird der Leitsatz an den Anfang gestellt: lin-
giia, quae primum determinatur ab ideis animaeque viribus, Herum
infinit in vires animae ideasque. Die ideae werden ohne die
zugehörigen voces teils gar nicht, teils weniger gut reproduciert ;
auch die notiones abstractae erfordern zugehörige voces. Daraus
wird der Parallelismus der Entwickelung des Denkens und
Sprechens abgeleitet: per se patet, linguam et inteUectnm semper
paraUela esse. Darauf beruht, wie es weiter heisst, das Principium
educaiionis nostrae, tibi ideas semper cum vocibus simul et per voces
obtinemus, uhi modus cogitandi a signis exercetur et dirigitur.
Durch den (Gebrauch vager voces entsteht auch ein ingenium va-
gum : mmquam cxstitit metaphysicus in lingua vaga ; hinc lingua
non pJiilosophica nunquam prodest pJnlosophis: Idnc poetica, juvenilis
liugua foecundissima est poetis — mit solchen Wendungen schliesst
die Dissertation, gerade als ob ihr Verfasser sie speziell auf den
jugendlichen Schiller zugeschnitten hätte, auf den jedenfalls gerade
derartige Stellen den tiefsten und nachhaltigsten Eindruck ge-
macht haben.
386 H. Vaihinger,
Anhang.
II.
Ein Freimaiirerliederbiich als Quelle des Liedes
an die Freude?
Während der eben geschilderte Quellenfund eine unzweifelhafte
Episode aus Schillers Leben betrifft, kann ich das Zweite, was ich vor-
bringe, nur unter starker Reservation, nur sehr hypothetisch einführen.
Ich gebe es auch nur als Anhang zum Ersten, und nicht in der festen
Form eines Ergebnisses, sondern in der bescheidenen einer Frage.
Vor einigen Jahren erwarb icli, ohne selbst Freimaurer zu sein oder
zu B>eimaurern nähere Beziehungen zu haben, gelegentlich einer grösseren
Bücherbestellung von einem Breslauer Antiquar der Kuriosität halber eine
auf Halle bezügliche Seltenheit: ,,Lieder mit Melodien zum Gebrauch der
Loge zu den drey Degen in Halle. Halle 1784. Gedruckt bei Christian
Gottlob Täubel." (61 Seiten Oktav.) Dieses Büchlein bietet einen äusserst
merkwürdigen Einblick in die geistige Atmosphäre jener Zeit. Von den
Geheimnissen des Maurertums erfährt man daraus natürlich auch nichts;
denn dass „Weisheit, Schönheit und Stärke" drei Ideale der Freimaurer
sind, braucht man nicht erst aus dem Vers zu erfahren (S. 6):
Wo man der Tugend nur Altäre,
Das wahre Glück der Menschheit haut,
Wo uvgetrocknet keine Zähre
Auf Wangen eines Armen thaut :
Wo Weisheit herrscht und Stärke thront
Und in dem Innern Schönheit wohnt.
oder aus folgendem Vers (S. 38):
Auf Bruder, fasst der Freundschaft Band,
Das euch die Weisheit bindet.
Auf, reicht ah Maurer euch die Hand,
So treu, tvie ihrs empfindet.
Liebt in der Treu Verschwiegenheit:
Dies fördert unsre Werke
Im Tempel der Glückseligkeit
Durch Weisheit, Schönheit, Stärke.
Sonstige Anspielungen auf maurerische Gebräuche sind dem Laien
und also auch mir unverständlich. Was mir an dem Büchlein interessant
ist, das ist die ganze Stimmung, welche im Wesentlichen auf derselben
Welt- und Lebensanschauung beruht, welche Schillers Akademiejahre be-
herrscht: es ist dies die Philosophie der englischen Aufklärung, wie sie
durch Locke begründet, durch Shaftesbury vertieft und durch Hutcheson
verbreitet worden ist : die Welt erscheint als der Ausfluss eines liebenden
Vaters, welcher alle seine Geschöpfe zur Vollkommenheit geschaffen hat;
Zwei Quellenfunde zu Schillers philosophischer Entwickelung. 387
diese Geschöpfe finden in der eigenen Vervollkommnung und in der Be-
förderung fremden Wohles ihr Glück ; Glück und Tugend sind identisch,
Tugend und Lebensgenuss liegen auf derselben Linie. Nur Aberglauben
einerseits und Herrschsucht andererseits hindern die Menschen daran, das
Paradies auf Erden zu gründen. Priesterbetrug und Tyrannenherrschsucht
haben die Menschen um dies Paradies gebracht, das nun, nach Besiegung
jener finsteren Mächte durch die Aufklärung, bald und leicht wieder er-
rungen werden kann.
Dies ist genau die ans Schillers akademischen Jugendaufsätzen be-
kannte, besonders von Minor ausgezeichnet geschilderte „Glückseligkeits-
philosophie" jener Zeit, welche damals ebenso ,,modern" war, wie vor 30
Jahren der Schopenhauersche Pessimismus, wie jetzt das Nietzschesche
Übermenschentum. Der jugendliche Schiller warf sich, in der Freude über
die Befreiung aus den Banden der orthodoxen Kirchenlehre, diesem eng-
lischen Deismus gerade so gerne in die Arme, wie es auch Kant eine Zeit
lang that. Dem späteren Schiller, welcher durch Kants harte Schule hin-
durchgegangen war, wurde diese glückseligkeitsselige Jugendphilosophie
später fremd und fast zuwider, nachdem er durch Körner in den Gedanken-
kreis Kants eingeführt worden war.
Aus jener jugendlichen Glückseligkeitsphilosophie heraus, also aus
Schillers vorkantischer Periode, stammt nun auch sein „Lied an die Freude",
das er selbst später daher auch sehr streng, sogar überstreng kritisierte:
,,es ist ein schlechtes Gedicht und bezeichnet eine Stufe der Bildung, die
ich durchaus hinter mir lassen musste, um etwas Ordentliches hervorzu-
bringen. Wie das Gedicht aber einem fehlerhaften Geschmack der Zeit
entgegenkam, ist es Volksgedicht geworden" (Brief an Körner vom
21. Oktober 1800) — ein hartes Urteil, welches jener Zeit der Aufklärung,
ihren theoretischen Idealen und ihren praktischen Erfolgen nicht ge-
recht wird.
Die „Freude" galt jener Glückseligkeitsphilosophie als eigentlicher
Urgrund, als Kern und als Ziel der Welt und der Weltentwickelung. Der
„liebende Vater" hat, um mit anderen Freude fühlen zu können, andere
Geister geschaffen, die sich mit ihm freuen sollen; Freude und Liebe sind
die Triebfedern in dieser Welt, und Liebe und Freude die Ziele, denen
die Entwickelung dieser Welt zustrebt; Freude ist nur im Verein mit an-
deren möglich, welche man liebt — darum ist wieder Freude und Freund-
schaft identisch.
Dies ist auch der Grundgedanke des „Liedes an die Freude", das
Schiller 10 Jahre nach jener Episode in der Karlsschule gedichtet hat —
in ganz anderer Umgebung, im Leipziger und Dresdener Freundeskreis,
1785 und 1786, nach den ereignisreichen schicksalsschweren Jahren, welche
der Publikation der „Räuber" gefolgt waren. Aber noch lebte in Schiller
jene Glückseligkeitsphilosophie, welche er in der Karlsschule unter Abels
Leitung eingesogen hatte.
Ganz im Sinne dieser damaligen Zeitphilosophie ist nun auch das
Freimaurerliederbuch jrehalten, das im Jahre 1784 in Halle erschienen ist.
In demselben findet sich auch auf S. J 7 ein Lied an „die Freude", dem dann
388 H. Vaihinger,
ein anderes folgt „der Entschluss"; ich citiere aus Beiden einige Strophen,
welche ganz an Schillers Lied „An die Freude" anklingen :
Vom Olymp ward uns die Freude.
Ward uns die Fröhlichkeit gesandt ;
Blumenkränze tragen beyde
Für Euch, Ihr Brüder, an der Band.
Diesem Lied, dem offenbar auch das bekannte Studentenlied: „Vom
holrn Olymp herab" u. s, w. entnommen ist, folgt nun das zweite mit fol-
genden Strophen :
: Höher klimmen wollen tvir
Unsern Pfad, ihr Brüder!
Losung sei uns Wissbegier,
Unser Wandel bieder,
i
Unser Blick sei Heiterkeit,
Unser Zweck Vollkommenheit.
' Oben über'm Sternenheer
Herrschet unser Meister,
Um ihn rollen Welten her p;
Und ihm dienen Geister.
Zürnen Seines Angesichts
Wandelt beide in ein Nichts.
Drüben, drüben über'm Grab
Leuchtet er uns näher,
Fröhlich werft die Hüllen ab,
Einst beglückVre Späher!
Jauchzt, die Gruft beschliesst uns nicht,
Heller sehn wir dann das Licht.
Höher klimmen wollen wir,
Weise sein und bieder,
Glühn von heisser Dankbegier
Gegen ihn, ihr Brüder,
Der uns drüben über'm Grab
Auch die hellste Aussicht gab!
Man erkennt leicht, dass diese Gedanken teilweise wörtlich an
Stellen aus dem Lied „an die Freude" anklingen. Bemerkenswert ist noch,
dass in dem Liederbuch auch die Form der Gesellschaftslieder, speziell
mit einfallendem Chor der „Brü'^er" — eine Form, welche Schiller seinem
Lied an die Freude gegeben hat — öfters vertreten ist. Freilich ist damit
nicht gesagt, dass Schiller diese Lieder nun gekannt haben m u s s ; aber
es besteht doch immerhin die Möglichkeit, dass sie ihm bekannt ge-
wesen sind.
Schüler selbst war freilich nicht Freimaurer. Dass er mit Frei-
maurern verkehrt hat, ist aus seinem Leben bekannt. Schon in der Mann-
2wei Quellenfunde zu Schillers philosophischer Entwickelung. 389
heimer Zeit besuchte ihn ein Freimaurer, um ihn für seinen Orden zu
gewnnnen, Avie Wychgram in Schillers Leben (4. Aufl. S. 134) erzählt. In
der Leipziger und in der Dresdener Zeit sind solche Einflüsse wohl des
Öfteren an ihn herangetreten, und ich vermute, dass auch sein Freund
Körner Freimaurer gewesen ist. Das Hallische Liederbuch ist im Jahre
1784 erschienen; im Jahre 1785 hat Schiller sein Lied an die IVeude ge-
dichtet. Es braucht gar nicht jenes Hallische Liederbuch in seine Hände
gelangt zu sein: solche Lieder, wie sie ohne Verfasser in jenem Liederbuch
stehen, werden wohl auch in anderen Freimaurerliederbüchern abgedruckt
worden sein.
Dass übrigens zu Schillers Lied an die Freude auch schon andere
Quellen bekannt sind, darf hier nicht verschwiegen werden. Speziell sind
hier zu erwähnen Hagedorns Ode: „Freude, Göttin aller Herzen", und
das Lied von Uz: „Freude, Königin der Weisen". Aber das schliesst nicht
aus, dass Schiller auch diese Freimaurerlieder gekannt habe.
Ich weiss nicht, ob diese ganze Freimaurerliteratur in ihrem Zu-
sammenhange mit der allgemeinen Geistesgeschichte von rein wissen-
schaftlichen Gesichtspunkten aus nach der streng litterarhistorischen Methode
bis jetzt genügend ausgenutzt ist. Sollte es nicht der Fall sein, so geben
diese Bemerkungen vielleicht den Anstoss dazu.
Speziell wäre es interessant, darüber Nachforschungen anzustellen,
ob und inwieweit die gerade um jene Zeit neu einsetzende Kantische
Periode auch in der Freimaurerlitteratur sich wiederspiegelt. Man kann
es wohl erwarten und es muss auch wohl so sein, wenn ein angesehener
und eifriger Maurer Recht hat, welcher mir gegenüber erklärte, das Prei-
maurertum sei sozusagen angewandte Kantische Philosophie.
Karl Rosenkranz über Schiller.
Von Dr. Maximilian Runze in Berlin.
In einem Schiller gewidmeten Heft der Kant-Stndien darf auch
von Karl Rosenkranz die Rede sein. Obgleich sein hundertster Ge-
burtstag (den 23. April 1805 ist er geboren) erst im folgenden Heft nach-
träglich durch Beleuchtung seiner Verdienste um die Kantforschung ge-
gefeiert werden kann, so ist doch schon hier seiner Bedeutung, die er für
die richtige Würdigung Schillers hat, Rechnung zu tragen. Denn Rosen-
kranz war nicht nur umfassender Philosoph, sondern auch von weit-
reichendem Einfluss auf die tiefere Begründung und systematische Aus-
gestaltung der Litteraturgeschichte. Und wie Schiller selber zugleich
Dichter und Philosoph war, so zeigt sich uns gerade Rosenkranz als einer
der Berufenen, \\m die Bedeutung Schillers ins rechte Licht zu rücken.
Rosenkranz liat uns seine Beurteilung Schillers ausser in seinem „Handbuch
einer allgemeinen Geschichte der Poesie", Teil HI (18H3) und seinem
enzyklopädischen Werk „die Poesie und ihre Geschichte" (J8.Ö5) besonders
in zwei Abhandlungen dargeboten, — in dem Aufsatz „Schiller und Kant"
(1838), dem die wertvolle Darstellung Schillers als Philosophen in seiner
„Geschichte der Kantischen Philosophie" (1840), sowie in „Hegel als
deutscher Nationalphilosoph" (1870) ergänzend zur Seite geht, und in
dem Beitrag zum „Schiller-Denkmal" (Volksausgabe 1860; zweiter Band,
S. 637—649): „Über Schillers Lied an die Freude". Es muss Poeten geben
— solchermassen führt der in Hegelscher Denkkunst bewährte Forscher
aus — , welche unmittelbar ein eben so grosses philosophisches Talent,
Philosophen, welche ein eben so grosses poetisches haben, so dass sie
dichtend spekulieren, spekulierend dichten. Ein solcher Dichterphilosoph
war Plato, ein solch philosophischer Dichter Dante. Sodann muss es ein
Verhältnis geben, in welchem sich das Poetische und Philosophische aus-
schliessen, so dass zwar Dichter und Philosoph in dem Besitz der Idee sich
als die innigst Verwandten begegnen, in der Form des Besitzes aber weit
auseinandergehen. So war es mit Hegel und Goethe. Was jener von
Poesie in sich trug, das muss man in seiner Weltanschauung und Sprache
überhaupt sowie in einzelnen genialen Verbildlichungen suchen. Was um-
gekehrt Goethe von Philosophie besass, das ist, einen von ihm selbst-
geschaffenen Ausdruck zu gebrauchen, in seine Dichtung hineingeheimnisset.
Legte er es einmal ausdrücklich darauf an, so brachte er es nur zu Apho-
Karl Rosenkranz über Schiller. 391
rismen. Endlich ein drittes Verhältnis wird sich dann bilden, wenn die
psychologische Beziehung des Vorstellens znm Denken im Poeten und
Philosophen ein Wechselverhältnis bleibt, so dass der Philosoph sich im
Denken immer an der Dichtung, der Poet im Dichten am Gedanken
orientiert. Hier bedarf jeder der Vermittlung des andern. Unter den
Philosophen werden hier diejenigen zu nennen sein, die im edleren Sinne
des Wortes Popularphilosophen sind, wie Baco; unter den Dichtern die,
welche sich ihres Stoffes durch einen reflektierenden Prozess bemächtigen.
Ein solcher war Schiller. Seine Philosophie aber war die Kantische.
Rosenkranz nennt ihn darum, weil er mit einer hohen Energie des philo-
sophischen Denkens eine so grosse poetische Schöpferkraft vereinigte, einen
„bewunderungswürdigen Menschen", den Schiller 'sehen Styl in seinen Ab-
handlungen „eine ganz ausserordentliche Durchdringung eines begriffs-
klaren Verstandes mit einer malerischen Phantasie." Von diesen SchiUer-
schen Abhandlungen aber sagt er ferner: „Man wird wohl nicht irren,
wenn man annimmt, dass dieselben auf Hegel's Philosophie und Styl den
grössten Einfluss gehabt haben."
Rosenkranz' geistreiche Abhandlung über das „Lied an die Freude"
gedichtet 1785, scliliesst mit der Ansicht, dass der Reiz dieses Liedes vor-
züglich in der enthusiastischen Verherrlichung der Idee der Humanität
liege. „Diese Idee ist so ewig, wie die Menschheit in Gott selber."
Darum sei unser Lied auch kein fröhliches Lied. „Es ist kein Lied der
Freude, sondern ein Lied, in welchem die höchsten Ideale unserm Gemüt
vorgeführt und unser Streben zu ihrer Verwirklichung aufgefordert wird."
Es sei eher ein Lehrgedicht, zu dem die ganze Menschheit den Chor
bilden solle; — ein Bundeslied, aber eines Bundes der Menschheit; — ein
Trinklied, in welchem die Brüder, die wir nicht ohne Schwestern denken
können, den Pokal kreisen lassen.
„Die gährende Fülle, die pomphafte Sprache, die zwischen Lied und
Hymne schwankende Form, die zuweilen dithyrambisclien Sprünge, die
Kühnheit der praktischen Postulate, all' dieser Sturm und Drang ist es,
der den Deutschen dies Lied so zusagend macht; aber die Idee der Hu-
manität ist das gemeinsame Siegel, welches jedem Worte des etwas
chaotischen Liedes aufgedrückt ist. — Der Ernst in seiner gedankenvollen
Bestimmtheit ist klar und die Freude folgt seinem Wirken, Wer sich
freuen, sich wahrhaft menschlich freuen will, muss handeln, muss human
handeln, muss mit dem Ernst handeln, der dem Gehorsam gegen die
Idee angehört."
Schillers letztes Bildnis.
Am späten Nachmittag des neunten Mai, in der seclisten Stunde,
erlosch in Schiller das Leben, auf dessen nochmalige Rettung und Erhaltung
kaum eine Stunde zuvor die Angehörigen aufatmend gehofft hatten. Der
sanfte Schlummer nach den schweren Krampfanfällen des Vormittags war
nicht der Genesixngsschlummer, den Lotte und Karoline meinten.
Als dann der Diener unerwartet und plötzlich die Frauen an das
Sterbebett rief, war wohl der erste Schreck und nachher der Schmerz und
die Betäubung ihres Gemütes und ihrer Willenskräfte so schwer und mass-
los, dass die Zeit zerrann, ehe Wort nnd Verrichtung den ersten, dringen-
den und traurigen Anforderungen der Wirklichkeit zu gehorchen dachten.
So wurde es Nacht, bis die Nachricht von Schillers Tod zu den
nächsten Freunden des Hauses drang. Das allgemeine Weimar erfuhr die
Trauerkunde erst in der Frühe und im Verlaufe des Freitags, des 10. Mai.
Im Laufe dieses Tages fand sich auch der junge Ferdinand Jage-
raann, der später von Goethe als Maler geschätzte Bruder der Schau-
spielerin Karoline Jagemann, im Sterbehaus ein, und erbat und erhielt die
Erlaubnis, das Antlitz des Toten mit dem Zeichenstifs festzuhalten. Seine
Zeichnung blieb, neben der Totenmaske aus Gips, das letzte authentische
Denkmal von der Form und dem wirklichen Ausdruck des Dichterhauptes.
Den zeitgenössischen Bericht, dass „die vollkommenste Ruhe das
Antlitz verklärt" habe, und dass „Schillers Züge die eines sanft Schlafen-
den" gewesen seien, bestätigt Jagemanns Zeichnung mit der zuverlässigsten
Glaubwürdigkeit.
Demgegenüber kann die sachliche Unrichtigkeit der Unterschrift:
„Am Tage seines Todes gezeichnet" vernachlässigt werden. Unter dem
Eindruck des feierlichen Ernstes und der grossen Wahrheit des Todes war
der Künstler absolut ehrlich in jedem Strich seines Stiftes, und die Er-
habenheit, die von seinem Gegenstand ausging, führte seine Hand und
machte sie sicher und fromm. So ward das letzte Bildnis Schillers eines
der gelobtesten Werke des Malers, eine der besten Arbeiten seines ganzen
Lebens.
Das Blatt ist aufbewahrt in der grossherzoglichen Bibliothek zu
Weimar. Es misst 40 cm in der Höhe, 32 cm in der Breite. Seine packende
Schönheit veranlasste, möglicherweise noch im Laufe des Spätjahres 1805,
den Kupferstecher Johann Christian Müller zu einer graphischen Wieder-
gabe des Bildes. J. C. Müller war der Sohn des berühmten schwäbischen
Kupferstechers Johann Gotthard von Müller,, des selben, der Schillers
Schiller auf dem Todenbette.
Von Ferdinand Jagemann.
Kautstudien X.
■
Schillers letztes Bildnis. 393
Portrait aus dem Jahre 1786, gemalt von Graff, gestochen hat (1793): ein Blatt
von glänzender Technik und geistreicher Behandlung, das bei ziemlicher
Seltenheit noch heute von Liebhabern sehr gesucht ist. J. C. Müller, der
Sohn, war Lehrer an der Weimarer Zeichenakademie. Er hat weder die
Bedeutung noch den Ruhm seines Vaters zu erreichen vermocht; doch
war er ein durchaus wolil begabter und geschickter Kupferstecher und
Zeichner und viel von der Treue und Andacht, mit der Ferdinand Jagemann
das letzte Zeugnis von Schillers körperlichen Zügen ablegte, ging auf den
nachschaffenden Künstler über, sodass ein Werk der graphischen Kunst ent-
stand, das in seiner leicht realistischen Tönung dem Original kaum in etwas
nachgiebt, an monumentaler Wirkung dieses sogar vielleicht in manclier Hin-
sicht übertrifft. Die genaue Zeit der Herstellung dieses Stichs ist mir unbekannt
geblieben, trotz mehrfaclier Nachforschung in dieser Richtung. Die graphische
Technik, in der das Blatt ausgeführt wurde, ist ein ziemlich kompliziertes,
und nicht häufig angewandtes Kupferätzverfahren auf weichem Grund, bei
dem die Kupferplatte so behandelt wird, dass die Abdrücke davon, nach der Art
ihres malerischen Reizes dem Punktierstich verwandt, sich technisch und
zeichnerisch gleichzeitig in hohem Grade den Wirkungen der Lithographie an-
nähern. Es haben von diesem Blatt mehrfache Nachdrücke stattgefunden, deren
künstlerischer und Liebhaberwert erheblichen Schwankungen unterliegt.
Alle mir bekannt gewordenen Abdrücke zeigen aber als Untersclirift
den Namen des Dichters und die erste Strophe von Goethes Epilog.
Das Bild selbst, 47 cm zu 357.2 cm im Lichten, zeigt das Haupt des
toten Dichters in natürlicher Grösse, bleich, aber markig und machtvoll in
die Kissen gedrückt. Die Züge verraten kaum eine Spur von der Arbeit
des Todes. Das Gesicht ist eher weich gerundet, als mager, oder gar ali-
gezehrt zu nennen und jedenfalls weit entfernt von jener übertriebenen
Hagerkeit, die Schillers Gesicht wohl in seiner jugendlichen Sturm- und
Drangzeit gekennzeichnet haben mag, die aber allmählich einem Ausgleich
der Züge gewichen war, der sogar die Adlernase in eine gefällige Propor-
tion zur Gesamterscheinung des Gesichtes setzte. Das dünne, rötliche und
an den Schläfen schon leicht gebleichte Haar erhölit den Eindruck der
ergreifenden Unmittelbarkeit. Der charakteristische Ansatz eines Doppel-
kinns deutet am wahrsten an, in welcher Richtung Schillers körperlicher
Habitus sich zu entwickeln wenigstens im Begriff war: Eine nicht eben
gesunde, trügerisch zunehmende Fülle der äusseren Körperforraen ist be-
kanntlich im Verlauf des Krankheitsprozesses bei Schwindsüchtigen nicht
selten. Die rasch wiederholten Anfälle seines Leidens, die Schiller im
Winter von 1804 auf 1805 durchzumachen gehabt hatte, mochten indessen
jene etwas gedunsene Fülle soweit zurückgezehrt haben, dass gerade in
Schillers letzten Tagen die machtvolle, fast gemeiselte Energie der Linien
hervortrat, die nun, von keiner Muskelverfettung verwischt, durch keine
abstossend krankhafte Abmagerung entstellt, Schillers Antlitz im Tode
mit dem Glanz einer erhabenen Würde und mit der ausgeglichenen,
wahren Schönheit des grossen Menschen umgiebt. Die versöhnende, ruhige
Hoheit des Todes hat mit der trotzigen Kraft einer von feurigem Geiste
beseelten Natur auf diesem Antlitz den majestätischen Bund des Friedens
geschlossen. Je länger der Beschauer sich dem Eindruck des Bildes hiu-
Kantstudien X. 2Q
394 i^. A. Schmid,
giebt, desto beherrschender wächst diese Grundstimmung aus den Linien
und aus dem schlichten Kolorit der Zeichnung hervor. Der Nachklang
aus den letzten Zeilen der Unterschrift erhält durch sie eine plötzlicli zum
Erlebnis werdende, für das Auge sichtbare und für die Betrachtung er-
schütternde Wahrheit :
. , . Und hinter ihm, in wesenlosem Scheine,
Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.
Allmählich geriet das Blatt in ziemliche Vergessenheit. Goethe,
den dies Bildniswerk vor allen, menschlich und künstlerisch, interessieren
musste, hat seiner, so weit ich sehe, nirgends Erwähnung gethan. Es
mochte seiner Art gemäss sein, das persönlich Schmerzliche, das für ihn
mit dem Anblick des Blattes verknüpft war, durch Stillschweigen, ja viel-
leicht durch geflissentliches Ignorieren auszugleichen. Später stach der
Nürnberger Stecher Johann Georg Serz das Bild nochmals, in erheblich
verkleinerten Verhältnissen, in Stahl. Das Blättchen misst 14'/« zu 12 cm
und zeigt eine geübte, aber handwerkliche Technik, die den glatten, un-
persönlichen Charakter des Stahlstichs durch keinerlei Vorzüge unterbricht
oder mildert.
Seit der Reproduktion des Müllerschen Stichs in Koenigs Litteratur-
geschichte erfuhr das Totenbildnis Scliillers eine neue Verbreitung. Die
Anzahl der bekannten, zeitgenössischen Schillerbildnisse ist an sich nicht
gross und ihr künstlerischer Wert ist in der Mehrzahl gering und jeden-
falls sehr unterschiedlich. Das Vertrauen zu ihrer Ähnlichkeit kann nur
diesem Umstand entsprechend sein.
Das Verständnis nun für die wertvolle, treue Realistik gerade dieser
Zeichnung wuchs in dem Masse, als die sentimentale Vorliebe für das süss-
lich idealisierte oder für das pathetisch karrikierte Schillerbild zurückging ;
jene Vorliebe für das unwahre Pendant zum Goethe-Apollon, das durch
die Säkularfeier im Jahre 1859 zum Typus erhoben und dem deutschen
Volk in jeder Dutzendausgabe der sämtlichen und der ausgewählten Werke
vorgesetzt wurde.
Heute scheint Jagemanns Zeichnung, trotzdem sie die Beseelung
des lebendigen, geöffneten Auges vermissen lassen muss, dem Beschauer
mehr zu sagen und menschlicher von menschlicher Grösse zu reden, als
ein von „Schillerlocken" umkräuselter, konventioneller Typus, der in der
Hauptsache erst ein halbes Jahrhundert nach dem Tode des Dichters ge-
schaffen wurde.
Es hat den Anschein, als ob die Säkularfeier dieses Jahres , der ja
ohnedies die Erinnerung an Schillers Tod zugrunde liegt, unser Bild all-
gemein bevorzuge. Es wäre schön, wenn dieser Umstand zugleich Zeugnis
von einer innerlich wirksamen Wahlverwandtschaft zwischen erhöhtem,
historischem Wahrheitssinn und vertieftem, individualisierendem Ge-
schmack ablegte.
Wenn sich ein Künstler fände, ein Herr und Meister, dessen Genie
mit dem Genius Zwiesprach zu halten verstünde, so könnte es geschehen,
dass auf dessen Machtwort die im Tode geschlossenen Augen sich noch
einmal öffneten. Strahlte aus ihnen dann Schillers reifer Geist, der Geist
Schillers letztes i^ildnis. 395
des Mannes, der auf den Wallenstein und auf den Teil als auf die
vollendeten Denkmale seiner Kraft zurückschaut, so könnte ich mir dies
Bildnis als das wahre Idealbild von Schiller denken:
Das Bild des Dichters, der, wenn ihm zu leben vergönnt geblieben
wäre, den Demetrius-Stoff spielend bezwungen hätte, an dem nachher noch
so manches, ansehenliche Könneli gescheitert ist.
Der, dem es so gelänge, nach hundert Jahren die Augen des Genius
nochmals zum Leuchten zu bringen, der schüfe im Symbol des Bildes, was
die höchste und beste Absicht einer solchen Hundertjahrfeier im Geiste
sein kann: Er schüfe keinen hohlen Repräsentanten einer mit mehr oder
minder grosser Absichtlichkeit zur Schau gestellten Idee, sondern er
hauchte Geist und innerste Seele wieder in die vertraute, lebenswahre
Gestalt. „Form und Stoff", Material und Gehalt wären nochmals Eins.
Die vorliegende Reproduktion ist nach einem guten, in meinem Be-
sitz befindlichen Abdruck des C. Müllerschen Farbenstichs von Herrn
Curt Stille in Freiburg i. B. auf photographischem Wege hergestellt, mit
bewusster Berücksichtigung und Betonung der künstlerischen Eigenwerte
des Blattes und unter entsprechender Verwendung eines mit besonderer
Sorgfalt ausgewählten Materials. Auf diese Weise ist es gelungen, die
farbige Kraft des graphischen Originals mit sehr befriedigender Wirkung
wiederzugeben, so dass sich Herr Stille die Kant-Studien zu dem be-
sonderen Danke verl)indet, ihnen wohl zur besten aller im Buchhandel be-
findlichen Reproduktionen dieses schönen Kupferstichs verhelfen zu haben.
Dr. Friedrich Alfred Schmid.
26*
Das Schillerporträt von Gerhard v. Kügelgen.
Während über die unserem Hefte beigegebene Silhouette: „Schiller
als Karlsschüler" nichts weiter zu sagen ist, als dass sie den werdenden
g-rossen Mann ausgezeichnet charakterisiert und insofern zu meinem Quellen-
fund aus Schillers akademischen Jahren eine höchst willkommene Illust-
rierung bietet — muss ich mich über das v Kügelgen'sche Bild etwas
weiter auslassen.
Dieses Schillerbild war viele Jahrzehnte hindurch nur durch einen
mangelhaften Stich von Anderloni bekannt : Das Original blieb trotz allen
Suchens verschollen.
Da sind nun vor einigen Jahren fast gleichzeitig zwei Originale des
Bildes aufgetaucht. Dass es zwei Originale sind, daran ist zunächst nichts
Merkwürdiges: die Künstler jener Zeit machten von ihren Porträtbildern
sehr häufig mehrere Ausführungen : es geschah das damals häufiger als
heute, aus dem naheliegenden Grunde, weil ja jetzt die Reproduktions-
technik so vollendet ist, dass Wiederholungen durch den Künstler selbst
nicht mehr so notwendig sind. So hat z. B. Kügelgen selbst ein und das-
selbe Goetheporträt drei- bis viermal mit kaum merklichen Variationen
gemalt; dasselbe ist der Fall mit Raabes und Jagemanns Goethebildern.
Das Eine jener Originale des v. Kügelgenschen Schillerbildes war
nun im Besitze der Herzogin Friederike von Anhalt-Bernburg (geborene
Prinzessin von Schleswig-Holstein) gewesen. Sie hatte es in ihrer Sommer-
residenz Alexisbad im Harz in ihrem daselbst befindlichen Schlösschen
aufbewahrt. Die hohe Frau, welche Iiochbetagt im Jahre 1902 gestorben
ist, kannte den Wert des Bildes, dessen besondere Schonung sie ihren
Dienern stets aufgetragen hatte. Nach ihrem Tode fiel das Schlösschen
Alexisbad mit all seinem Inhalt an einen Prinzen von Schleswig-Holstein-
Augustenburg. Durch Nachlässigkeit der Hofbeamten, welche den Wert
des Bildes nicht erkannten, wurde nun das Schillerbild (nebst einem dazu-
gehörigen Goethebild Kügelgens als Pendant) an einen Privatmann im
Harz um einen unglaublich geringen Preis verkauft, wie das ähnlich auch
mit einer Reihe anderer wertvoller alter Gegenstände geschah. Der be-
treffende Privatmann erkannte zwar auch noch nicht sogleich, um was es
sich handelte, aber er hatte als gebildeter Mann soviel Einsicht, um we-
nigstens auf den ersten Blick zu erkennen, dass er ein wertvolles Stück
erworben hatte. Er reiste mit dem Bilde nach Dresden und Leipzig, und
da wurde dann durch Professor Dr. Julius Vogel, Konservator am Leip-
ziger Museum, festgestellt, dass es sich um ein Kügelgen"sches Original
handelte. Professor Vogel Hess nun das Bild in der Leipziger Illustrierten
Zeitung vom 11. Dezember 1902 reproduzieren nebst einem Begleitartikel.
Natürlich wurde diese Reproduktion sehr viel beachtet. Auch jener
Prinz wurde nun aufmerksam auf das seltene Stück, das ilim entgangen
war. Ein Rückkaufsversuch scheiterte an der hohen Forderung des
neuen glücklichen Besitzers. So ist diese Bildergeschichte wieder eine
Das Schillerporträt von Gerhard v. Kügelgen. 397
drastische Illustration zu dem bekannten Erfahrungssatze, dass Bilder oft
die merkwürdigsten Schicksale haben. Es g:ilt nicht nur der Satz: Habent
sua fata libelli: es gilt auch: Habent fiiin fatn fabeUae.
Auch das zweite Original des v. Kügelgenschen Schillerbildes hat
ähnliche Schicksale gehabt. Vor einigen Jahren hing es hier in Halle in
einem Laden zum allgemeinen Verkaufe aus. Hunderte sahen das Bild
und Niemand nahm es: der Preis war, wenn auch nicht so gering wie
beim Alexisbader Bilde, so doch massig. Der Zufall fülirte mich in den
Laden und ich erwarb das Bild, und rettete es damit vor der Verschleu-
derung. Über den Vorbesitzer, nach dem ich mich natürlich sogleich er-
kundigte, konnte ich nur erfahren, dass das Bild aus dem Besitz einer
verarmten Anhaltinischen Adelsfamilie stammte, deren Name mir aber aus
naheliegenden Gründen verschwiegen wurde.
Ich gab nun der Firma E. A. Seemann in Leipzig auf ihre Bitte
hin die Erlaubnis, von meinem Bilde eine Reproduktion in Dreifarbendruck
zu veranstalten und dieselbe dem in ihrem Verlag erschienenen Werke
von Karl Heinemann „Goethe" (dritte Auflage 1903) beizulegen (S. 474).
Hierdurch wurde nun das Bild in seinem wunderbaren Farbenreiz dem
gebildeten Publikum zum ersten Male vorgeführt. Eine zweite, ebenfalls
farbige Reproduktion des Bildes (aber durch eine andere Kunstanstalt)
hat nun soeben mit meiner Erlaubnis die Firma George Westermann in
Braunschweig veranstaltet, indem sie das Bild in ihrem Maiheft 1905 ihrem
Schillerfestartikel von Otto Harnack beifügte. Die unserem eigenen
Schillerfesthefte beigelegten Exemplare in Dreifarbendruck stammen zum
Teil von der Firma E. A. Seemann, zum anderen Teil von der Firma
G. Westermann.
Aus den obigen Mitteilungen ersieht man nun wieder aufs Neue,
welchen wunderbaren Schicksalen Bilder im Privatbesitz ausgesetzt sind.
Aber nicht immer führen diese Schicksale zu solch erfreulichem Ende.
Die Bilder sind im Privatbesitz mancherlei Fährlichkeiten ausgesetzt: sie
können durch L'nachtsamkeit und selbst ohne Schuld leicht verdorben
werden, und sie können im Erbgang nach einigen Generationen leicht ver-
schleudert werden. Ebenso schlimm ist es, wenn sie ins Ausland verkauft
werden. Bei den enormen Preisen, welche in Frankreich, England und
Amerika von Liebhabern bezahlt werden, ist diese Gefahr sogar sehr
drohend : wie viel wertvolles Gut ist aus Deutschland in den letzten
.Jahren über den Ocean gewandert in die Hände amerikanischer Milliardäre.
Ich habe auf einen solchen Verkauf an Privatbesitzer verzichtet : solche
Bilder, wie ein Kügelgen'sches Schillerbild, sind Eigentum der Nation und
sollen allen zugänglich sein.
Ich freue mich daher, hier die Mitteilung hinzufügen zu können,
dass Seine Majestät der König von Württemberg das bisher in meinem
Besitz befindliche Bild erworben hat, um es dem Schillennuseum in Mar-
bach zum 9. Mai zum Geschenk zu machen
H. Vaihingen
Schillers transscendentaler Idealismus.
Von W. Windelband.
Was die Philosophie für Schiller bedeutet hat, ist im AU^e-
gemeinen leicht erkennbar und fraglos festzustellen: was aber
Schiller für die Philosophie bedeutet hat, ist eine nicht ganz so
einfach und selbstverständlich zu beantwortende Frage. Auch da-
rüber allerdings besteht kein Zweifel, dass der Dichter mehr als
irgend ein anderer von Kants Schülern dafür gewirkt hat, den
Geist und die Gesinnung der kritischen Philosophie in die allge-
meine Vorstellungsweise überzuführen und im Bewusstsein der
deutschen Bildung heimisch zu machen, und dass diese seine Wirkung
mit ununterbrochener Mächtigkeit noch bis auf den heutigen Tag
von seinen philosophischen Dichtungen und ästhetischen Abhand-
lungen ausgeht. Allein damit ist noch nicht entschieden, welchen
Anteil Schillers eigenes Denken an der Fortentwickelung der Kan-
tischen Lehre, au der Ausgestaltung und Umgestaltung des kriti-
schen Idealismus gehabt hat. In dieser Hinsicht sind die An-
sichten wohl noch nicht völlig geklärt. Es ist nicht zu leugnen,
dass Schiller selbst sehr deutlich die Punkte gekennzeichnet hat,
an denen er, wenn nicht vom Geist, so jedenfalls vom Buchstaben
der Kantischen Philosophie abwich, und dass er dabei zwar nicht
über die Prinzipien, aber um so mehr über einige Ausführungen
der kritischen Lehre hinauszugehen sich bewusst war. Ob man
von diesem letzteren Bewusstsein sagen darf, der Dichter habe
damit sich selber missverstandeu, weil er mit seiner vermeintlichen
Neuerung wesentlich doch im Bannkreise der Kantischeu Philosophie
bleibt — das wird schliesslich darauf hinauskommen, wie hoch man
die Notwendigkeit des Zusammenhanges jener Prinzipien mit diesen
besonderen Anwendungen einschätzt. Diese Schwierigkeit gilt nicht
nur für Schillers Verhältnis zu Kant. Die kritische Gedankenwelt
war kein starres, unverrückbar festgelegtes System; sie war es
Schillers transscendentaler Idealismus. 399
weniger als die irgeud einer anderen Philosophie. Sie stellte viel-
mehr eine in sich bewegte Mannigfaltigkeit dar, deren unerschöpf-
licher Reichtum eine Fülle lebendiger Beziehungen und Verwicke-
lungen enthielt und zur Entfaltung bringen musste. Da war es
und bleibt es denn schwer, das Mass der Verschiebung eindeutig
zu bestimmen. Fichte konnte seine Lehre noch für die recht ver-
standene Kantische halten, als er — nicht bloss nach Kants eigenem
Urteil — offensichtlich längst darüber hinausgegangen war : Schiller
kann selbst da noch für einen echten Kantianer gelten, wo er über
den Meister hinauszugehen glaubte. Auf der einen Seite kann
man die gesamte Entwickelung des deutschen Idealismus als die
Ausbildung des Systems der Vernunft betrachten, das durch die
Kritik begründet worden war: auf der andern Seite kann jede
Phase dieser Entwickelung vermöge der Herausarbeitung eines be-
sonderen Moments, das sie charakterisiert, als ein Abweichen von
Kaut und ein Hinausgehen über ihn dargestellt werden. Und dies
muss dann auch für die spezifischen Lehren anerkannt werden, bei
denen Schiller seine Selbständigkeit empfand und betonte. — Sie
haben das Eecht dazu um so mehr, wenn sie sich als Ansatz-
punkte erkennen lassen, an denen nachher kräftigere Seitentriebe
aus dem Hauptstamnie herausgewachsen sind.
Eines aber wird man bei der Feststellung der Bedeutung
Schillers für die Entwickelung der Philosophie immer im Auge
behalten müssen : das ist, dass er niemals eigentlich darauf aus
war, ein System der Philosophie oder eines ihrer Teile, etwa der
Ästhetik, lediglich als solches und um des Systems willen auszu-
bilden. Das Motiv seines Philosophierens war zunächst das per-
sönliche Bedürfnis nach einer begrifflichen Begründung jener
Kulturpsychologie der Kunst, die den innersten Kern seiner
Überzeugungen ausmachte und in der alle Fäden seiner Individua-
lität, alle Interessen seiner Lebensführung zusammenliefen. Diese
seine Lebeusgedanken in einer \\'eltanschauung sicher zu verankern,
war für den Dichter der Inbegriff seines metaphysischen Bedürf-
nisses, und als ihm die optimistische Harmonielehre der Aufklärung
in die Brüche gegangen war, da ging er mit harter, immei' neu
ansetzender Begriffsarbeit daran, das neue philosophische Evange-
lium sich anzueignen. Sobald es ihm aber gelungen war, sich mit
seinen Interessen in diesem Gebiete anzusiedeln und jene Grund-
überzeugung, die er mitbrachte, in diesem festen Boden AVurzel
fassen zu lassen, war der philosophische Teil seiner Lebensarbeit
400 W. Windelband,
vollbracht. Allein es handelto sich dabei für ihn nicht nur um
diese persönliche Selbstverständig-uug-, sondern die begriffliche Klar-
heit über die Stellung der Kunst iu den Vernunftwerteu der
Menschheit und ihrer geschichthchen Entwickelung galt dem philo-
sophierenden Dichter zugleich als das wesentliche und unerlässliche
Bindeglied in dem Zusammenhange der neuen Bildung der wahr-
haften Humanität, die er für sein Zeitalter heraufzuführen sich
berufen und niitberufen fühlte.
Hiernach ist auch Schillers Stellung zu Kants transsceuden-
talem Idealismus zu bemessen. Der Dichter hat den gewaltigen
Gedanken des Philosophen mit der ganzen Kongenialität seiner
Persönlichkeit ergriffen: er fand darin den festen Ankergrund seines
eigensten Wesens. Aber die Art, wie er auf diesem neuen geistigen
Lebensgrunde seine eigene Aufgabe löste und die Begriffe für seine
Überzeugung zurechtlegte, war von Anfang au frei von aller
schülerhaften Befangenheit: mit voller Beherrschung der Gedanken
prägt er ihnen seine eigene, aus der allgemeinen Redeweise glück-
lich herausgearbeitete Form auf; er verschmäht es auch nicht,
Reinholdsche oder Fichtesche Wendungen, wo sie ihm leichter zum
Ziele zu führen scheinen, sich anzueignen. GelegentUch hat er
sogar später einmal in den Formeln der Identitätsphilosophie ge-
redet. Das Wesentliche und Wertvolle ist ihm immer, zu zeigen,
dass in dem Prinzip, worin er das Eigenste der neuen Philosophie
mit Recht erblickt, die gemeinsame Wurzel alles moralischen und
alles ästhetischen Lebens aufgedeckt ist.
Darum ist Schillers Zugehörigkeit zum transscendentaleu
Idealismus iu erster Linie diejenige einer Grundüberzeugung: dass
es für das Bewusstsein keine andere Realität, keine anderen
„Gegenstände" giebt als diejenigen, die es aus seiner eigenen Ver-
nunftbethätigung heraus erzeugt. Die Verwandlung der Welt in
die Gegenstände des Bewusstseins ist die entscheidende That des
kritischen Philosophen. Und dies Entscheidende hat Schiller genau
so scharf gesehen und genau so fest ergriffen wie E'ichte. Es ist
der Grundton, auf den alle philosophischen Leistungen Schillers
gestimmt sind. Wenn man diese Spontaneität des Geistes in der
Erzeugung seiner Gegenstände Freiheit nennt, so gilt es in diesem
— aber freilich nur in diesem! — Sinne, dass Freiheit der Ceutral-
begriff des Schillerschen Denkens, wie des Kantischen und des
Fichteschen ist.
Schillers transscendentaler Idealismus. 401
Aber die allg-emeiue Formel der Autonomie, die das Weseu
des transscendentaleu Idealismus ausdrückt, enthält eine Mehrheit
von Bedeutungen in sich, die in Kants Lehre sich vielfach mit
einander verschlingen und je nach dem Vorwiegen der einen oder
der anderen dem Grundgedanken von der Erzeugung des Gegen-
standes aus der Spontaneität des Bewusstseins eine verschiedene
Färbung geben. Es ist nicht nur für die Feststellung von Schillers
Verhältnis zur kritischen Philosophie, sondern auch für das Ver-
ständnis von Kants Lehre und Entwickelung und für die Einsicht
in die Motive der auf ihn folgenden Bewegung förderlich und er-
forderlich, diese Verschiedenheiten deutlich herauszuheben : sie be-
lehren zugleich über den Ursprung und den Rechtsanspruch der
verschiedenen Deutungen, welche die Kantische Lehre selbst früher
und später erfahren hat.
Als das „Bewusstsein" nämlich, dem die autonome Erzeugung
des Gegenstandes zuzuschreiben ist, können drei verschiedene In-
stanzen betrachtet werden: das Individuum, die Menschheit, das
„Bewusstsein überhaupt". Erst in ihrer Verknüpfung und Zu-
sammengehörigkeit machen sie zusammen das Ganze des kritischen
Horizontes aus: aber dieser erscheint in sehr verschiedener Be-
leuchtung, wenn er aus dem einen oder dem andern dieser Gesichts-
punkte allein oder auch nur hauptsächlich betrachtet wird.
Geschieht das aus dem ersten jener drei Standpunkte, so
rückt die Idee der Persönlichkeit in den Vordergrund des trans-
scendentaleu Idealismus. Die Selbstgesetzgebung des Willens, die
Selbstbestimmung des Handelns, die Selbstgestaltung des Lebens
erscheinen als die Ideale einer Gesinnung, welche keine anderen
Werte in der Welt anerkennt, als die von ihr selbst gesetzten.
Diese stolze Moral der Persönlichkeit ist der aus dem Wesen des
Mannes selbst stammende Einschlag in der Philosophie Kants; und
wir werden kaum irre gehen, wenn wir meinen, sie sei unter den
persönlichen Motiven seiner Lehre das bedeutsamste. Dieser Appell,
dass der Mensch als Vernunftwesen sich und sein Leben auf sich
selber stelle, war aber auch der Ton, der das lauteste Echo fand
und für die neue Lehre die Jünger aus der Gesinnung heraus
warb. Er hat auch Schiller ergriffen, der es aussprach, es sei
gewiss von einem sterblichen Menschen kein grösseres Wort noch
gesprochen, als dieses Kantische „Bestimme dich aus dir selbst",
was zugleich der Inhalt seiner ganzen Philosophie sei. Das sagt
der Dichter gerade da, wo er sich anschickt, in den Kalliasbriefen
402 W. Windelband,
seine eigue ästhetische Theorie aus Kant herauszuarbeiten ; und in
der Tat ist diese seine Theorie in allen ihren Phasen durch das
Bestreben bedingt, die Formen zu eii'assen, in denen „diese grosse
Idee der Selbstbestimmung" das Wesen des Schönen ausmacht.
Das war aber nur dadurch möglich, dass Kants Idee der Auto-
nomie in Schiller nicht nur den sittlichen Menschen, sondern auch
den Künstler packte; dass der Dichter in der Erzeugung der
ästhetischen Welt aus dem Bewusstsein, wie sie Kaut lehrte, sein
eigenstes und innerstes Schaffen wiederfand. Das ist die un-
sterbliche Bedeutung der Kritik der Urteilskraft.
Auch hierin ist es zuletzt die künstlerische Gesinnung, die
Schiller zum Jünger Ivants gemacht hat. Er war sich aus eignem
künstlerischen Erlebnis der schöpferischen Kraft der genialen
Phantasie bewusst; ihm war es das Geläufigste, dass die ästhetische
Welt eine neue, eine andere ist als die gemeine. Kein Gegensatz
kehrt in den ästhetischen Abhandlungen und in den dazu gehörigen
Gedichten so häufig wieder wie der von Wahrheit und Wirklich-
keit. „Was sich nie und nimmer hat begeben, das allein veraltet
nie." Die Erhebung des Stoffs in die Form, die Vernichtung des
Stoffs durch die Form, das Hinausleben aus dem „Gemeinen und
Traurigwahren" in die höhere Welt der reinen Gestaltung — und
wie sonst die charaktervollen Formeln dafür lauten: immer ist die
Schönheit „unsere zweite Schöi)ferin." „Wer sich über die Wirk-
lichkeit nicht hinauswagt," heisst es in den ästhetischen Briefen,
„der wird nie die Wahrheit erobern." Oder „die Wahrheit ist
nichts, was so wie die Wirklichkeit oder das sinnliche Dasein der
Dinge von aussen empfangen werden kann; sie ist etwas, das die
Denkkraft selbsttätig und in ihrer Freiheit hervorbringt". Das
ist zweifellos im intimsten Sinne des transscendentalen Idealismus
gedacht, und es ist höchst interessant, wie der Dichter in diesem
Sinne die kritische Erkenntnistheorie sich ästhetisch assimiliert
hat. In dem intellektuellen Prozess wird der Mensch aus einem
Sklaven der Natur zu ihrem Gesetzgeber: indem er aus den Em-
pfindungen den „Gegenstand" schafft, und ihn „betrachtet", wird
er von dem Objekte wie von der Begierde, mit der es ihn ergriff,
frei und erhebt sich zu der Form, dem Nachbild des Unendlichen.
So vollzieht sich schon in der Wahrnehmung jener Rhythmus der
(li-ci Zustände, wonach im physischen der Mensch die Macht der
Natur erleidet, im ästhetischen sich ihrer entledigt und im mo-
ralischen sie beherrscht. Aber dieser Vorgang ist die Tat des
Schillers transscendentaler Idealismus. 403
Subjekts, das iu der Betrachtuug von der gemeiueu Wirklichkeit
der Dinge die Form ablöst und auf ilir als dem schönen Scheine
weilt. Diese Gleichgiltigkeit gegen die Realität ist in Wahrheit
die Erweiterung des menschlichen Gemüts zu seiner höheren Be-
stimmung; der Schein ist des Menschen Werk, und an ihm übt
das Gemüt nur sein Eigentumsrecht aus, wenn es iu der Kunst
des Scheins mit ihm spielt und in ungebundener Freiheit nach
eigenen Gesetzen mit ihm schaltet.
Freilich fügt Schiller hinzu, der Mensch besitze dieses sou-
veräne Recht schlechterdings auch nur in der Welt des Scheins,
iu dem wesenlosen Reiche der Einbildungskraft. Er versucht
nicht, und es war nicht seine Aufgabe, festzustellen, worauf die
Einschränkung dieses Eigentumsrechts im Theoretischen und im
Praktischen beruht : aber die Lösung dieser Aufgabe wäre viel-
leicht sehr schwierig, wenn nicht unmöglich auf dem Boden dieser
Ästhetisierung des transscendentalen Idealismus gewesen. Mit der
leisen Wendung ins Psychologische, die daran unverkennbar ist,
wird die Autonomie zu einer Praerogative der einzelnen ästhetischen
Persönlichkeit und gerät iu Gefahr, die Fühlung mit der all-
gemeingiltigen Gesetzmässigkeit zu verlieren. Wie es denn
charakteristisch ist, dass Schiller unter den kantischen Prinzipien
der ästhetischen Urteilskraft dasjenige am fremdesten geblieben
ist, wonach in dem übersinnlichen Substrat der Menschheit, d. h.
im Bewusstsein überhaupt, die Möglichkeit der allgemeinen Mitteil-
barkeit des ästhetischen Zustandes gefunden war. Der Dichter
berührt dies Prinzip, wo er von der Herrschaft des Formtriebes
redet, bei der sich der Mensch zu einer Ideeneinheit erhebe, die
das ganze Reich der Erscheinungen unter sich fasst: aber er
schwächt es damit ab, dass er diesen Zustand für denjenigen er-
klärt, in welchem wir „nicht mehr Individuen, sondern Gattung"
sind. Das ist allerdings um so weniger verwunderlich, je mehr
man bedenkt, wie schwierig es in Kants eigner Darstellung ist,
das „Bewusstsein überhaupt" von der menschlichen Gattungs-
vernunft zu unterscheiden. Allein bedenklicher war es, dass in
Schillers Theorie des Spieltriebes die Autonomie der künstlerischen
Persönlichkeit bis zu der souveränen Schrankenlosigkeit der Phan-
tasie gesteigert erscheinen konnte, die sich unter der Mitwirkung
missverstandner Lehren Fichtes später als romantische Ironie ent-
faltet hat.
40-4 W. Windelband,
Wie weit indessen Scliiller selbst von dieser Gefahr entfernt
war, lässt sich — innerhalb seiner philoso^ihischen Untersuchnngen —
am besten daraus entnehmen, dass es g-erade die entgegeug-esetzte
Kichtung war, in der er zuerst seine selbständige Position auf dem
Boden der kritischen Ästhetik zu gewinnen suchte. Vor schranken-
losem Subjektivisnuis ist derjenige bewahrt, der seine Aufgabe
darin setzt, den objektiven Begriff der Schönheit zu finden: und
das ist bekanntlich das Thema der Kalliasbriefe. Schon dies
Thema gilt zum mindestem als eine Ergänzung von Kants Analytik
des Schönen, die sich auf die Kritik der Apriorität des ästhetischen
Zustandes beschränkt und die Möglichkeit einer Begriffsbestimmung
der schönen Dinge abgelehnt hatte. Und in der Tat folgt Schiller
hier einem kräftigen, sachlich wohlbegründcten Impulse. Denn so
sehr er mit Kaut überzeugt war und überzeugt sein durfte, dass
der ästhetische Gegenstand als solcher niemals gegeben ist, sondern
immer erst in der interesselosen Betrachtung als Form und Schein
entspringt, so sehr vermisste er von seinem theoretischen Be-
dürfnis aus in der Kritik der Urteilskraft eine Antwort auf die
Frage, wie die Stoffe der Erfahrung beschaffen sein müssen, um
solche Formung zu ästhetischen Gegenständen im künstlersich ge-
stimmten Gemüte hervorrufen oder auch nur vertragen zu
können. Auch dieses theoretische Bedürfnis Schillers wurzelt in
seinem künstlerischen Erleben. Wir wissen genau, wie vorsichtig
und gewissenhaft er selbst in der Wahl seiner Stoffe und in der
Erwägung ihrer dichterischen Formbarkeit verfuhr : musste er sich
nicht Rechenschaft darüber zu geben versuchen, auf welchen Eigen-
schaften in den Stoffen selbst diese Verschiedenheit ihrer äst-
hetischen Verwertbarkeit beruhe? Diese Frage hatte Kant beim
Schönen in der Tat nicht gestellt, geschweige denn beantwortet:
denn sie lag ausserhalb seiner rein trausscendentalen Problem-
stellung, die nur die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori für
das Gefühlsvermögeu betraf. (xeradesowenig hatte er in der
Kritik der reinen Vernunft die methodologische Frage aufgeworfen,
welche Eigenschaften etwa die einzelnen Erscheinungen aufweisen
müssen, um unter besondere Naturgesetze subsumiert zu werden.
Jenes Problem der Kalliasbriefe stellte aber in keiner Weise den
trausscendentalen Idealismus der Ästhetik in Frage, es lag viel-
mehr unmittelbar iu dessen Konsequenz. Ja, Schiller hätte sich
darauf berufen können, dass Kant selbst in der Analytik des Er-
habenen den Weg eingeschlagen hatte, genau zu untersuchen, wie
Schillers ttansscendentaler Idealismus. 405
ErfahruDgsinhalte au Grösse oder Kraft beschaffen sein müssen,
um zwar nicht selbst erhaben zu sein, aber das Gemüt in den
Zustand zu versetzen, worin sie als erhaben beurteilt werden.
Dabei läuft die Schillersche Lösung des so gestellten Prob-
lems auf eine Vorstellungsweise hinaus, welche die höchste und
reifste Form des transscendentalen Idealismus zur Voraussetzung
hat: denn die Schönheit als Freiheit in der Erscheinung, diese
innere Notwendigkeit der Form an einer sich selbst erklärenden
Erscheinung, diese Heautonomie, die eine objektive Beschaffenheit
der Gegenstände sein soll, weil sie ihnen bleibt, auch wenn das
vorstellende (Einzel-) Subjekt ganz hinweggedacht wird, — alle
diese aus dem kritischen Begi'iffsarsenal geholten Bestimmungen
sind doch nur dann verständlich, wenn die Naturerscheinungen,
die jenes objektive Merkmal des Schönen an sich haben sollen,
selbst schon als Gegenstände des Bewusstseins überhaupt gedacht
werden. Niemals ist Schiller dem letzten Höhepunkte des Trans-
scendentalismus näher gewesen als hier, wo er sich von dem sog.
subjektiven Idealismus zu Gunsten einer objektiven Definition der
Schönheit zu entfernen scheint. Und wie reif er bei der Zusammen-
fassung seiner gesamten Untersuchungen diese begrifflichen Be-
ziehungen durchschaut hat, zeigen die Worte, die er am 25. Okt.
1794 an Körner schrieb: „Das Schöne ist kein Erfahrungsbegriff,
sondern vielmehi- ein Imperativ. Es ist gewiss objektiv, aber bloss
als eine notwendige Aufgabe für die sinnliche vernünftige Natur;
in der wirklichen Erfahrung aber bleibt sie gewöhnlich unerfüllt.
Es ist etwas völlig Subjektives, ob wir das Schöne als schön em-
pfinden; aber objektiv sollte es so sein."
Solchen Aussprüchen gegenüber wird man sich doch freilich
schwer des Eindrucks erwehren können, dass die Energie des
Schillerschen Denkens von der Ausbildung, Anwendung und Er-
gänzung der Kantischen Prinzipien leise zu ihrer Umbildung hin-
drängt, ohne diese selbst noch zu vollziehen. Denn von dieser
Art der Stellungnahme zur Kantischen Ideenlehre war der Schritt
nicht weit zu Schelhngs „transscendentalem Idealismus", von dem
sich dann die Aussicht auf die „Philosophie der Kunst" und die
Hegeische Ästhetik eröffnet. Schiller selbst hat diesen Schritt
nicht gethan. Denn er verfolgte diesen Weg nicht weiter. Ihm
genügte dieser sein Beitrag zur Ausführung des Gedankens, den
ja im Grunde genommen auch schon die Kritik der Urteilskraft
ausgesprochen hatte: dass der Stoff der Naturerscheinungen und
406 W. Windelband,
das Forniprinzip der Vernunft in letzter Instanz auf einander hin-
weisen und zweckvoll auf einander abgestimmt sind. Die Durch-
führung überliess er den Systematikern; er selbst wendete sich
nun ganz der Aufgabe zu, die ihm vor allem am Herzen lag: mit
den Kantischen Begriffen die Stellung der Kunst im Zusammen-
hange der menschlichen Lebensentwickelung zu begreifen. Eben
damit aber kehrte Schillers transsceudentaler Idealismus von
jenem Ausblick auf das Metaphysische zu der wesentlich anthro-
pologischen Auffassung zurück.
Denn wenn das Schillersche Hauptproblem, dessen Lösung für
den Dichter sachlich seit den „Künstlern" feststand und stehen
geblieben ist, jetzt unter die Gesichtspunkte des transscendentalen
Idealismus gerückt wurde, so war das entscheidende Moment die
Auffassung des ästhetischen Lebens als der spezifischen Leistung
des Menschen. Nur in seiner sinnlich-übersinnlichen Doppelnatur
sollten die Bedingungen für diese Funktion gegeben, eben deshalb
aber auch in dieser Funktion selbst die vollständigste Bestätigung
seines Wesens enthalten sein. Diese Voraussetzung vom Menschen
als dem Mittelgliede zweier Welten hatte Schiller dereinst den
herrschenden Vorstellungen entnehmen können: aber sie war auch
in die Kantische Weltanschauung übergegangen, und sie bildete
eines der Gruudmotive der Kritik der Urteilskraft. Natur und
Freiheit — so hiess es hier — , die sonst geschiedenen Reiche
der theoretischen und der praktischen Vernunft, finden in dem
ästhetischen Bewusstsein ihre Vereinigung: aber gerade deshalb
legte auch Kant darauf Wert, dass das Schöne und das Erhabene
nur Erscheinungen für den beiden Sphären zugehörigen Menschen
seien. Ganz in diesem Sinne behandelt Schiller die ästhetische
Erziehung des Menschen. In einer Transscendentalpsychologie, die
an Fichtesche Bestimmungen anklingt, konstruiert er bekanntlich
den Spieltrieb als die Ausgleichung des Gegensatzes der beiden
Triebrichtungeu im Menschen. Diese Konstruktion hat zwar ihr
Vorbild in dem Spiel der Vorstellungsvermögen oder Erkenutnis-
kräfte, das in der Kritik der Urteilskraft die transscen dentalpsy-
chologische Grundvoraussetzung bildete: aber sehr viel energischer
als Kant hob Schiller hier hervor, dass das ästhetische Leben dem
Menschen wesentlich und einzig angehöre. Weder unter ihm in
der Natur noch über ihm in der Geisterwelt giebt es Schönheit:
in ihm allein als dem sinnlich-übersinnlichen Doppelwesen ist sie
möglich und als Ausprägung dieses seines spezifischen Wesens not-
Schillers traiisscendentaler Idealismus. 407
wendig. Während die theoretisclie Vernunft über ein Reich der
Natur g-ebietet, dem das empirische Wesen des Menschen nur als
ein Teil neben andern eingeordnet ist, während die praktische
Vernunft ihr Freiheitsgesetz für ,.alle vernünftigen Wesen" über-
haupt errichtet, zu denen der Mensch nur als eines der Glieder
einer übersinnlichen Weltordnung gehört, hat es die ästhetische
Vernunft einzig und allein mit dem Menschen als diesem gegebenen
Doppelweseu zu thun. Hier ist demnach die kritische Untersuchung
wirklich auf das Verständnis der Organisation der menschlichen
Vernunft gerichtet, und die Auffassung der Kantischen Lehre,
welche das ganze Geschäft der Transsceudentalphilosophie unter
diese Aufgabe stellt, findet in dem transscendentalpsychologischen
System der Schillerschen Ästhetik ihr bedeutsamstes Vorbild, das
z. B. gerade bei Alb. Lange auch historisch als solches gewirkt
haben mag. Um so begreiflicher aber ist es, dass Schiller in
diesen „Briefen" mit jenem „objektiven" Begriffe der Schönheit
als Freiheit in der Erscheinung, zu dem er in den Kalliasbriefen
vorgedrungen war, direkt nichts anfangen konnte.
Aus der Lehre vom Spieltrieb, die Schiller in dieser Weise
entwickelte, ergab sich notwendig das doppelte Verhältnis, wonach
der ästhetische Zustand einerseits als die unumgängliche Über-
leitungsstufe aus der sinnlichen in die intellektuell-moralische Be-
stimmtheit des Menschen, andererseits als die vollkommenste und
höchste Ausprägung seines ganzen, nur ihm eigenen Wesens gelten
musste. Beide Seiten der Sache sind in ihr selbst gleichmässig
begründet und gehören deshalb für Schiller, wie schon in den
„Künstlern", notwendig zusammen, ohne mit einander zu streiten:
sie können nicht auf verschiedene Entwickelungsstufen des Schüler-
scheu Denkens verteilt werden. Vielmehr ist eigentlich erst hier
dem Dichter die begriffliche Lösung des Problems gelungen, das
ihn und Körner in ihrem Briefwechsel als das wichtigste beschäf-
tigt: unter einem höheren Prinzip das Verhältnis des ästhetischen
und des moralischen Lebens zu einander zu bestimmen. Es ist
das intimste Lebensinteresse Schillers, das hier seine Befriedigung
findet : die Beziehung seines persönhchen Berufs auf die allgemeine
sittliche Bestimmung des Menschen. Wir verstehen, wie nach dieser
innersten Beruhigung der lang zurückgehaltene Quell seiner dich-
terischen Schöpferkraft sich in mächtigem, hinreissendem Strome
ergossen hat.
40Ö W. Windelband,
Was aber dem kritischen Denker Schiller hier vorschwebt,
ist, wie wir heute sagen würden, nicht mehr und nicht weniger
als die Frage nach der lebendigen Beziehung der Vernunftwerte
zu einander: Wir wissen, wie Kant ursprünglich darauf ausge-
gangen war, sie in reinlicher Scheidung aus einander zu halten:
aber die Kritik der Urteilskraft, sein höchstes Werk, hatte, wie
sie das Verhältnis der teleologischen Betrachtung 'zur Erkenntnis
der Naturgesetzmässigkeit in mustergiltiger Weise bestimmte, so
auch die Beziehungen des ästhetischen Verhaltens im Schönen wie
im Erhabenen zu der sittlichen Natur des Menschen herausgear-
beitet. Fern von aller engen und ängstlichen Unterstellung der
Kunst unter moralisierende Zwecke, war hier die bedeutsame Ver-
bindung des ästhetischen Lebens mit den höchsten Wertbestim-
mungeu der Menschheit vollauf begriffen worden. Freilich hatte
Kaut in der kritischen Reinlichkeit seiner Unterscheidungen gerade
diese Beziehungen aus dem Umkreise der „reinen*' Schönheit ver-
wiesen und sie bei der „angehängten" untergebracht, zu der
schliesslich doch auch — wie es Schiller selbst gezeigt hat — das
Erhabene zu rechnen ist. Schillers Begriffsbestimmungen hatten
das „bedeutungslose" Schöne von vornherein aus der Welt ge-
schafft: die „Freiheit in der Erscheinung", die er auch als „Ver-
nuiiftähnlichkeit" bezeichnete, Hess die Selbstbestimmung aus jeg-
licher Gestalt des Schönen uns „zurückstrahlen". Hier sieht man
vielleicht am einfachsten, wie alle die heutigen Theorien der „Ein-
fühlung" nur die mühseligen Versuche sind, mit den Mittelchen
der empirischen Psychologie die Kantisch-Schillersche Idee dem
alltäglichen Bewusstseiu mundgerecht zu machen.
In der That hatte Schiller in der Idee der Selbstbestimmung
das höhere Prinzip gefunden, dem sich der moralische und der
ästhetische Wert gleichmässig unterordneten. Dass auch der lo-
gische Wert, die Wahrheit, in dieselbe Ordnung gehört, berührte
ei- nur gelegentlich: aus der Gesamtheit seiner Interessen ist es
zu verstehen, dass er das Hauptgewicht auf die Koordination des
moralischen und des ästhetischen Wertes legte. Diese Koordination
aber wurde selbstverständlich zu einer Wechselwirkung: wie das
Schöne sich in der Bedeutsamkeit vollendet, mit der die sittliche
Bestimmung des Menschen als frei gestaltete Form in die sinnliche
Erscheinung tritt, so kann zwar die Ei'habeuheit der Pflichterfül-
lung in ihrem Triumphe über die sinnliche Neigung moralisch
Scliillers transscendentaler Idealismus. 409
nicht überboten werden, aber es giebt ein „ästhetisches Übertreffen
der Pflicht" in der edlen Gesinnung.
Diese Theorie der „schönen Seele" steht nun wieder an sich,
wie es Schiller selbst sehr richtig hervorgehoben hat, in keinem
Widerspruch mit der Kantischen Ethik; aber sie enthält eine
anders gerichtete Anwendung ihrer Prinzipien und tritt deshalb in
Gegensatz zu derjenigen, die Kant seinem eigenen Wesen gemäss
ausgeführt hatte. Das Verhältnis der beiden im Menschen ver-
knüpften Welten, der sinnlichen und der übersinnlichen, zeigt bei
Kant wie bei Piaton ein doppeltes Gesicht: es besteht zwischen
ihnen einerseits der notwendige Gegensatz, ohne den die Norm
und der Imperativ gegenüber der gegebenen Wirklichkeit ihren
Sinn verlieren würden, und andererseits die Zusammengehörigkeit,
vermöge deren allein auf eine, wie auch immer beschränkte Ver-
wirklichuug der Norm im Wirklichen zu rechnen ist. Die negative
Seite dieses Verhältnisses hat Kant, zumal iu der eigentlichen
Moral, mit der Rigorosität betont, die Schillers Widerspruch und
Spott hervorrief; aber auch Kaut hat in seinen grossen Gesamt-
ansichten des Lebens die schliessliche Gestaltung der Sinnenwelt
zur Verwirklichung der Freiheit deutlich gezeichnet. Scliiller aber
hat sich zu der Notwendigkeit des Gegensatzes bedingungslos für
alle Fälle bekannt, in denen das höhere Ziel seiner ästhetischen
Ausgleichung noch nicht erreicht ist.
Auch diese bekannteste Differenz zwischen dem Dichter und
dem Philosophen ist also an sich nur von gradueller und sekun-
därer Bedeutung, indem sie sich erst auf dem Boden einer prin-
zipiellen (jemeiusarakeit entwickelt. Aber iu den Argumenten, mit
denen Schiller dabei seine Stellung verteidigt, kommen Motive zum
Wort, in denen sich wiederum leise Antriebe tieferer Abspaltung
ankündigen. Es handelt sich um deu Wert der Legalität. Schiller
macht darauf aufmerksam, dass eine dem Sitteugesetz konforme
Handlung, die nur als eine schöne Wirkung einer glücklichen Natur
anzusehen ist, zwar vor dem Richterstuhl der kritischen Moral
sittlich indifferent bleibt, darum aber doch ihren positiven Wert
nicht etwa im gemein utilistischem. Sinne, sondern unter dem Ge-
sichtspunkte behält, dass damit die Verwirklichung des Sittenge-
botes in dem Zusammenhange des gesellschaftlichen Lebens er-
reicht ist. Diese objektive Realisierung des Sittengesetzes gilt
also bereits als ein eigener Wert neben der subjektiven Grund-
KantBtudien X, 27
4lO W. Windelband,
bestimiimng-, dass nichts gut sei als der gute Wille. Indem
Schiller hier die erzieherische Bedeutung der ästhetischen Ver-
edlung der Empfindungen im Vernunftinteresse der Gesamtheit
hervorhebt, bereitet er die Auf fassuugs weise vor, die in Hegels
Unterscheidung der subjektiven Moralität von der objektiven „Sitt-
lichkeit" ihr letztes Wort gesprochen hat.
Damit hängt noch ein Anderes zusammen. Das Ideal der
schönen Seele ist schliesslich doch der erste Protest gegen die
Maximenhaftigkeit der Kantischen Moral, für die alles Einzelne
seinen ethischen Wert nur durch die Übereinstimmung mit einem
allgemeinen Gesetze erhalten sollte. Je mehr die ethische Billigung
mit der ästhetischen verschmilzt, um so mehr nimmt sie — nach
den Prinzipien der Kritik der Urteilskraft — den Charakter des
Einzelurteils an, dessen Wertungsgrund nicht mehr in einem Be-
griffe zu suchen ist. Und so wächst hier wieder die Urmacht der
Persönhchkeit heran, deren ethischen Wert Kant zwar im Allge-
meinen auf die höchste Höhe gehoben, deren individueller Ge-
staltung er aber in seiner Lehre nicht hatte gerecht werden
können.
Alle diese grossen Fragen über die Verhältnisse der Kultur-
werte zu einander kommen nun natürlich auch bei Schiller in den
lebendigsten Fluss, wenn sie unter die geschichtsphilosophische
Betrachtung gestellt werden, deren eigenste Aufgabe ja gerade die
Beantwortung dieser Fragen ist. Hier kommen deshalb, wenn
man Schillers Verhältnis zu Kaut ins Auge fasst, alle die Diffe-
i-enzen zu Tage, die bisher im Einzelnen betrachtet wurden. Wäh-
rend der Königsberger Philosoph den Sinn der Geschichte in der
Herbeiführung der besten Staatsverfassung sieht, hat der Dichter
das ästhetische Leben in den Mittelpunkt der historischen Be-
wegung gestellt. Dem Historiker Schiller, dem die Universalge-
schichte schliesslich doch wesentlich Kulturgeschichte war, ist die
Gestaltung eines Reichs vollkommener Bildung, der „ästhetische
Staat", das Beste, was von der Erziehung der Menschheit zu
hoffen ist.
Allein so weit hier die sachUchen Bestimmungen bei Kant
und bei Schiller aus einander gehen mögen, so tief bleibt die Ver-
wandtschaft im eigentlichen philosophischen Prinzip. Das kommt
am besten bei den Fragen nach dem Anfang der Geschichte, nach
Schillers transscendentaler Idealismus. 411
dem Verhältnis der historischen Beweg-img zu ihren natürlichen
Beding-ungen heraus. Für Schiller wie für Kant ist die Geschichte
keine Notwendigkeit natürlicher Entwickeluug: sie ist das Werk
der menschlichen Gattung, ihre That der Freiheit, ihre Selbstbe-
stimmung zur Erfüllung ihrer Aufgabe. Das ist die letzte und
höchste Gesinnungsgemeiuschaft beider Denker im transscendentalen
Idealismus.
27*
Xant und Schiller.
J)er J)enker stieg in dunkle liefen,
Er Hess der €rde grüne Pracht,
getreu den geistern, die ihn riefen,
Stieg er hinunter in die Jfacht.
€s schwand das Xeben, das vertraute,
€s blich des Fimmels blauer Schild,
J)och seiner ^eldenseele graute
jYicht vor der furcht J/tedusenbild.
J)ort wo die letzten Quellen rauschen,
J)raus des €rkennens Strom sich drang,
J)ort stand er still in ernstem Xauschen,
€ntzückt von seinem Wogengang.
Und wie sein Strahlenaug ihm brannte
Statt einer JImpel mattem ^lick.
So glänzt es ihm, da er sich wandte
Jn der €rscheinung Sand zurück.
Und wieder wölbte sich der ^ogen
Des Fimmels über seinem J(aupt,
Und leuchtend kamen hergezogen
J)ie Sterne, denen er geglaubt.
Dann kündet er zur rechten Stunde
Was er geschaut am heiigen Ort:
lief sinnig von des Weisen jYtunde
pel das gedankenschwere Wort.
Und als ihm will den Scheitel beugen
Die 3eit, die jede ){ra}t verheert,
Do sendet 3eus ihm einen beugen,
Der seines Werkes Sinn bewährt:
Den JIdler, der in starken fangen
Des Qottes Donnerkeile hält.
Von des Olympos sei' gen Rängen
Den Boten an die dunkle Welt.
jYtit Schwingen, stäten und behenden.
Schwebt über ihm der stolze Jlar,
Jim schroffen Sturz von felsenwänden
Sein Schatten wandelt wunderbar.
Jhm bangt nicht vor den dunklen Schlüjten,
Jhm schwindelt nicht in Sonnenhöhn,
J)ie Wolken sieht er über (prüften
T)er Ihäler wogen und verwehn; ~
J)er Schwere freiester ßesieger,
J)es j7thers königlicher Qeisf,
J)er starke, nie erlahmte f lieger,
J)er jauchzend über'm JJbgrund kreist.
Tim Klein.
Mitteilung: t)ie Generalversammlung der „Kantgesellschaft", welche
am 2?. April stattgefunden hat, hat beschlossen, den Preis für die Lösung
der Preisaufgabe: ,, Kants Begriff der Erkenntnis, verglichen mit dem des
Aristoteles" von 500 M. auf 600 M. zu erhöhen und einen II. Preis von
400 M. auszusetzen.
Hofbuchdiuckerel C. A. Eaemmerer & Co , Halle a. S.
Karl Rosenkranz.
Kaiitstudieii X.
Immanuel Kant,
seine geographischen und anthropologischen Arbeiten.
Von G. Gerland.
[Fortsetzung aus X. 1/2.]
Fünfte Vorlesung-.
Naiurgeschichte des Himmels.
Kant's Naturgeschichte des Himmels ist die berühmteste
seiner naturgeschichtlichen Arbeiten. Die kleine Schrift ist aber
nicht bloss naturwissenschaftlich, sie ist in jeder Hinsicht so
merkwürdig, so lehrreich für die ganze Eutwickelung und Art
Kant's, dass wir sie besonders eingehend behandeln müssen.
Nun würde ich gern zu Ihnen sagen: „Sie alle kennen das
Werk, sei es aus eigener Lektüre, sei es aus eingehender littera-
rischer Darlegung, so dass wir gleich zu seiner Kritik übergehen
dürfen. Allein das kleine Büchlein ist, und eben wegen seiner
Berühmtheit, mehr in Eiuzelnheiten, als im Ganzen, in seinem
ganzen Wesen und Inhalt betrachtet worden. Und doch ist diese
Gesamtbetrachtung zu richtiger Würdigung des Buches und seiner
litteraturgeschichtlichen Schicksale durchaus notwendig.
Der Titel lautet: „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des
Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ur-
sprünge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen
abgehandelt", Königsberg und Leipzig, bei Joh. Friedr. Petersen 1755.
Gleich hier ist zu betonen, dass das Werk anonym erschien, dass
auch die Widmung an Friedrich den Grossen nur unterschrieben
ist „Ew. König. Majestät allerunterthänigster Knecht, der Ver-
fasser", dass Kant's Name im ganzen Buch nicht vorkommt. Das
Werk hatte dann ferner, wie Borowski^) erzählt, „das besondere
Schicksal, weder vor die Augen des Pubhkums noch des Königs
1) Immanuel Kant von Alfons Hoffmann (Teil II, Abdruck der „Dar-
stellung" etc. von Borowski) S. 170.
Kantatudiea X. 28
418 G. Gerland,
Friedrich II. zu kommen", weil^) „der Verleger des Werkes wäh-
rend des Abdrucks desselben fallierte; es kam nicht an den König,
es kam — nicht einmal auf die Messe, weil das ganze Waaren-
lager des Verlegers Petersen gerichtlich versiegelt war." Zwar
wurde das Werkchen bald wieder frei. Aber obwohl es von den
„Hamburger freien Urteilen und Nachrichten" schon 1755, nicht
erst 1758, wie Borowski'^) angiebt — „allen denen, welche Ge-
danken von der Art heben und beurteilen können" — empfohlen
war; obwohl es 1756 in den Königsberger Nachrichten als ein
Werk Kant's (also nicht mehr anonym) zum Kauf ausgeboten
wurde, 3) so blieb das Buch doch so unbekannt, dass Lambert, der
1761 seine „kosmologischen Briefe" herausgab, es im November
1765 noch nicht gesehen hatte.*) Dr. G. H. Schöne sagt freilich,
dass Diderot „Encyclopedie, lettre K", Kant erwähne. Da nun
der neunte Band der Encyklopädie, den Buchstaben K enthaltend,
(In — Mem.) in 1. Auflage zu Neufchatel 1765, der ganz ent-
sprechende neunte Band der folgenden Ausgabe zu Livorno 1778
erschienen ist, so wäre diese Erwähnung von grossem Inter-
esse für die Geschichte des Buches. Allein Schöne's Angabe
beruht auf einem Irrtum: einen Artikel „Kant" — und als
solchen müsste man doch Diderot's Erwähnung denken —
bringt keine der Ausgaben (nur eine Ortschaft Kant wird er-
wähnt) und ebensowenig der dritte den Buchstaben K enthal-
tende Supplementbaud, der zu Paris 1777 herauskam. Im Jahre
1777 wird die „Naturgeschichte des Himmels" in dem damals in
Deutschland verbreitetsten populär-astronomischen Werk, in J. G.
Bode's „Anleitung zur Kenntnis des gestirnten Himmels", er-
wähnt, s) zuerst in der S.Auflage des Buches, nach Schöne;^) aber
noch in der 5. Auflage, 1788 (S. 637), wird Kant nur im Anhang
an Lambert genannt und zwar mit derselben allgemeinen wohl-
wollenden Empfehlung, wie sie die Hamburger freien Urteile 1755
gebracht hatten. Bode aber war ein Hamburger. Erst in der
7. Auflage der „Anleitung", 1801, steht Kant vor dem inzwischen
verstorbenen Lambert; doch bleibt es auch hier bei ganz allge-
1) Ebendas. S. 269.
2) Bei Hoffmann S. 170.
3) J. Rahts, Kant, Akad.-Ansg. 1, 545.
4) Ebendas. Bd. 10, Brief 31, S, 48 f.
^) Ostpreuss. Monatsschr. 33, 257.
6) Ebendas.
Immanuel Kant, seine geograpli. und antliropoloff. Arbeiten. 419
meinen Lobeserhebiing-en : wirklich benutzt, eigenen Studien zu
Grunde gelegt hat Bode die Naturgeschichte des Himmels nirgends.
Dagegen schreibt Herder, der 1762-64 Kaufs Zuhörer war, am
30. Oktober 1772 an Lavater: i) „von Kaut, der mein Freund und
Lehrer ist, dessen alle Lieblingsmeinuugen ich nicht bloss so oft
gehört und mich mit ihm besprochen, sondern der mir auch seine
Träume bogenweise überscliickt hat etc., scheinen Sie sein erstes,
recht Jünglingsbuch voll Ihrer" — Lavaters ! — „Ideen nicht zu
kennen. Es ist ohne Namen und heisst: „Allgemeine Theorie des
Himmels", wo Sie sogar Ihre Mittelsonne finden, die auch ein
Engländer ordentlich astronomisch behauptet hat."' Doch bedauert
auch Herder im 1. Kapitel der „Ideen" 1784, dass die Schrift
„unbekannter geblieben ist, als ihr Inhalt verdiente".
Kant hat einen Teil der Naturgeschichte des Himmels später
neu überarbeitet und an einer freilich sehr merkwürdigen Stelle
seine Werke benutzt: in der 1763 veröffentlichten Abhandlung
„Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des
Daseins Gottes", in deren Vorrede er in einer Fussuote auf Lara-
bert's Übereinstimmungen mit seinem Werke hinwies und Lambert
dadurch auf letzteres aufmerksam machte. Die siebente Betracht-
ung des zweiten Teils der Abhandlung aus 1763 umfasst die Kos-
mogonie und in Bezug auf diese sagt Kant in der Vorrede:-) „es
könnte scheinen, eine Verletzung der Einheit, die man bei der
Betrachtung seines Gegenstandes vor Augen haben muss, zu sein,
dass hin und wieder ziemlich ausführliche physische Erläuterungen
vorkommen; allein da meine Absicht in diesen Fällen vornehmlich
auf die Methode, vermittelst der Naturwissenschaft zur Erkenntnis
Gottes hinaufzusteigen, gerichtet ist, so habe ich diesen Zweck
ohne dergleichen Beispiele nicht wohl erreichen können. Die
siebente Betrachtung der zweiten Abteilung bedarf desfalls etwas
mehr Nachsicht, vornehmlich da ihr Inhalt aus einem Buche,
welches ich ehedem ohne Nennung meines Namens herausgab, ge-
zogen worden, wo hiervon ausführlicher, obzwar in Verknüpfung
mit verschiedenen etwas gewagten Hypothesen, gehandelt wird.
Die Verwandtschaft indessen, die zum mindesten die erlaubte Frei-
heit, sich an solche Erklärungen zu wagen, mit meiner Haupt-
absicht hat, imgleichen der Wunsch, einiges an dieser Hypothese
1) Aus Herders Naclilass, herausgeg. von H. Düntzer und F. G.
V. Herder, 2. Bd., S. 24 f.
2) Hartenstein 2, 112 f. — Akad.-Ausg. 2, 68 f.
28*
420 Gt. Gerland,
von Kennern beurteilt zu sehen, haben veranlasst, diese Betrach-
tung einzumischen, die vielleicht zu kurz ist, um alle Gründe der-
selben zu verstehen, oder auch zu weitläufig- für diejenigen, die
hier nichts wie Metaphysik anzutreffen vermuten und von denen
sie füglich kann überschlagen werden." In jener Fussnote sagt
auch er, dass die Naturgeschichte des Himmels wenig bekannt
geworden, auch nicht zur Kenntnis Lambert's gekommen sei, dessen
Theorie und Gedanken so viel Übereinstimmung mit seiner, Kant's,
„Theorie des Himmels" zeige. — Eine Neubearbeitung des ganzen
Werkes unternahm er nicht; für ihn war, was er mit dem Buch
gewollt hatte, erreicht und damit die Sache abgethan. Seine
Thätigkeit gehörte nun einem anderen Feld zu. Doch behielt er für
die „Naturgeschichte des Himmels" immer lebhaftes Interesse.
So gestattete er dem Magister J. Fr. Gensichen 1791, einen Aus-
zug aus derselben bis zum Ende des 5. Hauptstückes des 2. Teiles
zu machen, der als Anhang zu Sommer's Übersetzung von Will.
Herschel's Abhandlungen über den Bau des Himmels erschien.
Kant fügt dem Auszug vier Anmerkungen bei, welche zunächst
seine Priorität Lambert gegenüber feststellen und ferner einige
Bestätigungen seiner Theorie hervorheben, welche sie durch die
späteren Forschungen Herschel's u. A. erhalten hatten. Diese An-
merkungen sowie einige von Kant herrührende Textänderungen giebt
J. Rahts in der Akademie-Ausgabe, i) Eine Reihe weiterer Aus-
gaben der Naturgeschichte des Himmels sind nur Textabdrücke,
die nicht von Kant herrühren.
Das Buch ist nicht durch sich selbst, sondern erst durch den
ausgebreiteten Ruhm seines Verfassers bekannter, erst durch den
sachkundigen Rückblick des 19. Jahrhunderts berühmt geworden,
fast so berühmt, wie die Kritik der reinen Vernunft selbst. Es
ist ein merkwürdiges Buch; aber ein epochemachendes oder gar
grundlegendes Werk ist es weder im 18. noch im 19. Jahrundert
geworden. Die Behauptung Kuuo Fischer's und Anderer, Kant ,
sei durch seine Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des ■
Himmels „der Begründer der modernen Kosmogonie" geworden, |
ist eine unhistorische und falsche Übertreibung. Sie würde be-
rechtigt sein, wenn Kant's Büchlein das erste in seiner
Art gewesen wäre, wenn aus ihm in direktem historischem
Zusammenhang sich unsere heutige Kosmogonie wenigstens in
1) Vergl. das. 1, 546 und v. Oettingen's Ausgabe S, 157.
Immanuel Kant, seine geograph, und anthropolog. Arbeiten. 421
ihren Gruiidzügen entwickelt hätte; und nichts ist weniger der
Fall, trotz mancher Zusammenklänge der Kantischeu mit unseren
heutigen Auffassungen. Die Begründer dieser letzteren sind New-
ton und Laplace ; ihrem ganzen Wesen nach konnte Kant's Natur-
geschichte des Himmels eine solche Bedeutung nicht erlangen.
Das muss bewiesen werden.
Zunächst ist folgendes hervorzuheben. In der Akademie-
Ausgabe der Naturgeschichte des Himmels sind die von Kant her-
rührenden Sperrungen sehr mit Recht wiedergegeben, Kant's
Schreibweise aber, sein Styl, seine Interpunktion insofern ver-
ändert, als sie öfters in eine korrektere und modernere Form
übergeführt, manche Undeutlichkeiten und Fehler verbessert sind.
Allein für das Verständuis der sachlichen und namentlich der
litterargeschichtlicheu Bedeutung des Buches sind diese Eigen-
heiten seiner äusseren Form von grosser Wichtigkeit, ja geradezu
unentbehrlich. Sie sind bewahrt in der bei Wilh. Engelmann
1898 erschienenen Ausgabe der Naturgeschichte und Theorie des
Himmels von A. J. v. Öttingen, i) welche streng die Originalaus-
gabe (und deren Seitenzahl) wiedergiebt. Auch im Folgenden sind
alle wörtlich angeführten Stellen der Originalausgabe entnommen,
mit genauer Wiedergabe ihrer Sprech- und Schreibweise.
Gleich die Vorrede ist für unsere Betrachtung wichtig. „Ich
habe," so beginnt Kant, „einen Vorwurf gewählet, welcher sowohl
von Seiten seiner inneren Schwierigkeit, als auch in Ansehung
der Religion einen grossen Teil der Leser gleich anfänglich mit
einem nachtheiligen Vorurtheile einzunehmen vermögend ist. Das
systematische, welches die grossen Glieder der Schöpfung in dem
ganzen Umfange der Unendlichkeit verbindet, zu entdecken, die
Bildung der Weltkörper selber und den Ursprung ihrer Bewegungen
aus dem ersten Zustand der Natur durch mechanische Gesetze
herzuleiten: solche Einsichten scheinen sehr weit die Kräfte der
menschlichen Vernunft zu überschreiten. Von der anderen Seite
drohet die Religion mit einer feyerlichen Anklage über die Ver-
wegenheit, da man der sich selbst überlassenen Natur solche
1) Oswald's Klassiker der exakten Wissenschaften No. 12. Leipzig,
Engelmann 1898. Die ebenda unter dieser Nummer 1890 erschienene Aus-
gabe von H. Ebert legt die „vierte in Zeitz 1808 erschienene Auflage"
zu Grunde. Bei v. Öttingen finden sich einzelne unbedeutende Abweich-
ungen von Kant's Schreibung; ausserdem ist seine Ausgabe mit lateinischen
Lettern gedruckt, Kant's Originalausgabe mit deutschen.
422 G. Gerland,
E'olgen beyzumesseu sich erkühnen darf, darin man mit Recht die
unmittelbare Hand des höchsten Wesens g-ewahr wird, und be-
sorget in dem Vorwitz solcher Betrachtungen eine Schutzrede des
Gottesläugners anzutreffen." Doch geht er mit festen Schritten
vorwärts: „ich habe," sagt er, „nicht eher den Anschlag auf diese
Unternehmung gefasset, als bis ich mich in Ansehung der Pflichten
der Religion in Sicherheit gesehen habe." Und da er seine „Be-
mühungen von aller Sträflichkeit frey weiss", so hebt er selbst
die Einwände hervor, die man machen könnte: die Entkräftung
des Gottesbeweises, der sich auf die Schönheit, die Vollkommen-
heit, die Zweckmässigkeit des Weltgebäudes stützt; „Epikur lebt
mitten im Christenthume wieder auf und eine uuheilige Weltweisheit
tritt den Glauben mit Füssen, welcher ihr ein helles Licht darreichet,
sie zu erleuchten." Allein diesen Einwand und einige der da-
maligen seichten Beweisgründe für denselben weist er zurück:
denn „die nach ihren allgemeinsten Gesetzen sich bestimmende
Materie bringt durch ihr natürliches Betragen, . . ., durch eine
blinde Mechanick anständige Folgen hervor", die der Entwurf
einer höchsten Weisheit zu seyn scheinen. Und „wie wäre es
wohl möglich, dass Dinge von verschiedenen Naturen in Verbindung
mit einander so vortreffliche Übereinstimmungen und Schönheiten
zu bewircken trachten solten, sogar zu Zwecken solcher Dinge
die sich gewissermassen ausser dem Umfange der todten Materie
befinden, nemlich zum Nutzen der Menschen und Thiere, wenn sie
nicht einen gemeinschaftlichen Ursprung erkenneten, nämlich einen
unendlichen Verstand, in welchem aller Dinge wesentliche Be-
schaffenheiten beziehend entworfen worden". So kann er ruhig
aus der Weltmaterie „ein vollkommenes Chaos machen"; er sieht
„nach den ausgemachten Gesetzen der Attraktion den Stoff sich
bilden und durch die Zurückstossung ihre Bewegung modifizieren".
Er belehrt sich „ohne Beyhülfe willkührlicher Erdichtungen", „dass
eine solche Auswickelung der Natur nicht etwas unerhörtes an ihr ist,
sondern dass ihre wesentliche Bestrebung solche uothwendig mit sich
bringet und dass diese das herrlichste Zeugnis ihrer Abhängigkeit von
demjenigen Urwesen ist, welches sogar die Quelle der Wesen selber
und ihrer ersten Wirkungsgesetze in sich hat". „Es ist ein GOtt
eben deswegen, weil die Natur auch selbst im Chaos nicht
anders als regelmässig und ordentlich verfahren kann."
So bleiben also keine religiösen Bedenken; und die, welche
aus den inneren Schwierigkeiten seines Vorwurfes sich zu ergeben
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 423
scheinen, räumt er mit dem bekannten Satz hinweg: „Gebt mir
nur Materie, ich will euch eine Welt daraus bauen"; hierzu
genügen vollständig die beiden Kräfte der Anziehung und der Zu-
rückstossung. Dagegen ist man nicht im Stande zu sagen: „Gebt
mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Raupe
erzeuget werden könne"; denn die Entstehung des organischen
Lebens lässt sich aus mechanischen Gründen nicht kund thun.
Im weiteren Verlauf der Vorrede giebt Kant eine sehr aus-
führliche Inhaltsgabe des ersten Teils seines Werkes, die nichts
wesenthches unberührt lässt. „Der erste Theil," so sagt er, „gehet
mit einem neuen System des Weltgebäudes im Grossen um.
Herr Wright von Durham, dessen Abhandlung ich aus den
Hamburgischen freyen Urteilen vom Jahre 1751. habe kennen
lernen, hat mir zuerst Anlass gegeben, die Fixsterne nicht als ein
ohne sichtbare Ordnung zerstreutes Gewimmel, sondern als ein
System anzusehen, welches mit einem plauetischen die grösste
Ähnlichkeit hat, so dass, gleichwie in diesem die Planeten sich
einer gemeinschaftlichen Fläche sehr nahe befinden, also auch die
Fixsterne sich in ihren Lagen auf eine gewisse Fläche, die durch
den ganzen Himmel muss gezogen gedacht werden, so nahe als
möglich beziehen und durch ihre dichteste Häufung zu derselben
denjenigen lichten Streif darstellen, welcher die Milchstrasse ge-
nannt wdrd. Ich habe mich vergewissert, dass, weü diese von
unzähligen Sonnen erleuchtete Zone sehr genau die Richtung eines
grössten Zirkels hat, unsere Sonne sich dieser grossen Beziehungs-
fläche gleichfalls sehr nahe befinden müsse. Indem ich den Ur-
sachen dieser Bestimmung nachgegangen bin, habe ich sehr wahr-
scheinlich zu seyn befunden: dass die sogenannten Fixsterne . . .
w^ohl eigentlich langsam bewegte Wandelsterne einer höheren
Ordnung seyn könten." Nachdem zur Bestätigung eine Stelle aus
einer Schrift Bradley's i) „von der Bewegung der Fixsterne" an-
geführt ist, heisst es weiter: „Ich kan die Grenzen nicht genau
bestimmen, die zwischen dem System des Herrn Wright und dem
meinigen anzutreffen seyn, und in welchen Stücken ich seineu
Entwurf bloss nachgeahmet oder weiter ausgeführt habe. Indessen
bothen sich mir nach der Hand annehmungswürdige Gründe dar, es
auf der einen Seite beträchtlich zu erw^eitern. Ich betrachtete die
Art neblichter Sterne, deren Herr von Maupertuis in der Ab-
1) Philos. Transact. 1748, 39—41. Akad.-Ausg. I, S. 547.
424 G. Gerland,
handlang- von der Figur der Gestirne gedenket und die die
Figur von mehr oder weniger offenen Ellipsen vorstellen und
versicherte mich leicht, dass sie nichts anderes als eine Häufung
vieler Fixsterne seyn können. Die jederzeit abgemessene Rundung
dieser Figuren belehrte mich, dass hier ein unbegreiflich zahl-
reiches Sternenheer, und zwar um einen gemeinschafthchen
Mittelpunkt, müste geordnet seyn . . ., dass sie in dem System,
darin sie sich vereinigt befinden, vornemlich auf eine Fläche be-
schränkt seyn müssteu, weil sie nicht zirkelrunde, sondern ellip-
tische Figuren abbilden, und dass sie wegen ihres blassen Lichts
unbegreiflich weit von uns abstehen."
Im ersten mit einem Citat aus Pope eingeleiteten Teil
„Abriss einer systematischen Verfassung unter den Fixsternen,
imgleichen von der Vielheit solcher Fixsternsystemen" wird
dies zunächst weiter ausgeführt; als Ursache für die Beziehung
der Fixsterne auf eine gemeinschaftliche Fläche ergiebt sich erst-
lich die stetige Anziehung aller Sonnen auf alle Sonnen, durch
welche sie aber über kurz oder lang in einen Klumpen zusammen-
fallen müssteu, „wofern diesem Ruin nicht so wie bey den Kugeln
unseres planetischen Systems durch die den Mittelpunkt fliehende
Kräfte vorgebeugt worden" (S. 6). „So haben (S. 7) denn alle
Sonnen des Firmaments Umlaufsbewegungen, entweder um einen
allgemeinen Mittelpunkt oder um viele." Kant fährt fort: „man
kann sich aber allhier der Analogie bedienen, dessen, was bey
den Kreisläufen unserer Sonneuwelt bemerket wird; dass nemlich,
gleichwie eben dieselbe Ursache, die den Planeten die Centerflieh-
kraft, durch die sie ihre Umläufe verrichten, ertheilet hat, ihre
Laufkreise auch so gerichtet: dass sie sich alle auf eine Fläche
beziehen, also auch die Ursache, welche es auch immer seyn mag,
die den Sonnen der Oberwelt, als so viel Wandelsternen höherer
Weltordnungen die Kraft der Umwendung gegeben, ihre Kreise
zugleich so viel möglich auf eine Fläche gebracht, und die Ab-
weichungen von derselben einzuschränken bestrebt gewesen."
„Nach dieser Vorstellung kann man das System der Fix-
sterne einigermassen durch das planetische abschildern, wenn man
dieses unendlich vergrössert. " „Die Breite dieser erleuchteten
Zone" (S. 8, der Milchstrasse) stellt eine Art von Thierkreis vor,
in welchem die Sterne, die sich am wenigsten auf die Beziehungs-
fläche der Milchstrasse beziehen, zu beiden Seiten der letzteren
gesehen werden, weniger gehäuft; „es sind so zu sagen die
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 425
Cometeu unter den Sonuen" (S. 9). „Die Milchstrasse ist, so zu •
sagen (S. U), auch der Thierkreis neuer Sterne, welche fast in
keiner anderen Himmelsgegend, als in dieser wechselsweise sich
sehen lassen und verschwinden". „Da es Sterne sind, die in
sehr ablängen^) Kreisen um andere Fixsterne (S. 12) als Trabanten
um ihre Hauptplaneten laufen", so erfordert es die Analogie mit
unserem plauetischen Weltbau, in welchem nur die dem gemeinen
Plane der Bewegungen nahe Himmelskörper um sich laufende
Begleiter haben, dass auch nur die Sterne, die in der Milclistrasse
sind, um sich laufende Sonnen haben werden". Sie gehören also,
obwohl die Milchstrasse auch ihr Tierkreis ist, doch wohl nur als
Trabanten zu den seitwärts von der Milchstrasse zerstreuten
Sonnen; zu den (so zu sagen) Kometen unter den Sonnen. Kant
bespricht nun die schon in der Einleitung als selbständige Stern-
systeme aufgefassten, hier als unendlich entfernte Milchstrassen
bezeichneten elliptischen Nebelflecken, deren Deutung als sehr
ferne, erstaunlich grosse Einzelkörper (Maupertuis) er sehr mit
Recht abweist. Sie haben eine sehr nahe Beziehung auf den
Plan der Milchstrasse. Und nun schliesst er diese Betrachtungen
mit den Worten (S. 16f.): „Der Lehrbegriff, den wir vorgetragen
haben, eröfnet uns eine Aussicht in das unendliche Feld der
Schöpfung, und bietet eine Vorstellung von dem Werke GOttes dar,
die der Unendlichkeit des grossen Werkmeisters gemäss ist. Wenn
die Grösse eines planetischen Weltbaues, darin die Erde als ein
Sandkorn kaum bemerket wird, den Verstand in Verwunderung
setzt, mit welchem Erstaunen wird man entzücket, wenn man die
unendliche Menge Welten und Systemen ansiehet, die den Innbe-
griff der Milchstrasse erfüllen ; allein wie vermehrt sich dieses Er-
staunen, wenn mau gewahr wird, dass alle diese uuermesslichen
Sternordnungen wiederum die Einheit von einer Zahl machen,
deren Ende wir nicht wissen, und die vielleicht eben so wie jene
unbegreiflich gross, und doch wiederum noch die Einheit einer
neuen Zahlverbinduug ist . . . Es ist hie kein Ende, sondern ein
Abgrund einer wahren Unermesslichkeit, worinn alle Fähigkeit der
menschlichen Begriffe sinket, wenn sie gleich durch die Hülfe der
Zahlwissenschaft erhoben wird. Die Weisheit, die Güte, die
Macht, „die sich offenbaret hat, ist unendlich, und in eben den
Maasse fruchtbar und geschäftig; der Plan ihrer Offenbarung
muss daher eben wie sie unendlich und ohne Grenzen seyn."
1) Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch s. v.
426 G. Gerland,
Aber auch im Kleinereu bleibt noch manches zu entdecken.
„Sollte zwischen dem Saturn (S. 17 f.) . . . und dem am wenigsten
eccentrischen Cometen, der vielleicht von einer 10 und mehrmal
entlegeneren Entfernung zu uns herabsteigt, kein Planet mehr seyu,
dessen Bewegung der cometischen näher als jener käme? und selten
nicht noch andere mehr . . . durch eine Reihe von Zwischen-
gliedern, die Planeten nach und nach in Cometen verwandeln, und
die letztere Gattung mit der erstem zusammenhängen? Das
Gesetz, nach welchem die Eccentricität der Planetenkreise sich in
Gegenhaltung ihres Abstandes von der Sonne verhält, unterstützt
diese Vermuthung.^) Die Eccentricität in den Bewegungen der
Planeten nimmt mit derselben Abstände von der Sonne zu, und
die entfernten Planeten kommen dadurch der Bestimmung der
Cometen näher. Es ist also zu vermuten, dass es noch andere
Planeten über dem Saturn geben wird, welche noch eccentrischer,
und dadurch also jenen noch näher verwandt, vermittelst einer
beständigen Leiter die Planeten endlich zu Cometen machen" ;
„denn (S. 19) es ist gewiss, dass eben diese Eccentricität den
wesentlichen Unterschied zwischen den Cometen und Planeten
macht, und die Schweife und Duustkugelu derselben nur deren
Folge seyu".
Sechste Vorlesung.
Naturgeschichte des Himmels. (Fortsetzung.)
Der zweite Teil der Naturgeschichte des Himmels, auch
wieder mit einem Motto aus Pope überschrieben — das insofern
gut gewählt ist, als es mit Kaufs Ideen sehr nahe übereinstimmt
— handelt „von dem ersten Zustand der Natur, der Bildung der
Himmelskörper, den Ursachen ihrer Bewegung, und der systema-
tischen Beziehung derselben, sowohl in dem Planetengebäude in-
sonderheit, als auch in Ansehung der ganzen Schöpfung" ; das
erste Hauptstück „von dem Ursprünge des planetischen Weltbaues
überhaupt und den Ursachen ihrer Bewegungen" ; nach der Inhalts-
angabe des ganzen Werkes bringt es die „Gründe vor die Lehr-
verfassung eines mechanischen Ursprungs der Welt".
1) S. 19 spricht Kant von der „Abnahme der Eccentrizität der
über dem Saturn zunächst befindlichen Himmelskörper". Soll wohl heissen
Zunahme des Exe. sagt J. Rahts mit Recht, Akad.-Ausg. 1, 549.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 427
Die einheitlich gerichtete, zugleich wenig von einer Grund-
fläche abweichende Bewegung der Planeten und der Sonnendrehung
weist auf eine einheitliche „materialische" Ursache hin, durch
welche sie entstanden. Wie aber erklärt sich in einen „voll-
kommen leeren'' (Fussnote: wenn auch nicht im „allereigentlichsten
Sinne leeren", aber doch wirkungslosen) Räume „die Einträchtig-
keit in der Richtung und Stellung der planetischen Kreise?" (S. 24.)
Newton vermochte die Erklärung nicht zu geben und nahm daher
an, diese gleichmässige Bewegung der Planeten sei unmittelbar
gegeben, sei von Gott direkt augeordnet, i) Aber gerade diese
Bewegung beweist, dass anfänglich der Raum nicht leer, sondern
mit „genugsam vermögender Materie erfüllet gewesen seyn muss"
(26); die Anziehung hat „ihn gereinigt und alle ausgebreitete Ma-
terie „in besondere Klumpen versammlet", die „nunmehro mit der
einmal eingedrückten Bewegung ihre Umläufe in einem nicht
widerstrebenden Räume frey und unverändert fortsetzen". „Die
Gründe der zuerst angeführten Wahrscheinlichkeit erfordern
durchaus diesen Begriff; und weil zwischen beyden Fällen kein
dritter möglich ist; so kann dieser mit einer vorzüglichen Art des
Beyfalles, welcher ihn über die Scheinbarkeit einer Hypothese er-
hebt, angesehen werden" (S. 26). Und hier fährt nun Kant fort:
„man könnte, wenn man weitläufig seyn wollte, durch eine Reihe
aus einander gefolgerter Schlüsse, nach der Art einer mathema-
tischen Methode, mit allem Gepränge, die diese mit sich führet
und noch mit grösserem Schein, als ihr Aufzug in physischen Ma-
terien gemeinsam zu seyn pfleget, endlich auf den Entwurf selber
1) Newton Phil. nat. princ. Ed. tertia London 1726. lib. III Schol.
generale. Ed. 1871, S. 527). Et hi omnes motus reguläres originem non
habent ex causis mechanicis ; siquidem cometae in orbibus valde eccentricis
et in omnes coelorum partes libere feruntur. Quo motus genere cometae
per orbes planetarum celerrime et facillime transeunt, et in apheliis suis,
ubi tardiores sunt et diutius morantur, quam longissime distant ab invicem,
ut se mutuo quam minime trahant. Elegantissima haecce solis, planetarum
et cometarum compages non nisi consilio et dominio entis intelligentis et
potentis oriri potuit. Et si stellae fixae sunt centra similium systematum,
hacc omnia simili consilio constructa suberunt Unius dominio; praesertim
cum lux fixarum sit ejuxdem naturae ac lux solis, et systemata omnia
lucem in omnia invicem immittant. Et ne fixarum systemata per gravi-
tatem suam in se mutuo cadant, hie eadem immensam ab invicem dis-
tantiam posuerit. Hie omnia regit non ut anima mundi, sed ut universo-
rum dominus. Das Scholium generale veröffentlichte Newton erst in der
8. Ausgabe der principia.
428 G. Gerland,
kommen, den ich von dem Ursprünge des Weltgebäudes darlegen
werde; allein ich will meine Meinungen lieber in Gestalt einer
Hypothese vortragen und der Einsicht des Lesers es überlassen,
ihre Würdigkeit zu prüfen, als durch den Schein einer erschlichenen
Ueberführung ihre Gültigkeit verdächtig machen, und indem ich
die Unwissenden einnehme, den Beyfall der Kenner verlieren"
(26—27).
Im Anfang aller Dinge erfüllten die Materien des Sonnen-
systems, in ihren elementarischen Grundstoff aufgelöst, den
ganzen Raum des Weltgebäudes; es war der Zustand der Natur,
der auf das Nichts folgte; und diese „Natur, die unmittelbar mit
der Schöpfung gräuzete, war so roh, so ungebildet als möglich.
Allein auch in den wesentÜchen Eigenschaften der Elemente, die
das Chaos ausmachen, ist das Merkmal derjenigen Vollkommenheit
zu spüren, die sie von ihrem Ursprung her haben, indem ihr
Wesen aus der ewigen Idee des göttlichen Verstandes eine Folge
ist" (27). Die Elemente sind unendlich verschieden nach Art,
Dichtigkeit und Anziehungskraft. So bilden sich an den verschie-
denen Anziehungscentren Klumpen, „die nach Verrichtung ihrer
Bildungen (S. 29) durch die Gleichheit der Anziehung ruhig und
auf immer unbewegt seyn würden. Allein die Natur hat noch an-
dere Kräfte in Vorrath, welche sich vornehmlich dann äussern, wenn
die Materie in feine Teilchen aufgelöset ist, als wodurch selbige
einander zurückstossen und durch ihren Streit mit der Anziehung
diejenige Bewegung hervorbringen, die gleichsam ein dauerhaftes
Leben der Natur ist. Durch diese Zurückstossungskraft, die sich
in der Elasticität der Dünste . . . offenbaret und die ein unstrei-
tiges (30) Phänomenon der Natur ist, werden die zu ihren An-
ziehungspunkten sinkende Elemente durcheinander von der gerad-
linichten Bewegung seitwärts gelenket, und der senkrechte Fall
schlägt in Kreisbewegungen aus, die den Mittelpunkt der Senkung
umfassen." Gibt es also einen Punkt, wo die Anziehung stärker ist,
als überall sonst, so bildet sich daselbst ein Centralkörper. „Wenn die
Masse dieses Centralkörpers so weit angewachsen ist, dass die Ge-
schwindigkeit, womit er die Theüchen von grossen (31) Entfern-
ungen zu sich zieht, durch die schwachen Grade der Zurückstossung,
womit selbige einander hindern, seitwärts gebeuget in Seiten-
bewegungen ausschlaget, die den Centralkörper, vermittelst der
Centerfliehkraft, in einem Kreise zu umfassen im Stande seyn: so
erzeugen sie grosse Wirbel von Theüchen, deren jedes vor sich
Immanuei Kant, seine geogl*apli. und anthropolog. Arbeiten. 429
krumme Linien durcli die Zusammensetzung der anziehenden und
seitwärts gelenliten Umwendungsla-aft besclireibet; welche Art von
Kreisen alle einander durchschneiden, wozu ihnen ihre grosse Zer-
streuung in diesem Räume Platz lässt." Sie gleichen sich nach und
nach zu „horizontal d. i. parallel" um die Sonne als ihren Mittel-
punkt laufenden Zh'keln aus; „so dass endlich nur diejenige
Teilchen in dem Umfange des Raumes schweben bleiben, die
durch ihr Fallen eine Geschwindigkeit und durch die Wider-
stehung der anderen eine Richtung bekommen haben, dadurch sie
eine fr eye Zirkelbeweguug fortsetzen können". Damit „ist
der Streit (32) und der Zusammenlauf der Elemente gehoben, und
alles ist in dem Zustande der kleinsten Wechselwirkung", zu dem
ja eine Materie, die in streitenden Bewegungen begriffen ist, stets
kommt. „Es ist also klar (32), dass von der zerstreuten Menge der
Partikeln eine grosse Menge durch den Widerstand, dadurch sie
einander auf diesen Zustand zu bringen suchen, zu solcher Ge-
nauigkeit der Bestimmungen gelangen muss; obgleich eine noch
viel grössere Menge dazu nicht gelanget, und nur dazu dienet,
den Klumpen des Centralkörpers zu vermehren, in welchen sie
sinken, indem sie sich nicht in der Höhe, darin sie schweben, frey
erhalten können, sondern die Kreise der unteren durchkreutzen
und endlich durch deren Widerstand alle Bewegung verlieren.
Dieser Körper in dem Mittelpunkte der Attraction, der diesem zu-
folge das Hauptstück des planetischen Gebäudes durch die Menge
seiner versam mieten Materie worden ist, ist die Sonne, ob sie
gleich diejenige flammende Gluth alsdenn noch nicht hat, die nach
völlig vollendeter Bildung auf ihrer Oberfläche hervor bricht" (32).
Nach den Gesetzen der Centralbewegung aber müssen alle
Umläufe, „die gleichsam auf einer gemeinschaftlichen Achse ge-
schehen" (S. 33)1) ^ jj^it jem Plan ihrer &eise den Mittelpunkt der
Attraction durchschneiden". Dies ist aber nur bei einer der
Kreisebeueu (der Aequatorialebene) der Fall: „daher alle Materie von
beyden Seiten dieser in Gedanken gezogenen Achse nach dem-
jenigen Cirkel hineilet, der durch die Achse der Drehung gerade
in dem Mittelpunkte der gemeinschaftlichen Senkung gehet.
Welcher Zirkel der Plan der Beziehung aller herumschwebenden
Elemente ist, um welchen sie sich so sehr als möglich häufen,
1) Vgl. zu dieser im Original sehr verworrenen Stelle v. Oettingen's
Erläuterung S. 153 No. 9. Ohne Zweifel ist im Text, wie die Original-
ausgabe S. 33 lautet, „Achse der Drehung" von Kant geschrieben.
430 G. Gerland,
imd da^eö-en die von dieser Fläche entferueten Geg'enden leer
lassen". Also: wir sehen „einen Raum (34), der zwischen zwey
nicht weit von einander abstehenden Flächen, in dessen Mitte der
allgemeine Plan der Beziehung- sich befindet, begriffen ist, von
dem Mittelpunkt der Sonne an, in unbekannte Weiten ausgebreitet,
iu welcher alle begriffene Theilchen, jegliche nach Maassgebung ihrer
Höhe und der Attraction, die daselbst herrschet, abgemessene Zirkel-
bewegungen in freyen Umläufen verrichten". So würde alles ewig
bleiben, wenn nicht die Anziehung der Theilchen des Grundstoffes
zu wirken anfienge „und neue Bildungen, die der Saame zu Pla-
neten, welche entstehen sollen, seyn, dadurch veranlassete" (34).
Die so entstehenden Planeten, deren Ursprung „zugleich den Ur-
sprung der Bewegungen und die Stellung der Kreise iu eben
demselben Zeitpuucte darstellet" (35), setzen die Bewegungen der
Elemente, aus denen sie sich bildeten, „in eben dem Grad, nach
eben derselben Richtung" fort (35). Ihre ungefähr cirkelförmigeu
Bewegungen würden vollkommene Kreise sein, wenn ihre Elemente
aus der Nähe stammten und also der Unterschied ihrer Be-
wegungen gering wäre (36). Auch in der Stellung ihrer Bahnen
zur Grundebene treten Unregelmässigkeiten ein. Man darf „sich
nicht wundern, auch hier die grosseste Genauheit der Bestimmungen
so wenig, wie bey allen Dingen der Natur, anzutreffen, weil über-
haupt die Vielheit der Umstände, die an jeglicher Naturbeschaff eu-
heit Antheil nehmen, eine abgemessene Regelmässigkeit nicht
verstattet" (37).
Das zweyte Hauptstück handelt „von der verschiedenen
Dichtigkeit der Planeten und dem Verhältnisse ihrer Massen." Die ur-
sprünglich gleichmässig ausgebreiteten Elementarteilchen blieben
„durch ihr Niedersinken zur Sonne (38), in den Orten schweben,
wo ihre im Fallen verlangte Geschwindigkeit gerade die Gleichheit
gegen die Anziehung leistete und ihre Richtung so, wie sie bei
der Zirkelbeweguug seyn soll, senkrecht gegen den Zirkelstrahl
gebeuget worden". Natürlich sinken die schwereren Partikeln
tiefer, die leichteren werden früher abgelenkt, daher steht die
Dichtigkeit der Elemente in umgekehrten Verhältnis zu ihrer Ent-
fernung von der Sonne; Newton suchte mit Unrecht den Grund
auch hierfür „in der Anständigkeit der Wahl Gottes und in den
Bewegungsgründen seines Endzwecks"') (S. 40); die Sonne aber
1) Eine Stelle, welche den Worten Kant's genau entspricht, findet
sich nirgends bei Newton. Er sagt Princip. III, prop. 8, corol. 4 : Densiores
Immaniiel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 431
ist „leichterer Art" (42) als die Erde (ebenso die Erde im Ver-
hältnis zum Mond), weil der Centralkörper aus den verschiedensten
Partikeln zusammeug-ehäuft wird, bei denen die leichteren aber die
grössere Menge bilden, weil die schweren z. T. bei der Planeten-
bildung verwendet werden. Auch die Quantität der die Planeten
bildenden Materien wächst mit der Entfernung von der Sonne, da
sie selbständige Centren der Anziehung bilden. So stimmt alles
auf das vortrefflichste zusammen, „die Zulänglichkeit einer me-
chanischen Lehrverfassung, bei dem Ursprünge des Weltbaues und
der Himmelskörper zu bestätigen" (48). Zugleich folgt, dass die
„Dünnigkeit" der ürmaterie ausserordentlich gross war; sie musste
so gross wie möglich sein, um den Partikeln alle Freiheit der
Bewegung zu verstatten" (50). Kaut berechnet sie auf ein dreissig-
milliontel der Dichtigkeit unserer Luft (49). Zu allem dem stimmt
mit voller Bestätigungskraft der Umstand, dass nach Büffon die
„Dichtigkeiten der gesammten planetischen Materie und der Sonnen
ihre" einander sehr ähnlich sind; sie verhalten sich wie 640 zu
650 (51).
Das dritte Hauptstück „von der Eccentricität der Planeten-
kreise, und dem Ursprünge der Kometen" erklärt zunächst „das
vornehmste Unterscheidungszeichen der Cometen", ihre Excentrici-
tät, deren Folge auch die Atmosphären und Schweife sind (56),
und die überall gemässigt sein würde, wenn sie nur durch die
verschiedene Schnelligkeit der Kreisläufe entstände, welche die
Elementarteile bei der Bildung der Planeten mitbringen. Da aber
die Exceutricität mit der Sonnenweite und wohl auch durch die
igltur sunt planetae, qui sunt minores, caeteris paribus. Sic enim vis gra-
vitatis in eorum superficiebus ad aequalitatem magis accedit. Sed et den-
siores sunt planetae, caeteris paribus, qui sunt soli propiores; ut Jupiter
saturno, et terra jove. In diversis utique distantiis a sole collo-
candi erant planetae, ut quilibet pro gradu densitatis calore
solis majore vel minore frueretur. Aqua nostra, si terra locaretur
in orbe saturni, rigesceret, si in orbe mercurii in vapores statim abiret . . .
Dubium vero non est quin materia mercurii ad calorem accommodetur,
et propterea densior sit bac nostra ; cum materia omnis densior ad opera-
tiones naturales obeundas majorem calorem requirat. — leb habe das Citat
so weit ausgedehnt, weil auch sein Schluss für Kant einiges Interesse
bietet. Die oben gesperrte Stelle könnte vielleicht Kant's Worte veran-
lasst haben, noch mehr aber wohl die vorhin (S. 427) angeführte Stelle
des Scholium generale ; die elegantissima compages dort liegt wohl der
„Anständigkeit der Wahl GOttes" zu Grunde,
432 G. Gerland,
„Kleinigkeit der Massen" (Mars, S. 54) zunimmt, „so sind wir ge-
nötigt, die Hypothese (54) von der genauen Zirkeibewegung der
Partikeln des Grundstoffes dahin einzuschränken, dass, wie i) sie
in den der Sonne nahen Gegenden zwar dieser Genauheit der Be-
stimmung sehr nahe beykomuien, aber sie doch desto weiter davon ab-
weichen lassen, je entfernter diese elementarische Theilchen von der
Sonne geschwebet haben". Denn „je weiter die ausgebreiteten Theile
des Urstoffs von der Sonne entfernet sind, desto schwächer ist die
Kraft, die sie zum Sinken bringt: der Widerstand der unteren
Theile, die ihren Fall seitwärts beugen, und ihn nöthigen soll, seine
Richtung senkrecht von dem Zirkelstrahl anzustellen, vermindert
sich nach dem Maasse, als diese unter ihm wegsinken, um ent-
weder der Sonne sich einzuverleiben, oder in näheren Gegenden
Umläufe anzustellen. Die spezifisch'-^) vorzügliche Leichtigkeit
dieser höheren Materie verstattet ihnen nicht, die sinkende Be-
wegung, die der Grund von allem ist, mit dem Nachdrucke, welcher
erfordert wird, um die widerstehende Partikeln zum Weichen zu
bringen (55), anzustellen: und vielleicht, dass diese entfernete
Partikeln einander noch einschränken, um nach einer langen Pe-
riode diese Gleichförmigkeit endlich zu überkommen; so haben
sich unter ihnen schon kleine Massen gebildet, als Anfänge zu so
viel Himmelskörpern, welche, indem sie sich aus schwach be-
wegtem Stoffe sammeln, eine nur eccentrische Bewegung haben,
womit sie zur Sonne sinken, und unter Wegens mehr und mehr,
durch die Einverleibung schneller bewegten 3) Theile vom senk-
rechte"n Fall abgebeugt werden, endlich aber doch Cometen bleiben,
wenn jene Räume, in denen sie sich gebildet haben, durch
Niedersinken zur Sonne, oder durch Versammlung in besonderen
Klumpen, gereinigt und leer geworden. Dieses ist die Ursache
der mit den Entfernungen von der Sonne zunehmenden Eccentri-
citäten der Planeten und derjenigen Himmelskörper, die um des-
willen Cometen genannt werden, weil sie in dieser Eigenschaft die
1) Dieser Satz hat so wie ich ihn hier eitlere und wie ihn alle Aus-
gaben (auch die der Akad. 1, 279) bringen, keinen Sinn. Ohne Zweifel
ist das „wie" ein Schreibfehler Kants für wir und zu lesen: dass wir sie
in den der Sonne nahen Gegenden . . . beykommen, aber sie desto weiter
davon abweichen lassen, je entfernter u. s. w.
2) So die Ausgaben. Schreibfehler Kants für „die spezifische vor-
zügliche Leichtigkeit"?
3) Schreibfehler Kants für bewegter?
Immanuel Kant, seine geograpli. und anthropolog. Arbeiten. 433
erstere^) vorzüglicli übertreffen". Diese schwierig-e Stelle soll also
wohl heissen, dass die entfernteren Körper durch die bei ihnen
zunächst vorherrschende Anziehung-, welche erst in grösserer
Sonnennähe durch zurückstossende Partikeln seitliche Abbeugung
erfährt, nicht eine dem Kreis mehr genäherte, sondern eine mehr
gestreckte, also excentrische Bahn erhalten haben. Die grössere
Exceutrizität der Bahnen des Mars, des Merkurs ist durch die Nähe
der Jupiter- und der Sonnenmasse bedingt. Weil die Bildung
der Kometen in noch grösserer Sonnenferne geschah, sind ihre
Bahnen noch excentrischer und noch weniger an den Grundplan
gebunden. „Daher werden die Cometen mit aller Ungebundenheit
aus allen Gegenden zu uns herabkommen" (57) und wohl auch
„ihren Umlauf nach der entgegengesetzten Seite, nemlich von
Morgen gegen Abend anstellen" (58).
Die Massen der Kometen sind, bei der Zerstreuung und
Leichtigkeit ihrer Partikeln, bei der stetigen Anziehung des
Weltenstoffs durch die Sonne, wohl nur selten gross, auf keinen
Fall nehmen sie mit der Sonnenferne stetig an Masse zu. Auch
die geringe spezifische Dichtigkeit der Kometen ist nicht sowohl
Folge der einwirkenden Sonnenhitze, als vielmehr ihrer Bildung
aus den leichtesten Stoffteilchen in sehr grosser Sonnenferne.
Auch die Nordlichter können mit der Ausbreitung der come-
tischen Dünste und mit ihren Schweifen verglichen werden (60).
„Die feinsten Partikeln, die die Sonnen Wirkung aus der Oberfläche
der Erde zieht, häufen sich um einen von denen Polen, wenn die
Sonne den halben Zirkel ihres Laufes auf der entgegen gösetzten
Halbkugel verrichtet." Sie „vergüten den Bewohnern der Eiszone
die Abwesenheit des grossen Lichtes"; sie würden einen Dunst-
kreis mit Schweif bilden, „wenn die feinsten und flüchtigsten
Partikeln auf der Erde eben so häufig, als auf den Cometen an-
zutreffen wären" (61).
Das vierte Hauptstück, von dem Ursprünge der Monde und
den Bewegungen der Planeten um ihre Achse, lässt die Monde
aus den Massen des Grundstoffs, welche die Planeten bilden, ganz
ebenso entstehen, wie die Planeten aus Teilen des Grundstoffes
der Sonne (62). Die Rechtläufigkeit der Monde ist nicht eine
Folge des Zirkellaufs des Hauptplaneten, sondern seiner Anziehung.
„Alle Partikeln um den Planeten bewegen sich in gleicher Be-
1) Schreibfehler Kants für ersteren?
Kantstudien X. 29
4B4 G-. Gerland,
wegung mit ihm um die Sonne", jedoch mit verschiedener Ge-
schwindigkeit: die Attraktion des Planeten ahei- „nötigt die zur
8onne nähere Teilchen, die mit schnellerem Schwünge umlaufen,
schon von weitem die Richtung ihres Gleises zu verlassen und in
einer ablangen Ausschweifung sich über den Planeten zu erheben.
Diese, weil sie einen grösseren Grad der Geschwindigkeit, als der
Planet selber, haben, wenn sie durch dessen Anziehung (64) zum
Sinken gebracht werden, geben ihrem geradlinigtem Falle, und
auch dem Falle der übrigen, eine Abbeuguug von Abend gegen
Morgen, und es bedarf nur dieser geringen Lenkung, um zu ver-
ursachen, dass die Kreisbewegung, dahin der Fall, den die Attrac-
tion erregt, ausschlägt, vielmehr diese, als eine jede andere Rich-
tung, nehme. Aus diesem Grunde werden alle Monde in ihrer
Richtung, mit der Richtung des Umlaufs der Hauptplaneten über-
einstimmen." Kant „nimmt mit Vergnügen wahr, wie dieselbe An-
ziehung auch den Planeten selbst die Drehung um die Achse von
Abend gegen Morgen erteilt. „Die Partikeln des niedersinkenden
Grundstoffes (65) . . . fallen grössten Theils auf die Fläche des
Planeten und vermischen sich mit seinem Klumpen, weil sie die
abgemessene Grade nicht haben, sich frey schwebend in Zirkel-
bewegungen zu erhalten. Indem sie nun in den Zusammensatz
des Planeten kommen, so müssen sie, als Teile desselben, eben die-
selbe Umwendung nach eben derselben Richtung fortsetzen, die
sie hatten, ehe sie mit ihm vereiniget worden. Und weil über-
haupt aus dem vorigen zu ersehen, dass die Menge der Teilchen,
welche der Mangel an der erforderlichen Bewegung auf den (66)
Centralkörper niederstürzet, sehr weit die anderen übertreffen
müsse, welche die gehörige Grade der Geschwindigkeit haben er-
langen können; so begreifet man auch leicht, woher dieser in
seiner Axendrehung zwar bei weitem die Geschwindigkeit nicht
haben werde, der Schwere auf seiner Oberfläche mit der fliehen-
den Kraft das Gleichgewicht zu leisten, aber dennoch bey Planeten
von grosser Masse und weitem Abstände weit schneller, als bey
nahen und kleinen sein werde." Als Beispiel wird Jupiter angeführt;
seine rasche Bewegung bei seiner Grösse und die langsamere Um-
drehung des um so viel kleineren Mars dient zum Beweis, dass die
Achsendrehung nicht auf einer äusserlichen Ursache, sondern auf der
Wirkung der Anziehung Jupiters beruht, die er in Folge seiner Masse
auf die sinkenden Urstoffteilchen ausübt. Auch die Neigungen der Pla-
uetenachsen können durch ungleiche Verteilung der auf die Planeten-
Immanuel "Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 435
halbkugeln niedersinkenden Partikeln entstanden sein. Doch ist
dies nur eine Mutmassuug: Kant's wahre Meinung geht dahin,
dass in Folge der Verfestigung der Himmelskörper bei noch un-
gleicher Schwereverteiluug sich nahe dem Äquator, in Folge des
Aufsteigens der leichteren Stoffe, erst Hohlräume, dann Nieder-
senkungen und dadurch „aus dem waagerechten Zustand abge-
brochene Ungleichheiten" (71) bilden. Im Polargegendeu fehlen
dieselben; da aber die meisten über die gleiche Fläche hervor-
ragenden Massen „durch den Vorzug des Schwungs" sich dem
Aequatorialcirkel zu nähern streben, so wird hierdurch die ur-
sprünglich senkrechte Achse verschoben; daher ist die Achse
eines noch nicht ausgebildeten Himmelskörpers senkrecht, wie
beim Jupiter; er wird „den festen Ruhestand seiner Materien
einige Jahrhunderte (72) später, als andere Himmelskörper, über-
kommen." Kant selbst hebt hervor, dass sein System in diesem
Punkt noch unvollständig sei.
Das fünfte Hauptstück „von dem Ursprünge des Ringes des
Saturns, und Berechnung der täglichen Umdrehung dieses Planeten
aus den Verhältnissen desselben," erklärt zunächst den Ring des
Saturns aus der ursprünglich cometischen Natur dieses Planeten
(74), die derselbe nach Verminderung der Excentricität seiner
Bahn mit der nun gleichbleibenden Abkühlung immer mehr verlor.
Er war ursprünglich mit cometischen Dünsten, die nach und nach
ebenfalls in Folge der Abkühlung keine Schweife mehr bildeten,
ganz umgeben; in der gleichbleibend niederen Temperatur seiner
jetzigen Stellung am Himmel stiegen keine Dünste mehr aus ihm
hervor, die vorhandenen aber wurden durch die Umdrehung auf
„die fortgesetzte Aequatorsf lache" (77) beschränkt, wobei die hoch
aufgestiegenen sich durch das Uebermaass der Bewegung und die
Einwirkung der Sonnenstrahlen in den Weltenraum verflüchtigten,
die allzuniedrigen durch Mangel an genügend geschwinder Be-
wegung auf den zum Planeten gewordenen Cometen niederstürzten.
Und so sehen wir, zur Freude Kaut's, „das wuuderseltsame Phä-
nomeuon", „auf eine leichte von aller Hypothese befreyete mecha-
nische Art entstehen" (S. 78). Er fährt fort: „die Natur ist an
vortrefflichen Auswickelungen, in dem sich selbst gelassenen Zu-
stande ihrer Kräfte, sogar im Chaos fruchtbar, und die darauf
folgende Ausbildung bringet so herrliche Beziehungen und Ueber-
einstimmungen zum gemeinsamen Nutzen der Creatur mit sich,
dass sie sogar, in den ewigen und unwandelbaren (79) Gesetzen
29*
436 G. Gerland,
ihrer wesentlichen Eig-enschaften, dasjenige grosse Wesen mit ein-
stimmiger Gewissheit zu erkennen g-ebeu, in welchem sie, ver-
mittelst ihrer gemeinschaftlichen Abhängigkeit, sich zu einer ge-
sammten Harmonie vereinbaren. Saturn hat von seinem Ring
g-rosse Vortheile; er vermehret seinen Tag" u. s. w. „Aber,
muss man denn deswegen leugnen, dass die allgemeine Entwicke-
lung der Materie durch mechanische Gesetze, ohne andere, als
ihre allgemeine Bestimmungen, zu bedürfen, habe Beziehungen
hervorbringen können, die der vernünftigen Creatur Nutzen
schaffen? Alle Wesen hängen aus einer Ursache zusammen,
welche der Verstand GOttes ist; sie können dahero keine andere
Folgen nach sich ziehen, als solche, die eine Vorstellung der
Vollkommenheit in eben derselben göttlichen Idee mit sich führen."
Im Folgenden wird die Zeit der Achsendrehung des Saturn
aus den Verhältnissen seines Rings berechnet; daran schliesst sich
eine Berechnung der beiden Durchmesser des Saturn, des Jupiter
und endlich die Besprechung der verschiedenen Geschwindigkeiten
in einem einheitlichen Saturnring, sowie die Teilung desselben in
mehrere eben durch diese Verschiedenheiten, welche Teilung von
Bradley und Cassini aufgefunden war. Cassini hatte schon 1705
(90, Fussnote) den Ring für einen Schwärm kleiner Trabanten er-
klärt, die vom Saturn aus wie die Milchstrasse von der Erde aus
erschienen; „welcher Gedanke Platz finden kann, sagt Kant,
wenn man vor diese kleinen Trabanten die Dunstteilchen nimmt".
Nachdem dann noch untersucht ist, weshalb andere Planeten keine
Ringe haben und haben können, erhält das Kapitel einen seltsamen
Schluss. „Das Vergnügen, sagt Kant (S. 94), eine von den
seltensten Besonderheiten des Himmels, in dem ganzen Umfange
ihres Wesens und Erzeugung, begriffen zu haben, hat uns in eine
so weitläufige Abhandlung verwickelt. Lasset uns mit der Ver-
günstigung unserer gefälligen Leser dieselbe, wo es beliebig, bis
zur Ausschweiffung treiben, um nachdem wir uns auf eine ange-
nehme Art willkührlichen Meinungen, mit einer Art von Unge-
bundenheit, überlassen haben, mit desto mehrerer Behutsamkeit
und Sorgfalt, wiederum zu der Wahrheit zurückzukehren."
Und nun fingiert er einen Erdring, dessen Schönheit aber
„noch (95) nichts ist gegen die Bestätigung, die eine solche Hypo-
these aus der Urkunde der Schöpfungsgescliichte entlehnen kann,
und die vor diejenige keine geringe Empfehlung zum Beyfalle ist,
welche die Ehre der Offenbarung nicht zu entweihen, sondern zu
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 437
bestätigen g-laubeii, wenn sie sich ihrer bedienen, den Ausschweif-
ungen ihres Witzes dadurch ein Ansehen zu geben." „Dieser
Ring bestand ohne Zweifel aus wässrichten Dünsten ; er zerbricht,
und nun hat man den Vorteil „die Welt mit Ueberschwemnning zu
züchtigen" (96); der Regen enthielt zugleich „denjenigen langsamen
Gift", welcher alle Geschöpfe dem Tod näher brachte. Der Regenbogen
erinnerte freilich an jenen Wasserbogen, „das fürchterliche Werk-
zeug der göttlichen Rache"; aber durch die Versicherung des
versöhnten Himmels war er ja ein Gnadenzeichen. Die Aehnlich-
keit der Gestalt beider Bogen „köute eine solche Hypothese denen-
jenigen anpreisen, die der herrschenden Neigung ergeben sind,
die Wunder der Offenbarung mit den ordentlichen Naturgesetzen
in ein System zu bringen. Ich finde es vor ratsamer, den (97)
flüchtigen Beyfall, den solche Uebereinstimmuugen erwecken können,
dem wahren Vergnügen völlig aufzuopfern ; welches aus der Wahr-
nehmung des regelmässigen Zusammenhanges entspringet, wenn
physische Analogien einander zur Bezeichnung physischer Wahr-
heiten unterstützen."
Siebente Vorlesung.
Naturgeschichte des Himmels. (Fortsetzung.)
Nachdem im sechsten Hauptstück kurz vom Zodiakallicht ge-
handelt ist (97—100), berichtet das wichtige „Siebente Haupt-
stück von der Schöpfung im ganzen Umfange ihrer Unendlichkeit,
sowohl dem Räume, als der Zeit nach". „Das Weltgebäude (100)
setzet durch seine unermessliche Grösse und durch die unendliche
Mannigfaltigkeit und Schönheit, welche aus ihr^) von allen Seiten
hervorleuchtet, in ein stilles Erstaunen. W^enn die Vorstellung
aller dieser Vollkommenheit nun die Einbildungskraft rühret; so
nimmt den Verstand anderer Seits eine andere Art der Entzückung
ein, wenn er betrachtet, wie so viel Pracht, so viel Grösse, aus
einer einzigen allgemeinen Regel (101), mit einer ewigen und
richtigen Ordnung, abfliesset." Denn wie unser Planetensystem
ein aus kleineren Systemen (Saturn, Jupiter, Erde) gebildetes
grösseres System ist, so können wir eine grössere Masse, einen
„Körper von der ungemeinsten Attraction" als Ceutralpunkt aller
Eixsterne annehmen, und „das Heer der Gestirne macht (102),
1) Akad. Ausg. ihm; Kant schrieb wohl ihr, auf Grösse bezüglich.
438 G. Gerland,
durch seine beziehende Stellung gegen einen gemeinschaftlichen
Plan, eben sowohl ein System aus, als die Planeten unseres
Sonnenbaues um die Sonne (102). Die Milchstrasse ist der Zodia-
kus dieser höheren Weltordnungen, die von seiner Zone so wenig
als möglich, abweichen, und deren Streif immer von ihrem Lichte
erleuchtet ist, sowie der Thierkreiss der Planeten von dem Scheine
dieser Kugeln, obzwar nur in sehr wenig Punkten, hin und wieder
schimmert." ilber auch die Fixsternsysteme, die Milchstrassen,
können durch „die Anziehung (104), diese ebenso weit ausge-
dehnte Eigeusehaft der Materie, als die Coexistenz, welche den
Raum macht" ; ... „diese ursprüngliche ßeweguugsquelle, welche eher,
wie alle Bewegung ist: die keiner fremden Ursache bedarf, auch
durch keine Hindernis kan aufgehalten werden", „ein neues noch
grösseres System ausmachen" (104, Beginn der Seite). Die Schöpfung
selber darf „um sie (105) in einem Verhältnisse mit der Macht des un-
endlichen Wesens zu gedenken, gar keine Grenzen haben". „Die Ewig-
keit ist nicht hinlänglich (107), die Zeugnisse des höchsten Wesens zu
fassen, wo sie nicht mit der Unendlichkeit des Raumes verbunden
wird." Man „kann mit gutem Grunde setzen, dass die Anordnung
und Einrichtung der Weltgebäude, aus dem Vorrathe des erschaffenen
Naturstoffes, in einer Folge der Zeit, nach und nach geschehe;
allein, die Grundmaterie selber, deren Eigenschaften und Kräfte
allen Veränderungen zum Grunde liegen, ist eine unraittelbaie
Folge des göttlichen Daseyns: selbige muss also auf einmal so
reich, so vollständig seyn, dass die Eutwickelung ihrer Zusammen-
setzungen in dem Abflüsse der Ewigkeit sich über einen Plan
ausbreiten könne, der alles in sich schliesset, was seyn kann, der
kein Maass annimmt, kurz, der unendlich ist." Und so nimmt
Kant an, dass die gesammte Schöpfung ein einziges System ausmacht,
um den „allgemeinen (109) Mittelpunkt der Senkung der ganzen
Natur" her, „sowohl der gebildeten, als der rohen, in welchem
sich ohne Zweifel der Klumpen von der ausnehmendsten Attrac-
tion befindet, der in seine Anziehungssphäre alle Welten und Ord-
nungen, die die Zeit hervorgebracht hat, und die Ewigkeit hervor-
bringen wird, begreiffet". Um diesen Ort ist die dichteste
Häufung des Grundstoffes und „die daselbst geschehende vorzüg-
liche Bildung" dient „dem gesammten Universo . . . zum Unter-
stützungspunkt." „Es ist zwar (110) an dem, dass in einem un-
endlichen Räume kein Punkt eigentlich das Vorrecht haben kan,
der Mittelpunkt zu heissen; aber, vermittelst einer gewissen Ver-
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 439
hältuis,!) die sich auf die wesentliche Grade der Dichtigkeit des
Urstoffes gründet, nach welcher diese '-i) zugleich mit ihrer
Schöpfung an einem gewissen Orte dichter gehäuffet, und mit den
Weiten von demselben in der Zerstreuung zunimmt, kan ein
solcher Punkt das Vorrecht haben, der Mittelpunkt zu heissen,
und er wird es auch wirklich, durch die Bildung der Centralmasse,
von der kräftigsten Anziehung in demselben, zu dem sich alle üb-
rige, in Particularbildungeu begriffene elementarische Materie
senket (111), und dadurch, so weit sich auch die Auswickelung
der Natur erstrecken mag, in der unendlichen Sphäre der
Schöpfung, aus dem ganzen All, nur ein einziges System macht."
Von diesem Mittelpunkte aus fängt nun die Ausbildung der
Natur an, die sich durch den unendlichen Raum im Fortgang der
Ewigkeit immer mehr ausbreitet. Jeder endliche Periodus (112)
bildet eine endliche Sphäre aus, während das Übrige noch von
der Bildung je nach dem Abstände vom Centrum, dem wir nahe
sind, entfernt und noch in dunkler Nacht begraben ist. „Die
Schöpfung ist nicht das Werk von einem Augenblicke" (113);
„die Unendlichkeit (114) der künftigen Zeitfolge, womit die Ewig-
keit unerschöpflich ist, wird alle Räume der Gegenwart GOttes
ganz und gar beleben . . . und wenn man mit einer kühnen Vor-
stellung die ganze Ewigkeit, so zu sagen, in einem Begriffe zusammen-
fassen könnte; so würde mau den ganzen unendlichen Raum mit Welt-
orduungen angefüllet und die Schöpfung vollendet ansehen können".
Aber die Schöpfung, deren Teile nach und nach eine allgemeine Be-
ziehung auf das Centrum erlangen, „ist niemals vollendet. Sie
hat zwar einmal angefangen, aber sie wird niemals aufhören" (114).
Dies Alles ist freilich nicht streng erweislich, aber doch aus
der Analogie mit unserem Sonnensystem zu schÜessen. Und ge-
rade weil ,,die Schöpfung den Charakter der Beständigkeit nicht mit
sich führet" (116), wenn sie nicht Schwungkräfte besitzt, welche
der zur Zerstörung führenden Anziehung entgegenwirken, so ist
mau zu der Annahme eines allgemeinen Weltmittelpuukts genötigt,
„die^) . . . aus dem ganzen Inbegriff der Natur nur ein System
1) So die Originalausgabe. Akad.-Ausg. ohne Angabe des ursprüng-
lichen Textes und der Änderung: eines gewissen Verhältnisses, das . . .
nach welchem.
2) Kant bezog die Worte auf Dichtigkeit. Akad.-Ausg.: dieser . . .
mit seiner.
3) So die Orig.-Ausg., bezüglich auf „Annahme"; die Akad.-Ausg.
hat „der".
440 G. Gerland,
machet" (117). lu dem unendlichen Raum kann nur dann „ein
wahrer Mittel- und Senkungspuukt der g-esamniteu Natur" bestehen,
wenn der ursprüng-liche Grundstoff „nach einem Gesetze der zu-
nehmenden Zerstreuung, von diesem Punkt au, in alle fernen
Welten eingerichtet ist," Die Systeme in der Nähe des Welt-
centrums entwickeln sich rascher, als die ferneren.
Aber jedes „zur Vollkommenheit gebrachte Weltgebäude"
hat auch „den unvermeidlichen Hang zu seinem Untergang" (HS) ;
es entstehen und vergehen Welten, was indes nur den Reichtum
der Natur beweist, die im kleinen wie im grossen Vergänglichkeit
und Neuschöpfung zeigt. Nach einem Gesetze, „dessen Erweguug
der Theorie einen neuen Zug der Anständigkeit giebet" (122), tritt das
Ende wie der Anfang der Entwickelung zunächst bei den Weltkörperu
im Mittelpunkt des Weltalls ein ; von da breitet sich der Eintritt des
Chaos nach und nach in die weiteren Entfernungen aus, während
„auf der entgegengesetzten Grenze unablässig" neue Welten gebildet
werden. Da nun die Existenz einer gebildeten Welt länger als
ihre Bildung dauert, so nimmt der Umfang des Universums zu (123).
Und nun trägt Kant die Impakttheorie vor. „Kann man
nicht glauben," fragt er (S. 124), „die Natur, welche vermögend
war sich aus dem Chaos in eine regelmässige Ordnung und in ein
geschicktes System zu setzen, sey ebenfalls im Stande, aus dem
neuen Chaos, darinn sie die Verminderung ihrer Bewegungen
versenket hat, sich wiederum eben so leicht herzustellen und die
erste Ordnung zu erneuren?" Durch den Zusammensturz eines
Systems entsteht eine solche Hitze, dass alles wieder „in die
kleinsten Elemente aufgelöst" und in die weitesten Räume ausge-
dehnt wird, worauf dann das Spiel von neuen beginnt. „Wenn
wir denn diesen Phönix der Natur, der sich nur darum verbrennet,
um aus seiner Asche (126) wiederum verjüngt aufzuleben, durch
alle Unendlichkeit der Zeiten und Räume hindurch folgen: wenn
man siehet, wie sie sogar in der Gegend, da sie verfält und ver-
altet an neuen Auftritten unerschöpft und auf der anderen Grenze
der Schöpfung in dem Raum der ungebildeten rohen Materie mit
stetigen Schritten zur Ausdehnung des Plans der göttlichen Offen-
barung fortschreitet, um die Ewigkeit sowohl, als alle Räume mit
ihren Wundern zu füllen; so versenket sich der Geist, der alles
dieses überdencket, in ein tiefes Erstaunen; aber aunoch mit diesem
so grossen Gegenstande unzufrieden, dessen Vergänglichkeit die
Seele nicht gnugsam zufrieden stellen kann, wünschet er dasjenige
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 441
Weseu von nahem kennen zu lernen, dessen Verstand, dessen
Grösse die Quelle desjenigen Lichtes ist, das sich über die ge-
sammte Natur . . . ausbreitet. Mit welcher Art der Ehrfurcht
muss nicht die Seele so gar ihr eigen Wesen ansehen, wenn sie
betrachtet, dass sie noch alle diese Veränderungen überleben soll."
Der unsterbliche Geist, so „lehret uns die Offenbarung mit Ueber-
zeugung hoffen" (127) wird „von der Abhängigkeit der endlichen
Dinge befreyet, in der Gemeinschaft mit dem unendlichen Wesen,
den Geniiss der wahren Glückseligkeit finden. Die ganze Natur,
welche eine allgemeine harmonische Beziehung zu dem Wohlge-
fallen der Gottheit hat, kan diejenige vernünftige Creatur nicht
anders als mit immerwährender Zufriedenheit erfüllen, die sich
mit dieser Urquelle aller Vollkommenheit vereint befindet. Die
Natur von diesem Mittelpunkte aus gesehen, wird von allen Seiten
lauter Sicherheit, lauter Wohlanständigkeit zeigen".
In der Zugabe zum 7. Hauptstück „Allgemeine Theorie und
Geschichte der Sonne überhaupt" löst Kaut zunächst (129) die
Frage „woher wird der Mittelpunkt eines jeden Systemes von
einem flammenden Cörper eingenommen" ? dahin, dass die Ver-
mischung schwererer, dichterer und der leichtesten und flüchtigsten
Elemente dazu dient, „den Centralkörper zu der heftigsten Glut,
die auf seiner Oberfläche brennen und unterhalten werden soll,
geschickt zu machen" (131). Die Sonne ist nicht ein glühender,
sondern ein auf ihrer Oberfläche brennender, sonst Erdenähnlicher,
fester, gebirgiger Himmelskörper, der die zum Brand nötige Luft, teils
aus seiner Atmosphäre, teils aus lufthaltigen Höhlen und Stoffen (Sal-
peter) seines Inneren entnimmt. Diese Höhlen sind bei Erhärtung der
Sonnenoberfläche dadurch gebildet, dass die minder schweren „Par-
tikeln des elastischen Luft- oder Feuerelements" während die schwe-
reren Materien in dem flüssigen Sonneninneren sich zum Mittelpunkt
senken, „herausgejagt" (137, Note) werden und unter der inzwischen
fest gewordenen Sonnenrinde ungeheure Höhlen bilden. Ganz so
denkt sich Kant das Innere der Erde, wie wir bei seiner Schil-
derung der Erdbeben sehen werden. Die brennende Sonnenoberfläche
wird uns mit Lebhaftigkeit geschildert; als Centralsonne unseres
Milchstrassensystems wird der Sirius vermutet, lieber den Central-
körper des gesammten Universums wissen wir nichts und Kant
spottet über Wright, ^) „der mit einer fanatischen Begeisterung ein
1) Wrigt in der Orig.-Ausg.
442 G. Gerland,
kräftig-es Wesen von der Götterart mit geistlichen Auzieliuugs-
und Zurückstossungskräften, das, in einer unendlichen Sphäre um
sich wirksam, alle Tugend an sich zöge, die Laster aber, zurück-
triebe, in diesem glücklichen Orte, gleichsam auf einem Thron der
gesammten Natur, erhöhete" (140). Aber auch Kant giebt Mut-
massungen über „die verschiedenen Grade der Geisterwelt aus der
l)hysischen Beziehung ihrer Wohnplätze gegen den j\Iittelpunkt der
Schöpfung" (141). Er kommt dabei zu dem Resultat, dass im Centrum,
in dem dichtesten Stoffe, an dem Anfangsort der Schöpfung, die
stumpfsten, dagegen auf den Himmelskörpern von leichterer Materie,
also in weiteren Entfernungen vom Mittelpunkt, die feiner organi-
sierten denkenden Wesen leben.
Das achte Hauptstück (S. 144) bringt den „Allgemeinen Be-
weis von der Richtigkeit einer mechanischen Lehrverfassung, der
Einrichtung des Weltbaus überhaupt, insonderheit von der Gewiss-
heit des gegenwärtigen".
„Man kan (144) das Weltgebäude nicht ansehen, ohne die
trefflichste Anordnung in ihrer i) Einrichtung, und die sicheren
Merkmale der Hand GOttes, in der Vollkommenheit ihrer Bezieh-
ungen zu kennen." Diese können nicht auf Zufall beruhen: „es
muss die höchste Weisheit den Entwurf gemacht und eine unend-
liche Macht selbige'-^) ausgeführet haben, sonst wäre es unmöglich,
so viele in einen Zweck zusammen kommende Absichten, in der
Verfassung des Weltgebäudes, anzutreffen. Es kommt nur noch da-
rauf au, zu entscheiden, ob der Entwurf der Einrichtung des Uni-
versi von dem höchsten Verstände schon in die wesentliche Be-
stimmungen der ewigen Naturen gelegt, und in die allgemeine
Bewegungsgesetze gepflanzet sey, um sich aus ihnen . . . unge-
zwungen zu entwickeln; oder ob die allgemeine Eigenschaften
der Bestandtheilc der Welt die vöUige Unfähigkeit (145) zur
üebereinstimmung, und nicht die geringste Beziehung zur Ver-
bindung, haben, und durchaus einer fremden Hand bedurft haben,
um diejenige Einschränkung und Zusammeufügung zu überkommen,
welche Vollkommenheit und Schönheit an sich blicken lässt. Ein
fast allgemeines Vorurtheil hat die meisten Welt weisen, gegen die
Fähigkeit der Natur, etwas ordentliches durch ihre allgemeinen
Gesetze hervorzubringen, eingenommen, gleich als wenn es GOtt
die Regierung der Welt streitig machen hiesse, wenn man die
1) „seiner", Ak.-A. hier und in der folg. Zeile. 2) selbigen, Ak.-A.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 443
ursprüngliche Biklungen in den Naturkräften suchet, und als wenn
diese ein von der Gottheit unabhängiges Principium, und ein
ewiges blindes Schicksal, wäre". ^)
Hiergegen spricht Kant auf das schärfste. „Wenn die Naturen
der Dinge," sagt er S. 147, „durch die ewigen Gesetze ihrer Wesen,
nichts als Unordnung und Ungereimtheit zuwege bringen; so werden
sie eben dadurch den Charakter ihrer Unabhängigkeit von GOtt be-
weisen : und was vor einen Begriff wird man sich von einer Gottheit
machen können, welcher die allgemeinen Naturgesetze nur durch eine
Art von Zwange gehorchen, und an und vor sich dessen weisesten P^nt-
würfen widerstreiten?" Aber das Gegenteil zeigt sich im Univer-
sum: „die Natur, ihren allgemeinen Eigenschaften überlassen, ist
an lauter schönen und vollkommenen Früchten fruchtbar, welche
nicht allein an sich Uebereinstiramung und Treflichkeit zeigen,
sondern auch mit dem ganzen Umfange ihrer Wesen, mit dem
Nutzen der Menschen, und der Verherrlichung der göttlichen
Eigenschaften, wohl harmouireu. Hieraus folget, dass ... sie
ihren Ursprung in einem einzigen Verstand, als dem Grund und
der Quelle aller Wesen, haben müssen." „Also (148) ist ein
Wesen aller Wesen, ein unendlicher Verstand und selbständige
Weisheit vorhanden, daraus die Natur, auch sogar ihrer Möglich-
keit nach, in dem ganzen Inbegriff der Bestimmungen, ihren Ur-
sprung ziehet." Sie ist also „dem Dasein eines höchsten Wesens"
nicht „nachtheilig" ; im Gegenteil, sie ist ein Beweis für die Gottheit,
weil „ihre Hervorbringungen . . . lauter Züge aus dem aller weisesten
Entwürfe seyn, aus dem die Unordnung verbannet ist" (148). Und so
hofft Kant, im Gegensatz zu einer faulen, unter andächtiger Mine aus
Trägheit unwissenden Weltweisheit, auf unwiedersprechliche Gründe
eine sichere Ueberzeugung zu gründen (149): „dass die Welt eine
mechanische Entwickelung, aus den allgemeinen Natur-
gesetzen, zum Ursprünge ihrer Verfassung, erkenne; und
dass zweyteus die Art der mechanischen Erzeugung, die
wir vorgestellet haben, die wahre sey. Die Einfachheit,
die Uebereinstimmungen der Bewegungen sprechen dafür; ebenso
aber auch die Ungenauigkeiten, die Abweichungen, ja die Mängel,
die sich zeigen, z. B. bei den Kometen, Denn „die Mängel selber
sind ein Zeichen des Ueberflusses, an welchem" die Natur „uuer-
schöpft ist" (155). Auch die Entstehung der Schwungkraft,
1) wären, Hartenstein u. Akad.-Ausg.
444 G. Gerland,
welche Newton zu der „vor einen Pliilosophen betrübten Entschliess-
ung" (156) brachte, hier den direkten Willen Gottes einzumischen,
erklärt sich mechanisch sehr gut aus der Bewegung des früher
im Woltenraum vorhandenen, bei der Bildung der Himmelskörper
aufgebrauchten Grundstoffes der Schöpfung. Und „die Gewissheit
(S. 160) einer mechanischen Lehrverfassung von dem Ursprünge
des Weltgebäudes, vornemlich des unsrigen, wird auf den höchsten
Gipfel der Ueberzeuguug erhoben, wenn man die Bildung der
Himmelskörper selber, die Wichtigkeit und Grösse ihrer Massen
nach dem^) Verhältnissen erweget, die sie, in Ansehung ihres Ab-
standes von dem Mittelpunkte der Gravitation, haben". Das Ab-
nehmen der Dichtigkeit, das Zunehmen der Masse der Elemente,
das Zunehmen der Zwischenräume ihrer Bahnen mit der Ent-
fernung von der Sonne, die (nach Büffon) ungefähre Gleichheit
der Masse der Sonne und der gesammten Planeten, erklärt sich
mechanisch sehr einfach, unbegreiflich aber wird sie als besonderer
Willeusakt Gottes; und dasselbe gilt von den Verschiedenheiten
der Planeten, der Achsenstellung, der Anzahl der Monde, aber auch
von den Mängeln „mit welchem sich das System endiget, indem es
in der völligen Unregelmässigkeit und Unordnung aufhöret" (170).
Der dritte Teil der allgemeinen Naturgeschichte und Theorie
des Himmels, „welcher einen Versuch einer auf die Analogien der
Natur gegründeten Vergleichung, zwischen den Einwohnern ver-
schiedener Planeten, in sich enthält" (171) und mit einem ziemlich
nichtssagenden Motto aus Pope eingeleitet ist, wird von Kant
selbst als „Anhang, von den Bewohnern der Gestirne" (173) be-
zeichnet. Aber auch hier will er nur solche Sätze anführen, „die
zur Erweiterung unseres Erkenntnisses wirklich beytragen können
und deren Wahrscheinlichkeit zugleich so wohl gegründet ist, dass
man sich kaum entbrechen kan, sie gelten zu lassen" (174).
Nicht alle Planeten müssen bewohnt sein; „indessen sind es
doch die meisten gewiss, und die es nicht sind, werden es dereinst
werden" (179). Vom Menschen ausgehend, will Kant ,, untersuchen,
was das Vermögen, vernünftig zu denken, und die Bewegung seines
Leibes, die diesem gehorchet, durch die, dem Abstand von der
Sonne proportionirte Beschaffenheit der Materie, an die er ge-
kuüpfet ist, vor Einschränkungen leide" (180). Und da ergibt
sich ihm das schon früher kurz Ausgesprochene, dass die „Grob-
I
1) Originalausgabe.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 445
heit der Materie, darinn sein geistiger Teil versenket ist" (182),
nicht nur die Ursache der Trägheit der menschlichen Denkungs-
kraft, sondern auch die Quelle des Lasters und des Irrtums ist
(183). Diese Grobheit der Materie und ihr schädlicher Einfluss
vermindert sich in der Sonnenferne: „es müssen weit leichtere
und flüchtigere Materie^) seyn, daraus der Körper des Jupiters
Bewohners bestehet, damit die geringere Eegung, womit die Sonne
in diesem Abstände würken kann, diese Maschinen eben so kräftig
bewegen könne, als sie es in den unteren Gegenden verrichtet"
(185). Der Stoff der Einwohner verschiedener Planeten
auch der Tiere und Pflanzen, muss desto leichter und
feiner, ihr Bau^) desto vollkommener sein, je weiter sie
von der Sonne abstehen (185); daraus folgt aber, „dass
der ganze Umfang ihrer Vollkommenheit" nach dem
Verhältniss des Abstandes ihrer Wohnplätze von der
Sonne, immer trefflicher und vollkommener wird (187). 2)
„Dieses Verhältnis hat einen Grad der Glaubwürdigkeit, der nicht
weit von einer ausgemachten Gewissheit entfernet ist." Hierfür
spricht schon die Schnelligkeit des Lichtwechsels auf den ferner
stehenden Planeten, welche grössere Beweglichkeit der Organismen
verlangt, und ebenso die mindere Kraft von Wärme und Licht.
Und in Folge dieser grösseren Leichtigkeit der Körperstoffe, der
Säfte wird auch das Leben dort länger dauern; und vielleicht sind
die so beschaffenen Wesen auch sündenfrei. Die Bewohner von
Erde und Mars nehmen wohl einen mittleren Stand ein zwischen
den roheren Bewohnern der inneren uud den vollendeteren der
äusseren Planeten.
Der Beschluss des Werkes giebt noch kurze Winke über
das Leben nach dem Tode. Möglich, dass die Trabanten des Ju-
piters auch uns dereinst leuchten (199). Das sind erlaubte Ge-
dankenspiele, „unsichere Bilder der Einbildungskraft", auf die man
die Hoffnung dos Künftigen nicht gründen wird. Der unsterbliche
Geist wird über alles Endliche sich im Tode emporschwingen „und
in einem (199) neuen Verhältnisse gegen die ganze Natur, welche
aus einer näheren Verbindung mit dem höchsten Wesen entspringet,
sein Dasej'n fortsetzen. Forthin wird diese erhöhete Natur, welche
die Quelle der Glückseeligkeit in sich selber hat, sich nicht mehr
unter den äusseren Gegenständen zerstreuen, um eine Beruhigung
1) Sa die Orig.-Ausg. für Materien.
2) Sperrungen im Original.
446 G. Gerland
bey ihnen zu suchen. Der g-esammte Innbegriff der Geschöpfe,
welcher eine nothweudige Uebereinstininiung' zum Wohlgefallen des
höchsten (200) Urwesens hat, muss auch sie auch ^) zu dem seinigen
haben, und wird sie nicht anders, als mit immerwährender Zufrieden-
heit, rühren." Und nun der Schluss des Werkes: „Wenn es unter deu
denkenden Geschöpfen dieses Planeten" (der Erde) „niederträchtige
Wesen giebt, die . . . im Stande sind, sich fest an die Dienstbarkeit
der Eitelkeit zu heften: wie unglücklich ist diese Kugel, dass sie
so elende Geschöpfe hat erziehen können? Wie glücklich aber ist
sie anderer Seits, da ihr unter deu aller annehmungswürdigsten
Bedingungen ein Weg eröfnet ist, zu einer Glückseeligkeit und
Hoheit zu gelangen, welche unendlich weit über die Vorzüge er-
haben ist, die die allervortheilhafteste Einrichtung der Natur in
allen Weltkörpern erreichen kan."
Achte Vorlesung.
Kritik der Naturgeschichte des Himmels.
Nach dieser Darlegung des Inhalts der Naturgeschichte und
Theorie des Himmels tritt uns eine Reihe einzelner Eragen ent-
gegen, die wir uns beantworten müssen. Was wollte Kant in
diesem Buche leisten, was hat er geleistet? In welchem Verhält-
nis stehen seine Leistungen zu denen seiner Vorgänger, nament-
lich zu Wright? was bringt er Neues? und sodann, warum ist
sein Buch, welches jetzt als ein so bedeutendes hingestellt wird,
so unbekannt geblieben?
Eine ganz kurze Zusammenstellung der Hauptpunkte der
Darlegung Kants wird die Beantwortung erleichtern. In der
Einleitung zeigt er, dass eine möglichst weit durchgeführte
mechanische Welterklärung keineswegs gegen die Religion Ver-
stösse, ja durch die Darlegung des regelmässigen Verfalii'ens der
Natur auch im Chaos einen neuen Gottesbeweis erbringe; diese
Welterklärung werde wesentlich gefördert durch die Weltauffas-
sung Wright's, dem er in manchen Stücken gefolgt sei, indem er
mit Fernhaltung aller willkürlichen Erdichtungen die ganze Welt-
entwickelung auf die Anziehungs- und Abstossungskraft zurück-
führe. — Im 1. Teil wird die S3^stematische Verfassung unter
deu Fixsternen, die Analogie dieses Sj^stems mit unserem Planeten-
1) sie auch Rahts Akad.-Ausg, für auch sie auch, wie Kant schrieb.
Immanuel JECant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 447
System, die Ausdehnung jener Verfassung der Fixsterne durch die
Unendlichkeit der Welt, die Ausdehnung unseres Planetensystems
in imoier mehr kometischeu Körpern über den Saturn hinaus, be-
sprochen. — Der 2. Teil erklärt im ersten Hauptstück die Ent-
stehung der Himmelskörper und ihrer Bewegungen aus einer durch
die Unendlichkeit ausgebreiteten Urniaterie mit anziehenden und
abstossenden Kräften. 2. Hauptstück: verschiedene Dichtigkeit
der Planeten und Verhältnis ihrer Massen, erstere abnehmend
letztere zunehmend mit der Entfernung von dem selbst weniger
dichten Centralkörper; 3. Hauptstück: Erklärung der zunehmenden
Excentricität der Planetenkreise und des Ursprungs der Kometen
aus den leichtesten Stoffen; 4. Hauptstück: Ursprung der Monde
und Bewegungen der Planeten (und des Mondes) um die Achse;
Verrückung der letzteren. 5. Hauptstück: Ursprung, Teilung des
Saturnrings, Berechnung der täglichenUmdrehung und der Abplattung
des Saturn; Fehlen der Ringe bei anderen Planeten — oder hatte
die Erde einen solchen, dessen Einbrechen die Süudflut veran-
lasste? — 6. Hauptstück: das Zodiakallicht. 7. Hauptstück:
räumliche und zeitliche Unendlichkeit der Schöpfung, die allge-
meine systematische Beziehung aller Weltgebäude, der allgemeine
Centralkörper, die successive Fortsetzung und Zerstörung der
Schöpfung sowie ihre ewige Erneuerung als unendlicher Plan der
göttlichen Offenbarung (126), ebenso wie die Unendlichkeit der
menschlichen Seele Als Zugabe folgt die Theorie und Geschichte der
Sonne, die Schilderung der brennenden Oberfläche derselben, sowie
der verschiedenen Grade der Geisterwelt, welche letztere, in Um-
kehrung der Auffassung Wright's, mit der Entfernung vom Mittel-
punkt der Schöpfung immer vollkommener wird.
Das 8. Hauptstück zeigt, wie gerade die wesentliche Fähigkeit
(144; 170) der Naturen der Dinge, sich von selber zur Vollkommenheit
zu erheben, der schönste Beweis des Daseins Gottes ist, während
aus der Annahme einer unmittelbaren göttlichen Anordnung der
Welt für den Gottesbegriff selbst grosse Schwierigkeiten ent-
stehen.
Der 3. Teil giebt als Anhang den beiden ersten Teilen eine
Vergleichung zwischen den Einwohnern der Gestirne, deren
geistige Feinheit und Fähigkeit mit der Feinheit der Materien
ihrer Wohnstätten, also mit der Entfernung von der Sonne zu-
nimmt; er giebt zum Beschluss einige Ideen über die nach dem
Tode etwa eintretenden Schicksale der Seele. —
448 G. Gerland,
F. G. W. Struve in seinen etudes d'Astronomie stellaire.
8ur la vüie lactee et sur la distauce des etoiles fixes, St. Petersb.
1847 giebt in einer kurzen Geschichte der Ansichten über die
Milchstrasse auch das Sj^stem Kant's, welches er in folgende
7 Thesen zusammenfasst:
1. Die Schöpferkraft der göttlichen Allmacht ist unendlich,
daher sind es auch die Welten, zeitlich und rilunilich.
2. Alle Fixsterne sind Centren von Systemen analog unserem
Planetensystem in Folge von Gravitation und Centrifugalkraft.
3. Die Anziehung erstreckt sich über alle Systeme, welche
ein System höherer Ordnung, das der Milchstrasse bilden.
4. In Analogie zum Planetensystem beziehen sich auch die
Fixsterne auf einen gemeinsamen Grundplan, gegen den hin sie
besonders gehäuft stehen.
5. Auch das System der Milchstrasse hat einen Centralkörper,
vielleicht den Sirius.
6. Solche Systeme sind zahlreich.
7. Sie sind die Glieder noch höherer Systeme.
M. Nyren') betont, dass von diesen 7 Hauptpunkten jeder
einzelne bei Wright vorkommt, mit einer nennenswerten Ab-
weichung, den Centralkörper der Milchstrasse betreffend, als
welchen Kaut den Sirius, Wright einen unbekannten Körper
denkt. „Kant's Angabe," sagt Nyren, „das System von Wright
erweitert zu haben, kann sich also nur auf Nebeuumstäude und
ausgearbeitete Details beziehen," . . . „Was dagegen die wissen-
schaftlichen Ideen über den Bau des Himmels, speziell der Milch-
strasse betrifft, so kann man mit vollem Recht sagen, „dass Kant's
und Lambert's Ansichten sich schon bei Wright vorfinden".
Daher ist eine genaue Darlegung der Übereinstimmungen
zwischen Kant und Wright, der etwaigen Abhängigkeit des
ersteren von letzterem hier geboten, um so mehr, als Wright's
Werk selten 2) ist. Es ist betitelt: An original Theory or new
Hypothesis of The Uuiverse founded upon The Laws of Nature
and solving by mathematical Priuciples The general Phaeno-
mena of The visible Creation; and particularly The Via lactea.
1) Vierteljahrschrift der Astronom. Gesellschaft. 14. Jahrg. Leipzig
1879, S. 88 f.
2) Ich durfte das Exemphir der Hamburger Stadtbibliothek längere
Zeit benutzen, wofür ich der Direktion derselben hier den lebhaftesten
Dank ausspreche
Inimanixel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 449
Compris'd in Nine Familiär Letters from the Author To bis Friend.
And lUustrated with upwards of Thirty Graven and Mezzotinto
Plates, By the Best Masters. By Thomas Wright, ot Durham.
Dann folgt ein Motto aus Young:
One sun by Day, by Night ten Thousand shine
And light us deep into the Deity.
London: Printed for the Author, and sold by H. Chapelle, in
Grosvenor Street MDCCL.i)
Der volle Titel des in Grossquart schön gedruckten Werkes,
sowie die sehr sorgfältig, ja prächtig gestochenen Tafeln sind
nicht ohne Interesse.
Vergleicht man nun die „Original-Theorie" mit der allge-
meinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels, so rauss man
zunächst Nyren vollkommen beistimmen, dass jene 7 von Struve
aufgestellten „Thesen" Kant's sich alle schon bei Wright finden;
allein Struve erschöpft mit ihnen Kant's Lehren keineswegs. Die
Art, wie Kant in seiner Vorrede das Werk von Wright erwähnt,
macht es wahrscheinlich, dass er nicht das Original selber, sondern
nur den Auszug in den Hamburger freien Urteilen gekannt habe.
Und hierfür spricht auch die Vergleichung beider Werke. Die
Punkte der Übereinstimmung finden sich alle auch in den Ham-
burger freien Urteilen und so auch manches, wozu Kant von
Wright angeregt sein kann, wenn er selber es auch als seine Er-
gänzung Wright's anführt. So, dass die elliptisch geformten Nebel-
flecken (Wright gibt auf Taf. 14 den Nebel am Fuss des Anti-
nous, Taf. 15 die Pleiaden, Taf. 16 den Persidennebel) Fix-
sternsysteme seien (Kant, Vorrede; S. 103; 2) Hamburger fr.
Urteile S. 18), vielleicht freilich auch nur lokal zusammengehäufte
Sterne (cloudy knots of Stars Wr. 63), die in der Milchstrasse
selbst stehen; S. 65 bespricht Wright verschiedene Creations of
Stars, mit sehr verschiedener Bewegung; namentlich aber Stern-
ringe, welche nach Art der Saturnringe den Centralkörper um-
geben: not only the Phaenomena of the Milky Way may be thus
accounted for, but also all the cloudy Spots and irregulär Distri-
bution of them. Die Saturnringe freilich hält Wright, wie Cassini
modernen Auffassungen vorgreifend, nicht für Bildungen aufge-
stiegener Dünste (Kant S. 76), sondern gebildet durch an infinite
number of lesser planets, inferior to those we call his SateUites;
1) Die gesperrten Stellen sind rot gedruckt.
-) Paginierung der Orig.-Ausg.
Kantstudieii X, 30
450 0. Öerland,
zu (lieser Ansicht sei er gekommen wegen der zeitweiligen grossen
Excentricität der Ringe, die bei solidem Ringe nicht eintreten könne.
Diese Erklärung des Saturnrings fehlt in den Hamburger freien Ur-
teilen; Kant erwähnt daher als ihren Urheber nur Cassini.
In einem anderen Punkt scheint Kaut direkt von Wright
abzuhängen: die Auffassung, dass die Planeten und Kometen
gleichartig und nur durch ihre Stelhmg und in Folge davon
durch ihre excentrische Bahn verschieden sind, hat schon Wright
ausgesprochen (8. 'M, Hamb. fr. Urt. 8. 12). So stellt sie auch
Kant im 1. Teil und im 3. Hauptstück des 2. Teiles (S. 19 f.,
51 f.) in eine Reihe mit den Planeten, von denen sie sich nur durch
ihre Excentricität unterscheiden sollen; er kam in Folge dieser
Annahme zu der Anschauung, „dass die Abnahmei) der Eccentricität
der über dem Saturn befindlichen Himmelskörper ohngefehr eben
so gemässigt, als in den unteren sey" (S. 19). „Man würde nach
dieser Vermuthung noch vielleicht die Entdeckung neuer Planeten
über den Saturn zu hoffen haben, die eccentrischer als dieser, und
also der cometischen Eigenschaft näher seyn würden; aber eben
daher würde man sie nur eipe kurze Zeit, uemlich in der Zeit
ihrer Sonnennähe, erblicken können . . . Der letzte Planet und
erste Oomet würde, wenn es so beliebte, derjenige können genannt
werden, dessen Eccentricität so gross wäre, dass er in seiner
Sonnennähe den Kreis des ihm nächsten Planeten, vielleicht also
des Saturns, durchschnitte" (S. 19—20). Man hat in diesen
Worten die Vorausverkündigung der Planeten Uranus, Neptun ge-
sehen; und doch, wie vollkommen falsch ist diese Deutung der
Worte Kaut's: ebenso falsch, wie Wright's, wie Kant's Annahme
des Uebergangs der Planeten in Kometen.
Kaut nennt einigemal die Milchstrasse den Zodiakus der
höheren Weltordnungen (S. 102, S. 11), d. h. der Sonnensysteme,
welche die Milchstrasse bilden. Denselben wenig genauen Aus-
druck und Vergleich gebraucht auch Wright, S. 62 und 65, ganz
im gleichen Sinne; doch kann dies nahe liegende Bild jedem der
beiden Schriftsteller sich aufgedrängt haben; eine Benutzung Wright's
durch Kant auch über die Hamburger Ui'teile hinaus (in welchen
der Ausdruck nicht vorkommt) ist hierdurch nicht bewiesen.
Wright leitet die Gestalt, unter welcher wir die Milchstrasse
sehen, von der Position unserer Sonne ab (S. 62—3. Hamb. Nachr.
S. 19), die er als eine etwas excentrische bezeichnet. Auch Kant
1) So die Orig.-Ausg. Rahts schlägt „Zunahme" vor, gewiss mit Unrecht.
iminanuel Itanf, seine geograpli. und antiiropolog. Arbeiten, 451
ist dieser x\nsicht (S. 139, Anm.), wie er auch einen Oentralkörper
des Weltalls annimmt, ähnlich wie Wright, der es (S. 79) aller-
dings unentschieden lässt, ob derselbe eine Sonne oder erdenartig
sei. Kant hält ihn für eine Sonne, vielleicht für den Sirius (139,
Anm.), er weist, wie wir sahen, Wright's phantastische Ansichten
(Hamb. fr. U. 21) mit scherzhaftem Spott zurück (S. 140), der
sachlich sehr berechtigt ist. Und doch zeigt sich auch hier eine
eigentümliche Übereinstimmung zwischen beiden. Wright sagt S. 79
(ich eitlere für die Wiedergabe seiner Worte die freien Urteile, S.21) :
„wenn wir einmal zugegeben haben, dass alle Sterne sich rund
um einen Mittelpunkt bewegen können; so deucht mir, ist es für
einen, der der Natur so weit als möglich nachgeht, sehr natürlich
zu fragen, was denn in diesem Mittelpunkte sei? Denn da wir
zugeben müssen, dass er alles andre in dem bekannten Universo
weit übertreffe, so ist es höchst wahrscheinlich, dass sich allda
ein Körper entweder von der Sternen Art oder von einer irdischen
Beschaffenheit') befinde, wo die göttliche Gegenwart, oder ein
körperlich wirkendes Wesen, voll aller Tugenden und Vollkommen-
heiten, weit unmittelbar über die Geschöpfe präsidiret. Und hier
mag etwa dieses (S. 22) primum agens des allmächtigen und
ewigen Wesens auf seinem Thron sitzen und als das primum
mobile der Natur in Uebereinstimmung mit dem ewigen Willen
wirken. Zu diesem allgemeinen Mittelpunkt der Gravitation, wo-
von man sich vorstellen kann, dass er alle Tugenden an sich
ziehet und alle Laster zurücktreibt, mögen alle Dinge als zur
Vollkommenheit zueilen. Von hieraus können alle Körper den
ersten Ursprung ihrer Bewegung herleiten und von hieraus be-
kommen sie in ihren verschiedenen Bewegungen ihre Richtung.
Solchergestalt wollte ich gern in dem Foco oder dem Mittelpunkte
der Schöpfung eine ursprüngliche Quelle finden, die beständig von
göttlicher Gnade überfliesset, und von welcher alle Gesetze der
Natur ihren Ursprung haben. Dieses würde, meinen Gedanken
nach, das ganze Universum in eine regelmässige Ordnung und
gehörige Uebereinstimmung bringen, und zu gleicher Zeit unsere
Begriffe von dem göttlichen Wesen erweitern, und die Schönheit
der Natur auf das angenehmste entdecken, und uns das weite
Feld unserer künftigen Hoffnung eröffnen. Was nun eigentlich
1) one sidereal or carthy substance, where the divine Presence or
some corppreal Agent ful of all Virtues a. Perfections more iraniediately
presides his own creation, Wr.
30*
452 G. Gerland,
dieser Körper im Mittelpunkte sei, das unterstehe ich mich hier
nicht zu sag-en. Doch wo anders die Schöpfung- wirklich und
nicht bloss idealisch ist, so muss es notwendig- entweder ein feu-
rig-er Körper sein, der die Sonne noch übertrifft, oder auch eine
sphaera terra(iuea, die, wie unsere Erde, mit einem Aether um-
g-eben ist, der aber viel feiner, durchsichtig-er und heiterer sein
muss. Welches nun von diesem am wahrscheinlichsten sey, das
werde ich unbestimmt lassen. Denn ich muss g-estehen, meine
Begriffe sind hier so unvollkommen, dass ich kaum mutmassen
darf." So weit die Hambui'ger Urteile : Wrig-ht selbst ergeht sich
dann noch im Ausmalen der paradiesischen Glückseligkeit dieses
Weltcentrums, wo der Raum aufhört, wo allgemeines, vollkommenes
Glück herrscht. Wie es zahllose körperliche Weltsysteme giebt,
so auch zahllose geistige Welten, nicht unähnlich dem uns be-
kannten LIniversnm.
Wright nimmt also die höchste Vollendung des Lebens für
das Centrum des Weltalls; Kant aber verweist dieselbe an die
Peripherie; und dennoch scheint er mir auch hier von Wright ab-
hängig, wenigstens stark beeinflusst zu sein. Kant sagt S. 184 f.:
„es erhellet hieraus deutlich, dass die Kräfte der menschlichen
Seele von den Hindernissen einer groben Materie, an die sie
innigst verbunden werden, eingeschränket und gehemmt werden;
aber es ist etwas noch merkwiirdigers, dass diese specifische Be-
schaffenheit des Stoffes eine wesentliche Beziehung zu dem Grade
des Hinflusses ^) hat, womit die Sonne nach dem Masse ihres Ab-
standes sie belebet, und zu den Verrichtungen der animalischen
Oekonomie tüchtig macht. Diese notwendige Beziehung zu dem
Feuer, welches sich aus dem Mittelpunkte des Weltsystems ver-
breitet, um die Materie in der nötigen Regung zu erhalten, 2) ist
der Grund einer Analogie, die eben hieraus, zwischen den ver-
schiedenen Bewohnern der Planeten, erst gesetzet wird; und eine
jede Klasse derselben ist vermöge dieser Verhältnisse an den Ort
durch die Nothwendigkeit ihrer Natur gebunden, der ihr in dem
Universo angewiesen worden."
Also: das Feuer verbreitet sich von dem Mittelpunkt des
Weltsystems, nm die Materie in der nötigen Regung zu erhalten;
1) So die Originalausgabe, ebenso Hartenstein, Schubert. Rahts in
der Akad.-Ausg. schreibt Einflusses; gewiss nicht mit Recht. Kant wählte
das auffallende aber drastische Wort absichtlich.
2) Vgl. das Citat aus Newton oben S. 431.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 453
die spezifische B(!schaffeuheit wird nach dem Grade des Hiu-
fhisses, womit die Sonne sie belebt, zu den Vorrichtungen der
animalischen Oekonomie tüchtig gemacht — das Feuer erregt,
der belebende Hinfluss von der Sonne macht die Materie zum
organischen Leben tüchtig. Das kann doch nur heissen — der
Gedanke an innere Eigenwärme der Planeten war Eant da-
mals noch ganz fremd — dass das organische Leben der
Planeten, je weiter sie von der Sonne entfernt sind, um so
w^eniger angeregt, belebt, tüchtig gemacht wird, also um so
schwächer und unentwickelter sein muss. Vom Merkur können
wir dabei absehen. Kant aber meint das Gegenteil: er sagt (S.
186 f.),i) dass die Trefflichkeit der denkenden Naturen,
die Hurtigkeit in ihren Vorstellungen, die Deutlichkeit
und Lebhaftigkeit der Begriffe, die sie durch äusser-
lichen Eindruck bekommen, sammt dem Vermögen sie
zusammen zu setzen, endlich auch die Behendigkeit in
der wirklichen Ausübung, kurz der ganze Umfang ihrer
Vollkommenheit unter einer gewissen Regel stehen,
nach welcher dieselben, nach dem Verhältnis des Ab-
standes ihrer Wohnplätze von der Sonne, immer treff-
licher und vollkommener werden.
Nur durch sehr gekünstelte Deutung und iVnpassung lassen sich
S. 184 und 186 mit einander vereinigen. Auch S. 127 steht im grellen
Gegensatz 2) zu S. 186. Was Kant S. 185 sagt, beweist nur, dass
verschiedene Organismen verschiedene Temperaturen bedürfen.
Auch passt die Annahme des vom Weltmittelpunkte ausstrahlenden
Feuers, welches man in der angeführten Stelle nur vom Sonnen-
feuer verstehen kann, nicht zu Kaut's Beschreibung der Sonne
und der auf ihr, einem an sich kalten Körper, herrschenden
Brände. Au der schon erwähnten frühereu Stelle (S. 141 f.)
nahm Kant die Verbesserung der Materie und ihrer Bewohner
ebenso für das gesammte Universum, wie hier für unser „Welt-
system" au. Alle diese Widersprüche begreifen sich, wenn wir an-
nehmen, dass in den Worten vom Feuer und seinem belebenden
Einfluss jene im Vorstehenden citierten Worte Wright's, seine Auf-
fassung der Centralsonne, nach Abstreifung aller Ueberschweug-
lichkeiteu, auf Kant eingewirkt hat.
Auch in einer anderen Weise stimmen beide zusammen, ob-
gleich das auf den ersten Blick nicht so scheint. Wright nimmt
1) Sperrung im Original. ^) Oben S. 441.
454 G. Gerland.
an, cUiss der Stoff, welcher das Weltceiitrutn bildete, der vorzüg-
lichste, durchgeistigste sei, wie wir eben sahen. Kant nimmt an,
dass im Schöpfungscentrum die schwerste, dadurch gröbste, „un-
gelenksamste" Materie (S. 183) vorherrsche; diese Grobheit der
Materie ist aber „die Ursache derjenigen Trägheit, w^elche die
Fähigkeiten der Seele in beständiger Mattigkeit und Kraftlosigkeit
erhält"; sie wird dadurch „nicht allein die Quelle des Lasters,
sondern auch des Irrthums" (eb.). Daher wächst die Trefflichkeit
der Geschöpfe mit der Entfernung von der Sonne, da ja durch
diese Entfernung die Materie selbst immer dünner und daher
feiner wird. In Folge also der verschiedenen Beschaffenheit der
Materie der Planeten, abhängig von ihr, ist auch die geistige Be-
schaffenheit der etwaigen Bewohner der Planeten eine verschiedene.
Dieser Gedanke, den Kant mit Ernst und Vorliebe — in den
Einzelnheiten bisweilen nicht ohne Heiterkeit und einen leichten
Humor ^) — ausbildet; das Citat aus Haller (S. 197):
Die Sterne sind viellsicht ein Sitz verklärter Geister,
Wie hier das Laster herrscht, ist dort die Tugend Meister,
stimmt das nicht alles, trotz des Gegensatzes in der Lokalisierung,
trotz Kant's Spott über Wright, sehr genau zu Wright's Auffas-
sungen und Darlegungen, soweit dieselben in den Hamburger freien
Urteilen wiedergegeben sind? Es ist ja wahr, dass derartige
Auffassungen in jener Zeit der Ueberschwenglichkeit der religiös-
philosophischen Poesie auch in der Philosophie — hier sei au
Swedenborg erinnert — verbreitet waren; aber trotzdem ist die
Uebereinstimmung Kant's und Wright' s eine so grosse, dass eine
Beeinflussung des ersteren durch letzteren auch nach dieser Seite
hin durchaus wahrscheinlich ist. Und zwar nicht bloss eine äusserliche,
sich auf die Tatsachen beziehende: sondern eine viel tiefer greifende,
innerliche, eine Beeinflussung der gesammten Auffassung. S. 127
stimmt ganz zu Wright. Ja Kaut spricht dies selber aus (S. 141):
„indessen wenn ich, ohne an der enthusiastischen Vorstellung des
Engelländers Theil zu nehmen, von den verschiedenen Graden der
Geisterwelt aus der physischen Beziehung ihrer Wohnplätze gegen
den Mittelpunkt der Schöpfung, mutmassen soll, so wollte mit
mehrer Wahrscheinlichkeit die vollkommensten Classen vernünftiger
Geschöpfe, weiter von diesem Mittelpunkte, als nahe bei demselben,
suchen. Die Vollkommenheit mit Vernunft begabter Geschöpfe,
') Vgl. den „Beschluss" S. 199 f.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 455
in SO weit sie von der Beschaffenheit der Materie abhänget in
deren Verbindung- sie beschränket seyn, kommt gar sehr auf die
Feinigkeit des Stoffes an"; im Mittelpunkte der Natur aber sind
„die dichtesten und schwersten Sorten der Materie".
Die Idee einer allgemeinen Weltenmaterie ist Wright fremd;
Kant hat sie ausgesprochen, vielleicht einigermassen durch Wright's
Schilderung und Erklärung des Milchstrassensystems (Wr. 62 f.,
Hamb. fr. Urt. S. 19) angeregt, i) ohne Zweifel aber in völlig selb-
ständiger Erfassung und Entwickelung des Gedankens, den frei-
lich Swedenborg ganz ähnlich schon 1737 ausgesprochen hatte.'^)
Kant war bewegt und getrieben von dem Gedanken, den mecha-
nischen Aufbau der Welt auch da noch zu beweisen, wo ihn
Newton nicht mehr durchführen konnte.
Jedenfalls aber ist er noch in einem anderen wichtigen Punkt
von Wright abhängig; in der Annahme jenes Centrums, „um
welches, durch ich weiss nicht was vor eine Ursache, die erste
Bildung der Natur aus dem Chaos angefangen" und wo sich die
„grösste Masse und ein Körper von der ungemeinsten Attraktion"
(S. 102) entwickelt hat, um den sich das Weltensystem nach Art
des Sonnensystems bildete. Die Vorstellung des Sonnensystems
hat bei dieser Annahme ohne Zweifel mitgewirkt.
Kant scheidet übrigens keineswegs genügend zwischen
Sonnensystem, System der Milchstrasse und Universum. Hier-
durch entstehen manche Ungenauigkeiten und Widersprüche. So
Aveun er S. 27 sagt: „ich nehme au: dass alle Materien, daraus
die Kugeln, die zu unserer Sonnenwelt gehören, alle Planeten
und Cometen bestehen, im Anfange aller Dinge in ihren elemen-
tarischen Grundstoff aufgelöset, den ganzen Raum des Weltge-
bäudes erfüllet haben, darin jetzo diese gebildeten Körper herum-
laufen." Diese Worte können sich nur auf das Sonnensystem
beziehen. Allerdings fährt Kant fort: „dieser Zustand der Natur,
wenn man ihn, auch ohne Absicht auf ein System, an und
1) „Lasst uns uns einbilden," sagt Wright Hamb. fr. Urteile S. 19,
„dass in diesem Raum (in der Bezieliungsebene zwischen den beiden
Grenzflächen) alle Sterne vermischt und durcheinander zerstreut sind,
allein in einer solchen bestimmten Entfernung von einander, dass das
ganze Medium mit einer Art von regulärer Unordnung der Objekte ange-
füllet ist" (Wr. 62).
2) Ueber die von Em. Swedenborg aufgestellte Kosmogonie, vgl.
M. Nyren, Vierteljahrsschr. der Astronm. Gesellsch. 14, 1879, S. 80 f.
456 G. Gerland,
vor sich selbst betrachtet,') scheinet nur der einfachste zu
sein, der auf das Nichts i) folgen kann. Damals hatte sich noch
nichts gebildet. ... Die Natur, die unmittelbar mit der Schöpfung
gränzete, war so roh, so ungebildet als möglich. Allein auch in den
wesentlichen Eigenschaften der Elemente, die das Chaos
ausmachen, 2) ist das Merkmal derjenigen Vollkommenheiten zu
spüren, die sie von ihrem Ursprung her haben, indem ihr Wesen aus
der ewigen Idee des göttlichen Verstandes eine Folge ist." Hier
bleibt ein Widerspruch: denn die von den Anfängen des Sonnen-
systems gegebene Schilderung ist nur verständlich, wenn man sie
„ohne Absicht auf ein System, an und vor sich selbst betrachtet."
Sie passt nach Kant's sämmtlichen Darlegungen nur auf die An-
fänge der Bildung des Universums. Im Sonnensystem konnte
auch in seinen ersten Anfängen der beschriebene Elementarzustand
nie herrschen, weil dasselbe ja erst durch Losreissung von jenem
Central-Urkörper sich bilden konnte, weil es schon bei seiner
ersten Entstehung ein Schicksal hinter sich hatte, weil es ja nur
als partiale Sekundärbilduug der primären centralen Urbildung ent-
stand. Man vergleiche, was Kant über die Bildung des Gesammt-
systems des Universums sagt (S. 109 f.). Rahts^) bezieht daher
jene Schilderung der Entstehung des Sonnensystems auf ein „all-
gemeines System", aber die Unklarheit der Stelle wird dadurch
nicht beseitigt, auch nicht durch Kaufs Bemerkung (S. 30), er
wolle sich zu leichterem Begreifen der Bildung des Weltbaues zu-
nächst auf ein einzelnes System, wie unser Sonnensystem, be-
schränken. Denn ein einzelnes System hat nach Kant selbst eine
vollkommen andere Bildungsgeschichte, als das Universum.
Besonders unklar ist sodann alles, was Kaut über Wesen
und Entstehung des Grundstoffs des Universums, der allgemeinen
Materie, des Chaos sagt. Sehr beachtenswert ist hierfür gleich
die unmittelbare Fortsetzung der oben angeführten Worte S. 27:
„Die einfachsten, die allgemeinsten Eigenschaften, die ohne Ab-
sicht scheinen entworfen zu seyn; die Materie, die bloss leidend
und der Formen und Anstalten bedürftig zu seyn scheinet, hat
in ihrem einfachsten (S. 28) Zustand eine Bestrebung, sich durch
eine natürliche Entwickelung zu einer vollkommeneren Verfassung
') Sperrung nicht im Original.
2) Sperrung nicht von Kant.
3) Akad.-Ausg. 1, 550.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 457
ZU bildeu. Allein die Verschiedenheit iu deu Gattiing-en
der Elemente^) traget zu der Regung- der Natur und zur Bildung
des Chaos das vornehmste bey, als wodurch die Ruhe, die bey
einer allgemeinen Gleichtheit unter den zerstreuten Elementen
herrschen würde, gehoben, und das Chaos in den Punkten der
stärker anziehenden Partikeln sich zu bilden anfängt. Die Gat-
tungen dieses Grundstoffes sind ohne Zweifel, nach der Unermess-
lichkeit, die die Natur an allen Seiten zeigt, unendlich ver-
schieden". Was sagt hier Kant? Zunächst, dass die Materie
gleich bei ihrer Erschaffung, eine höchst mannigfaltige ist; oder
wie wir S. 107 lesen: „Die Grundmaterie selber, deren Eigen-
schaften und Kräfte allen Veränderungen zu Grunde liegen, ist
eine unmittelbare Folge des göttlichen Daseyns : selbige muss also
auf einmal so reich, so vollständig sein, dass die Entwickelung
ihrer Zusammensetzungen in dem Abflüsse der Ewigkeit sich über
einen Plan ausbreiten könne, der alles in sich schliesset, was
seyn kann, der kein Maass annimmt, kurz, der unendlich ist."
Der Seite 27 jnüssen wir ferner entnehmen, dass zunächst die
Materie als solche mit all' ihren verschiedenen Elementen ge-
schaffen wurde; dass sodann aus ihr in Folge dieser Verschieden-
heit der Elemente das Chaos sich zu bilden anfieng: und doch
wird einige Zeilen vorher die Urmaterie mit dem Chaos identi-
ficiert, während wir S. 29 lesen, dass in Folge der „wesentlichen
Kräfte der Elemente, einander in Bewegung zu setzen", „die Materie
sofort in Bestrebung ist, sich zu bilden;" dass drittens aus dem
Chaos, der „sich bildenden Materie", die Himmelskörper sich ent-
wickeln, denn „bey einem auf solche Weise erfüllten Räume
dauert die Ruhe nur einen Augenblick". 0 nein. Eine solche
Materie war vielmehr in Folge der anerschaffenen Verschiedenheit
und Anziehung ihrer Elemente als eine bewegte und zwar sehr
unregelmässig bewegte geschaffen. Kant nimmt — wozu die
Worte S. 113 von der unaufhörlichen Beschäftigung der ausge-
bildeten Natur sich auszubreiten durchaus nicht passen —
diese Eigenschaften gleichmässig für die Gesammtmaterie des
Universums in Anspruch, deren Eigenschaften und Kräfte allen
Veränderungen zum Grunde liegen" und die ja „die unmittelbare
Folge des göttlichen Daseyns" ist (S. 107).«)
1) Sperrung von Kant.
2) Man wird hier an eine merkwürdige Stelle in Newton's Scholion
generale (Ausg. von Thomson und Blackham 528 f.) erinnert, Sie lautet:
458 G, Gerland,
Auch sonst finden wir in Kant's Auffassung der Urmaterie
merkwürdig-e Vorstellungen. Nach der Angabe, dass die Gattungen
des Grundstoffes unendlich verschieden sind (S. 28) fährt Kant
fort: „die (Gattungen) von grösster spezifischen Dichtigkeit und
Anziehungskraft, welche an und vor sich weniger Raum einnehmen
und auch seltener seyn, werden daher bey der gleichen Aus-
theilung in dem Kaume der Welt zerstreuter, als die leichtern
x\rten seyn. Elemente von lOOOmal grösserer spezifischer Schwere
sind tausend, vielleicht auch Millionenmal zerstreuter, als die in
diesem Maasse leichteren. Und da diese Abfälle so unendlich als
möglich müssen gedacht werden, so wird, gleichwie es körperliche
Bestandtheile von einer Gattung geben kau, die eine andere in
dem Maasse an Dichtigkeit übertrifft, als eine Kugel, die mit dem
Radius des Planetengebäudes beschrieben worden, eine andere, die
den tausendsten Teil einer Linie im Durchmesser hat, also auch
jene Art von zerstreuten Elementen um einen so viel grösseren
Abstand von „einander entfernet seyn, als diese".
Die Annahme (S. 29), dass in Folge der Welteubildung durch
Anziehung eine Anzahl verschiedener Weltkörper existiere, „die nach
Verrichtung ihrer Bildungen durch die Gleichheit der Anziehung ruhig
und auf immer unbewegt seyn würden", ist willkührlich; ebenso
auch, wie Kant selber zugibt, die weitere Annahme, dass an irgend
einem Ort des unendlichen Raumes, der Grundstoff die dichteste
Häufung gehabt haben müsse, um dem gesammten Universum als
Mittel- und Uuterstützungspunkt zu dienen (S. 109; 110), um welchen
dann „die Systemen am dichtesten gehäufet seyn, während sie
„weiter von demselben sich mit immer grösseren Graden der Zer-
streuung verlieren". Von dieser Annahme weitergehend sagt dann
Kant S. 112: wenn wir auch „in ein unendliches Heer von Welt-
ordnungen" den Einblick haben, „so befinden wir uns doch eigent-
lich nur in einer Naheit zum Mittelpunkte der ganzen Natur, wo
diese sich schon aus dem Chaos ausgewickelt, und ihre gehörige
Vollkommenheit erlangt hat. Wenn wir eine gewisse Sphäre
überschreiten könnten; würden wir daselbst das Chaos und die
Zerstreuung der Elemente erblicken, die . . . mit den Graden der
Entfernung (S. 113) sich nach und nach in einer völligen Zer-
Deus omnipotens est non per virtutem solam sed etiam per substan-
tiam: nam virtiis sine snbstantia subsistere non potest. In ipso continentur
et moventur nniversa, sed sine mutua passione. Dens nihil patitur ex cor-
porum raotibus; illa nuUam sentiunt resistentiam ex omnipraesentia dei.
Immanuel K;int, seine geograpli. und anthropolog. Arbeiten. 459
Streuung verlieren." Auch hier wird man wieder au Wright er-
innert. Und wie passt zu dieser Behauptung, nach der das Chaos
den Mittelpunkt der Natur, der sich zuerst aus ihm entwickelte,
peripherisch umgibt, jene andere (S. 141), welche den rohsten,
gröbsten Stoff im Weltceutrum und in der Peripherie den feineren,
durchgeistigten annahm? Jedenfalls sind dies keine Ansichten,
die naturwissenschaftlichen Wert haben; welche zu einer streng
wissenschaftlichen Begründung der Nebularhypothese irgend etwas
beitragen.
Kant lässt nun nicht nur das Sonnensystem, sondern das
ganze Universum sich aus dieser kosmischen Urmaterie bilden und
zwar so, dass (S. 33 f.) in scheibenförmigen, verhältnismässig
flachen „Beziehungsräumen" die Materie zunächst des Universums,
dann die der einzelnen Systeme kreiste, welche während und nach
der Bildung des Centralkörpers übrig blieb. Wie verhalten sich aber
die Beziehungsräume der Systeme hinsichtlich ihrer Stellung, ihrer
Materie zu dem Beziehungsraum des Universums? w^as ist von dem
Raum zwischen den Systemen zu denken? ist er durch die Bildung
jener Scheiben alles Stoffes beraubt? und wie hat man sich den
Uebergang der zu Beziehungsräumen oder Systemen gebildeten Materie
oder gar des Beziehungsraumes des Universums in jene noch uuge-
büdeten Räume vorzustellen, die doch auch zum Universum gehören?
Wie die Materie selbst, w^elche nicht allein (S. 34, Note) durch die
Newtonische Anziehung, sondern bei der ersten Bildung „durch den
Zusammenlauf einiger Elemente, die sich durch die gewöhnlichen
Gesetze des Zusammenhangs vereinigen", d. h., wie Kant in einer
späteren Arbeit diese Unklarkeit verbessert, 0 „sich nach Gesetzen zu-
erst der chemischen, hernach und vornehmlich der kosmologischen"
(Newtonischen) Attraction gebildet haben? Kant nennt die planetarische
Urmaterie unseres Sonnensystems 30 Millionen mal dünner als unsere
Atmosphäre (S. 49). Wie er sie sich gedacht hat, erhellt aus der
Naturgeschichte des Himmels nicht; kaum als Staub oder Pulver,^)
denn „Partikelchen von so ausnehmender Feinigkeit" (S. 34, Anm.)
kann man sich nicht als Pulver denken. Hier gibt die Abhand-
lung über die Vulkane im Mond einige Andeutungen: der Urstoff
1) Ueber die Vulkane im Mond, 1785. Hart. 4, 200. Vgl. Metaphys.
Anfangsgründe der Naturwissensch. 11, Dynamik. Hart. 4, 424.
2) Gust. Eberhard, Die Cosmogonie von Kant, Wien 189.'^, S. V f.,
Kap. 1.
460 G. Gerland,
aller Woltkörpor war in dem ganzen weilen Raum, darin sie sich
jetzt beweg-en, anfangs „duustförmig verbreitet" ; und von diesem
dunstförmigen Urstoff lieisst es in Gensiclien's Auszug, ^) dass er
alle Materien von unendlich verschiedener Art im elastischen Zu-
stand 2) in sich enthielt und indem er Weltkörper bildete, dies
nur dadurch tat, dass die Materien, welche von chemischer Affi-
nität waren, wenn sie in ihrem Fall nach Gravitationsgesetzeu
aufeinander trafen, wechselseitig ihre Elastizität vernichteten.
Diese oder eine ähnliche Ansicht scheint Kant auch früher gehabt
zu haben; sie ist die natürlichste. Die Art wenigstens, wie er die
Materie aus der Natur Gottes ableitet, spricht für die Vorstellung
einer zusammenhängenden (elastischen), aber heterogenen Masse,
die nach Bildung des Chaos in einzelne einander ebenfalls nah be-
rührende Teilchen und Bewegungen dieser Teilchen auseinander-
gieng. Freilich stimmt zu dieser ungeheuren Verdünnung das sehr
verschiedene Maass der Dichtigkeit nicht, welche Kant S. 28 angibt:
es kann körperliche Bestandteile von einer Gattung geben, die eine
andere soweit an Dichtigkeit übertrifft, als eine Kugel mit dem Radius
des Plaueteugebäudes eine andere mit dem Durchmesser von einem
Tausendstel Linie übertrifft. Erstere sind seltener als letztere
und haben einen Abstand von einander, der der Grösse ihres
Radius entspricht. Klar gedacht, klar durchdacht ist hier nichts.
Wie ganz anders bespricht Kant das Wesen der Materie 30 Jahre
später, wo er sie, als Ding an sich, nur nach den sinnlich
wahrnehmbaren Erscheinungsformen ihrer Kräfte, also dynamisch
auffasst.
Auch darin liegt ein Widerspruch, dass Kant die Monde aus
kosmischer Materie sich bilden lässt, die immer noch um die der
Masse nach doch schon fertigen Planeten kreist, obwohl deren jeder,
„nach dem Maasse des Anwuchses seines Klumpens, seine An-
ziehung weiter ausbreitet und die Elemente aus weitem Umfange
zu seiner Zusammenziehung bew^egt" (35). Die kosmische Materie
wird ja durch die Bildung der Sonnen und Planeten aufgebraucht.
„In der jetzigen Verfassung des Raumes, darin die Kugeln der
ganzen Planeten umlaufen, ist keine materialische Ursache (8. 26)
vorhanden, die ihre Bewegungen eindrücken oder richten könnte.
1) Gensichen's Auszug, Teil 1 u. 2, Hauptst. 1—5, in W. Herschel,
über den Bau des Himmels, Wien 1791.
2) Hart. 4, 198; vgl. v. Oettingen's Ausgabe S. 157.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 461
Dieser Raum ist vollkommen leer, oder doch wenig-stens so g-ut
als leer . . . uaclideiii die Anziehung- besag-te Räume gereinig-t und
alle ausg-ebreitete Materie zu besonderen Klumpen versamlet" hat.
Woher kommt also noch die g-ewiss nicht geringe Menge weiterer
Materie, die, der Sonne näher, mit schnellerem Schwung umlauft
und durch die Sphäre des Planeten genötigt ist, sich in einer „ab-
langen Ausschweifung über den Planeten zu erheben" (63), um ihrer-
seits dem für den Mond schon vorhandenen Stoff die zum Planeten
rechtläufige Bewegung zu geben? War aber diese von Kant hier
eingeführte weitere Materie überhaupt nicht vorhanden, wie seine
ersten Darlegungen ergeben, dann mussten die Monde rückläufig
werden und so behalten Poiucare und Eberhard^) gegen Rahts-)
Recht.
Auf die sonstigen physikalischen wie mechanischen Unmög-
lichkeiten, welche in Kaut's Entstehungsgeschichte des Welt-
systems und seiner Bewegungen, die trotz Anziehung und Ab-
stossung in ihrer ganzen Art durchaus nicht erklärt werden, gehe
ich nicht ein; sie sind von Eberhard und Anderen — am schärf-
sten bekanntlieh von Dühring — zur Genüge dargelegt. Aber
auch die Fachgelehrten unter Kaufs Zeitgenossen, die Astronomen,
die Naturfoi'scher konnte die Naturgeschichte des Himmels nicht
befriedigen. Zunächst wegen der vielen wissenschaftlichen Ver-
stösse und sachlichen Unklarheiten, welche ja in solchen Werken
zu den schlimmsten Fehlern gehören, und die auf die Zeitgenossen
abstossender wirken mussten, als auf uns. Dazu kam die oft
äusserst verworrene, ungeschickte Ausdrucksweise des Buches, die
es ebenso sehr an Klarheit der Gedanken, wie an Reinheit und
Feinheit der Sprache fehlen lässt. Ist doch in keinem anderen
der Kantischeu Werke, auch bei viel grösseren Schwierigkeiten des
Inhalts, die äussere Form so sehr vernachlässigt, wie in der Natur-
geschichte des Himmels. Und in dieser wenig anlockenden Darstellung
brachte -das Buch für die damalige Zeit wenig Neues; hatten doch
Kaut's jetzt freilich sehr wenig bekannte Vorgänger, Wright, Sweden-
borg, Büffon u. a. schon dieselben oder doch ganz ähnliche Gedanken
ausgesprochen, die damals, wie das Beispiel Lavater's und der
Dichter beweist, in der Luft lagen. Und dabei, nach Newton,
diese seltsame, beinahe hochmütige Ablehnung der Mathematik:
^) Die Cosmog. u s. w., S. XII f.
2) Akad.-Ausg. 1, 554.
462 G. Gerland,
„man könnte, wenn man weitlänftig- sein wollte, durch eine Reihe
auseinander g-efoig-erter Schlüsse, nach der Art einer mathema-
tischen Methode, mit allem Gepränge, den diese mit sich führet
und noch mit g-rösserem Schein" u. s. w. (S. 26). Und auch das
ist noch nicht Alles: zu alledem die mannig-fachen religiösen Be-
trachtungen; sodann der eigentümlich phautastische, poetisch-hu-
moristische Zug, der durch das ganze Werk hindurchgeht! So
gleich in der Einleitung die Widerlegung der Freigeistei'ei; später
die poetischen Citate (abermals wie bei Wright!), die schwülstige
Schilderung der Unendlichkeit der Werke Gottes, die spöttische
Einführung jenes etwaigen Erdrings, Veranlassers der Sündflut; die
Beschreibung der brennenden Sonnenoberfläche, der mit unangenehmer
Breite durchgeführte Vergleich eines „witzigen Kopfes" (S. 176 f.),
der Vergleich der Planetenbewohuer mit Läusen, die Schilderung der
Entwickelung und Fähigkeiten der Planetenbewohner je nach ihrer
Entfernung von der Sonne — und diese „Jüngling-gedanken",
wie Herder an Lavater schrieb, nicht ohne jugendliche Selbst-
gefälligkeit vorgetragen: das Buch musste auf die ernsteren Zeit-
genossen, die den jungen Verfasser ja nicht kannten, die nach
dem Titel ein astronomisches Werk erwarteten, einen nicht ange-
nehmen Eindruck macheu. Hier liegt der Grund für das Unbekannt-
bleiben des Buches: man las es nicht, weil es nicht gefallen, nicht
befriedigen konnte. Und der, dem das Werk doch zumeist am Herzen
liegen musste, sein Autor, vernachlässigte es selbst am meisten. So
kannten es weder Laaibert noch Herschel noch Laplace und die
Frage, welche man oft, nicht ohne Vorwurf, gegen Kaut's Zeit-
genossen, ja gegen Laplace selber erhoben hat, was der Grund
für die Vernachlässigung der Kantischen Schrift gewesen sei, ist
hiermit beantwortet. Kant war selbst Schuld daran. Nicht durch
den Naturforscher Kant, erst durch den Philosophen ist das AVerk-
cheu bekannt geworden; konnte es erst bekannt werden.
Blicken wir nun noch einmal zurück auf die Naturgeschichte
des Himmels, so ist zunächst klar, dass man diese ,, Jünglingsarbeit"
nicht mit einem Werke wie die Mecanique Celeste von Laplace
zusammenstellen, dass man in keiner Weise, wenn man wissen-
schaftlich und nicht bloss nach oberflächlichster Vergleichung ur-
teilen will, von einer Kant-Laplace'schen Hypothese reden kann,
denn beide Männer sind in Auffassung, Methode, Absicht und Re-
sultat durchaus von einander verschieden. Klar ist ferner, dass
Kuno Fischer Kant sehr mit Unrecht den Begründer der modernen
Immanuel iCant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 463
Kosmogonie nennt. Völlig- unbegreiflich ist es, wenn Günther ^)
von „Laplace's neuer Formulierung- der Kantschen Ideen" spricht
und sag-t: „anscheinend (!) ohne von früheren verwandten
Leistungen etwas zu wissen, sah sich der Verfasser des Gesetz-
buches der neueren Kosniologie, der Mecanique Celeste von sich
aus auf eine ähnliche Hypothese g-eführt". Ebenso unbegreiflich
bleibt es freilich, wenn wir Günther^ sagen hören: „in der Haupt-
sache deckt sich das Facit der spektroskopischen Forschung mit
den aus der Kant-Laplaceschen Theorie gezogeneu Folgerungen."
Nein. Kant's Buch ist unbekannt geblieben nicht durch den
Bankerott des Verlegers, nicht durch die Schuld der Zeit- oder
Fachgenossen. F.s blieb unbekannt durch seine eigene Schuld:
auf naturwissenschaftlichem Gebiet konnte es keinen Erfolg haben
wegen seiner Schwächen, seiner Fehler.
Neuute Vorlesung.
Fortsetzung der Kritik; „Der einzig mögliche BcAveisgrund".
Und dennoch I Dennoch ist dies kleine Werk, diese Natur-
geschichte des Himmels mit ihrem Anlehnen an Wright, mit ihren
Irrtümern und Verworrenheiten eine bedeutende Tat Kant's, eine für
ihn selbst geradezu grundlegende Tat. Aber ihr Weit liegt
nicht auf naturwissenschaftlichem, er liegt auf philoso-
phischem Gebiet. Wohl freute sich Kant auch an den natur-
wissenschaftlichen Resultaten seiner Arbeit, an der Erklärung der
Saturnringe u. s. w. und in diesen Einzelheiten sieht man häufig
genug auch heute noch die eigentliche Bedeutung der Schrift.
Sehr mit Unrecht. Kaut war kein Naturforscher, er wollte es
auch nicht sein und wurde es hier nur zufällig, besser gesagt,
zwangsweise, weil ihn sein Weg mit Notwendigkeit über dies
naturwissenschaftliche Gebiet führte. Aber die Hauptsache war
ihm das nicht. Nicht allzulange nach dem ersten Erscheinen der
Naturgeschichte gab er die Kosuiogouie umgestaltet in einer neuen
Schrift heraus und diesmal zeigte er deutlich, was ihn beschäftigte,
wo sein Ziel lag. Diese Schrift ist die 1763, also 8 Jahre nach der
Naturgeschichte des Himmels erschienene Abhandlung „Der einzig
mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes". 3)
1) Handb. der Geophysik 2. Aufl., 1, 48. Vgl. Ralits Ak.-A. 1, 555.
2) Eb. 84.
3) Ak.-Ausg. Bd II, 63-204; 470-77.
464 a. Gerland,
Sie bildet den Höhepunkt seiner vorkritischen Arbeiten; ihn wollte
er erreichen und nur hierfür schrieb er die Naturgeschichte des
Himmels, deren naturwissenschaftliche Resultate ihm nur erfreu-
liche Nebendinge waren. Dies muss ich beweisen: wir werden
dabei die direkte Bahn finden, welche über die Gedankeu von der
wahren Schätzung- dei- lebendigen Kräfte, über die Naturgeschichte
des Himmels, den einzig möglichen Beweisgrund und die Abhand-
lung de uiundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis
(1770) zur Kritik der reinen Vernunft hinführt. Hiergegen ist
es völlig gleichgültig, ob der noch jugendliche Kant (er war
31 Jahr alt, als er die Naturgeschichte herausgab) mancherlei
falsche Sätze und Anschauungen aufstellte und mancherlei geniale
F'unde that; ist es gleichgültig, ob die Naturgeschichte gelesen
wurde oder nicht; Kant selbst hat sich nicht sehr darum be-
kümmert: ihm hatte das Werk geleistet, was es leisten sollte.
Jetzt wollte, musste er weiter.
Was ist denn, so müssen wir zunächst fragen, der eigentliche
Grundgedanke der Naturgeschichte des Himmels? Nach der Litte-
ratur über dieselbe sollte man glauben, das ganze Werk habe den
einen rein naturwissenschaftlichen Zweck, den mechanischen Ur-
sprung des ganzen Weltgebäudes darzulegen, eine Kosmogonie zu
geben. Das ist keineswegs die Hauptsache für Kant. Er will
nachweisen: die Materie entwickelt sich aus dem Chaos ganz me-
chanisch zu einem ganz regelmässigen, ganz mechanischen Bau;
aus dieser Gesetzmässigkeit und Regelmässigkeit folgt die Existenz
Gottes als Urgrund der Welt. Um Gott als Urgrund der Welt
zu beweisen, war der Nachweis der regelmässigen, alle Welt-
materie beherrschenden, ihr innewohnenden Gesetzmässigkeit zu
führen. Die Existenz Gottes und sein Verhältnis zur Welt oder
der Welt zu ihm, das ist die Frage, welche Kaut erfüllt, von der
er ausgeht. Hierfür war ihui Wright's Gedanke von so grossem
Wert, von so zündender Kraft: die Gesetzmässigkeit herrscht
durch die ganze Unendlichkeit der Welt, Gott ist der Urgrund
der ganzen Welt, Gott ist, weil die Welt ist, d. h. weil die Welt
für sich selber nach ihr inne wohnender, aus der wirreu Ver-
mischung des Chaos bildnerisch hervortretender Gesetzmässigkeit
sich entwickelt hat. Der Grundgedanke des Werkes ist also kein
naturwissenschaftlicher, sondern ein philosophischer: es existiert
ein (Jott, weil eine regelmässige und doch freie, eine nicht durch
Wunder, sondern durch eigene Thätigkeit geleitete, d. h. also
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 465
mechanisch thätige Welt existiert. So sagt Kant Naturg. d. H.
S. 16 d. Orig.-Ausg.: „Der Lehrbegriff, den wir vorgetragen
haben, eröfnet uns eine Aussicht in das unendliche Feld der
Schöpfung und bietet eine Vorstellung von dem Werke Gottes dar,
die der Unendlichkeit des grossen Werkmeisters gemäss ist".
S. 15: „Man siebet . . ., dass die Schöpfung in dem ganzen un-
endlichen Umfang ihrer Grösse allenthalben systematisch und auf-
einander beziehend ist." S. 101 : „Der planetische Weltbau . . .
ist gänzlich . . . aus dem ursprünglich ausgebreiteten Grundstoff
aller Weltmaterie gebildet worden. Alle Fixsterne, die das
Auge in der holen Tiefe des Himmels entdecket, und die eine
Art von Verschwendung anzuzeigen scheinet^), sind Sonnen und
Mittelpunkte von ähnlichen Systemen. Die Analogie erlaubt
es also hier nicht, zu zweifeln, dass diese auf die gleiche
Art, wie das, darinn wir uns befinden, aus denen kleinsten
Theilen der elementarischen Materie, die den leeren Raum,
diesen unendlichen Umfang der göttlichen Gegenwart,^)
erfüllete, gebildet und erzeuget hat." S. 27: „Die Natur, die un-
mittelbar mit der Schöpfung gränzete, war so roh, so ungebildet
als möglich. Allein auch in den wesentlichen Eigenschaften der
Elemente, die das Chaos ausmachen, ist das Merkmal derjenigen
Vollkommenheit zu spüren, die sie von ihrem Ursprünge her
haben, indem ihr Wesen aus der ewigen Idee des gött-
lichen Verstandes eine Folge ist.^) Die einfachsten, die
allgemeinsten Eigenschaften, die ohne Absicht scheinen ent-
worfen^) zu seyn, die Materie, die bloss leidend und der Formen
und Anstalten bedürftig zu seyn scheinet, hat in ihrem ein-
fachsten Zustand eine Bestrebung,-) sich durch eine
natürliche Entwickelung zu einer vollkommenen Ver-
fassung zu bilden. S. 107: Die Grundmaterie selber, deren
Eigenschaften und Kräfte allen Veränderungen zum Grunde liegen,
ist eine unmittelbare Folge des göttlichen Daseyns:-)
selbige muss also auf einmal so reich, so vollständig seyn, dass
die Entwickelung ihrer Zusammensetzungen in dem Abflüsse der
Ewigkeit sich über einen Plan ausbreiten könne, der alles in sich
schliesset, was seyn kan, der kein Maass annimmt, kurz, der un-
endlich ist." Entsprechende Gedanken äussert Kant S. 111; 113;
145 f.: „wenn man aber erweget, dass die Natur und die ewigen
1) Fehler Kanfs für „scheinen". Wohl kein Schreibfehler!
2) Sperrung nicht von Kant.
KftDtatudien X. 81
466 a. Gerland,
Gesetze, welche den Substanzen zu ihrer Wechselwirkung vorge-
schrieben seyn, kein selbständiges, und ohne (iOtt noth wen-
diges,^) Principium sey, dass eben dadurch, weil sie so viel
Uebereinstimmung und Ordnung in demjenigen zeigt, was sie durch
allgemeine Gesetze hervorbringet, zu ersehen ist, dass die
Wesen aller Dinge, in einem gewissen Grundwesen,
ihren gemeinschaftlichen Ursprung') haben müssen, und
dass sie darum lauter gewechselte Beziehungen und lauter Har-
monie zeigen, weil ihre Eigenschaften in einem einzigen höchsten
Verstände, ihre Quelle haben, dessen weise Idee sie in durch-
gängigen Beziehungen entwoi-fen und ihnen diejenige Fähigkeit
eingepflanzet hat, dadurch sie lauter Schönheit, lauter Ordnung,
in dem ihnen selbst gelassenen Zustande ihrer Wirksamkeit, her-
vorbringen": etc. Und S. 168: „Man glaubt mit Recht, dass ge-
schickte Anordnungen, welche auf einen würdigen Zweck abzielen,
einen weisen Verstand zum Urheber haben müssen." „Was aus
den allgemeinen Gesetzen der Natur herfliesset, ist nicht die
Wirkung des blinden Zufalles oder der unvernünftigen Nothwendig-
keit: es gründet sich zuletzt doch in der höchsten Weisheit, von
der die allgemeinen Beschaffenheiten ihre Uebereinstimmung ent-
lehnen. Der eine Schluss ist ganz richtig: wenn in der Verfassung
der Welt, Ordnung und Schönheit hervorleuchten; so ist ein GOtt.
Allein, der andere ist nicht weniger gegründet: Wenn diese Ord-
nung aus allgemeinen Naturgesetzen hat herfliessen können; so
ist die ganze Natur nothweudig eine Wirkung der höchsten
Weisheit."
Entsprechende Stellen liessen sich häufen. Hier aber sehen
wir ein Zweites: wir sehen, welch hohen Wert für Kant die ge-
setzmässige Regelmässigkeit, mit anderen Worten, der Mechanis-
mus der Welt hat.
Wir begreifen jetzt die Wichtichkeit, welche die Ausdehnung
dieses Mechanismus über die ganze Welt, wie sie Wright erbrachte,
für ihn haben musste, warum er gerade von Newton's Unvermögen,
diesen Mechanismus streng durchzuführen, ausgieng, um diese
Durchführung zu ermöglichen.
Aus diesem Mechanismus gewann er ein Doppeltes: erstens
den Beweis für das Dasein Gottes durch die ganze Unendlichkeit
der Welt, dessen Wichtigkeit für Kant die angeführten Stellen be-
^) Sperrung nicht von Kant.
Immanuel Kant, seine geograpli. und anthropolog. Arbeiten. 467
weisen. Denn nur wenn die Gesetzmässigkeit gleichmässig durch
alle Welt hiugieng, konnte Kant seinen Gottesbeweis, d. h. die
Welterklärung-, nach welcher er strebte, durch die ganze Welt
durchführen. Seine Frage war ja: ist ein Gott? und wie ist er?
Damit war aber noch ein anderer sehr wichtiger Punkt ge-
geben. Gott war hierdurch bewiesen, aber der Gottesbegriff zu-
gleich auch durch die mechanistische Weltauffassuug gereinigt.
Kant's Gott ist ein ganz anderer Gott, als der, welcher von
frühesten Zeiten her überall herrschte und nichts neben sich auf-
kommen liess, ein ganz anderer also, als jener Tabu-Gott, deQi alles
angehörte, den auch nur zu besprechen schon für unerlaubt galt,
wegen dessen Anfechtungen Kant sich schon in seiner Vorrede
mau möchte beinahe sagen ängstlich verteidigt hatte. Dieser
Gott war es, der in Wollen, Wirken rein anthropomorphisch ge-
dacht in alles persönlich und oft auf das kleinlichste eingriff, neben dem
eben wegen seiner engen und platten Anthropomorphie eine wirklich
grosse Gottes- und Weltauffassuug nicht aufkommen konnte. Er
herrschte überall, in der Philosophie, in der Naturwissenschaft. Kaut
selbst fühlte sich durch denselben so eingeengt, dass er wohl einsah,
eine sichere Wissenschaft könue neben ihm nicht aufkommen, da
er selbst völlig unwissenschaftlich aufgefasst war. Ihn galt es
zu beseitigen und eine Gottesauffassung einzuführen, die nicht my-
thisch-anthropomorphisch war. Das hat Kant gethan mit positivem
Beweis durch Einführung des Weltmechanismus und den Hinweis auf
die nur durch ihn, nicht durch persönliches Eingreifen oderWollen Gottes
zu erklärende Unregelmässigkeit, Vergänglichkeit der Natur. „Wenn
man sich also," sagt er S. 148, „eines alten und ungegründeten
Vorurteils, und der faulen Weltweisheit, entschlagen kan, die,
unter einer andächtigen Mine (149), eine träge Unwissenheit zu
verbergen trachtet; so hoffe ich, auf unwiedersprechliche Gründe,
eine sichere Ueberzeugung zu gründen: dass die Welt eine
mechanische Entwickelung, aus den allgemeinen Natur-
gesetzen, zum Ursprünge ihrer Verfassung, erkenne."»)
Gegen diese faule Weltweisheit, diesen „Wust hergebrachter
Meinungen", tritt er auch mit scharfem Spott auf: so S. 95 f. in
der Fiktion des wässrigen, den Saturnriugen analogen Erdring,
dem Veranlasser der Sündflut, und sonst. Und weil er eben die
Existenz des Weltalls als natürlicher Offenbarung eines Grund-
1) Sperrung in der Orig.-Ausg.
31*
468 6. Gerland,
Wesens und deshalb so unendlich als die Eigenschaften dieses
Grundwesens selbst i) darlegen will, sieht er von der schriftlichen
Offenbarung fast 2) ganz ab, die ja nur von den altmythologischen
Auffassungen aus gegeben war. Aber eben deshalb konnte er
sich der mathematischen Darlegung seines Systems enthalten
(S. 26), was er nicht gedurft hätte, wenn er wirklich, wie Newton.
ein streng naturwissenschaftliches Ziel in dem strengen
Nachweis der mechanischen Verfassung des Weltalls hatte; eben
deshalb konnte er Wright benutzen auf die Art, wie er ihn be-
nutzt hat. Von hier aus erklären sich auch die vielen ethisch-
gemütvollen Betrachtungen, die Kant einflicht, die ebenfalls aus
einem streng naturwissenschaftlichen Werk wegbleiben mussten;
von hier aus auch die Citate holer Ueberschwenglichkeit aus
Pope, Haller, 3) Addissou u. s. w.; von hier aus aber auch z. T.
wenigstens der fehlende naturwissenschaftliche Einfluss des
Werkes, welches jeder gleichzeitige Leser, den ja die spätere
Wissenschaft noch nicht aufgeklärt hatte, schon in Folge der
Polemik gegen den herrschenden Dogmatismus gleich von vorn-
herein weit mehr als wir für ein philosophisches halten müsste.
Und so können wir jetzt den Hauptzweck und die eigentliche
Bedeutung der Naturgeschichte des Himmels klar beurteilen. Sie liegt
in der Auf Stellung des Begriffs der mechanischen Entwickelung der Ge-
samt weit; sie liegt ferner in dem durch diesen Begriff aufgenommenen
Kampf gegen den alten Gottesbegriff, der Menschen weseu und
Meuschentätigkeit kindisch verkörpernd in frommer und bequemer
Fortfühlung — nicht Fortentwickelung — ältester Anschauungen,
alle Welt beherrschte, alle Wissenschaft unmöglich machte, weil er
die Freiheit des Denkens unmöglich machte. Diese Freiheit aber
brauchte Kant; sie wollte er schaffen, gewinnen.
Diesen Gottesbegriff bekämpften schon seit lange, wenn auch
meist unbewusst die Geistesheroen. Gegen diesen Tabugott seiner
Zeit trat schon Christus auf zu Gunsten des liebevollen Vaters
im Himmel. Und wie Christi Kampf hauptsächlich ein Kampf
gegen die alten verhärteten Tabubegriffe und die durch sie her-
vorgebrachte öde Verhärtung des Menschengeistes war, so ist
1) S. 106.
2) s. 127.
3) Wie anders zeigt sich der spätere Klopstock. Die Klarheit der
meisten seiner Poesien, z. B. sein „schön ist, Mutter Natur, deiner Er-
findung Pracht" u. s. w. stehen auf ähnlichem Standpunkt, wie Kant.
Immanuel Kant, seine geograph. und antliropolog. Arbeiten. 469
Überhaupt der wichtigste Grimdzug aller Kulturgeschichte der
Kampf gegen die uralten Tabueinrichtungen der Menschheit,
welche diese wie mit eisernen Netzen fast unlösbar umspannten
und zum grossen Teil — man denke z. B. an den Aberglauben
und seine Macht — noch heute umspannen. Auf wissenschaft-
lichem Gebiet hat den Kampf wohl Niemand fruchtbarer und sieg-
reicher geführt, als der Heerführer der kritischen Philosophie, als
Kant. Den Gott, den er uns anerkennen lässt, und von dem er
sagt: „es ist durchaus nötig, dass man sich vom Dasein Gottes
überzeuge; es ist aber nicht eben nötig, dass man es demonstriere"
— ein Wort, welches Christus auch hätte sagen können — den
Gott hat er zunächst durch die Naturgeschichte und die Theorie
des Himmels als Urgrund der Welt, der Weltmaterie nachzuweisen
gesucht.
JVlit den eben angeführten Worten schloss Kant seine Schrift
über den einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des
Daseins Gottes, die 1763 als die umfassendste der vorkritischen
Schriften erscliien. Schon oben wurde sie kurz erwähnt; ehe wir
sie ausführlicher betrachten, ist noch eine Bemerkung über die
Naturgeschichte des Himmels hinzuzufügen.
Auch die Menschheit, die Bewohner der Gestirne bespricht
Kant in der Naturgeschichte. Auch sie fügt er in den Mechanis-
mus des Weltalls ein, zunächst, indem er ihre grössere oder ge-
ringere psychophysische Vollkommeuheit von der leichteren uud
feineren Art der Materie der betreffenden Himmelskörper ab-
hängen, sie also mit der Entfernung von der Sonne zunehmen
lässt. Er hält dies, wie wir schon sahen, bis zur Gewissheit
glaubwürdig (S. 187); und um jeden Zweifel zu heben, ,.muss
nicht, fragt er, die IVIechanik aller natürlichen Bewegungen einen
wesentlichen Hang zu lauter solchen Folgen haben, die mit dem
Projekt der höchsten Vernunft in dem ganzen Umfange der Ver-
bindungen wohl zusammenstimmen?" Also auch für die Organis-
men, für Menschen, Tiere und Gewächse (S. 185) gelten die
gleichen Gesetze und Verhältnisse, wie für die Himmelskörper, für
die Materie.
In der Naturgeschichte des Himmels war der „Versuch von
der Verfassung und dem mechanischen Ursprung des ganzen
Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt" uud
nachgewiesen; an diesem Nachweis hat Kant immer festgehalten;
er hat nur wenig daran geändert. Bei der Abfassung scheint er
470 G. Gerland,
durch manche seiner Funde selbst überrascht gewesen zu sein;
jedenfalls hat er die g-rösste Freude au der ganzen Darstellung gehabt;
er nahm seine Resultate als fertig abgeschlossen hin. Aber das Werk
enthielt ja noch ein zweites Hauptsächliches, die Darstellung des
Verhältnisses der Welt zu Gott, Gottes zu der Welt. Gott wird als
Grund wesen der Welt hingestellt, wie wir sahen. Kant hält noch
den Gottesbeweis aus der Ordnung und Schönheit der Welt für
ganz richtig; und ebenso richtig den Satz, dass wenn diese Ord-
nung aus allgemeinen Naturgesetzen herfliessen konnte, die ganze
Natur notwendig die Wirkung der höchsten Weisheit ist (S. 165).
Aber an diesem zweiten, au diesem philosophischen Teil seiner Dar-
legung hielt er, bezeichnend genug, nicht ebenso fest, wie an dem
ersten. Er genügte ihm sehr bald nicht mehr und gerade mit
dieser Frage, mit dem Verhältnis der Welt zu Gott beschäftigte
er sich anhaltend weiter. Hier haben wir wieder einen Beweis
dafür, dass Kant's wissenschaftliches Hauptinteresse in dem
Gottesbegriff, dem Verhältnis von Gott und Welt liegt. Die
Welt ist aus Gott entstanden; die Grundmaterie selber ist eine
unmittelbare Folge des göttlichen Daseins u. s. w. Die Frage
aber, wie sie dies sein kann, war nicht beantwortet; sie be-
schäftigte Kant in den folgenden Jahren und verbindet die Natur-
geschichte des Himmels auf das engste mit dem „Versuch, den
Begriff der negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen"
(1763)^) und mit jener anderen Abhandlung desselben Jahres, „der
einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins
Gottes". 2) Die in der Naturgeschichte offen gelassene Lücke soll
hier geschlossen werden. Kant beweist im 3. Abschnitt der erstge-
nannten Abhandlung: 1) in allen natürlichen Veränderungen der
Welt wird die Summe des Positiven, insoferne sie dadurch ge-
schätzt wird, dass einstimmige (nicht entgegengesetzte) Positionen
addirt und real entgegengesetzte von einander abgezogen werden,
weder vermehrt noch vermindert.^) Und 2) „Alle Realgründe des
Universum, wenn man diejenigen summirt, welche einstimmig sind
und die von einander abzieht, die einander entgegengesetzt sind,
geben ein Facit, das dem Zero gleich ist.*) Das Ganze der Welt
1) Hartenstein, 1867, Bd. 2, S. 69—106. Ak.-Ausg. Bd. 2, 166-204.
2) Hart. 107—205. Ak.-Ausg. 2, 63—163.
3) Hart. S. 96, gesperrt. Ak.-Ausg. 2, S. 194.
*) Hart. S. 99, bis hierher gesperrt. Ak.-Ausg. 197.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 471
ist an sich selbst nichts, ausser in so ferne es durch den Willen
eines Anderen etwas ist."
Aber, fragt Kant S. 104, (Ak.-A. 202) „wie soll ich es verstehen,
dass, weiP) Etwas ist, etwas Andres sei?" Der Wille Gottes
enthält den Realgrund vom Dasein der Welt. Der göttliche
Wille ist etwas. Die existirende Welt ist etwas ganz anderes.
Indessen durch das Eine wird das andere gesetzt." Die Abhand-
lung schliesst mit der Darlegung, dass ein Realgrund nur durch
einen Begriff könne ausgedrückt werden, dass aber das Verhältnis
solcher Begriffe zur Folge nicht deutlich gemacht werden könne.
Also auch hier, wie in der Naturgeschichte des Himmels: die
Welt von Gott geschaffen ist Tatsache, Begriff und als beides
hinzunehmen.
Hier wird auf die unfertige Stelle der Naturgeschichte hin-
gewiesen; beseitigt wird sie nicht. Sie zu beseitigen unternimmt
Kant in jener zweiten Abhandlung aus 1763.
In der Naturgeschichte des Himmels heisst es S. 147 etc.:
„Die Natur, ihren allgemeinen Eigenschaften überlassen, ist au
lauter schönen und vollkommenen Früchten fruchtbar, welche
nicht allein an sich üebereinstimmung und Treflichkeit zeigen,
sondern auch mit dem ganzen Umfange ihrer Wesen, mit dem
Nutzen der Menschen, und der Verherrlichung der göttlichen
Eigenschaften, wohl harmonieren. Hieraus folgt, dass ihre
wesentlichen Eigenschaften keine unabhängige Nothwendigkeit
haben können ; sondern, dass sie ihren Ursprung in einem einzigen
Verstände, als dem Grunde und der Quelle aller Wesen, haben
müssen, in welchem sie, unter gemeinschaftlichen Beziehungen,
entworfen (148) sind. Alles, was sich aufeinander, zu einer
gewechselten Harmonie, beziehet, muss in einem einzigen Wesen,
von welchem es insgesammt abhängt, unter einander verbunden
werden. Also ist ein Wesen aller Wesen, ein unendlicher Ver-
stand und selbständige Weisheit vorhanden, daraus die Natur,
auch sogar ihrer Möglichkeit^) nach, in dem ganzen Inbe-
griffe der Bestimmungen, ihren Ursprung ziehet. Nunmehro darf
man die Fähigkeit der Natur, als dem Daseyn eines höchsten
Wesens nachtheihg, nicht bestreiten; je vollkommener sie in ihren
Entwickelungen ist . . ., ein desto sicherer Beweisthum der Gottheit
1) Sperrung im Original.
2) Sperrung nicht von Kant,
472 G. Gerland,
ist sie, von welcher sie diese Verhältnisse entlehnt" . . . Nicht
der ohngefehre Zusarameulauf der Atomen des Lucrez hat die
Welt gebildet: eingepflanzte Kräfte und Gesetze, die den
weisesten Verstand zur Quelle haben, sind ein unwandelbarer
Ursprung der Ordnung gewesen, die aus ihnen nicht von ohngefehr,
sondern noth wendig abf Hessen muste." Eine ganz ähnliche
Stelle (bei Kant S. 145) haben wir früher (S. 417) betrachtet.
Diese Stellen sind für die Bedeutung, für die innere Ge-
schichte der Naturgeschichte des Himmels sehr wichtig. Sie ver-
knüpfen sie mit der religionsphilosophischen Abhandlung Kant's,
dem „Beweisgrund" auf das engste.
Die Naturgeschichte des Himmels hatte die Mechanik des
Himmels dargelegt; das Verhältnis der Welt zu ihrem „Ursprung"
zu Gott war behauptet, aber nicht bewiesen; der Begriff jenes
„Urgrundes" jener „höchsten Weisheit" u. s. w. und ihr Zu-
sammenhang mit der Welt war wohl ausgesprochen, aber noch
keineswegs mit wirklich kritischer Schärfe beleuchtet. Das tat
Kant erst in jener späteren Schrift, deren Grundgedanken ihn
aber schon beschäftigten, als er die Naturgeschichte schrieb. Das
geht aus den eben citierten Stellen deutlich hervor. Denn wenn
es daselbst heisst: also ist ein Wesen aller Wesen . . . vorhanden,
daraus die Natur, auch sogar ihrer Möglichkeit nach, in
dem ganzen Inbegriff der Bestimmungen, ihren Ursprung ziehet:
so stimmt dies genau zu dem ontologischen Beweis Kaut's:^) „alle
Möglichkeit setzt etwas Wirkliches voraus, worin und wodurch
alles Denkliche gegeben ist. Demnach ist eine gewisse Wirklich-
keit, deren Aufhebung selbst alle innere Möglichkeit überhaupt
aufheben würde. Dasjenige aber, dessen Aufhebung oder Ver-
neinung alle Möglichkeit vertilgt, ist schlechterdings nothwendig.
Demnach existirt etwas absolut nothwendiger Weise." Die Worte
„auch sogar ihrer Möglichkeit nach", in denen „auch sogar" be-
sonders hervorzuheben ist, erklären sich nur durch Kant's spätere
Darlegung seiner Gedanken, sie beweisen aber, dass er diese Ge-
danken schon bei der Abfassung der Naturgeschichte hegte, wenn
auch noch nicht in jener durchgearbeiteten Klarheit, wie später.
Und ferner, an der angeführten Stelle der Naturgeschichte fährt
Kant (148) fort: „ihre Hervorbringungen sind nicht mehr Wirk-
ungen des Ohngefehrs, und Folgen des Zufalls"; ganz ähnlich fährt
1) Hartenstein, 2, 126. Ak.-Ausg. 2, 83. Vgl. K. Fischer, Kant 1,
224 f., 230 f.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 473
er auch in der angegebeuen Stelle des Beweisgrundes fort: „mau
kann hieraus auch leichtlich den Begriff der Zufälligkeit ab-
nehmen . . . S. 227 f. Im Realverstande ist zufällig dasjenige,
dessen Nichtsein zu denken ist, das ist, dessen Aufhebung nicht
alles Denkliche aufhebt. Wenn demnach die innere Möglichkeit
ein gewisses Dasein nicht voraussetzt, so ist dieses zufällig, weil
sein Gegentheil die Möglichkeit nicht aufhebt." Die Zufälligkeiten
in diesem Sinne betont Kaut in der Naturgeschichte besonders
oft und zwar als einen Beweis für die Stellung des Urgrundes,
Gottes, zur Welt und ihrem Verlauf; es sind ja gerade diese Zu-
fälligkeiten, welche die Hervorbringuug der Weltmaterie durch das
Urwesen, Gott, beweisen (119, S. 153). Die absolute Notwendig-
keit wird im Beweisgrund dem „Wirklichen, woraus, worin und
wodurch alles Denkliche gegeben ist", von Kant beigelegt. i) Diese
Notwendigkeit setzt Kant auch in der Naturgeschichte voraus, wo
er sie freilich nur beiläufig erwähnt: S. 148 „eingepflanzte Kräfte
und Gesetze, die den weisesten Verstand zur Quelle haben, sind
ein unwandelbarer Ursprung derjenigen Ordnung gewesen, die aus
ihnen nicht von ungefehr, sondern nothwendig^) abfliesseu
raiiste". Und ebenso S. 168: „wenn diese Ordnung aus allge-
meinen Naturgesetzen hat herfliessen können: so ist die ganze
Natur noth wendig 2) eine Wirkung der höchsten Weisheit." Ist
das Wirkliche, wodurch alles Denkliche gegeben ist, notw^endig, so
ist auch alles Denkliche notwendig; ist das Denkliche notwendig,
so ist auch sein Realgrund notwendig, wie dies Kant in direkter
Ausführung im Beweisgrund darlegt. Dieselben Vorstellungen aber
treten schon in der Naturgeschichte hervor, wenn auch nur bei-
läufig, vielleicht nur in ihren ersten Anfängen. Im Beweisgrund
sind diese früher nur angedeuteten Gedanken dann abschliessend
dargelegt. Beides, Naturgeschichte und Beweisgrund, gehört als
Anfang und Ende einer Gedankenreihe zusammen.
Auch der Gedanke des Beweisgrundes, 3) dass der Grund
der Mängel und Verneinungen der Dinge nicht in dem Urwesen,
welches die höchste Realität enthält, sondern darin beruhe, dass
die anderen Dinge nicht das Urw'esen selber sind, findet sich
schon andeutungsweise in der Naturgeschichte, z. B. S. 119 und
noch deutlicher S. 170 — auch hier schon wird zwischen dem
1) Hartenstein 2, 126.
2) Sperrung nicht von Kant.
3) Hartenstein 2, 129 f. Ak.-A. 2, 85.
474 G. Gerland,
Urwesen und der von ihm geschaffenen Natur unterschieden,
„welche letztere in dein Umfange ihrer Mannigfaltigkeit alle mög-
lichen Abwechselungen, sogar bis auf die Mängel und Abweich-
ungen hin in sich fasst", Vergänglichkeit, bewohnbare Gegenden,
und Wüsteneien, Tugenden und Laster,
Dass nun dies Wesen, welches wir jetzt als Realgruud kennen
gelernt haben, einig, einfach, ewig ist, ergibt sich aus der Be-
trachtung der Beschaffenheit der Welt. Aber von hier aus be-
greift es sich auch, warum Kant der Naturgeschichte jenen dritten
Teil von den Bewohnern der verschiedenen Planeten angefügt hat.
Wenn für ihn die Frage war, wie ist das Weltall aufzufassen,
woher stammt es? Wenn er die Frage behandeln wollte, welche
Eigenschaften hat der Realgrund der Welt? dann musste er auch
die Eigenschaften mit in seine Betrachtung einbeziehen, die er
selbst durch keine andere Realität ersetzlich nennt,*) die Eigen-
schaften des Geistes, Verstand und Willen. Auch aus ihnen, die in
der Naturgeschichte äusserlich, ja halb scherzhaft geschildert
werden, auch wieder in ihrem Verhältnis zum mechanisch-materi-
ellen Aufbau der Welt, findet er Wichtigstes, ja das erstrebte
letzte Ziel seines Beweises: das notwendige Wesen ist gleichfalls
also ein Geist, einig einfach unveränderlich allgenugsam — es ist
ein Gott. Und dies war es, was Kaut beweisen wollte; wozu er
auch die Naturgeschichte verfasste.
Die Frage nach der Möglichkeit anderer besserer Welten be-
rührt Kant in der Naturgeschichte nicht und die Möglichkeit eines
mehr als dreidimensionalen Raumes, welche er früher zugab,^)
beweist nichts für eine solche Möglichkeit.
Schon in der Naturgeschichte ist ihm die Welt einheitlich,
ewig; und hier, im Beweisgrund, führt er den Beweis für diese
Einheitlichkeit in dem herrlichen Kapitel von der göttlichen AU-
genugsamkeit, indem er die Unmöglichkeit „besserer"' Welten aus
der höchsten Realität Gottes nachweist; auch hier also führt er
die Auffassung, die er in der Naturgeschichte vertrat, zu ihrem
höchsten Ziele hin.
Auch Einzelnheiten der Naturgeschichte wiederholen sich im
Beweisgrund: so der Gegensatz der organischen und anorganischen
1) Hartenstein 2, 131. Beweisgr. Abteil. 1, Betrachtung 4. Ak.-
Ausg. 87 f.
'<*) Gedanken § 10.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 475
Natur, in Folge dessen der Philosoph in der Einleitung zur Natur-
geschichte eine Welt aus gegebener Materie zu machen sich ge-
traute, nicht aber eine Raupe. Dies wird im Beweisgrund weiter
ausgeführt,') ohne das wir darauf einzugehen brauchen; ebenso
der Abweis der platten Zweckmässigkeitserklärungen des Rationa-
lismus, wie wir sie in der Einleitung der Naturgeschichte (Nutzen
der Seewinde) und sonst finden (Zweckmässigkeit der Jupiter-
monde zu Längenbestimmungen). Im Beweisgrund sind auch diese
Widerlegungen ausführlicher, in Beziehung auf Wolken und Wind,
Nordlichter, grüneFarbe derWälder(S.179.Ak.-A.136), auf dieBildung
der Gebirge, auf die Anlage und den Lauf der Ströme (S. 171),
über welche übrigens, ganz abgesehen von der Widerlegung des
platten und falschen Nützlichheitsprinzipes hier wie an anderen
Stellen sehr lehrreich und auch noch für die heutige Auffassung
beachtenswert gehandelt wird. 2) Diese ausgeführteren Gedanken
werden hier durchaus zur Sache gehörig verwandt: die falsche
Lehre der Phj^sikotheologie wird durch sie abgewiesen und zu-
gleich der wissenschaftlich richtige Kern der Sache gegeben. Die
Darstellung entspricht in ihrer ganzen wissenschaftlichen Haltung
der Art der Darstellung Varen's; sie ist den wertvolleren geogra-
phischen Partien der Werke Kant's zuzurechnen.
Wie diese Nützlichkeitsprinzipien weist Kant in der Natur-
geschichte auch die Wunder, d. h. alles persönliche Eingreifen
Gottes ab, als der Würde der Schöpfung eines vollkommenen Ur-
wesens, als der Würde dieses Urweseus selbst durchaus nicht
entsprechend. Diese Abweisung wird streng durchgeführt im Be-
weisgrund und zwar in der vierten bis sechsten Betrachtung der
2. Abteilung: im beweisenden Gegensatz hierzu bringt nun die
siebente Betrachtung, die Kosmogonie, „eine Hypothese 3) mecha-
nischer Erklärungsart des Ursprungs der Weltkörper und der Ur-
sachen ihrer Bewegungen, gemäss der vorher erwiesenen Regeln."
Bisher hat Kant die in der Naturgeschichte nur kurz angeführten
Punkte, welche, für seine Gesamtauffassung von Welt und Gott
von hoher Wichtigkeit, in der Darlegung der Mechanik des Welt-
1) Hartenstein 2, 149, 150, 157, 167, namentlich 195; Ak.-A. 152 u.s.w.
In derFussnote zu Hart. S. 156 Ak.-A. 114 entscheidet sich Kant dahin, den
Schimmel nicht für eine Pflanze, sondern für ein Sublimationsgebilde,
ähnlich wie die Mangandentriten zu halten.
2) Hartenstein 2, S. 170 f. Ak.-A. 2, 128 f.
4 Hartenstein 2, 180. Ak.-A. 2, 137.
476 G. Gerland,
baiies in zweiter Linie standen, ausführlich behandelt, in Entfal-
tung und Ergänzung der Naturgeschichte: jetzt bringt er die
Kosniogonie zur Ergänzung und Bestätigung seiner Welt- oder
besser gesagt seiner Gottestheorie. Er bringt sie nicht mehr iu
der Freude des ersten Fundes, vielmehr iu grösserer Ruhe, in
grösserer Klarheit und namentlich iu Styl und Darlegung der
Gedanken sehr viel gereifter und wissenschaftlicher. Leichter ist
es, sagt er auch hier wieder, wie in der Einleitung der Natur-
geschichte, das Grosse, Erstaunliche, „runde Massen, so viel mau
weiss, ohne Organisation und geheime Kunstzubereitung", als das
Kleine und bewundernswerte, das verächtlichste Kraut oder eine
sternförmige Schneeflocke zu erklären. Meiu Entwurf, fährt er
fort, ist grob und unausgearbeitet, einiges darin aber sehr wahr-
scheinlich. Auch wenn das Gesuchte nicht, wohl aber auf diesem
Wege andere Vorteile, die man uicht vermutet, gefunden würden,
gesetzt auch, dass die Hauptzwecke der Hypothese dabei ver-
schwindeu sollten, so wäre dies ein genügsamer Gewinn. *) Welche
unvermuteten Vorteile mag Kant meinen, welche doch Nutzen
bringen, auch wenn in seiner Hypothese Wichtigstes fehlerhaft ist?
ich kann die Stelle nur so verstehen, dass Kant auch hier auf das
hindeutet, was ja bei der Arbeit sein letztes Ziel war, bei dessen
Erforschung er seiue Hypothesen und deren Hauptzwecke mehr
beiläufig fand, die klare und richtige Auffassung des Gottesbegriffs,
auf die ja in dieser ersten Entwickelungsstufe Kants alles hinaus-
läuft. Und so äussert er sich auch selber am Schluss der schönen
Darlegung seiner kosmologischen Anschauungen: '2) „Meiner Meinung
nach hat die angeführte Hypothese zum mindesten Gründe genug
für sich, um Männer von ausgebreiteter Einsicht zu einer nähern
Prüfung des darin vorgestellten Planes, der nur ein grober Um-
riss ist, einzuladen. Mein Zweck, 3) insofern er diese Schrift
betrifft, ist erfüllt, wenn man durch das Zutrauen zu der Regel-
mässigkeit und Ordnung, die aus allgemeinen Naturgesetzen
fliessen kann, vorbereitet, nur der natürlichen Weltweisheit ein
freieres Feld eröffnet, und eine Erklärungsart, wie diese oder eine
andere, als möglich und mit der Erkenntnis eines weisen Gottes
wohl zusammenstimmend anzusehen kann bewogen werden."
1) Hartenstein 2, S. 181 f.
2) Eb. S. 190 f. Ak.-A. 2, 148.
3) Sperrung nicht im Original.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 477
Die Worte „insofern er diese Schrift betrifft," sind zwar
nicht ganz klar, aber Kant will mit der angeführten Stelle ohne
Zweifel sagen, dass die Darlegung des Weltmechanismus, also
auch die Naturgeschichte, aus philosophischen Gründen von ihm
unternommen ist, um zu einer reinen Gotteserkenntnis hinzu-
kommen.
So ist Gott in seiner Allgenugsanikeit bewiesen; die bis-
herigen Beweise kritisiert Kant in der 3. Abteilung des Wei'kes.
Es bleiben zwei Beweise von allen übrig. Der kosmologische, der
so alt, wie die menschliche Vernunft, als erhebender Gemütsbeweis
gewiss alle Anerkennung verdient, aber streng beweisende Schärfe
nicht besitzt. Diese schreibt Kant nur dem von ihm gegebenen
ontologischen Beweis zu, der aus der Möglichkeit der Welt auf
das ihr zu Grunde liegende notwendige Wesen, auf Gott schliesst.
Um diesen Beweis zu erbringen, wai'en die beiden Hauptarbeiten,
die Naturgeschichte und der Beweisgrund, nötig; er war der End-
zweck beider Schriften und durch sie, denen andere Nebeuschrifteu
fördernd zur Seite standen, ist er erbracht worden.
Dass auch er als streng schliessender Beweis nicht gelten
kann, hat Kant sptäter selber erkannt — schien es ihm doch
durchaus nötig, dass man sich vom Dasein Gottes überzeuge,
aber nicht eben so nötig, dass man es demonstriere. Wenn es
aber darauf ankommt, den Wert, die wissenschaftliche Bedeutung
der Naturgeschichte des Himmels, darzulegen, so hat sich uns ge-
zeigt, dass sie in erster Linie eine philosophische war. Und wenn
wir auch die Beantwortung unserer früher gestellten Frage, was
war Kant für die Naturgeschichte des Himmels? nicht mit der
Zustimmung beantworten konnten, mit der dies vielfach geschieht,
so müssen wir umgekehrt die Fragestellung, was war die Natur-
geschichte des Himmels für Kant? als die richtigere und wich-
tigere in den Vordergrund stellen. Denn sie hat Kant auf den
Weg gebracht, den er suchte; und weil er hier auf immer höhere
Bahnen, zu Consequenzen kam, die er nicht vermutete, so küm-
merte er sich um das Erstlingswerk nicht mehr, welches ja schon
durch den „Beweisgrund" für ihn überflüssig geworden war.
Auch wissenschaftlich hielt er in späteren Zeiten, 1791 in Gen-
sichen's Auszug, nur die mechanischen Darlegungen des ersten
und der 5 ersten Hauptstücke des zweiten Teiles fest.
Kant war in den rationalistischen Weltansichten herange-
wachsen, er hatte einen tief religiösen, auf wirkliche Frömmigkeit
478 Ö. Gerland,
g-erichteten Sinn. Aber trotzdem trat ihm, der nach wahrer, tat-
sächlicher Welterkenntuis strebte, jeuer Gottesbegriff des Mittel-
alters, der selbst Newton eingeengt hatte, überall hemmend ent-
gegen. Mit ihm, der ja auch ganz in die Weltauffassuug des
Rationalismus übergegangen war, musste er sich auseinandersetzen,
wenn er eine wirkliche Welterkenntnis anstrebte. Hierfür hat
Kant gearbeitet; die besprochenen Werke enthalten seine Ki-itik
der natürlichen Weltauffassung, die er ungetrübt durch veraltete
Vorstellungen haben wollte. Dies geschah durch die Beseitigung
des völlig unwissenschaftlichen, auch religiös wenig bietenden
anthropomorphistischeu Gottesbegriff vergangener Jahrtausende.
Auch die allgemeine Frömmigkeit brauchte klarere, möglichere,
reinere Begriffe, als die überlieferten; sie brauchte sie, wie Kant
sie zunächst für sich geschaffen hat.
Diese kritische Stufe, die uns selbstverständlich erscheint,
die es aber damals nicht war, musste erst festgelegt werden, ehe
eine weitere, wissenschaftliche Weltbetrachtung möglich war. Sie
wurde geschaffen durch Kant's Naturgeschichte des Himmels und
die anderen betrachteten Werke, durch seine P^inführung des
mechanischen Weltbegriffs, durch seine Darlegung der wissen-
schaftlichen und religiös-ethischen Wichtigkeit des letzteren.
Kaut erstrebte ja als Ziel, wie wir eben von ihm selbst
hörten, durch den Nachweis der Regelmässigkeit und Ordnung, die
aus den allgemeinen Naturgesetzen fliessen, der natürlichen Welt-
weisheit ein freies Feld zu eröffnen. Dies hat er gethan; und
daher bleiben trotz aller sachlichen Irrtümer die Naturgeschichte
des Himmels und der Beweisgrund Werke von weltgeschichtlicher
Bedeutung, weil sie Kant's weltgeschichtliche Stellung begründeten.
Zehnte Vorlesung.
Die späteren geographischen Abhandlungen.
An die Naturgeschichte schliessen sich zeitlich eng die Ab-
handlungen, welche Kant über das Erdbeben von Lissabon schrieb,
sowie ferner zwei Einladuugsschriften zu seinen Vorlesungen 1756
und 1757, in denen er über die Winde handelt. Aber noch 30
Jahre nach der Naturgeschichte des Himmels veröffentlichte Kant
eine geographisch-kosmologische Arbeit, die letzte, die er auf
diesem Gebiet schrieb, die Abhandlung „Über die Vulkane im
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 479
Monde", ^) welche im März 1785 in der Berliner Monatsschrift er-
schien. Da dieselbe in mancher Beziehung- sich an die „Natur-
geschichte" anschliesst, manches erläuternde Licht auf dieselbe
wirft und zu ihrer Erklärung auch sonst herbeigezogen ist, so
werden wir am besten sie gleich hier besprechen. Sie wurde ver-
anlasst durch Herschel's Entdeckung (4. Mai 1783) eines „Vulkans"
im Mond, durch welche der russische Staatsrat Aepinus „die
Richtigkeit seiner Muthmassung über den vulkanischen Ursprung
der Unebenheiten der Moudsfläche"'-^) bewiesen sah.
Kant ist anderer Ansicht. „Es bleibt, sagt er S. 196, unge-
achtet aller Aehnlichkeit der ringförmigen Mondflecken mit Kra-
teren von Vulkanen, dennoch ein so erheblicher Unterschied
zwischen beiden, und dagegen zeigt sich eine so treffende Aehn-
lichkeit derselben mit anderen kreisförmigen Zügen unvulka-
nischer Gebirge'') oder Landesrücken auf unserer Erde, dass
eher eine andere, obzwar nur gewissermassen mit jener analo-
gische Muthmassung über die Bildung der Weltkörper dadurch be-
stätigt sein möchte." Die Ringgebirge des Mondes sind zu gross,
um vulkanisch zu sein; sie sind vielmehr Gebilde analog den
„kraterähnlicheu Bassins", „die auf der Erde die Sammlungsbecken
der Gewässer für Ströme ausmachen". *) Daneben zeigen Erde
und Mond die sehr viel kleineren eigentlichen Vulkane. Beide
aber, die Vulkane wie die ringförmigen Bassins, sind auf Erup-
tionen zurückzuführen, letztere allerdings nicht auf vulkanische,
da die Randgebirge der Bassins keine vulkanischen Materien ent-
halten, „sondern aus einer wässerigten Mischung entstanden zu
sein scheinen". Denn „wenn^) man sich die Erde ursprünglich
als ein im Wasser aufgelöstes Chaos vorstellt, so werden die
ersten Eruptionen, die allerwärts, selbst aus der grössten Tiefe
entspringen mussten, atmosphärisch^) (im eigentlichen Sinn)
gewesen sein"; mit jenen wässerigen Urchaos war auch unser
Luftmeer vermischt, welches, zusammt vielen anderen elastischen
Dünsten,') aus der erhitzten Kugel gleichsam in grossen Blasen
1) Hartenst. 4, 193—202.
2) Eb. 195.
3) Sperrung von Kant. Vgl. Naturg. d. H. Orig.-Ausg. S. 70.
*) Hartenst. 4, 198.
5) Hartenst. 4, 198.
^) Sperrung von Kant.
7) Sperrung von Kant.
480 G. Gerland,
ausgeblochen ist. In dieser Ebullition, (davon kein Teil der Erd-
fläche frei war) wurden die Materien der ursprüng-lichen Gebirge
kraterähnlich ausgeworfen „und dadurch die Grundlage zu allen
Bassins der Ströme gebildet, womit, als den Maschen eines Netzes,
das ganze feste Land durchwirkt ist." Die mit den von ihnen
gelösten Materien ausbrechenden „Auflösungswasser" durch-
schnitten und zersägten die Ränder der von ihnen ausge-
waschenen Bassins, welche ganz aus dem „geschwinde krystalli-
sirten" Granit bestanden und durch die minder rasch ausgeschie-
denen Materialien, Hornstein, Kalk u. dgl. bedeckt wurden. Die
erste Ursache also der Unebenheiten der Erdoberfläche ist eine
atmosphärische, besser gesagt chaotische Ebullition,') aufweiche
dann durch pelagische AUuvion Materien, die schon Meergeschöpfe
enthielten, geschichtet wurden. Aus den Gruppen dieser „chao-
tischen Ebullition" bildete sich das Festland mit seinen Gebirgen,
der Seegrund dagegen aus allen Gebieten, „wo die Ebullition nicht
so heftig gewesen war." Das „überflüssige Krystallisationswasser"
von einem Basin in das andere zu dem niedrigsten Teil der sich
bildenden Erdfläche (dem Meer) sich durchwaschend und ablaufend
bildete in diesem „Skelet der Erdoberfläche" die Ströme; man
kann auf einer Karte die Landrücken durch eine Linie darstellen,
die man durch die Quellen der Ströme zieht, welche einem grossen
Flusse zufallen. Der Lauf der Ströme erscheint Kant als „der
eigentliche Schlüssel der Erdtheorie"',^) denn erstlich muss das
Land durch Landrücken gleichsam in Teiche abgeteilt, dann
zweitens Boden und Verbindungskanäle von dem Wasser selbst
geformt sein.
Die vulkanischen Eruptionen, nur einzelne Berge bildend,
ti-aten später, erst nach Verfestigung der Erdrinde auf. Jeden-
falls aber ist der Gedanke, dass der Mond Vulkane und Basiu-
bildungen wie die Erde habe, für die Kosmogonie von Erheblich-
keit;») er bestätigt, dass die Weltkörper ihre erste Bildung auf
ähnliche Weise empfangen haben — sie waren flüssig, wie schon
ihre Kugelgestalt und Abplattung bezeugt. „Ohne Wärme aber
gibt's keine Flüssigkeit. Woher kam diese ursprüngliche
Wärme"?4) Nicht, wie Büffon meint, von der Sonne; vielmehr
1) Hartenst. 4, 199. Sperrung von Kant.
2) 200. Note.
3) Eb. S. 200.
*) Hartenst. 4, 200. Sperrung von Kant.
Imma-nuel Kant, seine geograph, und anthropolog. Arbeiten. 481
„wenn man annimmt, dass der Urstoff aller Weltkörper in dem
ganzen weiten Raum, worin sie sich jetzt bewegen, anfangs dunst-
förmig verbreitet gewesen, und sich daraus nach Gesetzen, zuerst
der chemischen, hernach und vornehmlich der kosmologischen Attrac-
tion(s.o.S.459f.) gebildet haben, so geben Crawford's Entdeckungen V)
einen Wink, mit der Bildung der Weltkörper zugleich die Erzeugung
so grosser Grade der Hitze, als man selbst will, begreiflich zu
machen. Denn wenn das Element der Wärme für sich im Welt-
raum allerwärts gleichförmig ausgebreitet ist, sich aber nur an
verschiedene Materien in dem Maasse hängt, als sie es verschiedent-
lich anziehen; wenn, wie er beweiset, dunstförmig ausgebreitete
Materien weit mehr Elementarwärme in sich fassen und auch zu
einer dunstförmigen Verbreitung bedürfen, als sie halten können,
sobald sie in den Zustand dichter Massen übergehen, d. i. sich zu
Weltkugeln vereinigen; so müssen diese Kugeln ein Uebermaass
von Wärmematerie über das natürliche Gleichgewicht mit der
Wärmematerie im Eaum, worin sie sich befinden, enthalten, d. i.
ihre relative Wärme in Ansehung des Weltraums wird angewachsen
sein", nach dem Grad der Verdichtung, der Kürze der Zeit und
der Quantität der Materie. So „würden wir einsehen, warum der
Centralkörper (als die grösste Masse in jedem Weltsystem) die
grösste Hitze haben und allerwärts eine Sonne sein könne;" 2)
die „höheren Planeten", grösser, aus verdünnterem Stoff gebildet,
würden mehr innere Wärme haben können als „die niedrigeren";
die gebirgigte Bildung der Oberfläche der Weltkörper, auf welche
unsere Beobachtung reicht, der Erde, des Mondes, der Venus, aus
atmosphärischen Eruptionen ihrer ursprünglich erhitzten chaotisch-
flüssigen Masse" würde als allgemeines Gesetz erscheinen, ebenso
„die vulkanischen Eruptionen aus der Erde, dem Monde und sogar
der Sonne (Sonnenflecken nach Wilson Krater) ein allgemeines
Princip der Ableitung und Erklärung bekommen".
1) Adair Crawford, Experiments and observations on animal heat
and the inflammation of combustible bodies, being an attenipt to resolve
these phenomena into a general law of nature. London 1779. 2. Aufl.
1788. Deutsche Übersetzung der 1. Aufl. Leipzig 1785; der 2. L. Grell
1789. Die 1. Aufl. ist mir nicht zugänglich; die Stellen, auf welche sich
Kant zu beziehen scheint, finden sich in Ausg. 2, S. 13, 82, 375; J. H. de
Magellan gab 1780 einen Auszug aus Crawford (Essai sur la nouv. Theorie
du feu elementaire ec. London 1780; in deutscher Übersetz. Leipz. 1782).
2) Sperrung nicht von Kant.
Kantstudien X. 32
482 G. Gerland,
Woher aber kam die erste Bewegung der Atome im Welten-
raum? Von Attraction und C'hemismus absehend „das ist unmög-
lich anzugeben", antwortet Kant:^) aber bei Erscheinungen, deren
Ursache wir nach bekannten Gesetzen mutmassen können, halte
ich es für „unzulässig, die unmittelbare göttliche Anordnung zum
Erklärungsgrunde herbeizurufen. Diese letzte muss zwar, wenn
von Natur im Ganzen die Rede ist, unvermeidlich unsere Nach-
frage beschliessen : aber bei jeder Epoche der Natur, da keine als
schlechthin erste angegeben werden kann", müssen wir „unter den
Weltursachen suchen und ihre Kette nach uns bekannten Gesetzen,
so lange sie aneinander hängt, verfolgen".
Ich habe diese merkwürdige Stelle ganz wiedergegeben, um
zu beweisen, wie völlig unklar und unwissenschaftlich Kant noch
1785 über die Wärmeverhältnisse des Weltraumes, über die Ent-
stehung der Wärme der Weltkörper dachte; eine Analyse der an-
geführten Sätze ist überflüssig. Kant's Annahme der anfänglichen
Flüssigkeit der Weltkörper — die er übrigens schon früher hattet) —
stützt sich auf ihre Gestalt, ihrer W^ärme auf den Wassergehalt
der Erde. Von hier aus nimmt er an, dass alle Himmelskörper,
deren Oberfläche wir beobachten können, „erhitzte chaotisch-flüs-
sige", d. h. aus Wasser, Luft und den Materialien der Erdniasse
gemischte Kugeln waren, die also, wenigstens an ihrer Aussen-
fläche, nicht mehr Hitze besassen, als flüssiges AVasser sie er-
tragen kann. Wenn nun die Sonne proportionierlich ihrer Grösse
heisser war, so verträgt sich das sehr wohl zwar nicht mit dem
Vorhergehenden, aber mit der Darstellung, die Kant in der Natur-
geschichte von der Sonne gab, ja es setzt sie voraus, wie aus
der behaupteten Uebereinstimmung der Eruptionen auf Erde, Mond
und Sonne hervorgeht. Auch in der Naturgeschichte des Himmels
bricht die flammende Glut erst nach der Bildung der Sonne auf
ihrer Oberfläche hervor. 3)
Dass diese Ansichten Kant's auch für seine Zeit durchaus
unreif sind, liegt auf der Hand; sie wurzeln z. T. noch in den
alten Anschauungen der Aristoteliker und Dr. Schöne's Frage,-*)
ob sie nicht an unser heutiges Wissen, an die Ansichten von
Helmholtz über die Sonnenwärme oder gar an die Theorien von
1) Hart. 4, 202.
2) N. d. H. O.-A. 70.
1) Orig.-Ausg. S. 32.
2) Altpreuss. Monatsschr. N, F. ßd. 33, S. 253.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 483
Lockyer, von George H. Darwin auf eine ziemliche Nähe
heranrücken, ist durchaus zu verneinen. Es ist völlig unmetho-
disch, aus einzeln herausgegriffenen Worten oder Anklängen
wissenschaftlich-historische Urteile bilden zu wollen, die nur dann
Wert haben können, wenn die Beurteilung aus der gleichzeitigen
Gesammtheit des individuellen wie des allgemeinen Auffassens
hervorgeht. Kant schrieb eine populär-interessierende Arbeit, die
auch ihn anregte, rasch und leicht hin. Die fachmännischen Zeit-
genossen haben sie wissenschaftlich nicht beachtet und wir, nach
genauer, vorurteilsloser Erwägung, müssen zugestehen, dass sie
Recht hatten. Damit ist auch Eberhard's abweisendes Urteil i)
über Kant's Kosmologie gegen Schöne vollständig gerechtfertigt.
Unmittelbar nach der Naturgeschichte des Himmels, im Jahr
1756, erschienen die drei Abhandlungen, welche Kant über das
Erdbeben von Lissabon schrieb. Die erste, „von den Ursachen der
ErderschütteruDgen bei Gelegenheit des Unglücks, welches die
westlichen Länder Europas gegen das Ende des vorigen Jahres
betroffen hat" in den Königsbergischeu wöchentlichen Frag- und
Anzeigungsnachrichten, Ende Januar, die zweite „Geschichte und
Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens,
welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen grossen Teil der
Erde erschüttört hat" bei Härtung in Königsberg Ende Februar
als selbständiges Werk und die dritte „Fortgesetzte Betrachtungen
der seit einiger Zeit wahrgenommenen Erderschütterungeu"
wieder in den Königsbergischen Anzeigenachrichten im April.-)
Kant's Erdbebenerklärungeu gehen in der Hauptsache über
R. Boyle, Äthan Kircher etc. auf Aristoteles zurück. Er nimmt
an, dass der Erdboden hohl ist „und seine Wölbungen fast in
einem Zusammenhange durch weitgestreckte Gegenden sogar
unterm Boden des Meeres fortlaufen". 3) Diese Höhlungen, deren
Ursprung zu erklären man „bis in die Geschichte der Erde im Chaos
zurückgehen müsste", ziehen sich namentlich den Gebirgen und
ihren Ausläufern sowie den grossen Strömen entlang; unter dem
Meere sind sie besonders lang, aber auch besonders eng;-) das
1) Dr. G. Eberhard, Die Cosraogonie von Kant. Wien 1893. S. VIII
etc. XXIII.
2) Hartenstein 1, 401—456. In der Akad.-Ausg. sind sie von Job.
Rabts herausgegeben, Bd. I, 417—472; 568-578.
3) Hart 1, S. 404. Akad.-Ausg. 420.
5) Hart. 1, 433. Akad.-Ausg. 1, 449.
32*
484 G. Gerland,
Meer ist durch Einsinken solcher Hohlräume entstanden, „Diese
Höhleu erhalten alle ein loderndes Feuer, oder wenigstens den-
jenigen brennbaren Zeug, der nur einer geringen Reizung bedarf,
um mit Heftigkeit um sich zu wüthen und den Boden übei- sich zu
erschüttern oder gar zu spalten".') Also ebenso wie auf der
Sonne; nur dass auf iiir, in Folge der leichteren und flüchtigeren
Teile ihres Elementargeuienges, welche „die wirksamsten sind, das
Feuer zu unterhalten",''^) und ihrer Mischung mit feuernähiender
dichterer Materie das „aus sich selbst wirksame Feuer"-'') der
Obeifläche fortwährend flammt. So wie es erlischt, wird es durch
die aus den tiefen Schlünden des Sonnenkörpers neu hervor-
brechende Luft wieder entzündet. Die Feuermaterialien des Erd-
inneren geraten durch Zutritt von Wasser in Gährung, in Ent-
zündung;"^) es bilden sich zugleich heftige Stürme und beides, die
unterirdischen Entzündungen und die Bewegungen der gährenden
Massen verursachen die Erdbeben. Ebenso aber auch die Vulkan-
thätigkeit, daher durch einen thätigen Vulkan schon manches
Land von seinen heftigen Pirsch ütterun gen befreit'') worden ist.
Dass diese ganze Erklärung keinen neuen Gedanken, nichts
wissenschaftlich irgendwie wertvolles bringt, ist klar. Interessant
ist sie durch das Licht, welches sie auf die Naturgeschichte des
PTimmels fallen lässt, so z. B. wenn Kant die Ansicht ausspricht,^)
man müsse zur Erklärung dieser Höhlen bis zur Geschichte der
Erde im Chaos zurückgehen; ferner seine ganze Schilderung der
Sonne, die er einfach herübernimmt aus jenen aristotelischen Vor-
stellungen von der Erde, die Varenius z. B. durchaus bei Seite
lässt. Im Einzelnen ist manches unhaltbare kritiklos aus anderen
Schriftstellern herübergenommeu, so die seismische Gefährlichkeit
der Längenausdehuung der Städte an Flüssen hin nach le Geutil
und Büffon, ^) die Steilheit der südlichen und westlichen Küsten
gegenüber den östlichen s) nach Dampier u. s. w. Auch ausser-
1) Hart. 1, 417 f. Akad.-Ausg. 433.
2) N. d. H. Orig.-Ausg. S. 130. Vgl. oben S. 481: die Annalime
grösserer Innenwärme der „höheren" Planeten.
3) Eb. S. 132.
*) Hart. 1, 407. 431 2.
5) Hart. ], 407. Akad.-Aiisg. 423.
6) Hart. 1, 404. Akad.-Ausg. 420.
7) Hart. 1, 405. Akad.-Ausg. 421.
8) Eb. 442 1 Akad.-Ausg. 459.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 485
dem fehlt es nicht an falschen Auffassungen (wie z. B. die ange-
führten „Vorboten" des Erdbebens von Lissabon/) die mit dem
Erdbeben gewiss nichts zu thun hatten); doch können wir diese
Kleinigkeiten bei Seite lassen.
Wichtiger ist es, einiges andere wirklich Wertvolle hervor-
zuheben. So ist gleich die Inhaltsangabe der zweiten, wichtigsten
Abhandlung von Bedeutung. Sie lautet: Vorbereitung. Von der
Beschaffenheit des Erdbodens in seinem Inwendigen. — Von den
Vorboten des letzteren (d. h. des vor kurzem eingetretenen) Erd-
bebens. — Das Erdbeben und die Wasserbeweguug vom 1. No-
vember 1755. — Betrachtung über die Ursache dieser Wasser-
bewegung. — Das Erdbeben vom 18ten November.^) — Das Erd-
beben vom 9ten December. — Das Erdbeben vom 26ten December.
— Von den Zwischenzeiten, die binnen einigen auf einander fol-
genden Erdbeben verlaufen. — Von dem Heerde der unterirdischen
Entzündung und den Örtern, so den meisten und gefährhchsten
Erdbeben unterworfen sind. — Von der Richtung, nach welcher
der Boden durch ein Erdbeben erschüttert wird. — Von dem Zu-
sammenhange der Erdbeben mit den Jahreszeiten. — Von dem
Eiufluss der Erdbeben in den Luftkreis. — Von dem Nutzen der
Erdbeben. — Anmerkung. — Schlussbetrachtung. —
Die Geschichte der Unglücksfälle, das Verzeichnis der zerstörten
Städte gibt Kant absichtlich nicht. „Ich beschreibe," sagt er,^) „hier nur
die Arbeit der Natur, die merkwürdigen natürlichen Umstände, die
die schreckliche Begebenheit begleitet haben, und die Ursachen der-
selben". Und hierin liegt das Verdienst der Arbeit. Gerade in
dieser Zusammenfassung der Hauptpunkte, die auch heute noch bei
keiner wissenschafthchen Behandlung eines makroseismischen Erd-
bebens fehlen, in dieser Weglassuug des zwar aufregenden, aber
seismologisch nicht in Betracht kommenden Beiwerks: in dieser
Gesammtauffassung, bei der man wieder von allen unter-
geordneten, vielfach unrichtigen Punkten absehen kann und darf,
gibt er die erste wirklich wissenschaftliche Behandlung
eines Erdbebens, welche die Erdbebenlitteratur aufzuweisen
hat. Erdbebenbeschreibuugen, sehr interessante und wertvolle,
1) Hart. 1, 418 f. Akad.-Ausg. 495 f.
2) Die Akad.-Ausg. schreibt hier und in den beiden folgenden Ueber-
schriften Novembr, Decembr (nicht November) wohl nach dem Original-
druck; dagegen vorher 1. November.
3) Hartenstein 1, 418. Akad.-Ausg. 1, 434.
486 G. Gerland,
haben wir auch aus früherpn Zeiton: eine wissenschaftliche Dar-
leg-ung, welche nur „die Arbeit der Natur" und die Ursachen
der Begebenheiten darstellen will, hat zuerst und über seine
Zeit hinaus mustergültig Kant gegeben.
Dazu kommen noch verschiedene Einzelnpunkte, die von
wissenschaftlichem Wert sind. So die Betonung der heftigen
Wasserbewegung als „des seltsamsten Gegenstandes der Bewunder-
ung und Nachforschung in dieser Begebenheit".') Ganz richtig
erklärt Kant den Ursprung der Bewegung durch die Hebung des
Seebodens in Folge einer starken Succussion,-) vermischt dann
aber zweierlei, Erdbebenflutwelle und Seebeben; eine Flutwelle
war es, ausgehend von dem erschütterten Meeresgrund westlich
von Portugal, vom Epicentrum des Lissaboner Bebens, welche die
Brandungen hervorrief, die an so vielen Küsten des Atlantic ein-
trat; Kant glaubt dieselbe entstanden durch Longitudinalwellen
des Wassers, wie dieselben durch heftige Lokalsuccussion ent-
stehen und schildert die Fortpflanzung dieser Bewegungen sehr
richtig. Auch der Name Seebeben stammt von ihm; er findet sich
zuerst in seiner 2. Abhandlung.'') Aber die mächtige, weitverbreitete
Flut war durch solche Wellen nicht zu erklären*) Dagegen trennt
Kant die Bewegungen der Binnenseegewässer von diesen Meeres-
bewegungen ; er führt sie sehr richtig auf die Erschütterungen
des Erdbodens zurück.^) Letztere selber entstehen ^) „mutmasslich"
durch die gewaltsam bewegte unterirdische Luft, „die als ein hef-
tiger Sturmwind den Boden, der seiner Ausbreitung widerstand,
gelind erschütterte". Auch die Thatsache, dass Küstenstädte be-
sonders starken Erdbeben ausgesetzt sind,') sowie ferner eine Pe-
riodicität (2X9 Tage)«) der Nachbeben, die ihm wahrscheinlich
vorkam, leitet Kant von diesen Luftbeweguugen ab, ihrem Einfluss
auf die unterirdischen Entzündungen, ihrem Wechselverhältnis mit
der äusseren Luft; auch die Richtung der Erdbebenbewegung
1) Eb. 407. Akad.-Ausg. 423.
2) Hart. 408. 423. Akad.-Ausg. 1, 424 f. 439.
3) Hart. 433. Akad.-Ausg. 449.
■*) Die Bemerkung, welche Rahts über Kants Erklärung der Wasser-
bewegung gibt, ist unklar; auch Rahts vermischt wie Kant die beiden
ganz verschiedenen Wasserbewegungen. Akad.-Ausg. S. 570,
6) Hart. 425. Akad.-Ausg. 441.
6) Hart. 432. Akad.-Ausg. 448.
') Hart. 433. Akad.-Ausg. 449.
8) Hart. 430. Akad.-Ausg. 446 f.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 487
folgt die Richtung jener Hohlräume. Auch hier, wie in der Natur-
geschichte des Himmels, sind alle Erscheinungen auf eine Grund-
annahme zurückgeführt: während diese aber in der Naturgeschichte
richtig war, ist sie hier falsch.
Die letzte Abhandlung enthält hauptsächlich scharfe Ab-
weisungen irriger Anschauungen (wie wir letztere ja auch in der
Gegenwart, beim Pele-ausbruch, so vielfach hören mussten) : dass
die Erde ihre Stellung zur Sonne verändert habe, dass die Aus-
dünstung einer sich nach der Sonne drehenden Pflanze die Ost-
winde hervorbringe; dass man aus dem Mondlauf eine „astrono-
mische Uhr der Erdbeben", des Eintretens derselben herstellen
könne; dass die Einflüsse der Planeten die Erdbeben veranlassten,
dass mau ein hinlänglich tiefes Loch in den Erdboden graben soll,
um das unterirdische Feuer abzuleiten u. s. w. Dass man jemals
die Erdbeben vorher verkündigen könne, hält Kant für unmöglich.
Auch die Beziehungen zwischen Elektrizität und Erdbeben weist
er ab, nicht aber die zwischen Erdbeben und Magnetismus, „die
Mitwirkung der magnetischen Materien" ;i) doch „kennen wir die
verborgene Natur des Magnets zu wenig, um von dieser Erschei-
nung Grund angeben zu können". Also auch hier viel Richtiges.
Die Erdbebenabhandlungen folgen zeitlich unmittelbar auf
die Naturgeschichte des Himmels; eine Reihe von Beziehungs-
punkteu sahen wir schon. Wichtiger aber ist die Uebereinstim-
mung beider Arbeiten in der Gesammtauffassuug. Auch in den
Erdbebenabhandlungen kommt es Kant darauf an, das Erdgauze,
den Mechanismus der grossen, so auffallenden, scheinbar ganz
regellosen Störungen zu begreifen. Und so sagt er selbst am
Schluss der ersten Abhandlung i^) „Die Wichtigkeit und mannig-
faltige Besonderheiten desselben bewegen mich, eine ausführliche
Geschichte dieses Erdbebens, die Ausbreitung desselben über die
Länder von Europa, die dabei vorkommenden Merkwürdigkeiten
und die Betrachtungen, wozu sie veranlassen können, in einer aus-
führlicheren Abhandlung dem Publike mitzuteilen, die" u. s. w.
Und diese Abhandlung, die zweite, beginnt: 3) „die Natur hat nicht
vergeblich einen Schatz von Seltenheiten überall zur Betrachtung
und Bewunderung ausgebreitet. Der Mensch, welchem die Haus-
1) Hart. 1, 439. Akad.-Ausg. 1, S. 455.
2) Hart. 411.
3) Hart. 413.
488 G. Gerland,
haltimg- des Ei'dbodens anvertraut ist, besitzt Fähigkeiten, er be-
sitzt auch Lust, sie kennen zu lernen, und preiset den Schöpfer
durch seine Einsichten. Selbst die fürchterlichen Werkzeuge der
Heimsuchung des menschlichen Geschlechts, die Erschütterungen
der Länder . . . fordern den Menschen zur Betrachtung auf, und
sind nicht weniger von Gott als eine richtige Folge aus bestän-
digen Gesetzen in die Natur, gepflanzt, als andere schon gewohnte
Ursachen der Ungemächlichkeit" etc. Also auch hier, wie überall in
der Naturgeschichte, wird das unmittelbare ICingreifen Gottes zu-
rückgewiesen.i) Auch solche schreckliche Zufälle sind nur Folgen
des Mechanismus der Natur. Die Naturgesetze muss man kennen
lernen, die Gesammtbeschaffenheit, hinter welcher Gott, wie wir
ihn schon kennen, in voller Schöpferkraft, eben darum auch ohne
weiteres Eingreifen steht. Um dies nachzuweisen und zugleich j'
um den Mechanismus der Gesammtnatur auch hier kennen zu
lernen, geht Kant auf alle Einzelnheiten ein, von veraltet herüber-
genomnienen Grundanschauungen mit neuen Gedanken und rich-
tiger Methodik trotz falscher Prämissen das ganze erklärend.
Auch die Stellung der Menschheit zwischen Natur und Gott wird
ebenso aufgefasst wie in der Naturgeschichte. „Die Betrachtung^)
solcher schrecklichen Zufälle ist lehrreich. Sie demütigt den
Menschen dadurch, dass sie ihn sehen lässt, er habe kein Recht,
oder zum wenigsten er habe es verloren, von den Naturgesetzen,
die Gott angeordnet, lauter bequemliche Folgen zu erwarten und
er lernt vielleicht auf diese Weise einsehen, dass dieser Tummel-
platz seiner Begierden billig nicht das Ziel aller seiner Absichten
enthalten sollte." „Der Mensch-^) ist nicht geboren, um auf dieser
Schaubühne der Eitelkeit ewige Hütten zu erbauen, weil sein
ganzes Leben ein weit edleres Ziel hat." Aber er ist auch nicht
„einem unw^andelbaren Schicksal^) der Naturgesetze, ohne Rück-
sicht auf seine besonderen Vortheile überlassen. Eben dieselbe
höchste Weisheit, von welcher der Lauf der Natur diejenige Rich-
tigkeit entlehnt, die keiner Ausbesserung bedarf, hat die niederen
Zwecke den höheren untergeordnet und in eben den Absichten, in
welchen jene oft die wichtigsten Ausnahmen von den allgemeinen
Regeln der Natur gemacht hat, um die unendlich höheren Zwecke
1) Vgl. auch Hart. 443. Akad.-Ausg. 459.
2) Hart. 415. Akad.-Ausg. 431.
3) Hart. 444. Akad.-Ausg. 460.
*) Ebendas.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 489
ZU erreichen, die weit über alle Naturmittel erhaben sind, wird
auch die Führung des menschlichen Geschlechts in dem Regiment
der Welt selbst dem Laufe der Naturdinge Gesetze vorschreiben".
Hätte Kant nur die Erscheinungen des Erdbebens rein physika-
lisch darlegen wollen, so waren diese moralischen Betrachtungen,
die Besprechungen der Stellung des Menschen in der Welt ganz
überflüssig; wie sie denn beim ersten Durchlesen der Abhand-
lungen für den modernen Leser etwas störendes, befremdendes
haben. Wir kommen erst zu ihrem richtigen Verständnis, wenn
wir auch hier die philosophische Gesammtanschauuug, die Kant
darlegen will, berücksichtigen. In diesem Sinne hat K. Fischer
Recht zu sagen ^) „die Betrachtungen unseres Philosophen sind
ihrer Absicht gemäss nicht erbaulich". Ihr Zusammenhang mit
der philosophischen Gesammtauffassung Kaufs und mit der Natur-
geschichte des Himmels hebt sie über das bloss Erbauliche hinaus,
wie überhaupt erst dieser Zusammenhang den drei Abhandlungen
ihren vollen Wert gibt. --
Den 25. April 1756 wurde in Königsberg ausgegeben:
„M. Imman. Kaut's neue Anmerkungen zur Erläuterung der Theo-
rie der Winde, wodurch er zugleich zu seinen Vorlesungen ein-
ladet." 2) Kaut gibt nach einer kurzen „Vorinnerung" fünf „An-
merkungen"'^) nebst beigefügter „Bestätigung aus der Erfahrung",
welche lauten: 1) ein grösser Grad der Hitze, der auf eine Luft-
gegend mehr als auf eine andere wirkt, macht einen Wind nach
dieser erhitzten Luftgegend hin, der so lange anhält, als die vor-
zügliche Wärme der Gegend fortdauert. 2) Eine Luftgegend, die
sich mehr als eine andere verkühlt, bringt in der benachbarten
einen Wind zuwege, der in den Platz der Verkühlung hineinweht.
3) Ein Wind, der vom Aequator nach dem Pole hinweht, wird
immer je länger desto mehr westlich, und der von dem Pol zum
Aequator hinzieht, verändert seine Richtung in eine CoUateral-
bewegung aus Osten. 4) Der allgemeine Ostwind, welcher den
ganzen Ocean zwischen den Wendezirkeln beherrscht, ist keiner
anderen Ursache als der, welche aus der ersten mit der dritten
verbundenen Anmerkung erhellt, zuzuschreiben. 5) Die ]\Ioussons
oder periodischen Winde, die den Arabischen, Persischen und In-
1) 1, 179.
2) Hart. 1, 473—87. Akad.-Ausg. 1, 489—503.
3) Die 5 Anmerkungen im Original gesperrt.
490 G. Gerland,
dischon Ocoan bohcrrschen, werden gauz natürlich aus dorn in der
dritten Anmerkung- erwiesenen Gesetz erklärt.
Diese Arbeit Kant's ist eine überaus merkwürdige und muss
deshalb besonders eingehend besprochen werden. In der neueren
Zeit hat sie grosses Lob erhalten. 80 behauptet K. Fischer: 0
„es war nichts geringeres, als das Drehungsgesetz der Winde,
das in diesen Blättern zum ersten Male entdeckt und erklärt
wurde." Und Rahts^) sagt, Kant habe in der vorliegenden
Schrift „nicht allein eine Theorie der Passate und der Moussons
gegeben, sondern auch das später als Dove'sches bezeichnete
Drehuugsgesetz der Winde fast mit denselben Worten erläutert",
wie es Dove erläuterte. Aber dies Lob gebührt Kant nicht, denn
jene Abhandlung enthält nicht einen neuen Gedanken; und die
Behandlung der Winde gehört zu den unklarsten und verworren-
sten, was Kant je geschrieben. Irrig ist auch die Behauptung
Günther"s,3) Kant's Theorie der Winde habe nachhaltig gewirkt.
Im Gegenteil, wie dies auch Rahts betont: sie blieb, bei einer
kurzen Einladungsschrift zu den semestralen Vorlesungen begreif-
lich genug, sehr unbekannt und ist zu Kant's Lebzeiten ein Neu-
druck von ihr nicht erschienen.^) Die kleinen Bruchstücke, die
sich auf lose Blätter geschrieben in Kant's Nachlass vorfanden,^)
„ein Gesetz der Passatwiude aus der Umdrehung der Erde"; „das
Gesetz der Moussons aus ebenderselben [Irsache"; „einige zer-
streute Bemerkungen über die Winde", deren erstes Günther ß)
einen „geistvollen Essay" Kant's nennt, sind das gerade Gegenteil
dieser Bezeichnung, KoUektaneen oder unfertige, ungeschickte
Paraphrasen der in der Einladungsschrift gegebenen Hauptpunkte,
ohne diese irgend weiter zu führen. Die in dem letzten Bruch-
stück gegebenen Notizen über den Eiufluss des Mondes sind un-
klar und widersprechen den Ansichten, die Kant 1794 in einer
gleich zu besprechenden Abhandlung aussprach.
Jene fünf „Anmerkungen" sind mit Ausnahme der zweiten
inhaltlich alle in George Hadley's Abhandlung Concerning the
1) 1, 180.
2) Akad.-Ausg. 1, 582.
3) Handb. der Geophysik 2, 2, 179.
i) Akad.-Ausg. 1, 582.
S) Abgedruckt bei Hartenstein 8, 446 — 452.
ö) Handb. der Geophysik 2, 2, 199.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 491
Cause of the General Tradewiuds') enthalten; nur dass Hadley
viel kürzer und präciser ist, als Kant. Zunächst ist der Gang,
die Reihenfolge der Darstellung beider Schriftsteller übereinstim-
mend, ebenso aber auch die einzelnen Punkte: so die Widerlegung
der älteren Ansicht, dass allein die Wärme der Sonne die Passate
verursache; so ferner der negative Beweis gegen diese Annahme;
die Berechnung der Beschleunigung der Passate, die bei reibungs-
loser Bewegung sehr gross sein müsse; die Begründung der that-
sächlichen Veriangsamung der Winde durch die Uebei-tragung der
ostwärts gerichteten Erdbewegung auf sie, also durch die Reibung
der äquatorwärts vordringenden Luft an der Erdoberfläche (bei
Kant recht unbeholfen, bei Hadley kurz und klar), die Erwähnung
und Erklärung der von den Wendekreisen polwärts wehenden
Westwinde. Die Besprechung der Monsune bildet bei beiden den
Schluss ; Hadley thut sie kurz ab mit Hinweisung auf das Gesagte,
Kant bespricht sie ausführlich.
Also Uebereinstimmung im Gang der Darstellung sowohl wie
in den Einzelheiten. Und doch beginnt Kant seine Erläuterung der
dritten Anmerkung, dass polwärts wehende Winde eine westliche,
die zum Aequator hinziehenden eine östliche „OoUateralbewegung"^)
erhalten, mit den Worten: „diese Regel, welche, soviel mir
wissend ist, noch niemals angemerkt^) worden, kann als
ein Schlüssel zur allgemeinen Theorie der Winde angesehen
werden". Und ebenso in der Erläuterung der vierten Anmerkung :
„diejenige Meinung, welche den allgemeinen Ostwind dem Nach-
bleiben des Luftkreises3) bei der Drehung der Erde von
Abend gegen Morgen beimisst, ist mit gutem Grund von den
Naturkundigen verworfen ... Ich habe diesen Gedanken aber auf
eine vorteilhaftere und richtigere Art angebracht, indem ich be-
weise, dass er gilt, wenn „die Luft aus den entlegenen Parallel-
zirkeln zu dem Aequator tritt".
1) Philos. Transactions Bd. 38, 1735, April. Philos. Trans, abridged
Bd. VIII, 1747, S. 500-502. Die kurze Abhandlung Hadley's ist unver-
kürzt wiedergegeben. — G. Hadley, Concerning the Cause etc., Facsimile-
druck mit einer Einleitung. Neudruck von Schriften und Karten über
Meteorol. und Erdmagnetismus, herausgegeben von Dr. G. Hellmann,
No. 6, Berlin 1896.
2) Der Ausdruck stammt wohl aus Musschenbroek.
3) Sperrung nicht im Original.
492 G. Gerland,
So nimmt denn Zöllner an,^) Kant habe ganz unabhängig
von Hadley die vollkommen richtige „Tiieorie der Passate und des
Winddrehungsgesetzes" gegeben und ohne Zweifel sei ihm die
Originalabhandlung Hadley's unbekannt geblieben. Wie mir Herr
Bibliotheksdirektor Hoysen zu Königsberg sehr gefällig mitteilte —
wofür ich hier den lebhaftesten Dank sage — wurden die Philos.
Transactions erst 1787 für die Königsberger Bibliothek augekauft;
Kant wird sie also vorher kaum benutzt haben. Die wunderliche
Ansicht Lister's, dass die Passatwinde durch die Aushauchungeu
der Sargassotange entstünden, welche Kant in den „Fortgesetzte
Betrachtungen^) über Erderschütterungen" erwähnt, brauchte er
nicht im Original (im Band XII der Philos. Transact.) gelesen zu
haben; er fand das Citat z. B. auch in Büffou bist, natur. 1,465 f.
Hadley blieb überhaupt sehr unbekannt bis zum Jahr 1793, wo
John Dalton auf ihn hinwies.») Mir ist aus den Werken, die
Kant benutzte, nur eine Stelle bekannt, in der die Abhandlung
Hadley's, mit Angabe des Orts, wo sie zu finden, citiert ist:
Lulofs Einleitung zur Kenntnis der Eidkugel § 613, aber auch
nur citiert wird Hadley dort, neben Halley, Dampier, Musschen-
broek, nicht weiter besprochen. Inhaltlich konnte also Kant aus
Lulof nichts entnehmen. Wenn nun Rahts sagt:*) „dass Kant
von dieser Schrift Hadley's keine Kenntnis gehabt hat, folgt mit
Gewissheit aus einigen nachgelassenen Blättern von Kant (Suppl.
IV zu Kant's Vorlesungen über Physische Geographie, herausge-
geben von Th. Riuk), in welchen Kant alle frühereu Erklärungen
der Passatwinde angibt, ohne die mit der seinigen übereinstim-
mende Hadley'sche zu erwähnen": so können nur die Fragmente
gemeint sein, die F. W. Schubert „als Supplemente zur physischen
Geographie aus dem handschriftlichen Nachlass Kant's" veröffent-
licht hat und zwar als Suppl. IV, V und VI die schon genannten
Mitteilungen „von den Winden". Allein erstlich gehören diese
Bruchstücke keineswegs zu der von Riuk herausgegebenen phy-
sischen Geographie, was Schubert auch nicht sagt: nach ihm sind
diese um 1780 geschriebenen Blätter erst nach Kant's Tod zum
Vorschein gekommen (Eos. u. Schub. VI, 579) und ferner, Kant
gibt in diesen Fragmenten durchaus nicht alle, sondern nur zwei
1) Über die Natur der Kometen. 1872. S. 476.
2) Hart. 1, 450.
3) Hellmann, Neudrucke etc. No. 6, 5.
4) Akad.-Ausg. 1, 583. Anm. zu S. 498.
Immanuel Kant, seine goograpli. und anthropolog:. Arbeiten. 493
der früheren Erklärungen der Passate, und zwar recht oberfläch-
lich und ohne Nennung- ihrer Urheber; die einzige, die er auch
hier ausführlich behandelt, ist die des Hadley. Der Beweis für
seine Unbekanntschaft mit Hadle}^ geht nur aus Kant's eigenen
Worten hervor.
Was besonders in der Erläuterung der Theorie der Winde
auffällt, ist die sachliche Unsicherheit Kant's, die sich bis zu
völligen Widersprüchen steigert. So steht gleich die zweite
jener fünf Anmerkungen mit der ersten in schroffem Gegen-
satz, wie sie ja auch an sich unrichtig ist. Kant stellt sie
auf, um die Land- und Seewinde zu erklären. „Des Nachts,"
sagt er,') „verliert die Seeluft schneller ihre Wärme als die Land-
luft", „sie weicht daher der Ausspannungskraft" der letzteren
„und verstattet einen Luftzug von dem Lande in die abgekühlte
Meeresgegend". Und so wird sie von ihm auch in einem Zu-
sammenhang wiederholt, der gerade das Gegenteil sagt. Wir
lesen in der vierten Anmerkung:"'') „wenn die Luft ... zu dem
von der Sonnen Wirkung erhitzten Platze herbeizieht, so muss es
die gegen Abend von der Soune abstehende ebenso wohl thun,
als die gegen Morgen sich befindet; ich sehe also nicht, warum
um den ganzen Erdboden nichts als Ostwind sein sollte. Wenn
sie aber nur wegen der Verkühlung einer einige Zeit vorher er-
wärmten Luft sich in ihren Platz bewegt, so muss sie sich um
deswillen eher von Abend gegen Morgen bewegen, weil die Oerter,
die von der Sonne gegen Morgen liegen, sich mehr verkühlt und
also weniger Elastizität haben, als welche die Sonne längst ver-
lassen hat." Dieselben Widersprüche zeigt die Vorinnerung:^)
„die Ursachen, die das Gleichgewicht aufheben können, sind ent-
weder die Verminderung der ausspannenden Kraft*) durch
Kälte und Dämpfe, die die E'ederkraft der Luft schwächen, oder
die Verminderung der Schwere . . . durch die Hitze ... In
beiden Fällen entsteht ein Wind nach der Gegend hin, wo die
Luft entweder an ihrer Ausdehnungskraft oder Schwere eingebüsst
hat". Und Kant, der eben behauptete, dass die Hitze, in Folge der
Verminderung der Schwere der Luft „eine sehr kräftige Quelle
anhaltender Winde abgebe", sagt ebendaselbst, dass wegen Ver-
1) Hart. 1, 478. Akad.-Ausg. 1, 494.
2) Hart. 1, 481. Akad.-Ausg. 497.
3) Hart. 477. Akad.-Ausg. 491.
*) Sperrung von Kant.
494 G. Gerland,
mehrung- der Luftelastizität, „wie z. E. durch die Wärme", welche
„die sich ausbreitende Luftg-eg-end nach oben ebenso stark als
nach den Seiten ausdehnt und daher ihre eigene Gewalt schwächt"
unmöglich ein weithin wehender Wind entstehen könne.
In dieser zweiten Anmerkung- und ihren Parallelstellen folgt
Kant einer alten Auffassung, die er wohl aus Lulof herübernahm,
ohne zu beachten, wie gross ihr Gegensatz zu seinen sonstigen
Ansichten sei. Lulof sagt § 458: ,.Wenn ein Theil der Dunstkug-el
mehr erwärmt wird, als der andere, muss sich der wärmere An-
fang-s nach der Gegend ausbreiten, wo er den geringsten Wider-
stand findet . . . Daher strömt die Luft nach der kälteren Seite
hin. Sobald aber diese durch die Wärme verdünnte und leichter
gemachte Luft ein wenig abgekühlt ist, so setzet sie den an-
liegenden nicht verdünnten weniger Wiederstand entgegen und
dadurch wird wiederum eine Bewegung verursachet". Also genau
stimmend zu Kaut's zweiter Anmerkung!
Und Kant, der die Ansicht als durchaus falsch abweist,^) dass
der allgemeine Ostwind zwischen den Wendezirkeln „dem Nachzuge
der Luft hinter diejenige, die durch die Sonne von Morgen bis Abend
hin verdünnet worden, zuzuschreiben" sei: Kant fällt doch selbst wieder
in diesen Fehler zurück in der physischen Geographie, die nach seinen
Vorträgen, unter seiner Aufsicht, Rink herausgab. Denn da lesen
wir in § 67 von den Passatwiuden : 2) „der Ostwind entsteht von
der nach und nach von Morgen gen Abend durch die Sonne rund
um die Erde geschehene Erwärmung; denn die Luft strömt immer
in die Gegend, die von der Sonne am meisten erwärmt wird;
folglich muss sie dem scheinbaren Lauf der Sonne immer
nachziehen". Und gleich darauf, in § 70, kehrt er zu der von
Hadley und von ihm selbst ausgesprochenen richtigen Ansicht
zurück.
Noch auffallender ist manches in den von Günther und Rahts
erwähnten Supplementen. Von den Ungenauigkeiten des Suppl. IV
sehe ich ab. Suppl. V^) erkUirt die Monsune aus dem jahreszeit-
lichen Wechsel des Sonnenstandes. Da heisst es wörtlich: „Weil
in der Sommerhälfte des Jahres die nördliche Halbkugel stärker er-
hitzt seyn muss, als die südliche, so muss die letztere als kühler und
1) Hart. 1, 481. Akad.-Ausg. 1, 497.
2) Rink, Phys. Erdbeschreibung. 1902. I, S. 275. Hart. 8, S. 291.
3) Hart. 8, 449.
Immanuel Kant, seine geograpb. und anthropolog. Arbeiten. 495
schwerer über den Aequator hin nach Norden streichen ... Es
wird also einen grossen Theil dieser Jahreshälfte hindurch in dem
heissen Erdstrich unserer Halbkugel Südwind wehen. Dieser
nimmt aber im Fortgänge notwendiger Weise eine Nebenrichtung
aus Westen^) an: also werden die Süd Westwinde die herr-
schenden in der gedachten Jahreszeit seyn. Kehrt die Sonne im
Anfang des Herbstes zu den südlichen Zeichen zurück, so ent-
wickelt sich von den nördlichen Tropikalgegenden eine nordöstliche
Bewegung, „Es werden also die Gegenden um den Wende-
cirkel des Krebses zwei Wechsel winden unterworfen sein", in
den Sommermonaten Südwest, in denen des Winters Nordost.
Umgekehrt ist es auf der Südhalbkugel. „Diese Wechselwinde
finden nur statt, wenn der Ocean um die Wendecirkel benach-
bartes ausgebreitetes Land hat. Denn ist das Weltmeer daselbst
ganz frei, so herrscht der beständige Ostwind mit seiner Neben-
richtung daselbst das ganze Jahr." Als das grosse Land am
Wendekreis des Krebses nennt Kant Indosten, für den des Stein-
bocks das unbekannte Australland, „von dem Neu-Guinea ein
Theil ist". In dem Fragment „Einige zerstreute Bemerkungen
über die Winde" (Suppl. VI, aus gleicher Zeit wie die vorher-
gehenden) gibt Kant zunächst zwei Ursachen für die Bewegung
der Winde an, „die Wirkung der Wärme und Kälte auf die Ver-
änderung des Luftkreises, und dann die Kraft des Mondes", welche
auch im Luftmeer innerhalb eines Monats zwei Flutbewegungeu
hervorruft. „Aber auch in Ansehung dieses Principiums der Luft-
bewegung kann ich nichts Anderes als diejenige von Norden nach
Süden und von Süden nach Norden herausbringen," sagt Kant.
„Stellt Euch nur vor, dass drei Tage etwa nach dem neuen Lichte
die Luftfluth aus Norden am stärksten sey, so wird ein Nordwind
wehen, der bald ... in einen Ostwind ausschlagen muss. Weil
aber alsbald darauf die Atmosphäre wieder anhebt zu ebben, so
muss die aus Süden zurückkehrende Luft" . . . hier bricht die
Handschrift ab,') Im Anfang des Fragmentes meint Kant in An-
schluss an eine für das Jahr 1746 gestellte Preisfrage der Ber-
liner Akademie, dass man bei einer ganz mit Tiefmeer bedeckten
Erde mit Grund hoffen könnte, „den Windwechsel 3) auf Regeln
^) Sperrung nicht im Original.
2) Werke von Ros. u. Schub 6, 805. Hart. 8, 450 f.
3) R. u. S. 803.
496 G. Gerland,
zu brino-en und einer sicheren Theorie zu unterwerfen. Nun aber
macht sowohl die abstehende Mannigfaltig-keit von See und Land,
als auch der unbekannte Einfluss, den die Ausdünstung-en auf den
Luftkreis haben mög-en, einen besonderen Grund der Windver-
äuderung-eu, davon man, welches am beschwerlichsten ist, gar kein
Gesetz kennt. Denn wer weiss, worin sich eig-entlich Landluft
und Seeluft unterscheiden und in welchem P^inve.rständnis die
Atmosphäre mit den Tiefen und ungesehenen Grüften der Ei'de
stehen möge, da sich bisweilen bei den Erdbeben sehr deutliche
Beweisthümer davon blicken lassen!" Auch hier kommt Kant auf
die alte, sclion vor-aristotelische Anschauung zurück, die auf seine
Theorie der Sonne sowie der Erdbildung und ebenso auf seine
Erklärungen des Lissaboner Bebens einen so grossen Einfluss
hatte.
Auch in dem Jahre, welches auf die Veröffentlichung der
Theorie der Winde folgte, 1757 gab Kant eine Abhandlung über
die Winde als Einladung zu seinen Vorlesungen unter dem Titel:
„Entwurf und Ankündigung eines CoJlegii der physischen Geogra-
phie, nebst dem x\nhauge einer kurzen Betrachtung übei- die
Frage : ob die Westwinde in unseren Gegenden darum feucht
sind, weil sie über ein grosses Meer streichen?^) Nicht desvyegen,
lautet die Antwort;-) denn es gibt viele Winde, die über grosse
Meere wehen und trocken sind, wie z. B. die Nordwinde, die
über die Nordsee, die Ostmonsune, die über „das fast grenzenlose
stille Meer" wehen, über den indischen Ocean wehen. Die West-
winde dagegen sind meist feucht, z. B. die Westmonsuue. Sollte
dies nicht daher kommen, dass sie „dem») allgemeinen und
natürlichen Zug der Luft von Morgen gegen Abend"*) . . .
entgegenstreichen, eben um deswillen die Dünste zusammentreiben
und verdicken, womit die Luft jederzeit erfüllt ist?" So sind
denn die Westwinde für Kant die Ursache des Niederschlags, in-
dem sie die Luft nötigen, die Dünste aus ihren Zwischenräumen
fahren zu lassen, die sich dann zu Regen vereinigen. Dies Alles
bedarf keiner Widerlegung, war aber auch 1757 keineswegs auf
der Höhe der Wissenschaft.
1) Hart. 2, 1—11.
2) Eb. S. 9 f.
3) S. 11.
*) Sperrung nicht im Original.
Iramamiel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 497
Auch jene spätere, vorhin schon erwähnte AbhandUmg-
„Etwas über den Einfluss des Mondes auf die Witterung"
aus dem Jahre 1794 1) niuss hier kurz besprochen werden.
Lichtenberg- hatte gesagt: der Mond sollte zwar nicht auf die
Witterung Einfluss haben, er hat ihn aber doch. Kant bespricht
nun zuerst „den Satz", er sollte ihn nicht haben; denn die Mond-
auziehung ist viel zu gering, um die Schwere, d. h. den Druck
der Luft zu ändern. Dann den Gegensatz : er hat aber doch
Einfluss auf Wind und Wetter, wofür Kant allerhand (nicht stich-
haltige) Beobachtungen 2) beibringt. So ist also Theorie und Er-
fahrung im Widerstreit und der Ausgleich lautet : der Mond Ixat
indirekten Einfluss auf die Luft, wenn man eine weit über der
Höhe der wägbaren Luft „die Atmosphäre bedeckende, impon-
derable^) Materie (oder Materien) annimmt", die in Folge der
Mondanziehung „die Elasticität der Luft und so mittelbar ihr
Gewicht zu verändern vermag"; sie ist vielleicht incoercibel,
d. h. eine solche, dass sie „von anderen Materien nicht anders,
als dadurch, dass sie mit ihnen in chemischer Verwandtschaft
steht (dergleichen mit der magnetischen*) und dem alleinigen*) Eisen
stattfindet), gesperrt werden kann, durch alle übrigen aber frei
hindurch wirkt; wenn man die Gemeinschaft der Luft der
höheren (jo vialisch en), über die Region der Blitze hinaus-
gehenden Regionen mit der unterirdischen (vulkanischen), tief
unter den Gebirgen befindlichen, die sich in manchen Meteoren
nicht undeutlich ^) offenbart, in Erwägung zieht. Vielleicht gehört
auch dahin die Luftbeschaffenheit, welche einige Krankheiten, in ge-
wissen Ländern, epidemisch macht" etc. Kant sagt am Schluss
der Abhandlung selbst, dass diese Annahme wohl wenig mehr als
ein Geständnis der Unwissenheit sei. Und wenn so die kleine
Arbeit wenig mehr als ein dialektisches Spiel ist, so hat sie doch
») Hart. 6, 347—356.
-) 1) Bestrebungen der Atmosphäre znr Zeit des Neulichts, die
Richtung des Windes zu verändern; 2) Verstärkte Bestrebungen der Art
vierteljährig, zur Zeit der Solstitien und Aequinoktion und des auf
sie zunächst folgenden Neulichts.
Die Besprechung des Zusammenhangs mancher Wettervorhersagungen
des Kalenders mit derartigen Beobachtungen ist in ihrer leicht humo-
ristischen Haltung anmutig und von Interesse.
3) Sperrungen von Kant.
*) sie.
5) Vgl. Suppl. VI.
Kantstudlen X. 33
49B G. Gerland,
dadurch eine gewisse Bedeutung, dass sie andere, entschieden
richtigere Ansichten über den meteorologischen Einfluss des
Mondes zeigt, als sie Kant in Suppl. VI aussprach.
Nach alle diesem wird man ZöUner's Ausspruch, Kant habe
grosse Verdienste um die Meteorologie, *) nicht beistimmen können.
Denn seine Anmerkungen zur Erläuterung der Theorie der Winde
sind vielfach unklar, unsicher, ja z. T. in kritikloser Abhängig-
keit-) von seinen Vorgängern. Die Supplemente namenthch
machen den Eindruck von Kollektaueen, die nicht fertig bearbeitet
und durchdacht sind; und doch spricht gegen eine solche Auffas-
sung die Zeit der Abfassung, die Schubert wohl richtig bestimmt,
auch die ganze Art der Behandlung. Aber „der dritte Satz" in
Suppl. IV bringt, so wie er da steht, genau die Ansicht d'Alem-
bert's^) vor, welche nur dadurch geändert wird, dass Kant sich
kurz auf seine beiden ersten Sätze (Ablenkung durch Umdrehung
der Erde) bezieht; die Höhleutheorie des Suppl. VI trägt Mariotte
(allerdings ablehnend) vor,*) ebenso die Ansicht,^) welche Kant
über die Feuchtigkeit der Westwinde äusserte u. s. w. Kant
steht unter der Herrschaft seiner Vorgänger, ohne wissenschaft-
liche Freiheit und Selbständigkeit, er fällt trotz der neuen Auf-
fassung immer wieder in ihre Auffassungen zurück. Und so macht
auch die Theorie der Winde, in welcher Kant mit Hadley überein-
stimmt, den Eindruck einer Lesefrucht; Kaut beherrscht die neue
Idee nicht und sie beherrscht ihn nicht. Auch in seinem späteren
Leben nicht, wie die „physische Geographie" beweist. Und doch
ist kein Zweifel, nach Kant's eigenen Worten, dass er sie selb-
ständig gefunden hat; aber beiläufig, zufällig, scheint es. Wenn
man in dem „dritten Satz" des Suppl. IV die Ansicht d'Alembert's
vorgetragen hört, wenn man die älteren Arbeiten, die Kant be-
nutzte, beachtet, so wird man dem Worte Hellmann's Recht geben
müssen, welches derselbe in einen Brief an mich äusserte: dass
der Schritt Kant's von diesen früheren Ansichten zu der neuen
Theorie kein allzugrosser war. Und doch — gerade durch dies
1) Natur der Kometen 476.
2) Man vergleiche Kant's Anmerkung 2 zur Erläuterung der Theorie
der Winde (die auch in Rink's Vorles. wiederkehrt § 64, 2).
^j Reflexions sur la cause gener. des vents (Preisschrift) Berlin 1747;
französ., latein., deutsch; deutsche Bearbeitung S. 187.
4) Tratte du mouvement des eaux etc. Paris 1686, S, 35.
<*) Ebend. S. 39 f.
Itümanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 499
Schwanken, durch diese Unsicherheit wird diese Arbeit für Kant
charakteristisch, für den Kantforscher wichtig. Sie unterscheidet
Kant von Hadley auf das schärfste.
Elfte Vorlesung-.
Die „physische Geographie".
Gesammturteil über die geographischen Werke.
Uebergang zur Anthropologie.
Immanuel Kant's physische Geographie. Auf Verlangen des
Verfassers, aus seiner Handschrift herausgegeben und zum Theil
bearbeitet von D. Friedrich Theodor Eink,^) erschien 1802 zu
Königsberg, in zwei Bänden. Eink sagt in seiner Vorrede, dass
er mehrere („fast dreifache") zu verschiedenen Zeiten von Kant
ausgearbeitete Hefte, welche dieser verloren glaubte, in Kant's
Papieren aufgefunden habe, aus denen die Ausgabe, deren Authen-
ticität Kant am 29. Mai 1801 selbst anerkannte,-) hervorgegangen
sei. Und der „kurze Abriss der physischen Geographie", den Kant
in der Einladungsschrift „Entwurf und Ankündigung eines Collegii
der physischen Geographie" 1757 herausgab, stimmt (und ebenso
auch eine kurze Darstellung seiner physischen Geographie») aus
1765) in allen Einzeluheiten genau zu Eink's Ausgabe, so dass
wir ohne Zweifel hier die authentische Arbeit Kant's vor uns
haben. Allerdings im ersten Band mit Anmerkungen von Eink, in
die er die „kurz hingeworfenen neueren Marginalien des Kantischen
Manuskripts" „so viel es sich thun Hess, verwebte".*) Im zweiten
Band fehlen derartige Zusätze; er ist „kaum mehr als eine sehr
unbefriedigende Sammlung zufällig zusammengestellter Notizen". s)
Die Ausgabe einzelner Niederschriften von Zuhörern Kant's, die
in Aussicht steht, wird genauere Auskunft geben und besonders
für den zweiten Teil von Wichtigkeit sein.
1) Nach der Orig.-Ausg. und Hartenstein 8, 145 f.: Ich gebe die
Citate nur nach Hartenstein.
2) Hart. 8, 651 f. Kant hat also vielleicht die ersten Druckbogen
selbst gesehen.
3) M. Inamanuel Kant's Nachricht von der Einrichtung seiner Vor-
lesungen in dem Winterhalbjahre von 1765—1766. 1765. Ak.-A. 2, 312.
*) Rink bei Hart. 8, 148.
») Hartenstein 8, S. IV.
33*
500 a. Gerland,
Die Einleitung (Hart. 8, 151 f.) ist ganz von Kant und ge-
wiss nicht erst ISOO geschrieben, um welche Zeit Kant die Her-
ausgabe Rink übertrug. Sie stimmt mit der Vorrede der 1798
veröffentlichten „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" in
einigen besonders schwierigen Punkten genau iiberein, wie wir
gleich sehen werden. Auch Kuno Fischer i) bespricht sie als voll-
gültige Arbeit Kaut's. „Wir schöpfen unsere Erkenntnisse," be-
ginnt § 2,''') „entweder aus der reinen Vernunft oder aus der
Erfahrung, die weiterhin selbst die Vernunft instruiert." „Die
reinen Vernunfterkenntnisse gibt uns unsere Vernunft. Erfahruugs-
erkenntnisse aber bekommen wir durch die Sinne. Weil nun
unsere Sinne nicht über die Welt hinausreichen, so erstrecken
sich auch unsere Erfahruugserkenntnisse bloss auf die gegenwärtige
Welt." „Sowie wir indessen einen doppelten Sinn haben, einen
äusseren und einen inneren, so können wir denn auch nach beiden
die Welt als Inbegriff aller Erfahrungserkenntnisse betrachten.
Die Welt als Gegenstand des äusseren Sinnes, ist Natur,
als Gegenstand des inneren Sinnes aber, Seele oder der
Mensch." „Die Erfahrungen der Natur und des Menschen
machen zusammen die Welt erkennt nisse aus," „Die Kenntnis
der Natur verdanken wir der phj'sischen Geographie oder
Erdbeschreibung". Sie „ist also der erste Teil der Welt-
kenntnis.'^) Sie gehört zu einer Idee, die man die Propädeutik
in der Erkenntnis der Welt nennen kann." „Der andere
Teil der Weltkenntnis*) befasst die Kenntnis des Menschen",
„die Anthropologie, welche uns mit dem bekannt macht, was
in dem Menschen pragmatisch ist und nicht spekulativ. Der
Mensch wird da nicht physiologisch, sondern kosmologisch", d. h.
also nach seiner Stellung in der Welt betrachtet. Die Fähigkeit,
von allen diesen Erkenntnissen praktischen Gebrauch zu machen,
„ist die Kenntnis der Welt". 5)
Den Grundgedanken dieser Stelle hat Kant auch 1786 in
den „metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" aus-
1) K. Fischer, Kant I, 183.
2) Hart. 8, 151 f. Sperrungen des Folgenden im Original.
•■') So Rink in der Ausgabe S. 3 und Schubert in Rosenkranz und
Schubert 6, 422. Hartenstein 8, 152 gibt Welterkenntnis.
*) So auch Hartenstein.
5) Inhaltlich ebenso lautet der Schluss der „Ankündigung der Vor-
lesungen der phys. Geographie, im Sommerhalbjahre 1775", den Kant später
umänderte. Hart. 2, 447.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 501
g-esprochen. Dort sagt er:i) „Die Natur, iu materieller Bedeutung;
des Worts", als Erfahrungswissenschaft, hat, „nach der Hauptver-
schiedeuheit unserer Sinne, zwei Haupttheile, deren der eine die
Gegenstände äusserer, der andere den Gegenstand des inneren
Sinnes enthält, mithin ist von ihr eine zweifache Naturlehre, die
Körperlehre und Seelenlehre möglich, wovon die erste die
ausgedehnte, die zweite die denkende Natur in Erwägung
zieht". Unter dem „inneren" Sinn haben wir also die Lehre von
der denkenden Natur, d. h. die „reine Vernunft" als Quelle unserer
Erkenntnisse zu verstehen, deren Gegenstand „Seele oder der
Mensch" ist, die uns die „reinen Vernunfterkenntnisse" gibt. Den
Menschen lernen wir freihch auch durch die Anthropologie kennen,
aber nur pragmatisch und kosmologisch, nicht physiologisch, d. h.
nicht „nach der Quelle der Phänomene" seines Wesens, sondern
nur in seiner Tätigkeit und Weltstellung, also historisch. Von
dem Spekulativen im Menschen sagt uns Kant nichts, und eben-
sowenig von der Welt als Gegenstand des inneren Sinns, der
freien Vernunft, von der Welt als Seele oder dem Menschen. Die
Welt als Seele aufgefasst ist also der Mensch; diese Auffassung
gehört der reinen Vernunft an, dem inneren Sinn: sie ist also
auszuscheiden aus den Welterkenntnissen, welche durch die
äusseren Sinne, durch Wahrnehmungen zu Stande kommen. Beides
ist auch völlig gegensätzlich: in der Weltauffassung durch die
reine Vernunft, die kritisch gereinigte Vernunft, in dieser indivi-
duell und generell viel jüngeren Weltauffassung ist der Mensch,
die Seele, das tätige Subjekt, sie formt die Welt nach ihrer Auf-
fassuugsmöglichkeit; in der Weltauffassung durch die Sinne ist
der Mensch abhängig von den äusseren Einwirkungen auf die
Sinne, durch welche das natürliche, nicht rein-vernünftige oder
vernunftgereiuigte Bild der Welt zu Stande kommt. Jetzt ver-
stehen wir das Zugehöreu der Beschreibung der Erde und der
kosmologischen Betrachtung des Menschen zur Propädei^itik in
der Erkenntnis der Welt, zu einer ersten, untersten Stufe in der-
selben. Wahre Erkenntnis der Welt gehört der reinen Vernunft,
der Seelenerkenntnis, dem Spekulativen im Menschen, der Philo-
sophie an; Geographie und Anthropologie aber geben die Wahr-
nehmungen, aus denen die Erfahrung entsteht, die dann ihrerseits
„die Vernunft instruiert", so dass sie die wahre Erkenntnis der
1) Hart, 4, 357.
502 G. Gerland,
Welt schaffen kann. Das Wort „Mensch" ist also in doppeltem
Sinne gebraucht; einmal in dem Ausdruck „Seele oder Mensch"
als Subjekt des inneren Sinns, der reinen Vernunft, der „spekula-
tiven" Betrachtung; sodann, in der weiteren Darlegung, als
pragmatischer, kosmologischer Mensch, als Gegenstand der äusseren
Sinne. 0
So glaube ich die schwierige Stelle verstehen zu müssen,
deren richtiges Verständnis für unsere Betrachtung von der
äussersten Wichtigkeit ist: denn die ganze im Vorigen dargelegte
Auffassung von Kant's geographisch-anthropologischen Arbeiten,
ihrem Zusammenhang und ihrer Stellung zu seinen philoso-
phischen Schriften ist dadurch bewiesen. Wir kommen darauf
zurück.
„Jede fremde Erfahrung," sagt Kant in § 3,*) „theilt sich
uns mit entweder als Erzählung oder als Beschreibung; die
erstere ist eine Geschichte, die andere eine Geographie. Unsere
Erfahrungs-Erkenutnisse (§ 4) teilen wir ein entweder nach Begriffen
(logisch) oder nach Raum und Zeit (physisch). Durch die erstere
Einteilung erhalten wir ein Natursystem, wie z. B. das des Linne,^)
durch die letztere eine geographische Natm^beschreibung. „Ge-
schichte und Geographie erweitern unsere Erkenntnisse in An-
sehung der Zeit und des Raumes. Die Geschichte betrifft die
Begebenheiten, die in Ansehung der Zeit sich nacheinander
1) Auch die Worte „Kenntnis, Erkenntnis" machen Schwierigkeit,
finden sich aber in der Vorrede zur physischen Erdkunde und der zur
Anthropologie ganz gleich gebraucht. Die Worte Kenntnis, Erkenntnisse
(Plural) beziehen sich immer auf die Erwerbungen durch die Sinneswahr-
nehmungen, ebenso auch Erkenntnis (Singular) bezüglich auf Pluralitäten :
Erkenntnis der Sachen, Erkenntnis des Menschen als Weltbürger, Welt-
kenntnis (Hart. 7, 431, Vorw. zur Anthrop.), General-Lokalkenntnis. Da-
gegen bedeutet „Erkenntnis der Welt" die Auffassung durch den inneren
Sinn, durch die reine Vernunft.
2) Hart. 8, 154 f.
3) Hier irrt Kant, und noch mehr, wenn er später sagt: „eigentlich
haben wir noch gar kein Systema naturae. In den vorhandenen sogenannten
Systemen der Art sind die Dinge bloss zusammengestellt und aneinander-
gereiht," so dass er sie „richtiger" „Aggregate der Natur" nennen möchte.
Linne's Systema naturae steht viel höher und gehört mindestens in die
Naturbeschreibung; es zeigt aber auch sehr tüchtige Ansätze zu höherem,
zu einer Naturgeschichte der Tiere, der Pflanzen. Er stellt keineswegs
bloss beiordnend zusammen; Kant selber tut dies freilich im zweiten Teil
der phys. Erdkunde.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 503
zugetragen haben, die Geographie Erscheinungen, die sich in An-
sehung des Raumes, zu gleicher Zeit ereignen". „Die Ge-
schichte desjenigen, was zu verschiedenen Zeiten geschieht, und
weiches die eigentliche Historie ist, ist nichts Anderes, als eine
continuirliche Geographie; daher es eine der grössten historischeu
Unvollkommenheiten ist, wenn man nicht weiss, an welchem Orte
etwas geschehen sei, oder welche Beschaffenheit es damit ge-
habt habe." ')
Die letzte Stelle ist recht unklar. Kuuo Fischer sucht sie
zu heilen, indem er sie specialisiert:''^) die Geschichte der Erde ist
„nichts als eine continuirliche Geographie". So richtig der Ge-
danke ist, den diese Abkürzung ausspricht, so liegt er keineswegs
in den Worten Kant's und alles was vorausgeht und was
nachfolgt, widerspricht. Vielmehr wollte Kant wohl auf die
räumliche Gebundenheit alles Geschehens hindeuten. Beide Auf-
fassungen, will er sagen, fallen zusammen: jede Begebenheit
ist zugleich Erscheinung, jede Erscheinung zugleich Begebenheit.
Geschichte und Geographie unterscheiden sich also nur durch
die Form der Auffassung — nach Zeit und Raum. Sehr mit
Recht aber macht Fischer 3) auf den Unterschied aufmerksam,
den Kant zwischen Naturbeschreibung und Naturgeschichte macht.
Wir können, sagt Kant, „eine Naturbeschreibung, aber
keine Naturgeschichte haben".*) Denn „die Geschichte der
Natur enthält die Mannigfaltigkeit der Geographie, wie es näm-
lich in verschiedenen Zeiten damit gewesen, nicht aber, wie es
jetzt zu gleicher Zeit ist; das wäre Naturbeschreibung. Trägt
man dagegen die Begebenheiten der gesammten Natur so vor, wie
sie durch alle Zeiten beschaffen gewesen, so liefert man, und nur
erst dann, eine richtig sogenannte Naturgeschichte. Erwägt mau
z. B. wie die verschiedeneu Raceu der Hunde aus einem Stamm
entsprungen sind und wie sie durch Verschiedenheit des Landes,
Klimas, der Fortpflanzung u. s. w. sich „durch alle Zeiten" ver-
ändert haben: so wäre dies eine Naturgeschichte der Hunde und
eine solche könnte man über jeden einzelnen Teil der Natur
1) Hart. S. 156.
2) K. Fischer, Kant 1, 183.
3) Ebendas.
4) Dasselbe sagte Kant schon 1775; Hart. 2, 441, 451.
504 G. Gerland,
liefern. " i) So muss auch ein wahres „System der Natur", „die
Idee des Ganzen voraussetzen, aus der die Mannigfaltigkeit der
Dinge abgeleitet wird".») „Diese wenigen Andeutungen," sagt
Fischer, 3) „zeigen uns, wie deutlich er die Bedingungen einsah,
welche in der organischen Natur zur Entstehung der Arten not-
wendig sind und die man heute nach Darwin als Anjjassung,
Zuchtwahl und Vererbung spricht." Und so schliesst Kant diese
Betrachtungen mit dem wichtigen Wort*): „wahre Philosophie
aber ist es, die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit einer Sache
durch alle Zeiten zu verfolgen." Zahm gemachte Wildpferde der
Steppe, fährt er fort, wären sehr dauerhafte Pferde. „Man merkt
an, dass Esel und Pferde aus einem Stamm herrühren und dass
jenes wilde Pferd das Stammpferd ist, denn es hat lange Ohren. "S)
Aehnlich stehen Schaf und Ziege zu einander u. s. w. Der Ein-
fluss Büffon's ist bei allen diesen Aussprüchen Kant's sehr zu
betonen.
Da nun die phj^sische Geographie (§ 5) ein allge-
meiner Abriss der Natur, der Grund der Geschichte und „aller
übrigen möglichen Geographien" ist — wie sehr richtig und für alle
Geographen beherzigenswert ist dies Wort des grossen Philosophen!
— so rechnet Kant zu ihr 1) die mathematische, 2) die moralische
Geographie (verschiedene Sitten und Charaktere der Menschen nach
den verschiedenen Gegenden), 3) die politische, 4) die merkantilische,
5) die theologische Geographie (Veränderungen der „theologischen
Principien nach der Verschiedenheit des Bodens"). Ganz ähnlich,
nur nicht mit so scharfer Abgrenzung, hatte sich Kant auch schon
1765 in der „Nachricht über die Einrichtung seiner Vorlesungen"
ausgesprochen.^) Die Unterordnung aller dieser Betrachtung unter
die physische Geographie spiicht wieder für die obige Deutung
des Satzes: Die Geschichte desjenigen, was zu verschiedenen
Zeiten geschieht ... ist nichts Anderes, als eine continuir-
1) Wie sie Büffon gegeben hat Hist. nat. 1755, Bd. 5, p. 201—228
mit Stammbaum. Kant benutzte diese Darstellung auch im 2. Teil der
phys. Geogr., wo er über „das Hundegeschlecht" handelt. H. 8, 333.
H. 8, 157.
2) Eb. 155.
3) K. F., Kant 1, 183.
4) Hart. 8, 157. Ebend. S. 225.
5) cf. Büffon Bd. 4, S. 378.
<0 Hartenst. 2, 320 f.
Immanuel Kant, seine geograph, und anthropolog. Arbeiten. 505
liehe Geographie". Und ferner, alle diese geographischen Disci-
plinen mussten eingeführt werden, da ja die pragmatische und
kosmologische Betrachtung des Menschen, die Anthropologie, nehen
der physischen Geographie als dem ersten, als anderer Teil der
Welterkenntnis gilt.
Auf diese Einleitung folgen nun zunächst, wie bei Varen,
Newton u. A. „Mathematische Vorbegriffe", die Elemente
der mathematisch-astronomischen Geographie sowie einen kurzen
Ueberblick über die Planeten, Sonne und Mond enthaltend. Dann
beginnt die „Abhandlung der physischen Geographie" (Hart.
S. 180), die abgeteilt wird : 1) „in den allgemeinen Theil,
in dem wir die Erde nach ihren Bestandteilen und das was zu
ihr gehört, das Wasser, die Luft und das Land untersuchen;
2) in dem besonderen Teil, in welchem von den besonderen
Produkten und Erdgeschöpfen die Rede ist"; der erste Teil bildet
Rink's ersten, der zweite seinen zweiten Band.
Im ersten Teil wird, nach einigen allgemeinen Bemerkungen
über das Wasser, zuerst der Ocean besprochen, mit Aufzählung
seiner Teile, Meerbusseu, Strassen; dann die Bodenbeschaffenheit,
die Lote, Taucherglocke, der Salzgehalt, die Bewegungen des
Meeres, das Eis u. s. w.; die Darstellung ist oft ziemlich unklar,
aber man erhält doch ein dem mittleren Niveau der damaligen
Kenntnisse entsprechendes, wenn auch nirgends scharf gezeichnetes
Bild; Neues, Eigenartiges bietet es nicht. Die nun folgende Be-
sprechung des Landes ist viel schwächer. So gleich im Anfang
(§ 37)1) (j^g Einteilung des Festlandes nach dem Bekanntsein des-
selben; § 392) bespricht, mit starken Wiederholungen aus § 16 3)
die Inseln; recht unbedeutend ist namentlich die Besprechung der
Berge, §41— §46, welche sich fast nur auf das Klima der Berge
bezieht, der Höhleu, § 47 — 49, auf welche auch hier wieder die
Erdbeben zurückgeführt werden*) u. s. w. In § 52, in welchem
die Teile der Erdrinde und die Berge, „der Zusammenhang der
Steintheile" und die Erdschichten besprochen werden sollen, lesen
wir: 5) „die Steingebirge werden mit einem allgemeinen Namen
Felsengebirge genannt, obgleich der Fels eine besondere
1) Hart. 8, 227.
2) Eb. 237.
3) Eb. 186 f.
*) 262 f.
5) S. 273.
506 G. Gerland,
Gattung- von Steinen ist, g-leichwie die Steine, aus welchen wir
die Treppen und Stufen machen, ersten.s aus gewissen glänzendeu
Theilen oder dem Späth, dann aus einem gewissen Schiefer, den
man Glimmer nennt, und dann endlich aus lockerem Mark be-
stehen". Und einige Zeilen weiter: „die Schichten in den Bergen
sind entweder ganz, oder flötzweise geordnet. Die Gänge der
Berge sind Spaltungen in denselben, die bis zu einer ewigen Tiefe
fortgehen, d. h. die auf der andern Seite keine Oeffnung haben
und propendikulär sind. Sie sind entweder hohl oder mit einer
Materie gefüllt. Mehrenteils (juillt in sie der Saft des Steines,
welcher sich nachgehends verhärtet und in Metalle degenerirt."
Und so weiter.
So etwas konnte, durfte Rink nicht einfügen; es muss direkt
von Kant sein. Die „Geschichte der Flüsse" § 55 — 62 ist hier
minder gut behandelt, wie in früheren Arbeiten ; minder gut
auch der Abschnitt Atmosphäre, dessen Darstellung der Winde
schon oben erwähnt ist.-) Noch schwächer ist die „Geschichte
der grossen Veränderungen, welche die Erde ehedess erlitten hat
und noch erleidet", w^elche auf die schon besprochene Theorie zu-
rückkommt, die Erde sei im Anfange „eine ganz flüssige Masse,
ein Chaos" gewesen, „in dem alle Elemente, Luft, Erde, Wasser
u. s. w. vermengt waren". 2) Ein Anhang „von der Schifffahrt"
(„von den Schiffen", „von der Kunst zu schiffen") schliesst den
Teil, wie des Varenius geogr. generalis. Inhaltlich lehnt Kaut
sich sehr an Lulof und Büffon an.
Viel schwächer noch ist der zweite Teil der physischen
Geographie, die „Besondere Betrachtung dessen, was der Erdboden
in sich fasst". Im ersten Abschnitt, vom Menschen, wird die
Verschiedenheit der Hautfarbe eingehend besprochen, sodann „der
Mensch seinen übrigen angeborenen Eigenschaften nach, auf dem
ganzen Enibodeu erwogen",-'') wobei auffallende Einzelzüge der
Physis hervorgehoben, dann aber auch die künstlichen Defor-
mierungen der Menschengestalt besprochen werden u. s. w., alles
recht oberflächlich und ohne Zusammenhang compiliert. Der
zweite Abschnitt*) „von den vierfüssigen Tieren, die lebendige
Junge gebären", teilt dieselben (nach Key) in die Hauptstücke
1) S. 153.
2) Hart. 8, S. 306.
3) Hart. 8, 3U f.
4) Eb. .S21.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 507
der Klauen- imd Zehentiere, mit Unterabteilungen nach der
Zahl der Klauen und Zehen, wobei unter die fünfzehigen
auch „die vierfüssigen Thier- Vögel" gehören.») Das dritte
Hauptstück urafasst die „Tliiere mit Flossfederfüssen und zwar
das Fischottergeschlecht, das Bibergeschlecht, die Meerkälber,
Walh-osse (sie), Seebär, Seelöwe. Viertes Hauptstück r-^) „vier-
füssige Tiere, die Eier legen" (Krokodill, Alligator, Schildkröte).
Fünftes Hauptstück, 1. Abteilung:'') Seefische, Wallfisch (sie),
Manati, Hai, Mantlfisch, der Delphin, Stör, Wels (Raubfiscie),
Seeteufel (Roche), Meermensch und andere Fische, darunter auch
der Krak, das grosseste Tier der Welt;*) die Arten des Fisch-
fangs. Der 2. Abschnitt bespricht die „Schaligten Tiere:
Schnecken, Muscheln, Muschelmünzen &) etc. Sechstes Hauptstück:
einige merkwürdige Insekten, nützliche: Cochenille, Caprifikation
der Feigen, essbare Heuschrecken; schädliche: Tarantel, Medina-
wurm etc. Siebentes Hauptstück: von anderen kriechenden
Thieren: Schlange, Skorpion, Chamäleon, Salamander. Das achte
Hauptstück gibt einige Notizen aus dem „Reich der Vögel"'; das
neunte „das Pflanzenreich" bespricht einzelne Pflanzen nach ihrem
Nutzen, mit Mitteilungen, wie z, B. die bekannte Fabel von Bora-
metz.^) Nicht besser ist das zehnte Hauptstück, das Mineralreich
(besonders ausführlich werden die Edelsteine behandelt), wo z. ß.
im Abschnitt V, von den Versteinerungen zu lesen ist:') man
findet versteinerte Erdtiere oder ihre Theile als zum Beispiel. In
der Schweiz ist ehedem ein versteinertes Schiff mit vielen
Menschen aus dem Gebirge gezogen" -- ich glaube, nach
Scheuchzer. Der dritte Abschnitt 8) „Summarische Betrachtung
der vornehmsten Naturmerkwiirdigkeiten aller Länder nach geo-
graphischer Ordnung" entspricht nicht entfernt diesem Titel: er
gibt kurze ethnologische Notizen über einzelne Völker (nicht
Länder) Asiens, Afrikas, Europas und Amerikas. Von China 9)
1) Hart. 8, 332, die Fledermäuse, der fliegende Hund etc.
2j Eb. 339.
3) 340.
*) 344.
5) 348.
6) 365.
7) 375.
8) 377 f.
9) Hart. 8. 377—382.
508 G. Gerland,
z. B. wird nach eiuig-en allgemeinen Bemerkungen über die grosse
Mauer, den Porzellanturm etc. „Sitten und Charakter der Nation
besprochen, sodann Essen und Trinken, Coniplimente; Ackerbau,
Früchte, Manufakturen; von den Wissenschaften, der Sprache und
den Gesetzen; Religion, Ehen; Waareu die ausgeführt werden",
in plattestem Auszug.
Ich wiederhole: alles dies trägt den Stempel der Echtheit,
den Riuk konnte derartige Dinge unter Kant's Namen nicht ver-
öfftntlichen, wenn sie nicht authentisch waren. Kant hatte die
Ausgabe als authentisch 1801 anerkannt; zur Zeit ihres Er-
scheinens, 1802, lebte er ja selbst noch und viele seiner Zuhörer,
von denen manche ihre selbst nachgeschriebenen Hefte besassen.
Dass das schon erwähnte Urteil Hartenstein's über diesen zweiten
Band, er sei eine sehr unbefriedigende Sammlung zufällig zu-
sammengestellter Notizen, ein viel zu mildes ist, leuchtet ein.
Gewiss hat Kant im mündlichen Vortrag vieles weiter ausgeführt,
in schärferen Zusammenhang gebracht, auch wohl klarer darge-
stellt, das versteinerte Schiff sammt seinen Insassen war vielleicht
nur scherzhaft eingeflochteu; ^) das unglaublich niedrige Niveau
des Ganzen, die völlige Unzulänglichkeit des Inhalts bleibt aber
dennoch. Und ein solches Buch Hess Kant 1802 erscheinen, nach
Linne, Büffon, Blumenbach und so vielen anderen, nach den
Kritiken der Vernunft! So obliegt uns hier, wo wir die geogra-
phischen Arbeiten Kant's uns ganz vorgeführt haben, als unum-
gängliche Pflicht die Beantwortung der Frage, die wir uns schon
zu Anfang unserer Betrachtungen stellten: w^elchen Charakter,
w^elchen Wert haben die geographischen Studien und Arbeiten
Kaut's? Ihre Beantwortung wird uns auch den Uebergang zu
Kant's anthropologischen Studien bilden.
Die erd wissenschaftlichen Arbeiten des grossen Philosophen
zerfallen, ihrer äusseren Form nach, in zwei grosse Abteilungen,
in seine Vorlesungen, die spätestens 1757, w^ahrscheinHch aber
1756 begannen,''^) wohin wir auch die von Rink besorgte Heraus-
gabe derselben, die physische Erdkunde, zu rechnen haben; und
in die von Kant selbst veröffentlichten Abhandlungen. Hier fällt
gleich eins auf: einen wirklich wissenschaftlichen Erfolg haben sie
1) Wogegen die ebendaselbst erwähnte versteinerte Melone vom
Berg Libanon, die mit ihren Eiern versteinerten Vogelnester sprechen.
2) K. Fischer 1, 64. Vgl. Hart. 2, S. 4.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 509
bei den Zeitgenossen nicht g-ehabt, in den organischen Entwicke-
lung-sg-aug- der Wissenschaft haben sie keine Stellung, sie haben
nirgends grundlegend gewirkt, sie sind erst durch die philoso-
phische Grösse ihres Verfassers bei'ühmt geworden, erst in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts künstlich in die Geschichte
der Wissenschaft eingeschoben, während sie in Wahrheit nur zur
Geschichte Kant's gehören. Auch seine Vorlesungen, welche ja
in erster Linie Weltkenntnis, Interesse an den Erscheinungen der
Welt erregen wollten und bei den oft zahlreichen Schülern gewiss
auch erregten, haben nirgends selbständige wissenschaftliche
Forschungen veranlasst.
Aber das wollte Kaut auch nicht. Er sagt ja selbst in der
„Ankündigung", die physische Geographie') betrachte die Natur-
beschaffeuheit der Erdkugel, Wasser, Land und Luft, Mensch und
Tier, Pflanze und Stein nicht mit der Vollständigkeit und Genau-
heit der Physik und Naturgeschichte, „sondern mit der ver-
nünftigen Neubegierde eines Reisenden, der allenthalben das Merk-
würdige, das Sonderbare und Schöne aufsucht, seine gesammelten
Beobachtungen vergleicht und seinen Plan überdenkt. Seinen
Plan — jedenfalls den Plan, die Anordnung des Merkwürdigen,
Sonderbaren und Schönen. Physik und Naturgeschichte, deren
Wesen Kant (in der Vorrede bei Rink) so klar erkannte, deren
Fehlen er betonte, werden hier abgewiesen: nur der Plan des
auf der Erde vorhandenen soll überdacht werden.
Durch diese AVorte sind Kaufs Studien auf dem erdwissen-
schaftlichen Gebiet charakterisiert. Er hat keinen der von ihm
im Anfang seiner Laufbahn behandelten Gegenstände dieses Ge-
biets in selbständiger Denk- und Studienarbeit weiter geführt,
keinen als Selbstziel in physikalischer, mathematischer oder natur-
wissenschaftlicher Methode durch fortgehende Behandlung abge-
schlossen.
Und - was die Hauptsache ist — sie waren ihm auch nicht
Selbstziel, oder gar wissenschaftlicher Lebenszweck; er betrieb
diese Studien, um ganz andere Ziele zu erreichen. In der Natur-
geschichte des Himmels waren ihm die Milchstrassensysteme, die
Satururinge nur Nebensachen : die Hauptsache war ihm der wissen-
schaftliche Nachweis der Mechanik des Weltalls und auch dieser sollte
ihn zu einem philosophischen höchsten Ziel bringen, zu der Rich-
1) Hart. 2, 3.
5l0 G. Gerland,
ti^stellung- des Gottesbeg-riffs, die selbst ein Newton verfehlt
hatte. Ganz ähnlich in seinen Erdbebenstudien : auch hier wird
der Mechanismus der tellurischen Ereignisse nachgewiesen, die
falschen pliysiko-theologischen Anschauungen abgewiesen. Und
wir wissen ja aus seiner Vorrede bei Rink, wie er die physische
Geographie und nicht anders die Anthropologie, die er ja gerade
deshalb als pragmatische Anthropologie bezeichnet, nur als Mittel
der Weltkenutniss ansah, als Erwerbung der Erfahrung, durch
welche die reine Vernunft instruiert wird, als Propädeutik der Er-
kenntnis der Welt. Die Erkenntnis bestand nicht aus Erkennt-
nissen, auf welche sie sich zwar gründen muss; sie besteht in
der richtigen Darlegung der Auffassung durch die reine Ver-
nunft.
So kann es uns nicht wundern, dass Kant's geographische
Studien durch äussere Umstände veranlasst werden, entweder
durch solche, welche die betreffenden Gedankenkreise, die in Kant
schon vorbereitet waren, auslösten, wie die Auszüge aus Wright
in den Hamburger freien Urteilen oder die Entdeckung eines
Mondvulkans oder die unerhörte Erscheinung des Erdbebens zu
Lissabon — oder, um vom Grossen auf Kleineres zu kommen, die
Ankündigungen seiner Collegien.
Von hier aus erklärt sich auch der gesammtwissenschaftliche
Standpunkt, den Kant auf geographischem Gebiet und in seinen
litterarischen Quellen zeigt. Er machte es besonders unmöglich,
dass Kant grosse Erfolge hatte. Sein Standpunkt ist für die
zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ein veralteter, und über die
Benutzung reichhaltiger, aber zufälliger Lesefrüchte, die er keines-
wegs mit der nötigen Kritik und Methode benutzt, kommt er nicht
hinaus. Eine Erscheinung ist hierbei merkwürdig, die Kaut
namentlich mit den älteren geographischen Schriftstellern, mit
denen des 17. Jahrhunderts, über deren Niveau er sich nur in
ganz vereinzelte Punkte erhebt, aber auch mit seinen Zeitgenossen
teilt. Das ist die grosse Abhängigkeit der geographischen Dar-
stellung von den gleichzeitigen Karten. Hierauf beruht die Her-
vorhebung und für das betreffende Werk oft völlig unnötige ge-
naue Beschreibung des Meeres, seiner Buchten, Engen u. s. w.,
die ausführliche Behandlung der Flüsse, welche ja auf dem vor-
cassinischen Gelände allein genauer gezeichnet waren, im Gegen-
satz gegen die sehr oberflächliche und ungenaue Behandlung der
Gebirge. So ist bei Kant die auffallende Idee und Schilderung
Immanuel Kant, seine geograph. imd anthropolog. Arbeiten. 511
der durch „atmosphärische" Luft- und Wasserebullitioneu ge-
bildeten, den Mondkratern ähnlichen grossen Erdbecken, den
„Sammlungsbecken der Gewässer für Ströme" für die er als
Beispiel Böhmen und Mähren anführt,^) die auf der Erdfläche
durchgängig anzutreffen sind, wie denn jederzeit die Linie der
Wasserscheide „einen Kreis als Bassin des Stromes einschliessen
wird"^) — diese Idee ist ohne Zweifel von den damahgen
Kartenbildern ausgegangen; ebenso die genau zu den land-
läufigen Karten stimmende Darstellung der Gebirge Spaniens'')
der Alpen u. s. w. Auch die Ansicht, dass „dei- Lauf der
Ströme" „der eigentliche Schlüssel der Erdtheorie" *) sei, hat
die gleiche Quelle.
Dazu kommt nun, dass der Styl der geographischen Arbeiten
Kant's ein auffallend schlechter, oft geradezu verworrener und
schwer verständlicher ist. Freilich sind ja diese Arbeiten aus
seiner ersten Zeit; aber die gleichzeitigen philosophischen Ar-
beiten sind viel klarer, sicherer geschrieben. Man vergleiche
die Klarheit der Gedanken und Worte in dem „Beweisgrund"
mit der Naturgeschichte des Himmels oder den Erdbeben-
arbeiten. Hier zeigt sich überall der Anfänger, dort auch schon
in frühesten Arbeiten der werdende Meister. Freilich zeigen die
geographischen Werke manche geniale Ideen, die ja besonders
berühmt sind. So die Nebularh5"pothese, so die Theorie der
Winde; aber wie wenig gut beide durchgeführt sind, sahen wir
schon — es sind richtige aber doch nie ganz selbständige Con-
ceptionen, deren Genialität durch das Ungenügende der Aus- und
Durchführung sehr an Bedeutung verliert, sich versteckt in viel-
fach unbedeutendes ja falsches Beiwerk. Von wirklich Be-
deutendem ist noch manches hervorzuheben, die Umdrehung
der Erde und ihre Verlangsamung durch die Gezeiten, die
Naturgeschichte des Mondes, die Entwickelung der Flussbetten
und ihrer Gestaltung, die Methodik in der Betrachtung der Erd-
beben, die Besprechung der Seebeben, der Passatwinde, und so
manches andere. Aber die Bedeutung der geographischen Arbeiten
nimmt mit Kant's Aelterwerden immer mehr ab; der Philosoph
Kant steht in dieser Ba^iehung im umgekehrten Verhältnis zum
1) Hart. 4, 197.
2) Eb. 198.
3) Hart. 8, 242 f.
4) Hart. 4, 200.
512 G. Gerland,
Geographen Kant. Während der geographische Forscher auf
Varen mit Freude zurückgehen konnte, ja musste, um zu lernen,
die Objekte sowohl, wie die Methode der Forschung — bei Kant
stellt sich im Ganzen das Gegenteil heraus. Und so blieb er als
Geogi-aph unbeachtet.
Ich weiss, dass ich in dieser Schätzung des Geographen
Kant sehr von anderen Kantforschern und Kantkennern mich
unterscheide, von K. Fischer, Aruoldt, Zöllner, Helmholtz, Schöne,
Rahts u. a. Um mein Urteil zu begründen, musste ich die Dar-
legungen Kant's in der Ausführlichkeit wortgetreu wiedergeben,
wie ich es gethan habe, im Ganzen, nicht in einzeln herausge-
gi'iffenen Worten; ich glaube, durch Kant's eigene Worte den
Beweis für meine Behauptungen erbracht zu haben.
Aber wir sahen ja auch, Kant's geographische Werke wollten
keine fachmännisch-wissenschaftliche sein; er selbst wies ja Mathe-
matik und Physik und Naturbeschreibung zurück — er wollte
anderes, er erstrebte die Erfahrung, welche die reine Vernunft
instruiert und die hat er — für sich wenigstens — gefunden. Hier
liegt die hohe Bedeutung auch seiner geographischen Ar-
beiten für ihn und gewiss auch für Andere, für seine Zuhörer;
ihm bedeuten sie die Propädeutik zur E]rkenntnis der Welt. Und
so blieb er ihnen treu anhänglich sein Leben hindurch: das be-
weist die schöne Vorrede zu Rink's Ausgabe der physischen Erd-
kunde, das beweisen fast noch mehr die geographischen Citate,
die er gerade in seinem Hauptwerk der Erkenntnis der Welt, in
der Kritik der reinen Vernunft zur Erhärtung und Verdeutlichung
seiner Behauptungen vorbringt. Eine Stelle ist für uns besonders
merkwürdig: sie sei hier als ein einzelner Beleg für das eben Ge-
sagte hervorgehoben. „AVenn ich mir," sagt Kant,') „die Erd-
fläche (dem sinnlichen Scheine gemäss) als einen Teller vorstelle,
so kann ich nicht wissen, wie weit er sich erstrecke. Aber das
lehrt mich die Erfahrung: dass, wohin ich nur komme, ich immer
einen Raum um mich sehe, dahin ich weiter fortgehen könnte;
mithin erkenne ich die Schranken meiner jedesmal wirklichen Erd-
kunde, aber nicht die Grenzen aller möglichen Erdbeschreibung."
Kenne ich die Erde als Kugel, so kann ich aus einem kleinen Teil
ihrer Oberfläche dieselbe bestimmt „und nach Principien a priori
erkennen"; und ob ich die Gegenstände auf dieser Fläche nicht
1) Kr. d. r. Vem. 1781 758 f. 1787, 787 f.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. olo
kenne, so kenne ich doch die Grösse und Schranken des Flächen-
umfang-es. „Der Inbegriff aller möglichen Gegenstände für unsere
Erkenntnis scheint uns eine ebene Fläche zu sein, die ihren
scheinbaren Horizont hat, nämlich das, was den ganzen Umfang
derselben befasset und von uns der Vernunftbegriff der unbe-
dingten Totalität genannt worden. Empirisch denselben zu erreichen
ist unmöglich und nach einem gewissen Princip ihn a priori zu
bestimmen, dazu sind alle Versuche vergeblich gewesen. Indessen
gehen doch alle Fragen unserer reinen Vernunft auf das, was
ausserhalb diesem Horizonte, oder allenfalls auch in seiner Grenz-
linie liegen möge. Der berühmte David Hume war einer dieser
Geographen der menschlichen Vernunft, welcher jene Fragen ins-
gesamt dadurch hinreichend abgefertigt zu haben vermeinte, dass
er sie ausserhalb den Horizonts derselben verwies, den er doch
nicht bestimmen konnte." K. Fischer sagt im Anschluss an diese
Stelle : i) die Begrenztheit des menschlichen Horizontes lässt sich
empirisch oder geographisch begründen, also aus der Erfahrung,
dass unsere Gesichtsgrenze nicht die Erdgrenze ist oder in Folge
der Kugelgestalt der Erde. Wie Empiriker und Geograph zur
Erklärung des menschlichen Horizonts, verhält sich der skeptische
und kritische Philosoph zur Erklärung der menschlichen Erkennt-
nis, „der kritische Philosoph ist der Vernunftgeograph, er kennt
den Durchmesser der Vernunft, deren Umfang und Grenzen,
während der skeptische nur auf ihre äusseren Schranken achtet
und von ihrer wahren Verfassung so wenig Einsicht hat, wie
jener Empiriker, der die Grenzen des Horizontes bloss aus der
sinnlichen Erfahrung zu erklären weiss, ohne Erkenntnis der
wahren Gestalt der Erde. Dass unser Horizont in allen Fällen
begrenzt ist, darin stimmen die empirische Wahrnehmung und die
geographische Wissenschaft überein, aber ihre Erklärungsgründe
sind verschieden".
Diese Worte Kant's und Fischer's sind auch für den Geo-
graphen ebenso bedeutungsvoll, wie für den Philosophen.
ij K. Fischer, Kant. Jub.-Ausg. 1, 572 f.
Kantstndien X. 34
514 Gt. Öerland,
Zwölfte Vorlesung.
Kant als Anthropolog.
Kant schliesst die Vorrede zu seiner „Anthropologie in prag-
matischer Hinsicht" mit den Worten:^) „in meinem anfänglich frei
übernommenen, späterhin mir als Lehramt aufgetragenen Geschäfte
der reinen Philosophie habe ich einige dreissig Jahre hindurch
zwei auf Weltken ntniss abzweckende Vorlesungen, nämlich (im
Winter) Anthropologie und (im Sommerhalbjahre) physische
Geographie gehalten; welchen als populären Vorträgen beizu-
wohnen, auch andere Stände gerathen fanden; von deren ersterer
dies das gegenwärtige Handbuch ist"; u. s. w. So schrieb Kaut
1798; genaueste Mitteilungen auch über diese (vierstündigen) Vor-
lesungen verdanken wir E. Arnoldt. '') Sie begannen im Winter
1772,73; zuletzt las sie Kaut im Winter 1795/96. Aus den geo-
graphischen Vorlesungen haben sie, wie Arnoldt in der 2. unten
genannten Abhandlung gegen B. Erdmann nachgewiesen hat,
sich nicht entwickelt, was für uns, wie wir gleich sehen werden,
sehr wichtig ist. Begannen sie doch auch 16 Jahre später, als
jene. Allerdings heisst es in der ersten Ankündigung der phy-
sischen Geographie (1757), dass im Tierreich „auch der Mensch
nach dem Unterschiede seiner natürlichen Bildung und Farbe in
verschiedenen Gegenden der Erde auf eine vergleichende Art be-
trachtet wird ; ^) und in der Nachricht von der Einrichtung der
Vorlesungen im Winterhalbenjahre 1765/66 sagt Kant,*) dass er
die physische Geographie über noch gemeinnützigere (als die bloss
physischen) Merkwürdigkeiten der Erde ausbreiten, und sie da-
durch in eine physisch-moralisch- und politische Geeographie
umwandeln werde, in welcher Discipliu zuerst die Merkwürdigkeiten
der drei Naturreiche, namentlich nach ihrem Einfluss durch Handel
und Gewerbe auf die Staaten betrachtet werden sollen. „Die zweite
Abteilung betrachtet den Menschen nach der Mannigfaltigkeit
seiner natürlichen Eigenschaften und dem Unterschiede desjenigen,
was an ihm moralisch ist, auf der ganzen Erde ; eine sehr wichtige
und eben so reizende Betrachtung, ohne welche mau schwerlich
1) Hart. 7, 434.
2) Kant's Vorlesungen über Anthropologie. Altpreuss. Monatsschr.
27 (1890) 91—119; Kant's Vorles. über phys. Geogr. u. ihr Verhältnis zu
seinen anthrop. Vorlesungen, ebend. 228—314, Vgl. K Fischer 1, 67.
■■') Hart. 2, 8.
4) Hart. 2, 320 f.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 5l5
allg-emeine Urtheile vom Menschen fällen kann, und wo die, unter
einander und mit dem moralischen Zustande älterer Zeiten geschehene
Verg-leichung- uns eine grosse Karte des menschlichen Geschlechts
vor Augen legt. Zuletzt wird dasjenige, was als eine Folge aus
der Wechselwirkung beider vorher erzählten Kräfte angesehen werden
kann, nämlich der Zustand der Staaten und Völkerschaften auf
der Erde erwogen", nicht nach den „zufälligen Ursachen" wie
„Regierungsfolgen, Eroberungen, Staatsränke", sondern nach dem
Beständigeren, den entfernten Grund von jenen Enthaltenden, nach
Produkten, Sitten, Gewerbe, Handlung und Bevölkerung". Also
auch hier soll der Mensch nur als Naturgegenstand, nur kosmo-
logisch-pragmatisch (nach den schon erwähnten späteren Ausdrücken
Kaufs) betrachtet werden, nur als Gegenstand des äusseren Sinnes,
als Erfahrungsgegenstand; dass die verschiedenen geographischen
Disziplinen, die Kant in § 5 der Einleitung bei Rink aufstellt,
Dicht anders aufzufassen sind, geht aus den kurzen Schilderungen
hervor, welche den Schluss des 2. Bandes der physischen Erdkunde
bei Rink bilden. Aber das war nicht die einzige Art, wie Kant
den Menschen betrachtete. Er hatte ihn ja auch als Subjekt des
inneren Sinns kennen gelernt; und diese Auffassung, welche für
die Gedanken, die ihn erfüllten, von unabweisbarer, von grund-
legender Bedeutung waren, konnte er nicht auf geographischem Ge-
biet, konnte er nur auf seinem philosophischen Arbeitsfeld ge-
winnen. Sehr zu beachten ist der Umstand, welchen K. Fischer
mit vollem Recht besonders hervorhebt,') dass die anthropolo-
gischen Abhandlungen Kaut's in die „kritische Periode (1770 —
]781) fallen, die mit der Inaugural-Dissertation beginnt". Zuerst
seien die Werke genannt, die wir jetzt betrachten müssen, mit
etwas ausführhcheren Angaben.
1. Von den verschiedenen Racen der Menschen zur Ankün-
digung der Vorlesungen im Sommerhalbjahr 1775. Hartenstein
Band 2, Vorrede X, S. 433-51. Später in Engel's Philosoph für
die W^elt 1777, Bd. H, 125 — 64, etwas verändert, am Schluss er-
weitert.
2. Aelter als der Druck jener Ankündigung, gewiss aber
nicht älter als ihr Inhalt, ist die Rezension der Schrift von
Dr. Pietro Moscati von dem körperlichen wesentlichen Unterschiede
der Struktur der Thiere und Menschen, übersetzt von Beckmann,
1) K. Fischer 2, 223 f,
34*
516 G. Gerland,
Königsberger gelehrte und politische Zeitungen 1771, Hart. 2,
IX und 429 - 81.
3. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher
Absicht. Berliner Monatsschrift 1784, Bd. IV, 385—410. Hart. 4,
V, 143—57.
4. ßestimniung des Begriffs einer Menschenrace. Berliner
Monatsschrift 1785, Bd. VI, 390—417. Hart. 4, V f., 217—31.
5. Rezensionen von J. G. Herder's Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit, Theil 1 und 2. Allgemeine Litte-
raturzeitung 1785, Band I, 17—21 f. und IV, 153—6. Hart. 4, V,
171—91.
6. Muthmasslicher Anfang der Menschengeschichte. Berliner
Monatsschrift 1786, Bd. VII, 1—27. Hart. 4, VI, 315—29.
7. Ueber den Gebrauch der teleologischen Principien in der
Philosophie. Wieland's deutscher Merkur 1788, 36— 52; 107—136;
gegen Georg Forster. Hart. 4, VIII, 469—96.
8. Zu Sömmering über das Organ der Seele, von Sömraeriug
als Anhang zu seiner Schrift über das Organ der Seele veröffent-
licht. 1796. Hart. 6, VII, 455-61.
9. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Königsberg
1798. 2. Ausgabe (mit sachlich unwesentlichen Veränderungen)
eb. 1800. Hart. 7, XIII, 429—658.
Ueber letzteres Werk, das letzte, welches Kant selbst her-
ausgab, können wir kurz hingehen. Es ist die mit Lust und
Liebe von Kant selbst, der sich ja in späteren Lebensjahren von
der Geographie mehr zur Anthropologie hinwandte, ausgeführte
Bearbeitung seiner Vorlesungen über Anthropologie und ganz im
pragmatisch-kosmologischeu Sinn geschrieben. In der Vorrede
wird eine theoretische Psychologie gegen Cartesius schroff abge-
wiesen. Der erste Teil, die „anthropologische Didaktik. Von der
Art, das Innere sowohl als das Äussere des Menschen zu er-
kennen", ist eine populäre Zusammenstellung von Mitteilungen
über psychische Zustände auf dem Gebiet des Erkenntnisver-
mögens, des Gefühls (der Lust und Unlust) und des Begehrungs-
vermögens. Der zweite Teil, „die anthropologische Charakteristik.
Von der Art, das Innere des Menschen aus dem Äusseren zu er-
kennen" handelt zunächst vom Charakter der Person, von Naturell
und Temperament, gibt dann physiognomische Regeln (nach La-
vater) und bespricht schliesslich den Charakter des Geschlechts,
des Volks und der Race. Dies kleine Letzliugswerk Kant's ist
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 517
ein geistreiches, hübsch und amüsant geschriebenes Buch; es
zeij^t, was Kant in seinen Vorlesungen leistete, wie er die Zu-
hörer, die im Winter 1790/91 70 betrugen, anzuregen und zu
fesseln vermochte und steht so in einem lehrreichen Gegensatz
gegen die nicht von Kant selbst zur Herausgabe bearbeitete
physische Geographie. Daher fehlt es der Anthropologie auch
nicht an einzelnen tieferen Bemerkungen. Grösseren Anspruch
kann das Werk nicht machen; doch ist es auch heute noch eine
anregende, interessante Lektüre.
Aber diese „pragmatische Menschenkenntnis", „welche auf
das geht, was Er" (der Mensch, nicht die Natur) „als freihandeln-
des Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll"^)
— dies „soll" ist wohl zu beachten; in der Einleitung zur phy-
sischen Geographie heisst es: 2) „wovon der Verstand sagt, dass
es geschehen soll" — diese pragmatische Menschenkenntnis ist
ja nicht die einzige Art der Menschenkenntnis Kant's : „wir kennen
ausser ihr schon die physiologische, die auf die Quellen der
Phänomene des menschlichen Wesens,^) oder, wie es in der Vor-
rede zur Anthropologie heisst,*) „auf die Erforschung dessen geht,
was die Natur aus dem Menschen macht." Dazu kommt aber
noch eine dritte, die theoretische Weltkenntnis: ,.Daher wird
selbst die Kenntnis der Menschenracen" lesen wir in der Vorrede
zur Anthropologie, „als zum Spiel der Natur gehörender Pro-
dukte, noch nicht zur pragmatischen, sondern nur zur theore-
tischen Weltkenntnis gezählt." Die (nicht von Kant) gesperrten
Worte sind wichtig: sie bedeuten, dass wir es hier mit unfrei-
willigen, noch nicht, wie die pragmatischen, vom Verstand ge-
leiteten und daher tiefer stehenden Erscheinungen im Menschen-
leben zu tun haben, die wir nicht aus der direkten Erkenntnis
ihrer Ursachen, die wir also nur theoretisch, aus Schlüssen, als
möglich oder wahrscheinlich erkennen. Auch noch andere Auf-
fassungen von Wesen und Tätigkeit des Menschen, die wir in
ihrer Wichtigkeit erkennen v/erden, finden wir in den geogra-
phisch-anthropologischen Werken Kant's: es ist von Interesse, sie
zusammen zu stellen.
1) 'Vorrede zur Anthrop. Hart. 7, 431.
2) § 2. Hart. 8, 153.
3) Hart. 8, 152.
*) Hart. 7. 431.
518 G. Gerland,
I. Auffassungen durch den äusseren Sinn gegeben.
Umfang der
Auffassung
Mensch
ist
Merkmal
der Auffassung
Inhalt der
Auffassung
Die Auffassung ist
1
Indi-
viduell 2
Sozial
Subjekt,
Objekt,
Objekt,
Objekt,
durch eigenen
Verstand tätig:
abhängig von der
Natur :
abhängig von der
Natur :
abhängig von der
Geselligkeit:
Äuss. Stell.
in der Welt,
körperliche
Bildung,
Rassen etc.
Staat etc.
kosmologisch-
pagmatisch.i)
physiologisch-
phänomenal.2)
theoretisch (teleo-
logisch), i)
historisch, sozio-
logisch.
IL Auffassungen mittels des inneren Sinnes.
Umfang der
Auffassung
Geist der
Mensch-
heit ist
Merkmal
der Auffassung
Inhalt der
Auffassung
Die Auffassung ist
Subjekt
und
Objekt,
Menschheit in der
Erscheinungs-
form des inneren
Anschauens ihrer
selbst: 3)
Raum, Zeit
etc.
Auffassung der
kritischen Ver-
nunft.
Generell 5.
(Aufhebung
d-Individua-
lität durch
Gleichheit
der Indivi-
duen).
Die zweite der oben erwähnten Auffassungen, die physiolo-
gisch-phänomenale, hat Kant nur einmal behandelt, im Anschluss
an Pietro Moscati. Derselbe hatte nachgewiesen, „dass der
aufrechte Gang des Menschen gezwungen und widernatürlich
sei; dass ihm . . . Ungemächlichkeiten und Krankheiten daraus
entspringen"; dass er „in seinem Inwendigen nicht anders
gebauet" sei, „als alle Tiere, die auf vier Füssen stehen";'*) dass
er also ursprünglich vierfüssig gewesen sei. Der Schluss der Re-
zension lautet:"^) „So paradox auch dieser Satz unseres italienischen
1) Bezeichnung von Kant.
2) Bezeichnung nach Kant.
3) Kr. der reinen Vernunft. 1. Aufl., S. 33. 2. Aufl., S. 49.
4) Hart. 2, 429.
5) Ebend. 430 f. Sperrungen im Original,
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 519
Doktors scheinen mag-, so erhält er doch in den Händen eines so
scharfsinnigen und philosophischen Zergliederers beinahe eine
völlige Gewissheit. Man siehet daraus, die erste Vorsorge der
Natur sei gewesen, dass der Mensch, als ein Thier, für sich
und seine Art erhalten werde, und hierzu war diejenige Stellung,
welche seinem inwendigen Bau, der Lage der Frucht und der Er-
haltung in Gefahren am gemässesten ist, die vierfüssige; dass
in ihm aber auch ein Keim von Vernunft gelegt sei, wodurch er,
wenn sich solcher entwickelt, für die Gesellschaft bestimmt
ist, und vermittelst deren er für beständig die hiezu geschickteste
Stellung, nämlich die z weif üss ige, annimmt, aber auch mit Un-
gemächlichkeiten vorlieb nehmen muss, die ihm daraus entspringen,
dass er sein Haupt über seine alten Kameraden so stolz er-
hoben hat."
Diese kleine Rezension, welche auch K. Fischer besonders
hervorhebt,!) hat für uns mehrfache Bedeutung: erstlich ihres bei
Kant einzig dastehenden physiologischen Inhalts wegen, zweitens
weil sie durch den Ausdruck „für die Gesellschaft bestimmt ist",
übergreift auf die vierte der aufgezählten Auffassungen des
Menschen ; endlich und hauptsächlich aber, weil sie zum ersten
Male auf die Geschichte der Organismen, auf die Entvvickelungs-
geschichte des Menschen eingeht. Und zwar 1771, im Beginn der
kritischen Periode. Bisher haben wir Kant nur beschäftigt ge-
sehen mit der Geschichte des Unbelebten, mit der Naturgeschichte
des Himmels und in seinem Colleg über physische Geographie
von 1756 an mit der Geschichte'-^) des festen Landes und der
Inseln, der Quellen, Brunnen, Flüsse, Bäche, des Luftkreises, der
Winde, der Erdveränderuugen; der Mensch sollte damals nur nach
dem Unterschied seiner natürlichen Bildung vergleichend betrachtet,
die „Qierkwürdigsten Tiere" freilich nach der „Geschichte ihrer
Natur erwogen werden", allein nach Kaut's Klagen, die wir schon
öfters hörten, dass eine solche Geschichte nicht existiere und
nach dem 2. Teil der physischen Erdkunde, wie ihn Rink ver-
öffentlicht hat, geschah es nicht. Es erhellt aber hieraus, wie
Kant stets die Geschichte, das heisst denn doch, das Werden der
natürlichen Dinge und Verhältnisse, mit denen er sich beschäftigte,
kennen zu lernen bestrebt war. Denn aus der Geschichte ergibt
1) Bd. 2, 253 f.
2) Hart. 2, 5 f.
520 G. Gerland,
sich das für jeglichen Forscher und besonders für den Philosophen
so wichtige Siozi noch am ehesten.
So ist ihr Kaut namentlich auf anthropologischem Gebiet,
gerade während seiner vernunftkritischen Studien, treu geblieben
und seine erste Abhandlung über die Racen der Menschen be-
ginnt:'} „im Thierreiche gründet sich die Natiireintheilung in
Gattungen und Arten auf das gemeinschaftliche Gesetz der Fort-
pflanzung, und die Einheit der Gattungen ist nichts Anderes, als
die Einheit der zeugenden Kraft, welche für eine gewisse Mannig-
faltigkeit von Thieren durchgängig geltend ist. Daher muss die
Büffon'sche Regel: dass Thiere, die mit einander fruchtbare
Junge erzeugen ... zu einer und derselben physischen Gattung
gehören, eigentlich als die Definition einer Naturgattung der
Thiere überhaupt, zum Unterschiede von allen Schulgattungen
derselben angesehen werden. Die Schuleintheilung geht auf
Klassen, welche nach Aehnlichkeiten, die Natureintheiluug
aber auf Stämme, welche die Thiere nach Verwandtschaften
in Ansehung der Erzeugung eintheilt. Jene verschafft ein Schul-
system für das Gedächtnis, diese ein Natursystem für den Ver-
stand; die erstere hat nur zur Absicht, die Geschöpfe unter Titel,
die zweite aber, sie unter Gesetze zu bringen." Und der Schluss
der Abhandlung, der — was von Bedeutung ist — erst der Be-
arbeitung von 1777 angefügt wurde, lautet: 2) „die Natur-
beschreibung (Zustand der Natur in der jetzigen Zeit) ist lange
nicht hinreichend, von der Mannigfaltigkeit der Abartungen Grund
anzugeben. Mau muss, so sehr man auch, und zwar mit Recht,
der Frechheit der Meinungen Feind ist, eine Geschichte der
Natur wagen, welche eine abgesonderte Wissenschaft ist, die
wohl nach und nach von Meinungen zu Einsichten fortrücken
könnte."
Die Frechheit der Meinungen? erinnert dies Wort nicht an
die Verteidigung gegen eine unheilige Weltweisheit und Gottes-
läugnung, die Kant 22 Jahre zuvor der Naturgeschichte des
Himmels vorausschickte, um die wissenschaftliche Forschung in ihr
Recht zu setzen? Empfangen wir nicht auch hier den Eindruck,
^) Nach einer kurzen Bemerkung über die Leichtigkeit und Nütz-
lichkeit der Vorlesung, wohl einer Captatio benevolentiae, welche 1777
wegblieb. Hart. 2, 435. Sperrungen des Originals.
2) Hart. 2, 451.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 521
als ob Kaut etwas ganz Neues eiuführeii, eine wichtige, aber be-
denkliche Ansicht aussprechen wolle?
Das Neue und Grosse, was er aussprach, war die Anwendung
des Begriffs der Geschichte auf die Natur, auf die lebende Natur,
denn diese ist gemeint, einschliesslich der Menschheit; hieraus
folgte der Begriff der zusammenhängenden Ent Wickelung der Or-
ganismen, einschliesslich der Menschheit; hieraus ergab sich vor
allem der für Kant äusserst wichtige Begriff der Einheit des
Menschengeschlechts, denn nach der Büffou'schen Regel „gehören
alle Menschen auf der weiten Erde zu einer und derselben Natur-
gattung, weil sie durchgängig miteinander fruchtbare Kinder
zeugen." ') Dass diese Ansichten namentlich auf theologischem und
auf praktischem Gebiet mächtigen Anstoss erregen mussten (von
dem wissenschaftlichen Umsturz früherer Meinungen zu schweigen),
liegt auf der Hand, Hiergegen verteidigte sich Kant, und gewiss
hatte auch diese Seite für ihn Bedeutung, aber sie stand ihm
nicht in erster Linie. K. Fischer^) betont nur die moralische,
freiheitsgeschichtliche, sowie die sehr folgenreiche naturrechthche
und praktische Bedeutung der Frage. Für Kant aber lag die
eigentliche Bedeutung der Frage auf erkenutnistheoretischem Ge-
biet. Denn gerade' hier, und gerade für den Kant jener Jahre,
war sie grundlegend. Wollte man, sagt er 1785,3) „lieber ver-
schiedene erste Menschenstämme mit dergleichen erbhchen
Charakteren annehmen, so würde . . . dadurch der Philosophie
wenig gerathen sein, die alsdann zu verschiedenen Geschöpfen
ihre Zuflucht nehmen müsste und selbst dabei doch immer die
Einheit der Gattung eiubüsst." Einheitlich menschUche Denk-
und Erkenntnisgesetze gibt es nur, wenn die Menschheit eine Ein-
heit ist. Ist sie das nicht, so müssten sich die Erkenntnisgesetze
sehr compliciert gestalten, einheitlich nur für jede Art oder Stufe
der Entwickelung. Die Erkenntnis der Einheit des Menschenge-
schlechts bildete also für Kant das dog (xol nov arui. Von hier
aus begreift sich die Wichtigkeit der Sache für ihn, die ihn der
Frage nachgehen, sie in selbständiger Veröffentlichung entscheiden
Hess, während er an der Kritik der Vernunft. arbeitete. Aber ge-
rade deshalb: die Menschheit ist eine Einheit; folglich konnte eine
1) Hart. 2, 435.
2) Bd. 2, S. 225.
3) Hart. 4, 228, Bestimmung des Begriffes einer Menschenrace.
522 G. Gerlaiid,
Kritik der rciueu Veruunft geschrieben werden; nmsste sie ge-
sehrieben werden.
Kant fand den Nachweis der Einheit des Menscheug-eschlechts
bei Büffon gegeben, allerdings an einer Stelle, wo mau ihn nicht
sucht, in der Naturgeschichte des Esels.') Da heisst es S. 386: l'espece
n'etant donc autre chose qu'uue succession constante d'iudividus
semblables et qui se produisent. Und später S. 388 f.: ü u'y a daus
l'homnie qu'une seule et meme espece et quoique cette espece soit
peutetre la plus uombreuse, . . . et en meme temps la plus inconse-
quente et la plus irreguliere des toutes ces actions, on ne voit pas
que cette prodigieuse diversite de mouvement, de nourriture de
climat etc. . . . ait produit des etres assez differens des autres
pour faire de nouvelles souches ... et puisque tous les hommes
peuvent communiquer et produire eusemble, tous les hommes viennent
de la meme souche et sont de la meme famille. Auch Kant stellt
sie zu einer Familie.
Kant stellt vier Rassen auf, Weisse, Neger (in Afrika, Neu-
guinea und Nachbarinseln), die hunnische (mongolische oder kal-
mückische) und die hindostanische Rasse. Letztere mit den alten
Scythen (in und um Tibet) vermischt, erzeugten die Tonkinesen
und Chinesen als Mischrasse; „die Amerikaner scheinen eine noch
nicht völlig eingeartete hunnische Rasse zu sein". — „Die in der
Natur eines organischen Körpers . . . liegende Gründe einer be-
stimmten Auswickelung heissen, wenn die Auswickelung besondere
Theile betrifft. Keime; betrifft sie aber nur die Grösse oder das
Verhältnis der Theile untereinander, so nenne ich sie natürliche
Anlagen."-) Die Rassen entstehen durch die verschiedene Ent-
wickelung der Keime und Anlagen auf verschiedenen Boden; denn
„der Mensch war für alle Klimata" und Bodenarten ,. bestimmt".^)
Luft und Sonne bringen die dauerhafte Entwickelung der Keime
hervor und bewirken die Gründung neuer Rassen durch Abartung;
in der Rasse herrscht Nachartung, in der halbschlächtigen Zeugung
Anartung. Dauernde Abartung der einen Stammgattung, deren
Ursitz wohl zwischen dem 31. und 52<' der alten Welt lag (wo
die glücklichste Mischung der Einflüsse heisser und kalter
Gegenden, auch der grösste Reichtum au Erdgeschöpfen war), er-
1) Buffon Oeuvres (4") 1749—86. Hist. natur. generale et particuliere.
Bd. 4, S. 378 f., .-586 f., 389.
2) Hart. 2, 440.
3) Ebend. 442.
Iminanuel Kant, seine geograpli. und anthropolog. Arbeiten. 523
gab folgende Verhältnisse: die Stammgattung bestand aus Weissen
mit brünetter Farbe.
Erste Rasse: Hochblonde (Nördliches Europa) von feuchter
Kälte.
Zweite Rasse : Kupferrote (Amerika) von trockener Kälte.
Dritte Kasse: Schwarze (Senegambia) von feuchter Hitze.
Vierte Rasse: Olivengelbe (Indianer) von trockener Hitze.')
Sonne und Luft (Wärme und Feuchtigkeit) zeigen sieh hier
in ihren Einflüssen. 2)
Diese Sätze werden von Kant in der zweiten Abhandlung
„Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace" 1785 weiter, ein-
gehender begründet. Die neuen Kenntnisse über die Mannigfaltig-
keit in der Menschengattung, so beginnt dieselbe,-^) haben mehr
den Verstand gereizt, als ihn befriedigt, Aveil der Begriff, den man
aufklären will, nicht klar genug bestimmt ist. Manche Forscher
fassen den Begriff der Meuschenracen wohl gar als Arten der
Menschheit; wieder andere zu oberflächlich und nebensächlich.
Kant's Absicht ist, „diesen Begriff einer Race, wenn es deren in
der Menschengattung gibt, genau zu bestimmen"; die Erklärung
ihres Ursprungs ist dabei nur von nebensächlichem Wert. Kant
gibt sodann sechs grundlegende Sätze, mit Erläuterungen:
1. Nur das, was in einer Thiergattung anerbt, kann zu
einem Klassen-Unterschiede in derselben berechtigen.
2. Man kann in Ansehung der Hautfarbe vier Klassenunter-
schiede der Menschen annehmen.
3. In der Klasse der Weissen ist ausser dem, was zur
Menschengattung überhaupt gehört, keine andere charakteristische
Eigenschaft noth wendig erblich; und so auch in den übrigen.
4. In der Vermischung jener genannten vier Klassen mit
einander artet der Charakter einer jeden unausbleiblich an.
5. Betrachtung über das Gesetz der nothwendig halb-
schlächtigen Zeugung.
6. Nur das, was in dem Klassenunterschiede der Menschen-
gattung unausbleiblich anerbt, kann zu der Benennung einer
besonderen Menschenrasse berechtigen.
„Der Begriff einer Race ist also: der Klassenunterschied der
Thiere eines und desselben Stammes, sofern er unausbleiblich an-
1) Ebend. 449—50.
2) K, Fischer 2, 230.
3) Ebend. 4, 217.
524 G. Gerland,
erbt."') Unter 2. wird zunächst die Farbe als Einleitungsg-rund
weg^eu der läumlicheu Isolation der verschiedenfarbigen Stämme
und wegen ihres Einflusses auf die so wichtige „Absonderung
durch Ausdünstung" gerechtfertigt. In 5. wird in engem An-
schluss hieran betont, dass die Urmenschheit ein einziger Stamm,
nicht aber die Rassen das ursitrüngliche w^aren; denn sonst wäre
„die Nothwendigkeit des Anarteus nicht begreiflich''.-)
Die Art, wie Kant die verschiedenen Farben und Bildungen
chemisch-physiologisch erklärt,-^) hatte schon damals keinen streng
wissenschaftlichen Wert und kann hier übergangen werden. Auch
seine Kasseueinteilung und besonders ihre Begründung ist wert-
los (namentlich die vierte, die olivengelbe Rasse, die Indianer d. h.
Indier, Hindostaner). So hat Kaut auch auf anthropologisch-
ethnologischem Gebiet einen bleibenden Einfluss nicht gehabt;
dazu fehlte ihm die Detailgelehrsanikeit und eine auf ihr be-
ruhende streng sachlich-wissenschaftliche Methode. Blumenbach,
der ihn übrigens in seinen CoUegieu über die Naturgeschichte des
Menschen mit Anerkennung erwähnte, überstrahlte fachmännisch
ihn weit. Aber die Eiuzelnheiten, die Spezialgelehrsamkeit war
ibm auch hier Nebensache. Die Hauptgesichtspunkte, von denen
er ausging, und die in den Gruudzügen auch heute noch ange-
nommen sind, oder wieder angenommen sind, waren die Einheit
des Menschengeschlechts, seine Ur-abartung in Rassen, die Per-
sistenz der Rassen. Diese lagen für ihn in der Absicht der
Natur, wie er öfters ausspricht:^) „Die Vorsorge der Natur, ihr
Geschöpf durch versteckt innere Vorkehrungen auf allerlei künftige
Umstände auszurüsten, damit es sich erhalte und der Verschieden-
heit des Klima oder des Bodens angemessen sei, ist beM^underns-
w^ürdig und bringt bei der Wanderung und Verpflanzung der
Thiere und Gewächse, dem Scheine nach, neue Arten hervor,
welche nichts Anderes, als Abartungeu und Racen von derselben
Gattung sind, dei-eu Keime und natürliche Anlagen sich nur ge-
legentlich in langen Zeitläuften auf verschiedene Weise entwickelt
haben." Bedenklich ist der Anfang des vielfach sehr beachtens-
werten Satzes, sowie ferner der Begriff der ursprünglichen Keime
und Anlagen, auf welche Kant, wohl im Anschluss an Büffon,
1) Hart. 4, 226.
2) Ebend. 4, 225.
■^) 1775: Hart. 2, 440 f. 1785: 4, 229.
*) Hart. 2, 440—41.
Immanuel Kant, seine geograpli. und anthro polog. Arbeiten. 525
alle Ent^ackelung- zurückführt. „Deiin>) äussere Ding-e können
wohl Geleg-enheits-, aber niclit hervorbringende Ursachen von
(lemjeuig-en sein, was notwendig- anerbt und nachartet . . .; sie
werden nie etwas zur Zeugungskraft hinzusetzen, d. i. etwas be-
wirken, was sich selbst fortpflanzt." Und so spricht es Kant
offen aus: „der Zufall oder allgemeine mechanische Gesetze
können solche Zusamnienpassungen nicht hervorbringen. Daher
müssen wir dergleichen gelegentliche Auswickelungen als vorge-
bildet ansehen". Und noch schärfer: „der Mensch'^) war für alle
Klimate und für jede Beschaffenheit des Bodens bestimmt; folglich
mussten in ihm mancherlei Keime und natürliche Anlagen bereit
liegen, um gelegentlich entweder ausgewickelt oder zurückge-
halten zu werden, damit er seinen Platz in der Welt angemessen
würde".
Diese Ansicht hielt Kant fest, wie alle seine in heisser
Denkarbeit gewonnenen Auffassungen, und so sagt er auch 1785
(Bestimmung der Begründung einer Menschenrace unter 5.):^)
„nur alsdann, wenn man annimmt, dass in den Keimen eines
einzigen ersten Stammes oder eines einzigen ersten Paares^)
die Anlagen zu aller dieser klassischen Verschiedenheit nothwendig
habe liegen müssen, damit er zu allmählicher Bevölkerung der
verschiedenen Weltstriche tauglich sei, lässt sich verstehen, warum,
wenn diese Anlagen sich gelegentlich und diesem gemäss auch
verschiedentlich auswickelten, verschiedene Klassen von Menschen
entstehen, die auch ihren bestimmten Charakter in der Folge noth-
wendig in die Zeugung mit jeder anderen Klasse bringen mussten,
weil er zur Möglichkeit ihrer eigenen Existenz, mithin auch zur
Möglichkeit der Fortpflanzung der Art gehörte und von der noth-
wendigen ersten Anlage in der Stammgattung abgeleitet war".
Und so lesen wir dasell)st in der Schluss-Anmerkung:^) ,.Gegen-
wärtige Theorie, welche gewisse ursprüngliche, in dem ersten und
gemeinschaftlichen Menschenstamm auf die jetzt vorhandenen
Racenunterschiede ganz eigentlich angelegte Keime annimmt,
beruht gänzlich auf der Unausbleiblichkeit ihrer Anartuug,
1) Hart. 2, 441 (1775).
2) Ebend. 442.
3) Ebend. 4, 224. Sperrung im Original.
*) Miithmasslicher Anfang der Menschengeschichte 1786. Hart. 4, 316.
") Hart. 4, 227.
526 G. Gerland,
die bei den vier geuanuteu Racen durch alle Erfahrung bestätigt
wird."
Kant hatte in der Naturgeschichte des Himmels, in der Kos-
mogonie im „Beweisgrund zur Demonstration des Daseins Gottes
es für unmöglich erklärt, zu zeigen, wie eine Raupe oder das
verächtlichste Kraut erzeugt werde, wegen der Unbekanntheit der
inneren Beschaffenheit des Objekts, wegen der Verwickelung
seiner inneren Mannigfaltigkeit, wegen der nicht völligen Begreif-
lichkeit der mechanischen Gesetze seiner Bildung. Damals suchte
er nur nach den mechanischen Gründen der Bildung; er führte
sie nicht auf die direkte Schöpfung Gottes oder auf eine unbe-
stimmte Naturkraft zurück. Hier führt er einen neuen Begriff
ein in die Entwickelungsgeschirhte der Organismen, den der Keime,
der Anlagen, der Vorherbestimmung; er geht hier völlig über zur
Teleologie, Aber nicht auf übernatürliche Anordnung, nicht auf
„den Finger Gottes" führt er diese Anlagen zurück: die Kraft der
„Natur" ist es, von der sie ausgehen, von der das Schicksal der
Menschheit, der Rassen vorher angelegt, bestimmt wird. Ohne
das, sagte er in jener Schlussanmerkung, ^) würde der Philosophie
wenig gerathen sein, die alsdann zu verschiedenen Geschöpfen
ihre Zuflucht nehmen müsste und selbst dabei doch immer die
Einheit der Gattung einhüsst", Auf diese Einheit der Gattung
kam es ihm au; um sie zu begreifen, festzuhalten, legte er seinen
im übrigen auch hier ganz mechanischen Auffassungen jene unbe-
stimmten teleologischen Anfänge unter. So wichtig war ihm der
Einheitsbegi'iff, musste er ihm, dem Philosophen der Welterkennt-
nis, sein — wir sahen, weshalb.
Und an diesen teleologischen Auffassungen hielt er fest, als
dieselben von einem der bedeutendsten anthropologischen Forscher
der damaligen Zeit, von Georg Forster, angegriffen wurden. Die
Ausstellungen Forster's erschienen in einem Brief au Biester, einen
der Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, in Wieland's
deutschem Merkur,"2) (jg,. soeben den ersten der Roinholdischeu Briefe
über Kant's Philosophie gebracht hatte. Sie sind gut geschrieben,
in voller Anerkennung der Verdienste Kant's. Nach einigen
Bedenken gegen den Satz, mit welchem Kant seine „Bestimmung
des Begriffs der Menschenracen" beginnt: 3) „es liegt gar viel
1) Hart. 4, 228.
2) Okt. 1786, 57—86; Nov. 150-166.
8) Hart. 4, 217.
Immanuel Kant, seine geograpli. und anthropolog-. Arbeiten. 527
daran, den Begriff, welchen man durch Beobachtimgen aufklären
will, vorher selbst wohl bestimmt zu haben, ehe man seinetwegen
die Erfahrung- befragt; denn man findet in ihr, was man bedarf,
nui- alsdann, wenn man vorher weiss, wonach mau suchen soll";
nach einiger sehr berechtigten Ausstellungen an Kaut's Angaben
über die Südseevölker bespricht Forster zweifelnd der Farbe als
Eiuteilungsgrund der Rassen, als welchen sie Kant ja hinstellt,
erklärt er, im Anschluss au Sömmeriug's Darlegungen, die Ent-
scheidung, ob Neger und Weisse als Gattungen oder als Varietäten
von einander verschieden sind, für eine vielleicht unlösliche Auf-
gabe; macht er Einwendungen gegen den Büffon'scheu Beweis
der Arteinheit aus der Fruchtbarkeit der Mischungen und nach
einigen — nicht stichhaltigen — Einwendungen gegen Kaut's
(und Büffon's) Theorie der Keime und Anlagen spricht er sich
dahin aus, dass er keineswegs die Frage, ob es mehrere ursprüng-
liche Menschenstämme gebe, entscheidend bejahen wolle, dass ihm
allerdings die Voraussetzung mehrerer ursprünglicher Menschen-
stämme, nicht mehr Schwierigkeiten bereite, als die Abstammung
von einem Paare; er nennt — beispielsweise — drei solcher
hypothetischer Urstämme, die Neger in Afrika, die Weissen am
Kaukasus, die Skythen und Inder am Emaus. >)
Auf diese Bedenken — diesen Ton überschreitet Forster
nirgends — antwortet Kant 1788 in der Abhandlung „über den
Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie" nicht ohne
Empfindlichkeit, ja Schärfe, wie sie Forster nicht verdiente, und
die dureh das hohe Lob der Reinhold'schen Briefe, welches Kant
anfügt, um so eindringlicher wird. So ist der am Schluss gerade-
zu höhnische Satz, den Kant aus einigen Stellen der Forster'schen
Artikel (deren Seiten die beigefügten Zahlen angeben) zusammen-
stellt, völlig ungerecht: 2) „die kreisende Erde (S. 80), welche
Thiere und Pflanzen ohne Zeugung von ihres Gleichen, aus ihrem
Aveicheu, vom Meeresschlamm befruchteten Mutterschoosse ent-
springen Hess, die darauf gegründeten Lokalzeugungen organischer
Gattungen, da Afrika seine Menschen (die Neger), Asien die
seinigen (alle übrigen) (S. 158) hervorbrachte, die davon abge-
leitete Verwandtschaft aller in einer unmerklichen Abstufung vom
1) Deutscher Merkur Nov. 178fi, S. 162. Forster anerkennt keines-
wegs bloss 2 Stämme (Neger und alle übrigen Menschen) wie K. Fischer
2, 232, wohl nach Kant, Hart. 4, 491, behauptet.
2) Hart. 4, 491—2.
528 G. Gerland,
Menschen zum Wallfische (S. 77) und so weiter hinab (vermutlich
bis zu Moosen und Flechten, nicht bloss im Vergleichungssystem,
sondei'ii im Erziehungssystem aus gemeinschaftlichem Stamme)
gehende Naturkette organischer Wesen — diese würden zwar nicht
machen, dass der Naturforscher davor, als vor einem Ungeheuer
(S. 75), zurückbebte (denn es ist ein Spiel, womit sich wohl
mancher einmal unterhalten hat, das er aber, weil damit nichts
ausgerichtet wird, wieder aufgab), er würde aber doch davon
durch die Betrachtung zurückgescheucht werden, dass er sich
hierdurch unvermerkt ... in die Wüste der Metaphysik verirre".
Um die Wichtigkeit der Hautfarbe als Einteiluugsgrund zu beweisen,
führt Kant die Zigeuner an, deren indische Hautfarbe (bei indischer
Sprache) beständig blieb ;i) als „eine wichtige Bestätigung . . .
der unausbleiblich erblichen Verschiedenheiten" betont er, dass die
„Racen nicht sporadisch (in allen Welttheilen, in einerlei Klima,
auf gleiche Art) verbreitet, sondern cykladisch in vereinigten
Haufen, innerhalb der Grenzlinie eines Landes, wo jede derselben
sich hat bilden können, vertheilt angetroffen werden".'^) Sachlich,
wissenschaftlich hat alles dies wenig Bedeutung, wie es ja auch
auf die Zeitgenossen und die Entwickelung der Anthropologie
wenig gewirkt hat. Aber wichtig ist es, dass Kant an seineu
teleologischen Ansichten fest hielt, ja immer mehr in ihnen be-
festigt wurde. Hier liegt die Bedeutung dieses Streites — der
viel wichtiger ist, als die Controverse mit Herder, ^j gegen dessen
unmethodischen Unzulänglichkeiten Kant überall Recht hat —
hier liegt die zweite grosse wissenschaftliche Bedeutung der anthro-
I pologischen Studien Kaut's. Die erste war die Anerkennung, der
I Beweis der Einheit des Menschengeschlechts; die zweite ist der
I Begriff der Teleologie, wie er sich Kant aus seinen anthropolo-
' gischen Studien ergab.
Kant hatte in den Metaphysischen Anfangsgründen der
Naturwissenschaft, in der Anmerkung zum 3. Lehrsatz des dritten
Hauptstücks ^) den Hylozoismus als „den Tod aller Natur-
philosophie" abgewiesen. Was ist aber eine spontane Urzeugung
aus weichem, vom Meer befruchteten Urschlamm, welche Forster
1) Hart. 4, 484.
«) Ebend. 488.
3i K. Fischer 2, 250 - 6.
*) Hart. 4, 440 f.
Immanuel Kant, seine geogräph. und anthropolog. Arbeiten. 529
— allerdiug-s nur ganz problematisch — erwähnte, i) anders als
„hypermetaphysischer" Hylozoismus? Es war selbstverständlich,
dass Kaut eine solche Annahme ablehnte. Er sagt:'^) „wahre
Metaphysik kennt die Grenzen der nienschlicheu Vernunft und
unter anderen diesen ihren Erbfehler, den sie nie verleugnen kann:
dass sie schlechterdings keine Grundkräfte a priori erdenken
kann und darf . . . sondern nichts weiter thun kann, als die, so
ihr die Erfahrung lehrt . . . auf die kleinstmöglichste Zahl zu-
rückzuführen, und die dazn gehörige Grund kraft, wenn's die
Physik gilt, in der Weit, wenn es aber die Metaphysik angeht
(nämlich die nicht weiter abhängige anzugeben), allenfalls ausser
der Welt zu suchen. Von einer Grundkraft aber (da wir sie
nicht anders, als durch die Beziehung einer Ursache auf eine
Wirkung kennen) können wir keinen anderen Begriff geben und
keinen Namen dafür ausfinden, als der von der Wirkung herge-
nommen ist und gerade nur diese Beziehung ausdrückt . . . Eine
Grundkraft, durch die eine Organisation gewirkt würde, muss also
als eine nach Zwecken wirkende Ursache gedacht werden".
„Verstand und Wille sind bei uns Grundkräfte, deren der letztere,
sofern er durch den ersteren bestimmt wird, ein Vermögen ist,
etwas gemäss einer Idee, die Zweck genannt wird, hervorzu-
bringen. Unabhängig von aller Erfahrung aber sollen wir uns
keine neue Grundkraft erdenken". Durch die Erfahrung an uns ge-
leitet „müssen wir entweder alle Bestimmung der Ursache organi-
sierter Wesen entsagen, oder ein intelligentes Wesen uns dazu
denken".
Von diesen Gedanken aus, die Kant auch schon 1775 aus
seinen anthropologischen Studien allmählich entwickelt hatte, die
aber auch genau zu der Naturgeschichte des Himmel, zum Be-
weisgrund u. s. w. stimmen, die er nachweislich durch die Unter-
suchung der Rassenfrage in dieser Klarheit und Festigkeit ge-
wonnen hatte, ist er nun zu hohen Resultatrn auch für den
„inneren Sinn'' gekommen. Den Gottesbegriff verbannt er auch
hier ebenso streng wie bei seinen mechanischen Untersuchungen.
„Was beweiset, fragt er, nun aber am Ende auch die allervoll-
ständigste Teleologie? beweiset sie etwa, dass ein solches ver-
ständiges Wesen da sey? Nein; nicht weiter als dass wir nach
1) Deutscher Merkur Okt. 1786, S. 80. Hart. 4,' 492.
2) Hart. 4, 492—4.
Kantstudien X, 35
53Ö Ö. Gerland,
der Beschaffeuheit unserer Erkenntnisvermögen, also in der Ver-
Ijindnng- der Erfahrung- mit den obersten Principien der Vernunft,
uns schlechterdings keinen Bei2:rif von der Möglichkeit einer
solchen Welt machen können, als so, dass wir uns eine absicht-
lich-wirkende oberste Ursache derselben denken. "i) „Der Aus-
druck eines Zwecks der Natur beugt genugsam vor, um Natur-
wissenschaft und die Veranlassung, die sie zur teleologischen
Beurtheilung ihrer Gegenstände gibt, nicht mit der Gottesbe-
trachtung und also einer theologischen Ableitung zu ver-
mengen."'-^) „Das Princip der formalen Zweckmässigkeit der
Natur ist ein transsceudentales Princip der Urtheilskraft."^) „Die
teleologische Beurtheilung wird, wenigstens problematisch, mit
Recht zur Naturforschung gezogen, aber nur, um sie nach der
Analogie mit der Causalität nach Zwecken unter Principien der
Beobachtung und Nachforschung zu bringen, ohne sich anzumassen,
sie darnach zu erklären. "4) „. . . der Begrif von Verbindungen
und Formen der Natur ist doch wenigstens ein Princip mehr,
die Erscheinungen derselben unter Regeln zu bringen, wo die Ge-
setze der Oausalität nach dem blossen Mechanism derselben nicht
zulangen." „Der Begrif einer objectiven Zweckmässigkeit der
Natur ist ein criterisches Princip für die reflektierende Urteils-
kraft."^) „Dinge, als Naturzwecke, sind organisierte Wesen. "6)
Wir haben also für „den inneren Sinn" eine neue Kraft, eine
neue Erkenntnis gewonnen, die wir gewiss zur „Erkenntnis
der Welt" hinzuzurechnen haben. Diese neue Erkenntnis, die
Grundlage der Urteilskraft und also auch der Kritik der Urteils-
kraft, hat Kant gewonnen und entwickelt namentlich an seinen
anthropologischen Studien, von den Versuchen, die Organismen
und namentlich den höchst stehenden derselben zu erklären. Er
hatte wohl Recht, die Anthropologie neben der Geographie als
das andere Mittel der Welterkenntnis anzuerkennen.
Kant nannte diese dritte der oben (S. 518) erwähnten Auffas-
sungen des Menschen, der Menschheit „eine" oder „die theore-
1) Kritik d. Urteilskraft, 1. Aufl., 1790, S. .^Bl.
2) Ebend. S. 302.
aj Ebend. Einleitung V, S. XXVII.
4) Ebend. S 265.
ä) Ebend. S. 329.
^) Ebend. S. 285 f. 291.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropoiog. Arbeiten. 53l
tische Auffassung"; wir sahen aus dem Vorigen, wie richtig diese
Bezeichnung ist.
Bei dieser Auffassung tritt aber noch ein anderer Gesichts-
punkt ein, der von Wichtigkeit ist. Während wir bisher das
menschliche Individuum in seiner Welt- und Naturstellung be-
trachtet haben, wobei allerdings auch die Summe der Individuen
zur Sprache kam, immer aber als Pluralität verschiedenartig ent-
wickelter Einzelheiten, haben wir bei der theoretischen Auffassung
die Menschheit als ganzes betrachtet. Auch hier besteht sie
natürlich aus einer Summe von Einzelnheiten : während aber in
der Pluralität der ersten Auffassung die individuelle Selbständig-
keit eine Hauptsache war, fällt diese bei unserer jetzigen Be-
trachtung ganz weg: die Summe ist hier die Hauptsache, das
Individuum hat ihr gegenüber gar keine Bedeutung, da die Ein-
wirkung gleichmässig auf die Summe ohne irgend welchen Gegen-
einfluss des Individuums geschieht. Diese Summe, die Menschheit,
sahen wir abhängig von der Natur, in dem dargelegten teleolo-
gischen Sinn. Durch diesen I^influss entstanden, bei Ausbreitung
der Menschheit über die Erde, die verschiedenen Rassen. Allein
nicht bloss von der Natur ist die Menschheit abhängig, sie ist es
auch, bei ihrer Grösse, von sich selber, und zwar sowohl die In-
dividuen, deren persönliche Verschiedenheit verschwindend ist
gegen die Summation des Gleichartigen im Menschen, wie es die
menschliche Gesellschaft zeigt,, als auch ihre einzelne Teilglieder,
Völker, Stände u. s. w., die ebenfalls gegen das Ganze nicht in
Betracht kommen. So wird die Menschheit in ihren Teilen ihr
eigenes Objekt, sie wird abhängig von der Geselligkeit. Auch
diese vierte Auffassung, diese soziologische Abhängigkeit
der Menschheit von sich selber, auf welcher der Gang der Welt-
geschichte beruht, hat Kaut wenigstens berührt: er hat sie klar
aufgefasst, wenn auch nur kurz besprochen. Dies that er in
einem kleinen Aufsatz ,.Idee zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht", welcher 1784 im Novemberheft der Ber-
liner Monatsschrift erschien.') Es ist von Interesse, dass er einen
zufälligen Anlass hatte, über welchen Kant selbst Bericht gab.=^)
„Eine Stelle," sagt er, „unter den kurzen Anzeigen des zwölften
1) Hart. 4, S. V.
1) Hart. 4, 142. Vgl. K. Fischer 2, 239; die Notiz der Goth. Gel. Z.
erschien am 11. Februar 1784.
35*
532 Or. Gerland,
Stücks der Gothaisclien Gel. Zeitung d. J., die ohne Zweifel aus
meiner Unterredung- mit einem durchreisenden Gelehrten genommen
worden, nöthigt mir diese Erläuterung ab, ohne die jene keinen
begreiflichen Sinn haben würde." Die Stelle der Goth. Zeitung
lautete: „eine Lieblingsidee des H. Prof. Kant ist, dass der End-
zweck des Menschengeschlechts die Erreichung der vollkommensten
Staatsverfassung sei, und er wünscht, dass ein philosophischer
Schriftsteller es unternehmen möchte, uns in dieser Rücksicht eine
Geschichte der Menschheit zu liefern und zu zeigen, wie weit die
Menschheit in den verschiedeneu Zeiten diesem Endzwecke sich
genähert oder von demselben entfernt habe, und was zur Er-
reichung desselben noch zu thun sei." Kant beginnt mit dem
Satz,') dass die Erscheinungen des freien Willens, „die mensch-
lichen Handlungen, ebensowohl, als jede andere Naturbegebeuheit,
nach allgemeinen Gesetzen bestimmt sind". Nun 2) findet der
Philosoph „bei Menschen und ihrem Spiel im Grossen gar keine
vernünftige eigene Absicht"'; er versuche" also, „ob er nicht
eine Natur absieht in diesem widersinnigen Gang menschlicher
Dinge entdecken könne; aus welcher von Geschöpfen, die ohne
eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem be-
stimmten Plane der Natur möglich sei". Kant will versuchen,
einen Leitfaden zu einer solchen Geschichte zu finden; er will es
dann der Natur überlassen, den Mann hervorzubringen, der, ein
Kepler oder Newton in seinem Fache, sie schreiben könne. Also
auch hier handelt es sich um eine teleologische Frage, um eine
Naturabsicht, welche der unvernünftigen Menschheit nach natür-
lichem Plane, d. h. also aus ihrer eigenen Natur heraus eine Ge-
schichte ermögliche. Es handelt sich ,,um die Menschen und ihr
Spiel im Grossen", d. h. also um eine historische Entwickelungs-
geschichte der Menschheit. Kants „Leitfaden" besteht nun aus
neun Sätzen mit ihren Erläuterungen. Die Sätze lauten:
1.'^) Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich
einmal vollständig und zweckmässig auszuwickeln.
Erläuterung: bei allen Thieren bestätigt dieses die äussere
sowohl, als innere oder zergliedernde Beobachtung. Eiin Organ,
das nicht gebraucht werden soll, eine Anordnung, die ihren Zweck
1) Hart. 4, 14.3.
2) Ebend. 144.
^) Die Sätze sind im Original gesperrt, die Erläuterungen nicht. Die
im Folgenden gesperrten Worte scheinen mir besonders beachtenswert.
Immanuel Kant, seine geograph, und anthropolog. Arbeiten. 533
nicht erreicht, ist ein Widerspruch in der teleologischen Natnrlehre.
Denn wenn wir von jenem Grundsätze abgehen, so haben wir
nicht mehr eine gesetzmässige, sondern eine zwecklos spielende
Natur, und das trostlose Ungefähr tritt an die Stelle des Leit-
fadens der Vernunft.
2. Am Menschen sollten . . . sich diejenigen Naturaulagen,
die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in
der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig ent-
wickeln.
3. Die Natur hat gewollt, dass der Mensch alles, was über
die mechanische Anordnung seines thierischen Daseins geht, gänz-
lich aus sich hervorbringe, und keiner anderen Glücksehgkeit oder
Vollkommenheit theilhaftig werde, als die er sich selbst, frei
von Instinkt, durch eigene Vernunft verschafft hat.
4. Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Ent-
wickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der
Antagonismus derselben in der Gesellschaft, sofern dieser
doch am Ende die Ursache einer gesetzmässigen Ordnung der-
selben wird.
5. Das grösste Problem für die Menschengattung, zu dessen
Auflössung die Natur ihn (sie) zwingt, ist die Erreichung einer
allgemeinen, das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesell-
schaft.
6. Dies Problem ist zugleich das schwerste und das,
welches von der Menschengattng am spätesten aufgelöst wird.
7. Das Problem der Errichtung einer vollkommenen bürger-
lichen Verfassung ist von dem Problem eines gesetzmässigen
äusseren Staatenverhältuisses abhängig und kann ohne das
letztere nicht aufgelöst werden.
8. Mau kann die Geschichte der Menschengattuug im
Grossen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der
Natur ansehen, um eine innerlich- und, zu diesem Zwecke,
auch äusserlich- vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen,
als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in
der Menschheit völlig entwickeln kann.
9. Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Welt-
geschichte nach dem Plane der Natur, der auf die voll-
kommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattuug
abziele, zu bearbeiten, muss als möglich und selbst für diese
Naturabsicht beförderlich angesehen werden.
534 G. Gerland,
Auch der „mutmassliche Anfang- der Menschengeschichte" ^)
gehört hierher; Kaut zeigt die geschichtliche Eutwickelung der
Menschheit vou ihren Anfängen, indem er Genesis Cap. 2 — 6 als
Allegorie zu Grunde legt: Naturzustand, erster Willensakt,
Entstehung des Bösen, dadurch des Antagonismus, Eutwickelung
des Lebens durch letzteren zu höheren Zielen als die Rousseau'-
sche Unschuld. Hirtenleben, dann Ackerbau, durch ihn Cultur,
Anfang der Kunst, der Geselligkeit, der bürgerlichen Sicherheit
uud der so fördersamen Ungleichheit der Menschen: das sind die
Etappen, durch die wir Kant auf dieser „blosen Lustreise" be-
gleiten; doch führte sie zu weiten, hohen Zielen, wie die Ideen
zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Hinsicht be-
weisen, ebenso auch die warme Teilnahme Kant's an der franzö-
sischen Revolution.
Und so gehören auch jene neun Sätze völlig auf die Stufe
der grossen kritischen Werke Kant's, denn sie gehören trotz ihrer
Kürze, trotz ihrer nur gelegentlichen Entstehung zum w^ertvollsten,
was Kant uns an Gedankenschätzen hinterlassen hat. Sie nach
ihrer ganzen Bedeutung zu behandeln, ist auf dem hier einge-
schlagenen Wege unmöglich; nur auf einen Punkt sei hingewiesen,
der für Kant's anthropologische Studien, für das Verständnis
Kant's selbst und andererseits auch für die moderne Forschung
vou grosser Wichtigkeit ist. Kant spricht hier von der Gattung
Mensch, von der Menschheit und von der mit ihr gegebenen
Geselligkeit. Die Arbeit ist also eine soziologische. Sozio-
logisch sind jene neun Sätze, nicht weil sie sich auf die Eut-
wickelung der bürgerlichen Gesellschaft beziehen, sondern weil sie
zeigen, dass und inwiefern die Eutwickelung der Gesellschaft eine
Funktion der Gattung und nur möglich durch uud in der Gesell-
schaft ist. Kant bringt diese wichtigen Ideen gleichsam beiläufig»
zufällig vor: sie waren ihm aber wichtig genug uud haben ihn
oft und eingehend beschäftigt: das beweisen seine Abhandlungen
über die Rassen und deren Eutwickelung, das beweist an manchen
Stellen auch die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" ; das
beweisen seine kritischen Werke, die insgesammt generelle Dar-
legungen enthalten, Darlegungen, welche sich nicht auf das Indi-
viduum, sondern auf das Genus Mensch beziehen. Doch nur in
jenen neun Sätzen lehrt und beweist er die Einwirkungen
1) 1786. Hart. 4, 315. Berl. Monatsschr. 1786, 1—28.
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. 535
der Gesellschaft als wirklich gesetzmässig zu begreifende Er-
scheimmgen, als Funktionen der Gesellschaft und so führt er uns
in seinen anthropologischen Arbeiten, „der anderen Art der Er-
kenntnis der Welt", zu einem neuen, grossen, fruchtbaren Pro-
blem hin.
Wie steht es nun mit der fünften der oben (S. 518) genannten
Auffassungen, der generellen, wo die „Menschheit in der Er-
scheinungsform des inneren Auschauens ihrer selbst" Subjekt und
Objekt zugleich ist? Den Übergang zu dieser wichtigsten aller
aufgezählten Auffassungen mag eine kleine Schrift aus dem Jahre
1796 bilden. „Der Stolz unseres Zeitalters, Kant, hatte die Ge-
fälligkeit, der Idee, die in vorstehender Abhandlung herrscht, nicht
nur seinen Beifall zu schenken, sondern sogar noch zu erweitern,
und zu verfeinern, und so zu vervollkommnen", mit diesen Worten^
schloss Sömmering sein Werk über das Organ der Seele, welches
er Kant zur Beurteilung vorgelegt hatte; die kleine Schrift, 2)
welche Kant als Antwort abfasste, bildet den Anhang zu Sömme-
riugs Abhandlung. Kant spricht zunächst, als physiologische Ver-
mutung, die Idee aus, dass das Wasser in der Gehirnhöle durch
unmerkliche chemische Beimischungen vielleicht den physiolo-
gischen Zusammenhang der in ihm endenden Nervenfasern be-
wirken könne. Die Frage aber nach dem Organ, dem Sitz der
Seele, weist Kant ab, als „unauflöslich und an sich widersprechend",
weil die Seele sich nie empirisch, durch die äusseren Sinne, wahr-
nehmen, sich nie zum Gegenstand ihrer eignen äusseren Anschau-
ung machen kann ; sie müsste sich sonst aus sich selbst versetzen.
Den Körper nimmt sie wahr durch äussere Sinne ; sich selbst kann
sie nur durch „den inneren Sinn" wahrnehmen. 3) Man könnte
versucht sein, diese Arbeit Kaufs zu der zweiten Auffassung, der
physiologischen zu rechnen. Allein physiologisch-phänomenal ist sie
gewiss nicht; und da ihr Hauptsatz der ist, dass die Seele sich
nur durch den inneren Sinn wahrnehmen kann : so stellen wir sie
wohl am besten hierher.
Damit sind wir zum letzten Höhepunkt des Weges gekommen,
den wir eingeschlagen haben nur den Gedanken Kant's folgend,
ohne eigene Willkühr ; den wir einschlagen mussten, wenn wir
1} Hart. 6, 456.
2) Oben S. 182, 8.
3) Hart. 6. 461.
536 G. Gerland,
wirklich Kant folg-en wollten. Die erreichte Höhe bietet weite
Aussicht, zunächst auf unseren Weg selbst, dann aber in andere
ungeahnte Fernen.
Der phj^sischen Erd- und Himnielskunde, dem „ersten Teil
der Weltkenntnis" (oben S. 500 f.), der Elrfahrungs Wissenschaft
des äusseren Sinnes, verdanken wir ausser der reichen Fülle der
Erscheinungen die Erkenntnis des Zusammenhangs der Erschein-
ungen, des Weltganzeu, der Einheit in der Vielheit. In der Ent-
wickelung der Materie sahen wir strenge Gesetzmässigkeit, Zweck-
mässigkeit bei völliger Selbständigkeit der Materie ; wir lernten
den Weltraechanismus in seiner Alleinherrschaft durch die Unend-
lichkeit des Weltalls kennen; aus den Weltmechanismus in seiner
Unendlichkeit, Gesetzmässigkeit und Selbständigkeit trat uns der
Gottesbegriff, aus der Möglichkeit der Welt „die Notwendigkeit
Gottes" hervor (oben S. 477 f.). Aber Gott ist nicht die Welt,
nicht in der Welt; die Welt ruht in ihm, er steht unerkennbar
hinter der Welt, die sich nach ihren eigenen von Gott gegebenen
Gesetzen in Freiheit entwickelt.
Nun war die Erdbeschreibung ja nur ein Teil der Weltkennt-
nis, der Propädeutik für die Erkenntnis der Welt. Der andere
Teil war ja die Kenntnis des Menschen, die Anthropologie, wir
können allgemeiner sagen, die Kenntnis des organischen Lebens.
Und hier, in diesem zweiten Teil der Propädeutik für die Erkennt-
nis der Welt, kommt Kant zu ganz analogen Resultaten, wie in
jenem ersten. Dort war es der Mechanismus mit seiner gesetz-
mässigen Freiheit, die auf Gott als Urgrund hinwies: hier haben
wir den Begriff der Teleologie als Grundkraft anzunehmen, zu
der wir uns eine absichtlich-wirkende Ursache, ein intelligentes
Wesen hinzudenken müssen. Aber ebensowenig, wie wir aus dem
Mechanismus der Welt die Existenz, das Wesen Gottes beweisen
können, ebensowenig können wir das aus der teleologischen Beur-
teilung der Welt. Die zweckentsprechende Entwickelung ist eben
der Mechanismus der organischen Welt.
Auch hier also fühlte sich Kant, wie bei der Erklärung von
Eaum und Zeit, zum Kriticismus gedrängt: Der Begriff einer ob-
jektiven Zweckmässigkeit der Natur gilt ihm als „criterischesPrincip"
der reflektierenden Urteilskraft, der reinen Vernunft. Aber zum
Kritizismus selber kam er nicht durch seine geographischen oder
anthropologischen Studien. Diese Richtung lag tiefer in ihm : Er
wollte die Welt begreifen; so musste er Welt und Menschheit er-
r.o'
Immanuel Kant, seine geograph. und anthropolog. Arbeiten. Oo (
kennen. Die Läuterung- des herrschenden Gottesbegriffs ist wohl
die erste Stufe seines kritischen Vorg-ehens. Allerdiug-s war ja
der anthropomorphische Gottesbeg-riff gerade in der Geographie und
Kosmologie vorherrschend, aber Kaut's Weg ist der umgekehrte.
Nicht von seinen kosmologischen Studien kam er zu jenen höheren
Auffassungen; sondern weil er diese schon in sich trug, hauptsäch-
lich wohl noch als sollicitatio, beschäftigte er sich zunächst mit
jenen Wissensgebieten, wo er die falschen Auffassungen am deut-
lichsten vorfand. Seine neuen Gedanken aber haben die breite
Basis der gesammten geschichtlichen und philosophischen Ent-
wickelung der Menschheit. So konnte er von dem nisus, der
sollicatio des Neuen, die er in sich fühlte, w^ohl sagen: „hierauf
gründe ich mich. Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die
ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten und nichts soll
mich hindern, ihn fortzusetzen." Das ist der Sinn der berühmten
Worte, die er zur Wahrheit gemacht hat. Zu seineu Ideen braucht
er Welt und Menschheit.
Anfangs stellte er beide in engsten Zusammenhang; in der
Naturgeschichte des Himmels nahm er die Organismen als direkt
entstanden aus der Materie, führte er die höhere Entwickelung
des geistigen Wesens auf die feinere Bildung der planetarischen
Materien zurück. Diesen „Jünglingsgedanken" hat er nicht weiter
geführt ; er hat überhaupt die geographisch-kosmologischen Be-
trachtungen später nicht mehr weiter geführt. Das war auch
nicht mehr nötig: denn durch die kritische Lehre von den Auf-
fassungsformen des inneren Sinns, vom Ding an sich, war die
Welt der Erscheinungen, der Auffassungen des äusseren Sinns in
ihrer Möglichkeit für uns erklärt. Es blieb nur noch die Dar-
legung der Fülle der Erscheinungen, des Zusammenhangs, der
Geschichte derselben im Sinne der Weltfreude, des Begreifens, des
Erschliessens, der Nutzung der Welt. Dagegen hat ihn die Anthro-
pologie auch späterhin mehr beschäftigt, was keiner Begründung
bedarf.
Wenn wir nun die schon in unserer ersten Vorlesung ge-
stellte Frage wiederholen : was war für Kant die Geographie und
die Anthropologie? so können wir sie jetzt abschliessend beant-
worten. Sie waren ihm unentbehrlich als Material der Erkenntnis
der Welt; und ferner als Probiersteine für seine neuen Ideen.
Was er zu sagen hatte, war nur dann von wirklichem, allgemeinem,
menschlich-generellem Wert, wenn die Welt, die Menschheit eine
538 G. Gerland,
Eiuhoit war; beides miisste, kouute er uachweiseu, weim sich die
grossen Probleme, welche sie boteu, durch seiue Darlegimgeii be-
grifflich bewältigen, ordnen Hessen; wenn er zugleich nachweisen
konnte, dass jede andere Art des Verständnisses unmöglich sei.
Von hier aus ist es auch klar, warum er die grossen Oesammt-
heiten vorwiegend betrachtet; warum er die Einzelnheiten nicht
eingehender behandelt, ja sie liegen lässt oder in einmal ange-
nommener Denkbewältigung bleibend festhält. An ihnen lag ihm
nichts; sie bezeichnen nur seinen Weg und seine Weltfreude.
Was aber war Kant für die Geographie und für die Anthro-
pologie? Sachlich für beide nicht sehr viel; auch für sie liegt
seine Bedeutung auf kritischem Gebiet und gerade durch seinen
Kritizismus hat er für beide Wissensgebiete sehr viel geleistet.
Zunächst durch die klare, reine Fassung des Gottesbegriffs, wodurch
allein eine wissenschaftliche Weltbetrachtung und Weltauffassuug
möglich war; und ferner durch die Reinigung, man kann wohl
sagen durch die Neubildung des wissenschaftlichen Bewusstseins.
Auch die Freude an Welt und Menschheit, an der Fülle des
Lebens, wie sie seinen Vorlesungen zu Grunde lag, muss aner-
kannt werden.
Durch alles dies nimmt Kaut eine ganz eigenartige Stellung
ein nicht nur in der Wissenschaft, sondern in der ganzen Welt-
auffassung der Menschheit; eine Stellung, die, um sie in ihrer
ganzen Bedeutung zu verstehen, uns wieder in die frühesten Zeiten
der Menschheit zurückführt und den ganzen Gang ihrer Ent-
wickelung von ihrer ersten Entstehung bis jetzt zu betrachten
zwingt.
Die Entwickeluug der Menschheit, der Weltkultur, wie sie
bis jetzt in den europäischen Völkern gipfelt, zeigt drei grosse
Phasen, die sich in sehr langen Zeiträumen auseinander gebildet
haben, die aber noch alle drei neben- und ineinander weiterleben, auch
stets neben- und ineinander weiter bestehen werden; denn sie haben
alle drei der Menschheit für alle Zeiten, für ihre ganze Existenz
grundlegendes und unentbehrlichstes geschaffen und jeder wirkliche
Gewinn der Entwickeluug bleibt der Menschheit — in Folge soziolo-
gischer Gesetze — unzerstörbar erhalten. Wir stehen im Anfang der
dritten dieser Entwickelungsphaseu. Nur die erste der selben um-
fasst, bis jetzt fortdauernd, die gesamte Menschheit gleichmässig: die
zweite und namentlich die dritte, die ja eben erst beginnt - solche
Gesamtphasen bedürfen lange Zeiträume — zeigen viel engere
Iinraanuel Kant, seine gcograph. und anthropolog. Arbeiten. 539
Aiisdehming:; ihre Verbreitung von ihrem Entstehiingspiinkt aus
folgt den jedesmaligen historischen Verhältnissen der Menschheit.
Neben ihnen haben sich aus der ersten Phase verschiedene Weiter-
bildungen entwickelt, die manches Analogen zu jenen Hauptphasen
zeigen, ohne ihre Höhe, ihren generellen Entwickelungs- und Zu-
kunftswert zu besitzen. Die grosse Kulturentwickelung der Welt
beruht auf diesen drei Phasen, soweit wir sehen können, denen jeder
Ausblick in irgend fernere Zukunft versagt ist; der Kulturbesitz
der Menschheit wurde und wird durch alle und in allen drei Ent-
wickelungsphasen gewonnen. Denn jede von ihnen bedeutet die
psychische Bewältigung aller tellurisch gegebenen Sinneswahr-
nehmuugen durch die jedesmalige Menschheit nach der Aufnahme-
fähigkeit dieser jedesmaligen Menschheit — d. h. die jedesmalige
dieser Aufnahmefähigkeit entsprechende Umsetzung des durch die
äusseren Sinne Gegebenen in Folge unbewusster psychophysischer
Eeaktion in generelles Denkeigentum, in generelle psychische Kraft
für die Menschheit. Diese Phasen mussten lang sein, denn sie
werden erst durch die jedesmalig höhere w^eitergeführt da und
dann, wo und wann die Menschheit durch den früheren psychischen
Erwerb höhere generelle Kraft gew^onnen hat. Daher ist die Un-
regelmässigkeit der Niveauflächen dieser Phasen, ihr Auf- und Ab-
steigen, ihr längeres oder kürzeres Andauern da und dort wohl
begreiflich.
Die erste dieser Phasen, die wir in der zweiten Vorlesung
(S. 15) schon kurz betrachten mussten bei den Anfängen der
Geschichte der Erdkunde, geht zurück in anfanglose Zeiten. Sie
ist bezeichnet durch die völlige Alleinherrschaft der äusseren
Sinne ; sie ist die Zeit der sinnlichen Urwahrnemung der Mensch-
heit, ihres tellurischen Einlebens, ihres Besitznehmens der Erde.
Auf alle tellurischen Einwirkungen reagiert der psychophysische
Apparat des w^enig entwickelten Individuums, reagiert die Summe
dieser sehr gleichmässig entwickelten Individuen, die menschliche
Gesellschaft, die Menschheit, ganz gleichmässig durch Umwandlung
der Wahrnehmungen in festen Besitz von Vorstellungen, Vor-
stellungsverknüpfungen, Urteilen, Begriffen und, veranlasst durch
diese, von Tätigkeiten; die Vorstellungen und ihre Verknüpfungen
sind durchaus anthropomorphistisch ; alle Sinneswahrnehmungen
werden mit menschlichen Empfindungen nach unbewusster Not-
wendigkeit verknüpft und ebenso unbewusst-notwendig nach Aussen
projiciert. Dadurch wird die ganze Welt umgewandelt in ein
540 G. Gerland,
System menschlicher Wesen, die anf menschliche Weise g^eg-en den
Menschen reagieren. Denn in dieser Zeit der absolnten Sinnlichkeit,
der völligen Abhängig-keit des Menschen, der Menschheit von den
Sinneseindrücken, miiss letztere der Mensch, um sie zu begreifen, in
menschlich-psychische Vorstellungen umsetzen; der Anthropo-
morphismus, kann mau sagen, ist für diese Stufe der „innere
Sinn" ; er hat sich als solcher bei den Naturvölkern, aber auch
bei den Kulturvölkern in zahlreichen Abstufungen und in einer
Schaar von Relikten erhalten, welche auch unser ganzes Leben
noch durchsetzen.
Es ist erstaunlich, wie dies ganze Leben von seinem „inneren
Sinn" beherrscht war. Die authropomorphistische Gesamtauffassuug
der Welt ist der Gottesbegriff; die authropomorphistische Auf-
fassung der Einzeldinge ergiebt den Fetischismus, den Animismus,
Die ganze Welt ist dem Menschen entgeg-engesetzt, feindlich,
selbständig-, aber menschhch, d. h. anthropomorphisch belebt, wie
der Himmel, mit dem sie unmittelbar zusammenhängt; unabhängig,
in vieler Beziehung stärker als der Mensch, daher von fremder
göttlicher Kraft durchdrungen, die man je nach der Stufe, d. h.
der räumlichen und der intensiven Macht des Eindrucks, für mehr
oder weniger übermächtig, also heilig halten muss, deren Heilig-
keit je nach ihrer Macht milde gestimmt, verehrt werden muss.
Daher entwickelt sich ein System von Heiligkeiten, vom Himmel
an durch Welt und Menschheit, das Tabusystem, welches die sämt-
lichen Vorstellungen gefangen nahm und auf denen am meisten
lastete, welche an dieser Heiligkeit am wenigsten Anteil hatten,
also auf den wenigst starken Menschen, auf Frauen, Kindern, be-
siegten Feinden, besitz- und eiuflusslosen Individuen,
Diese Vorstellungen beherrschten die ganze Welt gleich-
massig; die Religion, das Recht, das gesellige Leben, den Stamm
(oder Staat), die Familien hingen von ihnen ab. Trotzdem sind die In-
dividuen fast noch gleichwertig; jedes fertige Individuum steht dem
anderen gleichgültig gegenüber; nur durch die Fremdartigkeit und
Feindseligkeit der Natur entwickelt sich ein Geselligkeitsbedürfnis,
bei völliger nicht liebloser aber liebeleerer Gleichgültigkeit des
Individuums gegen das Individuum, wie sie sich in der Sklaverei
zeigt; die völlig naive Sinnlichkeit der eigenen Person dominiert
überall, auch in der Aesthetik, der Kunst, die z. T. hoch, in
Griechenland und Egypten gerade zu mustergültig entwickelt ist.
Ueberhaupt sind die verschiedenen Völker, deren erste Lostrennung
Immanuel Kant, seine geograph. und antliropolog. Arbeiten. 541
in sehr frühe Aiifang-szeiten fällt, gerade durch die Entwickelung-
ihrer F'ähig-keit, sinnlich wahr- und aufzunehmen, sehr ver-
schieden.
Ich kann hier nur kurz andeuten, was ich an anderem Ort
weiter auszuführen g-edenke. Diese völlig* sinnliche und völlig-
naive Stufe hat für die Gesamtmenschheit und ihre Entwickelung
grundlegenden Einfluss. Was ihr in der Entwickelungsgeschichte
und auch im heutigen Leben der Völker direkt angehört, ihre
Leistungen also für die Gesamtmenschheit, mögen sie nützlich oder
schädlich sein, besteht in Folgendem: zunächst gehört ihr an die
erste Welt- und Himmelskenntnis; der Gottesbegriff, die Ordnung
der Welt und des gesamten Lebens von ihm aus, also das gesamte
Tabusj^stem, der gesamte Mythen- und Märchenschatz der Völker;
ferner die Grundlagen des Staats- und Familienlebens; die
Sklaverei; die Anfänge des Rechtes; die Anfänge der Weltnutzung;
eine Reihe sozialer Sitten, wie Beschneidung, Taufe u. s. w. i\Ian
sieht, wie viel Bleibendes bis auf unsere Tage sich hier zeigt.
Am wichtigsten ist der alles beherrschende Gottesbegriff und sein
Tabu, der massenhafte Aberglaube ebendaher, die Weltauffassung
nach den natürlichen Sinneswahrnehmungen, um nur das zu er-
wähnen, was uns für die Betrachtung der Stellung Kant's und
seiner Philosophie das Wichtigste ist.
Die zweite Stufe entwickelt sich mit psychologischer Not-
wendigkeit aus der ersten, sehr allmählich und bei verschiedenen
Völkern verschieden, je nach ihrem Oharakter. Denn die durch
die Sinneswahrnehmungen entstandenen Vorstellungen und Begriffe
werden immer zahlreicher und verfallen dadurch einer Vergleichung,
sodann einer Wertung nach den Gefühlen,^) welche sie hervorrufen,
nach den Verhältnissen, in denen sie zu einander treten. So ent-
wickeln sich die zunächst bloss sinnlichen Wahrnehmungen in
ästhetische Gefühle; das Bedürfnis nach Geselligkeit in Mitgefühl,
in teilnehmende Mitempfindung in Liebe; das Gefühl des Schreckens,
der Furcht, der Ohnmacht und Abhängigkeit zu Ehrfurcht, Ge-
horsam, freiwillige Unterordnung; es entwickelt sich die ganze
Reihe der sittlichen Gefühle, zu denen wir auch das Wahrheits-
gefühl stellen dürfen.
Diese Entwickelung tritt bei verschiedenen Völkern ein, bei
Indern sowohl (Buddhismus) wie bei den Semiten; sie ist nicht
1} Vergl. Waitz, Lehrbuch der Psychologie 272 f.
542 G. Gerland,
mehr iicaiv, sondern sentimentalisch, indem durch dies Gefühlsleben
zugleich ein Ideal, aber ein stets unerreichbares gegeben ist.
Aber indem diese zweite Stufe sich aus der ersten heraus-
entwickelt, bringt sie durch und bei ihrer Entwickelung auch zugleich
eine Kritik der früheren Zustände. Natürlich sind es die auf
jener ersten Stufe wichtigsten Begriffe, welche kritisch behandelt,
d. h. durch die neuen Auffassungen geläutert werden. So zunächst
der Gottesbegriff, der ja der alles beherrschende, ja unterjochende
Begriff der Stufe der Naturabhängigkeit, der blossen Sinnlichkeit
W'ar; mit ihm zugleich die schweren Satzungen der zahllosen, über
Alles und überall herrschenden Tabubegriffe und ebenso zugleich
das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Der furchtbare allmächtige
Gott Himmels und der Erden wurde, ohne von seiner Erhabenheit
zu verlieren, zum liebenden Vater des Weltalls, der Menschheit,
des Einzelnen; ihm, dem Urbild der himmlischen Reinheit, konnte
nur die Reinheit, der Reine gefallen und wie er die Welt liebte und
segnete, wie er jedem einzelnen ein liebender Vater war, so konnte
auch ihm nur der gefallen, der seinen Nächsten liebte wie sich
selbst. Der reinste, vollkommenste Verkündiger dieser neuen Phase
ist Christus; er hob die Menschheit auf eine so neue Stufe, dass
er wohl für den Sohn Gottes, den er ja als liebenden Vater kennen
gelehrt hatte, gelten konnte. Und doch kam er nicht um auf-
zulösen, sondern um zu vollenden. Was ist es, so müssen wir
hier von unserem geschichtlich-wissenschaftlichen Standpunkt fragen,
was ist es, was er der Menschheit anknüpfend an jene erste Stufe,
brachte? Zuerst also die Läuterung, Verklärung und doch jetzt
erst die von rein menschlichen Auffassungen ausgehende Begreif-
lichkeit des Gottesbegriffs bei aller seiner Vertiefung als Vater
im Himmel, als unser Vater im Himmel; sodann der Kampf
gegen die zahllosen Tabus, der eine der wichtigsten und unab-
lässigsten Tätigkeiten Christi war; das Betonen der Notwendigkeit
menschlicher Reinheit in Folge der Reinheit Gottes — selig sind,
die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. Und
ferner die Begründung des Mitgefühls, der Nächstenliebe; die
Ausdehnung der Liebe zu dem Nächsten, aber auch dieser Pfhcht
der Nächstenliebe, auf alle Menschen, auf alle Völker; und dadurch
die prinzipielle Aufhebung der Sklaverei; die Erhebung der alten
Tabusatzuugen der weltlichen Herrschaft in freien von Gott ge-
wollten Gehorsam — gebet deoi Kaiser, was des Kaisers ist, ein
soziologisch äusserst wichtiger Satz. Und dass es auch diesem
Immanuel Kant, seine geograpli. und anthropolog. Arbeiten. 543
SO unendlich tiefem Gemütsleben nicht an ästhetischen Gefühlen
fehlte, (las bezeug-t das Wort von den Lilien auf dem Felde, die
schöner sind als alle Pracht Salomos; aber dieses ästhetische
Wohlgefallen an der Natur ist vereint mit warmer Liebe und Teil-
nahme für die Natur: „sehet die Vög-el unter dem Himmel!"
So tief wie in Christus hat sich diese zweite Phase der Ent-
wickelung: der Menschheit nirgends sonst g-ezeigt. Analogien und
Aehnlichkeiten gibt es wohl auch sonst, die aber unendlich tief
unter dieser höchsten Entwickelung zurückblieben. Und so hat
sich diese zweite Phase über die ganze Welt hin ausgebreitet, sie
ist noch im Ausbreiten begriffen und die Welt verdankt dieser
neuen Stufe der Entwickelung, der Stufe des Gemüts, viele der
höchsten unvergänglichen Güter, Man kann sagen, ihr „innerer
Sinn" ist die Liebe.
Aber die erste Phase, die der Sinnlichkeit, blieb auch in
Geltung, ja sie drängte sich wieder von neuem, als neue Völker
herandrängten, auch auf dieser höheren Stufe hervor, dieselbe viel-
fach trübend, störend. Beide Phasen sind ja unvergänglich, so
lange die sinulichen Wahrnehmungen bleiben, so lange das Ge-
fühlsleben der Menschheit nicht endet.
Aber um nebeneinander zu bestehen, ohne dass das Höhere
dem Tieferen erliegt, dazu ist noch eine weitere Entwickelung
nötig; eine Entwickelung, welche zu sichten vermag und der Sinn-
lichkeit und dem Gemüt gleichberechtigt und ordnend gegenüber-
steht. Es ist dies die dritte Phase des Lebens der Menschheit,
in welcher der Intellekt, der Verstand des Menschen zu der
Stellung und Wirkung kommt, welche ihm im Leben der Mensch-
heit gebührt — auch nicht eine auflösend-zerstörende, sondern
eine vollendende, durch richtige Wertschätzung schützende, ord-
nende Wirkung.
Was beide Phasen, die wir bisher betrachteten, durch ihre
Naturbeschaffenheit besitzen — und besitzen müssen, wenn sie
andei'S wirklich notwendige Entwickelungsformen des menschlichen
Geschlechtes darstellen — die menschlich-generelle Bedeutung, so
dass sie zum Gattungsbegriff der Menschheit gehören, die Mensch-
heit ohne sie nicht zu denken ist, und die Entwickelung der Summe
aller Individuen, der Menschheit ihrer eigensten Natur nach sie
durchmachen muss: das zeigt sich auch bei der dritten, der in-
tellektuellen Phase. Die Zeit freilich, die für die grossen Teile
der Menschheit zur Durchlaufuug dieser Stufen gebraucht wird,
544 G. Gerland,
ist verschieden. Viele Völker sind bis jetzt auf der ersten Stufe
geblieben; die zweite ist bei vielen nur mangelhaft erreicht, die
di'itte nur bei den höchstentwickelten Kulturvölkern. Auch der
Kntwickelungsgang- ist verschieden. Zu der höchsten Stufe sind
nur die Völker g-elang-t, deren psychophysischer Apparat durch die
günstigsten tellurischen Einflüsse besonders hoch entwickelt ist,
die europäischen Kulturvölker; auch die Phase des Gemüts ist
nicht überall in gleicher Reinheit entwickelt und ganz allgemein
ist nur die erste Phase, die Phase der Sinnlichkeit. Dies gilt für
die Menschheit, die Völker, die Individuen. Aber von den höheren
Entwickelungsstufen verbreitet sich das Gewonnene auch über die
niedrigen Stufen. Die höchst stehenden Völker haben die Vorteile,
die ihnen zu Teil wurden, nicht bloss für sich errungen, von ihnen
gehen sie mit Naturnotwendigkeit nach dem Gesetz des Projektions-
zwanges, durch Lehre und Beispiel auch auf die anderen, zurück-
gebliebenen Stufen über. Von hier aus fällt auf das Aussterben
der Naturvölker ein milderes Licht. Sie können, nach dem grossen,
im Wesen der Menschheit liegenden Entwickeluugsgang der
Menschheit, nicht Naturvölker bleiben. Die zweite Phase, die
Gemütsentwickelung, die Betrachtung der Welt nach den Gemüts-
bedürfnissen, konnte erst eintreten, nachdem die Ueberherrschaft
der Sinnlichkeit bew^ältigt war durch ein ausgedehntes System
fester Anschauungen und fertiger Begriffe, w^elche sich durch die
ganze Menschheit entwickelten. Erst diese Anschauungen und
Begriffe konnten sich zu bleibenden Gefühlen entwickeln und als
solche ihre Wertung empfangen.
Aber der Mensch und ebenso die Menschheit empfindet und
fühlt nicht bloss, er denkt, er urteilt auch; jede Wertung enthält
ja schon ein Urteil. Das Vermögen der Begriffe, der Urteile ist
der Verstand;^) und dadurch wird er auch das Vermögen der
Regeln, das Vermögen der Gesetze, denn Gesetze sind objektive
Regeln ; „er ist selbst die Gesetzgebung für die Natur-', „der
Quell der Gesetze der Natur und mithin der formalen Einheit
der Natur", denn „alle empirische Gesetze sind nur Bestimmungen
der reinen Gesetze des Verstandes, unter welchen und nach
deren Norm jene allererst möglich sind, und die Erscheinungen
eine gesetzliche Form annehmen, sowie auch alle Erscheinungen
unerachtet der Verschiedenheit ihrer empirischen Form dennoch
1) Krit. d. r. Vernunft, 1781. S 126. Ak. A., Bd. 4.
Immanuel Ttant, seine geograpli. und anthropolog. Arbeiten. 545
jederzeit den Bedingungen der reinen Form der Sinnlichkeit ge-
mäss sein müssen".^) „Kant meint," sagt Windelband ^) zu diesen
Worten, „dass wir von einer allgeaieineu und notwendigen Erkennt-
nis der Natur nur unter der Bedingung sprechen dürfen, wenn das,
was wir Natur nennen, nicht eine Welt von Dingen an sich,
sondern vielmehr der nach den allgemeinen Gesetzen unseres Geistes
gedachte Zusammenhang von Erscheinungen ist." „So schliesst
Kaufs Naturphilosophie," fährt Windelband an einer späteren
Stelle fort,^) „mit der Rückkehr zu der phäuomeuahstischeu Grund-
lage, auf der sie beruht." „Das Weltbild"^) in unserem Kopfe mit
seinem gesamten Inhalt und seinen gesamten Formen ist ein
Produkt unserer Organisation, ein Produkt, das aus ihr mit innerer
Notwendigkeit und Allgemeingiltigkeit hervorgebt, und von dem
daher gar kein Schluss auf eine dieser Organisation etwa gegen-
überstehende Welt möglich ist.''
So denken wir jetzt alle, und alle werden immer mehr so
denken lernen ; es ist der Gedankenkreis, das Bewusstsein, zu
welchem die Wissenschaft sich auf manchen Stufen emporgearbeitet
hat, bis Kant es in voller Klarheit und vollumfassend ausge-
sprochen, bewiesen, der Wissenschaft, der Kulturmenschheit es als
xTrif.ia elg del gegeben hat. Denn jetzt erst ist der Kreis des
Menschlich-Generellen, wie es ebensowohl jedes Individuum, nach
seinen individuellen Schranken, in der Auffassung der Aussen-
welt, in seinem Gegenübertreten gegen diese Aussenwelt in
Anwendung bringt, völlig abgeschlossen. Das blosse Sinnen-
leben konnte, schon wegen der menschlich - generellen Eigen-
art, nicht der einzige Grundzug des Lebens bleiben, auch das
hinzutretende Gemüt, welches die Sinnlichkeit reinigte und durch-
geistigte, erschöpfte noch nicht die menschlich-generelle Geistes-
kraft; jetzt erst, wo Sinnlichkeit und Gemüt durch den Intellekt
die Vernunft durchleuchtet, in ihrem Wesen begriffen und dadurch
in ihre richtige Stellung gebracht sind, jetzt erst ist der ganze
Kreis des Menschen wesens abgeschlossen, jetzt erst die Möglich-
keit gegeben, dass die Menschheit den ganzen Kreis der tellu-
rischen Einwirkungen in psychische Kraft umsetzt, und zwar in
voll-menschUche, nicht einseitig auf Sinne, Gemüt oder Verstand
1) Eb. S. 128.
2) Geschichte der neueren Philosophie 2, S. 71.
3) Ebend. S. 87.
*) Windelb; ebend.
Kaotstudien X. 30
546 G. Gerland,
gerichtete Erkenntnis- und Geisteskraft. Denn alle drei Grund-
kräfte des Menschenwesens bleiben jetzt im gleichen geistigen
Leben vereint, entwickeln sich mit einander, eine harmonisch an
der anderen ; wahre Harmonie des Geistes, des Lebens der Mensch-
heit kann sich erst jetzt entwickeln — freilich erst in unendlich
langer Zeit. Das letzte Ziel kennen wir nicht und keine Phan-
tasie kann aushelfen.
Diese dritte Phase bringt, ebensowenig wie die zweite, der
Menschheit sachlich neues; während die zweite Werte gab, die,
nicht bloss sinnlich, das ethische Leben der Menschheit be-
gründeten, während sie dadurch besonders beglückend war,
gibt die dritte, entsprechend der ßeifestufe des erwachsenen
Lebens, die menschlich generelle, die für den Menschen also
objektive Wahrheit und durch sie die richtige Form und
Wertung des Sinnen- und Gemütslebens. Nach ihr strebte Kant;
nicht nach einzelnen Wahrheiten, d. h. Erkenntnissen einzelner
Dinge, sondern nach der Weltenwahrheit, der generell-menschlichen
Wahrheit. Wieder sehen wir hier Kant's Gang klar beleuchtet:
Wissen von Erde und Menschheit mussten ihm „propädeutische"
Stufen sein. Vor allen Dingen musste der Gottesbegriff von
neuem behandelt werden. Ihn hatte die erste Phase geschaffen,
die sinnliche Auffassung der Welt; die zweite Phase hatte ihn,
entsprechend der unendlichen Geistestiefe ihres Stifters, vertieft,
ihn ethisch unendlich geläutert, bis er dann wieder durch spätere
Einwirkungen der ersten Stufe getrübt war. Ihm wandte sich
daher Kant vor allen Dingen zu, an ihm hat er alles, was der
ersten Stufe angehört, vernichtet, die christliche Vertiefung aber
beibehalten und wieder hergestellt durch Beseitigung alles nur
sinnlichen.
Die beiden ersten Phasen der Welt- und namentlich der
Gottesauffassung bedurften eins, um jede auch ihrerseits zu ihrer
wahren, reinsten Bedeutung zu gelangen : sie bedurften der Dar-
legung der Schranken der Menschheit, des menschlichen Erkennens.
Kant's Lehre von dem „inneren Sinne", von der intelligibeln Welt,
vom Ding an sich hat sie dargelegt und dadurch eine menschlich-
allumfassende, eine objektive d. h. generell-menschliche Gesammt-
auffassung von Welt und Leben ermöglicht. An ihrer Ausbildung
werden noch die kommenden Jahrhunderte, die Jahrtausende
arbeiten. Es handelt sich um die Erkenntnis von Erde, Welt
und Menschheit, von ihrer Wechselwirkung durch Beeinflussung
Immaüuel "Kant, seine geögfapli. und antkropolog. Arbeiten. 547
und Umsetzung dieser Beeinflussung in Erkenntnis und geistige
Kraft. So entwickelt sich die Menschheit immer weiter, aber
auch Erde und Himmel bleiben nicht unverändert und so ist
schon deshalb ein Ende dieser Betrachtungen nicht abzusehen, ihr
Fortgang nicht zu ahnen.
Uns aber hat die Betrachtung der geographischen und anthro-
pologischen Studien Kants zu diesen höchsten Höhen menschlicher
Forschung geführt; jetzt erst übersehen wir vollständig, welche
Bedeutung diese Studien für Kant hatten. Wir sahen, als wir
uns das Bild der geschichtlichen Entwickelung der Erdkunde ent-
warfen, schon deutlich, wenn auch in beschränktem Masse, das
Licht jener gesamt-menschlichen Entwickelung durchschimmern.
Das beweist die natürlich gegebene und so natürliche Kraft und
Bedeutung der Erdwissenschaft, des Einlebens der Menschheit in
die Erdnatur, die sie allseitig umgiebt. Diese Uebereinstimmung
beweist uns auch, w'arum Kant einen solchen Wert auf das
Studium der Erd- und Menscheugeschichte legen musste und gelegt
hat. Jetzt aber erkennen war auch seine Bedeutung für diese
Wissenschaften. Gewiss, wir haben unsere Schiffe um die Erde
gesandt, wir haben unsere Kabel in die Tiefen gelegt, unsere
Fernrohre und Mikroskope zum Weit- und Nahsehen unendlich ver-
bessert und so wissen wir sehr viel mehr von Himmel und Erde,
als mau zu Ende des 18. Jahrhunderts wusste. Aber wenn wir
wissen wollen, was wir wissen, wenn wir unser Wissen ordnen
wollen, begreifen wollen, was wir sehen und begreifen: dann
können wir dies nur, indem wir auf dem Boden fest stehen, den
von geographischen Studien ausgehend ein Mann für alle Zeiten
festgelegt hat; und dieser Mann ist Immanuel Kant.
3G-^
Karl Rosenkranz' Verdienste um die Kant-Forschung.
Dr. Maximilian Runze.
Karl Rosenkranz, g-eboren den 23. April 1805 zu Magdeburg,
gestorben als Professor der Philosophie, auf dem Lehrstuhl Kants,
in Königsberg den 14. Juni 1879, hat um die rechte Würdigung
Kants wie um die Kant-Forschung erhebliche Verdienste. Dieselben
bestehen in der von ihm angeregten und veranstalteten ersten
Gesamtausgabe der Kantischen Schriften, in der Anregung, die er
zur Setzung eines Kant-Denkmals in Königsberg gab, in mehreren
Schriften und Aufsätzen, die der Verbreitung oder der Erläuterung
Kants gewidmet sind.
• Es war im Jahre 1833, als Rosenkranz, der seit einiger Zeit
in Halle als ausserordentlicher Professor der Philosophie wirkte,
einen ehrenvollen Ruf als Ordinarius an Herbarts Stelle nach
Königsberg erhielt. Rosenkranz hat die Ehre, die ihm hiermit
zuteil ward, zeitlebens hoch eingeschätzt. Mit Pietät blickte er
zu beiden Geistesgrössen empor. In Betreff Herbarts hat mau
Rosenkranz' Gesinnung hin und wieder anders beurteilt; indes
zeugen zahlreiche Stellen aus seinen Schriften von seiner weit-
gehenden Anerkennung Herbarts, weswegen er denn auch von
anderen Hegelianern mannigfache Vorwürfe zu hören bekam. In
seinen anregend geschriebeneu Skizzen zu einer Selbstbiographie
„Aus einem Tagebuch" (Brockhaus 1854) schreibt er, dass ihm,
seitdem er nach Königsberg gekommen, „beständig zwei Namen in
die Ohren klingen: Kant und Herbart, Namen, die meine grösste
Verehrung fordern. Nie gehe ich vor Kants Hause in der Prin-
zessinnenstrasse, nie vor Herbarts Hause in der Königsstrasse vor-
über, ohne mir im Innersten zu geloben, so grosser Vorgänger auf
dem hiesigen Lehrstuhl nicht ganz unwürdig zu sein. Das An-
denken an diese edlen Männer übt auf mich eine pädagogische
Kraft aus. Ich fühle, welche Massstäbe die Königsherger an ihnen
besitzen," — und fährt fort: „Keine andere Universität kann
Karl Rosenkranz' Verdienste um die Kant-Forschung. 549
einen heutigen Philosophen so sehr demütigen, als Königsberg, wo
die Wiege und der Sarg desjenigen Philosophen stehen , ohne
welchen Fichte und Schelling, Hegel und Herbart nie existiert
haben würden."
Rosenkranz fand in Königsberg eine Gesellschaft von Männern,
zum Teil noch unmittelbaren Schülern und Freunden Kants, zum
Teil von Verehrern desselben, vor, welche Kants Geburtstag fest-
lich zu begehen pflegten. Rosenkranz, der Mitglied geworden, er-
hielt 1836 den Auftrag, die bei der Feier übliche Rede zu halten.
Ihm schien nichts hierzu geeigneter, denn „eine Gesamtausgabe
der Kantischen Werke als einen literarischen Geburtstag des
Weisen in Anregung zu bringen". Bald darauf veröffentlichte
diesen Vortrag Th. Mundt in dem zweiten Band der „Dioskuren"'.
Hierdurch wurde der Buchhändler Leop. Voss in Leipzig angeregt,
sich an Rosenkranz zu wenden, um jenen Gedanken zu verwirk-
lichen. Dieser ging darauf ein und forderte seinen Kollegen
Fr. W. Schubert, der kurz zuvor in einem andern Kreise über den
der Königsberger Bibliothek einverleibten Nachlass Kantischer
Schriften geredet hatte, auf, sich mit ihm zur Herausgabe zu ver-
binden. Beide schlössen dann mit Voss einen Vertrag ab, in Folge
dessen sie binnen vier Jahren, 1838 — 1842, ihre Aufgabe lösten.
Dieselbe war nicht leicht. In der Einleitung zum ersten Bande
entwickelte Rosenkranz die Grundsätze, die beide für notwendig
erachteten und mit Strenge innegehalten haben. Die Anordnung
der Schriften ward nach systematischen Grundsätzen getroffen.
Von den in dem oben erwähnten Vortrag, der aus den Dioskuren
1839 in Rosenkranz' „Studien" I, Nr. VIII, unter dem Titel „Die
Gesamtausgabe der Kantischen Schriften" wieder abgedruckt wurde,
ausgesprochenen Programm weicht Rosenkranz nachmals insoweit
ab, als er nach reiflicher Erwägung mehrere Vorlesungen Kants
aus der Sammlung ausschloss. Er plante nämlich ursprünglich die
Anordnung 1. die spekulativen Schriften und zwar a) solche,
welche sich auf die Theorie des Erkeunens beziehen, als worin
die tiefste Eigentümlichkeit des Kantischen Systems wurzele, b) die
metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft und die An-
thropologie, c) die Schriften zur praktischen Philosophie. Der
Streit der Fakultäten könne den Übergang zu den vermischten
Schriften bilden, die nach demselben Schema zu ordnen seien;
zu welchen auch die Schrift über die Naturgeschichte des Himmels
zu rechnen sei. Ein Anhang sei vorzusehen für Reliquien von
55Ö M. Kunze
Briefen Kants. Eine dritte Hauptabteilung- würden die Vor-
lesungen ausmachen, welche merkwürdiger seien, als man im
Voraus urteilen möchte. „Nicht nur, dass sie uns von Kants
Lehrgeschicklichkeit ein treffliches Bild aufstellen; nicht nur, dass
sie eine Menge origineller Wendungen, frisch geprägter Ausdrücke
enthalten: sie sind auch dadurch des Andenkens wert, dass sie
den Übergang des Jahrhunderts von der Wolfischen Philosophie
zur Kantischen an sich selbst darstellen." Doch nahm Rosenkranz
in Wirklichkeit nur die von Riuk und Jäsche schon edierten
Schriften auf. Dagegen wurden ausgeschlossen die von Vollmer
veranstaltete ausführliche Darstellung der Vorlesungen über die
physische Geographie, die von Pölitz herausgegebenen über die
philosophische Religionslehre und über die Metaphj^sik sowie die
von Starke 1831 nach handschriftlichen Vorlesungen herausge-
gebene Menschenkunde und philosophische Anthropologie. Rosen-
kranz begründet die Weglassung derselben. Für die Reihenfolge
der Schriften und die Verteilung derselben an die einzelnen zehn
Bände gingen die Herausgeber später von dem Gesichtspunkt aus,
dass Kant selbst während seines Lebens von abstrakt theoretischen
Untersuchungen immer mehr zu praktischen übergegangen ist.
Unter Wahrung dieses Grundsatzes Hess sich nun sowohl die
chronologische wie die systematische Anordnung berücksichtigen.
Rosenkranz gab nun auf seinen Teil heraus Bd. I, die kleinen
logisch-metaphysischen Schriften umfassend; Bd. II, die Kritik der
reinen Vernunft; Bd. III, die Prolegomena und Logik; Bd. IV,
Kritik der Urteilskraft und Beobachtungen über das Gefühl des
Schönen und Erhabenen; Bd. VIII, Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten und Kritik der praktischen Vernunft; Bd. X, Religion
innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft und Streit der Fakul-
täten. Jedem Bande geht eine Vorrede vorauf, in welcher der
Herausgeber Rechenschaft ablegt über die Textrevision und die
kritisch-historische Forschung über die edierten Schriften. Mit
Schubert zusammen gab er Bd. V, „Schriften zur Philosophie der
Natur" heraus; das Vorwort ist hier von beiden unterzeichnet.
Schubert allein hat die übrigen Bände VI (zur physischen Geo-
graphie), VII (zur Anthropologie), IX (Metaphysik der Sitten,
Pädagogik) besorgt. Die Herausgeber hielten es für gut, zwei
Bände hinzuzufügen, Bd. XI: die Biographie Kants, ein Meister-
werk Schuberts, und Bd. XII: eine Geschichte der Kantischen
Philosophie, welche Rosenkranz verfasste. Letzterer pflegte diese
Karl Eosenkranz' Verdienste um die Kant-Forschung. 551
epochemachende Gesamtausgabe in seiner bescheidenen Weise als
„unsere König-sberger Ausgabe" zu bezeichnen. So waren die
Kantischen Schriften vor der Zersplitterung, einzelne vielleicht
auch vor dem Untergange gerettet, Kant selbst aber den Zeitge-
nossen erst völlig zugänglich gemacht und ihnen wieder näher ge-
rückt. Mit stolzer Genugtuung konnte Eosenkranz auf die Worte
zurückblicken, die er einst geschrieben, als er die erste Anregung
zur Kant-Gesamtausgabe gab: „Gott ist nicht blos ein Gott der
Schlachten und Friedensschlüsse, der Eroberungen und Handels-
verbindungen, sondern auch der Kunst und Wissenschaft."
Die Rosenkranz -Ausgabe der Kantischen Schriften wurde
allenthalben in der Litteratur mit Jubel begrüsst; — mit die
ersten Stimmen dieser Art erschollen im „Freyhafen" und den
„Hallischen Jahrbüchern". Ihr Wert erprobte sich von Jahrzehnt
zu Jahrzehnt; noch 1881 bezeichnet sie Hans Vaihinger in seinem
grossen Meisterwerk „Commentar zu Kants Kritik der reinen Ver-
nunft" Bd. I, p. XVI als „die beste und verbreitetste".
Besonders wichtig galt für Rosenkranz die Frage, ob dem
Neudruck der „Kritik der reinen Vernunft" die erste oder zweite
Auflage zu Grunde zu legen sei. Rosenkranz wählte ohne Be-
denken die erste Ausgabe, der er schon stets den Vorzug gegeben
hatte. Grund war ihm einmal die Entwicklung bei Kant selbst;
denn er arbeitete die zweite Ausgabe aus der ersten heraus, und
der Leser müsse also am Bequemsten und Gründlichsten zur Ein-
sicht gelangen, wenn er denselben Weg einschlägt, den Kant selbst
vor ihm betreten. Er hat alsdann die Urgestalt der Sache und
ihre spätere Modifikation in der naturgemässeu chronologischen
Folge vor sich. Andererseits waren ihm Überlegungen formeller Art
massgebend, nicht das Sekundäre dem Primären voranzustellen.
Endlich erwog Rosenkranz, dass nicht jede Umarbeitung eine Ver-
besserung sei. Auch hier weiche die schöpferische Einheit des
ersten Gusses der rücksichtsvollen Bedenklichkeit, der mehr von
aussen eindringenden Feile,
Nur bestärkt in der Richtigkeit seiner Wahl wurde er von
Arthur Schopenhauer, der auf die vorläufige Anzeige hin , welche
Voss von der Gesamtausgabe machte, an Rosenkranz ein ausführ-
liches Schreiben richtete und ihn aufforderte, unter allen Um-
ständen die Ausgabe von 1781 zu wählen. Schophenhauer hat in
einer späteren Ausgabe seiner „Kritik der Kantischen Philosophie"
Rosenkranz' Anordnung rühmend anerkannt: . . . „wodurch er
552 M. Kunze,
sich um die Philosophie ein unschätzbares Verdienst erworben, ja
das wichtigste Werk der deutschen Litteratur vielleicht vom Unter-
gange gerettet hat; und dies soll man ihm nicht vergessen." Wenn
Schopenhauer indess bemerkt, in Folge seiner Vorstellungen habe
Rosenkranz die ursprüngliche Gestalt des Werkes wieder herge-
stellt, so ist zu erinnern, dass Rosenkranz ohnehin dazu entschlossen
war und dass er eben durch Schopenhauer in seinem Vorhaben
nur bestärkt wurde, Rosenkranz hat solches später noch einmal
besonders betont in seiner Abhandlung „Über die erste und zweite
Ausgabe von Kants Vernunftkritik" 1856 (Neue Studien II, S. 60
bis 72), wo er u. a. auch darauf hinweist, dass das Bedürfnis, die
erste Ausgabe zu besitzen, schon seit längerer Zeit sehr gross
geworden sei ; sie sei antiquarisch zu hohen Preisen bezahlt worden.
Von Schottischen Philosophen hätte er seines Verfahrens wegen
die belobendste Anerkennung bekommen, weil sie vergeblich die
erste Ausgabe lange gesucht hätten. Auch Schopenhauer berichtet
ja, dass Kants Werk in der ersten Ausgabe sehr selten gewesen
und es ihm erst viel später (d. i. nach dem Erscheinen seines
eigenen Hauptwerkes) gelungen sei, eines Exeniplares habhaft zu
werden.
Neben diesem Hauptverdieust Rosenkranz' um die Kant-
forschung in Gestalt der Gesamtausgabe — einem Denkmal aere
perennius — ist in zweiter Linie seiner Bemühungen um das Kant-
Denkmal in Königsberg zu gedenken.
Die Statue, welche Rauch von Kant am Friedrichsdenkmal
zu Berlin geschaffen hatte, brachte mehrere Kantfreunde auf den
Gedanken, eine Ausführung derselben in grösserer Form durch
Rauch für Königsberg zu gewinnen. Neben Eduard Simson, Stadtrat
Henschen u. a. war es besonders Rosenkranz, der die Sache in
Anregung brachte. Er bildete mit einigen Anderen, wie A. Hagen,
ein Komitee und hielt über das für Kant zu Königsberg projek-
tierte Denkmal „in der Kantischen Gesellschaft, an seinem Ge-
burtstage, den 22. April 1852" eine Ansprache, die bald darauf
bei Gräfe und Unzer „zum Besten des Monuments" erschien.
Rosenkranz führt aus: die Grösse eines Menschen zeige sich
in dem, was er anderen Menschen zu schaffen mache. Willig
oder unwillig müssen sie auf ihn zurückkommen. Je grösser ein
Mensch sei, um so mehr wachse mit dem Fortschritt der Geschichte
seine Lichtgestalt. Nicht einmal nur lasse sich mit ihm fertig
werden, nicht in Einer Epoche nur mit ihm abschliessen. Seine
Karl Rosenkranz' Verdienste um die Kant-Forschung. 553
Heldenkraft, unsterblicher Natur, werde vielmehr immer tiefer er-
kannt, immer reiner gewürdigt, je mehr im Lauf der rollenden
Jahre alles das verschwinde, was auch an ihm nur der Vergäng-
lichkeit angehörte, und je siegreicher das hervortritt, was an ihm
ewig und gottgegeben ist. „Ein solcher Mensch ist unser Kant.
Aus dem knorrigen Wurzelstamm seiner Philosophie haben sich
andere Schösslinge herausgezweigt. Sein Andenken nicht nur, sein
Denken lebt in tausend Formen direkt und indirekt unter uns,
unter den Deutschen, unter allen gebildeten Völkern fort und dehnt
sich in immer grössere Kreise aus." Die neueren Philosophien
müssten auf ihn, der den Grundstein gelegt hat, immer wieder
zurückgehen und selbst von ihm als ihrem eigentlichen Urheber
immerwährendes Zeugnis ablegen. „Und wie er in der Wissen-
schaft als ein Heros derselben mit immer strahlenderem Glänze
hervortritt, so lebt er auch fort als Musterbild eines wahrhaften
Weisen, als einer der wenigen echten Menschen, in denen Lehre
und Leben sich harmonisch vereinigen, deren Geist auch in ihrem
Charakter sich wiederspiegelt, deren blosser Name hinreicht, uns
im Glauben an die Wirklichkeit und Wahrheit der Idee zu stärken
und uns mit jenem Enthusiasmus zu beseelen, der uns die An-
strengung leicht macht, treue Jünger des Ideals zu sein." Rosen-
kranz erörterte besonders die Frage, wo das Denkmal der Stadt-
anlage eingegliedert werden . solle. Sein weitschauender Blick
rechnete mit der Zukunftstatsache, dass Königsberg bald in das
grosse Eisenbahnnetz werde aufgenommen werden. Damit werde
Königsberg aufhören, für viele Deutsche eine mythische Stadt zu
sein. Und wo werde die Osteisenbahn münden? „Auf dem Philo-
sophendamm!" Dieser Name werde den Fremden sogleich an
Kant erinnern. Neben anderen Gründen, welche diesen Ort als
für das Kantdenkmal prädestiniert erscheinen lassen, führt Rosen-
kranz dann noch eine Begebenheit aus Kants Leben an, die, weil
sie bis dahin lediglich auf mündlicher Überlieferung beruht haben
und auch heute wohl als kaum bekannt gelten dürfte, hier mit-
geteilt sei. Rosenkranz erzählt: „Sonst stand hier, wo der Eingang
zur Festung abbiegt, eine Schild wache. Ein Soldat, des Lebens
überdrüssig, zu feige aber, sich selbst zu töten, hatte beschlossen,
wenn er auf diesem einsamen Posten stünde, den ersten Spazier-
gänger niederzuschiessen, um dadurch sich selbst zum Tode zu
verdammen. Er steht mit geladenem Gewehr; da kommt der alte
Kant. Schon zuckt ihm das Gewehr im Arm. Er kennt den
554 ' M. Kunze,
Philosophen nicht, aber das Friedliche seiner ehrwürdigen Gestalt,
der ruhig milde Blick des blauen Auges, lassen ihn seinem Vorsatz
untreu werden und er spart seine Kugel für den nächst Kommenden.
Es ist ein Knabe — und dieser fällt dem Wahnsinn des indirekten
Selbstmörders zum Opfer."
Die weitere Ausdehnung der Eisenbahn vernichtete das
Projekt. Auch aus dem Plan, das Denkmal, welches von
Rosenkranz ursprünglich unter einem leichten, von vier ko-
nischen Säuleu getragenen Dache postiert gedacht war, auf den
altstädtischen Ivirchenplatz zu bringen, wurde nichts, da die
Herstellung des Granitsockels sich lange hinzog, und der Platz
zu anderer Anlage benutzt wurde. So wurde denn das Standbild
an die Seite des Gartens, der zur Kantischen Wohnung gehörte,
gestellt. Dass es von dort nach dem Platz vor der Albertina
überführt ward, hat Rosenkranz nicht mehr erlebt.
In dritter Linie gedenken wir noch der Verdienste Rosen-
kranz' um die Darstellung, Erläuterung, Erweiterung der
Kantischen Philosophie. Er hat seine Versuche dieser Art uns
dargeboten in seiner Geschichte der Kantischeu Philosophie 1840,
den Modifikationen der Logik 1846 (besonders S. 214—228), „Hegel
als deutscher Nationalphilosoph" 18;'70, zahlreichen Einzelaufsätzen
über Kant, die in seinen „Studien", besonders aber in Band II
seiner „Neuen Studien" 1875 veröffentlicht sind, sowie in dem
durch rühmenswerte Klarheit ausgezeichneten Artikel „Kaut" in
den „Neuen Studien" Band HI 1877. Da Rosenkranz Hegelianer
war, so ist der mehrfach gegen ihn erhobene Vorwurf, dass er
die Darstellung der Kantischen Philosophie hegelisch färbe, vielleicht
nicht unberechtigt; er traf dann meist sein Werk von 1840. Doch
weisen wir darauf hin, dass schon die hier gebotene Beleuchtung
Kants auch ihre Vorzüge hat. Rosenkranz ist sichtlich bemüht,
eine historisch -genetische Darstellung Kants zu geben; er hebt
den Begriff der „Spuren" hervor, denen nachgegangen werden
müsse, um Kant historisch abzuleiten. Solches ist auch von Kant-
forschern wie H. Cohen anerkannt worden. Er bleibt nicht kleinlich
au Einzelheiten hängen, sondern hält stets den Blick auf die
Totalität des Kantischen Werkes gerichtet. Seine Schreibweise
ist, ohne je der Oberfläche zu verfallen, gemeinverständlich, sein
Styl, wie in allen seinen Schriften, meisterhaft. Vor Allem aber
erscheint Rosenkranz mit jenem Werk nicht als einer, der Ab-
schliessendes darzubieten sich unterfängt. Er wächst mit seinen
Karl Rosenkranz' Verdienste um die Kant-Forschung. 555
grösseren Zielen. In demselben Grade, wie er lebenslang- bestrebt
ist, Hegel zu überwinden, erscheint ihm Kant in seiner vollen Be-
deutung erst in seiner richtigen Konsequenz. Innige Liebe bindet
ihn zwar stets aufs neue an Hegel, so kühne Abänderungen er
auch z. B. mit seiner Logik, seiner Naturphilosophie, seiner Ästhetik,
so entschiedene Weiterungen er auch mit dessen Gotteslehre vor-
nimmt, so dass die Hegeische Schule ihn desavouierte und er
schmerzvoll auszurufen sich genötigt sah: „Ich bin somit feierlichst
enthegelt!" So zeigt sich denn auch in Rosenkranz' Arbeiten
über Kant von Fall zu Fall, dass er Kant immer objektiver dar-
zustellen vermochte. Wir bedauern dabei nur eines, dass er den
sachgemässen „Spuren" der historischeu Ableitung nicht noch tiefer
nachgeforscht hat, zumal in Bezug auf die wichtigste Vorläufer-
schaft Kants. Wir meinen David Hume. Auf dem Wege zur
richtigen Einschätzung dieses eigentlichen Begründers der modernen
Philosophie war er schon vordem; die hoch bedeutungsvolle er-
kenutnistheoretische Tragweite Humes betont er weitgehenden
Masses in jenem Aufsatz „Neue Studien" III, S. 200 u. a. mit den
Worten: „Hume bestritt nicht, dass wir a priori einsehen, wie die
Ursache ihrer Wirkung vorangehen müsse; die Veränderung, welche
die Ursache hervorbringt, fällt in die Zeit. Er bezweifelte aber,
ob die Beziehung, die wir von einer Erscheinung als Ursache
auf eine andere als Wirkung machten, immer die richtige sei,
U.S.W." Hätte er sich auf die Humeschen „Spuren" noch tiefer
eingelassen, so hätte er kraft Humes, aber auch nur durch ihn,
Hegel sicher völlig überwunden! Nun aber bleibt er bis zuletzt
von Bewunderung erfüllt vor der immanenten Dialektik der je drei
und drei unter die bekannten vier Titel gebrachten Kantischen
Kategorien. Und diese Kategorien der reinen Vernunft sind ihm
fast — wenn er das Wort auch nicht gebraucht — gleich göttlichen
Hypostasen. „Identität und Unterschied, Qualität und Quantität,
Ursach und W^irkung, Zweck und Mittel, Allgemeines und Be-
sonderes, können als reine Begriffe im Himmel nicht anders, als
auf Erden und, könnte man die Bildrede fortsetzen, auch nicht in
der Hölle sein." Wohl die wertvollste Schrift, die Rosenkranz mit
seinem erstaunhchen Wissen, mit seinem allseitigen und immer
frischen Lebensimpuls, seinem jedwedem Gegenstande nahegebrachten
Interesse, verfasst hat, ist die von 1870. Der Titel „Hegel als
deutscher Nationalphilosoph" passt eigentlich gar nicht dafür.
Das Werk bildet einen Reflex der Geschichte des Geistes bis ins
556 M. Kunze,
dritte Drittel des vorigen Jahrhunderts. Die strenge Philosophie
im innigsten Zusammenhange mit der Kultur- und Litteratur-
geschichte (für die Rosenkranz bekanntlich bahnbrechend wirkte)
sowie der gesamten Kunstgeschichte und Politik, wird hier mit
einer historischen Kenntnis, einem auch die schwierigsten Fragen
bemeisternden Verständnis, behandelt, dass dies alles Bewunderung
erheischt. Hier analysiert er auch Kants 8tyl, erklärt Kant auch
von hier aus als Klassiker und nennt ihn einen stylistischen Künstler.
Gerade in späteren Zeiten hatte sich Rosenkranz der kritischen
Betrachtung der Kantischen Philosophie noch einigemale gründlicher
zugewandt, so in seiner lesenswerten „Einleitung zu Hegels En-
cyklopädie-' (v. Kirchmanns philos. Biblioth. Bd. XXX. 1870), wo er
eine instruktive Parallelstellung zwischen Kant und Hegel bietet
und damit sowohl der mannigfachen Übereinstimmung beider als
auch des Unterschiedes zwischen ihnen und endlich der behaupteten
Überholung Kants durch Hegel, der gegen erstereu nur polemisiere,
„um auf Grund der Kritik zu einer noch richtigeren Einsicht fort-
zuschreiten", Ausdruck giebt, — und in dem gedanken- und lehr-
reichen Werke: „Erläuterungen zu Hegels Encyklopädie" (ebenda
Bd. XXXIV. 1870).
Während er in der obigen „J^inleitung" noch gut geheissen
hatte, dass Hegel die in der Kantischeu Kritik liegende Skepsis
bekämpft habe, so erkennt er in diesem (späteren) Werke den
strengen Kriticismus Kants voll und ganz an, der sich sowohl
gegen den Wolffschen Dogmatismus der Metaphysik als gegen den
englisch-französischen Empirismus mit seiner Konsequenz im Mate-
rialismus und Skepticismus gerichtet habe, und fährt fort: „Seit
Kants Kriticismus ist aber auch der assertorische Standpunkt des
unmittelbaren Wissens unmöglich gew'orden. Die Kantische Philo-
sophie hat die Philosophie überhaupt zur wirklichen Wissenschaft
erhoben."
Nur eines bedauern wir auch hierbei, nämlich dass Rosenkranz
in Betreff des Skepticismus nicht tiefer gehende Forschung betrieb.
Wohl räumt er auch der Skepsis ihren Wert ein (z. B. in den
Modifik. d. Log. S. 151 ff.), und hat in seiner Schrift „Aus einem
Tagebuch 1854" solchen z. B. S. 129 kräftig bestätigt; aber der
Skepticismus hat für ihn lediglich negative Bedeutung und fällt
ihm schliesslich völlig auf den Empirismus zurück. Hätte er sich
tiefergehend mit Hume befasst, so wäre ihm wohl nicht verborgen
geblieben, dass zwischen empirischem und erkenutnistheoretischem
Karl Rosenkranz' Verdienste um die Kant-Forschung. 557
Skepticismus zu unterscheiden ist. Vielleicht hätten ihm Studien
nach dieser Seite hin Anlass gegeben, Hegel noch tiefgreifender
zu verbessern oder völliger zu überwinden. So aber ergiebt er
sich in wichtigeren Fragen auch der Kantforschung nur zu bereit-
willig wiederum an Hegel, — z. B. wenn er in den „Erläute-
rungen" Kants „Transscendentale Dialektik" und in ihr die „Dia-
lektik des Scheines" als methodologische Vorstufe zu Hegels dia-
lektischer Methode fasst. Durch Hume also hätte er Vertiefung
für seine eigene Kautforschung gewinnen können; verfolgte er
doch ohnehin noch in seinen letzten Lebensjahren die damals neu
erblühende Kantforschung mit grossem Interesse, wie ich aus
eigenen Gesprächen hierüber mit ihm aus dem Jahre 1876 zu be-
stätigen weiss. Aber er war damals — w^enn freilich sprühend in
geistiger Frische — hochbetagt und erblindet und hatte sein unter
zentralem Gesichtspunkt mannigfachen Aufgaben gewidmetes
Lebenswerk vollendet.
Zu diesem gehören auch bleibende Verdienste um Kant
und die Kantforschung; und die sollen ihm uiQuner geschmälert
werden.
Recensionen.
Siebert, Otto, Dr. Was jeder Gebildete aus der Geschichte
der Philosophie wissen muss. Ein kurzer Abriss der Ge-
schichte der Philosophie im Anschluss an Rudolf Hayms philoso-
phische Vorlesungen herausgegeben von 0. S. in Fermersleben. Langen-
salza, H. Beyer Söhne lb05/ XVI u. 318 S. 12".
Das neue Buch ist eine recht unerquickliche Thatsache. „Im An-
schluss an Rudolf Hayms philosophische Vorlesungen herausgegeben": was
soll das heissen ? Professor Haym hat in seinen Vorlesungen Diktate ge-
geben; sollen diese hier „herausgegeben" werden? Wer dies vermuten
möchte, wird alsbald eines besseren belehrt: denn schon auf dem 2. Blatt
des Buches, dem Widmungsblatt, nennt sich Siebert in fettem Druck den
„Verfasser": sein Mut ist gewachsen. Liest man dann das Vorwort, so
vernimmt man über das Verhältnis zu jenen Vorlesungsdiktaten nur ein
grosses Schweigen; bloss der letzte Satz erwähnt wenigstens den Namen
Hayms: „Schliesslich sei noch bemerkt, dass das Buch ein Ausdruck der
Dankbarkeit sein soll gegen den verewigten Rudolf Haym, dessen hoch-
interessante philosophischen Vorlesungen den Verfasser zur Abfassung
dieser Geschichte der Philosophie veranlasst haben." Aus dem Heraus-
geber ist also in allem Ernste ein „Verfasser" geworden: Hayms Vor-
lesungen haben ihn nur „veranlasst", auf diesem Gebiete zu arbeiten;
denn jene Vorlesungen waren hochinteressant. Dass Haym überhaupt
Diktate gegeben hat, erfährt der Leser gar nicht. Der Recensent
aber weiss es doch, und darum vergleicht er, zumal eine gewisse leise
Erinnerung in ihm aufgestiegen ist . . .
Ein paar Stichproben zeigen zunächst, dass die Anordnung des
Stoffes in enger Anlehnung an das Vorbild vorgenommen ist. So heisst
es z. B. nach den 5 einleitenden Paragraphen in Ha 3' ms Diktat: „Erster
Zeitraum. Von den Anfängen der griechischen Philosophie bis auf Anaxa-
goras. I. Abschnitt: Die älteste ionische Naturphilosophie. § 6. Ent-
stehung und Charakter derselben." Bei Siebert liest man: „I.Zeitraum:
Die griechische Philosophie bis Anaxagoras. 1. Abschnitt: Die älteste
ionische Naturphilosophie. § 6. Entstehung und Charakter derselben." —
§ 11 heisst bei Haym: „Die Entwicklungsstadien des Eleatizismus", bei
Siebert: „Die Entwickelungsstufen des Eleatizismus"". — §§ 35, 36, 37 be-
handeln hier wie dort den Stoizismus, den Epikureismus (oder Epikurjlis-
mus, wie Siebert schreibt) und den Skeptizismus. Aber während bei
Haym § :^9 überschrieben ist „Der Neupythagoreismus und die jüdisch-
alexandrinische Philosophie", beginnt hier Siebert, seine wissenschaft-
liche Selbständigkeit in der Verteilung des Stoffes zu dokumentieren:
§ 39 heisst bei ihm bloss: „Der Neupythagorftismus", und „die jiidisch-
alexandrinische Philosophie" kommt erst in § 40 an die Reihe. Diese
Selbständigkeit geht so weit, dass der Hegelschen Philosophie tmit deren
Behandlung das mir vorliegende Haymsche Diktat abschliesst) bei Haj-ra
die §§ 81—83 gewidmet sind, während Siebert hier bereits bei den §§
90—92 angelangt ist.
K,ecensionen (Siebert). 559
Aber wie verhält sichs mit dem Text selbst? Hier ist die Selbstän-
digkeit des „Verfassers" mindestens ebenso gross, ja sogar grösser. Un-
verkennbar ist das Bestreben, die Gedankengänge Hayms in anderen
Wendungen zu geben. Vollkommen übereinstimmende Sätze finden
sich vielleicht überhaupt nicht: an den von mir verglichenen Stellen ist
überall wenigstens etwas anders. So beginnt z. B. Haym seinen § 67
„Entstehung und Charakter der Kantischen Philosophie" mit den Worten:
„Wenn sich die deutsche Aufklärung politisch in dem Staate Friedrichs
des Grossen, literarisch in dem Wirken Lessings konzentrierte, so vertiefte
sie sich philosophisch durch das Auftreten Immanuel Kants." Dem Haym-
schen § 67 entspricht bei Siebert §71, dessen erster Satz ein Komma
weniger, aber ein Wörtchen mehr enthält und ausserdem noch ganz selb-
ständig ein Wort durch ein anderes ersetzt. Der Satz lautet nämlich:
„Wenn sich die deutsche Aufklärung politisch in dem Staate Friedrichs
des Grossen und literarisch in den Arbeiten Lessings konzentrierte, so
vertiefte sie sich philosophisch durch das Auftreten Immanuel Kants."
Doch sei ausdrücklich bemerkt, dass im Grossen und Ganzen die stilisti-
schen Abweichungen beträchtlicher sind als hier. Aber nur selten sind sie
glücklich. Haym verstand sich auf die Kunst, in wenig Worten etwas
Bestimmtes zu sagen. In der selbständigen Bearbeitung des „Verfassers"
hat die Zahl der Worte zu- und die Bestimmtheit des Gedankens abge-
nommen. Man lese etwa, wie Haym fortfährt, nachdem er die Formel
des kategorischen Imperativs mitgeteilt hat: „Aus diesem kategorischen
Imperativ folgt nun aber teils unmittelbar, teils mittelbar eine Wiederher-
stellung der Hauptsätze der Metaphysik. Das unbedingte Sollen nämlich
vergewissert uns praktisch des unbedingten Könnens." Hier hat jedes
Wort etwas zu sagen. Kann das aber auch noch von dem entsprechenden
Text des „Verfassers" behauptet werden? „Dieses Sittengesetz hat nun
seine wichtigsten Konsequenzen, sofern es nämlich den Hauptsätzen der
Metaphysik, die theoretisch unbeweisbar sind, eine gewisse praktische Be-
rechtigung verleiht. Mit der Kantischen Ansiclit des für alle verbindlichen
kategorischen Imperativs verändert sich zunächst der Anblick des mensch-
lichen Wesens. Das unbedingte Sollen versichert uns praktisch des unbe-
dingten Könnens" (S. 172). Wie vage ist hier alles, w^as eigene Zuthat
ist! Und wohin ist die straffe Gedankenführung geraten, die das Haym-
sche Diktat auszeichnet! — Auch direkte Fehler kommen vor: Haym
sagt von Sclielling: „Er begann als eifriger Anhänger der Wissenschafts-
lehre. Ergriffen sodann von der lebhaften Bewegung der Naturwissen-
schaften am Ende des Jahrhunderts, verfolgte er in seinen ,Ideen zur
Naturphilosophie', seinem ,Ersten Entwurf der Naturphilosophie' und in
der Schrift .Von der Weltseele' den Gedanken, dass das System der Natur
zugleich das System unseres Geistes sei," Daraus macht der „Verfasser":
„Anfangs ein eifriger Anhänger der Wissenschaftslehre, geriet Schelling
sehr bald unter den Einfluss der am Ende des 18. Jahrhunderts durch
epochemachende Entdeckungen bereicherten Naturwissenschaft. In einer
Reihe naturphilosophischer Schriften verfolgte er daher alsbald in eigen-
tümlicher Weise den Fichteschen Gedanken, dass das System der Natur
zugleich das System unseres Geistes sei" (200). Das soll ein Gedanke
Ficht es gewesen sein?! Es ist ja gerade der Gedanke, durch den sich
Schelling von Fichte trennt.
Es liegt auf der Hand, dass dem Andenken Hayms ein schlechter
Dienst damit geschehen ist, dass sein Name an eine solche Verballhornung
seiner Diktate geknüpft worden ist — allerdings zum Glück in recht
charakteristisch vager Art. Fast möchte man in Haj'ms Interesse wünschen,
der „Verfasser" hätte es lieber wieder gemacht wie in seiner 1898 erschie-
nenen „Geschichte der neueren deutschen Philosophie seit Hegel", wo er
schlankweg plagiiert hat. (Vgl. den Aufsatz „Zur philosophischen Litera-
tur" von Alfred von Mensi in der „Beilage zur [Münchener] Allgemeinen
Zeitung" vom 17. Juni ]89;i, der die auffallende „Gedankenharmonie"
560 Recensionen (Kalischer).
zwischen Siebert und Überweg-Heinze schlagend nachgewiesen hat. Ein
paar Woclien vorher hatte übrigens schon Döring Andeutungen in dieser
Richtung gemacht: vgl. Lit. Centralblatt 1899, No. 12.) Allerdings steht
das vorliegende Machwerk insofern eine Kleinigkeit weniger tief als die
„Geschichte der neueren deutschen Philosophie", weil der „Verfasser"
eigentliche Plagiate hier nicht mehr bietet. Doch ist es noch kein
grosses Stück Wegs, das er inzwischen am Berg der Läuterung empor-
geklettert ist. Denn leider kann nicht bezweifelt werden, dass er sein
Vorwort nur geschrieben hat, xim seinen Lesern eine wissenschaftliche
Selbständigkeit vorzutäuschen, und dass er auch nur zu diesem P^nde sicli als
den „Verfasser" aufspielt und die Existenz der Diktate verschweigt. Dem-
gegenüber kann die vorsichtige Formulierung auf dem Titel eben nur die
Bedeutung haben, dem Vorwurf des Plagiats vorzubeugen. Es würde mir
nie eingefallen sein, den Artikel A. v. Mensis wieder auszugraben, wenn
ich mich nicht davon hätte überzeugen müssen, dass für den „Verfasser"
jene Züchtigung noch nicht genug gewesen ist! Warum lässt Siebert
überhaupt wissenschaftlich scheinen sollende Arbeiten drucken ? Dass er
nichts Eigenes zu geben hat, kann ihm doch kaum verborgen sein.
Wechsler und Taubenkrämer haben im Heiligtum der Wissenschaft nichts
zu suchen.
Halle a. S. Fritz Medicus.
Kalischer, A. Chr. Immanuel Kants Staatsphilosophie.
Berlin. Dr. A. Chr. Kalischer Selbstverlag. Leipzig, Otto Weber. 1904.
102 S.
Die vorliegende Schrift verfolgt nicht den Zweck einer problem-
geschiclitlichen Durcharbeitung von Kants rechts- und staatsphilosophi-
schen Gedanken, sie beschränkt sich vielmehr im Wesen tliclien darauf,
dem Leser durch Zusammenstellung der wichtigsten Aussprüche Kants
einen Überblick über die politischen Ansichten des Philosophen zu ver-
schaffen. Deshalb lässt sich auch über das Büchlein nicht viel anderes
sagen, als dass dieses Ziel durch eine zweckentsprechende Auswahl von
Citaten geschickt erreicht wird. Allerdings hören wir bei solchem Ver-
fahren nur die fertigen Ergebnisse von Kants Staatsphilosophie, die da-
durch wie eine Reihe von Axiomen wirken, ohne dass auf ihr einheitliches
Hervorgehen aus ethischen und rechtsphilosophischen Erwägungen ein be-
sonderes Gewicht gelegt wird. Es kommt dem Verfasser mehr auf die
praktischen Entscheidungen Kants in Sachen der Politik an als auf die
systematischen Begründungen. So konstatiert er z. B. mit Recht die den
Worten nach sehr weitgehende Übereinstimmung Kants mit den Volks-
souveränetätstheorien Rousseaus und der Revolution, aber er versäumt
dabei, die im spekulativen Interesse so reizvolle Untersuchung anzustellen,
ob nicht all jene von Rousseau herübergenommenen Schlagworte von dem
„übereinstimmenden und vereinigten Willen aller", von der „B'reiheit" des
Staatsbürgers, „keinem anderen Gesetze zu gehorchen, als welchem er
seine Beistimmung gegeben hat", und ähnliche Wendungen bei Kant einen
ganz neuen Sinn durch das Hineinspielen seiner praktischen Philosophie
gewinnen, insbesondere durch die Unterscheidung von empirischer und
überempirischer, noumenaler Freiheit und Persönlichkeit. Bedenklicher
ist es, wenn der Verfasser Kants Lehre vom Staatsvertrage als eine „So-
phisterei", eine „phantastische Hypothese vom ursprünglichen Gesellschafts-
vertrage in antediluvianischen Zeiten", als eine willkürliche Annahme von
Ereignissen, die „vor anno X" passiert sein sollen, einfach abzuthun ge-
denkt (S. 48, 60). Alle Dax'steller der Kantischen Staatslehre haben doch
einmütig davor gewarnt, aus dem „ursprünglichen Kontrakt" einen histo-
rischen Akt zu machen, und auch die Formulierungen bei Kant selbst
ergeben deutlich, dass mit diesem Kontrakt nur eine „regulative Idee"
gemeint ist. Auch das können wir nicht zugeben, dass Kant sich eine
Verwechselung von „Recht" und „Gerechtigkeit" habe zu schulden kommen
lassen, dass er nicht bedacht habe, dass „ein wirkliches, anerkanntes
Hecensionen (Bargmann- Stern). 561
Recht" gegen allen Geist wahrer Gerechtigkeit sanktioniert werden könne
(S. 17 f.). Merkwürdiger Weise stützt sich der Verfasser dabei auf eine
Definition, die in der „Einleitung in die Reclitslehre" steht und mit den
Worten beginnt: „Eine jede Handlung ist recht, die . . .". Grade dieses
Citat zeigt schon durch den Wortlaut, dass Kant die Kriterien der Ge-
rechtigkeit und der formell-juristischen Rechtmässigkeit streng gesondert
wissen will. Denn an derselben Stelle unterscheidet Kant zwischen dem,
was „Rechtens sei (quit sit juris) d i. was die Gesetze an einem gewissen
Ort und zu einer gewissen Zeit sagen", und dem, was „recht sei" und nur
nach Prinzipien der Vernunft ermittelt werden könne; hier macht er
also genau die Unterscheidung, die der Verfasser vermisst. — Der Haupt-
wert der vorliegenden Schritt liegt somit nicht in der Behandlung der
Probleme, sondern in der übersichtlichen Mitteilung Kantischer Äusser-
ungen.
Falkenberg i. d. M. Emil La sk.
Bargmann, H. Der Formalismus in Kants Rechtsphiloso-
phie. Leipziger Inaug-ural-Dissertation. Leipzig, 19Ü2. (54 S.)
Die kleine Schrift g-iebt eine knappe und klare, auf das Wesentliche
sich geschickt beschränkende Darstellung von Kants Rechtsphilosophie
sowie interes.sante kritische Zusätze des Verfassers. Mit Recht wird die
bequeme Zusammenstellung Kants mit den übrigen Vertretern des „Natur-
rechts" gerügt, wobei freilich der Begriff der „Natur" von B. etwas zu
eng gefasst sein dürfte (S. 37 f). Sehr wertvoll ist die Parallelisierung
des „juridischen" und des „ethischen Staates" (S. 32 ff.). Vor allem aber
hat B. die grösste und wohl unüberwindliche Schwierigkeit, die sich dem
Verständnis der Kantischen Rechtslehre entgegenstellt, treffend zu charak-
terisieren gewusst (bes. S. 12 f., 40 f., 46 f.). Sie beruht darauf, dass
nach Kant einerseits die rechtliche Betrachtung lediglich auf die Regelung
des äusseren Verhaltens gerichtet ist und deshalb von dem ethischen
Werte des Willens und Beweggrundes abstrahiert, andrerseits aber den-
noch das Rechtsgebiet auf Imperative der Vernunft, auf unbedingte End-
zwecke gegründet wird, ja sogar die einzelnen empirischen Rechtsverhält-
nisse durchweg in intelligible Freiheitsbeziehungen aufgelöst werden.
Schuld an dieser abwechselnden Unüberbrückbarkeit und Ununterscheidbar-
keit von Moral und Recht ist nach B. der Formalismus der Kantischen
Ethik.
Falkenberg i. d. M. Emil La sk.
Stern, Br. Positivistische Begründung des philosophi-
schen Straf rechts (nach Willielm Stern); veröffentlicht in Hans Gross'
„Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik". Berlin, 1905. 1^97 S.)
Die philosophischen Partien der vorliegenden Schrift bestehen in
einer unveränderten Reproduktion von Wilhelm Sterns „kritischer Grund-
legung der Ethik als positiver Wissenschaft" (Berlin, 1897). In Überein-
stimmung mit diesem Werk vertreten sie den Standpunkt einer positivi-
stischen, induktiven, rein genetisch verfahrenden Ethik. Alle ethischen
Probleme sollen auf die Gegensätzlichkeit zweier Triebe zurückführbar
sein. Der eine, der „antiethische", ist das Selbsterhaltungsstreben oder
der Egoismus, der andere, als das „prinzipium movens der sittlichen Hand-
lungen", ist „der Trieb zur Abwehr aller schädlichen Eingriffe der sowohl
unbeseelten, als auch beseelten objektiven Aussenwelt ins psychische
Leben". „Man kann diesen Trieb auch das in den beseelten Wesen wir-
kende Gesetz der Erhaltung des psychischen Prinzips im Gegensatz zum
physischen Gesetze der Erhaltung der Kraft nennen" (S. 31).
Aus dieser Lehre vom sittlichen Triebe werden sodann Folgerungen
für die Theorien vom Verbrechen, von der Strafe, von der W^illensfreiheit,
sowie für die Strafrechtspolitik gezogen, die jedoch mehr von krimina-
listischem als philosophischem Interesse sind.
Falkenberg i. d. M. Emil La sk.
KantBtudien X. 37
562 Recensionen (Grisebach).
Grisebach, Eduard. Schopenhauer. Neue Beiträge zur Ge-
schichte seines Lebens. Berlin 1905. Ernst Hofmann & Co. (VI u.
145 S.)
Der Titel des Buches deutet schon an, dass es als Supplementband
zu der bekannten, mit viel Liebe und Hingabe an ihren Gegenstand ge-
schriebenen Schopenhauer-Biographie desselben Autors gedacht ist. Aber-
mals liebevoll und fleissig hat der Verfasser versucht, neue Materialien
biographischer Art zusammenzutragen. Aber die neue Schrift, wir müssen
das von vornherein betonen, wird doch durch die früliere schon in
Schatten gestellt, und es wäre kein gutes Zeichen für die Biographie,
wenn das nicht so wäre. Gerade weil diese fast alles Wesentliche brachte
und in liebevoller Arbeit, soweit dies dem Verfasser möglich war, ihren
Gegenstand annähernd erschöpfte, konnten die neuen Beiträge nicht mehr
viel des Wesentlichen erbringen. So mussten die Vorzüge jener diesen
notwendig zum Nachteil gereichen, was für das Hauptwerk freilich nur
eine Empfehlung bedeutet und von der gewissenhaften Aufspürung und
Verarbeitung der wesentlichsten Materialien zeugt.
Ungerecht wäre es aber auch, wenn wir verkennen wollten, dass der
Supplementband überhaupt wirklich „neue Beiträge" enthält. Über Schopen-
hauers Familie, die Anfänge seiner Beziehungen zu Goethe, seine Wei-
marer Vorbereitungs-, seine Göttinger Studentenzeit, wie auch über sein
Verhältnis zur Schwester und zur Charakteristik der Mutter werden uns
interessante Einsichten erschlossen, z. T. an der Hand mehrerer ungedruckter
Briefe. Freilich so interessant sie sein mögen, so erfährt doch das all-
gemeine Urteil über Schopenhauers Leben und Persönlichkeit selbst da-
durch keine wesentliche Bereicherung, und sie werden nicht annähernd
so wie Grisebachs Schopenhauerbiographie selbst im Stande sein, die land-
läufige Meinung zu Korrekturen an sich selbst zu veranlassen.
Den zweiten Teil des Buches bildet eine Schopenhauer-Bibliographie.
Sie verzeichnet zunächst „die Originalausgaben der einzelnen Schriften
Schopenhauers", dann „posthume Ausgaben der einzelnen Schriften
Schopenhauers und Übersetzungen in fremde Sprachen", sowie „Ausgaben
von Schopenhauers sämtlichen Werken", „Veröffentlichungen aus Scliopen-
hauers handschriftlichem Nachlass", „Biographie Schopenhauers und seine
Büste", „die sog. Schopenhauer-Litteratur", „Vorschopenhauersche Philo-
sophie (Werke aus seinem Besitze oder von ihm citierte WerkeV. Daran
schliesst sich ein „Appendix" über naturwissenschaftliche Schriften, ein
zweiter über „Religion — Mythologie".
Für die Schopenhauerforschung willkommen mag an dieser Biblio-
graphie vor allem die Thatsache sein, dass die verschiedenen Einzel- und
Gesamtausgaben seiner Werke hier einmal zusammengestellt sind. Nicht
so verdienstlich, weil durchaus unvollständig ercheint mir das Verzeichnis
der sogenannten Schopenhauerlitteratur. Ich will nicht davon reden, dass
manche in den Appendices angeführten Publikationen besser einfach unter
der Schopenhauer-Litteratur verzeichnet wären. Es sind vielmehr zwei
andere Punkte, die jedem aufmerksamen Leser auffallen müssen, und an
denen die Kritik nicht stillschweigend vorübergehen darf. Erstens führt
Grisebach in seinem Verzeichnis der Schopenhauer-Litteratur Schriften an,
die Schopenhauers gar nicht Erwähnung thun. Das begründet er freilich
damit, dass die seiner hätten Erwähnung thun sollen. Wo aber, so darf
man wohl fragen, liegt hier die Entscheidung der (juaestio juris? Und,
wie, wenn diese Formel ermittelt wäre, lässt sich die Forderung material
durchführen, und ist sie auch von Grisebach nur annähernd durchgeführt?
Zweitens dürfte es noch mehr überraschen, dass ein so ausgezeichneter
Schopenhauerbiograph und warmer Verehrer des Philosophen die Litteratur,
die sich nun positiv mit Schopenhauer befasst, nur sehr unvollständig aufzählt,
dass Publikationen, die er sicher kennt wie etwa moderne Geschichtswerke, von
ilim nicht genannt sind. Auch das erklärt sich freilich daraus, dass Grisebach
nur in seinem eigenen Besitze befindliche Werke, die von Schopenhauer
Recensionen ("Valentiner). 563
handeln, aufführt. Damit, was schliesslich auch ein Katalog grösserer Buch-
handlungen zu leisten vermöchte, ist aber doch der wissenschaftlichen Arbeit
nicht gedient. Eine Bibliographie, die für diese Wert haben soll, muss so
vollständig, wie nur möglich sein. Wer etwa über Schopenhauer arbeiten
wollte, der wird zwar — das wäre ein unmögliches Beginnen — nicht
jede Zeile der sogenannten Schopenhauer-Litteratur zu lesen brauchen.
Aber zur allgemeinen Orientierung wird ihm eine Übersicht ungemein er-
wünscht sein. Dabei kann es ihm gleichgültig sein, ob sie ihm an der
Hand des Verzeichnisses einer Privatbibliothek oder auf welche Weise
sonst, ermöglicht ist. Nur dass die Bibliographie möglichst vollständig ist,
darauf kann es ihm ankommen.
Ich habe mancherlei Ausstellungen machen müssen, glaube aber
trotzdem,, dass Grisebachs Schrift im ersten Teile nicht bloss den Besitzern
der Biographie, sondern auch denen, die sich überhaupt für Schopenhauer
interessieren, selbst von Interesse sein wird. Schliesslich hat ja Schopen-
hauer nicht bloss für seine Verehrer und Anhänger, sondern auch für den,
der sich vollkommen klar darüber ist, wie sehr sich der Romantiker über
seine Thronerbschaft des Kritizismus täuschte, doch immer den Reiz der
absolut einzigartigen Persönlichkeit. Und so wird das, was sich auf diese
bezieht, selbst wenn es zur Kenntnis ihrer Totalität nicht mehr viel her-
beischaffte, wenn es nur überhaupt eine persönliche Färbung trägt und
nicht am Äusserlichen haftet, von Interesse sein. Unter diesem Gesichts-
punkte vermag ich trotz aller Kritik Grisebachs Schrift zu würdigen und
erscheinen mir auch die Materialien, die er in Bezug auf die vorhin her-
vorgehobenen Punkte, wie die Anfänge seiner Beziehungen zu Goethe,
seine Weimarer und Göttinger Jahre, seine Familienverhältnisse etc. bei-
bringt, sowie die brieflichen Äusserungen von Wert.
Halle a. S. Bruno Bauch,
Valentiner, Theodor. Kant und die platonische Philosophie.
Heidelberg 1904. Carl Winter. (94 S.)
Verfasser hat sich in der vorliegenden Arbeit bemüht, im Einzelnen
das Verhältnis festzustellen, welches Kant zur plai^onischen Philosojjhie
einnimmt. Brennend ist diese Frage besonders neuerdings geworden, wo
man das kritische System Kants in metaphysischem und mehr und minder
speziell auch in platonischem Sinne auszulegen, mehrfach den Versuch ge-
macht hat. Insofern erwies sich die Feststellung der Verwandtschafts-
grade und Gegensätze zwischen der Kantischen und Platonischen Lehre
nicht nur als eine historisch interessante, sondern auch unmittelbar syste-
matisch bedeutsame Aufgabe.
In einem ersten Kapitel wendet sich Verfasser der Analogie der
beiden Grundbegriffe des Kantischen und Platonischen Systems, der Be-
griffe der „Phaenomena und Noumena" zu. Kant und Piaton stimmen
darin überein, nicht nur, dass sie die Dinge in die beiden Klassen und
Gi'undkategorien der Phaenomena und Noumena scheiden, sondern auch
darin, dass sie eben diesen Gegensatz auf eine gleich erkenntnistheore-
tische Thatsache begründen: die Annahme eines qualitativen Unterschiedes
von Sinnlichkeit und Verstand. Näher betrachtet ist freilich das Verhält-
nis der Phaenomena und Noumena sowohl in Bezug auf das erkennende
Subjekt wie zu einander bei Piaton und Kant ganz anders. Für Piaton
würden die Erscheinungen bleiben, auch wenn keine Seele da wäre, die
sie wahrnimmt. Nach Kant enthält das Subjekt vermöge seiner sinnlichen
Organisation den formalen Grund der Erscheinungen. Sie fallen daher
weg, sobald das Subjekt selbst aufgehoben wird. Ein offensichtlicher
Mangel dieses Abschnittes besteht darin, dass Verfasser zwischen der
Dissertation von 1770 und der Kritik der reinen Vernunft nicht, wie es
notwendig gewesen, unterschieden hat Deutlich zeigt sich dieser Mangel
insbesondere in der metaphysisch-idealistischen Auslegung der Kantischen
Erkenntnistheorie als solcher, der Nichtbeachtung des von Kant scharf
betonten Unterschiedes der Noumena in positiver und negativer Bedeutung
564 Recensionen (Valentiner).
und der unbedenklichen Gleiclisetzung der Dinge an sich mit intelligiV)len
Gegenständen, während doch für die Kritik der reinen Vernunft der
Ding au sich-Begriff zunächst nur eine erkenntnistheoretische und metho-
dologische Bedeutung liat.
Dass überhaupt Verfasser die Kantische Erkenntnistheorie nicht kri-
tisch genug auffasst, beAveisen auch die beiden folgenden Absclinitte : „der
Ursprung unserer Vernunfterkenntnisse" und „objektiver und transscenden-
taler Idealismus". Verfasser bemerkt zwar richtig, dass die Kantische
Anschauung von einer schöpferischen Energie des Bewusstseins dem pla-
tonischen Denken als solche fremd sei, hat aber doch diesen grundlegen-
den Unterschied sowie überhaupt die Verschiedenheit der Auffassung Pla-
tons und Kants bezüglich der überempirischen Art und des Wesens des
erkennenden Bewusstseins, die Verschiedenheit des psychologischen und
transscendentalen Apriori nicht genügend gewüi'digt. Ebenso unterliegen
die besonders in dem dritten Abschnitt zwischen der Kantischen und pla-
tonischen Lehre gezogenen Vergleiche starken Bedenkens : manche schei-
nen gesucht, manche von vornherein verfehlt zu sein. Der Grund für
diese nicht befriedigenden Darlegungen liegt schliesslich in einem unzurei-
chenden Verständnis des Verfassers für das Eigenartige der Kantischen Er-
kenntnislehre, wie er denn schliesslich gegen sie den Vorwurf erhebt, sicli
des gleichen Fehlers wie die alte dogmatische Metaphysik, der Einfülirung
eines ontologischen Argumentes schuldig gemacht zu haben. „Das nicht
in der Anschauung gegebene Erkenntnisvermögen wird als der Realgrund
der Form und Ordnung der Welt selbst, nicht bloss als Grund ihrer Er-
kenntnis gesetzt, und man sieht leicht, wie sich ein ontologisches Argu-
ment in die Beweisführung eingeschlichen hat." (S. 46.)
„Es ist ein rein logischer und ein die reale Welt der Erfahrung
möglicli machender Faktor in dem Erkenntnisvermögen, wie Kant es de-
duciert, ebenso für uns zu unterscheiden, wie Kant in den platonischen
Ideen und den von der platonischen Anschauungsweise noch nicht be-
freiten Begriffen einer späteren Metaphysik neben dem begrifflichen Ele-
ment ein ihm entsprechendes Objekt oder Sein entdeckt hatte." (S. 48.)
Dass das Problem der Identität von Sein und Denken ein ganz anderes
auf dem Boden der dogmatischen Metaphysik, ein ^anz anderes auf dem
Boden der phaenomenalistischen Erkenntnistheorie ist und gerade durch
die Einsicht in die formale Erzeugung der Objekte der p]rfahrung aus den
Bedingungen der Möglichkeit unserer Erfahrung das Grundproblem der
Kantischen Erkenntnistheorie, das Problem von der notwendigen Beziehung
der Vorstellungen auf Gegenstände seine einzig mögliche Lösung findet
— dieses hätte Verfasser billig bedenken sollen, ehe er so grundlos über
die Kantische Erkenntnistheorie urteilte.
Sehr lehrreich und auch im Einzelnen treffend sind dagegen die
Ausführungen des vierten Kapitels, darlegend die Rolle und Bedeutung,
welche der „Idee" in dem Kantischen System sowohl in theoretischer wie
ethischer und ästhetischer Hinsicht zukommt. Der Begriff „Idee" ist erst
von Kant wieder in seine ursprüngliche, ihm von Piaton verliehene Be-
deutung eingesetzt worden als Bezeichnung für das erhabendste Gebilde,
welches die menschliche Vernunft zu denken fähig ist. Idee bedeutet da-
her für Kant Vollkommenheit schlechtweg: Vollendung im empirischen
Vernunftgebrauch, Vollkommenheit der Gesinnung im sittlichen Handeln,
subjektive Zweckmässigkeit der Naturschönheit und objektive der Natur-
zwecke. Freilich machen sich auch hier wiederum grosse Gegensätze
zwischen der Auffassung Kants und Piatons geltend. Die platonischen
Ideen sind ebenso tot und imbeweglich wie die Kantischen strebend und
lebendig, jene sind transscendente Objekte, diese immanente Gedanken-
totalitäten, jene stellen beharrliche Urbilder, diese Ziele, Aufgaben und
Normen auf theoretischem, ethischem und ästhetischem Gebiete dar. Und
auch hier hat Kant noch eine weitere Spaltung in dem Begriff „Idee"
vorgenommen: nur den Begriff, dem kein congruierender Gegenstand in
Recensionen (Ludwig). 565
der Erfahrung gegeben werden kann, nennt Kant „Idee", den Gegenstand
dieser Idee selbst aber, sofern er zum Objekt unseres Strebens gemacht
wird, ein „Ideal".
Ein fünftes Kapitel, betitelt „Vernunft und Moral", ist endlich der
Betrachtung der platonischen und Kantischen Ethik gewidmet. Noch in
Kants Gebrauch des Begriffs der Vernunft schimmert die alte Bedeutung
des platonischen vov(; durch. Denn auch dieser bezeichnet wie Kants Ver-
nunft ein Vermögen, welches ebensowohl theoretisch erkennend wie prak-
tisch verpflichtend ist. Nur aus der Vernunft ist ebensowohl für Piaton
wie für Kant das Gute in der Welt abzuleiten, aber Piaton fasst auch hier
die Vernunft nur als ein das Sein der Dinge, der natürlichen wie der sitt-
lichen, abbildendes Vermögen, Kant dagegen als eine erst das Sein der
Dinge ermöglichende Fähigkeit sowohl in theoretischer wie praktischer
Hinsicht auf. Dieser Gegensatz zeigt sich besonders wieder in der Be-
griffsbestimmung des Guten, denn wenn auch für Piaton ebenso wie für
Kant Moralität nnr in der Verwirklichung des Vernunftgesollten im Gegen-
satz zu den natürlichen Bedürfnissen, Tugend also im vernunftgemässen
Leben besteht, so ist doch die Tugend für Kant nicht wie für Piaton ein
Gegenstand des Abbildens und theoretischen "Wissens, sondern des spon-
tanen Erzeugens und Handelns, eine Willensthat, nicht ein Bewusstsein
von etwas, das man besitzt. Nach platonischer Auffassung ist uns das
Gute schon vor der Geburt zu Teil geworden, für Kant wird das Gute
erst in der geschichtlichen Entwickelung des Einzelnen und der geschicht-
lichen Entwickelung der grossen historisch-politischen Gesamtheiten ver-
wirklicht und liegt daher als letztes Ziel unseres Handelns vor uns, nicht
wie für Piaton als Urbild hinter uns. So tritt überall an Stelle des pla-
tonischen Seins für Kant das Werden, und das ist schliesslich der tiefste
Gegensatz der platonischen und Kantischen Weltanschauung, dass Piaton
eben so sehr von der paradigmatischen wie Kant von der genetischen
Betrachtungsweise beherrscht ist, jener mit dem Blick der Verklärung auf
eine reale Welt sittlicher Vollendung zurückschaut, ihr die neuen Lebens-
ideale abbildend entnehmend, dieser in dem immanenten Gebrauch der
Vernunft selbst die Ideale der concreten Lebensführung findet und ihrer
Verwirklichung auf dem Wege der Pflicht an den Sieg des Guten glaubend
und ihm den vollgültigen Besitz menschlicher Glückseligkeit opfernd un-
entwegt nachstrebt.
Halle a. S. F. Kuberka.
Ludwig, A. Fr., Dr. Weihbischof Zirkel in seiner Stellung
zur theologischen Aufklärung. Paderborn, Schönin^h 1904. 1. Bd.
Vm. (.S77 S.)
Da ich mit dieser Schrift mich bereits in der Beilage zur Münchener
Allgemeinen Zeitung No. 22 vom 27. Januar 1905 eingehender befasst
habe, eine_ zweite Besprechung- des gleichen Buches durch denselben Re-
censenten jedoch sowohl der litterarischen Gepflogenheit als meiner per-
sönlichen Überzeugung vom Werte der Leistung Dr. Ludwigs wider-
spricht, so beschränke ich mich auf nachfolgende Angaben des Thatbe-
standes. Sie sind teils dem vorliegenden Buche, teils meinen eigenen
Exzerpten entnommen.
Weihbischof Zirkel von Würzburg verdient auch in den Kantstudien
Erwähnung, obwohl seine eigentliche Bedeutung auf kirchenpolitischem
Gebiete liegt. Ein geborener Franke, lebte er (1762—1817) gerade zu
einer Zeit, wo die Kantische Philosophie an den Hochschulen zu Bamberg,
Würzburg, Mainz und auch im fränkischen Kloster Banz viele Verehrer
und Vertreter fand. Zirkel hörte Philosophie bei Prof. Damm in Bam-
berg, einem Manne, der .,mit freien und unbefangenen Blicke die ersten
Vorlesungen über die Kritik der reinen Vernunft hielt zu einer Zeit, wo
der Obskurantismus in jeder Silbe der Kantisclien Schriften Verführung
und Ketzerei witterte ..." (cf. Weber, Geschichte der gelehrten Schulen
im Hochstifte Bamberg 1880, S. 223 nebst der dort bez. Litteratur). Im
566 Recensionen Siegel).
Jahre 1781 kam Zirkel nach Würzburg, wo er, die Zeit vom Herbste
1786—89 ausgenommen, sein weiteres Leben zubrachte. An dieser Uni-
versität des Frankenlandes wurde seit dem Jahre 17H8 die Kantische Phi-
losophie durch Maternus Reuss vorgetragen. Auch auf Zirkel hatten die
neuen Ideen mächtig eingewirkt. Besonders schätzte er deren ethische
Seite Obwohl keine philosophisch irgendwie hervorragende Persönlichkeit,
verstand er es doch, wie vielleicht kein zweiter, Kants Lehren zu popu-
larisieren. Ja, sie dienten ihm sogar als Grundlage seiner Predigten.
Diese „Predigten über die Pflichten der höheren und aufgeklärten Stände"
(Würzburg 179;-$) erregten auch in Mittel- und Norddeutschland grosses
Aufsehen und fanden vielfachen Beifall. Für Zirkel hatten sie aber noch
die weitere Folge, dass er einen Ruf an die Universität Königsberg i. Pr.
erhielt. Die preussische Regierung wollte nämlich an den Universitäten
Königsberg i. Pr. und Frankfurt a. d. O. eine theologische Fakultät für
die Studierenden der katholischen Theologie errichten. Neben Zirkel
wurde im gleichen Jahre 1800 noch Mutschelle berufen, damals Pfarrer in
Braunkirchen (bei München) und Professor am Lyceum zu München, be-
kannt als eifriger Vertreter der kritischen Philosophie, in deren Sinne
seine Schriften gehalten sind, besonders: „Philosophische Gedanken und
Abhandlungen mit Rücksicht auf die kritische Philosophie", „Moraltheo-
logie" (4 Bde.) und die „Hefte über die Kantische Philosophie" (fast bis
zu 12 Heften durch Ign. Thamer). Zirkel lehnte den Ruf ab, Mutschelle
folgte, starb aber noch vor Antritt seines Amtes. Im Jahre 1802 erging
nochmals der Ruf der preussischen Regierung in der gleichen Angelegen-
heit an einen süddeutschen Gelehrten, diesmal an Joh. Anton Eisenmann,
einen gebornen Badenser, der in Würzburg seine Studien gemacht hatte,
später als Pädagoge sich auszeichnete und als Domherr in Bamberg starb.
Die Kriegsrüstungen in Preussen machten jedoch der Regierung die Aus-
führung des Planes unmöglich, die Errichtung der beabsichtigten Fakultät
kam nicht zustande (cf. Jaeck, Zweithes Pantheon bei Literaten und
Künstler Bambergs. Bamberg 1843, S. 26).
Aus der vorliegenden Schrift Dr. Ludwigs, welche den I. Band
einer Biographie über Zirkel bildet, haben für die Freunde der „Kant-
studien" lediglich die Kapitel 4, 6 und 7 Interesse, wo die pädagogische,
dogmatische und philosophische Anschauung Zirkels dargelegt wird. Von
seinem Biographen wird der feinsinnige Zirkel wegen der Vorliebe für
die Kantische Philosophie als unkirchlich, als Rationalist, als Heuchler, als
Deist bezeichnet. Das Buch Kants: „Religion innerhalb der Grenzen der
blossen Vernunft" nennt Dr. Ludwig eine „berüchtigte" Schrift. Einer
Würdigung derselben auch nur nach der historischen Bedeutung glaubt
sich der Kirchenhistoriker überhoben. Dass er auch die Kantischen
Schriften nach einer Gesamtausgabe nicht in der herkömmlichen Weise
eitleren kann (S 99), soll wohl noch ein weiterer Beleg sein, wie sehr sich
der Autor vor einer Infektion durch den „Rationalismus" Kants gehütet hat.
München. Dr. G. Hub er.
Siegel, Carl. Zur Psychologie und Theorie der Erkenntnis.
Leipzig, O. R. Reisand 1903. (IV und 18() S.)
Die doppelte Aufgabe, welche sich das vorliegende Buch gestellt
hat, ergiebt sich aus dem Titel. Psychologisch wird die Erkenntnis er-
klärt durch die beiden „Grundfunktionen des Bewusstseins", Trennen und
Verbinden. Da von diesen beiden die letzte in der Psychologie bisher
schon eingehend erörtert worden ist, so beschäftigt sich der Verfasser in
erster Linie mit dem Begriffe des Trennens. Dadurch berührt er sich
vielfach mit Ulrici, in dessen Gedankensysteme das Unterscheiden eine
Hauptrolle gespielt hat. Doch findet er eine Abweichung von diesem da-
rin, dass „das Unterscheiden sich nicht mit einem wirklichen Scheiden bei
Ulrici deckt". (S. 8.) Den Trennungsprozess findet Verfasser schon auf
der Empfindungsstufe Er erklärt, dass „auch die Empfindung selbst, wie
wir Menschen sie heute haben, nicht der ursprüngliche Prozess, sondern
ßecensionen (Strong). Ö67
das Produkt späterer Entwickelung- und zwar einer natürlich unbegrifflich,
ja unwillkürlich sich vollziehenden Trennung ist". (S. 18.) S. 57 "ff. wird
die „Bedeutung des Trennungsprozesses für die Urteils- und Begriffs-
bildung'' besprochen. Hier erfolgt die Auseinandersetzung mit Wundt,
besonders aber mit Jerusalem, dessen „Kraftzentrumstheorie" S. 66 ff.
eingehend erörtert wird. Bemerkenswert sind die Ausführungen über
„Urteil und Gülti^keitsglauben" S. 72 ff. Siegel sieht ferner im Trennungs-
prozess auch die Grundlage naturwissenschaftlicher Methoden. Insbesondere
ist ihm das Trennen die „Grundfunktion, die das Wesentliche der Induk-
tion herbeiführt". — Diesem ersten psychologischen Abschnitte folgen
zwei erkenntnistheoretische. Zuerst wird die Lehre von den Kategorieen
behandelt, ,.jenen allgemeinsten Begriffen . . ., welche dazu dienen, die
durch die Empfindungen gegebene, versubjektivierte Welt in eine objek-
tivere Welt zu verwandeln", (S. 93.) Es folgt eine Kritik von Kants
Ableitung der Kategorieen. Siegel hält drei Kategorieen fest: Zahl (Zu-
sammenfassung von Kants Kategorieen der Quantität), Substanz und Kau-
salität. (S. 98.) Der dritte Abscünitt giebt einen „allgemein philoso-
phischen Ausblick". Es wii'd die „Lehre von der objektiven Welteinheit"
entwickelt. Der Zusammenhang mit Spinoza wird zugestanden. Doch
wird (S. 167) im Anschlüsse an F. Jodl behauptet, dass der Monismus
„zwar in die gradlinige Fortsetzung von Spinozas Denkrichtung fällt, sich
aber jedenfalls mit seiner Denkweise nicht genau deckt". Nicht ganz un-
widersprochen lassen können wir die Behauptung im Vorwort (S. IV):
„Wir nähern uns zugleich aber auch der Grundanschauung, die ein Kant
lange Zeit festgehalten, und die er erst aufgegeben hat, da er sich zu
einem Kopernikus berufen und durch Umwertung aller Werte auf erkennt-
nistheoretischem Gebiete die notwendige Gültigkeit ebensowohl als die
notwendige Beschränktheit menschlicher Erkenntnis unwiderleglich dar-
gelegt zu haben vermeinte." Nur auf die Dissertation vom Jahre 1770
dürfte das Gesagte annähernd zutreffen. Abgesehen davon ist die mo-
nistische Denkweise im Sinne Siegels nur eine schwache Unterströmung
im Gedankenflusse Kants. Spuren derselben dürften auch in den Schriften
der kritischen Periode nicht ganz fehlen. Die in den obigen Worten ent-
haltene, nicht allzufreundliche Beurteilung von Kants erkenntnistheore-
tischem Lebenswerke hat der Verfasser selbst zu vertreten.
Das Siegeische Buch enthält eine energische Bearbeitung der hier
in Betracht kommenden Begriffe. Es wird hoffentlich die psychologischen
Fragen lösen helfen und dazu beitragen, dass die Behandlung der hierher
gehörigen allgemein psj^chologischen Probleme immermehr eine empirisch
exakte Grundlage erhält.
Darmstadt. Ernst Schrader.
Why the Mind has a Body by C. A. Strong, Macmillan and Co.
New- York and London 1903. (355 S.)
Über ein in der letzten Zeit vielfach erörtertes Thema giebt uns der
Verfasser — Professor Strong an der Columbia Universität, New-York —
ein scharfsinnig und mit vieler Überlegung geschriebenes Buch, welches
vorzüglich geeignet ist, grössere Klarheit vom methodologischen Stand-
punkte aus in die Behandlung des Problems hineinzubringen. Die Ein-
teilung derselben nach empirischem (S. 1 — 06), kausalem (S. 66—160) und
metaphysischem Gesichtspunkte verdient hohe Anerkennung Obwohl
selbst Psycholog, erkennt doch Strong sehr wohl an, in dieser Hinsicht in
einem zu vielen Psychologen der Gegenwart erfreulichen Kontraste, dass
die zu behandelnde Frage unmöglich durch experimentelle Psychologie
allein gelöst werden kann.
Der wichtige Punkt, wie Verf. richtig betont, bei der Auffassung der Be-
zeichnung zwischen Körper und Geist, ist nicht die Frage, in welcher Richtung
das Kausalverhältnis liege, sondern vielmehr ob das Verhältnis solcher Art
sei, dass es eine Kausalauffas^sung überhaupt gestatte. Seine Übersicht
der verschiedenen möglichen Theorien vom empirischen Standpunkte führt
568 Recensionen (Strong).
zu der Aufstellung: von Wechselwirkungstheorie, .,Automatontheorie" und
Parallelismus als heutzutage die drei wichtigsten. Da aber vorläufig diese
nur empirische Theorieen sind, so bedürfen sie später einer philosophischen
Kritik und weiteren Interpretation.
Die speziellen Fragen, die sich möglicherweise nach experimenteller
Methode als lösbar ergeben, sind: 1. ob der Gehirnvorgang sich erschöpfe
im Augenblicke, wo der ihm korrespondierende psychische Prozess statt-
findet oder ob er noch weitere physiologische Wirkungen hervorbringe?
2. Ob alle psychischen Prozesse mit physischen Ereignissen verknüpft
seien ? H. Ob das Zeitverhältnis zwischen psychischen Zuständen und
physiologischen Vorgängen simultaner oder successiver Art sei? Es ist
ein Verdienst Strongs, diese letzte zu wenig diskutierte Frage betont
zu haben. Denn sind der Gehirnvorgang und der psychische Prozess
simultan, so würde dieses kaum mit einer Wechselwirkungsauffassung
vereinbar sein. Gesetzt aber, sie seien successiv, so bildete das nicht not-
wendigerweise ein Argument für diese Hypothese, Der Verf. zeigt, dass
es nicht möglich ist, diese Frage durch das Experiment oder die Beob-
achtung zu entscheiden. (S. 62.) Statt das Kausalverhältnis durch eine
Bestimmung des Zeitverhältnisses zu bestimmen, muss umgekehrt das
letztere vermöge einer Entscheidung des ersteren bestimmt werden. Was
Frage 2 betrifft, so ist Verf. geneigt, sie zu beziehen auf Grund der Er-
fahrung, dass alle psychischen Zustände durch Anwendung phj^sischer
Mittel zum Verschwinden gebracht werden können. Auch sprechen dafür
die Thatsachen der Ermüdung (S. 56—60). Auf der anderen Seite giebt
es keine Thatsachen, welche zeigen, dass alle cerebralen Prozesse mit
geistigen Prozessen verbunden seien. Fragt man nun, ob der cerebrale
Vorgang aufhört, wenn der psychische Prozess eintritt, so kann dies nicht
experimentell beantwortet werden. Wäre es zu bejahen, so würde ein
starkes Argument für den Parallelismus — oder richtiger gesagt, für die
Lehre von der Geschlossenheit der physischen Kausalität, auf der der
Parallelismus beruht — aufgehoben sein. Eine durchgehende Abhängig-
keit des Psychischen vom Physischen wird durch die Thatsachen schein-
bar bestätigt. Während wir niemals mehr als Ortsveränderungen oder
Zustandsänderungen durch unseren Willen bewirken können, so können
dagegen Veränderungen der Materie unser Bewusstsein sehr abschwächen
oder sogar zum Verschwinden bringen. Wäre nun unser Wille im Stande,
ein Stück Materie zu vernichten, würden wir nicht geneigt sein, in dieser
Thatsache einen Beweis der Abhängigkeit des Physischen vom Psychischen
zu erblicken?
Im zweiten Teile seines Werkes behandelt der Verf, die kausale
Seite des Problems. Zuerst giebt er einige genauere Fassungen und Aus-
legungen der widerstreitenden Hypothesen; dabei macht er einen lehr-
reichen Vergleich zwischen der „Automatontheorie", welche eine einseitige
Wechselwirkungslehre darstellt und dem Parallelismus. Das Motiv, welches
zahlreiche Forscher zur Verwerfung des letzteren und zur Anerkennung
der Wechselwirkungstheorie führt, nämlich der Glaube,^dass : „the causal
afficieing of consciousness is at stake", ist nach Stroug nicht begründet.
Denn mit Recht betont er, was er noch an mehreren Stellen seines Buches
nachweist, dass der Parallelismus keineswegs den Epiphaenomenalismus
einschliesst. Dagegen bildet der Panpsychismus ein Element in der Ge-
samtauffassung Strongs.
In Kap. V. VI. VII., Abschnitte, welche viele fein- und scharfsinnige Be-
merkungen enthalten, werden die Argumente für die Automatonlehre,
Wechselwirkung und den Paraltelismus eingehend geprüft. Von diesen steht
nach Verf. die erste auf schwächerem Fusse und schliesst die Schwierig-
keit einer doppelten Effekttheorie in sich ein. Die Wechselwirkungstheo-
rie stützt sich hauptsächlich auf die Thatsachen der willküi liehen Hand-
lungen und die Existenz des Bewusstseins, welches nach biologischen
Prinzipien irgend welche Rolle zu spielen haben muss. Die Gründe des
Recensionen (Strong). 569
Parallelismus sind vor allem in der ]Vatur des Kausalverhältnisses und in
dem Prinzipe der Erhaltung der Energie zu suchen, weshalb dann die
Untersuchungen vieler Wechselwirkungstheoretiker in der neuesten Zeit
sich gegen das letztgenannte Prinzip gewendet haben, in dem sie entweder
nachzuweisen versucht haben, dass ein Kausalverhältnis zwischen Phy-
sischem und Psychischem ganz wohl mit dem Energieprinzip vereinbar
sei (wie z. ß. Stumpf, Sigwart); oder die universelle Gültigkeit dieses
Prinzips angegriffen haben (wie z. B. Busse und andere) Hinsicht-
lich des zweiten Ausweges liegt, wie mir scheint, bis jetzt das onus pro-
bandi den Gegnern ob, um eine thatsächliche Ausnahme zu diesem um-
fassenden Prinzip zu statuieren. Hinsichtlich des ersten Ausweges stimmen
wir mit Strong überein, i)i dem er das Resultat einer Prüfung der Ver-
suche so zusammenfasst : „Unless, however, the psychical itself is a form
of energy, no vieuw which attributes to it physical action can be reconciled
with the Conservation of Energy". S. 134. Kein Forscher, glaube ich,
rechnet ernstlich mit der Wahrscheinlichkeit von Stumpfs Annahme einer
psychischen Energie, geschweige dass er diese Hypothese als irgendwie be-
wiesen betrachtet. Man kann den Begriff, psychische Elnergie, nur ge-
brauchen, wie Ostwald es thut in seinen „Vorlesungen über Naturphilo-
sophie", falls man unter Energie nicht etwas anderes versteht als was
wissenschaftlich darunter verstanden wird. Denn was energetisch ist, hat
eine Grösse, das Psychische als solches hat aber keine Grösse.
Wenn wir den Kausalbegriff auf das Verhältnis von physischen
Vorgängen und psjxhischen Prozessen anwenden wollten, so würden wir
bestenfalls Gleichförmigkeit oder Regelmässigkeit der Aufeinanderfolge
haben — natürlich angenommen, dass das Zeitverhältnis zwischen beiden
dasjenige der Succession sei. Aber blosse Gleichförmigkeit erschöpft nicht
den modernen Kausaibegriff. Derselbe ermöglicht nicht nur die Konstruk-
tion einer kontinuierlichen Reihe, sondern fordert noch dazu ein zahlen-
mässiges Verhältnis zwischen Wirkung und Ursache. Diese quantita-
tive Beziehung vertritt die Stelle des von Hume mit Recht kritisierten
Begriffs eines verborgenen Nexus; zugleich aber verleiht sie dem Kausal-
verhältnis einen mehr rationalen Charakter als Hume anerkannte. Bei
seiner Anwendung auf das Verhältnis vom Physischen und Psychischen
fehlen diese Merkmale des modernen Kausalbegriffs vollständig. Deshalb
sagt Verf.: „Das Argument vom Kausalprinzipe beweist den Pai-allelismus,
aber seine Gültigkeit ist nur hypothetisch, da es auf der Annahme beruht, dass
psjxhische Prozesse mit ihren cerebralen Begleiterscheinungen simultan sind."
S. 159. Ich glaube aber, dass ein Rückschluss vom Kausalverhältnis auf
das Zeitverhältnis möglich sei, und gedenke in dieser Hinsicht eines Be-
weises, welchen neuerdings Riehl angeführt hat. „Wäre das Psjxhische
eine Energieform, so müsste, so oft es hervortritt oder sich bethätigt, ein
bestimmter Betrag einer anderen Energieform verschwinden, so oft es
latent wird, Energie von anderer Art entstehen." Die Erfahrung lehrt
aber gerade das Gegenteil. Denn Mosses Experiment hat gezeigt, dass
die Energie des chemischen Umsatzes im Gehirn gesteigert wird, wenn
wir geistig thätig sind, herabgesetzt, wenn wir geistig ruhen." „Es ver-
schwindet also nicht Energie, wenn Bewusstsein entsteht, es entsteht
nicht Energie, wenn Bewusstsein verschwindet," woraus Riehl den
Schluss gezogen hat: „der chemische Prozess im Gehirn und die psychische
Thätigkeit verwandeln sich nicht ineinander ; sie o^ehen miteinander."
(Philosophie der Gegenwart S. 158.) Dieses bildet nicht nur eine
Instanz gegen Stumpfs Vorschlag das Psychische als eine Energieform
zu betrachten, sondern legt zugleich die Gleichzeitigkeit der psychi-
schen Thätigkeit und des physiologischen Prozesses dar. Aber abgesehen
hiervon, so lange man nachweisen kann, was wie ich glaube, in der
That möglich ist, dass physische Veränderungen überall durch physische
Faktoren eindeutig bestimmt werden, so ist das Argument vom Kausal-
prinzipe durchaus nicht von der von Strong aufgestellten Bedingung ab-
570 Receusionen (Strong).
hängig. Denn ob die psychische Thätigkeit mit dem cerebralen Prozess
gleichzeitig sei oder nicht, so kann doch jene unmöglich in das physische
Geschehen eintreten.
Der dritte Teil des Buches behandelt die eigentlich metaphysische
Seite des Problems und ist unserer Ansicht nach weniger befriedigend.
Man spricht von der Beziehung zwischen Körper und Geist, ohne festge-
stellt zu haben, was Körper und Geist bedeuten. Warum erscheinen sie
zusammen? Nun zeigt schon der Titel von Strongs Buch nicht nur an,
dass diese P'ragen beantwortet werden, sondern ebenso in welcher Richtung
die Antwort gesucht werden soll.
Was bedeutet das physische Universum? Bei einem Versuch, diese
Frage zu entscheiden, acceptiert der Verf. eine Art von Idealismus, welcher
nicht leicht zu kennzeiclinen ist. Zuweilen scheint es beinahe eine Art
von Subjektivismus zu sein oder wenigstens von subjektivistischen Prä-
missen au.szugehen, wie z. B. wenn Verf. behauptet, dass „wir unmittelbar
nur unsere eigene Bewusstseinszustände als solche erkennen können".
Wir wissen, dass die Sinnesphysiologie und Analyse des Wahrnehmungs-
prozesses gegen den naiven Realismus angeführt werden können. Gewisse
sogenannte metaphysische Argumente, welche von Berkeley herstammen,
können nach dem Verf. entweder mit einem kritischen Realismus oder
Idealismus vereinigt werden. (S. 170— 182.) Aber wir hören: „falls der
naive Realismus unannehmbar ist, so werden wir gezwungen, eine idea-
listische Auffassung der Welt, wie sie unmittelbar wahrgenommen wird,
anzunehmen." Giebt es denn nur einen naiven Realismus? Strong
selbst sagt: „Der Idealist kann entweder ein Phänomenalist oder ein kri-
tischer Realist sein." (S. 192.) Er selbst nimmt auch Dinge-an-sich an,
wie wir bald sehen werden. Falls aber „die Existenz von Dingen-an-sich
zugegeben wird, müssen sie als nicht-materiel aufgefasst" werden. Damit ist
das Thema angegeben, welches anzuführen und zu begründen die weitere
Aufgabe des Buches bildet. (S. 211—295.)
Nachdem die Möglichkeit von Dingen-an-sich festgestellt wird, wie
Strong irrtümlich glaubt im Gegensatze zu Kant, während, richtiger
gesagt, er sich im Gegensatze zur Methode Kants befindet, in dem er ihre
Existenz durch Kausalschlüsse aus subjektiver Erfahrung erschliessen will,
werden verschiedene Wege eingeschlagen, um ihre Existenz über allen
Zweifel zu erheben. Strong glaubt schon früher gezeigt zu haben, dass
„material ohjects exist only as modifications of consciousness", und dass „con-
sciousness is the sole reaHty". Jetzt aber wird uns gesagt, dass Dinge-an-
sich angenommen werden müssen „to fill up the gaps between individual
minds and give coherence and intelligibility to one conception of the uni-
verse". (S. 259.) Ist dieses aber nicht schliesslich die Bedeutung des
Dings-an-sich in Kants Erkenntnistheorie, welche einen Idealismus des
Wissens bildet auf realistischem Grunde ? Wenn es solche Dinge nicht
gäbe, so würde das individuelle Bewusstsein aus Nichts bestehen.
Es ist interessant, zu bemerken, dass Strong zugeben muss, dass
die Annahme von Dingen-an-sich einen unbegründeten Saltus einschliesst.
„Things-in-themselves cannot be deraonstrated in such a way as to extort
conviction." Kant hat hier tiefer gesehen. Nach seiner Lehre ist mit
der Existenz von Empfindungen die Existenz von äusseren und dem Be-
wusstsein unabhängigen Dingen gleichzeitig gegeben. Verf. scheint nur
durch eine falsche psychologische Analyse der Wahrnehmung, welche
zwischen dem Wahrnehmungsobjekte und Wahrnehmungsprozesse nicht
unterscheidet, irregeführt; die z. B. nicht nur das Sehen, sondern das ge-
sehene Objekt zu einer subjektiven Erscheinung macht. Wenn alle Ele-
mente der Wahrnehmung nur Zustände unseres Bewu.sstseins darstellen, so
ist es sicher, dass der Übergang zum Objekte nur durch einen Gewaltakt
zu Stande kommen kann. Aber von diesem Standpunkte aus ist es nicht
leicht einzusehen, wie man konsequenterweise über Trugschlüsse hinaus-
kommt. Es ist bemerkenswert, wie viele Idealisten von den Prämissen
Recensioiieii (Streng}. 571
des Subjektivismus ausgehen, dessen Konsequenzen sie dann nachher nicht
anerkennen wollen. In welcher unklaren Weise wird die Sache oft darge-
stellt, wie z. B wenn gesagt wird, dass ein unmittelbares Wissen von äusseren
Objekten mit ihrer vom Bewusstsein unabhängigen Existenz nicht ver-
einigt werden könne ! Welche Zweideutigkeit in dem Satze : „We cannot
look outside our minds and know immediately things existing there."
Aber ohne unmittelbar zu erkennen, was diese Dinge seien, können wir
ganz wohl unmittelbar und gleichzeitig mit unseren eigenen IBewusstseins-
zuständen erkennen, dass äussere Dinge existieren. Das Wort „outside"
ist gewiss mehrdeutig!
Nach Streng sind diese Dinge psychischer Natur. Andernfalls
könne der Ursprung des individuellen ßewusstseins nicht erklärt werden.
Ist dieser Ursprung überhaupt zu erklären ? „Intermental causality, sagt
er, disproves the Kantian contention that the causal category canuot be
used to transcend empirical experience". (S. 241—245.'! Trotz dieser Be-
hauptung und der Bemühungen des Verf., den Begriff von „intermental
causality" zu präcisieren, scheint mir Kant Recht ju behalten. Denn ge-
setzt, dass eine Anwendung des Kausalprinzips auf psychische Begeben-
heiten nachgewiesen und dieser Begriff besser ausgearbeitet wäre, so
wnirde dennoch zu zeigen sein, dass derselbe uns über alle empirische Er-
fahrung hinausführen müsse. Dabei müsste auch untersucht werden, ob die
Bestimmung der Dinge-an-sich als geistiger Art wirklich begründet wäre.
Darauf kommen wir wieder zurück.
Es giebt vier Wege, von denen aus der Charakter dieser Dinge
möglicherweise näher bestimmt werden könne: 1. durch die Eigenschaften
unserer Wahrnehmungen, 2. vermöge unseres Begriffs der Realität, 3.
durch Analogie mit anderen Seelen, 4. aus der Thatsache der Ent-
stehung und Entwickelung vom Bewusstsein. Der erste Weg führt zu
keinem entscheidenden Sclüuss. Der zweite führt zur Anerkennung der
Dinge als „bewusst", nicht als materiell. „Since we exist only so long as
we are conscious — eine Annahme, welche nicht nur nicht bewiesen, son-
dern durch die Erfahrung widerlegt wird — , it follows that the essence of
the mind is consciousness". „The antithesis between consciousness and its
immediate objects is fallacious". „The existence of things immediately know
is simply the existence of the knowing state. Hence reality is not existence
for, but existence of consciousness; or all existence for consciousness is
existence of consciousness; consciousness being in its very nature existence
for itself". (S. 2,S9, 290.) Diese Ansicht erhält nach dem Verf. durch die
oben in 3. und 4. gekennzeichneten Methoden eine weitere Unterstützung.
Dass viele dieser Behauptungen nicht axiomatisch sind, wie z. B. dass
Bewusstsein nur aus Bewusstsein entstehen kann, ist ganz sicher. Ausser-
dem stellt ein solcher Satz wie : „the existence of things immediately
know is simply the existence of the knowing state", einen durchaus unbe-
gründeten Subjektivismus dar.
Es handelt sich endlich um eine Anwendung der gewonnenen meta-
physischen Ergebnisse auf das Problem von Seele und Leib. Eine in
dieser Beziehung befriedigende Theorie soll nach Streng eine Lösung der
drei folgenden Punkte gestatten. I. Warum überhaupt Seele und Leib
associiert seien? 2. Der Ursprung des Bewusstseins. 3. Die Wirksamkeit
des Bewusstseins.
Die Wechselwirkungslehre schliesst nach S. den Dualismus in sich
ein, und kein Dualismus vermag die Fragen L und 2. zu beantworten.
Ebenso ungünstig ist es mit der Automatontheerie gestellt, die noch
dazu unmöglich mit der Wirksamkeit des Bewusstseins vereinbar ist.
Der Parallelismus verträgt sich entweder mit einem psychophysischen
(kritischen) Monismus oder psychophy-sischen Idealismus. Dieser er-
möglicht eine wahrscheinliche Erklärung der oben aufgestellten Fragen.
Denn bezüglich der ersten Frage, so beliauptet dieser Idealismus: „that
the thing-in-itself symbolized by the kain-process is the accompanying
572 Recensionen (Streng).
consciousness. Thus it explairs the connection of mind and body by
subsiiming the relation under that of tliing-in-itself and phenomene".
(S. HBH.) Da nmi dieser Idealisinus schliesslich eine Identitätstheorie ist
(S. 342), so wird die Wirksamkeit des Bewusstseins offenbar gerettet;
und da ferner die Dintre-an-sich selbst bewusster Natur sind, so wird
die Schwierigkeit bezüglich des Ursprungs des individuellen Bewusst-
seins gelöst. Die Materie ist blosse Erscheinung eines Dinges, welches
im Grunde psychisch ist. Die Lösung des ganzen Problems ist also durch
eine idealistisch-psychophysische Identitätstheorie gegeben. Der kritische
oder zentrale Monismus aber fällt nach Strong zusammen, weil er ein
Certain quid fordert als der gemeinsame Grund vom Physischen und
Psychischen. Er ist unfähig, darüber Auskunft zu geben, weshalb diese
beiden zusammen erscheinen oder wie das Psychische entstanden sei.
Erklärt denn wirklich in befriedigender Weise das von James und
Paulsen beeinflusste W>rk Strongs diese Schwierigkeiten? Können sie
überhaupt gelöst werden? Die Antwort hierzu hängt davon ab, was man
unter Erklärung versteht. Unserer Ansicht nach bedeutet die Subsumption
des individuellen Bewusstseins unter das Ding-an-sich nur eine wörtliche
Beschreibung eines bloss möglichen Thatbestandes, bis man den psychischen
Charakter dieser Dinge genauer bestimmt hat. Sonst gleicht ein der-
artiges Verfahren einer Zurückführung des Bekannten auf das weniger
Bekannte oder Unbekannte, denn das individuelle Bewusstsein bildet den
Ausgangspunkt aller Erklärung und ist uns besser bekannt, als das Ding-
an-sich.^ Oder die vermeintliche Erklärung ist ein petitio, da sie den
Ursprung des Bewusstseins nur weiter hinausschiebt. Sind die Dinge-an-
sich ein Bewusstsein, ähnlich dem individuellen, so wird nichts erklärt;
sind sie aber von diesem verschieden, wie kommt es, dass das individuelle
Bewusstsein aus ihnen entstanden ist? In keinem Falle ist das Problem
vom Verf. gelöst, vielleicht ist es eben nicht lösbar. Die Auffassung
Strongs führt zuletzt zum Panpsychismus, den die Erfahrung nicht be-
stätigen kann. Da die Dinge-an-sich als solche nicht entstanden sein
können, so müssen sie ewig sein. Wir kennen aber Bewusstsein nur als
einen periodischen Prozess, nicht als ein permanent existierendes Ding.
Die Schwierigkeiten und Einwände, die sich als Folge seiner Auf-
fassung ergeben, entgehen dem Verf. nicht. Er berührt sie vorübergehend
am Ende seines Buches (S. 348 - 3.53) und hofft sie später durch eine wei-
tere Untersuchung über den Begriff und die Einheit des Bewusstseins
überwinden zu können. Eine Metaphysik sollte auch erklären, wie es
kommt, dass die Dinge-an-sich solche „Schatten" aufwerfen, die wir nicht
umhin können, als materielle Körper aufzufassen. Ferner erscheint uns
die physische Welt als continuierlich. Ist die wirkliche W^elt oder ,,ulti-
mate Reality" auch continuierlich? Wenn nicht, so muss die Entstehung
dieses Scheins durch den Idealismus erklärt werden. Wenn aber die
Dinge-an-sich wirklich ein kontinuierliches Ganzes bilden, so entsteht
wiederum die Frage, wie die individuellen Bewusstseine, welche uns als
abgesonderte Einheiten erscheinen, sich aus dem kontinuierlichem Ganzen
entwickelt haben.
Das bedeutende Buch Strongs, welches schon in dem Titel den
idealistischen Hintergrund verrät, stellt das Hauptproblem in einer Form
dar, in welcher sie eigentlich nicht lösbar ist. Auf kritischem Standpunkte,
kennen wir nur Erscheinungen. Auch das individuelle, und uns allein be-
kannte Bewusstsein ist daher nur Erscheinung wie die Materie (Nach
Strong ist es ein grosser Irrtum Kants, Bewusstsein zu einer blossen
Erscheinung herabgesetzt zu haben.) Wer kritischer Idealist ist und bleibt,
muss doch^ zugeben, dass die Welt der Wissenschaft durch unsere Er-
kenntnisformen und Prinzipien bedingt ist. Jedenfalls ist es unmöglich,
zu behaupten, dass wir die Welt als Ganzes erkennen. Materie und Geist
sind Begriffe, die wir mit Recht in der Erfahrung anwenden, und beide
deuten auf etwas Reales hin. Wenn man aber die ganze Wirklichkeit
Selbstanzeigen (Kaminski). 573
nach einem dieser Begriffe ausschliesslich erklären will, so macht man den
{»•roben Irrtum, den Begriff des Ganzen nach demjenigren des Teiles zu
kunstruit-reu. Der lieutige Stand der Wissenscliaft hchliesst den Versuch
aus, das Physische in das Psychische direkt aufzulösen, ebenso wie das
Psj-chische aus materiellen Faktoren zu erklären. Will man das Yerlüllt-
nis zwischen beiden monistisch auffassen, wie Strong tliut, so kann man
nicht umhin, Physisches und Psychisches als verschiedene Erscheinungsarten
eines gemeinsamen Substrates, und damit kritischen Monismus annehmen.
Dem theologischen und metaphysischen Idealismus ist dieser be-
scheidene, neutrale, durch Kants Kritik gegründete, obwohl nicht von
Kaut selbst angenommene Monismus, unsympatisch. Fortwährend wird
es gegen ihn eingewendet, dass die postulierte Einheit des Physischen und
Psychischen eine bedeutungslose Annahme oder bloss eine Wort-Auskunft
bildet, so lange es kein Mittel giebt, diese Identität entweder anschaulich
darzustellen, oder irgendwie unmittelbar zu erleben. Dieser Einwand zeigt
sehr gut eine Verkennung der Aufgabe, sowohl der Bedingungen des
Problems. Unser Denken, wie Riehl neuerdings betont hat, dringt nur
bis zur Voraussetzung dieser Einheit hin. Diese Einheit bleibt in gleicher
Weise eine Grenze für alle Theorien, die nicht zuletzt mystisch werden,
bestehen. Der kritische Monist allein gesteht offen zu, dass er nicht im
Stande ist, ein letztes Erklärung-sprinzip des Zusammenbestehens von
Körper und Geist anzugeben. Aber er behauptet, dass seine Hypothese
dem heutigen Stande der Wissenschaft am besten entspreche, da sie sich
in Übereinstimmung mit den bekannten Xaturgesetzen und mit den Resul-
taten der psychologischen Analyse befindet.
Montreal. J. W. Hickson.
Selbstanzeigen.
Kaminski, AVilly. Über Immanuel Kants Schriften zur
physischen Geographie. Ein Beitrag zur Methode der Erd-
kundje. Dissertation Königsberg 1905 (Verlag von H. Jäger).
Wenn der Verfasser es unternahm, Kants Schriften zur physischen
Geographie von neuem zum Gegenstande einer Untersuchung zu machen,
so geschah es in der Überzeugung, dass man Kant nicht gerecht werden
kann, wenn man nur seine Leistungen in Einzeldisciplinen — wie Kosmo-
logie, Erdbebenkunde oder Meteorologie — in Betracht zieht. Vielmehr
beruht die auch heute noch beachtenswerte Bedeutung Kants für die Geo-
graphie in der Gesamtauffassung der Aufgaben und Methoden der geo-
graphischen Wissenschaft. Fragen, die die Grundbegriffe der Geographie
betreffen, und um die der Kampf der Ansichten besonders heftig- im
letzten Viertel des 19. Jahrhunderts tobte, tauchen, da sie in der Xatur
des Gegenstandes liegen, schon viel früher gelegentlich auf. In Kant er-
blickt der Verfasser einen Vertreter der Auffassung der Geographie als
einer auf die Kenntnis sowohl der Natur wie der Menschheit gerichteten
Wissenschaft, in der die Untersuchung räumlicher Beziehungen leitender
Gesichtspunkt ist.
Eine Hauptschwierigkeit lag in der Unsicherheit der Überlieferung
des Kantischen Kollegs über physische Geographie. Der Verfasser hofft,
die Zuverlässigkeit von Rinks Ausgabe des Kollegs durch Vergleichung
verschiedener Vorlesungsnachschriften in ein etwas helleres Licht gesetzt
zu haben.
Willy Kaminski.
574 Selbstanzeigen (Jerusalem).
Jerusalem, Wilhelm, Prof Dr. Der kritische Idealismus und
die reine Logik. Ein Ruf im Streite. Wien und Leipzig, 1905, Verlag
von Wilhelm Braumüller. (XII u. 226 S.)
Das Buch ist einerseits eine kritische Vorarbeit für ein Lehrbuch
der Logik, andererseits eine Verteidigung und Weiterfülirung der in
meinen früheren Arbeiten niedergelegten erkenntnistheoretisclien An-
schauungen. Im ersten Abschnitt suche ich die in meiner Rede auf Kant
(Wien 1904) ausgesprochene Ansicht, dass die Giundlage von Kants P^r-
kenntniskritik in einer neuen psychologischen Einsicht zu suchen sei,
eingehender zu begründen. Die introspektive Arbeit, die Kant geleistet
hat, wird durch Stellen aus seinen Briefen charakterisiert und als Ergebnis
dieser Arbeit betrachte ich die Erkenntnis von der gestaltenden Tätigkeit
des Ich-Bewusstseins, die in jedem Urteil zutage tritt. Im zweiten Ab-
schnitt wird eine Widerlegung des kritischen Idealismus versucht, wobei
ich auf die Arbeiten von Ostwald, Cornelius, Rickert und bes. Heim näher
eingehe. Der von Heim unternommene Versuch, den Solipsismus konse-
quent durchzuführen, wird nach gründlicher Prüfung als misslungen be-
zeichnet, wobei die Begriffe der Zeit und der Zahl besonders erörtert
werden. Ich versuche dann nachzuweisen, dass der kritische Idealismus
aus dem Bestreben entspringt, den Materialismus zu überwinden, und dass
der Idealismus trotz seines Strebens, jede Metaphysik zu vermeiden, den-
noch zu sehr gewagten metaphysischen Konstruktionen führt.
Es folgt nun eine Untersuchung der „reinen" Logik, wie sie Cohen
auf Kantscher, Husserl auf scholastischer Grundlage versucht. In Cohens
Logik der reinen Erkenntnis finde ich den Gedanken, die Logik eng an
die mathematische Naturwissenschaft anzuschliessen, sehr fruchtbar, muss
jedoch die Auffassung des Denkens als eines Erzeugens ablehnen. Durch
eine eingehende Kritik von Husserls „Logischen Untersuchungen" gelange
ich zu dem Ergebnis, dass dieser Denker, für den die Scholastiker des
Mittelalters eingestandenes Vorbild sind, in seinen Argumentationen streng
dogmatisch bleibt und bis zu den Problemen des Kritizismus noch nicht
vorgedrungen ist. Ich glaube ferner gezeigt zu haben, dass Husserl trotz
seiner Bekämpfung des Psychologismus doch selbst Psychologist bleibt.
Auf den kritischen Teil des Buches folgt der positive. In dem Ab-
schnitt über die gegenwärtige Aufgabe der Erkenntnistheorie lege ich dar,
dass die Kritik der Erkenntnis ihre Aufgabe beendet hat, und dass die
Psychologie des Erkennens eine Theorie der Erkenntnis in Angriff nehmen
muss. Dabei wiid das theoretische Denken nicht zum Ausgangspunkt,
sondern zum Problem gemacht. Unter Hinweis auf Münsterberg und
Simmel wird der biologische Ursprung des Wahrheitsbegriffes aufgezeigt
und seine Weiterentvvickelung im theoretischen Denken angedeutet. Die
in meinen früheren Arbeiten „Urteilsfunction", Lehrbuch der Psychologie
(3. Aufl. 1902) und „Einleitung in die Philosophie" (2. Aufl. 190H) ge-
gebene Theorie des Urteils wird mit neuen Argumenten verteidigt. Ich
suche ferner darzuthun, dass die kritisch-idealistische Behandlung der
menschlichen Erkenntnis Probleme verdeckt, während die psycholo-
gische Untersuchung immer neue Probleme aufzeigt.
In einem weiteren Abschnitt über die „Aufgabe der Logik" fasse
ich die Logik als Methodologie des Denkens auf, deren Grundlagen einer-
seits in der Psychologie, andererseits in der Geschichte der Wissenschaften
zu suchen sind. Die Logik hat zu zeigen, wie viel allgemeine und bewährte
Erfahrung in jeder einzelnen Erfahrung enthalten ist. Die Prüfung der
Urteile wird dann auf zwei Formeln zurückgeführt und zwar auf die Sub-
sumptionsforniel und auf die hypothetische Formel. Das Verhältnis von
Grund und Folge und seine Beziehung zur zeitlichen Succession und zur
Kausalität wird dann erörtert und auf Grund dieser Erörterung die Kant-
sche Einteilung der Urteile in analytische und synthetische neu interpre-
tiert, in der Schlussbetrachtung versuche ich zu zeigen, dass die psycho-
Selbstanzeigen (Schrader). 575
logische Untersuchung des menschlichen Erkennens nicht der Aufklärung
durch Kritik, sondern der Ergänzung durcli Metaphysik bedarf.
Als „ein Ruf im Streite'- wird mein Buch von mir bezeichnet, weil
ich mich darin gegen persönliche Angriffe (insbesondere gegen Husserl)
verteidige und weil ich gege^i eine in der Philosophie der Gegenwart
verbreitete Richtung energisch Stellung nehme.
Wien. W. Jerusalem.
Jerusalem. Wilhelm. Prof. Dr. Gedanken und Denker. Ge-
sammelte Aufsätze. Wien und Leipzig, 1905, W. Braumüller. (YIII
u. 292 S.)
Auf diese Sammlung früher publizierter Aufsätze (von den 21
Stücken sind nur 3 hier zuerst veröffentlicht), die für das grosse Publikum
bestimmt ist, möchte ich doch auch die Fachgenossen und bes. die Leser
der Kantstudien aufmerksam maclien. Sie bildet eine Ergänzung meiner
systematischen Arbeiten und ist durch ein Xamen- und Sachregister leicht
benutzbar gemacht. Aus dem Inhalt hebe ich hervor die Aufsätze über
das philosophische Staunen, die Zukunft der Philosophie, über Wahrheit
und Lüge, über den Naturalismus in der modernen Literatur, über Arbeit
und Gesittung, — die Physiologie der Seele und über die Volksseele.
Ausserdem enthält das Buch Charakteristiken von Franz Grillparzer,
Sophie Germain, Theodor Mevnert, Wilhelm Wundt, Ernst Macli und
H. Steinthal.
Wien. W. Jerusalem.
Sehrader, Ernst. Elemente der Psychologie des Urteils.
Erster Band: Analvse des Urteils. Leipzig, Job. Ämbr. Barth, 19ü5.
(VIII u. 222 S.)
Das Buch will die Bildung des einzelnen Urteils streng empirisch
erklären (Kap. I), während die Untersuchung der Zusammenhänge, in
welchen dieses steht, dem zweiten Bande, der Lehre von den „Tendenzen
der Urteilsbildung" vorbehalten bleibt. Da Wahrheit und Irrtum nur im
Urteile enthalten sind, so setzt die Erklärung hier ein. Wahre Urteile
würden allein die charakteristischen Merkmale niclit zeigen. Deshalb
werden zunächst die Erfahrungen des Irrens behandelt (Kap. II u. III).
Die Abnahme einer besonderen psychischen Aktivität (Lotzes beziehendes
Denken, z. T. auch Wundts Apperception u. s. w.) wird vom Standpunkte
einer empirischen Begriffsbildung aus abgelehnt Die idealen Gedanken,
welche historisch vielfach mit ihr verknüpft sind, müssen von der Psycho-
logie unabhängig gemacht werden und können das auch ohne jede Gefahr
und ohne jede Beeinträchtigung. Kap V betrachtet den Unterschied, der
zwischen sprachlichem und nicht-sprachlichem Denken bestellt, und benutzt
zur Erklärung desselben die von H. Taine aufgestellte Theorie der Sub-
stitution. Kap. VI findet den Unterschied zwischen dem Urteile und
sonstigen Vorstellungsverbindungen, 1. in der ergänzend hinzutretenden
Vorstellung des prädikativen Verhältnisses, 2. in der Zustimmung, welche
der Urteilende erteilt — oder verweigert. Doch erfordern die beiden
Merkmale nicht die Einführung eines neuen Erklärungsprinzips. Sie
lassen sich auflösen in Assoziation, Substitution und negative Beziehung
zwischen Vorstellungen, welche schon früher abgeleitet worden war. Vgl.
des ^'erf assers Schrift: Zur Grundlegung der Psychologie des Urteils.
Leipzig ]90H und die Besprechung derselben in den KSt X, S. 209.
Darmstadt. Ernst Schrader.
Geisler, Victor. Was ist Philosophie? Was ist G escli ichte
der Philosophie? Berlin, Theodor Froehlich, 1905. (60 S. 8".)
Die Schrift ist gedacht als die Einleitung einer grösseren Arbeit,
welche dem „Zug des Gedankens von Descartes durch Spinoza und Leib-
niz bis Kant" nachspähen will. Die Art der Behandlung, welche diesem
Gegenstande zuteil werden soll, machte eine Bestimmung des Begriffs der
576 Selbstanzeigen (Geisler).
Geschichte der Philosophie erforderlich, und dieser wiederum setzte den-
jenigen der Philosophie selber voraus.
Was ist Philosophie? In dieser Beziehung wird ausgegangen von
der Thatsache des Doppelcharakters des Menschen als eines „praktischen"
Subjektes und einer „theoretischen" Grösse,, dergestalt, dass im Interesse der
Wissenschaft l)eide Funktionen, so gewiss sie der Art nach von einander
verscliieden sind, in schärfster Abstraktion dafür an sich auch auseinander
gelialten werden, und dass das erste, nach „Zuständlichkeit" verlangend,
als der „primäre innere Faktor" behauptet wird, wohingegen das Ich als
theoretische Grösse jene „Verfassung" des praktischen, seine „Ziele",
„denkend zu deuten sucht" und insofern nur sekundärer Natur ist. „Rein
in erster Hinsicht ist die Seele religiös — im weitesten Verstände —
gerichtet, rein in letztem Betracht ist sie wissenschaftlich, philoso-
pliisch, bestimmt." Eine solche „grundsätzliche gedankliche Scheidung"
der beiden Momente des Menschen aber konnte erst spät sich ergeben,
„sie stellt also einen Wendepunkt im Fortschreiten des Erkennens über-
haupt dar". Ist nun das Vorstellen zunächst notwendig abhängig vom
unbefriedigten „religiösen Triebe", so ist eine solche Art der Betrachtung
„elementar", „nicht reine Wissenschaft, nicht Philosophie"; ist das reli-
giöse Verlangen aber — im Christentume grundsätzlich — gestillt worden,
so hat auch das Erkennen nicht mehr jenes „notwendige Verhältnis" zum
praktischen Suhjekte, es ist „unabhängig im höheren Sinne" und so die
letzten Fragen nicht mehr „bloss metaphysisch" behandelnd hat es die
Höhe der „reinen Philosophie". Ist diese also durch das Christentum
überhaupt möglich geworden, so wird am Ende der „Einleitung" noch
bewiesen, dass sie erst „nach dem Eintreten der Kantischen Analyse der
theoretischen Vernunft in die Geschichte" speziell möglich ist.
Dieses vorausgeschickt, wird S. 6 die „Philosophie" bestimmt als
„das geordnete Bewäisstsein um die Gesamtheit der grundsätzlichen Ver-
hältnitese des Ich: des praktischen in der möglichen Unterschiedenheit
seiner Auswii^kungen und des theoretischen, sofern es auf seinen Gebieten
in der ihm entsprechenden Weise die Art des ersten zu Ausdruck bringt".
Sofern aber „dem philosophischen System die nur ideale Einheit eignet
der Versuche stufenweise es zu gewinnen", (S. 10) verläuft die philoso-
phische Arbeit selbst in vier grossen Gedankenreihen, welehe eine jede
den Wert hat einer „selbständigen systematischen Erkenntnis". Die erste
entwickelt den „Urbegriff" des praktischen Ich, die zweite die diesem
synthetisch zugeordneten, der Erfahrung entstammenden „Grundbegriffe",
die dritte das „encyklopädische Verhältnis" der möglichen philosophischen
Disziplinen, die vierte giebt das System derselben in deren Ausführung.
In letzter Hinsicht wird unterschieden zwischen Disziplinen des prak-
ti Sieben und solchen des theoretischen Ich; jene sind die Philosophie der
Religion, des Sittlichen, des Rechtes (auch des Staates imd der Gesell-
schaft) und des Schönen, diese hingegen einerseits die Philosophie des Er-
kennens, des Denkens, der Sprache, andererseits die Philosophie der Natur,
der Geschichte des praktischen Ich und der Geschichte des theoretischen
Ich. diese letzte in der schliesslichen Besonderheit der Geschichte der
Pliilosophie (S. 28, 29).
Was ist Geschichte der Philosophie? Es werden da unter-
schieden eine „berichtende Behandlung", eine „pragmatische Betrachtung"
und ein „philosophisches Verständnis" der Geschichte der Philosophie.
Die erste „berichtet alles, was zu irgend einer Zeit, in irgend einem Volke,
gleichviel in welcher literarischen Form, philosophisch wertvoll gewesen
ist oder auch nur dafür gegolten hat". Die zweite ist die „fortlaufende
Feststellung des philosophischen Gedankens in seinem notwendigen
Wechselverhältnis zur Totalität der übrigen Momente der Kultur", der
Philosophie nämlich der „griechisch-hellenistisch-römischen Welt" und der-
jenigen der „romanisch germanischen Völkergruppe", zu den ihnen ent-
sprechenden Kulturen. Die dritte, die philosophische Geschichte der Phi-
Selbstanzeigen (Kramer). Om
losophie, hat zu zeigen „wie das Denken ein einiges Ziel habe in der
reinen Philosophie, welche Phasen es in diesem Laufe gehabt, an welchem
Punkte es da jeweilen angelangt sei". Am ausführlichsten (S. 35—58)
wird die zweite Art des philosophischen Betriebes besprochen: die erste
gestattet nach ihrer einfacheren Natur eine kürzere Behandlung, die dritte
ist darum so knapp gehalten worden, weil die im Eingang erwähnte
längere Arbeit deren Prinzipien in ihrer Anwendung rechtfertigen soll.
Schliesslich sei bemerkt, dass durchgehends der Gedanke auf den
denkbar knappsten Ausdruck gebracht worden ist, und dass die Art des
Drucks (verschiedenes Einrücken der Zeilen, Lücken innerhalb derselben,
vei-schiedene Entfernungen zwischen den Zeilen) das jeweilige Verhältnis
der Gedanken verbildlichen sollen.
Friedenau. V. Geisler.
Kramer, A., Dr. phil. Fries in seinem Verhältnis zu Jacobi.
Erlanger Dissertation. 1904.
Die Arbeit hat den Nachweis zu führen versucht, dass die Lehre
des seit Fortlage sog. Halbkantianers J Fr. Fries in der nicht-Kantischen
Seite seiner Philosophie von der Glaubens- und Gefühlsphilosophie des
F. H. Jacobi wesentlich beeinflusst ist; so zwar, dass die von Jacobi ohne
streng methodische Systematisierung vorgetragenen Gedankenreihen durch
Fries eine wissenschaftlich präcisere Bearbeitung erfahren haben.
Das Verhältnis von Fries zu Kant, dessen Resultate ersterer als
einer der treuesten Schüler des grossen Königsberger Meisters beibehalten
hat, konnte nur gestreift, dagegen musste auf den wichtigen methodolo-
gischen Unterschied beider hingewiesen werden.
Die Vergleichung bewegt sich in den erkenntnistheoretischen Ent-
wicklungen der zu prüfenden Philosophen. In der Kritik der Sinnlich-
keit tritt Fries mit Kant in Widerspruch gegen Jacobi. Wohl lehrt Fries
übereinstimmend mit Jacobi gegen die Identitätsphilosophen die Selbstän-
digkeit der Sinnlichkeit als eines eigenen Prinzips des Erkennens; auch
in der Bestimmung der Funktionen des Verstandes, als des Vermögens,
das von der sinnlichen Anschauung gegebene Material zu ordnen und zu
verknüpfen, sind beide Philosophen einig, beide sind überzeugt: „Wir
wissen durch Anschauung und Verstandesbegriffe um das Dasein der
Dinge;" während aber Jacobi das reale Sein der Körperwelt glaubt,
sieht Fries mit Kant in ihr nur Erscheinungen der Dinge an sich. Empi-
rische, nicht aber transscendentale Wahrheit kommt dem Wissen um die
Sinnendinge zu. Wohl schien uns selbst bei der Kritik der Sinnlichkeit
durch Fries ein deutliches Hinneigen zu Jacobi bemerkbar, indem jener
sogar für das Wissen um die Sinnendinge in gewissem Grade einen un-
mittelbaren Vernunftglauben voraussetzt, aber doch bleibt auch er bei
der von Jacobi gerügten Ding-an-sich-Theorie stehen, über welche Jacobi
mit dem sonst so bewunderten und gefeierten Kant in Streit ge-
raten war.
Neben der Überzeugungsart des menschlichen Geistes im Wissen,
welche auf Anschauung beruht, unterscheidet nun Fries nach dem Vor-
gange Jacobis noch die beiden Überzeugungsarten des Glaubens und
Ahnens.
Den unmittelbaren Vernunftglauben erklären beide Philosophen als
etwas Natürliches im Menschen und vindicieren diesem zweiten Erkennt-
nisvermögen gleiche Gültigkeit und Gewissheit. Während nun aber Fries
die verdienstvolle und in der Geschichte der Philosophie so wichtige That
Jacobis, gegenüber der nur demonstrierenden Philosophie das Recht und
die Gültigkeit des Vernunftglaubens nachdrücklich verfochten zu haben,
offen anerkennt, ihn auch gegen Kant deswegen in Schutz genommen und
gegen Schellings bissige Kritik warm verteidigt hat, tadelt er dagegen
den Mangel der wissenschaftlichen Begründung dieses Vernunftglaubens.
Fries will dagegen ein allgemeingültiges Wissen um den Glauben auf-
weisen, dem sich keine endliche Vernunft entziehen kann. Das Reich des
Kantstudien X. 33
578 Selbstanzeigen (Knothe).
VeruunftglHubens sind nun die Ideen. Diese Ideen können nicht bewiesen,
sondern als Grundsätze nur deduciert werden. Kant niu.sste sich auf die
Deduktion der Kategorien be.^chränUen, weil er die Krkenntnis durch die
Anschauung- als die allein gesicherte ansah; dagegen will P^'ries die Ideen
subjektiv aus dem Wesen der Vernunft ableiten. Hier weicht Fries von
Jacobi ab, der diese subjektive Konstatierung für niclit allgemein erklärt
und bei dem allgemeingültigen, selbständigen zweiten Erkenntnisquell des
Vernunftglaubens, als keines Bürgen bedürftig, stehen bleibt. Jacobi be-
trachtet den Menschen nach Naturnotwendigkeit und Freiheit als zwei
Welten, freilich wunderbar auf einander sich beziehender, zugehörig;
Fries bleibt bei der Lelire Kants, da.ss alle menschliche Erkenntnis imma-
nent sei. Den Inhalt des Vernunftglaubens, die drei Ideen, Gott, Freiheit,
Ewigkeit der Seele, nach Kant Postulate der praktischen Vernunft, dedu-
ciert Fries auf psychologisch-anthropologischem Wege durch Negation der
Schranken des Endlichen.
Den Vernunftglauben, als einen apodiktisch sicheren Erkenntnisquell,
der uns Aufscliluss giebt über das Reich der Ideen, hat Fries von Jacobi
in sein System aufgenommen. Im einzelnen aber hat er nach dem von
ihm so nachdrücklich als dem einzig richtigen und möglichen proklamierten
anthropologischen Prinzip auf dem Wege der Selbstbeobachtung die
Gegenstände des Vernunftglaubens selbständig zu deducieren gesucht.
Auch in der Lehre von der Ahnung, dem dritten, ergänzenden Er-
kenntnisvermögen, ist Fries abhängig von Jacobi, wenn auch hier gleich-
falls, wie bei seiner Lehre über den Vernunftglauben, eingeräumt werden
muss, dass er die von Jacobi Iierübergenommene, noch unbestimmte
Grundlage mehr systematisch ausgebaut hat.
Ebenso stimmen beide Philosophen in der hervorragenden Wertung
des Gefühls ganz auffallend überein.
Vorsfelde (Braunschweig). A. Kram er.
Knothe, Paul. Kants I^ehre vom Inneren Sinn und ihre
Auffassung bei Reininger. Erlanger Dissertation 1905.
Durch Reiningers Schrift „Kants Lehre vom Inneren Sinn und seine
Theorie der Erfahrung" 1900 cf. KSt. V, 478) ist Kants Lehre vom Inneren
Sinn eingehend erörtert und damit von neuem zur Diskussion gestellt
worden. Auch die vorliegende Arbeit, die durch Reiningers Ausführungen
veranlasst ist, will einen Versuch zum Verständnis dieses zentralen Themas
liefern. Sie bietet 1. eine Darstellung und Entwickelung der Kantischen
Lehre vom Inneren Sinn und 2. eine Auseinandersetzung mit der Auf-
fassung Reiningers.
Die Hauptresultate sind folgende:
Kant knüpft mit seiner Lehre von der Sinnlichkeit an die Lockesche
an, übernimmt sie aber nicht in derselben empirisch-psychologischen Form,
sondern gestaltet sie nach den Bedürfnissen der Transscendentalphiloso-
phie um.
Der an die Transscendenz grenzende Äussere Sinn erhält Affektionen,
die bei ihrem Durchgang durch diesen zu transscendentalen Empfindungen
umgebildet werden_ und sich, empirisch geworden, räumlich ordnen. Pa-
rallel neben dem Äusseren Sjnn steht der sensus inferior, der bei Kant
nur zur Hervorbringung der Gefühle in Anspruch genommen, hier für
alles innere Geschehen angenommen werden muss. War die Form des
Äusseren Sinnes der Raum, so ist die des sensus inferior die Nicht-Räum-
lichkeit oder Innerlichkeit. Die durch Affektionen dieser Sinne hervor-
gebrachten transscendentalen Empfindungen teilen sich unter gleichzeitiger
Erzeugung eines Mannigfaltigen im Inneren Sinn dem oberen transscen-
dentalen Vermögen mit, die dieses ihrerseits bearbeiten und den Inneren
Sinn affizieren. Durch die Affektion tritt der Innere Sinn in Funktion.
Seine Bestimmung ist, das transscendentale Mannigfaltige, das in ihm sich
gebildet hat, ins Empirische umzuwandeln und zeitlich zu ordnen, wobei
auch die Formen des Äusseren Sinnes tmd des sensus internus empirisch
SelWanzeigen (Richter). 579
real werden. Der Innere Sinn bring:t keine eigenen Objekte hervor, steht
demnach, worauf es besonders ankommt, auch mit den inneren Wahr-
nehmungsobjekten prinzipiell in keiner näheren Beziehung, sondern ist
lediglich Aufnahme- und Umsetzungs-Organ für fremde, nicht aus ihm
stammende transscendentale, äussere und innere Objekte, die er als empi-
rische in Raum und Zeit zum Bewusstsein bringt. Alle Dinge, äussere
sowohl wie innere, sind Erscheinungen im Inneren Sinn, in denen, als den
durch seine Funktionen zustande gekommenen Hervorbringungen, das
Gemüt sich selbst anschaut und sich daher nur erkennt, nicht wie es an
sich ist, sondern wie es erscheint. Die Zeit des Inneren Sinns ist ab-
hängig vom transscendentalen Ich und darum von transscendentaler Idea-
lität, zugleich aber unabhängig vom empirischen Ich und deshalb in em-
pirischem Sinne real. Die eine Zeit des Inneren Sinnes oder des empi-
rischen Bewusstseins, welche, da alle Menschen gleich organisiert sind,
zugleich die des überindividuellen transscendentalen Bewusstseins der
menschlichen Gattung überhaupt ist, sicliert auch den äusseren und
inneren „Erscheinungen an sich selbst" das unmittelbare primäre Sein in
der Zeit.
Reininger entwickelt die Lelire vom Inneren Sinn von der Voraus-
setzung aus, dass die an Locke sich anschliessende Parallelstellung beider
Sinne die ursprüngliche und allein berechtigte Form der Kantischen Lehre
vom Inneren Sinn darstelle. Er koordiniert beide Sinne, fasst sie als
selbständige empirische Wahrnehmungsorgane, reserviert den Inneren
Sinn nur für die inneren Vorgänge, so dass nun die äusseren Erscheinungen
zeitlos werden. Um dem abzuhelfen, nimmt Reininger einen ,,Inwendigen
Sinn höherer Ordnung" an, dessen Form eine Zeit in transscendental-
psychologischer Bedeutung ist, welche alle Erscheinungen, äussere und
innere, umfasst. Die Voraussetzung dieser Konstruktion, die Parallel-
stellung der Sinne, sowie die empiris-^ch-psychologische Deutung derselben,
ist bei Kant nicht nachweisbar. Ihre Durchführung verwickelt sich in
Schwierigkeiten, wie im einzelnen nachgewiesen wird.
Paul Knothe.
Richter, Otto. Kants Auffassung des Verhältnisses von
Glauben und Wissen und ihre Nachwirkung besonders in der
neueren Theologie. Inaugural-Dissertation, Leipzig 1905. i^Zugleich
als Programm des Kgl. Gymnasiums zu Lauban erschienen.)
Anknüpfend an eine Beobachtung Vaihingers will die hier ange-
zeigte Arbeit die Frage nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen
bei Kant als eine inner-philosophische herausstellen und im Anschluss da-
ran die praktischen Folgerungen beschreiben, die sicli für Kant aus seinem
philosophierend gewonnenen Glaubensanschauungen ergeben. Eine mög-
lichst umfassende Benutzung der einschlägigen Stellen aus seinen Schriften
und Vorlesungen führt den Verfasser zu dem Schluss, dass es nicht be-
rechtigt sei, Kant einseitig als Metaphysiker oder einseitig als Antimeta-
physiker in Anspruch zu nehmen. Andererseits würde der Reichtum des
Kantischen Geistes nicht erschöpfend genug durch den Begriff Meta-
phoriker ausgedrückt werden. Und doch leitet gerade dieser Begriff auf
die erste Auffassung hin. In Frage steht, wie sich die beiden Grundele-
mente des Ich, das fühlend-wollende und das erkennende mit einander so
ausgleichen, dass die Persönlichkeit als einheitliche, in sich ruhende be-
stehen kann. Zu Hülfe kommt hier Kants Begriff der Einbildungskraft,
die jedenfalls ein Bindeglied darstellt zwischen Verstand und Sinnlichkeit.
Sie ist das Organ, durch das ein Selbsterleben zustande kommt, das beide
sonst auseinandertretende Seiten des Ich umschliesst und im analogisch-
symbolischen Erkenntnisprozess den Zwiespalt aufhebt. Diese Richtung
des Kantischen Denkens stärker als üblich zum Bewusstsein zu bringen,
ist das Bestreben der Untersuchung. Die Folgerungen für Wissenschaft,
Staat und Kirche zieht Kant besonders in ,,Streit der Fakultäten", dein
daher ein besonderer Abschnitt gewidmet ist. Bei der Darstellung der
38*
580 Selbstanzeigen (Rudolph — Schultz).
Nachwirkungen Kants werden von Theologen zunächst Herrmann, R. A,
Lipsius, Pfleiderer als Vertreter dreier abgeschlossenen theolog. Sj^steme
gewürdigt, sodann eine Reihe Einzeluntersuchungen von Reischle, Wobber-
min, F. R. Lipsius, Tröltscli, Lüdemann. Von philosophischen Nachfolgern
Kants habe ich auf Höffding, Adickes, Th. Ziegler, L. Busse, Volkelt und
Wundt hingewiesen. Es ergiebt sich, dass eine klare Scheidung beider
Funktionsweisen sich durchgesetzt hat, dass aber in der Art des Neben-
einander beider Funktionen die Urteile einer metaphj^sikfreundlichen und
-feindlichen Richtung auseinandergehen. Der Vergleich mit Kant zeigt,
dass das Streben, ein Erkennen und Glauben einschliessendes Gesamtwelt-
bild zu gewinnen, mit grösserem Recht in Kant seinen Vorläufer erblicken
kann als dasjenige, welche eine der Menschennatur unerträgliche, unüber-
brückbare Kluft zwischen beiden Welten befestigt.
Lauban. O. Richter.
Rudolph, Heinrich. Über die Unzulässigkeit der gegen-
wärtigen Theorie der Materie. Wissenschaftliche Beilage zum
Jahresbericht des städtischen Realgymnasiums. Coblenz 1905.
Der Verfasser wendet sich gegen die moderne, von ihren Anhängern
als Elektronik bezeichnete Richtung der Physik, welche in dem ato-
mistisclien Ausbau der Maxwellschen elektromagnetischen Lichttheorie
und dem Begriffe der elektromagnetischen Masse gipfelt. Nach
dieser Lelire ist nicht Materie Träger aller Erscheinungen, sondern
Elektrizität. Nebenher gehen Vorstellungen über die Zusammensetzung
der Elemente aus elektrischen Elementarquanten, die das Urelement
darstellen und sich durch eine Art Zersetzuugsprozess, bei dem die P^le-
raente in immer einfachere umgewandelt werden, aus der scheinbaren
Materie loslösen.
Nur dem LTmstande, dass in den Kreisen der Physiker die phäno-
menalis tische Welterklärung gegenwärtig die herrschende ist, verdankt
die Elektronenlehre ihr Ansehen, obgleich sie eine grosse Zahl von inneren
Widersprüchen enthält. Der Verfasser zeigt aber, dass eine genaue
Prüfung der philosophischen Grundlagen und der physikalischen Tatsachen
die Haltlosigkeit dieser Richtung darthut, und dass nur die Philosophie
Kants und seine eigene, aus Kants Theorie der Materie hergeleitete
hydrodynamische Auffassung der materiellen Substanz von allen Er-
scheinungen widerspruchsfrei Rechenschaft giebt. Im Lichte der Kanti-
schen Philosophie tritt die ganze Ungeheuerlichkeit des Versuchs zu Tage,
die Vorstellung von Materie durch die Vorstellung von Elektrizität, die
doch selbst nur eine Erscheinung an der Materie ist, ersetzen zu wollen.
Die strenge Auffassung Kants von der mechanischen Kausalität,
die der phänomenalistischen Richtung und deshalb teilweise auch der
heutigen empirischen Forschung fremd ist, gleicht einem untrüglichen
Kompass zur Auffindung von Trugschlüssen ; und so klärt sie auch den
Grundirrtum der Elektronenlehre dahin auf, dass diese die atomis tische
Natur der Elektrizität in den Kathoden- und Radiumstrahlen anschei-
nend aus dem Experimente folgert, in Wahrheit aber von Anfang
an voraussetzt. Mit der Preisgabe dieser Voraussetzung wird die ganze
Umwälzung der bisherigen Begriffe unnötig.
H. Rudolph.
Schultz, Julius Dr. Die Bilder von der Materie. Eine psj'cho-
logische Untersuchung über die Grundlagen der Physik. Göttingen, Vander-
hoeck & Ruprecht, 1905. (VII und 201 S.)
Kants Grundlehre, dass jede Erkenntnis und jedes Erkenntniselement
aus subjektivem Aprioi'i und dem „Objekt" zusammengewebt sei—, scheint
mir unvviderlegt und unwiderleglich; von hier gehe ich aus. Nur giebt es
für mich keine „syntlietischen Sätze a priori" : mein „Subjekt" beliauptet
nichts, sondern „fordert". In einer früheren Schrift (Psychologie der
Axiome, Göttingen 1899) versuchte ich deutlich zu machen, wie die aprio-
Selbstanzeigen (Schultz), 581
rischen Denkformen des Menschen aus tierischer Association hervorwuchsen ;
in ihrer ursprünglichen Rohheit aber konnten sie nur den derben Bedürf-
nissen des Lebens angepasst sein; und nun bekamen sie dennoch die Auf-
gabe, alle feinsten Probleme der lebensfremden Wissenschaft zu beherrschen!
Das schien seltsam ; und mir stieg die Frage auf, wie denn eigentlich diese
anthropomorphen Postulate unseres natürlichen Verstandes es erreichen, zu
Grundsätzen einer wahrhaft rationalen Wissenschaft zu werden.
Man sieht, mein Unternehmen knüpft in gewissem Sinne an Kants
„Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft" an ; auch ich will
untersuchen, wie das „Apriori" sich umformen muss, um die Prinzipien der
Physik zu erzeugen. Aber ich glaube zum alten Ziel einen neuen Weg
gehen zu sollen. Denn schon bei den ersten Schritten wurde mir klar :
völlig „reine" Naturlehre in Kants Sinne kann es nicht geben. Unser
substantial-kausales Denken ist eigentlicher Wissenschaft zunächst so wenig
adäquat, dass es, auf die Natur angewendet, fortwährend zwei oder mehr
Grundsätze als gleich möglich erscheinen lässt. Es verlangt z. B. für jede
Veränderung eine Ursache; dieses Verlangen aber kann ganz ebensowohl
zum Ruhepostulat der Alten wie zum Trägheitsgesetz führen, jenachdem
man „Bewegung" oder „Bewegungsänderung" als „Veränderung" auffasst.
Das apriorische Kausalprinzip spaltet sich also bald in zwei einander
widersprechende, gleich apriorische und gleich berechtigte Postulate: die
Antinomie ist da.
Die Antinomien unseres Denkens fasse ich nun anders auf als Kant;
und dadurch eben komme ich zu völlig anderen Ergebnissen. Kant ver-
wendete sie fast nur zu skeptischer Polemik: wo die Vernunft mit sich
selber in Widerstreit geriet, da war das Wissen am Ende. Ich dagegen
lasse die Antinomien des Apriori von der — „Erfahrung" entscheiden.
Das scheint dem schulgerechten Kantianer unsinnig, ich weiss es ; aber ein
solcher übersähe, dass icli die Grundsätze ja damit nicht aus der Empirie
herleite; bloss ein Recht zur Auswahl zwischen zwei gleich vollgültigen,
aber gegnerischen Prinzipien vergönnen mir dieses. Sind doch die Denk-
formen Mittel, die Welt zu verstehen; bieten sich nun zwei an sich gleich-
wertige Mittel an, so werden wir dasjenige ergreifen, das seinen Zweck
geschickter erfüllt ; um auf das vorige Beispiel zurückzukommen : die
Physik hat unter den beiden Möglichkeiten, die das Kausalprinzip ihr ent-
gegentrug, das Gesetz Galileis gewählt, weil das Ruhepostulat sehr
künstlicher Maschinerien bedurft hätte, um die thatsächlichen Bewegungen
der Körper zu erfassen.
Meine physikalischen Axiome sind also nicht wie die Kants „reine"
Ausgestaltungen des Apriori ; sondern Postulate, die dem Apriori zwar
alle entstammen, aber durch „Erfahrung" unter gleich vornehmen Rivalen
ausgesiebt sind. Diese Sätze verraten ihren apriorischen Ursprung durch
ihre absolute Strenge und ausnahmslose Gültigkeit, durch ihren Anspruch,
dass alle Erfahrung an ihnen zu messen, durch sie zu interpretieren, von
ihnen zu modeln ist ; durcli ihren Charakter als schrankenloser Forderungen.
Weil aber erst die „Erfahrung" ihnen den Vorzug vor ihren Widerparten
gab, würde Kant sie als völlig „reine" Prinzipien nicht anerkannt haben.
Von solchen Prämissen aus untersuche und richte ich die verschie-
denen „Bilder von der Materie", die die Physik aufgestellt hat. Die
Kämpfe zwischen Dynamik und Kinetik, zwischen Atomistik und ple-
rotischer Lehre, zwischen Substanzanschauung und Energetik werden
dargestellt und entschieden, immer vom Standpunkte meiner psycholo-
gistischen Erkenntnistheorie aus. Die Anwendung meiner Resultate auf
die gegenwärtige Physik (S. 121—185) wird nur naturwissenschaftlich ge-
bildeten Ijesern Interesse abgewinnen: aber diese Abschnitte sind auch
ohne weiteres überschlagbar.
Berlin. Julius Schultz.
582 Selbstanzeigen (Palme).
Palme, A. J G. Sulzers Psycliolog'ie und die Anfänge der
Dreivermögenslehre. Berlin 1905. Fussingers Verlag. (64 8.)
Die seit Kant populär gewordene Einteilung der psychischen Er-
scheinungen in drei Gruppen : Erkenntnis, Gefühl der Lust und Unlust,
Wille — die Dreivermögenslehre — hat für uns ein mehrfaches Interesse.
Der moderne Psychologe muss sich die Frage vorlegen: ist die Zahl der
Grundfunktionen richtig bestimmt oder ist sie zu vermehren oder zu ver-
mindern? Dann: lassen sich Gefühl und Wille vielleicht als eine Klasse
zusammenfassen? Ist es vielleicht geboten, gewisse der Erkenntnis zuge-
rechnete Erscheinungen — etwa das Urteil — als zur emotionellen Seite
der Psyche gehörig aufzufassen? Auch noch radikalere Fragen können
gestellt werden und werden thatsächlich neuerdings aufgeworfen. Ist es
berechtigt, eine Mehrheit unter sich verschiedener psychischer Prozesse
anzunehmen, darf man, mit anderen Worten, unterscheiden zwischen dem
Vorgestellten und dem Vorstellen, der Lust und dem Fühlen der Lust und
dann zwischen dem Vorstellen und Fühlen, abgesehen von den vorge-
stellten und gefühlten Inhalten, einen Unterschied annehmen? Wenn
nicht, sind dann die psychischen Erscheinungen nicht kaleidoskopartig auf
einander folgende Bilder, gefärbt in den Farben der verschiedenen Sinnes-
empfindungen, und ist dann nicht der Sensualismus die einzig berechtigte
Auffassung? Eine Lehre, die anerkannt oder bestritten, aber stets leben-
dig im Kampfe der Meinungen weiterlebt, in statu nascendi zu untersuchen,
gewährt besonderen Reiz. Um so mehr, wenn sie — man denke an
Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung" — auch metaphysisch
systembildend gewirkt hat. — Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit
sind, in aller Kürze, besonders folgende. Unter den Vorbedingungen, die
zu Kants psychologischen Grundanschauungen — auf der Dreivermögens-
lehre beruht ja die Dreiteilung der Kritiken — mitgewirkt haben, steht
an erster Stelle Sulzers Psychologie, deren hauptsächlichstes Verdienst in
der genauen Untersuchung und scharfen Formulierung des Gefühlsbegriffes
besteht. Auf der wolf fischen Einteilung der Vermögen in Erkenntnis und
Wille beruhen die beiden zuerst entstandenen Kritiken, durch die schliess-
liche Herübernahme des von Sulzer endgültig ausgearbeiteten Gefühlsbe-
griffes erhielt die K. d. U. ihre psychologische Motivierung. Die Unter-
suchung von Mendelssohns „Billigungstrieb' und von Tetens' „Gefühl"
ergiebt, dass der Einfluss Mendelssohns auf Kant überschätzt wird, und
dass Tetens in der Vermögenslehre Kant überhaupt nicht beeinflussen
konnte. Sulzers Psychologie dagegen zeigt mannigfaltige und interessante
Beziehungen zu Kant, in dessen Wertschätzung Sulzer stets besonders
hoch stand. Aus der Kenntnis von Sulzers Psychologie, besonders aber
seiner durchaus originellen Gefühlslehre, in der er sich mit der neuerdings
von Lipps vertretenen Ansicht eng berührt, erschliesst sich auch erst das
genauere Verständnis der einflussreichen Sulzerschen Ästhetik. Die Ver-
mögenslehre, deren Kenntnis für das tiefere Eindringen in die philoso-
phischen Werke aus der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts, auch in
die Kantischen, unbedingt notwendig ist, wird in den Geschichtswerken,
und zwar auch in denjenigen, welche die Geschichte der Psychologie
dieser Zeit zum Gegenstande haben, ganz unzureichend behandelt. Die
wechselnde und schillernde Bedeutung der Begriffe Vermögen, Kraft,
Hauptvermögen, Empfindung, Gefülü u. a. hat zu mannigfachen Missver-
ständnissen geführt, selbst bei dem so gründlichen und gewissenhaften
J. B. Meyer (Kants Psychologie, 1870). Diese Begriffe werden daher ein-
gehend behandelt und ihre genauen Bedeutungen festgelegt. Das enge
Verhältnis, in dem Herbart zu der Leibniz-Wolffschen Psychologie stand,
ergiebt sich von selbst, sowie dass die Herbartsche Psychologie einen
letzten Reaktionsversuch dieser Schule gegen die von Kant zur Geltung
gebrachte Auffassung der psychischen Funktionen darstellt.
Berlin. Dr. Anton Palme.
Selbstanzeigen (Ewald— Geissler). 583
Ewald, Oscar. Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen:
Die evvio-e Wiederkunft des Gleichen und der Sinn des Über-
menschen. Berlin, Ernst Hofmann, 1903. (141 S.)
Der Zweck meiner Arbeit muss in zweierlei gesucht werden : in
einer unabhängig von Nietzsche unternommenen Analyse seiner Grund-
probleme und erst in zweiter Reihe in einer möglichst gründlichen und
widerspruchsvollen Darstellung der Zarathustralehre. Jene Grundprobleme
sind: Die Idee der ewigen Wiederkunft des Gleichen und die Idee des
Übermenschen. Zunächst wies ich nach, dass beide dogmatisch interpre-
tiert mit einander unvereinbar sind, da von einer unendlichen Entwick-
lungsmöglichkeit nicht mehr gesprochen werden kann, wenn eine schliess-
liche Rückkehr schon einmal verwirklichter Zustände bevorsteht. Diese
Antithese hebt sich durch meine Analyse der beiden Probleme von selber.
Die ewige Wiederkunft darf nicht wörtlich, als kosmologische Theorie,
wo sie sich mit den schlimmsten logischen Schwächen behaftet zeigt,
interpretiert werden und ebenso wenig der Übermensch biologisch und
evolutionistisch ; \äelmehr ist jene ein Symbol, in dem sich der Imperativ
verkleidet: ,, Handle so, als ob du jedem Augenblicke deines Lebens Ewig-
keitswert schenken wolltest!" Und dieses ist bloss die Konsequenz vor-
erwähnter Norm, also ein neuer Imperativ; handle so, als ob du den
Übermenschen in dir verwirklichen wolltest! Die Idee der ewigen Wieder-
kunft des Gleichen ist demnach nicht mehr die Negation, sondern die
Grundlage der Lehre vom Übermenschen.
Damit wird die Weltanschauung des ,,Antimoralisten" Nietzsche
streng im Geiste der Kantischen Ethik gedeutet. Freilich zunächst
durch eine selbständige Behandlung der von ihnen aufgerollten Fragen.
Aber es wdrd im Anschlüsse daran nachgewiesen, dass Nietzsche selber, be-
sonders im „Zarathustra", sich dieser Auffassung nähert, wenn auch stets
in einem bestimmten Abstand. Den psychologischen Grund dieser
Differenz, dieser Geteiltheit in Nietzsche selber zu entdecken, unternimmt
der zweite Teil. Er sucht die Theorie konstant von der Zeit als dem
inneren Sinn charakterologisch zu verwerten, indem er zwei Grundformen
des höheren Menschentums einander gegenüberstellt, den historischen
Menschen, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich vereint
hält und als Schöpfer von Werten über Zeit und Vergänglichkeit erhaben
ist und den elementaren Menschen, den handelnden Menschen, der im
Wesentlichen an die Gegenwart gebunden bleibt. Beides lag in Nietzsehe
und im Nietzscheschen Übermenschen, während in Wahrheit bloss der
historische Mensch der objektiven Bedeutung des Übermenschen entspricht.
Meine Schrift stellt sich somit als ein Versuch dar, die Widersprüche in
Nietzsche zu erklären und zu klären, weiter aber auf seinen Bahnen zum
kategorischen Imperativ zurückzukehren.
Wien. Oscar Ewald.
Geissler, Kurt, Dr. Die Kegelschnitte und ihr Zusammen-
hang durch die Kontinuität der Weitenbehaf tungen mit einer
Einführung in die Lehre von den Weitenbehaf tungen. Mit
50 Figuren auf 19 Tafeln. Jena, H. W. Schmidts Verlag, 1905.
Ein in dieser Zeitschrift seinerzeit angezeigtes Buch : ,,Die Grund-
sätze und das Wesen des Unendlichen in der Mathematik und Philosophie",
B. G. Teubner, 1902, sollte i. A. nicht in systematischer Form die Pro-
bleme des Unendlichen besprechen und eine neue Lehre „von den Weiten-
behaftungen" in ihren allgemeinen Zügen und in einer freien Reihe von
mathematischen und philosophischen Beispielen begründen. Diese Lehre
habe ich dann weiter ausgebaut und z. T. in strenger Form abschnittsweise
dargestellt in Aufsätzen des Jahresberichtes der D. Mathematiker-Ver-
einigung, der Zeitschrift für math. und naturw. Unterricht, den Unter-
richtsblatt für Math, und Naturw., des Archivs für System. Philosophie,
der Zeitschrift für Philos. und philos. Kritik, der Zeitschrift für wissensch.
Philosophie, des pädagog. Archivs der Lehrproben und Lehrgängen, der
584 Selbstanzeigen (Kuberka).
Zeitschrift für lateinlose höhere Schulen u. a. In einigen auf den Haupt-
versammlungen des Vereins zur Förderung des math. und naturw. Unter-
richts, Pfingsten 03 und 04, und auf der Naturforscher-Versammlung Cassel 03
gehaltenen Vorträgen deutete ich dann kurz die Grundgedanken einer
„übereuklidischen Geometrie" und einer neuen Behandlung der Kegel-
schnitte durch das Unendliche an. Letztere ist, verbunden mit einer Ein-
führung in die Lehre von den Weitenbehaftungen, im oben genannten
Buche bei H. W. Schmidt erschienen.
Erst nachdem andere Probleme der niederen und höheren Matlie-
matik und ausser anderen die Frage der Unendlichkeit von Raum und
Zeit in der Philosophie mich auf die Möglichkeit gebracht hatten, das
Unendliche imd Endliche in einer Lehre von gesonderten und doch ge-
setzmässig in Beziehung gebrachten Weitenbehaftungen zu behandeln, die
sich vielfach im Gegensatze zu bisherigen Auffassungen des Unendlichen,
besonders des Unendlichgrossen befindet, tauchte die Möglichkeit auf die
Kegelschnitte, die mich freilich im Unterrichte schon lange beschäftigten,
in einen neuen Zusammenhang zu bringen, die noch immer bestehenden
Klüfte zwischen der endlichen Ellipse (ohne Asymptote etc.) und der „in
das Unendliche gehenden" Hyperbel und Parabel (erstere mit ihrer auf-
fälligen Zweiteilung und den Asymptoten) zu überbrücken und durch die
continuitas generalis der Weitenbehaftungen einen derartig engen Zu-
sammenhang zwischen den genannten Kurven zu liefern, dass sie alle nur
als Fälle einer einzigen, auf der Oberfläche einer unendlichen Kugel
zweiter Ordnung liegenden Doppelellipse erscheinen und als solche streng
definiert und in sämtlichen Eigenschaften entwickelt werden können.
Für die Philosophie wird die Bemerkung von Interesse sein, dass
nach meiner Ansicht nicht etwa der Raum, m dem die ins Unendliche
„laufenden" Kurven liegen, also unser Raum sphärisch im Unendlichen
zweiter Ordnung gekrümmt ist, sodass dadurch die Zweige der Hyperbel
sich im LInendlichen schliessen, sondern dass auch diese Kugel 2. Ordnung
nur — eine Kugel in (!) diesem Räume ist, dass die endlichen Geraden
und die im Endlichen auf einer (endlichen) Ebene liegenden Kurven ohne
jeden Widerspruch für die Behaftung mit dem Unendlichen auf einer
krummen Fläche liegen können. Die Frage nach der LTnendlichkeit des
Raumes gewinnt ein etwas anderes Aussehen als bisher, indem sie nach
genannten Lehren nicht einfach einem ,, Räume" zugeschrieben wird,
sondern indem in den Begriff eines Raumes — zur Vermeidung der
Widersprüche des LInendlichen — die Eigenschaft entweder des Endlichen
oder des Unendlichen irgend welcher Ordnung hineingenommen werden
muss. Die allgemeine Mannigfaltigkeit des Raumes hat danach also die
Eigentümlichkeit, dass bei ihr gewisse Eigenschaften streng geschieden
werden müssen (endlich oder unendlich zu sein), dass aber doch wider-
spruchslos Beziehungsgesetzc (Grundsätze des Unendlichen) deutlich aus-
sprechbarer Art bestehen zwischen der mit dem Endlichen (Sinnlichvor-
stellbaren) und dem Unendlichen (Über- oder Untersinnlichvorstellbaren)
behafteten Raumvorstellung. Das Buch über die Kegelschnitte (leicht
verständlich und auch für den Unterricht brauchbar) ist nur ein Beispiel
für eine ähnliche mögliche Behandlung anderer Kurvenprobleme, auch der
höheren Mathematik (Punktion von Weierstrass), die z. T. von mir bereits
in kleineren Arbeiten veröffentlicht wurde. Grössere Ausführungen und
eine strenge Durchführung der Grundlagen der ,,Analysis" nach den er-
weiternden Methoden der Weitenbehaftungen werden zur Veröffentlichung
kommen.
Luzern (Schweiz). Kurt Geissler.
Kuberka, Felix. Kants Lehre von der Sinnlichkeit. Halle
a. S., C. A. Kaemmerer & Co., 1905. (146 S.)
Die vorliegende Arbeit ist dem Versuche gewidmet, die Lehre von
der Sinnlichkeit als integrierenden Bestandteil der Kantischen Philosophie
in der geschichtlichen Reihenfolge der von Kant verfassten Schriften dar-
Selbstanzeigen (Kuberka). 585
zustellen. Ihre Aufgabe war daher zunächst eine rein historische, und
zwar ist bei der Lösung dieser Aufgabe diejenige Methode befolgt worden,
welche schon in verschiedenen Untersuchungen der Schüler meines ver-
ehrten Lehrers, Herrn Prof. Dr. Vaihingers, zur Anwendung gebracht
worden ist : die Anordnung des zu bearbeitenden Stoffes vorwiegend unter
chronologischem Gesichtspunkt. Die berechtigten, gegen diese Mothode
zu erhebenden Bedenken dürften bei näherer Einsicht die vorliegende
Untersuchung nur in geringem Masse treffen. Denn niemals ist mir aus
dem Sinn gekommen, dass Kant nur aus dem Ganzen, der systematischen
Totalauffassung seines Systems voll und ganz begriffen werden kann, und
dass an der Unzulänglichkeit oder prinzipiellen Verkehrtheit dieser syste-
matischen Gesamtauffassung notwendig jede auch noch so eingehende
historische Darlegung scheitert.
Als durch meine Untersuchung festgestellt glaube ich folgende
Punkte ansehen zu dürfen :
In ihrer historischen Entwickelung führt uns die Lehre von der
Sinnlichkeit bis in die vorkritisch-dogmatische Periode der Entwickelung
Kants, speziell bis in die „Allgemeine Xaturgeschichte und Theorie des
Himmels" und die Dissertation „Principiorum primorum cognitionis meta-
physicae nova dilucidatio" zurück. Unter dem Einfluss des dogmatischen
Rationalismus der Wolffischen Schule ist daselbst die Auffassung Kants
von dem Wesen und der Eigentümlichkeit der Sinnlichkeit noch vor-
wiegend eine dogmatisch-intellektualistische, d. h. Sinnlichkeit und Ver-
stand stehen sich nicht als qualitativ, sondern nur quantitativ und graduell
verschiedene Vermögen gegenüber, und zwar ist der Unterschied von
Sinnlichkeit und Verstand ein derartiger, dass der Sinnlichkeit nur eine
dunkle und verworrene Auffassungsweise, dem Verstand dagegen eine klare
und deutliche Erkenntnisweise des Wesens der Dinge auf dem Wege einer
Aufklärung des in den Sinnen zunächst nur verworren Gegebenen zuer-
kannt wird. Diese einseitig rationalistische Auffassung Kants ändert sich
in den Schriften der vorkritisch-empiristischen Periode, in welcher Kant
unter dem Doppeleinfluss des Wolffischen Rationalismus und des englischen
Empirismus entschieden zu der Ansicht eines qualitativen Getrenntseins
von Sinnlichkeit und Denken, Gefühl und Erkennen gelangt. Diese Ein-
sicht in die qualitative Differenz der oberen und unteren, theoretischen
und praktischen Seelenvermögen ist auch für die kritischen Schriften
Kants seit dem Jahre 1770 massgebend geworden, indes mit der Umge-
staltung, dass in der Dissertation von 1770 vermittels der Einsicht in die
Apriorität des Raumes und der Zeit die bloss psychologisch-qualitative
Differenz der sinnlichen und intellektuellen Erkenntnisvermögen in die
qualitativ-transscententale Differenz der sinnlichen und intellektuellen Er-
kenntnisarten umgewandelt und in der Kritik der reinen Vernunft diese
Verschiedenheit unter ausdrücklicher Beschränkung auch des kategorialen
Verstandesgebrauchs auf die Gegenstände der uns möglichen Erfahrung
ausschliesshch dem Unterschied von Receptivität und Spontaneität gleich-
gesetzt wird. Dieser Unterschied ward von Kant nun auch in die Kritik
der praktischen Vernunft herübergenommen, in dieser aber wesentlich da-
durch zu Ungunsten der Sinnlichkeit verändert, dass das Verhältnis von
Sinnlichkeit und Verstand, resp. Vernunft immer mehr im Sinne eines
Wertverhältnisses beurteilt und demgemäss das Ansehen der Sinnlichkeit
als solcher, zumal bei dem Mangel apriorischer. Prinzipien, immer mehr
verringert wird. Eine höhere Wertschätzung der Sinnlichkeit macht sich
dagegen wiederum in dem dritten Hauptteil des Kantischen Systems, der
Ästhetik, geltend. Die Stellung der Sinnlichkeit oder des ästhetischen
Gefühls lässt sich hier als eine Mittelstellung zwischen der erkenntnis-
theoretischen Wertbedeutung der Sinnlichkeit im Theoretischen und der
ethischen Wertbedeutung der Sinnlichkeit im Praktischen bezeichnen, in-
sofern die Sinnlichkeit im Theoretischen a priori objektive, die Sinnlich-
keit im Ästhetischen a priori subjektive, die Sinnlichkeit im Ethischen
586 Selbstanzeigeu (Guastella).
hmgegen bloss empirische und pathologische Elemente in sich hat. Viel
geringer als in der Ästhetik wird dagegen die Sinnlichkeit wiederum in
der Kantischen Religionsphilosophie bewertet und dem sinnlichen Trieb-
leben in der absoluten Unterordnung unter das willkürlich in das Kautische
System eingeführte Prinzip des Radikal-Bösen notwendig ein wenn nicht
absolut, so doch relativ unmoralischer Charakter zuerkannt. Andererseits
ist es gerade die Kantische Religionsphilosophie, welche zwar nicht in
praktischer, aber doch in theoretischer Hinsicht der Sinnlichkeit eine hohe
und edle, befreiende und befriedigende Fähigkeit und Wirkung zuge-
schrieben hat — die Fähigkeit, die an sich theoretisch unbeweisbaren,
aber praktisch gültie:en Ideen der reinen Vernunft in symbolischer Weise
darzustellen und durch eben diesen symbolischen Anthropomorphismus das
an sicli unfassbare Transscendente und Absolute dichterisch zu verklären.
Psycholog:ischen und logischen Untersuchungen ist endlich der letzte Ab-
schnitt der Untersuchung gewidmet und in einem Anhang die Lehre von
der Sinnlichkeit in den von Kant nachgelassenen Schriften beliandelt, die
freilich die bisher gegebenen Bestimmungen weniger erweitern als be-
stätigen.
Halle a. S. Felix Kuberka.
Guastella, Cosmo, Professor der theoretischen Philosophie an der
Universität Palei*mo. Saggi sulla teoria della conoscenza. Saggio
secondo: Filosofia della Metafisica. Parte prima: La causa effi-
ciente. Palermo, Remo Sandron, 1905. Tomo I, 762 p. Torao H, 472 -\-
CCXXVI 4- 349 p.
Was die allgemeine fast unvermeidliche Tendenz des menschlichen
Geistes nach metaphysischen Auffassungen erklärt, ist die in der ganzen
Geschichte des metaphysischen Denkens hervortretende Beständigkeit be-
stimmter allgemeiner Typen, auf welche man alle die verschiedensten Auf-
fassungen zurückführen kann; diese Auffassungen sind Entwickelungen
gewisser jeder Metaphysik gemeinsamerGrundbegriffe, die, obgleich sie keinen
objektiven Wert haben, naturgemäss als an und für sich evident angenommen
werden. Diese Grundbegriffe, auf welchen die Metaphysik beruht, sind,
wie überhaupt jeder Grundbegriff, das Ergebniss der Erfahrung: sie sind
Ergebnisse unbewusster Schlüsse, welche, da sie sich uns unwiderstehlich
aufdrängen, und wir der Schlüsse, deren Ergebniss sie sind, nicht bewusst
werden, als Sätze anschaulicher Evidenz betrachtet und als solche ange-
nommen werden. Gewinnt man nun das Bewusstsein des unbewussten
Schlussprozesses, woraus jene Grundbegriffe entstehen, so sieht man sofort,
dass diese Ergebnisse ungiltig sind und dass ihnen deshalb kein objektiver
Wert zukommt. Unbewusste Schlüsse, die sich uns fast unwiderstehlich
aufdrängen (Sophismen a priori), sollen auf einer möglichst grossen Zahl
von Erfahrungen beruhen : die allgemeine Formel also, welche alle unbe-
wussten Schlussprozesse, d. h. alle Sophismen a priori oder natürliche
Sophismen unseres Geistes, woraus die Grundbegriffe der Metaphysik ent-
stehen, zusammenfasst, ist: die Tendenz, alle Erscheinungen und alle unsere
Ideen über Erscheinungen denjenigen Erscheinungen und Ideen gleichzu-
setzen, die uns am meisten vertraut sind. Die ,,Pliilosophie der Metaphysik"
hat also zu zeigen, erstens wie alle metaphysischen Auffassungen Ent-
wickelungen bestimmter von allen Menschen instinktmässig angenommener
Grundbegriffe sind, welche, sozusagen, einen Teil des gemeinen Menschen-
verstandes bilden, und zweitens wie alle diese Grundbegriffe aus jener
sophistischen, unserem Geist anhaftenden Evidenz entstehen, von der oben
die Rede war. Sie hat also einen doppelten Zweck, l. Die Thatsachen zu
erklären, die die Geschichte der Metapln'sik uns darbietet, 2. zu zeigen,
dass die Metaphysik keinen objektiven Wert hat, da ihre Grundbegriffe
derart sind, diss man sie annehmen darf, nur soweit sie als an und für
sich selbst evident betrachtet werden, sieht man aber einmal, dass ein
unbewusster Schluss diesen Grundbegriffen zu Grunde liegt, so erkennt
man sofort, dass sie natürlich Täuschungen unseres Geistes sind.
Selbstanzeigen (Guastella). 587
Der erste Teil der „Philosophie der Metaphysik" (der zweite und
der dritte sind noch nicht erschienen) behandelt den wichtig'sten der Grund-
begriffe der Metaphysik, nämlich den Begriff der wirkenden Ursache
(causae efficientis) und diejenige metaphysischen Lehren, die Anwendungen
und Entwickelungen dieses Begriffs sind. Die wirkende Ursache (die Ur-
sache im metaphysischen Sinne) unterscheidet sich in drei Hauptpunkten
vom einfachen Antezedens einer unveränderlichen Succession (der Ursache
im wissenschaftlichen Sinn^: 1. bei einer unveränderlichen Succession
scheint uns die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung geheimnisvoll,
während bei der wirkenden Ursache diese Verbindung von sich selbst er-
klärlich und vollständig begreiflich sein soll, ohne dass der Frage nach
dem Warum Platz gemacht wird, wie das bei der unveränderlichen Suc-
cession der Fall ist. 2. Die einfachen unveränderlichen Successionen weixlen
von uns angenommen (um den Ausdruck von Baco zu brauchen) als von
der Erfahrung uns geoffenbarte Glaubenssätze; bei der wirkenden Ursache
soll man dagegen die Fähigkeit der Ursache, die Wirkung hervorzubringen,
durch den einfachen Vergleich der Ideen der gegebenen Ursache und der
gegebenen Wirkung a priori erkennen. H. Bei der wirkenden Ursache soll
die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung notwendig sein: bei
einer unveränderlichen Succession scheint uns diese Verbindung dagegen
zufällig und fast willkürlich.
Das Prinzip der wirkenden Ursache (nämlich dass jede Erscheinung
nicht einfach ein Vorhergehendes, welchem sie unveränderlich folgt, sondern
eine wirkende Ursache hat) ist der unbewusste Schluss aus den Erfahrungen
der gewöhnlichsten Causalverhältnisse (z. B. die freiwillige Handlung und
die Bewegung durch Stoss '. Bei diesen gewöhnlichsten Causalverhältnissen
scheint uns infolge der Gewöhnlichkeit selbst die Verbindung zwischen
Ursache und Wirkung an und für sich klar evident (a priori) und not-
wendig zu sein. Wegen der natürlichen Tendenz, alle Erscheinungen den-
jenigen gleichzusetzen, die uns die gewöhnlichsten sind, folgt, dass wir
(durch einen unbewussten Schluss) dass Prinzip annahmen: jede Erscheinung
soll ihre Ursache haben, welche nicht nur ein Vorhergehendes ist, welchem
sie unveränderlich folgt, sondern die mit der Wirkung in einer sich selbst
erklärenden Verbindung steht, an der nichts Geheimnisvolles für uns ist,
die vielmehr aus sich selbst erkennbar und notwendig, d. h. eine wirkende
Ursache ist. Die Analyse dieses unbewussten Schlussprozesses, woraus die
Idee der wirkenden Ursache entsteht, zeigt uns, dass diese Idee keinen
objektiven Wert hat, und nichts anderes als eine natürliche Täuschung
unseres Geistes ist.
Die „Philosophie der Metaphysik" untersucht weiter die allgemeinen
Typen, auf welche man fast alle die metaphysischen Lehren, welche die
wirkende Ursache betreffen, zurückführen kann, und erklärt deren Ur-
sprung, indem sie bei ihnen die verschiedenen Anwendungen zeigt, die
der menschliche Geist mehr oder weniger spontan von diesem Begriffe
macht. Diese allgemeinen Typen sind die folgenden : die verschiedenen
Formen des Anthropomorphismus, nämlich: die theologische Philosophie,
der Animismus (in dem Sinne, den dieses Wort in der Geschichte der
biologischen Hypothesen hat), der Hylozoismus, der Panpsychismus (der
sich vom Hylozoismus dadurch unterscheidet, dass er die Materie einfach
als Erscheinung und den Geist als das entsprechende Ding an sich be-
trachtet), und der Idealismus (der die Dinge für Vorstellungen hält und
in ihnen ganz oder teilweise das Ergebnis der Denkthätigkeit sieht); die
impulsionistische Philosophie (die alle physischen Vorgänge auf einen Stoss
zurückführt); die Lehre des Unerkennbaren f deren eine Form der Begriff
der Kraft ist); die aprioristische Philosophie (d. h. jene philosophische
Methode, welche die Wirklichkeit a priori erkennen willj; der dialektische
Realismus, welcher die Abstraktionen als Realität betrachtet und diese
hypostasierten Abstraktionen nach einer besonderen Form der Methode
a priori ableitet (Plato, Spinoza, Hegel etc.). Die Philosophie der Meta-
588 Selbstanzeigen (Guastella),
physik hat gleichzeitig zwei Zwecke (es sind die zwei untrennbaren Seiten
ihrer Erklärung^ 1. den Ursprung dieser Systeme zu erkennen und 2. ihre
trügerische Natur zu zeigen.
Zum zweiten Bande gehören ein Anhang vmd vier Supplemente.
Der Anhang besteht aus zwei Kapiteln: der erste handelt von denjenigen
philosophischen Lehren, die Anw^endungen und Entwickelungen eines
Grundbegriffes sind, der in der folgenden Weise formuliert werden kann:
niJiil orliur, nihil intcrit, und zeigt, wie dieser Begriff aus dem Sophisma
a priori unseres Geistes entsteht: aus der Tendenz alle Erscheinungen
denjenigen, die uns die gewöhnlichsten sind, gleichzusetzen. Das zv^eite
Kapitelliandelt vom Animisraus (als Substantialisierung der Seele) in seinen
verschiedenen Formen, und erklärt ihn durch denselben unbewussten
Schluss, wodurch die Lehren des ersten Kapitels erklärt wurden.
Das erste der Supplemente ist ein Zusatz zimi zweiten Kapitel des
Anhangs und behandelt die Lehre von Rosmini über die Substanz der
Seele (eine der fundamentalen Lehren dieses Philosophen); die anderen
drei Supplemente vollenden die im Kapitel „Dialektischer Realismus" ent-
haltene Darstellung des platonischen Systems, da die Verschiedenheit, und
ich wage hinzuzufügen, die Wertlosigkeit der gewöhnlichen Interpreta-
tionen dazu zwingt, seinen wirldichen Sinn auf der Grundlage genügender
Beweise klarzustellen.
Die „Philosophie der Metaphysik" knüpft an Kant mehr wegen der
transscendentalen Dialektik an als wegen der Analytik. Ihr Gegenstand
ist wesentlich identisch mit demjenigen der transscendentalen Dialektik.
Der Unterschied besteht vor allem darin, dass der Verfasser einer Methode
zu philosophieren folgt, die ganz und gar empirisch ist. Deshalb sieht er
in den Grundbegriffen der Metaphysik keine reinen oder apriorischen
Ideen und leitet sie nicht wie Kant von der Konstitution unserer Ver-
nunft ab, sondern, wie alle unsere Ideen aus der Erfahrung und aus den
Gesetzen der Assoziation. Der Grundgedanke Kants, die Metaphysik sei
das Ergebnis natürlicher Täuschungen unseres Geistes, führt, wenn er
durch Anwendung der empirischen Methode entwickelt wird, naturgemäss
zur Idee, die Metaphysik aus der Tendenz abzuleiten, alle Erscheinungen
und alle unsere Ideen denjenigen Erscheinungen und Ideen, die uns die
gewöhnlichsten sind, gleichzusetzen. In der That kann eine natürliche
Täuschung unseres Verstandes nichts anderes sein als der Schein einer für
sich selbst evidenten Wahrheit; diese aber ist nach den Prinzipien des
Empirismus nichts anderes als ein unbewusster aus einer unendlichen Zahl
von Erfahrungen gezogener Schluss. So ist schliesslich die wahre und un-
sterbliche Seite der Kantischen Kritik ihr Empirismus, die Beschränkung
jeder möglichen Erkenntnis auf das Gebiet der Erscheinungen: die andere
Seite, welche im Widerspruch mit der ersteren ist, nämlich der Idealismus
(der Anspruch, die allgemeinsten Gesetze der Erscheinungen aus der Thätig-
keit des Denkens abzuleiten), ist nichts als eine der vom transscendentalen
Schein unserer Vernunft angenommenen Formen.
Palermo. Cosmo Guastella.
Mitteilungen. 5^9
Mitteilungen.
KantgescUschaft.
Die allgemeine Mitglieder-Versammmlung (General-Ver-
sammlung) im Jahr 1905 hat statutengemäss am 22. April, Nachmittags
6 Uhr, in den Räumen des Kuratoriums der Universität Halle statt-
gefunden.
Der unterzeichnete Geschäftsführer gab Rechenschaft über die lau-
fenden Einnahmen und Ausgaben des Jahres 1904, sowie über den Stand
der Kantstiftung, nach Massgabe des schon im Heft 1 und 2 des Bandes X,
S. 237 — 243 abgedruckten Rechenschaftsberichtes über das Geschäftsjahr
1904. Dieser Rechenschaftsbericht ist mit dem am 1. März 19U5 erschie-
nenen, obengenannten Hefte sämtlichen Jahre.s-Mitgliedern, sowie in Se-
paratausgabe sämtlichen Dauer-Mitgliedern zugesandt worden. Gleichzeitig
erhielten die Letzteren eine vornehm ausgestattete Dauer-Mitgliedskarte mit
der Silhouette Kants überreicht.
Dem Geschäftsführer ist Entlastung erteilt worden.
Der Geschäftsführer machte sodann Mitteilung über den Stand der
„Kantstiftung", für welche seit Abschluss des Rechenschaftsberichtes pi'tj
1904 unterdessen noch fernere Zuwendungen eingegangen waren. Da die
Sammlungen für die Kantstiftung noch fortgesetzt werden, so wird über
diese Vermehrung unseres Stiftungskapitals im Laufe des Jahres 1905 im
nächsten Rechenschaftsbericht Mitteilung gemacht werden.
Hierauf fand die Neuwahl derjenigen Vorstandsmitglieder statt,
welche durch die Generalversammlung zu erneuern sind. Ihre Wiederwalil
erfolgte einstimmig.
Auf Antrag des Geschäftsführers wurde ferner einstimmig be-
.schlossen, den Herrn Stadtrat a. D. Professor Dr. Walter Simon iu
König'sberg i. Pr. wegen seiner hervorragenden Verdienste
um die Kantgesellschaft zum Ehrenmitglied zu ernennen, imd
ihm diese Ernennung in einer künstleriscn ausgestatteten Adresse
mitzuteilen.
Vorher hatte die Versammlung folgenden Zusatz zu den Statuten
beschlossen :
§ 9, Absatz 2: „Die Mitgliederversammlixng kann für besondere
Verdienste die Ehrenmitgliedschaft der Kantgesellschaft verleihen". Die
Ehrenmitglieder sollen, wie als Zusatz zu § 11, Absatz 1 beschlossen
worden ist, die Zeitschrift der Gesellschaft auf Lebenszeit unentgeltlich
und portofrei zugesandt bekommen, soweit sie nicht die Zeitschrift bereits
aus anderen Gründen erhalten.
In unmittelbarem Anschluss an diese Generalversammlung fand eine
Vorstandssitzung statt. Es wurde beschlossen, den Preis für die von
der Gesellschaft gestellte Preisaufgabe („Kants Begriff der Erkenntnis,
verglichen mit dem des Aristoteles") von 500 Mk. auf 600 Mk. zu erhöhen,
sowie einen zweiten Preis von 400 Mk. auszuwerfen. Mit diesem Beschluss
wurde einem Wunsche des Ehrenmitgliedes Prof. Dr. Walter Simon
Rechnung getragen, welcher eine erneute Spende von wiederum Eintausend
Mark zu unserer Kantstiftung mit dieser dankeswerten Anregung be-
gleitet hatte.
Halle a. S., im August 1905.
Prof, Dr. Yaibiuger,
Geschäftsführer der „Kantgesellscliaft".
590 Redaktionelles.
Redaktionelles.
Mit Bezug: auf das von den KSt. (X, 210 ff.) gebrachte Referat über
seine Schrift („Kants Revolution.sprinzip [Kopernikanisches Prinzip]") erklärt
uns Herr Amtsgerichtsrat Marcus : er wolle seinen im „Gesetz von der
Erhaltung des dynamischen Charakters" gegebenen Beweis für einen voll-
kommen neuen, auch mit dem Kantischen keineswegs identischen Beweis
angesehen wissen. „Ich behaupte also," schreibt Herr Amtsgerichtsrat
Marcus: „1. es gab neben dem Kantischen Beweis keinen zweiten Beweis
für die Centralthese, i) daher ist der von mir gelieferte Beweis schlechthin
neu. 2. Niemand liat bisher das Gesetz von der Erhaltung des dynamischen
Charakters formuliert. Ich bin der Erste und die Formulierung ist schlecht-
hin neu."
Da es sich, wie Herr Amtsgerichtsrat Marcus weiter bemerkt, „nicht
um Urteile über seine Leistung, sondern um ihren Inhalt und ihre
Priorität" handelt, gewähren wir seiner Erklärung hier gerne Raum.
U. E. hat auch der Herr Referent nicht das Eigentümliche der Marcus-
schen Beweisführung und Formulierung bestritten, sondern nur den prin-
zipiellen Grundgedanken für „nicht ungemein neu" erklärt. Im übrigen
müssen wir unsere Leser auf die Schrift selbst und nochmals auf das Re-
ferat verweisen, da wir auf die Angelegenheit nicht mehr zurückkommen.
Die Redaktion.
1) d. i. „die These, dass die Grundsätze und Kategorien die Be-
dingung der Möglichkeit der Erfahrung seien".
Das Bild von Karl Rosenkranz,
das wir diesem Doppelhefte als Beilage zu dem Artikel von Dr. M. Runze
hinzufügen, ist nach dem Original-Ölgemälde angefertigt, das im Fakultäts-
zimmer des Königsberger Universitätsgebäudes hängt. Herr Geh. Reg.-
Rat Professor Dr. Julius Walter in Königsberg hatte die Freundlichkeit,
dem Verfasser des Artikels eine photographische Platte des Bildes zu be-
Kantbibliographie.
Wir suchen eine geeignete Persönlichkeit, welche gegen ange-
messenes Honorar die auf Kant bezüglichen Publikationen nach dem
Muster der im VII. Bande 8, 476-500 abgedruckten „Kantlitteratur"
für un.s bibliographiscli zusammenstellt. Nälieres durch Privatdozent
Dr. B. Baucli, Halle a. S., Göbenstrasse .ö.
Die Redaktion.
Iledaktionelles.
591
I
Rudolf Rcickc
t
Unmittelbar vor Schhiss der Redaktion dieses
Heftes erhalten wir die schmerzliche Nachricht vom
Hing-aug- unseres Mitherausgebers,
Professor Dr. I^udolf Rgbc^c,
Oberbibliothekar a. D.
Nachdem er am 5. Kebruar d. J. seinen 80. Geburtstag-
gefeiert hatte, ist er nun am 16. Oktober nach langen,
schweren Leiden von uns geschieden. Was er der
Kautwissenschaft gewesen ist, das wissen Alle, die sich
mit Kant beschäftigen. Durch die Herausgabe seiner
„Kantiana" im Jahre 1860 hat er das archivalische
Studium des Lebens und der Persönlichkeit Kants be-
gründet, das er als jahrzehntelanger Redakteur der
„Altpreussischen Monatsschrift" durch eigene und
fremde Beiträge förderte. In dieser Zeitschrift hat er
auch Kants Opus Postumum veröffentlicht, das noch
immer unausgeschöpft ist; ebenso die Losen Blätter
aus Kants Nachlass, welche zahllose Juedita ent-
halten, darunter fundamental wichtige Dokumente zur
Entwickeluug des Kritizismus. vSeiu Lebenswerk war
endlich die Herausgabe von Kants BriefAvechsel in
der Berliner Akademieausgabe, durch den uns viele neue
C^uellen erschlossen worden sind, dessen Schlussband er
aber leider doch nicht mehr selbst erleben sollte.
Die Wissenschaft betrauert in ihm einen Forscher,
dessen selbstlose Hingabe an die Sache für alle Zeiten
mustergültig ist; seine Freunde betrauern in ihm den
charaktervollen, zuverlässigen, hilfsbereiten Mann von
hoher, adeliger (Besinnung.
592 Redaktionelles.
An
die Mitglieder der „Kantgesellschaft''
uud
die Abonnenten der „Kantstudien''.
Dieser Band der „Kantstudien" enthält
ausser den üblichen 4 Heften ausnahms-
weise noch ein fünftes Heft.
Diese Überschreitung des gewöhnlichen
Umfanges von ca. 30 Bogen um 7 — 8 Bogen
ist notwendig geworden durch die Ein-
schiebung unseres Schillerfestheftes zum
9. Mai 1905.
Die beträchtlichen Mehrkosten des
Schillerheftes trägt nicht die Verlagsbuch-
handlung, welche kontraktlich nur zu 30
Bogen pro Band verpflichtet ist, sondern
die Kautgesellschaft, welche sonach
mit dem Schillerfestheft ihren Mitgliedern
(und damit auch den gewöhnlichen Abon-
nenten der „Kautstudien") ein besonderes
Geschenk zu machen in der Lage ist, durch
das sie sicherlich allen Freunden der Kan-
tischen Philosophie, deren Prophet Schiller
gewesen ist und für alle Zeiten sein wird,
eine hohe Festfreude bereitet hat.
Prof. Dr. Vaihinger.
• • •
Sach-Register.
Abartimg 522.
Abbildstheorie 139.
Aestbetik 188 ff. 288. 582.
Affektion 232.
Ahnen, das 577.
Allegorie 336.
AUgemeingültigkeit 362.
Analogien der Erfahrung 51. 211.
Anartung 522 f.
Anerbung 522 f.
Anerkennungsnotwendigkeit 362.
Anmut 273. 358.
Anschauung 48. 191. 211.
Anthropologie 117. 499 ff.
Anthropomorphismus 17 f. 467.
Antinomie 113. 204. 304.
Antithetik 113.
Anziehungssphäre 438.
Apperzeption 48.
a priori 92 ff. 132.
Atomtheorie 190 ff. 200 ff.
Attraktion 422 ff. 437. 459. 481.
Aussenwelt 45.
Autonomie 62. 142. 354. 401.
Begriff 311.
Bewusstseinsinstanzen 401.
Bewusstsein überhaupt 136. 401.
Beziehungskategorie 139.
Böses Prinzip 215.
Centralbewegung 429.
Chaos 435. 455.
Charakter 273. 368 ff. 378.
Christentum 204.
Kantstudien X.
Darwinismus 63.
Dialektik 555.
Ding an sich 49. 55.
Dingkategorie 139.
Dogmatismus 64.
Ehe 313 ff.
Einbildungskraft 384.
Empfindung 177.
Empirismus 57.
Energie 201. 569.
Entelechienlehre 234.
Entwickelung 30. 225. 540 ff.
Epicureismus 258.
Erfahrung 207 f. 211.
Erhaben (d. Erh.) 77 f. 358. 408.
Erkenntnistheorie 53. 121. 132. 264 f.
Erscheinung 315.
Ethik 59 ff. 82. 121.
Eudämonismus 194. 305. 354.
Freiheit 93. 163 ff.
Freimaurerei 386 ff.
Gegenstand 45 ff. 52 ff.
Genie 76. 185.
Geographie 1—48. 417—548.
Geschichte 297.
Geschmack 185 f. 334.
Gesellschaft 171. 255.
Glauben 577. 579 ff.
Glückseligkeitsproblem 363. 387.
Gottesbegriff 32. 100. 422.
Grazie 308.
39
594
Grenzbegriff 54. 303.
Gutes Prinzip 215.
Harmonie 279.
Heautonomie 357 f. 405.
Hedonismus 85.
Heteronomie 65.
Humanität 178. 298. 391.
Hylozoismus 528.
Register.
400.
Ideal, das I. 130.
Idee 142. 291. 303. 311.
Identitätsphilosophie 400. 577
Individualismus 143.
IndividuaUtät 140 f. 176.
Individuum 171. 350.
Intelligibel 2. 166. 369.
Kartographie 10.
Kategorien 50 f. 171 f. 297. 332.
Kategorischer Imperativ 66 ff. 121 f.
133. 309.
Keim 522.
Klassizismus 259.
Kosmogonie 419 ff. 464.
Kraft 37.
Kritizismus 83.
Kultur 258. 266. 305. 399. 410.
Kunst 257.
Naturbeschreibung 225.
Naturgeschichte 225.
Naturwissenschaft 115.
Nooumenon 563.
normatives Bewusstsein 69. 4u9.
Objektivität 46 ff.
Offenbarung 24. 170.
Optimismus 79.
Organismenlehre 519 ff.
Pädagogik 90. 119. 178 ff.
Person Hchkeit 121. 135.
Pessimismus 79. 258.
Pflicht 65.
Phänomenon 563.
Physikotheologie 234. 475.
Pietismus 167.
Planetensystem 437 ff.
Postulat 272.
Protestantismus 114. 142 f.
Rasse 225. 503. 515.
Rationalismus 120. 143. 168.
Raum 38. 50 f. 133. 170.
Realisierungsnotwendigkeit 362.
Realismus 51.
Reformation 25.
Religion 86 ff. 134. 167. 282.
Renaissance 25.
I
I
liBgalität 409.
Repulsion 422. ,
Rigorismus 195. 309.
Manier 325.
Romantik 82. 141. 403.
Materialismus 134. 175.
377.
Materie 37. 201 ff. 265.
427.
580 f.
Sceptizismus 64. 89.
Mathematik 115. 172 f.
193.
200.
Schematismus 332.
Mechanik 422 ff. 469.
„Schöne Seele" 273. 318. 368. 408. •
Mechanismus 34. 171.
Schönheit 280. 402 f. 408 f.
Menschheit 298. 366 ff.
Schöpfung 120.
Metageometrie 191.
Schöpfungsberichte 24.
Metaphysik 97. 264 f.
Schöpfungscentrum (mechanisches)439.
Monismus 117.
Seismologie 485 f.
Motiv 164.
Sentimentalische, das 316.
Sinn, der innere S. 578 f.
Nachahmung 325.
Sinnesempfindung 46.
Naive, das N. 316.
Sinnlichkeit 577. 584 ff.
Natur 297.
Sittengesetz 142.
Naturalismus 61 f. 88.
Sozialethik 83.
Register.
595
Sozialismus 134. 143.
Spieltrieb 279. 407.
Spiritualismus 175.
Spontaneität 33. 139. 401.
Staat 365 f.
Stil 325.
Subjektivismus 83, 88.
Substanz 210.
Symbol 291. 331. 335.
Synthesis 113. 208.
Synthetisch 115. 404.
Teleologie 170. 279.
Toleranz 299.
transscendent 48. 170.
transscendental 48. 170.
Transscendentalpsychologie 208, 406.
Trieb 140.
„Überraum" 200.
Ultramontanismus 114.
Unbedingte, das 227.
Unendlichkeitsbegriff 93.
Universum 443. 456.
Unsterblichkeit 94. 113. 312.
Urphänomene 300 ff. 338.
Urteilspsychologie 209.
Urwesen 466. 473.
Verantwortlichkeit 165.
Vernunftgemeinschaft 213.
Vernunftvv^erte 401. 408.
Wahrnehmung 44 ff. 172.
Weltanschauung 26. 118. 345.
Welterklärung (mechanische) 446.
Weltmittelpunkt 453.
Wertbeurteilung 165.
Wertsphäre 363.
Würde 255. 273.
Zeit 50 f. 133. 171.
Zweck 74.
Personen-Register.
Abeken 314.
Abel 374 ff. 381 ff.
Achelis 129.
Addisson 24. 188. 381.468.
Adickes 118.
Aepinus 479.
d'Alembert 498.
Aristoteles 66 f. 85. 145.
218. 482 f.
Arnoldt, 6. 26. 113. 512.
Barth 181.
Bartning 130.
Bauch 59 ff. 69. 116. 130 f.
Baumgarten 187.
Bayle 88 f.
Becmann 6. 23.
Bentham 197.
Bergemann 181.
Berkeley 56. 226.
Bernouilli 97.
Bertius 21.
Blumenbach 508. 524.
Bode 418 f.
Boisseree 289.
Botero 20.
Boyle 14. 483.
Boysen 492.
Bradley 436.
Brentano 205.
Buffon 13. 24. 29. 39. 437.
444. 461. 480. 484. 492.
508 f. 524 ff.
Busse 113. 226.
€arlyle 309.
Carrning 132.
Cassini 22. 436. 449.
Clemens 132.
Clüver 10 f.
Cohen 44. 51. 56. 177.
Comte 209.
Copemicus 13. 50.
Crawford 481.
Crusius 186.
Dalton 492.
Dante 390.
Darwin G. H. 483.
Democrit 219.
Descartes 24, 36. 219. 516.
Dessoir 114. 132.
Deussen 145.
39*
596
Diderot 418.
Dilthey 189.
Drill 132.
Dühring 37.
Eberhard 459.
Egloffsteiu 309.
Eisler 6.
Elgin 326.
Epicur 422.
Erdmann, B. 26. 96 f.
Eucken 81 ff.
Euler 104.
Falckenberg 120.
Ferguson 376. 380.
Fichte, J, G. 60. 64. 86.
194. 198. 227. 276. 281.
353. 399 f. 549.
Fichte, J. H. 87.
Fischer, Kuno 1 ff. 6. 26.
38. 59. 115. 228. 420.
489. 500 f. 512.
Forster 526 f.
Fournier 11.
Frey 96 f.
Fries 577.
Frisi 39.
Fröbel 87.
Frommel 132.
Galilei 24. 220 f.
Garve 102.
Gaultier 204.
Gauss 200 f.
Geliert 309.
Gensichen 420.
Gentil 484.
Gilbert 20.
Goethe 33. 85. 137. 141,
261. 286-346. 390.
Goldschmidt 132.
Goldstein 132.
Graef 313.
Gramzow 181. 220.
Grimm 132.
Günther 463. 490.
Register.
Hadley 490 f. 498 f.
Haller 24. 468.
Hamann 102. 186. 205. 312.
Harnack, 0. 329.
Hartenstein 100.
Hartknoch 102. 205.
V. Hartmann 145.
Haym 558 ff.
Hegel 56. 197 f. 390. 405.
410. 549.
Heinroth 300.
Hellmann 15. 498.
Helmholtz 56. 121. 201.
482. .512.
Helvetius 384.
Hennert 39.
Herbart 113.178.181.196.
549.
V. Herbert 138.
Herder 295. 419.
Herschel 420. 462. 479.
Herz 98. 205.
Hobbes 220.
Höfler 96 ff. 103.
Hoffmann 134.
Hollmann 168.
Home 381 f.
Humboldt, W. v. 263.
Hume 220. 513. 555.
Jacobi 228. 577 f.
Jagemann 392.
Jerusalem 117.
Jodl 117.
Joel 134.
Jurin 12,
Kaestner 104.
Kappstein 134.
Katzer 119.
Kepler 13.
Kircher 483.
Kleinpeter 135.
Klopstock 24. 187.381. 468.
Knutzen 3. 24.
Körner, Chr. G. 287. 351.
387. 407.
Kreuscher 1.35.
Kühnemann 123.
liagenpusch 116.
Lambert 97. 104. 418. 462.
Lange, F. A. 407.
Laplace 421. 4h2.
Lasson 135.
Lasswitz 136.
Lavater325. 419.461. 516.
Leibniz 6. 20. 24. 34ff. 268.
Lessing 187. 326.
Leukipp 219.
Lichtenberg 56. 497.
Liebmann 120. 157.
Linne 23. 500 f.
Lipps 123.
Lister 492.
Locke 197. 376.
Lockyer 483.
Lotze 279. 303.
Lucrez 472.
Lulof 23. 29. 492.
Luther 81. 119. 342.
Maier 118.
Martius 120.
Marx 118.
Matthison 334.
Maupertuis 424.
Mercier 324.
Merula 20.
Menzer 96 f. 102.
Messer 44 ff. 49 ff.
Minor 375. 379.
Moleschott 380.
Molifere 384.
Moritz 325 f.
Moscati 515 f.
Müller, F. v. .309.
I^apoleon 311.
Natorp 117.
Newton 20. 23 ff. 34. 38,
104. 380. 418 ff. 427 ff.
444. 461. 468 f. 505 f.
Niethammer 286.
I
I
^.i
Register.
597
Nietzsche 141. 204. 583.
Nyren 448.
V. Oettiiigen 327. 421.
Ortner 137.
Parmenides 218.
Paulsen 6.
Pestalozzi 181.
Platner 380.
Piaton 16. 81.87.220.390.
Ploucquet 376.
Pope 424 f.
Prat 94.
Prevost
Pythagoras 5.
Ralits 490 f. 512.
Raphael 325. 384.
Reccard 97.
Reicke 196.
Reinhold 137.228.400. 526.
Reininger 118. 578 f.
Renouvier 90 ff.
Reuss 138.
Riccioli 10 f. 21 ff.
Rickert 69. 227.
Riehl 6. 121.
Riemann 201.
Robinet 376.
Rosenkranz 286, 305.390.
548 ff.
Rosmini 588.
Rousseaul87.305f. 384.534.
Rudolph 138,
Runeberg 87.
Scheler 138 f.
Schelling 87. 294. 300 ff.
405. 549.
Schiller 4.33.137.249—415.
Schlegel, F. v. 280. 314.
Schleiermacher 194.
Schmid 156. 367.
Schopenhauer 113. 199.
220. 304. 551.
Schubert 492. 548.
Schultze 115. 140.
Seebeck 87.
Shaftesbury 376.
Shakespeare 33. 339.
Siebeck 287.
Simmel 140. 287.
Simon 141.
Socrates 220.
Sömmering 527. 535.
Spencer 181.
Spinoza 24. 145. 295. 300 ff.
Spitzer 117.
Stallo 202.
Stammler 67.
Stäudlin 379.
Steffensen 87.
Stein, Charl. v. 295.
Stein, H. v. 327.
Struve 448.
Swedenborg 455. 461.
Swift 380.
Teske 3.
Thaies 5.
Thomsen 55 f. 125.
Tissot 380.
Tocco 142.
Taihinger 59 f. 104. 551.
585.
Varen 11 ff. 20 ff. 27 ff.
34.39. 120. 475. 484.5051
Volkelt 181.
Vorländer 287.
Wagner, H. L. 324. 375.
Warda 102.
Weltrich 375.
Wieland 306. 526.
Willmann 89 f.
Winckelmann 324 f. 381.
Windelband 6. 38. 59. 121.
138. 163 ff. 545.
Wolf 376.
Wright 24. 34. 423. 446 f.
461 ff. 510.
Xenophanes 218.
Zauper 314.
Zeller 114.
Zelter 342.
Zenker 181.
Ziegler 143.
Zimmermann 379 f.
ZöUner 492. 498. 512.
598
Register.
Besprochene Kantische Schriften.
(Chronologisch.)
Von der wahren Schätzung der leben-
digen Kräfte 26. 34 f. 37 ff. 474.
Untersuchung, ob die Erde in ihrer
Umdrehung um ihre Axe eine Ver-
änderung erlitten habe 7.
Frage, ob die Erde veralte 7.
Naturgeschichte des Himmels 34 f.
43. 417 ff.-462. 470 ff. 550.
Nova dilucidatio 38.
Von den Ursachen der Erderschütter-
ungen 478. 483.
Geschichte und Naturbeschreibung
des Erdbebens 478. 483.
Fortgesetzte Betrachtungen der Erd-
erschütterungen 478. 483. 492.
Geometrie und Metaphysik 38.
Neue Anmerkungen zur Theorie der
Winde 29. 478. 489.
Entwurf und Ankündigung eines Col-
legii der physischen Geographie
26. 478. 499. 514. 519.
Neuer Lehrbegriff der Bewegung
und Ruhe 8.
Begriff der negativen Grössen 470.
Der einzig mögliche Beweisgrund
234. 419 ff. 463. 470 ff. 511.
Beobachtungen über das Gefühl des
Schönen und Erhabenen 76 ff . 186 ff .
Natürliche Theologie und Moral 5.
Von dem ersten Grunde des Unter-
schiedes der Gegenden im Räume 9.
Form und Prinzip der sinnlichen und
Verstandeswelt 2. 98. 464. 563.
Recension von Moskau 515. 578.
Racen der Menschen 514. 576.
Kritik der reinen Vernunft 33. 46 ff.
207 ff. 210. 230 f. 512. 550. 563.
Prolegomena 96 ff. 174. 205 ff. 550.
Idee zu einer allgemeinen Geschichte
in weltbürgerl. Absicht 516. 531 ff.
Recension von Herders Ideen zur
Philosophie der Geschichte 516.
Über die Vulkane im Monde 460. 479.
Begriff einer Menschenrace 521. 584.
Grundlegung der Metaphysik der
Sitten 72. 96 f. 102.
Mutmasslicher Anfang der Menschen-
geschichte 525, 534. 576.
Metaphysische Anfangsgründe der
Naturwissenschaft 96 f. 459.
Teleologische Prinzipien in der Phi-
losophie 516.
Kritik der praktischen Vernunft 71.
145. 272. 384.
Kritik der Urteilskraft 145. 189. 270.
287. 300. 354 ff. 404 f. 530.
Die Religion innerhalb der Grenzen
der bl. Vern. 214. 858. 553. 566.
Einfluss des Mondes auf die Witterung
497.
Über Philosophie überhaupt 366.
Zu Sömmering: über das Organ der
Seele 516. 527. 535 ff.
Metaphysik der Sitten 71. 102. 550.
Streit der Fakultäten 550. 579.
Anthropologie 501 ff. 514. 516. 550.
Logik 550.
Physische Geographie 28. 494 ff. 499 ff.
550.
Lose Blätter 3. 28. 195.
Reflexionen 97.
Briefe 17 f. 160. 352.
Register.
599
Verfasser besprochener Novitäten.
V. Aster 207.
Bargmann 561.
Boucher 200.
Buchenau 224.
Cassirer 224.
Chapman 234.
»öring 230.
Drexler 232.
Dreyer 190.
Duboc 204.
Elsenhans 225.
Erdmann 205.
Eucken 81.
Ewald 573.
Franck 227.
©eisler 575.
Geissler 583.
Görland 177.
Goldschmidt 217.
Grisebach 562.
Guastella 586.
Heim 228.
Heymans 232.
Hönigswald 226.
Janssen 92.
Jerusalem 574.
Kalischer 560.
Kai weit 166.
Kaminsky 573.
Kleinpeter 233.
Knothe 578.
Koppelmann 218.
Krämer 577.
Kuberka 584.
liipsius 229.
Löwenberg 193.
Ludwig 565.
Marcus 210.
Meyer-Benfey 227.
Natorp 180.
Palme 582.
Prat 92.
Richter 579.
Rudolph 580.
Schlapp 185.
Schrader 209.
Schrader 575.
Schultz 580.
Seailles 177.
Sidgwick 182.
Siebert 558.
Siegel 566.
Simmel 170.
Steckelmacher 235.
Stern 561.
Streng 567.
Talentiner 563.
Veronnet 233.
Vorländer 218.
Wandschneider 223.
Wiegler 204.
Windelband 163.
Verzeichnis der Mitarbeiter.
Ascher 92—95.
V. Aster 96—104.205 -207.
209—213.
Bauch 81—92. 207—209.
262—263. 346—373.
Chapman 234—235.
Cohn 286—345.
Döring 2.30—231.
Drexler 232.
Elsenhans 225—226.
Eucken 253—260.
Ewald 583.
Franck 227—228.
600
Register.
Geisler blb—bll.
Geissler 583—584.
Gerland 1—43. 417—547.
Guastella 586—588.
Heim 228—229.
Heymans 232.
Hickson 182— 185.567--57B.
Honigs wald 218—223.226
—227.
Huber 565—566.
Jerusalem 574—575.
Jünemann 156—162.
Kaminsky 573.
Klein 76—80. 412—414.
Kleinpeter 233.
Knothe 578—579.
Kramer 577—578.
Kuberka 563—565. 584—
585.
task 560—561.
Liebmann 249 — 251.
Lipsius 229—230.
Medicus 558—560.
Menzer 185—190.
Messer 163—166. 213—217.
Meyer-Benfey 227.
Palme 582.
Reinecke 200—204.
Renner 59—75. 170-176.
223-225.
Richter, O. 579-580.
Richter, R. 204—205. 217
-218.
Rudolph 580.
Runze 390—391. 548—557.
Schmid261 -285.392—395.
Schrader 566—567. 575.
Schultz 580—581.
Staudinger 44 — 58.
Steckelmacher 235— 236o
Thomsen 193—200.
Troeltsch 166-170.
Taihinger 105—155. 190
'—193. 237—248. 373—
389. 396-397.
Veronnet 233—234.
Vorländer 177—181.
Windelband 398—411.
HoftuchdTuckerei C. A. Kaemmerer & Co., Halle a 8.
B
2750
K3
Bd. 10
Kant-Studien
PLEASE DO NOT REMOVE
SLIPS FROM THIS POCKET
UNIVERSITY OF TORONTO
LIBRARY