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Full text of "Kant und der Sozialismus : unter besonderer Berücksichtigung der neuesten theoretischen Bewegung innerhalb des Marxismus"

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Kant  und  der  * 
*  Sozialismus 

unter  besonderer  Bepücksichtig-ung: 
der  neuesten  theoretischen  Bewegung: 
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KARL  VORLÄNDER 


BERLIN    1900, 
VERLAG  von  REUTHER  &  REICHARD. 


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Kant  und  der  Sozialismus 

unter  besonderer  Berücksichtigung 

der  neuesten  theoretischen  Bewegung 

innerhalb  des 

Marxismus. 


Von 

Dr.  phil  Karl  Vorländer. 

Erweiterter  Sonderdruck  aus  den  „Kantstudien" 


Berlin, 

Verlag  von  Reuther  &  Reichard 
1900. 


Alle  Eechte,  auch  das  der  Übersetzung,  vorbehalten. 


Vorwort. 

Der  Ausgang  des  scheidenden  Jahrhunderts  steht  unter  dem 
Zeichen  des  Sozialismus,  wie  das  Ende  des  18.  unter  dem 
Zeichen  des  Individualismus  (Liberalismus)  stand.  Charakteristisch 
ist  nun,  dass  der  Drang  nach  philosophischer  Vertiefung  und  Be- 
gründung, der  sich  in  beiden  Fällen  bemerkbar  macht,  beide  Male 
an  den  Namen  und  die  Philosophie  Immanuel  Kants  anknüpft. 
Freilich  erfolgt  diese  Anknüpfung  in  wesentlich  verschiedener  Weise. 
Kants  Anhänger  und  Nachfolger  vor  hundert  Jahren  erfassten  zu- 
meist nicht  tief  genug  den  Kern  dessen,  was  Kant  gewollt:  die 
neue  wissenschaftliche  Methode,  die  er  begründet  hat.  Sie  stürzten 
sich  statt  dessen  auf  die  von  ihm  neu  aufgerollten  metaphysischen 
Probleme  und  führten,  die  schlichten  Grundsätze  der  Wissenschaft 
als  nüchtern  verachtend,  ihre  kühnen,  zum  Teil  grossartigen  Ge- 
dankenluftbauten auf,  deren  Zusammenbruch  über  kurz  oder  lang 
unausbleiblich  war.  Anders  der  heutige  oder  Neukantianismus,  den 
eben  jener  um  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  erfolgende  Zusammen- 
bruch der  philosophischen  Romantik  allmählich  wieder  erwachen 
liess.  Bestrebt,  einerseits  die  Grenzscheiden  der  verschiedenen 
Wissenschaften  und  Bewusstseinsgebiete  klar  zu  halten,  und  getrieben 
andererseits  von  dem  Drang  nach  Einheit  und  Zusammenfassung, 
der  sich  gleichzeitig  auch  im  Leben  der  Kulturvölker  erst  auf 
nationalem,  dann  auf  sozialem  Gebiet  immer  stärker  geltend  gemacht 
hat,  sucht  er  v^or  allem  gerade  die  Methodik  Kants  für  die 
Probleme  unserer  Zeit  fruchtbar  zu  machen.  So  haben  wir  denn  bereits 
seit  mehreren  Jahrzehnten  ein  Wiedererwachen  der  Kantischen  Philo- 
sophie auf  erkenntnistheoretischem,  naturphilosophischem,  ethischem, 
religionsphilosophischem  und  ästhetischem  Gebiete  erlebt.  Nur  die- 
jenige Bewegung,  welche  dieser  Methode  zu  ihrer  vollen  Entfaltung 
am  dringendsten  bedürfte,  die  soziale,  hat  sich  bisher  vor- 
wiegend ablehnend  zu  ihr  verhalten:  teils,  weil  ihre  Begründer, 
Marx  und  Engels,  historisch  von  Hegel  ihren  Ausgangspunkt  ge- 
nommen haben,  teils  aber  auch,  weil  die  heutigen  Führer  gegen  den 


Neukantianismus  dessen  Methode,  sie  nicht  kennen,  misstrauisch  sind 
und  ihn  für  einen  Versuch  ansehen,  überwundene  metaphysische 
Ideen  in  den  Sozialismus  einzuschmuggeln.  Erst  in  allerneuester 
Zeit  hat  sich  eine  Annäherung  der  neukantischen  und  der  sozialen 
Bewegung  vollzogen.  Hervorragende  Kantianer  haben  die  kritische 
Methode  auf  das  Gebiet  der  Sozialphilosophie  auszudehnen  und  die 
Kantische  Ethik  zur  Begründung  des  Sozialismus  zu  verwenden  be- 
gonnen; und  dem  gegenüber  hat  sich  von  einer  Seite  her,  von  der 
mau  es  noch  vor  wenigen  Jahren  nicht  für  möglich  gehalten  hätte, 
aus  den  marxistischen  Kreisen  heraus  der  Schlachtruf:  „Zurück 
auf  Kant!"  erhoben,  der  in  Bernsteins  bekannter  Schrift  seinen 
sichtbarsten,  wenn  auch  nicht  gerade  klarsten  Ausdruck  erhalten 
hat.  Unter  diesen  Umständen  glaubt  die  vorliegende  Schrift  einem 
Bedürfnis  entgegenzukommen,  indem  sie  die  Berechtigung  dieser 
neuen  sozial -philosophischen  Bewegung  zu  prüfen  und  zugleich  in 
knappen  Zügen  ein  zusammenfassendes  Bild  des  gegenwärtigen 
Standes  der  Dinge  zu  geben  unternimmt.  Sie  untersucht  zu  dem 
Zwecke  1.  ob  und  inwiefern  der  Sozialismus  ein  Recht  hat,  sich  auf 
Kant  zu  berufen  und  legt  zu  diesem  Behufe  an  der  Hand  zahl- 
reicher, zum  grössten  Teil  noch  nicht  beachteter  Stellen  Kants 
inneres  Verhältnis  zu  den  sozialen  Problemen  der  Gegenwart  dar. 
Sie  entwickelt  2.  die  Stellung  der  Neukantianer  (A.  Lange,  Cohen, 
Stammler,  Natorp,  Staudinger  u.  a.)  zum  Sozialismus  und  die  von 
diesen  Männern  ausgehende  eigenartige  Neubegründung  des  letzteren. 
Und  sie  schildert  3.  nach  einem  kurzen  Blick  auf  die  Begründer 
des  Marxismus,  die  „Rückkehr  zu  Kant"  bei  den  jüngeren  Marxisten 
bezw.  Sozialisten,  wobei  besonders  J.  Jaures  (der  bekannte 
französische  Sozialist),  C.  Schmidt,  E,  Bernstein  und  L.  Wolt- 
mann  eine  nähere  Beleuchtung  erfahren. 


lLs  ist  ein  gutes  Zeichen  von  der  Lebenskraft  und  Fruchtbarkeit 
des  kritischen  Idealismus,  dass  er  nach  mehr  denn  einem  Jahrhundert 
auf  neuen  Gebieten  frische  Wurzeln  treibt.  Nachdem  die  verschiedenen 
philosophischen  Disziplinen,  nachdem  die  Naturwissenschaften,  nach- 
dem die  Theologie  vorangegangen,  schickt  sich  nun  auch  die  mächtigste 
Bewegung  der  Gegenwart,  die  soziale,  an,  in  ihren  theoretischen 
Betrachtungen  den  Weg  zu  dem  Begründer  des  Kritizismus  zu 
suchen.  Auf  der  einen  Seite  haben  die  namhaftesten  Vertreter  des 
Neukantianismus  die  Kantische  Lehre  gerade  nach  der  sozialwissen- 
schaftlichen und  sozialethischen  Seite  hin  immer  entschiedener  auszu- 
bilden begonnen.  Von  der  anderen  Seite  her  antwortet  dem  aus 
Kreisen,  die  sich  bisher  dem  Einflüsse  des  Kritizismus  völlig  ver- 
schlossen gezeigt  hatten,  aus  dem  parteisozialistischen  Lager  heraus 
der  Ruf  „Zurück  auf  Kant!",  sodass  man  fast  —  cum  grano  salis!  —  von 
sozialistischen  Kantianern  und  Kantischen  Sozialisten  reden  könnte. 
Indem  wir  im  Folgenden  ein  zusammenfassendes  Bild  des  Standes  der 
Dinge  zu  entwerfen  versuchen,  entwickeln  wir  zunächst  unsere  eigene 
Auffassung  in  Beantwortung  der  Frage:  Inwiefern  hat  der  Sozialismus 
ein  Recht,  sich  auf  Kants  Lehre  und  Weltanschauung  zu  berufen?^) 
Dabei  sei  von  vornherein  bemerkt,  dass  wir  unter  dem  vieldeutigen 
Worte  Sozialismus  keine  bestimmte  politische  Partei,  mit  der  die 
philosophische  Untersuchung  nichts  zu  thun  hat,  sondern  eine  sittliche 
Weltanschauung  verstehen.  Ferner  interessieren  uns  in  diesem  Zu- 
sammenhange nicht  sowohl  einzelne,    etwa  von  sozialistischer  Seite 


1)  Benutzt  sind  für  einen  Teil  der  zunächst  folgenden  Ausführungen  drei 
von  mir  unter  dem  Titel  „Zurück  auf  Kant!"  veröffentlichte  Artikel  der  Wochen- 
schrift „Ethische  Kultur"  VII,  No.  22,  24,  26  (3.  Juni,  17.  Juni,  1.  Juli  1899). 
Einzelne  Stellen,  an  denen  die  Änderimg  des  Wortlautes  unzweckmässig  er- 
schien, sind  hier  in  derselben  Formulierimg  beibehalten  worden. 


6 

behandelte  Punkte  der  Kantischen  Lehre,  wie  beispielsweise  die  vom 

Ding  an  sich,  als  vielmehr  der  Gesamtzusammenhang,    der,    um    es 

gleich    heraus    zu    sagen,    unseres  Erachtens    auf  dem    Gebiete    der 

Ethik  zu  suchen  ist. 

I. 

Kants  politische  Stellung  ist  noch  wenig,  die  sozialpolitische 
sozusagen  noch  gar  nicht  untersucht  worden.  Soweit  dies  geschehen, 
galt  er  und  gilt  er  wohl  auch  heute  noch  bei  den  meisten  als  Ver- 
treter eines  entschiedenen  und  gleichwohl  mit  einer  gewissen 
monarchisch-konservativen  Gesinnung  gepaarten  Liberalismus  (z.  B. 
Überweg-Heinze  III  1,  238),  dem  in  ethischer  Hinsicht  seine  Stellung 
als  Begründer  einer  rein  individualen  Ethik  entspreche.  Und  in  der 
That,  wenn  wir  z.  B.  sein  politisches  Hauptwerk,  die  Rechtslehre, 
flüchtigen  Blickes  durchmustern,  erscheiut  er  durchaus  als  Befür- 
worter des  blossen  „Rechtsstaats".  Jedes  Mannes  Wirken  ist  eben  durch 
seine  Zeit  bestimmt.  Es  war  nur  natürlich,  dass  Kants  politische 
Philosophie  sich  vor  allem  gegen  den  absolutistischen  Polizeistaat 
und  die  ständische  Gesellschaftsordnung  des  18.  Jahrhunderts  kehrte, 
und  dass  sie  demgemäss  ihr  Centrum  in  dem  Begriff  der  Freiheit 
und  des  Rechtes  fand:  darin  der  grossen  politischen  Umwälzung 
seiner  Tage  verwandt,  die  er  denn  auch  bekanntlich,  ebenso  wie 
die  Gründung  der  nordamerikauischen  Freistaaten,  mit  unverhohlener 
Sympathie  begrüsste.  Zu  einer  Sozialphilosophie  im  modernen  Sinne 
fehlten  damals  noch  alle  Vorbedingungen:  die  Maschinenindustrie, 
die  grossartige  Ausbildung  des  kapitalistischen  Systems,  das  Ent- 
stehen einer  Klasse  freier  Lohnarbeiter  u.  s.  w.  Indessen  ist  Kant, 
wie  schon  August  Oncken  in  seinem  Buche  über  „Adam  Smith  und 
Immanuel  Kant",  Leipzig  1877,  nachgewiesen  hat,  keineswegs  reiner 
Individualist  oder  Manchestermann  gewesen,  sondern  blieb  stets  von 
einem  starken  Staatsgedanken  erfüllt.  Aber  nicht  hier  findet  der 
Sozialismus  seine  unmittelbarsten  Anknüpfungspunkte,  sondern  in  den 
Grundgedanken  der  Kantischen  Ethik. 

Kants  Ethik  ist.  trotz  ihres  scheinbar  individualistischen  Gewandes, 
am   letzten  Ende,   ja    vorzugsweise   Gera  ein  schafts-Ethik.     Nichts 


anderes  aber  ist  der  Sozialismus,  ethisch  verstanden.  Ich  habe  an 
anderer  Stelle  (in  meiner  1893  erschienenen  Dissertation)  entwickelt, 
wie  gerade  aus  der  Eigenschaft,  die  man  dem  Kantischen  Sitten- 
gesetze in  der  Regel  zum  Vorwurf  macht,  aus  seinem  formalen  Charakter 
die  reichste,  unermesslichste  Fruchtbarkeit  entspringt.  Gerade  darin, 
(Jass  es  nichts  weiter  als  das  formale  Prinzip  einer  allgemeinen  G-esetz- 
gebung  sein  will,  liegt  seine  Gemeinschaft  stiftende  Kraft,  erzeugt 
es  in  dem  Gedanken  einer  „systematischen  Verbindung  verschiedener 
vernünftiger  Wesen  durch  gemeinschaftliche  Gesetze"  die  Idee  eines 
Reichs  der  Sitten  oder  Reichs  der  Zwecke.  Freilich  ist  dies  Reich 
,.nur  ein  Ideal"  (Grundlegung  S.  59),  aber  doch  ein  solches,  welches 
„durch  unser  Thun  und  Lassen  wirklich  werden  kann"  (ebd.  S.  62 
Anm.),  konstituiert  durch  die  Idee  der  Menschheit.  Und  aus  dieser 
letzteren  leitet  sich  unmittelbar  jene,  neben  den  anderen  in  der 
Regel  nicht  genug  beachtete,  Formulierung  des  kategorischen  Impe- 
rativs ab,  die  sich  in  der  „Grundlegung  der  Metaphysik  der  Sitten" 
an  dritter  Stelle  (ed.  Kirchmann  S.  53  f.)  findet:  „Handle  so,  dass 
du  die  Menschheit,  sowohl  in  deiner  Person  als  in  der  Person  eines 
jeden  anderen,  jederzeit  zugleich  als  Zweck,  niemals  bloss  als 
Mittel  brauchst."  „Jedes  vernünftige  Wesen",  auch  der  armseligstß 
Tagelöhner,  „existiert  als  Zweck  an  sich  selbst",  ist  keine  Maschine, 
kein  „Mittel  zum  beliebigen  Gebrauch  für  diesen  oder  jenen  Willen" 
(52),  keine  „Sache",  sondern  eine  „Person",  in  der  uns  die  Mensch- 
heit heilig  sein  soll.  Dieses  Prinzip  der  Menschheit  als  Selbstzweck 
niuss  die  „oberste  einschränkende  Bedingung  der  Freiheit  der  Hand- 
lungen eines  jeden  Menschen"  sein  (55).  Kann  die  Grundidee  des 
Sozialismus,  der  Gemeinschaftsgedanke,  einfacher  ausgesprochen, 
deutlicher  verkündet  werden? 

Wie  ernst  es  Kant  aber  mit  der  Verwirklichung  dieses  Ge- 
dankens war,  zeigt  der  Nachdruck,  mit  dem  er  bereits  vier  Jahre 
zuvor  au  einer  bedeutsamen  Stelle  seines  Hauptwerks')  die  grösste 
Konzeption  des  antiken  Sozialismus,  Piatos  Republik,   gegen  die- 


1)   Kr.    d.  r.    V.    S.  319  f.    meiner   kürzUeh   (bei  0.  Hendel,    Halle)   er- 
schienenen Ausgabe  (B  372  f.). 


jenigen  verteidigt  hatte,  die  in  ihr  bloss  das  erträumte  Hirngespinst 
eines  mUssigeu  Denkers  sahen.  Die  Ausführungen  unseres  Philo- 
sophen sind  so  bezeichnend  für  seine  politisch-soziale  Denkart,  und 
auch  heute  noch  „realpolitischer"  Klugthuerei  gegenüber,  die  nur 
mit  den  „Maulwurfsaugen"  der  sogenannten  Erfahrung  zu  sehen  ver- 
mag, so  beherzigenswert,  dass  wir  uns  nicht  enthalten  können,  ihren 
Hauptinhalt  wörtlich  hierher  zu  setzen.  Anstatt  Piatos  Gedanken 
zu  verspotten,  würde  man,  meint  Kant,  .,besser  thun,  ihm  mehr  nach- 
zugehen und  ihn  (wo  der  vortreffliche  Mann  uns  ohne  Hilfe  lässt) 
durch  neue  Bemühungen  ins  Licht  zu  stellen,  als  ihn  unter  dem 
sehr  elenden  und  schädlichen  Vorwande  der  Unthunlichkeit  bei  Seite 
zu  setzen.  Eine  Verfassung  von  der  grössten  menschlichen  Freiheit 
nach  Gesetzen,  welche  machen,  dass  jedes  Freiheit  mit  der  anderen 
ihrer  zusammen  bestehen  kann  (nicht  von  der  grössten  Glückselig- 
keit, denn  diese  wird  schon  von  selbst  folgen),  ist  doch  wenigstens  eine 
notwendige  Idee,  die  mau  nicht  bloss  im  ersten  Entwürfe  einer 
Staatsverfassung,  sondern  auch  bei  allen  Gesetzen  zum  Grunde  legen 
muss,  und  wobei  man  anfänglich  von  den  gegenwärtigen  Hindernissen 
abstrahieren  muss,  die  vielleicht  nicht  sowohl  aus  der  menschlichen 
Natur  unvermeidlich  entspringen  mögen,  als  vielmehr  aus  der  Ver- 
nachlässigung der  echten  Ideen  bei  der  Gesetzgebung.  Denn 
nichts  kann  Schädlicheres  und  eines  Philosophen  Unwürdigeres  ge- 
funden werden,  als  die  pöbelhafte  Berufung  auf  vorgeblich  wider- 
streitende Erfahrung,  die  doch  gar  nicht  existieren  würde,  wenn 
jene  Anstalten  zu  rechter  Zeit  nach  den  Ideen  getroffen  würden  und 
an  deren  Statt  nicht  rohe  Begriffe  eben  darum,  weil  sie  aus  Er- 
fahrung geschöpft  worden,  alle  gute  Absicht  vereitelt  hätten.'' 

Drei  Jahre  später  (1784)  bezeichnet  Kant  in  seiner  ..Idee  zn 
einer  allgemeinen  Geschichte  in  weltbürgerlicher  Absicht-  als  das 
grösste  Problem,  die  höchste  Aufgabe  und  den  letzten  Zweck  der 
,.Menschengattung" :  die  Erreichung  einer  „vollkommen  gerechten 
bürgerlichen  Verfassung"  (ed.  Kirchmann  S.  9),  d.  i.  einer  Gesell- 
schaft, in  der  die  Freiheit  eines  jeden  ihrer  Glieder  nur  durch  die 
Bedingung  ihrer  Zusammenstimmung  mit  der  Freiheit  aller   anderen 


eing-eschränkt  ist/)  eines  Zustandes,  in  welchem  allein  alle  natür- 
lichen Anlagen  der  Menschheit  ihrer  Bestimmung  gemäss  sich  ent- 
wickeln können,  wo  man  nicht  mehr  „Vorteile  geniesst,  um  deren 
willen  andere  desto  mehr  entbehren  müssen. "2)  Allerdings  sei  dieses 
Problem  „zugleich  das  schwerste  und  das,  welches  von  djer  Menschen- 
gattung am  spätesten  aufgelöst  wird";  denn  „aus  so  krummem  Holze, 
als  woraus  der  Mensch  gemacht  ist,  kann  nichts  ganz  Gerades  ge- 
zimmert werden"  (ebd.  S.  10).  Die  unumgängliche  Voraussetzung' 
zu  der  „uns  von  der  Natur  auferlegten"  Annäherung  an  das  bezeich- 
nete Ideal  seien:  1.  „richtige  Begriffe  von  der  Natur  einer  mög- 
lichen Verfassung,"  2.  „grosse,  durch  viel  Weltläufe  geübte  Er- 
fahrenheit," und  „über  das  alles",  3.  „ein  zur  Annehmung  derselben 
vorbereiteter  guter  Wille":  „drei  Stücke",  von  denen  wir  freilich 
mit  Kant  meinen,  dass  sie  sich  „sehr  schwer  und,  wenn  es  geschieht, 
nur  sehr  spät,  nach  viel  vergeblichen  Versuchen  einmal  zusammen 
finden"  werden  (11).  Und  doch  glaubt  er  zu  sehen,  dass  sich 
„dennoch  gleichsam  ein  Gefühl  in  allen  Gliedern,  deren  jedem  an  der 
Erhaltung  des  Ganzen  gelegen  ist,  zu  regen  anfange"  (16).  Das  gebe 
Hoffnung  —  und  wer  von  uns  wäre  so  vermessen  oder  so  resigniert, 
den  tröstenden  Zukunftsglauben  unseres  Philosophen  von  vornherein 
gänzlich  zu  verdammen?  —  dass  „nach  manchen  Revolutionen  der 
Umbildung  endlich  das,  was  die  Natur  zur  höchsten  Absicht  hat,  ein 
allgemeiner  weltbürgerlicher  Zustand,  als  der  Schoss,  worin  alle  ur- 
sprünglichen Anlagen  der  Menschengattung  entwickelt  werden,  der- 
einst einmal  zustande  kommen  werde"  (16  f.). 

Diese  seine  politischen  Grundüberzeugungen  verleugnet  Kant  auch 
in  seinen  späteren  ethischen  und  staatsphilosophischen  Schriften  nicht. 
Immer  wieder  kommt  er  auf  sein  oben  bezeichnetes  Kechts-  und  Staats- 
ideal zurück;  man  vergleiche  insbesondere  die  Abhandlung  über  den 
,,Gemeiuspruch"  von  Theorie  und  Praxis,  den  Aufsatz  „zum  ewigen 
Frieden",  den  „Streit  der  Fakultäten",  die  „Rechtslehre",  auch  eine  Reihe 
von  Stellen  in  R.  Reickes  „Losen  Blättern  aus  Kants  Nachlass". 

1)  Eine  Definition  seines  Staatsideals,  die  sich  in  derselben  oder  in  einer 
ähnlichen  Form  öfters  in  seinen  Schriften  wiederholt. 

2j  Die  letzte  Stelle  findet  sich  Kr.  d.  prakt.  Vernunft  186  A.  (Kehrbach). 


10 

Aus  der  „Kritik  der  Urteilskraft"  wollen  wir  hier  nur  eine 
bedeutsame  Stelle  anführen,  die  an  den  Wert  des  Begriffs  der 
Organisation  auf  dem  politischen  Gebiet  anknüpft.  Ein  Jahr  nach 
dem  Ausbruch  der  französischen  Revolution  schrieb  Kant:  „So  hat 
man  sich,  bei  einer  neuerlich  unternommenen  gänzlichen  Umbildung 
eines  grossen  Volkes  zu  einem  Staat,  des  Worts  Organisation 
häufig  für  Einrichtung  der  Magistraturen  u.  s.  w.  und  selbst  des 
ganzen  Staatskörpers  sehr  schicklich  bedient.  Denn  jedes 
Glied  soll  freilich  in  einem  solchen  Ganzen  nicht  bloss  Mittel,  sondern 
zugleich  auch  Zweck  und,  indem  es  zu  der  Möglichkeit  des 
Ganzen  mitwirkt,  durch  die  Idee  des  Ganzen  wiederum,  seiner  Stelle 
und  Funktion  nach,  bestimmt  sein"  (ed.  Kehrbach  S.  256  Anm.; 
j   vgl.  auch  noch  S.  324  f.  und  S.  339  desselben  Werkes). 

Über  die  Utopien  Jindet  sich  eine  interessante,  bisher,  soviel 
ich  sehe,  noch  nirgends  beachtete  Stelle,  die  den  Standpunkt  von 
1781  dem  Wesen  nach  durchaus  festhält,  in  dem  ,, Streit  der  philo- 
sophischen Fakultät  mit  der  juristischen"  (Streit  der  Fakultäten  ed. 
Kehrbach,  S.  113  Anm.):  ,, Piatos  Atlantica,  Morus  Utopia.  Har- 
ringtons  Oceana  und  Allais  Severambia^)  sind  nach  und  nach  auf 
die  Buhne  gebracht,  aber  nie  .  .  .  auch  nur  versucht  worden  .... 
Ein  Staatsprodukt,  wie  man  es  hier  denkt,  als  dereinst,  so  spät  es  auch 
sei,  [als]  vollendet  zu  hoffen,  ist  ein  süsser  Traum,  aber  sich  [ihm] 
immer  zu  nähern,  nicht  allein  denkbar,  sondern,  so  weit  es  mit  dem 
moralischen  Gesetze  zusammen  bestehen  kann,  Pflicht"  —  freilich  mit 
dem  heute  jedenialls  starker  Opposition  begegnenden  Zusätze:  —  ,, nicht 
der  Staatsbürger,  sondern  des  Staatsoberhaupts";  wie  denn  Kant  in 
der  gleichen  Schrift  die  aufklärende  Stimme  der  ,, freien  Rechtslehrer 
d.  i.  Philosophen"  nicht  „vertraulich  ans  Volk",  „als  welches  davon 
und  von  ihren  Schriften  wenig  oder  gar  keine  Notiz  nimmt"  (!), 
sondern  „ehrerbietig  an   den  Staat  gerichtet"  wissen  will  (S.  109). 

1)  Die  beiden  letztgenannten  Utopien  erschienen  1656  bezw.  1677.  Der 
Verfasser  der  Histoire  des  Sevarambes  heisst  mit  seinem  vollständigen  (Kant 
anscheinend  nach  unbekannten)  Namen:  Devis  Vairasse  d' Allais;  vgl.  über  ihn 
O.  Hugo  in:  Qeschichte  des  Sozialismus  in  Einzeldarstellungen  I,  2  (Vorläufer 
des  neueren  Sozialismus)  S.  821—837,  über  Harrington  und  seine  Oceana 
vgl.  Ed.  Bernstein  ebenda  S.  648—662. 


11 

Andererseits  glaubt  man  fast  einen  modernen  Sozialtheoretiker  zu 
hören,  wenn  man  liest,  wie  Kant  fordert,  „dass  der  Staat  sich  von 
Zeit  zu  Zeit  auch  selbst  reformierend  und,  statt  Revolution  Evolution^) 
versuchend,  zum  Besseren  beständig-  fortschreite"  (113),  nämlich  zu 
einer  ,, republikanischen  Verfassung",  wobei  es  auf  die  Staatsforni 
(die  monarchisch  bleiben  kann)  weniger  ankomme,  als  auf  die 
Regierungsart  „nach  allgemeinen  Rechtsprinzipien"  (S.  107  f.  vgl. 
Lose  Blätter  604 — 606,  674  f.).  Oder,  wenn  man  ihn  ausführen 
sieht,  dass  „die  Natur  der  Dinge  dahin  zwingt,  wohin  man  nicht 
gerne  will:  fata  yolentem  ducunt,  nolentem  trahunt"  (Schluss  der 
Abhandlung  über  den  Gemeinspruch;  vgl.  Lose  Blätter  S.  604). 
Auch  ist  er  kein  Freund  von  dem  „am  Staate  flicken",  wie  es 
„alle  sich  so  nennenden  Praktiker  gewohnt  sind"  (Lose  Blätter 
S.  673),  dieselben  „Politiker",  die  stets  davon  sprechen:  „Man 
muss  die  Menschen  nehmen,  wie  sie  sind,  nicht,  wie  der  Welt  un- 
kundige Pedanten  oder  gutmütige  Phantasten  träumen,  dass  sie  sein 
sollten",  während  sie  sie  doch  selbst  zu  dem,  was  sie  sind  ,, durch 
ungerechten  Zwang,  durch  verräterische,  der  Regierung  an  die  Hand 
gegebene  Anschläge  gemacht  haben",  nämlich  „halsstarrig  und 
zur  Empörung  geneigt"  (Streit  d.  Fak.  S.  99).  Das  Volk  verlange 
von  der  Regierung  nicht  Wohlthätigkeit,  sondern  sein  Recht; 
,,denn  mit  P>eiheit  begabten  Wesen  genügt  nicht  der  Genuss  der 
I  Lebensannehmlichkeit  .  .  .,  sondern  auf  das  Prinzip  kommt  es  an, 
'  nach  welchem  es  sich  solche  verschafft"  (ebd.  106  f.  A.,  vgl.  L.  Bl. 
S.  574  f.).  Das  Rechtsbewusstsein  eines  Volkes  sei  es  denn  auch 
gewesen,  was  den  französischen  Revolutionsheeren  den  Sieg  über 
ihre  Gegner  verliehen  habe,  denn  „wahrer  Enthusiasmus  geht  immer 
nur  aufs  Idealische  und  zwar  rein  Moralische,  dergleichen  der 
Rechtsbegriff  ist"  und  „kann  auf  den  Eigennutz  nicht  gepfropft 
werden"  (a.  a.  0.  106). 

Im  Zusammenhang  hiermit  sei  es  uns  gestattet,  auf  eine  interessante 
Stelle  hinzuweisen,  die  mit  unserem  Thema  zwar  nicht  in  unmittelbarer 


1)  Den    heute    viel    gebrauchten  Ausdruck   entlehnt  Kant,    wie   er  S.  107 
bemerkt,  „Herrn  Erhard"  (dem  als  eifrigen  Verehrer  Kants  bekannten  Philosophen). 


13 

Beziehung  steht,  die  aber  volles  Licht  auf  die  freiheitliche  Gesinnung 
unseres  Philosophen  in. politischen,  sozialen  und  religiösen  Dingen  wirft. 
Sie  findet  sich  in  einer  Schrift,  in  der  man  sie  auf  den  ersten  Blick 
nicht  vermuten  sollte,  und  hat  vielleicht  deshalb  noch  nicht  die  ver- 
diente Beachtung  gefunden:  „Ich  gestehe,  dass  ich  mich  in  einen"  (Kant: 
im)  „Ausdruck,  dessen  sich  auch  wohl  kluge  Männer  bedienen,  nicht 
wohl  finden  kann:  Ein  gewisses  Volk  (was  in  der  Bearbeitung  einer 
gesetzlichen  Freiheit  begriffen  ist)  ist  zur  Freiheit  nicht  reif; 
die  Leibeigenen  eines  Gutseigentümers  sind  zur  Freiheit  noch  nicht 
reif,  und  so  auch  die  Menschen  überhaupt  sind  zur  Glaubensfreiheit 
noch  nicht  reif.  Nach  einer  solchen  Voraussetzung  aber  wird  die 
Freiheit  nie  eintreten;  denn  mau  kann  zu  dieser  nicht  reifen,  wenn 
man  nicht  zuvor  in  Freiheit  gesetzt  w^orden  ist  (man  muss  frei  sein, 
um  sich  seiner  Kräfte  in  der  Freiheit  zweckmässig  bedienen  zu 
können).  Die  ersten  Versuche  werden  freilich  roh,  gemeiniglich  auch 
mit  einem  beschwerlicheren  und  gefährlicheren  Zustande  verbunden 
sein,  als  da  man  noch  unter  den  Befehlen,  aber  auch  der  Vorsorge 
anderer  stand,  allein  man  reift  für  die  Vernunft  nie  anders  als  durch 
eigene  Versuche  (welche  machen  zu  dürfen,  mau  frei  sein  muss). 
Ich  habe  nichts  dawider,  dass  die,  welche  die  Gewalt  in  Händen 
haben,  durch  die  Zeitumstände  genötigt,  die  Entschlagung  von  diesen 
drei  Fesseln"  —  gemeint  ist  die  politische,  wirtschaftliche,  religiöse 
Fessel  - —  „noch  weit,  sehr  weit  aufschieben.  Aber  es  zum  Grund- 
satze zu  machen,  dass  denen,  die  ihnen  einmal  unterworfen  sind, 
überhaupt  die  Freiheit  nicht  tauge,  und  dass  man  berechtigt  sei,  sie 
jederzeit  davon  zu  entfernen,  ist  ein  Eingriff  in  die  Regalien 
der  Gottheit  selbst,  die  den  Menschen  zur  Freiheit  schuf. 
Bequemer  ist  es  freilich,  in  Staat,  Haus  und  Kirche  zu  herrschen, 
wTun  man  einen  solchen  Grundsatz  durchzusetzen  vermag.  Aber 
auch  gerechter?"  (Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft 
ed.  Kehrbach  S.  204  Anm.). 

Auch  die  „Rechtslehre"  endlich  ist  keineswegs  so  rein  indivi- 
dualistisch und  liberalistisch,  wie  man  gewöhnlich  annimmt.  Das 
Recht   wird  als  die  „Möglichkeit  eines  mit  jedermanns  Freiheit  nach 


13 

allgemeinen  Gesetzen  zusammenstimmenden  durchgängigen  wechsel- 
seitigen Zwanges''  vorgestellt  (ed.  Kirchmann  S.  33),  wie  auch  noch 
die  „Anthropologie"  (ed.  1800  S.  324  f.,  vgl.  S.  328  f.)  die  Erziehung 
des  Menschengeschlechtes  zu  einer  „bürgerlichen,  auf  dem  Freiheits-, 
zugleich  aber  auch  gesetzmässigen  Zwangs-Prinzip  zu  gründenden  Ver- 
fassung" ins  Auge  fasst.  Auch  an  das  Problem  der  ursprünglichen 
Bodengemeinschaft,  nicht  als  Faktum,  sondern  als  Idee,  das  Kant  viel 
beschäftigt  hat  f Rechtslehre  S.  55  f.,  vgl.  die  wiederholten  Ansätze  in 
den  Losen  Blättern,  bes.  S.  251  ff.,  293  ff.),  könnte  vielleicht  der 
moderne  Sozialismus  anknüpfen.  So  sagt  Kant  (Rechtslehre  S.  70  f.) : 
,,Der  Besitz  aller  Menschen  auf  Erden,  der  vor  allem  rechtlichen 
Akt  derselben  vorhergeht  (von  der  Natur  selbst  konstituiert  ist),  ist  ein 
ursprünglicher  Gesamtbesitz  (communio  possessionis  originaria), 
dessen  Begriff  nicht  empirisch  und  von  Zeitbedingungen  abhängig 
ist,  wie  etwa  der  gedichtete,  aber  nie ,  erweisbare  eines  ur anfäng- 
lichen Gesamtbesitzes  (communio  primae va),  sondern  ein  praktischer 
Vernunftbegrift,  der  a  priori  das  Prinzip  enthält,  nach  welchem 
allein  die  Menschen  den  Platz  auf  Erden  nach  Rechtsgesetzen  ge- 
brauchen können." 

Indessen  nicht  auf  solche  Ähnlichkeiten  in  Einzelfragen  kommt 
es  an.  Sie  würden  an  und  für  sich  nichts  beweisen,  zumal  da 
Kants  politisches  Ideal,  wie  oben  bereits  bemerkt,  in  erster  Linie 
durch  den  Freiheitsgedanken  bestimmt  bleibt.  Der  wahre  und 
wirkliche  Zusammenhang  des  Sozialismus  mit  dem  kritischen 
Philosophen  ist  vielmehr  in  dem  „rein  Moralischen"  gegründet, 
in  den  —  von  Kant  selbst  praktisch  nicht  immer  gezogenen  — 
Konsequenzen  jener  einfach -erhabenen  Formel  des  kategorischen 
Imperativs,  die  uns  die  Menschheit  in  der  Person  eines  jeden  Mit- 
menschen jederzeit  zugleich  als  Selbstzweck,  niemals  bloss 
als  Mittel  zu  achten  lehrt.  Auf  diesem  Fundamente  muss  der 
Sozialismus  bauen,  wenn  anders  er  überhaupt  nach  einer  ethischen 
Begründung  verlangt.  Und  von  dieser  Seite,  d.  h.  von  Seiten  der 
ethischen  Begründung  aus  lässt  sich  der  Königsberger  Weise  in 
der  That    als    der    betrachten,    zu    dem    ihn  ein,    wohl  auch  nur  in 


14 

diesem  und  nicht  im  engen  historischen  Sinne  gebrauchtes,  kühnes 
Wort  Hermann  Cohens  (s.  u.)  stempelt:  „der  wahre  und  wirkliche 
Urheber  des  deutschen  Sozialismus". 

Woran  lag  es,  dass  Kant  diese  Rolle  geschichtlich  nicht  gespielt, 
dass  vielmehr  an  seiner  Statt  Fichte  dem  philosophischsten  unter 
den  deutschen  Sozialisten  (Lassalle)  als  solcher  erschienen  ist? 
Nun,  zunächst  wohl  daran,  dass  er  seinen  weittragenden  sozialethischen 
Grundprinzipien  keine  systematische  Anwendung  auf  das  praktische 
Gebiet  sozialer  Wirtschaft  gab,  wie  Fichte  es  in  seinem  „Geschlossenen 
Handelsstaat"  wenigstens  versucht  hat.  Ja,  Kant  scheint  in  seinem 
politischen  Hauptwerke,  der  ,, Rechtslehre",  jenen  grundsätzlichen 
ethischen  Standpunkt,  den  der  kategorische  Imperativ  vorschreibt, 
auf  politisch  -  ökonomischem  Gebiet  nicht  voll  aufrecht  zu  erhalten. 
Er  tritt  zwar  für  vollste  gesetzliche  Freiheit,  Gleichheit  und  Selb- 
ständigkeit aller  Staatsbürger  ein,  aber  er  betrachtet  die  Gesellen 
„bei  einem  Kaufmann  oder  bei  einem  Handwerker",  die  privaten 
Dienstboten,  Tagelöhner,  Zinsbauern  und  „alles  Frauenzimmer",  kurz 
jedermann,  der  „Nahrung  und  Schutz"  von  anderen  erhält,  nicht  als 
Staatsbürger,  sondern  nur  als  Staatsgenossen  (S.  152 — 154;  vgl.  auch 
die  Abhandlung  vom  Gemeinspruch  etc.,  ed.  Kirchmann  S.  122  f. 
Anm.,  wo  er  es  indes  für  „etwas  schwer"  erklärt,  „die  Erfordernis 
zu  bestimmen,  um  auf  den  Stand  eines  Menschen,  der  sein  eigener 
Herr  ist,  Anspruch  machen  zu  können").  Jedoch  sollen  auch  sie 
„als  Menschen"  dieselbe  Freiheit  und  rechtliche  Gleichheit,  wie 
jene,  gemessen;  denn  ohne  diese  kann  kein  Volk  ein  Staat  heissen. 
Auch  soll  ihnen  nichts  im  Wege  stehen,  aus  dem  „passiven"  Zustand 
der  blossen  Staatsgenossen  zu  dem  „aktiven"  der  Staatsbürger 
„sich  emporzuarbeiten".  Die  volle  Konsequenz  seines  kategorischen 
Imperativs,  die  der  moderne  Sozialismus  eben  hieraus  zieht,  dass  die 
thatsächliche  ^'orbedingung  politischer  Selbständigkeit,  die  wirt- 
schaftliche Selbständigkeit  d.  i.  Freiheit  von  ökonomischer  Knecht- 
schaft, allen  nicht  bloss  ideell,  sondern  thatsächlich  zu  ermöglichen 
sei,  hat  Kant  noch  nicht  ins  Auge  gefasst.  Und,  ein  billiger  Be- 
urteiler wird  es  zugestehen,  er  konnte  es  kaum,   bei  den  Wirtschaft- 


15 

liehen  und  kulturellen  Zuständen  seiner  Zeit.  Sind  doch  die  Gesetz- 
geber der  grossen  französischen  Revolution  nicht  weiter  gegangen 
als  unser  Philosoph;  denn  sie  sind  ihm,  wie  J.  Jaures  (vgl.  S.  41 
unten)  gezeigt  hat,  mit  jener  Unterscheidung  von  aktiven  und  passiven 
Staatsbürgern  vorangegangen.  Wir  stehen  damit  bei  der  zweiten,  oben 
bereits  gekennzeichneten,  historischen  Schranke  seines  Sozialismus. 

II. 

So  verlief  denn  des  letzteren  Entwicklung  unter  ganz  anderen 
philosophischen  Auspizien.  Als  einige  Jahrzehnte  nach  Kant  die  grossen 
technisch -ökonomischen  Umwälzungen  eintraten,  welche  die  soziale 
Bewegung  unserer  Tage  nach  sich  zogen,  stand  Deutschland  philosophisch 
unter  dem  Zeichen  Hegels,  später  Feuerbachs  und  der  Materialisten ; 
von  ihnen  empfingen  die  theoretischen  Vorkämpfer  des  modernen 
Proletariats  ihre  philosophische  Bildung;  Kant  zählte  fast  zu  den 
Vergessenen.  So  wurde  der  Sozialismus,  wenigstens  der  politische 
Parteisozialismus,  unter  dem  Banner  des  ,, Materialismus"  gross,  der 
prinzipiell  im  stärksten  Widerspruch  zu  seinen  Ideen  steht  und 
nur  als  Feldzeichen  gegenüber  der  seichten  Rhetorik  eines  dogma- 
tischen Scheinidealismus  einigen  Wert  besitzt. 

1.  Selbst  ein  Friedrich  Albert  Lange,  der  sich  um  die  Über- 
windung des  Materialismus  nicht  bloss  auf  erkenntnistheoretischem, 
sondern  auch  auf  dem  ethischen  Gebiete  ein  so  durchschlagendes  Verdienst 
erworben  hat,  hielt  noch  „die  ganze  praktische  Philosophie",  so  mächtig 
sie  auch  auf  die  Zeitgenossen  gewirkt  habe,  für  den  „wandelbaren 
und  vergänglichen  Teil  der  Kantschen  Philosophie"  (Gesch.  d.  Mat. 
ed.  Cohen  1887,  S.  356).  Er  ist  zwar  der  erste  „Kantianer"  oder 
vielmehr  der  erste  von  dem  kritischen  Idealismus  nachhaltig  beein- 
flusste  Philosoph  der  neueren  Zeit,  der  sozialistisch  gedacht  hat,  aber  die 
Verbindung  zwischen  seinem  „Kantianismus"  und  seinem  „Sozialismus" 
ist  keineswegs  eine  systematische;  sie  bestand  vielmehr  nur  in  seiner 
edlen,  vom  reinsten  ethischen  Idealismus  erfüllten  Persönlichkeit. 
Seine  „Arbeiterfrage"  knüpft  zur  Begründung  seiner  sozialethischen  An- 
schauungen an  den  Kritizismus  nicht  an;  sie  polemisiert,  im  Gegenteil^ 


16 

gegen  Kants  Rechtsbegrifif  und  seine  Ableitung  des  Eigentumsrechts 
(4.  Auflage  S.  268  ff.),  die  insbesondere,  wenn  man  ihm  „bis  in  die 
Begründung  des  individuellen  Eigentumsrechts  hinein"  folge  (S.  271), 
zu  einer  offenbaren  petitio  principii  werde. 

2.  Der  erste  Kantianer  vielmehr,  der  offen  auf  die  grundlegende 
Bedeutung  der  Kantischen  Ethik  für  die  Fundamentierung  des 
Sozialismus  hingewiesen  hat,  ist  der  Führende  unter  den  heutigen 
Neukantianern,  Hermann  Cohen  in  Marburg.  Bereits  sein  vor 
dreiundzwanzig  Jahren  geschriebenes  Buch  „Kants  Begründung  der 
Ethik"  (Berlin,  Düramler,  1877)  mündete  in  den  Gedanken  aus,  dass 
Kants  höchstes  Gut,  wie  schon  Schleiermacher  bemerkt  habe,  im 
Grunde  ein  politisches  sei  (328).  Der  moderne  Hiob  frage  nicht 
mehr,  „ob  der  Mensch  überhaupt  mehr  Sonnenschein  als  Regen  habe, 
sondern  ob  der  eine  Mensch  mehr  leide  als  sein  Nächster;  und  ob 
in  der  austeilenden  Lust-Gerechtigkeit  der  berechenbare  Zusammen- 
bang bestehe,  dass  ein  Mehr  an  Lust  für  das  eine  Mitglied  im  Reiche 
der  Sitten  das  Minder  des  anderen  zum  logischen  Schicksal  macht"  (327). 
Jenes  höchste  Gut  brauche  aber  nicht  mehr,  wie  von  Kant  geschehen, 
besonders  „postuliert'*  zu  werden.  Es  sei  bereits  gegeben  in  der 
.,vor  keiner  Thatsache  der  sogenannten  Erfahrung  zurückschreckenden'' 
Idee  eines  Reichs  der  Zwecke  als  regulativer  Maxime,  die  dazu  da 
ist,  den  „Erfahrungsgebrauch",  dessen  kausale  Bedingtheit  umzustossen 
sie  durchaus  nicht  beansprucht,  zu  regeln,  „nach  der  Idee  der  Menschheit 
den  Menschen  umzuschaffen"  (246).  Darin  besteht  die  objektiv- 
praktische Realität  des  Sittengesetzes.  Und  so  bezeuge  und  bewähre 
sich  Kants  „in  ihrer  Grundlegung  auf  anthropologische  Gelehrsamkeit 
verzichtende  Ethik  in  ihrer  Begründung  als  Anthroponomie"  (328). 

In  dem  biographischen  Vorwort  (von  1881)  zu  F.  A.  Langes 
Geschichte  des  Materialismus  (S.  XIII)  wird  dessen  gleichzeitiges 
Verhältnis  zu  Kant  und  dem  Sozialismus  nur  kurz  gestreift.  Indem 
Lange  seinen  Standpunkt  gegenüber  Strauss  und  Überweg  ein- 
nehme, von  denen  der  erste  den  Sozialismus  gehasst,  der  andere  ihn 
ignoriert  habe,    habe  er    die  ethische  Frage  ,,an  ihrer  lebendigen 


17 

ehrlichen  Wurzel  zu  ergreifen  verstanden'',  und  „das  vor  allem, 
mache  ihn  ,,zu  einem  Apostel  der  Kantischen  Weltanschauung". 

Am  unumwundensten  aber  hat  sich  Cohen  in  seiner  „Einleitung  mit 
kritischem  Nachtrag"  zur  fünften  Auflage  desselben  Werkes  (1896)  über 
unser  Thema  geäussert.  Wir  haben  diesen  leider  noch  nicht  seinem 
vollen  Werte  nach  beachteten  Nachtrag  bereits  im  ersten  Bande  der 
„Kantstudien"  (S.  268 — 272)  besprochen  und  machen  hier  nur  auf  die 
unser  Spezialthema  berührenden  Gedanken,  in  etwas  anderer  Ver- 
bindung und  grösserer  Ausführlichkeit,  nochmals  aufmerksam.  Indem 
er  sich  entschieden  gegen  das  ,, Vorurteil  einer  naturalistischen  Be- 
gründung" des  Sozialismus  wendet,  dem  auch  Lange  in  seiner  vom 
Darwinismus  erfüllten  Zeit  nicht  widerstanden  habe,  erklärt  Cohen 
kurz  und  bündig:  ,,Der  Sozialismus  ist  im  Recht,  sofern  er  im 
Idealismus  der  Ethik  gegründet  ist.  Und  der  Idealismus  der  Ethik 
hat  ihn  begründet."  Somit  ist  Kant  „der  wahre  und  wirkliche  Ur- 
heber des  deutschen  Sozialismus"  (S.  LXV).  Es  folgt  dann  dieselbe 
Ableitung  des  sozialistischen  Grundgedankens  aus  Kants  kategorischem 
Imperativ,  die  wir  oben  gegeben  haben,  der  sich  ein  kurzer  historischer 
Rückblick  auf  die  Entwicklung  der  schon  von  den  Stoikern  und  den 
Naturrechtlern  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  vertretenen  Idee  dersocietas 
humana,  der  menschlichen  Gesellschaft  anschliesst.  Freilich  dürfe  uns 
nicht  mehr  die  „Natur"  Rousseaus  und  die  als  die  blosse  Summe  der  Indi- 
viduen gefasste  Gesellschaft  Bürgin  des  Ideals  sein,  sondern  die  Idee 
der  Gesellschaft,  als  „Ordnungs-  und  Leitbegriff  der  Individuen"  (S.  LXVII ). 

Für  die  seit  Langes  Tod  verflossenen  zweiundeinhalb  Jahrzehnte 
glaubt  Cohen  einen  „Riesenfortschritt"  in  der  „Anerkennung  des 
ökonomisch  -juristischen  Rechts  des  Sozialismus  im  Bewusstsein  der 
allgemeinen  Bildung"  konstatieren  zu  dürfen.  „Heute  wehrt  sich  kein 
Unverstand  mehr  gegen  den  „guten  Kern"  der  sozialen  Frage,  sondern 
nur  noch  der  böse  oder  der  nicht  zureichend  gute  Wille".  Nur  der 
„idealfeindliche  Egoismus,  der  der  wahre  Materialismus  ist",  versagt 
dieser  „Wahrheit  des  öffentlichen  Bewusstseins",  die  freilich  noch  ein 
,,öffentliches  Geheimnis"  ist,  den  Glauben  und  pocht  auf  das  geschriebene 

Vorländer.  Kant  und  der  Sozialismns.  2 


18 

oder  gar  „im  Dienste  seiner  Interessen  eiligst  umzuschreibende" 
Recht,  auf  die  .,verbrieften  Privilegien  der  Stände"  ( S.  LXVII  f.). 

Wie  eirtschieden  nun  auch  der  Marburger  Philosoph  die  Idee  des 
Sozialismus  anerkennt,  so  hat  er  doch  an  den  ,,dennaligen  politischen 
Sozialismus"  verschiedene  sehr  gew^ichtige  Forderungen  zu  stellen: 
1.  Als  Fundament  muss  der  Materialismus  nicht  nur  „zeitweise  ab- 
geschüttelt", sondern  „radikal  aufgegeben"  w^erden.  2.  Als  Krönung 
seines  Gebäudes  darf,  wie  die  Ethik,  so  auch  der  Sozialismus  die 
Gottesidee  nicht  abweisen,  die  freilich  bei  Cohen  nichts  anderes  als 
den  Glauben  an  die  Macht  des  Guten,  die  Hoffnung  auf  die  Ver- 
wirklichung der  gerechten  Sache  bedeutet.  3.  Gegenüber  einer  rein 
realistischen  Auffassung  des  Begriffs  der  Gesellschaft  und  gegenüber 
der  materiellen  Wirtschafts-Genossenschaft  müssen  Recht  und  Staat, 
als  Ideen,  Ehrfurcht  fordern  und  finden;  denn,  wie  keine  Freiheit 
ohne  Gesetz,  so  kann  ohne  die  im  Gesetz  bestehende  Gemeinschaft 
keine  freie  Persönlichkeit,  keine  wirkliche  Gemeinschaft  moralischer 
Wesen  bestehen.  Mit  der  Anerkennung  der,  notwendigerweise  mangel- 
haften, bestehenden  Rechts-  und  Staatsordnung  kann  sich  gleichwohl 
der  schärfste  Blick  für  ihre  Gebrechen,  die  tiefste  Glut  für  deren 
gründliche  Heilung  verbinden.  Die  Vereinigung  beider  Bedingungen 
hat  von  jeher  den  „grossen,  wahrhaft  revolutionären  Umschwung", 
nämlich  den  stetigen  geschichtlichen  Fortschritt  verbürgt.  Endlich 
ist  4.  mit  der  Idee  der  Menschheit  (menschlichen  Gesellschaft)  die 
Idee  des  Volkes  (der  Nationalität)  zu  verbinden,  indem  wir  jene,  die 
wir  ehren  und  achten  in  diesem,  das  wir  lieben,  zu  verwirklichen  streben. 
Die  Volksidee,  wie  z.  B.  ein  Fichte  sie  gelehrt,  vertritt  zugleich  ..den  be- 
vorrechteten Ständen  gegenüber  die  Idee  der  Menschheit  im  eigenen 
Volke"  ( S.  LXXV).  „Eine  Nation,  die  für  Reich  und  Arm  verschiedene 
Schulen  hat  .  .  .  mag  auf  dem  Wege  zur  Nation  sein;  ein  Volk  ist 
sie  nicht"  (ebd.).  So  ,, erschafft  die  Idee  der  Gesellschaft  die  wahre 
Einheit  des  Volkes  auf  dem  Grunde  der  Kultur  des  Geistes".  In 
diesem  Sinne  für  die  Realisierung  der  Volksidee  zu  wirken,  ist 
„der  Inbegriff  der  Aufgaben  des  Idealismus"  (S.  LXXVI). 

3.    Noch  etwas   vor  Cohens  letztgenannter  Schrift  erschien    das 


19 

grundlegende  Buch  von  Rudolf  Stammler  (Halle):  „Wirtschaft  und 
Recht  nach  der  materialistischen  Geschichtsauffassung.  Eine  sozial- 
philosophische Untersuchung"  (Leipzig,  Yeit,  1896).  Gab  Cohen  mehr 
eine  ,,expektorative  Darlegung"  seines  sozialethischen  Denkens,  so  ent- 
hält dagegen  Stammlers  Werk  eine  ausgeführte  systematische  Be- 
gründung des  sozialen  Idealismus.  Da  wir  seinerzeit  das  Buch 
Stammlers  unter  dem  Titel  „eine  Sozialphilosophie  auf  Kantischer  Grund- 
lage" in  den  „Kantstudien"  (I,  197 — 216)  eingehend  besprochen  haben, 
so  begnügen  wir  uns  an  dieser  Stelle  mit  einer  Hervorhebung  der  Haupt- 
gesichtspunkte. Stammler  fasst  seine  Aufgabe,  ganz  im  Sinne  Kan- 
tischer Methode  und  mit  Berufung  auf  sie,  rein  erkenntnis kritisch. 
Psychologie,  Naturwissenschaft,  Nationalökonomie,  Jurisprudenz  werden 
in  reichem  Masse  herangezogen,  aher  methodisch  nur  als  Hilfstruppen 
betrachtet;  gegenüber  Dogmatismus  und  Skeptizismus,  gegenüber  der 
psychologischen  und  genetischen  Betrachtungsweise,  gegenüber  Materia- 
lismus und  Spiritualismus  wird  der  ,, kritisch  gesuchte  und  methodisch 
eingeleitete"  Standpunkt  des  wissenschaftlichen  Idealismus  vertreten. 
Seine  Kernfrage  lautet  nicht  etwa:  Wie  ist  soziales  Leben  entstanden? 
sondern :  Unter  welcher  formalen  Bedingung  ist  soziales  Leben  als 
ein  eigener  Gegenstand  unserer  Erkenntnis  zu  erfassen  und  einheitlich 
zu  denken  möglich?  Die  Antwort:  Indem  das  Zusammenleben  von 
Menschen  als  äusserlich  (durch  äusserlich  verbindende  Normen)  ge- 
regelt gedacht  wird.  Die  äussere  Regelung  ist  die  Form  (Kantisch 
genommen)  der  sozialen  Materie  d.  h.  das  Bestimmende,  Bedingende, 
Gesetzmässige  an  der  sozialen  Erfahrung,  welche  letztere,  wie  alle 
Erfahrung,  nur  eine  sein  kann.  Es  giebt  nur  eine  Kausalität, 
und  darin,  dass  sie  eine  einheitliche  Methode  oder  Gesetzlichkeit  für 
die  wirtschaftlich-rechtliche  Entwicklung  aufstellt,  liegt  kein  Fehler 
der  materialistischen  Geschichtsauffassung,  sondern  das  ist  ihr  Haupt- 
verdienst. Auch  Stammler  behauptet  einen  ,, Kreislauf",  einen 
.,Monismus"  des  sozialen  Lebens,  auch  er  hält  den  Zusammenhang 
der  geistigen  mit  den  zu  Grunde  liegenden  ökonomischeu  Be- 
wegungen   für    grundsätzlich    unabweisbar.     Aber    er  behauptet  mit 

Kant    und    den  Neukantianern    etwas    weiteres:    Es    ist   neben    der 

2* 


20 

unausweichlichen  und  undurchbrech baren  Kausalität  der  Erfahrung 
noch  eine  andere  Art  von  Gesetzlichkeit  (Einheit  des  Gesichts- 
punkts) als  diejenige  von  Ursache  und  Wirkung  zu  denken  möglich, 
welche  sich  auch  dem  Laien  in  den  einlachen  Unterscheidungen 
von  Erkennen  und  Wollen,  Bewirktem  und  zu  Bewirkendem,  Sein  und 
Sollen  deutlich  genug  kund  giebt.  Es  soll  das  keine  zweite  Kausalität 
sein,  die  etwa  in  die  erste  von  ungefähr  hineinfahren  und  ihre  aus- 
nahmslose Geltung  zu  nichte  machen  könnte,  sondern  eine  andere  Art 
von  Gesetzmässigkeit,  die  nicht  nach  dem  Warum,  sondern  nach  dem 
Wozu,  nicht  nach  Ursache  und  Wirkung,  sondern  nach  Mittel  und 
Zweck,  bis  hinauf  zu  der  obersten  Einheit  möglicher  Zwecksetzung, 
als  dem  Endzweck,  fragt.  Es  giebt,  mit  anderen  Worten  —  was  die 
Theoretiker  des  sozialen  Materialismus  bisher  nicht  genügend  beach- 
teten —  neben  der  kausalen  noch  eine  ihr  nicht  widersprechende, 
sondern  sie  ergänzende  teleologische  oder,  wie  wir  jetzt  wohl  ohne 
Furcht  vor  Missverstehen  sagen  dürfen,  ethische  Betrachtungsweise 
der  sozialen  Erscheinungen.  Die  ethische  Beurteilung  eines  sozialen 
Vorkommnisses  ist  etwas  ganz  anderes  als  die  genetische  Erklärung 
seines  Werdens.  Die  konkreten  Bestrebungen  erwachsen  freilich 
immer  aus  den  sozialen  Zuständen,  sind  aber  nach  menschlichen 
Wünschen  und  Zielen  zu  leiten,  deren  oberster  Massstab  nur  ein 
solcher  des  Endzwecks  (Endziels)  sein  kann.  Dieser  letztere  aber 
kann,  wenn  anders  er  Allgemeingiltigkeit  erstrebt,  kein  empirisch 
bedingtes  Einzel-  oder  Sonderziel,  sondern  er  muss  ein  formaler 
Gedanke  d.  i.  einheitlicher  Gesichtspunkt  sein,  der.  wenn  er  sich 
auch  mit  konkretem  Inhalt  selbstverständlich  nur  aus  der  Erfahrung 
füllen  kann,  dennoch  über  allen  bedingten  Einzelzwecken  in  un- 
bedingter Geltung  richtend  und  leitend  steht.  Das  soziale  Endziel 
ist  nach  Stammler  (S.  575)  die  Gemeinschaft  frei  wollender 
Menschen,  in  der  „ein  jeder  die  objektiv  berechtigten  Zwecke  des 
anderen  zu  den  seinigen  macht." 

4.  Der  methodische  Grundgedanke,  von  dem  Stammlers  sozial- 
philosophische Untersuchung  beherrscht  ist,  liegt  auch  dem  neuesten 
Werke  von  Paul  Natorp  (Marburg)    zu  Grunde,    seiner    „Sozial- 


21 

pädag-og'ik.  Theorie  der  Willenserziehuiig  auf  der  Grundlage  der  Ge- 
meinschaft". (Stuttgart,  Frommann,  1899).  Nur  dass  das,  was  Stammler 
in  breitester,  den  Gedanken  nach  allen  Seiten  hin  drehender  und 
wendender  Ausführung  darlegt,  bei  Natorp  in  knappster  Zusammen- 
fassung erscheint  und  bloss  die  Einleitung  zu  seinem  Hauptthema 
bildet.  Letzteres  aber,  das  bei  dem  Zwecke  des  Stammlerschen 
Buches  ausgeschlossen,  von  Cohen  nur  eben  angedeutet  war,  ist: 
die  systematische  Begründung  einer  Volkserziehungslehre  auf 
der  Grundlage  der  Gemeinschaft. 

Natorp  hat  sich  bereits  seit  Jahren  mit  diesem  Probleme  be- 
schäftigt. Schon  seine  „Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  Huma- 
nität" (Freiburg  1894)  bezeichnete  er  als  „ein  Kapitel  zur  Grund- 
legung der  Sozialpädagogik";  auch  kleinere  Schriften,  besonders 
„Pestalozzis  Ideen  über  Ärbeiterbildung  und  soziale  Frage"  (Heil- 
bronn 1894)  und  „Piatos  Staat  und  die  Idee  der  Sozialpädagogik" 
(Berlin,  Heymann  1895)  waren,  wie  schon  die  Titel  zeigen,  dem 
gleichen  Zwecke  gewidmet.  Es  sollen  —  ein  Gebiet,  das  die  bis 
herige  Sozialphilosophie  noch  fast  ganz  seitab  hat  liegen  lassen  — 
die  Wechselbeziehungen  zwischen  Gesellschaftslehre  und  Er- 
ziehungslehre untersucht,  und  zwar  beide  als  „in  der  tiefsten 
Wurzel  eins  und  untrennbar  zusammengehörig"  (Vorwort  S.  V)  nach- 
gewiesen werden.  Zu  diesem  Zwecke  aber  musste  auf  die  philo- 
sophischen Fundamente  beider  zurückgegangen,  eine  systematische 
Grundlegung  gegeben  werden.  So  enthält  das  Buch  weit  mehr,  als 
sein  Titel  zunächst  vermuten  l^st,  nämlich :  1.  eine  erkenntniskritische 
Grundlegung,  2.  die  Hauptbegriffe  der  Ethik,  3.  die  Grundlage 
einer  Sozialphilosophie,  und  erst  4.  das  in  seinen  Umrissen  aus- 
geführte System  einer  sozialen  Pädagogik,  als  „Organisation  und 
Methode  der  Willenserziehung" :  dies  alles  auf  einem  Räume  von  nur 
350  Seiten.  Wir  versuchen  im  folgenden  wenigstens  die  Grund- 
gedanken herauszuschälen,  was  allerdings  bei  der  Fülle  des  in  so 
knappe  Form  gegossenen  Inhalts  keine  ganz  leichte  Sache  ist.^) 

1)  Eine  ausführlichere  Besprechung  habe  ich  vor  kurzem  in  der  Zeitschrift 
für  Philosophie  u.  philos.  Kritik  (Bd.  114,  S.  214—240)  unter  dem  Titel:  Eine 
Socialpädagogik  auf  Kantischer  Grundlage  gegeben. 


22 

Die  „Grundlegung"  steht  auf  dem  Boden  Kantischer  Methode, 
in  der  gewöhnlich  als  Neukantianismus  bezeichneten  freien  Weiter- 
bildung, die  ihr  Cohen,  Natorp  u.  a.  gegeben  haben.  Erziehung  ist 
Willensbildung.  Wille  aber  ist  Zielsetzung,  Vorsatz  eines  Gesollten, 
einer  Idee,  In  der  Idee  tritt  der  gesamten  Welt  der  Natur,  deren 
oberste  Begriffe  und  Gesetze  die  Wissenschaft  in  kausaler  Durch- 
dringung zu  erforschen  sucht,  ein  ganz  neuer  Gesichtspunkt  gegen- 
über, der  weder  naturwissenschaftlich  noch  psychologisch  (auch  die 
Psychologie  ist  Naturwissenschaft),  sondern  nur  erkenntniskritisch 
zu  verstehen  ist.  Man  muss  sich  zunächst  klar  machen,  dass  neben 
dem  zeitlich  bedingten  Denken  noch  ein  anderes,  gewissermassen 
überzeitliches  Denken  (so  das  logische  und  mathematische)  existiert. 
Sätze  wie  A  =  A  oder  2  X  2  ^^  4  gelten  unterschiedslos  zu  aller 
Zeit.  Nur  vermittelst  dieses  nach  Einheit  im  Bewusstsein  (oder 
durchgängigem  Zusammenhang  des  Gedachten)  strebenden  logischen 
Denkens  kommt  theoretische  oder  Naturerkenntnis  (nach  Kant:  Er- 
fahrung) zustande.  Aber  diese  Erfahrungserkenntnis  ist  ihrer  Natur 
nach  einer  Vollendung,  eines  Abschlusses  im  Unbedingten  unfähig. 
Hier  tritt  nun  die  regulative  Idee  (im  Kantischen  Sinn  des  Wortes)  ein. 
„die  letzte  Einheit,  der  letzte  eigenste  Blickpunkt  der  Erkenntnis*' 
(24).  Das  Gebiet  der  Zwecksetzung  thut  sich  vor  uns  auf,  die,  indem 
sie  nach  Zwecken,  zuletzt  dem  Zwecke  aller  Zwecke  (Endzweck)  fragt, 
uns  in  das  Reich  des  WoUeus,  des  Sollens  und  somit  der  Ethik  führt. 

Worin  besteht  nun  die  Gesetzlichkeit  des  Sollens?  Diese  Frage 
muss  die  Grundfrage  einer  wissenschaftlichen  Ethik  sein.  Antwort: 
In  der  „formalen"  Einheit  meiner  Zwecke,  d.  h.  in  ihrer  notwendigen 
Übereinstimmung  unter  sich.  Das  Gesetz  der  Einheit  —  das  ist 
der  durch  Kants  transscendentale  Methode  bestimmte  Grundgedanke 
des  Natorpschen  Philosophierens  —  ist  das  Grundgesetz  des  Be- 
wusstseins,  das  zunächst  die  theoretische  Erkenntnis  (in  der  mathe- 
matischen oder  Grössen-  und  der  Natur-  oder  ursachlichen  Gesetzlich- 
keit), dann  aber  ebenso  die  praktische  (in  der  Zweckgesetzlichkeit)  be- 
herrscht; so  schliesst  sich  in  ununterbrochenem  Zusammenhange  an  die 
Logik  die  Ethik  an.  Kants  formales  Sittengesetz  bedeutet  nichts  Anderes 


23 

als  unbedingt  einheitliche  Ordnung-  der  Zwecke  nach  dem  Massstabe  und 
unter  der  Herrschaft  der  Vernunft. 

Die  „Erfahrung"  vermag  zwar  diese  Kantische  Ethik  der  reinen 
Idee  in  ihrem  letzten  formalen  Grunde  nicht  aus  sich  selbst  heraus 
zu  begründen,  aber  ihrem  Stoffe  nach  bleibt  die  neue  Gesetzlich- 
keit (der  Zwecksetzung)  ganz  und  gar  auf  Erfahrung  angewiesen. 
Das  Gesollte  soll  doch  verwirklicht  werden.  Wie  die  Erfahrung  den 
Stoff  bietet,  und  wie  er  sich  jener  reinen  Form  fügt,  das  im  Anschluss  an 
Natorps  scharfsinnige  Deduktionen  darzulegen,  würde  zu  weit  führen. 
Wir  erwähnen  nur,  dass  der  Verfasser  drei  „Stufen  der  Aktivität" 
.unterscheidet,  von  denen  jede  die  vorige  in  sich  enthält:  1.  Trieb, 
2.  bewusster  Wille,  3.  Vernunftwille,  dazu  die  interessante  Parallele 
auf  dem  theoretischen  Gebiet:  1.  Vorstellung  schlechtweg,  2.  be- 
wusst  objektivierte  Vorstellung,  3.  wissenschaftliche  Objekterkenntnis, 
und  die  Übertragung  auf  das  soziale:  1.  Naturkräfte,  2.  deren  bewusste 
Beherrschung  durch  die  Technik,  3.  die  Unterordnung  der  letzteren 
unter  den  höchsten  menschlichen  Zweck:  die  Menschenbildung. 

Menschenbildung  aber  ist  möglich  nur  in  menschlicher  Gemein- 
schaft, und  durch  sie;  alle  Pädagogik  ist  deshalb  im  Grunde  Sozial- 
pädagogik.  Echter  Sozialismus  schliesst  den  berechtigten  In- 
dividualismus nicht  aus,  sondern  ein;  denn  Erhebung  zur  Gemein- 
schaft bedeutet  nicht  Beschränkung,  sondern  Erweiterung  des  eigenen 
Selbst,  nicht  die  Eindämmung,  vielmehr  erst  die  wahre  Entfaltung  des 
Individuums. 

Wir  übergehen  das  folgende  Kapitel  von  den  „Hauptbegriffen 
der  Ethik"  seinem  grössten  Teile  nach,  weil  das  System  der  indi- 
viduellen Grundtugenden  (Wahrheit,  Tapferkeit  oder  sittliche  That- 
kraft,  Reinheit  oder  Mass,  Gerechtigkeit),  das  unser  Philosoph  hier 
in  freier  Anlehnung  an  Plato  entwirft,  so  interessant  es  auch  für  den 
Ethiker  ist,  doch  in  keiner  unmittelbaren  Beziehung  zu  unserem 
Thema  steht.  Nur  der  vierten  und  letzten  Tugend,  der  Gerechtig- 
keit {dixatoavvi])  muss  hier  gedacht  werden,  weil  sie  die  individuelle 
Grundlage  der  sozialen  Tugend  bildet.  Denn  sie  verlangt  Wahr- 
haftigkeit,   sittliche  Thatkraft    und    das    rechte  Mass   in  Arbeit    und 


24 

Genuss  —  im  Interesse  der  Gemeinschaft.  Indem  sie  ihren  letzten 
Grund  in  der  Kantischen  Achtung  der  Menschheit  in  jeder  Person, 
auch  dem  Ärmsten  und  —  Schlechtesten,  findet,  fordert  sie  Gleich- 
heit alles  dessen,  was  Menschenantlitz  trägt.  Diese  Gleichheit  kann  und 
soll  freilich  keine  mechanische  sein,  nicht  in  der  Zuteilung  von  Gütern 
je  nach  dem  Gutsein  bestehen,  sondern  nur  darin,  dass  allen  die 
gleiche  Möglichkeit  zur  Ausbildung  ihrer  Fähigkeiten  gegeben  wird. 
Die  Wahrhaftigkeit  des  Einzelnen  wird  nun  zur  Herrschaft  der 
vernünftigen  Einsicht  im  öffentlichen  Leben  im  Gegensatz  zu  Per- 
sonen-, Klassen-  und  Rassenhass,  die  Thatkraft  zum  Einstehen  für 
Recht  und  Gesetzlichkeit  im  Kampf  gegen  die  eigenen  und  die 
gesellschaftlich  mächtigen  Sympathien  und  Antipathien,  das  rechte 
Mass  zur  harmonischen  Ordnung  von  Arbeit  und  Genuss  überhaupt: 
die  soziale  Gerechtigkeit  endlich  verlangt,  dass  jeder  seinen 
rechtmässigen  Anteil  an  Bildung,  Regierung  und  —  Arbeit  habe! 

Von  unmittelbarster  Bedeutung  für  die  Beziehungen  zwischen  neu- 
kantischer  Philosophie  und  Sozialismus  sind  die  in  den§§  lü — 18  mit  wahr- 
haft bewundernswürdiger  Kunst  auf  48  Seiten  (S.  131 — 178)  zusammen- 
gedrängten Fundamente  einer  kritischen  Sozialphilosophie. 

Die  in  dem  ersten  Teile  nachgewiesenen  drei  „Grundfaktoren 
der  menschlichen  Aktivität'":  Trieb  —  Wille  —  Vernunft,  ergeben, 
auf  das  soziale  Leben  ihrer  Träger  übertragen:  Arbeitsgemeinschaft^) 
unter  gemeinschaftlicher  Willensregelung  (durch  die  Technik),  die 
ihrerseits  der  vernünftigen  Kritik  der  Gemeinschaft  untersteht  (S.  134). 
Daraus  ergeben  sich  weiter  drei,  einander  selbst  fort  und  fort  neu 
erzeugende  und  gestaltende  Grundklassen  sozialen  Thuns:  die  wirt- 
schaftliche, regierende  und  bildende  Thätigkeit,  deren  jede 
ihren  eigentümlichen  Zweck  hat,  aber  in  Verfolgung  desselben  auch 
die  beiden  anderen  in  Anspruch  nimmt.  Wirtschaft  und  Recht 
insbesondere  dienen  beide  als  blosse  Mittel  dem  einen  höchsten 
Zweck,  der  Menschenbildung,  der  nun  seinerseits  die  wirtschaftliche 
Arbeit  und  politische  Thätigkeit  sittlich  zu  adeln  vermag. 


1)  Präziser  scheint  mir  statt  dessen  aus  Gründen,  die  icli  Zeitschr.  t.  Pliilos. 
a.  a.  0.  S.  225  und  Kantstudien  I,  200  f.  dargelegt  habe,  der  Begriff:  Zusammen- 
leben von  Menschen  als  bestimmbarer,  trieberfüUter,  willenstahiger  Wesen. 


Natorps  „Grundg-esetz  der  sozialen  Entwickluag"  (§  18)  will 
keine  kausale  Erklärung  ihres  zeitlichen  Geschehens  bieten,  zu 
dessen  wirklicher  Erkenntnis  es  ihm  bei  dem  heutigen  Stande  der  Wissen- 
schaft noch  an  den  notwendigsten  Vorbedingungen  zu  fehlen  scheint 
(S.  162),  mithin  kein  Natur-  oder  Erfahrungsgesetz  sein,  sondern 
als  ein  regulatives  Gesetz  der  Idee  verstanden  werden,  das  jedoch 
mit  den  allgemeinen  Gesetzen  der  Erfahrung  in  engster  systematischer 
Verbindung  steht.  In  lückenlosem  Zusammenhang-  reihen  sich  an 
einander  (vgl.  schon  oben):  Naturerkenntnis  —  Technik  —  soziale 
Regelung  —  vernunftgemässe  Gestaltung  des  sozialen  Lebens.  Den 
Zusammenhang  der  drei  ersten  Stufen  hat  auch  die  sogenannte 
materialistische  Geschichtsauffassung  klar  erkannt.  Was  ihr 
noch  fehlt,  ist  das  bewusste  Aufsteigen  zu  der  höchsten  Stufe,  der 
Grund  davon  am  letzten  Ende  der  dem  historischen  ebenso,  wie 
dem  naturwissenschaftlichen,  Materialismus  anhaftende  Mangel  an 
Erkenntniskritik.  Wie  es  kein  Naturgesetz  ausser  uns  giebt,  so 
ist  auch  die  soziale  Gesetzlichkeit  nur  Gesetzlichkeit  des  Bewusstseins 
und  kann  ernstlich  aus  der  sozialen  ..Materie'-  nicht  abgeleitet  werden. 
Und  weiter:  ,,Von  den  untersten  materialen  Bedingungen  bis  zum 
höchsten  Gesetze  der  Bewusstseinsform,  dem  Gesetze  der  Idee,  besteht 
ein  durchgehender,  ununterbrochener  Zusammenhang"  (S.  166).  Eine 
neue  soziale  Ordnung  zu  schaffen,  erfordert  gewiss  zunächst  die  höchste 
technische  und  zwar  sozialtechnische  Einsicht,  aber  nicht  minder 
notwendig  als  letzten  Leit-  und^  Gesichtspunkt  die  Idee  einer  best- 
möglichen Ordnung  der  Zw^ecke.  Diese  Idee  muss  selbstverständlich, 
wenn  sie  nicht  einem  verschwommenen  und  haltlosen  Spiritualismus 
verfallen  will,  in  gesetzmässigem  und  ununterbrochenem  Zusammen- 
hang mit  der  sozialen  Materie  bis.  zu  ihren  letzten  Unterlagen  herab 
bleiben.  So  entsteht  ein  durchgehender  Gesetzeszusammenhang  der 
soeben  bezefchneten  Grundfaktoren  des  sozialen  Lebens,  den  Natorp, 
durch  eine  höchst  scharfsinnige  Übertragung  der  drei  „regulativen 
Prinzipien"  Kants  (der  Homögeneität,  Spezifikation  und  Affinität  oder^ 
wie  Natorp  moderner  sagt:  der  Generalisation,  Individualisation  und 
des  stetigen  Übergangs)  vom  Natur-  auch  auf  das  technische,  soziale 


26 

und  sittliche  Gebiet,  noch  enger  und  systematischer  zu  gestalten  weiss. 
Das  sittliche  Endziel. der  sozialen  Entwicklung  und  zugleich  Grund- 
gesetz der  menschlichen  Bildung  sieht  der  Verfasser,  dabei  an  Pestalozzi 
erinnernd,  in  der  einheitlichen  sittlichen  Ordnung  der  Zwecke  unter 
allseitiger  Entfaltung  des  Menschenwesens  in  lückenlosem  harmonischem 
Zusammenhang  seiner  Grundkräfte  (175  f). 

Diesem  Ideale  in  ewiger  Arbeit  am  einzelnen  wie  an  der 
Gemeinschaft  (und  zwar  am  letzten  Ende  des  gesamten  Menschen- 
geschlechtes, S.  188)  zuzustreben,  das  ist  die  „Bewegung  zum  End- 
ziel". Was  haben  wir  zu  thun,  um  zu  diesem  Ziele  oder  zunächst 
wenigstens  auf  den  Weg  zu  ihm  zu  gelangen?  Das  lehrt,  soweit 
die  Antwort  auf  dem  Gebiete  der  Erziehungslehre  liegt,  die  zweite 
Hälfte  des  Buches:  die  soziale  Pädagogik  als  Organisation  und 
Methode  der  Willenserziehung  (S.  191 — 352). 

Das  wesentlichste  Mittel  nämlich  zur  Erziehung  des  Willens  sieht 
unser  Sozialpädagoge  in  der  Organisation  der  Gemeinschaft  in 
Haus,  Schule  und  öffentlichem  Leben.  Von  der  reichen  Fülle 
praktischer  Anregungen,  die  dieser  Teil  dem  Pädagogen,  dem  Ethiker, 
dem  Sozialpolitiker  giebt,  mag  sich  jeder  durch  eigene  Lektüre  über- 
zeugen; über  des  Verfassers  Grundstellung  kann  nach  allem  Vorher- 
gesagten kein  Zweifel  mehr  sein.  Wir  greifen,  das  eigentlich 
Pädagogische  beiseite  lassend,  nur  einige  wenige  Paukte  heraus, 
-die  den  Sozialpolitiker  näher  angehen. 

Die  Familie,  die  gegenwärtig  in  einer  noch  nicht  absehbaren 
Periode  innerer  Umbildung  begriffen  ist,  kann  zwar  nicht  mehr  zu 
den  verengenden  und  veralteten  Formen  einer  für  uns  auf  immer 
entschwundenen  Zeit  zurückkehren,  aber  wir  brauchen  deshalb  ihrem 
Verfall  nicht  mit  verschränkten  Armen  zuzusehen.  Starkes  Gemeinschafts- 
und gesundes  Familienleben  sind  wohl  vereinbar.  Heutige  keiraartige 
Anfänge,  wie  die  Fröbelschen  Kindergärten,  wären  allmählich  zu  all- 
gemeineren Organisationen  (Familienverbänden,  Nachbarschaftsgilden) 
zü  erweitern;  wozu  natürlich  für  die  arbeitende  Klasse  eine  „vor 
allem  um  der  Erziehung  willen  zu  verlangende  grössere  Freiheit  vom 
Arbeitszwang    (durch    gesetzliche   Beschränkung    der  Arbeitszeit  bei 


gleichzeitiger  Sicherung  eines  angemessenen  Arbeitseinkommens)"  ge- 
hören würde.  —  Für  die  Schulerziehung  fordert  Natorp  eine  wirkliche 
Volksschule  im  weitesten  Sinne  des  Wortes.  Denn  alle  haben 
Anspruch  —  zwar  nicht  auf  genau  die  gleiche  Bildung,  wohl  aber 
auf  gleiche  Sorgfalt  für  ihre  Bildung,  auf  Anteil  an  der  grossen 
Bildungsgemeinschaft,  allein  nach  dem  Massstab  der  Fähigkeit,  nicht 
sonstiger  Vorrechte.  Seine  Vorschläge,  die  wir  hier  nicht  diskutieren 
wollen,  lauten :  Allgemeine  obligatorische  Volksschule  bis  zum  zwölften 
Lebensjahre,  dann  Vorbereitung  auf  die  Berufe :  das  „neuhumanistische 
Gymnasium"  nur  für  die  wirklich  zu  theoretischer  Ausbildung  Befähigten, 
daneben  eine  Gewerbe-  oder  Realschule  mit  angegliederten  (fakultativen) 
Fachkursen  für  die  gewerblichen  Berufe;  statt  der  bisherigen  unzu- 
länglichen Fortbildungsschule  eine  Vollschule  für  alle  bis  zum  acht- 
zehnten Jahre,  die,  in  freierer  Weise  organisiert,  zugleich  mit  den  An- 
fängen der  beruflichen  Ausbildung  (Lehrlingszeit)  verbunden  werden 
könnte.  —  Für  die  Stufe  der  freien  Selbsterziehung  im  Gemeinleben 
der  Erwachsenen  endlich:  Erweiterung  der  jetzigen  Universität  zu  einer 
wahren  universitas,  d.  h.  Hochschule  für  die  Gesamtheit,  wobei  an  die 
Universitäts-Ausdehnuugs-Bewegung  in  England  und  den  Vereinigten 
Staaten,  an  die  „Volkshochschule"  der  skandinavischen  Länder  anzu- 
knüpfen wäre,  an  die  letztere  auch  in  Hinsicht  auf  ein  geordnetes 
Zusammenleben  ihrer  Zöglinge. 

Kurz,  die  Erziehung  muss  sich  in  den  Dienst  der  Gemeinschaft, 
das  Leben  der  Gemeinschaft  am  letzten  Ende  in  den  Dienst  der 
Erziehung  stellen,  wie  schon  Plato  erkannt,  aber  bei  seiner  Über- 
schätzung der  Geistesbildung  sowie  der  Arbeitsteilung,  und  seiner 
Unter  Schätzung  des  wirtschaftlichen  und  politischen  Faktors  für  das 
Gemeinleben,  nur  unvollkommen  durchgeführt  hat.  Wir  alle  haben  den 
Beruf  der  sozialen  Erziehung,  und  Endzweck  eines  jeden,  auch  des 
geringsten,  Menschendaseins  ist  nicht  Wirtschaft  und  Recht,  sondern 
Vollendung  des  Menschentums.  Nur  auf  dem  Grunde  eines  wahrhaften 
Gemeinschaftslebens  kann  und  wird  auch  der  Unterricht,  namentlich 
der  geschichtliche  (285  ff.),  ethische  (303  ff.)  und  philosophische  (310) 
wahrhafte  Früchte  tragen,  das  ästhetische  Niveau  erhöht  werden  (S18  f.) 


28 

und  endlich  das  religiöse,  d,  i.  das  Menschheits-  und  EwigkeitsgefUhl  ge- 
deihen. Die  alte  Jenseits-Religion  hat  ihre  Rolle  ausgespielt  (351),  die 
neue,  reifere  „innerhalb  der  Grenzen  der  Humanität",  in  die  sie  um- 
zubilden ist,  —  und  die  für  Natorp  nur  in  dem  Glauben  an  die 
Idee  besteht  — ,  sie  wird  nicht  künstlich  gemacht  werden,  aber 
sie  wird  eines  Tages  von  selbst  da  sein,  „eine  Frucht  der  sittlichen 
Erneuerung  menschlicher  Gemeinschaft"  (352). 

5.  Tragen  die  Werke  von  Stammler  und  Natorp  in  erster  Linie 
einen  wissenschaftlichen,  auf  die  methodisch-systematische  Begründung 
eines  idealistischen  Sozialismus  gerichteten  Charakter,  so  verfolgt  die 
vierte  Schrift,  die  wir  hier  zu  besprechen  haben,  Franz  St  au  dingers 
„Ethik  und  Politik"  (Berlin,  Dümmler  1899,  VI  und  162  S.) 
neben  ihrem  wissenschaftlichen  auch  den  praktischen  Zweck,  die 
Zeitgenossen  auf  „diejenigen  materiellen  und  sittlichen  Grundlagen 
hinzuweisen,  auf  denen  allein  eine  Erneuerung  des  sittlichen  Lebens 
möglich  ist"  (Vorwort  S.  III).  Es  werden  demgemäss  in  dem  zweiten 
Teile,  der  die  (in  dem  ersten)  gefundenen  Prinzipien  der  Sozialethik 
auf  die  beutige  Gesellschaft  anwendet,  auch  bestimmte  ethische  und 
politische  Zeitrichtungen  (die  Nationalsozialen,  die  Bodenreformer.  die 
Gesellschaft  für  ethische  Kultur  und  besonders  die  deutsche  Sozialdemo- 
kratie) charakterisiert  und  kritisiert.  Aber,  wenn  auch  der  Stilcharakter 
verschieden  ist,  so  ist  doch  der  Geist  derselbe.  Das  Fundament  ist 
auch  für  Staudinger  der  Kantische  Gedanke  vom  Reich  der  Zwecke 
und  der  moderne  Sozialismus  in  seinen  Augen  nur  eine  weitere  Aus- 
bildung dieses  in  seinem  Kern  schon  von  der  Prophetie  des  alten 
Bundes  und  der  Jesuslehre  verkündeten  Gedankens.  Staudinger  stellt 
sich  noch  offener  und  entschiedener  als  jene  beiden  auf  die  Seite  des 
Sozialismus,  aber  er  verlangt  auch  ebenso  entschieden  im  Interesse 
der  wissenschaftlichen  Konsequenz  von  ihm,  dass  er  seiner  Begründung 
„das  Prinzip  einheitlichen  Erkennens  und  einheitliehen  vernünftigen 
Wollens"  bewusst  zu  Grunde  lege.  „Die  analytische  Begründung  der 
Ethik  durch  Kant,  wie  sie  durch  Cohen,  Natorp,  Stammler  u.  a.*' 
—  hier  vermeidet  Stand,  aus  Bescheidenheit  sich  selbst  zu  nennen^)  — 


1)  Vgl.    sein    früheres  Werk:    Das    Sittengesetz    (2.  Aufl.  Berlin  1897) 
und  manche  kleinere  Abhandlung. 


29 

„weiter  entwickelt  worden  ist,  bildet  die  notwendige  Ergänzung 
zu  der  vorwiegend  historisch  -  kausalen  Begründung  der  Marx- 
Engels'schen  Schule"  (Vorw.  IV). 

Weniger  in  äusserlichem  Anschluss  an  Kant,  dem  er  vielmehr 
mitunter  (S.  45  und  65  A.)  sogar  entgegentritt,  aber  ganz  im  Sinne 
der  uns  nun  bekannten  Kautischen,  wenn  man  will,  neu  kantischen 
Methode  legt  auch  Staudinger  den  verschiedenen  Sinn  von  kausaler 
und  Zweckbetrachtung  dar,  und  zwar  werden  diejenigen,  denen  diese 
Betrachtungsweise  noch  weniger  geläufig  ist,  vielleicht  gerade  durch 
seine  populärere  Art,  welche  die  Leitsätze  durch  zahlreiche  Beispiele 
aus  allen  Gebieten  zu  illustrieren  weiss,  gewonnen  werden.  Ebenso 
wenig,  wie  die  Begriffe  ,, richtig  (wahr)"  und  „falsch",  haben  „gut" 
und  „schlecht"  an  sich  etwas  mit  kausalem  Werden  zu  thun.  Und 
nicht  auf  den  Inhalt,  sondern  auf  die  Einhelligkeit  alles  Erkennens 
kommt  es  der  echten  Wissenschaft  an.  „Wahr  ist  nur  dann  ein 
Satz,  wenn  er  sich  eindeutig  in  den  Zusammenhang  aller  Erkenntnisse 
einfügen  lässt"  (17).  Das  entspricht  ganz  Kants  „formaler  Einheit 
der  Erfahrung".  Und  gut  ist  eine  Handlung  oder  ein  Wille,  „sofern 
und  weil  sie  sich  einheitlich  in  den  Zusammenhang  alles  Lebens 
( aller  Zwecke)  einfügen"  (39).  Das  ist  Kants  formales  Sittengesetz  in 
etwas  anderer  Form.  „Das  Prinzip  der  wahren  Moral  ist  also  das 
Prinzip  der  Einheit  menschlichen  Denkens,  Wollens  und  Handelns, 
unter  gleichberechtigten  Menschen."  Es  ist  zugleich  dasselbe  Prinzip, 
das  dem  Christentum  als  Idee  eines  Reiches  Gottes  (also  im  Kantischen 
Sinne)  zu  Grunde  liegt;  nur  ist  es  jetzt  „in  seinen  inneren  Be- 
dingungen erkannt  und  entfaltet"  und  „aus  den  Nebeln  des  Jenseits 
zu  einer  treibenden  Kraft  in  dem  Leben  der  Menschheit  erhoben"  ( 39 ). 
In  diesem  Sinne  ist  jene  Einheit,  nach  der  sich  unser  ganzes  Wesen 
sehnt,  ,,für  uns  wirklich  Gott"  (43),  weil  das  Gute,  der  oberste 
Richtpunkt  unseres  Denkens  und  Wollens.  (Ich  sehe  nicht  ein. 
weshalb  Staudinger  sich  S.  43  Anm.  gegen  Natorps  in  genau  dem 
gleichen  Sinne  gebrauchten  Ausdruck:  das  Unbedingte,  wehrt;  denn 
das  „Unbedingte"  erhält  auch  bei  Natorp  seinen  Inhalt  selbstver- 
ständlich erst  aus  der  Erfahrung).    Das  sittliche  oder,  sagen  wir  be- 


30 

stimmter,  das  sozialethische  Ideal  bestimmt  Staudinger,  sachlich  in 
völligem  Einklang  mit  Natorp  und  Stammler,  als  „die  durch  freie, 
gleichberechtigte  Menschen  zu  schaffende  Einheit  des  praktischen  Ge- 
meinschaftslebens in  Erkenntnis,  Zweckordnung  und  Wille-  (66  f.), 
später  (S.  81,  84)  h,uch  geradezu  mit  Stammler  als  „die  Gemein- 
schaft frei  wollender  Menschen". 

Aus  ihm  entspringt  alle  Gemein  seh aftsethik.  Die  Verdunke- 
lung dieses  Einheitsstrebens  dagegen  ist  der  Quell  aller  Gewalt- 
ethik,  die  das  Mittel  über  den  Zweck  stellt:  als  fanatischer  Sekten- 
geist, als  dogmatische  Unterdrückungssucht,  als  nackte  Literessen- 
politik oder  gar  als  „satanische"  Lüge  und  Heuchelei,  Dem  gegenüber 
bleibt  die  Aufgabe  ethischer  Politik:  die  vernunftgemässe  Fort- 
bildung der  gegebenen,  geschichtlich  gewordenen  Ordnung  jenem  sozial- 
ethischen Endziele  zu.  Ihre  Mittel  sind:  Erkenntnis  und  Organi- 
sation (80).  Das  dunkle  Bewusstsein  der  Massen,  ihr  blinder  Gefühls- 
drang zu  mehr  oder  minder  phantastischen  Zielen  muss  sich  abklären  zu 
klarem  Erkennen,  zielbewusstem  Wollen  und  organisiertem  Handeln. 

Freilich  ist  alle  Ethik  machtlos,  sobald  die  historischen  Be- 
dingungen zu  einer  sittlichen  Erneuerung  der  Gesellschaft  fehlen. 
„Die  schönsten  Grundsätze  Mark  Aureis  können  kein  Rom  vor  dem 
Zusammenbruch  retten,  weil  sie  nicht  als  lebendige  Triebkräfte  einer 
Massenbewegung  erscheinen"  (80).  Diese  letzteren  sieht  Staudinger 
in  der  modernen  Arbeiterbewegung.  Das  kapitalistische  System  ist 
nicht,  wie  der  alte  Liberalismus  glaubte,  ein  System  des  Zusammen- 
lebens freier  und  gleicher  Menschen  (S.  111),  sondern  übersetzt  nur 
die  früheren  persönlichen  Herrschaftsformen  in  die  unpersönliche  des 
Kapitals.  Dem  gegenüber  vertritt  der  Sozialismus  die  höhere  Sitt- 
lichkeit; aber  auch  er  hat  noch  manchen  Rest  der  ihm  gegenwärtig 
anhängenden  Gewaltethik  abzustreifen;  er  muss  die  Kontinuität  der 
Entwicklung  d.  i.  den  steten  Zusammenhang  des  Werdenden  mit 
dem  schon  Gewordenen,  den  schon  die  Natur  der  Dinge  vorschreibt, 
auch  seinerseits  nicht  durchbrechen  wollen,  und  den  Weg  der  ver- 
fassungsmässigen Fortbildung  wahren,  soweit  es  an  ihm  liegt. 

Dem  Marxismus  steht  Staudinger  ähnlich  gegenüber  wie  Stamm- 


31 

1er  und  Natorp,  im  ganzen  aber  doch  wohl  etwas  näher.  Er  ver- 
g'leicht  die  Marx'scbe  Methode  mit  derjenigen  von  Kant,  insofern 
beide  keine  psychologischen  Untersuchungen,  sondern  objektive 
Analyse  des  Gegebenen  treiben.  „Darum  ist,  wenn  auch  manche 
Einzeluntersuchuug  verbesserungsfähig  sein  mag,  an  Prinzip  und  Me- 
thode der  Marx'schen  Forschung  nichts  auszusetzen.  Wir  vermögen 
an  ihr  keinen  prinzipiellen  Fehler,  sondern  nur  einen  Mangel  zu  ent- 
decken, der  zu  ergänzen  ist"  (110).  Dieser  Mangel  liegt  darin,  dass 
Marx  auf  die  Frage  des  Verhältnisses  der  Ökonomie  zur  Ethik  nicht 
eingeht.  Er  will  nur  zeigen,  welche  Gesetze  thatsächlich  in  der  heutigen 
Volkswirtschaft  wirken,  weist  dagegen  jede  Begründung  ihres  Rechtes 
oder  Unrechtes  ab.  Das  aber  ist  ein  „unmögliches  Unterfangen." 
„So  lange  der  Marxismus  das  soziale  Werden  nach  dem  kausalen 
Gesichtspunkte  wissenschaftlich  verfolgt,  ist  er  leistungsfähig  und 
kann  etwaige  Irrtümer  stets  wieder  nach  wissenschaftlich-einheit- 
licher Methode  korrigieren.  Sobald  er  sich  aber  bewusste  und 
planmässige  Umgestaltung  des  Gegebenen  zum  Ziele  macht,  kann 
er  den  Massstab  hierzu  nicht  in  jenem  kausalen  Werden  entdecken  .  .  . 
Sobald  der  Marxismus  dessen  inne  wird,  kommt  er  In 
konsequenter  Verfolgung  seines  eigenen  Prinzips  zu  Kant", 
auf  dessen  Forschungen  die  Einsicht  in  das  Gesetz  der  Zweckbildung 
ruht.  Und  umgekehrt  bleiben  ,,die  Gesetze  der  Zweckbildung  ein 
leeres  Schema,  sobald  die  Naturgesetze  des  thatsächlichen  Lebens 
nicht  die  Grundlage  darbieten.  Sobald  der  Kantianer  dies 
klar  erkennt,  kommt  er  in  folgerechter  Entwicklung  seiner 
eigenen  Grundgedanken  zu  Marx'',  auf  dessen  Forschungen  die 
Einsicht  in  die  Gesetze  der  bisherigen  wirtschaftlichen  Entwicklung 
gegründet  ist  (159). 

So  ist  Staudinger  unter  den  Neukantianern  —  denn  diesen  ist 
er  trotz  einzelner  Divergenzen  wegen  seiner  Methodik  offenbar  zu- 
zuzählen —  derjenige,  der  die  Möglichkeit  einer  Verbindung  von 
Marxismus  und  Kritizismus  am  deutlichsten  zum  Ausdruck  bringt, 
ihre  Notwendigkeit  am  kräftigsten  betont.  Wir  wären  damit  an  der 
Grenze  unseres  Abschnittes  angelangt  und  könnten  nunmehr  von  den 


32 

sozialisierenden  Kantianern  zu  den  kantianisierenden  Sozialisten 
übergehen,  wenn  wir  nicht  noch  einige  litterarische  Erscheinungen 
der  letzten  Zeit  zu  verzeichnen  hätten,  die,  gerade  weil  sie  von  Ge- 
lehrten ausgehen,  die  bisher  nicht  als  Kantianer  bekannt  waren, 
zeigen,  wie  sich  innerhalb  der  verschiedensten  wissenschaftlichen 
Kreise  ein  Drang  in  der  bisher  von  uns  beschriebenen  Richtung 
bemerkbar  macht. 

6.  Die  von  Professor  Otto  Gerlach  (Königsberg)  zum  Kant- 
geburtstag 1899  in  der  Kantgesellschaft  zu  Königsberg  gehaltene 
Rede  über  „Kants  Einfluss  auf  die  Sozialwissenschaft  in 
ihrer  neuesten  Entwicklung"  (jetzt  abgedruckt  in  der  Tübinger 
„Zeitschrift  für  die  gesamte  Staatswissenschaft"  1899,  S.  644 — 663) 
freilich  ist  ihrem  wesentlichsten  Inhalt  nach  nur  ein,  seiner  Klarheit 
wegen  recht  lesenswertes,  Referat  über  Stammlers  oben  von  uns 
besprochenes  Buch.  Auch  Gerlach  zeigt,  wie  Stammlers  Frage- 
stellung und  Methode  durchaus  die  des  Kritizismus  ist  und  nichts 
zu  thun  hat  mit  der  sogenannten  ethischen  Richtung  der  National- 
ökonomie, in  die  Sombart  ihn  einzureihen  versucht  hat  sondern  aus 
den  eigenen  Erkenntnisbedingungen  der  Sozialwissenschaft  deren 
eigenartige  Methode  und  Gesetzlichkeit  begründet.  Er  schlägt  (S.  662) 
vor,  Stammlers  Lehre  als  ,. realistischen  Idealismus"  zu  be- 
zeichnen und  ist  überzeugt,  dass  sie  berufen  sei,  ,, einen  Markstein 
in  der  Geschichte  der  Sozialwissenschaft  zu  bilden  und  diese  in  die 
von  der  Kantschen  Philosophie  gewiesenen  Bahnen  hineinzuleiten" 
(648).  Die  „bislang  noch  immer  schwankenden  Fundamente  der- 
selben", so  schliesst  er  seine  Ausführungen  (668),  werden  durch  den 
neu  in  ihr  erwachten  Geist  Kants  ,,eiue  gesicherte  Grundlage  er- 
halten." 

Der  „Riesenfortschritt"  des  sozialen  Bewusstseins,  von  dem 
Cohen  (s.  oben  S.  17)  sprach,  ist  in  der  That  unleugbar.  Er  giebt  sich 
in  der  täglich  mehr  anschwellenden  sozialethischen  Litteratur  zu  er- 
kennen. Wir  greifen  aus  der  letzteren  zwei  hervorragendere  Er- 
scheinungen heraus,  weil  auch  in  ihnen  das  ,.Zurück  auf  Kant!" 
deutlich  zu  verspüren  ist,  wenn  auch  nicht  so  sehr  in  Beziehung  auf 


33 

die  wissenschaftliche  Methode,  als  auf  den  ethischen  Standpunkt. 
Insbesondere  ist  dies  bei  dem  zuerst  zu  nennenden  der  Fall. 

7.  Theodor  Lipps  hat  in  zehn,  teilweise  im  Volkshochschul- 
rerein  zu  München  gehaltenen,  Vorträgen  ,,Die  ethischen  Grund- 
fragen" erörtert  (als  Buch  gedruckt  bei  Leopold  Voss,  Hamburg, 
und  Leipzig  1899,  308  S.).  Als  solche  betrachtet  er:  L  Egoismus 
und  Altruismus.  2.  Die  sittlichen  Grundmotive  und  das  Böse. 
3.  Eudämonismus  und  Utilitarismus.  4.  Gehorsam  und  sittliche  Freiheit. 
5,  Das  sittlich  Richtige.  6.  Die  obersten  sittlichen  Normen  und  das 
Gewissen.  7.  Das  System  der  Zwecke.  8.  Soziale  Organismen  (Familie 
und  Staat).  9.  Die  Freiheit  des  Willens.  10.  Zurechnung,  Verant- 
wortlichkeit und  Strafe.  Seinem  populären  Zwecke  entsprechend, 
enthält  das  Buch  keine  gelehrten  Citate  (von  denen  übrigens  auch  die 
besprochenen  Schriften  von  Cohen,  Natorp  und  Staudinger  fast  völlig 
frei  sind).  Um  so  bemerkenswerter  ist,  das  Lipps,  der  uns  früher 
nicht  als  Kantianer  bekannt  war,  von  Philosophen  einzig  und  allein 
Kant  hervorhebt  und  sich  an  dessen  ethische  Grundprinzipien  durch- 
aus anschliesst.  Besonders  erfreulich  war  uns,  dass  er,  wie  wir, 
den  vielgescholtenen  ,, Formalismus"  der  Kantischeu  Ethik  verteidigt 
und  nachweist,  wie  gerade  in  ihm  ihr  Inhaltsreichtum  begründet  liegt 
(158  f.).  Doch  wir  haben  hier  nur  festzustellen,  dass  er  mit  aus- 
drücklicher Berufung  auf  Kant  und  aus  dessen  ethischen  Prinzipien 
auch  seine  sozialen  Gedanken  ableitet. 

„Niemand  kann  nach  sittlichem  Rechte  Herr  sein,  ohne  .  .  . 
zugleich  Dien  er  zusein,  nämlich  Diener  des  absoluten  sittlichen  Zweckes, 
.  .  .  auch  in  der  Person  des  Dienenden.  Und  jeder,  der  dient,  soll  zu- 
gleich Herr  sein,  d.  h.  eine  des  sittlichen  Gesamtzweckes  und  ihres 
eigenen  sittlichen  Lebenszweckes  sich  bewusste  Persönlichkeit. 
Jedes  andere  Herrschen  und  jedes  andere  Dienen  ist  unsittlich"  (157). 
Das  Sittengesetz  sagt:  Habe  alle  möglichen  menschlichen  Zwecke 
und  stifte  zwischen  ihnen  eine  für  alle  Fälle  und  für  alle  Menschen 
gültige  Ordnung  (159).  Wenn  Lipps  (mit  Theobald  Ziegler)  die 
soziale  Frage  als  sittliche  Frage  auffasst  (190),  so  geschieht  das 
•doch    in    dem  gleichzeitigen  Bewusstsein,    dass    zugleich  — •  um  mit 

Vorländer,  Kant  nud  der  Sozialismus.  3 


34 

Staudinger  zu  reden  —  „die  sittliche  Frage  eine  soziale  Frage" 
ist,^)  Menschen  müssen  zunächst  leben;  Menschen  sollen  aber  auch 
als  Menschen  leben  (189),  sich  als  sittlicher  Selbstzweck,  nicht  als 
Arbeitssklaven  bethätigen  und  fühlen  (189  f.).  Deshalb  muss  das 
Klassen-  und  Privilegienrecht  übergehen  in  das  sittliche  Menschen- 
recht (232).  Das  letzte  Ziel  aller  Staatsordnung  ist  die  volle  sitt- 
liche Rechtsordnung,  d.  h.  der  vollkommene  sittliche  Organismus  der 
Menschen  (237),  ein  Reich  der  sittlichen  Menschheit,  „ein  Reich 
Gottes  auf  Erden"  (238).  Die  jetzt  bestehende  Eigentumsordnung 
und  Staatsverfassung  sind  nur  so  lange  unantastbar,  als  sie  sittlich 
zweckmässig  sind,  d.  i.  „mehr  als  andere  geeignet,  den  sittlichen 
Endzweck  des  Staates,  die  Verwirklichung  der  starken,  reichen  und 
reien  Persönlichkeit  zu  fördern"  (235).  Wären  wir  überzeugt,  dass 
dies  nicht  mehr  der  Fall,  so  hätten  wir  die  Pflicht,  .Jeder'  an  seinem 
Teile,  an  dem  Umbau  dieser  Grundpfeiler  der  bestehenden  sozialen 
und  staatlichen  Ordnung  mitzuarbeiten"  (ebd.).  Revolution,  als  „sitt- 
liche Notwehr"  kann  Pflicht  sein,  heiligste  Pflicht.  ,,Kein  ^'olk  hat 
das  Recht,  sich  sittlich  zu  Grunde  richten  zu  lassen  ....  Die  sitt- 
liche Höhe  der  Menschheit  ist  das  höchste  Gesetz  und  das  absolute 
Recht"  (239). 

So  kraftvoll  und  unerschrocken  redet,  von  Kants  kategorischem 
Imperativ  ergriffen,  der  Münchener  Philosoph.  Wenn  er  auch  die 
Spezialanwendung  auf  das  eigentlichste  Gebiet  des  Sozialismus,  das 
wirtschaftliche,  nicht  vollzieht,  und  mehr  als  Soziale thiker  denn 
als  Sozialökonom  auftritt,  so  kann  darum  in  weiterem  Sinne 
doch  auch  er  zu  der  bisher  von  uns  charakterisierten  Gruppe  der 
Kantisch  beeinflussten  sozialen  Idealisten  gerechnet  werden. 

8.  In  gewissem  Sinn  ist  das  auch  mit  dem  letzten  hier  zu  be- 
sprechenden Gelehrten,  dem  Professor  an  der  tschechischen  Universi- 
tät Prag,  Th.  G.  Masaryk,  der  Fall.  Sein  ebenfalls  aus  akade- 
mischen Vorträgen  entstandenes  Buch:   Die  philosophischen  und 


1)  Vergleiche  den  unter  obiger  Überschrift  erschienenen  schönen  Aufsatz 
Staudingers  in  den  Piiilosophischen  Monatsheften  (herausg.  von  Natorp) 
XXIX  (1893)  S.  30—53  und  197—219. 


35 

soziologischen  Grundlag-en  des  Marxismus  (Wien,  C.  Konegen 
1899,  XV  und  600  Seiten)  giebt  als  ,, Studien  zur  sozialen  Frage" 
eine  eingehende  und  mit  vielem  bibliographischen  Material  ausge- 
■stattete,  freilich  nicht  sehr  einheitliche  Darstellung  und  Kritik  des 
Marxismus.  Hier  interessiert  uns  zunächst  nur  die  eigene  kritische 
und  systematische  Stellung  des  Verfassers,  der  in  der  neuesten  x\uflage 
von  Ueberweg-Heinze  (III  1,  493)  als  Comte-Spencerscher  Positivist 
bezeichnet  wird. 

In  einer  Replik  gegen  einen  seiner  Kritiker  (Neue  Zeit  vom 
18,  November  1899,  XVIII  1,  S.  217f.),  meint  er  nun  allerdings, 
dass  er  ebenso  wenig  Positivist  sei,  als  er  eine  „Rückkehr  zu  Kant" 
verlange.  Dennoch  hat  der  betreffende  Kritiker  (Antonio  Labriola) 
nicht  ganz  Unrecht,  wenn  er  in  Masaryks  Buch,  falls  er  „richtig  ver- 
standen habe",  die  „Rückkehr  zu  Kant"  gepredigt  sieht  (Neue  Zeit, 
XVIII  S.  76).  Gewiss  schliesst  sich  Masaryk  nicht  ausdrücklich  an 
Kant  an,  wie  denn  überhaupt  sein  stofflich  sehr  reichhaltiges  Buch 
einen  einheitlich  durchgeführten  methodisch-systematischen  Stand- 
punkt sehr  vermissen  lässt.  Dass  er  in  die  Tiefen  Kantischer  Philoso- 
phie nicht  eingedrungen  ist,  zeigen  Aussprüche,  wie  die :  die  Philoso- 
phie Kants  wie  die  Humes  sei  „subjektivistisch"  und  deshalb  „ent- 
schieden individualistisch''  (S.  199),  Kant  habe  sich  in  der  „Frage 
aller  Fragen''  nämlich  der  „der  schöpferischen  Spontaneität"  mit  einer 
„merkwürdigen  Doppelseitigkeit  von  empirischer  Unfreiheit  und 
Freiheit,  die  von  der  reinen  Vernunft  postuliert  werde,  beholfen" 
(234)  u.  a.  m.  (vgl.  noch  S.  462,  482).  Dennoch  steht  er  in  dem 
philosophischen  Ergebnis  seiner  Untersuchungen  dem  Kritizismus 
nicht  fern. 

Nicht  nur  huldigt  er  entschieden  einer  ethischen  Begründung 
des  Sozialismus,  die  er  freilich  mehr  behauptet  als  selbst  me- 
thodisch durchführt:  „Wie  jedes  Denken  logisch,  so  soll  jedes 
Handeln  ethisch  sein"  (228).  „Die  Politik  ist  gleich  allen  praktischen 
Wissenschaften  auch  der  Ethik  untergeordnet"  (227).  „Das  soziale 
Ideal  lässt  sich  (wie  im  Anschluss  an  Stammler  gesagt  wird)  nur 
ethisch  begründen"  (229).     Sondern  auch  philosophisch  nähert  er 


36 

sich  dem  Kritizismus  gerade  in  den  Schlussparagraphen  des  theo- 
retischen Teils  doch  recht  stark.  „Der  Materialismus  ist  noetisch 
und  metaphysisch  unhaltbar,  auch  der  Positivismus  genügt  nicht. 
Wenn  wirklich  ein  Erwachen  aus  dem  ideologischen  Schlaf  statt- 
finden soll,  so  muss  das  erwachende  Bewusstsein  uijd  Denken  vor 
allem  die  Feuerprobe  der  erkenntnistheoretischen  Kritik  be- 
stehen —  der  Kritizismus  jedoch  ist  das  Grab  des  Materialis- 
mus. Die  jüngeren  Marxisten  sprechen  darum  schon  von  der  Rück- 
kehr zu  Kant"  (512).  „Den  Aufgaben  der  Zeit  ist  bloss  eine  neue 
schöpferische  Synthese  gewachsen"  (513),  die  vor  allem  das  „noetische"- 
Problem:  „Was  ist  Wahrheit?"  zu  lösen,  die  blosse  Skepsis  zu  über- 
winden hat.  „Dieser  Aufgabe  unterzog  sich  unter  anderen  auch  (I) 
Kant  am  umfassendsten  und  tiefsten;  darin  liegt  die  historische  und 
kulturelle  Bedeutung  seines  Kritizismus"  (514;  vgl.  auch  553j.  Und 
wenn  das  Problem  der  „neuen  Philosophie"  nicht  bloss  theoretisch, 
sondern  auch  praktisch  ist,  wenn  es  sich  um  neues  Leben 
handelt,  so  hat  auch  hier  Kant  bereits  den  Weg  gewiesen  (515. 
vgl.  auch  17  f.,  509  und  535). 

Wir  haben  Masaryk  in  unseren  Aufsatz,  wie  gesagt,  nur  ein- 
gereiht, weil  wir  auch  in  seinem  Buche  ein  Zeichen  der  Zeit  in 
dem  von  uns  angedeuteten  Sinne  erblicken.  Die  neue  Sozialphilo- 
sophie, die  eine  systematische  Verbindung  von  Sozialismus  und 
Kantianismus  ermöglicht,  und  der  auch  wir  anhängen,  finden  wir 
nicht  bei  ihm,  sondern  bei  Natorp,  Stammler  und  Staudinger  ent- 
wickelt. Wie  verhält  sich  nun  dem  gegenüber  der  Sozialismus  im 
engeren  Sinne,  insbesondere  der  „wissenschaftliche  Sozialismus"  oder 
Marxismus?  Kann  man,  wie  dort  von  sozialistischen  oder  sozialisieren- 
den Kantianern,  so  hier  von  Kantischen  oder  doch  kantianisieren- 
den  Sozialisten  sprechen? 

Darauf  soll  unser  dritter  und  letzter  Abschnitt  antworten. 

III. 
Von  Lassalle    soll    hier  nicht  geredet  werden,    da  er  keine  zu- 
sammenhängende wissenschaftliche.  Begründung    des  Sozialismus    ge- 


37 

geben  hat.  Marx  und  Engels,  die  Begründer  des  „wissenschaft- 
lichen Sozialismus",  haben  entschieden  an  Kant  nicht  angeknüpft. 
Es  ist  eine  andere  Frage,  ob  nicht  trotzdem,  wie  Staudinger 
(s.  oben  S.  31)  und  Woltmann  (s.  unten)  meinen,  gewisse  gemeinsame 
Züge  zwischen  ihrer  und  der  Kantischen  Denkweise  obwalten,  oder 
ob  nicht,  wie  wir  mit  Natorp,  Stammler  und  Staudinger  zu  behaupten 
geneigt  sind,  von  uns  eine  systematische  Verbindung  zwischen  beiden 
hergestellt  werden  kann.  Historisch  und  im  Bewusstsein  der  beiden 
sozialistischen  Denker  lag  die  Sache  jedenfalls  so,  dass  sie  sich  zu 
dem  kritischen  Idealismus,  wie  zu  einer  idealistischen,  ethischen  Be- 
gründung des  Sozialismus  überhaupt,  theoretisch  wenigstens,  in  einen 
entschiedenen  Gegensatz  gestellt  haben. 

1.  Zwar  hat  Marx  als  Student,  wie  er  in  einem  vor  zwei  Jahren^) 
von  seiner  Tochter  Eleanor  veröffentlichten  Briefe  an  seinen  Vater 
schreibt,  anfangs  dem  Idealismus  angehangen  und  ihn  „mit 
Kantischem  und  Fichtesehem  verglichen  und  genährt",  aber  schon 
als  Neunzehnjäriger  ist  er,  wie  er  ebendort  berichtet,  davon  abge- 
kommen, um  „im  Wirklichen  selbst  die  Ideen  zu  suchen."  Und  in  seinen 
späteren  Schriften  findet  sich  kaum  noch  eine  Anspielung  auf  Kant^ 
während  er  bekanntlich  von  Hegel  und  Feuerbach  stark  beeinflusst 
war  und  blieb.  Masaryks  Buch,  dessen  Hauptwert  gerade  in  der 
eingehenden  historischen  Darstellung  der  philosophischen  Grund- 
lagen des  Marxismus  beruht,  findet  in  ihm  alle  möglichen  -ismen 
(nicht  weniger  als  24  an  der  Zahl,  vom  „Astatismus  bis  zum  Ultra- 
positivismus",^)  nur  nicht  den  —  Kritizismus.  Und  Woltmann,  der  Marx 
möglichst  nahe  an  Kant  heranrücken  möchte,  muss  doch  von  vorn- 
herein^)  zugeben,  dass  Marx  „sich  dieses  prinzipiellen  Zusammen- 
hangs nicht  klar  bewusst  gewesen  ist." 

2.  Nicht  viel  anders  steht  es  mit  seinem  Freunde  Eng e  1  s.  Engels 


1)  Neue  Zeit  XVI,  1,  S.  9. 

2)  Vgl.  des  Näheren  meinen  Artikel  in  No.  50  der  Ethischen  Kultur  1899 : 
Zur  Kritik  der  marxistischen  Weltanschammg. 

3)  Vorwort    S.  VI    seines    unten    noch    zu    besprechenden    Buches:    Der 

historische  Materialismus- 


38 

hat  zwar  in  seinem  Aufsatz  über  Feuerbach ^)  die  deutsche  Arbeiter- 
bewegung als  die  „Erbin  der  deutschen  klassischen  Philosophie'' 
bezeichnet  und  1S91  einmal  unter  sein  Bild  geschrieben:  „Wir  deutschen 
Sozialisten  sind  stolz  darauf,  abzustammen  nicht  nur  von  Saint-Simon, 
Fourier  ^md  Owen,  sondern  auch  von  Kant,  Fichte  und  Hegel" ; 
aber  als  eigentlicher  Kepräsentant  der  „klassischen"  Philosophie  gilt 
ihm  und  Marx  doch  nur  Hegel.  Vor  Kant  zeigt  er  zwar  stets 
Hochachtung,  aber  er  ist  in  dessen  Philosophie  nicht  tiefer  ein- 
gedrungen. So  nennt  sein  Antidühring^)  den  Königsberger  Philosophen 
an  verschiedenen  Stellen  (S.  8  f.,  16,  37  f.,  46  f.,  56j,  ohne  sich  doch 
im  mindesten  von  dessen  erkenntniskritischer  Methode  berührt  zu 
zeigen.  Ja,  im  ,, Feuerbach"  (S.  181.)  zeigt  er  so  wenig  Verständnis 
des  Kantischen  „Dings  an  sich",  dass  er  diese  „philosophische 
Schrulle"  einfach  durch  das  chemische  Experiment  für  widerlegt  er- 
klärt, was  ihm  selbst  von  seinem  Parteigenossen  Woltmann  (a.  a.  0. 
S.  25,  vgl.  näher  S.  306  ff. )  den  Vorwurf  „grauenhafter  Unkenntnis" 
zuzieht.  Die  „Neubelebung  der  Kantschen  Auffassung  in  Deutschland 
durch  die  Neukantianer"  sei  „der  längst  erfolgten  theoretischen  und 
praktischen  Widerlegung  gegenüber,  wissenschaftlich  ein  Kückschritt 
und  praktisch  nur  eine  verschämte  Weise,  den  Materialismus  hinter- 
rücks zu  acceptieren  und  vor  der  Welt  zu  verleugnen"!  (ebd.  S.  19). 
Und  Kants  kategorischer  Imperativ  wird  in  derselben  Schrift  wiederholt 
(S.  27  und  40)  für  ,, ohnmächtig"  erklärt,  „weil  er  das  Unmögliche 
fordert,  also  nie  zu  etwas  Wirklichem  kommt".  Kurz,  beide  Freunde 
kennen,  nach  ihren  litterarischen  Äusserungen  zu  urteilen,  von  der 
neueren  Philosophie  genauer  nur  Feuerbach  und  Hegel.  Wenn  sie 
von  Philosophie  oder  Metaphysik  reden,  so  ist  darunter  in  der  Regel 
die  Hegeische  Spekulation  zu  verstehen.^) 

3.  Diese  philosophischen  Ansichten  von  Marx  und  Engels  haben 


'j  Fr.  Engels,  Ludwig  Feuerbach  und  der  Ausgang  der  klassischen  deutschen 
Philosophie.     Stuttgart,  Dietz  1888.  S.  68. 

2)  Herrn  Eugen  Dührings  Umwälzung  der  Wissenschaft,   3.  Aufl.   Stuttgart, 
Dietz  1894. 

3)  In    diesem    Urteil   stimmen   auch  die  zwei  neuesten,  von  einander  ganz 
«inabhängigen  Kritiker  des  Marxismus,  Masaryk  und  Wolfmann,  überein. 


39 

unter  ihren  Anhängern  und  Nachfolgern  bis  vor  kurzem  keinen 
Widerspruch  gefunden.  Galt  doch  der  Anti-Dühring  noch  Winter  1894/5 
nicht  bloss  Kautsky  (Neue  Zeit  XIII  1,  715),  sondern  auch  noch 
Bernstein  (ebd.  S.  142  ff.)  als  ein  „Lehrbuch  ersten  Ranges."  So  ist 
es  denn  auch  nicht  zu  verwundern,  wenn  sich  das  wissenschaftliche 
Organ  des  Marxismus,  die  ,,Neue  Zeit",  bis  vor  etwa  zwei  Jahren 
mit  Kant  so  gut  wie  gar  nicht  beschäftigt  hat.  Wir  haben  zwölf 
Bände  derselben  —  die  Jahrgänge  1890/1  bis  1895/6  —  daraufhin 
durchmustert  und  nur  an  ganz  wenigen  Stellen  eine  ganz  oberflächliche 
Berührung  mit  Kant  gefunden.  Leopold  Jakoby  polemisiert  einmal 
(Xll  2,  59  f.)  gegen  Kants  Raumbegriff,  und  Bernstein  wendet  sich 
gelegentlich  eines  Aufsatzes  über  F.  A.  Lange  und  Ellissens  Lange- 
Biographie,  in  ganz  ähnlicher  Weise  wie  Engels  und  im  Anschluss  an 
dessen  „Feuerbach",  gegen  den  Neukantianismus  (X  2,  102  f.)  und 
Kritizismus  (104  f.),  der  mit  einem  „Kirchgang"  endige!  Engels  wieder- 
holt (XI  1,  18  f.)  seine  vermeinte  Widerlegung  des  Kantschen  Ding  an 
sieh  durch  das  chemische  Experiment.  Von  Kant  im  Zusammenhang 
mit  sozialen  Problemen  ist  erst  recht  nicht  die  Rede.  Ein  historisch- 
darstellender Aufsatz  H.  Cunows  über  „Soziologie,  Ethnologie  und 
materialistische  Geschichtsauffassung"  übergeht  sogar  Kants  Geschichts- 
philosophie völlig  und  geht  von  Herder  sofort  zu  Hegel  über.  Eine 
gewisse  Ausnahme  macht  nur  ein  nichtdeutscher  Sozialist,  dessen 
Vortrag  über  ,,die  idealistische  Geschichtsauffassung"  in  Band  XIII,  2 
der  „Neuen  Zeit"  abgedruckt  wurde.  Auf  ihn  aber  haben  wir  aus- 
führlicher einzugehen. 

4.  Der  erste  ausgesprochene  Sozialist  nämlich,  der  ausdrücklich  auf 
Kant  als  geistigen  Miturheber  des  deutschen  Sozialismus  hingewiesen 
hat,  ist  Jean  Jaures,  der,  ehe  er  als  Vorkämpfer  des  Sozialismus 
in  die  politische  Arena  trat,  eine  Dissertation:  Deprimis  socialismi 
Germanici  lineamentis  apud  Lutherum,  Kant,  Fichte  et 
Hegel  (Tolosae.  Chauvin.  1891,  83  S.)  geschrieben  hat.  Schon  um 
der  Person  des  Verfassers,  des  bekannten  hervorragenden  Führers  der 
französischen  Sozialisten,  willen  bietet  es  wohl  ein  gewisses  Interesse, 
wenn  ich  aus  der  in  Deutschland  fast  unbekannt  gebliebenen  —  nur 


40 

Vaihinger  hat  in  seinem  Litteraturberieht  im  Archiv  für  Geschichte  der 
Philosophie  VIII,  559  eine  kurze  Notiz  darüber  gebracht  —  und  nicht  im 
Buchhandel  befindlichen  Schritt  Ausführlicheres  mitteile.  (Ich  gestatte 
mir  dabei,  das  keineswegs  klassische  Latein  des  damaligen  Professors 
von  Toulouse  ins  Deutsche  zu  übertragen.) 

Jaures  erklärt  auf  S.  3  rund  heraus,  dass  er  den  ..wahren" 
Ursprung  des  Sozialismus  nicht  auf  den  Materialismus  der  „äussersten 
Hegeischen  Linken'",  sondern  auf  den  Idealismus  eines  Luther,  Kant, 
Fichte  und  Hegel  zurückführe.  Wenn  der  heutige  deutsche  Sozialis- 
mus unter  dem  Schilde  des  Materialismus  kämpfe,  so  sei  dies  nur 
ein  Charakterzug  des  gegenwärtigen  Kriegszustandes  (tanquam  belli 
praesentis  habitus),  nicht  des  „zukünftigen  Friedens".  „Im  innersten 
Herzen  des  Sozialismus  lebt  der  Geist  des  deutschen  Idealismus". 
Die  „wahren  Sozialisten"  seien  Schüler  der  deutschen  Philosophie, 
ja  des  deutschen  Geistes  selbst  gewesen.  „Die  Dinge  gehen  aus 
den  Ideen  hervor,  die  Geschichte  hängt  von  der  Philosophie  ab". 
Wohl  sei  in  England,  dem  klassischen  Lande  des  Kapitalismus, 
dessen  Prozess  geschaut  und  beschrieben  worden,  aber  von  —  einem, 
deutschen  Hegelianer  (S.  4). 

Seine  interessanten  Ausführungen  über  die  ,, ersten  Grundlinien 
des  Sozialismus"  bei  Luther  (S.  4 — 26),  die  hauptsächlich  an  dessen 
Schrift  über  den  Wucher  (S.  15if.j  anknüpfen,  müssen  wir  hier 
übergehen  und  uns  zu  dem  zweiten  Kapitel  (S.  27 — 43)  wenden, 
das  über  den  Staatsbegriif  von  Kant  und  Fichte  handelt.  Schon  in 
dem  ersten  KapiteL  war  ausgeführt  worden,  dass  der  deutsche  Geist, 
im  Gegensatz  zu  dem  französischen,  zum  Allgemeinen,  daher  auch 
zum  Sozialismus  neige,  und  im  Anschluss  daran  (S.  11  f.)  von  Kant 
gesagt:  „Immanuel  Kant  selbst,  obwohl  er  den  menschlichen  Willen 
für  absolut  frei  erklärt  hat,  setzt  dennoch  die  Freiheit  selbst  nicht 
in  das  reine  und  leere  Vermögen,  Entgegengesetztes  zu  wählen, 
sondern  definiert  sie  als  die  allgemeingültige  Richtschnur  der  Pflicht 
(universalis  officii  norma).  Der  Mensch  ist  frei,  weil  er  die  Pflicht 
erkennt,  was  ihm  mit  allen  vernünftigen  Geschöpfen  gemein  ist. 
Jeder  Mensch  ist    frei  durch  das  Sittengesetz  (lex  moralis).   welches 


)  « 

erhaben  ist  über  Erde,  Himmel  und  die  gesamte  Menschheit." 
Freiheit  sei  eben  den  Deutschen  identisch  mit  Gesetz  und  Gerechtigkeit. 

Einen  anderen  Unterschied  des  deutschen  und  des  französischen 
Geistes  findet  nun  J.  im  zweiten  Kapitel  darin,  dass  der  erstere  im 
Gegensatz  zum  zweiten  zur  Vermittlung  und  zur  Synthese  neige. 
So  verbinde  auch  Kant  die  aus  Frankreich  (Rousseau)  herüberge- 
kommenen Freiheitsideen  mit  dem  preussischen  Staatsgedanken  eines 
Friedrich  IL  (S.  27  ff.).  Kant  scheine  zwar  zunächst  die  individuelle 
Freiheit  jedes  Einzelnen  als  die  Grundlage  des  Rechtes  zu  betrachten. 
(S.  33).  „Jeder  Mensch  ist  frei,  weil  er  die  Pflicht  erfüllen  und 
dem  Gebote  des  Sittengesetzes  gehorchen  soll:  wer  soll,  kann  auch. 
Daher  ist  auch  jeder  Mensch  in  Bezug  auf  seine  Freiheit  den  andern 
gleich;  und  da  ein  jeder  .  .  eine  Person  und  keine  Sache  ist,  kann 
kein  Mensch  den  anderen  als  eine  Sache  gebrauchen;  der  Mensch 
ist  kein  Mittel,  sondern  sich  selbst  Zweck".  Diese  Freiheit  wird  nur 
durch  die  Rücksicht  auf  die  Freiheit  eines  jeden  Anderen  einge- 
schränkt. Zu  jedem  Rechtsgesetz  ist  die  Zustimmung  des  ganzen 
Volkes  nötig.  Aus  dem  ,, ursprünglichen  Vertrag",  dem  pactum 
sociale,  leiten  sich  alle  rechtmässigen  Gesetze  her.  Hiernach  sollte 
man  Kant  für  einen  französischen  Revolutionsphilosophen  halten  (34). 
aber  dem  gegenüber  erscheint  nun  andererseits  die  Idee  des  Staats, 
der  nicht  die  blosse  Summe  der  Einzelwillen  ist,  sondern  ,.eine 
Art  innerer  V^ernunftwillen  des  Volkes"  (interna  quaedam  et  rationalis 
populi  v,oluntas),  dem  sonach  mit  Recht  die  höchste  Macht  inne 
wohnt,  gegen  den  eine  Empörung  nicht  erlaubt  ist  (35  f.).  Damit  hat 
Kant,  wie  Jaures  (37)  meint,  dem  Sozialismus  zwar  nicht  ,, ausdrück- 
lich beigestimmt",  aber  ihn  doch  ,,warm  vertreten"  (fovit). 

Was  dagegen  die  Verteilung  des  Besitzes  angehe,  so  stehe 
Kant  dem  Sozialismus  bald  näher  bald  ferner.  Er  behaupte  freilich, 
die  politische  und  menschliche  Freiheit  und  Gleichheit  könne  ohne 
wirtschaftliche  Gleichheit  bestehen,  und  acceptiere  die  Unter- 
scheidung von  aktiven  und  passiven  Staatsbürgern,  „welche  zuerst 
die  Gesetzgeber  der  Revolution  beschlossen  haben"  (!),  wonach  der. 
Unselbständige    kein  Stimmrecht    habe,    während    ihm    der    spätere 


42 

Zugang-  zur  Selbständigkeit  ofifen  stehe  (vgl.  unsere  obigen  Aus- 
führungen über  Kant  S.  14  f.).  Das  klinge  antisozialistisch,  führe  aber 
in  seinen  Konsequenzen  gerade  zum  Sozialismus.  ,,Denn  dieser  erklärt, 
dass  die  politische  und  yjhilosophische  Gleichheit  nur  ein  Gespötte 
sei,  wenn  nicht  ein  gewisses  Auskommen  allen  Bürgern  zu  Gebote 
stehe,  und  dass  die  armen  Bürger,  auch  wenn  sie  das]  Stimm- 
recht besitzen,  dennoch  passive  seien,  da  ihr  Leben  von  dem  Willen 
anderer  abhänge".  Nun  schreibe  aber  Kant  auf  die  Fahne  des 
Staates:  Freiheit,  Gleichheit,  wirtschaftliche  Selbständigkeit  (Besitz). 
Also  müsse  man,  wenn  man  allen  Menschen  die  Thore  des  Staates 
wieder  öffnen  wolle,  sie  auch  alle  ,,zur  Teilnahme  an  den  Gütern 
der  Erde  und  zur  Selbständigkeit  rufen.  Das  aber  ist  Sozialis- 
mus'' (38). 

Übrigens,  fährt  J.  fort,  fliesst  auch  das  Besitzrecht  selbst  nach 
Kant  nicht  aus  dem  Individualwillen  des  Einzelnen  —  occupatio 
non  est  possessio  — ,  sondern  aus  dem  ursprünglichen  Vertrag.  Da 
der  Erdboden  allen  Menschen  zum  Wohnsitz  angewiesen  ist,  so  ist 
die  Bodengemeinschaft  eine  ursprüngliche,  in  der  Idee.  Wie  fern 
sind  wir  hier  von  —  der  vulgärökonomischen  Doktrin!  (S.  39). 
Ist  aber  der  Staat  Obereigentümer  des  Bodens,  so  muss  ihm  auch 
das  Recht  zustehen,  die  Besitzbedingungen  zu  ändern.  Und  „wird 
nicht  jeder  Mensch  versuchen,  jene  vernunftgemässe  und  ausserzeit- 
liche  Gemeinschaft  des  Bodens  und  der  Reichtümer  in  eine  reale, 
historische  und  gegenwärtige  umzuwandeln?"  (40.) 

So  lautet  denn  das  Resultat  bezüglich  des  Königsberger  Philoso- 
phen: „Obwohl  Kant  gleichsam  das  ganze  Menschentum  in  die  Frei- 
heit gesetzt  und  politisch  dem  Sozialismus  widerstrebt  hat.  so 
stimmt  er  doch  in  philosophischer  Hinsicht  durch  seine  Staats- 
und Besitzidee  mit  dem  Sozialismus  überein  ...  Individualismus 
und  Sozialismus  treten  sich  nicht  als  Gegensätze  gegenüber, 
sondern  werden  mit  einander  versöhnt''  (40).  Fichte  sei  ein  er- 
weiterter Kant,  er  stelle  die  Versöhnung  von  Anarchismus  (er- 
weitertem Individualismus)  und  Kollektivismus  (erweitertem  Sozialis- 
mus) dar  (41),    während  Lassalle    die  Dialektik    mit  der  Idee  der 


43 

ewigen  Gerechtig-keit,  Hegel-Marx  mit  Fichte  verbinde  (S^jJ  '-Doch 
wir  können  auf  das  Kapitel  über  Fichte  (44 — 57),  sowie  auf  die  Er- 
örterungen über  Hegel,  Marx  und  Lassalle  (58—82)  nicht  näher  ein- 
gehen und  weisen  nur  noch  auf  die  Schlussgedanken  des  Ver- 
fassers hin.  Nachdem  er  von  Lassalle  gesprochen,  schliesst  er: 
so  stimme  der  dialektische  Sozialismus  mit  dem  moralischen,  der 
deutsche  mit  dem  französischen  Uberein,  und  die  Stunde  sei  nicht 
mehr  fern,  wo  ein  einziger  universaler  Sozialismus  alle  Herzen, 
Geister  und  Gewissen  vereinigen  werde.  Wolle  man  also  den 
deutschen  Sozialismus  verstehen,  so  sei  es  nicht  genug,  ihn  in  der 
„eigentümlichen  and  vorübergehenden  Gestalt,  den  ihm  Bebel  und 
die  übrigen  geben",  zu  erlassen,  sondern  man  müsse  seine  sämtlichen 
Quellen  aufsuchen :  den  christlichen  Sozialismus  eines  Luther,  den  morali- 
schen eines  Fichte,  den  dialektischen  eines  Hegel  und  Marx.  Der 
Sozialismus  ist  nicht  Sache  einer  kleinen  Partei,  sondern  der  Mensch- 
heit, er  ist  sub  specie  humanitatis  et  aeternitatis  zu  betrachten  (83). 
Vier  Jahre  später  hat  sich  derselbe  Jaures  allgemeiner  über  die 
.„idealistische  Geschichtsauffassung"  überhaupt  in  einer  Diskussion  mit 
Paul  Lafargue  (dem  Schwiegersohn  und  strikten  Anhänger  von  Marx), 
die  „im  Quartier  Latin  in  einer  öffentlichen,  von  der  Gruppe 
kollektivistischer  Pariser  Studenten  einberufenen  Versammlung"  ge- 
halten wurde,  ausgesprochen.^)  Die  materialistische  Auffassung  der 
Geschichte,  so  entwickelt  er  hier,  schliesst  die  idealistische  nicht 
aus;  eine  Synthese  beider  ist  erforderlich.  Übrigens  sei  der  Marx- 
sche  historische  Materialismus  keineswegs  gleichbedeutend  mit  dem 
physiologischen  und  ebenso  wenig  mit  dem  ethischen  Materialis- 
mus, der  alle  menschliche  Thätigkeit  dem  Zwecke  unterordne,  „die 
physischen  Bedürfnisse  zu  befriedigen  und  das  individuelle  Wohl  zu 
erstreben"  (a.  a.  0.  S.  545  f.).  Nach  der  idealistischen  Geschichts- 
auffassung trägt  die  Menschheit  von  vornherein  die  Keime  einer  Idee 
von  Recht  und  Gerechtigkeit  in  sich  (546),  und  diese  Idee  wird  zur 
treibenden  Kraft  des  geschichtlichen  Fortschritts,  der  gesellschaftlichen 


ij  Abgedruckt  in  Neue  Zeit  XIII,  2,  (1894/5),  S.  545—567. 


44 

Umgestaltung  (547).  Jaures  scheinen  beide  Auffassungen  keine  un- 
überwindlichen Gegensätze,  beide  können  und  müssen  sich  versöhnen, 
„einander  durchdringen"  (551),  denn  das  wirtschaftliche  und  das 
moralische  Leben  sind  von  einander  nicht  zu  trennen  (554).  Kant 
speziell  spielt  in  diesem  Vortrag  keine  bedeutendere  Rolle,  er  wird  nur 
in  der  Reihe  der  neueren  Philosophen  (neben  Descartes,  Leibnitz, 
Spinoza  und  Hegel)  aufgeführt,  deren  Bestreben  auf  die  Synthese  der 
fundamentalen  Gegensätze  Natur  und  Geist,  Notwendigkeit  und  Frei- 
heit geht  (549).  Dagegen  steht  Jaures  dem  oben  geschilderten 
Grundgedanken  der  transscendentalen  Methode  nicht  fern,  wenn  er 
dem  Menschen  „von  Anfang  an,  sogar  noch  vor  der  ersten  Äusserung 
seines  Gedankens,  den  Sinn  der  Einheit"  zuschreibt  (553)  und 
meint,  der  Mensch  sei  von  Anfang  an  ,,ein  metaphysisches  Tier"  ge- 
wesen, „denn  das  Wesen  der  Metaphysik  besteht  ja  in  der  Erforschung 
der  Einheit  des  Alls,  welche  alle  Vorgänge  und  Erscheinungen,  alle 
Gesetze  in  sich  begreift"  (554). 

5.  Jaures'  Dissertation  scheint  in  den  marxistischen  Kreisen  nicht 
bekannt  geworden  zu  sein.  Die  neue  Kantbewegung,  die  sich  inner- 
halb dieser  Kreise  seit  nicht  viel  mehr  als  zwei  Jahren  bemerkbar 
gemacht  hat,  knüpft  nicht  an  ihn  an,  sondern  ist  in  Deutschland 
spontan  entstanden.  Eine  bessere  Würdigung  des  kritischen  Philo- 
sophen zeigte  hier  zuerst  ein  an  die  bekannte  Kantbiographie  von 
M.  Kronenberg  anknüpfender  längerer  Artikel  von  Conrad  Schmidt 
(3.  Beilage  zum  „Vorwärts"  vom  17.  Oktober  1897). 

Schmidt  meint,  dass  „die  Vereinigung  von  genialer  Tiefe  und 
wissenschaftlicher  Klarheit  des  Gedankenganges,  die  Kant  aufweist, 
von  keinem  der  späteren  Philosophen  erreicht"  sei.  „Da,  wo  diese 
tiefer  graben  wollten,  als  es  Kant  gethan,  verfielen  sie  meist  einem 
mystisch  metaphysischen  Gedankenspiele,  das  nur  äusserlich  die 
Formen  wissenschaftlicher  Darlegung  annahm."  Er  setzt  sodann  aus- 
einander, wie  dagegen  Marx  und  Engels  in  Hegel,  von  dessen 
Ideen  sie  in  ihren  Jugendjahren  aufs  tiefste  ergriffen  worden  waren, 
auch  später  noch  den  höchstentwickelten  Repräsentanten  des  philo- 
sophischen Denkens  sahen.    Gegenüber  der  tiefsinnig  träumenden  und 


45 

dichtenden  Metaphysik  Hegels  sei  es  jetzt,  wo  der  von  Heg-el 
idealistisch-g-ewaltsam  zurechtkonstrulerte  Entwicklungsg-edanke  über- 
all in  die  besonderen  Wissenschaften  eingedrungen  sei,  an  der  Zeit, 
zu  einer  wissenschaftlichen  Philosophie  zurückzukehren,  „die 
sich  von  solchen  Schwärmereien  fern  hält  und  klar  begrenzte 
Probleme,  die  ausserhalb  des  Gebietes  der  speziellen  Wissen- 
schaften liegen,  durch  scharf  eindringende,  verstandesmässige  Zer- 
gliederung zu  lösen  sucht."  Der  grösste  Vertreter  dieser  wissen- 
schaftlichen oder  kritischen  Philosophie  aber  sei  Immanuel  Kant. 
Die  Bedeutung  seiner  Kritik  liege  nicht  so  sehr  in  der  Zerstörung 
der  alten  Metaphysik  an  sich,  als  in  der  eigentümlichen  Weise,  in 
der  sie  deren  Haltlosigkeit  nachwies,  indem  sie  diesen  Nachweis  auf 
die  tiefste  Zergliederung  der  menschlichen  Erkenntnis  gründete.  Bis 
hierher  ist  alles  gut.  In  den  dann  folgenden  Erörterungen  geht 
Schmidt  leider  von  dem  glücklich  gewonnenen  methodischen  Stand- 
punkt wieder  etwas  zurück.  Er  sieht  das  Centrum  und  das  „wahrhaft 
Fruchtbare"  der  Kantischen  Erkenntnistheorie  nicht,  wie  wir  ge- 
wünscht hätten,  in  dem  Nachweis  der  synthetischen  Grundsätze  als 
Bedingungen  der  mathematischen  Naturwissenschaft,  sondern  in 
einer  an  F.  A.  Lange  erinnernden  Weise,  in  der  „genialen  Unter- 
suchung über  die  Zusammensetzung  und  das  Zusammeuspiel  unserer 
seelisch-geistigen  Organisation,  durch  welche  die  Erscheinungswelt 
zustande  kommt",  also  in  einer  psychologischen  Zergliederung, 
deren  hohen  Wert  auch  für  die  „natürlich  gegebene"  materialistische 
Auffassung  er  betont.  Die  Aufdeckung  der  Struktur  unseres  Yor- 
stellungsvermögens  sei  die  eigentliche,  mit  bewunderungsw^ürdigstem 
Scharfsinn  in  Angriff  genommene  Aufgabe  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft.  Kant  habe  sie  zwar  nicht  „endgültig"  gelöst,  aber  jeder 
Versuch  tieferen  Eindringens  in  diesen  „geheimnisvollen  Schacht" 
müsse  durch  Kant  hindurch,  mit  ihm  abrechnen.  „Ohne  solche  Ab- 
rechnung kein  Fortschritt  in  der  Erkenntnistheorie,  die  mit  der 
Logik  zusammen  den  eigentlichen  Gegenstand  wissenschaftlicher 
Philosophie  bildet". 

Während  Schmidt  so  auf    erkenntnistheoretischem  Gebiete 


46 

erfreulicherweise  mit  einem  „Zurück  auf  Kant!"  endigt,  erscheint 
ihm  dagegen  Kants  Moralphilosophie  als  ein  ,, ungeheuerlicher  Ver- 
such, ein  rein  logisches  Verhältnis  zum  Prinzip  des  Sittlichen  zu 
machen,''  das.  wie  er  mit  so  vielen  anderen  meint,  „damit  von 
jeder  Rücksicht  auf  das  Fühlen,  Begehren  und  die  realen  Zwecke 
des  Lebens  losgelöst  wäre."  Er  hat  noch  nicht  erkannt,  dass  auch 
die  Ethik,  wenn  anders  sie  Anspruch  auf  den  Charakter  einer  Wissen- 
schaft erhebt,  der  strengsten  erkenntniskritischen  Begründung  bedarf, 
und  dass  gerade  ihr  ,, Formalismus''  sie  zu  der  fruchtbarsten  An- 
wendung auf  ,,das  Fühlen,  Begehren  und  die  realen  Zwecke  des 
Lebens"  befähigt.M 

Wegen  dieses  und  eines  anderen  (gegen  ein  Buch  Plechanows) 
gerichteten  Artikels  hat  C.  Schmidt  ein  Jahr  später  von 
G.  Plechanow  einen  heftigen  Angriff  erfahren,"^)  worauf  er  seinerseits 
in  derselben  Zeitschrift  erwidert  hat.  Da  indessen  die  Leser  der 
,,Kantstudien"  durch  Staudingers  Aufsatz  im  vorigen  Hefte  über  diesen 
Streit,  der  sich  wesentlich  in  eine  Polemik  über  das  Kantische  ,.Ding 
an  sich''  zuspitzte,  unterrichtet  sind,  so  können  wir  von  einer  Dar- 
stellung desselben  absehen,  zumal  da  er  für  die  inneren  Beziehungen 
zwischen  Kantianismus  und  Sozialismus  kaum  von  Bedeutung  ist. 
Im  folgenden  nur  ein  Zeugnis  dafür,  in  welchem  Grade  Plechanow 
von  Vorurteilen  gegenüber  Kant  befangen  ist.  Zu  einer  Zeit,  in  der 
bedeutende  Kantianer  sich  dem  Sozialismus,  bedeutende  theoretische 
Vorkämpfer  des  Sozialismus  sich  Kantischen  Anschauungen  nähern,  er- 
blickt er  in  dem  kritischen  Idealisten  den  Philosophen  derBourgeoisiel 
Die  Bourgeoisie  hoffe,  ,,iu  Kants  Philosophie  das  Opium  zu  finden, 
durch  das  sie  das  Proletariat  einschläfern  möchte,  das  immer  begehr- 
licher und  unlenksamer  wird."  (!)  ,,Der  Neokantianismus  ist  für  die 
herrschende  Klasse   gerade   deswegen  in  die  Mode  gekommen,    weil 


1)  Den  zum  Schluss  erfolgenden  Hinweis  Conrad  Schmidts  auf  Kants  „V^er- 
suoh,  die  negativen  Grössen  in  die  Weltweisheit  einzuführen"  (1763)  als  Vor- 
läufer der  Marxschen  Dialektik,  auf  den  wir  hier  nicht  eingehen  können, 
möchten  wir  der  Beachtung  der  Kantfreunde  empfehlen. 

2)  „Conrad  Schmidt  gegen  Karl  Marx  und  Friedrich  Engels'-,  Xeiie  Zeit 
XVn,  1,  S.  133—145. 


47 

er  ihr  eine  geistige  Waffe  im  Kampf  ums  Dasein  liefert"  (a.  a.  0. 
S.  145).  Als  ob  das,  was  Plechanow  unter  „Bourgeoisie"  versteht, 
sich  um  Kantische  Philosophie  auch  nur  im  mindesten  kümmerte  I 
Mit  Recht  hat  sich  C.  Schmidt  in  seiner  Replik  (a.  a.  0.  S.  333) 
über  die  Fiktion  der  in  —  „Fonds  und  Kantischer  Philosophie 
spekulierenden"  Bourgeois  lustig  gemacht.^)  Der  wahre  Grund  von 
Plechanows  Vorgehen  enthüllt  sich  als  ein  parteipolitischer.  „Das 
Zurückgehen  auf  Kant,  das  sich  manche  Genossen  angelegen  sein 
Hessen,  ist  ein  schlimmes  Zeichen";  denn  „es  ist  ein  Ausdruck  jenes 
opportunistischen  Geistes,  der  leider  in  unseren  Reihen  grosse 
Fortschritte  macht"  (S.  145). 

6.  In  dem  nächsten  Satze  nennt  Plechanow  denjenigen,  den  er 
hierbei  vor  allen  im  Auge  hat:  Eduard  Bernstein.  In  der  That 
„verdient",  wie  wir  mit  Plechanow  sagen,  „der  Umstand  die  Auf- 
merksamkeit aller,  denen  die  Sache  des  Sozialismus  am  Herzen 
liegt",  dass  gerade  Bernstein,  der  langjährige  Schüler  von  Marx  und 
Freund  von  Engels,  einer  der  erprobtesten  theoretischen  Vorkämpfer 
des  marxistischen  Sozialismus,  „eine  Schwäche  für  den  Neokantismus 
empfunden  hat." 

An  der  Stelle,  wo  er  dem  Sozialismus  zuerst  das  ,, Zurück 
auf  Kant!"  zugerufen  hat  (Neue  Zeit  XVI,  2,  S.  226),  führt  Bern- 
stein die  „unmittelbare  Anregung"  zu  seiner  Aeusserung  auf  den  so- 
eben besprochenen  Vorwärts-Artikel  von  Conrad  Schmidt  zurück. 
Der  innere  Grund  zu  seiner  viel  besprochenen  theoretischen  Wendung 
konnte  natürlich  nicht  in  einem  einzelnen  Artikel  liegen,  sondern 
muss  tiefer  gesucht  werden.  So  spricht  denn  auch  Bernstein  selbst 
in  einem  Briefe  an  mich  von  „einer  ganzen  Reihe  von  Einflüssen", 
die  ihn  „nach  und  nach  dem  Kantiauismus  zuführten."  Als  solche 
bezeichnet  er  in  erster  Linie  das  Studium  Friedrich  Albert  Langes, 
zu  dem  er  durch  Ellissens  vortreffliche  Biographie  besonders  angeregt 
worden  sei;  später  habe  dann  der  bedeutsame  Aufsatz  H.  Cohens 
in  dem  „kritischen  Nachtrag"  (s.  o.  S.  17  f.)  entscheidend  mitgewirkt. 


1)  Vgl.  auch  Wültmann,  Der  historische  Materialismus  S.  310  Anm. 


48 

Die  ersten  Keime  einer  dem  Neukantianismus  gerechter  werdenden 
Auffassung  sieht  man  in  der  That  bereits  in  dem  zweiten  der  drei 
schon  zu  Anfang  1892  in  der  Neuen  Zeit  (X,  2)  veröffentlichten 
Artikel  ,,Zur  Würdigung  Friedrich  Albert  Langes",  die  im  Anschluss 
an  die  kurz  vorher  erschienene  Langebiographie  Ellissens  geschrieben 
wurden.  Er  gesteht  dort  (ö.  102)  wenigstens  der  neukantischen 
Bewegung  „ihre  gewisse  Berechtigung''  als  „Reaktion  gegen  den 
flachen  naturwissenschaftlichen  Materialismus  der  Mitte  dieses  Jahr- 
hunderts einerseits  und  die  Auswüchse  der  spekulativen  Philosophie 
andererseits"  zu.  Aber  diese  Keime  werden  doch  noch  stark  über- 
wuchert von  der  Engels'schen  Stellungnahme  gegenüber  Kant,  der 
er  sich  dort  noch  ausdrücklich  anschliesst  (S.  103  f  vgl.  oben  S.  39). 

Ganz  anders  sechs  Jahre  später  in  dem  Artikel:  „Das  realistische 
und  das  ideologische  Moment  im  Sozialismus"  (XVI,  2,  S.  225 ff.). 

Hier  bekennt  er  offen,  dass  seines  Erachtens  ,.das  .Zurück 
auf  Kant'  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch  für  die 
Theorie  des  Sozialismus  zu  gelten  habe"  (S.  226  Anm.). 
Kant,  der  transscendentale  Idealist,  sei  „faktisch  ein  sehr  viel 
strengerer  Realist"  gewesen,  als  „sehr  viele  Bekenner  des  sogenannten 
naturwissenschaftlichen  Materialismus".  Er  habe  den  Begriff  des 
jenseits  unseres  Erkenntnisvermögens  liegenden  ,,Dinges  an  sich" 
nicht  aufgebracht,  sondern  begrenzt.  B.  weist  an  Beispielen 
nach,  dass  neuere  „Materialisten''  sich  erkenntnistheoretisch 
auf  den  Boden  Kants  stellen,  ebenso  wie  dies  „die  meisten  der 
grösseren  modernen  Naturforscher  gethan  haben"  (227).  Dass  der 
Sozialismus  als  Lehre  ursprünglich  reine  Ideologie  war,  bestreite 
niemand  (228),  auch  das  System  des  historischen  Materialismus 
wirtschafte  mit  „idealen  Mächten"  als  Triebkräften  der  sozialistischen 
Bewegung  (229).  Schon  das  Interesse,  das  der  marxistische  Sozia- 
lismus voraussetze,  sei  ,,von  vornherein  mit  einem  sozialen  oder 
ethischen  Element  versehen  und  insoweit  nicht  nur  ein  intelligentes, 
sondern  auch  ein  moralisches  Interesse,  so  dass  ihm  auch  Idealität 
im    moralischen    Sinne    innewohnt"    (230).      Und    ebenso    seien    die 


49 

„proletariscbeu  Ideen"  über  Staat,    Gesellschalt,    Ökonomie  und  Ge- 
schichte „notgedrungen  ideologisch  gefärbt"  (231). 

Um  „das  realistische  wie  das  idealistische  Element  in  der 
sozialistischen  Bewegung  gleichmässig  zu  stärken"  (Vorwort  S.  X). 
schrieb  dann  Bernstein  zu  Anfang  1899  seine  vielgenannte,  Aufsehen 
erregende  Schrift:  „Die  Voraussetzungen  des  Sozialismus  und 
die  Aufgaben  der  Sozialdemokratie"  (Stuttgart,  Dietz  Nachf.  1899, 
X.  und  188  S.).  Nur  mit  ihrem  philosophischen  Teile  und  auch  mit 
diesem  nur,  soweit  er  auf  Kant  oder  die  kritische  Methode  Bezug  hat, 
haben  wir  uns  hier  zu  beschäftigen.  Und  da  ist  allerdings  unsere  Aus- 
beute geringer,  als  man  nach  dem  im  vorigen  Absätze  angezogenen  Ar- 
tikel erwarten  durfte.  Erst  das  „Schlusskapitel"  (S.  168 — 188)  führt  uns 
zu  dem  Begründer  des  Kritizismus  zurück.  Es  trägt  das  Motto: 
„Kant  wider  Cant",  erläutert  dasselbe  aber  eigentlich  erst  auf  der 
vorletzten  Seite  (187)  bestimmter.  Bernstein  ist  überzeugt,  „dass  der 
Sozialdemokratie  ein  Kant  not  thut,  der  einmal  mit  der  über- 
kommenen Lehrmeinung  mit  voller  Schärfe  kritisch-sichtend  ins 
Gericht  geht,  der  aulzeigt,  wo  ihr  scheinbarer  Materialismus  die 
höchste  und  darum  am  leichtesten  irreführende  Ideologie  ist,  dass 
die  Verachtung  des  Ideals,  die  Erhebung  der  materiellen  Faktoren 
zu  den  omnipotenten  Mächten  der  Entwicklung  Selbsttäuschung  ist, 
die  von  denen,  die  sie  verkünden,  durch  die  That  bei  jeder  Gelegen- 
heit selbst  als  solche  aufgedeckt  ward  und  wird."  Gewiss  erfüllt  es 
uns  mit  lebhafter  Befriedigung,  wenn  ein  Mann  gerade  von  der  theo- 
retischen Vergangenheit  Bernsteins,  unter  ausdrücklicher  Berufung 
auf  Kant,  in  markigen  Worten  die  Notwendigkeit  des  Ideals  und 
der  Kritik  betont:  wie  wir  denn  überhaupt  der  ethischen  Grund- 
tendenz seiner  Schrift,  der  bewussten  Anerkennung  des  sittlichen 
Fundaments,  die  sich  auch  an  anderen  Stellen  (namentlich  S.  130 f.) 
ausspricht,  und  vielen  Einzel gedanken  unsere  volle  Anerkennung 
zollen.  Wir  halten  diesen  Fortschritt  an  sich  für  ausserordentlich 
wertvoll.  Was  ihm  dagegen  noch  fehlt,  ist  die  bewusste  Erfassung 
derjenigen  Methode,  mit  welcher  der  kritische  Philosoph  seine  Ethik 
erkenntniskritisch  begründet  hat. 

Vorländer,  Kant  und  der  Sozialismus.  4 


50 

In  dieser  Hinsicht  muss  schon  das,  was  nun  zum  Schlüsse  der 
Schrift  folgt,  uns  etwas  stutzig  machen:  dass  nämlich  Bernstein  sein 
„Zurück  auf  Kant!"  am  liebsten  in  ein  „Zurück  auf  Langel"  ver- 
wandeln möchte.  So  gut  sich  diese  Änderung  der  Parole  vom 
politischen  und  persönlichen  Standpunkt  aus  rechtfertigen  lässt 
—  denn,  im  Gegensatze  zu  Kant,  hat  Lange  in  der  Zeit  der  soziali- 
stischen Bewegung  und  für  sie  gelebt  und  gestritten  — ,  und  so  er- 
freulich auch  der  darin  ausgesprochene  Auschluss  Bernsteins  an 
den  sozialen  Idealismus  uns  erscheint:  so  zeigt  sich  doch  gerade  in 
ihr,  dass  die  methodische  Begründung  dieses  sozialen  Idealismus, 
wie  sie  von  dem  heutigen  Neukantianismus  unseres  Erachtens  in 
glücklichster  Weise  vertreten  wird,  ihm  noch  ferne  liegt. 

Und  so  finden  wir  denn  auch  in  dem  ersten,  grundlegenden 
Abschnitt  seiner  Schrift  Sätze,  die  wir  vom  methodischen  Standpunkte 
aus  bekämpfen  müssen:  „Materialist  sein,  heisst  zunächst  die  Not- 
wendigkeit alles  Geschehens  behaupten"  (S.  4,  gleich  daraufrichtiger: 
kein  Geschehen  ohne  materielle  Ursache  annehmen),  was  dann 
auch  (S.  5)  auf  den  historischen  Materialismus  übertragen  wird. 
„Der  Geschichte  ehernes  Muss"  soll  durch  die  „ethischen  Faktoren", 
die  heute  einen  „grösseren  Spielraum  selbständiger  Bethätiguug  als 
vordem''  erhalten  haben,  eine  „Einschränkung"  erfahren.  Dahin 
gehört  auch  Bernsteins  S.  9  offen  ausgesprochene  Neigung  zum 
Eklektizismus  entgegen  dem  „doktrinären  Drang,  alles  aus  Einem 
herzuleiten  und  nach  einer  und  derselben  Methode  zu  behandeln", 
während  er  doch  andererseits  (S.  9 f.  Anm.j  richtig  erkannt  hat,  dass 
ohne  „das  Streben  nach  einheitlicher  Erfassung  der  Dinge''  .,kein 
wissenschaftliches  Denken  möglich"  ist.  Wir  können  nicht  umhin, 
Kautsky  Recht  zu  geben,  wenn  er  dem  gegenüber  betont,  dass 
„auch  idealistische  Philosophen  die  Notwendigkeit  alles  Geschehens, 
d.  h.  die  Geltung  des  Kausalitätsgesetzes  für  alle  Thatsachen  unserer 
Erfahrung  behaupten"  (Neue  Zeit  XVII,  2,  S.  6j  —  so  Kant  und 
alle  Kantianer  — ,  und  dass  Wissenschaft  eben  in  der  ,.  Erkenntnis 
der  notwendigen  gesetzmässigen  Zusammenhänge  der  Erscheinungen" 
(S.  7)  besteht.     Bernstein    hat  denn  auch  in  seiner  Erwiderung  auf 


51 

Kautskys  Artikel  (Neue  Zeit  XVU,  2,  S.  2t>0  ff.)  die  relative  Be- 
rechtig-uug  dieses  Einwandes  zugegeben:  er  habe  den  Ton  nicht 
entschieden  genug  auf  „Materie"  gelegt  und  bekämpfe  nur  die  „un- 
bedingte physische  Notwendigkeit  alles  Geschehens."  Ahnlich  er- 
klärt er  in  einem  Staudinger  erwidernden  Artikel  der  „Ethischen 
Kultur''  (1899,  No.  23),  dass  er  mit  den  von  uns  beanstandeten 
Sätzen  nicht  das  Kausalgesetz,  sondern  nur  die  „Bestimmungsmacht 
des  technisch-ökonomischen  Faktors"  habe  einschränken  wollen. 

Zusammenfassend  hat  sich  Bernstein  über  die  alte  Frage  von 
Notwendigkeit  und  Freiheit  nochmals  in  einem  gegen  einen 
seiner  Kritiker  gerichteten  Aufsatze  der  Neuen  Zeit  (XVII,  2, 
845  ff.)  geäussert.  Wir  müssen  uns  hier  begnügen,  die  Quintessenz 
seiner  Ausführungen  und  ihr  Verhältnis  zur  kritischen  Methode  kurz 
zu  kennzeichnen,  Bernstein  hat  die  richtige  Empfindung,  dass  dem 
Marxismus  die  bewusste  und  methodische  Berücksichtigung  des 
ethischen  Momentes  fehlt.  In  dem  Bestreben,  diesem  letzteren  zu 
seinem  Rechte  zu  verhelfen,  schlägt  er  nun  aber  nicht  den  von  den 
Neukantianern  bezeichneten  Weg  ein,  die  einen  durchgehenden  ge- 
setzlichen Zusammenhang  von  den  untersten  Grundlagen  bis  zu  der 
obersten  Spitze  des  sozialen  Lebens  herstellen  und  deshalb  die 
materialistische  Geschichtsauffassung  nicht  eigentlich  bekämpft,  sondern 
durch  Hinzu fügung  des  Zweckgedankens  (der  Idee)  ergänzt 
wissen  wollen;^)  sondern  er  möchte  gern  die  „ethischen  Faktoren", 
deren  Macht  wir  sicher  nicht  bestreiten,  sondern  gerade  verstärken 
wollen,  als  „selbständig  wirkend"  bereits  an  einer  Stelle,  an  die  sie 
nach  der  Kantischen  Grundregel  reinlicher  Scheidung  noch  nicht 
gehören,  nämlich  in  die  kausal  bestimmte  Erfahrung  hineintragen  und 
scheint  dadurch  mindestens,  wenn  er  es  auch  in  seinen  neuesten 
Äusserungen  nicht  Wort  haben  will,  die  ausschliessliche  Geltung  des 
Kausalitätsprinzips  auf  dem  Gebiete  der  (sozialen)  Erfahrung  auf- 
heben oder  doch  einschränken  zu  wollen.  Dass  es  manche  Dinge  auf 
Erden  giebt,    die  sich  noch  nicht  haben  restlos  erklären  lassen,  und 


1)  Vgl.  oben  S.  373  f.  (Stammler),  S.  378  (Natorp),  S.  881,  383  (Staudinger). 

4* 


52 

bei  denen  dies  (wie  wir  ihm  für  die  Tliatsache  unserer  Bewusstheit 
zugeben)  auch  aller  V^oraussicht  nach  nie  der  Fall  sein  wird,  mindert 
unseres  Erachtens  nicht  im  geringsten  die  ausschliessliche  Geltung  des 
Gesetzes  von  Ursache  und  Wirkung  auf  dem  gesamten  Gebiete  der 
Erfahrungs Wissenschaft.  Der  „Gedanke  des  kausalen  Zusam.men- 
hangs  der  Weltvorgänge"  ist  nicht  bloss  ein  „als  Leitfaden  für  die 
wissenschattliche  Forschung  unbestritten  wichtiger"  Gedanke  (a.  a.  0. 
S.  848),  sondern  deren  notwendige  Voraussetzung.  Ob  wir  da- 
bei alle  Zwischenglieder  der  kausalen  Kette  bereits  gefunden  haben 
oder  nicht,  macht  prinzipiell  nichts  aus;  sie  zu  finden,  ist  eben  die 
unendliche  Aufgabe  der  Wissenschaft. 

Auch  ist  mit  einer  solchen  Annahme  unbedingter  kausaler  Not- 
wendigkeit im  Reiche  der  Erfahrung  durchaus  nicht,  wie  Bernstein 
(S.  848  f.)  zu  glauben  scheint,  der  erkenntniskritischen  Selbständig- 
keit (Spontaneität)  des  Bewusstseins  präjudiziert.  Gewiss  sind  wir 
Menschen  nicht  blosse  „mit  Bewusstsein  begabte  Automaten",  sondern  be- 
sitzen „Autonomie  des  Denkens  und  damit  auch  des  Handelns"  (849). 
Das  verallgemeinern  wir  Kantianer  sogar  dahin,  dass  wir  die  ganze 
„Erfahrung"  als  aus  unserem  Bewusstsein  erzeugt  ansehen.  Diese 
Copernicusthat  Kants  ist  der  Grundkern  alles  Idealismus.  Aber  so- 
bald unsere  Handlungen  in  die  Erscheinung  treten,  verfallen  sie  un- 
entrinnbar dem  ,, ehernen"  Gesetze  von  Ursache  und  Wirkung.  Und 
Kant  hat  es  ausdrücklich  für  einen  ,, elenden  Behelf"  erklärt,  die 
transscendentale  Freiheit  darin  zu  sehen,  dass  BestimmungsgrUnde 
unseres  Handelns  „innere,  durch  unsere  eigenen  Kräfte  hervor- 
gebrachte" Vorstellungen  oder  Begierden  sind.  Das  sei  allenfalls  eine 
psychologische  .,Freiheit",  wenn  anders  man  dieses  Wort  „von  einer  bloss 
inneren  Verkettung  der  Vorstellungen  brauchen"  wolle,  die  gleichwohl 
den  Gesetzen  der  Naturnotwendigkeit  unterliege,  nicht  anders  als  „die 
Freiheit  eines  Bratenwenders"  oder  einer  Uhr,  die,  wenn  sie  einmal 
aufgezogen,  von  selbst  ihre  Bewegungen  verrichten  (Kr.  d.  prakt.  Vern. 
Kehrbach  S.  11() — 118).  Nur,  wenn  wir  von  den  Zeitbedingungen 
unserer  Handlungen  völlig  absehen,  sie  dagegen  der  moralischen  Be- 
urteilung unterziehen,  können  wir  im  wahren  Sinne  von  Freiheit  reden. 


58 

Nicht  das  also  bekämpfen  wir  vom  Kantischen  Htandpunkte 
aus  an  Bernstein,  dass  er  die  „ideologischen"  Elemente  des  Sozialis- 
mus kräftiger  hervorhebt  —  das  halten  wir  im  Gegenteil  für  einen 
hocherfreulichen  Fortschritt  — ,  sondern  vrir  vermissen  nur  die 
methodischen  Grundlagen  dieses  Idealismus.  Das  Verhältnis  von 
Naturerkennen  und  Zv^ecksetzung,  Erfahrungsgesetz  und  Idee  ist 
von  ihm  noch  nicht  im  Sinne  des  kritischen  Philosophen  erfasst. 
Bernstein  hat  sich  in  seinem  ersten  Kant-Artikel  mit  lobenswerter 
Bescheidenheit  als  „Laien  auf  dem  Gebiete  der  Erkenntnistheorie" 
bekannt.  Bei  so  selbstkritischem  Sinne  und  einer  solchen  Fähig- 
keit, sich  in  ein  ihm  ursprünglich  fremdes  Gebiet  einzuarbeiten,  wie 
sie  der  in  der  Beschäftigung  mit  sozialwirtschaftlichen  und  politischen 
Problemen  Grossgewordene  in  seinen  philosophischen  Erörterungen 
bewiesen  hat,  ist  zu  hoffen,  dass  er  •  bei  weiterem  Studium  und 
tieferem  Eindringen  in  den  Kantianismus  auch  dessen  erkenntnis- 
kritischer Methode  sich  mehr  und  mehr  bemächtigen  wird. 

7.  Die  von  Bernstein  an  den  theoretischen  Grundlagen  des 
Parteiprogramms  geübte  Kritik  hat,  wie  man  auch  sonst  über  sie 
denken  mag,  jedenfalls  die  erfreuliche  Folge  gehabt,  dass  die  Dis- 
kussion darüber  nun  auch  innerhalb  der  Sozialdemokratie  energisch 
in  Fluss  gekommen  ist.  Die  nationalökonomische  undpolitische  Seite  der- 
selben, die  zu  der  berühmten  fünftägigen  Debatte  in  Hannover  geführt  hat, 
geht  uns  hier  nichts  an,  sondern  nur  der  auf  die  philosophischen  Grund- 
lagen des  Sozialismus  bezügliche  Teil.  Dass  es  sich  hierbei  wirklich  um 
eine  Krise  für  den  Marxismus  handelt,  dass  ein  Teil  der  jüngeren  Mar- 
xisten offen  zu  Kant  neigt,  hat  nach  einer  Mitteilung  Masaryks  (a.  a.  0. 
S.  590)  Kautsky  selbst  zugestanden.  Auch  in  den  Spalten  des 
wissenschaftlichen  Organs  der  Sozialdemokratie,  der  Neuen  Zeit^ 
tritt  dieser  Umschwung  der  Dinge  deutlich  hervor^).  So  still  wie 
diese  Zeitschrift    bis    vor  zwei  oder  drei  Jahren  von   Kant  gewesen 


1)  Auch  in  den  „Sozialistischen  Monatsheften",  einem  „freien  Dis- 
kussionsorgan für  alle  Anschauungen  auf  dem  Boden  des  Sozialismus'',  wenn- 
gleich in  geringerem  Massstab.  Zu  den  von  Staudinger  (Kantstudien  IV  S.  167) 
zitierten  Artikeln  ist  noch  nachzutragen  ein  solcher  von  Alexis  Nedow 
(Plechanow  versus  Ding  an  sich,  Märzheft  1899,  S.  104 — 112),  der  im  Anschlufs 


54 

war  (vgl.  oben  S.  .39),  so  hallt  sie  seitdem,  namentlich  in  den 
zwei  Bänden  ihres  letzten  Jahrganges  (1.  Oktober  1898 — 1899).  wider 
von  Kant  und  dem  Kritizismus.  Mehring  hat  seine  häufig  auf  Kant 
Bezug  nehmenden  ,.Asthetischen  Streifziige"  veröffentlicht,  die  noch 
vor  Kurzem  zu  einem  polemischen  Nachspiel  mit  Woltmann  über 
eine  Kantfrage  geführt  haben.  Plechanow  und  Conrad  Schmidt 
haben  in  einer  Reihe  von  Artikeln,  über  die  Staudinger  im  vorigen 
Hefte  der  Kantstudien  berichtet  hat,  ihre  'Fehde  über  das^Kantische 
,,Ding  an  sich"  ausgefochten,  und  Bernstein  hat  seine  philosophischen 
Anschauungen  gegen  einen  stark  vom  Neukantianismus  berührten 
Marxisten  S.  Gunter  verteidigt.  Nur  diesem  letzteren  haben  wir 
noch  einige  Worte  zu  widmen. 

Gunter  hatte  bereits  ein  Jahr  vorher  in  einem  „Die  mate- 
rialistische Geschichtsauffassung  und  der  praktische 
Idealismus"  betitelten  Aufsatz  (Neue  Zeit  XVI,  2,  S.  452  ff.)  den 
historischen  Materialismus  gegen  Stammler  zu  verteidigen  unter- 
nommen. Er  hatte  darin  Kaut  und  den  Neukantianern  (Cohen, 
Natorp,  Stammler)  „Versteifung"  auf  ihre  „Begriffsanatomie"  vor- 
geworfen. Hier  müsse  „Hegel  als  korrigierende  Instanz  hinzutreten 
und  zeigen,  dass  die  Ergebnisse  anatomischer  Analyse  nicht  in  un- 
verrückbarer Starrheit  auf  den  physiologischen  Lebensprozess  über- 
tragen werden  dürfen."  Er  empfahl  aus  diesem  Grunde  den  histori- 
schen Materialismus  als  ,,gewissermassen  die  Synthese  der  Kant- 
Hegelschen  Philosophie  in  Bezug  auf  thatsächliche  Erfahrung"  (S.  455). 
Seine  dortige  Bekämpfung  der  Stammlerschen  Scheidung  von  Kausa- 
lität und  Telos  rührte  von  dem  Missverständnis  her,  als  wolle 
Stammler  zwei  verschiedene  Kausalitäten  schaffen,  eine  ,,mit  kausaler 
Gebundenheit  ganz  unvereinbare  Willensfreiheit"  einführen  (456). 
Dem  gegenüber  meint  Gunter  die,  in  Wahrheit  von  Stammler  nicht 
bestrittene,    Einheitlichkeit   des  kausalen  Zusammenhanges  im  histo- 


an  ein  Motto  aus  H.  Cohen  in  geschiciiter  Weise  den  Neukantianismus  vertritt, 
am  Sehluss  freilich  eine  Synthese  von  Kant  und  Hegel  wünscht.  Für  eines  der 
nächsten  Hefte  hat  Nedow  einen  Aufsatz  über  „Kant  und  Hegel  in  der  bisherigen 
Parteilitteratur"  in  Aussicht  gestellt. 


55 

rischeii  Materialismus  betonen  zu  müssen,  Dass  er  den  letzteren 
nicht  dogmatisch,  sondern,  im  Anschluss  übrigens  an  Marxsche 
Worte,  als  blossen  „Leitfaden"  für  die  „Studien"  oder,  mit  einem 
Kantischen  Ausdruck,  als  „heuristisches  Prinzip"  auffasst  (460),  ist 
sehr  anerkennenswert.  Mit  solchem  historischen  Materialismus  ist 
allerdings  ein  „praktischer  Idealismus"  wohl  vereinbar,  der  im  An- 
schluss an  die  Formulierung  des  Erfurter  Programms,  die  „allseitige 
harmonische  Vervollkommnung"  als  zu  erstrebendes  Endziel  auf- 
stellt. 

In  seinem  zweiten,  gegen  Bernstein  gerichteten  Artikel  „Bern- 
stein und  die  Wissenschaft  (Neue  Zeit  XVII,  2,  644—653) 
scheint  Gunter  noch  mehr  von  den  Neukantianern  gelernt  zu  haben. 
Zwar  geht  er  wieder  vom  Marxismus  aus,  zwar  wendet  ^  sich  auch 
einmal  in  ziemlich  unvermittelt  schroffer  Weise  gegen  Kants  „intelli- 
gibele  Welt"  als  eine  „Flucht  ins  Mysterium'^  (648)  und  gegen 
seinen  „mysteriösen"  Freiheitsbegriff  (649);  allein,  wenn  er  sich  auch 
auf  den  Neukantianismus  nicht  ausdrücklich  beruft*),  so  zeigt  er  sich 
doch  sachlich  von  der  Methode  der  Cohen,  Natorp,  Stammler  und 
Staudinger  stark  beeinflusst.  Wie  diese,  dringt  auch  er  auf  „Ein- 
heitlichkeit und  Geschlossenheit"  der  Methode  (650),  wenn  auch  die 
Wendung,  „das  innere  Wesen  unseres  Daseins"  (!)  liege  „in  dem 
Drang  nach  Einheitlichkeit  begründet"  (652),  uns  als  Motiv  zu  un- 
bestimmt subjektiv  erscheint.  Er  zeigt  indes  gleich  darauf,  dass 
dieselbe  in  Wirklichkeit  objektiv  gemeint  ist.  Auf  Einheitlichkeit  im 
Denken,  d.  h.  „Beseitigung  der  uns  quälenden  Gedankenwidersprüche" 
geht  die  Wissenschaft  aus,  auf  Beseitigung  der  Widersprüche  im 
eigenen  Handeln  die  Ethik,  auf  die  Beseitigung  der  Widersprüche 
in  den  gesellschaftlichen  Einrichtungen  die  Sozialpolitik  (Ethik 
im  weitesten  Sinne).  ,.Die  ganze  sozialistische  Bewegung  ist 
nichts  anderes  als  ein  Ausdruck  des  Einheitsstrebens  in 
letztgenannter    Hinsicht"    (652).      Dass    der  Marxismus    die  Gesetz- 


1)  Erst  am  Schlüsse  folgt  eine  Anspielung  auf  einige  Artikel  der  Ethischen 
Kultxir,  die  teils  von  Staudinger  teils  von  mir  herrühren. 


56 

lichkeit  dieses  (ethischen)  Einheitsstrebens  noch  zu  erforschen  habe^ 
g-esteht  der  Verfasser  sogar  offen  zu  (ebenda). 

Einen  solchen  „Marxisten"  kann  sich  der  Neukantianer  schon 
gefallen  lassen.  Er  arbeitet,  nur  von  der  anderen  Seite  des  Berges, 
demselben  Ziele  zu.  Und  das  ist  in  diesem  Falle  um  so  bemerkens- 
werter, als  der  Artikel  gewissermassen  unter  offizieller  Approbation 
der  Redaktion  der  Neuen  Zeit  erschienen  ist,  die  ihm  ausdrücklich 
die  Antikritik  gegen  Bernstein  „soweit  die  philosophischen  Grund- 
lagen in  Frage  kommen",  übertragen  hat  (S.  644). 

8.  Am  offensten  von  allen  ausgesprocheneu  Sozialisten  bekennt 
sich  zu  Kant  ein  erst  in  den  letzten  Jahren  hervorgetretener  jüngerer 
Schriftsteller,  der  Dr.  med.  et.  phil.  Ludwig  Woltmann,  der  bereits 
in  seiner,  im  ersten  Bande  der  Kantstudien  (S.  438  f.)  von  ihm 
selbst  angezeigten,  philosophischen  Doktordissersation  seine  Beein- 
flussung durch  Kant  in  seiner  Unterscheidung  von  ..kritischer' 
und  „genetischer'  Methode  bewies  und  seitdem  in  drei  grösseren 
Schriften*)  seinen  Standpunkt,  eine  eigenartige  Synthese  von  Kant, 
Marx  und  Darwin,  vertreten  hat,  von  denen  der  letztere  für  unsere 
Betrachtung  ausscheidet. 

Bereits,  ehe  er  offen  zum  politischen  Sozialismus  übertrat,  hat  Wolt- 
mann in  seinem  ,, System  des  moralischen  Bewusstseins"^)  eine,  unseres 
Erachtens  allerdings  noch  nicht  ganz  ausgereifte  und  allseitig  durch- 
geführte, „Darstellung  des  Verhältnisses  der  kritischen  Philosophie" 
zu  „Darwinismus  und  Sozialismus''  versucht.  Ganz  im  Sinne  unserer 
Auffassung  weist  er  dort  nach,  dass  der  vielgeschmähte  Formalismus  der 
Kantischen  Ethik  doch  nur  in  ihrer  vernunftgemässen  Begründung  be- 
steht, die  nicht  eher  ruht,  als  bis  sie  die  „grösstmögliche  Einheit  der 


1)  L.  Woltmann,  System  des  moralischen  Bewusstseins,  mit  be- 
sonderer Darlegung  des  Verhältnisses  der  kritischen  Philosophie  zu  Darwinis- 
mus und  Sozialismus,  XII  und  391  S.,  1898.  —  Ders.,  Die  Darwinsche 
Theorie  und  der  Sozialismus,  ein  Beitrag  zur  Naturgeschichte  der  mensch- 
lichen Gesellschaft.  VIII  und  397  S.  1899.  —  Ders.,  Der  historische 
Materialismus,  Darstellung  und  Kritik  der  marxistischen  Weltanschauung,  IX 
und  430  S.     1900.     Alle  drei  im  Verlage  von  H.  Michels,  Düsseldorf. 

'^)  Näheres  darüber  in  meinem  Aufsatz:  „Eine  Ethik  der  Gegenwart"  in 
No.  23  und  24  der  Ethischen  Kultur  (1898). 


57 

Prinzipien"  erreicht  hat.  Die  Kantischen  Termini,  „eigene  Vollkommen- 
heit" und  „fremde  Glückseligkeit"  werden  dann  auf  die  Ethik  des 
Sozialismus  angewandt,  als  diejenigen  Zwecke,  die  zugleich  Pflichten 
sind.  Die  Förderung  eigener  Vollkommenheit  muss  jedes  Menschen  ur- 
eigenstes Werk  sein.  Dagegen  ist  die  Beförderung  fremden  Glückes 
eine  notwendige  Forderung  sozialer  Gerechtigkeit;  die  materielle 
Grundlage,  auf  der  das  Vollkommenheitsstreben  überhaupt  erst  be- 
ginnen kann,  „den  Amboss  gleichsam,  auf  dem  jeder  nach  eigenem 
Talent  sein  Glück  schmieden  mag",  ist  „die  Gesellschaft  und  der 
einzelne  innerhalb  derselben  zu  schaffen  verpflichtet*'.  So  wird  ihm 
„die  Kautische  Moralbegrüudung"  zum  „erhabensten  und  allein  mög- 
lichen Ausdruck  sozialer  Gerechtigkeit"  (S.  49 j. 

Man  habe  innerhalb  des  Sozialismus  zu  oft  vergessen,  „dass  die 
soziale  ebenso  sehr  eine  individuelle,  und  dass  die  ökonomische 
Frage  ebenso  sehr  eine  sittliche  Frage  bedeutet"  (260).  „Die 
einzige  Möglichkeit",  fährt  der  Verfasser  in  etwas  jugendlich -über- 
schwänglichem  Ausdruck  fort,  „den  Sozialismus  vor  geistiger  Er- 
starrung zu  bewahren,  besteht  darin,  die  Ideen  des  wirtschaftlichen 
Kollektivismus  und  Materialismus  mit  den  Prinzipien  der  kritischen 
Moralphilosophie  und  den  höchsten  Gedanken  Piatons,  Jesu  und 
Kants  innerlich  zu  einer  ethischen  Ökonomie  zu  verbinden"  (261). 
Der  Inhalt  der  „evolutionistischen  und  sozialistischen"  Ethik,  die 
Woltmann  erstrebt,  muss  sich  in  seiner  erkenntnistheoretischen  Grund- 
legung „unbedingt  der  kritischen  Ethik  unterordnen"  (277).  Des- 
halb ist  ihm  „Kants  Moralphilosophie  eine  Ethik  des  Sozialismus" 
(316),  und  der  letztere  „die  sozialökonomische  Erfüllung  des  mora- 
lischen Gesetzes"  (314). 

Das  neue  Buch  Woltmanns  hat  vor  diesem,  allzuviel  in  seinen 
Rahmen  fassen  wollenden,  ersten  den  Vorzug,  dass  es  sich  auf  ein 
bestimmtes  Gebiet  einschränkt,  dieses  aber  eingehender  ins  Auge 
fasst:  den  historischen  Materialismus.  Seine  ,, aktuelle"  Bedeutung 
liegt  darin,  dass  sich  hier  ein  ausgesprochener  Sozialist  ganz  offen 
auf  Kants  Seite  stellt  und  die  Marxisten  zu  kritischer  Selbstbesinnung 
mahnt.     „Mein  Buch    steht    unter    dem  Zeichen  der  Rückkehr  zu 


58 

Kant"  (Vorwort  S.V).  In  der  Kantischen  Philosophie  , .liegen  die 
logischen  Mittel,  um  eine  systematische  Kritik  des  Marxismus 
herbeizuführen"  (26). 

Zwar  haben  wir  gegen  des  Verfassers  „Kantianismus''  an 
manchen  Stellen  Einwände  zu  erheben.  Einen  Widerspruch  zu 
Woltmanns  Kantischem  Bekenntnis  finden  wir  insbesondere  darin, 
dass  er  in  Fichtes  Ableitung  alles  Seins  aus  dem  „Ich  denke"  einen 
„Fortschritt  über  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  hinaus"  (104)  er- 
blickt, wie  er  denn  überhaupt  die  „einseitigen"  Kantianer  auf  die 
—  von  diesen  an  und  für  sich  wohl  kaum  bestrittenen  —  ..ent- 
wicklungsfähigen Elemente"  in  den  nachkantischen  Systemen  hin- 
weisen möchte  (Vorw^ort  S.  IV).  Andererseits  ist  er  selbst  zu  einem 
konsequenten  Idealismus  doch  nicht  durchgedrungen,  insofern  er 
zwischen  einer  begrifflichen  und'  der  „wirklichen"  Erfahrung  unter- 
scheidet, deren  „wirklichen"  Prozess  „alle  wissenschaftliche  syste- 
matische Darstellung"  nur  „wiederspiegele"  (187).  Wo  anders 
existiert  denn  „wirkliche"  Erfahrung  als  in  der  Wissenschaft?  So 
gewinnt  denn  auch  die  von  Marx  und  Engels  aus  Feuerbach 
entnommene  ,, Theorie  des  Spiegelbildes"  für  ihn  eine  mehr  bei  einem 
Marxisten  als  bei  einem  Kantianer  begreifliche  besondere  Bedeutung 
(S.  285 — 294).  Kants  Verwandtschaft  mit  Plato  erscheint  uns  weit 
bedeutsamer  als  die  nur  äusserliche  mit  Aristoteles  (S.  36,  43,  187); 
und  so  noch  manches  Andere. 

Dennoch  hat  Woltmann  erfasst,  was  uns  an  Kant  die  Haupt- 
sache dünkt:  die  erkenntniskritische  Methode.  Gegenüber  dem 
,, Walle  von  Vorurteilen  und  Missverständnissen",  der  bisher  einer 
„sogenannten  natürlichen  Weltanschauung"  das  Verständnis  des 
kritischen  Problems  erschwert  hat,  will  Woltmann  den  Unterschied 
von  kritischer  und  entwicklungsgeschichtlicher,  logischer  und  psycho- 
logischer Methode  zeigen  und  nachweisen,  dass  die  Erkenntnistheorie 
eine  notwendige  Voraussetzung  aller  Entwicklungslehre  ist  (44), 
welche  letztere  übrigens  gerade  Kant  durch  seine  geschichtsphilo- 
oophischen  Aufsätze  nicht  wenig  gefördert  hat  (45).  Seine  kurze 
Analyse  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  (49 — 61)  ist  namentlich  Nicht- 


59 

kennern  der  Kantischen  Philosophie,  deren  sich  unter  Woltmauns 
Lesern  wohl  noch  viele  finden  werden,  recht  zu  empfehlen.  Als 
Kants  Ziel  bezeichnet  er  mit  Recht  „die  Neubegriindung  der 
rationalen  Wissenschaft"  (50),  wobei  wir  nur  das  „rationale"  als 
überflüssig-  und  möglicherweise  irreführend,  streichen  möchten.  Natur 
ist  für  Kant  =  mathematisch -physikalische  Naturwissenschaft  (61). 
Seine  Erkenntniskritik  geht  vom  fertigen,  entwickelten  Bewusstsein 
aus  (50).  Das  centrale  Problem  der  Kantischen  Philosophie  ist  die 
„transscendentale  Deduktion"  der  Möglichkeit  der  Erfahrung  (56). 
Das  „Ding  an  sich"  wird  richtig  als  „kritischer  Grenzbegriff"  formuliert 
(59,  vgl.  307),  das  a  priori  in  seinem  wahren,  nicht- zeitlichen 
Sinne  dargestellt  (S.  277  ff.).  Das  notwendige  Endziel  der  Vernunft 
ist  die  ,, unbedingte  Einheit  aller  Erfahrung"  (60). 

Auch  die  erkenntniskritische  Begründung  der  Ethik  wird  hier 
präziser  als  in  dem  ersten  Buche  durchgeführt.  Nicht  auf  die 
Entstehung  der  moralischen  Begriffe,  sondern  auf  die  Feststellung 
und  Begründung  ihrer  Allgemeingültigkeit  kommt  es  an  (64),  so 
ruft  er  gegenüber  den  „ewigen  trivialen  Einwendungen  der  Moral- 
historiker aus  der  Darwinschen  und  Marxschen  Schule"  aus,  die 
,,so  wenig  methodische  Selbstbesinnung  haben,  dass  sie  eine  Sache 
untersuchen  wollen,  über  deren  Begriff  sie  sich  vorher  nicht  klar 
geworden  sind"  (66  f.).  Der  teleologische  Gesichtspunkt  erweitert 
die  physikalische  zu  einer  moralischen  Weltordnung  (69,  vgl.  310, 
8H  ff.,  398  f.).  Endlich  ist  auch  das  ästhetische  Gefühl  als  Ur- 
quell und  Einheitsgrund  von  Erkennen  und  Wollen,  die  Kunst  als 
Brücke  zwischen  Natur  und  Freiheit  richtig  erkannt  (74  f.),  wenn  wir 
auch  nicht  soweit  gehen,  darum  Kants  Philosophie  schlechtweg  als 
„ästhetische  Weltanschauung"  (75)  oder  Begründung  einer  solchen 
(89)  zu  bezeichnen. 

Wie  beurteilt  nun  Woltmann  von  seinem  kritischen  Standpunkte 
aus  „die  marxistische  Weltanschauung"?  Hier  ist  seine  historische 
Darstellung  und  Beurteilung  von  seiner  systematischen  Kritik 
bezw.  Fortbildung  des  Marxismus  zu  trennen.  Auf  dem  letzteren 
Oebiete  können  wir  ihm  beistimmen,  auf  dem  ersteren  nicht. 


60 

Mit  Recht  zwar  macht  Woltmann  auf  den  in  der  That  oft  zu 
wenig  beachteten  Umstand  aufmerksam,  dass  der  Marxismus  eine 
fünfzigjährige  Entwicklungsgeschichte  durchgemacht  habe,  .,so  dass 
Verschiedenheiten  und  selbst  Widersprüche  .  .  .  natürlicherweise 
entstehen  mussten"  (Vorwort  S.  III),  und  er  hat  sich  das  Verdienst  er- 
worben, in  dem  zweiten  Teile  seines  Buches  eine  gut  orientierende 
Übersicht  über  diese  Entwicklungsgeschichte  zu  geben,  nachdem 
der  erste  „die  philosophischen  Quellen  des  Marxismus"  in  der 
„klassischen" ')  deutschen  Philosophie  dargelegt  hat.  Es  bietet  u.  a. 
Interesse,  den  ethischen  Ausgangspunkt  des  Marxismus  hier  deut- 
lich festgestellt  zu  sehen.  Allein  für  uns  in  Betracht  kommen  kann 
doch  eigentlich  nur  die  systematisch  ausgebildete  Lehre,  die  dem 
Marxismus  sein  charakteristisches  Gepräge  giebt.  Und  hier  lässt 
sich  Woltmann  durch  sein  nachher  zu  würdigendes  methodisches 
Bestreben,  eine  Synthese  von  Kant  und  Marx  herzustellen,  dazu 
verleiten,  zu  viel  Kantische  Elemente  in  Marx'  Lehre  hineinzulegen. 
Da  Marx  selbst  sich  auf  Kant  nicht  beruft  (vgl.  oben  S.  37),  so 
soll  seine  „Rückkehr  zu  der  unverfälschten  Urschrift  der  klassischen 
deutschen  Philosophie",  d.  h.  zu  Kant  (Vorwort  S.  VI),  ohne  sein 
Wissen  vor  sich  gegangen  sein  (vgl.  S.  297).  Seine  ., Auffassung 
des  wissenschaftlichen  Denkprozesses"  soll  „zweifellos"  und  ..durch- 
aus*' Kants  kritischer  Philosophie  entsprechen  (Vorwort  S.  \j 
S.  187). 

Davon  aber  haben  uns  Woltmanns  Ausführungen  nicht  über- 
zeugen können.  Wohl  geben  wir  einen  gewissen  Parallelismus  der 
Methode  zu.  Wie  Kant  die  synthetischen  Bedingungen  der  fertigen 
Wissenschaft,  so  analysiert  Marx  ,,die  fertigen  Resultate  des  (kapi- 
talistischen) Entwicklungsprozesses"  (Kapitel  I,  S.  52  der  2.  Aufl.). 
(Dem  gleichen  Gedanken  sind  wir  schon  bei  Staudinger  begegnet; 
vgl.  oben  S.  30  f.).  Aber  der  Hegeische  „Rest"  in  der  Marx'schen 
Gedankenwelt  bezieht  sich  doch  nicht  ,,fast  nur  auf  die  äussere 
Darstellungsweise",  während  „die  innere  Gedankenbewegung  durch- 


1)  Woltmann  versteht  hierunter,   dem  Sprachgebranch  der  Marxisten,    ins- 
besondere Engels,  folgend,  die  deutsche  Philosophie  von  Kant  bis  —  Feuerbaoh. 


61 

aus  von  der  kritischen  und  (!)  naturwissenschaftlichen  Methode  ge- 
tragen wird"  (Woltmann  S.  321).  Wir  können  der  Ansicht  nicht 
beipflichten,  dass  die  Erkenntnistheorie  auch  für  Marx  eine 
„durchaus  primäre  Frage"  gewesen  sei  (295);  dass  Marx  einmal 
seine  neue  Lehre  als  „Leitfaden"  für  die  „Studien"  bezeichnet  hat, 
reicht  dafür  nicht  aus.  Woltmann  erklärt  selbst  an  einer  anderen 
Stelle  (S.  260),  in  dem  bekannten  Satze  von  Marx,  dass  für  ihn  das 
Ideelle  nichts  Anderes  als  das  im  Menschenkopf  umgesetzte  und  über- 
setzte Materielle  sei,  liege  „das  erkenntnistheoretische  Problem  noch 
ungelöst  verborgen".  Das  sei  „eine  für  jeden  Erkenntniskritiker 
geläufige  Vorstellung",  und  doch  ,, bildet"  für  ihn  dieser  Satz  das 
logische  Fundament  des  ganzen  Marxismus  (ebenda).  —  Marx'  kritische 
Stellungnahme  zu  Hegel  soll,  „im  Grunde"  wenigstens,  eine  Rückkehr 
zur  Lehre  des  kritischen  Idealismus 4>edeuten  (297),  und  doch  wird 
unmittelbar  darauf  (298)  „die  Marxsche  Philosophie"  als  „das  voll- 
endetste System  des  Materialismus"  gepriesen.  Marx  selbst  hat  sich 
bekanntlich,  abgesehen  von  seinen  ersten  Jugendjahren,  stets  als  An- 
hänger der  „materialistischen"  Methode  bekannt.  Sollte  sich  ein  so 
genialer  Denker  wirklich  einer  so  gewaltigen  „intellektuellen  Selbst- 
täuschung über    den    eigenen  Standpunkt"  (184)  hingegeben  haben? 

Diese  scheinbaren  oder  wirklichen  Widersprüche  begreifen  sich, 
wenn  man  sie  sich  aus  Woltmanns  eigener  kritisch -systematischer 
Stellung  erklärt.  W.  sagt  einmal  (S.  4)  selbst,  dass  das  „philosophische 
System"  dessen  ,, Mittelpunkt"  die  materialistische  Geschichtsauffassung 
bilde,  „erst,  durch  eine  kritisch-historische  Untersuchung  aus  den 
litterarischen  Erzeugnissen  des  ganzen  Marxismus  heraus- 
konstruiert  werden  muss".  Die  ,, kritisch-historische"  Untersuchung 
wird  eben  von  ihm,  wie  das  psychologisch  ja  leicht  erklärlich  ist, 
bereits  im  Hinblick  auf  das  systematische  Eesultat  geführt,  das  wir 
nun  noch  in  aller  Kürze  zu  betrachten  haben. 

Woltmann  weist  nach,  dass  der  Marxismus  weder  bei  der 
blossen  Ökonomie  noch  bei  der  dialektischen  Methode,  die  Marx  von 
Hegel,  „ohne  ihre  Richtigkeit  zu  prüfen",  einfach  übernommen  habe 
(262),  stehen  bleiben  kann.  Der  Marxismus,  obwohl  ein  „philosophisches 


62 

Lehrgebäude  ersten  Ranges"  (S.  5)  und  die  „reifste  intellektuelle  Fracht 
unseres  gegenwärtigen  Zeitalters"  (ebd.,  vgl.  S.  IV  und  S,  186j,  wie  er  mit 
seiner  Vorliebe  für  starke  Worte  sagt,  ist  durch  den  Kantischen  Kritizis- 
mus, die  genetische  durch  die  kritische  Methode  zu  ergänzen.  Er  sucht 
dann  zu  zeigen,  wo  die  Anknüpfungspunkte  im  Marx'schen  Systeme 
liegen,  die  nur  der  bewussten  Fortbildung  im  kritischen  Geiste  bedürfen. 
Die  materialistische  Geschichtsauffassung  ist  ihm  eine  .,Idee"  im 
Kantischen  Sinne,  ein  ,, regulatives  Prinzip",  das  „in  der  gesetzlichen 
Entwicklung  des  Erkenntnisprozesses  selbst  erzeugt  wird"  (178). 
Der  Historiker  muss  von  einem  „leitenden  Prinzip"  ausgehen.  ..denn", 
wie  Kant  sagt,  ,, Erfahrung  methodisch  anstellen  heisst  allein 
beobachten"  (179).  Über  den  Wahrheitswert  jeder  Idee  aber  ent- 
scheidet ihre  Fruchtbarkeit.  Nur  auf  dem  Wege  des  Versuches  — 
Woltmann  hätte  an  die  Platonische  Hypothesis  erinnern  können  — 
entsteht  Wissenschaft.  Von  solchem  Gesichtspunkte  aus  analysiere 
nun  auch  Marx,  darin  Kant  analog,  die  fertigen  Resultate  des  wirt- 
schaftlichen Entwicklungsprozesses,  sodass  es  ., aussehen  mag.  als 
habe  man  es  mit  einer  Konstruktion  a  priori  zu  thun"  (Kapital  S.  821). 
Mit  Geschick  reiht  Woltmann  dann  diejenigen  Momente  des 
Marx'schen  Denkens  an  einander,  die  sich  in  gleicher  Richtung  be- 
wegen. Dem  blossen  Natur  st  off  tritt  im  Menschen  eine  Natur- 
macht gegenüber,  die  nach  bewussten  Zwecken  schaff't.  Zur  Voll- 
führung seines  Werks  bedarf  der  Arbeiter  des  „zweckgemässen 
Willens".  „Was  von  vornherein  den  schlechtesten  Baumeister  vor 
der  besten  Biene  auszeichnet,  ist,  dass  er  die  Zelle  in  seinem 
Kopfe  gebaut  hat,  bevor  er  sie  in  Wachs  baut".  Das  ,. Resultat" 
des  Arbeitsprozesses  war  „beim  Beginn  desselben  schon  in  der 
Vorstellung  des  Arbeiters,  also  schon  ideell  vorhanden"  (Marx 
a.  a.  0.  S.  164).  So  erhebt  sich  über  den  Naturkräften  als  erster 
Stufe  die  Technik  oder  „Technologie",  indem  sie  „das  aktive 
Verhältnis  des  Menschen  zur  Natur  enthüllt"  (ebd.  S.  886  Anm.). 
Auf  ihr  baut  sich  dann  die  „ökonomische  Struktur"  der  Gesell- 
schaft auf.  Auf  dieser  wiederum  beruht  die  soziale  Gruppierung 
der  Menschheit,  denn  auf  dem  Gebiete  des  wirtschaftlichen  Handelns 


63 

folgt  der  Mensch  dem  „stummen  Zwang-  der  ökonomischen  Verhält- 
nisse". Diese  letzteren  werden  somit  zu  Klassen  Verhältnissen, 
„deren  Geschöpf"  der  einzelne  Kapitalist  oder  Grundeigentümer 
sozial  bleibt,  „so  sehr  er  sich  auch  subjektiv  über  sie  erheben 
mag"  (Vorwort  zur  1.  Auflage  des  „Kapital"  S.  7). 

An  diese,  von  Marx  wenigstens  beiläufig  zugestandene  Möglich- 
keit einer  „subjektiven  Erhebung"  des  Einzelnen  Über  die  wirtschaft- 
lichen Motive  des  Selbst-  und  Klasseninteresses,  mehr  noch  aber  an  die 
im  ganzen  Marx-Engels'schen  Denken  latent  vorhandene  ethische 
Unterströmung  knüpft  Woltmann  an,  um  die  Notwendigkeit  eines 
bewussten  Fortschreitens  über  den  bloss-ökonomischen  zum  ethischen 
Standpunkt  auch  den  Marxisten  plausibel  zu  machen.  Er  weist  nach, 
wie  Marx'  Geschichtsansicht  im  Grunde  durch  und  durch  ethisch  ist, 
wenn  sie  auch  nicht  ,,in  der  Manier  eines  Moralpredigers",  sondern 
„mehr  in  der  Form  der  Satire  und  eines  in  der  Tiefe  des  Herzens 
qualdurchzuckten  Spottes  und  Hohnes"  (S.  207)  zum  Ausdruck  kommt. 
Er  weist  darauf  hin,  wie  hinter  der  materialistischen  Hülle  eine 
moralische  Teleologie  verborgen  ist.  Die  Unterscheidung  einer  ge- 
schichtlichen Stufenfolge  menschlicher  Ordnung  und  Gesittung,  alle 
die  Urteile  über  Herrschafts-  und  Knechtschaftsverhältnisse,  Mehrwert 
und  Ausbeutung,  Freiheit  und  Unterdrückung,  —  sie  können  nicht 
rein  kausal  begriffen  werden,  sondern  enthalten  die  theoretisch  so 
scharf  abgelehnte  teleologische  d.  i.  ethische  Wertung  bereits  in 
sich  (S.  366  ff.). 

Es  würde  zu  weit  führen,  auf  die  zum  Teil  in  sehr  starken 
Ausdrücken  gehaltene  Kritik  einzugehen,  die  Woltmann  an  Engels 
mehr  aber  noch  an  einigen  jüngeren  Marxisten,  wie  Plechanow, 
Stern  und  Mehring  übt  (vgl.  über  die  letzteren  die  Anmerkungen  zu 
S.  50,  81  f.,  237  f.,  259).  Auch  Engels  wird  vorgeworfen,  dass  er  ,.in 
Fragen  der  Erkenntnistheorie  und  Ethik  Kant  missverstanden  oder  gar 
nicht  verstanden  habe"  (S.  25 j,  und  dies  später  im  einzelnen,  nament- 
lich an  der  Engels'schen  Kritik  des  Kantischen  „Dinges  an  sich"  nach 
gewiesen  (S.  305—321),  S.  227  auch  von  der  materialistischen 
Dialektik  im  allgemeinen  zugestanden,  dass  sie  „keinen  Apriorismus 


64 

kenne-',  dass  ihre  Erkenntnistheorie  „sensualistiseh"  sei.  Dennoch 
finden  sich,  wie  Woltmann  zeigt  (z.  B.  S.  228  f.,  368  f.),  auch  bei 
Engels  manche  Anknüpfungspunkte,  an  die  eine  Fortbildung  des 
Marxismus  im  Kantischen  Sinne  anknüpfen  kann. 

Woltmann  will  überhaupt  keine  „Preisgabe  des  Marxismus" 
(296  vgl,  403),  sondern  nur  eine  „kritische  Selbstbesinnung"  des- 
selben, eine  „Versöhnung"  und  ein  „Bündnis"  mit  der  kritischen 
Philosophie,  durch  das  er  „an  innerem  Wahrheitswert  nur  gewinnen 
kann"  (269),  „um  mit  geläutertem  Bewusstsein  von  neuem  an  die 
Probleme  des  dialektischen  und  historischen  Materialismus  heranzu- 
treten" (296).  Eine  Annäherung  beider  Gedankensysteme  lasse  sich 
„viel  leichter  und  folgerichtiger  vollziehen,  als  man  anf  den  ersten 
Eindruck  anzunehmen  pflegt'"  (297).  Denn  Kant  sei  ein  viel 
modernerer  Geist  als  Hegel  und  stehe  dem  Zeitalter  der  naturwissen- 
schaftlichen und  sozialistischen  Weltanschauung  weit  näher,  „nament- 
lich wenn  man  die  grosse  Bedeutung  der  Kantischen  Ethik  für  die 
Theorie  der  sozialistischen  Gesellschaftsorganisation  in  Betracht 
zieht"  (296).  Der  Sozialismus  ist  in  erster  Linie  eine  ethische 
Notwendigkeit  (427),  der  Marxismus  kann,  wenn  er  folgerecht 
verfahren  will,  dem  Idealismus  ,,oder  vielmehr"  der  Kanti- 
schen Philosophie  nicht  entfliehen  (209). 


So  haben  wir  denn  die  Beziehungen  zwischen  Kantianismus  und 
Sozialismus  von  Kant  bis  herab  auf  die  jüngste  Gegenwart  verfolgt  und 
erläutert.  Wir  haben  zunächst  gesehen,  dass  Kant  zwar  nicht  selbst  als 
Sozialist  oder  sein  System  als  ein  sozialistisches  bezeichnet  werden  kann, 
dass  aber  nicht  bloss  eine  ganze  Reihe  seiner  Staats-  und  geschichtsphi- 
losophischen  Gedanken  Anknüpfungspunkte  für  den  Sozialismus  bieten, 
sondern  dass  insbesondere  seine  Ethik  die  unerschütterliche  Grund- 
lage liefert,  auf  der  sich  eine  sozialistische  Weltanschauung  im 
Sinne  der  Gemeinschaftsethik  aufbauen  lässt.  Wir  sahen  weiter,  dass 
die  Bestrebungen  der  Neukantianer  mit  allem  Nachdruck  darauf  ge- 


65 

richtet  sind,  den  Kritizismus  auch  auf  dem  Gebiete  der  Sozialwisseu- 
schaft  zum  vollen  Ausdruck  zu  bringen,  mit  dem  Rüstzeug-  der 
transscendentalen  Methode  und  zugleich  den  Blick  auf  Kants  ethisches 
Ideal  gerichtet,  eine  Sozialphilosophie  zu  schaffen,  „die  als  Wissenschaft 
wird  auftreten  können";  und  dass  sie  andererseits  gerade  im  Interesse 
einer  einheitlichen  Methode  den  Marxismus  so  weit  anerkennen,  dass 
ihrerseits  einer  prinzipiellen  Versöhnung  zwischen  Kant  und  dem 
sozialen  Materialismus  nichts  im  Wege  steht,  sobald  der  letztere 
seines  wesentlichsten  Mangels,  des  Fehlens  einer  erkenntniskritisch- 
ethischen  Begründung,  inne  wird.  Und  wir  sahen  endlich,  dass  diesem 
Streben  unter  den  jüngeren  Marxisten  ein  immer  grösseres  Verständ- 
nis entgegengebracht  wird,  dass  der  Ruf:  ,, Zurück  auf  Kant!"  von 
immer  mehr  Seiten  erschallt,  und  somit  eine  Verständigung  zwischen 
„sozialistischen"  Kantianern  und  kantischen  Sozialisten  unschwer  zu 
erreichen  sein  dürfte.  Wir  verhehlen  uns  andererseits  freilich  auch 
die  Schwierigkeiten  nicht,  denen  eine  solche  Verständigung  auf  Seiten 
des  Marxismus  zur  Zeit  noch  begegnet.  Die  wesentlichste  ist  die, 
dass  die  meisten  marxistischen  Schriftsteller  zugleich  (als  Redakteure, 
Journalisten,  Parlamentarier  u.  s.  w.)  mitten  im  politischen  Kampfe 
stehen  und  naturgemäss  auch  als  Theoretiker  durch  politische 
Gesichtspunkte  —  sei  es  augenblickliche  oder  dauernde  —  sich  be- 
einflussen lassen:  was  der  wissenschaftlichen  Objektivität  nicht 
eben  dienlich  und  auch  der  Partei  selbst  auf  die  Dauer  schwer- 
lich förderlich  ist. 

In  den  letzten  Monaten  ist  die  theoretische  Bewegung,  ins- 
besondere was  ihre  philosophische  Tendenz  angeht,  zwar  äusserlich 
eine  stillere  geworden.  Nach  der  monatelangen,  überaus  lebhaften 
journalistischen  Polemik,  die  in  der  fünftägigen  „Bernstein-Debatte" 
zu  Hannover  ihren  vorläufigen  Abschluss  fand,  hat  sich  natürlich  auf 
beiden  Seiten  ein  gewisses  Ruhebedürfnis  geltend  gemacht.  Dass 
sie  indessen  im  stillen  weiter  fortgeht,  ist  aus  manchen  Anzeichen 
mit  Sicherheit  zu  schliessen.  In  der  Neuen  Zeit,  der  Bernstein 
nach  einer  Erklärung  in  No.  11  des  laufenden  Jahrgangs  nur  noch 
als  Mitarbeiter,    nicht  mehr  als  Redaktionsmitglied,    angehört,    ist  in 

Vorländer.  Kant  und  der  Sozialisnius.  6 


66 

neuester  Zeit  naturgemäss  die  dem  Kantianismus  mit  Misstrauen 
gegenüberstehende  Richtung  mehr  zu  Worte  gekommen.  Welch  tief 
eingewurzelten  Vorurteilen  auf  dieser  Seite  der  doch  von  Sozialisten 
im  eigensten  Interesse  des  Sozialismus  erhobene  Ruf  „Zurück  auf 
Kant!"  zum  Teil  noch  begegnet,  zeigt  namentlich  ein  Artikel 
F.  Mehrings,  in  dem  selbst  der  „Sozialistenhasser"  Häckel  gegen 
Kant  und  die  Neukantianer  ausgespielt  wird,  die  „auf  dem  Gebiet 
der  Gesellschaits-  wie  der  Naturwissenschaften  jenes  Dunkel  der 
Verwirrung  stiften  möchten,  worin  gut  munkeln  ist"  (!).^)  während 
doch  gerade  die  neukantische  Richtung,  nach  dem  Vorbilde  des  kri- 
tischen Philosophen,  ,,die  Grenzscheiden  klar  zu  halten  und  auf  jedem 
Gebiet  ganze  Arbeit  zu  machen"  (Mehring  S.  420)  sich  befleissigt. 
Erfreulich  dagegen  gewissen  Übertreibungen  der  materialistischen 
Geschichtsauffassung  gegenüber  ist  es,  dass  einer  ihrer  getreuesten 
Vertreter,  H.  Cunow,  in  demselben  Hefte  in  einem  Artikel  „Philo- 
sophie und  Wirtschaft"  mit  aller  Entschiedenheit  betont,  dass  die 
Philosophie  nicht  ,,in  ihrem  ganzen  Umfang",  sondern  ,,nur  in  ihren 
sich  mit  dem  sozialen  Sein  beschäftigenden  Teilen",  durch  die 
„sozialwirtschaftlichen  Zustände  und  deren  ideellen  Niederschlag  im 
gesellschaftlichen  Bewusstsein"  bestimmt  werde.^)  In  einem  gewissen 
Widerspruch  hierzu  steht  es  unseres  Erachtens,  wenn  Cunow  in  einem 
zweiten  (Schluss-)Artikel  trotzdem  Kants  Erkenntnistheorie  ihrem 
,,Ziel''  und  ihrer  ,.Tendenz"  nach  durch  seine  Ethik  —  das  will  bei 
Cunow  sagen:  für  Kant  von  vornherein  feststehende  religiöse  An- 
schauungen über  das  Dasein  Gottes  und  die  Unsterblichkeit  der 
Seele  —  bestimmt  sein  lässt  (a.  a.  0.  S.  468 — 470).  Es  ist  hier 
nicht  der  Ort,  diese  Anschauung,  die  sich  in  etwas  anderer  Form 
ja  auch  in  Paulsens  bekanntem  Kantbuch  wieder  findet,  zu  kritisieren. 
Aber  vorausgesetzt  auch,  dass  sie  mit  ihrer  Auffassung  von  solchen 
Kants  Gedankengang  möglicherweise  mit  bestimmenden  persönlichen 
Motiven  Recht  hätte,  so  ist  doch  mit  einer  solchen  rein  psycho- 
logischen Erklärung  nichts  gegen  Kants  System   und   seine  Methode 


1)  Neue  Zeit  (vom  6.  Januar  1900j  XVIII,  1,  420  f. 

2)  Ebd.  S.  425. 


67 

bewiesen.  Diese  bleiben  nach  unserer  Ansicht  haltbar  und  wertvoll, 
was  auch  jene  persönlichen  Motive  gewesen  sein  mögen.  Jedenfalls 
aber  trifft  Cunows  Argumentation  nicht  den  sozialphilosophischen 
Neukantianismus,  der  auf  dem  Boden  der  modernen  Wissenschaft 
steht  und  Kants  Postulate  als  unnötige,  ja  methodisch  schädliche 
Anhängsel  der  Kantischen  Ethik  streicht. 

Wir  würden  es  mit  Freude  begrüssen,  wenn  unsere  Darlegungen 
auch  den  streng-marxistischen  Kreisen  gezeigt  hätte,  wie  wenig  es 
mit  der  vermeinten  ,,Bourgeoisie"- Freundlichkeit  Kants  und  der 
Kantianer  auf  sich  hat,  welch  festes  Fundament  vielmehr  die  kritische 
Methode  im  Bunde  mit  der  Kantischen  Gemeinschaftsethik  dem 
Sozialismus  zu  geben  vermag.  Überall  da,  wo  sie  warm  werden- 
gehen diese  sozialen  .,Materialisten"  ja  doch  zum  ethischen  Idealis- 
mus über.  Zum  Beweis  sei  es  uns  gestattet,  aus  vielen  Beispielen 
ein  besonders  bezeichnendes  herauszugreifen.  Karl  Kautsky  wohl 
der  bedeutendste  unter  den  neueren  Marxisten,  beschliesst  seine 
letzte,  gegen  Bernstein  gerichtete  Schrift^)  mit  einem  begeisterten 
Aufrufe  zum  —  „Idealismus",  der  im  Gegensatz  zu  der  „nüchternen 
Alltäglichkeit"  der  „Augenblicks-  und  Berufsinteressen"  über  deren 
Kreis  hinaus  den  Blick  erweitere  zur  Erkenntnis  der  ,,grossen 
Zusammenhänge  aller  proletarischen  Interessen  unter  einander 
und  mit  den  allgemeinen  gesellschaftlichen  Interessen",  der  sich 
erhebe  zu  den  „grossen  Zwecken",  „mit  denen  es"  (das  Proletariat) 
,,zu  höherem  Geistesleben  heranwächst";  die  unentbehrliche  Klein, 
arbeit  des  täglichen  Lebens  werde  sich  schon  von  selbst  aufdrängen.^) 
Derselbe  Kautsky  pries  bereits  in  seiner  Erläuterung  des  Erfurter 
Programms  (Stuttgart  1892)  das  „selbstlose  Suchen  nach  der  Wahrheit" 
das  „Streben  nach  dem  Ideal"  (S.  172),  das,  wie  er  freilich  einseitig 
meint,  heute  nur  noch  bei  dem  Proletariat  zu  finden  sei  (S.  174f.). 
Schon  in  diesem  als  „eine  Art  Katechismus  für  die  Sozialdemokratie" 


1)  Bernstein  und  das  sozialdemokratische  Programm.  Eine  Antikritik  von 
Karl  Kautsky.     Stuttgart,  Dietz  Nachf.,  1899,  VIII  und  195  S. 

2)  a.  a.  0.  S.  195.  Wir  haben  schon  in  einem  Artikel  „Zur  Kritik  der 
Marxistischen  Weltanschauung"  (Ethische  Kultur  vom  16.  Dez.  1899)  kürzlich 
auf  diese  Stellung  des  führenden  Marxisten  aufmerksam  gemacht. 

6* 


68 

(Vorwort  S.  VI)  gedachten  Buche  redete  er  ausdrücklich  von  einer 
„moralischen  Wiedergeburt  oder  „Hebung"  des  Proletariats  (S.  198, 
198,  241),  dessen  Ziel  „gleiche  Rechte  und  gleiche  Pflichten  aller", 
die  allseitige  harmonische  Vervollkommnung"  (S.  104),  kurz 
ein  ,, zufriedenes,  seinen  Anschauungen  von  Menschenwürde  ent- 
sprechendes Dasein"  (S.  212)  ist.  „Nur  eine  Konsequenz",  schrieben 
wir  daher  vor  einigen  Wochen,  „seiner  eigenen  sittlichen"  Grund- 
gedanken würde  es  sein,  wenn  der  Marxismus  auch  theoretisch  den 
Boden  des  kritischen  Idealismus  beträte."  Dass  man  in  den 
marxistischen  Kreisen  in  Wirklichkeit  den  Grundgedanken  des  letzteren 
nicht  so  feindlich  gegenüber  steht,  wie  es  bisweilen  scheint,  beweist 
u.  a.  der  Umstand,  dass  ein  zwar  an  Kant  sich  äusserlich  nicht  an- 
lehnender, aber  von  neukantischer  Methode  so  durchtränkter  Artikel, 
wie  derjenige  Gunters  (s.  oben  S.  56)  unter  ausdrücklicher  Billigung 
der  Redaktion  in  der  Neuen  Zeit  erscheinen  konnte. 

Wenn  unsere  Untersuchung  in  ihrer  äusseren  Form  das  Gepräge 
einer  historischen  Darstellung  trug,  so  lag  dies  in  der  Natur  der 
Sache.  Ihr  Kern  und  ihre  Absicht  sind  jedenfalls  systematischer 
Art.  Wir  lieben  die  Schlagworte  nicht  und  wollen  daher  den  Weisen 
von  Königsberg  nicht  als  „Philosophen  des  Sozialismus"  ausrufen. 
Aber  wir  sind  der  Meinung  und  der  Hoffnung,  dass  es  mit  dem 
sozialen  Materialismus  ebenso  gehen  wird,  wie  mit  dem  naturwissen- 
schaftlichen. Wie  der  naturwissenschaftliche  Materialismus  als 
Philosophie  erst  dadurch  überwunden  worden  ist,  dass  F.  A.  Lange 
ihn  nicht  schlechtweg  verwarf,  sondern  als  Ferment  in  die  eigene, 
idealistische  Weltanschauung  aufnahm,  so  kann  auch  der  soziale 
Materialismus  nur  dadurch  überwunden  werden,  dass  er  als  voll- 
berechtigtes, wenn  auch  auf  seine  methodische  Bedeutung  (vgl. 
oben  S.  51)  beschränktes  Glied  in  das  System  eines  wissenschaft- 
lichen d.  h.  (nach  Kant)  „kritisch  gesuchten  und  methodisch  ein- 
geleiteten" sozialen  Idealismus  eingefügt  wird,  der  ohne  ihn  in 
der  Luft  schwebt.  Andererseits  bedarf  die  Kantische  Ethik,  wenn  sie 
festen  Fuss  im  sozialen  Leben  fassen  will,  des  sozialökonomischen  und 
sozialpädagogischen  Ausbaus,    damit    ihr    schlichtes    Gebot,    keinen 


69 

Menschen  bloss  als  Mittel  zu  betrachten,  verwirklicht,  damit  ihr  Reich 
der  Zwecke  zur  Wahrheit  werde  in  einer  Gemeinschaft  frei  wollender 
Menschen  oder,  in  Marxscher  Sprache,  in  einer  ,,  Association,  worin 
die  freie  Entwicklung  eines  jeden  die  Bedingung  der  freien  Ent- 
wicklung aller  ist."  So  aulgefasst.  verwandelt  sich  das  „Zurück 
auf  Kant!"  in  ein  „Vorwärts  mit  Kant!",  ein  „Vorwärts!"  auf 
der  Bahn  einheitlicher  Erfassung  des  sozialen  Geschehens  und  des 
sozialethischen  Ziels. 


Dmck  von   A.  W.  llayn's  Erben,  Berlin  und  Potsdam. 


Reuther  &  Relchard's  ^ix^^i  i^S    Verlag  in  Berlin  W.9: 


In  nnserm  Verlas-  erscheinen: 


Kantstudien. 


Philosophische    Zeitschrift 

unter  Mitwirkung  von 

E.  Adickes,  E.  Boutroux,    Edw.  Caird,  C.  Cantoni, 

J.  E.  Creighton,  W.  Dilthey,  B.  Erdmann,  M.  Heinze,  R.  Reicke, 

A.  Riehl,  W.  Windelband   und   anderen   Fachgenossen 

"  herausgegeben  von 

Dr.  Hans  Vaihinger, 

0.  ö.  Professor  der  Philosophie    an  der  Universität  Halle  a.  S. 

In  Bänden  von  je  4  Heften.     Preis  für  den  Band  M.  12.—. 

Einzelne  Hefte  M.  6. — . 

Bis  jetzt  sind  4  Bände  erschienen. 


Die  „Kantstudien"  sind  ein  unentbehrliches  Hilfsmittel  nicht  nur  für 
denjenigen,  der  sich  mit  Kant  beschäftigt,  sondern  auch  für  jeden,  der 
sich  mit  Philosophie  überhaupt  abgiebt.  Dem  ersteren  bieten  die  „Kant- 
studien" die  vollständige  Sammlung  des  gesamten  wissenschaftlichen 
Materials  der  Gegenwart  für  alle  Fragen,  die  sich  auf  Kants  Philosophie 
beziehen;  die  „Kantstudien"  bilden  die  beste  Einführung  in  die  Kantische 
Philosophie  und  in  alle  Probleme,  die  sich  an  dieselbe  anknüpfen.  Für  das 
Studium  der  einzelnen  Werke  Kants  sind  die  „Kantstudien"  die  zweck- 
mässigste  Handhabe,  indem  jeder  Band  derselben  einen  übersichtlich  ange- 
legten Index  enthält,  in  welchem  die  Erläuterungen,  die  sich  auf  Kants 
einzelne  Werke  beziehen,  systematisch  verzeichnet  sind,  so  dass  dieselben 
einen  fortlaufenden  Kommentar  zu  den  einzelnen  Werken  Kants  bilden. 
Ein  weiterer  sehr  sorgfältiger  Index,  das  Sacliregister,  enthält  alle  wichtigen 
Hauptbegriffe  der  Kantischen  Philosophie  nebst  Angabe  der  Stellen,  an 
denen  sich  Neues  über  dieselben  in  dem  betreffenden  Bande  findet.  Endlich 
bietet  ein  genaues  Novitätenregister  einen  bequemen  Überblick  über 
die  ganze  neueste  Kantlitteratur,  wölche  in  dem  betreffenden  Bande 
eingehend  und  sachgemäss  besprochen  ist. 

Aber  auch  für  das  Studium  der  Philosophie  überhaupt  bilden  die 
„Kantstadien"  eine  wertvolle  Fundgrube.  Wo  von  Kant  die  Rede  ist, 
muss  auch  von  seinen  Vorgängern  und  Nachfolgern  die  Rede  sein.  Ein 
Blick  in  das  reichhaltige  Personenregister,  das  in  jedem  Band  enthalten 
ist,  zeigt  eine  überraschende  FüUe  von  Namen  alter  und  neuer  Philosophen, 


Theologen  und  Naturforscher,  welche  beim  Studium  der  Kantischen  Philo- 
sophie sich  aufdrängen,  und  deren  Beziehungen  zu  Kant  in  einer  Weise 
erörtert  werden,  welche  für  das  Studium  der  Philosophie  überhaupt  von 
fruchtbarstem  Erfolg  ist. 

Keine  öffentliche  Bibliothek,  welche  mit  dem  Fortschritt  der 
Wissenschaft  gleichen  Schritt  halten  will,  wird  somit  die  „Kantstudien" 
entbehren  wollen  und  können. 

Die  „Kantstudien"  haben  in  ihren  bis  jetzt  erschienenen  vier 
Bänden  eine  grosse  Fülle  von  Beiträgen  gebracht.  Unter  den  bisher 
erschienenen  heben  wir  besonders  folgende  hervor: 

E.  A  dick  es,   Die  bewegenden  Kräfte  in  Kants  philosophischer  Entwicklung 

und  die  beiden  Pole  seines  Systems. 
K.  Vorländer,  Goethes  Verhältnis  zu  Kant  in  seiner  historischen  Entivicklung. 
A.  Pinloche,  Kant  et  Fichte  et  le  probleme  de  V liducaiion. 
K.  Vorländer,  Eine  Sozialphilosophie  auf  Kantischer  Grundlage. 
W.  Lutoslawski,  Kant  in  Spanien. 

F.  Staudinger,  Kants  Traktat:  Zum  eivigen  Frieden.    Ein  Jubiläumsejnlog. 
P.  Menzer,  Der  Entwicklungsgang  der  Kantischen  Ethik. 

H.  Hoff  ding,  Rousseaus  Einfluss  auf  die  definitive  Form  der  Kant  ischen  Ethik. 
E.   Fromm,    Das   Kantbildnis   der    Gräfin   K.  Ch.  Ä.  von  Keyserlifig  (mit 

Abbildung). 
K.  ^'orl ander,  Publikationen  aus  dem  Goethe-  und  Schiller-Archiv  und  dem 

Goethe-  National -Museum   zu  Weimar,    Goethes   Verhältnis   zu   Kant 

betreffend. 
J.  E.  Creighton,  The  Philosophy  of  Kant  in  America. 
H.  Mai  er.    Die  Bedeutung  der  Erkenntnistheorie  Kants  für  die  Philosophie 

der  Gegemvart. 
K.  Vorländer,  Villers'  Bericht  an  Napoleon  über  die  Kantische  Philosophie. 
C.  Lülmann,  Kants  Anschauung  vom  Christentum. 
Fr.  Medicus,  Zwei  Thomisten  cmitra  Kant. 
Fr.  Paulsen,  Kant  der  Philosoph  des  Protestantismus. 
M.  W entscher,   War  Kant  Pessimist? 
A.  Neu  mann,  Lichtenberg  als  Philosoph. 
A.  Döring,  Kants  Lehre  vom  höchsten  Gut. 
H.  Vai hinger,    Bericht   über    eine  Kontroverse  in  Frankreich    über  Kants 

Lehre  vom  Krieg. 
H,  Rickert,  Zum  Jubiläum  des  Fichteschen  Atheismusstreites. 
Fr.  Medicus,  Zu  Kants  Philosophie  der  Geschichte  mit  besonderer  Beziehung 

auf  K.  Lamj»-echt. 
Fr.  Staudinger,    Der  Streit  um   das  Ding  an  sich  und  seine  Erneuerung 

im  sozialistischen  Lager. 
K.  Vorländer,  Kant  und  der  Sozialismus- 
Fr.  Paulsen,  Kants   Verhältnis  zur  Metaphysik. 

Ausserdem  geben  zahlreiche  Rezensionen  u.  s.  w.  eine  sehr  umfassende 
wertvolle  Übersicht  über  die  laufende  philosophische  Litteratur 
des  In-  und  Auslandes.  Eine  schätzbare  Beigabe  bilden  die  Ee- 
produktionen  mehrerer  bisher  unbekannter  Kantporträts  \\.  s.  w. 

Wir  laden  hiermit  zur  Subscription  ein. 

Die  Verlagsbuchhandlung. 


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