Skip to main content

Full text of "Kant und die epigonen : Eine kritische abhandlung"

See other formats


:':i;';o;^':!Ai!i!!;;|I;i;t;!t>;[tj;;!>t;^!'^^ 


r'r^SBK^ 

^m 

mmm 

fö;,; 

11 

1! 

•|;;>^:i|^^ 

jK^^Kfö 

''t'-!'.t'i!'>f>twS^ 

VerU^  von  Reut}|i«r  4t  M%h^H 


3  T1S3  DnSBbMS  ^ 


\ 


\ 


X 


\ 


Neudrucke 
seltener  philosophischer  Werke. 

Herausgegeben 
von  der 

Kantgesellschaft. 


Band  II. 


Kant    und    die    Epigonen 

von 
Otto   Liebmann. 


Berlin, 

Verlag  von  Reuther   &   Reichard 
1912. 


6 

KANT  -If,.^ 

UND 

DIE   EPIGONEN. 


Eine  kritische  Abhandlung 


von 


OTTO  LIEBMANN. 


C'est  par  l'Erreur  qu'au  vrai  rhorame  peut  s'avancer. 

■'   -  Helvetius. 


Besorgt 


von 


Bruno  Bauch. 


Berlin, 

Verlag  von  Reuther   &  Reichard 
1912. 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Vorwort  des  Herausgebers. 


Die  Jugendschrift  Otto  Liebmanns,  die  wir  hier  neu 
herausgeben,  hat  trotz  der  tiefgreifenden  Wirkung,  die 
sie  geübt,  lange  Zeit  im  Buchhandel  gefehlt.  An  Otto 
Liebmann  waren,  namentlich  im  Laufe  der  letzten  Zeit, 
vielfach  Aufforderungen  ergangen,  sie  neu  herauszugeben. 
Und  als  die  Kant-Gesellschaft  die  „Neudrucke  seltener 
philosophischer  Werke"  in  den  Plan  ihrer  Aufgaben  ein- 
bezogen hatte,  wurde  auch  uns  der  Wunsch  unterbreitet, 
das  nun  hier  vorliegende  Werk  von  neuem  zugänglich 
zu  machen. 

Den  Verfasser  des  Werkes  brachte  dieser  Plan  zu- 
nächst in  einige  Verlegenheit:  Auf  der  einen  Seite  war 
ihm  begreiflicherweise  seine  Schrift  lieb  und  wert  ge- 
worden. Auf  der  anderen  Seite  sagte  er  mir:  „Aber  es 
ist  eben  doch  eine  Jugendarbeit."  Und  ich  hätte  bereits 
aus  der  Art,  wie  er  dieser  gegenüberstand,  den  Grund- 
zug seines  philosophischen  Wesens,  spräche  er  nicht 
sachlich  schon  aus  jeder  Seite,  die  er  geschrieben,  in 
der  kurzen  Zeit  der  persönlichen  Beziehungen,  die  ich 
seit  meiner  Berufung  nach  Jena  zu  ihm  gewonnen  hatte, 
erkennen  müssen:  die  lauterste  und  rückhaltloseste  An- 
wendung des  „yvwd^t  asavTov"  auf  seine  Person,  sein 
eigenes  Schaffen  und  Wirken.  So  war  denn  sein  Ver- 
hältnis auch  zu  dieser  Schrift  das  einer  geradezu  vorbild- 
lichen Objektivität:  „Ich  würde  sie  heute  selbstverständ- 
lich ganz  anders  schreiben,  als  vor  anderthalb  Menschen- 
altern",  sagte  er  mehr  als  einmal  zu  mir.    Und  »Kant 


VI  Vorwort  des  Herausgebers. 

würde  heute  vielleicht  noch  besser  wegkommen,  als  da- 
mals; aber  wohl  auch  die  Epigonen",  meinte  er.  Nicht 
als  ob  dadurch  seine  später  entwickelte,  systematische 
Grundposition  irgendwie  angetastet  werden  sollte.  Im 
Gegenteil,  gerade  von  ihr  aus  hätte  er  am  liebsten  sein 
Erstlingswerk  von  Grund  aus  umgearbeitet  und  für  diese 
Umarbeitung  auch  die  historische  Leistung  der  letzten 
Jahrzehnte  verwertet.  Allein,  ein  so  deutliches  Zeugnis 
für  die  Regsamkeit  und  Frische  seines  Geistes  gerade 
dieser  Wunsch  war,  so  nötig  war  doch  auch  die  stetige 
Rücksicht  auf  seine  angegriffene  Gesundheit.  Und  außer- 
dem wäre  ja  gerade  eine  Neubearbeitung  nicht  der  von 
uns  erbetene  Neudruck  gewesen,  sondern  ein  neues  Werk 
geworden.  So  vertraute  er  mir  denn  erst  nach  langem 
kritischen  Erwägen,  wenige  Wochen  vor  seinem  Tode, 
die  Herausgabe  seines  Werkes  an,  in  dessen  erste  zwei 
Druckbogen  ich  ihn  noch  Einsicht  nehmen  lassen  konnte. 
Es  bedarf  ja  eigentlich  keines  besonderen  Hinweises 
darauf,  daß  der  Verfasser  der  „Analysis  der  Wirklichkeit" 
und  der  „Gedanken  und  Thatsachen"  nicht  auf  der  von 
ihm  im  Jahre  1865  erreichten  Position  stehen  geblieben 
ist,  sondern  über  ein  Menschenalter  erfolg-  und  segens- 
reich weiter  gearbeitet  und  weiter  gewirkt  hat.  Als  eine 
Pflicht  der  Pietät  gegen  die  Person  Otto  Liebmanns,  wie 
des  Dankes  gegen  die  Sache  seiner  Leistung  will  es 
mir  aber  gerade  deshalb  doch  erscheinen,  die  heute  mit 
dem  Worte  besonders  schnell  fertige  Kritik  in  der  Stellung 
zu  Liebmanns  Jugendwerk  etwas  zur  Behutsamkeit  zu 
mahnen  und  ihr  zu  sagen,  daß  Liebmann  gerade  im 
gerechten  Bewußtsein  seiner  Leistung  keinen  aufrichtigeren 
und  ehrlicheren  Kritiker  je  wird  finden  können  als  sich 
selbst.  Ich  möchte  darum  wenigstens  die  beiden  Haupt- 
punkte bezeichnen,  auf  die  Liebmanns  Selbstkritik  gegen- 
über seiner  Schrift  über  „Kant  und  die  Epigonen"  sich 
vor  allem  'richtete.  Der  eine  betrifft  den  Inhalt,  der 
andere  lediglich  die  Form.    Immer  noch  unter  dem  Ein- 


Vorwort  des  Herausgebers.  VII 


drucke  der  letzten  Gespräche  mit  Liebmann  —  icli  schreibe 
diese  Zeilen  genau  eine  Woche,  nachdem  ich  ihn  zum 
letzten  Male  gesehen  —  lege  ich  das,  worauf  es  ankommt, 
möglichst  im  Anschluß  an  seine  eigenen  Äußerungen  dar, 
gleichsam  biographisch. 

Ich  beginne  mit  dem  inhaltlichen,  den  „Geist  der 
Transscendentalphilosophie",  um  mit  Liebmann  selbst 
zu  reden,  berührenden  Momente:  Zu  den  besonderen 
Freuden,  die  Liebmann  in  den  letzten  Wochen  seines 
Lebens  erfuhr,  und  von  deren  Wirkung  auf  ihn  ich  selbst 
Zeuge  war,  gehört  die  Würdigung,  die  ihm  Windelband 
in  der  Charakteristik  der  „philosophischen  Richtungen  der 
Gegenwart"  (Große  Denker  II,  S.  363  ff.)  zuteil  werden 
ließ.  Wenn  Windelband  hier  gesagt  hatte,  daß  „Ein 
klein  wenig  von  .  .  .  dem  Anthropologismus  aus  den 
Anfängen  des  neuen  Kantianismus"  auch  noch  bei  Otto 
Liebmann  bemerkbar  sei,  so  gab  Liebmann  diese  Kritik 
als  durchaus  zutreffend  ebenso  gerne  zu,  wie  er  Windel- 
bands Auffassung  beistimmte,  daß  diese  anthropologische 
Position  gerade  durch  Liebmanns  „Untersuchungen  über 
die  abgestuften  Schichten  des  A  priori"  über  sich  selbst 
hinausgeführt  wird.  Er  könne  sich,  meinte  er,  mit  Windel- 
band sofort  verständigen,^)  indem  er  das  A  priori  aus 
der  Sphäre  des  Kantischen  Begriffs  der  „menschlichen 
Vernunft",  in  der  er  es  anfänglich  belassen,  in  die  Sphäre 
des  Begriffs  der  „reinen  Vernunft"  verlege,  auf  den  er 
es  in  letzter  Linie,  namentlich  in  seinen  Hauptwerken, 
doch  eigentUch  abgesehen  habe,  und  der  auch  innerhalb 
des  Kantischen  Systems  von  dem  der  „menschlichen 
Vernunft"    durch    die   Forschung  immer   strenger   werde 


^)  Nebenbei  sei  noch  Folgendes,  was  damit  ja  im  Zusammen- 
hange steht,  bemerkt:  Liebmann  teilte  durchaus  auch  Windelbands 
Auffassung  des  Pragmatismus  und  meinte :  Vor  Sokrates  habe  der 
„Hominismus"  in  der  That  etwas  Imposantes.  Aljer  wem  er  nach 
Kant  noch  imponieren  könne,  an  dem  sei  eigentlich  nicht  blos  Kant, 
sondern  auch  alle  Philosophie  seit  Sokrates  spurlos  vorübergegangen. 


VIII  Vorwort  des  Herausgebers. 

unterschieden  werden  müssen.  Und  zur  Bestätigung 
dessen  wies  er  auch  meine  eigenen  Ausführungen  über 
seine  (Liebmanns)  Auffassung  der  Natur  als  „objektiver 
Weltlogik"  hin,  in  der  wohl  das  Anthropologische  ab- 
gestreift und  das  Transscendentale  rein  dargestellt  sei. 
Danach  nun  würde  sich  auch  Liebmanns  Stellung  zu  den 
„Epigonen"  modifizieren.  Das  ist  das  Eine,  das  inhalt- 
liche Moment. 

Und  das  führt  mich  gleich  zum  zweiten,  formalen 
Moment.  Liebmann  sagte  mir  eines  Tages,  die  pein- 
lichste Verkennung  der  Absicht  seiner  Schrift  über  „Kant 
und  die  Epigonen"  sei  die  als  Lob  gemeinte  Ansicht  ge- 
wesen, daß  er  mit  Fichte,  Hegel  und  Schelling  nach 
Schopenhauers  Vorbild  zu  Gericht  gegangen  sei.  Er 
hätte  geglaubt,  Schopenhauers  Verfahren  doch  gerade  in 
diesem  Buche  deutlich  genug  charakterisiert  zu  haben. 
(Ausdrücklich  wird  ja  in  der  That  die  „Unbill"  Schopen- 
hauers als  „unverzeihlich,  taktlos,  unpassend,  ja  unan- 
ständig" bezeichnet.)  Aber  er  sei  wohl  für  die  Allge- 
meinheit der  Leser  noch  nicht  deutlich  genug  gewesen, 
und  so  sollte  er  eigentlich  sowohl  Fichte,  Hegel  und 
Schelling  gegenüber,  als  auch  gegen  Schopenhauer  noch 
deutlicher  sein.  Auch  diese  Bemerkung  wollte  ich  zum 
rechten  Verständnis  von  Liebmanns  Absicht  nicht  unter- 
drücken. Ich  denke:  es  ist  in  seinem  Sinn  und  Geist, 
diese  eigentlich  private  Aeußerung  mitzuteilen.  Im 
übrigen  kann  ich  ja  nun  auf  Liebmanns  sachliche  Dar- 
stellung verweisen.  Aus  ihr  ergibt  sich  für  jeden,  der 
philosophische  Bücher  lesen  kann,  genau  das  Gegenteil 
von  Schopenhauers  Verfahren.  Dieses  wird  zwar  immer 
noch  gelegentlich  nachgemacht.  Man  reißt  auch  heute 
noch,  nach  Schopenhauers  Rezept,  Stellen  aus  Hegels 
Werken  heraus,  um  sie,  freilich  ohne  Schopenhauers 
Witz,  dem  Gelächter  einer  selbst  witzlosen  Menge  preis- 
zugeben. Und  wenn  das  bei  Schopenhauer  auch,  um 
Liebmanns  Charakteristik  der  Schopenhauerschen  Gepflogen- 


Vorwort  des  Herausgebers.  IX 

heit  gegen  Fichte  auch  auf  das  noch  üblere  Verhalten 
gegen  Hegel  anzuwenden,  „unverzeihlich,  taktlos,  un- 
passend, ja  unanständig"  war,  so  mochte  es  bei  Schopen- 
hauer immer  noch  den  Reiz  der  Neuheit  und  des  Witzes, 
wenn  auch  des  schlechten  Witzes,  für  sich  haben.  Das 
witzlose  Copieren  Schopenhauers  aber  ist  zu  allem 
anderen  noch  abgeschmackt. 

Um  solche  Possen  zu  reißen,  dazu  dachte  Otto 
Liebmann  wahrhaftig  zu  groß  und  zu  vornehm,  dazu 
hatte  er  viel  zu  viel  philosophischen  Ernst  und  philo- 
sophische Würde,  viel  zu  viel  Lebensstil,  ja  schon  viel 
zu  viel  Geschmack.  Dazu  hatte  er  vor  allem  zu  viel  von 
jener  echten  Ehrfurcht  vor  echter  Größe,  die  Goethe 
fordert,  zu  viel  Ehrfurcht  vor  dem,  was  er  selbst  die 
philosophische  Tradition  genannt  hat.  Außer  seiner 
Schrift  über  „Kant  und  die  Epigonen",  und  seinem 
letzten  Vortrage  über  Kant  (welche  beiden  Werke  aber 
selbst  stark  systematisch  gerichtet  sind)  hat  Liebmann 
zwar  nicht  eigentlich  historisch  gearbeitet,  sein  eigenstes 
Arbeitsfeld  war  die  systematische  Philosophie.  Aber  ge- 
rade dadurch  erwies  er  sich  als  echten  Vertreter  jener 
systematischen  Philosophie,  der  die  Zukunft  gehört,  daß 
er  den  Wert  der  Geschichte  für  das  System  der  Philo- 
sophie zu  würdigen  wußte.  Davon  legt  nicht  etwa  blos 
seine  Abhandlung  über  philosophische  Tradition  beredtes 
Zeugnis  ab,  dafür  zeugen  seine  systematischen  Haupt- 
werke selbst  tausendfältig.  Und  das  philosophische 
Denken  der  Gegenwart  zeigt  gerade  darum  so  wenig  be- 
deutende Erscheinungen,  die  selbst  für  die  Zukunft 
arbeiten,  und  soviel  Kleinheit,  deren  Sein  in  der  Gegen- 
wart beschlossen  liegt,  weil  dem  Gros  der  Gegenwarts- 
erscheinungen der  Sinn  für  die  Bedeutung  der  Vergangen- 
heit noch  nicht  aufgegangen  ist,  ohne  den  es  für  unsere 
Gegenwart  nun  einmal  keine  Zukunft  mehr  geben  kann. 
Von  diesem  Gros  hat  man  einen  Liebmann  aber  wahr- 
lich zu    scheiden.    Wenn  er  hier  gegen  die  „Epigonen" 


Vorwort  des  Herausgebers! 


einen  energischen  Kampf  ausficht,  um  für  Kant  selbst, 
freilich  unter  ebenso  energischer  Kritik,  zu  kämpfen,  so 
hat  er  die  „Epigonen"  wahrhaftig  nicht  als  Nichtigkeiten 
hinstellen  wollen.  Nichtigkeiten  hätte  Liebmann  wohl  in 
einem  Gelegen heitsaufsatze  abtun  können,  aber  über 
Nichtigkeiten  hätte  er  sicherlich  nie  ein  Buch  geschrieben. 
Und  dieses  wieder  hätte  nicht  so  positiv  gewirkt,  wie 
es  gewirkt  hat.  Daß  er  über  „Kant  und  die  Epigonen" 
so  geschrieben  hat,  wie  er  geschrieben  hat,  ist  also  nicht 
blos  ein  Zeugnis  für  die  Kant  jederzeit  gezollte  Be- 
wunderung, sondern  auch  ein  Ausdruck  der  Achtung 
vor  den  „Epigonen".  Und  auch  dieser  Name  kann 
nicht  einmal  als  eine  Herabsetzung  gedeutet  werden,  er 
muß  aus  der  Sache  historischer  Epigenese  verstanden 
werden.  Denn  gerade  in  dieser  Schrift  hat  Liebmann 
die  „Epigonen"  nicht  blos  als  „selbständige  Denker", 
ja  als  „große  Architekten"  des  Gedankens  anerkannt, 
sondern  in  ihnen  geradezu  die  „großartigen  Haupt- 
richtungen unserer  modernen  Philosophie"  gesehen.  Er 
hat  nicht  nur  seinen  Sinn  offen  gehalten  für  ihre  „her- 
vorstechende Kraft  des  Gedankens",  sondern,  was  mehr 
ist,  er  hat  es  ausgesprochen,  wie  sehr  es  ihnen  „Ernst 
mit  der  Wahrheit"  ist.  Das  ist  doch  wahrhaftig  eine 
andere  Sprache,  als  sie  Schopenhauer  gegen  Fichte, 
Hegel  und  Schelling  geführt  hat.  Wenn  er  sich  nun  mit 
diesen  nicht  minder  energisch  auseinandersetzt,  als  mit 
Schopenhauer  und  mit  Herbart,  so  geschah  es  nur,  weil 
ihm  selbst  der  „Ernst  mit  der  Wahrheit"  eine  heilige 
Sache  war.  Auch  das  wolle  man  beachten,  wenn  man 
sich  an  das  Studium  von  Liebmanns  Jugendarbeit 
begiebt. 

Da  Liebmann,  wie  schon  gesagt,  eine  Neubearbeitung 
nicht,  mehr  möglich  war,  ohne  daß  sich  ihm  eben  ein 
.ganz  neues  Werk  ergeben  hätte,  so  wünschte  er,  daß  ich 
vielleicht  in  einem  Herausgebervorworte  ausdrücklich 
darauf  hinwiese,  daß  es  sich  nicht  um  eine  neue  Auflage, 


Vorwort  des  Herausgebers.  XI 

sondern  um  einen  dem  Plane  der  Kant-Gesellschaft  ent- 
sprechenden Neudruck  handle.  Er  gab  mir  einige  Zeilen 
von  seiner  Hand,  die  ich  dazu  nach  meinem  Belieben 
verwerten  könnte.  Ich  lasse  sie  aber  unverkürzt  als  Vor- 
wort des  Verfassers  folgen.  Es  sind  die  letzten  Zeilen, 
die,  wenigstens  ihrem  Inhalte  nach,  von  ihm  zur  Mit- 
teilung an  die  Öffentlichkeit  bestimmt  waren.  Als  letztes, 
wenn  auch  kurzes,  literarisches  Dokument  werden  sie 
seinen  Freunden  und  Lesern  willkommen  sein. 

Mir  bleibt  noch  eine  Pflicht:  Otto  Liebmanns  letzter 
Schüler,  Herr  Dr.  Walter  Mechler,  hat  mich  beim  Lesen 
der  Korrekturen  bereitwillig  und  freundlich  unterstützt. 
Den  aufrichtigen  Dank,  den  ich  ihm  dafür  schulde, 
möchte  ich  ihm  hier,  auch  noch  im  Namen  seines  ver- 
ehrten  entschlafenen   Lehrers,   von   Herzen   aussprechen. 

So  mögen  denn  „Kant  und  die  Epigonen"  von 
neuem  ausziehen.  Ich  denke:  Wenn  man  beachtet,  was 
ich  hier  im  Sinne  Liebmanns  darzulegen  versucht  habe, 
werden  sie  auch  von  neuem  im  Sinne  Liebmanns  wirken. 
Die  philosophische  Arbeit  der  Gegenwart,  soweit  sie 
wirklich  philosophisch  und  wirklich  Arbeit  ist,  steht  aber- 
mals unter  dem  Zeichen  der  Auseinandersetzung  mit 
Kant  und  den  Epigonen.  Auseinandersetzung  aber  ist 
ebensowenig  verständnisloses  Schmähen,  wie  verständnis- 
loses Nachbeten.  Dieses  widerstrebte  Liebmanns  kritischem 
Denken  ebenso,  wie  jenes  seinem  Gerechtigkeitsbewußt- 
sein. Darum  ward  seine  Schrift  zum  Aufruf  für  den 
Kritizismus  gegen  den  Dogmatismus.  Dafür  aber  hätte 
er  sich  nicht  blos  auf  Kants  Ausspruch  berufen  können, 
daß  den,  der  einmal  echte  Kritik  gekostet  habe,  alles 
dogmatische  Gewäsch  ekele.  Mit  demselben  Rechte  hätte 
er  auch  auf  jene  kraftvolle  Erscheinung  unter  den  drei 
großen  Epigonen,  der  er  gerne  seine  besondere  Hoch- 
achtung bezeugt,  verweisen  können  auf  Fichte,  der  gegen 
die  Nachbeterei  des  Wortes  betont:  „wer  nur  dieses  hat, 
hat    denn   in    der  Tat   auch   nur  ein   Wort   und   keinen 


XII  Vorwort  des  Herausgebers. 

Begriff.  Nur  in  der  Prüfung  und  im  Ringen  des  Geistes 
mit  dem  Geiste  erwäcfist  der  letztere  auf  unserem  eigenen 
Boden." 

Diese  Prüfung  aber  ist  echte  Kritik  im  Sinne  des 
Kritizismus,  eben  weil  sie  nicht  nörgelnde  Negation  ist, 
sondern  nach  Wertkriterien  prüft  und  selbständig  Wert- 
volles auf  eigenem  Boden  erwachsen  läßt.  Und  in  dieser 
Prüfung  und  in  diesem  Ringen  möge  das  Werk  Lieb- 
manns, dessen  Geist  bloßer  Negation  ebenso  abhold,  wie 
er  immer  auf  positives  Schaffen  gerichtet  war,  wiederum 
Förderung  und  Klärung  bringen,  wie  es  bei  seinem  ersten 
Erscheinen  mit  reichem  Erfolg  positiv  fördernd  und 
klärend  in  die  philosophische  Lage  eingegriffen  hat. 
Mag  es  sein  Verfasser  selbst  als  „Jugendarbeit"  bezeichnen, 
so  ist  es  doch  die  Jugendarbeit  eines  Otto  Liebmann. 
Und  wenn  dieser  es  auch  auf  der  Höhe  seiner  philo- 
sophischen Laufbahn  anders  als  auf  deren  Anfängen  ge- 
schrieben haben  würde,  so  hat  es  doch  gerade  in  der 
Form,  in  der  es  zuerst  gewirkt  hat,  nicht  blos  den  von 
unseren  Neudrucken  erstrebten  Wert  eines  bleibenden 
Kulturdokumentes  in  der  Entwickelung  unseres  Geistes- 
lebens, sondern  auch  den  persönlichen  Reiz  kraftvoller 
Jugendfrische  seines  Schöpfers,  dem  seine  Sache  dauernde 
Wirkung  verbürgt. 

Daß  er  aber  sein  Jugendwerk  noch  kurz  vor  seinem 
Tode  in  die  Hände  der  Kant-Gesellschaft  gelegt  hat, 
dafür  gebührt  ihm  unser  ehrender  Dank. 

Jena,  im  Januar  1912.  Bruno  Bauch. 


Vorwort  des  Verfassers. 


Diese  Schrift  erschien  im  Jahre  1865.  Sie  ist  schon 
seit  längerer  Zeit  vergriffen,  während  sie  doch  häufig  ge- 
sucht und  verlangt  worden  ist.  Der  Verfasser  hat  es 
nun,  auf  Grund  mehrfacher  ausdrücklicher  Aufforderung, 
gestattet,  daß  jetzt  eine  Erneuerung  dieser  seiner  Jugend- 
arbeit veröffentlicht  wird.  Dabei  handelt  es  sich  aber 
nicht  um  eine  neubearbeitete  Auflage,  sondern  lediglich 
um  einen,  nach  Entfernung  von  Druckfehlern,  wörtlichen 
Wiederabdruck. 


Kant 

und 

die  Epigonen. 


Eine  kritische  Abhandlung 


von 


Dr.  Otto  Liebmann. 


C'est  par  l'Erreur  qu'au  vrai  rhomme  peut  s'avancer. 

H  e  1 V  e  t  i  u  s. 


--3-®-<^ 


Stuttgart, 

Carl  Schober 
1865. 


Einleitung. 


Kqsittov  y('c(}  nov  afity.ooi^  ei,   fj  no^v  y.r]  Ixavwg  nsQtii/c.i. 

Piaton.  Theaetet.  c.  31, 

Es  ist  bekanntlich  dafür  gesorgt,  daß  die  Bäume 
nicht  in  den  Himmel  wachsen ;  eine  Wahrheit,  die, 
wenn  sie  geeignet  ist,  den  menschlichen  Ehrgeiz  nieder- 
zuschlagen, andrerseits  dem  redlichen  Streben  nach  Er- 
kenntniß  als  Sporn  dient,  insofern  sie  allen  blinden 
Autoritätsgötzendienst  auf  ein  unschädliches  Maaß  zu 
reduciren  im  Stande  ist. 

Wenn  der  menschliche  Geist  in  irgend  einer  Sphäre 
seine  Thätigkeit  so  stark  und  einseitig  angespannt,  seine 
Gedanken  so  bis  in  die  feinsten  Nuancen  entwickelt  hat, 
daß  die  Mehrzahl  der  Denkenden  kaum  im  Stande  ist, 
ihm  zu  folgen,  viel  weniger  ihn  zu  überbieten  ;  dann 
glaubt  er  sich  wohl  zu  der  Ueberzeugung  berechtigt  : 
es  bleibe  hier  Nichts  mehr  zu  denken  übrig,  er  habe 
den  ganzen  Inhalt  dieser  Sphäre  durchaus  erschöpft ; 
dann  ist  er  aber  auch  gewiß  jenem  Gebiet  nahe,  das 
vom  Erhabenen  nur  einen  Schritt  entfernt  liegt.  —  In 
solchen  Epochen  ist  es  für  den  selbständigen  Forscher 
das  Gerathenste,  dem  allgemeinen  Mißtrauen  dadurch 
Worte  zu  verleihen,  daß  er  mit  principiellem  Zweifel 
vor  Allem  die  Grundlagen  untersucht,  auf  denen  das 
ganze  stolze  Gebäude  ruht.  Denn  es  steht  zu  befürch- 
ten, daß,  wenn  diese  nicht  ganz  zuverlässig  sein  soll- 
ten, der  ganze  Bau  eines  Tages  zusammenstürzen  und 
die  in  ||  seinen  Hallen  versammelte  Menge  verschütten 

Neudrucke:  Liebmann,  Kant.  1 


2  Einleitung. 

könnte  ;  oder  mit  andern  Worten,  daß  bei  der  Vernich- 
tung dessen,  was  den  Maaßgebenden  als  die  höchste, 
unbezweifelbarste  Wahrheit  gilt,  die  Idee  der  Wahr- 
heit selbst  und  der  Glaube  an  sie  möchte  vernichtet 
werden.  Solches  Unglück  verhütend,  sind  schon  oft  red- 
lich Zweifelnde  zu  Förderern  der  Menschheit  geworden. 
—  Goethe  sagt : 

Wenn  wir  den  Zweifel  nicht  hätten, 
Wo  wäre  denn  frohe  Gewißheit? 

Und  Rene  Des-Cartes,  der  einer  jener  redlichen, 
epochemachenden  Zweifler  war,  räth  uns  ausdrücklich : 
de  iis  Omnibus  studeamus  dubitare,  in  quibus  vel  mini- 
mam  incertitudinis  suspicionem  reperiemus  *)  —  Dies 
gilt  vor  allen  Dingen  für  jene  Sphäre  geistiger  Thätig- 
keit,  welche  einerseits  die  wichtigste  ist,  weil  in  ihr 
diejenigen  Gegenstände  betrachtet  werden,  die  uns  am 
meisten  am  Herzen  liegen,  welche  aber  andererseits 
dem  Irrthum  und  Zweifel  am  meisten  ausgesetzt  ist, 
weil  in  ihr  der  Geist  sich  fast  gar  nicht  auf  irgend 
einen  freundlich  unterstützenden  Führer  verlassen  kann, 
fast  durchweg  auf  den  eigenen  Takt  angewiesen  ist,  — 
für  die  Philosophie.  Gerade  in  ihr  ist  schon  häufig 
jene,  oben  beschriebene,  Epoche  eingetreten,  wo  man 
glaubte  fertig  zu  sein;  gerade  in  ihr  ist  aber  auch 
eben  so  oft  durch  eine  gründliche  Revolution  Kehraus 
gemacht,  der  Boden  zu  ganz  neuem  Bau  geebnet  wor- 
den.  — • 

Ich  glaube  nun  nicht  vereinzelt  mit  meiner  Meinung 
zu  stehen,  wenn  ich  unsere  Zeit  für  eine  solche  halte, 
in  der  aus  dem  angegebenen  Grunde  ein  allgemeines 
Mißtrauen  gegen  philosophische  Untersuchungen 
herrscht.  Jedenfalls  muß  uns  die  Thatsache  befremden, 
daß,  während  die  Speculation  in  einer  Reihe  von  be- 
rühmten Systemen  Alles  geleistet  zu  haben  scheint  und 
5  meint,   was   in    diesem  |l  Fache   geleistet   werden    kann, 

*)  R.  Cartesii  Princip.  Philos.  I.  1. 


Einleitung.  3 

doch  die  Mehrzahl  der  Gebildeten  sehr  wenig  ergriffen 
durch,  sehr  gleichgültig  gegen  den  Geist  jener  Systeme, 
theils  sich  indifferent  verhält,  theils  sich  eher  zu  den 
oberflächlichen,  grund-  und  bodenlosen  Meinungen  des 
Materialismus  hinneigt.  Zufall  ist  dies  nicht,  denn  es 
gibt  keinen  Zufall.  Es  dürfte  daher  wohl  der  Mühe 
werth  sein,  nähere  Aufklärung  über  diese  Erscheinung 
zu  suchen. 

Nun  läßt  sich  freilich  zunächst  nicht  leugnen,  daß 
die  Schwierigkeit  der  Abstractionen,  welche  in  jenen 
Systemen  verlangt  werden,  und  die  Absonderlichkeit 
ihrer  letzten  Resultate  auf  den  Ungeübten  abschreckend 
wirken  ;  auch  reizt  ihr  äußerliches  Gewand,  die  schwan- 
kende, theils  übertrieben  bildliche,  theils  lapidarische 
Terminologie  —  im  Vorübergehen  betrachtet  —  eher 
zum  Spott,  als  zum  näheren  Eingehen.  Und  vor  allem 
muß  die  große  Differenz,  die  zwischen  den  einzelnen 
Systemen  herrscht,  und  die  Gehässigkeit,  mit  der  ihre 
Gründer  und  Anhänger  gegen  einander  polemisiren, 
ihrer  Würde,  und  damit  Wirksamkeit,  in  den  Augen  des 
Unparteiischen  Eintrag  thun,  ja  sie  vernichten.  Man  er- 
innere sich  nur  daran,  mit  welcher  Begeisterung  man 
einstmals  den  naturphilosophischen  Orakelsprüchen 
Schellings  lauschte,  welche  nachher  Her  hart  für 
„metaphysischen  Unsinn*'  erklärt  hat ;  mit  welchem 
Staunen  man  der,  aus  nieverlöschender  Triebkraft  die 
ganze  Welt  umfassenden,  Hegeischen  Dialektik 
nachschaute,  welche  Arthur  Schopenhauer,  der 
erst  neuerdings  beachtete,  nicht  verächtlich  und  gehässig 
genug  zu  behandeln  weiß.  Wenn  man  nun  außerdem 
auf  die  Polemik  Friesen  s  gegen  Fichte,  Schel- 
lin g  und  Hegel,  Herbarts  gegen  jenen  und  diese, 
und  Schopenhauers  gegen  Alle  zusammen,  endlich 
gar  auf  die  Streitereien  und  das  Schulgezänk  ihrer  An- 
hänger und  Halbanhänger  unter  sich  und  gegen  andere 
Rücksicht  nimmt,  so  breitet  sich  vor  unseren  Augen  ein 


4  Einleitung. 

6  SO  II  unentwirrbares  Chaos  von  Meinungen,  ein  so  mit 
Dorngesträuch  durchaus  verwachsenes  Terrain  aus,  daß 
es  für  den  ferner  Stehenden  wie  eine  schier  unmögliche 
Aufgabe  gelten  kann,  sich  hier  durchzuschlagen,  oder 
gar  zu  Orientiren.  „Der  Eine  verachtet,  der  Andere 
,, lacht ;  beides  bringt  Aerger.  Und  der  Unbefangene 
„Dritte  muß  trauern  über  den  Zwiespalt  und  seine  Fol- 
gen". *)    Da  kommt  man  dann  freilich  zu  der  Meinung : 

IIoi/i'Aolg  uvTikiyeiv  fxsv  i^og  ne^l  navTog  oy,oi(os' 
oQ&ws  &  Kpriksysiy,  ovx  tTi  tom    iy  s'd-ei. 
K(d  TTQug  fXEi/  TovTovg  uQy.sl  Xöyog  etg  o  na'Mdog' 
„^01  fj.ev  tavTCi  Soxovvt    tariv,  if^ol  cTe  rwcfc". '^^■) 

So  unterscheidet  sich  der  babylonische  Thurmbau 
der  deutschen  Philosophie  unseres  Jahrhunderts  von  dem 
biblischen  leider  nicht  bloß  dadurch,  daß  seine  Bau- 
meister wirklich  bis  in  den  Himmel  gelangt  zu  sein 
glaubten,  sondern  auch  dadurch,  daß  außer  der 
Sprach  Verwirrung  eine  Gedanken  Verwirrung  von 
ihm  ausgegangen  ist.  Und  man  muß  es  danach  min- 
destens erklärlich  finden,  wenn  von  dem  Geiste  unserer 
Zeit  in  dieser  Hinsicht  die  Frage  „Tt  töitv  äXtjdsi^a;" 
jene  dringendste  und  edelste  von  allen,  nicht  sowohl 
mit  sokratischer  Wißbegier  an  die  Philosophie  gestellt, 
als  vielmehr  mit  pilatischem  Achselzucken  hingeworfen 
wird.  — 

Aber  diese  Einwände  sind  nur  populärer  Natur, 
d.  h.  nicht  als  stichhaltig  nachgewiesen.  Für  uns  dagegen 
kann  es  sich  nur  darum  handeln,  die  Sache  wissen- 
schaftlich zu  erfassen,  ab  ovo  zu  beginnen.  —  Eine 
Kritik  aller  einzelnen  Systeme  wäre  da  freilich  das  aus- 
führlichste Verfahren,  aber  deshalb  keineswegs  das 
gründlichste.    Halten  wir  uns  vielmehr  an  das,  was  w^ir 

7  oben   gesagt  il  haben,   daß  in  solchen   Epochen   zunächst 


*)  Herbart:  „Ueber  Philosophisches  Studium."  1807.  Sämmtl.  W. 
edit.  Hartenstein.   B.  I,  397. 
**)  Evrivov  Hagiov  I. 


Einleitung.  5 

die  Grundlagen,  die  Principien  zu  untersuchen 
seien.  Wenn  wir  nämlicli  finden,  daß  die  verschiedenen 
modernen  Systeme  der  Philosophie  von  einem  gemein- 
samen Anfangspunkte  ausgehen,  so  muß  das  Resultat 
einer  genauen  Untersuchung  dieses  Anfangspunktes 
selbst  jedenfalls  entscheidend  für  unser  Urtheil  über 
alle  jene  an  ihn  anknüpfenden  Richtungen  sein,  v^ir 
werden  einen  sicheren  Standpunkt  gewonnen,  den  Kern 
der  Angelegenheit  in  nuce  gefaßt  haben. 

Wo  nun  dieser  gemeinsame  Anfangspunkt  liege, 
darüber  können  wir  uns  lange  Untersuchungen  sparen  ; 
denn  dies  ist  längst  festgestellt  und  allgemein  aner- 
kannt: Er  liegt  in  der  Kantischen  Philosophie. 
„Kant  beherrscht  die  Philosophie  des  neunzehnten 
„Jahrhunderts,  wie  L  e  i  b  n  i  t  z  die  des  achtzehnten*' 
sagt  einer  der  geistreichsten  Geschichtsschreiber  der 
Philosophie.*)  Und  „daß  er  der  philosophische  Re- 
„formator  unseres  Zeitalters  sei,  daß  in  ihm  alle 
„Systeme  der  Gegenwart  wurzeln,"  ist  auch  von  seinen 
Gegnern  geradezu  und  offen  bekannt  worden.  **)  Es 
liegt  vielleicht  nahe,  jenes  oft  citirte  Epigramm  Schil- 
lers auf  Kant  zu  erwähnen : 

Wie  doch  ein  einziger  Reicher  so  viele  Bettler  in  Nahrung 
Setzt!  —  Wenn  die  Könige  baun,  haben  die  Kärrner  zu  thun. 

Ich  möchte  jedoch  ausdrücklich  bemerken,  daß  in 
diesem  Distichon,  sowohl  der  Zeit  der  Abfassung,  als 
namentlich  seinem  Inhalte  nach,  unter  den  Kärrnern  nur 
die  Jäsche,  Beck,  Bouterweck,  Krug  u.  s.  w.,  auch  Rein- 
hold, verstanden  sein  können,  d.  h.  jene  im  äußern 
Formenwesen  der  kantischen  Lehre  befangenen  subalter- 
nen Köpfe,  welche  sich  besonders  Kantianer  nann- 
ten, weil  ihre  I  Hauptkategorie  das  „avTog  eq)a"  war.    Die-J 

*)  Kuno  Fischers    Gesch.  der   neuen  Philosoph.   B.  III.   Vorrede 
pag.  X  ff.     Zu   vergleichen   hiermit   ist   desselben   Verfassers   äußerst 
lichtvolle  Rede :  „Ueber  die  beiden  kantischen  Schulen  in  Jena."  1862. 
**)  Dr.  J.  U.  Wirth:  „Die  speculative  Idee  Gottes."     §.  105, 


6  Einteilung. 

jenigen  hingegen,  auf  welche  wir  eben  hinblicken,  und 
deren  Systeme  man  bisher  die  Philosophie  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  genannt  hat,  nämlich  Fichte, 
Schelling,  Hegel,  Herbart,  Fries  und  Scho- 
penhauer, müssen  als  große  Architekten  anerkannt 
werden.  Sie  hängen  zwar  einerseits  von  der  Kantischen 
Philosophie  so  sehr  ab,  daß  sie  ohne  diese  nicht  nur 
unverständlich,  sondern  auch  unmöglich  wären,  andrer- 
seits aber  haben  sie  doch  die  Consequenzen  jener  ge- 
meinsamen Grundlehre  so  weit  und  so  verschieden  aus- 
gebildet, daß  sie  als  selbständige  Denker  anzusehen 
sind.  Nach  ihrer  verschiedenen  Auffassung  des  Kriticis- 
mus  gruppiren  sie  sich  in  vier  Hauptrichtungen, 
—  welche  wir  —  vorläufig,  um  der  Sache  nur  überhaupt 
einen  Namen  zu  geben  —  die  idealistische,  rea- 
listische, empirische  und  transscendente 
nennen  wollen  ;  Namen,  die  im  Verlaufe  dieser  Abhand- 
lung ihre  Rechtfertigung  wohl  finden  werden.  Die 
idealistische  ist  durch  Fichte,  Schelling  und 
Hegel,  die  realistische  durch  H  e  r  b  a  r  t ,  die  em- 
pirische durch  Fries,  die  transscendente  durch 
Schopenhauer  vertreten.  Um  allen  etwaigen  Ein- 
wänden zuvorzukommen,  wollen  wir  gleich  hier  nach- 
weisen, daß  ihre  Abhängigkeit  von  Kant  nicht  bloß 
eine  ihnen  äußerlich  beigelegte,  sondern  von  ihnen  selbst 
anerkannte  ist;  und  dies  geschieht  wohl  am  besten  mit 
ihren  eigenen  Worten : 

Fichte,  der  Gründer  der  idealistischen  Richtung, 
an  dessen  Philosophie  unmittelbar  Schelling  an- 
knüpft, von  welchem  wiederum  Hegel  ausgeht,  erklärt : 
„Er  wisse  es,  daß  er  nie  etwas  werde  sagen  können, 
„worauf  nicht  schon  Kant  unmittelbar  oder  mittelbar, 
„deutlicher  oder  dunkler,  gedeutet  habe.''*)  II 


*)  Ueber  den  Begriff  d.  Wissenschaftsl.   2  te  Ausgabe.    1798.  Vor- 
lede  pag.  V. 


Einleitung.  7 

Herbart   gesteht   geradezu:    „Mit    einem    Worte :  9 
„Der  Verfasser  ist  [  d.  h.  Ich  bin]  Kantianer."*) 

Fries  „findet  für  seinen  Zweck  die  gehaltreichsten 
„Vorarbeiten  in  den  Kantischen  Kritiken  der  Vernunft, 
„diesen    ersten    philosophischen    Meisterwerken/'  **) 

Schopenhauer  endlich  sagt:  „Kants  Philosophie 
„ist  die  einzige,  mit  welcher  eine  gründliche  Bekannt- 
„schaft  bei  dem  hier  Vorzutragenden  geradezu  voraus- 
„gesetzt  wird.  —  Denn  Kants  Lehre  bringt  in  jedem 
„Kopfe,  der  sie  gefaßt  hat,  eine  fundamentale  Verände- 
„rung  hervor,  die  so  groß  ist,  daß  sie  für  eine  geistige 
„Wiedergeburt  gelten  kann."***)   — 

Was  nun  den  Gründer  dieser  vier  großartigen 
Hauptrichtungen  unserer  modernen  Philosophie  anlangt, 
so  ist  er  ohne  Zweifel  der  bedeutendste  Denker  der 
christlichen  Menschheit.  Kant  vereint  in  sich  alle  jene 
Eigenschaften,  mit  denen  der  wirklich  große  Philosoph 
ausgestattet  sein  soll :  Tiefe  und  Größe  der  Auffassung, 
Klarheit  und  Schärfe  des  Denkens,  Besonnenheit  und 
Nüchternheit  in  der  Ausführung  und  —  was  vor  Allem 
noth  thut  —  Wahrhaftigkeit.  Er  ist  eben  so  sehr  Feind 
aller  dunklen,  phantastischen  Scheinphilosophie,  als 
jenes  seichten,  leicht  zufriedengestellten  Denkens,  wel- 
ches sich  begnügt,  die  Oberfläche  mit  einem  Netze  von 
Nominaldefinitionen  übersponnen  zu  haben,  ohne  daß 
es  in  jene  Tiefe  dringt,  von  der  es  keine  Ahnung  hat. 
—  Daher  auch  ist  es  bezeichnend,  wie  er  gerade  d  i  e 
Sätze  aufnimmt,  in  denen  der  schottische  Skeptiker  alle 
Erkennntniß  vernichtet  zu  haben  meinte,  und,  indem  er 
sie  mit  schonungsloser  Strenge  bis  in  ihre  äußerste 
Tiefe  verfolgt,  il  in  ihnen  vielmehr  das  eigentliche  Funda- 10 
ment  alles  Vorstellens,   Denkens  und  Erkennens  findet, 


*)  Allgem.  Metaphysik  etc.  Vorrede  pag.  XXVII.  S.  W.  B.  III.  pag.  64. 
**)  Neue  Kritik  d.  Vernunft.     1807.    Vorrede  pag.  XLIX. 
***)  Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung.    3te   edit.     1859.     Vor- 
rede pag.  XII.  u.  XXIV. 


8  Einleitung. 

—  Dasjenige,  wodurch  die  unleugbare  Thatsache  der 
Erfahrung  erst  bedingt  und  ermöglicht  wird.  —  Seine 
Philosophie  ist  die  spät  gereifte  Frucht  einer  langen, 
einsamen,  erlisten  Arbeit ;  man  sieht  es  ihr  an,  daß 
sie  der  Siegespreis  eines  angestrengten,  beharrlichen 
Kampfes  ist,  und  lebendig  spricht  aus  allen  ihren  Zeilen 
die  alte,  klassische  Wahrheit  des  Hesiodos : 

Tfjg  ciQ£Ti]g  ISQwra  {f-Eui  nQonäQoid-sv  i'S-rjxcci/. 

Doch  die  Wahrheit: 

Ist  ein  großer  Gedanke, 

Ist  des  Schweißes  der  Edlen  werth. 

Und  Kant  suchte  die  Wahrheit ;  und  Kant  war  ein  Edler. 
So  ist  denn  nun  auch  seine  Lehre,  im  höchsten 
Sinne  des  Wortes,  epochemachend;  sie  verhält  sich 
zu  allen  vorangegangenen  Versuchen  zur  Aufstellung 
einer  fest  gegründeten  Weltanschauung  vollkommen 
negativ  und  widerlegend,  zu  allen  nachfolgenden 
schlechthin  positiv  und  grundlegend.  Wer  s  i  e  nicht 
verstanden  hat,  für  den  sind  die  vorkantischen  Philo- 
sophen noch  vollberechtigt  und  die  nachkantischen  un- 
erklärlich. Dabei  ist  sie  durchweg  bescheiden,  so 
an  Form,  wie  an  Inhalt.  An  Form,  —  denn  sie  bringt 
alle  ihre  tiefsinnigen  Erkenntnisse  mit  keuscher,  unge- 
schminkter Aufrichtigkeit,  ohne  Bombast,  Selbstlob  und 
Posaunengetön.  Wohlthätig  sticht  sie  hierin  ab  von  so 
manchem  hochfahrenden  Worte  ihrer  Nachfolger,  die 
nicht  einmal  alle  die  gebotene  Pietät  gegen  ihre  ge- 
meinsame alma  mater  beobachtet  haben.  —  Bescheiden 
an  Inhalt,  —  denn  was  ist  denn  ihr  einfaches,  anspruch- 
loses Thema?  Es  ist  die  Durchführung  der  Regel,  daß 
die  menschliche  Speculation,  bevor  sie  an  großartige, 
11  weitschauende  Gedankenconstructionen  geht,  II  sich  erst 
darüber  Rechenschaft  geben  muß,  wie  weit  ihre  Kräfte 
reichen  ;  es  ist  die  Beantwortung  der  Frage :  Was  kann 
ich   überhaupt    erkennen  ?    —    Ruhig   und    sicher   beant- 


Einleitung.  9 

wortet  sie  dieselbe  und  weist  alle  Anmaßung  des  eige- 
nen Denkens  in  die  Grenzen  zurück,  die  sie  sich  selbst 
setzt.  Zum  Wahlspruch  hat  sie  sich  das  Wort  des  Per- 
s  i  u  s  erkoren : 

Tecum  habita  et  noris,  quam  sit  tibi  curta  supellex.*) 

Aber  dieser  bescheidene  Inhalt  ist  von  so  höchster, 
vveitesttragender  Wichtigkeit,  daß  er  alle  überschwäng- 
liche,  hochtrabende  Pseudophilosophie  vernichtet.  Er  ist 
daher  durchaus  bedeutend  ;  deshalb  ergreift  er  uns  zu- 
weilen durch  die  mächtige  Wahrheit  seiner  Gedanken 
so  innig,  daß  wir,  unsere  Leetüre  unterbrechend,  in  ein 
stilles,  sinnendes  Staunen  versinken  über  die  wahrhaft 
erhabene  Tiefe  dieses  Geistes.  Und  wenn  nun  diese  sel- 
bige, in  aller  ihrer  wahrhaften  Größe  so  bescheidene 
Lehre  nicht  allein  den  überschwänglichsten  Scheinphilo- 
sophemen  Daseinsrecht  hat  verleihen  müssen,  sondern 
auch  selbst  so  arg  vefkannt  worden  ist,  daß  man  sie 
für  die  übermüthigste  von  allen  halten  durfte,  so  sehen 
wir  hierin  allein  das  Mißverständniß  ihrer  Schüler  und 
Interpreten.  Nicht-  oder Halb-Philosophen,  wieGoethe, 
der  sich  dieser  Lehre  durchaus  nicht  congenial  fühlte**), 
und  F.  H.  Jacobi,  welcher  allein  das  philosophische 
Interim  zwischen  Dogmatismus  und  Kriticismus  auszu- 
füllen im  Stande  war,  hielten  Nebengedanken  für  die 
Hauptsache.  —  Wer  aber  mit  voller  intellektueller  Hin- 
gabe den  wahren,  einfachen  Grundgedanken  dieser  Phi- 
losophie erfaßt,  ihres  eigentlichen  Kerns  sich  bemäch- 
tigt hat,  der  kommt  zu  der  Ueberzeugung:  „Ihre  Grund- 
sätze werden  unumstößlich  bleiben  ;  ihre  Irrthümer  sind 
ge-  II  ring  an  Zahl  gegen  ihre  Wahrheiten.*'  —  So  steht  12 
sie  da  in  ihrer  reinen,  erhabenen  Größe,  —  ein  bleiben- 
des Ehrendenkmal  des  Menschengeistes.  — 


")  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft.     Ite  edit.    Vorrede. 
**)  Goethes  Annalen  v.  1794. 


10  Einleitung. 

Aber  wenn  wir  für  die  Wahrheiten  dieser  Lehre  ein 
offenes  Auge  haben,  so  dürfen  wir  andererseits  für 
ihre  Absonderlichkeiten  und  Fehler  nicht  blind  sein. 

Zunächst  war  es  eine  natürliche  Folge  seiner  gründ- 
lichen sciiülastischen  Gelehrsamkeit,  daß  Kant  mit  einer 
Menge  von  unwesentlichem  Außenwerke  seine  reine, 
echie  Wahrheit  überkleidete;  jenes  Uebermaaß  von 
buntscheckigen  lateinischen,  griechischen  und  lateinisch- 
griechischen Terminis,  die  er  mit  strengem  Fleiß  und 
Ordnungssinn,  ja  mit  steifer  Pedanterie  anordnet,  um- 
kränzen den  soliden  Bau  seiner  Gedanken  wie  Rococco- 
schnörkel,  aus  denen  man  hie  und  da  den  gepuderten 
und  bezopften  Magister  leibhaftig  hervorblicken  sieht. 
Gerade  diesen  pedantischen  Formel-  und  Wortkram 
trifft  Heine  (der  sich  übrigens  in  seiner  Polemik  ge- 
wöhnlich  als   gamin   zeigt)    mit   richtigem   Tact  in    den 

Versen : 

Er  macht  ein  verständig  System  daraus; 

Mit  seinen  Nachtmützen  und  Schlafrocksfetzen 

Stopft  er  die  Lücken  des  Weltenbaus. 

Aber  dieses  Außenwerk  ist  unschädlich.  Die  Kan- 
tianer, im  alten  Sinne,  erblickten  darin  die  Haupt- 
sache und  schmückten  ihre,  ziemlich  unbedeutenden 
Machwerke  damit  aus,  in  der  Meinung,  sich  dadurch  als 
echte  Schüler  des  Meisters  zu  manifestiren.  Vor  dem 
frischen  Hauche  des  lebendigen  Geistes  ist  diese  Spreu 
längst  zerstoben. 

Etwas  viel  Bedenklicheres  ist  dagegen  aus  derselben 
Ursache  entsprungen :  Es  ist  aus  dem  Dogmatismus  auch 
ein  falscher  Begriff,  oder  vielmehr  ein  Unbegriff  mit 
herübergeschleppt  worden,  der  nicht  nur  die  eigene 
Lehre  Kants  entstellt  und  verfälscht,  sondern  auch  an 
13  allem  dem  Unheil  Schuld  ist,  das  seine  Nachfolger  i|  an- 
gerichtet haben.  Er  erbt  sich  fort  bis  ins  dritte  und 
vierte  Glied  ;  e  r  hat  dazu  beigetragen,  daß  die  Kanti- 
sche Philosophie  so  schnell  verdrängt,  so  bald  für  ver- 


Einleitung.  1 1 

altet  angesehen  worden  ist,  daß  man  die  Wahrheit 
dieser  Lehre  noch  immer  durch  geschliffene  und  gefärbte 
Gläser  betrachtet,  mag  man  diese  auch,  wie  Schopen- 
hauer, für  Staarbrillen  ausgeben.  Er  ist  es,  dessen 
Kritik  allein  Gegenstand  dieser  Abhandlung  sein  wird. 

Doch  wir  wollen  unserem  Gedankengange  nicht 
vorgreifen. 

Der  Plan  für  unsere  Untersuchung  ist  einfach.  Es 
handelt  sich  darum,  den  inneren  Zusammenhang  der 
genannten  vier  philosophischen  Hauptrichtungen  mit  der 
Kantischen  Philosophie  zu  erkennen  und  dann  aus  der 
Kritik  dieser  letzteren  den  Maaßstab  für  die  Beurthei- 
lung  jener  zu  gewinnen.  Nun  besteht  aber  aller  innere 
Zusammenhang  verschiedener  Gedankenrichtungen  allein 
darin,  daß  sie,  bevor  sie  divergiren,  eine  Strecke  zu- 
sammengehen, d.  i.  eine  Reihe  von  Gedanken  gemein- 
sam haben.  Demnach  müssen  wir  also  jede  dieser  Rich- 
tungen soweit  verfolgen,  daß  wir  jene  Reihe  von  Ge- 
danken, welche  sie  mit  der  kritischen  Philosophie  ge- 
meinsam hat,  genau  erfassen.  Hierzu  wiederum  wird 
nöthig  sein,  daß  wir  vor  Allem  den  Kantischen  Ge- 
dankengang im  Großen  betrachten,  seinen  speculativen 
Zusammenhang  prüfen  und  uns  von  seiner  Unumstöß- 
lichkeit und  Gewißheit  überzeugen.  Treffen  wir  nun 
bei  dieser  Verfolgung  der  Kantischen  Gedanken  auf 
irgend  einen  Punkt,  der  uns  als  Inconsequenz,  also  als 
unverträglich  mit  den  eigenen  Principien,  also  als  Fehler 
erscheint,  so  werden  wir  berechtigt  sein,  abzubrechen  ; 
denn  nur  solange  hat  ein  System  Anspruch  auf  unsere 
Aufmerksamkeit,  als  es  aus  richtigen  Principien  auf 
richtige  Weise  Consequenzen  gezogen  hat ;  begeht  es 
irgendwo  eine  Inconsequenz,  so  trifft  dies  zwar  nicht 
die  vorhergehende  Gedankenreihe,  aber  allesFolgende.il 

Sollten    wir  nun    eine   solche    Inconsequenz   in   der  14 
Kantischen    Philosophie   finden,   so   würde   der   weitere 
Gang  unserer  Betrachtung  folgender  sein  müssen :  Wir 


12  Einleitung. 

legen  der  Reihe  nach  den  Gedankengang  einer  jeden 
von  den  vier  abhängigen  Richtungen  so  dar,  daß  man 
deutlich  sieht,  wie  und  M^orin  sie  mit  der  Kantischen 
Speculation  zusammenhängt,  welche  Gedanken  sie  mit 
jener  gemein  hat  und  von  wo  aus  sie  zu  divergiren 
beginnt.  Jede  muß  daher  ebenso,  wie  vorher  die  Kan- 
tische Philosophie  selbst,  genau  verfolgt,  rein  objectiv 
dargelegt  werden,  wobei  es  für's  Erste  sehr  darauf  an- 
kommt, daß  wir  unsere  Kritik  nicht  im  Mindesten  ein- 
mischen, sondern  als  unparteiische  Richter  uns  rein 
passiv,  zuhörend  verhalten.  —  Aber  wie  lange?  Das 
ganze  System  eines  Jeden  zu  skizziren  wäre  ziemlich 
weitläufig.  Doch  dies  fordert  auch  gar  nicht  einmal  die 
Unparteilichkeit  und  Gerechtigkeit.  Haben  wir  näm- 
lich vorher  in  der  Kantischen  Speculation  einen  Fehler 
entdeckt,  so  werden  wir  bei  der  Betrachtung  jedes 
einzelnen  Tochtersystemes  nur  so  lange  von  unserer 
Kenntniß  jenes  Fehlers  abstrahiren  müssen,  bis  wir  eine 
klare  Ueberzeugung  darüber  gewonnen  haben,  wie  weit 
es  der  unverbesserten  Grundlehre  folgt,  in  wel- 
chem Punkte  es  abweicht  und  nach  welcher  Richtung  es 
sich  selbständig  weiter  entwickelt.  Dann  aber  werden 
wir  berechtigt  sein,   mit   der    Frage   hervorzutreten : 

Wie  verhält  sich  diese  Philosophie  zu  jenem  Fehler? 

Es  ergeben  sich  in  dieser  Beziehung  drei  mögliche 
Fälle: 

Entweder  nämlich  das  vorliegende  System  er- 
kennt jenen  Fehler  nicht  als  solchen,  son- 
dern läßt  ihn  unangetastet  stehen; 

Oder  es  erkennt  ihn  als   Fehler,  weiß  ihn 
aber  nicht  zu  entfernen,  corrigirt  also  die 
Kantische    Philosophie    in    diesem    Punkte 
nicht;  || 
15  Oder    endlich    es    erkennt    ihn    als    Fehler, 

entfernt  ihn  und  corrigirt  damit  die  Kanti- 
sche Philosophie. 


Einleitung.  13 

Sollte  dieser  letzte  Fall  irgendwo  eintreten,  so 
wäre  insofern  unsere  Frage  genügend  erledigt.  W  o 
aber  einer  von  den  ersten  beiden  Fällen 
vorliegt,  da  werden  wir  berechtigt  sein,  das 
betreffende  System  zu  verlassen  und  auf 
Kant  zurückzugehen. 

Dies  ist  der  einfache  Leitfaden  unserer  kritischen 
Untersuchung. 

Wenn  wir  diese  drei  Fälle,  so  in  dürre  Worte  ge- 
faßt, betrachten,  möchte  es  fast  scheinen,  als  ob  der 
zweite  Fall  kaum  denkbar  wäre.  Denn,  wenn  ein 
Philosoph  von  so  hervorstechenden  Anlagen,  wie  es 
ohne  Zweifel  jeder  der  Genannten  ist,  einmal  in  dem 
Systeme,  von  welchem  er  eingestandener  Maaßen  aus- 
geht, einen  solchen  Fehler,  eine  baare  Inconsequenz 
entdeckt  hätte,  —  wie  wäre  es  dann  möglich,  daß  er 
darüber  hinweggienge,  ohne  jenes  in  diesem  Punkte 
zu  corrigiren  ?  —  Dennoch  sind  selbst  die  beiden  be- 
deutendsten Nachfolger  Kants  in  diesem  Falle!  Man 
bedenke  hierbei  nur  im  Allgemeinen,  wie  es  in  der 
Geschichte  menschlicher  Geistesthätigkeit  gar  nichts 
Seltenes  ist,  daß  bedeutende  Männer  der  festen  Ueber- 
zeugung  lebten,  sie  hätten  die  Fehler  ihres  Vorgängers 
alle  verbessert,  während  ihnen  doch  entweder  dieser 
oder  jener  entschlüpft  war,  oder  der  Schaden,  den  sie 
geheilt  zu  haben  meinten,  an  einer  anderen  Stelle  un- 
versehens wieder  aufbrach.  Es  liegt  zudem  Nichts  näher, 
als  über  dem  scheinbar  Großen  das  scheinbar  Kleine 
zu  vergessen.  Und  während  der  begeisterte  Schauer 
mit  erklärlicher  Unbedachtsamkeit  die  vor  ihm  ausge- 
breitete, herrliche  Landschaft  bewundert,  ist  vielleicht 
ein  einziger  verwitterter  Stein  die  Veranlassung,  daß 
im  nächsten  Augenblicke  er  selbst  und  mit  ihm  alle 
göttlichen  Gedanken  aus  dem  Himmel  des  Enthusias- 
mus in  sehr  materielle  Tiefen  hinabstürzen.  II 


14  Einleitung. 

16  Ob  das  dritte,  einzig  richtige  Verfahren  bisher 
von  irgend  Jemand  befolgt  worden  ist,  darüber  wollen 
wir  hier  noch  Nichts  verrathen,  da  es  bis  jetzt  noch 
ganz  problematisch  geblieben  ist,  ob  und  inwiefern  das- 
selbe   praktisch    zur    Anwendung    kommen    konnte. 

Unser  kritisches  Werkzeug,  mit  welchem  wir  uns 
in  jenes  verwachsene  Wirrsal  hineinzuwagen  gesonnen 
sind,  haben  wir  gezeigt.  Es  ist  einfach  aber  scharf  ge- 
nug, um  uns  durch  alles  Gestrüpp  den  Weg  zu  bahnen. 
Deshalb  können  wir  getrost  auf  unsere  Wanderung 
gehen. 

Vorher  nur  noch  ein  Paar  Worte  auf  die  Reise ! 

„Mit  Recht'',  sagt  Baco  von  Verulam,  „wird  die 
Wahrheit  die  Tochter  der  Zeit  genannt.''*)  Und  nach 
einem  alten  Spruche  soll,  wer  die  Tochter  haben  will, 
es  mit  der  Mutter  halten.  Deshalb  ist  der  Inhalt  jeder 
echten  Philosophie  gleichsam  die  Quintessenz  des 
Geistes  ihrer  Zeit.  Sie  findet  nur  das  Wort  für  die  An- 
sichten, Bestrebungen  und  Ideale,  welche  unwillkürlich 
und  unbewußt  schon  in  allen  Gebieten  des  geistigen 
Lebens  gähren,  darauf  harren,  daß  sie  erfaßt  und  aus- 
gesprochen werden.  Aber  der  menschliche  Geist  ist, 
wie  sein  Object,  durchaus  mannigfaltig,  vielseitig;  und 
so  können  denn  dieselben  Probleme  von  verschiedenen 
Punkten  aus  betrachtet  und  ergriffen  werden.  Der  Geist 
geht  nicht  in  langweiliger  und  eintönig  gerader  Schnur, 
sondern  per  ambages  seinem  Ziele  entgegen.  Selbst 
der  Irrthum  und  die  Einseitigkeit  dienen  dazu,  desto 
sicherer  die  umfassende  Wahrheit  zu  finden.  „Es  ist 
nicht  wahr",  sagt  Lessing  in  der  Erziehung  des  Men- 
schengeschlechtes, „daß  die  kürzeste  Linie  immer  die 
gerade  sei."  So  muß  die  Summe  dessen,  wodurch  die 
Zeit  bewegt  wird,   erst  nach   allen   Seiten   durchgelebt 

17  sein,    ehe   der   speculative  ||  Gedanke   das    Facit   ziehen 

*)  Recte  enim  Veritas  Temporis  filia  dicitur.  Bacon.  Nov.  Organ. 
I,  LXXXIV. 


Einleitung.  15 

kann.  Aber  um  diese  Aufgabe  zu  lösen,  dieses  Facit 
zu  ziehen,  dazu  gehört  ein  gewisser  subjectiver  Geistes- 
gehalt, eine,  ich  möchte  sagen  „immer  und  über- 
all fragende**  Gemüthsverfassung,  welche  eben  die 
des  Philosophen  ist;  eine  ernste,  ruhige  Versenkung, 
intensive  Besonnenheit.  So  verschieden  dann  auch  die 
gefundenen  Resultate  aussehen  mögen,  jene  Geistesver- 
fassung ist  allen  wahren  Philosophen  gemeinsam.  Wie 
könnten  sie  auch  sonst  darauf  kommen,  sich  jenen  ge- 
meinsamen Titel  beizulegen  ?  Sie,  die  nach  Princip, 
Methode  und  Ziel  ihres  Denkens  so  sehr  von  einander 
abweichen  ?  —  Und  läßt  sich  der  wesentliche  Inhalt 
jener  Geistesverfassung  nicht  zusammenfassen  und  klar 
aussprechen  ?  —  Vielleicht !  Versuchen  wir  es ! 

Wer  zu  der  Einsicht  gekommen  ist,  daß  diese  ganze 
unendliche  Welt,  diese  herrliche,  lebendige,  tausend- 
fältige Natur  mit  ihren  nie  vergehenden  Kräften  und 
imttier  wiederkehrenden  Gestalten,  mögen  wir  sie  nun 
lieben  oder  bewundern  oder  erforschen,  mögen  wir  sie 
in  Wort  und  Bild  wiedererzeugen,  oder  im  Experiment 
belauschen  und  mit  der  Schärfe  des  Gedankens  zerlegen 
—  von  dem  unendlichen,  gestirnten  Nachthimmel  herab 
bis  zum  armen,  mikroskopischen  Infusionsthierchen  — 
daß  diese,  im  täglichen  Umgang  uns  scheinbar  näher 
tretende,  Natur  doch  immer  uns  gegenüber  steht, 
unser  Ob  j  ect  ist ;  eine  fremde  Sprache  redend,  in  allen 
unseren  empirischen  Erkenntnissen  nur  extensiv  nach 
ihrem  „Wie",  nimmer  aber  intensiv  nach  ihrem  „Was" 
uns  bekannter  wird,  —  daß  sie,  von  dem  enthusiasti- 
schen Dichter  und  Künstler  liebend  umfaßt,  doch  nur 
in  dessen  Phantasie  zu  verständlich  menschlichem 
Leben  erwärmt,  wie  der  Marmor  des  Pygmalion,  wäh- 
rend sie  in  der  That  nie  zutraulicher  wird,  immer  — 
Object,  fremdes  Object  bleibt,  —  wer,  sage  ich,  diese 
Einsicht  erlangt  hat,  wen  dieser  Gedanke  in  Staunen  || 
versetzt,  der  ist  auf  dem  Wege  zur  Philosophie,  ja  er  18 


16  Einleitung. 

ist  schon  Philosoph.  Er  sieht  ein,  daß  unsere  vermeint- 
liche Bekanntschaft  mit  der  Welt  nichts  Anderes 
ist,  als  gewohnte  Unbekanntschaft;  weshalb 
auch  Novalis  (der,  wie  alle  Mystiker,  ein  gewisses 
Analagon  von  philosophischer  Einsicht  hat)  den  Men- 
schen ,,den  herrlichen  Fremdling  mit  den  sinnvollen 
Augen"  nennt.  —  Wessen  Besonnenheit  aber  so  weit 
geht,  daß  es  ihm  auffällt,  wie  diese,  vermeintlich  uns 
bekannte,  in  der  That  aber  fremde,  Welt  doch  wieder- 
um so  fest  und  unauflöslich  an  uns  gefesselt  ist,  daß  sie 
ohne  uns  und  wir  ohne  sie  selbst  Nichts  sein  würden 
(nicht  in  dem  empirischen  Sinne,  sofern  wir  ein  leib- 
liches Stück  von  ihr  sind  u.  s.  w.,  sondern  in  dem  trans- 
scendentalen,  sofern  weder  ein  Denken  ohne  Gedachtes, 
noch  ein  Gedachtes  ohne  Denken  irgend  Etwas  wäre) 
—  der  ist  schon  im  Centrum  der  Philosophie  angelangt. 
Ihm  ist  klar  geworden,  daß  Subject  und  Object 
die  unzertrennlichen  Factoren  und  noth- 
wendigen  Correlata  der  Erkenntniß  sind, 
die  sich  ebenso  wenig  scheiden  und  vereinzeln  lassen, 
als  die  Pole  des  Magneten  ;  —  eine  einfache  Wahrheit, 
die   aber  ebenso  wichtig,  als   oft  vernachlässigt  ist.   — 

Dies  das  objectiv  Gemeinsame,  der  Blick  in's 
Ganze,  der  alle  echten  Philosophen  auszeichnet ! 

Was  nun  aber  das  subjectiv  Gemeinsame,  den 
Frieden  und  die  Harmonie  der  einzelnen  philoso- 
phirenden  Individuen  unter  einander  anlangt,  so  ver- 
weisen wir  auf  den  Meister  Kant.  Er  sagt:  „Es  kann 
„sein,  daß  nicht  Alles  wahr  ist,  was  ein  Mensch  dafür 
„hält  (denn  er  kann  irren)  ;  aber  in  Allem  was  er  sagt, 
„muß  er  wahrhaft  sein  (er  soll  nicht  täuschen): 
„es  mag  nun  sein,  daß  sein  Bekenntniß  blos  innerlich 
„(vor  Gott)  oder  auch  ein  äußeres  sei.  Die  Uebertretung 
19 „dieser  Pflicht:  der  Wahrhaf- ||  tigkeit  heißt  Lüge.''  — 
„Das  Gebot:  du  sollst  (und  wenn  es  auch  in  der 
„frömmsten  Absicht  wäre)  nicht  lügen,  zum  Grund- 


Einleitung.  17 

„Satz  in  die  Philosophie  als  eine  Weisheitslehre  innigst 
„aufgenommen,  würde  allein  den  ewigen  Frieden  in 
„ihr  nicht  nur  bewirken,  sondern  auch  in  alle  Zukunft 
„sichern  können.'**) 

Jener  Blick  in 's  Ganze  und  diese  Wahrhaf- 
tigkeit —  sie  sind  der  wesentliche  Kern  der  wahr- 
haft philosophischen  Geistesverfassung  nach  seiner  sub- 
jectiven  und  objectiven,  nach  seiner  theoretischen  und 
seiner  praktischen  Seite.  —  Möge  uns  der  Leser  beim 
Worte  halten ! 

Und  nun  zur  Sache ! 


*)  Verkündigung    d.    nahen   Abschlusses    eines    Tractates    zum 
ewigen  Frieden  in  d.  Philosophie.  1796.  Schlußsatz. 


Neudrucke:    Lieb  mann,  Kant. 


20  Erstes  Kapitel. 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler 
Kants. 

Manches  Urtheil  wird  aus  Gewohnheit  angenommen 
oder  durch  Neigung  geknüpft;  weil  aber  keine  Ueber- 
legung  vorhergeht  oder  wenigstens  critisch  darauf  folgt, 
so  gilt  es  vor  ein  solches,  das  im  Verstände  seinen  Ur- 
sprung erhalten  hat. 

Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft.  1  te  Ausg.  pag.  260. 

Es  ist  unsere  Aufgabe,  den  echten  Gehalt  der  Kan- 
tischen Lehre  von  der  unreinen  Schlacke  zu  scheiden. 
Hiezu  ist  vor  Allem  nöthig,  daß  wir  uns  die  Haupt- 
punkte seines  Raisonnements  in  ihrem  Zusammenhange 
vor  das  Gedächtniß  führen  ;  und  wir  müssen  daher  um 
die  Erlaubniß  bitten,  in  kurzen,  gedrängten  Worten  dem 
Leser  das  noch  einmal  darzulegen,  was  ihm  schon  längst 
bekannt  ist.  Versetzen  wir  uns  also  nach  epischer  Weise 
sofort  in  medias  res !  Folgendes  ist  die  Hauptlehre,  die 
Quintessenz  der  Kritik  der  reinen  Vernunft : 

„Unser  ganzes  Vorstellen  besteht  in  Anschauen  und 
Denken,  jede  Vorstellung  ist  intuitiv  oder  abstract. 
Alles  Anschauen  aber  findet  im  Raum  und  in  der  Zeit 
statt  und  kann  außer  ihnen  nicht  stattfinden.  Alles 
Denken  ferner  kann  erstens  an  sich  (als  Function  des 
intelligenten  Subjects)  nur  in  der  Zeit  vor  sich  gehen 
und  bezieht  sich  außerdem  immer  auf  das  in  der  An- 
schauung (also  in  Raum  und  Zeit)  Gegebene.  Also 
sind  Raum  und  Zeit  Formen  und  Bedin- 
gungen   alles   Vorstellen  s.  I! 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  19 

Raum  und  Zeit  sind  nicht  aus  den  Anschauungen  21 
abstrahirt,  da  sie  vielmehr  vorhanden  sein  müssen, 
wenn  überhaupt  irgend  welche  Anschauung  subjectiv 
und  objectiv  möglich  sein  soll.  Daher  können  wir  uns 
zwar  Alles  in  Raum  und  Zeit  Daseiende  hinweg- 
denken, Raum  und  Zeit  selbst  aber  schlechterdings 
nicht ;  denn  mit  ihnen  zugleich  würde  nicht  nur  die 
empirische  Welt,  sondern  zugleich  unser  Intellect,  ja 
unser  Ich  hinwegfallen,  von  ihm  selbst  hinweggedacht 
werden,  was  unmöglich  ist.*)  In  den  Sätzen  !l  der 22 
Mathematik   sprechen   wir  ferner   lauter    Bestimmun- 


*)  Herbart  behauptet  (Die  Psychologie  als  Wissenschaft  etc. 
§.  144),  der  Kantische  Beweis  beruhe  auf  einer  quaternio  terminorum. 
Kant  schheße  nämlich  so: 

Was  Erfahrung  lehrt,  enthält  nie  das  Merkmal  der  Nothwendigkeit. 
D.  R.  u.  d.  Z.  sind  nothwendige  Vorstellungen. 
Also  sind  R.  u.  Z.  nicht  aus  der  Erfahrung  gelernt. 
Hier  habe  nun  das  „nothwendig"  in  jeder  der  beiden  Prämissen  eine 
andere  Bedeutung.  R.  u.  Z.  seien  nämlich  nur  insofern  nothwendig, 
als  man  sie  nicht  hinwegdenken  könne ;  dies  komme  aber  allein  daher, 
weil  sie  die  Körperwelt  erst  möglich  machen,  welche  für  uns 
wirklich  ist,  und  weil  man  immer  Dasjenige,  welches  Bedingung 
der  Möglichkeit  eines  Wirklichen  sei,  nothwendig  vorstellen  müsse. 
Deshalb  aber  sei  der  Obersatz  falsch;  denn  in  diesem  Sinne  lehre 
uns  die  Erfahrung  allerdings  auch  Nothwendiges.  —  Hierauf  ist 
zu  erwidern:  1)  Daß  wir  die  Bedingungen  der  Möglichkeit  eines  von 
uns  als  wirklich  Anerkannten  für  nothwendig  erklären,  lehrt 
uns  nicht  die  Erfahrung,  sondern  wir  fordern  es  nach  sub- 
jectiven  Denkgesetzen.  2)  Nicht  deshalb  allein  sind  R.  u.  Z. 
nothwendige  Vorstellungen,  weil  ohne  sie  die  Körperwelt  un- 
möglich wäre,  sondern  vor  allen  Dingen  deshalb,  weil  ohne  sie 
unsere  eigene  Intelligenz,  das  Subject  der  Erkenntniß, 
mein  eigenes  Ich,  unmöglich  wäre.  Wir  können  ohne  Raum 
und  Zeit  nicht  nur  Nichts,  sondern  auch  nicht  vorstellen;  sie  sind 
fortwährend  in  aller  geistigen  Thätigkeit  gegenwärtig  u.  s.  w.  Kurz, 
wenn  man  die  Kantische  Beweisführung  einmal  in  die  Form  eines 
Syllogismus  drängen  will,  so  würde  derselbe  so  lauten: 

Alles,  was  ich  mir  aus  dem  Subject  der  Erkenntniß  nicht  hin- 
wegdenken kann,  ohne  zugleich  dieses  Subjekt  selbst  zu  vernichten, 
ist  ihm  wesentlich,  d.  i.  a  priori. 

2* 


20  Erstes  Kapitel. 


gen  des  Raumes  und  der  Zeit  aus,  die  wir  nicht  aus 
der  Erfahrung  geschöpft  (a  posteriori  erkannt)  haben, 
sondern  vielmehr  unabhängig  von  ihr,  rein  vermöge 
der  Gesetze  unseres  Intellectes  (a  priori)  für  unum- 
stößlich gewiß,  d.  i.  für  schlechthin  allgemein  und 
nothwendig  erklären.  Endlich  sind  R.  und  Z. 
keine  discursive,  sondern  intuitive  Vorstellungen ; 
denn  sie  verhalten  sich  zu  den,  ihnen  logisch  unter-» 
geordneten  Vorstellungen  (verschiedenen  Räumen  und 
Zeiten)  nicht  wie  die  Gattung  zur  Art,  sondern  wie 
das  Ganze  zu  den  Theilen. 

Also  sind  Raum  und  Zeit  nothwendig e, 
reine  Anschauungen  a  priori.  (Functionen 
des  Intellectes). 

Raum  und  Zeit  sind  aber  auch  nur  insofern  noth- 
wendig, als  sie  „Bedingungen  der  Möglichkeit  aller 
inneren  und  äußeren  Erfahrung  sind."  Abstrahiren 
wir  von  der  Erfahrung  und  dem  Vorstellen  überhaupt, 
so  sind  R.  und  Z,  Nichts,  d.  h.  Raum  und  Zeit 
sind  von  empirischer  Realität  und  trans- 
scendentaler   Idealität. 

Dies  ist  der  Inhalt  der  „transscendentalen 
Aesthetik",  welche  die  eigentliche  Basis  und  das 
23  wahrhaft  Neue  und  Epoche- 1|  machende  der  Kanti- 
schen Philosophie  enthält.  —  Was  den  Gehalt  der  nun 
folgenden  „transscendentalen  Analytik,  als  ersten  Theils 
der  tr.  Logik"  anlangt,  so  wollen  wir  bemerken,  daß  die 


Raum   und  Zeit  kann   ich  mir  aus  dem  Subject  der  Erkenntniß 
nicht  hinwegdenken,  ohne  dieses  zugleich  selbst  zu  vernichten. 
Also  etc. 

Wenn  neuerdings  v.  Kirchmann  (Philos.  des  Wissens  B.  I.  pag.  418 
—420)  diese  ganze  Lehre  angreift,  und  H.  Lotze  (Mikrokosmus  B.  III. 
pag.  485)  wenigstens  mit  den  Beweisen  nicht  zufrieden  ist ;  so  ver- 
weisen wir  nur  auf  das  eine  Argument,  welches  man  pag.  24  u.  31  der 
Kr.  d.  r.  V.  Ite  Ausg.  findet.  Dieses  allein  schlägt  jeden  Zweifel  zu 
Boden, 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  21 

Kategorientafel,  sowie  verschiedenes  Andere  einer  be- 
deutenden Vereinfachung  bedürftig  und  fähig  ist.  Ohne 
uns  daher  auf  das  unwesentliche  Einzelne  dieses  Ab- 
schnittes einzulassen,  geben  wir  nur  das  wesentliche  Ali- 
gemeine : 

Die  in  Raum  und  Zeit  gegebene  Mannigfaltigkeit 
von  Elementen  der  Erfahrung  (der  Stoff  des  Vorstel- 
lens)  kann  erst  dadurch  wirklich  zur  Erfahrung  wer- 
den oder  als  zusammenhängende  Welt  von  anschau- 
lichen Gegenständen  in  das  Bewußtsein  treten,  daß 
sie  durch  gewisse  Synthesen  unseres  Intellects  (Kate- 
gorien) verknüpft  wird.  Diese  Synthesen  können  wir, 
wie  Hume  richtig  bemerkt  hat,  nicht  aus  der  Erfah- 
rung geschöpft  haben,  da  sie  uns  eben  nur  eine  Viel- 
heit von  nach  und  nebeneinander  gegebenen 
Eindrücken  des  (inneren  und  äußeren)  Sinnes,  nie- 
mals aber  den  noth  wendigen  Zusammenhang 
derselben  liefert.  Also  sind  die  Kategorien, 
ebenso  wie  Raum  und  Zeit,  Functionen 
des  erkennenden  Subjectes,*)  d.h.  noth- 
wendige  Vorstellungen  a  priori.  Und  da 
sie  nur  innerhalb  von  Raum  und  Zeit  gedacht  werden 
können,  so  beziehen  sie  sich  auch  nur  auf  räumliche 
und  zeitliche  Gegenstände,  d.  h.  haben  nur  in  unse- 
rem Intellect  Gültigkeit.  **) 

Demnach  findet  ganz  bestimmt  folgende  Wechselbe- 
ziehung statt: 

1)  Unser  Intellect  erkennt  nur  die  in 
Raum  und  Zeit  gegebenen  Elemente  der  Er- 
fahrung,  verknüpft  von  den  Kategorien,  als 
Object.  ***)  II 


*)  Krit.  d.  r.  V.  pag.  253.    Wir  citiren  immer  nach  der  ersten 
Ausgabe. 

**)  ibid.  pag.  246.  a.  a.  O. 
***)  pag.  48.  49.  246.  253. 


22  Erstes  Kapitel. 

24  2)  Alles,  was  in  Raum  und  Zeit  gegeben 

ist.  also  Alles,  worauf  die  Kategorien  an-' 
wendbar  sind,  hat  nur  in  Beziehung  auf  den 
Intellect  Gültigkeit  und  ist  daher,  unab- 
hängig von  demselben.  Nichts.*) 

Hiernach  steht  also  die  Sache  so: 

Die  äußere  Sinnenwelt  der  körperlichen  Dinge,  so- 
wie die  innere  Welt  unserer  geistigen  Eigenschaften 
und  Thätigkeiten  (also  das  Object  der  inneren  und  äuße-. 
ren  Erfahrung,  d.  i.  Alles  in  R.  und  Z.  Gegebene)  ist 
keineswegs  ihrer  Existenz  und  Wirklichkeit  (empirischen 
Realität)  beraubt ;  vielmehr  existirt  sie  ebenso  gewiß, 
als  Ich,  das  vorstellende  Subject,  existire.  **)  Aber  eben 
so  gewiß,  wie  diese  Thatsache  ist  auch,  daß,  wenn  ich 
dieses  Subject  mit  seinen  intellectuellen  Functionen  (R. 
Z.  und  Kategor.)  aufhebe,  zugleich  die  materielle  und 
geistige  Welt  verschwindet,  da  sie  eben  nur  in  und  durch 
die  Formen  des  Intellectes  existiren  kann.***)  D.h.  also: 
Subject  und  Object  der  Erkenntniß  hängen  durch  jene, 
ihnen  gemeinsamen,  transscendentalen  Formen  ihrer 
Existenz  so  innig,  so  nothwendig  mit  einander  zusam- 
men, daß  sie  nur  mit  einander  bestehen  können,  noth- 
wendige  Correlate  sind,  zugleich  stehen  und  fallen.  — 
Da  Ich  nun  aber,  das  erkennende  Subject,  nicht  souverän 
über  diesen  beiden  unzertrennlichen  Factoren  der  that- 
sächlich  vorgestellten,  d.  i.  empirisch-realen  Welt,  stehe, 
sondern,  auf  ewig  in  die  Schranken  meines  subjectiven 
Intellectes  gebannt,  mit  dem  einen  Factor  identisch  zu- 
sammenfalle, so  spreche  ich  die  Abhängigkeit  der  beiden 
Erkenntniß-Factoren  so  aus,  daß  ich  der  empirischen 
Welt  (dem  Object  der  Erfahrung),  trotz  ihres  f actischen 
Daseins    (ihrer   empirischen    Realität)    unbedingte   Ab- 1| 


*)  pag.  42.  Vgl.  Prolegomena  1783,  pag.  62. 
**)  Kritik  d.  r.  V.  pag.  370.  371.  379. 
***)  ibid.  383. 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  23 


hängigkeit  von  dem  Dasein  meines  Intellects  (transscen-  25 
dentale  Idealität)  beilege.*) 

Indem  wir  mit  gespanntester  Aufmerksamkeit  diese 
merkwürdige  Oedankenreihe  verfolgen,  finden  wir  Alles 
mit  so  scharfer,  rücksichtsloser  Consequenz,  so  tiefer 
Gedankenklarheit  auseinander  entwickelt,  daß  es  uns 
zu  Muthe  ist,  wie  der  Welt  nach  den  Entdeckungen  des 
C  o  I  u  m  b  u  s  und  K  o  p  e  r  n  i  k  u  s.  Aus  der  transscen- 
dentalen  Idealität  von  Raum  und  Zeit  und  der  Ein- 
schränkung der  Kategorien  auf  die,  in  jenen  gegebenen, 
Data  der  inneren  und  äußeren  Erfahrung  folgt  die 
durchgängige  Abhängigkeit  der  wirklichen,  empirisch- 
realen  Welt  vom  erkennenden  Subject  und  umgekehrt. 
Der  Standpunkt  eines  transscendentalen  Idealismus,  wel- 
cher de  facto  den  empirischen  Realismus  involviert,  ist 
durchaus  folgerichtig  entwickelt ;  und  bis  hierher  ist 
denn  auch  die  Kantische  Philosophie  unwiderleglich. 
Freilich  haben  wir,  um  das  reine  Gold  der  Wahrheit  zu 
gewinnen,  schon  auf  dem  bisher  verfolgten  Wege  man- 
che unechte  Schlacke  abgestreift  und  weggeworfen.  Wir 
haben  daher  insofern  ein  eigenmächtiges  Verfahren  be- 
obachtet, als  wir  bei  jener  Scheidung  Gedanken  ausein- 
andergelöst haben,  die  bei  Kant  vereinigt  sind.  Wir 
haben  nur  auf  die  Wahrheit  gesehen  und  der  Unwahr- 
heit den  Rücken  zugewendet.  —  Jetzt  müssen  wir  nun 
jene  Inconsequenz  aufweisen,  die,  während  sie  in  unse- 
rer Darstellung  weggelassen  wurde,  bei  Kant  fast  schon 
im  Anfange  mit  der  Wahrheit  verquickt  ist.  Diese  un- 
glückliche Inconsequenz,  welche  bereits  in  den  ersten 
Accorden  des  Kriticismus  störend  mitklingt,  schwillt  im 
weiteren  Verlaufe  bis  zur  schreienden,  unerträglichen 
Dissonanz,  ||  so  daß  sie  den  an  sich  großen,  erhabenen  26 
Eindruck  des  Ganzen  geradezu  vernichtet.  Es  wird 
unsere  Aufgabe  sein,    diesen   beklagenswerthen   Fehler 


*)  pag.  371.  378. 


24  Erstes  Kapitel. 


bloßzulegen  und  auszumerzen,  aber  auch  die  Bedingun- 
gen zu  entwickeln,  aus  denen  er  erwachsen  konnte.  — 
Daß  Kant  seiner  ursprünglichen  Lehre  nicht 
durchgängig  treu  geblieben  ist,  wußte  man  schon 
länger.  Allgemeiner  beachtet  worden  ist  die  Thatsache, 
seit  Arthur  Schopenhauer  genau  die  Differenz 
zwischen  der  ersten  Ausgabe  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft  und  allen  folgenden  nachgewiesen,  Rosen- 
kranz in  seiner  synoptischen  Ausgabe  dieselbe  dem 
Publikum  vorgelegt,  und  Kuno  Fischer  in  lichtvoller 
und  schöner  Weise  auseinandergesetzt  hat.  *)  Wenn  aber 
in  der  veränderten  Deduction  der  Kategorien  und  der, 
von  der  zweiten  Ausgabe  an  hineingeflickten  Kritik  des 
Idealismus**)  allerdings  eine  Untreue  Kants  gegen 
sich  selbst  liegt,  so  ist  etwas  viel  Schlimmeres  bisher 
fast  übersehen  worden,  das  schon  in  der  ersten  Ge- 
stalt der  Kantischen  Lehre  verborgen  liegt,  wie  der 
Wurm  in  der  Frucht.  Es  ist  hineingekommen,  indem 
er  der  dogmatischen  Philosophie  Concessionen  machte 
und  dadurch  die  eigene  Existenz  seiner  Philosophie 
in  Frage  stellte.  Im  Allgemeinen  besteht  diese  Inconse- 
quenz  darin  :  Während  aus  der  transscendentalen  Aesthe- 
tik  und  der,  von  Kant  selbst  hervorgehobenen  und  oft 
wiederholten  Thatsache,  daß  der  theoretische  Intellect 
nur  innerhalb  seiner  Erkenntnißformen  oder  mittelst 
seiner  Functionen  erkennen  darf,  und  irgend  Etwas, 
27  was  außer  diesen  und  unab- 1  hängig  von  ihnen  existi- 
ren  sollte,  ihm  gar  nicht  in  den  Sinn  kommen  kann, 
nothwendig  folgt,  daß  wir  etwas  Außerräumliches 
und    Außerzeitliches    durchaus    nicht    vorzustellen    oder 


*)  Arthur  Schopenhauer:  Die  Welt  als  Wille  und  Vor- 
stellung. 3te  Aufl.  a.a.O.  B.  I.  pag.  515.  —  Kuno  Fischer:  Ge- 
schichte d.  neueren  Philosophie.  B.  III.  Vorrede  pag.  XIV.  pag.  278.  — 
Vgl.  Dr.  F.  Ueberweg:  De  priore  et  posteriore  forma  Kant.  crit.  rat. 
pur.  Commentatio  Berol.  1861. 

'^'*)  Kants  K.  d.  r.  V.  2te  Ausgabe  pag.  274. 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  25 

gar  zu  denken  vermögen,  läßt  sich  Kant  von  vorn- 
herein doch  dazu  herbei,  ein  solches,  von  den  Erkennt- 
nißformen  emancipirtes,  also  irrationales  Object  anzu- 
erkennen, d.  i.  etwas  vorzustellen,  was  nicht  vorstell- 
bar ist  —  ein  hölzernes  Eisen.  Er  thut  dies  gradatim 
in  einer  Stufenreihe,  welche  näher  zu  betrachten  ebenso 
interessant,  als  für  die  Lösung  unserer  Aufgabe  nütz- 
lich ist. 

Zunächst  nennt  er  die  in  Raum  und  Zeit  gegebene 
Mannigfaltigkeit  von  Datis  der  inneren  und  äußeren 
Erfahrung:  Erscheinungen.  —  Wie  kommt  er  dar- 
auf? Was  berechtigt  ihn  dazu?  Die  Welt  darf  und  muß 
sich  diesen  Titel  verbitten ;  denn  sie  wird  durch  ihn 
ihrer  Dignität,  der  ihr  zugestandenen  empirischen  Rea- 
lität, d.  i.  Wirklichkeit,  verlustig.  In  dem  Titel  „Er- 
scheinung'' würde  offenbar  das  liegen,  daß  etwas 
vorausgesetzt  werden  solle,  was  erscheint  —  näm- 
lich als  empirische  Welt.  Wenn  aber  alles  in  Raum  und 
Zeit  Gegebene  „Erscheinung''  ist,  so  müßte  das,  was 
erscheint,  das  vorgebliche  Substrat  der  Erscheinung, 
nicht  in  Raum  und  Zeit  sein.  Da  nun  Raum  und  Zeit 
nothwendige  Formen  des  Intellectes  sind,  so  wäre  dies 
Etwas,  was  dieser,  unser  Intellect,  gar  nicht  zu  fassen 
vermöchte,  wovon  er  also  auch  nicht  reden  könnte.  Ein 
außerhalb  von  Raum  und  Zeit  Liegendes  ist  ein  für 
allemal  —  Unsinn.  Selbst  wenn  also  die  räumlich- 
zeitliche Welt  nur  „Erscheinung"  wäre,  so  würde  sie 
es  für  den  Intellect  nicht  sein,  da  dieser  schlecht- 
hin nicht  fähig  ist,  die  Welt  in  Raum  und  Zeit  mit 
irgend  etwas  Anderem  zu  vergleichen,  weil  diese  eben 
Alles  ist.  Demnach  darf  sie  nicht  „Erschei- 
nung" betitelt  werden. 

Constatiren  wir  dies  und  gehen  wir  weiter !  II 
Schon    in    der    transscendentalen    Aesthetik    finden  28 
wir  die  weitere  Consequenz  dieses  ttqmtov  xpsvöog.  Da  stellt 
nämlich  zur  rechten  Zeit  ein  „Ding  an  sich"  sich   ein, 


26  Erstes  Kapitel. 


welches  „den  Erscheinungen  zum  Grunde 
liegen  mag".*)  Dies  soll  nun  eben  das  außerräum- 
liche und  außerzeitliche  Substrat  der  Welt  sein,  dessen 
bevorstehende  Ankunft  uns  schon  in  dem  unberechtig- 
ten Titel  „Erscheinung"  leise  angekündigt  war. 

Da  seht,  daß  Ihr  tiefsinnig  erfaßt, 
Was  in  des  Menschen  Hirn  nicht  paßt. 

Von  diesem  überflüssigen  Anhängsel  heißt  es  nun 
pag.  286  u.  290:  „es  sei  problematisch,  ja  es 
sei  etwas,  von  dem  wir  weder  sagen  kön- 
nen, es  sei  möglich,  noch  es  sei  unmögl  ich." 
Nun  möchte  ich  in  der  That  wissen,  wie  man  überhaupt 
von  einer  Sache  reden  kann,  wenn  man  nicht  einmal 
über  ihre  Möglichkeit  oder  Unmöglichkeit  im  Klaren  ist. 
Dies  ist  deutlich  gesprochen  ein  problematisches  Etwas 
ohne  Inhalt,  von  dem  wir  gar  nichts  wissen  können, 
also  nur  eine  dunkle  Phrase  für  das  einfache,  ehrliche 
„Nichts". 

Unbekümmert  hierum  spricht  er  pag.  358  von  dem 
„Ding  an  sich"  als  von  dem,  welches  „der  Erscheinung 
zum  Grunde  liegt",  und  pag.  538  „zum  Grunde  liegen 
muß."  —  Wir  sehen  also,  wie  der,  zuerst  nur  leise 
geduldete,  Fremdling  die  Frechheit  hat,  aus  der  Sphäre 
des  Problematischen  durch  die  des  Assertori- 
schen zu  apodiktischer  Gültigkeit  sich  vorzudrän- 
gen. **)  Ein  echter  Parasit  das  !  || 
29  In  den  Prolegomenis  und  den  späteren  Schriften  ist 

dieses  nothwendige  Dasein  des  „Dinges  an  sich"  als 
eine   bekannte,  über  allen   Zweifel    erhabene   Thatsache 


*)  pag.  49. 
**)  An  dieser  Stelle  ist  es  nun  auch  (pag.  539),  wo  Kant  in 
klaren  Worten  transscendent  wird,  indem  er  die  Kategorie  der 
Causalität,  welche  doch  nach  seiner  eigenen,  ganz  richtigen  Erklärung 
nur  auf  räumliche  und  zeitliche  Objecte  anwendbar  ist,  auf  jenes  un- 
vorstellbare, übersinnliche  „Ding  an  sich"  oder  Noumenon  anwendet. 
Dies  ist  der  schlimme  Präcedenzfall  für  manches  folgende  Unheil. 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  27 

vorausgesetzt.  (Prolegom.  pag.  104.  141.)  Um  aber  der 
Sache  die  Krone  aufzusetzen,  iwird  es  schließlich  für 
„eine  Ungereimtheit  erklärt,  wenn  wir  die 
Dinge  an  sich  nicht  einräumen  wollen.*' 
(pag.  163.)  —  Dies  ist  nun  das  Aeußerste  ;  der  Parasit 
ist  unentbehrlich  geworden.  Honny  soit  qui  mal  y 
pense !  — 

Damit  ist  denn  aber  auch  in  der  That  der  K  r  i  t  i  - 
cismus  zu  Grabe  getragen,  der  Dogmatismus 
triumphirt.  Nun  bedenke  man,  daß  derselbe  Mann  da- 
zwischen immer  Aeußerungen  fallen  läßt,  wie :  „In  dem 
bloßen  Begriff  eines  Dinges  kann  gar  kein  Charakter 
seines  Daseins  angetroffen  werden.*'  *)  (Aber  etwa  in 
dem  Unbegriff?)  Ferner:  „Man  kann  doch  außer 
„sich  nicht  empfinden,  sondern  nur  in  sich  selbst,  und 
,,das  ganze  Selbstbewußtsein  liefert  daher  nichts,  als 
„lediglich  unsere  eigenen  Bestimmungen.*'**)  Ja  solche 
Aussprüche  bleiben  in  der  zweiten  und  den  folgenden 
Auflagen  neben  jenen,  toto  coelo  entgegengesetzten 
ruhig  stehen.  —  Man  könnte  dies  mit  ironischem  Seiten- 
blicke „die  Antinomie  der  Kantischen  Vernunft"  nen- 
nen. — 

Damit  ist  die  klare,  nackte  Inoonsequenz  als  That- 
sache  an  den  Tag  gelegt.  Wären  wir  boshaft,  oder  Geg- 
ner Kants,  so  schloßen  \vir  mit  „Sapienti  sat!"  hier 
die  Acten  und  ließen  den  Karren  im  Sumpfe  stecken. 
Da  wir  aber  erstens  das  Große,  Edle  und  Wahre  in  der 
Lehre  des  Meisters  mit  ungeheuchelter  Ehrerbietung 
hochachten  und  anerkennen,  da  wir  ferner  diese  ganze  I! 
Untersuchung  begonnen  haben,  nicht  um  ihn  zu  recen-30 
siren,  sondern,  um  aus  seinen  richtig  verstandenen  Prin- 
cipien  und  in  reiner  Consequenz  entwickelten  Gedanken 
die  Systeme  seiner  Nachfolger  zu  begreifen  und  so  den 
Weg  zur  weiteren   Förderung  der  Wissenschaft  zu  fin- 


*)  pag.  225.  II.  edit.  pag.  272. 
**)  pag.  378. 


28  Erstes  Kapitel. 


den,  so  können  wir  uns  bei  diesem  Stand  der  Sache 
nicht  begnügen,  sondern  richten  zunächst  folgende  Frage 
an  uns : 

Was  hat  Kanten  dazu  veranlaßt,  diesen 
so  offenbaren  Fehler  zu  begehen?  Wie 
kommt  er  darauf,  ein  „Ding  an  sich"  in  seine 
Philosophie  aufzunehmen,  die  für  dasselbe 
doch  gar  keinen  Platz  offen  läßt?  Denn  wir 
verlangen  schlechterdings  eine  Erklärung,  wie  einem 
solchen  Meister  im  Gebiete  des  speculativen  Denkens 
ein  (wie  es  scheint)  so  leicht  vermeidlicher  Fehler  unter- 
schlüpfen konnte.  Die  Beantwortung  dieser  Frage  wird 
eine  Art  von  Deduction  des  Dings  an  sich  sein  ;  nicht 
eine  objective  (in  welcher  die  Gültig'keit  dieses  Begriffes 
nachgewiesen  würde),  sondern  eine  subjective  (in  der 
die  Möglichkeit  dargelegt  wird,  daß  und  wie  ein  solcher 
Gedanke  in  diesem  Systeme  vorkommen  konnte).  Eine 
solche  Deduction,  w^elche  im  Wesentlichen  der  astrono- 
mischen Erklärung  einer  Finsterniß  durch  Berechnung 
der  obwaltenden  Constellation  gleicht,  kann  nun  von 
verschiedenen  Punkten  ausgehen.  Entweder  nämlich  sie 
verfährt  psychologisch,  indem  sie  die  Bedingungen  im 
menschlichen  Geiste  nachweist,  unter  denen  er  in  den 
gedachten  Irrthum  gerathen  konnte ;  oder  sie  hebt,  an 
den  vorhergehenden  Entwickelungsproceß  der  Philoso- 
phie anknüpfend,  historisch  diejenigen  Lehren  früherer 
Systeme  hervor,  welche  als  Präcedentien,  Vorfahren  oder 
Ahnen  des  „Dings  an  sich"  erscheinen.  Man  könnte 
jenes  eine  Biographie,  dieses  eine  Genealogie,  oder 
auch  jenes  eine  Deduction  a  priori,  dieses  eine  a  poste- 
riori des  „Dinges  an  sich"  nennen.  —  Es  ist  offenbar, 
31  daß  diese  beiden  Betrachtungen  nicht  ||  zusammenhangs- 
los nebeneinander  stehen,  sondern  innerlich  einander 
ergänzen,  bedingen  und  erklären,  daß  die  Deduction 
daher  nur  dann  vollständig  sein  wird,  wenn  wir  Beides 
in    Erwägung   ziehen ;    und    dies   wird    auch    geschehen. 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  29 

Wenn  wir  aber  die  beiden  Betrachtungen,  trotz  ihrer 
Zusammenhörigkeit,  trennen,  die  historische  voraus- 
nehmen und  erst  nach  weiteren  Zwischenuntersuchungen 
die  psychologische  folgen  lassen,  so  hat  dies  darin 
seinen  Grund,  weil  nach  unserer  Ueberzeugung  Kant 
selbst  sich  des  Ersteren  bewußt  gewesen  ist,  des  Letz- 
teren aber  nicht,  und  weil  diese  letzte,  tiefer  gehende 
Betrachtung  zugleich  unser  endgültiges,  objectives  Ur- 
theil  über  die  ganze  Angelegenheit  enthalten  wird.  — 

Indem  wir  nun  an  diese  historische  Deduction 
gehen,  müssen  wir  uns  gestatten,  weiter  auszuholen ; 
denn  es  liegt  uns  vor  Allem  daran,  überzeugend  zu  sein, 
was  im  vorliegenden  Falle  ohne  Ausführlichkeit  nicht 
möglich  ist. 

Alle  Philosophie  ist  ihrem  Wesen  nach 
Betrachtung  der  Welt  als  eines  Ganzen,  — 
der  Welt  nach  ihrer  materiellen  und  ihrer  geistigen 
Seite;  ihr  Object  ist  der  Kosmos,  und  zwar  der 
Makrokosmos,  den  wir  weit  hinausdehnen  über  alle 
Fixsterne  und  Nebelflecke,  und  der  Mikrokosmos 
im  eigenen  Ich,  den  wir  verfolgen  bis  in  die  dunkle 
Region  des  Ahnens  und  Fühlens :  „die  Schwelle  des 
Bewußtseins",  wie  es  Herbart,  die  „petites  percep- 
tions*',  wie  es  Leibnitz  genannt  hat.  So  verschieden 
auch  die  nach-  und  nebeneinander  auftretenden  Systeme 
der  Denker  aller  Völker  und  Zeiten  in  ihren  Principien 
und  Folgerungen,  in  der  Idee  und  der  Ausführung  sein 
mögen,  jenes  Object  behandeln  alle.  Die  Philosophie 
will  den  Gegenstand  des  Erkennens  und  Vorstellens 
nicht  passiv  hinnehmen,  sich  octroyiren  lassen,  wie  der 
gemeine  Menschenverstand  ;  sie  will  ihn  begreifen, 
sich  mit  ihm  auseinandersetzen  und  dann  erst  als  be- 
griffenen gelten  ||  lassen.  Und  wie  der  allgemeine  Zweck,  32 
die  Idee,  so  ist  auch  in  gewissem  Sinne  das  Mittel,  das 
Organon,  allen  Philosophen  gemeinsam.  Welches  ist  nun 
dieses  Mittel?   Wie  sucht  die  Philosophie  ihren  Zweck, 


30  Erstes  Kapitel. 


die  begreifende  Reproduction  des  Kosmos  zu  erreichen  ? 
Auch  der  Dichter,  der  Maler,  der  Componist  dringen  ein 
in  die  Tiefe  der  Natur  und  der  Menschenseele  und  bei 
greifen  beide,  indem  sie  sie  reproduciren.  Wie  unter- 
scheidet sich  das  Begreifen  des  Künstlers  von  dem  des 
Philosophen  ?  Welches  ist  die  specifische  Differenz 
zwischen  künstlerischer  und  philosophischer  Reproduc- 
tion ?  —  Dieser  Unterschied  ist  durchgreifend. 

Der  Künstler  erfaßt  sein  Object  in  der  Phan- 
tasie und  reproducirt  es  als  anschaulich  Schö- 
nes; der  Philosoph  begreift  es  in  der  Vernunft 
und  denkt  es  als  abstract  Wahres.  —  Wer  bei  der, 
uns  octroyirten  Vielheit  von  sinnlichen  Einzeldingen  als 
Vereinzelten  nicht  stehen  zu  bleiben  vermag,  sondern, 
vom  Wissensdrange  getrieben,  die  Einheit  im  Vielen, 
die  Bedingung  des  Bedingten,  den  Kosmos  in  der  Natur 
sucht,  der  philosophirt.  Aber  dies  ist  nur  möglich  durch 
Bildung  von  Gemeinvorstellungen.  Indem  ich  diese 
bilde,  muß  ich  von  dem,  v^as  an  einer  Anzahl  von  Ob- 
jecten  nicht  gleichartig,  also  relativ  gleichgültig  ist,  ab- 
sehen, abstrahiren.  Abstractes  Vorstellen  ist 
das  Mittel,  das  Organon  der  philosophischen  Er- 
kenntniß  im  Gegensatz  zu  dem  intuitiven  des 
Künstlers. 

So  suchten  nun  also  die  verschiedenen  Philosophen 
auf  dem  Wege  des  abstracten  Denkens  dem  Wesen  oder. 
Grunde  der  Welt  näher  zu  kommen.  Mochten  sie  als 
Empiristen  von  den  materiellen,  oder  als  Rationalisten 
von  den  geistigen  Datis  der  Erfahrung  ausgehen,  sie 
verfolgten  diesen  Zw^eck  mit  diesem  Mittel.  Doch 
nicht  allein  Zweck  und  Mittel,  sondern  auch  (was 
befremdender  klingen  mag)  die  Resultate  aller  ver- 
33  schieden en  Systeme  kommen,  trotz  ihrer  ||  scharfen  Ver- 
schiedenheiten, in  einer  wesentlichen  Bestim- 
mung überein ;  und  das  gerade  ist  für  uns  von  Be- 
deutung. —  Mögen  sie  nämlich  von  noch  so  verschiede- 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  31 

nen  Principien  aus,  auf  noch  so  verschiedenen  Wegen 
den  Grund  der  Welt  suchen,  schließlich  langen  sie  alle 
an  einem  Punkte  an,  wo  das  Denken  auf- 
hört; sie  stoßen  auf  irgend  ein  sehr  allgemeines  Et- 
was, von  geistiger  oder  materieller  Natur,  welches  sie 
dann  für  nicht  weiter  erforschlich  und  damit  für  letzte 
Ursache  oder  innerstes  Wesen  der  Welt  erklären.  Auf 
dieses  letzte  Wesen  oder  diesen  Urgrund  wird  dann  die 
ganze  Mannigfaltigkeit  der  Welt  in  irgend  welcher 
Weise  reducirt,  oder  aus  ihm  deducirt ;  und  dann  — 
fällt  der  Vorhang.  Sei  dieses  Letzte  und  Höchste  nun, 
wie  Thaies  meint,  das  flüssige  Element,  oder  wie 
Spinoza  behauptet,  die  Substanz,  oder  wie  Hegel 
will,  die  Dialektik  des  absoluten  Geistes,  —  dies  ist 
eben  Allen  gemeinsam,  daß  sie  bei  einem  solchen  all- 
gemeinsten Etwas  stehen  bleiben,  es  nicht  weiter  zer- 
legen, und  Alles  nur  aus  diesem  Einen  erklären 
wollen.  Auch  diejenigen  Philosophen,  die  wie  Demo- 
krit,  Leibnitz  und  Herbart  nicht  in  einer  Ein- 
heit, sondern  einer  Vielheit  den  Urgrund  der  Welt  fin- 
den, stimmen  mit  jenen  darin  überein,  daß  sie  hier  bei 
einem  solchen  (aus  einer  Vielheit  bestehenden)  Ur- 
gründe aufhören.  —  Gesteht  man  ihnen  nun  ihren  re- 
spectiven  Urgrund  zu,  so  mag  sich  Alles  in  der  Welt 
aus  ihm  sehr  streng  und  consequent  erklären  und  ab- 
leiten lassen,  auch  das  Ganze  sich  recht  schön  und 
erbaulich  ausnehmen.  Die  Vernunft  hat  ihre  Schuldig- 
keit gethan,  die  Vernunft  kann  —  schlafen  gehen.  Aber 
damit  ist  es  leider  Nichts !  Denn  es  finden  sich  immer 
neugierige  Frager,  die  gern  noch  mehr  wissen  möch- 
ten, die  jenen  Urgrund  nicht  als  Letztes  anerkennen 
wollen  und  wohl  gar  so  boshaft  sind,  die  schlafen  ge- 
gangene Vernunft  eine  ratio  ignava  und  den  Urgrund  ein 
asylum  ignorantiae  zu  nennen. 

Gewöhnlich   finden    sich    dann    auch    sehr   bald   zu 
jenen  Fragern  ||  die  betreffenden  Antworter,  welche  das  34 


32  Erstes  Kapitel. 


allgemeine  Etwas,  das  zuletzt  für  den  Urgrund  gegol- 
ten hat,  auf  ein  noch  allgemeineres  zurückführen,  damit 
den  tieferen  Grund  gefunden  zu  haben  meinen  und 
dann  ebenfalles  auf  ihren  Lorbeeren  ausruhen.  Dabei 
haben  sie  dann  freilich  zu  bemerken  vergessen,  daß  die 
Grenze  nur  weiter  hinausgeschoben,  nicht 
aber  aufgehoben,  daß  also  ihr  Gewinn  ein  ganz 
relativer  ist,  und  daß  sich  daher  sehr  bald  derselbe 
bekannte  Vorgang  des  Fragens  und  Antwortens  wieder- 
holen muß.  —  Dies  gilt,  wie  gesagt,  gleicherweise  von 
allen  Richtungen  der  Philosophie,  vom  transscenden- 
talen  Idealismus,  wie  vom  Materialismus.  Letzterer  z.  B. 
hält  seine  Lehre  für  sehr  plausibel,  weil  er  von  der 
Materie,  als  der  solidesten  Basis  ausgeht,  die  jeder 
mit  Händen  greifen  kann.  Nun  braucht  aber  nur  Jemand 
zu  fragen:  „Ja,  was  ist  denn  aber  Materie?''  so  ist  es 
schon  mit  seiner  Weisheit  zu  Ende  ;  denn  es  zeigt  sich, 
daß  er  immer  nur  die  Prädicate  derselben,  nämlich 
die  sinnlichen  Qualitäten  kennt,  während  das  Sub- 
ject:  Materie,  welches  allen  den  bekannten  Sinnes- 
empfindungen als  sx/iiayslov  zu  Grunde  liegen  soll,  in 
der  That  nichts  als  ein  ganz  unbekannter  Urgrund,  ein 
leerer,  durchaus  relativer  Begriff  ist,  kurz  eine  taube 
Nuß.   — 

Indem  sich  nun  dieser  Proceß  im  Entwicklungs^ 
gange  der  Philosophie  immer  und  immer  wieder  repro- 
ducirte,  glich  im  Allgemeinen  die  menschliche  Vernunft 
dem  Kinde,  das  gern  durch  den  Regenbogen  hindurch- 
laufen möchte  und  sich  darüber  verwundert,  daß  ihm 
dies  schlechterdings  nicht  gelingen  will.  Es  gewann 
in  der  That  (wie  Jacobi  richtig  bemerkt)  den  An- 
schein, als  ob  „die  Wahrheit,  anstatt  dem  Menschen 
entgegenzukommen,  ihn  fliehe."*)  Stutzig  gemacht 
35  durch  diese  Erscheinung  treten  dann  ab  II  und  zu  Män- 


*)  F.  H.  Jacobi.    David  Hume  etc.   Ein  Gespräch.  1787.  pag.  79. 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  33 

ner  auf  (Skeptiker),  welche  die  Philosophie  zur  Ver- 
nunft bringen  wollen,  indem  sie  ihr  sagen,  sie  werde 
doch  nie  zum  Ziele  kommen.  Diese  gleichen  solchen, 
die  jenem  Kinde  sagen:  „Der  Regenbogen  ist  zu  weit!'' 
—  Das  Kind  wird  hierauf  wohl  zwar  seine  Bemühungen 
aufgeben,  aber  überzeugt  von  der  Unausführbarkeit 
seines  Vorhabens  wird  es  nicht  sein.  Dies  könnte  es 
vielmehr  erst  dann,  wenn  ein  Verständiger  es  belehrte, 
daß  das  bunte  Phänomen  nicht  etwas  Consistentes,  kein 
an  das  Himmelsgewölbe  gehefteter  Bogen,  sondern  ein 
Reflex  der  Sonnenstrahlen  in  den  ihnen  gegenüber  her- 
abfalleaden  Regentropfen  ist,  daß  es  daher  immer  vor 
uns  entfliehen  muß,  so  lange  die  Regenwand  vor  den 
Augen  schwebt,  und  die  Sonne  hinter  uns  am  Him- 
mel steht,  u.  s.  w.  Auf  diese  Belehrung  hin  würde 
ein  gescheidtes  Kind  seine  fruchtlosen  Bemühungen  auf- 
geben, da  es  einsähe,  daß  dieselben  thöricht  und  ohne 
Erfolg  sind,  und  daß  das  Erstrebte  etwas  ganz  Ande- 
res ist,  als  wofür  es  gehalten  wurde,  nämlich  nichts 
Festes,  Greifbares,  sondern  bloß  ein  sichtbares  Ver- 
hältniß.  —  Ein  solcher  verständiger,  belehrender  Mann 
hat  sich  nun  aber  für  den  philosophirenden  Menschen- 
geist gefunden ;  leider  freilich  hat  er  ihn  nicht  voIN 
ständig,  sondern  nur  zum  Theil  belehrt  und  daher  die 
Thorheit  nicht  ganz  vernichtet,  -obgleich  er  von  der 
reinen,  echten  Wahrheit  ein  gutes  dankenswerthes  Stück 
uns  mitgetheilt  hat.  Dieser  Mann  ist  Immanuel 
Kant.   — 

K  a  h  t  hatte  es  zunächst  mit  der  L  e  i  b  n  i  t  z  - 
Wolfischen  Philosophie  zu  thun.  In  dieser  nun  gibt 
es,  wie  in  allen  früheren,  auch  ein  solches  Letztes  und 
Allgemeinstes,  welches  nicht  weiter  begründet  wird. 
Sie  behandelt  dieses,  unter  Voraussetzung  der  Logik, 
in  der  „Ontologie"  und  nennt  es  „Ding''  (ens).  In- 
dem sich  Kant  belehrend  zunächst  an  die  Leibnitz- 
Wolfianer   wendete,    mußte    er   natürlich,   um    ihnen 

Neudrucke:    Liebmann,  Kant.  3 


34  Erstes  Kapitel. 


36  verständlich  sein  zu  können,  ihre  li  Sprache  reden,  er 
mußte  also  auch  (und  zwar  hauptsächlich)  das  ,,Ding^' 
behandeln.  Da  er  aber,  seinen  Principien  gemäß,  alles 
und  jedes  Object  der  Erkenntniß  für  ein  Correlat  des 
Subjects  erklären  mußte,  und  die  Wolfianer  unter  dem 
,, Dinge*'  nicht  ein  solches  Correlat,  sondern  etwas 
schlechthin  Unabhängiges,  Allgemeines,  aber  auch  ganz 
Leeres  verstanden,  so  nannte  er  es,  um  diese  vorgeb- 
liche Unabhängigkeit  auch  vom  Subjecte  der  Erkennt- 
niß und  dessen  allgemeinen  und  nothwendigen  Formen 
auszudrücken,  das  „Ding  an  sich."  Im  Anfange  nun 
hat  er  dieses  ,,Ding  an  sich**  als  einen,  seiner  Philo-- 
Sophie  fremden,  Lehrbegriff  nur  geduldet.  Nachdem 
er  aber  im  ersten  Entwürfe  seiner  großen  Gedanken 
alle  jene  Kühnheit  des  Denkens  verbraucht  hatte,  die 
sich  nicht  scheut,  paradox  zu  erscheinen,  etwas  zu 
sagen,  was  der  allgemeinen  Meinung  in's  Gesicht 
schlägt,  um  nachher  doch  zu  triumphiren,  läßt  er  das 
„Ding  an  sich**  zunächst  nur  nebenher  laufen,  um  dann 
(wie  wir  auf  Seite  28  und  29  gesehen  haben)  ihm  immer 
mehr  Geltung  zuzugestehen,  anstatt  es  sofort  zu  ver- 
werfen und  zu  vergessen  nach  dem  Satze  des  S  e  n  e  c  a  : 
Etiam  oblivisci  interdum  expedit. 
Statt  dessen  verweist  er  es  nur,  mit  steigender  In- 
consequenz,  aus  den  Formen  unseres  Intellects  (Raum, 
Zeit  und  Kategorien)  und  verfällt  so  in  den  Wider- 
spruch, etwas  Nichtvorstellbares  vorzustellen.  Der  Be- 
griff oder  vielmehr  Unbegriff  ist  einmal  durch  das  Wort 
fixirt,  und  nun  wird,  dem  lieben,  dogmatischen  Schlen- 
drian zu  Liebe,  das  hölzerne  Eisen  immer  mehr  in 
Gnaden  aufgenommen,  bis  es  endlich  unentbehrlich  ge- 
worden, apodiktische  Gültigkeit  erlangt  hat.  Damit  hat 
Kant  den  letzten,  äußersten  Schritt  gethan,  den  echten 
Kriticismus  verleugnet,  wie  Galilei  das  Kopernicanische 
Weltsystem.  —  Denn  es  ist  durch  das  „Ding  an  sich** 
nicht    nur    ein    falscher,    undenkbarer    Begriff    in    seine 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  35 

Lehre  II  aufgenommen,  sondern  die,  in  der  transscen-37 
dentalen  Aesthetik  erlangte  Einsicht  in  die  Allgemein- 
heit und  Nothwendigkeit,  d.  i.  Apriorität  der  Formen 
alles  Anschauens,  Raum  und  Zeit,  welche  gerade  der 
epochemachende  Gedanke  seiner  großartigen  Weltan- 
schauung war,  gänzlich  in  Frage  gestellt.  Er  gibt  seinen 
bedeutendsten  Gedanken  dadurch  wieder  auf  und  be- 
stätigt die  Worte  des  Demosthenes:  noXkaxL^  doxel  ro 
(pvXd^at  rdyadtt  tov  xryjaaoi^ai  xaXsjiMxeQov  eivai.*) 

Alles,  was  er  nun  über  den  eingeschmuggelten  Un- 
begriff  sagt,  ist  dunkel  Und  widersprechend.  Bald  ist  es 
„weder  möglich,  noch  unmöglich",  bald  „muß  es  gedacht 
werden",  bald  ist  es  „ein  X,  von  dem  man  gar  nichts 
sagen  kann",  u.  s.  w.  Schon  aus  dieser  schwankenden, 
unklaren  Sprechweise  kann  man  schließen,  daß  Kant  in 
diesem  Punkte  kein  reines  Gewissen  hatte,  denn : 

Ce  que  Ton  con^oit  bien,  s'enonce  clairement. 

Boileau. 

Nun  aber  hat  er  es  als  dogmatischen  Zopf  zu 
tragen,  der  ihn  immer  belästigt  und  drückt,  um  den  er 
immer  herum  disputirt,  der  sich  aber  nicht  wegdispu- 
tiren  läßt. 

Er  dreht  sich  rechts,  er  dreht  sich  hnks, 
Der  Zopf  der  hängt  ihm'hinten. 

Und  trotz  alledem  hat  keiner  von  den  Nachfolgern 
Kants  eingesehen,  daß  dieses  „Ding  an  sich"  ein  frem- 
der Tropfen  Bluts  im  Kriticismus  **)  ist,  der  bei  conse- 


*)  Dem.  Olynth.  I.,  23. 
**)  Schleiermacher  in  dem  interessanten  kleinen  Aufsatze  über 
das  Spinozistische  System  (Gesch.  d.  Philos.  Berl.  1839  pag.  283.  ff.) 
kommt  Dem,  was  hier  von  uns  nachgewiesen  ist,  nahe,  aber  erreicht 
es  nicht.  Spinoza  nämlich  mit  Kant  vergleichend,  gelangt  er  zu 
dem  Resultate,  daß  das  Noumenon  oder  Ding  an  sich  nur  durch 
.einen  inconsequenten  Rest  des  alten  Dogmatismus"  in  der  kritischen 
Philosophie  entstanden  sei.  Aber  dieser  treffende,  gerechte  Tadel 
wird  nicht  weit  genug  verfolgt,  um  Veranlassung  zu  geben  zur  Bloß- 

3* 


36  Erstes  Kapitel. 


38quenter  Entwicklung  der  gegebenen  ||  Principien  nicht 
einmal  erwähnt  worden  wäre.  Fichte  z.  B.  streicht 
es  in  der  Wissenschaftslehre  scheinbar  aus,  während  es 
nur  an  einen  andern  Ort  verlegt  wird.  Schopen- 
hauer findet,  daß  es  nur  auf  eine  falsche  Weise  ein- 
geführt, daß  es  „eine  richtige  Conclusion  aus  falschen 
Prämissen'*  sei  *),  während  es  gerade  umgekehrt  als 
eine  falsche  Conclusion  aus  zwei  Prämissen  erscheint, 
deren  jede  für  sich  genommen  richtig  ist.  Der  Schluß 
ist  nämlich  folgender: 

Jedes    Bedingte    hängt    mit    etwas    außer    ihm    als 
seiner  Ursache  nothwendig  zusammen. 

Nun  ist  die  empirische  Welt  in  Raum  und  Zeit  be- 
dingt. 

Also  u.  s.  w. 

Dieser  Syllogismus  ist,  so  lange  man  auf  dog- 
matischem Standpunkte  steht,  ganz  richtig.  So  wie 
man  aber  die  transscendentale  Einsicht  gewonnen 
hat,  daß  Raum  und  Zeit  als  allgemeine  und  nothwendige 
Formen  der  Anschauung  a  priori  gegeben  sind,  daß  also 
außer  ihnen  Nichts  besteht,  sondern  Alles  in. 
ihnen,  so  bemerkt  man  den  Trugschluß  der  fallacia  falsi 
39medii.  ||  Die  Welt  in  Raum  und  Zeit  ist  allerdings  „be- 
dingt", aber  nicht  durch  etwas  außer  ihr  (denn  außer 


legung  des  wahren  kritischen  Grundgedankens  und  zur  Verwerfung 
der  grundfalschen  verkehrten  Auffassungen,  welche  leider,  aus  jenem 
Fehler  Kants  entspringend,  den  aufkeimenden  Samen  der  Wahrheit 
als  Unkraut  üppig  überwuchert  haben  und  zu  ersticken  drohten. 
Schleiermacher  scheut  sich  doch,  die  gefährliche  Nessel  mit  be- 
herztem Griffe  zu  erdrücken,  auszuraufen  und  wegzuwerfen,  wie  wir 
jetzt  gethan  haben;  er  begnügt  sich  damit,  zu  erklären  „daß  Kant 
in  diesem  Stücke  mutatis  mutandis  Spinozist  sei",  womit  freilich  die 
nachhinkende  Inconsequenz  des  Kriticismus  getroffen,  aber  weder 
erklärt  noch  verworfen  ist.  So  aber  fehlt  dem  Angriffe  die  Wucht, 
der  Waffe  die  Spitze. 

*)  A.  Schopenhauer :    Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung.    B.  I. 
pag.  597. 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  37 

ihr  gibt  es  Nichts,  sie  ist  Alles),  sondern  durch  ihre 
immanenten  Bedingungen  und  nothwendigen  For- 
men, Raum,  Zeit  und  Kategorien.  Hätte  man 
also  das  Prädicat  ,, bedingt''  näher  definirt,  so  würde 
man  inne  geworden  sein,  daß  es  in  jeder  der  beiden 
Prämissen  einen  andern  Sinn  hat,  daß  also  hier  eine 
quaternio  terminorum  vorliegt.  —  Uebrigens  hat  Kant 
(wenn  man  von  der  bereits  durch  seinen  Fehler  beein- 
flußten Ausdrucksweise  absieht)  das  selbst  schon  ausge- 
sprochen, wenn  er  sagt :  „daß  wir  niemals  berechtigt 
,, seien,  von  einem  Gliede  der  empirischen  Reihen,  wel- 
„ches  es  auch  sei,  einen  Sprung  außer  dem  Zusammen- 
„hange  der  Sinnlichkeit  zu  thun,  gleich  als  wenn  es 
„Dinge  an  sich  selbst  wären  u.  s.  w.'' *)  und  „daß  die 
„reinen  Verstandesbegriffe  niemals  von  transscen- 
„dentalem,  sondern  jederzeit  nur  von  empiri- 
„schem  Gebrauche  sein  können.**)"  —  — 

Dies  wäre  denn  die  historische  Deduction,  wie 
wir  es  oben  genannt  haben.  Daß  hiermit  das  Räthsel 
noch  nicht  gelöst  ist,  daß  wir  uns  also  damit  nicht  be- 
gnügen können,  fühlt  wohl  Jeder ;  und  wir  verweisen 
in  dieser  Hinsicht  auf  die  psychologische  Deduc- 
tipn,  welche  uns  den  Schlüssel  in  die  Hand  geben,  voll- 
kommen Einsicht  gewähren  soll  in  die  wahre  Ent- 
stehungsgeschichte jenes  merkwürdigen  Fehlers.  —  Be- 
vor wir  aber  an  diese  Betrachtung  gehen,  stellen  wir 
uns  noch  eine  Aufgabe,  deren  Lösung  für  unseren  End- 
zweck vielleicht  von  wesentlicherer  Bedeutung  ist,  als 
es  auf  den  ersten  Blick  scheinen  mag. 

Es  ist  nämlich  bekannt,  daß  nicht  lange  nach  dem 
Auftreten  der  kritischen  Philosophie  eine  Reihe  von  ge- 
fährlichen Angriffen  11  gegen  die  Kritik  der  reinen  Ver-40 
nunft  unternommen  wurden,  welche  durch  schonungslose 
Bloßlegung    der    wirklichen    und    vorgeblichen     Fehler 

*)  Kr.  d.  r.  V.  pag.  563. 
-^■)  pag.  246. 


38  Erstes  Kapitel. 


Kants,  wenn  auch  nicht  sein  Ansehen  vernichtet,  doch 
die  Entwicklung  neuer  Philosopheme  gezeitigt  und  da- 
mit ein  wirklich  gründliches  Eingehen  auf  dieses  größ- 
artige System  mit  gehemmt  haben.  Einer  der  scharf- 
sinnigsten dieser  Gegner  Kants,  G.  E.  Schulze, 
wendete  sich  im  „A  en  es  i  d  emu  s*' *)  gegen  den 
Meister  und  seinen  Apostel  Rein  hold  zugleich,  und 
indem  er  mit  dem  wirklichen,  großen  Fehler  Kants 
noch  Mehreres  vernichtet  zu  haben  meinte,  was  unwider- 
leglich ist,  verschuldete  er  es  mit,  daß  Kant  zu  vor- 
eilig für  überwunden  gehalten  wurde.  Das  hat  viel 
Unheil   angerichtet ! 

Ich  unternehme  es  nun,  nachzuweisen,  daß  alle  An- 
griffe des  Aenesidemus  nur  soweit  Bedeutung 
haben,  als  sie  sich  gegen  die  Consequenzen  des  „Dings 
an  sich"  wenden,  daß  sie  aber  gegen  den  reinen  und 
echten  Kriticismus  in  Nichts  zerfallen.  Möge  man  also 
den  folgenden  Abschnitt  nicht  für  ein  willkürliches  Inter- 
mezzo halten.  Er  ist  ein  organisches  Glied  in  unserer 
Betrachtung.  — 

Die  in  Betracht  kommende  Stelle  steht:  Aenesi- 
demus pag.  108  ff.  Der  Zweifler  beginnt  mit  der 
„Darstellung  des  Humeschen  Scepticis- 
mus.**  Mit  Recht!  Denn  Kant  ist  ja,  wie  er  selbst  ge- 
steht, durch  H  u  m  e  „aus  dem  dogmatischen  Schlummer 
geweckt  worden.'*  **) 

Dort  heißt  es  nun  (pag.  108): 

„Wenn   es   wahr  ist,   sagt   Hume,   daß  unsere  Vor- 

41  „Stellungen  ||  entweder  unmittelbar   oder   mittelbar  von 

„der  Wirksamkeit  vorhandener  Gegenstände  auf  unser 

„Gemüth  herrühren,  oder  gewissermaßen  Abdrücke  der 


*)  Aenesidemus  oder  über  die  Fundamente  der  von  H.  Prof. 
Reinhold  in  Jena  gelieferten  Elementar-Philosophie.  Nebst  einer  Ver- 
theidigung  des  Scepticismus  gegen  die  Anmaßungen  der  Vernunft- 
kritik. 1792. 

**)  Kants  Prolegomena  pag.  13. 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  39 


„außer  uns  befindlichen  Originalien  dazu  ausmachen, 
„und  daß  sich  hierauf  die  Realität  unserer  Vorstellungen 
„gründe,  so  müssen  auch  die  Begriffe  Ursache,  Wir- 
„kung  u.  s.  w.,  um  reell  zu  sein,  aus  den  Impressionen 
„der  außer  unseren  Vorstellungen  vorhandenen  Gegen- 
„stände  auf  uns  mittelbar  oder  unmittelbar 
„entstanden  sein/* 

Die  Form  dieser  Folgerung  ist  hypothetisch. 
Fällt  die  Voraussetzung  weg,  so  bleibt  die  Folge  min- 
destens zweifelhaft  und  ebenso  unbehauptbar  wie  die 
Voraussetzung  selbst.  Was  nun  aber  den  Inhalt  der- 
selben anlangt,  so  wissen  wir  (woran  freilich  Hume 
noch  nicht  dachte),  daß  äußere  Gegenstände  nur  inso- 
fern da  sind,  als  in  der  Anschauung  durch  die  allge- 
meinen Verknüpfungsformen  des  Intellects  (Kategorien) 
die  gegebenen  Empfindungen  combinirt  werden,  über- 
haupt daß  alles  Object  unzertrennliches  Correlat  des 
Subjects  der  Erkenntniß  ist.  Ferner  aber  ist  die  Ver- 
knüpfung von  Ursache  und  Wirkung  nicht  die  Vor- 
stellung eines  Gegenstandes,  sondern  eines 
Verhältnisses  von  Gegenständen;  da  nun  in  der 
Voraussetzung  nur  von  Abdrücken  der  Gegenstände 
in  den  Vorstellungen,  nicht  aber  von  ihren  Verknüpfun- 
gen und  Verhältnissen  die  Rede  war,  so  gehört  der 
Causalnexus  gar  nicht  hierher.  — 

Nachdem  nun  (pag.  109)  gefordert  ist,  daß  zwei 
Dinge,  die  als  Ursache  und  Wirkung  zu  einander  ge- 
hören sollen,  erstlich  aneinander  gränzen,  sich  einander 
berühren,  zweitens  aufeinander  zeitlich  folgen  und  drit- 
tens in  nothwendiger  Verbindung  stehen  sollen,  heißt  es 
(pag.  111)  weiter;  „Auch  müßte  uns,  wenn  wir  Kennt- 
,,niß  von  der  Kraft  eines  Gegenstandes  oder  von  dem- 
„jenigen  hätten,  wodurch  er  Ursache  von  gewissen  Wir- 
,,kungen  ist,  möglich  sein,  sogleich  aus  der  Betrachtung 
„des  Gegenstandes  anzugeben  und  zu  bestimmen,  was 
„daraus   folgen   werde;   denn   die   Kenntniß    einer  ||  Be-42 


40  Erstes  Kapitel. 

„schaffenheit  schließt  auch  die  Kenntniß  alles  desjenigen 
„in  sich,  was  nothwendig  zu  ihr  gehört  und  einen  Be- 
„standtheil  davon  ausmacht."  —  Hiergegen  ist  zu  erin- 
nern, daß  die  Wirkung  nicht  „BestandtheiP'  der  Ursache, 
sondern  durch  sie  „bedingt"  ist.  Der  Causalnexus  als 
reiner  Begriff  fordert  nur,  daß  etwas  erfolge  ;  um  zu 
wissen,  was  erfolgen  wird,  müßten  wir  eine  durchaus 
vollständige  Kenntniß  von  allen  obwaltenden  Bedingun- 
gen haben.  Obgleich  aber  Letzteres  schwerlich  je  der 
Fall  sein  wird,  so  sind  wir  doch  bei  jeder  wahrgenom- 
menen Constellation  von  empirischen  Bedingungen  über- 
zeugt, daß  irgend  Etwas  daraus  hervorgehen  wird,  eben- 
so wie,  daß  Etwas  als  Ursache  vorangegangen  ist.  Diese 
unbedingte  Ueberzeugung,  welche  wir  immer  hegen, 
mögen  wir  wollen  oder  nicht,  verleiht  gerade  dem 
Causalnexus  den  Charakter  der  Kategorie.  Darin,  daß 
wir  die  Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit  jenes  Ver- 
hältnisses immer  und  überall  voraussetzen,  obgleich  wir 
nur  die  zeitliche  Aufeinanderfolge,  das  post  hoc,  nicht 
aber  die  Nothwendigkeit  der  Aufeinanderfolge,  das 
propter  hoc,  wahrnehmen,  erkennen  wir,  daß  der  Causal- 
nexus aller  Erfahrung  vorausgeht  und  von  ihr  unab- 
hängig ist.  —  Gemäß  der  falschen  Annahme  unabhängig 
von  unseren  Vorstellungen  existirender  äußerer  Gegen- 
stände heißt  es  nun  (pag.  115):  „Die  nothwendige  Ver- 
„knüpfung,  die  zum  Wesen  der  Ursache  und  Wirkung 
„gehört,  existirt  daher  durchaus  nicht  in  den  objectiven 
,, Gegenständen  ;  sondern  lediglich  in  der  Folge  u  n  s  e  - 
„rer  Vorstellungen  von  ihnen."  Dieser  Gipfel- 
punkt des  H  um  eschen  Zweifels  ist  nun  gerade  der 
Ausgangspunkt  für  den  Triumph  des  Kriticismus. 
Denn  indem  er  nachweist,  daß  wir  überhaupt  nur  von 
Gegenständen  i  n  der  Vorstellung,  nie  aber  von  welchen 
außer  ihr  wissen  und  reden  können,  restringirt  er 
eben  den  Gebrauch  der  Kategorien  auf  unseren  Vorstel- 
lungsbereich. —  Bacon,  der  gewiß  kein  Idealist  war, 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  41 

sagt  doch :  Omnes  per- 1|  ceptiones,  tarn  Sensus  quam  43 
Mentis,  sunt  ex  analogia  Hominis,  non  ex  analogia 
Universi.  Estque  Intellectus  humanus  instar  speculi  inae- 
qualis  ad  radios  rerum,  qui  s  u  a  m  naturam  Naturae 
rerum  immiscet,  eamque  distorquet  et  inficit.  *)  Er  er- 
kennt also  wenigstens  das  Mitwirlcen  unseres  Intei- 
lects  beim  Zustandekommen  der  Vorstellungen  von  sinn- 
lichen Gegenständen  an.  Nun  möcht^e  ich  aber  den  Mann 
erst  noch  kennen  lernen,  der  jemals  ,, Originale"  zu  dem 
vermeintlichen  ,, Spiegelbilde'*  in  unserem  Intellect  ge- 
sehen hätte,  der  also  bezeugen  könnte,  daß  in  der  Vor- 
stellung und  Erkenntniß  uns  wirklich  bloße  „C  o  p  i  e  n" 
gegeben  sind.  Dies  müßte  er  in  der  That  durch  eine 
übernatürliche  Offenbarung  in  Erfahrung  ge- 
bracht haben,  oder  es  müßte  ihm  gelungen  sein,  in 
geistiger  Hinsicht  einen  Act  zu  vollziehen,  den  man  in 
populärer  Redeweise :  „Aus  der  Haut  fahren"  nennt.  — 

Mit  Beziehung  auf  die  pag.  117 — 122  gegebene 
Rechtfertigung  der  Humeschen  Ansichten  können  wir 
nur  wiederholen:  Der  Satz:  „Die  Kategorie  der  Causa- 
lität  ist  ein  synthetisches  Urtheil  apriori"  bedeutet  ge- 
nau dasselbe,  wie :  „Es  ist  eine  nothwendige  Eigenthüm- 
lichkeit  meines  Intellects  zu  jeder  Wirkung  eine  Ursache 
vorauszusetzen,  und  umgekehrt."  Beide  Sätze  sind  tauto- 
logisch.  Und  den  Inhalt  dieses  letzteren  Satzes  wird 
schwerlich  jemand  bestreiten,  der  seinen  Sinn  begriffen 
hat.  Wer  unversehens  eine  Ohrfeige  erhält,  wendet  sich 
an  den  vor  ihm  stehenden  Geber  derselben  und  gibt 
ihm  die  gebührende  Antwort.  Wie  käme  er  hierzu,  wenn 
er  nicht  gemäß  der  Kategorie  der  Causalität  aus  der 
räumlichen  Nähe,  den  Geberden  u.  s.  w.  des  neben  ihm 
Stehenden  in  ihm  die  Ursache  der  empfundenen  Schmach 
voraussetzte  ?  — 

Nachdem  nun  von  Seite  118—130  theils  unterge- 
ordnete, II  theils    schon    abgefertigte    Gedanken    vorge-44 

*)  Bacon.  Nov.  Organ.  I,  41. 


42  Erstes  Kapitel. 


bracht  sind,  beginnt  pag.  130  die  Erörterung  der  Haupt- 
frage: „Ist  Humes  Skepticismus  durch  die 
Vernunftkritik  wirklich  widerlegt  wor- 
den?'' 

„Es  wird,  heißt  es  pag.  131,  bei  der  Beantwortung 
„der  eben  aufgeworfenen  Frage  ganz  vorzüglich  darauf 
„ankommen,  daß  wir  untersuchen :  Ob  die  Gründe,  wel- 
„che  Herr  Kant  dafür  beibringt,  daß  die  nothwendigen 
„synthetischen  Urtheile  aus  dem  Gemüthe  und  dem 
„inneren  Quell  der  Vorstellungen  selbst  herrühren  müs- 
„sen,  und  die  Form  der  Erfahrungserkenntniß  aus- 
„machen,  so  beschaffen  seien,  daß  sie  auch  David  Hume 
„für  zureichend  und  beweisend  halten  könnte?"  — 
Wir  erwidern :  Nicht  darauf  kommt  es  an,  ob  David 
Hume  durch  Anerkennung  der  Argumente  seines  Nach- 
folgers sich  für  besiegt  erklärt  (das  kann  uns  ziemn 
lieh  gleichgültig  sein),  sondern  darauf,  ob  Kant  ihn 
soweit  evident  widerlegt  hat,  als  er  ihn  überhaupt 
widerlegen  will.  Ferner  hat  Kant  durch  seinen 
Nachweis  von  synthetischen  Urtheilen  a  priori  nur  dies 
sagen  wollen,  daß  die  ganze  empirische  Erkenntniß, 
oder  Erfahrung  (auch  die  innere,  psychologische)  durch 
gewisse  allgemeine  Verknüpfungen  (Kategorien)  zusam- 
mengehalten wird,  welche  aus  der  Erfahrung  nicht  selbst 
erklärlich  sind ;  es  ist  ihm  aber  nicht  in  den  Sinn 
gekommen  zu  behaupten,  daß  das  Gemüth  (Subject) 
Ursache  dieser  Kategorien  wäre,  oder  sie  hervor- 
brächte, was  erst  Fichte  gethan  hat.  Die  Kategorien 
sind  Functionen  des  Intellects,  durch  welche  sowohl 
Subject  als  Object  der  Erkenntniß  bedingt  sind.  Die 
Apriorität  derselben  läßt  sich  am  einfachsten  so  dar- 
legen : 

Daß  wir  Erfahrungen  machen,  ist  eine  Thatsache, 
und  zwar  (wie  Aenesidemus  pag.  122  ausdrücklich 
betont)  unleugbare  Thatsache.  Nun  wäre  aber  Er- 
fahrung   unmöglich,    ohne    die    Synthesen    von    Ursache 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  43 

und  Wirkung  u.  s.  w.  (Kategorien).  Also  ist  das  Da- 
sein der  Kategorien  mindestens  auch  eine  u  n  - 
leug-||bare  Thatsache.  Diese  Kategorien  könnten  45 
ferner  entweder  aus  der  (inneren  oder  äußeren)  Er^ 
fahrung  stammen,  d.  i.  a  posteriori  gegeben  sein,  oder 
nicht  aus  ihr  stammen,  sondern  von  ihr  als  Bedingungen 
vorausgesetzt  werden,  d.  i.  a  priori  gegeben  sein.  Aus 
der  Erfahrung  aber  stammen  sie,  wie  H  u  m  e  ganz  rich- 
tig behauptet  und  Aenesidemus  pag.  110  ref erirt, 
nicht.  Also  sind  die  Kategorien  a  priori  ge- 
geben,   q.  e.  d. 

Aenesidemus  ist  fortwährend  von  dem  Irrthum  be- 
fangen, daß  „a  priori  gegeben  sein^'  soviel  bedeute, 
als  „vom  Qemüth  (Subject)  hervorgebracht  sein.'*  Des- 
halb polemisirt  er  nun  gegen  Kant,  weil  dieser  die 
menschliche  Vernunft  für  „die  Quelle  oder  den  Real- 
grund" der  nothwendigen  synthetischen  Urtheile  in 
unserer  Erkenntniß  ausgebe,  während  „wir  uns  doch 
„das  Vermögen  der  Vorstellungen  als  den  Grund  dieser 
„Urtheile  nur  denken,  nicht  aber  hieraus  schließen 
„könnten,  daß  es  auch  wirklich  dieser  Grund  sei." 
Alle  diese  Angriffe  sind  Schläge  in  die  Luft,  weil  die 
Voraussetzung,  von  der  ausgegangen  wird,  ganz  falsch, 
ein  Mißverständniß  der  Kantischen  Lehre  ist.  — 

Kant  nennt  diejenigen  Formen  der  Erkenntniß,  die 
in  allem  Erkennen  thatsächlich  vorhanden  sind,  ohne 
deren  Gegenwart  und  Vorhandensein  alles  Erkennen  und 
Vorstellen  überhaupt  auseinanderfallen,  ja  vernichtet 
werden  würde,  die  daher  in  allesr  Erfahrung  schon  vor- 
ausgesetzt sind,  ohne  daß  wir  doch  irgendwie  wissen 
können,  woher  sie  stammen  —  Erkenntnisse  a  pri- 
ori. Von  ihrem  Ursprung,  oder  Realgrund  kann 
gar  nicht  die  Rede  sein.  Denn  so  wie  wir  irgend  Etwas 
vorstellen  und  Erkennen,  sind  sie  schon  da,  ge- 
geben. Das  intelligente  Ich  oder  Subject  der  Erkennt- 
niß   bewegt   sich   fortwährend   in    ihnen,    als    in    seinem 


44  Erstes  Kapitel. 


Elemente,  wie  der  Fisch  im  Wasser.  Wäre  es  nun  über- 
haupt irgendwie  möglich,  daß  dieses  Subject  der  Er- 
46  kenntniß  einmal  unerklärlicher  Weise  aus  ü  diesen  In- 
tellectualformen  (Raum,  Zeit  und  Kategorien)  heraus- 
kommen könnte,  wie  etwa  ein  Fisch  aus  dem  Wasser 
in  die  Luft,  so  würde  das,  was  irgendwie  noch  übrig 
bliebe,  für  es  ganz  fremd  und  unfaßbar  sein,  wie  die 
von  der  Luft  gebrochenen  Lichtstrahlen  für  das  Auge 
des  Fisches.  Aber  omne  simile  Claudicat.  Eine  solche 
Metamorphose,  ein  solches  Heraustreten  des  Subjects 
aus  seinen  Intellectualformen  ist  ein  unmöglicher  Fall, 
von  dem  wir  gar  nicht  reden  dürfen,  weil  er  den  that- 
sächlichen  Gesetzen  unserer  Vernunft  geradezu  wider- 
spricht  und   in's   Gesicht   schlägt. 

Indem  nun  aber  Aenesidemus  mit  diesem  seinem 
Mißverständniß  tief  unter  dem  Niveau  der  Kantischen 
Weltansicht  steht,  setzt  er  zugleich  immer  voraus,  Kant 
wolle  Humen  durchweg  widerlegen  und  fordert  des- 
halb pag.  133,  daß  die  Vernunftkritik  entweder  das 
Gegentheil  von  Humes  Behauptungen  beweisen,  oder 
ihn  ad  absurdum  führen  solle.  Daran  wird  sie  aber  gar 
nicht  denken,  da  sie  ja  mit  der  vorzüglichsten  Behaup- 
tung Humes  ganz  übereinstimmt.  Hume  nämlich  sagt : 
,,Der  nothwendige  Zusammenhang  zwischen  Ursache 
und  Wirkung  ist  nicht  aus  der  Erfahrung  geschöpft." 
—  Ganz  richtig!  erwidert  Kant.  —  „Also,  fährt  jener 
fort,  ist  er  ohne  Bedeutung  und  muß  im  Object  geleug- 
net werden."  Mit  Nichten !  wendet  die  Vernunftkritik 
ein  ;  nur  wenn  wir,  wie  du  in  deiner  petitio  principii 
angenommen  hast,  außer  unsern  Vorstellungen  Gegen- 
stände zugeben  müßten,  wäre  der  Causalnexus  etwas 
bloß  Subjectives,  ohne  Anwendbarkeit  auf  jene  Gegen- 
stände ;  da  es  aber  geradezu  ein  Widerspruch  ist,  von 
andern  Gegenständen  zu  reden,  als  den  i  n  unseren  Vor- 
stellungen gegebenen,  so  fällt  deine  Folgerung  hin- 
weg. — 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  45 

Wenn  nun  ferner  Kanten  im  Allgemeinen  ein  Vor- 
wurf daraus  gemacht  wird,  daß  er  bei  seiner  Entdeckung 
der  Kategorien  als  solcher  diese  selbst  schon  in  seinem 
Denken  angewendet  habe,  so  ist  II  dies  eben  so  unge- 47 
reimt,  als  ob  man  dem  Optiker  vorwerfen  wollte,  daß 
er  bei  seinen  Untersuchungen  sich  selbst  des  Sehnervs, 
der  Retina,  der  Pupille  u.  s.  w.  bedient  habe.  *)  Ein 
solcher  Vorwurf  ist  überhaupt  nur  dann  möglich,  wenn 
man  die  Kantische  Lehre  in  empiristischer  Weise  miß- 
deutet, wenn  man  von  ihrem  transscendentalen 
Gesichtspunkte  keine  Ahnung  hat.  Und  daß  letzteres 
bei  Aenesidemus  in  der  That  der  Fall  ist,  zeigt  sich 
sehr  deutlich  zunächst  in  dem  pag.  140  als  vorgebliche 
Summe  der  Vernunftkritik  untergeschobenen  Syllogis- 
mus, welcher  gar  nichts  davon  weiß,  daß  „empirisches 
sein''  und  ,, Vorstellung  sein*'  bei  Kant  dasselbe  ist,  und 
daß  die  Erkenntnisse  a  priori  Voraussetzungen  bei  allem 
Vorstellen  sind.  Fast  komisch  tritt  dieselbe  Unkenntniß 
hervor  in  der  naiven  Aeußerung  (pag.  182),  ,,daß  sich 
ja  Etwas,  was  auf  der  gegenwärtigen  Stufe  der 
Cultur  nur  auf  diese  eine  Weise  denken  lasse  (Aprio- 
rität  der  Kategorien),  vielleicht  auf  einer  ande- 
ren späteren  auch  anders  werde  erklären 
lassen." 

Wie  wenig  Aenesidemus  der  Kantischen  Tiefe  ge- 
wachsen, ersieht  man  ferner  aus  folgendem  Passus  (pag. 
143):  „Es  ist  nämlich  unrichtig,  daß,  wie  in  der  Ver- 
„nunftkritik  angenommen  ist,  das  Bewußtsein  der 
„Nothwendigkeit,  welches  gewisse  synthetische 
„Sätze  begleitet,  ein  unfehlbares  Kennzeichen  ihres 


*)  Ebendahin  gehört  die  Hege  Ische  Vergleichung  Kants  mit 
einem  Scholasticus,  der  „schwimmen  zu  lernen  sich  vorsetzt,  ehe 
er  sich  ins  Wasser  wagt."  Dieses  ganz  unzutreffende,  falsche 
Gleichniß  ist  bereits  von  competenter  Seite  gebührend  abgefertigt 
worden.  —  Hegels  Encyclopädie  d.  philos.  Wissensch.  1827. 
Einleit.  §.  10.  Vgl.  Kuno  Fischers  Gesch.  d.  n.  Philos.  B.  III.  pag.  21. 


46  Erstes  Kapitel. 


„Ursprunges  a  priori  und  aus  dem  Qemüth  ausmache. 
„Mit  den  wirklichen  Empfindungen  der  äußeren  Sinne 
„z.  B.,  welche  auch  nach  der  kritischen  Philosophie  in 
48  „Ansehung  ihrer  Materialien  insgesammt  l!  nicht  aus 
„dem  Qemüth,  sondern  von  Dingen  außer  uns  herstam- 
„men  sollen,  ist,  ihres  empirischen  Ursprungs  ohnge- 
„achtet,  ein  Bewußtsein  der  Nothwendigkeit  verbunden. 
„Während  dessen  nämlich,  daß  eine  Empfindung  in  uns 
»gegenwärtig  ist,  müssen  wir  sie  als  vorhanden  er- 
„kennen/'  —  Vor  allem  wieder  das  gerügte  Mißver- 
ständniß  des  ,,a  priori''.  Dann  aber  ist  dieses  ,,als  vor- 
handen erkennen  müssen''  der  in  uns  gegenwärtigen 
Empfindung  nicht  der  Ausdruck  metaphysischer  Noth- 
wendigkeit und  Allgemeinheit,  sondern  des  empirischen 
Gezwungenseins.  Was  zwingt  uns  denn  nun  dazu? 
Haben  wir  ein  solches  Zwingende  wahrgenommen  ? 
Nein !  Vielmehr  setzen  wir  gemäß  der  Kategorie  der 
Causalität  einen  Gegenstand  voraus,  der  die  Ursache  der 
gegenwärtigen  Empfindungen  in  uns  ist,  und  kommen 
so  erst  zu  der  empirischen  Nothwendigkeit  des  Ge-; 
zwungenseins.  Wäre  aber  unser  Vorstellen  nicht  von 
jener  Kategorie  beherrscht  und  geleitet,  nähmen  wir 
jene  metaphysische  Nothwendigkeit  des  nexus  causalis 
hinweg,  was  bliebe  dann  von  dem  „müssen",  von  der 
empirischen  Nothwendigkeit  übrig?  Nichts  Anderes,  als 
der  Satz :  „Solange  eine  Empfindung  unserem  Bewußt- 
„sein  gegenwärtig  ist,  ist  sie  ihm  gegenwärtig."  Ein 
Satz,  der  seinem  Inhalte  nach  eine  leere,  überflüssige 
Tautologie,  seiner  Form  nach  assertorisch,  nicht 
aber  apodiktisch  ist.  —  Wenn  der  Mathematiker 
sagt:  „Alle  ebenen  Dreiecke,  die  je  existirt  haben, 
„existiren  und  überhaupt  existiren  können,  müssen  die 
„Winkelsumme  von  zwei  Rechten  haben,  und  das  Gegen- 
„theil  ist  undenkbar,"  oder  der  Philosoph:  „Alle  Ereig- 
„nisse  der  Welt  müssen  eine  Ursache  haben  und  wären 
„ohne  diese  unmöglich",  so  tragen  sie  bei  ihren  Sätzen 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants,  47 

jene  innige  Ueberzeugung  von  der  Nothwendigkeit  der- 
selben in  sich,  die  nicht  aus  der  Erfahrung  geschöpft 
ist,  sondern  a  priori  gegeben.  Die  jeweiligen  Empfin- 
dungen aber,  z.  B.  die  des  vor  mir  liegenden  Papiers, 
könnten  ganz  gut  wegfallen,  oder  mit  an-  il  deren  ver-  49 
tauscht  werden,  ohne  daß  dadurch  die  Natur  meines 
Bewußtseins  und  des  Intellectes  alterirt  würde.  Dies 
ist  der  Unterschied  zwischen  den  Erkenntnissen 
a  posteriori,  deren  Inhalt  für  die  Gesetze  des  Er- 
kennens  gleichgültig  ist,  und  den  Erkenntnissen 
a  priori,  welche  nicht  hinweggedacht  werden  können, 
ohne  daß  zugleich  der  Intellect  vernichtet  würde ;  — 
ein  Unterschied,  den  Kant  entdeckt  und  Aenesi- 
demus  nicht  begriffen  hat.  — 

Bis  hierher  hatte  nun  der  Skeptiker  durchweg  Un- 
recht, weil  er  seine  Angriffe  gegen  die  unumstößlichen 
Wahrheiten  der  kritischen  Philosophie  richtete.  Von  nun 
an  aber  wendet  er  sich  gegen  das  „Ding  an  sich,"  und 
was  er  gegen  dieses  sagt,  ist  so  richtig  und  treffend, 
daß  wir  es  geradezu  unterschreiben  können.  „Wenn, 
„heißt  es  pag.  296,  von  Dingen  an  sich  die  Rede 
„ist,  so  versteht  man  allgemein  darunter  ein  Etwas,  so 
„außer  unsern  Vorstellungen  realiter  da  sein  soll,  so 
„mit  unseren  Vorstellungen  nicht  erst  entsteht,  noch 
„auch  mit  denselben  wieder  untergeht,  sondern  das  da 
„sein  würde,  wenn  wir  auch  ganz  und  gar  ;iicht  da 
„wären.  Fragt  man  z.  B.  ob  der  Vorstellung  des  Baumes, 
„den  man  wachend  und  im  gesunden  Zustande  des  Oe- 
„müths  sieht,  ein  Ding  an  sich  zum  Grunde  liegt,  so 
„ist  hierbei  davon  gar  nicht  die  Rede,  ob  in  der  Vor- 
„Stellung  des  Baumes  unter  vielen  anderen  Merkmalen, 
„die  zusammengenommen  die  Vorstellung  desselben  aus- 
„machen,  nicht  auch  das  Merkmal  einer  Beziehung  und 
„eines  Verhältnisses  der  Vorstellung  zu  einem  außer 
„uns  befindlichen  Gegenstande  enthalten  sei,  oder  ob 
„wir   uns   nicht   den    Baum    als    etwas    von   uns    selbst 


48  Erstes  Kapitel. 

, Unabhängiges  vorstellen  müssen ;  sondern  ob  etwas 
,objectiv  vorhanden  sei,  welches  mit  der  Anschauung 
,des  Baumes  in  Verbindung  stehe,  und  den  Inhalt  der- 
, selben  bestimmt  habe,  so  daß,  wenn  dieses  Etwas 
, nicht  eben  so  an  sich  und  außer  uns  wirklich  wäre, 
,als  wie  die  Vorstellung  des  Baumes  in  uns  wirklich 
,ist,  und  mit  11  unserem  Gemüthe  nicht  in  einer  reellen 
, Verbindung  stände,  wir  gar  keiner  Vorstellung  des 
, Baumes  theilhaftig  geworden  wären.  Die  kritische 
, Philosophie  behauptet  nun  allerdings  wohl,  daß  es 
, solche  Dinge  an  sich  objectiv  gäbe,  und  daß  die  der 
jRealOrund  des  Inhalts  unserer  Erfahrungskenntnisse 
, seien :  Allein,  sie  behauptet  dies  ohne  allen 
, Grund,  und  hat  durch  ihre  Lehren  über  die 
jNatur  und  Bestimmung  der  Grundsätze 
,des  reinen  Verstandes  und  der  reinen  Ver- 
,nunft  alle  Möglichkeit,  jene  Behauptun- 
,gen  zu  erweisen,  gänzlich  zerstört.  Denn 
,wenn  es  wahr  ist,  wie  die  kritische  Philosophie  apo- 
jdiktisch  erwiesen  zu  haben  vorgibt,  daß  eine  Erkennt- 
,niß  des  Dinges  an  sich  alle  Fähigkeiten  unseres  Vor- 
, Stellungsvermögens  gänzlich  übersteige,  und  daß  dieses 
,Ding  uns  nach  dem,  was  es  objectiv  ist,  völlig  unbe- 
,kannt  ist,  so  hat  ihre  Behauptung,  dasselbe 
,sei  eine  Bedingung,  unter  der  wir  allein 
, Erfahrungskenntnisse  zu  besitzen  im 
, Stande  sind,  gar  keinen  Sinn,  weil  man, 
,um  behaupten  zu  können,  Dinge  an  sich 
, liegen  den  Vorstellungen  in  unserem  Ge- 
,müth  zum  Grunde,  doch  zum  wenigsten 
, dieses  wissen  muß,  daß  Dinge  an  sich  rea- 
,liter  existiren  und  Ursache  von  etwas  sein 
,köxinen.  Wenn  man  ferner  annimmt,  daß  das  Prin- 
,cip  der  Causalität  gar  nicht  auf  Dinge  an  sich  ange- 
,wendet  werden  dürfe,  sondern  nur  in  Beziehung  auf 
,das,   was  als   Erfahrung  bloß   subjectiv  in  uns   da  ist, 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  49 

Gültigkeit  habe  (wie  auch  die  kritische  Philosophie 
völlig  erwiesen  zu  haben  vorgibt) ;  so  fällt  dadurch 
wieder  die  Möglichkeit  weg,  den  Zusammenhang  ge- 
wisser Theile  unserer  Erkenntniß  mit  Dingen,  die  nicht 
zu  dieser  Erkenntniß  gehören,  darthun  zu  können, 
und  ist  das  Princip  der  Causalität  außer 
der  Erfahrung  ungültig,  so  ist  es  ein  Miß- 
brauch der  V  er  s  tan  d  es  ges  e  tz  e,  wenn  man 
den  Begriff  Ursach,  auf  et- II  was  anwendet,  51 
so  außer  unserer  Erfahrung  und  gänzlich 
von  derselben  unabhängig  da  sein  soll. 
Wenn  also  auch  die  kritische  Philosophie  gar  nicht 
geradezu  leugnet,  daß  es  Dinge  an  sich,  als  Ursachen 
des  Stoffes  der  empirischen  Erkenntnisse  gäbe,  s  o 
muß  sie  doch  eigentlich,  vermöge  ihrer 
eigenen  Principien,  der  Annahme  einer 
solchen  t r a n ss cen d en t a I en  Ursache  des 
Stoffes  unserer  empirischen  Erkenntniß 
alle  Realität  und  Wahrheit  absprechen, 
und  nach  ihren  eigenen  Grundsätzen  ist 
also  nicht  nur  der  Ursprung  des  Stoffes 
der  empirischen  Erkenntniß,  sondern  auch 
deren  [transscendentale]  Realität,  oder 
deren  wirkliche  Beziehung  auf  etwas 
außer  unseren  Vorstellungen  völlig  unge- 
wiß und  für  uns  =  x,"  Die  letzten  Worte  dieser 
ganzen  Stelle  (welche  wir  ihrem  Gehalte  nach  durch- 
aus adoptiren,  während  wir  sie  ihrer  Tendenz  nach 
nicht  billigen  können)  hätten  schärfer  gefaßt  werden 
sollen,  indem  man  statt  „ungewiß  und  für  uns 
=  x''  hätte  schreiben  müssen  „undenkbar  und  un- 
ger  e  i  m  t."  — 

Hiermit  ist  das  geleistet,  was  diese  Episode  (wenn 
man  es  so  nennen  will)  leisten  sollte.  Wir  nehmen  den 
Faden  unserer  früheren  Betrachtung  wieder  auf.  — 

Neudrucke:    Liebniann,  Kant.  4 


50  Erstes  Kapitel. 


Wenn  es  aus  dem  Bisherigen  klar  geworden  ist, 
daß  Kant  mit  der  Annahme  eines  ,, Dings  an  sich''  außer- 
halb der  Grenzen,  d.  i.  der  nothwendigen  und  allge- 
meinen Formen,  unseres  Intellects  (Raum,  Zeit  und 
Kategorien)  dem  echten  Geiste  seiner  eigenen  Lehre 
widersprochen  hat ;  wenn  wir  ferner  gesehen  haben, 
welchen  historischen  Bedingungen,  welchen  Anteceden- 
tien  in  der  Entwicklungsreihe  der  philosophischen  Syste- 
me dieses  „Ding  an  sich'*  sein  illegitimes  Dasein  ver- 
dankt ;  wenn  wir  endlich  zu  der  Ueberzeugung  gekom- 
52men  ü  sind,  daß  dieser  Unbegriff  vor  Allem  gegründete 
Ursache  zu  Angriffen  gegen  die  Kantische  Philosophie 
gegeben  hat,  und  daß  dieselbe,  wenn  jener  entfernt 
wird,  in  ihren  wesentlichen  Hauptsätzen  unwiderlegt 
und  unwiderleglich  ist,  —  so  bleibt  uns  noch  eine  letzte 
Frage  übrig,  deren  Beantwortung  für  uns  von  wesent- 
lichem Interesse  sein  muß  und  uns  zugleich  bei  Ge- 
legenheit dieses  ganzen  Problemes  einen  tiefen  Blick 
in  unsere  geistige  Natur  eröffnen  wird.  Diese  Frage 
lautet: 

Welches  sind  die  subjectiven,  psychi- 
schen Bedingungen, unter  denen  überhaupt 
Kant  zur  Annahme  seines  „Dings  an  sich" 
kommenkonnte? 

Die  Antwort  hierauf  wird  jene  oben  (pag.  31  und 
39)  versprochene  Deduction  a  priori  des  „Dings  an 
sich"  enthalten.  — 

Aus  den,  im  Anfange  dieses  Kapitels  entwickelten 
Grundsätzen  der  kritischen  Philosophie  waren  wir  zu 
folgendem  allgemeinen  Resultate  gekommen:*)  Subject 
und  Object  der  Erkenntniß  stehen  in  durchgängiger  Re- 
lation zu  einander,  sind  unzertrennliche  Factoren,  noth- 
wendige  Correlate  der  Erkenntniß.  Es  existirt  also 
weder  etwas  unabhängig  Subjectives  (Ich  an  sich),  noch 


*)  Siehe  oben  pag.  23  und  24. 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  51 

ein  unabhängig  Objectives  (Ding  an  sich).  Mit  einander 
verbunden  sind  Subject  und  Object  durch  die  allge- 
meinen und  nothwendigen  Formen  des  Vorstellens  und 
Erkennens,  Raum,  Zeit  und  Kategorien  ;  innerhalb  des 
Gebietes  dieser  Formen  bewegt  sich  der  Intellect,  ent- 
wickelt sich  die  Welt,  das  All;  ein  anderes  Gebiet 
ist  uns  nicht  nur  unbekannt,  sondern  geradezu  u  n  - 
denkbar.  Wie,  fragen  wir,  ist  nun  dennoch  die  Mög- 
lichkeit gegeben,  daß  dieser  so  beschaffene  Intellect  aus 
seinen  nothwendigen  Formen  hinauszugehen  strebt,  da 
er  sich  doch  gar  keine  anderen  vorstellen  kann?  Dies 
ist  die  Frage,  oder  vielmehr  das  Räthsel.  Wir  beginnen 
auch  hier  mit  den  allgemeinsten,  ein- 1|  fachsten  und  be-  53 
kanntesten  Thatsachen,  wie  es  Kant  und  Sokrates  zu 
thun  pflegten.  *)  — 

Wenn  du  mit  einem  Kinde  in  der  freien  Natur  spa- 
zieren gehst,  so  wird  es  über  allerlei  ihm  auffallende 
Gegenstände  diese  und  jene  Frage  an  dich  richten.  Denn 
ihm  ist  die  weite,  mannigfaltige  Welt  noch  nicht,  so 
wie  dir,  eine  alte  Bekannte,  deren  Eigenschaften  man 
in  langjährigem  Umgange,  wenn  auch  nicht  alle  ken- 
nen, so  doch  gleichgültig  betrachten  gelernt  hat.  Das 
Kind  erblickt  z.  B.  die  dicht  über  dem  Horizont  stehen- 
de, große,  rothglänzende  Scheibe  des  Vollmondes.  Da 
es  diese  Erscheinung  noch  nie  wahrgenommen  hat,  so 
wird  es  fragen :  ,,Was  ist  das  ?*'  Du  wirst  ihm  ant- 
worten:  „Das  ist  der  Mond";  und  mit  kindlichem  Er- 
staunen wird  es  diese  Belehrung  hinnehmen.  —  Oder 
es  reitet  Jemand  auf  steinigem  Wege  schnell  an  Euch 
vorüber,  so  daß  der  Hufschlag  des  Pferdes  Funken  von 
den  Steinen  aufsprühen  läßt.  Das  Kind  fragt:  „Woher 
kommt  das?"  und  du  wirst  antworten:  „Das  kommt 
daher,  weil  Eisen  an  Stein  geschlagen  glühende  Stück- 

*)  onoze  <fs  aviög  tl  rw  Adj/w  die^ioi,  Siu  töüv  ^aAtata  ofxoXo- 
yovfieviov  inoQeveto,  vo^iQojv  zavTriv  tiqy  aag)ci^eiay  slvai  Xoyov.  Xeno- 
phont.  memor.  IV.  6. 

4=f; 


52  Erstes  Kapitel. 


chen  verspritzt."  —  Auf  diese  Antworten  hin  ist  in 
der  Seele  des  Kindes  Folgendes  vorgegangen :  Die 
niedrigstehende,  größer  als  gew^öhnlich,  und  rothglän- 
zend erscheinende  Mondscheibe  ist  durch  die  gemein- 
same Benennung  mit  der  hochstehenden,  kleineren, 
silberglänzenden  indentificirt  worden.  Damit  hat  also 
„der  Mond"  für  das  Kind  eine  weitere  Bedeutung  er- 
halten, ist  ihm  zum  gemeinsamen  Inhaber  des  schon 
vorher  bekannten  und  des  jetzt  wahrgenommenen  Zu- 
standes,  zum  Subsistens  geworden,  welches  verschiede- 
ner, wechselnder  Inhärenzien  theilhaftig  oder  fähig  ist ; 
54  kurz,  in  der  Seele  des  Kindes  ist  auf  den  il  Mond  in 
Beziehung  auf  jene  verschiedenen  Erscheinungen  oder 
Zustände  die  Kategorie  der  Substanzialität 
angewendet  worden.  —  Im  zweiten  Falle  hat  es 
als  allgemeine  Regel  gelernt,  daß  durch  das  Zusammen- 
treffen von  Eisen  und  Stein  die  Funken  entstehen,  daß 
beides  sich  zu  einander  verhält,  wie  Ursache  und  Wir- 
kung, d.  h.  es  ist  in  Beziehung  auf  dieses  Ereigniß  die 
Kategorie  der  Causalität  zur  Anwendung 
gekommen.  Je  geweckter  nun  das  Kind  ist,  um  so 
weniger  wird  es  sich  bei  den  ersten  Antworten  be- 
gnügen. Es  wird  z.  B.,  befremdet  über  jene  verschiede- 
nen Erscheinungsarten  des  Mondes,  weiter  fragen,  wo- 
her diese  rühren,  oder  auch,  was  denn  der  Mond  eigent- 
lich sei.  Oder  im  anderen  Falle  wird  es  wissen  wollen, 
wie  denn  das  Eisen  dazu  komme,  glühende  Stückchen 
vom  Steine  abzuschlagen,  und  was  denn  nun  für  Be- 
standtheile  und  Eigenschaften  in  Eisen  und  Stein  ver- 
borgen liegen,  u.  s.  w.  —  Indem  du  nun  bei  Gelegen- 
heit dieser  geistigen  Vorgänge  in  der  Kindesseele  einen 
Blick  zurückwirfst  in  deine  eigene  intellectuelle  Ver- 
gangenheit, auf  die  Genesis  deiner  geistigen  Bildungs- 
stufe, wirst  du  inne  werden,  daß  du  die  Höhe 
deiner  gegenwärtigen  Gesammtbildung  er- 
reicht hast  durch  stufenweise  aufsteigende 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  53 

Abwechselung  ineinandergreifender  Fra- 
gen und  Antworten.  Freilich  pflegt  man  bei  unse- 
rem Culturzustande,  je  älter  man  wird,  desto  weniger 
seine  (auf  eigentliche  Belehrung  zielenden) 
Fragen  an  andere  Menschen  zu  richten  ;  aber  desto 
mehr  an  Bücher,  an  den  eigenen  Verstand  oder 
an  die  unmittelbaren  Objecte  der  Natur  und 
der  Kunst.  Immer  aber  ist  alle  geistige  Entwicke- 
lung  ihrem  innersten  Kern  nach  nichts  Anderes  als  jenes 
wechselnde  Fragen  und  Antwortfinden;*)  und  je  schnel- 
ler, beharrlicher,  vielsei-lltiger  und  unermüdlicher  dieses  55 
Fragestellen  und  Antwortsuchen  in  einem  Subjekte  vor 
sich  geht,  für  um  so  intelligenter  ist  es  zu  halten. 

Es  ist  nun  zu  bemerken,  daß  nach  Analogie  der 
beiden  obigen  Fragen  des  Kindes  (so  lange  es  sich 
allein  um  objective  Gewißheit,  um  eine  theo- 
retische Erkenntniß  handelt)  immer  nur  dies 
Beides  gefragt  wird :  „Was  ist  das  ?"  und :  „Woher 
kommt  das?"  In  philosophische  Redeweise  übersetzt, 
heißt  dies:  Der  menschliche  Intellect  bewegt 
sich  fortwährend  in  den  Kategorien  der 
S  u  b  s  t  a  n  z  i  a  1  i  t  ä  t  und  C  a  u  s  a  1  i  t  ä  t.  *"'^)  Ich  bin  hier 
des  Einwurfs  gewärtig,  daß  man  nothwendige  und  all- 
gemeine Verstandesfunctionen  (synthetische  Urtheile  a 
priori)    nicht   so    auf    empirisch -inductivem    Wege    ein- 


*)  Man  denke  nur  an  den  für  alle  Erkenntnißtheorie  so  wichtigen 
Theätet  des  Platon,  der,  so  lange  Menschen  denken,  nie  veralten 
wird.    Dort  findet  sich  die  merkwürdige  Stelle: 

-£ß.   To  Je  &iayo£iaS-cei  «p  ,  öneo  eyio,  xaXeTs', 

®EAI.   TL  xa'Awv; 

a-yconfj.  (ttg  ye  fii]  eideis  oot  ctnoipaLvo^ai.  rovzo  yctq  fiot  iydäXXerai 
dicivoovniEvr],  ovx  nXlo  ti  rj  diaXeyead-ac,  avzri  ectvTrjy  SQOJTdiaa 
xcel  anoxQivo^Evr]  xz'A.    Theaetet,  189. — conf.  Sophistes,  263. 

**)  Eine  dritte  Frage  ist  das  »Wozu?"  Die  Antwort  darauf 
enthält  den  Zweckbegriff.  Da  dies  aber  eine  in  das  praktische 
Gebiet  gehörige  Kategorie  ist,  so  sehen  wir  hier  von  ihr  ab. 


54  Erstes  Kapitel. 


führen  dürfe.  Indessen  liegt  es  hier  auch  gar  nicht  in 
unserer  Absicht,  eine  Begründung  der  Katego- 
rienlehre zu  geben.  Die  Kategorienfrage  ist  hier, 
wie  sich  zeigen  wird,  von  secundärem  Interesse,  ist  nur 
Mittel,  um  uns  zur  Beantwortung  der  Hauptfrage  über- 
56 zuführen.")  Was  uns  hier  in- II  teressirt,  ist  eben  nur 
dies,  daß  die  Kategorien,  als  allgemeine  synthetische 
Erkenntnißformen,  nicht  unmotivirt  aus  dem  Subject  in's 
Object  hinübergreifen,  sondern  daß  sie  vielmehr  erst 
durch  das  Bedürfniß  nach  Erkennen  und  Wissen,  zuerst 
unbewußt,  in  Wirksamkeit  gesetzt,  allmählich  dann 
durch  üebung  und  Gewohnheit  concret  zum  Bewußtsein 
gebracht  werden,  bis  sie  endlich  als  abstracte  Begriffe 
aus  dem  lebendigen  Vorstellen  ausgesondert  und  erfaßt 
werden  können  ;  daß  sie,  auf  irgend  welches  Motiv  in 
der  Frage  erstrebt  werden,  in  der  Antwort  zu  anschau- 
licher Geltung  kommen  ;  überhaupt  aber,  daß  das  ab- 
stracte Erkennen  nicht  die  erste  Thatsache  des  Geistes 
ist,  sondern  aus  dem  Gebiete  des  unmittelbaren  Vorstel- 
lens,  der  unsagbaren  Empfindung  erweckt  und  hervor- 
getrieben wird. 

Die  Frage  also  geht  dem  Akte  des  Erkennens  vor- 
aus, der  uns  die  Antwort  gibt.    Worin  aber  besteht  jede 


*)  Eine  Deduction  oder  Begründung  der  Kategorien  liegt  ganz 
außer  dem  Bereiche  dieser  Abhandlung,  welche  allein  einen  kritischen 
Zweck  hat.  Beiläufig  nur  Folgendes:  Daß  es  die,  unabhängig  von 
aller  Erfahrung  gegebene  Ueberzeugung  von  der  Nothwendigkeit  jener 
allgemeinsten  Synthesen  ist,  was  Kant  unter  Apriorität  verstand,  und 
was  ihnen  den  Charakter  der  „Kategorie"  verleiht,  ist  schon  bemerkt 
worden.  Alle  Synthesis  aber  bezieht  sich  auf  Anschauungen.  Nun 
sind  Raum  und  Zeit  als  allgemeine  Formen  aller  Anschauung  gegeben. 
Im  Charakter  des  Raumes  liegt  das  träge  Nebeneinander,  in  dem  der 
Zeit  das  rastlose,  fließende  Nacheinander.  In  ihrer  Combination  sind 
folgende  Fälle  die  allgemeinsten:  Entweder  ich  suche  das  nothwendig 
räumlich  Beharrende  im  zeitlichen  Wechsel  —  Substanzialität; 
oder  ich  suche  das  nothwendige  zeitliche  Aufeinanderfolgen  am  räum- 
lich Beharrenden  —  Causalität. 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  55 

Frage?  Wenn  jemand  über  irgend  welchen  Punkt  eine 
Frage  an  uns  richtet,  so  müssen  wir  voraussetzen,  daß 
er  über  denselben  im  Ungewissen  ist,  ferner,  daß  er 
diese  Ungewißheit  unangenehm  fühlt  und  daher  durch 
Gewißheit  zu  vertreiben  wünscht ;  formulirt  er  das  Re- 
sultat dieser  subjectiven  Gefühle  in  abstracten  Vorstel- 
lungen, in  Worten,  so  entsteht  die  Frage,  mit  der  er 
sich  nun  dahin  wendet,  wo  er  Antwort  erwartet,  sei 
dies  ein  Mensch,  oder  ein  physikalisches  Experi- 1|  ment  57 
oder  sonst  Etwas.  Es  kommt  hierbei  nicht  darauf  an,  an 
welcherlei  Adresse  er  sich  wendet,  sondern  nur  darauf, 
daß  in  allen  Fällen  der  Erkenntniß  eine  Frage  voran- 
geht, der  dann  das  Erkennen  als  Antwort  folgt  und  Ge- 
nüge  thut.  —  Wenn  wir  nun  diesen  psychischen  Vor- 
gang, der  als  unmittelbarer  Grund  der  Erkenntniß  an- 
zusehen ist,  fixiren  und  begrifflich  zerlegen,  so  ergeben 
sich  in  ihm  folgende  Bestandtheile : 

1)  Gefühl  der  Ungewißheil  (Sokratische  äyvoca). 

2)  Befremden  hierüber  (Platonisches  d^avfid^stv). 

3)  Streben  nach  Beseitigung  der  Ursache  des  Be- 
fremdens durch  Erlangung  des  Wissens  {g)doßo(pta). 

Hieraus  entspringt  die  formulirte  Frage.  Dies 
ist  der  Quell  alles  Erkennen  s. 

Die  Art  der  Erkenntniß  nun,  welche  man  ,, Philo- 
sophie'' zu  nennen  pflegt,  hat  das  Eigenthümliche,  daß 
das  Object,  wonach  sie  fragt,  was  sie  zu  erkennen 
strebt,  allgemeinste  Ideen,  nicht  aber  relativ  gleichgül- 
tige Einzelnheiten  sind  ;  daß  sie  auf  die  innere  Einheit 
des  Weltganzen,  den  Kosmos  zielt,  daß  daher  jener  psy- 
chische Proceß  im  großen  Maßstabe  vor  sich  geht.  — 
Es  ist  das  eine  Wahrheit,  welche  ich  keineswegs  hier 
zum  ersten  Male  dargelegt  zu  haben  mir  einbilde ;  aber 
klar  und  bündig  erfaßt,  gedacht,  ausgesprochen,  in  alle 
begrifflichen  Einzelnheiten  zerlegt  hat  sie  wohl  noch 
Niemand.     Piaton  sagt:  {.idXa  ydg  (pi?.oa6(fov  coito  n) 


56  Erstes  Kapitel. 

ndi^og,  CO  ^avfxd^eiv *) ;  Kant  legt  der  praktischen 
Vernunft  „das  Primat"  bei  im  Verhältniß  zur  theore- 
tischen Vernunft  oder  dem  Intellect ;  Fichte,  Schel- 
ling,  Schopenhauer  sehen  den  Intellect  als  etwas 
58  Secundäres  an.  In  alledem  klingt  die  Wahrheit  ü  dunkel, 
einseitig  und  halb  mit,  wie  ein  unvollkommenes  Echo  ; 
nirgends  aber  ist  sie  bis  auf  den  Grund  verfolgt ;  nir- 
gends ist  nachgewiesen  worden,  wie  denn  eigentlich  der 
Geist  aus  der  unmittelbaren  und  stummen  Ruhe  des  in- 
tuitiven Vorstellens  zum  Erkennen  überhaupt,  zum  Ab- 
strahiren  und  Denken  komme.  Wir  also  haben  gesehen, 
daß  die  Veranlassung  hierzu  durch  jenen  psychischen 
Vorgang  gegeben  wird,  dessen  unmittelbarer  Ausdruck 
die  Frage  ist.  Ohne  vorhergehende  Frage  ist  keine 
Antwort  (d.i.  Erkenntniß)  denkbar;  ohne  sie  würde 
die  ganze  Mannigfaltigkeit  der  inneren  und  äußeren  Er- 
fahrung (Mikrokosmos  und  Makrokosmos)  gleichgültig 
an  uns  vorübergehen,  wie  an  dem  todten  Spiegel ;  ja 
wir  würden,  was  sich  leicht  einsehen  läßt,  gar  nicht 
einmal  zum  Selbstbewußtsein  kommen  können.  —  Hier- 
auf gründet  sich  denn  auch  sowohl  die  iia/svzfxy)  'ctjvr^ 
des  Sokrates  in  seinen  philosophischen  Gesprächen,  als 
die  ganze  dialogische  Darstellung  des  Piaton,  insbeson- 
dere die  metaphorische  Behauptung,  daß  alles  Lernen 
Erinnerung  sei  —  i.idi)rfiic  dvdf.iv7]<jig.  Indem  nämlich 
darauf  gerechnet  wird,  daß  jeder  die  Fragen,  welche  an 
ihn  gerichtet  werden,  sich  selbst  in  Gedanken  mitstellt, 
übernimmt  in  jenen  Dialogen  der  Weisere  die  Rolle  des 
Fragers  und  befördert  in  dem  Schüler  den  Denkproceß 
(der  ja,  wie  gesagt,  ein  aus  Fragen  und  Antworten 
zusammengeketteter  Monolog  ist)  dadurch,  daß  er  durch 
passende  Aufeinanderfolge  der  Fragen  ihn  weder  vor 
der  Zeit  ermüden,  noch  die  Richtung  verfehlen  läßt,  da- 


*)  Theaetet.  11,  155.  D.  a.a.O.  conf.:  Aristotel.  Metaphys.  I. 
2.  dia  yaQ  zu  d-c(vaü'C,etf  ol  avd-Qumoi  xai,  vvf  xcd  to  noMioy  iiq^civto 
fpiXoGocpely.  a.  a.  O. 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  57 

mit  zugleich  Stumpfheit  und  Verworrenheit  des  Denkens 
beseitigt  und  dem  Schüler  ad  oculos  demonstrirt,  wie 
er  durch  zweckmäßige  und  beharrliche  Ausübung  seines 
Denkmonologs  Gedanken  aus  sich  zu  produciren  im 
Stande  ist,  von  denen  er  sonst  Nichts  ahnte.  — 

Sehen  wir  nun  von  den,  relativ  gleichgültigen, 
Fragen  des  täglichen  Lebens  ab,  welche  meistens  nicht 
aus  speculativen,  son- 1|  dern  aus  praktischen  Motiven  59 
hervorgehen  und  von  ephemerem  Interesse  sind,  be- 
trachten wir  nur  die,  welche  rein  um  des  Erkennens 
und  Wissens  willen  gestellt  und  in  der  Wissenschaft 
beantwortet  werden,  so  findet  es  sich,  daß  es  nur  zwei 
allgemeinste  (rein  theoretische)  Fragen  gibt,  welche 
schon  oben  in  Einfalt  ein  kindlich  Oemüth  an  uns  rich- 
tete,  nämlich : 

1)  Was  ist  das? 

2)  Woher  kommt  das  ? 

Indem  die  theoretische  Vernunft  diese  Fragen  voll- 
ständig zu  beantworten  sucht,  wird  sie  von  Stufe  zu 
Stufe,  vom  Besondern  zum  Allgemeinen  getrieben  ;  sie 
sucht  ein  immer  höheres  Was  und  ein  immer  tieferes 
Woher.  Dies  eben  ist  es,  was  Kant  so  ausdrückt :  ,,Wenn 
„das  Bedingte  gegeben  ist,  so  ist  auch  die  ganze  Reihe 
„einander  untergeordneter  Bedingungen,  die  endlich 
„selbst  unbedingt  ist,  gegeben,"  und  „der  eigenthüm- 
„liche  Grundsatz  der  Vernunft  überhaupt  ist :  zu  dem 
„bedingten  Erkenntnisse  des  Verstandes  das  Unbedingte 
„zu  finden,  womit  die  Einheit  desselben  vollendet 
wird.'**)  Gerade  hierin  auch  hat  Schopenhauer  die 
Kantische  Philosophie  weder  verstanden,  noch 
erklärt,  noch  verbessert,  sondern  ungerecht  getadelt.**)  H 


''■)  Kr.  d.  r.  V.  pag.  307.  a.  a.  O. 

**)  Arthur  Schopenhauer  behauptet  in  seiner  Kritik  der  kantischen 
Philosophie,  Kant  habe  hierin  Unrecht,  und  „der  Satz  vom  zu- 
reichenden Grunde'    fordere    immer    .nur   die  Vollständigkeit   der 


58  Erstes  Kapitel. 


60  Es  ist  aber  das  Eigenthümliche  des  theoretischen 
Intellects,  daß  er,  wenn  irgend  ein  Gebiet  des  Wissens 
durch  abwechselndes  Fragen  und  Antworten  erforscht 
und  erkannt  ist,  schließlich  doch  nie  mit  einer 
Antwort  aufhört,  sondern  immer  mit  einer 
Frage.  —  Verfolgen  wir  dies  an  einem  Beispiel.  Ich 
habe  einen  Baum  vor  mir.  Zunächst  betrachte  ich  ihn 
eben  als  Ganzes  seiner  sinnlichen  Theile  und  Eigen- 
schaften nach  der  Seite  des  „Was",  und  als  aus  lauter 
Anlagen  und  Keimen  entwickelt  nach  der  Seite  des  „Wo- 
her.'' Auf  die  Dauer  aber  wird  mir  dies  schwerlich  ge- 
nügen ;  ich  kann  weiter  fragen,  tiefer  forschen ;  ich 
werde  die  physikalischen,  chemischen,  vegetabilischen 
Gesetze,  Kräfte,  Vorgänge,  welche  in  diesem  Natur- 
producte  wirken  und  über  das  Samenkorn  hinaus,  aus 
dem  es  entstand,  in  unabsehbare  Vergangenheit  hinab 
gewirkt  haben,  verfolgen  können.  Wenn  es  nun  aber 
auch  gelänge,  eine  erschöpfende  Einsicht  in  die  Bestand- 
theile  und  das  innere  Getriebe  zu  gewinnen,  als  deren 
Product  und  Ganzes  eben  dieser  Baum  vor  mir  er- 
scheint ;  —  würde  ich  mich  dabei  beruhigen  können  ? 
Würde  ich  nicht  vielmehr  hier  nach  den  langen,  er- 
schöpfenden Untersuchungen  der  Wissenschaft  doch  ge- 
nächsten Bedingung,  nie  die  Vollständigkeit  einer  Reihe'. 
D.  Welt  a.  W.  u.  V.  B.  I.  pag.  572.  Diese  Behauptung  klingt  ungefähr 
so,  als  wenn  Jemand  sagen  wollte:  .Um  in  dieser  Höhe  über  dem 
.Erdboden  fest  zu  ruhen,  bedarf  der  Architrav  nur  des  Kapitals."  Das 
ist  eine  kurzsichtige,  oder  mindestens  unvollständige  Ausdrucksweise. 
Architrav  und  Kapital  würden  zusammen  niederstürzen,  wenn  nicht 
Letzteres  vom  Säulenschaft,  dieser  vom  Piedestal  und  dieses  wiederum 
vom  Erdboden  getragen  würde.  Man  könnte  vielleicht  den  obigen 
Satz  Kants  am  Besten  so  fassen:  „Es  ist  ein  Postulat  der  Vernunft, 
.daß  sie  bei  einem  regressus  in  indefinitum  die  Reihe  einander  be- 
„dingender  Zustände,  deren  Resultat  das  Gegenwärtige  ist,  voll- 
, ständig  finde,  so  weit  sie  auch  zurückgreifen  mag.'  Wer  sich  abei 
nach  Schopenhauerscher  Methode  immer  mit  der  Vollständigkeit  nur 
der  nächsten  Bedingungen  begnügte,  der,  in  der  That,  wäre  un- 
glaublich beschränkt,  ein  wahres  Monstrum  von  Bornirtheit 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  59 

rade  wiederum  in  jenes  Gefühl  der  Ungewißheit,  die 
äyvoia  und  das  i^avfid^siv  verfallen,  welches  der  Quell 
der  Frage,  das  subjective  Motiv  aller  Erkenntniß  ist? 
Hier  hilft  es  Nichts,  wenn  man  dem  Geiste  Stillstand 
gebietet ;  es  treibt  ihn  fort  von  Frage  zu  Antwort  und 
er  würde  in  der  Frage  stehen  bleiben,  selbst  wenn  er 
wüßte,  daß  eine  Antwort  nicht  zu  [|  erwarten  wäre.  Denn  61 
auch  in  dieser  Hinsicht  gilt  der  Ausspruch  des  Bacon : 
Incogitabile  est,  ut  sit  aliquid  extremum  aut  extimum 
Mundi,  sed  quasi  necessario  occurrit,  ut  sit  aliquid  ul- 
terius.  *)  —  Es  ist  offenbar,  meine  Untersuchung  hört 
hier  mit  der  Frage  auf:  „Ja,  was  ist  denn  nun  aber  der 
tiefere  Grund,  die  höhere  Einheit,  die  alle  jene  physi- 
kalischen, chemischen,  vegetabilen  Kräfte,  Gesetze,  Vor- 
gänge verbindet,  dazu  nöthig,  zur  Production  dieses  ein- 
zelnen Baumes  sich  zu  vereinigen  ?  Wie  kommt  der 
Baum  dazu,  Früchte  zu  tragen,  aus  denen  seines  Glei- 
chen wieder  entstehen  können  ?  —  Ja  endlich  —  was 
ist  und  wie  wirkt  denn  das  Ganze,  dessen  unbedeuten- 
der Theil  dieser  einzelne  Baum  ist,  die  unendliche,  er- 
habene Natur?  Was  vereint  und  bindet  ihre  Gesetze, 
was  überhaupt  treibt  sie,  in  Wirksamkeit  zu  treten  ?" 
—  Hier  muß  nun  der  theoretische  Intellect,  wenn  er 
gegen  sich  selbst  ehrlich  sein  will,  achselzuckend  ge- 
stehen:  „Non  possumus  !  Ich  weiß  keine  Antwort!"  — 
So  ist  es  durchgängig  in  aller  Geistesthätigkeit  und 
speciell  in  allen  Wissenschaften,  So  nehmen  z.  B.  die 
Optiker  als  Erklärung  der  sichtbaren  Empfindungsquali- 
täten, des  Lichtes  und  der  Farben,  gewisse  Undulationen 
des  Aethers  an.  Hierbei  ist  zunächst  zu  bedenken,  daß 
die  Undulationen  und  der  Aether,  selbst  wenn  sie  nach- 
gewiesen wären,  nicht  allein  hinreichen  würden,  das 
Dasein  jener  Qualitäten  in  der  Empfindung  zu  erklären, 
sondern  daß  hiezu  als  Correlat  das  Auge  gehört,  ohne 


*)  Nov.  Organ.  I,  48. 


60  Erstes  Kapitel. 

welches  die  Aetherschwingungen  nimmermehr  „Farbe" 
hervorbringen  würden.  Erst  aus  dem  Zusammenwirken 
von  Auge  und  Aetherschwingung  würden :  „blau,  roth, 
hell,  dunkel  u.  s.  w."  entstehen,  und  wenn  man  entweder 
das  Auge  oder  die  hypothetische  Aetherschwingung  hin- 
wegnähme, würden  jene  Qualitäten  z  u  Nichts  ver- 
schwinden. Nun  aber  weiter !  Jene  Schwingungen  der 
62  Aethertheilchen  und  der  Aether  selbst,  welche  !j  man 
in  den  Lichterscheinungen  als  Correlat  des  subjectiven 
Organs,  des  Auges,  annimmt,  —  habe  ich  sie  wahr- 
genommen? Nein!  Vielmehr  habe  ich  sie  hinzu- 
gedacht. Gesetzt  aber  auch,  es  würde  auf  irgend 
einer  hohen  Entwicklungsstufe  der  Wissenschaft  mög- 
lich, die  Undulationen  des  Aethers  in  der  sinnlichen 
Wahrnehmung  nachzuweisen,  was  wäre  im  Grunde  ge- 
wonnen ?  Sofort  würde  sich  von  Neuem  die  Frage  nach 
dem  „Was*'  und  „Woher''  einstellen,  als  deren  mög- 
liche Antwort  ich  wiederum  bemüht  sein  würde,  ein 
neues  hypothetisches  Correlat  zu  suchen.  Immer  würde 
die  Untersuchung  mit  einer  Frage  enden. 
Nun  bedenke  man  ferner  Folgendes :  Hätten  wir  statt 
unseres  Auges,  welches  Organ  der  Lichterscheinung  ist, 
ein  anderes  Organ,  das  die  Fähigkeit  hätte,  die  mag- 
netischen Kräfte  in  unmittelbarer  Empfindung 
wahrzunehmen,  also  statt  des  Lichtauges  ein  mag- 
netisches Auge,  so  würde  die  ganze  sinnliche  Welt 
eine  andere.  Die  Licht-  und  Farben-Qualitäten  wären 
verschwunden,  und  statt  ihrer  eine  Reihe  anderer  Em- 
pfindungen und  Qualitäten  hervorgetreten,  von  deren 
Art  wir  jetzt  gar  keine  Ahnung  haben.  So  stehen  wir 
am  Ende  immer  wieder  bei  den  Fragen,  die  wir  im 
Anfang  stellten :  „Was  ist  das  eigentlich  ?  Woher  kommt 
dieses  Alles?"  So  gräbt  und  sucht  der  Intellect  nach 
immer  tieferen  Ursachen,  allgemeineren  Substraten,  hilft 
sich  mit  Hypothesen  und  sucht  sie  zu  befestigen,  — 
und  dann : 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  61 

Encheiresin  naturae  nennt's  die  Chemie, 
Spottet  ihrer  selbst  und  weiß  nicht  wie. 

Endlich  aber,  wenn  wir  nun  mit  Kant  zu  der  tiefen 
Einsicht  gekommen  sind,  daß  Raum,  Zeit  und  Katego- 
rien Functionen  des  Intellectes  sind,  daß  die  ganze 
Welt,  diese  empirisch-reale,  nichts  Unabhängiges,  son- 
dern unzertrennliches  Correlat  des  Subjects  der  Er- 
kenntniß  ist,  dann  wird  sich  jene  Ungewißheit,  jenes 
Staunen  am  peinlichsten,  die  Frage  am  dringendsten 
einstellen.  Es  wird  ||  uns  dann  diese  bekannte  Welt  63 
durchweg  als  ein  ungeheueres  Räthsel  erscheinen  ;  uns 
wird,  wie  Arthur  Schopenhauer  treffend  sagt, 
zu  Muthe  sein,  wie  „Jemanden,  der,  er  wüßte  gar 
„nicht  wie,  in  eine  ihm  gänzlich  unbekannte  Gesell- 
„schaft  gerathen  wäre,  von  deren  Mitgliedern,  der  Reihe 
„nach,  ihm  immer  eines  das  andere  als  seinen  Freund 
„und  Vetter  präsentirte  und  so  hinlänglich  bekannt 
„machte,  er  selbst  hätte  unterdessen,  indem  er  jedes- 
„mal  sich  über  den  Präsentirten  zu  freuen  versicherte, 
„stets  die  Frage  auf  den  Lippen :  „Aber  wie  Teufel 
„komme  ich  denn  zu  der  ganzen  Gesellschaft?"*) 

Kurz  also,  wir  sehen :  Unser  Wissen  kann 
nur  mit  einer  unbeantworteten  Frage  auf- 
hören. Wir  finden  uns  nach  so  vielem  und  langen 
Fragen,  Forschen,  Antworten,  Erkennen,  trotz  aller  er- 
worbenen Einsicht,  am  Ende  immer  wieder  in  Dem, 
womit  wir  begannen:  in  der  ayvoia.  oder,  wie  es  der 
scharfsinnige  theologische  Skeptiker  Nicolaus  Cusa- 
n  u  s  treffend  bezeichnet,  in  der  „docta  ignorantia.'' 
Die  Frage  ist  das  Ende  des  Wissens,  wie  sie  dessen 
Ursprung   war. 

Wenn  wir  nun  aber  nicht  ehrlich  gegen  uns  selbst 
sind,  wenn  wir  unser  Unvermögen  zu  einer  endgültigen 
Antwort    nicht    eingestehen,    sondern    dem    fragenden 


*)  A.  Schopenhauer.    Die  Welt  als  W.  u.  V.  Bd.  I.  pag.  117. 


62  Erstes  Kapitel. 


Selbst  vorspiegeln  wollen,  wir  könnten  ein  positives 
Etwas  als  tiefsten  Grund  dieses  in  Raum  und  Zeit 
wirkenden  und  ausgebreiteten  Kosmos  angeben,  dann 
fingirt  sich  unser  Intellect  ein  x,  das  nicht  räumlich, 
nicht  zeitlich,  nicht  durch  die  Kategorien  geordnet  und 
erkennbar,  also  für  uns  überhaupt  nicht  vorstellbar  ist, 
ein  Ding,  welches  wir  nicht  als  Ding  erkennen  —  kurz 
ein   „Ding  an  sich".  — 

Da  haben  wir  es  denn!  Das  „Ding  an  sich"  ist 
gar  nichts  Anderes,  als  das  Unding,  welches  der  in 
64  einer  Frage  endigende  In-||tellect  am  letzten  Ende  sich 
als  Antwort  hinzuträumt,  ein  leeres,  unvollendbares 
Haschen  nach  irgend  einem  Phantasiebild  ohne  Dauer 
und  Gestalt,  welches  vor  der  Wißbegier  des  Menschen- 
geistes ewig  zurückweicht,  wie  der  Apfel  vor  dem 
Munde   des   Tantalus.  *) 

Im  Allgemeinen  kann  man  sich  die  Ungereimtheit 
dieses  leeren  Scheinbegriffes  (um  eine  scherzhafte  Ana- 
logie anzuwenden)  daran  anschaulich  machen,  daß  der 
abstracte  Intellect  in  dem  Gedanken  des  „Dings  an 
sich",  als  der  Bedingung  dessen,  wodurch  er  selbst 
erst  xaz'  svkQysiav  bedingt  ist  (der  räumlich-zeitlichen 
Welt),  als  sein  eigener  Großvater  auftritt. 
Gehen  wir  aber  näher  auf  die  begrifflichen  Bestand- 
theile  desselben  ein,  so  frage  ich :  Wassoll  man  sich 
unter  einem  Etwas  vorstellen,  das  weder 
räumliche  Ausdehnung  hat,  noch  sich  an 
irgend  einem  Orte  befindet,  weder  eine 
Zeit  lang  dauert,  noch  vergangen,  gegen- 
wärtigoder  zukünftigist,  das  weder  Eigen- 
schaften hat,  noch  selbst  Eigenschaft 
eines    Andern    ist,    endlich   weder   Wirkung 


*)  Dieses  ahnend  sagt  der  Platonische  Sokrates:  zovto  ^ev  di} 
navTÜnaai  ^eyaXonQsntag  ^vysxtoQrjaa/xey,  ovd  iniaxeipccf^eyoi  to 
advvuTov  elvat,  a  Tis  f^rj  oide  /j,r]dafj,wg,  ravTcc  sldevai 
a^üygyETTojs.  Platon.  Charmid;  175. 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  63 

einer  Ursache,  noch  Ursache  einer  Wir- 
kung ist?  Ein  solches  Ding  ist  nichts  Anderes,  als 
ein  Messer  ohne  Klinge,  dem  das  Heftfehlt. 
Es  ist  also  nicht  nur  ein  leerer,  sondern  überhaupt 
gar  kein  Begriff.  —  Hätte  Kant  nur  einigermaßen 
herzhaft  diesen  Pseudobegriff  analysirt,  anstatt  immer 
scheu  darum  herumzutasten,  so  hätte  er  ihn  wegwerfen 
müssen,  wie  wir  hier  gethan  haben.  Es  bestätigt  sich  so 
an  ihm  das,  was  er  selbst  sagt:  ,,Ich  merke  nur  an, 
„daß  es  gar  nichts  ungewöhnliches  sei,  sowohl  im  ge- 
„meinen  Gespräch,  als  in  Schriften,  durch  die  Verglei- 
„chung  der  Gedanken,  welche  ein  Verfasser  über  seinen 
„Gegenstand  ||  äußert,  ihn  sogar  besser  zu  verstehen,  65 
,,als  er  sich  selbst  verstand,  indem  er  seinen  Be- 
„griff  nicht  genugsam  bestimmte,  und  da- 
,,  durch  bisweilen  seiner  eigenen  Absicht 
„entgegen  redete,  oder  auch  dachte,''*)  Das 
paßt  ganz  genau  !  — 

Uebrigens  hat  Kant  das  dunkle  Bewußtsein,  daß 
es  hier  mit  seiner  Lehre  nicht  ganz  sicher  ist.  Deshalb 
fällt  es  ihm  nicht  ein,  den  kategorischen  Impe- 
rativ aus  dem  „Ding  an  sich''  zu  deduciren  ;  sondern 
er  läßt  ihn  uneingeführt  aus  der  Welt  des  Gefühls  als 
deus  ex  machina  in  den  Intellect  hineinblitzen.  Deshalb 
nennt  er  auch  das  ,,Ding  an  sich"  einen  negativen, 
einen  Grenz-  Begriff,  und  gibt  sich  zuerst  das  An- 
sehen, als  wolle  er  es  nur  benutzen,  „um  die  Anmas- 
„sungen  der  Sinnlichkeit  einzuschränken."  **)  Aber  ab- 
gesehen davon,  daß  dieser  „negative"  Begriff  nachher 
eine  sehr  positive  Bedeutung  erhält,  kann  das  letzte, 
äußerste  Ziel  unseres  Intellects  überhaupt 
kein  Begriff  sein,  sondern  nur  eine  unbe- 
antwortete Frage,  ein  ungelöstes  Räthsel. 
Aus  einem  Besfriff  kann  man  unter  allen  Umständen 


*)  Krit.  d.  r.  V.    pag.  341.    **)  Krit.  d.  r.  V.  pag.  255. 


64  Erstes  Kapitel. 

noch  in  das  jenseitige  Gebiet  weiter  folgern  ;  aus  einer 
Frage  nicht.  Ja,  genau  genommen,  (so  sollte  man 
meinen)  darf  der  Intellect  hier,  wo  er  an  seinen  ewigen 
Grenzen  (Raum,  Zeit  und  Kategorien)  steht,  gar  nicht 
einmal  eine  Frage  formuliren,  weil  er  doch  a  priori 
überzeugt  sein  muß,  daß  es  eine  müßige,  nicht  zu  be- 
antwortende ist;  er  muß  in  der  äyvota  und  dem  iyav^dL,ei,v 
stehen  bleiben.  Und  in  der  That  wird  er  dies  auch. 
Es  ist  der  große,  unselige  Fehler  Kants,  daß  er  an  dieser 
entscheidenden  Stelle  der  Natur  des  menschlichen  In- 
tellects  und  seiner  eigenen  Lehre  in's  Gesicht  geschlagen 
hat.  — 

Wie  man  sieht,  treffen  hier  nun  am  Schlüsse  die 
historische  und  die  psychologische  Deduction 
des  großen  Fehlers  zusammen.  Auf  inductivem  Wege 
66  hatten  wir  in  jener  den  immer  weiter  hin- il  ausgescho- 
benen, und  deshalb  stets  leeren  Begriff  des  letzten, 
allgemeinsten  Weltgrundes  in  allen  Systemen  gefunden, 
und  hatten  aus  ihm  deducirt,  wie  die  kritische  Philo-- 
Sophie,  nachdem  sie  in  den  Erkenntnissen  a  priori  die 
letzte  und  äußerste  Grenze  alles  menschlichen  Erkennens 
und  Vorstellens  richtig  fixirt  hatte,  durch  Annahme  jenes 
leeren  Begriffes  in  den  transscendenten  Un- 
begriff  des  „Dinges  an  sich"  gerathen  war.  Auf  in- 
ductivem Wege  haben  wir  nun  andererseits  das  letzte 
subjective  Agens  des  Erkennens  in  dem  psychischen 
Proceß  der  Frage  gefunden,  und  aus  ihr  deducirt,  wie 
der  Intellect,  wenn  er  sie  in  transscendenter  Weise 
über  die  Grenzen  seines  Könnens  hinausdehnt,  als  vor- 
gebliche Antwort  eben  jenen  Unbegriff  des  „Dings  an 
sich"  sich  vorspiegelt. 

Hiermit  wäre  denn  unsere  Aufgabe  gelöst.  Es  sind 
einerseits  die  Bedingungen  vollständig  entwickelt,  unter 
denen  Kant  zu  jener  Inconsequenz  gekommen  ist;  es 
ist  damit  andererseits  der  Grenzpunkt  der  eigent- 
lich  consequenten   kritischen   Philosophie 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  65 

dargelegt,  und  so  der  Maßstab  für  die  Beurtheilung  der 
Nachfolger  uns  in  die  Hand  gegeben.  Wir  dürfen  es 
uns  jedoch  nicht  versagen,  noch  einige  kurze  Bemer-» 
kungen  hinzuzufügen,  welche  unsere  Untersuchung  in- 
sofern vervollständigen,  als  sie  gewissermaßen  den  me- 
taphysischen Ort  des  abstracten  Intellects  bestimmen. 

Mit  einer  Frage  beginnt  die  Erkenntniß  und  in 
einer  Frage  endigt  sie.  Für  den  abstracten  Intellect 
ist  nun  allerdings  eine  Frage  etwas  Unbefriedigendes, 
Halbes,  ja  Negatives.  Aber  der  menschliche  Geist 
besteht  so  wenig  nur  aus  abstractem  Erkennen  und  Re- 
flectiren,  daß  diesem  vielmehr  ein  Unmittelbares  in  der 
objectiven  Empfindung  und  im  subjectiven  Gefühl  vor- 
ausgehen muß,  ehe  es  zum  Fragen,  Erkennen,  abstracten 
Wissen  kommen  kann.  Wenn  nun  der  abstracte  Intellect 
in  der  letzten,  transscendenten  Grenzfrage  sich  bankerott 
erklären  muß,  so  ist  dieses  schmerzliche  II  Geständniß  67 
dem  Gefühl  fremd.  Denn  da  es  zwar  den  Anlaß  zur 
Frage,  und  auch  zu  der  letzten,  äußersten,  gibt,  aber 
doch  selbst  toto  genere  vom  abstracten  Erkennen  ver- 
schieden ist,  so  kann  es  sich  dort,  wo  das  Denken 
daran  verzweifeln  muß,  einen  Begriff  als  Antwort  zu 
finden,  ein  Surrogat,  gleichsam  eine  gefühlte 
Antwort  geben,  welche  in  Begriffe  zu  fassen,  zu 
denken,  freilich  unmöglich  ist.  —  Das  Denken  sucht 
dort  zu  erfassen, 

was  die  Welt 
Im  Innersten  zusammenhält. 

Aber  es  findet,  daß  es  in  Raum,  Zeit  und  Kategorien 
eingeschlossen  ist.  Das  Gefühl  hingegen  findet  hier 
in  einem  Positiven,  Unsagbaren  innere  Beruhigung  und 
Versöhnung,  in  Etwas,  das  sich  nicht  denken  und  aus- 
sprechen, sondern  nur  fühlen  läßt.  Hier  tritt  ihm 
gleichsam  der  d^eog  ä^oT^tog  der  Gnostiker  entgegen.  Das, 
von  dem  gesagt  wird : 

Neudrucke:    Liebmann,  Kant.  5 


66  .  Erstes  Kapitel. 


Ich  habe  keinen  Namen 
Dafür!     Gefühl  ist  Alles. 

Dies  ist  das  Eigenste  und  Innerste  der  Menschen? 
natur,  das  Räthsel  in  unserer  Brust,  das  Allerheiligste 
unserer  Seele,  das  in  Kunst  und  Religion  seinen  faß- 
baren, symbolischen  Ausdruck  findet.  Es  ist  Dasselbe, 
was  den  abstracten  Intellect  nach  begriffener  Wahrheit 
streben  und  ringen  läßt  in  der  Philosophie,  was  anderer- 
seits in  den  herrlichsten  und  tiefsten  Kunstwerken  der 
größten  Geister  immer  wiederkehrt.  —  Es  ist  das,  was 
in  Beethovens  neunter  Symphonie  unser  Innerstes 
durchwettert  und  durchbraust,  und,  —  nachdem  im  letz- 
ten Satze  der  angestrengte,  verzweifelte  Kampf  nach 
Versöhnung  zur  wilden,  furchtbaren  Dissonanz  ausge- 
artet ist,  —  erst  in  leisen,  tiefen  Tönen  ahnungsvoll 
uns  durchdringt,  dann  steigend  und  anwachsend  in 
immer  volleren  Accorden  uns  emporträgt,  bis  endlich 
die  kämpfende  Seele  sieghaft  mit  titanischer  Kraft  !l 
68  die  irdische  Last  von  sich  schleudert  und  in  schranken- 
losem, himmlischen,  transscendenten  Jubel  einzieht  zur 
Feier  des  ewigen  Weltfriedens.  —  Es  ist  das,  was 
Rafael  in  der  sixtinischen  Madonna,  nachdem  er  vor 
den  dürstenden  Blicken  der  Menschheit  den  Vorhang 
gelüftet,  aus  der  Glorie  eines  geahnten  Jenseits,  aus 
den  heiligen,  schüchternen  Augen  der  Jungfrau  uns  ent- 
gegenleuchten läßt.  —  Es  ist  das,  wonach  Goethes 
Faust  allüberall  vergeblich  sucht,  was  er  weder  im 
Reiche  der  Gedanken,  noch  in  der  niederen  Sphäre  der 
Sinnenlust  zu  finden  vermag,  und  was  ihm  endlich  nach 
langem  Lebenskampfe  beruhigend,  versöhnend  entgegen 
klingt: 

Alles  Vergängliche 

Ist  nur  ein  Gleichniß ; 

Das  UnzugängUche 

Hier  wird's  Ereigniß ; 

Das  Unbeschreibliche 

Hier  ist's  gethan. 


Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants.  67 

Hier  können  wir  das  Gesuchte  finden :  nicht  in 
Begriffen,  nicht  durch  den  abstracten  In- 
te 11  ect.  —  Bei  der  Vertiefung  in  eines  jener  Meister- 
werke erscheint  unserem  inneren  Blicke  das  erfreuliche, 
versöhnende  Licht ;  —  dann  erblaßt  und  verschwindet 
die  hastige  Neugier  des  Genießens  vor  dem  tiefen, 
heiligen  Ernste  des  Verstehens ;  das  ästhetische  Ver- 
gnügen wird  zur  ethischen  Arbeit.  Denn  wir  fühlen, 
daß  jenes  tiefste  Etwas  ausgesprochen  ist,  wonach 
unser  innerstes  Wesen  sich  sehnt,  was  unsere  Sehnsucht 
beruhigt  und  lindert,  wonach  aber  der  abstracte  In- 
tellect  vergeblich  forscht  und  fragt,  weil  es  etwas  nur 
Gefühltes,  nichts  Sagbares  oder  gar  Denkbares  ist. 
Gerade  deshalb  fühlen  wir  uns  nach  dem  Genüsse  eines 
solchen  Meisterwerkes  gehoben,  gleichsam  besser,  ge- 
läuterter, —  und  dann  doch  wieder  gedrückt ;  —  eine 
Seelenstimmung,  die  seltsam  aus  Seligkeit  und  Trauer 
gemischt  erscheint,  weil  wir  einerseits  in  der  That  inner- 
lich befriedigt  sind,  anderer-  il  seits  aber  uns  schmerzlich  69 
gehemmt  fühlen  durch  das  Unvermögen,  das  Genossene 
zu  erkennen,  d.  i.  durch  das  medium  des  fragenden 
Intellects  zu  begreifen. 

Der  abstracte  Intellect  muß  hier  verstummen.  Er 
steht  rathlos  da  mit  seiner  Frage  an  den  Weltgeist.  Die 
Frage  hat  er  freilich  frei,  aber  was  die  Antwort  an- 
geht, so  spricht  jener  Weltgeist  eine  andere  Sprache, 
als  er.  Sollte  er  ihm  aber  je  verständlich  antworten, 
so  würde  er  sprechen : 

Du  gleichst  dem  Geist,  den  du  begreifst, 
Nicht  mir! 

Wohl   aber  hüte   man   sich   vor   einer   sogenannten 

„Gefühlsphilosophie"   älajacobi,    Baader   u.  s.  w. 

Die    Philosophie   soll    erkennen   und   wissen,    das 

Gefühl  aber  ist  nicht  Organon  des  Erkennens.    Die  Er- 

kenntniß  hat  das  zum  ObjeT?>t^was  abstract  vorgestellt, 

in    Begriffe   gefaßt,   gedacht  werden   kann,   also   immer 

5* 


68  Erstes  Kapitel. 


ein  Allgemeines.  Das  Gefühl  wird  befriedigt  von  dem 
Unsagbaren,  Namenlosen,  schlechthin  Individuellen.  Ein 
„erkennendes  Gefühl"  aber,  oder  eine  „Gefühlsphilo- 
sophie" ist  ganz  analog  einem  „hörenden  Auge"  oder 
„sehenden  Ohr."  — 

Das  Kantische  „Ding  an  sich"  ist  der  verfehlte 
Versuch  des  abstracten  Intellects,  auf  eine  unbeant- 
wortliche  Frage  einen  Begriff  als  transscendente  Ant- 
wort zu  finden,  wo  uns  nur  dadurch  geholfen  werden 
kann,  daß  durch  anderweitige  Befriedigung  des  Gefühls 
der  Anlaß  zur  Frage  hinwegfällt.  Indem  der  Intellect 
jenen  Versuch  macht,  jene  undenkbare  Idee  zu  realisiren 
meint,  verfällt  er  in  den  Widerspruch,  etwas  Unvorstell- 
bares vorstellen,  ein  Undenkbares  denken  zu  wollen,  — 
begeht  er  die  iieräßaaig  dg  älXo  yevog  im  eminenten 
Sinne.  — 

Dies  ist  die  Bedeutung  und  das  Schicksal  des  Kanti- 
schen „Dings  an  sich." 


Zweites  Kapitel.  70 


Die  idealistische  Richtung. 
Fichte,  Schelling,  Hegel. 

Multo  plus  veritatis  inveniri  arbitrabar  in  iis  ra- 
tiocinationlbus,  quibus  singuli  homines  ad  sua  negotia 
utantur,  quam  in  iis,  quas  doctor  aliquis  otiosus  in 
Musaeo  sedens  excogitavit  circa  entia  rationis,  — 
ex  quibus  nihil  aliud  exspectat,  nisi  forte,  quod  tanto 
plus  inanis  gloriae  sit  habiturus,  quo  illae  a  veritate 
ac  sensu  communi  erunt  remotiores ;  quia  nempe 
tanto  plus  ingenii  atque  industriae  ad  eas  verisiniiles 
reddendas  debuerit  impendere. 

Cartesii  Dissertat.  d.  Method. 

Nachdem  wir  im  vorigen  Abschnitte  die  K  a  n  t  i  - 
sehe  Lehre,  mit  ihrem  immanenten  Irrthume,  als  die 
leuchtende  Sonne  betrachtet  haben,  deren  Strahlen  sich 
nach  verschiedenen  Richtungen  hin  in  die  moderne 
deutsche  Philosophie  ergießen,  wenden  wir  uns  zunächst 
zu  jener  Richtung,  welche  man  xax'  8ioxt\v  die  idea- 
listische nennen  darf.  Mit  ihr  gerade  machen  wir 
deshalb  den  Anfang,  weil  sie  historisch  Kanten  am 
nächsten  steht,  besonders  aber  auch,  weil  sie  auf  jeder 
ihrer  drei  Entwicklungsstufen,  die  in  ununterbrochener 
Reihe  auseinander  hervorgiengen,  bei  Eingeweihten  und 
Laien  sich  das  größeste  Ansehen  zu  erringen  gewußt 
hat.  Bei  dieser  Betrachtung  ist  es  dem  in  der  Einleitung 
(pag.  14 — 16)  entwickelten  Plane  gemäß  nöthig,  daß 
wir  für's  Erste  von  den  letzten  Resultaten  des  vor- 
hergehenden Kapitels  absehen,  d.  h.  die  Kantische 
Lehre,   ohne   des   nachgewiesenen    Fehlers   zu   geden- 


70  Zweites  Kapitel. 


71  ken,  so  hinnehmen,  wie  |i  sie  ist,  und  nun  mit  unpar- 
teiischem Blicke  aus  ihr  sich  die  Gedankenreihe  ent- 
wickeln lassen,  welche  direct  zu  Fichtes,  Schel- 
lin g  s  und  Hegels  Systemen  geführt  hat.  Unsere 
Kritik  wird  immer  dann  erst  eingreifen,  wenn  nach  Ab- 
lauf eines  Gedankenkreises  der  immanente  Widerspruch 
in  seinen  Folgen  klar  zu  Tage  getreten  ist.  —  Zunächst 
also  müssen  wir  uns  die  Entwicklung  des  Fichte- 
schen Standpunktes  aus  der  Kantischen  Lehre 
vergegenwärtigen.    Der  Gedankengang  ist  folgender : 

Daß  für  mich  eine  empirische,  objective  Welt 
überhaupt  existire,  ist,  wie  Kant  nachgewiesen  hat, 
nothwendig  bedingt  durch  meinen  Intellect  und  die 
Gesetze  desselben  ;  ohne  diese  würde  ich  weder  von 
mir  noch  von  der  äußeren  Welt  irgend  Etwas 
wissen.  Aber  nicht  bloß  daß,  sondern  auch  was 
ich  von  ihr  weiß,  hängt  nach  Kant  von  der  Art  meines 
Erkenntnißvermögens,  den  Functionen  meines  Intel- 
lects  ab,  welche  a  priori,  d.  i.  im  Subject  gegeben 
sind,  und  außerhalb  derer  nichts  Empirisches  existiren 
kann.  Innerhalb  jener  subjectiven  Erkenntnißformen 
tritt  uns  nun  die  sinnliche  Mannigfaltigkeit  ent- 
gegen, welche,  durch  die  Kategorien  zu  räumlich-zeit- 
lichen Objecten  vereinigt,  uns  als  Welt  erscheint  und 
so  in  der  Erfahrung  als  etwas  ,, Gegebenes**,  d.  i. 
scheinbar  ohne  unser  Zuthun  Daseiendes,  gegenüber- 
steht. Abgesehen  aber  davon,  daß  die  nothw^endigen 
Grundformen  dieser  „gegebenen**  Welt  der  Objecte 
nichts  Anderes  sind,  als  Functionen  meines  eige- 
nen, intelligenten  Subjects,  wird  mir  doch 
auch  das  sinnliche,  empirische  Material  der  Objecte 
nur  durch  meine  Empfindung  geliefert;  es  ist 
also  nicht  nur  das,  was  a  priori,  sondern  auch  das, 
was  a  posterioriin  den  Bereich  der  Erkenntniß 
tritt,  durch  subjective  Geistesvermögen  ge- 
liefert; und  darauf  deutet  schon   Kant  selbst  hin, 


Die  idealistische  Richtung.  71 

indem  er  eine  „ge- 1!  meinsäme  Wurzel  der  beiden  72 
„Stämme  menschlicher  Erkenntniß,  Sinnlichkeit  und 
„Verstand*'  erwähnt.*)  Jene  gemeinsame  Wurzel  liegt 
eben  offenbar  in  meinem  eigenen  Subject,  welches 
als  Receptivität  mir  sinnliche  Empfindungen  lie- 
fert und  als  Spontaneität  diese  sinnlichen  Em- 
pfindungen zu  anschaulichen  Gegenständen  verknüpft. 
Ich  bin  mir  freilich  im  Acte  des  sinnlichen  Empfindens 
selbst  immer  eines  Zwanges,  eines  Leidens  bewußt, 
ohne  die  Ursache  desselben  zu  kennen,  so  daß  die 
Empfindungen  von  außen  zu  kommen,  durch  ein 
unabhängig  von  mir  seiendes  Etwas  meiner 
Sinnlichkeit  überliefert  zu  werden  scheinen  ;  und  jenes 
anticipirte  unabhängige  Etwas  hat  Kant  ,,Ding  an 
sich"  genannt.  Aber  es  liegt  nicht  im  Sinne  Kants, 
daß  dasselbe  wirklich  unabhängig  sei,  sondern  nur, 
daß  es  so  gedacht,  vom  Subject  gesetzt  werde. 
Wenn  also  die  Skepsis  hierin  eine  Inconsequenz  des 
Kriticismus  findet,  da  dieser  weder  wisse,  ob  das, 
was  er  „Erscheinung**  nennt,  nicht  ,,an  sich**  sei, 
noch  auch  die  Kategorie  der  Causalität  auf  etw^as 
außerhalb  der  Formen  des  Intellects  Stehendes  anwen- 
den dürfe,  so  muß  darauf  hingewiesen  werden,  daß 
bei  Kant  selbst  das  Ding  an  sich  nur  ein  theoretisches 
Postulat  der  Vernunft  ist.  Denn  Kant  behauptet  nicht, 
daß  es  etwas  vom  Subject  Unabhängiges  gebe,  son- 
dern daß  wir  ein  Solches  als  intelligibelen  Grund  der 
Erscheinung  anzunehmen  gezwungen  sin  d.**) 
—  Wir  sehen  also,  daß  Alles,  was  für  uns  ist,  aus 


*)  Kr.  d.  r.  V.  pag.  15. 
**)  Ueber  den  Begriff  der  Wissenschaftslehre  von  J.  G.  Fichte, 
edit.  II.  1798.  Vorrede:  »Der  Verfasser  dieser  Abhandlung  wurde 
.durch  das  Lesen  neuerer  Skeptiker,  besonders  des  Aenesidemus 
„und  der  vortrefflichen  Maimon  sehen  Schriften  überzeugt,  daß  die 
»Philosophie  noch  nicht  zum  Range  einer  evidenten  Wissenschaft  er- 
hoben sei."  u.  s.  w. 


72  Zweites  Kapitel. 


73  dem  Sub-|ljecte  stammt,  und  etwas  Anderes,  als  was 
für  uns  ist,  kennen  wir  nicht.  Alles  Objective  erhält 
seine  Dignität  nur  dadurch,  ist  nur  deshalb  real,  weil 
ihm  die  Realität  vom  Subjecte  beigelegt  wird.  Ich 
aber,  das  Subject,  bin  meiner  mir  bewußt  als  eines 
innerlich  und  wesentlich  identischen,  einen 
Ich 's,  und  diese  Einheit  des  Selbstbewußtseins  ist 
wiederum  Bedingung  alles  Erkennens  und  Vorstellens. 
Auch  dies  hat  Kant  bereits  erwähnt,  indem  er  sagt : 
„daß  Alles  empirische  Bewußtsein  eine  nothwen- 
„dige  Beziehung  habe  auf  ein  transscendentales  (vor 
„aller  Erfahrung  vorhergehendes)  Bewußtsein,  näm- 
„lich  das  Bewußtsein  meiner  Selbst,  als  die  ursprüng- 
„liche  Apperception",  und  daß  „der  synthetische  Satz : 
,, Alles  verschiedene  empirische  Bewußtsein  muß  in 
„einem  einigen  Selbstbewußtsein  verbunden  sein, 
„schlechthin  erster  synthetischer  Grün d- 
„satz  unseresDenkens  überhaupt  sein  müsse."*) 
Aber  er  hat  das  nur  beiläufig  erwähnt;  er  hat  jenen 
Satz  nicht  bestimmt  als  Grundsatz  aufgestellt;**)  er 
hat  weder  das  empirische  Bewußtsein  wirklich  aus 
dem  transscendentalen  abgeleitet,  noch  die  angedeu- 
tete gemeinsame  Wurzel  von  Sinnlichkeit  und  Ver- 
stand klar  beleuchtet,  noch  auch  die  Entstehung  der 
Functionen  unseres  Intellects  aus  dem  transscenden- 
talen Subjecte  des  Erkennens  dargelegt  und  ent- 
wickelt. Trotzdem  er  aber  alles  dieses  nicht  selbst 
unternommen,  sondern  nur  angedeutet  hat,  so  findet 
sich  doch  in  seiner  Lehre  der  Punkt  ganz  genau  be- 
zeichnet, von  dem  aus  dies  geschehen  muß.  —  Wenn 
wir  nämlich  in  der  Betrachtung  des  eigenen  Subjects 
noch   höher  steigen,  so  finden  wir,   daß   Kant  außer 

74  dem,  bisher  nur  in  Betracht  gezogenen,  ||  theoreti- 


*)  Krit.  d.  r.  V.  pag.  117.  Anmrkng. 

**)  Grundlage  der  gesatnmten  Wissenschaftslehre  von  J.  G.  Fichte 
edit.  II.  1802.  pag.  14. 


Die  idealistische  Richtung.  73 

sehen  Gebrauche  der  Vernunft,  oder  der  Intelligenz, 
einen  praktischen,  oder  ein  freies  Handeln  kennt, 
welches  uns  unmittelbar  im  moralischen  Pflichtgebote, 
im  kategorischen  Imperativ  zum  Bewußtsein  kommt. 
Dieses  freie  Handeln  führt  das  Primat 
über  die  Intelligenz*),  es  ist  das  Noumenon,  wel- 
ches der  Intelligenz  als  Phänomenon  **),  der  intelli- 
gibele  Charakter,  welcher  unserem  empirischen  zu 
Grunde  liegt***);  es  ist  als  solches  absolut,  spontan, 
frei  f ),  den  Gesetzen  und  Formen  des  theoretischen 
Intellects  (Raum,  Zeit  und  Kategorien)  nicht  unter- 
worfen, da  diese  vielmehr,  wie  überhaupt  alle  Er- 
kenntniß  und  alles  Bewußtsein  durch  jenes  bedingt 
werden  ;  kurz,  es  ist  der  eigentliche  Kern,  das  trans- 
scendentale  Wesen  und  Centrum  des  Subjects,  —  das 
absolute  Ich.  — 

Aus  diesem  Allen  geht  nun  hervor,  daß  Kant 
zwar  sämmtliche  Stücke  geliefert  hat  zu  dem  System 
der,  aus  dem  innerlich  identischen,  einen  Subjecte 
durch  dessen  freie  Thätigkeit  sich  entwickelnden, 
Mannigfaltigkeit  von  Objecten,  daß  er  aber  dieses 
System  selbst  aus  dem  gefundenen  Material  nicht 
wirklich  aufgebaut,  daß  er  (ich  weiß  nicht  aus  wel- 
chen Gründen)  nicht  Alles  gesagt  hat,  was  er  wußte ; 
wie  denn  aus  seinen  eigenen  Aussprüchen  hervorgeht, 
daß  er  „in  seinen  Kritiken  die  W^issenschaft  nicht, 
„sondern  nur  die  Propädeutik  derselben  aufstellen 
„wollte."  tt)    Da  nun  das  Subject,  mein  frei  handeln- 


*)  Kritik  d.  praktischen  Vnft.  1788.  pag.  218.  a.  a.  O. 
■^*)  Krit.  d.  r.  V.  pag.  546. 
•"**)  Kr.  d.  r.  V.  pag.  551. 
t)  Kr.  d.  pr.  V.  pag.  72.  84. 
tt)  Grundlage  d.  g.  W.  pag.  142.  Anmkng.    Fichte  bezieht  sich 
an  dieser  Stelle  unter  Anderem  auf  das,   was  am  Schlüsse  der  Kr.  d. 
r.  V.  und  in  der  Vorrede  zu  den  Prolegomenen  gesagt  wird.    Freilich 
ein  Mißverständniß,   wogegen   sich  Kant   in   einer  öffentlichen  Erklä- 
rung verwahrt.    Siehe:  Jenaische  Allgem.  Litteraturzeitung.  1799.    In- 


74  .      ■  Zweites  Kapitel . 


75  des  und  II  erkennendes  Ich,  wesentlich  Einheit  ist, 
so  ist  es  ein  Erforderniß,  ein  Postulat  der  Vernunft, 
dieses  System  des  absoluten  Ich  auszu- 
führen. Und  indem  ich  an  die  Aufstellung  dieses 
Systems  gehe,  trete  ich  nur  die  Erbschaft  der  Kanti- 
schen  Philosophie   an.   — 

Damit  hat  Fichte  einen  festen  Standpunkt  zu  einer 
neuen  eigenthümlichen  Speculation  gewonnen.  Er  ist 
überzeugt,  daß  alle  die  Fäden,  die  in  Kants  Lehre 
noch  nebeneinander  laufen,  in  einem  absoluten  Ich 
sich  vereinen  und  verknüpfen  lassen  müssen; 
und  indem  er  alles  Das,  was  (nach  seiner  Ansicht) 
Kant  theils  halb,  theils  dunkel,  theils  zusammenhang- 
los gibt,  mit  rücksichtsloser  Energie  des  Gedankens 
hervorzieht  und  mit  kräftigem  Griffe  zusammenfaßt,  ist 
er  in  dem  festen  Glauben,  nur  im  Geiste  des  Meisters 
zu  handeln.  —  Wenn  sich  nun  auch  im  Verlaufe  unserer 
Betrachtung  herausstellen  sollte,  daß  Fichte  trotz- 
dem geirrt  hat,  weil  er  Kants  Lehre  nicht  sorgfältig 
genug  prüfte,  bevor  er  sie  fortzubilden  unternahm,  daß 
er  mit  der  stürmenden  Gewalt  seines  Denkens  die  be- 
hutsame, sorgfältige  Schärfe,  welche  gerade  in  der  Auf- 
suchung der  Principien  nöthig  ist,  überrannt  und 
zermalmt  hat,  so  kann  ich  doch  nicht  umhin,  hier  aus- 
drücklich zu  bekennen,  daß  ich  ihm  die  aufrichtigste 
Hochachtung  zolle,  —  nicht  zwar  wegen  der  Resul- 
76 täte  seines  Denkens,  aber  wegen  ||  dessen  Tendenz; 
weil  es  ihm  in  der  That  Ernst  war  mit  der  Wahr- 
heit, weil  aus  jedem  seiner  Worte  der  Eifer  eines 
Ehrenmannes,    der    echte,    wirkliche    Enthusiasmus    des 


telligenzblatt  Nr.  109.  Dort  heißt  es:  „Hierbei  muß  ich  bemerken, 
„daß  die  Anmaßung,  mir  die  Absicht  unterzuschieben:  ich  habe  bloß 
„eine  Propädeutik  zur  Transscendental-Philosophie,  nicht  das  System 
„dieser  Philosophie  selbst  liefern  wollen,  mir  unbegreiflich  ist.  Es 
„hat  eine  solche  Absicht  mir  nie  in  Gedanken  kommen 
„  könn  en  u.  s.  w." 


Die  idealistische  Richtung.  75 

nach  Gewißheit  trachtenden  und  ringenden  Geistes  her- 
vorleuchtet. 

He  was  a  man,  take  him  for  all  in  all. 

Beseelt  von  der  innigen  Ueberzeugung,  nur  im 
Geiste  Kants,  den  er  hoch  verehrte,  fortgearbeitet  zu 
haben,  schreitet  er  einher,  wie  der  menschgewordene 
kategorische  Imperativ  selbst.  Und  wie  ich  daher  ihm 
und  seinem  Streben  meine  Hochachtung  widme,  so  mag 
ich  andererseits  nicht  verhehlen,  daß  ich  die,  ihm  von 
Schopenhauer  widerfahrene  Unbill,  für  durchaus 
unverzeihlich  halte.  —  *) 

Verfolgen  wir  nun  zunächst,  wie  sich  sein  eigener 
Gedankengang  aus  dem,  oben  abgeleiteten,  Prinzip  ent- 
wickelt. 

Das  absolute  Ich  ist  also  der  Punkt,  von  dem 
alles  Erkennen  ausgeht,  aus  dem  alles  Wissen  entspringt 
und  mit  dem  also  die  Wissenschaft  des  Wissens  oder 
Wissenschaftslehre  beginnen  muß.  Dieses  ab- 
solute Ich  ist  nicht  jenes  im  gewöhnlichen,  empirischen 
Selbstbewußtsein  vorkommende,  welches  jedem  Kinde 
mit  der  Sprache  und  dem  Denken  zugleich  aufgeht  und 
es  dann  durch's  Leben  begleitet,  nicht  das  bloße  Sub- 
ject  in  allen  Vorstellungen  ;  es  ist  vielmehr  etwas  viel 
tiefer  Liegendes,  das  primum  movens  unserer  ganzen, 
moralischen  und  intellectuellen  Persönlichkeit,  aus  dem 
das  empirische  Selbstbewußtsein  producirt  wird,  ||  aus  77 
dem  die  Erkenntnißformen,  welche  wir  als  That- 
sachen  vorzufinden  meinen,  Raum,  Zeit  und  Katego- 


*)  Schopenhauer,  der  die  eigenthümliche  Manie  hat,  jedem  der 
nachkantischen  Philosophen,  der  nicht  mit  seinen  Ansichten  überein- 
stimmt, einen  besonderen  Spitznamen  beizulegen,  nennt  Fichten 
einen  „Windbeutel."  Abgesehen  davon,  daß  jene  Manie  etwas  ganz 
Tactloses,  Unpassendes,  ja  Unanständiges  ist,  kann  dieser  Beinamen 
nicht  einmal  eine  treffende  Persiflage  genannt  werden,  er  schlägt 
durchaus  fehl.  Viel  eher  hätte  man  Fichten  einen  „Polterer"  nennen 
können.    Doch  —  Scherz  bei  Seite! 


76  Zweites  Kapitel. 


rien,  erst  als  Thathandlungen  entspringen.  Das  abso- 
lute Ich  ist  freies  Handeln,  reine  Thätigkeit ;  seine 
ursprünglichen  Thathandlungen  erzeugen  in  theo- 
retischer Hinsicht  jene  a  priori  erkannten  Formen  des 
Intellects,  in  praktischer  das  moralische  Pflichtgebot, 
den  kategorischen  Imperativ.  Es  ist,  wie  gesagt,  der 
intelligibele  Charakter,  der  dem  empirischen  vorausgeht. 
Wir  freilich  werden  uns  unserer  zunächst  als  einer  em- 
pirischen, vergänglichen  Erscheinung  bewußt.  Bevor 
dies  aber  möglich  ist,  muß  das  empirische  Selbstbewußt- 
sein, welches  zwar  freilich  in  allem  Vorstellen  gegen- 
wärtig und  mit  sich  identisch  ist,  doch  selbst  erst  her- 
vorgebracht sein  ;  das  absolute  Ich,  als  tieferer  Grund 
meiner  eigenen  Persönlichkeit,  muß  es  aus  sich  er- 
zeugen. Daser  ist  der  erste,  schlechthin  un- 
bedingte Grundsatz  der  Wi  ss  e  n  seh  af  ts- 
lehre:  „Das  Ich  setzt  das  Ich,  oder  Ich  = 
Ich,"  d.h.  die  Identität  des  Selbstbewußt- 
seins ist  eine  That  des  absoluten  Ich. 

Diese  Identität  des  Selbstbewußtseins  geht  allem 
Erkennen  und  allen  Formen  des  Erkennens,  selbst  den 
logischen  Grundgesetzen,  als  Bedingung  voraus.  So  er- 
hält namentlich  auch  der  Satz  der  Einerleiheit  A  =  A 
(unter  den  scheinbar  jener  oberste  Grundsatz:  Ich  = 
Ich  zu  subsumiren  ist)  erst  seine  Berechtigung  von 
jenem.  Denn  was  ist  es  denn,  das  auch  in  dem  ersten 
logischen  Princip  berechtigt,  das  Gleichheitszeichen  zwi- 
schen die  beiden  A  zu  setzen  ?  Offenbar  nur  die  Iden- 
tität des  Selbstbewußtseins.  Denn  w^enn  mein  Ich  in 
diesem  Augenblicke  nicht  identisch  wäre  mit  dem  Ich 
im  vorangegangenen  und  nächstfolgenden  Zeitpunkte, 
so  würde  jene  logische  Identität  gar  nicht  ausgedacht 
werden  können,  der  Satz  A  =  A  würde,  ehe  er  aus- 
gesprochen wäre,  gewissermaßen  mir  auf  den  Lippen 
78  ersterben.  Kurz,  die  logische  Identität  ist  nur  J|  eine 
formale,    abstracte,    und    erhält    als    solche    ihre 


Die  idealistische  Richtung.  77 

Berechtigung  erst  von  der  transscendentalen 
Identität  des  Ich,  welche  eine  zugleich  formale  und 
m  a  t  e  r  i  a  1  e  ist.  Das  Ich,  welches  durch  und  durch 
Leben,  Thätigkeit  ist,  muß  sich  fortwährend  als  ein 
mit  sich  Identisches  reproduciren,  setzen.  Ohne  diese 
Reproduction  und  Selbstsetzung  wäre  es  kein  Ich; 
und  es  ist  also  dasselbe,  ob  ich  sage  ,,das  Ich  ist^' 
oder  „das  Ich  setzt  sich." 

Aber  es  ist  ferner  offenbar,  daß  das  intelligente 
Subject  oder  erkennende  Ich  nur  insofern  zu  wirklicher 
Aeußerung  seines  Wesens  kommen  kann,  als  es  ein  Ob- 
ject  seines  Erkennens  hat;  denn  ein  Vorstellen  ohne 
Vorgestelltes,  ein  Erkennen  ohne  Erkanntes  wäre  eine 
ganz  leere,  formelle  Thätigkeit  ohne  Anhalt  und  In- 
halt. Wenn  ich  bloß  die  Formen  des  Erkennens  hätte, 
ohne  daß  mir  etwas  gegeben  wäre,  worauf  ich  sie  an- 
wenden könnte,  so  wäre  sogar  das  Selbstbewußtsein 
unmöglich  ;  denn  dieses  besteht  wesentlich  in  der  Unter- 
scheidung des  Ich,  als  Subject  des  Erkennens,  von  dem 
erkannten  Object.  Deshalb  setzt  sich  das  absolute  Ich 
ein  Verschiedenes,  ein  Nicht-Ich  als  Object  gegenüber, 
und  wir  finden  so  als  zweiten,  seinem  Gehalte 
nach  bedingten  Grundsatz:  „Das  Ich  setzt 
sich  schlechthin  ein  Nicht-Ich  entgegen." 
—  Auf  diesem  Satze  beruht  ebenso  alle  logische  Ent- 
gegensetzung, wie  auf  dem  ersten  alle  logische  Iden- 
tität.  — 

Wenn  es  nun  aber  nothwendig  ist,  daß  dem  Ich, 
als  intelligenten  Subject,  ein  Nicht-Ich,  als  Object  der 
Erkenntniß,  gegenüber  gestellt  werde,  so  können  doch 
beide  nicht  toto  genere  verschieden  sein.  Denn  im  wirk- 
lichen Acte  des  Erkennens  sind  sie  ja  identisch ;  die 
Vorstellung  ist  die^  Einheit  von  Subject  und  Object.  Da 
nun  das  Ich  überhaupt  das  einzige  Wirkliche  ist,  und 
ich  außer  seiner  Sphäre  durchaus  gar  nichts  kenne,  so 
ist  es  klar,  daß  das,  dem  erkennenden  Subject  als  er- 


78  Zweites  Kapitel. 


79kanntes  Object  gegenübergesetzte  l!  Nicht-Ich  selbst  in 
die  Sphäre  des  absoluten  Ichs  hineinfallen  muß :  Das 
absolute  Ich  beschränkt  innerhalb  seiner  Sphäre  das  in- 
telligente Ich,  das  Subject  des  Selbstbewußtseins,  indem 
es  ihm  ein  Nicht-Ich  als  Object  entgegensetzt.  So  ge- 
winnen wir  den  dritten,  seiner  Form  nach  be- 
dingten Grundsatz:  „Ich  setze  im  Ich  dem 
theilbaren  Ich  ein  theilbares  Nicht-Ich  ent- 
gegen/* Auf  ihm  beruht  alle  logische  Einschränkung 
oder  Limitation. 

So  ist  das  Fundament  des  Systemes  gelegt.  Diese 
drei  Grundsätze,  die  unmittelbar  aus  dem  absoluten  Ich 
hervorgehen,  sind  die  Säulen,  auf  denen  die  ganze  Welt 
ruht.  Im  ersten  Satze  ist  als  Thesis  das  Selbstbewußte 
sein  gegeben,  im  zweiten  als  Antithesis  die  Selbst- 
unterscheidung, beide  werden  im  dritten  Satze  der 
Selbstbeschränkung  als  Synthesis  vereinigt.  —  Alle 
weitere  Speculation  besteht  nun  bloß  darin,  daß  man 
aufweist,  wie  durch  jene  drei  Grundsätze  Alles  bedingt 
ist,  was  in  das  Gebiet  des  Wissens  und  der  Wissen-* 
Schaftslehre   gehört.  —  *) 

Wenn  wir  nun  aber  den  bisherigen  Gedankengang 
Fichtes  betrachten,  so  muß  uns  Mehreres  auffallen, 
was  dem  natürlichen  Bewußtsein  theils  unbegreiflich, 
theils  geradezu  ^widersprechend  erscheint.  Zunächst  setzt 
Fichte  thatsächlich  schon  bei  der  Auffindung  seines 
ersten  Grundsatzes  die  Gültigkeit  der  logischen  Ge- 
setze voraus,  während  doch  ein  schlechthin  erster 
Grundsatz  seinem  Begriffe  gemäß  ohne  alle  Vor- 
aussetzung sein  muß.  Er  gesteht  dies  auch  offen 
ein,  verspricht,  die  logischen  Gesetze,  welche  er  schon 
vorausgesetzt  hat,  später  abzuleiten  und  erklärt  dieses 
Verfahren  für  „einen  noth  wendigen  Cirke  1."  **) 

80 —  Aber  ||  abgesehen    von    diesem    formalen    Bedenken, 


*)  Grundl.  d.  ges.  W.  L.  pag.  1  —  51. 
**)  ibid  pag.  3. 


Die  idealistische  Richtung.  79 

muß  uns  folgendes  materiale  aufstoßen.  Nach  Fichte 
setzt  das  absolute  Ich  nicht  bloß  das  Ich,  sondern  auch 
das  Nicht-Ich  ;  oder  mit  anderen  Worten :  nicht  allein 
unser  Subject,  sondern  auch  das  Object  ist  eine  That 
unseres  eigenen  intelligibeln  Subjects.  Nun  wird  zwar 
Jeder  zugeben  müssen,  daß  alles  Existirende,  Objective 
für  uns  ganz  allein  insofern  da  ist,  als  es  in  unser  Be- 
wußtsein tritt ;  schwerlich  aber,  daß  alle  in's  Bewußt- 
sein tretende  Vorstellungen  von  Gegenständen  durch  uns 
selbst  producirt  sind.  Wenn  ich  den  blauen  Himmel 
sehe,  so  werde  ich  freilich  bei  einiger  Ueberlegung  inne, 
daß  dieses  Gewölbe  und  diese  blaue  Farbe,  ohne  die 
bestehende  Einrichtung  meines  sinnlichen  Erkenntniß- 
vermögens  und  ohne  Aufnahme  in  mein  Bewußtsein, 
verschwinden  müßten,  und  daß  daher  in  diesem  Sinne 
mein  Subject  die  Bedingung  jenes  Objectes  ist;  daß 
aber  überhaupt  meinem  so  beschaffenen  In- 
tellect  ein  Object  entgegentritt,  welches  ich 
als  blauen  Himmel  vorstelle,  dies  werden  wir  nim- 
mer als  unsere  That  anerkennen  wollen; 
vielmehr  werden  wir  überzeugt  sein,  daß  jedes  Ob- 
ject ohne  unser  Zuthun  uns  „gegeben  wir d." 
Kurz,  das  „Was"  aber  nicht  „Daß",  das  „o,ti",  nicht 
aber  das  „oto"  des  Objects  werden  wir  auf  unsere 
Rechnung  schreiben.  — 

Hierauf  hat  nun  Fichte  entgegnet:  Dem  gewöhn- 
lichen Bewußtsein  erscheint  freilich  sowohl  das  logische 
Gesetz,  als  das  Dasein  eines  uns  gegenüberstehenden 
Objects  als  ohne  unser  Zuthun  gegeben.  Dies  kommt 
aber  allein  daher,  weil  das  gewöhnliche  Bewußtsein 
selbst  erst  mit  dem  Dasein  des  Objects  und  den  logi- 
schen Gesetzen  durch  freie  Thätigkeit  des  absoluten  Ich 
gesetzt  wird  und,  da  jene  freie  Thätigkeit  ihm  selbst 
vorausgeht,  nun  jenes  scheinbar  vom  Subject  Unabhän- 
gige vorfindet.  Die  Thätigkeit  des  absoluten  Ich 
fällt  eben   nicht  in   die   Sphäre   des   em- 1|  pirischen   Be-  81 


80  Zweites  Kapitel. 


wußtseins,  sondern  bedingt  dasselbe ;  und  deshalb  weiß 
dieses  nicht,  daß  mit  ihm  zugleich  die  Gesetze  der  In- 
telligenz und  das  Object  von  dem  absoluten  Ich  gesetzt 
werden. 

Wir  sind  also  an  das  „absolute  Ich"  gewiesen 
und  müssen  es  zur  Rede  stellen,  wie  es  denn  dazu 
kommt,  ohne  unser  Wissen,  gleichsam  hinter  unserem 
Rücken,  Thathandlungen  zu  begehen,  von  denen  wir 
keine  Ahnung  hatten.  —  Das  absolute  Ich  ist  kein 
ruhendes  Sein,  sondern  reine,  unendliche  Thätigkeit, 
Production  ;  als  solches  ist  es  nicht  „im  wirklichen  Be- 
„wußtsein  gegeben,  sondern  für  dasselbe  unerreich- 
„bar.''*)  Kant  selbst  soll,  nach  Fichtes  Ueber- 
zeugung,  unter  anderen  Prämissen  auch  vor  Allem  das 
absolute  Ich  „seinem  kritischen  Verfahren  stillschwei- 
gend zu  Grunde  gelegt  haben.''  **)  Dafür  sind  die 
Lehren  vom  „intelligibelen  Charakter'',  vom  „kategori- 
schen Imperativ"  u.  s.  w.  sprechende  Zeugnisse.  —  Nur 
ein  namhafter  Unterschied  zwischen  der  Kantischen  und 
Fichtischen  Theorie  des  Erkennens  tritt  hervor.  Während 
nämlich  Kant  die  Kategorien  und  Raum  und 
Zeit  als  Voraussetzung  alles  Erkennens, 
Speculirens  nachweist,  deducirt  Ficnxe 
die  Kategorieen  als  Thathandlungen  aus 
dem  absoluten  Ich  und  führt  Raum  und  Zeit 
erst  nachträglich  ein,  weil  er  „ihrer  bedarf,  um 
„die  idealen  Objccte  unterbringen  zu  können",  welche 
nämlich  schon  vorher  von  anderwärts  (aus  dem  abso- 
luten Ich)  gekommen  sind.***)  Da  nun  alle  jene  von 
Kant  aufgewiesenen  Functionen  des  Intellects,  jene  all- 
82  gemeinen  und  nothwendigen  Formen  des  Vor- 1!  stellens 


■■')  pag.  272. 
**)  pag.  249.  Anmkng. 
***)  Grundriß  d.  Eigenthümlich.   d.  Wissenschaftsl.  edit.  II.   1802 
pag.  81.  ff.  pag.  108.   Schlußanmerkung.  Vgl.  Grundr.  d.  ges.  Wissensch. 
pag.  141  u.  142.  Anmkg. 


Die  idealistische  Richtung.  81 

(Raum,  Zeit  und  Kategorien),  welche  immer  bei  jeder 
geistigen  Handlung  schon  vorausgesetzt  sind,  von 
Fichte  erst  aus  dem  absoluten  Ich  abgeleitet  wer- 
den, so  muss  offenbar  das  absolute  Ich,  als  Producent 
derselben,  ihnen  vorausgehen,  d.  h.  unabhängig  von 
ihnen  sein;  seine  Thathandlungen,  durch  die  jene  Func- 
tionen des  Intellects  erst  hervorgebracht  werden,  kön- 
nen ihnen  nicht  untergeordnet  sein,  dürfen  „gar  nicht 
„Thatsachen  des  Bewußtseins  werden,"  *)  So  steht  also 
das  absolute  Ich  gleichsam  als  unsichtbarer  Schauspiel- 
direktor hinter  den  Coulissen  des  Weltalls  und  läßt  an 
den  unsichtbaren  Fäden  seiner  absoluten  Thätigkeit  die 
bunten  Marionetten  auf  dem  theatrum  mundi  sich  vor 
unseren  Augen  bewegen.  Es  selbst  aber  ist  weder 
räumlich  noch  zeitlich,  noch  den  Katego- 
rien unterworfen;  es  ist  also  ein  Etwas, 
was  sich  nicht  vorstellen  läßt,  weil  es,  von 
allen  Formen  des  Vorstellens  emancipirt, 
diese  erst  erzeugt;  kurz,  es  ist  ein  alter  Be- 
kannter, nämlich  Niemand  anders,  als  das 
Kantische  „Ding  an  sich." 

Fichte  ist  sich  dessen  auch  sehr  wohl  bewußt 
und  nennt  deshalb  sein  absolutes  Ich  auch  „Ich  an 
sich",  was  eben  nichts  Anderes  bedeutet,  als  dasjenige 
„Ding  an  sich",  dessen  Erscheinung  Ich  bin.  Während 
er  daher,  von  den  gerechten  Angriffen  der  Skeptiker 
auf  die  Kantische  Inconsequenz  angeregt,  den  An- 
sprüchen derselben  dadurch  zu  genügen  sucht,  daß  er 
dem  „Ding  an  sich"  auf  der  Seite  des  Objects  sein 
selbständiges  Dasein  nimmt  und  es  zu  einem  Producte 
des  Ichs  macht**),  legt  er  unserem,  in  ||  Raum,  Zeit  und  83 


*)  pag.  2. 

**)  pag.  100.  141.  209.  vgl.  277.     „Dies,   daß  der  endliche  Geist 

.nothwendig  etwas  absolutes  außer  sich  setzen  muß  (ein  Ding  an  sich) 

,und  dennoch  von  der  anderen  Seite  anerkennen  muß,   daß  dasselbe 

.nur  für  ihn   da   sei   (ein  nothwendiges   Noumen  sei)  ist  derjenige 

Neudrucke:   Liebmann,  Kant.  5 


82  Zweites  Kapitel. 


Kategorieen  sich  bewegenden,  intelligenten  Subjecte 
selbst  ein  solches  Ding  an  sich  als  absoluten  Grund 
unter,  welches  den  Intellect  aus  sich  gebiert,  wie  Zeus 
die  Pallas  Athene,  wendet  dann  hierauf  ebenfalls  die 
Kategorie  der  Causalität  an  und  begeht  also  genau  den- 
selben Fehler,  den  Aenesidemus  an  Kant  gerügt 
hatte,  und  den  er  verbessern  wollte.  Wenn  man  über- 
haupt ein  von  den  Gesetzen  des  Intellects  unabhängiges 
,,Ding  an  sich"  gelten  ließ,  so  lag  es  allerdings  nahe, 
dasselbe  in  das  eigene  Subject  zu  verlegen,  oder  darin 
zu  suchen.  Denn  mein  eigenes  Ich  ist  dasjenige,  von 
dessen  Existenz  ich  die  sicherste  Kunde  zu  haben 
glaube  ;  da  nun  die  ganze  Welt  nur  ,, Erscheinung"  sein, 
durchgängig  von  meinem  Subject  abhängen  soll,  so  muß 
wohl  der  Kern,  das  Wesen,  das  „Ding  an  sich",  in, 
meinem  intelligibelen  Ich  selbst  liegen.  —  Aber  man 
soll  eben  das  bedenken  (was  wir  im  vorhergehenden 
Kapitel  dargelegt  haben),  daß  in  unserem  Vorstellen 
und  Erkennen  weder  etwas  unabhängig  Subjectives, 
noch  ein  unabhängig  Objectives,  sondern  immer  nur 
Subject  und  Object  als  unzertrennliche  Correlate  ge- 
geben sind.  —  Dahingegen  ist  Fichte  von  der  Kan- 
tischen Freiheitslehre,  von  dem  Primat  der  prak- 
tischen Vernunft,  (die  in  ihrer  eigenthümlichen 
Fassung  ohne  die  vorhergehende  fehlerhafte  An- 
nahme eines  „Dings  an  sich"  unmöglich  gewesen 
wären)  so  ergriffen,  daß  ihm  das  „absolute  Ich"  über 
allen  Zweifel  erhaben  dasteht.  Wer  nicht  daian  glaubt, 
gilt  ihm  für  flach  und  kurzsichtig.  In  dieser  Hinsicht 
bedient  er  sich  bekanntlich  des  drastischen  Ausdrucks, 
daß  ,,die  meisten  Menschen  eher  dahin  zu  bringen  sein 
„würden,  sich  für  ein  Stück  Lava  im  Monde,  als 
84  „für  ein  „Ich"  [scilicet  ab-llsolutes]  zu  halten."*) 

,CirkeI,  den  er  in  das  Unendliche  erweitern,  aus  welchem  er  aber  nie 
herausgehen  kann." 

*)  pag.  126.  Anmkg. 


Die  idealistische  Richtung.  83 

Nehmen  wir  ihn  beim  Worte!  Man  kann  sich  mit  eben 
so  vielem,  ja  mit  viel  mehr  Recht  anheischig 
machen,  ihm  seine  Kategorien  aus  der  Lava  im 
Monde,  als  aus  dem  „Ich  an  sich"  zu  deduciren. 
Denn  jene  Lava  wäre  doch  wenigstens  das  Object  einer 
möglichen  Erkenntniß,  das  „Ich  an  sich"  aber  ist. 
ein  außerhalb  der  Formen  alles  Vorstellens  Angenom- 
menes, eine  Vorstellung,  die  nicht  vorgestellt  werden 
kann,  ein  hölzernes  Eisen;  und  was  hieraus  dedu- 
cirt  werden  mag,  dessen  speculativer  Werth  liegt  be- 
deutend unter  dem  Nullpunkte.  —  Seiner  Hauptidee, 
dem  absoluten  Ich,  zu  Liebe,  läßt  sich  nebenbei  Fichte 
gänzlich  über  das  eigentliche  Wesen  der  kritischen 
Philosophie  verblenden,  sucht  er  das  charakteristische 
Merkmal  derselben  an  einer  ganz  falschen  Stelle.  — 
Das  Wesen  des  Kriticismus  besteht  nämlich  in  der  Ein- 
sicht, daß  wir,  bevor  an  irgend  welche  Speculation  ge- 
gangen wird,  genau  untersuchen  und  uns  Rechenschaft 
darüber  geben  müssen,  was  wir  überhaupt  zu  er- 
kennen vermögen,  welches  die  Formen, 
Funktionen,  Grenzen  unseres  Intellects 
sind;  daß  wir  die  Frage  an  uns  richten :  „W  a  s  kann 
ich  wissen?"*)  Daß  Kant  bei  der  Beantwortung 
dieser  Frage  unter  Anderem  auch  die  Apriorität 
(nicht  „den  Ursprung  aus  dem  Subject")  gewisser  all- 
gemeiner Vorstellungen  findet,  die  man  vor  ihm  für 
aus  der  Erfahrung  geschöpft  ansah,  gibt  unter  allen 
Umständen  seiner  Philosophie  nicht  den  kritischen, 
sondern  den  idealistischen  Charakter.  Weit  ent- 
fernt davon,  dies  einzusehen,  richtet  Fichte  jene  Frage 
nicht  an  sich,  sondern  speculirt  (ganz  unkritisch)  in's 
Blaue  hinein,  woraus  sich  nun  alle  seine  Widersprüche, 
vor  allem  aber  die  enorme  petitio  principii,  mit  der  er 
beginnt,  erklären  ;  und  dann  behauptet  ||  er  noch  obenein  :  85 


*)  a.  a.  O.  Kr.  d.  r.  V.  pag.  805. 


84  Zweites  Kapitel. 


„Das  Wesen  der  kritischen  Philosophie  bestehe  da- 
„rin,  daß  ein  absolutes  Ich  als  schlechthin 
„unbedingt  und  durch  nichts  Höheres  be- 
„s  timmbar  aufgestelltwerd  e."  *)  Weit  gefehlt ! 
—  Dieser  einzige  Satz  enthält  den  Keim  des  ganzen 
Fichteschen  Irrthums.  Aus  ihm  ersehen  wir  erstens, 
daß  er  nicht  gewußt  hat,  weshalb  Kant  seine  Lehre  den 
Kriticismus  nannte ;  dann  aber  wird  der  Begriff 
an  die  Spitze  der  Philosophie  gestellt,  der  allen  Wahr- 
heiten des  echten  Kriticismus  geradezu  widerspricht, 
der  von  allen  Gesetzen  und  nothwendigen  Formen  des 
Intellects  emancipirt  gedacht  werden  soll,  und  dann 
doch  in  demselben  Intellect  die  Hauptrolle  spielt,  eine 
besondere  Species  der  Gattung  „Ding  an  sich." 

Die  ganze  Wissenschaftslehre  aber  ist  von 
vornherein  ein  hypothetisches  Unternehmen;  sie 
ist  nämlich  der  versuchte  Nachweis,  wie 
das  Selbstbewußtsein  in  allen  seinen  Be- 
stimmungen aus  dem  „Ich  an  sich''  zu  dedu- 
ciren  sein  würde,  wenn  uns  ein  solches  „Ich 
an  sich"  überhaupt  bekannt  wäre.  Ein  solches  ist 
uns  aber  nicht  nur  nicht  bekannt,  sondern  es  ist  eine  sich 
widersprechende,  also  nichtige  Vorstellung.  Demnach 
fällt  Alles,  was  auf  diese  Annahme  gegründet  war, 
d.  i.  die  Wissenschaftslehre,  hinweg.  Schon  früh 
hat  Fichte  sein  Mißverständniß  schwer  gebüßt,  indem 
Kant  in  jener,  schon  oben  erwähnten,  unmittelbar  pro- 
vocirten  Erklärung  ihm  geradezu  sagt:  „daß  er  seine 
Wissenschaftslehre  für  ein  gänzlich  unhaltbares  System 
halte." 

Hiernach  sind  wir  vollkommen  zur  Anwendung  un- 
seres (in  der  Einleitung  pag.  14—16  aufgestellten)  kri- 
tischen Verfahrens  berechtigt.  Das  Resultat  unserer  Un- 
tersuchung lautet:  11 


*)  Grundl.  d.  ges.  W.  pag.  44. 


Die  idealistische  Richtung.  85 

Fichte  setzt  die  Kantische   Philosophie86 
voraus. 

Er  hat  die  Lehre  vom  „Ding  an  sich"  ge- 
kannt und  aus  den  skeptischen  Angriffen 
gegen  dieselbe  gewußt,  daß  sie  eine  Incon- 
sequenz  war. 

Er  hat  aber  durch  dieAufsteilung  eines 
„Ichs  an  sich"  denselben  Fehler  begangen, 
also  die  Kantische  Philosophie  in  diesem 
Punkte  nicht  corrigirt. 

Also  muß  auf  Kant  zurückgegangen 
werden. 


Was  Fichte  begonnen  hat,  setzt  S  c  h  e  1 1  i  n  g  fort. 
Seine  ganze  Philosophie  setzt  das  „Ding  an  sich"  vor- 
aus, ja  ist  im  Grunde  nichts  Anderes  als  Betrachtung 
desselben.  Wir  sagen  dies  schon  hier,  ohne,  wie  es 
in  der  Einleitung  gefordert  wurde,  vorläufig  die  Maske 
des  Nichtswissens  vorzunehmen,  weil  es  doch  zu  offen 
am  Tage  liegt,  weil  S  c  h  e  1 1  i  n  g ,  der  Anfangs  ganz 
auf  Fichteschem  Standpunkte  steht,  trotz  der  nach- 
herigen Aenderung  und  Umbildung  seiner  Ansichten, 
ja  mittelst  derselben  sich  noch  mehr  von  der  Wahr- 
heit entfernt,  d.  h.  immer  größere  Fortschritte  in  der 
Kenntniß  des  „Dings  an  sich"  gemacht  hat.  In  einigen 
seiner  Schriften,  namentlich  im  „System  des  transscen- 
dentalen  Idealismus"  kommt  es  fast  auf  jeder  Seite 
vor.  Wenn  wir  nichts  desto  weniger  kurz  auf  seinen 
Gedankengang  eingehen,  so  geschieht  dies  nicht  allein 
der  Vollständigkeit  wegen,  sondern  besonders  deshalb, 
weil  Sehe  Hing  durch  die  Neuheit  mancher  Ansichten, 
durch  die  Form  seiner  Darstellung  und  durch  die  fort- 
während, theils  verblümt,  theils  offen,  gegebene  Ver- 
sicherung „er  sei  ein  Genie  und  stehe  weit  über  dem 
Pöbel  der  gewöhnlichen  Verstandesmenschen"  einen  ge- 


•86  Zweites  Kapitel. 


wissen    Enthusiasmus   für   sich   zu   erregen   wußte,   der 
freilich,    als    Strohfeuer,    längst    verflackert    ist.  — 

Fichte    hatte    den    ganzen    Kosmos,    sowohl    den 

87  Mikrokosmos  ll  des  Geistes  als  den  Makrokosmos  der 
Natur,  für  ein  Product  oder  eine  That  des  uns  inne- 
wohnenden intelligibelen  Subjects  oder  absoluten  Ichs 
erklärt.    Dadurch  war  der  Natur,  welche  in  ihren  zahl- 

.  losen  Erscheinungen  und  ewigen  Kräften  unserem  In- 
tellect  als  ein  so  überaus  erhabener  und  mächtiger 
Gegenstand  gegenübertritt,  jene  Selbständigkeit  entzo- 
gen worden,  welche  jedes  unbefangene  Gemüth  in  ihr 
sucht  und  findet ;  sie  war  zu  etwas  Secundärem,  zu 
einem  Erzeugniß  desselben  Subjects  herabgesetzt,  das 
doch  mit  staunender  Ehrfurcht  sie  betrachten  muß  ;  ihre 
Gestalten  waren  zu  selbstlosen  Marionetten  in  der  Hand 
des  einzig-realen  absoluten  Ichs  geworden.  Durch  dieses 
Mißverständniß  wurde  Schelling  stutzig  gemacht, 
von  dem  ursprünglichen  Fichteschen  Standpunkte  ab- 
gelenkt ;  mit  einer  lebhaften,  poetischen  Auffassungs- 
gabe für  das  Leben  und  Weben  der  großen  Natur  aus- 
gestattet, suchte  er  dasjenige  Verhältniß  des  einzelnen 
Subjects  zur  Welt,  welches  dem  gesunden,  natürlichen 
Gefühl  als  das  richtige  erscheint,  in  philosophischer 
Speculation  aus  höherem  Gesichtspunkte  wieder  herzu- 
stellen. Da  man  aber,  so  lange  die  Kantische  In- 
consequenz  nicht  aufgedeckt  und  entfert,  das  Fichte- 
sche Mißverständniß  nicht  durchschaut  war,  die  Schran- 
ken des  absoluten  Ichs  nicht  durchbrechen  konnte,  so 
versuchte   er  es  auf  folgendem  Wege. 

Fichtes  Lehre  läßt  sich  in  den  Satz  zusammenfassen : 
„Ich  =  Alles".  Durch  Conversion  gewinnt  Schelling 
hieraus    das   Urtheil :    „A  1 1  e  s  =  I  eh.  *)    —   Ohne  uns 

*)  Siehe;  „Darstellung  meines  Systems  der  Philosophie."  1801. 
In  der  Zeitschrift  für  speculative  Physik.  —  F.  W.  J.  v.  Schellings 
sämmtl.  Werke.  1.  Abtheil.  Band  I.  pag.  109.  .Um  diese  Entgegen- 
, Setzung  auf's  verständlichste  auszudrücken,  so  mußte  der  Idealismus 


Die  idealistische  Richtung.  87 

weiter  darauf  einzulassen^  '|  ob  eine  solche  Umkehrung  J 
gestattet  ist,  sehen  wir  zu,  was  sich  Schelling  bei  dem 
letzteren   Satze  denkt,  und  was  er  aus  ihm   gewinnt. 

Das  absolute  Ich,  welches  nach  Fichte  Alles  pro- 
ducirt  oder  dessen  Erscheinung  Alles  ist,  muß  als  Wesen 
und  Grund  sowohl  des  im  empirischen  Bewußtsein  ge- 
gebenen Subjects,  als  des  Objects  angesehen  werden  ; 
das  Object  oder  die  Natur  ist  also  ihrem  inneren  Sein 
nach  mit  dem  Subject  Ein  und  Dasselbe,  nämlich  Ich, 
absolutes  Ich;  in  ihm  sind  Ideales  und  Reales, 
Natur  und  Qeist  identisch.  Es  gibt  daher  weder  irgend 
etwas  rein  Ideales,  Subjectives,  noch  etwas  bloß  Reales, 
Objectives ;  vielmehr  erscheint  es  nur  im  empirischen 
Bewußtsein  als  different,  während  Beides  im  Abso- 
lutum  indifferent  ist.  Denken  und  Sein  sind 
identisch.  So  bilden  Natur  und  Geist,  welche  dem  gen 
meinen  Verstände  für  Antipoden  gelten,  nicht,  wie 
Spinoza  will,  zwei  parallel  laufende  Reihen,  son- 
dern eine  einzige;  und  in  diesem  Sinne  gilt  also 
das :  ordo  et  connexio  idearum  idem  est  ac  ordo  et 
connexio  rerum.  *)  Wir  können  uns  dessen  schon  im 
gewöhnlichen  Selbstbewußtsein  bei  einiger  Vertiefung 
anschaulich  bewußt  werden.  In  den  niederen,  dunklen, 
halb  bewußtlosen  Empfindungen,  welche,  außer  dem 
Focus  unserer  Aufmerksamkeit  liegend,  von  dem  klaren 
Lichte  des  Denkens  wenig  oder  gar  nicht  beleuchtet 
sind,  fühlen  wir  uns  verwachsen  und  Eins  mit  der 
scheinbar  selbstlosen  Natur,  während  wir  auf  der  an- 
deren Seite  uns  als  rein  geistiges,  intelligentes  Subject 
wissen  ;  dennoch  sind  wir  ein  einiges,  identisches  Ich. 
Jener    subjective    und    objective    Pol    des    eigenen    Ich, 


,in  subjectiver  Bedeutung  behaupten,  das  Ich  sei  Alles,  der  in  der 
„objectiven  Bedeutung  umgekehrt:  Alles  sei  =  Ich,  und  es  existire 
nichts  als  was  =  Ich  sei." 

*)  B.  Spinoza.  Ethic.  II.  propos.    7.  Vgl.   Kuno   Fischers  Logik 
und  Metaphysik.  2te  Ausgabe  1852,  §.  15. 


Zweites  Kapitel. 


jene  Duplicität  ist  aufgehoben,  zerschmolzen  in  der  Ein- 
heit des  Selbstbewußtseins.  Wie  nun  hier  innerhalb 
89  der  II  beschränkten  Sphäre  unseres  endlichen  Bewußt- 
seins das  Bewußtlose  und  Bewußte  in  dem  identischen 
Ich  Eines,  indifferent  sind,  so  (in's  Unendliche  er- 
weitert) muß  man  sich  die  Indifferenz  von  Realem  und 
Idealem,  die  Identität  von  Denken  und  Sein,  die  Einheit 
von  Subject  und  Object  in  dem  ewigen  Welt-Ich  oder 
dem  Absolutum  vorstellen.  An  jenem  Beispiel  im  Klei- 
nen können  wir  es  uns  begreiflich  machen,  wie  das 
Absolute,  welches  durch  und  durch  Thätigkeit  ist,  als 
identisches  Ich  auf  einer  Reihe  von  Stufen  sich  ent- 
wickelt von  dem  starren,  leblosen  und  bewußtlosen 
Mineral,  dem  scheinbar  nur  Objectiven,  bis  in  den  sub- 
jectiven  Culminationspunkt,  den  erkennenden,  denken- 
den Menschengeist.  — 

Nun  kann  man  aber  diese  Selbstschaffung  und  Ent- 
wicklung des  Absoluten  von  zwei  verschiedenen  Stand- 
punkten aus  betrachten :  „Entweder  nämlich  wird  das 
„O  b  j  e  c  t  i  V  e  zum  Ersten  gemacht  und  gefragt :  Wie 
„ein  Subjectives  zu  ihm  hinzukomme,  das  mit  ihm  über- 
„einstimmt,"  oder  „das  Subjective  wird  zum  Ersten 
„gemacht  und  die  Aufgabe  ist  die:  Wie  ein  Objectives 
„hinzukomme,  das  mit  ihm  übereinstimmt."  *)  Die  Lö- 
sung des  ersten  Problems  ist  die  „N  a  t  u  r  p  h  i  1  o  s  o-« 
p  h  i  e'*,  die  des  zweiten  „die  Transscendental- 
p  h  i  I  o  s  o  p  h  i  e".  Die  erstere  ist  nun  freilich  gerade 
das,  worin  S  c  h  e  1 1  i  n  g  wirklich  originell  erscheint  und 
wodurch  er  besonders  seinem  Zeitalter  imponirt  hat. 
Dennoch  gestehen  wir  offen,  daß,  selbst  wenn  wir  uns 
auf  den  Schellingschen  Standpunkt  stellen,  die 
Transscendentalphilosophie  von  viel  grösserer  Bedeu- 
tung sein  muß  ;  denn  in  ihr  sollen  ja  erst  die  Beding- 


*)  System  des  transscendentalen  Idealismus.  1800.  Sämmtl.  Werke 
Abth.  I.  B.  III.  pag.  340  u.  341. 


Die  idealistische  Richtung.  89 

ungen    entwickelt    werden,   unter    denen    für   unser    in- 
telligentes  Subject  überhaupt  eine  Natur  da  sein,  also 
eine    Naturphilosophie    conslruirt  !|  werden    kann.       Wir  90 
müssen  daher  die  wesentlichen  Sätze  des  transscenden- 
talen  Idealismus  betrachten. 

Im  Allgemeinen  ist  hier  nur  dasselbe  zu  leisten 
versucht,  was  Fichte  in  der  Wissenschaftslehre  gethan 
hat,  nämlich  aus  dem  Begriffe  eines  absoluten  Ich  alle 
Formen  und  Vermögen  des  Geistes,  Empfindung,  An- 
schauung, Reflexion  u.  s.  w.  zu  deduciren.  Alles  dieses 
ist  nur  Erzeugniß  der  Thätigkeit  des  absoluten  Ich ; 
es  gilt  nur  „diese  Thätigkeit,  oder  das,  was  in  allem 
„anderen  Denken,  Wissen  oder  Handeln  das  Bewußtsein 
„flieht  und  absolut  nicht-objectiv  ist,  zum  Bewußtsein 
„zubringen,  objectiv  zu  machen,*'  wozu  nach  Schel- 
lin g  eine  besondere  „transscendentale  Kunst  ge- 
hört ;'**)  eine  Kunst,  die  (wenn  man  das  „transscenden- 
tale" Flittergold  abstreift)  schon  der,  nebst  vielen  an- 
deren bedeutenden  Männern,  von  Schelling  „verachtete" 
Locke  kennt.**)  Er  nämlich  sagt:  The  understanding, 
like  the  eye,  whilst  it  makes  us  see,  and  perceive 
all  other  things,  takes  no  notice  of  itself ;  and  it  requires 
arts  and  pains  to  set  it  at  a  distance,  and  make  it 
its  own  object.  [  Intellectus,  oculi  instar,  dum  in  causa 
est  quod  reliqua  omina  intueamur  et  percipiamus,  haud 
aciem  suam  in  se  ipsum  intendit :  atque  arte  et  solertia 
opus  est,  ut  ipse  ad  distantiam  aliquam  a  seipso  sisti 
et  sui  ipsius  objectum  ita  fieri  possit.  ]  ***)  Freilich  ist 
das  Selbstbewußtsein  „der  lichte  Punkt  im  ganzen 
„Systeme  des  Wissens,  der  nur  vorwärts,  nicht  rück- 
„wärts   leuchtetet);   aber  da   Schelling  nicht,  wie  der 

*)  ibid.  pag.  340  u.  341.  §.  1,  4. 

**)  In    einer    philosophischen    Unterhaltung    mit    Victor    Cousin 
äußerte  Schelling  gegen  diesen  »Je  meprise  Locke.« 

***)  J.  Locke.     An  Essay   concern.   Human   Understanding.   B.   I. 
chap.  I,  1. 

t)  S.  W.  I.  III.  pag.  357. 


90  Zweites  Kapitel. 


91  ver-  II  achtete  Empirist  Locke  auf  dem  Niveau  gemeiner 
Wirklichkeit  steht,  sondern  mit  transscendentaler 
Kunst  aus  dem  Reiche  des  Seins  in  das  des  ewigen 
Werdens  sich  geschwungen  hat,  aus  der  mechanischen 
Schale,  welche  dem  bornirten  Verstandespöbel  als 
Grenze  des  Erkennbaren  gilt,  in  das  dynamische  Herz 
der  Welt  [  Ding  an  sich  ]  gedrungen  ist,  so  kann  er  wohl 
auch  die  Regionen  untersuchen,  wohin  das  Selbstbe-i 
wußtsein  nicht  leuchtet.  „Jenseits  des  Selbstbewußt- 
„seins  ist  nun  das  Ich  bloße  Objectivität,  —  das  Ein- 
„zige  an  sich,  was  es  gibt*),  und  „das  Ding  an 
„sich''  ist  nichts  anderes  als  der  Schatten  der  ideellen, 
„über  die  Grenze  hinausgegangenen  Thätigkeit,  der  dem 
„Ich  durch  die  Anschauung  zurückgeworfen  wird,  und 
„insofern  selbst  ein  Product  des  Ichs,"**)  Da  nun  aber 
die  Philosophie  nicht  (wie  Kants  beschränkte  Ansicht 
war)  ,,die  Intelligenz  schon  als  fertig  voraus- 
,,setzt,  sondern  sie  im  Werden  betrachtet,  sie  vor 
„ihren  Augen  entstehen  läßt"  ***),  so  muß  es  offenbar 
ein  ganz  besonderes  Oeistesorgan  für  die  Erkenntniß 
jenes  in  der  Intelligenz  vorausgehenden  „An  sich's" 
geben,  in  dessen  Besitz  nur  so  bevorzugte  Geister,  wie  || 

92Schelling,  sind.    Denn  wenn  ein  gewöhnlicher  Ver- 


*)  pag.  390  vgl.  „Darstell,  mein.  Syst.  d.  Phil.'  S.  W.  I.  IV. 
pag.  115.  Dort  ist  die  philosophische  Erkenntniß  .eine  Erkenntniß 
„der  Dinge,  wie  sie  an  sich,  d.  h.  wie  sie  in  der  Vernunft 
sind."  Raum  und  Zeit  werden  für  Producte  der  Einbildungskraft, 
also  gleichgültig  in  der  Vernunfterkenntniß  erklärt,  und  somit  auf  der 
einen  Seite  das,  was  wirklich  wahr  und  unumstößlich  in  der  Kantischen 
Philosophie  ist  (die  transscendentale  Aesthetik)  umgestoßen  und  da- 
gegen der  Hauptfehler  (das  „Ding  an  sich")  für  das  einzig  Wahre  ge- 
nommen. Um  hierüber  ja  keinen  Zweifel  zu  lassen,  sagt  Seh.  aus- 
drücklich: „Kant  habe  dadurch,  daß  er  das  »Ding  an  sich" 
,in  die  Philosophie  einführte,  wenigstens  den  ersten  An- 
„stoß  gegeben,  der  die  Philosophie  über  das  gemeine  Be- 
, wußtsein  hinaus  führen  konnte."     (!)  B.  III.  pag.  461. 

**)  B.  III.  pag.  422.    ***)  pag.  427. 


Die  idealistische  Richtung.  91 

Standesmensch  „ohne  Voraussetzung  der  Intelligenz'* 
irgend  etwas  erkennen  wollte,  so  würde  man  ihn  für 
irrsinnig  halten;  und  wenn  er  mittelst  seiner  Geistes- 
kräfte versuchen  wollte,  Das  zu  erfassen,  was  diese 
seine  Geisteskräfte  erst  producirt,  so  würde  er  Dem- 
jenigen gleichen,  der  da  versuchte,  über  seinen  eigenen 
Schatten  zu  springen,  und  sehr  bald  gewahr  werden, 
daß  etwas  Derartiges  für  Leute  seines  Schlags  un- 
möglich ist;  oder  er  wäre  auch  Demjenigen  zu  ver- 
gleichen, der,  in  frühster  Kindheit  auf  einer  wüsten 
Insel  ausgesetzt,  ohne  Anblick  irgend  welcher  leben- 
diger Wesen,  auf  den  Gedanken  käme,  das  Geheimniß 
seiner  leiblichen  Entstehung  durch  Nachgrübeln  zu 
finden.  —  Schell  in  g  also  ist  im  Besitze  dieses 
Organs,  demnach  muß  er  es  kennen.  Und  er  hat  es 
nicht  blos  gekannt,  sondern  auch  benannt !  —  Anfangs 
freilich  wußte  er  selbst  nicht  (oder  wollte  aus  Beschei- 
denheit nicht  wissen),  wie  sehr  er  vor  den  übrigen 
Menschen  bevorzugt  war,  und  gestand  daher,  daß  man 
„nur  durch  Schlüsse"  (also  auf  gewöhnlichem  Wege) 
in  jenes  Gebiet  gelangen  könne.*)  Nachdem  er  aber 
zu  dem  Bewußtsein  gekommen  ist,  welches  exquisite 
Kleinod  in  seinem  Acker  vergraben  liegt,  oder  ein- 
gesehen hat,  daß  seine  Bescheidenheit  übel  angebracht 
war  bei  dem  besagten  Verstandespöbel,  mahnt  er :  ,,den 
i, Zugang  zur  Philosophie  scharf  abzuschneiden  und  nach 
„allen  Seiten  hin  von  dem  gemeinen  Wissen  so  zu 
„isoliren,  daß  kein  Fußsteig  zu  ihr  führe.''**)  —  Dieses 
außerordentliche  Geistesorgan,  dieses  übersinnliche  Auge 
der  Transscendentalphilosophie  ist:  —  die  intellec- 
tuelle  Anschaung.  Diese  also  stempelt  Schel- 
lingen zum  bevorzugten  Geiste,  zum  Clairvoyant.  Eine 
genauere    Beschreibung    derselben   findet   man  ||  in    der  93 


*)  III.  pag.  395  a.  a.  O. 
**)  IV.  pag.  362. 


92  Zweites  Kapitel. 


Schrift:  „Fernere  Darstellungen  aus  dem  System  der 
Philosophie",  welche  1802  in  der  Neuen  Zeitschrift  für 
speculative  Physik  zuerst  erschienen  ist.  (Sämmtl.  W. 
Abth.  I.  B.  IV.  pag.  333).  Dort  heißt  es  unter  An- 
derem (§,  2) :  „Die  intellectuelle  Anschauung  sei  das 
jVermögen  überhaupt,  das  Allgemeine  im  Besonderen, 
,das  Unendliche  im  Endlichen,  beide  zur  lebendigen 
, Einheit  vereinigt  zu  sehen."  An  einer  anderen  Stelle 
wird  sie  „ein  Wissen,  das  zugleich  Produciren  seines 
,Obje^cts  sei,"  genannt.  „Von  ihr  muß  beständig  das 
jtransscendentale  Philosophiren  begleitet  sein :  Alles 
,vorgebliche  Mißverstehen  jenes  Philosophirens  hat  sei- 
,nen  Grund  nicht  in  seiner  eigenen  Unverständlichkeit, 
, sondern  in  dem  Mangel  des  Organs,  mit 
,dem  es  aufgefaßt  werden  muß."*)  Wir  wer- 
den belehrt,  daß  gar  nicht  einzusehen  sei,  „warum  unter 
, dieser  (intellectuellen)  Anschauung  etwas  Mysteriöses 
, —  ein  besonderer  nur  von  einigen  vorgegebener  Sinn 
,verstanden  worden  ;"  und  daß  dies  allein  daher  komme, 
jWeil  manche  desselben  wirklich  entbehren,  welches 
,aber  ohne  Zweifel  ebensowenig  befremdend  sei,  als 
,daß  sie  noch  manches  anderen  Sinns  entbehren,  dessen 
.Realität  ebensowenig  in  Zweifel  gezogen  werden 
, könne."  **)  —  „Wer  —  möchte  man  mit  Kant  aus- 
, rufen  —  sieht  hier  nicht  den  Mystagogen,  der  nicht 
,bloß  für  sich  schwärmt,  sondern  zugleich 
, Clubbist  ist,  und  indem  er  zu  seinen  Adep- 
,ten,  im  Gegensatz  von  dem  Volke  (worun- 
,ter  alle  Uneingeweihten  verstanden  wer- 
,den)  spricht,  mit  seiner  vorgeblichen  Phi- 
jlosophie  vornehm  thut  ;"***)  —  Auf  Grund 
dieser  intellectuellen  Anschauung  fühlt  sich  nun  Schel- 

*)  S.  W.  I.,  III.,  pag.  369. 
**)  ibid.  370. 

***)  „Von   einem    neuerdings   erhobenen   vornehmen   Ton   in   der 
Philosophie"  1796.    J.  Kants  Werke,  edit.  Rosenkranz.  B.  I.  pag.  633. 


Die  idealistische  Richtung.  93 

ling  zu  dem  ||  Ausspruche  gemüßigt :  daß  dem  Kriti-  94 
cismus  Kants  „wenig  [oder  gar  keine]  An- 
„sprüche  bleiben  können,  Philosophie, 
„oder  auch  nur  Grundlage  von  Philosophie 
„zu  sein"!*)  Ja  noch  besser!  Nach  seiner  Ansicht 
„hat  die  Kantische  Lehre  eine  tiefe  und 
„gründliche  Gemeinheit  der  Vorstellungen 
„eingeführt!"**)  — 

Wir  haben  ihn  ganz  ausreden  lassen.  Nun  aber 
können  wir  nicht  umhin,  die  Sache  genauer  zu  erörtern, 
damit  man  die  ganze  Tiefe,  ja  —  Bodenlosigkeit  jenes 
extraordinären  Geistesorgans  durchschaue,  durch  dessen 
Besitz  sich  Schelling  berechtigt  glaubt,  einen  Denker 
wie  Kant,  der  doch  zu  den  größten  Geistern  der  Welt 
gehört,  in  der  eben  angeführten  Weise  zu  schmähen. 

Zunächst  ist  die  „intellectuelle  Anschauung"  nicht 
von  ihm  erst  entdeckt  worden,  sondern  aus  Kants 
schmutziger  Wäsche  hervorgesucht.  Kant  erwähnt  sie 
nämlich  unter  Anderem  Kr.  d.  r.  V.  256.  Kr.  d.  pr.  V. 
56.  178.  247.  Prolegom.  107.  172.  Er  nennt  sie  dort 
bald  eine  „nichtsinnliche  Anschauung",  bald  einen  „an- 
schauenden Verstand",  —  Begriffe,  die,  wie  man  sieht, 
zu  jenen  contradictionibus  in  adjecto  gehören,  welche 
Kant  hier  und  da  gleichsam  zum  warnenden  Beispiel 
aufstellt.  Ziemlich  ausführlich  läßt  er  sich  über  diesen 
Gegenstand  in  der  eben  genannten  Schrift:  „lieber 
einen  vornehmen  Ton  u,  s.  w."  aus.  Dort  sagt  er  z.  B. 
„Der  discursive  Verstand  muß  mittelst  der  Begriffe 
„viele  Arbeit  verwenden  und  viele  Stufen  mühsam  be- 
„steigen,  um  im  Erkenntniß  Fortschritte  zu  thun,  statt 
„dessen  eine  intellectuelle  Anschauung  den 
„Gegenstand  unmittelbar,  und  auf  einmal  fassen  und 
„darstellen  würde.  —  Wer  sich  also  im  Besitz 
„der    letztern    zu   sein    dünkt,    wird   auf   den 


'')  Schellings  S.  W.  1.,  IV.,  pag.  350.  -  **)  ibid.  pag.  365. 


94  Zweites  Kapitel. 


95 „erstem  mit  Verach-||tung  herabsehen;  und 
„umgekehrt  ist  die  Gemächlichkeit  eines  solchen  Ver- 
„nunftgebrauchs  eine  starke  Verleitung,  ein  derglei- 
„chen  Anschauungsvermögen  dreist  anzu- 
„nehmen,  ingleichen  eine  darauf  gegrün- 
„dete  Philosophie  bestens  zu  empfehlen." 
—  Diese  Worte  sind  geschrieben,  ehe  Schelling  an  in- 
tellectuelle  Anschauung  gedacht  hat,  wenigstens  ehe 
er  sich  unterstand,  die  oben  angeführten  Blasphemieen 
gegen  Kant  auszusprechen.  —  Fichte  hat  die  intel- 
lectuelle  Anschauung  auch  zu  besitzen  geglaubt ;  da^ 
gegen  wissen  sehr  viele  bedeutende  Denker  von  ihr 
gar  nichts.  So  erklärt  z.  B.  Schopenhauer  „daß  es 
„ihm  gänzlich  an  ihr  mangele,*'  und  ,,daß  daher,  es 
,,sei  seltsam  zu  erzählen,  bei  jenen  Lehren  tiefer  Weis- 
„heit  [  den  Schellingschen  Constructionen  durch  intellec- 
„tuelle  Anschauung]  ihm  immer  zu  Muthe  sei,  als  höre 
„er  nichts  als  entsetzliche  und  noch  obendrein  höchst 
„langweilige  Windbeuteleien."*)  —  Eine  intellectuelle 
Anschauung,  als  besonderes  Geistesorgan  für  die  Er- 
kenntniß  des  „Dinges  an  sich"  ausposaunt,  ist  minde- 
stens eine  leere  Fiction.  Hierin  stimmen  wir  mit  Scho- 
penhauer  überein,  wenn  auch  aus  ganz  andern  Gründen 
als  er.  Welche  Combination,  welches  Zusammenwirken 
von  geistigen  Thätigkeiten  und  Vermögen  aber  Schel- 
ling in  der  That  unter  jenem  Namen  begriffen  hat,  das; 
wissen  wir  sehr  gut,  und  es  sei  hier  kurz  mitgetheilt. 
Es  hat  damit  folgende,  ganz  natürliche  Bewandtniß. 

Nachdem  man  den  Grund  alles  Denkens  und  Seins 
in  der  übersinnlichen  Thätigkeit  eines  Weltichs  oder 
Absolutums  gefunden  zu  haben  meinte,  welches  — 
selbst  außer  den  Formen  des  Intellects  (Raum,  Zeit  und 
Kategorieen)    liegend    —    diese    vielmehr    erst    produ- 


*)  A.  Schopenhauer.     Die  Welt  als  Wille   und  Vorstellung.  B.  I 
pag.  30.  u.  31. 


Die  idealistische  Richtung.  95 

ciren  mußte,  handelte  es  sich  darum,  ein  subjectives  || 
Correlat  dieses  Absolutums,  [welcher  Begriff  freilich  95 
undenkbar,  aber  Consequenz  aus  jener  Inconsequenz 
ist  ],  d.  h.  ein  bestimmtes  Vermögen,  womit  man  das 
Wesen  und  Treiben  des  Absoluten  auffassen  könnte, 
nachzuweisen.  Nun  fand  sich  aber  natürlicher  Weise, 
daß  man  jenen  außerräumlichen  und  außerzeitlichen 
Unbegriff  wenigstens  nicht  unmittelbar  vorstellen  oder 
erkennen  könne,  weil  ja  eben  Vorstellen  und  Erkennen 
nur  innerhalb  Raum  und  Zeit  vor  sich  gehen  kann. 
Man  schuf  sich  daher,  willkürlich  oder  unwillkürlich, 
ein  mittelbares,  räumlich-zeitliches  Schema  des  vor- 
geblichen .Weltichs  in  der  Einbildungskraft,  ein  vages, 
unbestimmtes  Phantasma,  ohne  bestimmte  Dauer  und 
Grenze.  Für  die  absoluten  Thätigkeiten  u.  s.  w.  dieses 
Weltichs  bildete  man  sich  dann  die  entsprechenden 
Schemata,  etwa  in  der  Form  von  gehemmten  und  sich 
äußernden  Bewegungen  und  Kräften  etc.,  und  fragte 
dann :  Wie  muß  ich  nun  diese  Schemata  sich  geriren 
lassen,  um  ein  Bild  von  dem  [irrationalen]  Processe  zu 
bekommen,  durch  den  das  Absolutum  den  Intellect  mit 
allen  seinen  Fähigkeiten  und  Functionen,  und  die  Natur 
mit  allen  ihren  Gesetzen  und  Kräften  aus  sich  erzeuge? 
Indem  man  nun  auf  verständige  Weise  diese  Frage  be- 
antwortete, und  sich  nach  den  Gesetzen  der  Causalität 
u.  s.  w.  ein  dunkles,  räumlich-zeitliches  Phantasma  jenes 
Processes  bildete,  bis  das  Schema  einer  Deduction  des 
empirisch  Gegebenen  aus  dem  vorausgesetzten  Intelli- 
gibilen  fertig  war,  schob  man  heimlich  das  Bild  für 
die  Sache  unter  und  suchte  Anderen  (und  wohl  auch 
sich  selbst)  einzureden,  man  habe  das  Absolutum 
angeschaut.  So  war  unter  der  Hand  ein  X  für  ein 
U  gemacht.  Jenes  Schema  war  das  Absolutum, 
und  dieses  planvolle  Zusammenwirken  von  Verstand 
und  Phantasie  war  —  die  intellect  u  eile  An- 
schauung. 


96  Zweites  Kapitel. 


Das  ist  des  Pudels  Kern ! 

Wer  sich  daher  durch  Vorschützung  einer  intellec- 
97  tuellen  An- 1!  schauung  zu  der  Ueberzeugung  vom  Da- 
sein oder  der  unmittelbaren  Erkennbarkeit  eines  Ab- 
solutums  bereden  läßt,  der  ist  ungefähr  ebenso 
dupirt  wie  Jemand,  der  das  in  dunkler  Stube  mittelst 
eines  Holspiegels  auf  Dämpfe  oder  Milchglas  gewor- 
.  fene  Bild  eines  lebendigen  Menschen  für  eine  über- 
irdische Oeistererscheinung  hält.  So  wenig  dies  ein 
Gespenst,  so  wenig  ist  jenes  ein  Absolutum  ;  so  wenig 
hier  Zauberei,  ebensowenig  dort  intellectuelle  An- 
schauung.   Es  geht  Beides  mit  natürlichen   Dingen  zu. 

Demnach  zeigt  sich  das  vornehme  Gebaren 
der  Schellingschen  Philosophie  als  „Sand  in  die 
Augen'' ;  ihr  bevorzugtes  subjectives  Organ  zerfällt 
in  die  allbekannten,  natürlichen  Geistesgaben,  die  jeder 
gesunde  Mensch  in  höherem  oder  niederem  Grade  hat, 
sie  selbst  aber  in  —  Nichts  ;  denn  ihr  vorgeblicher  Ge- 
genstand ist  durchweg  ein  ,,Ding  an  sich.''  Man  kann 
daher  von  Schelling  in  Beziehung  auf  Kant  dasselbe 
sagen,  was  Epiktet  von  einem  unverständigen  Anhänger 
des  Stoikers  Chrysippos:  ei  fxi}  daacpwg  eysyQcicpsi  ixsTvog 
[o  XgvöiTiTiog],  ovSsv  äv  ei^ev  ovrog  S(p'  co  as^.ivvv'ricaL.  Nisi 
obscure  scripsisset  ille,  nihil  heberet  hie,  quo  gloriaretur]. 
Epictet.     Enchiridion  cap.  LXXIII.  — 

Was  aber  die  oben  citirten  Verunglimpfungen  an- 
langt, die  Schelling  seinem  Herrn  und  Brodgeber  ange- 
deihen  läßt,  so  bleibt  es  dem  Temperament,  oder  wenig- 
stens der  Laune  des  Lesers  überlassen,  ob  er  sie  von 
der  ernsten  oder  von  der  komischen  Seite  auffassen,  d.  h. 
ob  er  sie  für  empörend  oder  für  lächerlich  erklären  will. — 

Nach  allem  Gesagten  endlich  können  wir  uns  eine 
eingehende  Kritik  in  bewußtem  Sinne  diesmal  ersparen. 
Wir  schließen  einfach : 

Also  muß  auf  Kant  zurückgegangen 
werden. 


Die  idealistische  Richtung.  97 

Daß  Schelling  in  seiner  Naturphilosophie  eine  ori- 
ginelle II  Weltansicht  aufgestellt  habe,  wurde  sogar  von  98 
seinen  Gegnern  anerkannt ;  *)  daß  man  aber  bei  der  Art 
ihrer  philosophischen  Begründung,  nämlich  dem  „genia- 
len'' Construiren  aus  intellectueller  Anschauung,  sich 
nicht  beruhigen  könne,  dies  sahen  auch  solche  ein,  die 
zu  seinen  Anhängern  gehörten.  Denn  hier  fehlte  ganz 
Das,  was  der  Kantischen  Philosophie  so  wohl  an- 
stand, jene  Keuschheit  des  Denkens,  jene  logische  As- 
kese, die  mit  unerbittlicher  Strenge  jeden  Schritt  ihres 
Gedankenganges  prüft  und  stets  eine  unangenehme 
Wahrheit  selbst  der  schönsten  Unwahrheit  vorzieht. 
Man  wurde  inne,  daß  es  gerade  für  den  Philosophen 
höchst  unpassend  ist,  sich  auf  sein  ,, Genie"  zu  be- 
rufen. Denn  selbst  ein  wirklich  geniales  Subject  muß, 
qua  Philosoph,  die  geniale  Hülle  abstreifen  und  bedäch- 
tigen Schrittes  seinen  Weg  gehen.  Genie  nämlich  besteht 
in  der  Gabe,  den  Gedankengang,  der  in  gewöhnlichen 
Geistern  langsam  und  träge  von  Statten  geht  und  wohl 
gar  abbricht,  ehe  überhaupt  ein  Resultat  erreicht  ist, 
mit  blitzartiger  Schnelle  zu  durchfliegen,  die  Wahrheit 
im  Sturm  zu  erringen,  so  daß  für  gewöhnlich  der  Weg 
zu  dem  erreichten  Ziele  gar  nicht  im  Bewußtsein  haftet. 
Wenn  es  nun  auch  auf  diese  Weise  gelungen  ist,  große 
und  tiefe  Ansichten,  unumstößliche  Wahrheiten  zu  er- 
fassen, so  ist  es  nachher  gerade  die  Aufgabe  des  philo- 
sophischen Denkens,  durch  genaue  Darlegung  und 
nüchterne  Prüfung  aller  einschlagenden  Gedankenver- 
knüpfungen, jedem  die  unumstößliche  Ueberzeugung, 
die  abstracte  Gewißheit  des  vorher  im  Sturme  errunge- 
nen Resultates  aufzudrängen.  —  Hiervon  war  bei  Schel- 
ling gar  nicht  die  Rede ;  alle  stricte  Begründung  fehlte ; 
bei  „der  ersten  Uebersicht  seiner  Schriften  nahmen  sich'', 
wie  Fries  treffend  bemerkt,  „diese  aus,  wie  ein  Proto- 


*)  Siehe  u.  A.  I.  F.  Fries's  Polem.  Schriften.  B.  1.  1824.  pag.  127. 

Neudrucke:    Liebmann,  Kant.  7 


98  Zweites  Kapitel. 


99„koll  aus  der  Rathsitzung  der  ||  Elohim,  in  welcher  sie 
„sich  über  die  Erschaffung  der  Welt  berathschlagten".*) 
—  Wir  haben  auf  den  letzten  Seiten  gesehen,  daß  hinter 
diesen  Elohim  ein  Mann  „wie  andere  auch**  sich  ver- 
steckt hatte.  — 

Daher  war  es  denn  auch  gekommen,  daß  Schelling, 
nicht  etwa  bloß  unbewußt,  sondern  eingeständlich  in 
den  vorkantischen  Dogmatismus  zurückgesunken  war ; 
denn  er  hatte  ganz  offen  und  naiv  erklärt,  „daß  der 
„leibnitzische  Idealismus,  gehörig  verstanden, 
„vom  transscendentalen  [d.  i.  Schelling- 
„schen]  in  der  That  nicht  verschieden 
„sei".**)  —  Das  war  also  die  Frucht  der  intellectu- 
ellen  Anschauung,  jenes  Pseudophilosophirens  ohne  alle 
stricte  Begründung.  —  jenen  Mangel  fühlte  nun 
Hegel.  Während  er  daher  mit  dem  allgemeinen  Re- 
sultate der  Fichte-Schellingschen  Speculation,  nämlich 
der  Idee  des  Kosmos  als  intelligibeler  Entwickelung 
und  Selbstproduction  eines  absoluten  Weltichs,  überein- 
stimmte, suchte  er  den  festen  Weg  auf  zu  der  abstrac- 
ten  Gewißheit  jener  Weltansicht.  Nicht,  wie  sein  Vor- 
gänger, wollte  er  „ohne  tiefere  Arbeit  gleich  an  den 
Genuß  der  Idee  gehen;"***)  denn  so  hatte  jenes  Philo- 
sophiren, das  „sich  zu  gut  für  den  Begriff  und  durch 
„dessen  Mangel  für  ein  anschauendes  und  poetisches 
„Denken  hielt,  willkürliche  Combinationen  einer  durch 
„den  Gedanken  nur  desorganisirten  Einbildungskraft  zu 
„Markte  gebracht,  —  Gebilde,  die  weder  Fisch  noch 
„Fleisch,  weder  Poesie  noch  Philosophie  waren."  f) 
Während    also    Schelling   auf   dem    steuerlosen    Schiffe 


*)  ibid.  pag.  91. 
**)  Schellings  S.  W.  Abth.  I.  Bd.  III.  pag.  453. 
***)  G.  W.  F.  Hegels  Encyclopädie  d.   philosophischen  Wissen- 
schaften,   edit.  II.  1827.  Vorrede,  pag.  XXXV. 

t)  Hegels  Phänomenologie  d.  Geistes,  edit.  Schulze  1832.  — 
pag.  54. 


Die  idealistische  Richtung.  99 

seiner  inteüectuellen  Anschauung  den  Ocean  des  Kos- 
mos als  II  Abenteurer  durchirrt  hatte  und  so  endlich  100 
an  den  dunklen  Küsten  des  Mysticismus  strandete, 
suchte  Hegel  den  Ariadnefaden,  an  dem  er  sicher 
durch  das  Weltlabyrinth  den  Weg  fände.  Und  diesen 
fand  er  in  „der  dialektischen  Methode". 

Die  „dialektische  Methode"  war  keine  neue  Erfin- 
dung Hegels,  Ganz  abgesehen  von  den  sehr  deut- 
lichen Antecedentien  im  Alterthum,  hatte  Fichte  sie 
aufgestellt  und  angewendet  in  der  „Wissenschafts- 
lehre*)", Schelling  hatte  sie  ausdrücklich  anerkannt 
im  „transscendentalen  Idealismus,"  ohne  sie  zum  Orga- 
non  seiner  Naturphilosophie  zu  machen.  **)  Hegel  aber 
macht  Ernst  mit  ihr  und  theilt  ihr  die  Hauptrolle  zu. 
Um  nun  die  tiefe,  wesentliche  Bedeutung  zu  begreifen, 
welche  jenes  trichotomische  Fortschreiten  des  Gedan- 
kens in  der  Hegeischen  Philosophie  haben  muß;  um 
einzusehen,  daß  hierin  weder  (wie  seine  blinden 
Gegner  glauben),  ein  ganz  willkürliches,  äußerliches 
Schema,  noch  (wie  seine  blindenAnhänger  behaup- 
ten) das  ewige  Denkgesetz  des  absoluten  Weltgeistes 
zu  finden  sei,  dazu  bedarf  es  eines  Einblicks  in  die  all- 
gemeine Idee,  welche  in  diesem  vielgerühmten  und  viel- 
geschmähten Systeme  dargestellt  wird,  ihren  Ausdruck 
findet.    Wir  schicken  daher  folgendes  voraus. 

Der  großartige,  ganz  originelle  und 
charakteristische  Gedanke  der  Hegeischen 
Philosophie  (dessen  Kehrseite  freilich  zu- 
gleich ihr  Grundfehler  ist)  ist  der  ernst- 
liche Versuch,  den  Kosmos  als  Makrokos- 
mos und  Mikrokosmos,  also  Alles,  in  bloßes 
Denken  aufzulösen,  allein  im  abstracten 
Intellect   zu    erfassen.    Sie   erscheint   hierin   nur 


*)  Grundlag.  d.  g.  W.  a.  a.  O.  pag.  37  ff. 
•=*)  Schellings  S.  W.  I.  III.  pag.  394.  412. 

7* 


100  Zweites  Kapitel. 


101  als  die  äußerste  Spitze  jener  Qedankenrichtung,  ||  die  in 
dem  Cartesianischen  cogito  ergo  sum  ihren  Ursprung 
hat,  die  von  der  abstracten  Selbstgewißheit  ausgeht, 
deren  ganze  Tendenz  es  ist,  alle  Autorität  zu  entfernen, 
das  Denken  zu  emancipiren,  nur  von  seinen  immanenten 
Gesetzen  abhängen  zu  lassen.  Es  wäre  interessant,  näher 
zu  verfolgen,  wie  jene  Tendenz  gradatim  sich  erweitert, 
wie  ein  Vorurtheil  nach  dem  anderen  gestürzt,  eine 
Autorität  nach  der  anderen  angezweifelt  und  entfernt 
wird.  Ihr  natürliches  Maximum  hatte  diese  Gedanken- 
richtung bereits  in  Kant  erreicht.  Denn  er  hatte  durch 
die  Aufweisung  der  Erkenntnisse  a  priori  die 
immanenten  Bedingungen,  also  Schranken 
des  menschlichen  Geistes  entdeckt  und  beiläufig  da- 
durch, daß  er  die  Empfindungseindrücke  (ganz 
richtig)  als  „gegeben"  ansah,  die  äußeren  Gren- 
zen des  Intellects  anerkannt.  Die  nachkantischen  Idea- 
listen suchten  nun  aber  auch  diese  letzten,  nothwendi- 
gen  Autoritäten  zu  entfernen.  Fichte  und  S  c  h  e  1 1  i  n  g 
hatten  alle  Formen  und  Functionen  des  Intellects  für 
etwas  Secundäres,  für  Producte  der  absoluten  Thätig- 
keiten  des  p,Ichs  an  sich"  erklärt.  Bei  Hegel  bleibt 
nun  ganz  allein  das  Denken  als  Wirkliches  übrig. 
Empfindung,  Anschauung,  Reflexion  gelten  nun  für 
nichts  mehr  als  für  überwundene  Standpunkte  des  sich 
entwickelnden  Denkens,  —  abgelegte  Gestalten,  die  nur 
Bedeutung  haben  als  Momente  im  dialectischen  Fort- 
schritt des  Geistes,  ein  „ewig  Gestriges"  für  den  Stand- 
punkt der  absoluten  Vernunft.  Das  reine,  absolute  Den- 
ken ist  das  wahre  Wesen  des  Alls,  der  anschauliche 
Factor  der  Erkenntniß  ist  keine  Autorität  mehr  und 
„das  Unsagbare,  Gefühl,  Empfindung,  ist  nicht  das 
„Vortrefflichste,  Wahrste,  sondern  das  Unbedeutendste, 
„Unwahrste  ;"  *)   das  „sinnliche  Dieses"  und  „das  Un- 


*)  Encyclopädie  §.  20.  pag.  31. 


Die  idealistische  Richtung.  101 

„aussprechliche*',  welches  „für  die  Sprache  li  u  n  e  r  - 102 
„reich bar"  ist,  ist  „unwahr."*)  Damit  hat  Hegel 
den  äußersten  Schritt  auf  dem  Pfade  des  Idealismus 
gethan.  Es  i  s  t  nur  Denken,  Allgemeines;  das 
Einzelne,  Individuelle  in  Gefühl  und  Empfin- 
dung hat  nur  Bedeutung  als  überwundenes  Moment  des 
Allgemeinen,    des    absoluten    Denkens.    — 

Indem  also  Hegel  es  ignorirt,  daß  dieser  abstracte 
Intellect  vielmehr  selbst  etwas  SeCundäres  und  Be- 
schränktes ist,  aus  einer  Frage  entspringt  und  wieder- 
um mit  einer  Frage  aufhört,  daß  das  Unaussprechliche, 
Individuelle,  das  sinnliche  Dieses,  anstatt  „unwahr"  zu 
sein,  vielmehr  die  Basis  aller  Wahrheit  und  alles  Er- 
kennens  ist,  welches  d  a  noch  unmittelbare  Gewißheit 
gibt,  wo  die  Sprache  und  das  Denken  in  ihrer  Allge- 
meinheit nicht  mehr  im  Stande  sind,  sich  zu  schmiegen, 
endlich,  daß  der  abstracte  Intellect  alle  Bedeutung, 
seine  ganze  Dignität  verliert,  wenn  er  nicht  nachweis- 
bar sich  fortwährend  auf  jenes  „Unaussprechliche"  be- 
zieht, —  indem  er,  sage  ich,  Alles  diese  ignorirt  (ab- 
sichtlich ignorirt),  besteht  seine  ganze  Philosophie  in 
der  Durchführung  der  Idee:  Alles  und  Jedes  als 
Moment  in  derEntwicklung  des  Denkens 
nachzuweisen.  Es  ist  aber  natürlich,  daß  bei  diesem 
Unternehmen  der  abstracte  Intellect  fortwährend  an 
seine,  ihm  gesetzten  Schranken  anstößt,  an  das  subjeC- 
tive  Gefühl,  die  objective  Empfindung  oder  sinnliche 
Qualität  und  die  reinen  Erkenntnißformen  a  priori, 
Raum,  Zeit  und  Kategorieen.  Indem  er  nun  diese 
Schranken  zu  erfassen,  zu  besiegen,  zu  begreifen  strebt, 
ist  jene  Entwickelung  durchweg  ein  peren- 
nirender  (und  nach  HegelsAnsicht„s  leg- 
re ich  er")  Kam  pf  des  abstracten  Intellects 
mitden   unsagbaren,   nichtdenkbarenFac- 


*)  Phänomenologie,  pag.  83. 


102  Zweites  Kapitel. 


toren    des    Kosmos.     Und    dieser    Kampf   ist 
eben  die  Dialektik.  Ii 
103  Nur    wenn    man    diese    allgemeine    Grundidee    der 

Hegeischen  Philosophie  kennt,  vermag  man 
dieses  System  zu  verstehen  ;  kennt  oder  versteht  man 
sie  nicht,  so  erscheint  es  als  absurd.  Wenn  zum  Beispiel 
Goethe  von  Hegel  sagt : 

,X  hat  sich  nie  des  Wahren  beflissen, 
Im  Widerspruche  fand  er's; 
Nun  glaubt  er  alles  besser  zu  wissen, 
Und  weiß  es  nur  anders."*) 

so  sehen  vi^ir  hierin  allein  das  Zeugniß  dafür,  daß  seinem 
künstlerischen,  auf  unmittelbare  Intuition  gerichteten 
Genius  jene  Hegeische  Allmacht  des  abstracten  Intel- 
lects  durchaus  fremd  und  unverständlich  sein  mußte. 
—  Wir  hier  haben  es  zunächst  noch  mit  keiner  Kritik 
jener  Idee  zu  thun  ;  was  uns  jetzt  nur  interessirt,  ist 
dieses:  daß,  wenn  man  die  allgemeine  Idee  anerkennt. 
Alles  andere  sich  sofort  erklärt.  Es  erklärt  sich,  wie 
Hegel  sagen  konnte :  „das  Wesen  des  Geistes  sei, 
Negation  der  Natur  zu  sein,  und  eben  als  sie 
aufhebend,  ihre  Wahrheit";  es  erklärt  sich  der  be- 
rühmte Ausspruch :  „Was  vernünftig  ist,  das  ist  wirk- 
lich, und  was  wirklich  ist,  das  ist  vernünftig"  ;  es  er- 
klärt sich  jenes  diplomatische  Sichanschmiegen  des  Ge- 
dankens an  den  unsagbaren  Factor  der  Erkenntniß,  wo- 
rin man  immer  nur  Spitzfindigkeiten,  Sophismata  ge- 
sehen, was  Schopenhauer  ein  „Verrenken  des 
Geistes"  genannt  hat ;  es  erklärt  sich,  wie  im  Wider- 
spruche die  Wahrheit  gefunden  wird.  Dieser  Wider- 
spruch ist  im  Grunde  nicht  der  logische,  der  in  dem 
unlösbaren  Problem  besteht,  disjuncte  Merkmale  in  dem- 
selben Begriffe  zu  verneinen,  sondern  der  dialek- 
tische  Widerspruch,    den    das    Denken    gleichsam   im 


*)  Zahme  Xenien.  Abth.  11. 


Die  idealistische  Richtung.  103 

Streitgespräch    {diaXsysod^ai)    mit    dem    sich   sträubenden 
unsagbaren  Factor  der  Er- 1|  kenntniß  gegen  dessen  (wie  104 
es  meint)  unbegründete  Behauptungen  erhebt.   Der  Vor- 
gang,  der  sich  hierbei   immer  wiederholt,   ist  nun  fol- 
gender : 

Es  tritt  eine  „gegebene"  Vorstellung  dem  ab- 
stracten   Intellect   entgegen.   (Thesis.) 

Der  Intellect,  der  sie  erfassen  muß,  tritt  in 
Gegensatz  zu  ihr  (negirt  sie)  und  erhebt  gegen  das 
Unsagbare  „Gedankenlose"  in  ihr  Widerspruch.  (Anti- 
thesis.) 

Der  Intellect  erfaßt  die  „gegebene"  Vorstellung 
als  Moment  eines  höheren  Begriffes,  in  dessen  Sphäre 
die  Ansprüche  des  abstracten  Denkens  und  der  ge- 
gebenen Vorstellung  ausgeglichen  werden.  Nun  ist 
die  Vorstellung  gedacht,  ist  Moment  des  Denkens 
geworden,  und  der  Widerspruch  ist  gehoben.  (Syn- 
thesis.) 

Indem  sich  nun  in  jeder  neuen  Synthesis  auch  ein 
neues  Denkproblem  findet,  wiederholt  sich  derselbe, 
beschriebene  Vorgang,  spielt  sich  der  Kampf  des  sich 
emancipirenden  abstracten  Intellects  mit  dem  Unaus- 
sprechlichen fort,  schreitet  die  Dialektik  in  trichoto- 
mischer  Form  weiter,  bis  endlich  das  Ziel  erreicht, 
d.  i.  Alles  gedacht,  das  „diamantene  Netz  der  Begriffe" 
bloßgelegt  ist,  welches  den  Kosmos  durchwebt.  —  Aus 
dieser  allgemeinen  Idee  also  läßt  sich  das  Hegel'sche 
System  als  Ganzes  und  jeder  seiner  Schritte  begreifen. 
Betrachten  wir  z.  B.  jene  erste  Trichotomie  der  Logik, 
welche,  wie  Hegel  selbst  sagt,  „von  dem  Härtesten 
„ist,  was  das  Denken  sich  zumuthet"  und  damit  Man- 
chen gleich  von  der  Schwelle  dieses  Systems  zurück- 
schreckt, so  wird  sie  sich  verständlich  folgender  Maßen 
gestalten : 

Als  allgemeinster  und  erster  Begriff  ist  dem  ab- 
stracten  Intellect   der   des   Seins   gegeben.    Das   Min- 


104  Zweites  Kapitel. 


deste,   was  ich  von  irgend  einem  Objecte  sagen  kann, 
aber  auch  das  Erste,  was  von  ihm  gesagt  werden  muß, 

105  ist:  das  es  ist.  Nun  versteht  die  gewöhn- 1|  liehe  Vor- 
stellung unter  dem  Sein  die  starre  unabhängige  Posi- 
tion. Da  aber  alles  Sein  seine  Bedeutung  nur  gewinnt, 
indem  es  gedacht  wird,  da  überhaupt  „Sein"  und  „im 
abstracten  Intellect  sein'^  d.  h.  „Gedanke  sein"  das- 
selbe ist,  und  da  dieser  Intellect  das  gerade  Gegen- 
theil  jener  starren  Position,  nämlich  seinem  Wesen  nach 
lebendige  Thätigkeit  ist,  so  erklärt  er  dieses  Sein  für 
Nichts  und  hebt  es  auf  im  Begriffe  des  Werdens.*) 

Und  wie  hier  im  Kleinen  die  Anfangsbegriffe  sich 
gestalten,  so  gruppirt  sich  im  Großen  dieses  ganze 
System.  In  der  Logik  ist  der  Geist  an  sich,  als  sub- 
jectiver  Intellect  betrachtet;  in  der  Naturphiloso- 
phie wird  er  sich  äußerliches  Object,  tritt  er  zu  sich 
selbst  in  Gegensatz,  ist  er  selbst  in  seinem  Anderssein ; 

106  indem  ||  er  sich  selbst  in  der  Natur  erfaßt,  hat  er  die 


*)  Hiermit  stimmt  die  Interpretation  Kuno  Fischers  überein, 
welche  ich  für  die  einzig  mögliche,  und  deshalb  richtige  halte.  Siehe 
K.  F.  Log.  u.  Metaph.  2.  Ausg.  §.  28 — 30.  —  Wie  sich  auch  bei  dieser 
Gelegenheit  zeigt,  ist  es  ein  Hauptmangel  der  Hegeischen  Philo- 
sophie, daß  ihr  Denken  in  einem  Netze  von  Worten  fixiert  ist,  deren 
Sinn  nirgends  durch  genaue  Definitionen  hinreichend  bestimmt  wird. 
Daher  kommt  es  denn,  daß  denselben  Worten  von  verschiedenen  An- 
hängern und  Interpreten  die  verschiedensten  Bedeutungen  beigelegt 
werden.  Obgleich  man  nun  überzeugt  sein  muß,  daß  Hegel  selbst 
sich  bei  jedem  dieser  Worte  etwas  ganz  Bestimmtes  gedacht  habe,  so 
wird  doch  seine  Philosophie  durch  jenen  Mangel  der  Willkür  eines 
Jeden  überlassen  und  erscheint  daher  als  etwas  ganz  Unbestimmtes, 
Schwankendes,  Vages.  —  In  einer  kürzlich  erschienenen,  höchst  selt- 
samen Schrift  wird  trotzdem  mit  auffallendem  Pathos  verkündet:  »die 
Hegeische  Logik  besitze  drei  große  „Forcen".  Eine  dieser  „Forcen* 
sei  die  Aufstellung  der  Kategorieen  des  Seins  (Qualität — Quantität — 
Maaß)  und  des  Wesens  (Grund  —  Erscheinung  — Wirklichkeit).  Mit 
jenen  drei  „Forcen"  gleiche  sie  einer  „großartigen  Felsenburg. " 
—  Wozu  der  Lärm?  —  Hier  kann  doch  höchstens  eine  Felsenburg 
von  jener  bekannten  Sorte  gemeint  sein,  welche  der  Franzose  „des 
chäteaux  en  Espagne"  nennt. 


Die  idealistische  Richtung.  105 

Schranken  seiner  Endlichkeit  überwältigt,  ist  freie  In- 
telligenz, absoluter  Geist  geworden.  So  ist  der  Cyc- 
lus  geschlossen,  der  Kosmos  ganz  im  abstracten  Intel- 
lect  erfaßt,  Alles  ist  in  Denken  aufgelöst,  und  dem 
lebendigen  Inhalt  der  sinnlichen  Empfindungen,  wel- 
cher, in  tausend  ursprünglichen  Qualitäten  und  Kräften 
erscheinend,  Stoff  und  Anlaß  201  allen  Vorstellungen 
gibt,   — 

ist  des  Gedankens  Blässe  angekränkelt. 
Wie  schon  erwähnt,  liegt  nun  gerade  in  der  Haupt- 
idee der  Hegel'schen  Philosophie  deren  Haupt- 
fehler. Es  ist  nicht  nur  ein  unmögliches  Postulat,  son- 
dern auch  eine  Umkehrung  des  natürlichen  Verhält- 
nisses, die  Welt  bis  in  ihre  anschaulichen,  unsagbaren, 
nicht  erklärlichen  Elemente  hinein,  mit  dem  abstracten 
Intellect  erfassen,  als  Moment  des  Denkens  darstellen 
zu  wollen.  Der  Gedanke,  der  abstracte  Intellect,  ist 
vielmehr  bedeutungslos,  fällt  in  Nichts,  wenn  er  nicht 
nachweisbar  sich  fortwährend  auf  unmittelbar  anschau- 
liche, nicht  weiter  erklärbare  Data  der  Empfindung 
oder  unvermittelten  Vorstellung  bezieht.  Selbst  die  all- 
gemeinsten und  reinsten  Begriffe  haben  erst  dann  Gel- 
tung, Sinn,  Bedeutung,  wenn  man  überzeugt  ist,  daß 
sie  auf  irgend  welche  Objecte  der  (inneren  oder  äuße- 
ren) Erfahrung  Anwendung  erleiden.  Es  gibt  nirgends 
Das,  was  Hamann  „Jungfernkinder  der  Specu- 
lation"  nennt.  Kurz,  der  abstracte  Intellect  ist  das 
Secundäre,  die  anschauliche  Vorstellung  das  Primäre. 
—  Bei  Hegel  sind  nun  von  vornherein  alle  jene  an- 
schaulichen, unmittelbaren  Bedingungen  jedes  Vorstel- 
lens  und  Erkennens,  Empfindung,  Raum,  Zeit  etc.  ver- 
nachlässigt. Er  sagt  z.  B. :  „Die  Knospe  verschwindet 
„im  Hervorbrechen  der  Blüthe,  und  man  könnte  sagen, 
„daß  jene  von  dieser  widerlegt  wird,  ebenso  wird  durch 
„die  Frucht  die  Blühte  für  ein  falsches  Dasein  der 
„Pflanze   erklärt,   und   als   ihre  Wahrheit  tritt  jene  an 


106  Zweites  Kapitel. 


107  „die  Stelle  ||  von  dieser."*)  Hier  offenbart  sich  jener 
Grundirrthum  klar.  Nur  bei  gänzlicher  Mißachtung  des 
räumlichen  Nebeneinander  und  zeitlichen  Nacheinander, 
als  Grundformen  alles  Vorstellens  und  Seins,  ist  es 
möglich,  diese  Veränderung  und  Entwickelung  für  ein 
„Widerlegtwerden"  der  vorangehenden  Stufe  durch  die 
folgende  zu  halten.  „Widerlegt"  würde  die  Blühte 
nur  dann  durch  die  Frucht,  wenn  die  Blühte  ver- 
sprochen hätte,  Blühte  zu  bleiben.  Aber  dies 
ist  durchaus  nicht  der  Fall.  Die  Natur  spricht  für  einen 
von  Raum  und  Zeit  abhängigen  Intellect  immer 
nur  die  Wahrheit  des  Augenblicks,  der  momentanen 
Gegenwart  aus  und  kann  einem  solchen  gegenüber  über 
die  Zukunft  auch  nicht  eines  einzigen  ihrer  Producta 
sichere  Auskunft  geben  oder  garantiren.  Geschieht 
in  der  Natur  etwas  Anderes,  als  der  abstracte  Intel- 
lect erwartet  hatte,  so  hat  die  Natur  nicht  sich,  son- 
dern i  h  n  widerlegt.  Ueberhaupt  aber  ist  jede  Entwicke- 
lung die,  am  Faden  der  Zeit  sich  fortpflanzende,  un- 
unterbrochene Verknüpfung  einander  bedingender  Zu- 
stände;  sie  kann  nur  in  der  Zeit  stattfinden  und 
würde  ohne  sie  verschwinden.  Dies  gilt  natürlich 
auch  von  der  bedeutendsten  aller  Entwickelungen,  näm- 
lich der  des  Geistes.  Anstatt  aber  dies  einzusehen, 
will  Hegel  in  der  Dialektik  jene  formalen  Grundbe- 
dingungen alles  Vorstellens  und  Denkens,  Raum  und 
Zeit,  erst  als  Resultat  einer  langen,  vorhergehenden 
Qedankenreihe  erscheinen  lassen,  während  sie  doch 
allen  Gedanken  vorausgehen.  Ja  sie  erscheinen  nicht 
einmal  in  der  Logik,  sondern  erst  in  der  Naturphilo- 
sophie. —  Wie,  frage  ich,  kann  man  von  „Sein",  von 
„Qualität  und  Quantität",  von  „Innerem  und  Aeuße- 
rem"  sprechen,  ehe  Raum  und  Zeit  da  sind,  ohne  daß 
sie   vorausgesetzt   sind  ?   —    Diese    Begriffe   sind   eben 


*)  Phänomenologie,  pag.  4. 


Die  idealistische  Richtung.  107 

SO  II  gut,   wie   „rechts   und  links"   sinnlos   ohne  vor- 108 
ausgehende    räumlich -zeitliche     Anschauu  n[g. 
Wer  diese  letztere,  anstatt  sie  vorauszusetzen,  als  Re- 
sultat einer  Gedankenreihe  darstellen  will,  begeht,  ge- 
linde gesagt,  ein  unmögliches  vatsQov  nQoxsQov. 

Hierin  liegt  nun  eigentlich  schon  das  Urtheil  über 
die  Hegeische  Philosophie;  denn  so  kann  sich  nur 
Jemand  täuschen,  dem  Raum  und  Zeit  als  für  das  Den- 
ken gleichgültig  und  unwesentlich  gelten,  dessen  Den- 
ken außer  ihnen  liegt,  also  im  Gebiete  des  „Dings 
an  sich".  —  Aber,  kann  man  einwenden,  Hegel  hat 
doch  ausdrücklich  das  Kantische  Ding  an  sich 
für  ein  „caput  mortuum",  für  „das  Negative  der 
„Vorstellung,  des  Gefühls,  des  bestimmten  Denkens" 
erklärt.*)  Ganz  richtig!  Aber  erstens  gilt  ihm  dieser 
Unbegriff  immer  noch  für  einen  „überwundenen  Stand- 
punkt", der  auf  einer  bestimmten  Entwickelungsstufe 
der  Philosophie  nothwendig  war,  während  er  in  der 
That  nach  den  eigenen  Principien  Kants  eine  unmögliche 
Hülfshypothese  zur  Erklärung  einer  falschen  Behaup- 
tung, eine  unvorstellbare  Vorstellung  ist ;  dann  aber  ist 
Hegel  selbst  wiederum  in  denselben  Fehler  gefallen. 
Lassen  wir  ihn  mit  seinen  eigenen  Worten  reden.  Im 
Anfange  der  Phänomenologie,  welche  bestimmt  ist,  uns 
auf  den  Standpunkt  des  absoluten  Denkens  zu  erheben, 
sagt  er :  „Indem  das  Bewußtsein  zu  seiner  wahren  Exi- 
„stenz  sich  forttreibt,  wird  es  einen  Punkt  erreichen, 
„auf  welchem  es  seinen  Schein  ablegt,  mit  Fremdarti- 
„gen,  das  nur  für  es  und  als  ein  Andres  ist,  behaftet 
„zu  sein,  oder  wo  die  Erscheinung  dem  Wesen  gleich 
„wird,  seine  Darstellung  hiemit  mit  eben  diesem  Punkte 
„der  eigentlichen  Wissenschaft  zusammen  fällt,  und  end- 
„lich,  indem  es  selbst  dies  Wesen  erfaßt,  wird  es  die 
„Natur    des    absoluten   Wissens    selbst   bezeichnen."**) 

*)  Encyclopädie  §.  44.  pag.  49. 
**)  Phänomenologie  pag.  72. 


108  Zweites  Kapitel. 


109  Am  Ende  der  Phäno-  il  menologie  wird  denn  auch  der 
versprochene  Punkt,  wo  das  Bewußtsein  „das  Fremd- 
artige, womit  es  behaftet  ist",  ablegt  und  sein  eigenes 
Wesen  erfassend  in  absolutes  Wissen  übergeht,  deut- 
lich genug  bezeichnet.  Dort  heißt  es  nämlich:  „Der 
„Geist  erscheine  so  lange  in  der  Zeit,  als 
„er  nicht  seinen  reinen  Begriff  erfaßt,  d.h. 
„die  Zeit  tilg  t."  *)  Damit  ist  also  klar  und  deut- 
lich gesagt,  daß  das  Wesen  des  Geistes  außer  der 
Zeit  sei.  Somit  haben  wir  gefunden,  was  wir  suchen, 
nämlich  das  Verhältniß  des  Hegel'schen 
Systemes  zum  Kantischen  „Ding  an  sich." 
—  Das  Unternehmen,  den  Kosmos  als  Aeußerung  oder 
Erscheinung  eines  absoluten  Geistes  darzustellen,  muß 
uns,  in  welcher  Form  auch  ausgeführt,  unbarmherzig 
in  das  Dilemma  reißen : 

Entweder  es  werden  Raum  und  Zeit  vorausge- 
setzt ;   dann   ist  der  Geist  nicht  absolut. 

Oder  er  ist  absolut,  Raum  und  Zeit  werden 
nicht  vorausgesetzt;  dann  ist  er  außerräumlich, 
außerzeitlich,  also  eine  Vorstellung,  die  nicht  vor- 
stellbar  ist,   —   „Ding  an   sich." 

Hiermit  sind  wir  zur  Anwendung  unseres  kriti- 
schen Verfahrens  berechtigt.    Wir  finden: 

Hegel  setzt  nicht  bloß  mittelbar  die 
Kantische  Philosophie  voraus,  insofern 
er  direct  an  die  Fi ch te- Seh e 1 1 i n gsch e 
Speculation  anknüpft,  welche  wiederum 
ohne  Kant  unmöglich  gewesen  wäre;  son- 
dern auch  unmittelbar,  insofern  der  kriti- 
sche Dualismus  ihm  als  nothwendige  Vor- 
stufe im  Ent  Wickel  ungsgan  ge  der  Philo- 
sophie und  als  aufgehoben  in  der  Identi- 
tätsphilosophie gilt.  II 


*)  ibid.  pag.  604. 


Die  idealistische  Richtung.  109 

Er  hat  ferner  das  Kantische  „Ding  anllO 
sich"   sehr   gut   gekannt   und   genauer   be- 
sprochen. 

Trotzdem  hat  er  es  nicht  nur  nicht  aus 
der  Kantischen  Philosophie  hinausge- 
worfen, sondern  ist  selbst  in  denselben 
Fehler  gerathen,  da  sein  absoluter  Geist, 
als  außerräumlich  und  auß  er  zei  tli  ch,  in 
die  Sphäre  des  „Dings  an  sich"  fällt.  Er 
hat  also  die  Kantische  Philosophie  in 
diesem  Punkte  nicht  corrigirt. 

Also  muß  auf  Kant  zurückgegangen 
werden.  11 


111  Drittes  Kapitel 


Die  realistische  Richtung. 
Herbart. 

Les  creatures  franches  ou  affranchies  de  la  matiere, 
seraint  detachees  en  meme  tems  de  la  liaison  universelle, 
et  corame  les  deserteurs  de  l'ordre  general. 

Leibnitz,  Considerat.  sur  le  princ.  de  vie.  edit. 
Erdmann  pag.  432. 

Es  ist  ein  nicht  ganz  unverdächtiger  Ruhm  der 
Kantischen  Philosophie,  so  verschiedenartigen 
Richtungen  als  Ausgangspunkt  und  gemeinsame  Grund- 
lage gedient  zu  haben.  Wenn  hiervon  allerdings  ihre 
Tiefe  und  Vielseitigkeit  Mitursache  ist,  so  darf  man 
doch  auf  den  Gedanken  kommen,  nur  ihr  immanenter 
Fehler  könne  daran  schuld  sein,  daß  zwei  so  diametral 
entgegengesetzte  Weltanschauungen  aus  ihr  entsprungen 
sind,  wie  die  soeben  betrachtete  idealistische  und  die 
realistische,  zu  der  wir  jetzt  übergehen.  Freilich  knüpfen 
beide  an  verschiedene  Punkte  der  gemeinsamen  Grund- 
lehre an,  freilich  erheben  sie  sehr  bald  in  entgegenge- 
setzter Beziehung  wider  jene  Widerspruch.  Aber  man 
kann  so  ziemlich  a  priori  überzeugt  sein,  daß  ein  wirk- 
lich consequent  durchgeführtes  System  derartige  Diver- 
genz nicht  nach  sich  gezogen  haben  würde.  — 

Doch  schlagen  wir  uns  für  jetzt  diese  Gedanken 
aus  dem  Sinne ;  knüpfen  wir  an  die  incorrecte  Kantische 
Lehre  an ;  sehen  wir  zu,  welcher  Weg  von  ihr  zum 
Herbartischen    Realismus    geführt   hat.  || 


Die  realistische  Richtung.  111 

Erfahrung  ist,  wie  Kant  eingesteht,  jene  erste,  112 
unleugbare  Thatsache,  welche  uns  vorliegt  und  vor- 
liegen muß,  bevor  wir  zu  irgend  welchem  Nachdenken 
Stoff,  zum  Philosophiren  Veranlassung  haben.  Er- 
fahrung ist  also  dasjenige,  woran  unser  Nachdenken 
anknüpfen,  was  es  erklären  und  faßbar  machen  soll ; 
sie  ist  es,  welche  uns  bei  einigem  Besinnen  eine 
Menge  von  zu  lösenden  Problemen  stellt ;  welche 
einerseits  als  Thatsache,  andererseits  als  Räthsel  er- 
scheint und  von  jedem  Denkenden  Erklärung  fordert. 
Lösung  der  Probleme  in  der  Erfahrung  durch  Nach- 
denken ist  Philosophie.  Die  Philosophie  hat  demnach 
im  Allgemeinen  die  Frage  zu  beantworten :  Welches 
sind  die  Bedingungen,  unter  denen  Erfahrung  zu 
Stande  kommen  konnte?  oder:  Wie  ist  Erfahrung 
möglich?  Indem  sie  die  Antwort  auf  diese  Frage 
sucht,  ist  sie  kritisch;  und  gerade  an  diese  Seite 
der  Kantischen  Philosophie  knüpft  Herbart  an. 

In  wiefern,  müssen  wir  zunächst  fragen,  ist  denn 
nun  die  Erfahrung  ein  Problem?  In  wiefern  fordert 
sie  uns  also  zum  Nachdenken  auf?  Alles  Nachdenken 
hat  seinen  Grund  in  vorhergehender  Ungewißheit  oder 
im  Zweifel ;  und  wir  müssen  daher  zusehen,  welche 
Zweifel  uns  von  den  Thatsachen  der  Erfahrung  auf- 
genöthigt  werden.  Diese  sind  nun  mannigfacher  Art. 
Sehr  oft  sind  sie  aufgezählt  und  zu  beschwichtigen 
oder  zu  beantworten  gesucht  worden.  Zuletzt  ist  uns 
die  ganze  empirische  Welt  in  unsern  Empfindungen 
als  eine  unendliche  Menge  von  sinnlichen  Qualitäten 
gegeben,  die  sich  zu  Dingen  in  der  mannigfaltigsten 
Weise  gruppiren  und  miteinander  wechseln.  Sinn- 
liche Dinge  mit  wechselnden  oder  sich  verändernden 
Eigenschaften  sind  also  der  Inhalt  unserer  äußeren 
Erfahrung.  Sie  sind  uns,  wie  sich  Kant  ausdrückt, 
„gegeben",  dt  h.  von  uns  als  eine  Thatsache  ||  vor- 113 
gefunden,    über    deren    Ursprung    wir    zunächst   gar 


112  Drittes  Kapitel. 


nichts  wissen.  Nun  bemerken  wir  aber  sehr  leicht, 
daß  die  sinnlichen  Eigenschaften  der  gegebenen  Dinge 
nicht  nur  wechseln,  sich  ändern,  entstehen  und  ver- 
gehen, sondern  auch,  daß  sie,  je  nach  den  obwalten- 
den äußeren  Umständen  und  Bedingungen,  unter 
denen  sie  wahrgenommen  werden,  ganz  verschieden 
erscheinen.  Ein  Körper  hat  diese  Farbe,  —  aber 
nur  im  Lichte ;  er  klingt,  —  aber  nur  im  Medium  der 
Luft ;  er  ist  schwer,  —  aber  nur  auf  dem  Planeten 
u,  s.  w.  *)  Kurz,  jene  „gegebenen"  Eigenschaften  sind 
nichts  Absolutes,  Selbständiges,  sondern  ein  ganz  Re- 
latives, Bedingtes.  Demnach  erkennen  wir  in  den 
Empfindungen  unserer  Sinne  zwar,  daß  uns  etwas 
gegeben  ist,  aber  ,jdas  Was  der  Dinge  :wird  uns 
durch  die  Sinne  nicht  bekannt".  **)  Wir  müssen  uns 
daher  gestehen,  daß  die  empirische  Sinnenwelt  nur 
ein  Schein  ist  von  irgend  etwas  Unbekanntem,  oder 
wie  Kant  sagt,  daß  nur  Erscheinungen,  nicht 
„Dinge  an  sich"  gegeben  sind.***)  Soviel  aber 
können  wir  von  vornherein  behaupten,  daß,  d  a  d  e  r 
Schein  da  ist,  schlechterdings  auch  ein  Etwas 
sein  muß,  was  den  Schein  gibt,  was  scheint; 
mag  der  „Inhalt  des  Scheins  uns  vorgespiegelt  sein", 
so  ist  doch  das  Vorspiegeln  Thatsache ;  der  Inhalt 
des  Scheins  wird  verneint,  sein  Dasein  läßt  sich  nicht 
leugnen.  Indem  wir  also  den  Schein  nicht  für 
114  Nichts,  sondern  nur  für  das  täuschende  Product  || 
eines  seienden  Etwas  erklären,  müssen  wir  be- 
haupten :  „W ie  viel  Schein,  soviel  Hindeu- 
tung  auf   Sein".!) 


*)  Herbarts  „Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie"  §.  118. 

—  J.  F.  Herbarts  Sämmtliche  Werke.  Herausg.  v.  Hartenstein.  Band  I. 

**)  Lehrb.  zur  Einleit.  i.  d  Philosoph.  §.  118.  S.  W.  B.  1.  pag.  177. 

***)  „Seit  Kant  darf  der  Satz  uns  wenigstens  nicht  befremden,  daß 

wir  die  Dinge  an  sich  nicht  erkennen".    Hauptpunkte  d.  Metaphysik. 

Vorrede.    S.  W.  B.  III.  pag.  4.  conf.  pag.  20,  Anmkg.  pag.  34. 

I  t)  ibid.  pag.  14. 


Die  realistische  Richtung.  113 

Constatiren  wir  dies  zunächst. 

Betrachten  wir  nun  die  ganze  Menge  des  ge- 
gebenen empirischen  Scheins,  so  finden  wir,  daß  die 
einzelnen  Empfindungen  nicht  selbständig,  isolirt,  zu- 
sammenhanglos im  Leeren  schweben,  nicht  ein  unge- 
ordnetes Chaos  von  Qualitäten  bilden,  sondern  in 
Gruppen  geordnet  erscheinen.  Sie  sind  Eigen- 
schaften von  Dingen.  Die  Dinge  sind  das  Sub- 
strat, welches  bleibt,  auch  wenn  die  Eigenschaften 
wechseln.  Im  Allgemeinen  sind  also  alle  Data  der 
Sinne  synthetisch  mit  einander  verknüpft,  und  — 
[hier  beginnt  die  Abweichung  von  Kant]  —  so 
sind  uns  von  der  Erfahrung  nicht  bloß  die  JE  m  - 
pfindungen,  sondern  auch  deren  Synthesen, 
nicht  nur  (wie  Kant  meint)  die  Materie,  sondern 
auch  die  Form  der  Objecte  gegeben.  Je  nachdem 
man  vor  Allem  die  beharrliche  Unterlage  als  Einheit 
im  Verhältnisse  zu  der  Vielheit  von  inhärirenden 
Eigenschaften,  oder  den  Wechsel,  die  Veränderung 
der  Eigenschaften  und  den  Grund  derselben  in's  Auge 
faßt,  erhält  man  die  Synthesen  von  Inhärenz  und 
Subsistenz  oder  Gau  sali  tat  und  Dep  en- 
den z,  welche  Kant  Kategorieen  nannte.  Auch  diese 
also  sind  uns  gegeben,  von  der  Erfahrung  auf- 
gedrungen. Betrachten  wir  nun  aber  diese  erfahrungs- 
mäßigen allgemeinen  Synthesen  genauer,  so  finden 
wir,  daß  sie  Widersprüche  enthalten.  Was  ist 
nämlich  zunächst  das  Ding  im  Verhältniß  zu  seinen 
Eigenschaften?  Es  ist  der  Complex  derselben; 
nähme  ich  alle  Eigenschaften  nach  einander  hinweg, 
so  bliebe  vom  ,, Dinge"  Nichts  übrig.  Dennoch  aber 
halten  wir  das  Ding  nicht  blos  für  eine  Summe 
von  [1  Eigenschaften,  sondern  für  deren  I  n  h  a  b  e  r  ;  115 
wir  sagen:  ,,es  hat  diese  Eigenschaften,  diese  in- 
häriren  ihm.*'  Wir  suchen  also  eine  Einheit, 
welche    uns    doch    nur   als    Vielheit    erscheint.     Im 

Neudrucke:    Lieb  mann,  Kant.  8 


114  Drittes  Kapitel. 


Begriff  des  Dinges  mit  vielen  Eigenschaften  sind 
also  Einheit  und  Vielheit  identisch!  Wie 
soll  sich  das  zusammen  reimen? 

Ferner :  Wenn  sich  ein  Ding  verändert,  so  ver- 
liert es  einige  seiner  Eigenschaften  und  erhält  da- 
für andere.  Nun  sahen  wir  aber,  daß  nur  durch  das 
Zusammenbestehen  aller  Eigenschaften  das  „Ding** 
gegeben  war.  Dennoch  sage  ich,  auch  nach  der  Ver- 
änderung, nach  dem  Wechsel  eines  Theils  der  Eigen- 
schaften, das  Ding  sei  dasselbe!  —  Nehme  ich  z.  B. 
d  a  s  G  o  1  d.  Es  ist  gelb,  elastisch,  glatt,  schwer,  fest, 
klingend  u.  s.  w.  Nun  werde  es  geschmolzen. 
Dann  hat  es  einige  seiner  Eigenschaften  verändert, 
gegen  andere  eingetauscht.  Es  klingt  nicht  mehr, 
ist  nicht  mehr  fest,  sondern  flüssig  u.  s.  w.  Dennoch 
ist  es  noch  dasselbe  Gold,  dasselbe  Ding.  —  Während 
demnach  einerseits  eine  innere  Einheit  vorausgesetzt 
wird,  welche  die  Eigenschaften  in  sich  vereint  und 
trotz  ihres  Wechsels  identisch  bleibt,  ist  es  doch 
andererseits  Thatsache,  daß  diese  Einheit  selbst 
wesentlich  mit  der  Vielheit  zusammenfällt.  Denn,  wie 
gesagt,  wenn  man  die  Eigenschaften  hinwegnähme, 
.was  bliebe  vom  Ding  übrig  ?  Nichts.  Also  ergibt  sich : 
„Das  Ding  als  Einheit  ist  mit  der  Vielheit 
„seiner  Eigenschaften  identisch  und  doch 
„nicht   identisch."     Ein    baarer   Widerspruch! 

Ich  finde  also  in  den  gegebenen  Synthesen  der 
Erfahrung  Widersprüche.  Bis  jetzt  hatten  wir 
als  solche  gefunden : 

1)  Das   Ding  mit  vielen   Merkmalen. 

2)  Das  Ding  mit  wechselnden  Merk- 
malen. 

Bei  fernerer  Analyse  finden  wir  aber  noch  fol- 
gende:  II 
116  3)    Den    Begriff    der    im    Raum    ausge- 

dehnten  Materie. 


Die  realistische  Richtung.  115 

Die  Materie  ist  ein  räumliches  Quantum,  also 
begrenzt.  Die  Materie  ist  aber  auch  ein  Conti- 
n u u m ,  also  besteht  sie  aus  unendlich  vielen 
T h e i  1  e n.  Ein  Begrenztes  also,  das  aus  unend- 
lich vielen  Theilen   besteht! 

4)  Den  Begriff  des  in  der  Zeit  behar- 
renden  Ichs. 

Das  Ich  soll  einerseits  einfach,  beharrlich,  iden- 
tisch in  der  Zeit,  Eins  und  dasselbe  sein  in  allen 
seinen  Aeußerungen,  und  doch  finden  wir  es  in 
jedem  Augenblicke  als  ein  Anderes.  Es  vereint  also 
die  beiden  zuerst  angeführten  Widersprüche,  des 
Dings  mit  vielen  und  mit  wechselnden  Merkmalen 
in  sich.  *) 

Demnach  finden  wir:  Von  der  Erfahrung  sind 
uns  Begriffe  aufgedrungen,  die  wir  daher  denken 
müssen,  die  aber  innerlich  widersprechend,  also 
logisch  unmöglich  sind,  die  wir  also  nicht  denken 
können. 

Constatiren   wir   dies   ebenfalls. 

Das  Gesammtresultat  der  bisherigen  Unter- 
suchung ist  somit  folgendes :  Die  Erfahrung  ist  uns 
als  Thatsache  gegeben.  Sie  besteht  aus  der  ganzen 
Menge  sinnlicher  Empfindungen,  welche  synthetisch 
verknüpft  sind.  Aber  die  sinnlichen  Eigenschaften 
sind  Schein,  und  die  verknüpfenden  Synthesen  sind 
sich  selbst  widersprechend.  Dennoch  ist 
Beides  uns  von  der  Erfahrung  aufgenöthigt, 
existirt.  Aller  Schein  in  der  Empfindung  deutet 
nothwendig  auf  ein  Sein,  auf  ein  Reales,  welches 
ihm  zu  Grunde  liegt.  Was  aber  sollen  wir  mit  den 
begrifflichen  Synthesen  anfangen,  welche  uns  auch 
gegeben  sind,  und  doch  sich  widersprechen,  welche 
wir  denken  müssen,  und  doch  nicht  denken 


*)  Lehrb.  z.  Einl.  in  d.  Ph.  §§.  116—124.  a.  a.  O. 


116  Drittes  Kapitel. 


können?  —  Wenn  es  die  Aufgabe  der  Philosophie 
117  ist,  11  dem  wahrhaft  Seienden,  Realen  auf  den  Grund 
zu  kommen,  dessen  Existenz  uns  durch  das  Dasein 
des  Scheines  verbürgt  ist,  so  wird  sie  sich  vor  allen 
Dingen  mit  den  gegebenen  und  doch  sich  wider- 
sprechenden begrifflichen  Synthesen  auseinander 
setzen  müssen.  Hierbei  ist  nun  besonders  zu  bemer- 
ken, daß  „wenn  ein  Gegebenes  nicht  gedacht  werden 
„kann,  es  deshalb  noch  nicht  verurtheilt  ist,  wegge- 
„worfen  zu  werden,  sondern  daß  es  im  Denken 
„anders  gefaßt  werden  muß^'.  *)  Deshalb 
„kommen  die  ursprünglichen  Aufgaben  sämmtlich  in 
„dem  Charakter  überein,  daß  Widersprüche  aus 
„den  Formen  der  Erfahrung  hinwegzu- 
„schaffen  sind.  —  Die  Erfahrung  gilt  für  Kennt- 
„niß  des  Realen  ;  jeder  Widerspruch  aber,  der  sich 
„darin  findet,  hebt  diesen  Anspruch  auf,  oder  viel- 
,,mehr  er  suspendirt  ihn  für  solange,  bis  die  Lösung 
„gefunden  ist*'.  **) 

Wie  entfernen  wir  nun  diese  Widersprüche? 
Offenbar  dadurch,  daß  wir  uns  darüber  klar  machen, 
welches  reale  Verhältniß  jenen  Synthesen  entspricht, 
d.  h.  indem  wir  die  Frage  aufwerfen  und  beant- 
worten :  „Durch  welche  Gedankenoperation  ist  es 
möglich,  jene  Begriffe  so  zu  fassen,  daß  sie  an  sich 
widerspruchslos,  logisch  richtig  sind  als  existenzfähig 
und  zugleich  die  erfahrungsmäßigen  Widersprüche  er- 
klären ?"  —  Da  nun  der  Widerspruch  in  der  Sphäre 
des  Scheins,  das  in  ihm  uns  aufgedrängte  wahre 
Verhältniß  aber  in  der  widerspruchslosen  Sphäre  des 
Seins,  des  Realen  liegt,  so  gilt  es  zunächst,  die 
Ansprüche  zu  formuliren,  die  wir  an  ein  wirklich 
Seiendes   stellen   müssen. 


*)  Allgemeine  Metaphysik.  §.  184.  S.  W.  B.  IV.  pag.  47. 
**)  ibid.  §.  127.  S.  W.  B.  III.  pag.  385. 


Die  realistische  Richtung.  117 

Das  Reale,  wirklich  Seiende  muß  vor 
allem  schlechthin  unabhängig  und  noth- 
wendig  existiren.  Wäre  es  nicht,  so  wäre  auch 
nicht  der  Schein,  in  welchem  es  sich  ||  manifestirt.  118 
Der  Schein  aber  ist  Thatsache.  Demnach  kommt  dem 
Realen  schlechthin  unbedingte  Existenz  zu,  das 
Sein  des  Realen  ist  absolute  Position. 

Aber  dies  kann  uns  nicht  genügen.  Denn  die 
absolute  Position  ist  nur  noch  ein  leerer  Be- 
griff, gleichsam  ein  unausgefülltes  Functionszeichen, 
welches  erst  Bedeutung  gewinnt,  wenn  man  es  mit 
irgend  einem  X  ausfüllt.  Es  ist  also  irgend  ein  Was, 
dem  wir  durch  die  absolute  Position  schlechthin  un- 
bedingte Existenz  zusichern.  Das  Reale  ist  ein  quäle, 
dem  gewissermaßen  der  metaphysische  Ort  des  un- 
bedingten Seins  zukommt. 

Wenn  es  nun  aber  absolut  sein  soll,  so  müssen 
seine  Beschaffenheiten,  seine  Prädicate  der  Art  sein, 
daß  sie  absolut  gesetzt  werden  können,  es  darf  ihnen 
von  alledem  Nichts  beigelegt  werden,  was  die  Objecte 
der  Erfahrung  zum  Scheine  macht,  was  uns  verhindert, 
diesen  letzteren  unbedingtes  Sein  zuzusprechen.  Dar- 
aus ergibt  sich  denn :  Das  Reale  muß  sein 

1)  Schlechthin  positiv  und  affirma- 
tiv;   ohne    Einmischung   von    Negationen. 

2)  Schlechthin  einfach. 

3)  Allen  Begriffen  der  Quantität 
schlechthin   unzugänglich. 

4)  Wie  viel  es  aber  sei,  bleibt  durch 
den  Begriff  des  Seins  ganz  unbestimmt.*) 

Dies  ist  nun  das  Material,  aus  dem  die  Herbart- 
sche  Welt  erbaut  ist,  der  charakteristische  Hauptbegriff 
seines  Systems,  in  dessen  Mittelpunkt  wir  uns  jetzt  be- 
finden.   Wir  müssen  aber  noch  einige  Schritte  mit  ihm 


*)  Allgem.  Methaphysik.  §§.206,  207,  208.  ff. 


118  Drittes  Kapitel. 


weiter  gehen,  um  seine  Weltansicht  soweit  kennen  zu 
lernen,  daß  wir  ihre  Stellung  zu  unserem  kritischen  Ge- 
sichtspunkte beurtheilen  können.  || 
119  Die  philosophische  Untersuchung  weiß  nun,  wie 

der  Begriff  des  an  sich  seienden  Realen  zu  fassen  ist, 
welches  der  Welt  des  Scheins  zum  Grunde  liegen 
muß.  Es  bleibt  zu  untersuchen  übrig,  wie  diese 
Scheinwelt  aus  dem  Realen  erklärlich  ist;  spezieller, 
wie  jene  synthetischen  Begriffe,  die  uns  als  sich 
selbst  widersprechend  in  der  Erfahrung  aufgedrungen 
sind,  gedacht  werden  müssen  im  widerspruchslosen 
Gebiete  der  absoluten  Position,  so  daß  sie  doch  zu- 
gleich die  Data  der  Erfahrung  so  zu  produciren  im 
Stande  sind,  wie  wir  diese  vorfinden.  —  Innerhalb 
der  Erfahrung,  der  Welt  des  Scheins,  wäre  es,  wie 
gesagt,  unmöglich,  die  Lösung  jener  Widersprüche 
zu  finden,  da  diese  selbst  ja  uns  überall  jene  synthe- 
tischen Begriffe  zugleich  mit  den  immanenten  Wider- 
sprüchen aufnöthigt.  Wir  müssen  also  auf  die  Realen, 
deren  Begriff  wir  soeben  gefunden  haben,  recurriren. 
Die  Realen  sind  nun  ohne  alle  jene  empirischen 
Eigenschaften  und  Kräfte,  auf  welche  die  bewußten 
Synthesen  im  Gebiete  der  Erfahrung  Anwendung  er- 
leiden. Es  fragt  sich  also:  Wie  werden  jene  Begriffe 
umgestaltet,  umgedacht  werden  müssen,  wenn  man 
das  Empirische  aus  ihnen  gänzlich  hinwegnimmt? 

Wenden  wir  uns  zunächst  an  den  Begriff  des 
Dings  mit  vielen  Merkmalen,  das  Pro- 
blem der  Inhären  z.  In  diesem  Begriffe,  wie  ihn 
uns  die  Erfahrung  liefert,  soll  einerseits  eine  Vielheit 
von  sinnlichen  Eigenschaften  gedacht  werden,  welche 
doch  andererseits  als  Ding  eine  Einheit  ist.  Da,  wie 
gesagt,  jeder  Schein  auf  ein  Sein  hindeutet,  so  müssen 
zur  Erklärung  der  vielen  Eigenschaften  auch  viele 
Reale  da  sein  ;  die  Einheit  hingegen,  das  Ding,  das 
Subsistens   der  verschiedenen   Inhärirenden   ist  keine 


Die  realistische  Richtung.  119 

sinnliche  Eigensctiaft,  ist  aber  doch  in  der  Erfahrung 
gegeben,  fordert  also  ebenfalls  eine  absolute  Position. 
Daher  thun  wir  den  ersten  Schritt  nur  zur  Lösung 
des  Wider- 1|  spruchs,  indem  wir  sagen  :  D  a  s  j  e  n  i  g  e ,  120 
was  dem  Schein  eines  Dings  mit  vielen 
Eigenschaften  zum  Grunde  liegt,  ist  an 
sich  eine  Vielheit  von  Realen,  die  durch 
ihre  Verhältnisse  zu  einander  das  her- 
vorbringen, was  uns  als  reale  sinnliche 
Eigenschaften  erscheint.  Damit  ist  aber  das 
Problem  noch  nicht  gelöst ;  es  bleibt  noch  zu  erklären 
übrig,  weshalb  diese  realen  Eigenschaften  zur  Ein- 
heit verknüpft  erscheinen.  Nicht  eine  einzelne  von 
den  Eigenschaften  bildet  jenes  unsichtbare  Centrum, 
sondern  irgend  ein  Etwas,  das  wir  nicht  wahrnehmen. 
Wir  thun  demnach  den  zweiten  Schritt  zum  Ziele, 
indem  wir  sagen:  Jenes  Aggregat  von  vielen 
Realen  producirt  dadurch  den  Schein  der 
Einheit,  daß  jedes  der  Realen  nicht  nur 
mit  jedem  der  Uebrigen,  sondern  alle 
wiederum  mit  einem  Bestimmten  unterj 
ihnen  in   Beziehung  stehen.*) 

Damit  ist  nun  freilich  die  endgültige  Lösung  des 
Widerspruchs  noch  immer  suspendirt ;  denn  indem  jene 
Vielheit  von  Realen  sich  durchweg  auf  Eines  unter  ihnen, 
als  Centrum,  bezieht,  erscheint  diese  Eine  als  Grund 
oder  Ursache  des  Zusammenseins  und  sich  Be- 
ziehens  der  Vielen.  Wir  sind  somit  weiter  verwiesen 
auf  den  Begriff  der  Causalität  —  Da  es  uns  nun 
aber  hier  nur  darauf  ankommt,  einen  allgemeinen  Ein- 
blick in  das  Verfahren  zu  gewinnen,  mittelst  dessen 
Herbart  die  Erfahrungsbegriffe  denkbar  macht,  die 
Widersprüche    entfernt,   und   so   die  Welt   des    Scheins 


*)  Hauptpunkte  d.  Metaphysik.  §§.  3  u.  4.  —  Allgem.  Metaphysik. 
213—223. 


120  Drittes  Kapitel. 


aus  der  Welt  des  Realen  construirt,  da  es  uns  ferner 
zu  weit  führen  würde,  wenn  wir  sein  Unternehmen 
bis  in  die  genaueren  Einzelheiten  verfolgen  wollten, 
121  so  müssen  wir  uns  mit  dem  Bis- 1!  herigen  begnügen 
und  zur  Kritik  dieser  Gedankenreihe  im  bewußten  Sinne 
übergehen.  —  Herbart  ist  ein  sublimer  Kopf;  seine 
Philosophie  umgibt  sich  gleichsam  nach  allen  Seiten 
mit  Nadelspitzen.  Untersuchen  wir,  worin  denn  diese 
apices  haften. 

Natürlich  haben  wir  es  vor  Allem  mit  dem  Be- 
griffe des  Realen  zu  thun,  wie  ihn  Herbart  gefaßt 
hat.  Es  wird  aber  schon  aufgefallen  sein,  daß  wir  die 
Bedeutung,  welche  Raum  und  Zeit  in  der  Herbart- 
sehen  Speculation  überhaupt,  und  zunächst  zu  dem  Be- 
griffe des  Realen  einnehmen,  nicht  beachtet,  vernach- 
lässigt haben.  Dies  ist  (wir  gestehen  es  offen)  nicht 
unabsichtlich  geschehen,  und  zwar  aus  folgendem 
Grunde : 

Raum  und  Zeit,  wie  sie  uns  als  stetige,  end- 
lose Anschauungen  und  Formen  des  Anschauens  gegeben 
sind,  gehen  nach  Herbarts  Ansicht  nicht  als  Bedin- 
gungen a  priori  aller  (inneren  und  äußeren)  Erfahrung 
voraus,  sondern  sind,  wie  er  meint,  aus  der  Erfahrung 
abstrahirt ;  sie  sind  nur  nothwendig,  weil  sie  das 
Wirkliche  ermöglichen.  Demnach  sind  sie  em- 
pirisch und  haben  daher  auf  das  an  sich  seiende 
Reale  gar  keine  Anwendung.  Diese,  der  Kanti- 
schen Grundwahrheit  widersprechende,  Ansicht  haben 
wir  bereits  im  ersten  Kapitel  (pag.  21.  Anmk.)  abge- 
fertigt und  kommen  daher  nur  nothgedrungen  auf  sie 
zurück.  Wie  wir  schon  an  jener  Stelle  sahen,  beruht 
diese  irrige  Ansicht  nur  darauf,  daß  Herbart  den 
innersten  und  tiefsten  Sinn  dieser  Kantischen  Lehre 
nicht  erfaßt  hat.  Bestätigt  finden  wir  dies,  wenn  er 
z.  B.  sagt:  ,,Zwar  der  Geometer  und  der  Metaphysiker 
,. haben  diese  unendlichen  Größen   (Raum  und  Zeit)  im 


Die  realistische  Richtung.  121 

„Kopfe  ;  und  sie  erinnern  sich  vielleicht  nicht  mehr  der 
„Zeit,  da  sie  dieselben  durch  absichtliche  und  der 
„Wissenschaft  angehörige  Constructionen  erzeugten. 
„Aber  der  gemeine  Mann  behilft  sich  mit  so  viel  Raum 
„und  so  viel  Zeit  als  hinreicht,  um  die  bekannten  Er- 
„fahrungsgegenstände  damit  zu  il  umhüllen  und  darin  122 
„zu  ordnen."*)  Dies  soll  eine  treffende  argumentatio 
ad  hominem  sein  ;  ist  es  aber  durchaus  nicht.  Qehen 
wir  nur  darauf  ein !  —  Der  einfache  Bauer,  der  selten 
über  seine  Dorfflur  hinausgekommen  sein  mag  und  die 
Zeit  nur  nach  dem  Kalender  berechnet,  vi^eiß  zunächst 
nur,  daß  N-heim  hinter  X-hausen  liegt ;  hätte  er  nun 
auch  niemals  N-heim  gesehen,  vi^äre  er  überdies  noch 
so  beschränkt  (indoctus  und  indocilis),  so  würde  er 
doch  nimmermehr  glauben,  daß  die  Welt  da  aufhörte, 
wo  seine  Kenntniß  der  Oertlichkeiten  ein  Ende  hat, 
sondern  dort  begönne  vielmehr  das  „dahinter" ;  ja, 
wenn  er  auch  glaubte,  daß  irgendwo  die  Welt  mit 
Brettern  vernagelt  sei,  so  würde  eben  hinter  diesen 
Brettern  nach  seiner  Meinung  irgend  etwas  Anderes  als 
die  Welt  sein;  —  Was?  ist  nicht  gesagt,  aber  „irgend 
Etwas."  Wenn  er  ferner  auch  irgendwie  zu  dem  Glau- 
ben gekommen  wäre,  daß  über's  Jahr  der  Weltunter- 
gang bevorstände,  so  würde  selbst  in  seinen  kurzen 
Gedanken  mit  dieser  Katastrophe  nicht  absolut  Nichts 
bevorstehen,  sondern  er  würde,  ja  müßte  denken: 
„Nun  dann  — "  doch  wir  lassen  ihn  gar  nicht  weiter 
reden.  Jenes  „dahinter"  und  dieses  „dann"  zeigt  uns 
s;chon  das,  was  wir  meinen,  nämlich :  quasi  neces- 
sario  occurrit,  ut  sit  aliquid  ulterius.  Philosophisch 
ausgedrückt  heißt  dies  zunächst:  Raum  und  Zeit  sind 
in  jedem  Intellect  unendlich  (oder,  wenn  man 
lieber  will:  endlos).  Dann  aber:  „Raum  und  Zeit 
sind    nothwendige,    wesentliche    Functionen    des    Intel- 


==■)  Psychologie  als  Wissenschaft  etc.  §.  144.  S.  W.  B.  VI.  pag.  307. 


122  Drittes  Kapitel. 


lects ;  außer  ihnen  kann  er  sich  nicht  regen ;  sie  sind 
in  allem  Vorstellen  und  Erkennen  gegenwärtig ;  es  ist 
schlechterdings  undenkbar,  daß  sich  der  Geist  ihrer  zu 
entschlagen  vermöchte,  weil  er  mit  ihnen  zugleich  er- 
lischt, außer  ihnen  Nichts  ist.  Also  nicht  deshalb  allein 
und  vor  Allem,  weil  sie  Bedingungen  der  Möglich- 
123  k  e  i  t  II  des  wirklichen  Objects,  sondern  vornehm- 
lich, weil  sie  wesentliche  Formen  des  Sub- 
jects  sind,  und  bei  dem  Versuche  sie  hinwegzudenken 
der  Intellect  sich  selbst  mordet,  —  sind  Raum  und 
Zeit  allgemeine  und  nothwendige  Vorstel- 
lungen  a  prio  r  i." 

Wie  aber  (darauf  kommen  wir  zurück)  verhält  sich 
denn  das  „An  sich  Seiende",  das  Reale,  zu  Raum  und 
Zeit.  Da  es  schlechthin  ist  und  ein  Widerspruch 
sich  mit  der  absoluten  Position  nicht  verträgt,  so  kann 
es  mit  ihnen,  ebenso  wie  mit  allem  andern  empirischen 
Scheine,  nichts  gemein  haben.  Denn  Raum  und  Zeit, 
als  empirische  Verknüpfungsbegriffe  (wie  Herbart 
meint),  sind  Continua;  das  Continuum  aber  ent- 
hält jenen,  oben  im  Begriff  der  Materie  gerügten, 
Widerspruch,  den  im  Alterthume  Zeno  der  Eleat  in 
den  Xoyoic,  neuerdings  Kant  in  der  zweiten  Antinomie 
der  reinen  (theoretischen)  Vernunft  behandelt  hat.*) 
Mit  dem  stetigen  Raum  und  der  stetigen  Zeit 
können  also  die  Realen  nichts  zu  thun  haben;  wohl 
aber  müssen  jene  irgend  wie  (gleich  allem  andern 
Scheine)  aus  dem  Realen  erklärlich  sein.  Die  Realen 
also  sind  nicht  räumlich  und  sollen  doch  das  Räumliche 
erklären,  und  sind  doch  Viele ;  —  eine  fatale  Lage !  — 
Was  werden  in  dieser  Bedrängniß  und  Verlegenheit  die 
armen  Realen  anfangen?  —  O,  sie  sind  schlau!  Da  sie 
keinen  Raum  haben,  so  construiren  sie  sich  einen, 
und  noch  dazu  einen  intelligibelen!  — 


*)  Kr.  d.  r.  V.  pag.  434.  ff. 


Die  realistische  Richtung.  123 

Hier  ist  nun  die  Stelle,  wo  die  Herbartsche 
Philosophie  wirklich  Unglaubliches  leistet,  wo  sie  recht 
augenscheinlich  wirkliche  und  sehr  grobe  Wider- 
sprüche begeht,  um  vermeintliche  zu  entfer- 
nen; wo  überhaupt  ihre  Glanz-  und  ihre  Schattenseite 
am  deutlichsten  hervortritt,  nämlich :  Schneidender 
Scharfsinn  bei  künstlicher  Kurzsichtig- 
keit.  —  II 

In  den  §§  245—266  des  zweiten  Theils  der  Meta- 124 
physik  ist  nämlich  alles  Ernstes  der  ausführliche  Ver- 
such gemacht,  aus  unräumlichen  und  außerräum- 
lichen Xen  (Realen)  den  Raum  zu  construiren. 
Da  nämlich  das  Continuum  als  Erfahrungsthat- 
sache  unter  allen  Umständen  einen  Widerspruch  ent- 
halten soll  und  muß,  so  wird  mit  Ausschluß  des  Begriffs 
der  Bewegung  und  Fluxion,  aus  raumlosen  Punkten  zu 
erst  eine  starre  Linie  construirt  u.  s.  w.,  wo  dann  der 
Raum  als  so  etwas,  wie  eine  punktirte  Unendlichkeit 
erscheint.  Auch  führt  man  die  Thatsache,  daß  der  Raum 
gerade  drei  Dimensionen  hat,  auf  die  Natur  der  geo- 
metrischen Figuren  zurück,  während  doch  alle  geome- 
trischen Figuren  unmöglich  sein  würden,  wenn  nicht 
der  Raum  mit  seinen  drei  Dimensionen  als  Schauplatz 
alles  Vorstellens  schon  vorausgesetzt  wäre.*)  Dabei 
sind  denn  unräumliche  Punkte  aneinander,  zu- 
sammen, ineinander  (die  unräumlichen!)  — 
und  Alles  dieses  ohne  Voraussetzung  des  Rau- 
mes. Bei  allem  aufgewandten  Scharfsinn  ist  nur  das 
Eine  vergessen,  daß  man  überhaupt  nichts  construiren 
kann,  ohne  Platz  zu  haben,  wohin  man  construirt; 
daß  zu  jener  sehr  ausführlichen  Construction  des  in- 
telligibelen  Raumes  als  Schauplatz  schon  der  em- 
pirische Raum  (wie  ihn  Herbart  nennt)  da  sein  muß, 
der   durch   jenen   erst    erklärt  werden   sollte.    Dies   ist 


^■)  Vgl.  Hauptpunkte  d.  Metaphys.  §.  7. 


124  Drittes  Kapitel. 


kurz  von  der  Hand  gewiesen :  „Spreche  man  nicht  von 
,, einem  absoluten  Raum,  als  Voraussetzung  aller  ge- 
„machten  Constructionen !"  (wobei  der  Name  „abso- 
lut** für  das  gebraucht  ist,  was  sonst  „empirisch" 
genannt  wird,  um  den  Widerspruch  nicht  schon  in  den 
Worten  hervortreten  zu  lassen).*)  „Der  Raum  ist 
„nichts  als  Möglichkeit/*  So!  Nach  der  Meinung 
125  aller  Menschen  |i  ist  er  sehr  wirklich.  Der  Unter- 
schied wird  also  wohl  hier  nur  in  der  Abweichung  der 
Herbartschen  Terminologie  von  der  allgemein  üb- 
lichen liegen.  Denn  wenn  er  in  der  Bedeutung  nur 
möglich  wäre,  in  der  man  immer  und  überall  dieses 
Wort  versteht,  so  wären  alle  Thatsachen  pro- 
blematisch, es  gäbe  dann  überhaupt  gar  keine 
Wirklichkeit.  —  Uebrigens  verstehen  wir  sehr  gut, 
was  sich  Herbart  bei  diesem  paradoxen  Ausspruche 
denkt.  Gleichwie  man  nämlich  für  den  Satz:  ,,die  Form 
,,des  Gefäßes  bedingt  die  Form  der  darin  enthaltenen 
,, Flüssigkeit",  auch  wohl  sagen  könnte:  „das  Gefäß 
„ist  die  Möglichkeit  einer  Form  der  Flüssigkeit", 
so  findet  Herbart  im  Räume  die  Möglichkeit  des 
Wirklichen;  so  wenig  man  aber  dort  dem  Gefäße  die 
Wirklichkeit  abspricht,  so  wenig  kann  man  es  hier  dem 
Räume.  —  Wäre  der  Raum  (im  allgemeingültigen  Sinne 
des  Wortes)  nicht  wirklich,  sondern  nur  abstracte  Mög- 
lichkeit, so  wäre  zugleich  Alles  problematisch.  Ich 
würde  in  diesem  Augenblicke  nicht  sicher  sein,  ob  ich 
denn  meinen  Arm  rühren,  ob  ich  nicht  mich  plötz- 
lich unfähig  zu  jeder  Bewegung  finden  könnte,  wie  im 
Zustande  der   Katalepsie  und   Hallucination. 

In  Summa :  Den  nothwendigen,  stetigen  Raum  er- 
klären zu  wollen  aus  der  unmöglichen  Construction  eines 
intelligibelen  Raumes  mittelst  unräumlicher  Punkte  und 
ohne   Anwendung,   ja  Voraussetzung  der   Stetigkeit,   ist 


0  Hauptpunkte  d.  Metaphysik  §.  7.  S.  W.  Bd.  III.  pag.  30. 


Die  realistische  Richtung.  125 

—  mag  man  die  Begriffe  auch  noch  so  sehr  malträ- 
tiren  —  nonsense.  Ein  vermeintlicher  Widerspruch 
wird  durch  einen  wirklichen  ä  la  Ballhorn  ver- 
bessert. —  Denn  was  soll  denn  der  Widerspruch  im 
Begriffe  des  Continuums  sein?  „Daß  in  einem  be- 
grenzten Quantum  unendlich  viele  Theile  enthal- 
ten sind."  Allein  hierin  liegt  nur  dann  ein  Widerspruch, 
wenn  man  den  anschaulichen  Erkenntnißfactor 
gänzlich  ignorirt  und  sich  einredet,  man  müsse  Alles  im 
Denken,  oder  im  ab-  i|  stracten  Intellect  erfassen.  126 
Dies  ist  freilich  ein  alter  Irrthum,  aber  darum  doch 
nur  ein  Irrthum;  eine  Spitzfindigkeit  des  naseweisen 
Verstandes,  der  die  Anschauung  d  a  Lügen  strafen  will, 
wo  sie  die  alleinige  Autorität  ist.  Wenn  ich  ein  stetiges, 
begrenztes  Quantum  vor  mir  habe,  so  ist  mir  allerdings 
die  Möglichkeit  gegeben,  es  in  so  viele  Theile  zerlegt 
zu  denken,  als  ich  will.  Also  [wenn  nicht  Zeit  und 
Ausdauer  mangeln]  schließlich  auch  in  so  viele,  daß  sie 
nach  gewöhnlichen  Begriffen  nicht  mehr  zu  zählen  sind. 
Hierbei  versteht  es  sich  ganz  von  selbst,  daß  das  be- 
grenzte anschauliche  Quantum  durch  eben  so  viel  Theile 
wiederhergestellt  werden  muß,  als  in  wie  viele  es  zer- 
legt worden  war.  Dafür  bürgt  die  Anschauung.  Wenn 
nun  durch  Anticipation  die  Zerlegung  in  zahllose  oder 
unendlich  viele  Theile  gedacht,  und  dann  die  Möglich- 
keit der  Wiederherstellung  des  begrenzten  Quan- 
tums durch  Addition  der  unendlich  vielen  Theile  ab- 
geschnitten scheint,  so  hat  sich  dies  der  Verstand  selbst 
zuzuschreiben.  Weshalb  denkt  oder  anticipirt  er  eine 
Theilung  in's  Unendliche,  ohne  zu  berücksichtigen,  daß 
dieses  mühsame  Geschäft  allein  der  Anschauung 
überlassen  bleibt,  daß  „Quantum,"  „Theil"  etc.  Vorstel- 
lungen sind,  welche  allein  durch  anschauliche  Er- 
kenntniß  verstanden  werden  können.  Wäre  aber  auch 
wirklich  durch  sehr  viel  Geduld  und  Ausdauer  eine  Zer- 
legung des  begrenzten  Quantums  in  zahllose  Theile 


126  Drittes  Kapitel. 


gelungen  (was  natürlich  wiederum  ein  sehr  relativer 
Begriff  ist),  so  würde  mir  die  Anschauung,  die 
hier  Autorität  ist,  dafür  bürgen,  daß  mit 
einem  entsprechenden  Aufwand  von  Ge- 
duld und  Ausdauer  die  Wiederherstellung 
des  begrenzten  Quantums  durch  Addition 
zahlloserTheile  erfolgen  müßte.  —  Von  einem 
Widerspruch  ist  hier  durchaus  nicht  die  Rede.  Aber  das 
kommt  von  der  Großmannssucht,  dem  Souveränitäts- 
127  träume,  der  eingebildeten  Allmacht  des  ||  abstracten  In- 
tellects,  die  Herbart  mit  Hegel  gemein  hat.  Man 
versuche  einmal  abstract  zu  fassen,  zu  definiren,  was 
rechts,  was  links,  was  grün  und  süß,  was  Freude  ist. 
Alle  diese  Definitionen  würden  sich  vergeblich  abmühen, 
das  zu  erreichen,  was  ein  Blick  des  Auges,  ein  Schlag 
des  Herzens  uns  lehrt.  Ebenso  weiß  man  nun  endlich 
seit  Kant,  daß  alle  Definitionen  von  Raum  und  Zeit 
elende  Diallelen  sind.  Nur  das  Allgemeine,  Generelle 
faßt  der  Verstand ;  das  schlechthin  Einzelne,  Individu- 
elle, ist  für  ihn  unnahbar.  Dahin  gehört  Gefühl,  Em- 
pfindung, räumlich-zeitliche  Anschauungsform.  An  die- 
sen läuft  (wie  irgendwo  schon  treffend  bemerkt  worden 
ist)  der  abstracte  Intellect  immer  hin,  wie  die  Asymp- 
tote an  der  Curve,  ohne  sie  je  zu  berühren.  — 

Doch  wir  kehren  zu  den  Realen  Herbarts 
zurück,  welche  wir  in  großer  Verlegenheit  verlassen 
hatten.  Denn  sie  mußten  nach  der  Intention  ihres 
Schöpfers  unräumlich  und  außerräumlich  gedacht  wer- 
den, da  der  unendliche,  stetige  Raum  von  ihnen  nicht 
vorausgesetzt  werden  sollte ;  konnten  dies  aber  in  der 
That  nicht  sein,  da  (abgesehen  von  allem  Anderen) 
zur  Construction  eines  intelligibelen  Raumes  (nach  der 
Ansicht  aller  übrigen  Menschen)  Platz  da  sein,  also 
der  Raum  vorausgesetzt  werden  muß.  —  Diese  armen, 
in  bedauernswerther  Weise  zwischen  Raum  und  Nicht- 
Raum hin  und  her  gestoßenen  Realen,  sollen  also  mit 


Die  realistische  Richtung.  127 


ihrem  abstracten  Schattendasein  die  lebendige  Fülle  der 
anschaulichen  Welt  erklären,  meine  unmittelbare  Vor- 
stellung von  dieser  corrigiren  ;  denn  sie  waren  an  sich 
seiend,  widerspruchslos,  absolut  gesetzt. 

Sehen  wir  hier  nun  ganz  davon  ab,  ob  der  Begriff 
der  „absoluten  Position",  an  welchem  gemessen,  oder 
mit  dem  verglichen  die  „Widersprüche"  in  den  Er- 
fahrungsbegriffen hervortreten,  irgend  wie  im  Stande 
ist,  uns  Anleitung  zur  Erkenntniß  eines  ||  Ansich  Seien- 128 
den  zu  geben*),  so  behaupte  ich,  daß  in  der  metaphy-^ 
sischen  Ansicht  Herbarts  das  Verhältniß  von  Anschau- 
ung und  Denken  umgekehrt,  und  damit  die  Welt  auf 
den  Kopf  gestellt  ist.  —  Wenn  ich  versuche,  meine 
Erkenntniß  dadurch  zu  verbessern,  daß  ich  statt  der 
unmittelbaren,  sinnlichen  Anschauung  eine  Menge  von 
farblosen,  nicht  wahrnehmbaren  Xen  vorstelle,  deren 
Complexionen  und  Verhältnisse  Qrund  der  sinnlichen 
Mannigfaltigkeit  sein  sollen,  so  habe  ich  alle  Anschau- 
lichkeit verloren  und  an  Verständlichkeit  Nichts  ge- 
wonnen. Jene  Realen  nämlich  sind  nur  dadurch  zu 
Stande  gekommen,  daß  man  einen  Begriff  durch  Ent- 
fernung alles  Anschaulichen  zu  bilden  sucht,  sie  sind 
also  durchaus  abstract.  Da  nun  aber  der  abstracte 
Begriff  nur  insofern  Bedeutung  hat,  als  er  sich  auf 
Anschauliches  bezieht,  so  ist  mit  jener  Entfernung  alles 
Anschaulichen  der  Begriff  des  Realen  absolut  leer, 
schlechthin  arm,  ja  geradezu  Nichts  geworden.  Diese 
Art  von  Erklärung  macht  daher  im  Ganzen  den- 
selben Eindruck,  als  wenn  Jemand  uns  eine  hierogly- 
phische Bilderschrift  (aus  deren  anschaulichen  Zeichen 
man  wenigstens  im  Allgemeinen  einen  Begriff  des  dar- 


*)  Siehe:  A.  Trendelenburgs  Logische  Untersuchungen  2te  edit. 
1862.  Band  I.  pag.  173.  ff.  Vgl.  Desselben:  Ueber  Herbarts  Meta- 
physik etc.  Monatsberichte  d.  Königl.  Akad.  d.  Wissensch.  zu  Berlin. 
November  1853. 


128  Drittes  Kapitel. 


gestellten  Sinnes  bekommen  könnte)  dadurch  verdeut- 
lichen wollte,  daß  er  darauf  hinwiese,  wie  eine  daneben 
stehende,  (ihm,  wie  uns  ganz  unbekannte)  Buchstaben- 
schrift offenbar  dasselbe  in  Worten  ausdrücken  müsse, 
was  jene  in  Bildern  vorführt ;  —  oder  auch,  als  wenn 

man,  um  zu  zeigen,  daß  y  '  einen  bestimmten  Sinn  habe, 
2  =  x.x  setzen  wollte,  anstatt  dies  an  dem  anschau- 
lichen Verhältniß  der  Diagonale  zur  Seite  des  Quadrats 
ad  oculos  zu  demonstriren.  Damit  ist  uns  auch  nicht 
einen  Schritt  weiter  geholfen  !  Abstracte  Gedanken  ver- 
halten sich  zu  den  anschaulichen  Vorstellungen,  wie  die  11 
129  Silhouette,  die  innerhalb  ihrer  Conturen  Spielraum  für 
die  verschiedenartigsten  individuellen  Eigenthümlich- 
keiten  läßt,  zu  dem  wohlgetroffenen,  farbigen  Portrait. 
Sehen  wir  genau  zu,  was  denn  überhaupt  der  abstracte 
Intellect  in  dem  ganzen  Organismus  des  Erkenntnißver- 
mögens  für  eine  Rolle  spielt,  so  finden  wir,  daß  er, 
ebenso  wie  die  Sprache  (an  deren  Uebung  er  thatsäch- 
lich  sich  erst  ausbilden  muß)  ursprünglich  nur  dazu 
dient,  dasjenige,  was  mir  unmittelbar  in  der  anschau- 
lichen Vorstellung  gegeben  ist,  durch  Zeichen  oder  Sym- 
bole (Begriffe,  Geschriebenes  und  gesprochenes  Wort) 
mittheilungsfähig  für  andere  Vernunftwesen  zu  machen  ; 
dann  in  weiterer  Beziehung  auch  dazu,  für  den  Monolog 
des  Denkens  das  Gemeinsame  einer  Reihe  von  anschau- 
lichen Erkenntnissen  aufzubewahren.  Da  wir  nämlich 
nicht  im  Stande  sind,  die  unendliche  Mannigfaltigkeit 
der  in  Raum  und  Zeit  gegebenen  unmittelbar  anschau- 
lichen Objecte  im  Gedächtniß  aufzubewahren,  so  bilden 
wir  Begriff  und  Worte,  die  nun  dazu  dienen  müssen, 
eine  gewisse  Menge  gleichartiger  Vorstellungen  in  sich 
zu  vereinen,  damit  der  Intellect  nachher  je  nach  Bedürfniß 
die  in  sie  hineingelegten  Anschauungen  wieder  entfalte. 
Das  abstracte  Denken  ist  also  nur  ein  unwillkürlicher 
mnemonischer  Kunstgriff  des  Intellects  oder  eine  gei- 
stige Stenographie.  In  dieser  Rücksicht  gleichen  die  Be- 


Die  realistische  Richtung.  129 

griffe  den  mathematischen  Formeln.    Habe  ich  z.  B.  die 
Gleichung: 


'         1.  2.  3.  '   ■••■   '    1 

so  ist  der  Ausdruck  links  ein  bloßes  Mittel,  um  kurz 
den  weitläufigen  Ausdruck  der  rechten  Seite  darzustellen 
und  aufzubewahren,  er  ist  ein  bloßes  Symbol,  welches 
wir  sehr  nützlich  bei  schnellen  und  beweglichen  Ge- 
dankenoperationen verwenden,  insofern  wir  mittelst  11 
seiner  im  Stande  sind,  durch  wenige  Zeichen  Viel  zu  130 
sagen  und  zu  denken,  anstatt  den  ganzen  langen  Troß 
von  Vorstellungen  in  der  Einbildungskraft  mitzuschlepr 
pen ;  welches  aber  alle  Bedeutung  verlieren  würde, 
wenn  wir  nicht  jederzeit  das  auf  der  rechten  Seite 
Stehende,  welches  durch  ihn  zusammengefaßt  ist,  aus 
ihm  wieder  zu  entwickeln  fähig  wären.  Genau  dieselbe 
Bewandtniß  hat  es  mit  dem  abstracten  Vorstellen  über- 
haupt.   Gesetzt,  wir  hätten  folgenden  langen  Satz : 

„Wenn  ich  bemerke,  daß  es  in  meinem  Zimmer 
warm  ist,  und  deshalb  entweder  am  Thermometer 
nach  der  Wärme  der  äußeren  Luft  oder  in  meinem 
Ofen  nach  dem  Feuer  sehe  etc.  etc. ;  —  oder  wenn 
ich  merke,  daß  die  Bäume  junge,  grüne  Blätter  her- 
vortreiben, und  deshalb  im  Kalender  nach  Monat  und 
Datum,  oder  an  der  Wetterfahne  und  den  Wolken 
nach  dem  Winde  sehe  etc.  etc. ;  —  so  geschieht 
dies,  indem  ich  ohne  Weiteres  voraus- 
setze, daß  die  Wärme  meines  Zimmers  von  der 
Temperatur  der  äußeren  Luft  oder  des  Ofens  etc., 
oder  das  Grün  der  Bäume  von  der  Jahreszeit  oder 
irgend  etwas  anderem  Vorausgegangenen  abhänge, 
selbst  wenn  ich  einen  solchen  vorausgegangenen  Um- 
stand gar  nicht  wahrgenommen  habe."  — 

Neudrucke:    Lieb  mann,  Kant.  9 


130  Drittes  Kapitel. 


Für  diesen  ganzen  langen  Satz  sage  ich  kurz : 
„Die    Causalität     ist    eine    Synthesis 
a    priori.*' 

Das  in  diesem  Satze  dargestellte  Urtheil  und  beide 
in  ihm  vereinigten  Begriffe  haben  nun  einen  Sinn, 
und  ich  kann  ihn  zu  allen  möglichen  Gedankencombi- 
nationen  und  Operationen,  also  auch  zu  speculativer 
Bearbeitung  benutzen.  Aber  er  würde  allen  Sinn,  alle 
Bedeutung  verlieren,  wenn  nicht  wenigstens  eine 
unmittelbar  anschauliche  Erkenntniß  in  ihn  hineinge- 
legt wäre,  die  er  stenographisch  ausdrückt,  und  die  sich 
aus  ihm  wieder  muß  entfalten  lassen.  „Begriffe  ohne 
131  Anschauungen  sind  leer*',  sagt  Kant;  und  Nihil  ||  est 
in  intellectu,  quod  non  fuerit  in  sensu  bedeutet,  cum 
grano  salis  verstanden,  Dasselbe.  *)  Demnach  würde 
also  ein  Begriff,  der  nicht  auf  der  Basis  der  Anschau- 
ung beruhte,  ein  Wort  ohne  Bedeutung  —  xsvogxovia 
—  sein. 

Nun  nehme  man  aber  die  abstracten  Begriffe,  wel- 
che Herbart  Realen  nennt.  Sie  sollen  nicht  solche 
stenographischen  Ausdrücke  des  Intellects  sein,  denn  was 
sie  enthalten  mögen,  ist  nie  in  einer  sinnlichen  An- 
schauung wahrgenommen  worden  und  kann  nie  in  die 
Sphäre  des  Scheins,  d.  i.  der  Anschaulichkeit  treten ; 
sie  sollen  als  unabhängige  Realgründe  des  Scheins  der 
anschaulichen  Welt  zum  Grunde  liegen,  ohne  selbst 
je  anschaulich  werden  zu  können  ;  sie  enthalten  daher 
gar  nichts  von  Dem,  was  wir  unmittelbar  vorstellen, 
sind  geradezu  qualitates  occultae ;  sie  sind  Begriffe, 
die  nicht  auf  der  Basis  der  Anschauung  ruhen,  Begriffe 


*)  Leibnitz  fügt  hinzu:  excipe:  nisi  intellectus  ipse.  Siehe 
Nouveaux  Essais  etc.  livre  II.  chapitre  1.  edit.  Erdmann  pag.  223.  Er 
sagt  aber  auch:  ,Les  sens  nous  fournissent  la  matiere  aux  reflexions 
et  nous  ne  penserions  pas  meme  ä  la  pensee,  si  nous  ne  pen- 
sions  ä  quelque  autre  chose,  c'est  ä  dire  aux  particularites,  que 
les  sens  fournissent.  ibid.  pag.  269. 


Die  realistische  Richtung.  131 

ohne    Anschauungen,    also    Worte    ohne    Bedeutung  — 
xevogxüviai.    —    Das    Verhältniß     des    Abstracten     zum 
Anschaulichen  ist  hier  gerade  umgekehrt :   Das  Abstracte 
soll    die    Anschauung    produciren,    also    dieser    voraus- 
gehen,  während   doch   in   der   That   im   Gegentheil   das 
Abstractum    erst   gebildet   ist,   um    die   vorhergehenden 
Anschauungen  aufzubewahren.   Ja  noch  mehr !   Gar  nicht 
einmal  sie  selbst,  die  abstracten  Realen,  sind  eigentlich 
das,  was  wir  als  sinnliche  Mannigfaltigkeit  wahrnehmen, 
sondern   ihre  Verhältnisse  zu   einander.    Also 
die    abstracten    Beziehungen    bedeutungs- 
leerer Abstracta  sind  das  Erste,  das  wahr- 
haft Seiende;  die  bunte,  tau-  ||  sendfältigei32 
Natur  ist  das  Product,  der  Schein,  das  Un- 
wahre!     Diese    Art   von    Metaphysik   kommt   mir    so 
vor,    als    wenn    jemand    calculiren    wollte:    „Das   Ver- 
„hältniß    dieses    langhingestreckten    Schattens    hier   vor 
„meinen    Füßen    zu    dem    Winkel,    welchen    der    Stand 
der    Sonne    mit    dem    Horizont    bildet,    liegt    Dem    zu 
„Gründe,   oder  producirt  Das,   was  ich  anschaulich  als 
„diesen  Kirchthurm  hier  vor  mir  stehen  sehe."  ( ! )    Und 
wenn    nun    Herbart    in    der    anschaulichen    Welt    fort- 
während   Widersprüche    entdeckt    und     durch    ab- 
stracte   Speculation   zu   entfernen   sucht    (Widersprüche 
übrigens,    die   nur   für   den   Widersprüche   wären,    der 
da  gar  keine  sinnliche  Anschauung  hätte,  sondern  aus 
lauter  abstractem  Denken  bestünde)  —  so  ist  dies  un- 
gefähr gerade  so,  als  wenn  der  eben  angeführte  Sonder- 
ling, weil  er  mit  seiner  Rechnung  nicht  zu  Stande  käme, 
sagen  wollte :   „Da  die  Rechnung  nicht  stimmt,  so  steht 
„der  Kirchthurm  nicht  vor  mir !" 

Das  ist  eben  jene  alte,  klassische  Verkehrtheit  vieler 
Philosophieen,  wodurch  sie  dem  allgemeinen  Bewußtsein 
gänzlich  ungenießbar  sind.  —  Und  wenn  du  noch  so 
scharf  und  genau  bewiesen  hast,  daß  der  schnellfüßige 
Achilles  die  langsame  Schildkröte,  wenn  er  ihr 

9* 


Ii32  Drittes  Kapitel. 


einmal  einen  Vorsprung  gelassen  hat,  nicht  einholen 
könne,  so  wird  dich  doch  jeder  unbefangene,  vernünftige 
Mensch  auslachen.  Weshalb?  —  Weil  das  abstracte 
Vorstellen  (Denken),  welches  alle  seine 
Gültigkeit  nur  dem  anschaulichen  ver- 
dankt, hier,  wo  die  Anschauung  einzige  Au- 
torität ist,  diese  Lügen  strafen  will;  und 
dies  ist  in  der  That  lächerlich.  Wir  können  Jedem,  der 
in  solche  Lage  kommt,  nur  mitO  o  e  t h  e  den  Rath  geben  : 

Und  wenn  sie  dir  die  Bewegung  leugnen, 

Geh'  ihnen  vor  der  Nas'  herum. 

Gänzliche  Vernachlässigung,  ja  Mißachtung  des  an- 
schaulichen   Erkenntnißfactors   ist   ein   Grundfehler   der 
Herbartschen  Philosophie.  II 
133  Um    nicht    zu    weitläufig    zu    werden,    wollen    wir 

die  Consequenzen  hiervon  nur  an  einem  Beispiele  zeigen. 
Im  §.  217  der  Allgemeinen  Metaphysik*)  heißt  es:  „Ein 
„Gegenstand  Asei  gegeben  durch  disparate  Merkmale 
„(wie  Ton,  Farbe,  Geschmack),  die  sich  recht  wohl  mit 
„einander  vertragen,  und  keineswegs  entgegengesetzt 
„sind.  Aber  sie  bilden  eine  Gruppe,  sie  können  ein- 
„zeln  nicht  gesetzt  werden  außer  so,  daß  aus  ihrer 
„Verbindung  die  Bedingung  ihrer  Setzung  entstehe ;  die 
„absolute  Position  kann  nur  Eine  für  alle  sein.  Hier- 
„durch  gerathen  sie  in  Streit  etc.  —  Die  gewöhnliche 
„Schwachheit  oder  Sorglosigkeit  der  Menschen  läßt  hier 
„die  Hälfte  des  Gedankens  fahren  über  der  anderen. 
„Die  Accidenzen  oder  Attribute,  sagt  man,  wohnen  in 
„der  Substanz.  Wie  soll  das  zugehen?  Das  wissen 
„wir  nicht."  —  O,  das  wissen  wir  wohl !  Nur  müssen 
wir  uns  nicht  einbilden,  daß  der  Gegenstand  gedacht 
sei,  statt  daß  er  wahrgenommen  ist.  Zunächst  ist 
es  falsch,  daß  die  disparaten  Eigenschaften  des  Dings 
eine  „Gruppe"  bilden.   Eine  Gruppe  ist  eine  anschau- 


*)  S.  W.  B.  IV.  pag.  105^106. 


Die  realistische  Richtung.  133 

liehe  Mehrheit,  die  außereinander  ist,  hier  aber 
finden  wir  eine  Mehrheit  (im  metaphorischen  Sinne) 
die  ineinander  ist.  —  „Ein  Widerspruch!"  — 
O  Nein !  Nur  Geduld !  —  Wenn  ich  ein  Stück  Gold 
betrachte,  so  ist  genau  dieselbe  Raumstelle  gelb,  die- 
selbe klingend,  dieselbe  fest  u.  s.  w.  ;  und  wenn  ich 
das  Gold  in  beliebig  viele  Theile  zerlege,  so  hat  jeder 
Theil  dieselben  Eigenschaften  zusammen,  nicht  aber 
dieser  diese  und  jener  jene.  Hier  ist  von  einer  „Gruppe" 
von  Eigenschaften  gar  nicht  die  Rede ;  nur  wenn  ich 
den  anschaulichen  Gegenstand  abstract  fasse,  den 
Begriff  „Gold"  in  seine  Merkmale  zerlege,  so  kann 
man  die  Vielheit  dieser  abstract  gefaßten  Merkmale 
eine  „Gruppe"  nennen;  der  anschauliche  Gegen- 
stand: „Gold",  der  an  diesem  Orte,  zu  !l  dieser  Zeit  134 
gegeben  ist,  besteht  nicht  aus  einer  ,, Gruppe"  oder 
räumlichen  Vielheit  von  Eigenschaften.  Daß  aber  das- 
selbe Object  in  allen  seinen  Theilen,  trotzdem  es  Ein- 
heit ist,  doch  einen  mehrfachen  Eindruck  auf  mich 
zu  gleicher  Zeit  macht,  kommt  einfach  daher,  weil  ich 
mit  den  Augen  sehe,  mit  den  Ohren  höre, 
mit  den  Fingern  taste  u.  s.  w.  Der  vermeintliche 
„Widerspruch"  also,  der  hier  zwischen  Einheit  und 
Vielheit  obwalten  soll,  erklärt  sich  einfach  durch  die 
Mehrheit  meiner  Sinne.  Hätte  ich  bloß  einen  Sinn, 
so  würde  der  Widerspruch  verschwinden! 
—  Weil  diese  Raumstelle  zu  dieser  Zeit  wegen 
der  Verschiedenartigkeit  meiner  Sinne  verschieden  em- 
pfunden wird,  erscheint  hier  eine  (räumlich-zeitliche) 
Einheit,  die,  wenn  man  den  anschaulichen  Gegenstand 
abstract  faßt,  zugleich  eine  Vielheit  (von  Merkmalen) 
ist.  Einheit  und  Vielheit  kommen  daher  zwar  deiti^ 
selben  Gegenstande,  aber  in  ganz  verschiedener 
Hinsicht  zu.  Ein  „Widerspruch"  würde  es  aber  nur 
sein,  wenn  Einheit  und  Vielheit  in  derselben  Hinsicht 
dem  Gegenstande  zukämen,  also  wenn  z.  B.  eine  räum- 


134  Drittes  Kapitel. 


lich-zeitliche  Einheit  zugleich  eine  räumlich- 
zeitliche  Vielheit,  oder  wenn  verschiedene 
Empfindungen  eine  Empfindung  sein  sollten. 
Daß  aber  von  mir  verschiedene  Empfindungen  an 
eine  Raumstelle  zu  gleicher  Zeit  geknüpft  werden, 
darin  liegt  kein  Widerspruch.  Dieser  „Widerspruch" 
entsteht  vielmehr  erst  dann,  wenn  man  das  anschau- 
liche Element  ignorirt,  und  sich  einredet,  man 
müsse  alles  abstract  vorstellen,  denken;  dann 
freilich  verschwinden  die  individuellen  Data,  dann  ver- 
gißt man,  daß  jene  Einheit  in  ganz  anderer  Hinsicht 
stattfindet,  als  diese  Vielheit;  dann  bleibt  eben  nur 
der  nackte,  abstracte  Gedanke :  Identität  von  Ein- 
heit und  Vielheit  übrig,  und  das  findet  man  nun 
natürlich  widersprechend.  Wer  demnach  hier  einen 
„W iderspruch"  findet,  der  verstopft  sich  die  Ohren, 
135 hält  sich  die  Augen  zu,  und  ll  spielt  den  Verstandes- 
idioten. Er  würde  es  denn  auch  wohl  für  einen 
„Widerspruch''  halten,  daß  uns  die  Herbartsche 
Philosophie  sehr  scharfsinnig  dünkt  und  doch 
eine  Schrulle. 

Sehen  wir  nun  aber  von  aller  dieser  Einseitigkeit 
und  Verkehrtheit  ab,  geben  wir  das  absolute  Dasein 
jener  Realen  zu,  so  fragt  sich  immer  noch:  Wie  ver- 
halten sich  denn  die  abstract  en  Realen  zur 
räumlichen  Anschauung?  Da  sie,  wie  gesagt, 
„durch  Größenbegriffe  nicht  bestimmbar"  oder  (mit  au- 
thentischen Worten)  „allen  Begriffen  der  Quantität 
schlechthin  unzugänglich"  sein  sollen,  so  gleichen  sie 
in  dieser  Beziehung  den  mathematischen  Punkten,  die, 
als  unausgedehnte,  reine  Ortsbestimmung,  objectiv  bloße 
Negation  der  räumlichen  Ausdehnung,  subjectiv  aber 
etwas  sind,  das  da  als  Idee  anticipirt  werden  muß,  wo 
der  Intellect  es  als  anschauliches  Correlat  zu  erfassen, 
sich  vergeblich  bemüht,  also  im  Grunde  ein  nicht  zu 
realisirender   Gedanke,   ein   negatives   Ideal.    Außerdem 


Die  realistische  Richtung.  135 

also,  daß  die  Realen,  gleich  wie  die  mathematischen 
Punkte,  in  keiner  Erfahrung  angetroffen  werden  können, 
haben  sie  mit  diesen  auch  noch  dies  gemeinsam,  daß  sie 
etwas  rein  Negatives  sind.*)  Nun  waren  sie  aber 
doch  —  (so  lautete  die  erstere  Forderung)  —  „schlecht- 
„hin  positiv  und  affirmativ;  ohne  Einmischung  von  Nega- 
„tionen."  **)  —  Wir  kommen  also  zu  dem  interessanten 
Resultate:  daß  die  schlechthin  positiven  Rea- 
len ein  rein  negatives  Ideal  sind!  Also  dies 
sind  die  widerspruchslosen,  wahrhaft  seienden  Urgründe, 
welche  meine  Anschauung  für  eine  Lügnerin  erklären 
wollen  ?  —  II 

Endlich  aber:  mögen  sie  widerspruchslos  136 
sein,  ja  mögen  sie  reell  sein,  mögen  sie  ihren  intelli- 
gibelen  Raum  construiren  und  uns  im  empirischen  Anti- 
chambre  stehen  lassen,  so  solle  einmal  —  (diese  eine 
Concession  dürfen  wir  uns  gegen  jene  vielen  aus- 
bitten) —  ein  intelligibeler  Mensch,  ein  Sonntagskind 
oder  Hellseher  sie  belauschen.  Offenbar  müssen  dann 
doch  die  Realen,  wenn  sie  überhaupt  etwas  sind,  auf 
seine  Augen  einen  anderen  Eindruck  ausüben,  als  auf 
seine  Ohren,  Finger  u.  s.  w.  Sie  sind  demnach  wiederum 
Dinge  mit  vielen  Eigenschaften!  Also  der- 
selbe „Widerspruch'* !  —  Nun,  da  wäre  leicht  zu  helfen  ! 
Man  nehme  für  intelligibele  Menschen  Realen  zwei- 
ter Ordnung  an,  die  sich  zu  denen  der  ersten  Ord- 
nung verhalten,  wie  der  zweite  Differentialquotient  zum 
ersten.  Für  den  weiteren  Fortschritt  des  Subjects  stünde 
dann  immer  ein  weiterer  Rückschritt  des  Objects  zu 
Gebote ;  und  indem  man  außer  den  sieben  Himmeln 
des   Mohammed   (wenn  diese  nicht  ausreichen   sollten) 


*)  Sehr  treffend   ist  die  Idealität  mathematischer  Begriffe  z.  B. 
ausgedrückt  in  I.  H.  van  Swindens  Elementen  der  Geometrie,  übersetzt 
von  C.  F.  A.  Jacobi.    Dort  heißt  es  Buch  I.  Einleit.  2.  Erklärung:   „Da- 
her die  Behauptung  der  Mathematiker:  daß  ein  Punct  keine  Theile  habe." 
**)  Siehe  oben  pag.  118.  —  Herbarts  S.  W.  Bd.  IV.  pag.  83.  u.  87. 


136  •■     'Drittes  Kapitel; 


noch  beliebig  viele  neue  hinzunähme,  entstünde  ein  re- 
gressus  in  indefinitum,  eine  unendliche  Reihe,  die  sich 
ganz  passend  in  eine  mathematische  Formel  fassen  ließe, 
etwa  in  die  Taylorsche  oder  etwas  dergleichen.  Die 
Welt  wäre  diff erentiirt ;  und  dem  Heben  Gott  bliebe 
es  überlassen,  sie  zu  integriren ! 

Die  Moral  aber  ist:  Anschauung  ist  das 
Erste,  Abstraction  das  Secundäre.  Eine 
speculative  Bearbeitung  unserer  Begriffe  mag  ein  sehr 
nützliches  Unternehmen  sein,  als  Kathartikon  unseres 
subjectiven  Denkens.  Aber  dadurch  ein  „an  sich,  un- 
abhängig vom  Subjecte  existirendes''  Reales  finden  zu 
'■wollen,   ist  —  Chimäre. 

Wiederholen  zwar  kann  der  Verstand,  was  da  schon  gewesen; 

Was  die  Natur  gebaut,  bauet  er  wählend  ihr  nach. 
Ueber  Natur  hinaus  baut  die  Vernunft,  doch  nur  in  das  Leere.  — 

Schiller.  II 

137  ;  Wir  haben  diese  Betrachtung  so  weit  gesponnen, 
weil  sie  geeignet  ist^  uns  genau  vorzuführen,  wie  es 
eben  so  unmöglich  ist,  mittelst  abstracten  Denkens  ein 
Unabhängig  Objectives  (Herbarts  Realen)  zu  erkennen, 
als  ein  unabhängig  Subjectives  (das  absolute  Ich  des 
Idealisten).  Beides  beruht  auf  jenem  falschen  Schlüsse 
aus  vier  Hauptbegriffen,  den  wir  pag.  38  erwähnt  haben, 
demzufolge  man  die  „Bedingtheit"  der  empirischen  Welt 
auf  eine  t  r  a  n  s  s  c  en  d  en  t  e  Ursache  zurückführt,  an- 
statt auf  die  immanenten  Bedingungen.  So  sehr 
die  idealistische  und  realistische  Richtung  zu  einander 
in  Gegensatz  stehen,  in  diesem  Puncte  stimmen  sie 
überein.  Es  ist  eben  der  Idealismus  und  der  Realis- 
mus, welche  bereits  Kant  in  der  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft (pag.  369)  verglichen  und  gewürdigt  hat.  Beide 
haben  übersehen,  daß  Subject  und  Object  der  Erkennt- 
niß  nothwendige  Correlate  sind,  die  von  einander  gar 
nicht  getrennt  werden  können  ;  was  sich  auch  kurz  aus- 
sprechen läßt : 


Die  realistische  Richtung.  137 

Kein    Subject   ohne  Object   und   kein   Object   ohne 
Subject.*) 

Wie  aber  erscheint  die   Herbartsche  Lehre  im 
Vergleich      und     Verhältniß     zur     incorrecten      K  a  n  -    . 
tischen? 

Daß  Herbart  an  die  Kantische  Philosophie  unmittel- 
bar anknüpft  und  von  ihr  abhängt,  wissen  wir  aus  seinen 
eigenen  Worten.  Daß  er  die  Unterscheidung  zwischen 
„Ding  an  sich'*  und  „Erscheinung"  gekannt  hat,  ist 
ebenso  außer  Zweifel.**)  In  seiner  eigenen  Lehre  bleibt 
auch  die  empirische  Welt  „Erscheinung",  und  es  wird 
ein  ihr  zum  Grunde  liegendes  „An  sich  seiendes"  ge- 1| 
sucht.  „Die  Philosophie,  sagt  Herbart,  muß  anfäng-  138 
„lieh  die  Frage,  ob  wir  die  Dinge  an  sich,  oder  nur 
„Erscheinungen  erkennen  können,  unentschieden  bei 
„Seite  setzen."  ***)  —  Vorher  nämlich  muß  nebst  den 
bekannten  andern  Problemen  auch  das  idealisti- 
sche, der  Begriff  des  Ichs,  untersucht  werden.  Nach 
dieser  Untersuchung  aber  „entscheidet  das  idealistische 
„Problem  sich  dahin :  daß  es  wirklich  eine  Menge  von 
„Wesen  außer  uns  gibt,  deren  eigentliches  und  ein- 
„faches  Was  wir  nicht  erkennen."  f)  Dieses  eigent- 
liche und  einfache  Was,  die  R  e  a  1  e  n,  sind  sie  identisch 
mit  dem  „Ding  an  sich"?  —  Bedenken  müssen  wir 
hierbei,  daß  wenn  auch  bei  Herbart,  gleich  wie  bei 
Kant,  die  Welt  in  Raum  und  Zeit  „Erscheinung"  oder 
„Schein"   ist,   doch   Raum   und  Zeit  selbst  in   ein  ganz 


*)  Diese  Formel  ist  sowohl  von  Schelling,  als  von  Schopenhauer 
mehrfach  gebraucht  worden,  ohne  daß  sie  wirklich  von  ihnen  befolgt 
würde. 

**)  „Seit  Kant,  sagt  Herbart,  darf  der  Satz  unter  uns  wenigstens 
„nicht  befremden,  daß  wir  die  Dinge  an  sich  nicht  erkennen."    Haupt- 
punkte d.  Metaphysik.  Vorrede.  —  Sämmtl.  W.  Bd.  III.  pag.  4.  a.  a.  O. 
***)  Lehrbuch  zur  Einleit.  i.  d.  Philosophie  §.  151.  —  Bd.  I.  pag.  262. 
t)  ibid.  §.  152. 


138  Drittes  Kapitel. 


anderes  Verhältniß  zu  diesen  Schein  treten,  daß  sie 
nämlich  nicht  reine  Formen  der  Anschauung  a  priori, 
sondern  Abstractionen,  bloße  Möglichkeiten  sein  sollen, 
also  selbst  mit  dem  Makel  des  Scheins  behaftet  sind. 
Daraus  ergibt  sich  denn : 

„Herbarts  Realen  müssen,  da  sie  selbst  un- 
räumlich und  unzeitlich  gedacht  werden  und  nebst  dem 
übrigen  empirischen  Scheine  auch  den  stetigen  Raum 
und  die  stetige  Zeit  ermöglichen  sollen,  —  wenn  man 
sich  auf  seinen  Standpunkt  stellt  —  auch  außer- 
räumlich und  a  u  ß  e  r  zeitlich  sein,  also  Dasselbe,  was 
Kants  „Ding  an  sich"  ist;  aber  nach  der  consequent 
entwickelten  Kantischen  Lehre  würden  sie  in  Raum 
und  Zeit  liegen,  da  sie  in  intelligibelen  räumlichen  und 
zeitlichen  Verhältnissen  zu  einander  stehen  ;  sie  wären 
also  etwas  Anderes  als  das  „Ding  an  sich." 

Aber  selbst  wenn  man  die  Frage,  ob  Herbart  in 
seinen  Realen  nur  eine  zweite,  verbesserte  Auflage  der 
Kantischen  „Dinge  an  sich"  geben  wollte  oder  nicht, 
139  unentschieden  läßt,  so  würden  1!  wir  doch,  gemäß  den 
in  der  Einleitung  pag.  14  und  15  entwickelten  Grund- 
sätzen berechtet  sein  zu  schließen : 

Da  Herbart,  obgleich  selbst  Kantianer, 
den  bekannten  Hauptfehler  der  Kantischen 
Philosophie  nicht  als  eine  Inconsequenz 
wider  ihre  eigenen  Principien  aufgefaßt, 
also  in  diesem  Punkte  den  Kriticismus 
nicht  corrigirt,  nicht  dargelegt  hat,  wie  er 
bei  consequenter  Ent Wickelung  erschienen 
sein  würde,  — 
so  muß  auf  Kant  zurückgegangen  werden.  || 


Viertes  Kapitel.  i39 


Die  empirische  Richtung. 
Fries. 

Interea  temporis  hoc  mihi  dubium  habere  haud 
immodestum  erit,  vereor  quippe,  ne  consensus  uni- 
versalis, praeter  quem  non  alia  afferiur,  non  sufficiens 
Sit  nota  ad  nQoalQgmv  meatn  dirigendam,  et  princi- 
piorum  ingenitorum  fidem  mihi  firmandam. 

J.  Locke.  De  intellect.  human.  I,  III,  §.  27. 

Der  Punkt  der  Kantischen  Philosophie,  an  welchen 
die  idealistische  Richtung  anknüpfte,  war  die  Apriorität 
der  allgemeinen  Erkenntnißformen  und  die  transscenden- 
tale  Appereception  oder  Einheit  des  Selbstbewußtseins. 
Im  Gegensatz  zu  ihr  hatte  Herbart,  mit  Kant  von  der 
Erfahrung  als  Thatsache  und  Problem  ausgehend,  gleich 
diesem  die  Bedingungen  ihrer  Möglichkeit  aufgesucht. 
Nicht  weniger  unmittelbar  als  jene  beiden  hängt  nun 
Fries  mit  der  Kantischen  Lehre  zusammen  und  von  ihr 
ab ;  mit  nicht  weniger  Recht  macht  er  demnach  Anspruch 
darauf,  für  ihren  directen  Fortbildner  zu  gelten.  Ver- 
setzen wir  uns  zunächst,  wie  in  den  vorigen  beiden  Fäl- 
len, auf  den  eigenen  Standpunkt  des  vorliegenden  Syste- 
mes.    Lassen  wir  den  Philosophen  selbst  reden. 

Die  epochemachende  Forderung,  welche  Kant 
von  vorn  herein  an  alle  Philosophie  und  speciell  an 
die  seinige  stellt,  welcher  er  dann  in  der  Vernunft- 
kritik zu  genügen  sucht,  ist  die:  „Vor  jedem  Versuche 
zur  Aufstellung  einer  begründeten   Weltansicht,  d.  i. 


140  Viertes  Kapitel. 


vor  aller  positiven  Speculation,  muß  eine  negative  11 
141  Propädeutik  in  Gestalt  einer  Untersuchung  des  Er- 
kenntnißvermögens  vorausgehen.''  Gleichwie  jeder 
vernünftige  und  besonnene  Mann,  bevor  er  sich  auf 
ein  Unternehmen  einläßt,  erst  sein  Vermögen  über- 
schlägt, um  sich  darüber  klar  zu  sein,  ob  er  es  durch- 
'■  zuführen  im  Stande  ist,  —  oder  wie  der  Architekt, 
wenn  sein  Plan  nicht  bloßes  Hirngespinnst  bleiben 
soll,  gleich  beim  Entwürfe  überlegen  muß,  ob  fester 
Grund,  nöthiges  Baumaterial  und  Arbeitskräfte  zur 
Aufführung  des  Gebäudes  vorhanden  sein  werden, 
—  so  muß  die  Vernunft,  ehe  sie  daran  denken  kann, 
den  inneren  Zusammenhang  der  objectiven  Welt  zu 
erfassen,  sich  genaue  Rechenschaft  darüber  geben, 
wie  weit  die  ihr  inne  wohnenden  Fähigkeiten  dazu 
hinreichen,  —  was  überhaupt  zu  leisten  ihr  möglich 
ist.  Gerade  in  der  Stellung  dieser  propädeutischen 
Aufgabe  besteht  Kants  größestes  Verdienst  und  sein 
radicaler  Gegensatz  zu  der  vorangehenden  dogmati- 
schen Philosophie,  die  auf's  Gerathewohl  nach  ver- 
schiedenen Richtungen  und  Methoden  in  den  Tag 
hinein  speculirte.  Zwar  hatte  Locke  schon  früher 
einen  äußerlich  ganz  ähnlichen  Versuch  gemacht.  Auch 
er  hatte  eingesehen,  daß  eine  Untersuchung  des  Er- 
kenntnißvermögens  die  Einleitung  jeder  Philosophie 
bilden  müsse.  Indem  er  aber  bei  dieser  Untersuchung 
von  der  Annahme  ausgegangen  war,  der  menschliche 
Geist  sei  ursprünglich  eine  tabula  rasa  und  empfange 
alle  seine  Vorstellungen  durch  die  sinnlichen  Ein- 
drücke von  äußeren  Gegenständen,  hatte  er  die  All- 
gemeinheit und  Noth wendigkeit  jener  Grundformen 
alles  Erkennens  nicht  zu  erklären  vermocht,  welche 
nachher  Kant  Erkenntnisse  a  priori  genannt  hat.  Des- 
halb war  Locke  durch  den  Humeschen  Skepticis- 
mus  gründlich  widerlegt  worden,  welcher  im  Allge- 
meinen   nachwies,    daß    wir    jene    allgemeinen    und 


Die  empirische  Richtung.  141 

nothwendigen  Erkenntnißformen  nicht  aus  sinnlichen 
Eindrücken  schöpfen,  überhaupt  ||  nur  assertorische,  142 
nicht  apodiktische  Erkenntnisse  durch  die  Wahrneh- 
mung erhalten  können,  daß  somit  die  absolute  Noth- 
wendigkeit  und  unbedingte  Gewißheit  der  mathema- 
tischen und  metaphysischen  Grundsätze  nur  ein  rein 
subjectiver  Gedanke  ohne  objective  Bedeutung  sei. 
Hieran  hatte  Kant  geknüpft.  Er  hatte  nachgewiesen, 
daß  die  in  der  Mathematik  und  Metaphysik  angenom- 
menen allgemeinen  und  nothwendigen  Erkenntnisse 
gerade  deshalb,  weil  sie  nicht  aus  der  Erfahrung 
stammen  können,  durch  das  Wesen  des  Intellects, 
d.  i,  a  priori  gegeben  sein  müssen  ;  und  indem  er 
diese  Untersuchung  aufs  Genaueste  verfolgt,  bis  in's 
Einzelnste  ausgeführt  hatte,  war  in  der  Vernunftkritik, 
wie  er  sich  ausdrückt,  das  „Inventarium  aller 
unserer  Besitze  durch  reine  Vernunft,  systema- 
tisch geordnet,"  aufgefunden  worden.  *)  Als  solche 
hatte  er  denn  die  reinen  Formen  des  Anschauens 
a  priori,  Raum  und  Zeit,  und  die  reinen  synthetischen 
Urtheile  a  priori,  die  Kategorieen,  gefunden. 

Soweit  stimmt  Fries  vollkommen  mit  Kant  über- 
ein. Die  Resultate  gibt  er  zu,  aber  die  Begründung 
derselben  erregt  seinen  Zweifel,  und  von  hier  aus 
weicht  er  nun  ab. 

Betrachten  wir  nämlich  die  Art,  wie  Kant  zu 
den  reinen  Erkenntnissen  a  priori  gelangt !  D  a  ß 
es  solche  gibt,  hat  er  gegen  H  u  m  e ,  daß  sie  nicht 
aus  der  Erfahrung  stammen  können  und 
doch  da  sind  gegen  Locke  geltend  gemacht. 
„Aber  er  leugnet  Humes  Voraussetzung:  „Wenn 
,,wir  sie  brauchen  wollen,  müssen  wir  sie  erst  be- 
,, wiesen  haben",  nicht  ab,  „vielmehr  versucht  er  selbst 
„einen  solchen  Beweis,  den  er  den  transscenden- 


'>")  Kants  Krit.  d.  r.  V.  Vorrede. 


142  Viertes  Kapitel. 

„talen  nennt." ^)  Hiergegen  läßt  sich  im  Allge- 1| 
143  meinen  einwenden,  daß  jene  Erkenntnisse,  die  allem 
unseren  Vorstellen  und  Erkennen  zum  Grunde  liegen, 
gar  nicht  bewiesen  werden  können,  weil  jeder  Be- 
weis sich  schon  auf  sie  stützen  muß,  also  Das  schon 
voraussetzt,  was  erst  bewiesen  werden  soll.  Betrach- 
ten wir  aber,  abgesehen  hiervon,  die  Art  jenes  Kan- 
tischen Beweises,  so  soll  dessen  specifische  Eigen- 
thümlichkeit  in  seinem  transscendentalen  Cha- 
rakter liegen.  Was  aber  heißt  transscendental? 
Hiervon  gibt  Kant  die  Nominaldefinition :  „daß  die- 
„jenigen  Erkenntnisse  a  priori,  dadurch  wir  erkennen, 
„daß  und  wie  gewisse  Vorstellungen  lediglich  a  priori 
„angewendet  werden,  oder  möglich  seien,  trans- 
„scendental  heißen  müssen.''**)  Dies  ist,  wie  ge- 
sagt, eine  bloße  Wo  r  t  erklärung,  welche  kurz  gefaßt 
so  lautet:  Transscendental  ist  die  Erkenntniß  von  der 
Möglichkeit  und  Anwendbarkeit  der  Erkenntnisse  a 
priori.  ***)  ,,Wer  aber  hier  genau  vergleichen  will, 
„der  wird  bemerken,  daß  Kant  mit  seiner  trans- 
„scendentalen  Erkenntniß  eigentlich  die  psy- 
„c  h  o  1  o  g  i  s  c  h  e,  oder  besser  anthropologische 
„Erkenntniß  meinte,  wodurch  wir  einsehen,  welche 
„Erkenntnisse  a  priori  unsere  Vernunft  besitzt,  und 
„wie  sie  in  ihr  entspringen.  Z.  B.  der  Grundsatz, 
„daß  jede  Veränderung  eine  Ursache  habe,  ist  meta- 
„physisch,  aber  die  Einsicht,  daß  sich  dieser 
„Grundsatz  in  unserem  Verstände  finde, 
„und  wie  er  angewendet  werden  müsse, 
„ist  transscendental."  t)  Es  ist  nämlich  klar,  daß 
nur    durch   innere    Erfahrung,    Selbstbeobachtung   die 


•>•)  Neue  Kritik  d.  Vernunft  von  J.  F.  Fries.  Heidelberg  1807.  Bd.  I 
Einleitung  pag.  XXXIV. 

**)  Kants  Krit.  d.  r.  V.  pag.  56.  296.  Prolegomena.  pag.  204.  a.  a.  O. 
==^*-^=)  Fries'  Neue  Krit.  d.  V.  I.  XXXV. 
t)  ibid.  pag.  XXXVI. 


Die  empirische  Richtung.  143 

Erkenntnisse  a  priori  aufgefunden,  nicht  aber 
bewiesen  werden  können.  Jeder  solcher  Beweis 
schlösse  im  Cirkel.  Der  Begriff  der  transscen- 
dentalen  Erkenntniß,  wenn  man  ||  unter  diesem  144 
Namen  selbst  eine  besondere  Art  von  Erkenntniß 
a  priori  versteht,  ist  demnach  nichtig,  ein  bloßes  Vor- 
urtheil,  und  an  seine  Stelle  muß  innere  Erfahrung, 
Psychologie  treten.  Insofern  eine  psychologi- 
sche Untersuchung,  die  für  die  transscenden- 
t  a  1  e  eintritt,  weder  die  Kenntniß  der  Seele  als  Er- 
fahrungsgegenstand, noch  eine  metaphysische  Specu- 
lation  über  die  Natur  derselben  zum  Endzweck  hat, 
sondern  allein  dazu  dient,  uns  darüber  Gewißheit 
zu  verschaffen,  welche  reinen  Erkenntnisse,  welche 
Fähigkeiten  zur  philosophischen  Einsicht  uns  inne- 
wohnen, wollen  wir  sie,  zum  Unterschiede  von  jenen, 
philosophische  Anthropologie  nennen. 

Die  „philosophische  Anthropologie"  geht  von  der 
Ueberzeugung  aus,  daß,  „wenn  wir  das  Wesen  der 
„Vernunft  tief  genug  kennen  lernten,  wir  daraus  alle 
„Gesetze  der  Speculation  und  alle  Philosophie  müßten 
„beurtheilen  können,  da  unsere  Erkenntniß  der  Welt 
,, als  Erkenntniß  immer  nur  eine  Thätigkeit  meiner  Ver- 
„nunft  ist,  und  als  solche  untersucht  werden  kann."  *) 
Für  den  Weg,  den  die  philosophische  Anthropologie 
einzuschlagen  hat,  findet  sich  ein  mustergültiges  Vor- 
bild schon  in  der  Physik,  überhaupt  der  Naturwissen- 
schaft. Wie  man  dort  nämlich  durch  Induction  die  all- 
gemeinen Grundsätze  im  Gebiete  der  äußeren  Er- 
fahrung findet  und  dann  aus  diesen  den  einzelnen 
Fall  beurtheilt,  gerade  so  verfährt  die  philosophische 
Anthropologie  auf  dem  Felde  der  inneren  Er- 
fahrung. Sie  ist  „innere  Naturlehre."  Der  Physiker 
lernt  z.  B.  aus  einzelnen  Thatsachen  die  Phänomene 


*)  pag.  XXXIX. 


144  Viertes  Kapitel, 


der  Elektricität  kennen  und  führt  sie  auf  ihre  all- 
gemeinsten Gesetze  zurück  ;  dann  nimmt  er  diese  Ge- 
setze als  Grundgesetze  einer  Theorie  der  Elektricität 
145  an  und  ||  erklärt  aus  ihnen  wieder  die  Thatsachen, 
mit  denen  er  anfieng.  Hier  geht  also  das  Raisonnement 
vorbereitend  den  regressiven,  dann  erst  den  pro- 
gressiven Gang  des  Systemes.  „Auf  ganz  ähnliche 
„Weise  gehen  wir  von  der  Beobachtung  unseres  Er- 
„kennens  aus,  zeigen  dadurch,  wie  die  menschliche 
„Erkenntnißkraft  beschaffen  sei,  erheben  uns 
„zu  einer  Theorie  derselben,  zeigen,  welche  Prin- 
„cipien  dieser  Theorie  gemäß  in  unserer  Erkenntniß 
„liegen  müssen,  und  leiten  nun  erst  wieder  die  ein- 
„zelnen  Erkenntnisse  und  Urtheile  aus  diesen  Prin- 
„zipien  ab."*) 

So  hat  Fries  den  neuen  Ausgangspunct  fixirt, 
die  neue  Methode  vorgezeichnet.  Hier  glaubt  er  den 
„einzigen  Standpunkt  der  Evid^enz  für  speculative 
Dinge"  gefunden  zu  haben;**)  auf  diesem  Wege  will 
er  die  Kantischen  Untersuchungen,  die  „in  vielen 
Theilen  bis  zur  Vollendung  gediehen  sind,  in  anderen 
verbessern  und  in  mehreren  ihnen  die  fehlende  Vollen- 
dung geben".  ***)  Der  allgemeine  Zweck  seines  Unter- 
nehmens ist:  das  „Vorurtheil  des  Transscen- 
dentalen"  (wie  er  es  zu  nennen  pflegt)  zu  entfernen 
und  zu  ersetzen  durch  das  inductive  Verfahren  der  „phi- 
losophischen   Anthropologie". 

Den  Gang  seiner  Untersuchungen  nun  genau  im 
Einzelnen  zu  verfolgen,  ist  für  uns  weder  nöthig  noch 
wünschenswerth.  Genug,  wenn  wir  die  leitende  Grund- 
idee kennen.  Er  geht  von  der  Empfindung,  als  dem 
ursprünglichen  Rohstoff  der  Vorstellung,  aus,  betrachtet 
die  Thatsachen  des  inneren  und  äußeren  Sinnes  und  ge- 
winnt   daraus    die    erste    Stufe    seiner    Theorie.     Dann 


")  pag.  XXXIII.  -  **)  XLIV.  —  ***)  XLIX. 


Die  empirische  Richtung.  145 

schreitet  er  zur  Einbildungskraft  fort,  betraciitet  den 
gedächtnißmäßigen  oder  unteren,  und  den  logischen  oder 
oberen  Gedankenlauf,  findet  die  bekannten  Gesetze  von 
der  Association  und  Reproduction  !|  der  Vorstellungen  146 
und  gibt  die  Theorie  der  Abstraction.  Von  hier  geht 
er  dann  naturgemäß  zur  ausgebildeten  Reflexion  über 
und  beendet  sein  inductives  Verfahren  mit  der  Theorie 
des  Gefühls,  welches  nach  ihm  die  „unmittelbare  Selbst- 
thätigkeit  der  Urtheilskraft"  ist.  —  Im  Laufe  seiner  Be- 
trachtung ist  er  nun  zunächst  auf  die  Kantische  Lehre 
von  Raum  und  Zeit  gekommen,  und  zwar  bei  der 
Lehre  von  der  productiven  Einbildungskraft.  Er  gelangt 
zu  dem  Resultate,  daß  „die  Anschauungen  von  Raum 
„und  Zeit  nicht  durch  die  Empfindungen  und  ihre 
„Sinnesanschauungen  im  Gemüthe  entspringen,  sondern 
„aus  Grundbestimmungen  des  Gemüthes'',  sowie,  daß 
sie  die  einzigen  „reinen  Anschauungen*'  sind.*) 
Dann  wird  er  in  der  Theorie  der  Reflexion  auf  die 
Erkenntniß  a  priori  und  deren  Wesen  überhaupt  ge- 
führt und  stellt  folgende  Sätze  auf : 

„Alle  Einheit  und  Verbindung,  alle  Anordnung  und 
„Zusammenhang  kommt  erst  durch  apodiktische  Erkennt- 
„niß  in  die  Erfahrung.*'  — 

„Subjectiv  allgemein  gültig  oder  apodiktisch 
„ist  die  Erkenntniß  desjenigen,  was  jedermann  weiß, 
„und  was  für  den  einzelnen  immer  die  gleiche  Gültig- 
„keit  hat".  —  „Erkenntniß  a  priori  ist  das  Eigenthum 
,,der  ursprünglichen  Selbstthätigkeit  im  Erkennen,  wel- 
„ches  durch  die  bloße  Form  der  Erregbarkeit  unserer 
,, Vernunft  bestimmt  wird."  —  **) 

Wie  also  alle  Gesetze,  die  ganze  Theorie  des  Er- 
kenntnißvermögens,  so  findet  er  auch  die  nothwendigen 
Erkenntnisse  a  priori  durch  psychologische  Selbstbeob- 


*)  Neue  Kritik  d.  V.|Band  I.  pag.  132. 
**)  ibid.  pag.  243—257. 

Neudrucke:    Lieb  mann,  Kant.  10 


146  Viertes  Kapitel. 


achtung  nach  dem  Platonischen  Satze:  ^d^riaig  dvdiivriaig, 
alles  Lernen  ist  Erinnerung.  —  II 
147  Ueberblicken  wir  nun  diesen  Gedankengang,  so  muß 

es  uns  befremden,  wie  in  einer  Propädeutik  zu  aller 
Philosophie  jene  nothwendigen  Formen  alles  Vorstellens 
und  Erkennens  (Raum,  Zeit  und  Kategorieen),  die  aller 
Erfahrung  vorausgehen,  die  Subject  und  Object  bedingen 
und  unter  einander  verknüpfen,  durch  innere  Er- 
fahrung, psychologische  Untersuchung  des  empiri- 
schen Subjects  gefunden  werden  sollen.  Zugleich  finden 
wir  an  der  Spitze  der  Untersuchung  den  Satz:  „Der 
„Standpunct  der  Natur  zeigt  uns  das  Wesen  der  Dinge 
,,nur  auf  eine  subjectiv  beschränkte  Weise, 
„über  die  wir  uns  nur  durch  Ideen  erheben 
,,kö  n  n  e  n.^' *)  Dies  klingt  für  den  von  der  empirischen 
Thatsache  durch  Induction  aufsteigenden  schon  ver- 
fänglich. —  Aber  weiter !  —  Indem  man  zunächst  die 
Empfindung  betrachtet,  ist  ganz  richtig  bemerkt, 
daß  die  einfachen  sinnlichen  Qualitäten,  wie  Farbe  und 
Schall,  durch  die  bekannten  Hypothesen  der  Natur- 
wissenschaft nur  auf  etwas  Anderes,  gleich  unerklär- 
liches zurückgeführt  sind,  daß  ,,in  unseren  physischen 
„Theorieen  des  Schalls  wohl  alles  zum  Phänomen  ge- 
„hörige  durch  die  Schwingungen  erklärt  wird,  nur  der 
„Schall  selbst  nicht,  daß  ebenso  die  Newtonsche,  oder 
,, welche  andere  Theorie  des  Lichts  alles  erklären  mag, 
„nur  die  Farbe  nicht,  weil  Schall  und  Farbe  hier  nach 
„ihrem  Verhältniß  zu  meinem  Inneren  Qualitäten  sind, 
„die  gar  keiner  Erklärung  unterworfen  werden  kön- 
,,nen."**)  Anstatt  aber  hierin  zu  erkennen,  daß  diese 
einfachen,  sinnlichen  Qualitäten  die  objective  Grenze 
des  Vorstellens  und  Erkennens  sind,  wird  vielmehr  be- 
hauptet:   „daß    die    Empfindung   ein    passiver   Zustand 


*)  ibid.  pag.  4. 
•^*)  pag.  68.  - 


Die  empirische  Richtung.  147 

„des  Gemüthes  sei,  in  welchem  es  zum  Anschauen  ge- 
„nöthigt,   zur   Thätigkeit   bestimmt   werde",   „daß   aber 
„wohl  zu  unterscheiden  sei,  die  bloße  Bestimmung  des 
„Sinnes,  ||  der  sinnliche  Eindruck  durch  das  Afficirende,  148 
„durch      welchen     jenes     Anschauen      hervorgebracht 
„werde."  *)    Und  was   ist  denn   das   Afficirende  ?    Was 
bestimmt  denn  zur  Thätigkeit?   Was  nöthigt  denn  zum 
Anschauen?   —   Daß   die   Beantwortung  dieser   Fragen 
schwierig  sei,  wird  zugestanden,  zugleich  aber  werden 
wir   bedeutet,    daß    es    genüge,    wenn    wir   für's    Erste 
nur   lernen,   „wie   wir  die  Gegenstände   erken- 
nen",   wenn   auch    davon   nicht   gleich    die    Rede    sein 
könne    „wie    sie    sind".**)     Hiergegen    müssen    wir 
einwenden,   daß   es  für  eine  empirische  Untersuch- 
ung,  die  vom   Gegebenen   ausgehen   will,   ganz  un- 
statthaft ist,  von  Dingen  zu  reden,  die  ihr  nicht  ge- 
geben sind.  Wie  kann  sie,  die  ganz  auf  dem  Wege  der 
Erfahrung  von  der   Empfindung  zu   den   Erkenntnissen 
a  priori  fortzuschreiten  vorhat,  von  einemden  Sinn  Af  fi- 
el r  enden  reden?  Wo  hat  sie  denn  in  irgend  welcher 
Erfahrung  ein  solches  „Afficirende"  gefunden,  welches 
uns    in    der    Empfindung   „zur    Anschauung    nöthigt"  ? 
Nirgends.    Vielmehr  denkt  sie  sich   (trotz  aller  ge- 
gentheiligen   Versicherungen)    ein   solches    X   bloß 
hinzu.   Wie  kann  sie  ferner,  da  doch  in  der  Erfahrung 
nichts   Anderes,  als   Complexionen   von  sinnlichen   Em- 
pfindungen    angetroffen     werden ,     einen     Unterschied 
machen   zwischen  Gegenständen,   wie  sie  sind"   und 
„wie   wir  sie  erkennen"?    Ist  dieser  Unterschied 
in  der  Erfahrung  gegeben  ?    Nein.    Und  weshalb  macht 
sie  ihn?   Weil  sie  ihn  voraussetzt.  —  Wenn  sie  da- 
gegen   wiederum    erklärt    „daß    die    Empfindung    un- 
„m  i  1 1  e  1  b  a  r    die    Anschauung    gegenwärtiger    Gegen- 


*)  pag.  51. 
**)  pag.  58. 

10* 


148  Viertes  Kapitel. 


„stände  in  sich  enthalte*'*),  so  frage  ich:  Kann  von 
irgend  weichen  Gegenständen  überhaupt  die  Rede 
sein,  wenn  die  für  sich  vereinzelten  Empfindungen  nicht 
zu  räumlichen  Gegenständen  combinirtll 
149 sind,  welche  in  zeitlicher  Aufeinanderfolge 
sich  gleich  bleiben  oder  ändern,  d.  h.  wenn  nicht  Raum 
und  Zeit  als  nothwendige  Anschauungsformen,  Causa- 
lität  und  Substantialität  als  nothwendige  Synthesen 
a  priori  vorausgesetzt  sind  ?  —  Schon  beim  ersten  Schritt 
hätte  die  empirische  Induction  anhalten  müssen.  Denn 
wie  in  aller  Welt  will  man  von  innerem  und  äußerem 
Sinn,  von  Empfindung,  Anschauung,  Einbildungskraft 
reden,  ohne  Nothwendigkeit  von  Raum  und  Zeit,  welche 
man  erst  aufzusuchen  strebt,  schon  lange  zu  haben  ? 
Wie  von  logischem  Gedankenlauf,  von  Reflexion  u.  s.w., 
ohne  die  Allgemeinheit  von  Causalität  und  Substantia- 
lität, welche  nicht  nur  Bedingungen  alles  abstracten, 
sondern  auch  alles  intuitiven  Erkennens  sind,  bereits 
als  gegeben  zu  betrachten?  Wie  überhaupt  kann  man 
versuchen,  die  Apriorität  jener  nothwendigen  Erkennt- 
nißformen  aus  einer  Betrachtung  des  erkennenden  Sub- 
jects  durch  Induction  nachzuweisen,  da  dieses  Subject 
selbst  sammt  seinem  unzertrennlichen  Correlate,  dem 
Object,  ohne  Voraussetzung  von  Raum,  Zeit  und  Kate- 
gorieen,  nicht  nur  nicht  empfinden,  vorstellen,  erkennen 
könnte,  sondern  sogar  überhaupt  Nichts  wäre?  Die 
philosophische  Anthropologie  gleicht  hier 
Jemandem,  der  durch  Zusammenzählung  aller  Bäume 
das  Dasein  des  Waldes  nachweisen  will ;  sie  sieht  im 
Anfange  ihres  Unternehmens  den  Wald  vor  Bäumen 
nicht.  —  Auf  dem  Wege  der  empirischen  Induction  kann 
man  immer  nur  zu  einer  comparativen  Allge- 
meinheit und  einer  relativen  Nothwendig- 
keit kommen;  empirische  Induction  selbst  aber  ist,  so 


^')  pag.  57. 


Die  empirische  Richtung.  149 

wie  ihr  Object,  nur  ermöglicht  durch  die  absolute 
Nothwendigkeit  und  Allgemeinheit,  d.  i.  Apriorität 
jener  obersten  Erkenntnißformen,  Raum,  Zeit  und  Kate- 
gorieen ;  denn,  wie  Kant  sagt:  „Die  Bedingungen 
„a  priori  einer  möglichen  Erfahrung  überhaupt  sind  zu- 
„gleich  Bedingungen  der  Möglichkeit  der  Gegenstände 
„der  Erfah-  ||  rung."  *)  Jene  absolute  Nothwendig- 150 
keit  und  Allgemeinheit,  d.  i.  Apriorität  von  Raum,  Zeit 
und  Kategorieen,  liegt  eben  darin,  daß  ich  bei  dem 
Versuche,  diese  Grundbedingungen  alles  Vorstellens  hin- 
wegzudenken, mich  selbst  sammt  der  Welt,  Subject  und 
Object  der  Erkenntniß  hinwegdenken  müßte,  was 
schlechterdings  unmöglich  ist.  Und  gerade  deshalb,  weil 
ich  sie  mir  nicht  hinwegdenken  kann,  ohne  doch  einen 
directen,  erfahrbaren  Grund  angeben  zu  können,  wes- 
halb Subject  und  Object  so  unauflöslich  mit  der  Exi- 
stenz der  Erkenntnißformen  a  priori  verknüpft  sind, 
ist  die  Ueberzeugung  von  dieser  absoluten  Nothwendig- 
keit eine  transscendentale  (d.h.  alle  Erfahrung 
übersteigende,  und  doch  in  aller  Erfahrung  vorausge- 
setzte) Erkenntniß.  Sie  kann  durch  keine  empirische 
Induction  ersetzt  werden.  Denn,  genauer  betrachtet, 
liegt  die  transscendentale  Natur  des  Nachweises 
von  der  Nothwendigkeit  und  Allgemeinheit  oder  Apriori- 
tät von  Raum,  Zeit  und  Kategorieen  darin,  daß  in  ihm 
auf  keine  Weise  epagogisch  das  ozi,  und  das  6c6ti 
dieser  Apriorität  nachgewiesen  werden  kann,  sondern 
nur  apagogisch,  das  ort  }iii  des  Gegentheils.  Er  ist 
der  alleroberste  apagogische  Beweis,  weil  in  ihm  aus 
der  allerobersten  und  allgemeinsten  Ungereimtheit,  näm- 
lich dem  „Sich  selbst  und  die  Welt  hinwegdenken  müs- 
sen" die  alleroberste  und  allgemeinste  Wahrheit,  näm- 
lich die  unbedingte  Gültigkeit  der  Erkenntnißformen 
a  priori,  ad  contradictoriam  gefolgert  wird. 


='0  Kants  Kritik  d.  r.  V.  pag.  111. 


150  Viertes  Kapitel. 


Der  Versuch  aber,  den  Fries  macht,  die  K  a  n  t  i  - 
sehe  Philosophie  hier,  wo  sie  unangreifbar  ist, 
zu  corrigiren,  ist  keine  Verbesserung,  sondern  ein  Rück- 
fall in  den  Lockeschen  Empirismus,  von  welchem 
Kant  in  der  Vorrede  zur  ersten  Ausgabe  der  Kritik 
der  reinen  Vernunft  sagt:  „daß  es  zwar  den  Anschein 
151  „gehabt  |1  habe,  als  sollte  diese  Physiologie  des 
„m  enschlichen  Verstandes  allen  dogmatischen 
„und  skeptischen  Streitigkeiten  ein  Ende  machen,  daß 
„aber,  weil  sie  aus  der  Erfahrung  abgeleitet 
„wurde,  doch  wieder  alles  in  den  alten,  wurmstichigen 
„Dogmatismus  und  daraus  in  Geringschätzung  verfallen 
„sei ,  daraus  man  die  Wissenschaft  habe  ziehen 
„wollen,"*) 

Alles  in  Allem !  Die  eigentliche  Tendenz  der  Kanti- 
schen Kritik  für  eine  psychologische  zu  halten, 
ist  das  ärgste  Mißverständniß,  was  ihr  widerfahren 
kann.  Uebrigens  steht  Fries  mit  diesem  Mißverständ- 
niß nicht  allein  da.  Lesen  wir  doch  auch  in  einer  sehr 
ausführlichen  französischen  Preisschrift:  Dans  ce  Syste- 
me la  Psychologie  est  presente  partout,  et  toute 
la   Philosophie   de   Kant   repose   sur   eile.**) 

Die  Summe  unseres  Urtheils  in  diesem  Punkte 
können  wir  mit  Kuno  Fischer  in  die  kurzen  Worte 
fassen : 

Was  a  priori  ist,  kann  nie  a  posteriori 
erkannt  werden.***) 

Allein  wir  sind  noch  nicht  zu  Ende.  Vielmehr 
werden  wir  jetzt  erst  auf  den  kritischen  Hauptpunkt 
hingedrängt.  Wie  wir  nämlich  sahen,  war  gleich  im 
Anfange  der  ganzen  Induction  ungerechtfertigter  Weise 


*)  Vgl.  Kants  Kr.  d.  r.  V.  pag.  86  unk  87. 
**)  Histoire   de   la   Philosophie  Allemande   depuis   Kant  jusqu'ä 
Hegel  par  J.  Willm.    Ouvrage  couronne  par  l'Institut.     Paris  1846. 
Tome  I.  pag.  74. 

***)  Kuno  Fischers  Akademische  Reden  pag.  99. 


Die  empirische  Richtung.  151 

die  Rede  von  einem  Unterschiede  zwischen  den  Gegen- 
ständen „wie  sie  sind"  und  „wie  wir  sie  erkennen/' 
auch  von  irgend  einem,  nicht  näher  specificirten  Et- 
was, das  uns  in  der  Empfindung  afficiren 
und  zur  Th^ätigkeit  des  Anschauens  nöthi- 
gen  soll.  —  Betrachten  wir  doch  ein- 1|  mal  jenen  152 
Unterschied  näher ;  sehen  wir  doch  einmal  nach,  welcher 
Art  dieses  afficirende  Etwas  sein  mag !  — 

Wenn  man  diesen  ganz  unmotivirten  Gedanken  zu- 
nächst nur  für  sich  nimmt,  so  ist  er  einzig  und  allein 
die  Folge  jenes  großen  und  ursprünglichen  Irrthums 
der  „philosophischen  Anthropologie,"  daß  man  eine  Be- 
trachtung der  empirischen,  subjectiven  Thätigkeit  im 
Erkennen  für  eine  Erkenntnißtheorie  oder  Kritik  der 
Vernunft  auszugeben  sucht.  In  aller  Erkenntniß 
findet  man  nur  ein  vom  Object  behaftetes  Sub- 
j  e  c  t  und  ein  vom  Subject  abhängiges  Object; 
beide  sind  unzertrennliche  Factoren,  nothwendige  Corre- 
lata  der  Erkenntniß ;  ein  Causalverhältniß  haben  sie 
nicht  zu  einander.  Davon  weiß  die  „philosophische  An- 
thropologie" (trotzdem  sie  an  einigen  Stellen  etwas 
ähnlich  Klingendes  verlauten  läßt)  de  facto  auf  ihrem 
empirischen  Standpunkte  nichts.  Sie  hat  es  zunächst 
nur  mit  dem  empirischen  Subject,  d.  h.  mit  dem  Object 
der  Psychologie,  zu  thun.  Indem  sie  nun  den  einen 
Factor  der  Erkenntniß  (das  Subject)  vereinzelt  (d.  h. 
gewaltsam  aus  der  unlöslichen  Verbindung  mit  dem 
Object  losgerissen)  zu  haben  meint  und  in  dieser 
Vereinzelung  einseitig  als  Producenten  der  Erkenntniß 
ansieht,  muß  sie  jene  unnatürliche  Abstraction,  jene 
arge  Selbstüberhebung  des  empirischen  Subjects  da- 
durch büßen,  daß  sie  sich  fortwährend  nach  der  ob- 
jectiven  Seite  hin  gehemmt  fühlt  durch  den  Mangel  des 
nothwendigen  Complements  aller  subjectiven  Thätig- 
keit in  der  Erkenntniß  ;  sie  sucht  daher,  um  sich  jenen 
Mangel   ein  für  alle   Mal   vom   Halse  zu   schaffen,   ein 


152  Viertes  Kapitel. 


unbekanntes  Etwas,  wodurch  der,  einseitig  losgerissene, 
subjective  Factor  der  Erkenntniß  zur  Thätigkeit  ge- 
nöthigt,  z.  B.  in  der  Empfindung  afficirt  oder  zur  An- 
schauung bestimmt  werden  soll.  Da  nun  aber  alles 
Vorstellen  bereits  an  die  Thätigkeit  des  Intellects  ver- 
geben war,  alle  nothwendigen  Bedingungen  des  Vor-  II 
153  stellens,  nämlich  die  reinen  Formen  der  Erkenntniß 
a  priori,  erst  durch  Induction  im  Subject  gefunden  wer- 
den sollen,  so  muß  offenbar  jenes  zur  Anschauung 
Nöthigende,  jenes  zur  Erkenntniß  Bestim- 
mende, doch  außer  den  Bedingungen  und  Formen 
der  Erkenntniß,  außer  der  Sphäre  des  Vorstellens 
liegen.  —  Dieser  Gedanke,  der  wie  gesagt,  sich  als 
Consequenz  aus  jenem  primitiven  Irrthume  ergibt,  ist 
verdächtig  genug,  um  uns  darauf  dringen  zu  lassen, 
daß  sich  die  Friesische  Philosophie  über  ihr  Ver- 
hältniß  zum  Kantischen  „Ding  an  sich''  ausspreche. 
Und  da  machen  wir  denn  die  interessante  Entdeckung, 
daß  Fries  bereits  in  einer  früheren  Schrift,  welche 
ein  Programm  seiner  Philosophie  zu  liefern  bestimmt 
war,  folgende  Worte  schrieb:  „Bei  so  bewandten  Um- 
„ständen  ist  es  vielleicht  nicht  umsonst,  jetzt  die  alte 
„verjährte  Sache  des  ,,Dings  an  sich"  wieder 
jjVorzunehmen  und  zu  versuchen,  ob  man  ihm  nicht 
„endlich  sein  Recht  könne  widerfahren  lassen."*)  — 
Dies  ist  nicht  etwa  Ironie.  Denn  nachdem  er  die  Frage 
aufgeworfen  hat:  „Weshalb  denn  gerade  die  Unter- 
„scheidung  zwischen  Erscheinung  und  ,,Ding  an  sich" 
„so  wichtig  sei?"  —  fährt  er  wörtlich  so  fort:  „Das  ist 
„leicht  zu  beantworten.  Eben  weil  sie  das  Haupt- 
„dogma  des  transscendentalen  Idealismus  (d.  h.  der 
,,K  antischen  Philosophie]  vorbereitet,  oder  eigent- 
„lich  schon  ausspricht."  —  Jawohl!  Haupt  do  gm  a!  — 
Beiläufig  findet  er  dann  für  die  Wörter  „Erscheinung" 


■)  J.  F.  Fries:  Wissen,  Glaube  und  Ahnung.    Jena  1805.  pag.  7. 


Die  empirische  Richtung.  153 

und  ,,Ding  an  sich''  die  Scliellingschen  Ausdrücke : 
„Endliches"  und  „Ewiges  Sein"  viel  passender, 
besonders   „weil   sie   im    Katechismus   oder   wenigstens 
den  meisten  Gebetbüchern  gewöhnlich  vorkommen."  — 
Da  diese  Worte  vor  Abfassung  der  „Neuen  Kritik 
der    Vernunft"    geschrieben    sind,    so    könnte    man    auf 
den    Gedanken    kommen,    ob    sich   ||   unterdessen    Fries  154 
nicht   eines   Bessern  besonnen  habe.    Und  in   der  That 
scheint   es  so,   wenn   man   in   seinem    Hauptwerke   den 
Satz  liest:    „In  der  Kantischen  Schule  hat  die  Grenzbe- 
stimmung  (von  Erschein,  u.  D.  a.  s.)   viele  Worte  und 
viele   Schwierigkeiten  veranlaßt,  besonders   durch   den 
Streit   über   das    ,,Ding   an    sich"    und    den    transscen-^ 
dentalen     Gegenstand.      Dieses     Ding     an     sich 
sollte     das    durchaus    weder     erkennbare, 
noch    denkbare,    noch    vorstellbare    sein; 
das    Räthsel   war   nur,    worin    es    sich    dann 
vom    Nichts    unterscheide,     und     wie    man 
doch     im     Stande    sei,     Worte     darüber    zu 
machen.     Konnte   man    es    selbst   nicht   fas- 
sen, so  mußte  sein  Name  doch  wenigstens 
eine   leere   Stelle   in   unserer   Erkenntniß- 
kraft   bezeichnen,   über   die   sich   Niemand 
gehörig    deutlich    machte."*)     Wäre     er    doch 
dabei   geblieben  !    Oder  sollte  er  etwa,  da  er  trotzdem 
immer   noch   vom   ,,Ding  an   sich"   weiß,   unter   diesem 
Namen    etwas   Anderes    verstanden    haben    als    Kant? 
Sollte  es  sich  hier  bloß  um  ein  Homonymon  handeln? 
—   Darüber  bleiben  wir  nicht  lange  in  Zweifel.    Denn 
nachdem    er  auf  Seite  181  — 184  nach  allen  vier  Titeln 
der    Kantischen    Kategorientafel   bewiesen   hat,   daß   die 
Welt  in  Raum  und  Zeit  nicht  an  sich,  sondern  entweder 
Schein  oder  Erscheinung  sein  müsse,  stellt  er  über  das 
„Ding  an  sich"   eine  Reihe  von   Betrachtungen  an   und 


*)  Neue  Krit.  d.  V.  Bd.  II.  pag.  162. 


154  Viertes  Kapitel. 


Sätzen  auf,  die  nicht  allein  die  vollkommene  Identität 
des  Friesischen  Hirngespinnstes  mit  dem  Kantischen 
klar  an  den  Tag  legen,  sondern  in  dieser  Hinsicht 
uns  noch  mit  einigen  neuen  Fortschritten  der  transscen- 
denten  Speculation  überraschen.  Wir  citiren  einige  der 
betreffenden  Stellen :  „Wir  haben  bisher  für  unsere 
„Lehre  von  den  Ideen  den  ersten  Schritt  gethan,  indem 
155  „wir  gegen  die  Ansicht  des  gemeinen  Lebens  ||  zeigten: 
„der  Natur  der  Dinge  in  Raum  und  Zeit  komme  kein 
„Sein  an  sich  zu."  (pag.  186)  Ferner:  „Wir  dürfen 
„unsere  natürliche  Ansicht  der  Dinge  nur  als  eine  sub- 
„jectiv  bedingte  Erkenntnißweise  ansehen,  welche  frei- 
„lich,  verhindert  durch  die  Beschränktheit  unseres  Sin- 
„nes,  die  Dinge  nicht  sehen  läßt,  wie  sie  an  sich  sind, 
„aber  doch  eine  Erscheinung  dieser  Dinge  enthält." 
(189)  Vorher  hatte  er  schon  erwähnt,  daß  „unsere  Ver- 
„nunft  in  Rücksicht  der  Dinge  an  sich  über  das  einzige 
„Urtheil  hinaus,  daß  sie  sind,  nur  negative  Urtheile 
„habe  über  das,  was  sie  nicht  sind."  (185.)  Als 
Complement  hiezu  finden  wir  dann  pag.  194:  „Gemein- 
„hin  setzen  wir  den  Erscheinungen  (Phänomenen) 
„die  Noumena  oder  Gedankendinge  entgegen ;  erstere 
„sind  Gegenstände  der  Sinnesanschauung,  Dinge  in 
„Raum  und  Zeit,  letztere  sind  Gegenstände  in  der 
„Idee,  welche  nur  der  Verstand  denkt."  —  Ich  möchte 
wohl  eine  Idee  kennen,  die  außer  Raum  und  Zeit 
gedacht  werden  könnte !  Der  mathematische  Punkt, 
gleichsam  die  schwindsüchtigste  aller  Ideen,  bedarf  doch 
erstens  einer  Zeit,  in  der  er  gedacht  wird,  zweitens 
wird  er  zwar  ohne  Ausdehnung  gedacht,  ist  aber  doch 
im  Raum.  —  Nicht  zufrieden  hiermit  behauptet  Fries 
gar,  daß  der  sinnlichen  Vernunft,  die  ,,ihre  unzuläng- 
„liche  Ansicht  der  Dinge  immer  als  Erscheinung  an- 
„sehen  werde,  wenn  sie  die  subjective  Be- 
„schränktheit  ihrer  Ansicht  (Raum,  Zeit 
„und  Kategorieen)  aufgehoben  denke,  dann 


Die  empirische  Richtung.  155 

„die  ewige  Wahrheit  vor  Augen  steh  e."  (195) 
—  Ja,  wenn  die  ewige  Wahrheit  eine  absurde  Um-n, 
Schreibung  für  Nichts  ist,  dann  hat  er  Recht !  — 
Fußend  aber  auf  diese  letzte  Behauptung  stellt  er  fol- 
gende „modale  Grundsätze  unserer  idealen  Ansicht  der 
Dinge"  auf: 

1)  „Die   Sinnenwelt  unter  Naturgesetzen  ist  nur   Er- 
scheinung." 

2)  „Der  Erscheinung  liegt  ein  Sein  der  Dinge  an  sich 
zu  Grunde." 

3)  „Die  Sinnenwelt  ist  die  Erscheinung  der  Welt  der 
Dinge   an   sich."  Ii 

Der  erste  dieser  Sätze  soll  das  Prinzip  des  Wis-156 
sens,  der  zweite  das  des  Glaubens,  der  dritte  das 
der  Ahndung  sein.*)  Hierauf  kann  man  nur  er- 
wiedern :  Jenes*  Wissen  ist  unmöglich,  weil  sein  Prin- 
cip  ungereimt  ist.  Jenes  Glauben  ist  unmöglich,  weil 
sein  Object  ein  Wort  ohne  Sinn  ist.  Jenes  Ahnden 
ist  unmöglich,  weil  sein  Inhalt  auf  zwei  falschen  Prä- 
missen beruht. 

Und  nun  soll  gar  noch  der  erwähnte  Glaube  ein 
speculativer  Glaube  sein!  Im  Gegentheil !  Es  ist 
ein  so  durchaus  undenkbarer,  allen  Vernunftgesetzen 
Hohn  sprechender  Glaube,  daß  gegen  ihn  jener  andere, 
der  sich  das  „Credo  quia  absurdum"  zur  Devise  macht, 
noch  wie  reine,  goldene  Philosophie  erscheint.  Denn 
etwas  nur  Absurdes,  wie  z.  B.  ein  viereckiger  Kreis, 
ist  doch  eben  bloß  darum  verwerflich,  weil  die  von  ihm 
verlangte  Vereinigung  zweier  sich  widersprechender  Vor- 
stellungen in  eine  nicht  vollzogen  werden  kann.  Das 
„Ding  an  sich"  aber,  an  welches  jener  sogenannte 
„speculative"  Glaube  glaubt,  enthält  die  Zumuthung: 
Ein  Unvorstellbares  vorzustellen,  —  zwei 
Begriffe,    deren   Vereinigung   nicht   nur   unmöglich 

*)  pag.  196. 


156  Viertes  Kapitel. 


ist,  sondern  deren  einer  aliein,  nämlicii  das  „Unvor- 
stellbare'', schon  eine  contradictio  in  adjecto  ist.  — 
Wir  können  mit  gutem  Gewissen  schließen : 
Fries  hat  die  Kantische  Philosophie 
vorausgesetzt;  er  hat  aber  ihren  bekannten 
Fehler  nicht  nur  nicht  entfernt,  sondern 
sogar  selbst  adoptirt.  Er  hat  demnach  den 
Kriticismus  in  diesem  Punkte  nicht  corri- 
girt. 

Also     muß     auf     Kant     zurückgegangen 
werden.  11 


Fünftes  Kapitel.  157 


Die  transscendente  Richtung. 
Schopenhauer. 

Nego  voluntatem  latius  se  extendere,  quam 
perceptiones,  sive  concipiendi  facultatem;  nee 
sane  video,  cur  facultas  volendi  potius  dicenda  est 
infinita,  quam  sentiendi  facultas. 

Spinoz.  Ethic.  II,  prop.  XLIX.  Schol. 

Wenn  es  nach  unserem  kritischen  Plane  nothwen- 
dig  ist,  an  jedes  der  in  Betracht  kommenden  philoso- 
phischen Systeme  vollkommen  vorurtheilslos  heranzu- 
treten, so  wird  uns  in  dem  vorliegenden  Falle  unsere 
Arbeit  in  der  That  schwer  gemacht.  Schopenhauer 
gilt  in  seinem  Fache  gleichsam  für  den  Helden  des 
Tages ;  seine  Philosophie  oder  doch  seine  philosophi- 
schen Schriften  sind  en  vogue ;  aus  langer  Verborgeni 
heit  sind  sie  strahlend  auferstanden,  wie  einst  die  Spi- 
nozas; seine  Lehre  wird  als  etwas  Neues  angesehen, 
während  sie,  ebenso  wie  die  bisher  betrachteten  nach- 
kantischen  Systeme  —  mag  man  auch  auf  geistigem 
Gebiete  die  „Gegenwart"  weiter  ausdehnen  als  auf 
materiellem  —  nur  von  der  Schwelle  der  Vergangenheit 
Uns  nachblickt.  Neben  vielen  blendenden  und  bedeuten- 
den Seiten  hat  diese  Philosophie  mindestens  eben  so 
viele  Schwächen.  Ueberdies  umgibt  sie  sich  mit  dem 
üblen  Dunstkreise  einer  beispiellos  scandalösen  Polemik 
und  scheint  daher,  wenn  sie  nicht  abschreckt,  nach  einem 
bekannten  Sprüchworte  eine  gleiche  gegen  sich  heraus- 


158  Fünftes  Kapitel. 


zufordern.  —  Während  Spinoza  seiner  Lehre  wegen 
158in's  II  Exil  gestoßen,  wie  „ein  todter  Hund''  behandelt 
worden  ist,  hat  sich  Schopenhauer  in  eine  frei- 
willige Verbannung,  eine  grollende,  einsame,  fruchtbare 
Muße  zurückgezogen  und  von  dort  aus  seine  Collegen, 
in  denen  er  nur  Concurrenten  sah,  sehr  lebendig  ange- 
bellt, ja  ihnen  noch  ins  Grab  nachgegeifert,  —  Alles  in 
majorem  „Veritatis"  gloriam!  Neuerdings  haben  seine 
Schüler  und  Freunde  für  seine  Lehre  und  seine  Person 
durch  ausführliche  Schriften  Propaganda  zu  machen  ge- 
sucht ;  und  erst  kürzlich  ist  ihm  in  einer  erschöpfenden 
Monographie  strenge  Würdigung  geworden.  *)  Von  alle- 
dem sollen  und  müssen  wir  abstrahiren.  Wir  dürfen 
uns  weder  an  seiner  Polemik  stoßen,  aus  der  seine 
Lehre  herausgeschält  werden  muß,  noch  von  seinen 
Glanzseiten  blenden  lassen ;  wir  dürfen  ihn  nicht  als 
eine  neue  Erscheinung,  sondern  in  höherem  Sinne  als 
Coätan  der  übrigen  Epigonen  ansehen ;  wir  haben  es 
nicht  mit  seiner  Person,  sondern  mit  seiner  Lehre  zu 
thun.  —  Haben  wir  uns  nun  aber  auch  auf  diesen  un- 
parteiischen Standpunkt  gestellt,  so  tritt  uns  sofort  eine 
neue  verhängnißvolle  Analogie  mit  Spinoza  entgegen. 
Das  Signum  reprobationis,  welches  Spinoza  nach  der 
Ansicht  seines  Biographen  auf  der  leiblichen  Stirn 
trug,  trägt  Schopenhauer  auf  der  geistigen. 
Denn  wir  werden  von  seiner  Philosophie  mit  dem  Satze 
empfangen : 

„Kants  größtes  Verdienst  ist  die  Unter- 
„scheidung  der  Erscheinung  vom  Dinge  an 
„sich".^-*) 

Diese  Worte,  in  gesperrter  Schrift  gedruckt,  begin- 
nen seine  berühmte  Kritik  der  Kantischen  Philosophie, 


*)  Arthur  Schopenhauer  von  R.  Haym.     Besonders  abgedruckt 
aus  d.  14.  Bd.  der  Preußischen  Jahrbücher.    Berlin  1864. 

**)  Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung  v.  Arthur  Schopenhauer. 
3.  Auflage  1859.  Band  I,  pag.  494. 


Die  transscendente  Richtung.  159 


welche  er  nicht  nur  als  Epilog,  sondern  zunächst  als 
Prolog  seiner  Lehre  angesehen  ||  wissen  will.  Also  der  159 
Punkt  in  dem  Systeme  jenes  großen  Mannes,  der  ge- 
radezu Unsinn  ist,  gilt  ihm  für  die  Hauptwahrheit.  Aber 
auch  Dies  darf  uns  weder  abschrecken,  noch  bestechen. 
Hat  doch  schon  Schell  ing  so  viel  vom  Dinge  an 
sich  „intellectuell  angeschaut"  und  Fries  daran  „spe- 
culativ  geglaubt'^  Weg  also  mit  diesen  Gedanken ! 
Geben  wir  ihm  Charte  blanche.  Wir  haben  vor  uns  nur 
den  Schüler  und  Nachfolger  Kants,  der  die  erste 
Grundlage  seiner  Gedankenrichtung  im  Jahre  des  Heils 
1813,  seine  ausgeführte  Weltansicht  1819  veröffent- 
lichte. —  *) 

Zwischen  der  Schopenhauerschen  Lehre  und 
denjenigen  nachkantischen  Systemen,  die  wir  bisher 
untersucht  haben  (ausgenommen  etwa  Fries),  besteht 
neben  vielen  anderen  auch  der  Unterschied,  daß  ihr 
eigener  Gedankengang  der  einen  Hälfte  nach  im 
Wesentlichen  von  Kant  nicht  abweicht,  nur  in 
Nebenpunkten  ihn  corrigirt  und  ergänzt,  dann  aber  mit 
einem  Male  den  neuen  originellen  Satz  als  andere  Hälfte 
hinstellt,  der  sie  nun  specifisch  unterscheidet.  Sie  läßt 
sich  daher  nicht,  wie  alle  übrigen  Sprößlinge  des  Kriti- 
cismus,  gleichsam  als  von  dem  gemeinsamen  Centrum 
ausgehender  Radius  verfolgen,  sondern  lehnt  sich  mit 
der  einen  Seite  an  jenen  an,  während  sie  mit  der  ande-- 
ren  frei  hantirt.  Ihr  erstes  Geschäft  ist,  jenen  groß- 
artigen Bau  in  ihrer  Weise  zu  stützen  und  auszubessern ; 
die  „Kritik  der  Kantischen  Philosophie"  ist  die 
Einleitung  in  die  Schopenhauersche.  Denn 
wenn  auch  die  kleine  Schrift  „Ueber  die  vierfache  Wur- 
zel des  Satzes  vom  Grunde"  der  Zeit  und  dem  Ge- 
danken nach  vorausgeht  und  von  dem  Philosophen  selbst 


*)  Ueber  die  vierfache   Wurzel   des   Satzes   vom   zureichenden 
Grunde  v.  A.  Schopenhauer.    Rudolstadt  1813. 


160  Fünftes  Kapitel. 


„die  Propädeutik  seines  Hauptwerks''  genannt  wird,  so 
ruht  doch  gerade  der  Schwerpunkt  seiner  Lehre  viel- 
mehr auf  jener  zweiten,  als  auf  dieser  ersten  Einleitung. 
160  Zudem  gesteht  er  selbst,  ||  daß  er  bei  der  Abfassung 
der  ersten,  welche  in  der  Hauptsache  schon  eine  Be-» 
stätigung,  Einschränkung  und  Verbesserung  der  Kanti- 
schen Grundansichten  enthält,  noch  zu  sehr  in  den  Be- 
griffen  des  Meisters  befangen  gewesen  sei.  — 

Indem  wir,  unserem  vorgezeichneten  und  bisher  be- 
folgten Verfahren  gemäß,  den  inneren  Gedankenzusam- 
menhang zwischen  der  Kantischen  Philosophie  und  dem 
vorliegenden  Systeme  darzustellen  unternehmen,  er- 
scheint es  nach  dem  Gesagten  dieses  Mal  für  die  Ver- 
ständlichkeit vortheilhafter,  den  Philosophen  nicht  als 
in  ununterbrochener  Rede  denkend  einzuführen,  sondern 
häufig  mit  erklärenden  und  verknüpfenden  Bemerkungen 
einzufallen,  da  wir  es  nicht  mit  einem  gleichmäßig  sich 
fortspinnenden  Gedankenfaden,  sondern  mit  einer  Sum- 
me von  einzelnen  Urtheilen  zu  thun  haben.  — 

Diejenigen  Sätze  der  kritischen  Lehre  zunächst,  die 
Schopenhauer  billigt  und  demgemäß  adoptirt,  sind  fol- 
gende : 

Raum  und  Zeit  sind  reine  Anschauungen  a  priori, 
nothv^endige,  allgemeine  Formen  der  empirischen 
Welt.  Wir  erkennen  sie  unabhängig  von  der  Erfah- 
rung ;  sie  sind  Bedingungen  des  Vorstellens,  Func- 
tionen des  [subjectiven  ]  Intellects.  Demnach  ist  die 
räumlich-zeitliche  Welt  nicht  an  sich  (vom  Subject  un- 
abhängig), sondern  Erscheinung.  Kant  vervollstän- 
digt hierin  also  die  Lockesche  Unterscheidung 
zwischen  Dem,  was  für  uns,  und  was  ohne  uns  ist ; 
aber  er  steht  auf  einem  viel  höheren  Standpunkte  als 
jener ;  die  Lockesche  Lehre  verhält  sich  zur  Kanti- 
schen gleichsam  nur  wie  ein  jugendliches  Vorspiel. 
Locke  nämlich  glaubte,  daß  nur  die  secundären  Eigen- 
schaften der  empirischen  Objecte,  die  Affectionen  der 


Die  transscendente  Richtung.  161 

Sinne,  wie  Klang,  Farbe,  Geruch  u.  s.  w.,  auf  Rech- 
nung unseres  subjectiven  Erkenntnißvermögens  zu 
schreiben  wären,  während  er  die  räumlichen  und  zeit- 
lichen Prädicate  der  Dinge  und  ihren  Causal- 1|  zusam- 161 
menhang  für  an  sich  seiende  Eigenschaften  dersel- 
ben, für  „qualitates  primarias"  hielt.  Indem  nun  Kant 
nachwies,  daß  auch  diese  letzteren,  als  Erkenntnisse 
a  priori,  [nach  Schopenhauers  Auffassung]  subjec- 
tiven Ursprungs  seien,  also  den  Dingen  nur  in  ihrem 
Zusammentreffen  mit  dem  Subject,  d.  i.  sofern  wir 
sie  erkennen,  zukämen,  erfaßte  er  erst  wirklich  den 
Unterschied  zwischen  Erscheinung  und  Ding  an  sich, 
die  gänzliche  Diversität  von  Idealem  und  Realem. 
Zugleich  fixirte  er  die  Unterscheidung  von  Erkenntniß 
a  priori  und  a  posteriori,  unter  welcher  letzteren  er 
die  empirischen  Sinnesaffectionen,  also  die  qualitates 
secundarias  verstand,  welche  wir  aus  der  Erfahrung 
kennen,  während  er  unter  jenem  Namen  die  allge- 
meinen und  nothwendigen  Formen  und  Bedingungen 
aller  Erfahrung  (Raum,  Zeit  und  Kategorieen)  zusammen- 
faßte. 

Die  Unterscheidung  von  Erscheinung  und  Ding 
an  sich  war  im  Grunde  nichts  Neues.  Schon  P  1  a  t  o  n 
hatte  erkannt,  daß  die  materielle  Welt,  die  vXif],  nur 
ein  dXrjd^ivov  ipevdoc  sei,  ein  bestandloser  Wahn,  ein 
ewig  Werdendes  und  Vergehendes,  nie  aber  wahrhaft 
Seiendes:  del  ytyvoiievov  /tei'  xal  dnoXXviiivov,  ovtwc 
Je  ovdinors  oV;  was  er  in  dem  berühmten  Mythos  von 
den  Männern,  die  in  dunkler  Hole  sitzend  nur  die 
Schatten  der  vorbeigetragenen  wirklichen  Dinge  an 
der  gegenüberstehenden  Wand  sehen,  anschaulich  ge- 
macht hat.  Noch  früher  aber  schon  ist  in  den  heiligen 
Büchern  der  Inder  derselbe  Gedanke  von  der  Nich- 
tigkeit der  empirischen  Welt  gelehrt,  indem  sie  ein 
vergänglicher,  wesenloser  Schein,  ein  Trugbild,  das 
„Gewebe  der  Maja"  genannt  wird.  —  Neu  also  ist 

Neudrucke:    Liebmann,  Kant.  11 


162  Fünftes  Kapitel. 


diese    Wahrheit   nicht.    Aber   es   ist   [nach    Schopen- 
hauer] Kants  unsterbliches  Verdienst  [sie!],  daß  er 
jene  Unterscheidung  von   Ding  an  sich  und  Erschei- 
nung auf  dem  Wege  ganz  nüchterner  Darstellung  zur 
162      er- II  wiesenen,  unbestreitbaren,  philosophischen  Wahr- 
heit   gemacht    hat    [??],    während    jene   früheren   Ein- 
kleidungen derselben  Einsicht  nur  mythisch  und  poe- 
tisch waren.  *) 
Diese    Gedanken    sind,   wie   wir   sehen,    ganz    echt 
(incorrect)  Kantisch.   Was  er  innerhalb  dieser  Sphäre 
gedanklich  zu  bessern  hat,  bezieht  sich  nur  auf  unter- 
geordnete Einzelheiten.    Indem  er  nun  aber  bei  fernerer 
Betrachtung  und  Kritik  des  Kantischen  Gedankenganges 
theils  auf  mangelnde  Unterscheidungen,  theils  auf  be- 
griffliche Lücken,  theils  auf  überflüssige  Begriffe  u.  s.  w. 
hinweist,   alle   seine   Einwendungen   zusammenfaßt  und 
erörtert,    bildet   sich   ihm   eine   neue   Theorie   des   Vor- 
stellens  und  Erkennens,  welche  er,  auf  jener  Kritischen 
Grundlage  fußend,  theils  in  der  Abhandlung  über  den 
Satz   vom   Grunde,    theils   in   seinem    Hauptwerke   ent- 
wickelt.   Wir  müssen  diese  neue  Erkenntnißtheorie,  die 
neben    vielen    Irrthümern    doch    reich    an    treffenden, 
schönen,    unwiderleglichen    Gedanken    ist,    genauer   be- 
trachten. 

Daß  alle  Erfahrung,  alle  Erkenntniß  überhaupt 
innerhalb  unseres  Bewußtseins  vor  sich  geht,  ist  an- 
erkannte Thatsache.  Wenn  wir  nun  auf  die  Bestand- 
theile,  auf  die  verschiedenen  geistigen  Functionen 
und  begrifflichen  Elemente,  die  im  Bewußtsein  zu- 
sammenwirken, näher  eingehen,  so  ergibt  sich  fol- 
gendes allgemeine,  alle  unsere  Vorstellungen  beherr- 
schende Gesetz:  „Unser  Bewußtsein,  so  weit  es  als 
„Sinnlichkeit,  Verstand  und  Vernunft  erscheint,  zer- 
„fällt  in  Subject  und  Object  und  enthält  (bis  dahin) 


*)  Kritik  d.  Kantisch.  Philos.  Die  Welt  a.  W.  u.  V.  B.  I.  pag.  494.  ff. 


Die  transscendente  Richtung.  163 

„nichts  außerdem.  Object  für  das  Subject  sein,  und 
„unsere  Vorstellung  sein,  ist  dasselbe.  Alle  unsere 
„Vorstellungen  sind  Objecte  des  Subjects,  und  alle 
„Objecte  des  Subjects  sind  unsere  Vorstellungen. 
„Aber  —  so  müssen  wir  fortfahren  —  nichts  ||  für  163 
„sich  Bestehendes  und  Unabhängiges,  auch  nichts  Ein- 
„zelnes  und  Abgerissenes,  kann  Object  für  uns  wer- 
„den,  sondern  alle  Vorstellungen  stehen  in 
„einer  gesetzmäßigen  und  der  Form  nach 
„a   priori  bestimmbaren  Verbindung."*) 

Diese  gesetzmäßige,  der  Form  nach  a  priori  be- 
stimmbare Verbindung  von  Vorstellungen  ist  nun  der 
Satz  vom  Grunde,  oder  genauer  „die  Wurzel  des 
„Satzes  vom  zureichenden  Grunde."  Um 
dieses  allgemeine  Gesetz  eingehend  zu  specificiren, 
müssen  wir  erst  eine  Untersuchung  darüber  anstel- 
len, in  welcherlei  verschiedene  Klassen  alle  unsere 
Vorstellungen  zerfallen  ;  und  indem  wir  hierbei  rein 
auf  die  Thatsachen  unserer  inneren  Erfahrung,  also 
auf  Beobachtung  unseres  Bewußtseins  angewiesen 
sind,  finden  wir  durch  Induction  folgende  vier. 

Erstens  die  Klasse  der  anschaulichen 
realen  Objecte,  d.i.  der  vollständigen, 
das  ganze  einer  Erfahrung  ausmachenden 
Vorstellungen,  die  das  Materiale  und  Formale 
der  sinnlichen  Erfahrung  zugleich  befassen,  die  ob- 
jective,  reale  Welt.  Solche  Vorstellungen  haben  ver- 
nünftige und  unvernünftige  Wesen,  Menschen  und 
Thiere  gemeinsam. 

Als  zweite  Klasse  ergeben  sich  die 
Vorstellungen  von  Vorstellungen,  oder 
Begriffe,  welche  das  Denken  oder  abstracte  Vor- 
stellen ermöglichen.  Sie  sind  das,  wodurch  die 
Sprache  bedingt,  wodurch  der  Mensch  vom  Thiere 


*)  Siehe:  Satz  vom  Grunde  §.16. 

11* 


164  Fünftes  Kapitel. 


unterschieden,   vernünftiges  von  unvernünftigem  Vor- 
stellen getrennt  wird. 

Die  dritte  Klasse  wird  gebildet  durch 
die  a  priori  gegebenen  Anschauungen 
der  Formen  des  äußeren  und  inneren  Sin- 
164  nes,  Raum  und  Zeit.  Sie  sind  ||  nicht  nur  der 
Schauplatz  der  reinen  Größenbetrachtung  oder  Mathe- 
matik, sondern  zugleich  die  formalen  Bedingungen 
alles  Vorstellens. 

Als  vierte  Klasse  ergibt  sich  nur  ein  ein- 
ziges Object,  welches  sich  aber  von  allen  bis- 
her in  Betracht  gezogenen  Vorstellungen  toto  genere 
unterscheidet;  das  ist  nämlich  das  Subject  des 
Willens,  welches  allein  in  der  Zeit  Object  des 
erkennenden  Subjects  ist.  Als  „erkennendes" 
kann  das  Subject  nie  sich  selbst  zum  Object  werden, 
weil  es  eben  im  Akte  des  Erkennens  immer  die 
Stelle  des  Subjects  einnehmen  muß,  also  ,, erkennen- 
des, nie  erkanntes*'  ist,  und,  da  zu  jeder  Vorstellung 
außer  dem  Subject  noch  ein  Object  gehört,  etwas 
außer  sich  sich  gegenüber  haben  muß.  Obgleich 
nun  das  Subject  des  Erkennens  und  das  des 
Wollens  unmittelbar  als  identisch  gegeben 
sind,  kann  doch  thatsächlich  das  Subject  in  der 
Function  des  Wollens  sich  selbst  als  dem  Erkennen- 
den zum  Objecte  werden.  Freilich  ist  diese  Identität 
des  Erkennenden  mit  dem  wollenden  Erkannten, 
also  des  Subjects  mit  dem  Objecte  nur  gegeben, 
nicht  aber  erklärlich;  sie  ist  unbegreiflich  und 
kann  das  Wunder  xar'  i^oxrjv  genannt  werden.  — 

In  jeder  dieser  vier  Klassen  gestaltet  sich 
nun,  je  nach  ihrer  Eigenthümlichkeit,  der  Satz  vom 
zureichenden  Grunde,  jenes  der  Form  nach  a  priori 
bestimmbare  Gesetz  der  Verbindung,  in  welcher  alle 
Vorstellungen  untereinander  stehen,  auf  eine  beson- 
dere Art.  —  So  erscheint  er  in  der  Klasse  der  an- 


Die  transscendente  Richtung.  165 

schaulichen  realen  Objecte  als  zureichen- 
der Grund  des  Werdens  oder  Causalität. 
In  dieser  Gestaltung  fordert  er,  daß  jedem  Zustande 
des  realen  Objects,  welcher  mir  durch  Vermittelung 
des  Leibes  oder  unmittelbaren  Objects  zum  Bewußt- 
sein kommt,  etwas  Anderes  als  Ursache  vorausge-< 
gangen  sei.  Das  ||  Erkenntnißvermögen,  sofern  es  ge- 165 
maß  dem  Gesetze  der  Causalität  die  realen  Objecte 
vorstellt,   heißt  Verstand. 

In  der  Klasse  der  Vorstellungen  von  Vor- 
stellungen oder  Begriffe  herrscht  der  Satz 
vom  Grunde  als  zureichender  Grund  des  Er- 
kenn ens,  Erkenntnißgrund  oder  Grund  im  enge- 
ren Sinne.  Er  verlangt  hier,  daß  jedem  Urtheil  etwas 
als  Grund  vorausgeht,  auf  welches  bezogen  es  als 
wahr  gilt,  und  im  Verhältniß  zu  welchem  es  Folge 
genannt  wird.  Sofern  das  Erkenntnißvermögen  diesem 
Gesetze  gemäß  Begriffe  mit  einander  verknüpft,  also 
denkt,  heißt  es  Vernunft. 

In  der  dritten  Klasse,  den  reinen  Anschauungen 
a  priori,  Raum  und  Zeit  tritt  er  auf  als  zu- 
reichender Grund  des  Seins.  Er  fordert  hier, 
daß  die  Theile  des  Raums  sich  gegenseitig  ihrer  Lage 
nach,  die  der  Zeit  ihrer  Folge  nach  bestimmen. 
Ersteres  wird  in  der  Geometrie,  letzteres  in  der  Arith- 
metik untersucht.  Die  diesem  Gesetze  gemäß  vor- 
stellende Erkenntnißweise  ist  die  mathematische  und 
heißt  reine  Sinnlichkeit. 

Endlich  in  Beziehung  auf  das  Object,  welches 
die  vierte  Klasse  bildet,  also  auf  das  Subject  des 
Willens  gestaltet  sich  der  Satz  vom  Grunde  als 
zureichender  Grund  des  Handelns  oder 
Gesetz  der  Motivation  und  verlangt:  daß  je- 
dem Entschlüsse,  jedem  Willensakte  eine  Vorstel- 
lung als  Motiv  vorangegangen  sei.  Insofern  das 
Subject     dem     Gesetze    der    Motivation    unterworfen 


166  Fünftes  Kapitel. 


ist,  heißt  es  Wille.  —  Zu  bemerken  ist  hierbei 
aber  ausdrücklich,  daß  der  Wille  durch  das  Ge- 
setz der  Motivation  keineswegs  so  durchweg  er- 
klärt und  durchschaut  ist,  wie  die  vorher  aufge- 
führten Klassen  von  Vorstellungen  durch  Causalität, 
Erkenntniß-  und  Seins-Grund ;  daß  vielmehr,  trotz 
unserer  Kenntniß  des  Motivs  zu  einem  Entschlüsse, 
166  noch  immer  gleichsam  ein  unerklärlicher  Rest  übrig 
bleibt.  Denn  ||  wenn  wir  auch  alle  Vorstellungen 
kennen,  die  das  wollende  Subject  zu  dem  Ent- 
schlüsse geführt  und  bestimmt  haben  könnten,  wenn 
wir  ferner  auch  wissen,  daß  nur  eine,  und  welche 
Vorstellung  nun  wirklich  das  Wollen  zum  Entschluß, 
zum  Willensakte  veranlaßt,  also  Motiv  geworden 
ist,  so  bleibt  damit  noch  immer  unerklärt,  weshalb 
gerade  diese  bestimmte,  eine  Motiv  wer- 
den, den  Entschluß  hervorrufen  mußte.  Der  Zu- 
stand des  wollenden  Subjectes,  welcher  vor  dem 
wirklichen,  motivirten  Entschlüsse  immer  schon  vor- 
ausgehen muß,  ist  gar  nicht  wahrnehmbar,  nicht  Ob- 
ject  des  inneren  Sinnes,  also  nichts  in  der  Zeit. 
Jeder  ist  sich  bei,  oder  vielmehr  nach  jedem  seiner 
Entschlüsse  wohl  bewußt,  daß  er  auf  eine  ganz  an- 
dere Art  hätte  handeln  können,  wenn  nicht 
irgend  ein  unerklärliches  Etwas,  das  außer  dem  Be- 
reiche seiner  Erfahrung  liegt,  ihn  bestimmt  hätte, 
gerade  diese  Vorstellung  zum  Motiv  zu  erheben, 
gerade  diesen  Entschluß  zu  fassen,  gerade  auf 
diese  Weise  zu  handeln.  Hierauf  deutete  schon 
die  tiefsinnige  Lehre  Kants  vom  empirischen 
und  intelligibelen  Charakter  hin.  *)  Der  e  m  - 
pirische  Charakter  ist  das  Subject  des  Wollens,  so 
weit  es  durch  Vorstellungen,  Motive,  Entschlüsse, 
Willensakte  und  Handlungen  erkennbar  ist.    Der  in- 

'>=)  Kr.  d.  reinen  Vernunft  pag.  542.  ff.    —   Vgl.  Satz  v.  Grunde 
§§.  43-46. 


Die  transscendente  Richtung.  167 

telligibele  Charakter  hingegen  ist  jenes  uner- 
klärliche Etwas,  welches  bei  allen  einzelnen  Ent- 
schlüssen zur  Wahl  eines  bestimmenden  Motivs  unter 
mehreren  getrieben  hat,  welches  also  der  tiefere 
Grund  des  empirischen  Charakters  ist.  Das  ist 
gleichsam  der  permanente  Zustand  des 
Subjects  des  Willens;  aber  auch  nur  „gleich- 
sam**, denn  in  der  That  ist  es  außerzeitlich  ;  besser, 
aber  auch  bildlich,  ausgedrückt,  ist  es  ein  außer  der 
Zeit  liegender  universaler  il  Willensakt;  an  167 
sich  vollkommen  unerkennbar  und  unerklärlich,  sollte 
man  es  eigentlich  nicht  den  intelligibelen, 
sondern  den  „inintelligibelen  Charakter" 
nennen.*)  • — 

Ueberblicken  wir  dieses  allgemeine  Ergebniß  der 
grundlegenden  Schrift  unseres  Philosophen,  so  stimmt 
es  im  Großen  und  Ganzen  mit  den  Sätzen  der  Vernunft- 
kritik überein.  Indessen  wir  bemerken  doch  schon  ein- 
zelne Abweichungen,  welche  als  Fortschritte  und  Rück- 
schritte zu  bezeichnen  hier  noch  nicht  am  Platze  sein 
würde.  Hervorheben  aber  müssen  wir  sie  doch  sogleich, 
um  der  ferneren  Entwicklung  des  Systems  folgen  zu 
können. 

Zunächst  führt  Schopenhauer  als  erste  Classe  von 
Vorstellungen  die  realen  anschaulichen  Obj ecte 
auf  und  betont  damit  etwas,  was  in  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft  nirgends  eingehend  betrachtet,  ja  fast  mit 
Stillschweigen  übergangen  ist.  Das  Verhältniß,  in  wel- 
ches er  diese  realen  Obj  ecte  zu  dem  Subject  der  Er- 
kenntniß  stellt,  ist  der  Kantischen  Ansicht  vollkommen 
fremd.  Unter  den  vielen  realen  Objecten  nämlich,  welche 
vom  Subjecte  erkannt  werden,  ist  zwar  auch  der  eigene 
Leib  mit  begriffen,  aber  nur  dieses  eine  Object,  unser 
Leib,    ist   nach    Schopenhauer  uns   unmittelbar   ge-^ 


*)  Satz  V.  Gr.  pag.  119. 


168  Fünftes  Kapitel. 


geben.  Durch  dieses  unmittelbare  Object  sind 
uns  mittelst  der  sinnlichen  Vorstellungen  alle  übrigen 
Objecte  als  vermittelte  gegeben.  Was  ist  es  nun, 
das  uns  in  diesen  sinnlichen  Vorstellungen  außer  uns 
stehende  reale  Gegenstände  suchen  und  fin- 
den läßt?  Dies  ist,  sagte  er,  allein  die  Kategorie  der 
Causalität;  die  Veränderungen  im  Auge,  Ohr  und 
den  anderen  Sinnesorganen  sind  uns  allein  unmittelbar 
gegeben ;  erst  durch  Anwendung  der  Kategorie  der 
Causalität  schließen  wir  auf  eine  Ursache  im  Raum, 
auf  einen  wirklichen,  realen  Gegenstand  außer  uns  und 
168  wenden  ||  dann  auf  diesen  die  übrigen  Kategorieen,  als 
Subsistenz  etc.  an.  „Die  Kategorie  der  Causalität  ist 
„also  der  eigentliche  Uebergangspunkt, 
„folglich  Bedingung  aller  Erfahrung,  und 
„als  solche  ihr  vorausgehend,  nicht  erst  aus  ihr  ge- 
„schöpft."*)  Er  nennt  jenen  Schluß,  der  aus  einer  Em- 
pfindung, ohne  Minor,  gemäß  dem  Gesetze  der  Causa- 
lität unmittelbar  auf  den  äußeren  Gegenstand  geht, 
den  Verstandesschluß  im  Gegensatze  zu  den  Ver- 
nunftschlüssen, die  immer  Verknüpfungen  von  U  r  - 
theilen  sind.  —  Constatiren  wir  vorläufig,  daß  die 
Lehre  vom  unmittelbaren  Obj  ect  (unserem  Leibe) 
und  (was  damit  zusammenhängt)  die  Rolle,  welche  von 
der  Kategorie  der  Causalität  gespielt  wird,  nicht  Kan- 
tisch ,  sondern  ein  selbständiger  Schritt  Schopen- 
hauers ist. 

Bemerken  wollen  wir  ferner,  daß  die  Ausdrücke 
,, Verstand''  und  ,, Vernunft''  eine  andere  Bedeutung  an- 
nehmen, als  sie  bei  Kant  hatten,  indem  der  Verstand 
als  das  subjective  Organ  für  die  Klasse  der  anschau- 
lichen, realen  Objecte,  die  Vernunft  dagegen 
als  das  für  die  Begriffe  bezeichnet  wird,  —  eine 
Abweichung  von  der  Kantischen  Terminologie,  die  wir 
später    genauer   ausgeführt   finden   werden. 

*)  ibid.  pag.  54. 


Die  transscendente  Richtung.  169 

Neu  ist  ferner  die  Ansicht,  daß  das  Subject  als 
Erkennendes  nicht  selbst  erkannt  werden  könne, 
weil  es  in  aller  Erkenntniß  immer  das  Active,  nicht 
aber  das  Passive  (Object)  sei,  daß  es  vielmehr  nur 
aus  den  Gegenständen,  den  Objecten  der  Erkenntniß, 
d.i.  den  Vorstellungen  mittelbar  erkannt  werde,  daß 
es  aber  als  wollendes  gar  wohl  Object  des  lEr- 
kennens  sei,  wobei  freilich  jene  Identität  des  wollenden 
mit  dem  erkennenden  Subject  unbegreiflich  bleibe,  — 
Wunder  xax^  s^oxriv. 

Neu  endlich  ist  etwas,  was  hieraus  unmittelbar 
folgt,  —  daß  II  nämlich  der  intelligibele  Charak-169 
t  e  r ,  der  in  der  Kantischen  Philosophie  als  über  dem 
empirischen  denkbar  zugelassen  wurde,  nun  bei  Scho- 
penhauer eine  positive  Bedeutung  erhält,  insofern  er 
für  Willen  oder  für  einen  universalen,  außer- 
zeitlichen  Willensakt  erklärt  wird.  — 

Die  Auseinandersetzung  mit  Kant,  welche  Scho- 
penhauer in  der  Abhandlung  über  den  Satz  vom 
Grunde  begonnen  hat,  wird  nun  fortgeführt  und  voll- 
endet in  der  „Kritik  der  Kantischen  Philosophie".  Diese 
ist  in  der  That  eine  höchst  verdienstvolle,  ebenso  gründ- 
liche, als  großentheils  treffende  Arbeit ;  sie  findet 
manche  Schwäche  auf,  die,  weil  sie  entweder  verborgen 
lag,  oder  in  dunklen  Worten  auftrat,  vorher  für  Tiefe 
des  Gedankens  galt ;  füllt  manche  Lücke,  die  bis  dahin 
nur  als  Mangel  gefühlt  wurde.  Aber  freilich  nur  so 
weit  können  wir  sie  billigen,  als  sie  Kritik  bleibt  und 
nicht  zur  Polemik  wird,  d.  h.  die  eigenen  philosophi- 
schen oder  vielmehr  unphilosophischen  Gedanken  des 
Kritikers  zum  Maßstabe  der  Beurtheilung  macht.  Wir 
gehen  jetzt  näher  auf  sie  ein,  und  knüpfen  an  die,  in 
den  obigen  Sätzen  ausgesprochene,  Anerkennung  der 
Kantischen  Grundprincipien  an. 

Alles   also,    was    Kant   in   der   transscendentalen 
Aesthetik  vorgetragen  hat,  nämlich  die  Lehre  von  der 


170  Fünftes  Kapitel. 


transscendentalen  Idealität  der  reinen  Anschauungen 
a  priori,  Raum  und  Zeit,  ist  durchaus  richtig  und 
treffend ;  die  angeführten  Beweise  sind  vollkommen 
überzeugend,  und  das  Bewiesene  daher  unumstößliche 
Wahrheit,  Hiervon  also  läßt  sich  Nichts  hinweg- 
nehmen, höchstens  Einiges  hinzusetzen.  —  Anstatt 
nun  aber,  nachdem  die  allgemeinen  Formen  der 
Anschauung  dargelegt  und  erörtert  sind,  auf  deren 
Inhalt,  also  auf  die  empirisch-reale,  anschauliche 
Welt,  einzugehen,  fertigt  Kant  dieses  ganze,  lebens- 
volle Material  unserer  Erkenntniß  kurz  ab  mit  dem 
170  Ausdrucke:  „es  ist  gegeben"  und  i|  springt  ex  ab- 
rupto über  zur  „transscendentalen  Logik'' 
oder  der  Lehre  von  den  Formen  des  reinen  Denkens 
(Kategorieen).  Dies  kommt  allein  daher,  weil  er  von 
vornherein  die  falsche  Voraussetzung  gemacht  hat, 
daß  uns  durch  die  „Receptivität  der  Ein- 
drücke" die  Gegenstände  „gegeben"  seien, 
die  dann  durch  die  „Spontaneität  der  Be- 
griffe" gedacht  werden  sollen.  Wie  wir  aus  der 
Abhandlung  über  den  Satz  vom  Grunde  wissen,  ist 
dies  eine  ganz  falsche  und  schiefe  Auffassung.  Nicht 
Gegenstände,  sondern  allein  Empfindungen 
werden  uns  durch  die  Sinnesorgane  überliefert ;  und 
diese  werden  dadurch  allererst  zu  Gegenständen,  daß 
der  Verstand  auf  sie  das  Gesetz  der  Causalität  an- 
wendet. —  Indem  nun  aber  Kant,  —  anstatt  einzu- 
sehen, daß  es  die  alleinige  Function  des  Verstandes 
ist,  durch  Anwendung  des  Gesetzes  der  Causalität 
auf  die  sinnlichen  Empfindungen  die  empirischen  An- 
schauungen von  realen  Objecten  außer  uns  hervorzu- 
bringen, —  den  Verstand  mit  seinen  Kategorieen  ein 
Denken  (also  abstractes  Vorstellen)  nennt,  ver- 
mischt und  verwirrt  er  gänzlich  das  Verhältniß  des 
abstracten  Vorstellens  zu  dem  anschau- 
lichen.   So  mischt  er  unbefugter  Weise  zuerst  das 


Die  transscendente  Richtung.  171 

Denken  in  die  Anschauung,  sofern  er  die  an- 
schaulichen Gegenstände  gedacht  werden  läßt ;  dann 
aber  wieder  das  Anschauen  in  das  Denken, 
indem  der  abstracte  Intellect,  der  seinem  Wesen  nach 
nur  allgemeine  Begriffe  enthält,  das  einzelne, 
reale  Ding  zum  Object  haben  soll.  —  Da  wir  oben 
den  wahren  Hergang  eingesehen  haben,  so  brauchen 
wir  uns  mit  dieser  falschen  Ansicht  nicht  weiter  zu 
beschäftigen.  Bemerken  aber  müssen  wir,  daß  die 
unrichtige  Annahme,  es  würden  uns  die  Gegen- 
stände durch  die  Sinne  gegeben  und  durch  den 
Verstand  darauf  gedacht,  zu  der  ganz  absurden  und 
dem  Geiste  der  Kantischen  Philosophie  wider-  il 
sprechenden  Ansicht  führt,  daß  die  anschauliche  Welt  171 
auch  da  sein  würde,  wenn  wir  gar  keinen  Verstand 
hätten,  oder  daß  irgend  ein  Unterschied  zwischen  der 
„Vorstellung  von  dem  Gegenstande"  und  dem  „Gegen- 
stande der  Vorstellung"  zu  machen  wäre ;  während 
doch  nur  die  durch  das  unmittelbare  Object  (unseren 
Leib)  uns  gegebenen  Empfindungen  durch  die  Func- 
tion des  Verstandes  (Gesetz  der  Causalität)  auf  äußer- 
liche, reale  Objecte  bezogen  werden,  und  so  allererst 
anschauliche  Gegenstände  entstehen,  also  außer  der 
Anschauung  von  einem  Gegenstande  gar  nicht 
die  Rede  ist. 

Mit  der  Verbesserung  der  Kantischen  Er- 
kenntnißtheorie  in  diesem  Punkte  fällt  zugleich  eine 
Menge  von  ganz  überflüssigen  Hülfsbegriffen  hin- 
weg, welche  nur  jener  heillosen  Verwirrung  von  an- 
schaulichem und  abstractem  Vorstellen,  verbunden  mit 
Kants  Vorliebe  für  Symmetrie,  ihre  Entstehung  ver- 
dankt haben.  So  vor  allem  die  ganze  Lehre  von  den 
Kategorieen  [welche  Schopenhauer  in  seiner 
früheren  Abhandlung  noch  nicht  verworfen 
hatte],  und  die  „Lehre  vom  Schematismus  der  reinen 
„Verstandesbegriffe".    Die  Kategorieen  nämlich  soll- 


172  Fünftes  Kapitel. 


ten  nach  Kant  jene  Formen  des  „reinen  Verstandes" 
sein,  durch  welche  „die  Verbindung  des  Mannigfal-^ 
„tigen  in  der  Anschauung"  vollzogen  wird.  Diese 
Verbindung  des  Mannigfaltigen  wird  aber  am  an- 
schaulichen Gegenstande  dadurch  gänzlich  über- 
flüssig, daß  sie  uns  schon  in  den  reinen  Formen  alles 
Anschauens,  Raum  und  Zeit,  fertig  entgegentritt ;  der 
Verstand  hat  weiter  nichts  zu  thun,  als  die  räum- 
lich und  zeitlich  verbundene  Mannigfaltigkeit  auf  ein 
reales  Object  als  Ursache  zu  beziehen.  Jene  „reinen 
Verstandsbegriffe  oder  Kategorieen,"  welche  sich  nur 
auf  den  obenerwähnten  , .gedachten  Gegenstand" 
beziehen  sollen,  müssen  zusammt  diesem  erträumten, 
überflüssigen  Hirngespinnst  über  Bord  geworfen  || 
172  werden.  Es  gibt  nur  anschauliche  Gegen- 
stände und  gedachte  Begriffe.  Außerdem  und 
zwischen  beiden  aber  gar  nichts  Anderes.  —  Ebenso, 
und  in  Folge  dessen,  zeigt  sich  der  ganze  „Schema- 
„tismus  der  reinen  Verstandesbegriffe,"  —  eine  Lehre, 
die  von  jeher  als  sehr  dunkel  berühmt  gewesen  ist, 
—  als  leerer,  überflüssiger  Wortkram.  Nachdem  näm- 
lich Kant  über  dem  empirischen  Anschauen  die 
reinen  Anschauungen  a  priori  gefunden,  und  dann  als 
Analogon  oder  Pendant  ein  reines  Denken  über  dem 
empirischen  e  r  f unden  hatte  (in  Gestalt  der  Kate- 
gorieenlehre),  fiel  ihm  ein,  wie  unseren  empirischen 
Begriffen  zuweilen  dunkle,  anschauliche  Vorstellun- 
gen, vage  Phantasmata  auftauchen,  durch  welche  die 
Summe  der  anschaulichen  Objecte,  die  sie  unter  sich 
begreifen,  vorgestellt  werden  soll,  —  gewissermaßen 
intuitive  Repräsentanten  der  dem  Begriffe  unterge- 
ordneten Anschauungen.  So  werden  wir  uns  z.  B. 
bei  den  Begriffen  Hund,  Farbe  u.  s.  w.  ganz  unarti- 
culirte  Bilder  in  der  Einbildungskraft  vergegenwärti- 
gen. Diese  nannte  er  (empirische)  Schemata.  Nun 
sollten  auch  zwischen  dem  „reinen"  Denken  (durch 


Die  transscendente  Richtung.  173 

Kategorieen)  und  den  reinen  Anschauungen  (Raum 
und  Zeit)  solche  „Schemata"  oder  „Monogramme  der 
Einbildungskraft"  schwebend  gedacht  werden.  *)  Da 
aber  erstens  der  Zweck  und  die  Veranlassung  jener 
empirischen  Schemata  (nämlich  den  Zusammenhang 
zwischen  Begriff  und  Anschauung  gegenwärtig  zu 
halten)  bei  Vorstellungen  a  priori,  die  sich  immer 
nur  i  n  der  Erfahrung,  nie  aber  außer  ihr  mani- 
festiren,  hinwegfällt,  da  ferner  die  ganze  Kategorieen- 
lehre,  sammt  dem  „gedachten"  Gegenstande,  zu  ver- 
werfen ist,  so  zeigt  sich  auch  dieser  vorgebliche 
„Schematismus  der  Kategorieen"  als  ein  überflüssi- 
ges, bedeu-  ll  tungsloses  Wortgeflecht  und  muß  daher  173 
ebenfalls  gestrichen  werden.  — 

Schopenhauer  führt  nun  seine  Kritik  weiter,  indem 
er  die  Kategorieentafel  einer  ausführlichen  Erörterung 
unterwirft,  und  im  Einzelnen  darlegt,  mit  welcher  Ge- 
waltsamkeit Kant  seine  Kategorieen  aus  den  Urtheils- 
formen  ableitet.  Obgleich  diese  Untersuchung  des  Rich- 
tigen und  Schönen  sehr  viel  enthält,  können  wir  doch 
nicht  näher  darauf  eingehen,  da  sie  im  Vergleich  zur 
ganzen  Idee  nur  von  untergeordnetem  Interesse  ist.  Als 
allgemeines  Resultat  findet  Schopenhauer,  daß  die  ganze 
transscendentale  Analytik  aus  einem  gründlichen  Miß- 
verständniß  der  anschaulichen  Erkenntniß  hervorgegan- 
gen ist.  Wir  können  diese  mit  seinen  eigenen  Worten 
so  zusammenfassen :  „Kanten  ist  die  Philosophie  eine 
„Wissenschaft  aus  Begriffen,  mir  eine  Wissenschaft  in 
„Begriffen,  aus  der  anschaulichen  Erkenntniß,  der  all- 
„einigen  Quelle  aller  Evidenz,  geschöpft  und  in  allge- 
„meine  Begriffe  gefaßt  und  fixirt."  **)  [  Sehr  richtig ! 
—  Aber  —  es  soll  leider  noch  anders  kommen !  ] 

Hieran  knüpft  sich  unmittelbar  die  Verwerfung  der 
Kantischen    Definitionen    von    Verstand    und    V  e  r  - 

*)  Kants  Kritik  d.  r.  V.  pag.  137—147. 
**)  Die  Welt  als  W.  u.  V.  Bd.  I.  pag.  537. 


174  Fünftes  Kapitel. 


nunft,  an  deren  Stelle  Schopenhauer  „andere,  feste, 
„scharfe,  bestimmte,  einfache  und  mit  dem  Sprachge- 
„brauch  aller  Völker  und  Zeiten  stets  übereinkommende 
„Erklärungen  jener  zwei  Erkenntnißvermögen  auf- 
„stellt."  *)  Diese,  wie  wir  wissen,  schon  in  der  Ab- 
handlung über  den  Satz  vom  Grunde  klar  hervortreten- 
den Definitionen  können  wir  so  fassen: 

Der  Verstand  ist  das  Vermögen  der  Er- 
kenntniß     anschaulicher     Gegenstände     in 
174  Raum  und  Zeit  durch  Be-||  Ziehung  der  Sin- 
nesempfindung als  Wirkung  auf  ein  äuße- 
res  Object   als   Ursache.**) 

Die  Vernunft  ist  das  Vermögen  der  ab- 
stracten    Erkenntniß    durch    Begriffe. ***) 

Außerdem  resultirt  für  die  eigene  Lehre  Schopen- 
hauers aus  dieser  Kritik  der  Kantischen  Philo- 
sophie die  Einsicht,  daß  das  Ding  an  sich  (wie 
Aenesidemus  nachgewiesen  hatte)  durch 
den  unerlaubten,  i n co n s eq u en t en ,  trans- 
scendenten  Gebrauch  der  Kategorie  der 
Causalität  von  Kant  erschlichen,  auf  fal- 
sche Weise  abgeleitet  seif)  und  daher 

auf  anderem  Wege  eingeführt  werden  müs- 
se; (in  Beziehung  auf  welche  neue  Ableitung  bereits 
in  der  Abhandlung  über  den  Satz  vom  Grunde  bedeu- 
tungsvolle Winke  gegeben  sind  durch  den  Sinn,  der 
dort  dem  „intelligibelen  Charakter"  Kants  beigelegt 
wurde). 

Dies  ist  denn  nun  im  wesentlichen  das  Fundament 
und   das  Material   zur  Aufbauung   einer  neuen   Weltan- 


*)  ibid.  pag.  513. 

**)  Satz  V.  Gr.  §.51.    —   D.  W.  a.  W.  u.  V.  I.  §.  4;   II,   1.  c.  2. 
a.  a.  O. 

***)  Satz  V.  Gr.  §.51.    —   D.  W.  a.  W.  u.  V.  I.  §.  8.  II,   1,  c.  6. 
a.  a.  O. 

t)  Die  W.  a.  W.  u.  V.  I.  pag.  499.  599. 


Die  transscendente  Richtung.  175 

sieht,  gewonnen  durch  Bestätigung,  Widerlegung,  Ver- 
besserung und  Vervollständigung  der  Kantischen  Philo- 
sophie. Da  wir  es  uns  hier  versagen  müssen,  dieses 
ganze,  originelle  System  darzulegen  und  zu  beurtheilen 
(was  übrigens  trotz  der  vielen  bereits  vorhandenen  Kriti- 
ken nicht  überflüssig  sein  würde),  da  wir  nur  auf  einen, 
ganz  bestimmten  Punkt  desselben  zielen,  so  ist  es  jetzt 
an  uns,  die  leitende  Idee  des  Ganzen  bis  zu  diesem 
Punkte   in  großen   Strichen  hinzuzeichnen. 

„Die  Welt  ist  meine  Vorstellung"  —  dieser  un- 
widerlegliche Satz,  der  schon  in  dem  Cartesiani- 
schen  Princip  keimte,  den  dann  Berkeley  ent- 
schieden aussprach,  und  der  aus  den  ||  richtig  (d.  i.  175 
ä  la  Schopenhauer)  verstandenen  Principien  der  Kan- 
tischen Philosophie  sich  zur  vollkommensten  Gewiß- 
heit und  Deutlichkeit  entwickelt,  ist  —  wie  wir  schon 
aus  der  einleitenden  Abhandlung  wissen  —  die  erste 
Grundüberzeugung,  von  der  alle  wahre  Philosophie 
ausgehen  muß.  Das  erkennende,  nie  erkannte 
Subject  ist  Träger  dieser  ganzen,  unendlichen  Welt, 
Bedingung  allen  Objectes.  Object  für  das  Subject, 
d.  h.  Vorstellung,  ist  alles  Erfahrene  mit  Einschluß 
des  eigenen  Leibes,  des  unmittelbaren  Objects. 
Betrachten  wir  nun  den  Complex  aller  unserer  Vor- 
stellungen, d.  i.  die  Welt,  so  ergibt  sich  in  diesem 
ganzen  Gebiete  als  Hauptunterschied  der  des  Intui- 
tiven und  Abstracten.  Die  intuitiven  Vor- 
stellungen zunächst  umfassen  alles  Sichtbare,  Wahr- 
nehmbare in  Raum  und  Zeit  nebst  diesen  letzteren, 
den  allgemeinsten  Formen  und  Bedingungen  der  Mög- 
lichkeit des  Anschauens  selbst.  Das  in  Raum  und  Zeit 
gegebene  anschauliche  äußere  Object  ist  die  Mate- 
rie, und  diese  ist  durch  und  durch  Causalität.  Ebenso 
wie  der,  welcher  den  Satz  vom  Grunde  des 
Seins  erfaßt  hat,  einsieht,  daß  die  Zeit  durchaus 
nur  Folge,  der  Raum  nur  Lage  ist,  so  findet  der. 


176  Fünftes  Kapitel. 


welcher  den  Satz  vom  Grunde  des  Werdens 
begriffen  hat,  daß  das  ganze  Wesen  der  Materie 
nur  Causalität  ist.  Ihr  Sein  ist  Wirken  in 
Raum  und  Zeit,  weßhalb  auch  im  Deutschen  der  In- 
begriff alles  Materiellen  sehr  treffend  Wirklich- 
keit genannt  wird.  —  Das  subjective  Correlat  aber 
der  Materie  ist  der  Verstand,  welcher  durch 
seine  einzige  Function,  Anwendung  des  Gesetzes  der 
Causalität,  mit  einem  Schlage  die  dumpfe,  nichts- 
sagende Empfindung  in  lebendige  Anschauung,  den 
in  seiner  Vereinzelung  bedeutungslosen  sinnlichen 
Eindruck  zur  realen  Welt  umwandelt.  Die  Anschau- 
ung ist  demgemäß  nicht  bloß  sensual,  sondern  intel- 
176  lectual,  il  d.  h.  Verstandeserkenntniß  der  Ursache  aus 
der  Wirkung.  —  Man  darf  jedoch  nicht  in  den  großen 
Irrthum  verfallen,  zwischen  Subject  und  Object 
das  Verhältniß  von  Ursache  und  Wirkung  finden  zu 
wollen,  und  also  entweder  aus  dem  Object  Alles  mit 
Einschluß  des  erkennenden  Subjects,  oder  umgekehrt 
aus  dem  Subject  die  ganze  reale  Welt  abzuleiten. 
Jenes  hat  der  Materialismus,  dieses  der  Fichtische 
Idealismus  unternommen.  Beides  ist  gleich  ungereimt. 
Denn  Subject  und  Object  sind  a  tempo  mit  einander 
gesetzt ;  Vorstellung  sein  heißt  nichts  Anderes,  als 
Object  für  das  Subject  sein.  Ein  Causalverhältniß 
aber  findet  überhaupt  nur  zwischen  Objecten  satt, 
und  für  uns  zunächst  zwischen  dem  unmittelbaren 
Object  (unserem  Leibe)  und  allen  übrigen,  vermittel- 
ten Objecten.  Jene  Unzertrennlichkeit  von  Subject 
und  Object  in  jeder  Vorstellung,  also  überhaupt  der 
ganzen  anschaulichen  Welt,  tritt  besonders  scharf  und 
schlagend  zu  Tage,  wenn  man  den  unbezweifelbaren 
Satz  ausspricht:  „Die  Welt  als  Vorstellung  hebt  erst 
„mit  dem  Aufschlagen  des  ersten  Auges  an,  ohne 
„welches  Medium  der  Erkenntniß  sie  nicht  sein  kann, 
„also  auch   nicht  vorher  war.   —  Ohne  jenes   Auge, 


Die  transscendente  Richtung.  177 

„d.  h.  außer  der  Erkenntniß,  gab  es  auch  kein  Vor- 
„her,  keine  Zeit."*)  Raum,  Zeit  und  Causalität,  diese 
a  priori  erkannten  Formen  des  Vorstellens  sind  es, 
durch  welche  die  wirkliche  materielle  Welt  bedingt 
und  zu  einer  endlosen  Vielheit  von  realen,  einzelnen 
Gegenständen  gestaltet  wird.  Wir  können  deshalb 
jene  Formen  des  Vorstellens  mit  einem  scholastischen 
Ausdrucke  das  principium  individuationis 
nennen.  Denn  sie  spalten  das  All  in  die  Vielheit  und 
fixiren  das  Einzelne.  Weil  nun  Raum,  Zeit  und  Cau- 
salität in  der  That  die  li  alleinigen  Bedingungen  der  177 
Wirklichkeit  sind,  so  läßt  sich  von  der  wachenden 
Erkenntniß  der  Traum,  in  welchem  sie  ebenfalls  herr- 
schen, gar  nicht  anders  als  durch  das  ganz  empiri- 
sche Kriterium  des  Erwachens  unterscheiden ;  wes- 
halb die  Welt  als  Vorstellung  ihm  wesentlich  gleich 
ist,  und  —  wenn  man  es  nur  von  dieser  Seite  he-* 
trachtet  —  das  Leben  wirklich  nichts  ist  als  ein  langer 
Traum.  Daher  sagt  Pindar:  axiäg  ovuq  ävd^Qeonoi^  und 
Shakespeare : 

We  are  such  stuff 

As  dreams  are  made  of,  and  our  little  life 

Is  rounded  with  a  sleep.  —  **) 

Ebenso  nannten  die  Veden  und  Puranas  die  Welt 
„das  Gewebe  der  Maja"  und  verglichen  es  so  häufig 
mit  dem  Traume.  — 

Aus  der  anschaulichen  Welt,  welche  vom  Ver^ 
Stande  gestaltet  wird,  bildet  sich  nun  unmittelbar 
durch  Reflexion  die  zweite  Hauptart  von  V  o  r  s  t  e  1  -> 
lungen,  nämlich  die  der  abstracten  oder  der 
Begriffe.  Als  abstract  vorstellend  oder  den- 
kend ist  unser  Intellect:  Vernunft.  Die  Be- 
griffe   verhalten     sich    zu    den    anschaulichen 


*)  ibid.  pag.  36. 

**)  ibid.  pag.  20.  —  Vgl.  Pindar.  Pyth.  VIII.  136.  —  Shakespeares 
Sturm,  4ter.  Act,  1.  Scene. 

Neudrucke:    Liebmann,  Kant.  12 


178  Fünftes  Kapitel. 


Vorstellungen,    wie    der   geborgte    Wiederschein    des 
Mondes  zu  dem  unmittelbaren  Lichte  der  Sonne,  wes- 
halb auch  die  Erkenntnißthätigkeit,  mittelst  deren  sie 
aus    den    anschaulichen   Vorstellungen    gezogen    sind, 
sehr  passend  Reflexion  genannt  worden  ist.    Die 
abstracte    Erkenntniß,    welche   allein    durch   ihre    Be- 
ziehung auf  anschauliche  Vorstellungen  Bedeutung  er- 
hält und  ohne  dieselbe  gar  nicht  sein  würde,  ist  nun 
dasjenige,  was  den  Menschen  vom  Thiere  unter- 
scheidet,  ihn  zur  Sprache  befähigt.    Sie  hat  den  un- 
ermeßlichen  Vortheil,   daß   der  mit  ihr  begabte,  ver- 
178     nünftige  Mensch  nicht  an  ||  der  sinnlichen  Gegen- 
wart haftet,  wie  seine  ,, unvernünftigen  Brüder,''  son- 
dern   Vergangenheit    und    Zukunft    zugleich    umfaßt. 
Durch   sie  ist  es  uns  möglich,  unser   Leben  planvoll 
und  besonnen  einzurichten  und  gleichsam  neben  und 
über  dem  sinnlichen,  noch  ein  besonderes  abstractes 
Leben  zu  führen.    Zugleich  aber  ist  es  auch  die  ab- 
stracte  Erkenntniß,  welche  den   Menschen  um  vieles 
unglücklicher   als   das  Thier  macht ;   denn   abgesehen 
davon,   daß   durch  sie  erst  der  abstracte   Irrthum, 
und    damit    eine    Menge    von    Unheil    möglich    wird, 
das  ganze  Völker  und  Jahrtausende  bedrückt  hat,  ver- 
danken  wir   es  auch  ihr,   daß   wir  außer  den   gegen- 
wärtigen Schmerzen  und  Leiden,  die  allein  das  Thier 
kennt,   alle   zukünftigen  mit  zu   erdulden   haben,   vor 
allem,   daß  wir  den  sicheren  Tod  vor  uns  erblicken, 
von   welchem   das  Thier  keine  Ahnung  hat.   — 
Nachdem  nun  Schopenhauer  das  Wesen  des  abstrac- 
ten  Vorstellens  näher  entwickelt,  nachdem  er  darauf  hin- 
gewiesen  hat,   daß  in   diesem   Gebiete  der   Erkennt- 
niß grün  d  herrsche,  wie  im  anschaulichen  Vorstellen 
die  Causalität,  nachdem  dann  die  Gesetze  des  begriff- 
lichen   Denkens,    die    Logik    u.  s.  w.    besprochen    sind, 
fertigt   er   (was  uns  speciell   interessirt)   das  Gefühl 
mit  der  ganz  ungenügenden,  einseitigen  Erklärung  ab : 


Die  transscendente  Richtung.  179 

„Dieser  Begriff  habe  nur  einen  negativen  Inhalt, 
„nämlich  diesen,  daß  etwas,  das  im  Bewußtsein  ist, 
„nicht  Begriff,  nicht  abstracte  Erkenntniß 
„der  Vernunft  sei;  daher  auch  habe  er  eine  so 
„unmäßig  weite  Sphäre,  daß  er  unter  sich  die  hetero- 
„gensten  Dinge  begreife,  wie  z.  B.  Wollust  und  reli- 
„giöses  Gefühl''  u.  s,  w.  *)  — 

Das  wesentliche  Resultat  dieser  ganzen  Theorie  ist, 
daß  die  Welt  als  Vorstellung  ein  bestandloser,  unwesen- 
hafter Traum  (Er- 1|  scheinung)  sei,  und  daß  wir  den  179 
eigentlichen,  tieferen  Kern,  das  „Ding  an  sich",  dessen 
Erscheinung  sie  sei,  nicht  im  Gebiete  der  Vorstellungen, 
sondern  anderwärts  suchen  müssen.  Da  nun  aber  das 
Object  zunächst  nur  in  Vorstellungen  besteht,  so  sind 
wir  mit  der  Frage  nach  dem  „Ding  an  sich"  an  das 
Subject  gewiesen;  und  hier  im  Subject  findet  sich 
denn  in  der  That  ein,  schon  in  der  einleitenden  Ab- 
handlung, hervorgehobener  Punkt,  der  uns  die  ge- 
wünschte Auskunft  geben  kann. 

Das  Subject  nämlich  ist  nicht  allein  Vorstellung, 
nicht  rein  erkennend  (ein  „geflügelter  Engelskopf  ohne 
Leib")**),  sondern  es  ist  zugleich  „Wille".  Dieses 
Wort  läßt  sich  nicht  weiter  erklären,  sondern  jeder 
ist  sich  unmittelbar  Dessen  bewußt,  was  darunter  ver- 
standen wird.  Jeder  eigentliche  Willensact,  d.  i.  Ent- 
schluß zum  Handeln,  erscheint  sofort  als  Bewegung 
unseres  Leibes ;  und  zwar  stehen  hier  der  Wille  und 
die  körperliche  Handlung  nicht  im  Verhältniß  von  Ur- 
sach und  Wirkung  zu  einander,  sondern  sie  sind  E  i  n 
und  Dasselbe,  nur  auf  zwei  gänzlich  ver- 
schiedene Weisen  gegeben.  Was  ich  innerlich 
als  Willen  finde,  das  ist  zugleich  in  äußerlicher  Erschei- 
nung Action  des  Leibes  ;  mit  anderen  Worten  :  D  i  e  A  c  - 


*)  ibid.  pag.  61.  §.11. 
**)  pag.  118. 


12=' 


180  Fünftes  Kapitel. 


tion  des  Leibes  ist  der  objectivirte,  d.  h.  in 
die  Anschauung  getretene  Act  des  Willens. 
Weiter  aber  sind  auch  Schmerz,  Lust  u.  s.  vv.  nicht 
Vorstellungen,  sondern  unmittelbare  Affectionen  des 
Willens.  Ja,  so  weit  ich  meinen  Willen  überhaupt  kenne, 
ist  er  vom  Leibe  nicht  zu  trennen  ;  jeder  Willensact  ist 
leibliche  Bewegung,  und  der  ganze  Leib  in  allen  seinen 
Handlungen  und  Aeußerungen  ist  anschaulich  geworde- 
ner Wille.  Wenn  wir  diese  Wahrheit  ausdrücken  wollen, 
so  müssen  wir  sagen :  Der  Leib  ist  nur  der  sicht- 
180 bare,  a  poste-llriori  erkannte  Wille,  oder: 
der  Leib  (das  unmittelbare  Object)  ist  die 
O  b  j  e  c  t  i  t  ä  t   des   Willens.^) 

So  also  hat  dieses  unmittelbare  Object,  welches  wir 
gleich  allen  übrigen  Objecten  der  räumlich-zeitlichen 
Welt  nur  mit  innerem  Widerstreben  für  bloße  Vorstel- 
lung erklärten,  eine  tiefere  Bedeutung  gewonnen,  in- 
dem wir  inne  geworden  sind,  daß  es  noch  auf  eine 
andere  Weise,  nämlich  als  Wille,  im  Bewußtsein  vor- 
kommt. Der  Wille  ist  toto  genere  von  der  Vorstellung 
verschieden;  er  ist  der  Leib,  sofern  er  nicht  Vorstel- 
lung, d.  h.  soweit  er  „an  sich''  ist.  —  Wollen  wir 
nun  nicht,  in  einem  absurden  theoretischen  Ego- 
ismus beharrend,  allein  unserem  Leibe  wirkliche  Rea- 
lität zugestehen,  alle  übrigen  Objecte  aber  für  bloße, 
wesenlose  Vorstellungen  gelten  lassen,  so  müssen  wir 
die  gewonnene  Einsicht  als  „Schlüssel  zum  Wesen  jeder 
Erscheinung  in  der  Natur"  gebrauchen  und  „daher  an- 
nehmen", daß  die  Welt  gleich  unserem  Leibe,  wie  sie 
auf  der  einen  Seite  Vorstellung  war,  andererseits 
an  sich  Dasselbe  sei,  was  wir  an  uns  Wille  nennen. 
Der  Wille  ist  das  Ding  an  sich,  dessen  Er- 
scheinung die  Welt  als  Vorstellung  ist,**) 

Im  Willen  also  haben  wir  nun  jenes  unbekannte, 
räthselhafte  „An  sich"  gefunden,  welches  in  der  anorga- 


*)  pag.  120.  —  **)  pag.  123.  ff. 


Die  transscendente  Richtung.  181 

nischen  Welt  auf  Ursachen,  in  der  Pflanze  auf  Reize, 
in  der  thierischen  auf  Motive  handelt,  das  sich  auf  einer 
Reihe  immer  vollkommener  werdender  Stufen  objecti- 
virt,  und  nachdem  es  lange  blind  gewaltet,  sich  endi 
lieh  das  Licht  der  Erkenntniß  anzündet,  indem  es  sich 
in  der  animalischen  Welt  das  Gehirn  schafft,  dessen 
Function  der  Intellect  ist.  Nun  mit  einem  Male  ist  durch 
den  Intellect  die  Spaltung  in  Subject  und  Object  da, 
die  Welt  als  Vorstellung  vorhanden;  der  Wille  er- 
kennt sich  selbst  a   posteriori.  —  —  II 

Dies  ist  der  entscheidende  Punkt,  bis  zu  dem  wir  181 
dieses  eigenthümliche  System  verfolgen  mußten.    Es  ist 
nun   an   uns,   es   einer   gewissenhaften   Kritik   zu  unter- 
werfen. — 

Zunächst  also  ist  ohne  Weiteres  der  Kantische 
Satz  adoptirt : 

„Die  empirische  Welt  in  Raum  und  Zeit 
ist  Erscheinun  g." 

Dieser  Satz,  von  welchem  die  ganze  Weltansicht 
Schopenhauers  abhängt,  ist,  wie  wir  wissen, 
falsch,  erschlichen  durch  die  öfter  erwähnte  quaternio 
terminorum.  *)  Indessen  Schopenhauer  bringt  scheinbar 
neue  Argumente  dafür  bei,  daß  die  anschauliche  Er- 
kenntniß nicht  das  „an  sich  Seiende"  erfasse ;  und  diese 
müssen  wir  jedenfalls  beachten.   Es  sind  folgende: 

1)  „daß  das  Gesetz  der  Causalität  subjectiven  Ur- 
sprungs sei,  so  gut  wie  die  Sinnesempfindung,  von  der 
die  Anschauung  ausgeht ; 

2)  „daß  ebenfalls  Zeit  und  Raum,  in  denen  das 
Object  sich  darstellt,  subjectiven  Ursprungs  seien  ; 

3)  „daß,  wenn  das  Sein  des  Objects  in  seinem 
Wirken  besteht,  dies  besage,  daß  es  bloß  in  den  Ver-f 
änderungen,  die  es  in  Andern  hervorbringt,  bestehe, 
mithin  an  sich  gar  nichts  sei."  **) 

*)  Siehe  oben  pag.  38.  137. 
**)  Die  Welt  als  W.  u.  V.  Band  II.  pag.  215. 


182  Fünftes  Kapitel. 


Nehmen  wir  den  letzten  Passus  zuerst.  Er  beruht 
darauf,  daß  nach  Schopenhauers  Ansicht  die  Materie 
durchaus  nur  Causalität  ist,  und  sonst  Nichts.*) 
Diese  Behauptung  ist  durchaus  ungereimt.  Ein  Wirken 
ohne  vorhergehendes  Sein,  welches  wirkt,  eine  Verände- 
rung ohne  Verändertes,  ein  Werden  ohne  Werdendes  ist 
ein  Prädikat  ohne  Subject,  —  sinnlos.  Wir  verweisen 
hier  auf  jenen  alten  Satz,  den  Schopenhauer  selbst  in 
anderer  Beziehung  oft  citirt :  operari  sequitur  esse. 
182  Allgemein  ausgedrückt:  ||  Causalität  ohne  Substantiali- 
tät  ist  objectiv  unmöglich.  Wer  die  materielle  Welt  ein- 
seitig bloß  mit  der  Kategorie  der  Causalität  zu  erklären 
sucht,  gleicht  Jemandem,  der  in  die  leere  Luft  steigen 
will,  ohne  sich  auf  die  Sprossen  einer  Leiter  oder  etwas 
Derartiges  zu  stützen.  Schopenhauer  selbst  erklärt,  daß 
in  der  materiellen  Welt  das  Verhältniß  von  Ursache  und 
Wirkung  nur  zwischen  aufeinander  folgenden  „Zustän- 
den des  Stoffes"  stattfinde.  Kann  ich  nun  wohl  irgend- 
wie von  einem  „Zustande''  reden,  ohne  etwas  vor- 
auszusetzen, was  sich  in  dem  Zustande  befin- 
det? —  Uebrigens  fühlt  Schopenhauer  die  Ungereimt- 
heit seiner  Behauptung  sehr  gut,  sucht  sie  zu  ver- 
tuschen, und  verwickelt  sich  dadurch  in  sehr  komische 
Widersprüche.  Während  er  nämlich  an  den  citirten 
Stellen  (überhaupt  fast  immer)  Materie^Causali- 
tät  setzt,  erklärt  er  dagegen  an  anderen  Orten  wieder 
Materie  und  Substanz  für  identisch.**)  So  heißt  es 
z.  B.  auf  Seite  12  des  ersten  Bandes:  „Materie  und 
Substanz  sind  Eins"  und  auf  der  nächst- 
folgenden Seite  13  „Materie  und  Causalität  sind 
Eins."***)  Da  also  hier  die  Materie  nicht  etwa  in  ande- 
rer Hinsicht  der  Causalität,  in  anderer  der  Substantiali- 

*)  ibid.  Band  I.  pag.  10.  11.  13.  41.  48.  528.  561.  a.  a.  O. 
**)  ibid.  pag.  12.  560.  a.  a.  O. 
***  )  Ebenso  stehen  die  beiden  mit  einander  streitenden  Ansichten 
recht  hübsch  auf  pag.  560  u.  561  des  ersten  Bandes  zusammen. 


Die  transscendente  Richtung.  183 

tat  gleich  gesetzt,  sondern  nacheinander  mit  beiden  ge- 
radezu identificirt,  für  Ein  und  Dasselbe  mit  ihnen  er- 
klärt wird,  so  folgt,  daß  nach  Schopenhauers  Ansicht 
Substantialität  mit  Causalität  identisch  sein 
mußj  —  eine  Ansicht,  die  vollkommen  ebenso  sinnlos 
ist,  als  wenn  man  Raum  und  Zeit  für  Ein  und  Das- 
selbe erklären  wollte;  diese  Formen,  wie  jene  Syn- 
thesen der  Anschauung  sind  unzertrennlich,  aber 
sie  fassen  jede  eine  verschiedene  Seite  des  realen 
Gegenstandes,  sind  nicht  identisch,  sondern  Comple- 
mente.  —  Daß  übrigens  der  Causalität  jene  allein- 1|  ge- 183 
bietende  Rolle  im  Gebiete  der  anschaulichen  Objecte 
zugetheilt  wird,  kommt  im  Grunde  nur  daher,  weil  in 
der  einleitenden  Abhandlung  der  Satz  vom  Grunde,  der 
doch  nur  eines  von  den  allgemeinsten  Grundgesetzen 
des  Vorstellens  ist,  als  alleiniges  dasteht.  Der  Cau- 
salität, als  einer  Gestaltung  jenes  Satzes  mußte  infolge 
dessen  das  ihr  entsprechende  Gebiet  vollkommen  als 
Satrapie  unterworfen  werden.  —  Wäre  diese  Ansicht 
richtig,  dann  allerdings  müßte  die  materielle  Welt  wie 
ein  wesenloses,  gespensterhaftes  Luftbild,  Erschei- 
nung, an  uns  vorüberziehen.  Dies  ist  aber  nicht  der 
Fall,  weil  ein  Werden  ohne  Werdendes,  eine  Causalität 
ohne  Substantialität,  Nichts  sein  würde  als  ein  unab- 
hängig vom  Subject  für  sich  seiendes,  losgerissen  in 
der  Luft  schwebendes  Prädicat,  was  eben  begrifflich  sich 
selbst  widerspricht  und  realiter  ein  Unding  ist.  —  Also 
es  ist  nicht  wahr,  daß  das  Sein  des  Objects  in  seinem 
Wirken  besteht,  sondern  ,,operari  sequitur  esse."  — 
Was  nun  aber  die,  unter  1)  und  2)  angeführte  Be- 
hauptung anlangt,  „daß  Raum  und  Zeit  und  Causalität 
„subjediven  Ursprunges  seien,"  so  ist  dies  schon,  wenn 
man  es  ebenso  allgemein  denkt,  wie  es  hier  gefaßt  ist, 
eine  unrichtige  und  unmögliche  Auffassung  des  Kanti- 
schen „a  priori.*'  Raum,  Zeit  und  Causalität  entsprin- 
gen  nicht  aus  dem   Subject,  sondern  gehen  aller  Er- 


184  Fünftes  Kapitel. 


fahrung,  also  auch  der  inneren,  d.  i. :  dem  empirisch 
erkannten  Subjecte,  ebenso  wie  dem  Objecte,  voraus 
als  Bedingungen  alles  Vorstellens.  Mithin  kann  man 
von  irgend  einem  Ursprünge  dieser  allgemeinen  und 
nothwendigen  Formen  alles  Erkennens  und  Vorstellens 
gar  nicht  reden  ;  denn  ein  „Ursprung**  setzt  immer  schon 
einen  vorhergehenden  Zustand  (also  Zeit)  vor- 
aus, ferner  muß  er  irgendwo  vor  sich  gehen  (also 
im  Raum)  und  endlich  fordert  er,  wie  jedes  Geschehen, 
eine  Ursache  (also  C  au  s  a  1  i  tä  t).  Für  Raum,  Zeit  und 
184 Causalität  ist  demnach  gar  kein  Ursprung  II  denk- 
bar. Dies  nur  im  Allgemeinen.  Gehen  wir  nun  aber 
näher  auf  die  Art  des  „subjectiven  Ursprungs,*'  ein, 
welchem  nach  Schopenhauer  jene  Erkenntnißformen  a 
priori  ihr  Dasein  verdanken  sollen,  so  finden  wir,  daß 
es  ein  recht  empirischer,  materieller  ist.  Sie  sollen  näm- 
lich ,,G  eh  i  r  nf  uncti  onen**  sein.*)  Der  Wille, 
welcher  nicht  länger  im  Dunkeln  tappen  mag,  schafft 
sich  im  animalischen  Leben  das  Gehirn,  und  nun  ist 
der  Intellect  mitsammt  jenen  nothwendigen  Bedingun- 
gen alles  Vorstellens  und  Seins  da.  „Es  entsteht,  als 
„eine  Function  des  Gehirns,  das  Bewußtsein  und  in  ihm 
„die  objective  Welt,  deren  Formen,  Zeit,  Raum,  Causa- 
„lität,  die  Art  sind,  wie  diese  Function  vollzogen 
„wird."-^")  —  Mir  ist  es  in  der  That  nicht  erklärlich, 
daß  ein  so  geistreicher,  scharfsinniger  Mann,  wie  Scho- 
penhauer, solches  Zeug  hinschreiben,  eine  so  schreiende, 
monströse  Ungereimtheit  überhaupt  in  Gedanken  zu 
Stande  bringen  konnte.  —  Raum,  Zeit  und  Causalität, 
Gehirnfunctionen !  —  Zunächst  hat  Niemand  sein  eige- 
nes Gehirn  gesehen,  sondern  immer  nur  die  von  Ande- 


*)  W.  a.  W.  u.  V.  I,  495.   II,   23.   29.  214.     Parerga  und  Para- 
lipomena  1851.  Bd.  I,  82.  a.  a.  O. 

**)  Ueber  den  Willen  in  der  Natur.  1836.  pag.  73.  —  W.  als  W. 
u.  V.  I,  179. 


Die  transscendente  Richtung.  185 

ren  ;  dann  waren  diese  Gehirne  nicht  lebendig,  sondern 
todt,  und  es  bedurfte  einer  langen  Oedankenope- 
ration,  um  sich  zu  vergegenwärtigen,  welcher  Art 
ihre  Thätigkeit  während  des  Lebens  gewesen  sein  mag ; 
endlich  aber,  wenn  man  auch  ein  lebendiges  Gehirn  ge- 
sehen hätte,  so  würde  man  es  nicht  haben  „vorstellen, 
erkennen,  denken''  sehen  (denn  das  sind  nur  Objecte 
der  inneren  Erfahrung)  ;  sondern  es  würde  eines  weit- 
läufigen, auf  empirische  Forschung  gestützten,  Raison- 
nements  bedurft  haben,  um  sich  zu  überzeugen,  daß 
an  diesem  räumlich-zeitlichen  Dinge,  Gehirn  ge- 
nannt, gewisse  ma-||terielle  Veränderungen,  a  1  s  185 
Objecte  der  äußeren  Erfahrung,  vor  sich 
gehen,  während  zugleich  (in  der  Zeit)  gewisse  an- 
dere, ganz  heterogene  Veränderungen  als  Objecte 
der  inneren  Erfahrung  dem  Bewußtsein  gegen- 
wärtig sind.  Und  nun !  —  dieses  Gehirn,  dieses  mate- 
rielle Ding  in  Raum  und  Zeit,  welches  ohne  Raum 
und  Zeit  nicht  da  wäre,  von  diesen,  als  den  Bedingungen 
a  priori,  wie  die  ganze  übrige  Welt  ermöglicht  wird, 
—  diese  Erscheinungsoll  dem  Raum,  der  Zeit 
und  der  Causalität  das  Dasein  schenken?  Die 
Erkenntnisse  a  priori  sind  Functionen 
einer  „Erscheinung";  Raum  und  Zeit  sind 
aus  einem  räumlich-zeitlichen  Dinge  ent- 
sprungen! Horribile  dictu !  —  Zuerst  sind  Raum 
und  Zeit  da,  damit  das  Gehirn  da  sein  könne  ;  (denn 
irgendwo  im  Raum  und  irgendwann  in  der  Zeit  ist  doch 
wohl  das  Gehirn?)  —  und  dann  entsprinngen  Raum  und 
Zeit  aus  diesem  selbigen  Gehirne !  —  Ein  tiefer  Blick 
in  die  Natur !  —  —  Ich  kann  nicht  umhin,  unserem 
Philosophen  eine  sehr  schöne,  treffende  Stelle  aus  einem 
sehr  geistvollen  Buche  vorzulegen:  „Er  sucht",  heißt 
es  dort,  „den  ersten  einfachsten  Zustand  der  Materie  zu 
„finden,  und  dann  aus  ihm  alle  anderen  zu  entwickeln, 
„aufsteigend  vom  bloßen  Mechanismus  zum  Chemismus, 


186  Fünftes  Kapitel. 


„zur  Polarität,  Vegetation,  Animalität :  und  gesetzt  dies 
„gelänge,  so  wäre  das  letzte  Glied  der  Kette  die 
„thierische  Sensibilität,  das  Erkennen: 
„w  elches  folglich  jetzt  als  eine  bloße 
,,M  o  d  i  f  i  ca  t  i  on  der  Materie,  ein  durch  Cau- 
„salität  herbeigeführter  Zustand  dersel- 
„b  e  n ,  aufträte.  Auf  diesem  Gipfel  angelangt, 
„würden  wir  eine  plötzliche  Anwandlung  des  unaus- 
„löschlichen  Lachens  der  Olympier  spüren,  indem  wir, 
,,wie  aus  einem  Traum  erwachend,  mit  einem  Male  inne 
„würden,  daß  sein  letztes,  mühsam  herbei- 
„geführtes  Resultat,  das  Erkennen  [in  Raum 
„und  Zeit],  schon  beim  allerersten  Aus-l| 
186„gangspunkte,  der  bloßen  Materie  [also  auch 
,,dem  Gehirn  ]  als  unumgängliche  Bedingung 
„V  orausgesetzt  war.  —  So  enthüllt  sich  uner- 
„wartet  die  enorme  petitio  principii :  denn  plötzlich 
„zeigt  sich  das  letzte  Glied  als  den  Anhaltspunkt,  an 
,, welchem  schon  das  erste  hing,  die  Kette  als  Kreis ; 
„und  der  —  Philosoph  —  gliche  dem  Feldherrn  von 
„Münchhausen,  der,  zu  Pferde  im  Wasser  schwimmend, 
„mit  den  Beinen  das  Pferd,  sich  selbst  aber  an  seinem 
„nach  Vorne  übergeschlagenen  Zopf  in  die  Höhe  zieht." 
—  Diese  schlagenden  Worte  hat  auch  ein  Philosoph, 
auch  ein  Idealist  geschrieben  ;  und  zwar  einer  der  be- 
rühmtesten, nämlich  —  Risum  teneatis !  —  Arthur 
Schopenhauer.  Siehe  die  Welt  als  Wille  und  Vor- 
stellung.   Band  I.  pag.  32,  — 

Es  ist  ein  gut  Ding  um  die  Consequenz! 

Dies  waren  denn  nun  also  die  neuen,  triftigen  Ar- 
gumente dafür,  daß  die  Welt  in  Raum  und  Zeit  nicht 
„an  sich,"  sondern  ,, Erscheinung"  sei.  —  Seid  Ihr  nun 
überzeugt  ?  —  — 

Nach  dem  bekannten  Satze :  Sublato  conditionato 
tollitur  conditio  wäre  es  nun  eigentlich  überflüssig,  jenes 
„Ding  an  sich",  jenen  ,,Willen"  näher  zu  betrachten, 


Die  transscendente  Richtung.  187 

der  das  eigentliche  Wesen  „der  Welt  als  Vorstellung'^ 
(unpassender  und  deshalb  besser  von  Kant  „Erschei- 
nung" genannt)  ausmachen  soll.  Da  es  uns  aber  erstens 
wohl  interessiren  kann,  welche  neuen  Entdeckungen  in 
diesem  mysteriösen,  für  uns  aber  nicht  mehr  unge- 
wohnten Gebiete  gemacht  worden  sind,  da  außerdem 
unser  Philosoph  manches  wirklich  Vortreffliche  und 
Schöne  bietet,  das  nur  durch  den  Makel  seiner  illegi- 
timen Abkunft  oder  üblen  Verwandschaft  und  bösen 
Sippe  als  compromittirt  erscheint,  so  wollen  wir  es  uns 
nicht  versagen,  einen  Blick  auf  die  dunkle  Schattenhälfte 
seines  globus  intellectualis  zu  werfen.  — 

Der  Wille  also,  jene  ,,an  sich"  unbekannte  Macht, 
die  in  H  unserem  vom  Intellect  erleuchteten  Ich  auf  Mo- 187 
tive  handelt,  ist  Dasselbe,  was  der  ganzen,  empirischen 
Welt  als  Natura  naturans  zu  Grunde  liegt.*)  Er  objec- 
tivirt  sich  in  einer  aufsteigenden  xkljua'^  von  Vollkom- 
menheit. Jede  Objectivationsstufe  ist  gleichsam  ein  er- 
neuter, angestrengterer  Versuch  und  Ansatz  desselben 
dunklen  Weltstrebens,  seinem  Wesen,  dem  Willen  zum 
Dasein  oder  Leben,  den  deutlichsten,  adäquatesten  Aus- 
druck zu  geben.  Endlich  findet  er  das  höchste  Ziel 
seines  Strebens,  indem  er  in  der  animalischen  Welt  und 
speciell  im  Menschen  zur  klaren  Erkenntniß  durch- 
bricht ;  nun  ist  das  an  sich  ununterschiedene  Einerlei 
in  die  Form  der  Vorstellung  getreten,  in  S  u  b  j  e  c  t 
und  O  b  j  e  c  t  zerfallen,  durch  Raum,  Zeit  und  C  a  u  - 
sali  tat  mit  einem  Schlage  in  eine  ausgedehnte,  dau- 
ernde und  sich  verändernde  Vielheit  von  realen  Objec- 
ten  gespalten ;  die  empirische,  materielle  Welt  steht 
da.   — 

Was    zunächst    die    von  Schopenhauer    immer 
und  überall  gerühmte,  von  Anderen  oft  bezweifelte  Ori- 


*)  Die  Welt  a.  W.  u.  V.  Bd.  II,  pag.  367.  vgl  Parerga  und  Para- 
lipomena  Band  I,  pag.  109. 


188  Fünftes  Kapitel. 


ginalität  und  Neuheit  dieser  Ansicht  anlangt,  so  lese 
man  folgende  Sätze.  *) : 

„Es  gibt  in  letzter  und  höchster  Instanz  gar  kein 
„anderes  Sein  als  Wollen.  Wollen  ist  Ursein, 
„und  auf  dieses  allein  passen  alle  Prädikate  desselben, 
„Grundlosigkeit,  Unabhängigkeit  von  der 
„Zeit,   Selbstbejahung.** 

„Die  Natura  naturans  ist  für  sich  betrachtet  auch 
,,Wille,  aber  Wille  in  dem  kein  Verstand  ist." 
—  „Er  ist  die  unbegreifliche  Basis  der  Realität,  der  nie 
188  „aufgehende  Rest,  das,  was  sich  ||  mit  der  größesten  An- 
,, strengung  nicht  im  Verstände  auflösen  läßt,  sondern 
„ewig  im  Grunde  bleibt.** 

Diese  Sätze  hat  nicht  Schopenhauer  geschrie- 
ben, sondern  Schell  ing,  in  den  1809  erschienenen 
„Untersuchungen  über  das  Wesen  der  menschlichen 
Freiheit ",'^'^)  —  einer  Schrift,  von  der  Schopenhauer 
wiederum  sagt :  „sie  ist  fast  nur  eine  Umarbeitung  von 
Jacob  Böhmes  Mysterium  magnum,  in  welchem  fast 
jeder  Satz  und  jeder  Ausdruck  sich  nachweisen  läßt.*****) 

Ich  gestehe  nun  wohl  ein,  daß  selbst  der  originell- 
ste Geist  von  seinen  Vorgängern  nicht  nur  einzelne  Ge- 
danken, sondern  ganze  Gedankenreihen  und  Grundan- 
sichten aufnehmen  muß,  es  sei  denn,  daß  er  vom  Wasser 
der  Lethe  tränke,  wo  dann  freilich  mit  der  Gefahr  durch 
unwillkürliche  Reminiscenzen  als  Plagiator  zu  erschei- 
nen zugleich  alles  Gedächtniß,  also  alle  Basis  des  Wis- 
sens verschwinden  würde.  Wenn  man  aber  über  Das, 
was  man  selbst  für  die  Hauptidee  seiner  Lehre  angibt, 
mit  einem  früheren  Philosophen,  den  man  sehr  gut 


*)  Siehe  Herbarts  S.  W.  Bd.  XII.  pag.  382.  385.  —  Trendelen- 
burgs  Logische  Untersuchungen  Bd.  II.  pag.  101.  —  Hayms  A.  Seh. 
pag.  82—84. 

**)  Vgl.  S  c h  e  1 1  i  n  g  s  Transscendental.  Idealism.  Einleitung  §.  3.  C.  D. 
***)  „Aus    Arthur    Schopenhauers    handschriftlichem    Nachlasse." 
Herausgegeben  v.  J.  Frauenstädt,  1864.  pag.  261. 


Die  transscendente  Richtung.  189 


kennt,  so  augenscheinlich  einverstanden  ist,  wie  Scho- 
penhauer über  den  Inhalt  der  obigen  Sätze  mit 
Schelling,  dann  ist  es  von  der  Redlichkeit,  oder 
doch  der  Bescheidenheit  geboten,  dies  einzugestehen. 
Das  ist  von  Alters  her  stillschweigendes  Uebereinkom- 
men  zwischen  allen  hervorragenden  Schriftstellern  ge- 
wesen. Schon  P  1  i  n  i  u  s  sagt  in  seiner  Praefatio  ad  di- 
vum  Vespasianum  zur  Historia  mundi :  „Est  enim  benig- 
num  et  plenum  ingenui  pudoris  fateri,  per  quos 
pr  of  ecer  is**. 

Schopenhauer  nun  fühlt  sich  erst  sehr  spät 
veranlaßt,  sich  über  diesen  bedenklichen  Punkt  zu  er- 
klären. Und  wie  thut  er  es  ?  ||  Er  nennt  die  von  S  c  h  e  1  - 189 
1  i  n  g  ausdrücklich,  von  Fichte  nur  nicht  geradezu  aus- 
gesprochene Hauptidee  seiner  Philosophie  „einen 
bloßen  Vorspuk  seiner  Lehre"  und  ruft  ihnen 
entgegen : 

„Pereant,  qui  ante  nos  nostra  dixerunt".  *) 
In  der  That  eine  eigenthümliche  Art  von  Entschuldi- 
gung !  Es  wird  schwer  halten,  hierin  Etwas  von  dem 
pudor  ingenuus  zu  entdecken.  —  Vielleicht  aber  hält  er 
seine  nähere  Ausführung  jener  Idee  für  so  besonders 
verdienstvoll,  daß  dagegen  der  Werth  der  Idee  iselbst 
zurücktritt.  Und  wirklich,  wenn  wir  den  Inhalt  seiner 
Philosophie  im  Ganzen  überblicken,  so  müssen  wir  offen 
gestehen,  daß  es  ein  ganz  besonderes,  immerhin  aber 
nicht  beneidenswerthes  Verdienst  war,  durch  stricte 
Durchführung  jener  in  sich  nichtigen  Idee  zu  zeigen, 
in  welche  speculativen  und  ethischen  Absurditäten  man 
von  ihr  getrieben  werden  kann,  wie  z.  B.  „Die  Er- 
kenntnisse a  priori  sind  Qehirnfunction''  oder  „Nach 
„Verneinung  des  Willens  zum  Leben  besteht  die  Erschei- 
„nung  noch  fort"  u.  s.  w.    Doch  dies  nur  beiläufig ! 

Gehen    wir    nun    aber    auf    seinen    Gedanken    ein, 
sehen   wir  vor  Allem   davon  ab,   daß   die  Welt  nicht 

*■)  Parerga  und  Paralipomena.  Bd.  I,  pag.  124  u.  125. 


190  Fünftes  Kapitel. 


„Erscheinung''  ist  und  also  zu  ihrer  Erklärung  gar 
keines  „Dings  an  sich''  bedarf,  und  daß  ferner,  selbst 
wenn  sie  es  wäre,  ein  „Ding  an  sich"  immer  uner- 
kennbar sein  müßte  ;  so  fragt  sich  zunächst,  was  ist 
Wille?  Wille  ist  (so  wird  jeder  Unbefangene  ant- 
worten), eines  von  den  nachweisbaren  Objecten  der 
inneren  Erfahrung,  eines  von  den  drei  Grundvermögen, 
die  von  der  empirischen  Psychologie  jederzeit  ange- 
nommen worden  sind ;  näher  gekennzeichnet  ist  er  nach 
der  Kantischen  Definition  „das  Vermögen  der 
Zwecke"  **)  oder :  „das  Begehrungsvermögen,  sofern  es 
190  „nur  durch  Begriffe,  d.  i.  der  Vorstellung  1!  eines 
„Zweckes  gemäß  zu  handeln,  bestimmbar  ist."  **)  Wie 
diese  treffende  Erklärung  ausdrückt,  kennt  man  daher 
einen  Willen  nur  da,  wo  Zwecke  und  Motive 
möglich  sind,  d.  h.  in  einem  vernünftigen,  des  ab- 
stracten  Denkens,  oder  (wenn  man  den  Begriff  sehr 
erweitert,  nämlich  auch  auf  unvernünftige  Intelligenzen, 
d.i.  Thiere,  ausdehnt)  wenigstens  des  Vorstellens 
fähigen  Geschöpfe,  „Wenn  ein  Mensch  will,  sagt 
„Schopenhauer  selbst,  so  will  er  auch  Etwas:  sein 
„Willenact  ist  allemal  auf  einen  Gegenstand  gerichtet 
„und  läßt  sich  nur  in  Beziehung  auf  einen  solchen  den- 
„ken" ;  und  ferner:  „Hieraus  ist  schon  klar,  daß  der 
,,Willensact  ohne  Motiv  nicht  eintreten  könnte,  da  es 
„ihm  sowohl  an  Anlaß,  als  an  Stoff  fehlen  würde."***) 
Dem  stimmen  wir  vollkommen  bei.  Wir  finden  hier  die, 
durch  den  allgemeinen  Sprachgebrauch  sanctionirte  Be- 
deutung des  Wortes  Wille;  er  ist  das  Vermögen, 
einen  motivirten  Entschluß  zu  einer  zweck- 
mäßigen Handlung  zu  fassen.  —  Zweck  oder 
wenigstens  Motiv  ist  also  überall,  wo  man  von 
Willen  redet;  ein  Willensact  ohne  Motiv,  ohne  vor- 

*)  Kants  Kritik  d.  Urtheilskraft  pag.  133. 
**)  ibid.  pag.  33. 
•■•"•"■=)  Die  beiden  Grundprobleme  der  Ethik.  1841.  pag.  14. 


Die  transscendente  Richtung.  191 

ausgesetzte  Vorstellung,  ein  Wille  ohne  Intellect 
kommt  in  keiner  Erfahrung  vor.  Wenn  man  daher  das 
Motiv  vom  Willensact,  den  Intellect  vom  Willen  ab- 
ziehen wollte,  so  bliebe  —  Gott  weiß  was,  übrig  ;  w  i  r 
jedenfalls  wissen  es  nicht.  Weil  ein  Wille  ohne  Intel- 
lect undenkbar  ist,  nennt  man  auch  jede  Handlung  oder 
Bewegung,  die  von  einem  mit  Bewußtsein  begabten 
Wesen  ohne  bewußtes  Motiv  (vom  Zwecke 
ganz  zu  schweigen)  vollzogen  wird,  eine  unwillkür- 
liche oder  willenlose.  Diejenigen  Bewegungen 
und  Handlungen  aber,  welche  von  einem  vorstellenden 
Wesen  ohne  bewußtes  Motiv  ausgeführt  werden 
und  dennoch,  wie  wir  aus  der  Erfahrung  sehen, 
zweckmäßigen  ll  Erfolg  haben,  schreiben  wir  191 
dem  Trieb  oder  I  n  s  t  i  n  c  t  zu.  Alle  übrigen  leiblichen 
Veränderungen  der  animalischen  Geschöpfe  endlich  sind 
durchaus  nur  physiologische  Probleme.  — 

Nun  aber  soll  —  wie  uns  oben  Schopenhauer 
gelehrt  hat  —  mein  materieller,  sichtbarer 
Leib  die  Objectität  des  Willens  oder  a 
posteriori  erkannter  Wille  sein.  —  Wer  will 
denn  hier?  Und  welches  Motiv  veranlaßt  ihn  meinen 
Leib  zu  wollen  ?  Es  muß  mir  in  der  That  höchst  inter- 
essant sein,  diese  Fragen  beantwortet  zu  sehen.  — 
Schopenhauer  würde  antworten:  „Du  selbst,  dein 
eigener  Wille  zum  Leben."  —  Nun  muß  ich  aber  offen 
gestehen,  daß  ich  mich  nicht  erinnere,  je  mein  Dasein 
gewollt  zu  haben,  sondern  als  ich  zum  ersten  Male 
wollte,  da  war  ich  bereits  im  Dasein,  hatte  schon 
meinen  Leib  u.  s.  f.  Kurz,  Schopenhauer  spricht  hier 
schon  von  Etwas,  was  er  gar  nicht  kennt.  Mein  Wille 
soll  das  ,,Ding  an  sich"  sein,  dessen  ,, Erscheinung"  ich 
bin  (sowohl  mein  Leib  als  mein  Geist).  Das  müßte  aber 
ein  Wille  ohne  Motiv,  ohne  Intellect,  d.  h.  ein  Wille 
sein,  der  nach  allgemein  gültigem  Sprachgebrauch  gar 
kein    Wille    ist.      Schopenhauer   begreift   also 


192  Fünftes  Kapitel. 


jedenfalls  hier  unter  diesem  Namen  schon  unendlich  viel 
mehr,  als  jeder  andere  Mensch ;  er  versteht  darunter 
nicht  bloß  Trieb,  Instinct,  sondern  sogar  „Kraft'', 
durch  welche  Subsumtion  das  logische  Verhältniß  der 
Begriffe  geradezu  umgekehrt,  auf  den  Kopf  gestellt 
wird.  Jedenfalls  aber  wird  die  Sphäre  des  Begriffes 
„Wille''  unmäßig  und  unbegründeter  Weise  erweitert, 
so  daß  eigentlich  nur  das  Wort  identisch  bleibt  und 
weiter  gar  nichts.  Wie  —  so  müssen  wir  hier 
fragen  —  kann  es  derselbe  Mann  mit  seinem  specula- 
tiven  Gewissen  vereinigen,  diesen  Begriff  so  zu  genera- 
lisiren,  der  gegen  den  Kantischen  Begriff  der  „Ver- 
nunft" den  consensus  universalis,  den  „Sprachge- 
192  brauch  aller  Völker  und  Zeiten  ||  geltend 
macht*)  ;  —  der  den  allgemein  recipirten  Begriff  „Ge- 
fühl" verwirft,  weil  —  „dessen  unmäßig  weite 
Sphäre  die  heterogensten  Dinge  begrei- 
fe?"**) —  Einen  Willen  ohne  Motiv,  ohne  Vorstel- 
lungsvermögen,  einen  blinden  Willen  kennt  Niemand  ; 
also  soll  man  auch  nicht  davon  reden.  — 

Aber  wir  wollen  uns  nicht  auf  Worte  steifen. 
Mag  die  Benennung  ungerechtfertigt  sein,  so  wird  sich 
doch  Schopenhauer  irgend  etwas  Bestimmtes  dabei 
gedacht  haben.  Offenbar  versteht  er  unter  jenem  all- 
gemeinen Willen  zum  Leben,  dessen  Erscheinung  die 
Welt  in  Raum  und  Zeit  ist,  jenen  dunklen  Rest,  der 
übrig  bleibt,  wenn  man  vom  Willensacte  das  Motiv  sich 
hinwegdenkt.  —  Gut!  Aber  was  bleibt  denn  übrig,  wenn 
ich  diese  begriffliche  Trennung  vornehme  ?  Was  ist 
denn  jener  Rest?  Wer  hat  in  irgend  welcher  Erfahrung 
die  Differenz  von  Wille  und  Motiv  kennen  gelernt? 
Niemand !  —  Es  ist  eine  unvollziehbare  Vorstellung.  — 
Die  Frage:  „Was  bleibt  nach  Abzug  des  Intellects  vom 


*)  Die  W.  a.  W.  u.  V.  a.  a.  O.  Band  I,  pag.  513. 
*"*)  ibid.  pag.  61.  Satz  v.  Gr.  pag.  129-132. 


Die  transscendente  Richtung.  193 

Willen  übrig?**  ist  eine  ebenso  müßige,  nicht  zu  beant- 
wortende, und  damit  ungereimte,  als  die:  „Was  bleibt 
in  dem  losgetrennten  Rumpfe  eines  Enthaupteten  von 
der  individuellen  Persönlichkeit  übrig?"  —  Ja,  jene 
Frage  ist  noch  viel  sinnloser,  weil  wir  gar  nicht  wissen, 
ob  eine  reale  Trennung  des  Motivs  vom  Willen  über- 
haupt möglich  ist.  Wenn  wir  dagegen  hier  auch  genau 
wissen,  daß  der  Delinquent  uns  weder  vor,  noch  nach 
der  Hinrichtung  eine  Antwort  geben  kann,  so  ist  doch 
das  Factum,  worauf  wir  mit  unserer  Frage  fußen,  näm- 
lich die  Trennung  des  Kopfes  vom  Rumpfe,  wirklich 
vorhanden,  was  dort  nicht  der  Fall  ist.  —  Wir  stehen 
hier  rathlos,  mit  der  Aussicht  gleichsam  in :  ll 

The  undiscover'd  country,  from  whose  bourn  193 

No  traveller  returns.  — 

Ueberspringen  wir  aber  auch  hier  mit  Schopen- 
hauer alle  Erfahrung,  lassen  wir  es  uns  gefallen, 
daß  ein  blinder,  intellectloser  Wille  nur  für 
etwas  Unerklärliches  und  Dunkles  genommen  wird, 
während  er  in  der  That  die  nie  vollzogene  Differenz 
des  Motivs  und  des  in  der  inneren  Erfahrung  gegebenen 
Entschließungsvermögens  ist,  geben  wir  ihm  also  die 
(schlechthin  problematische)  Existenz  eines  solchen 
„Willens"  zu,  und  lassen  nur  die  Essenz  desselben 
als  Problem  stehen,  —  so  werden  wir  sofort  wieder 
von  der  Frage  gefesselt:  „Wer  will  denn  hier?" 
Darauf  gibt  uns  Schopenhauer  gar  keine  Antwort ;  viel- 
mehr ist  sein  Wille  zum  Leben,  ebenso  wie  sein  Wir-» 
ken  der  Materie  ohne  Wirkendes,  seine  Causalität  ohne 
Substantialität,  wiederum  eine  Thätigkeit  ohne  Thuen- 
des,  ein  Prädicat  ohne  Subject,  —  Nichts.  Conniviren 
wir  ihm  endlich  auch  hierin  noch,  reden  wir  uns  mit 
ihm  ein,  wir  nähmen  wirklich  in  der  inneren  Erfahi 
rung,  am  eigenen  Ich  Das  wahr,  was  Schopenhauer 
unter  „Wille"  versteht,  so  stehen  wir  vor  einem  neuen 
Räthsel :  Wie  nämlich  soll  ich  denn  Das,  was  mir  schon 

Neudrucke:    Liebmann,  Kant.  13 


194  Fünftes  Kapitel. 


in  meinem  eigenen  Bewußtsein  (gelind  ausge- 
drückt), so  dunkel  und  räthselhaft  ist,  in  anderen 
Geschöpfen,  organischen  und  anorganischen,  in  Thieren, 
Pflanzen,  ja  in  Steinen  wiederfinden?  Die  Berechtigung 
hierzu  decretirt  er  sich  selbst  in  den  Worten:  „Wir 
„werden  demzufolge  die  nunmehr  zur  Deut  lieh - 
„keit[??]  erhobene  doppelte,  auf  zwei  völlig  hete- 
„rogene  Weisen  gegebene  Erkenntniß,  welche  wir  vom 
„Wesen  und  Wirken  unseres  eigenen  Leibes  haben, 
„weiterhin  als  einen  Schlüssel  zum  Wesen 
„jeder  Erscheinung  in  der  Natur  gebrauchen 
„ —  und  daher  annehmen,  daß  wie  sie  einer- 
„seits,  ganz  so  wie  er  Vorstellung  —  auch 
194 „andererseits  dasselbe  sein  muß,  als  ||  was 
„wir  an  uns  „Wille"  nennen."")  —  „Wir  werden 
annehmen,  daß  sein  muß."  —  Eine  problematisch- 
apodiktische Zwitterüberzeugung!  Eine  Ueberzeugung, 
die  uns  nicht  einmal  für  die  empirische  Wahrheit,  für 
das  „Wissen,  das  X  ist",  viel  weniger  aber  für  die 
metaphysische  Noth wendigkeit,  für  das  „Gewiß  sein,  daß 
X  sein  muß"  zu  bürgen  im  Stande  ist.  —  Und  das  ist 
nun  das  Fundament,  auf  welchem  stehend  Schopenhauer 
jener  tiefen,  furchtbaren  „Wahrheit"  irrationales  Me- 
dusenantlitz der  erstaunten  Welt  entgegenhält !  —  Ich 
könnte  es  Niemand  verdenken,  wenn  er,  anstatt  vor 
der  Furchtbarkeit  dieser  „Wahrheit"  in  Entsetzen  zu 
gerathen,  vielmehr  „eine  Anwandlung  des  unaus- 
löschlichen Gelächters  der  Olympier"  spürte.  —  Sind 
denn  jemals  die  einfachsten  Grundbedingungen  des  spe- 
culativen  Denkens  von  einem  Philosophen  mit  solcher 
—  nonchalance  mißachtet,  ist  jemals  ein  so  leichtferti- 
ger Seiltänzersprung  über  eine  metaphysische  Kluft  von 
einem   „Denker"   gethan  worden? 

Und  darauf  hin  soll  ich  das  eigenste  innerste  Wesen 
meines  mit  Vernunft  begabten  Subjects  in  jedem  Feuer- 


')  D.  Welt  a.  W.  u.  V.  Bd.  I.,  pag.  125. 


Die  transscendente  Richtung.  195 

stein  wieder  finden !  —  Daß  wir  in  anderen  beseel- 
ten Wesen  durch  das  Medium  des  Intellects  ihre 
Gleichartigkeit  mit  uns  erkennen,  ist  natürlich  ;  daß  wir 
nach  Analogie  unserer  eigenen  inneren  Erfahrung  uns 
durch  die  Einbildungskraft  in  die  Seele  Anderer  ver- 
setzen, und  so  sympathisch  ihre  Freude  und  ihren 
Schmerz  mitfühlen  können,  ist  erklärlich ;  und  daß  die 
hieraus  entspringende  dydnrj,  die  werkthätige  Nächsten- 
liebe, zu  einem  ethischen  Princip  gemacht  wird,  ist 
eine  der  annehmbarsten,  gemüthvollsten  und  beherzi- 
genswerthesten  Lehren  Schopenhauers.  —  Aber,  daß 
ich  in  einem  Chausseesteine  sympathisch  mein  geisti- 
ges und  gemüthliches  Wesen  wieder  finden  ||  soll,  —  195 
das  heißt  denn  doch  die  dydnrj  zu  weit  treiben.  Man 
spricht  wohl  davon,  daß  sich  Steine  über  uns  er- 
barmen möchten,  wie  aber  w  i  r  uns  über  sie,  das 
wird    schwerlich   jemand  verstehen. 

Und  doch!  —  Seien  wir  billig!  In  gewisser  Be- 
ziehung sind  freilich  der  blinde,  unmotivirte  Wille,  den 
ich  in  mir  selbst  wahrnehmen  soll,  und  jener,  der  das 
„An  sich"  des  Steines  bilden  mag,  identisch,  wie 
Schopenhauer  behauptet.  Identisch  nämlich  sind 
beide,  insofern  sie  in  keiner  Erfahrung, 
keinem  Bewußtsein  je  vorkommen,  iden- 
tisch sofern  sieunnöthige  Hypothesen  zur 
Erklärung  einer  unwahren  Voraussetzung 
( W elt  =  Erscheinung)  sind,  identisch  sind 
sie,  sofern  ich  von  beiden  Nichts  sagen 
kann,  also  von  ihnen  auch  nicht  reden  soll- 
te; identisch  endlich,  sofern  sie  beide  et- 
was Nichtvorstellbares  —  Chimäre  sind.  — 
Das  ist  ihre  Identität! 

Gut  also!  Das  „Ding  an  sich"  hätten  wir.  Nun 
kommt  es  bloß  noch  darauf  an,  zu  untersuchen,  wie 
es  sich  objectivirt,  in  Erscheinungen  oder  Vorstel- 
lungen  zu   Tage  tritt.    Freilich  hat  uns   Schopenhauer 

13* 


196  Fünftes  Kapitel. 


selbst  gelehrt:  „daß  die  Dinge  an  sich  durch  unsere 
„Erkenntnißformen  sich  nicht  fassen  lassen ;  daß  da- 
„her  die  wirkliche,  positive  Lösung  des  Räthsels  der 
„Welt  etwas  sein  müsse,  das  der  menschliche  Intellect 
„zu  fassen  und  zu  denken  unfähig  ist;  so  daß,  wenn 
„ein  Wesen  höherer  Art  käme  und  sich  alle  Mühe 
„gäbe,  es  uns  beizubringen,  wir  von  seinen  Eröffnung 
„gen  durchaus  nichts  würden  verstehen  können."  *) 
Wahrscheinlich  ist  er  aber  selbst  ein  solches  Wesen 
höherer  Art ;  denn  er  erzählt  uns  in  der  That  viel  Un- 
verständliches und  Unverständiges  über  das  „Ding  an 
sich'*  und  den  „Willen".  Er  lehrt  uns,  daß  Dasselbe, 
was  in  uns  als  (blinder)  Wille  zum  Leben  erkannt, 
196  oder  vielmehr  nicht  II  erkannt  wird,  in  den  Mineralien, 
überhaupt  der  anorganischen  Natur  auf  Ursachen,  in  den 
Pflanzen  auf  Reize,  in  den  Thieren  auf  Motive  in  Be- 
wegung gesetzt  werde.  Er  weist  darauf  hin,  daß  die 
Naturwissenschaft  „dieses  ihr  Unzugängliche  und  Un- 
„bekannte,  bei  dem  ihre  Forschungen  enden  und  wel- 
„ches  nachher  ihre  Erklärungen  als  das  Gegebene  vor- 
„aussetzen,  mit  Ausdrücken  wie  Naturkraft,  Lebenskraft, 
„Bildungstrieb  zu  bezeichnen  pflege,  welche  nichts 
„mehr  sagen  als  X.  Y.  Z."**)  Sein  Wille  nämlich,  so 
können  wir  fortfahren,  ist  das  X  +  Y  +  Z;  also  das 
Additionszeichen  scheidet  die  Metaphysik  von  der  Phy- 
sik !  Und  gerade  die  Berechtigung  zur  Setzung  dieses 
Additionszeichens,  welche  uns  den  unerklärlichen  Welt- 
willen als  Urgrund  erschließt,  so  weit  er  erkennbar  ist, 
—  sie  ist  erschlichen  durch  das  „Annehmen,  daß 
sein  muß"  —  mit  grenzenloser  Leichtfertigkeit  er- 
schlichen. — 

Aus  dem  universalen  Pseudo-Willen,  welchen  Scho- 
penhauer als  intimen  Bekannten  behandelt,  soll  nun  eine 


*)  Die  W.  a.  W.  u.  V.  Bd.  II.  pag.  206. 
**)  Ueber  den  Willen  in  der  Natur,  pag.  5. 


Die  transscendente  Richtung.  197 

Thatsache  erklärt  werden,  die  von  jeher  allen  besonne- 
nen, tiefen  Menschen  aufgefallen  ist  und  Stoff  zum  an- 
gestrengtesten Nachdenken  gegeben  hat,  nämlich :  die 
durchgängige,  großartige  Zweckmäßigkeit  in  der  Natur, 
von  den  Bewegungen  der  Sonnensysteme,  bis  zu  den 
Organen  des  Infusoriums.  Schopenhauer  gibt  selbst  eine 
ergreifende  Schilderung  dieser  Zweckmäßigkeit,  wie  er 
denn  überhaupt  in  der  Darstellung  der  zu  er- 
klärenden Facta  groß,  in  deren  Sichtung  und  der 
Auffindung  der  Principien  durch  vorgefaßte 
Meinung  verblendet  und  durchaus  unzuverlässig  ist. 
„Angemessen,  sagt  er,  ist  jede  Pflanze  ihrem  Boden 
„und  Himmelsstrich,  jedes  Thier  seinem  Element  und 
„der  Beute,  die  seine  Nahrung  werden  soll,  ist  auch 
„irgendwie  einigermaßen  geschützt  gegen  seinen  natür- 
„lichen  Verfolger  ;  angemessen  II  ist  das  Auge  dem  Licht  197 
„und  seiner  Brechbarkeit,  die  Lunge  und  das  Blut  der 
„Luft,  die  Schwimmblase  dem  Wasser,  das  Auge  des 
„Seehundes  dem  Wechsel  des  Mediums,  die  wasserhal- 
„tigen  Zellen  im  Magen  des  Kameeis  der  Dürre  Afrika- 
„nischer  Wüsten,  das  Segel  des  Nautilus  dem  Winde, 
„der  sein  Schiffchen  treiben  soll,  und  so  bis  auf  die 
„speciellsten  und  erstaunlichsten  äußeren  Zweckmäßig- 
„keiten  herab."*)  Sehr  schön!  Sehr  richtig!  Und  wenn 
man  nun  diese  großartige,  imposante,  durchgängige 
Zweckmäßigkeit  in  der  Natur  sich  zu  erklären  sucht, 
ohne  sich  weiter  darum  zu  kümmern,  ob,  wie  und  wo- 
her uns  hierüber  überhaupt  Aufschluß  gegeben  werden 
kann,  —  worauf  wird  man  dann  nothwendig  geführt? 
Ich  denke  mit  Kant  auf  die  Idee  einer  „absichtlich- 
wirkenden obersten  Ursache  dieser  Welt."**)    Aber 


*)  Die  Welt  a.  W.  u.  V.  Band  I.,  pag.  190. 
**)  Kants   Kritik   d.   Urtheilskraft  §.75  ff.    Kant  legt  hier  dar, 
daß,   wenn  wir  auch  nicht  nachweisen  können,   daß  eine  solche  ab- 
sichtlich-wirkende  Weltursache  sei,   wir  doch  nach   der  Einrichtung 
unseres  Intellects  nur  durch  die  Annahme  einer  solchen  uns  die  Welt 


198  Fünftes  Kapitel. 


nein!  Der  blinde,  erkenntnißlose,  aller  Mo- 
tive, Zwecke,  Absichten,  baare  Wille  ist  es 
nach  Schopenhauer,  der  jene  Zweckmäßigkeit 
hervorruft !  Also  deshalb  wurde  uns  die  Zumuthung 
gemacht,  über  so  viele  gewaltsame  Gedankenzerreißun- 
gen und  Verknüpfungen,  Widersprüche,  Erschleichungen 
198  u.  s.  w,  uns  hinwegzusetzen,  um  uns  am  Ende  II  mit 
einer  solchen  „Erklärung"  des  Welträthsels  abzu- 
speisen? Deshalb  haben  wir  uns  gefallen  lassen 
sollen,  daß  mit  einer  Art  transscendenter  Alchymie  aus 
der  im  Willensact  gegebenen  unlöslichen  Verbindung 
von  Motiv  und  Entschluß,  Intelligenz  und  Handlung, 
ein  utopischer,  blinder  Wille  heraussublimirt,  und  uns 
dann  vorgeschwatzt  wurde,  wir  nähmen  diesen  in  uns 
selbst  auf  ganz  besondere  Weise  wahr?  —  Deshalb? 
—  O   Pfui !  —  Das  ist  muthwillig !  — 

Nein!  Wäre  dieser  Wille  blind,  dann  würde  statt 
der  erhabenen  Weltsymphonie,  deren  gewaltiger  Strom 
in  herrlichen,  wunderbaren  Harmonien  an  uns  vorüber- 
rauscht, ein  wirres,  entsetzliches  Gekreisch  unser  Ohr 
treffen  und  —  zerreißen  ;  —  die  Partitur  (d.  i.  die  Meta- 
physik) wäre  ein  absoluter  Tintenklex ;  und  der  Capell- 
meister  —  wäre  abhanden  gekommen ! 

Auf  seine  sogenannte  Ethik  brauchen  wir  gar 
nicht  einzugehen.  Die  darin  herrschende  Grundstim- 
mung ist  jene  Mischung  von  Blasirtheit,  moralischem 
Katzenjammer  und  Hochmuth,  die  selbst  mit  der  Reue 


teleologisch  zu  erklären  vermögen.  Schopenhauer  aber  fällt  erstens 
in  den  Dogmatismus  zurück,  indem  er  das  Medium  des  Intellects  be- 
seitigt, „durchschaut",  und  dann  ist  sein  Erklärungsprincip,  derblinde 
Wille,  noch  obenein  gar  nicht  einmal  fähig,  eine  Erklärung  zu  geben. 
Da  gehen  wir  doch  heber  zum  Dogmatismus  des  Reimarus  zurück. 
Der  erklärt  wenigstens  das,  was  er  erklären  will,  wenn  er  auch 
nicht  darnach  fragt,  ob  er  es  darf.  Oder  die  Philosophie  kann  nur 
gleich  wieder  ancilla  theologiae  werden.  Vgl.  „Die  vornehmsten 
Wahrheiten  der  natürlichen  Religion*  von  Herrmann  Samuel 
Reimarus.  1766.  Abhandlung  IV. 


Die  transscendente  Richtung.  199 

noch  kokettirt,  —  „Weltschmerz"  genannt,  oder  „the 
joy  of  grief" :  „der  Charakter  zeigt  sich  sanft,  traurig, 
„edel,  resignirt."  *)  —  Wohl  getroffen !  —  Es  ist  die- 
selbe Stimmung,  in  der  Armand  de  Rance,  der  alte  Roue, 
nachdem  er  des  Lebens  Genüsse  bis  zur  Hefe  ausge- 
kostet, sich  vom  Papste  die  Erlaubniß  einholte,  in  den 
Trappistenorden  [den  Schopenhauer  auch  besonders  ins 
Herz  geschlossen  hat  ]  die  alte,  unnatürliche  Askese 
einzuführen.  —  Aber  weshalb  wird  wohl  in  der  Welt 
im  Allgemeinen  viel  mehr  gelacht,  als  geweint?  Bloß 
weil  die  meisten  Menschen  (wie  Schopenhauer  meint) 
flachköpfige  „Fabrikwaare  der  Natur"  sind?  Ich  denke, 
es  hat  noch  einen  anderen  Grund.  —  Indessen :  II  ||  n'est  199 
pas  si  diable  que  noir !  Findet  er  doch  auch  in  seiner 
Philosophie  ein  Plätzchen,  um  uns  eine  „Eudämonolo- 
gie"  zu  geben,  Unterricht  zu  ertheilen  in  der  Kunst 
glücklich  zu  leben.*"^)  — 

Schopenhauer  nennt  seine  Philosophie  „im- 
manenten Dogmatismus"  **^")  im  Gegensatze  zu 
dem  transscendenten  der  vorkantischen  Systeme.  Ob- 
gleich wir  nun  im  Widerspruch  hiermit  gerade  seine 
Auffassung  und  Fortbildung  der  Kantischen  Lehre 
die  „transscendente"  nennen  müssen,  so  wissen 
wir  doch  recht  gut,  weshalb  er  jenen  entgegengesetzten 
Titel  in  Anspruch  genommen  hat ;  wir  kennen  Das, 
was  er  meint  ganz  ebenso  genau  wie  er  und  wie 
jeder  Mensch,  der  einiger  Maaßen  fähig  ist,  sich  in  sich 
selbst  und  in  die  Natur  zu  versenken.  Das  ist  aber 
eben  jenes,  von  ihm  mißkannte,  Gefühl,  jener  un- 
sagbare und  unmittelbare  Kern  des  eigenen  Ich,  in  dem 
alles  Das  mündet,  was  auf  def  Peripherie,  d.  i.  im  ab- 
stracten   Intellecte,    verschieden   ist;    das   Gefühl,   von 


*)  Die  Welt  als  W.  u.  V.  Band  I.  pag.  469. 
**)  Parerga  und  Paralipomena.  Band  I.  pag.  299.  ff. 
***)  ibid.  I.  pag.  121. 


200  Fünftes  Kapitel. 


dem  Schleiermacher  sagt,  daß  in  ihm  Denken 
und  Wollen  identisch  seien.*)  Das  Gefühl  ist 
auf  der  einen  Seite  auch  jenes  in  Freude  und  Schmerz, 
in  Handeln  und  Leiden,  immer  identisch  Erscheinende, 
was  uns  alle  an  das  Leben  fesselt,  das  uns  die  Gefähr- 
dung unseres  'Daseins  unwillkürlich  und  absichtsvoll 
vermeiden  und  die  Erhaltung  desselben  bezwecken  läßt, 
in  welcher  Hinsicht  es  z.  B,  Cicero  in  seiner  Schrift 
de  officiis  I,  4.  schon  geschildert  hat  mit  den  Worten : 
Principio  generi  animantium  omni  est  a  natura  tribu- 
tum,  ut  se,  vitam  corpusque  tueatur,  declinet  ea,  quae 
nocitura  videantur,  omniaque,  quae  sint  ad  vivendum 
200  necessaria,  aquirat  et  paret,  ut  pastum,  ut  latibula,  II  ut 
alia  generis  ejusdem.  —  Aber  das  Unsagbare,  in  un- 
mittelbarer Auffassung  Gegebene  äußert  sich  nur  inso- 
fern als  Wille,  als  es  auf  wirkliche,  bewußte  Motive 
hin  zum  Entschlüsse  treibt.  Anderwärts,  im  ästhetischen 
Genüsse,  in  der  religiösen  Andacht  finden  wir  es  immer 
wieder  als  Ein  und  Dasselbe,  nur  in  seinen  Aeußerun- 
gen  Verschiedenes,  welches  die  subjective  Grenze  des 
Intellects,  d.  i.  der  Welt  bildet.  Das  ist  —  Gefühl. 
Diesem  kann  keine  trockene  Skepsis,  keine  Ver- 
standeskritik beikommen,  weil  es  vom  abstracten 
Intellect  gar  nicht  gefaßt  werden  kann.  Der  geht 
immer  um  es  herum,  wie  (sit  venia  verbo !)  die  Katze 
um  den  heißen  Brei ;  er  möchte  es  gern  begreifen 
und  denken  ;  aber  das  gelingt  ihm  nicht.  So  ist  er  hier 
in  derselben  Lage,  wie  das  Auge,  das  die  Lerche,  wel- 
che unser  Ohr  in  der  Luft  tiriliren  hört,  nicht  zu  ent- 
decken vermag.  Der  Unterschied  ist  nur  der,  daß  das 
Auge  sich  wohl  eigensinnig  vorreden  kann  „Ich  habe 
sie  doch  gesehen" ;  der  abstracte  Intellect  kann  dies 
aber  nicht,  weil  er  sonst  gegen  seine  eigenen  Gesetze 


')  Schleiermachers   Dialektik,   herausgegeben  von  L.   Jonas. 
1839.  §  215.  pag.  151. 


Die  transscendente  Richtung.  201 

verstößt.  Das  schlechthin  Individuelle  läßt  sich  einmal 
nicht  Allgemein  fassen  ;  es  kann  nur  gefühlt  und  em- 
pfunden w^erden  ;  und  deshalb,  so  oft  auch  der  abstracte 
Intellect  glaubte  hier  sein  Ziel  erreicht  zu  haben,  so  oft 
er  auch  sein  triumphirendes  pvQrjxal  ausrief,  —  sofort 
war  es  ihm  vi^ieder  aus  den  Händen  verschwunden,  wie 
das  Wasser  aus  dem  Siebe  der  Danaiden,  und  sah 
plötzlich  aus  weiter  Ferne  mit  stillem  Hohne  auf  ihn 
herab.  Dies  eben  drückt  Schiller  paradox  und  gerade 
deshalb  treffend  so  aus : 

Spricht  die  Seele,  so  spricht  ach!  schon  die  Seele  nicht  mehr.*) 

Daher  auch  nennt  Kant,  nachdem  er  einmal  durch 
die  Aufstellung  des  falschen  Begriffs  eines  „Dings  an 
sich"  transscendent  ||  geworden  war,  und  ihm  doch  im- 201 
mer  die  Unstatthaftigkeit  desselben  dunkel  verschwebte, 
das  Noumenon  einen  „Grenzbegriff"  und  von  „nega- 
tiver Bedeutung".  Ebenso  ist  die  Lehre  vom  „empi- 
rischen und  intelligibelen  Character",  wenn  man  sie 
vom  reinen  und  echten  kritischen  Standpunkte  aus  be- 
trachtet, nicht  (wie  Schopenhauer  meint)  eine  Art  von 
Einlaßkarte  oder  Paß  in's  Außerräumliche  und  Außer- 
zeitliche, sondern  der  allerdings  höchst  tiefsinnige,  mit 
überwältigender  Besonnenheit  geführte  Nachweis,  daß 
wir  mit  unserem  abstracten  Intellect  nicht  einmal  Das, 
was  uns  am  nächsten  liegt,  nämlich  uns  selbst,  ganz 
zu  erfassen  vermögen,  und  daher  diesen  Intellect  auch 
hierin  zur  Resignation  verweisen  müssen.  —  Glaubt 
man  aber  jene  immanenten  Schranken  des  Intellects 
übersprungen  zu  haben,  wie  Schopenhauer,  dann  geräth 
man  in's  Faseln,  dann  denkt  man  Undenkbares,  dann 
begeht  man  die  {xerdßaatg  elg  alXo  ysvog  im  eminenten 
Sinne,  was  um  so  unverzeihlicher  ist,  wenn  man,  wie 
er,  die  Philosophie  für  eine  „Wissenschaft  in  Begriffen" 


*)  Schiller's  Epigramm:  .die  Sprache".  S.  W.  Band  I.  pag.  382. 


202  Fünftes  Kapitel. 


erklärt  hat.  Denn  der  Wille  Schopenhauers  ist  ein  aus 
der  individuellsten  Thatsache  durch  unberechtigte  Ge- 
dankenoperationen zu  Recht  gebrachtes  irrationales 
Verstandesgespenst.  Deshalb  sagt  auch  Schopenhauer 
zuweilen,  er  „lasse  sich  eigentlich  nicht  erkennen." 
Ja,  ja !  Wir  kennen  das.  Dem  Weltgeist  hat  noch  Nie- 
mand in  die  Karten  geguckt.  Sogar  Schelling 
nicht.  — 

Eine  wahrhaft  bedeutende  Qedankenthat  haben 
wir  Schopenhauer  wirklich  zu  verdanken,  eine  That, 
die  ihn  zum  großen  Denker  macht  und  die  seiner 
Lehre  nachhaltige  Wirkung  in  gewisser  Hinsicht  sichert: 
nämlich  die,  daß  er,  als  die  Philosophie  meinte  auf  den 
Flügeln  der  Abstraction  aus  den  Schranken  irdischer, 
menschlicher  Individualität  sich  hinausgeschwungen  zu 
haben,  auf  die  Wichtigkeit  der  unmittelbaren, 
sinnlichen  Anschauung  hinwies,  ohne  welche 
202  alle  Abstraction  Hirngespinnst,  Seifenblase  —  li  Nichts 
ist.  Daher  ist  auch  seine  Kunstphilosophie,  die  er  im 
dritten  Buche  des  ersten  Bandes  der  Welt  als  Wille 
und  Vorstellung  mittheilt,  das  Glänzendste,  was  er  ge- 
schrieben hat.  Hier  leistet  die  Sprache  (die  doch  mit 
wenigen  Ausnahmen  nur  Ausdruck  des  abstracten 
Vorstellens  ist)  ihr  Aeußerstes  in  dem  Vermögen,  sich 
an  das  Unsagbare,  rein  Unmittelbare  anzuschmiegen, 
dem  Individuellen  nahe  zu  kommen.  Die  Darstellung 
erhebt  sich  hier  an  manchen  Stellen  zu  ergreifender, 
hinreißender  Wahrheit,  zu  reiner,  ungetrübter  Schön- 
heit. — 

So  bildet  endlich  sein  System  unter  den  übrigen 
nachkantischen  den  entgegengesetzten  Pol  der  He  gel- 
schen Philosophie.  Jeder  der  beiden  Antipoden  hat 
eine  von  den  Hauptideen  der  Kantischen  Lehre  zum 
äußersten  Extrem,  zur  Carricatur  ausgebildet.  —  Die 
theoretische  Vernunft,  welche  in  der  transscen- 
dentalen   Einheit  des   Selbstbewußtseins  gipfelt  und    a 


Die  transscendente  Richtung.  203 

priori  die  allgemeinsten  Formen  alles  Vorstellens  ent- 
deckt, konnte  als  Autonomie  des  Denkens  er- 
scheinen, wie  die  praktische  Vernunft  im  sitt- 
lichen Pflichtgebote  als  Autonomie  des  Willens 
auftrat.  Aber  es  liegt  nahe,  den  Begriff  der  Autono- 
mie, oder  Selbständigkeit,  zu  dem  der  Auto- 
kratie, oder  Allmacht,  zu  steigern.  So  finden  wir 
in  Hegel  die  Autokratie  des  Denkens,  in 
Schopenhauer  die  Autokratie  des  Willens. 
Beide  stehen  einander  fremd  gegenüber ;  zwischen  ihnen 
ist  Feindschaft  gesetzt.  Aber  beide  leiden  auch  an  ein- 
seitiger Selbstüberhebung,  vß^ig;  und  so  fallen  sie  beide 
in  tragisches  Schicksal.*)  —  Während  die  Hegeische 
Philosophie  mit  stolzer  Selbstverblendung  sich  im 
Aether  ||  des  absoluten  Denkens  über  die  Häupter  der  203 
sterblichen  Menschen  weit  erhoben  zu  haben  meint,  und 
dabei  vergißt,  daß  alle  Abstraction  erst  von  der  An- 
schauung ihre  Bedeutung  erhält,  daß  sie  Product  eines 
menschlichen  Individui  ist;  —  eilt  Schopenhauer 
(um  mit  Piatos  herrlichem  Mythos  zu  reden)**)  —  auf 
geflügeltem  Gespann  durch  den  Kosmos,  die  gestalt- 
lose Wesenheit  der  Dinge  zu  schauen  {enrriQcofisvog 
fisrewQonoQsl  xal  nnavTa  tov  xoüfxov  dioixst),  und,  indem  er 
die  Zügel  schießen  läßt,  wird  das  bessere  Roß  (der 
d^vfiog)  durch  das  schlimmere  (die  intifvfiia,  Begierde) 
mit  hinfortgerissen,  und  Roß  und  Lenker  stürzen  von 
der  Sonnenbahn  hinab  in  die  Nacht  des  Nichts,  — 
die  Verneinung  des  Willens  zum  Leben. 
Wir  sind  am  Ende.  Unser  Urtheil  lautet: 
Schopenhauer  hängt  von  der  Kanti- 
schen Philosophie  ab.    Er  hat  das  „Ding  an 


*)  —  fj.riö'  vßQiy  og)eX'/.e, 

vßgtg  yäg  ze  xaxfi  deikm  ßgotw. 
Hesiodi  i'gya  xal  rmegai.  196. 
**)  Platon.  Ptedr.  244.  ff. 


204  Fünftes  Kapitel. 


sich''  gekannt,  auch  gewußt,  daß  es  durch 
fehlerhafte  Ableitung  eingeführt  war. 
Trotzdem  hat  er  es,  statt  es  zu  verwerfen, 
beibehalten,  also  die  Kantische  Lehre  in 
diesem  Punkte  nicht  corrigirt. 

Also     muß     auf     Kant     zurückgegangen 
w  e  r  d  e  n.  y 


Schluß.  204 

Da  die  Metaphysik  vor  Kurzem  unbeerbt  abg;ieng, 
Werden  die  „Dinge  an  sich"  jetzo  sub  hasta  verkauft. 

Wenn  diese  Einladung  heute  erfolgte,  so  glaube 
ich  wohl,  daß  es  am  Subhastationstermine  sehr  an  Käu- 
fern mangeln  würde.  Denn  der  ausgebotene  Verkaufs- 
artikel hat  nach  dem  Gesagten  nicht  nur  seinen  reellen, 
sondern  auch  selbst  allen  ideellen  Werth  verloren,  und 
überdies  seinen  bisherigen  Besitzern  nur  Verlegenheiten 
bereitet.  Er  wird  also  wohl  zu  anderem  verrosteten, 
unbrauchbaren  Geräth  in  die  Polterkammer  geworfen 
werden.  Wunderbar  ist  es  nur,  daß  die  Untauglichkeit 
desselben  bisher  so  verborgen  geblieben,  oder  vielmehr, 
obgleich  offen  daliegend,  durch  den  historischen  Nim- 
bus seiner  Abkunft  paralysirt  worden  ist.  Nun,  wir 
hoffen,  daß  durch  unser  beharrliches  und  oft  wieder- 
kehrendes Ceterum  censeo  künftiger  Schaden  verhütet 
sein  wird. 

Fortlage  bemerkt  in  seiner  Geschichte  der  neu- 
sten Philosophie:  „Eine  vergleichende  Anatomie  der 
„philosophischen  Systeme  wäre  kein  leerer  und  phan- 
„tastischer  Gedanke,  sondern  in  der  Natur  der  Dinge 
„vollkommen  begründet."  *)  Vortrefflich !  —  Wir  nun 
haben  an  den  nachkantischen  eine  genaue  Section  vor- 
genommen und  bei  der,  nach  einer  strengen,  wissen- 
schaftlichen Norm  angestellten  Vergleichung  gefunden, 
daß   sie  alle  an   demselben   Herzfehler  gelitten  haben 


*)  Genetische  Geschichte  der  Philosophie  seit  Kant,  von  C.  Fort- 
lage. Leipzig  1852.  pag.  478. 


206  Schluß. 

und  gestorben  sind.  —  Das  „Ding  an  sich"  spukte  11 
205  in  den  Köpfen  aller  Epigonen.  Den  Idealisten 
war  es  „absolutes  Ich,  Weltich,  Absolutum,  absoluter 
Geist"  und  wurde  durch  intellectuelle  Anschauung  er- 
kannt oder  entwickelte  sich  in  dialektischen  Trichoto- 
mieen  ;  bei  Herbart  erschien  es  in  einer  Vielheit  von 
raumlosen  Realen,  und  wurde  durch  Bearbeitung  der  Er- 
fahrungsbegriffe gefunden;  bei  Fries  war  es  Object 
eines  „speculativen  Glaubens";  bei  Schopenhauer 
der  transscendente  Wille,  für  den  es  eine  ganz  aparte 
Erkenntnißart  gibt ;  —  in  der  That  endlich  ist  es  ein 
dogmatisches  Hirngespinnst,  welches  nicht  einmal  ein 
Scheindasein  im  Worte  zu  führen  berechtigt  ist.  Von 
Kant  war  es  ursprünglich  als  transscendente  Vogel- 
scheuche benutzt  worden,  um  den  naschhaften  Intellect 
von  den  intelligibelen  Früchten  einer  außerräumlichen 
und  außerzeitlichen  Welt  abzuschrecken;  —  eine  Vor- 
sorge, die  nicht  nur  überflüssig  war,  da  es  sich  hier 
für  den  gesunden  Verstand  um  Trauben  handelte,  die 
er  gar  nicht  einmal  sauer  zu  schelten  braucht,  weil  sie 
gar  nichts  sind,  selbst  nicht,  wie  die  des  Apelles,  ge- 
malt ;  —  sondern  noch  obendrein  schädlich,  weil  man 
die  Warnungstafel  für  den  Wegweiser  in's  irrationale 
Jenseits  hielt.  Also  weg!  —  Das  ist  ein  fremder  Trop- 
fen Bluts  im  Kriticismus. 

Aber  wir  haben  uns  nicht  damit  begnügt,  nur  die 
Verwerflichkeit  jenes  Unbegriffs  darzuthun,  sondern  es 
sind  auch  die  Keime  nachgewiesen  worden,  aus  denen 
er  erwachsen  konnte.  Er  war  objectiv  die  letzte 
Consequenz  jenes  Suchens  nach  dem  Urgründe,  das  von 
Kant  mit  Recht  als  ein  müßiges  aus  dem  Intellect  ver- 
wiesen, dann  aber  irrthümlich  als  außerintellectuelle 
Position  einer  transscendenten  Bedingung  der  empiri- 
schen Welt  wieder  eingeschmuggelt  worden  war.  Er 
war  subjectiv  der  Irrthum  des  abstracten  Intellects, 
da,  wo  die  immanenten  Schranken  alles  Erkennens 


Schluß.  207 

und  Vorstellens,  das  Gefühl  des  Beschränktseins  II  in  206 
uns  hervorrufen,  nach  einem  transscendenten 
Grunde  dieses  Beschränktseins  zu  fragen,  und  sich  eine 
Scheinantwort  zu  geben,  während  eigentlich  nicht  ein- 
mal die  Frage  gestellt  werden  durfte,  sondern  das  hier 
zu  Grund  liegende  Gefühl  auf  eine  ganz  andere  Weise 
befriedigt  wurde.  Thatsache  bleibt  diese  immanente  Be- 
schränkung des  Intellects  und  das  damit  verknüpfte  Ge- 
fühl der  Abhängigkeit  immer ;  es  ist  ein  Mißverständniß, 
eine  Mißdeutung,  wenn  man  das  Gefühlte  abstract  zu 
fassen  sucht.  Dann  wird  man  transscendent.  In  dieser 
Hinsicht  hat  jener  Vers  von  H  a  1 1  e  r  eine  gewisse  Be- 
rühmtheit erlangt: 

In's  Innere  der  Natur  dringt  kein  erschaff ner  Geist; 
Glückselig,  wem  sie  nur  die  äußre  Schale  weist. 

Kant,  —  der  echte  Kant  antwortet  hierauf:  „Ins 
„Innere  der  Natur  dringt  Beobachtung  und  Zergliede- 
„rung  der  Objecte,  und  man  kann  nicht  wissen,  wie 
„weit  dieses  mit  der  Zeit  gehen  werde";*)  aber  der 
inconsequente  fügt  hinzu,  daß,  wenn  man  unter 
dem  „Inneren"  die  „Dinge  an  sich"  verstehe,  jener 
Vers  allerdings  Recht  habe ;  dann  sei  aber  auch  die 
Frage  nach  ihm  ganz  unbillig  und  unvernünftig.  Darauf 
erwiedert  wiederum  Goethe: 

Natur  hat  weder  Kern  noch  Schale; 
Alles  ist  sie  mit  einem  Male.**) 

Und  Hegel  setzt  hinzu:  „Es  hätte  heißen  müssen, 
„eben  dann,  wenn  dem  Geiste  das  Wesen  der  Natur 
„als  Inneres  bestimmt  ist,  weiß  er  nur  die  äußere 
„Schale".***)  Aber  freilich  befand  sich  Hegel,  wie 
wir  wissen,  selbst  in  jenem  vermeintlichen  transscenden- 

*)  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft,  pag.  278. 
**)  Goethe's  sämmtl.  W.  Band  IL,  pag.  304. 
***)  Hegel's  Encyclopädie  pag.  140. 


208  Schluß. 

ten  Inneren,  in  dem  „absoluten  Wissen",  welches  „die 
207  Zeit  II  getilgt"  hat.  — *)  Dieses  Alles  beweist  uns  nur, 
daß  bis  jetzt  Niemand  sich  klar  gemacht  hat,  wie  denn 
die  kritische  Philosophie  in  consequenter  Entwick- 
lung sich  ausgenommen  haben  würde.  Sie,  deren  erste, 
bedeutungsvolle  Arbeit  es  war,  die  ewigen,  immanenten 
Bedingungen  und  Formen  des  Intellects  mit  überwälti- 
gender Klarheit,  Tiefe  und  Kraft  des  Gedankens  nach- 
zuweisen, konnte,  ihren  Principien  getreu,  nimmer  trans- 
scendent  werden.  Ihr  Resultat  wäre  gewesen:  „Der 
Intellect  kann  sich  nur  in  seinen  Schranken,  d.  i.  im 
Felde  der  äußeren  und  inneren  Erfahrung,  bewegen, 
und  es  ist  unvernünftig,  ja  im  Grunde  unmöglich,  von 
irgend  etwas  Anderem  zu  reden  ;  denn  in  der  That  fin- 
den wir  in  allen  Vorstellungen,  seien  es  auch  die  fein- 
sten, sublimsten,  abstractesten,  immer  Raum,  Zeit  und 
Kategorieen  wieder,  wie  denn  das  nicht  anders  sein 
kann.  Der  wahrhaft  Vernünftige  und  Besonnene,  der 
jene  ewigen,  immanenten  Bedingungen  des  Erkennens 
sich  als  solche  zum  klaren  Bewußtsein  gebracht  hat, 
wird  demnach  hier  nichts  Außerräumliches  und  Außer- 
zeitliches zu  denken,  d.  i.  Unvorstellbares  vorzustellen, 
Unmögliches  möglich  zu  machen  sich  einbilden,  sondern, 
im  Gegensatze  zu  aller  sich  selbst  und  Andere  täuschen- 
den, transscendenten  Scheinphilosophie,  jenes  resignirte, 
aber  beruhigende  Geständniß  ablegen,  um  dessentwillen 
Sokrates  von  dem  delphischen  Gotte  für  den  Weise- 
sten der  Hellenen  erklärt  ward:  „daß  er  wenigstens  in 
„sofern  weiser  denn  die  Anderen  sei,  als  er  nicht  etwas 
„zu  wissen  vorgebe,  was  er  nicht  wisse,  und  —  setzen 
„wir  hinzu  —  was  überhaupt  Niemand  wissen  kann." 
[eoixa  yovv  tovtov  ye  dfiixQw  rivi  avrw  tovtcu  aoifwtSQoi;  etvai, 
oxi  a  iii]  olöa  ovSe  citofim  iiöivat.  Piaton.  Apolog.  Socratis. 
21.]  Aber  —  es  gibt  ein  Gebiet  im  menschlichen  Geiste, 


*)  Siehe  oben  pag.  109. 


Schluß.  209 

wohin  der  abstracte  ||  Intellect  nicht  reicht,  wo  das  208 
schlechthin   Individuelle  herrscht,   während   er  nur  das 
Universelle  zu   erfassen  versteht,  und  dort  finden   wir 
vielleicht  Aufschluß  über  Manches,  was  wir  in  dun*klen, 
irrationalen  Fernen  vergeblich  suchen  würden.  — 

Und  wozu  sollen  wir  auch  in  einem  unmög- 
lichen Gebiete  Probleme  suchen,  da  uns  auf  dem 
wirklichen  zahllose  fesseln?  Immanente  Pro- 
bleme finden  sich  überall  und  vermehren  sich  fort- 
während, mit  jedem  Schritte,  den  die  Forschung  der 
Erkenntniß  gewinnt.  Je  größer  der  Inhalt,  desto  weiter 
die  Grenze.  Und  das  gilt  nicht  etwa  bloß  für  die  Em- 
pirie; nein,  für  die  Speculation,  die  Philoso- 
phie. Wozu  wollen  wir  also  weiter  schweifen,  da  das 
Gute  so  nahe  liegt? 

Die  Wissenschaft  hat  nach  Raum  und  Zeit,  den 
beiden  reinen  Formen  alles  Anschauens,  die  Welt  un- 
endlich über  den  beschränkten  Horizont  der  gewöhn- 
lichen Meinung  ausgedehnt,  und  damit  den  Menschen 
zugleich  verkleinert  und  erhöht.  Wenn  mit  der  Ge-> 
schichte  unseres  Planeten  auch  die  Vergangenheit  des 
Menschengeschlechts  sich  proportional  in  ungeahnte 
Weiten  hinausgestreckt  hat,  weit  über  die  Spanne  Zeit, 
die  man  sich  nach  den  üblichen  Traditionen  vorzustellen 
pflegt ;  so  erscheint  hiermit  allerdings  der  Weg  zu  der 
gegenwärtigen  geistigen  Culturstufe  viel  länger  und 
mühsamer.  Demnach  wird  zunächst  unsere  egoisti- 
sche Meinung  von  der  Leistungsfähigkeit  des  Ge- 
schlechts „Mensch"  fallen,  unser  staunendes  Ur- 
theil  über  die  unermeßliche  Größe  des  Weltalls 
steigen.  —  Wenn  ferner  unsere  Mutter  Erde,  das 
vermeintliche  Centrum  des  Weltraumes,  auf  eine  der 
zahllosen  Peripherieen  um  zahllose  Mittelpuncte  ver- 
setzt worden  ist,  wenn  damit  unsere  Aussicht  in  die 
unerschöpfliche  Fülle  entdeckter  und  unentdeckter Welt- 
systeme  sich   ganz   enorm   erweitert   hat,   —   zu   welch 

Neudrucke:    Lieb  mann,  Kant.  14 


210  Schluß. 

verschwindender  Kleinheit  muß  da  nicht  das  Menschen- 
209  geschlecht,  oder  gar  das  einzelne,  armselige  II  Indivi- 
duum sich  degradirt  fühlen !  —  Und  doch !  Wem  ver- 
danken diese  entdeckten  und  geahnten  Unendlichkeiten 
das  Prädicat:  Dasein?  Den  Formen  unseres  Intel- 
lects,  der  Thätigkeit,  wunderbaren  Feinheit,  Schärfe  und 
Kraft  unseres  Geistes.  Oder  wem  sonst?  —  Wo  liegen 
sie?  In  Raum  und  Zeit,  den  Formen  alles  Anschauens 
und  aller  Anschauung,  in  denen  immer  Subject  und 
Object  vereinigt,  die  ohne  diese  beiden  Correlate 
bedeutungslos  sind.  —  Muß  dadurch  unsere  Achtung 
vor  uns  selbst  nicht  unglaublich  hoch  steigen?  —  Und 
wie  vereinigen  sich  diese  beiden  scheinbar  entgegen- 
gesetzten Bedeutungen  unseres  Ich  im  Vergleiche  zur 
Welt  mit  einander? 

Hier  sind  immanente  Probleme!  Probleme  für 
eine  Dialektik,  die  ihren  Gegenstand  nicht  im  irratio- 
nalen Gebiete  zu  suchen  braucht. 

Aber  steigen  wir  hinab  aus  jenen  extensiven  Un- 
endlichkeiten in  die  Umgebung,  die  unser  sinnlicher 
Blick  überschaut.  Geh'  nur  hinaus  und  schaue  Dich  um ! 
Da  draußen,  im  blühenden  Schooße  der  lebendigen 
Natur,  dort  schlafen  tausend  ungelöste  Räthsel ;  dort 
harrt  Alles,  seine  Fragen  an  Dich  zu  richten.  —  Das 
lebendige,  naive  Grün  des  Waldes,  der  nach  langem 
Winterschlafe  zu  neuem  Schaffen  erwacht  ist-;  das  Rau- 
schen des  Wildbaches,  der  von  jäher  Felsenzinne  sich 
herabstürzt  und  durch  uraltes  Gestein  schäumend  hin- 
durch sich  den  Pfad  erkämpft,  —  ist  es  erklärt?  Hilft 
es  meiner  Erkenntniß  von  der  Stelle,  wenn  ich  jenes 
Grün  auf  Undulationen  eines  Aethers,  den  ich  nicht 
kenne,  dieses  Rauschen  auf  Schwingungen  der  Luft, 
die  ich  nicht  wahrnehme,  —  glücklich  zurückgeführt 
habe?  —  Diese  physikalischen  Theorieen  sind  ja  un- 
zweifelhaft sehr  nützlich,  insofern  sie  es  ermöglichen, 
daß  das  in  der  Empfindung  unmittelbar  bloß  quali- 


Schluß.  211 

tativ  Vorgestellte  der  mathematischen  Messung  und 
Berechnung,  d.i.  quantitativer  Erkenntniß,  unter- 
worfen werden  kann ;  damit  fördern  sie  aber  auch  nur 
die  Einsicht  in  Das,  was  ||  meß-  und  berechenbar  ist,  210 
d.  h.  in  die  Form,  das  „Wie",  während  sie  das  „Was" 
so  wenig  durchschauen,  daß  sie  vielmehr  fortwährend 
mit  einer  unbekannten  Größe,  einem  X  rechnen.  — 
Nein !  Diese  bunten  Monogramme  der  lebendigen  Natur 
spotten  in  sprachloser  Objectivität  meines  abstracten 
Intellects.  Sie  sind  und  bleiben  für  ihn  fremd,  räthsel- 
haft !  —  Und  doch  wiederum,  —  der  frische  Maien- 
morgen, der  dich  mit  zahllosen,  duftenden  Blühten 
liebevoll  umfängt  und  aus  der  Stimme  der  Nachtigall 
so  vernehmbar  innig  zu  dir  spricht,  ist  er  dir  fremd, 
unverständlich  ?  Weiß  er  nicht  dein  Herz  im  Tiefsten 
zu  liebkosen?  —  Und  dann,  —  nach  schwüler  Mittags- 
hitze das  schwer  und  drohend  heranziehende  Gewitter, 
das  erst  mit  fernem  Wetterleuchten,  mit  Sturm  und 
rauschenden  Regenströmen  sich  ankündigt  und  einführt, 
jetzt  mit  grell  zuckendem  Blitze  dich  blendet,  mit  furcht- 
barem Donnerschlag  und  lang  nachhallendem  Grollen 
dich  durchschüttert,  läßt  es  dich  unberührt?  Erfüllt 
es  dich  nicht  ganz  mit  dem  Schauer  seiner  mächtigen 
Gegenwart?  —  Gehen  alle  diese  freundlichen  und  feind- 
lichen Phänomene  der  Natur  an  Sinn  und  Seele  kalt 
vorüber,  wie  an  dem  theilnahmlosen  Spiegel  ?  Nehmen 
wir  hier  bloß  die  Qualitäten:  hell,  dunkel,  grün, 
schwarz,  laut,  leise  wahr?  Sind  wir  hier  nur  miroir 
actif,  —  oder  betrachten  wir  alles  Dieses  mit  jenem 
klaren  und  kalten  Blicke,  der  das  subjective  Ideal  des 
Mathematikers  ist,  wie  der  ausdehnungslose  Punkt  das 
objective?  Oder  gar  —  ist  uns  geholfen,  wenn  wir 
diesen  lebendig  uns  ansprechenden  Gestaltungen  und 
Ereignissen  ein  undenkbares  „Ding  an  sich",  ein  er- 
träumtes „absolutes  Ich",  eine  Vielheit  von  färb-  und 
gestalt-losen   Realen,  überhaupt  irgend    eines,   von   den 

14* 


212  Schluß. 

krankhaften  Erzeugnissen  des  künstlich  herausgerissenen 
abstracten  Intellects  zu  Grunde  legen?  —  Nein;  es  ist 
uns  Alles  dieses  nicht  fremd !  Wir  fühlen  uns  von  ihm 
211  angesprochen,  selbst  als  einen  Theil  der  ||  Natur,  als 
Erdgeboren  (y>;yev%,  yiyag).  —  Dann  aber  wiederum  die 
klare  Einsicht:  Was  wäre  die  Maienblühte  und  der  aus 
schwarzer  Wolke  zuckende  Blitz,  was  der  reizvolle 
Schlag  der  Nachtigall  und  das  schwere  Grollen  des 
Donners  —  ohne  mein  sehendes  Auge,  ohne  mein 
hörendes  Ohr,  ohne  das  Licht  meines  Bewußt- 
seins? Nichts  wären  sie!  Es  gehört  Geist,  Erkennt- 
niß  dazu,  um  ihnen  Existenz  zu  verleihen  ;  Welt  und 
Geist,  Subject  und  Object  sind  unzertrennliche  Fac- 
toren,  nothwendige  Correlata  in  der  Thatsache.  So 
sehen  wir  uns  als  geistiges  Complement  der  räthsel- 
haften  Natur  —  als  Wesen,  mit  göttlicher  Erkenntniß 
begabt,  denkend,  und  besonnen  (fitj^ofjiai,,  Ugofirjd^evg). 
—  Da  sind  Probleme,  immanente  Probleme,  die  sich 
zugipfeln  zu  dem  großen  Räthsel,  wie  wir  als  Mittel- 
reich der  Natur  uns  von  ihr  abhängig  fühlen  und  sie 
von  uns  bedingt  sehen ;  —  ein  Geschlecht  promethe- 
ischer  Giganten.  Das  ist  es,  was  von  je  im  Philoso- 
phen das  d^avind^eiv  hervorgerufen,  im  Dichter  den  schaffen- 
den Genius  geweckt  hat,  was  P  i  n  d  a r  uns  sagt  in  den  Worten : 

Ey   av^QWv,   SP   ^eöip   yivo?.   ix 

Micig  de  nv£Ofj.Sf 

MazQog  ayL(pöxBQOi. 

JLEiQyet  &s  naace  xexQifiiva 

^VUCtf^ig.     (OC    TO    fJLEV    ov&sy, 

0  (fs  XfilxEog  ciaqjctXeg  alel  Mog 

MivEl    OVQKVOg.    uXXc't     TL    nQOag)EQO^EV 

EfMTictv,    rj   fj.Eyau   vöov,    ij    — 

TOI   g)vaiu,    a&avazoig. 
Kai   TiEQ   ig)«fiEQittP 
Ovx   sldoTsg   ovds   fiexa 
NvxTag   afjLUE   nöxfxog   «v  — 

Tiy     eyQaxpE   dgccfislv  tiotl    aTÜd-ftaf.*)  —  || 

*)  Pindar.  Nem.  VI.,  1—13. 


Schluß.  213 

Doch   still!    Dieser   dithyrambische   Schwung   paßt 212 
nicht  für  den  Philosophen.    So  fühlt  nur  Der,  der  erst 
Philosoph   werden   will,   weil   ihm    dies   die   Welt   und 
sein  eigenes  Ich  aufgibt.  — 

Hier  sind  wirkliche  Probleme,  die,  weil  sie 
innerhalb  unserer  Erkenntnißformen  liegen,  zugleich 
möglich  und  zugleich  nothwendig  sind,  Da  sie  uns 
fesseln,  da  wir  mit  ihnen  uns  auseinandersetzen  müs- 
sen, —  was  soll  uns  doch  eine  transscendente 
Dialektik,  die  sich  Schwierigkeiten  schafft,  wo  keine 
sind,  und  Räthsel  löst,  die  sie  selbst  erfunden  hat? 

Ein  Hauptpunkt  ist  die  Fixirung  des  Verhältnisses 
zwischen  abstracter  und  unmittelbarer  Erkenntniß.  Wenn 
man  unter  Wissen,  die  abstracte  und  allgemeine  Ge- 
wißheit, unter  Kennen,  die  concrete,  individuelle  ver- 
steht, so  kennt  man  zwar  Alles,  was  man  weiß, 
nicht  aber  weiß  man  Alles,  was  man  kennt.  Daß 
bei  weitem  nicht  Alles  abstract  zu  erfassen  ist,  sehen 
wir  ja  an  uns  selbst,  am  eigenen  Ich.  Wie  vieles  gibt 
es  in  uns,  von  dem  wir  sagen  müssen,  wir  kennen 
es,  wir  wissen  davon,  aber  wir  wissen  nicht,  was  es 
ist.  Lust  und  Schmerz  kennt  Jeder;  aber  er  vermag 
sich  durchaus  keinen  Begriff  davon  zu  machen.  Wer 
sie  nie  gefühlt  hätte,  dem  würde  man  sie  nimmer  ein- 
demonstriren.  Wir  können  ja  wohl,  gleich  Spino- 
za, die  Gefühle  und  Leidenschaften  des  Menschen  wie 
Linien,  Flächen  und  Körper  betrachten;*)  wir  können 
es,  —  ja ;  aber  was  nützte  es  uns  ?  Gar  nichts.  Sie 
sind  eben  keine  mathematischen  Figuren,  die  nur 
Allgemeines  darstellen  ;  sie  sind  schlechthin  Individu- 
elles, werden  sehr  wohl  gekannt,  aber  durchaus  nicht 
begriffen.     Deshalb   sagt  auch    ||    Platon  h  fisv  äQa2i3 


*)  Spinoza.  Ethic.  III.  praefatio:  >  Humanas  actiones,  atque  appe- 
titus  considerabo  perinde,  ac  si  quaestio  de  lineis,  planis,  aut  de  cor- 
poribus  esset.« 


214  Schluß. 

ToTg  nad^Tjfiaifiv  ovx  evi  inioriqfi'ri*')    In  diesem  Sinne  auch 
gilt  das  Horazische: 

Nee  scire  fas  est  omnia 
oder,  wie  Dr.  Martin  Luther  sagt: 

Was  wir  nicht  wissen  sollen, 

Das  sollen  wir  nicht  wissen  wollen. 

Hier  also  eine  Fundgrube  von  immanenten  Pro- 
blemen ! 

Aber  um  sie  mit  fester  Hand  erfassen,  mit  siche- 
rem Blicke  betrachten  zu  können,  müssen  wir  uns  selbst 
erst  auf  festen  Grund  stellen,  auf  daß  wir  nicht  unser 
Schwanken  für  das  ihrige  halten.  Und  deshalb  allein 
haben  wir  es  immer  und  immer  wiederholt:  „Es  muß 
auf  Kant  zurückgegangen  werden."  —  In  der  Kritik 
der  reinen  Vernunft  sind  für  die  Bestrebungen 
ganzer  Jahrhunderte  Normen  von  gleicher  Wichtigkeit 
aufgestellt,  wie  im  O  r  g  a  n  o  n  des  Aristoteles.  Und 
in  beiden  finden  wir  Vieles,  was  schwerlich  je  Wird 
umgestoßen  werden  können.  Freilich  will  der  große 
Kritiker,  der  Feind  alles  unselbständigen  Dogma- 
tismus, auch  kritisch  betrachtet  sein,  nicht  dogma- 
tisch. Freilich  dürfen  wir  uns  nicht  scheuen,  ihn  da 
anzugreifen,  wo  er  nach  unserem  besten  Wissen  Un- 
recht hat ;  müssen  wir  ihn  nach  seinem  Geiste  ver- 
stehen, nicht  an  seinem  Buchstaben  hängen;  und  so 
Wird  denn  Manches  zu  schärfen,  zu  sichten,  zu  ergänzen 
sein,  z.  B.  der  Begriff  „a  priori,"  die  Kategorieenlehre, 
die  Genesis  der  Anschauung  u.  s.  w.  Das  Echte  wird 
sich  schon  am  Probirstein  der  zur  Ueberzeugung  ge- 
reiften Meinung  erweisen ;  und  das  Unechte  kann  nicht 
214  früh  genug  verworfen  wer- 1|  den.  Den  kleinen  ephe- 
meren Kopf  mag  der  Nachweis  seiner  Fehler  nicht  nur 


*)  Piaton.  Theaetet.  186. 


Schluß.  215 

kränken,  sondern  auch  wirklich  verdunkeln;  aber  Kant 
gehört  zu  jenen  einzigen,  den  Horizont  ihres  Zeitalters 
weit  überstrahlenden  Geistern,  deren  Irrthümer  so  wenig 
der  Apologie  bedürfen,  als  ihre  Verdienste  des  Pane- 
gyrikus.  — 

Und  nun  noch  einmal :  Was  die  Berichtigungen  an- 
langt, die  Zeitgenossen  ihren  Meinungen  gegenseitig  an- 
gedeihen  lassen  müssen,  —  so  mögen  sie  scharf,  tref- 
fend, rücksichtslos  sein,  aber  ohne  Haß,  Neid  und  Gift. 
Nehmen  wir  uns  ein  ewig  warnendes  Beispiel  an  Arthur 
Schopenhauer,   der  nicht  allein  von  der,  unter  gesitte- 
ten Leuten  üblichen,  Courtoisie  keine  Ahnung  hat,  son^ 
dern  sogar,  um  sich  als  genialen  Heißsporn  zu  zeigen, 
kühn  jene   Fesseln  durchbricht,  welche  von  der  gebil-^ 
deten  Gesellschaft  „die  Schranken  des  Anstandes"  ge- 
nannt werden.  Wie  wohlthätig  klingt  dagegen  das  Wort 
eines    anderen    Philosophen,    der   wahrlich    an    Schärfe 
des  Denkens  und  Umfang  des  Wissens,  wie  an  attischer 
Feinheit  ihm   Nichts   nachgibt,   das   Wort   Herbarlts: 
,Wir  treten  hinein  —  sagte  er  —  in    die    Werkstätte 
,eigentlicher  Wissenschaft.     Sie   ward   eröffnet,    ehe    es 
,eine  Gelehrsamkeit  gab.    In  ihr  wird  die  Arbeit  nicht 
,ruhen,  so  lange  das  Selbstgefühl  des  Geistes  dauert." 
„Ihr    fragt    nach    dem    Werke    dieser   Werkstätte? 
, Schadenfroh  vielleicht,  wenn,  eilig,  jeder  Arbeiter  sein 
jProduct  vorwiese,   und  dann  der  Tadel  aller  übrigen 
,auf  jeden  zusammenträfe?  —  Nicht  also!    Unser 
, gemeinschaftliches  Werk  ist  das  Wachsen 
,in    der   Erkenntniß    der   Probleme,    welche 
,Natur    und    Bewußtsein,    Euch,    wie    Uns, 
jSeit    allen    Zeiten   vorlegten,    und    erneu- 
,ert   und   vermehrt  vorzulegen   nimmer   er- 
,niüden."*)  || 


*)  Herbart:    lieber    philosophisches    Studium.   II.   S.  W.    Bd.  L 
pag.  400. 


216  Schluß. 

215  Da  zeigt  sich  doch  jener  echte  esprit  de  corps, 
der  unter  den  Philosophen,  die  ja  ein  corps  d'esprit  sein 
wollen,  nicht  nur  wünschenswerth,  sondern  unbedingt 
nothwendig  ist. 

Spreche  jeder  seine  Ueberzeugung  aus  ;  aber  auch 
nur  sie ;  dann  ist  uns  geholfen.  Und  hier  ist  die 
meinige: 

Es  muß  auf  Kant  zurückgegangen 
we  r  de  n.  II 


Nachwort.  216 


Wenn  etwa  dem  geneigten  Leser  der  Mangel  einer 
Vorrede  aufgefallen  ist,  so  bitte  ich  ihn  dieses  Nachwort 
liicht  zu  überschlagen,  da  es  ihm  wohl  den  Ersatz  für 
jene  bieten  wird.  Ich  setze  die  Worte,  welche  ich  der 
vorstehenden  Abhandlung  als  Geleitschreiben  mitgeben 
möchte,  nicht  ohne  Grund  an  das  Ende.  Derartige 
Geleitschreiben  nämlich  sind  immer, ein  Versuch  des 
Schreibers,  zwischen  dem  Leser  und  dem  Gegenstande 
zu  vermitteln  ;  man  sucht  darin  seine  Waare,  wenn  auch 
nicht  aufzudrängen  und  aufzubettein,  so  doch  als  an- 
nehmbar und  beachtenswerth  darzustellen ;  der  Schrei- 
ber tritt  hier  persönlich  für  seine  Schrift  auf  und  legt 
sich  daher  in  dieser  Hinsicht  immer  eine  gewisse  Auto- 
rität bei,  weshalb  er  auch  gewöhnlich  seinen  Eigen- 
namen oder  doch  ein  Surrogat  desselben  daruntersetzt. 
Nun  ist  aber  bei  einer  ersten  Schrift  die  Autorität 
des  Verfassers  gegenüber  dem  Publicum,  begriffsmäßig 
und  meistens  auch  in  der  That,  eine  persönliche  Anti- 
cipation,  die  erst  durch  die  Wichtigkeit  und  den  Gehalt 
seiner  Gedanken  als  berechtigt  erscheinen  kann.  Ich 
habe  es  daher  vorgezogen,  den  Gegenstand  für  sich 
selbst  reden  zu  lassen,  ohne  meine  Autorität  zwischen 
den  Leser  und  ihn  zu  stellen ;  und  wer  dem  Inhalte 
dieser  Abhandlung  irgendwie  hat  beistimmen  oder  Ge- 
schmack abgewinnen  können,  der  wird  wohl  gern  auch 
dem,  nun  nicht  mehr  unbekannten,  Verfasser  einige  Se- 
cunden  länger  zuhören. 

Der  Inhalt  dieser  Abhandlung  hat  von  vornherein 
versprochen,  im  Wesentlichen  negativ  zu  sein.  Es  han- 
delte sich  nicht  sowohl  darum,  das  Fundament  zu  einem 
neuen  Gebäude  zu  legen,  als  11  das  eines  alten  zu  unter- 217 


218  Nachwort. 

suchen.  Hiebei  ist  es  denn  geschehen,  daß  einige  Pfeiler, 
welche  (dieser  von  diesem,  jener  von  jenem)  für  un- 
erschütterlich feststehend  gehalten  wurden,  als  auf 
unterminirtem  Boden  ruhend  für  unsicher  erklärt  wur- 
den. Der  Nachweis  hievon  ist,  wie  wohl  aus  der  Schrift 
selbst  hervorgegangen  sein  wird,  durchaus  nur  in  wohl- 
wollender Absicht  unternommen  und  nach  bestem  Wis- 
sen durchgeführt  worden,  nach  der  Sokratischen  Vor- 
schrift   ,,OTfc    TTUVTCOg    OV    TOVTO    OX€7TTE0V,     Og    TIC    ttVTO    sl/TEV, 

dXXd  noTSQov  dXrji^eg  Xiyerai,  ij  or."*)  Wie  hätte  es  auch 
sonst  der  Verfasser  wagen  können,  sich  gegen  so  viele 
berühmte  Denker  in  Opposition  zu  setzen  ?  Nur  seine 
innerste  Ueberzeugung  hat  ihn  zu  diesem  gefährlichen 
Unternehmen  veranlassen  können  ;  diese  Ueberzeugung 
hat  er  ganz  ausgesprochen,  aber  auch  nicht  mehr  als 
sie.  Daß  ihm  hiebei  im  Einzelnen  Irrthümer  unterge- 
laufen sind,  davon  kann  er  a  priori  überzeugt  sein  und 
wird  jedem,  der  ihn  auf  solche  aufmerksam  macht, 
Dank  wissen.  —  Was  aber  den  Hauptpunkt  anlangt, 
um  den  sich  diese  ganze  Abhandlung  dreht,  nämlich  die 
Kritik  und  Verwerfung  des  transscendenten  Unbegriffs 
der  Kantischen  Philosophie,  so  sieht  er  durchaus  nicht 
die  Möglichkeit  einer  Widerlegung  seiner  Ansicht.  Und 
da  nun  weiter  die  Abhängigkeit  alle  hier  in  Betracht 
gezogenen  nachkantischen  Philosophen  von  den  Kan- 
tischen Grundansichten  unbezweif elt  ist,  trotzdem 
aber  keiner  von  ihnen  die  hier  gegebene  Kritik  jenes 
Unbegriffs  unternommen  hat,  so  glaubt  er  den  Vortheil 
zu  haben,  daß  die  von  ihm  vertretene  Idee  nur  im 
Ganzen  angenommen  und  nur  in  gleichgültigen  Punk- 
ten corrigirt  werden  kann.  — 

Es  werden  nun  aber  auch,  außer  den  rein  kritischen 

Gedanken,   einige  selbständige,  positive,  philosophische 

218  Grundideen   des  ||  Verfassers   nicht   nur   zwischen,    son- 


*)  Platon.  Charmid.  161. 


Nachwort.  219 

dern  auch  in  den  Zeilen  hervorgeschaut  haben.  Das  ließ 
sich  nicht  vermeiden.  Um  aber  diese  der  Beurtheilung, 
v^^ie  es  sich  gehört,  nicht  zu  entziehen,  mögen  sie  hier 
am  Schlüsse  kurz  und  pointirt  zusammengefaßt  w^erden. 

Zunächst  was  das  Formale  anlangt,  so  habe  ich 
mich  durchweg  bemüht,  deutlich,  d.  h.  so  zu  reden,  daß 
der  Leser  durch  meine  Worte  selbst  gezwungen  würde, 
möglichst  genau  Dasselbe  sich  bei  ihnen  zu  denken, 
was  ich  gedacht  habe.  Denn  im  Gegensatze  zu  der^be- 
kannten  Ansicht  des  Fürsten  Talleyrand  halte  ich  die 
Sprache  für  das  Mittel,  seine  Gedanken,  nicht  zu  ver- 
hüllen, sondern  mitzutheilen.  Außerdem  habe  ich  mir 
für  alle  philosophischen  Untersuchungen  zwei  Maximen 
gebildet  und  (nach  Kräften)  befolgt,  welche  in  allge- 
meinster Fassung  so  lauten : 

„Du  sollst  der  Meinung  nie  mehr  überlassen, 
als  du  ihr  nicht  entziehen  zu  dürfen  gewiß  bist." 

Und:  „Du  sollst  dem  Wissen  nur  Das  gönnen, 
was  ihm  abzusprechen  die  Grundgesetze  des  Wissens 
selbst  verbieten."  — 

Das,  was  dem  Inhalte  nach  selbständige  Zuthat 
oder  Voraussetzung  des  Verfassers  ist,  läßt  sich  kurz 
und  bündig  so  aussprechen : 

„Das  berühmte  Cartesianische  Princip :  Cogito 
(ergo)  sum,  auf  welchem  der  ganze  moderne  Idealis- 
mus ruht,  ist  richtig,  aber  unvollständig ;  was  sich 
am  deutlichsten  zeigt,  wenn  man  die  passive  Form 
wählt,  also  schreibt:  Cogitatur  etc." 

Damit  ist  das  Ende  dieser  Untersuchung  zugleich 
der  Anfang  einer  neuen,  über  welche  ich  noch  Nichts 
verrathen  kann,  da  sie  noch  nicht  ausgeführt  ist.  In- 
dessen hoffe  ich  für  diese  durch  Widerlegungen  meiner 
Irrthümer  noch  Viel  zu  gewinnen. 

Tübingen,  den  30.  März  1865. 

Der  Verfasser. 


Anhang. 


Otto  Liebmann/) 


„Als  die  bis  dahin  herrsclienden  spekulativ-idealisti- 
schen Schulen,  durch  innere  Zwistigkeiten  aufgelöst,  in 
Verfall  gerieten,  als,  durch  den  Streit  der  bisherigen 
Olympier  verwirrt,  sowie  durch  harte  Enttäuschungen 
auf  praktisch-politischem  Gebiete  erheblich  verstimmt,  die 
öffentliche  Meinung  den  Glauben  an  die  Hegemonie 
der  Vernunft  eingebüßt  hatte,  als  die  zünftige  Gelehrten- 
welt, von  spekulativen  Phantasmagorien  ernüchtert,  sich 
einem  äußerst  prosaischen  Realitätshunger  hinzugeben 
begann,  als  die  Naturwissenschaft  auf  der  einen,  die 
Geschichtsforschung  auf  der  anderen  Seite  eine  weniger 
begeisternde,  aber  solide  und  nahrhafte  Kost  versprach, 
damals  sah  es  bei  uns  einen  Moment  lang  so  aus,  als 
sei  die  Philosophie  entweder  ganz  in  den  Boden  der 
SpezialWissenschaft  eingesickert,  oder  nur  noch  als  der 
Vergangenheit  überlassenes  Gut  historiographischer  Dar- 
stellung vorhanden." 

Mit  diesen  Worten  Liebmanns  könnte  man  fast  die 
Lage  der  Philosophie  im  Zeitpunkte  seiner  Geburt 
charakterisieren.    Kant  war  über,  Fichte  fast  ein  Menschen- 


1)  Die  folgenden  Ausführungen  lagen  zum  Teil  einer  Ansprache 
zu  Grunde,  die  der  Herausgeber  in  der  für  Otto  Liebmann  veran. 
stalteten  Gedächtnisfeier  der  philosophischen  Gesellschaft  zu  Jena 
hielt.  Die  wichtigsten  biographischen  Daten  verdankt  er  der  gütigen 
Mitteilung  der  Familie  des  teuren  Toten,  insbesondere  Frau  Geheim- 
rat Liebmann  in  Jena  und  Herrn  Professor  Liebmann  in  München, 
denen  er  dafür  auch  hier  nochmals  von  Herzen  seinen  aufrichtigen 
Dank  ausspricht. 


224  Anhang. 

alter  und  Hegel  beinahe  ein  Jahrzehnt  tot.  Schelling 
lebte  noch.  Aber  er  hatte  auch  längst  Baader  seinen 
Freund  genannt.  Dieser  Baader,  der  übrigens  in  seinem 
letzten  Lebensjahre  stand,  als  Liebmann  geboren  wurde, 
war  ja  gewiß  ein  begabter  Kopf.  Aber  er  hatte  sich 
durch  nachgiebige  Schwachheit  der  kathohschen  Kirche 
gegenüber  seine  intellektuellen  Fähigkeiten  verkümmern 
lassen.  Schellings  Beziehungen  zu  ihm  waren  aber  doch 
auch  für  Schelling  in  gewisser  Weise  symptomatisch. 
Hatte  sich  dieser  doch  einer  geistigen  Umgebung,  die 
auf  den  wahrhaftig  nicht  unfrommen  Jacobi  gerade- 
zu niederdrückend  wirkte,  so  gut  angepaßt,  daß  er  David 
Friedrich  Strauß  haßte  und  Bauer  die  Hundsstaupe  auf 
den  Hals  wünschte,  wenngleich,  wie  er  sich  taktvoll  ver- 
wahrte, nicht  im  physischen  Sinne.  Schopenhauer  aber 
lebte  noch  grollend  in  seiner  Verborgenheit. 

Die  Signatur  der  Zeit  war  also  recht  trübe,  als  Otto 
Liebmann  am  25.  Februar  1840,  also  jetzt  gerade  vor 
72  Jahren  zu  Löwenberg  in  Schlesien  als  Sohn  eines 
Kammergerichtsassessors  geboren  wurde.  Der  Mann, 
der  eine  neue  Bewegung  einleiten  sollte,  Kuno  Fischer, 
war  damals  noch  nicht  16  Jahre  alt.  Und  als  Liebmann 
selbst  die  phüosophische  Zeitlage  so  charakterisierte,  wie 
wir  es  mit  seinen  Worten  angegeben  haben,  da  konnte 
er  jenen  Zustand  schon  als  „vorübergegangen"  bezeichnen. 
Wenn  er  aber  auch  sagen  durfte:  „Wir  leben  heute  in 
einem  der  philosophisch  erregtesten  und  thätigsten  Zeit- 
alter", so  gebührte  ihm  selbst  bereits  an  dieser  Erregung 
und  Bewegung  ein  ganz  hervorragender  Anteil. 

Die  Jugend  Otto  Liebmanns  war  eine  recht  bewegte. 
Seinen  Geburtsort  verließ  er  im  Alter  von  6  Jahren,  als 
sein  Vater  nach  Perleberg  versetzt  wurde.  Hier  begann 
vermutlich  für  den  Knaben  der  Schulbesuch.^  Schon 
nach  zwei  Jahren  ging  sein  Vater  in  die  Frankfurter 
Nationalversammlung,  und  die  Familie  siedelte  nach 
Frankfurt  am  Main  über.    Noch  im  selben  Jahre  (1848) 


Anhang.  225 

verlor  Otto  seine  Mutter,  deren  frühen  Tod  er  sein  Leben 
lang  beklagte;  tiefbewegt  führte  er  als  gereifter  Mann 
noch  seinen  Sohn  an  ihr  Grab.  Bereits  1849  wurde 
Liebmanns  Vater  als  Stadtgerichtsrat  nach  Berlin  berufen. 
Hier  besuchte  Otto  das  Friedrich-Wilhelms-Gymnasium, 
dessen  damaliger  Direktor  Ranke  der  Bruder  unseres 
großen  Historikers  war.  Seine  letzte  Vorbildung  für  das 
Universitätsstudium  erhielt  er  in  Schulpforta  und  in  der 
alten  Schulstadt  Halle. 

Legte  die  eigentliche  Schulzeit  die  ersten  elementaren 
Grundlagen  zu  seiner  intellektuellen  Ausbildung,  so 
brachten  die  Ferien  Gelegenheit,  eine  andere  Anlage 
seines  Wesens  zu  fördern  und  seine  innige  Liebe  zur 
Kunst,  namentlich  zur  Dichtung  und  Musik,  zu  nähren. 
Es  war  besonders  Dresden,  das  ihm  vieles  bot.  Hier 
lebte  seine  Großmutter,  eine  einfache,  aber  sinnig  an- 
gelegte Frau.  Sie  lud  den  Enkel  in  seiner  Ferienzeit  zu 
sich  und  bot  ihm  vielfach  Gelegenheit  zum  Theater-  und 
Konzert-Besuch.  Ihr  verdankte  er  wohl  auch  seine  ersten 
Ausgaben  unserer  Klassiker.  In  seiner  Bibliothek  findet 
sich  noch  die  eine  mit  dem  Eintrag  des  Sechzehnjährigen : 
„Von  meiner  guten  Großmutter.  1856". 

Im  Jahre  1859  begann  Liebmann  sein  Studium. 
Diesem  widmete  er  sich  auf  den  Universitäten  Jena, 
Leipzig  und  Halle.  Seinen  exakt  gerichteten  Geist  zogen 
vor  allem  zunächst  die  Mathematik  und  die  Naturwissen- 
schaften an,  denen  er  ja  stets  seine  Liebe  und  Treue 
gehalten  hat.  Freilich  übten  die  mathematischen  Vor- 
lesungen, die  er  als  Student  hörte,  keine  besondere 
Wirkung  auf  ihn  aus.  Dagegen  hat  er  des  Physikers 
Snell,  des  Schwiegervaters  von  Ernst  Abbe,  stets  mit 
Dankbarkeit  gedacht,  trotzdem  er  dessen  schroffe  Ab- 
lehnung der  neuen  von  Darwin  ins  Leben  gerufenen 
Entwickelungslehre  wohl  schon  damals  nicht  zu  teilen 
vermochte.  In  mathematischer  Hinsicht  waren  aber  für 
ihn  von  entscheidender  Bedeutung  die  Vorlesungen  Karl 

Neudrucke:  Liebmann,   Kant.  15 


226  Anhang. 

Neumanns  geworden,  die  er,  als  er  selbst  schon  in 
Tübingen  Privatdozent  war,  hörte,  und  deren  Klarheit 
und  begriffliche  Schärfe  für  Liebmann  selbst  geradezu 
vorbildlich  und  mustergültig  waren.  Wie  wenig  übrigens 
auch  schon  der  Studiosus  Liebmann  zu  fachmännischen 
Einseitigkeiten  neigte,  das  beweist  am  besten  vielleicht 
der  Umstand,  daß  er  sich  durch  die  Vorlesungen  des 
selbst  noch  jugendlichen  Treitschke  zu  wahrhafter  Be- 
geisterung auch  für  die  Geschichte  hinreißen  ließ.  Und 
die  Rede,  die  Treitschke  gelegentlich  des  deutschen  Turn- 
festes vom  Balkon  des  Leipziger  Rathauses  aus  hielt,  hat 
Liebmann  zu  den  eindrucksvollsten  Erinnerungen  seines 
Lebens  gezählt. 

Als  aber  Liebmann  zu  studieren  anfing,  war  auch 
die  Philosophie  schon  in  ein  neues  Stadium  eingetreten. 
Ihr  ward  er  von  Kuno  Fischer  gewonnen.  Er  und 
Treitschke  waren  ohne  Zweifel  die  wuchtigsten  und  kraft- 
vollsten Persönlichkeiten  unter  Liebmanns  Lehrern.  Von 
Fischer  sagt  Liebmann  selbst:  „Mitten  in  einer  Zeit  der 
Erschlaffung  des  öffentlichen  Interesses  an  philosophischen 
Dingen,  vermochte  es  dieser  bedeutende  Mann  wie  als 
Schriftsteller  durch  seine  Werke,  so  innerhalb  des  aka- 
demischen Hörsaals  durch  das  lebendige  Wort  warmen 
Eifer  und  echtes  Verständnis  für  seinen  idealen  Gegen- 
stand zu  erwecken".  Obwohl  Fischer,  wie  auch  Fortlage, 
der  zweite  philosophische  Lehrer  Liebmanns  in  Jena, 
wesentlich  bereits  in  der  Lehre  der  Nachfolger  Kants 
wurzelten,  so  ward  Liebmann  von  Kuno  Fischer  doch 
gerade  Kant  besonders  nahegebracht.  In  Kants  an 
Mathematik  und  Naturwissenschaft  orientiertem  Denken 
fand  er  die  seiner  eigenen  Geistesart  entsprechende  An- 
knüpfung für  seine  weitere  Entwickelung.  Und  wenn 
auch  nicht  gerade  in  philosophischer  Hinsicht,  so  wirkte 
doch  wohl  auch  der  Einfluß  seiner  Leipziger  Lehrer, 
Fechner  und  Drobisch,  auf  die  mathematisch -natur- 
wissenschaftliche Denkweise  Liebmanns  mit  bestimmend 


Anhang.  227 

ein.  Selbst  philosophisch  und  mathematisch-naturwissen- 
schaftlich gerichtet,  in  Jena  hauptsächlich  von  Kuno 
Fischer  idealistisch  bestimmt  und  auf  die  Kantische  Form 
des  Idealismus  verwiesen,  von  dem  mathematisch-natur- 
wissenschaftlichen Denken  der  Leipziger  Philosophen 
Fechner  und  Drobisch,  wenn  auch  nicht  von  ihrer 
Philosophie,  beeinflußt  —  das  ist  wohl  die  Einstellung, 
von  der  der  junge  Liebmann  seinen  wissenschaftlichen 
Ausgang  genommen  hat. 

Alle  diese  Momente  wirkten  gewiß  zusammen,  wenn 
auch  vielleicht  am  bedeutsamsten  die  Wirkung  Kuno 
Fischers  dabei  sein  mochte,  daß  die  Schrift,  durch  die 
Liebmann  selbst  zum  ersten  Male  als  Fünfundzwanzig- 
jähriger in  die  philosophische  Bewegung  entscheidend 
eingriff,  eine  Auseinandersetzung  mit  Kant  und  seinen 
großen  Nachfolgern  war.  Als  Liebmann  im  Jahre  1864 
nach  Tübingen  übergesiedelt  war,  benutzte  er  ein  Jahr, 
das  er  still  als  Privatgelehrter  verbrachte,  zur  Abfassung 
seiner  Schrift  über  „Kant  und  die  Epigonen".  Sie  erschien 
1865,  im  Jahre  seiner  Habilitation. 

Der  junge  Privatdozent  hatte  als  Lehrer  einen  eben- 
sogroßen Erfolg,  wie  als  Schriftsteller  mit  seinem  Erst- 
lingswerke. Daneben  gewann  er  in  Tübingen  wertvolle 
persönliche  Beziehungen.  Vielleicht  durch  Kuno  Fischers 
Vermittelung,  mit  dem  er  ja  bis  zu  Fischers  Tode 
persönlich  verbunden  blieb,  wie  er  auch  mit  Fechner 
und  Drobisch  in  Beziehung  blieb,  trat  er  in  Tübingen 
besonders  Fr.  Th.  Vischer  nahe.  Auch  dieses  persönliche 
Verhältnis  dauerte  fort,  noch  als  Vischer  nach  Stuttgart 
und  Liebmann  später  nach  Straßburg  übergesiedelt  war; 
und  erst  Vischers  Tod  löste  es. 

In  der  wissenschaftlichen  Welt  aber  hatte  sich  der 
junge  Privatdozent  seine  Stellung  mit  einem  Schlage 
durch  sein  Werk  erobert.  Es  war  eine  Auseinandersetzung 
mit  „Kant  und  den  Epigonen"  zu  Gunsten  Kants.  Aber 
man  mißversteht  das  Werk  durchaus,   wenn  man  in  ihm 

15* 


228  Anhang. 

blos  eine  negative  Tendenz  gegen  die  Epigonen  sieht, 
als  habe  es  namentlich  Fichte,  Schelling  und  Hegel  aus 
der  philosophischen  Entwickelung  nach  Schopenhauers 
Muster  ausgeschaltet  wissen  wollen.  So  energisch  Lieb- 
mann auch  gegen  den  Dogmatismus  des  Epigonentums  für 
den  Kritizismus  eintritt,  so  hat  er  es  doch  stets,  wie  hier, 
so  auch  später,  mit  ausdrücklichen  Worten  bezeugt,  daß 
diese  Männer  „mit  der  Fackel  ihres  Geistes  Deutschland 
und  die  ganze  gebildete  Welt  erleuchtet  haben",  und  er 
hat  die  Überzeugung  ausgesprochen,  daß  „das  wirklich 
Große  in  den  Spekulationen  jener  Denker  der  Zukunft 
un verloren  bleiben  werde".  Die  Grundabsicht  des  Werkes 
aber  war  eine  positive,  systematische. 

Freilich  trägt  es  systematisch  noch  das  Gepräge  der 
eben  erst  beginnenden  Wiederentdeckung  Kants.  Der 
Begriff  des  Transzendentalen  tritt  noch  in  der  Färbung 
auf,  die  ihm  bei  Kant  selbst  noch,  wenn  auch  mäßig,  an- 
haftete. Kant  läßt  in  den  rein  logisch-kritischen  Charakter 
des  Transzendentalen  teilweise  eine  noch  psychologische 
Denkweise  hineinschillern,  in  der  es  auch  ein  großer  Teil 
des  Kantianismus  —  F.  A.  Lange  ist  dafür  typisch  — 
noch  ließ,  und  von  der  es  auch  der  25  jährige  Otto 
Liebmann  nicht  gleich  vollkommen  zu  reinigen,  Kantisch 
gesprochen,  nicht  in  seiner  „Reinheit"  darzustellen  ver- 
mochte. Wie  sehr  aber  Liebmann  trotzdem  auch  hier 
schon  auf  die  Erfassung  des  Transzendentalen  dringt  und 
um  diese  Erfassung  ringt,  das  beweist  am  besten  einmal 
seine  Ablehnung  der  anthropologisch -psychologischen 
Interpretation  der  Vernunftkritik  bei  Fries  und  dann  seine 
energische  Kritik  des  Kantischen  Begriffs  vom  „Ding  an 
sich".  Indem  Liebmann  zeigt,  daß  dieser  vermeintliche 
Begriff  eben  kein  Begriff,  sondern  ein  Unbegriff  ist,  hat 
er  eigentlich  schon  den  logisch-notwendigen  Vorposten 
gefaßt.  Denn  dieses  fatale  „Ding  an  sich"  ist  in  der 
Tat  bei  Kant  und  allen  Kantianern,  die  es  festhalten,  ein 
Residuum  dogmatischer  Metaphysik,  das  den  tiefsten  und 


Anhang.  229 

besten  Sinn  der  Kantischen  Vernunftkritik  trübt  und  die 
„reine  Vernunft"  zu  verunreinigen  droht.  Das  um  so 
mehr,  als  hinter  diesem  fatalen  Ding  an  sich  ein  nicht 
minder  fataler  Psychologismus  steckt.  Der  energische 
Bruch  mit  dieser  ins  verkappt  Psychologische  gewendeten 
Metaphysik  und  diesem  ins  verkappt  Metaphysische  ge- 
wendeten Psychologismus  zeigt  Liebmann  aber  bereits 
auf  dem  Wege,  die  psychologisch-metaphysischen  Residuen 
dogmatischer  Observanz  vom  transzendentalen  Idealismus 
auszustoßen  und  diesen  eben  transzendentalkritisch  zu 
fassen.  Er  bereitete  damit  seine  eigentliche  systematische 
Leistung  einer  logischen  Grundlegung  der  Wissenschaft 
vor,  indem  er  Subjekt  und  Objekt  lediglich  als  Korrelations- 
momente der  Erkenntnisfunktion  bestimmt. 

Der  Art  nun,  wie  er  seine  allereigenste  philosophische 
Aufgabe  der  transzendentallogischen  Grundlegung  der 
Wissenschaft  gefaßt  hatte,  entsprach  es,  daß  er  sich  auch 
an  ganz  speziellen  Problemen  der  Einzelwissenschaft  ver- 
suchte und  sie  zugleich  philosophisch  zu  behandeln 
unternahm.  In  diesem  Sinne  liegt  sein  im  Jahre  1869 
erschienenes  Buch  „Über  den  objektiven  Anblick"  durch- 
aus auf  dem  Wege  kontinuierlicher  Entwickelung  von  seiner 
Arbeit  über  „Kant  und  die  Epigonen"  zu  seinen'  späteren 
Werken,  besonders  zu  seinen  grundlegenden  Hauptwerken. 
Der  Fortschritt  und  der  Übergang  von  jener  zu  diesen 
dokumentiert  sich  darin,  daß  hier  jene  Subjekts-Objekts- 
Korrelation  ausdrücklich  der  psychologischen  Sphäre  letzt- 
linig  entrückt  und  ins  Überempirische,  aber  doch  nicht 
Metaphysische,  sondern  ins  Bereich  logischer  Notwendig- 
keit gerückt  wird.  Das  aber  so,  daß  der  Zusammenhang 
mit  der  Erfahrung,  auf  deren  logische  Grundlegung  es 
in  der  Transzendentalphilosophie  eben  abgesehen  ist, 
gewahrt  wird.  Denn  das  Verständnis  der  Transzendental- 
philosophie hängt  von  vornherein  davon  ab,  daß  man 
zum  mindesten  folgendes  begreift:  Was  begründen  soll  und 
was  begründet  werden  soll,   kann  nicht  zusammenfallen. 


230  Anhang. 

und  ihre  logische  Ordnung  kann  nicht  umgekehrt  werden. 
Aber  beides  steht  doch  in  dem  engsten  Zusammenhange, 
den  die  Wissenschaft  überhaupt  kennt,  eben  im  Zusammen- 
hange des  logischen  Bedingen s  und  des  logischen 
Bedingtseins,  die  auch  nicht  zusammenfallen  können, 
und  die  in  ihrem  Ordnungsverhältnis  auch  nicht  umgekehrt 
werden  können.  Wäre  die  Preisgabe  dieses  Zusammen- 
hanges ein  Verstoß  gegen  das  Gesetz  vom  Grunde,  so 
wäre  die  Umkehrung  der  Begründungsordnung  eine 
petitio  principii. 

Das  nun  ist  der  transzendentale  Gesichtspunkt,  unter 
dem  das  erste  Hauptwerk  Otto  Liebmanns,  die  „Analysis 
der  Wirklichkeit",  steht.  Es  erschien  zum  ersten  Male  im 
Jahre  1876,  vier  Jahre  nachdem  Otto  Liebmann  an  die 
junge  Reichs-Universität  Straßburg  berufen  worden  war, 
die  während  der  beiden  ersten  Jahrzehnte  ihres  Bestehens 
eine  ganze  Manigfaltigkeit  erleuchteter  Geister  an  sich  zu 
ziehen  verstand.  Die  „Analysis  der  Wirklichkeit"  in  ihrem 
systematischen  Werte  historisch  würdigen  wird  freilich 
immer  nur  ein  Historiker  können,  der  selbst  ein  syste- 
matischer Denker  ist.  Es  ist  daher  kein  Zufall,  daß  gerade 
Windelband  von  diesem  Werke  eine  Charakteristik  gegeben 
hat,  die  sich  an  Präzision  und  Klarkeit  nicht  überbieten 
läßt  und  die  ich  darum  hier  anführen  will:  „Es  ist  eines 
der  eigenartigsten  Werke,  in  denen  je  ein  Philosoph  seine 
Weltanschauung  dargelegt  hat.  Da  ist,  so  scheint  es, 
keine  Spur  von  lehrhafter  Gesamtdarstellung:  jede  Ab- 
handlung stellt  ihr  Sonderproblem  und  diskutiert  es  durch 
die  ganze  Fülle  seiner  historischen  Dialektik  hindurch, 
um  schHeßlich  an  den  Punkt  zu  führen,  an  dem  sich 
übersehen  läßt,  welche  Fragen  davon  beantwortet  sind, 
welche  beantwortbar  bleiben  und  welche  niemals  beant- 
wortet werden  können:  und  höchstens  will  sich  beim 
ersten  Anblick  aus  diesen  Einzelbetrachtungen  schließlich 
so  etwas  wie  ein  Ganzes  summieren.  Wer  aber  genauer 
zuschaut,  der  findet,  daß  alle  diese  Besonderheiten  Teile 


Anhang.  231 

eines  organischen  Ganzen  sind,  die  sich  gegenseitig  ver- 
langen und  bedingen  und  ein  einheitliches  Leben  des 
Gedankens  darstellen." 

In  der  That,  wer  sich  bei  jenem  ersten  Blick  beruhigt, 
wer  nie  unter  die  Oberfläche  zu  dringen  vermag,  der 
könnte  meinen,  hier  nichts  als  eine  Sammlung  von  Ab- 
handlungen vor  sich  zu  haben,  in  denen  einm.al  das 
Raumproblem,  das  andere  Mal  das  Zeitproblem,  bald 
das  Problem  der  Bewegung,  bald  das  der  Kausalität,  dann 
der  mathematische  Wert  der  Naturwissenschaft,  weiter  das 
Atom,  endlich  Probleme  der  Biologie  behandelt  werden 
und  denen  ebenso  lose,  wie  sie  es  selbst  unter  einander 
sind,  noch  ästhetische  und  ethische  Erörterungen  ange- 
reiht werden.  Aber  wie  nach  Leibniz  nur  der  streng 
logisch  und  methodologisch  geschulte  Mathematiker  sehen 
kann,  aber  auch  sehen  muß,  wie  die  analystische  Geometrie 
und  die  Infinitesimalmethode  in  der  dem  Laien  verborgenen 
tiefsten  Problemstruktur  der  analystischen  Methode  zu- 
sammenhängen, so  vermag  freilich  auch  nur  der  durch 
die  strenge  Methode  logischer  Grundlegung  Bewährte  zu 
sehen,  aber  er  muß  auch  sehen,  wie  in  der  Mannigfaltig- 
keit der  hier  erwähnten  Probleme  logischer  Einheits- 
zusammenhang organisch  waltet.  ^)  Ja,  so  innig,  organisch 
und  logisch-kontinuierlich  ist  dieser  Zusammenhang,  daß 
auf  der  anderen  Seite  derselbe  philosophische  Laie,  der 
etwa  in  der  „Analysis  der  Wirklichkeit"  den  Zusammen- 
hang vermissen  möchte,  in  den  „Gedanken  undThatsachen", 
die  in  den  Jahren  1899  bis  1904  erschienen  sind,  leicht 
nur  teilweise  Wiederholungen  aus  der  „Analysis  der 
Wirlickkeit"  sehen  möchte.  Das  wäre  freilich  so,  als  ob 
man  in  der  Analysis  des  Unendlichen  nur  eine  Wieder- 
holung der  analystischen  Geometrie  sähe,  weil  die  Logik 

1)  Diesen  betonte  jetzt  auch  Dr.  Arno  Neumann  in  seinem  Nekrolog 
„Zum  Totenopfer  für  Otto  Liebmann",  der  in  der  Beilage  zur  Jenaischen 
Zeitung  erschien  und  eine  ganz  vortreffliche  Darstellung  gerade  der 
„Analysis  der  Wirklichkeit"  gab- 


232  Anhang. 

beider  das  Problem  des  Verhältnisses  von  Anschauung 
und  Begriff  enthält,  ohne  daß  man  die  veränderte  Problem- 
lage durchschaute. 

In  Wahrheit  sind  die  neuen  Ergebnisse  der  „Gedanken 
und  Thatsachen"  erst  vorbereitet  durch  die  Schrift  über 
die  „Klimax  der  Theorien",  die  im  Jahre  1884  erschien, 
zwei  Jahre  nachdem  Liebmann  von  Straßburg  an  die 
Universität  Jena  berufen  worden  war,  der  er  gerade 
dreißig  Jahre  bis  zu  seinem  Tode  angehört  hat.  Diese,  trotz 
ihrer  einzigartigen  Klarheit  und  begrifflichen  Schärfe 
verhältnismäßig  viel  zu  wenig  gewürdigte  „Klimax  der 
Theorien"  aber  hebt  sich  von  der  „Analysis  der  Wirk- 
lichkeit" einerseits  und  den  „Gedanken  und  Thatsachen" 
andererseits  so  deutlich  ab,  vermittelt  aber  auch  so  be- 
stimmt zwischen  beiden,  wie  etwa  eine  Zahl  in  der  natür- 
lichen Zahlenreihe  sich  von  dem  ihr  in  der  Reihe  voran- 
gehenden und  dem  ihr  in  der  Reihe  folgenden  Gliede 
abhebt  und  doch  erst  zwischen  ihnen  den  vermittelnden 
Durchgang  bildet. 

Vom  Ganzen  des  Inhaltes  der  Liebmannschen  Werke 
kann  hier  natürlich  keine  Darstellung  gegeben  werden. 
Es  muß  genügen,  die  Grundposition  wenigstens  allgemein 
zu  bezeichnen.  Transzendentalphilosophie,  —  das  ist  der 
Begriff,  aus  dem  sich  die  konkrete  Leistung  Liebmanns 
selbst  begreifen  läßt.  Und  die  Aufgabe  der  Transzenden- 
talphilosophie könnte  man  am  besten  vielleicht  mit  den 
Worten  Goethes  bezeichnen:  „Das  Höchste  wäre  zu  be- 
greifen, daß  alles  Faktische  schon  Theorie  ist".  Aber 
freilich,  weil  das  das  Höchste  ist,  darum  begreift  es 
mancher  nie,  darum  wird  die  Transzendentalphilosophie 
nur  von  ganz  wenigen  begriffen  und  wird  immer 
nur  von  ganz  wenigen  begriffen  werden;  von  wenigen 
auch  unter  denen,  die  über  sie  urteilen  zu  dürfen  glauben, 
die  dann  aber  im  Gros,  um  mit  Kant  zu  reden,  „ein  Urteil, 
welches  der  Prüfung  vorhergeht",  abgeben.  „Prüfung" 
aber  bezeichnet  auch  gerade  den  Sinn  der  Transzenden- 


Anhang.  233 

talphilosophie.  Sie  ist,  wie  Kant  sagt,  Prüfung  nach 
„Gültigkeit  und  Wert"  und  hat,  auch  das  sind  Kants 
Worte,  „den  Probierstein  des  Wertes  oder  Unwertes  aller 
Erkenntnisse  a  priori  abzugeben",  damit  das  Erkennen 
selbst  „nach  seinem  Werte  oder  Unwerte  beurteilt  und 
unter  richtige  Schätzung  gebracht  zu  werden"  vermag. 
Dieser  schlichten  deutlichen  Erklärung  der  Transzenden- 
talphilosophie als  Kritik  oder  als  „Gültigkeits"-  und 
„Wert" -Philosophie  gegenüber,  wie  sie  Kant  hier  mit 
einfachen  Worten  gegeben  hat,  macht  man  sich  aller- 
hand Vorstellungen  über  sie,  nur  kommt  man  nicht  zu 
ihrem  Begriff  trotz  der  Kantischen  Präzision.  Man  ver- 
wechselt wohl  gar  seine  eigene  Vorstellung  mit  dem  Be- 
griffe selbst,  bis  man  sich  schließlich  genau  das  Gegen- 
teil von  alledem  vorstellt,  was  der  Begriff  eigentlich 
bedeutet.  „Begreifen,  daß  alles  Faktische  schon  Theorie 
ist",  das  heißt  dann  der  naiven  Vorstellung  soviel,  wie 
die  Tatsachen  verachten  oder  gar  leugnen.  Dann  aber 
ist  glücklich  der  Sinn  der  Transzendentalphilosophie  auf 
den  Kopf  gestellt  und  in  Unsinn  umgedeutet.  Ich  habe 
mit  Absicht  an  das  bekannte  Wort  Goethes  angeknüpft. 
Denn  daß  dieser  auf  das  Gegenständliche,  Konkrete, 
Tatsächliche  gerichtete  Geist  die  Tatsachen  verachtet 
oder  geleugnet  haben  sollte,  das  dürfte  jedem  ohne 
weiteres  als  absurd  erscheinen.  Darum  sollte  es  nun 
ebenso  ohne  weiteres  jedem  als  absurd  erscheinen,  wenn 
man  meinte:  „Begreifen,  daß  alles  Faktische  schon  Theorie 
ist",  falle  zusammen  mit  einer  Leugnung  der  Tatsachen. 
Und  wenn  wir  nun  einen  Transzendentalphilosophen  wie 
Otto  Liebmann  an  der  konkreten,  lebendigen  Arbeit  sehen 
und  ihn  wirklich  verstehen,  so  verstehen  wir  auch  das 
Folgende:  Er  verachtet  und  leugnet  nicht  die  Tatsachen, 
das  tut  nach  ausdrücklicher  Erklärung  des  Transzendental- 
philosophen nur  der  Narr.  Er  nascht  und  nippt  auch 
nicht  blos  von  den  Tatsachen,  um  dann  darüber  reden 
zu  können,  das  tut  nach  der  Ansicht  des  Transzendental- 


234  Anhang. 

Philosophen  nur  der  Schwätzer.  Er  gibt  sich  auch  an 
die  Tatsachen  nicht  blos  hin  als  an  ein  totes  und  starres 
Absolutum,  um  dieses  mystisch  zu  erleben  und  in 
mystischem  Erlebnis  blos  in  seiner  eigenen  lieben  Sub- 
jektivität widerzuspiegeln.  Das  tut  nach  der  bestimmten 
und  unzweideutigen  Erklärung  des  Transzendentalphilo- 
sophen nur  der  schöngeistige  Phantast  und  Schwärmer, 
der  wissenschaftlichen  Ernst,  wissenschaftliche  Arbeit, 
wissenschaftliche  Energie  nicht  kennt.  Alledem  gegen- 
über achtet  der  Transzendentalphilosoph  die  Tatsachen 
viel  zu  hoch,  er  weiß  aber  auch,  warum  er  sie  respektiert, 
und  führt  den  Respekt  vor  den  Tatsachen  nicht  blos  im 
Munde.  Denn  der  Respekt,  den  er  ihnen  erweist,  ist  der 
höchste  Respekt,  der  sich  ihnen  erweisen  läßt,  er  gründet 
sich  auf  den  Begriff  der  Wissenschaft  selbst,  und  zwar 
im  doppelten  Sinne:  er  sucht  die  Tatsachen  zu  begreifen, 
und  er  sucht  ihre  Begreiflichkeit  selbst  zu  begreifen. 
Es  ist  vor  allem  die  für  die  theoretische  Transzendental- 
philosophie bedeutsamste  Tatsache,  es  ist  die  Tatsache 
der  Wissenschaft  selbst,  an  die  er  mit  liebevoller  Achtung 
anknüpft,  indem  er  durch  logische  Analysis  die  Be- 
dingungen ihrer  MögUchkeit  zu  ermitteln  sucht.  Darum 
gerade  tritt  uns  in  den  Werken  Liebmanns  die  wissen- 
schaftliche Tatsächlichkeit  in  so  reicher  Fülle  und  Breite 
entgegen.  Darum  machte  sich  Liebmann  nicht  nur  das 
Platonische:  „Mrjöeig  c?yea)^wer(»ijTog  eLaoTco^'"]  auch  für  seine 
eigene  philosophiche  Arbeit  zu  eigen.  Er  leuchtete  auch 
in  die  logischen  Bedingungen  der  Mechanik  und  Dynamik 
ebenso  hinein,  wie  in  die  der  Biologie. 

Nun  verstehen  wir  aber:  Die  „Theorie",  von  der 
Goethe  hier  spricht,  ist  darum  nicht  jene  „graue  Theorie", 
die  er  mit  Recht  verachtet.  Sie  ist  der  del^ooog  Xoyog  selbst, 
um  den  alten  von  Heraklit  glücklich  geprägten  Namen 
in  neuer  Bedeutung  aufzunehmen  und  auf  sie  anzuwenden. 
Mit  diesem  Namen  bezeichnet  auch  Liebmann  selbst  den 
höchsten  Begriff  seiner  eigenen  Philosophie.     Er  ist  ihm 


Anhang.  235 

sogar  zu  hoch  und  heilig,  als  daß  er  ihn  besonders  oft 
nennen  möchte.  Aber  wann  und  wo  er  ihn  nennt,  dann 
und  da  nennt  er  ihn  mit  Ehrfucht,  ja  mit  Andacht.  Der 
Aoyog  bedeute  ihm  darum  freilich  nicht  blos  etwas  Psycho- 
logisches. Aber  er  kann  ihm  auch  nur  eine  Bedeutung 
haben,  die  die  Kantischen  Vernunftkritiken  nicht  rück- 
gängig machen  will.  Er  ist  nicht  metaphysisch-transzen- 
dent, sondern  metakosmisch-transzendental,  um  Liebmanns 
feiner  Unterscheidung  auch  seinen  plastischen  Ausdruck 
zu  geben.  Der  Aoyog  ist  eben  logisch :  Begriff.  Er  ist  der 
Begriff  der  Begriffe,  der  Inbegriff  transzendentallogischer 
Geltungsbedingung.  Die  Theorie  in  dem  hier  in  Rede 
stehenden  Goetheschen  Sinne  ist  darum  nicht  tote  Ab- 
straktion, und  es  konnte  keiner  die  transzendentalphilo- 
sophische Theorie  schärfer  in  Gegensatz  zur  toten  Ab- 
straktion setzen,  als  Kant  es  tat,  indem  er  die  Begriffe 
ausdrücklich  als  „non  abstracti"  bezeichnete.  Diesen 
deC^mog  Xoyog,  den  ewiglebendigen  „Geist  der  Transzen- 
dentalphilosophie", den,  wie  ja  jeder  weiß,  also  keines- 
wegs erst  Kant  entdeckt,  vertrat  und  verfocht  nun 
Liebmann  mit  der  lebendigen  Klarheit  und  Schärfe  seines 
Geistes. 

Liebmann  begriff,  und  ebendarum  war  er  Transzen- 
dentalphilosoph, dass  die  wissenschaftliche  Reflexion  auf 
die  Tatsachen  diese  gar  nicht  auch  nur  als  Tatsachen  be- 
greifen könnte,  wenn  sie  nicht  eben  als  Tatsachen  schon 
durch  den  Begriff  konstituiert  wären.  Der  Begriff  hinkt 
also  den  Tatsachen  nicht  nach,  das  tut  nur  das  Begreifen. 
Der  Begriff  und  das  Begreifen  sind  aber  streng  zu  unter- 
scheiden. Denn  damit  das  reflexive  Begreifen  der  Tat- 
sache überhaupt  möglich  ist,  dazu  muß  der  Begriff  als 
konstitutive  Möglichkeitsbedingung  der  Tatsachen  selbst 
schon  vorausgesetzt  sein.  In  dieser  Bedeutung  erfaßte 
Liebmann  das  konstitutive  Wesen  der  Kantischen  Kate- 
gorie. In  diesem  Sinne  aber  erklärte  er  auch  den 
Glauben  an  sogenannte  rohe  und  begriffslose  Thatsachen 


236  Anhang. 

als  eine  blosse  „doktrinäre  Fiktion",  Damit  haben  wir 
auch  den  tiefsten  Sinn  dessen  bezeichnet,  was  er  die 
„Logik  der  Tatsachen"  genannt  hat.  Sie  ist  freilich  ge- 
rade das  Gegenteil  von  dem,  was  das  noch  nicht  auf  den 
Standpunkt  wissenschaftlicher  Philosophie  gelangte  Denken 
darunter  verstehen  mag,  wonach  die  eben  erwähnte 
„doktrinäre  Fiktion"  von  sogenannten  rohen  und  begriffs- 
losen Tatsachen,  so  etwas  wie  eine  Logik  haben  sollten. 
Dahingegen  bedeutet  nach  Liebmann  die  „Logik  der  Tat- 
sachen", daß  die  Tatsachen  erst  Tatsachen  sein  können 
auf  Grund  ihrer  transzendentallogischen  Konstituiertheit. 
Damit  vollzieht  Liebmann  auch  für  seinen  Teil  die 
Kopernikanische  Wendung  Kants  und  er  akzeptiert  den 
Kantischen  Satz,  daß  der  Verstand  die  Gesetze  nicht  aus 
der  Natur  schöpft,  sondern  sie  dieser  vorschreibt.  Das 
ist  freilich  nicht  ein  subjektiver  Verstand  von  Hinz  oder 
Kunz;  der  kann  immer  erst  die  Gesetze  aus  der  Natur 
schöpfen.  Der  Verstand,  der  hier  in  Rede  steht,  ist  weder 
ein  Ding  oder  Wesen  noch  eine  Fähigkeit  oder  Ver- 
mögen oder  Tätigkeit,  sondern  der  Inbegriff  logischer 
Gesetzmässigkeit,  auf  Grund  dessen  Liebmann  die 
Natur  selbst  als  „objektive  Welt-Logik"  bezeichnen  kann 
und  in  dem  das  bestimmt  ist,  was  die  Wissenschaft  von 
der  Natur  als  das  „Prinzip  der  Begreiflichkeit  der  Natur" 
bezeichnet,  ohne  das  die  Natur  und  die  Wissenschaft  von 
der  Natur  nicht  möglich  wäre.  Darum  hört  für  den 
Transzendentalphilosophen  auch  die  Natur  auf,  jenes 
mystische  Absolutum  und  Allwesen  zu  sein,  das  sie  für 
die  dogmatische  Naturspekulation  der  Renaissance  war 
und  für  den  Naturalismus  bis  auf  den  heutigen  Tag  ge- 
blieben ist.  Als  „objektive  Weltlogik"  ist  sie  in  jenem 
nüchternen  wissenschaftlichen  Sinne  zu  fassen,  in  dem  Kant 
sie  als  „Inbegriff  aller  Gegenstände  der  Erfahrung"  oder 
als  „das  Dasein,  sofern  es  nach  allgemeinen  Gesetzen  be- 
stimmt ist",  gefasst  hatte.  Aus  diesem  Grunde  hatte 
sich  schon  der  jugendliche   Liebmann  jene   beiden   Er- 


Anhang.  237 

widerungen  zu  eigen  gemacht,  die  auf  die  Sentimentalität 
von  Hallers: 

„Ins  Innere  der  Natur  dringt  kein  erschaffner  Geist; 

Glückselig,  wem  sie  nur  die  äußre  Schale  weist", 
erteilt  worden  waren.  Einmal  die  naturfreudige  Erwiderung 
des  lebensmutigen  Künstlers,  die  Goethe  gegeben  hatte: 
„Natur  hat  weder  Kern  noch  Schale; 
Alles  ist  sie  mit  einem  Male." 
Sodann  die  wissensfreudige  Erwiderung  des  nüchternen 
Denkers  und  Forschers,  die  Kant  gegeben  hatte:  „Ins 
Innere  der  Natur  dringt  Beobachtung  und  Zergliederung 
der  Objekte".  Zwei  Erwiderungen,  die  in  der  Form  so 
entgegengesetzt  sind,  wie  phantasievolle  Kunst  und  be- 
grifflich strenge,  prosaisch  nüchterne  Wissenschaft,  die 
sich  aber  in  ihrem  Inhalte  nicht  nur  vereinigen  lassen, 
sondern  sich  geradezu  fordern  und  decken.  Denn  es 
ist  im  Sinne  Kants  und  Goethes,  zu  sagen:  Nur  wenn 
das  Ttdvra  xard  rov  loyov  yCveTau  Heraklits  wahr  ist,  kann 
die  yiveaiQ  selbst  sein  und  kann  die  Wissenschaft  in 
der  ysveaiq  den  loyog  entdecken,  also  wahrhaft  Wissen- 
schaft sein,  so  wenig  der  Uyog  ebendarum  auch  in  der 
yiveaLg  aufgehen  kann.  Was  der  eigentliche  Transzen- 
dentalphilosoph unter  den  Heroen  deutscher  Kunst  gesagt, 
das  unterschreibt  auch  Otto  Liebmann: 

„Was  sich  nie  und  nirgends  hat  begeben, 
Das  allein  veraltet  nicht." 
Ebendarum  aber  ist  auch  die  Sphäre  des  loyog  nicht 
ausgemessen  durch  die  Konstituierung  der  Natur.  Und 
wenn  äußerlich  im  Rahmen  der  Philosophie  Liebmanns  die 
theoretische  Philosophie  einen  breiteren  Raum  einnimmt, 
als  Ethik  und  Ästhetik,  so  hat  [er  doch  der  praktischen 
Philosophie  ausdrücklich  den  logischen  Vorrang  vor  der 
theoretischen  zuerkannt,  wie  ich  im  Sinne  Liebmanns 
lieber  sagen  möchte,  anstatt  mit  Kant  vom  Primat  der 
praktischen  Vernunft  gegenüber  der  theoretischen  zu 
sprechen.    Im   Geiste   Kants   und   im  Geiste  Liebmanns 


238  Anhang. 

dürfte  es  aber  sein,  wenn  ich  von  der  umfassenderen 
Sphäre  des  Reiches  der  Zwecke  gegenüber  der  der  Wissen- 
schaft spreche,  der  in  jenem  der  allgemeine  loyog  ihre 
bestimmte  Stelle  anweist.  Darum  faßte  Liebmann,  wie 
auch  Windelband,  dem  er  sich  unter  allen  lebenden 
Denkern  am  nächsten  wußte,  die  Philosophie  als  Selbst- 
verständigung des  allgemeinen  Kulturbewußtseins.  Er 
erkannte  den  allgemeinen  Kulturzusammenhang  als  den 
notwendigen  Mutterboden  der  Kultur  des  Einzelnen.  Er 
begriff,  daß  der  Einzelne,  der  sich  in  die  Kontinuität  der 
Geschichte  nicht  einordnet  oder  von  ihr  loslöst,  für  alle 
Kultur  verloren  ist,  daß  er  Nichts  ist,  wenn  er  nicht  ein 
Glied  der  Kulturgemeinschaft  ist.  Und  so  wenig  er  als 
kritischer  Philosoph  dem  Wahne  anhängen  konnte,  daß 
die  Philosophie  eine  Universalwissenschaft  sei,  die  alle 
besonderen  Kulturinhalte  zu  den  ihrigen  zu  machen  habe, 
so  wies  er  ihr  doch  die  Kulturmission  einer  Verständigung 
über  die  Kulturprinzipien  und  ihren  allgemeinen  Zusammen- 
hang im  loyog  zu.  Denn  er  erkannte,  daß  eine  Kultur,  die 
sich  selbst  in  ihrer  inneren  Einheit  nicht  versteht,  aus- 
einanderklaffen muß  in  ein  Aggregat  von  bloßen  Fertig- 
keiten und  äußeren  Techniken,  damit  aber  aufhört,  Kultur 
zu  sein.  In  diesem  Sinne  ist  sein  Wort  zu  verstehen: 
„ein  Zeitalter  ohne  Philosophie  war  ein  Zeitalter  ohne 
Kultur."  Diese  Überzeugung  von  der  Aufgabe  einer 
durch  den  loyoq  getragenen  und  geeinten  Kulturgemein- 
schaft aber  war  seine  Religion.  Keinem  konnte  tiefer 
als  Liebmann  das  Wort  Goethes  aus  der  Seele  ge- 
sprochen sein: 

„Und  so  lang  du  das  nicht  hast. 

Dieses:  Stirb  und  werde! 

Bist  du  nur  ein  trüber  Gast 

Auf  der  dunkeln  Erde." 
Das  bedeutet:   Das  Individuum  wird  nur,   indem  es 
dem  erstirbt,  was  blos  Individuum  ist.    Das  Individuum 
wird  zur  Individualität  nur,   wenn  es,   sei  es  im  Großen 


Anhang.  239 

oder  im  Kleinen,  wie  Schiller  sagt,  „Ewiges  in  die  un- 
endliche Zeit  zu  werfen"  sucht.  Nur  durch  Hingabe  seiner 
Subjektivität  an  das  objektive  Gesetz  und  die  objektive 
Ordnung  der  allgemeinen  Aufgabe,  die  in  der  Kultur 
zur  Darstellung  gelangt,  erreicht  es  seine  Lebensbe- 
stimmung. Denn,  um  wieder  mit  Goethe  zu  reden: 
„Nach  seinem  Sinne  leben  ist  gemein. 
Der  Edle  strebt  nach  Ordnung  und  Gesetz." 
Nach  Ordnung  und  Gesetz  in  tätiger  Liebe  für  die 
Gemeinschaft  und  in  der  Gemeinschaft  der  Kultur  zu 
wirken  und  zu  arbeiten,  das  ist  darum  der  Sinn  des 
Lebens,  wie  ihn  der  Philosoph  zu  fassen  hat,  und  wie 
ihn  auch  Liebmann  faßte.  Der  ewige  Aoyog  und  die 
^Ayanri,  die  tätige  Liebe  der  Arbeit  für  die  Idee  der  Ge- 
meinschaft, waren  daher  die  göttlichen  Leitsterne  der 
Lebensordnung  dieses  Edlen.  In  ihrem  Dienste  wirkte 
er  als  philosophischer  Schriftsteller,  als  philosophischer 
Lehrer,  wie  als  Mensch.  Und  als  schwere  Krank- 
heit ihn  gezwungen  hatte,  seiner  öffentlichen  Tätigkeit 
schmerzvoll  zu  entsagen,  da  hielt  er,  in  unerschütterter 
innerer  Geisteskraft,  den  Blick  zu  jener  seiner  Bestimmung 
und  seinem  Gesetze  empor,  die  seinem  Leben  Inhalt  und 
Fülle  gegeben  hatten  und  gaben,  bis  es  in  der  Nacht  zum 
14.  Januar  1912  erlosch.  Sein  ganzes  Sein  und  Wirken 
aber,  als  Denker  und  Forscher,  als  Lehrer  und  als  Persön- 
lichkeit bezeichnet  am  besten  sein  eigenes  schönes  Wort: 
„Wenn  ich  Altäre  zu  errichten  hätte,  so  würde  ich  dem 
Aoyog  und  der  ^Aydni]^  der  Vernunft  und  der  Liebe,  Altäre 
errichten." 


Druck   von   C.  A.  Kaemmerer  8c  Co..   Halle  a.  S. 


219  Inhalt. 

pag. 

Vorwort  des  Herausgebers V 

Vorwort  des  Verfassers  zum  Neudruck XIII 

Einleitung 3 

Erstes  Kapitel:  Die  Hauptlehre  und  der  Hauptfehler  Kants  .  20 
Zweites  Kapitel:  Die  idealistische  Richtung.  Fichte,  Schelling, 

Hegel 70 

Drittes  Kapitel:  Die  realistische  Richtung.  Herbart  ....  111 

Viertes  Kapitel:  Die  empirische  Richtung.  Fries 140 

Fünftes  Kapitel:   Die  transscendente  Richtung.  Schopenhauer  157 

Schluß 205 

Nachwort 217 

Anhang:  Otto  Liebmann 223 


Neudrucke    seltener    philosophischer    Werke. 

Herausg.  von  der  Kautgeseüschaft. 

Mit  der  Veröffentlichung  von  „Neudrucken"  seltener 
pfiilosophischer  Werl^e  erweitert  die  Kantgesellschaft 
den  Kreis  ihrer  Aufgaben  und  ihrer  literarischen  Unter- 
nehmungen. Diese  auf  eine  Anregung  von  Prof.  Dr.  M  e  n  z  e  r 
in  Halle  zurückgehende  Veranstaltung  erstreckt  sich  auf 
solche  Schriften,  die  in  die  Entwicklung  des  Geistes- 
lebens der  beiden  letzten  Jahrhunderte  in  bedeutsamer 
Weise  eingegriffen  haben  und  die  trotz  ihrer  Unentbehr- 
lichkeit  aus  dem  Buchhandel  verschwunden  sind.  Eine 
besondere,  aber  doch  nicht  einseitige  Berücksichtigung 
sollen  dabei  Werke,  Kommentare  und  Kritiken  erfahren, 
die  zur  Philosophie  Kants  in  Beziehung  stehen. 

Da  diese  Neudrucke  nach  Möglichkeit  von  jeder 
Modernisierung  absehen  und  ein  möglichst  getreues  Bild 
der  Originiale  bieten  sollen,  so  werden  sie  auch,  abgesehen 
von  ihrem  Wert  für  die  Philosophie,  einen  bedeutenden 
kulturgeschichtlichen  Reiz  besitzen  und  ferner  für  die 
Sprachforschung  von  Belang  sein,  da  sie  dieser  eine 
Reihe  interessanter  Quellen  leicht  zugänglich  machen. 

Geplant  ist  die  allmähliche  Veröffentlichung  von  etwa 
25  Bänden.  Erschienen  ist  bis  jetzt  ausser  dem  vorliegen- 
den Band   II: 

Band  I:  G.  E.  Schulze's  Aenesidemus.  Besorgt  von 
Dr.  A.  Liebert.  Mk.  5.—,  geb.  Mk.  6.—  ;  als 
Band  III  wird  erscheinen  Salomon  Maimons  Versuch 
einer  neuen  Logik,  herausg.  von  Dr.  Bernh. 
Carl  Engel;  als 
Band  IV/ V  voraussichtlich  JohannNicolausTetens'  Philo- 
sophische Versuche  (erschienen  1777). 

Den  einzelnen  Bänden  werden  am  Schlüsse  An- 
merkungen beigegeben,  die  neben  anderen  eine  kurze 
Übersicht  über  das  Leben,  den  Bildungsgang  und  die 
Schriften  des  Autors  bringen. 

Die  Jahres-Mitglieder  der  Kantgesellschaft  erhalten 
diese  Neudruck-Bände  kostenfrei. 

Bestellungen  auf  diese  wichtige  Serie  werden  von 
jeder  Buchhandlung  angenommen  und  ausgeführt. 

Berlin  W.  35,  im  März  1912. 

Reuther  &  Reichard. 


Vorstand:  Meyer,  Geh.  Oberreg.-Rat,  Kurator  der  Universität  Halle. 
Menzer,  Dr.,  Professor  an  der  Universität  Halle. 
Krueger,  Dr.,  Professor  an  der  Universität  Halle. 
Stammler,  Dr.  jur.  et  phil.  (h.  c),  Professor,  Geh.  Justizrat. 
Gerhard,  Dr.,  Direktor  d.  Univ.-Bibliothek,  Geh.  Reg.-Rat. 
Kern,  Dr.  med.  et  phil.  (h.  c),  Professor,  Obergeneralarzt. 
Lehmann,  Dr.  (h.  c),  Geh.  Kommerzienrat. 
Vaihinger,  Dr.,  Professor,  Geh.  Reg.-Rat,  Geschäftsführer. 
Liebert,  Dr.,  stellvertretender  Geschäftsführer. 


Übrig 
Mitglieder 
des  Ver 
waltungs 

Aus- 
schusses 


:{ 


Die  Kantgesellschaft  ist  gelegentlich  der  hundertsten  Wiederkehr 
des  Todestages  Immanuel  Kants  (12.  Februar  1904)  von  dem  Unter- 
zeichneten begründet  worden  und  verfolgt  den  Zweck,  durch  das 
Studium  der  Kantischen  Philosophie  die  Weiterentwicklung  der  Philo- 
sophie überhaupt  zu  fördern.  Ohne  ihre  Mitglieder  irgendwie  zur 
Gefolgschaft  gegenüber  der  Kantischen  Philosophie  zu  verpflichten, 
hat  die  Kantgesellschaft  keine  andere  Tendenz  als  die  von  Kant 
selbst  ausgesprochene,  durch  das  Studium  seiner  Philosophie  philo- 
sophieren zu  lehren. 

Ihren  Zweck  sucht  die  Kantgesellschaft  in  erster  Linie  zu  ver- 
wirklichen durch  Unterstützung  der  „Kantstudien".  Die  Mitglieder 
der  Kantgesellschaft  erhalten  diese  philosophische  Zeitschrift  (jährlich 
4  Hefte  im  Umfang  von  ca.  30  Bogen  =  500  Seiten)  gratis  und  franko 
zugesandt;  dasselbe  ist  der  Fall  mit  den  Ergänzungsheften  der  „Kant- 
studien",  welche  jedesmal  eine  grössere  geschlossene  Abhandlung 
enthalten  und  von  denen  gewöhnlich  ebenfalls  vier  im  Jahre  erscheinen 
(im  Gesamt-Umfang  von  ca.  25  bis  33  Bogen  =  450—550  Seiten). 

Das  Geschäftsjahr  der  Kantgesellschaft  ist  das  Kalenderjahr;  der 
Eintritt  kann  aber  jederzeit  erfolgen.  Die  bis  dahin  erschienenen 
Publikationen  des  betr.  Jahrganges  werden  den  Neueintretenden  nach- 
geliefert. 

Der  Jahresbeitrag  zur  Kantgesellschaft  (20  Mk.)  wird  erbeten  an 
das  Bankhaus  H.  F.  Lehmann  in  Halle  a.  S.,  oder  direkt  an  den 
stellvertretenden  Geschäftsführer  Dr.  A.  Liebert,  Berlin  W.  15, 
Fasanenstrasse  48. 

Statuten,  Jahresberichte,  Mitgliederverzeichnisse  u.  s.  w.  sind  durch 
den  genannten  Dr.  Liebert  gratis  und  franko  zu  beziehen. 

Beitrittserklärungen  nimmt  Ebenderselbe  jederzeit  entgegen. 

Halle  a.  S.,  im  März  1912. 
Relchardtstr.  15. 

Der  Geschäftsführer: 

H.  Vaihingen 


Verlag  von  Reulher  &  Reichard,  Berlin  W.  35. 
Vaihinger,  H.,  Die  Philosophie  in  der  Staatsprüfung.  Winke 

für  Examinatoren  und  Examinanden.  Zugleich  ein  Beitrag 
zur  Frage  der  ptiilosophischen  Propaedeutik.  Nebst  340  Thematen 
zu  Prüfungsarbeiten.     M.  2, — . 

Vaibingcr,  f).,  jVietzfchc  als  pbUofopb.  ©ritte,  butd)ge= 
fef)enc  unt)  eint>eitevte  "-^luflage.    'J!)l.  1,—,  geb.  9!)c.  1,60. 

Spranger,  E.,  Die  Grundlagen  der  Geschichtswissenschaft. 

Eineerkenntnistfieoretisch-psyctiologischeUntersuchung. 
M.  3,—. 

Eucken,  R.,  Hauptprobleme  der  Religionsphilosopbie  der 
Gegenwart.  Vierte  u.  fünfte  verbesserte  u.  erweiterte  Auflage. 
M.  3—,  geb.  M.  4,—. 

Kaftan,  J,,  Kantt  der  phUofopb  dss  protcftantismus. 

9)?.  —50. 

Troeitsch,  E.,  Das  historische  in  Kants  Religionsphilosophie. 

Zugleich  ein  Beitrag  zu  den  Untersuchungen  über  Kants 
Philosophie  der  Geschichte  M.  3, — . 

Bauch,  B.,  Luther  und  Kant.    M.  4,—. 


Adickes,  E.,  Kant  COntra  Haeckel.  Für  den  Entwicklungs- 
gedanken —  gegen  naturwissenschaftlichen  Dogmatis- 
mus. Zweite,  vermehrte  und  verbesserte  Auflage.  M,  2,40, 
geb.  M.  3,—. 

paulfcn,  f.,  pbUofopbiainiUtatis.  @cgen5?terifaliömu^ 
unb  9^aturaligmuö.  "Jünf  ^t)t)anb(ungen.  ©ritte  unb  vierte 
oermef)rte  «Jluflage  <=m.  2-,  geb.  m.  3,-. 

Koppelmann,  W.,  Die  Ethik  Kants.  Entwurf  zu  einem  Neu- 
bau auf  Grund  einerKritik  des  Kantischen  Moralprinzips. 
M.  2,80. 

Koppelmann,  W.,  Kritik  des  sittlicben  BewUSStseins  vom  philo- 
sophischen und  historischen  Standpunkt.    M.  6, — ,  geb.  M.  7,—. 

Pöhlmann,  H.,  Rudolf  Euckens  Theologie.  Mit  ihren  philo- 
sophischen Grundlagen  dargestellt.    M.  1,50. 


Verlag  von  Reuther  &Reichard  in  Berlin W.  35. 

Hans  Vaihinger:  Die  Philosophie  des  Als  Ob.  System 
der  theoretischen,  praktischen  und  religiösen  Fik- 
tionen der  Menschheit  auf  Grund  eines  idealistischen 
Positivismus.  Mit  einem  Anhang  über  Kant  und  Nietzsche. 
Herausgegeben  von  H.  V.  Mk.  16. — ,  in  Halbfranz  gebunden  Mk.  18. — 
„Ein  philosophisches  Ereignis".  (Tägl.  Rundschau.) 

»Diese  Schrift   ist  in   mehrfacher   Beziehung  eine  fast  einzig- 
artige Erscheinung".  (Lit.  Zentralblatt.) 

Eduard  Spranger:  Wilhelm  von  Humboldt  und   die 

Humanitätsidee.  Mk.  8.50,  geb.  Mk.  lo.— . 

„ darf  zu  den  bedeutsamsten  Erscheinnngen  der  letzten  Jahre 

auf  dem  Gebiete  der  deutschen  Geistesgeschichte  gerechnet  werden." 

(Pädag.  Archiv.) 

Fritz  Medicus :  J.  G.  Fichte.     Dreizehn  Vorlesungen. 

Mk.  3.—,  geb.  Mk.  3.80. 
„ —  Durchweg  getragen  von  einem  grossen  Ernst  des  Wahrheitsstrebens, 
von  einer  mannhaften,  offenen  und  ehrlichen  Gesinnung  — " 

(R.  Eucken,  Kantstudien.) 

Wilhelm  Münch:  Jean  Paul,    der  Verfasser  der  Levana 

Mk.  3.—,  geb.  Mk.  3.60. 
„Mit  zu  dem  Besten,  was  über  Jean  Paul  geschrieben  worden 

ist,  gehört  das  Buch  von  Münch".  (Lit.  Handweiser.) 

Otto  Willmann:  Aristoteles  als  Pädagog  und  Didak- 
tiker. Mk.  3.—   geb.  Mk.  3.60. 
„Niemand,   der  sich  ernsthaft  mit  der  geschichtlichen  Entwicklung 
der  pädag.  Prinzipien  beschäftigt,  wird  in  Zukunft  vor  Willmanns  meister- 
haftem Buche  vorübergehen  dürfen."    (A.  Buchenau,  Frankf.  Zeitg.) 

Alfred  Heubaum:  J.H.Pestalozzi.    Mk.  4.—,  geb.  Mk.  4.80.. 
„Dem  Buche  gebührt  unbestritten  der  Platz  an  der  Spitze  der 
heutigen,  fürwahr  nicht  kleinen  Pestalozziliteratur."    (Lit.  Handweiser.) 

Eduard   Spranger:    Wilhelm  von  Humboldt  und  die 

Reform  des  Bildungswesens.       Mk.  3.—,  geb.  Mk.  3.70. 
, —  gehört  nach  seinen  wissenschaftlichen  und  formalen  Vorzügen 
zu    den    hervorragendsten    Erscheinungen    der    neueren    pädag. 
Literatur."  (Deutsche  Schule.) 

(Die  letzten  4  Werke  bilden  Band  I — IV  der  von  Rud.  Lehmann 
herausgegebenen  Sammlung:  Die  grossen  Erzieher.) 

Neuer  Verlag  von  Reuther  &  Reichard  in  Berlin  W.  35. 


nM^'' 


'mmmmt'^. 


■'iijillflil 


IW);W 


Jk 

r 

illllii^ 

^ 

fiRfll  HNXQnmX^^^m^^^m^l'i' 

iw^s»; 

A 

,^^^i'?>*i]-3 

^ 

BSoaSHOoOavoOHHMaBBDflSo^'iv 

^mj  8  ^^^^^m^^m^^m^B 

Jifl 

i9 

WSW 

'^^^^^M^^^ 

''<  ^^^^^^^^^^^^^w  ^n 

^ilte« 

»>m1  m  ^^^^^^ra^^^u»  ^n 

, , 

'ittJ^^MW^TOJ  BM^^^m^