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Full text of "Karl Ernst von Baer als geograph"

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Karl Ernst von Baer als Geograph. 



Von 



Adolf, Heydenreich 

aus Nürnberg. 



Von der 
K. Technischen Hochschule zu München 



zur 



Erlangung der Würde eines Doktors der technischen 
Wissenschaften genehmigte Dissertation. 



Referent : Korreferent : 

Prof. Dr. Siegmund Günther. Prof. Dr. Hermann Ebert. 



Mit 3 Kärtchen. 



MÜNCHEN 
THEODOR ACKERMANN 

Königlicher Hof-Buchhändler. 

1908. 



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Karl Ernst von Baer als Geograph. 



Karl Ernst von Baer, der berühmte deutsch-russische Baers stei- 

lung m d«r 

Naturforscher gehört zu denjenigen Vertretern seiner Wissen- ^^^^^^ 
Schaft, welchen die Nachwelt das ehrende Prädikat eines haupt. 
„Klassikers" ^) verliehen hat. Seine wissenschaftliche Tätig- 
keit macht ihn dieser Auszeichnung würdig; sie stellt ihn in 
eine Reihe mit Alex. v. Humboldt, Darwin, Liebig 
und anderen Grössen der Naturwissenschaft. Geboren am 
17. (29.) Februar 1792 auf seines Vaters Gut zu Piep in 
Esthland erhielt er seine erste wissenschaftliche Ausbildung 
als Mediziner 1810— 14 zu Dorpat, einer Universität, die da- 
mals noch das Gepräge einer rein deutschen Hochschule 
trug. Zur Fortsetzung seiner Studien begab er sich 1815 
nach Deutschland, wo er zu Wien, Würzburg und Berlin 
Schüler der bedeutendsten Gelehrten war, bis er 1817 in 
Königsberg Prosektor, 1819 a. o. und 1822 o. Professor der 
Zootomie wurde. Eine Zeitlang konnte diese preussische 
Universität hoffen, den ausgezeichneten Gelehrten für immer 
gewonnen zu haben, da eritschloss sich Baer 1834 als Zoologe 
nach St. Petersburg überzusiedeln, das ihn schon 1829 zum 
Mitglied der Akademie der Wissenschaften ernannt und 
vorübergehend (W. S. 1829/30) bei sich gesehen hatte. Un- 
zertrennlich ist nun der Name Baers mit der Geschichte 
dieser wissenschaftlichen Körperschaft verbunden, der er fast 
ein halbes Jahrhundert angehörte, „nicht bloss ihre Zierde 
und ihren Stolz, sondern auch lange Jahre hindurch ihre 
Seele bildend. "2) 1862 schied er aus seiner amtlichen Stel- 

^) Klassiker der Naturwissenschaften, herausgeg. von L. Brieger- 
Wasservogel III. Bd. K. E. v. Baer von Wilh. Haake. 

*) Schrenck in der Grabrede. Bei Stieda: Karl E. v. Baer. 
Eine biogr. Skizze. Braunschweig 1886, Seite 99. 

1 

28282Ü 

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lung aus und zog sieh von persönlichen Gründen geleitet 
nach Dorpat zurück, wo er, bis zum letzten Augenblicke 
tätig, 1876 am 16. (28.) November sein reich gesegnetes 
Leben schloss. 

Karl Ernst von Baer war, wie sein Freund G. v. Hel- 
mer sen von ihm in einem Nachrufe sagt, ^) „ein Mann, wie 
sie in ganzen Jahrhunderten nur selten erschienen sind. Ein 
genialer Mann der Wissenschaft und der Forschung, begabt 
mit durchdringendem kritischen Verstände, mit ungewöhn- 
lichem Beobachtungstalent, mit Ausdauer und Energie bei 
der Arbeit. Die Erde und ihre Bewohner waren das grosse 
Feld seines Forschens und er brachte zu seiner Arbeit nicht 
nur eine tiefe philosophische Bildung, sondern auch einen 
Apparat der gründlichsten Kenntnisse in mehreren Disziplinen 
der Naturwissenschaft mit, wie ihn manche grosse Geister 
unserer Zeit nicht besessen haben." „Sein Name ist mit 
grossen Zügen in das Buch der Wissenschaft und ihrer Ge- 
schichte eingetragen." 

Das Gebiet von Baers Tätigkeit ist die Naturwissen- 
schaft in ihrer weitesten Fassung. Man kann wohl 
wie dies auch Stieda^) tut, im allgemeinen sagen, dass 
Baer anfangs hauptsächlich Zoologe, Anatom und Embryo- 
loge war, dann vor allem Geograph und schliesslich Anthro- 
pologe wurde. Und doch war er „keines von allem, er war 
viel mehr, er war alles zusammen: Naturforscher im 
weitesten Sinne des Wortes; jede der obigen Bezeichnungen 
deutet nur eine Seite seiner Tätigkeit an." 

„Baers Bedeutung ist eine universale, für alle Zukunft 
dauernde. Bleibendes hat er geleistet durch seine Typen- 
lehre, Bleibendes durch seine Begründung der Entwicklungs- 
geschichte, Bleibendes in Geographie und Anthropologie und 
Ethnographie." 3) 



^) Helmersen: Nachruf an Baer in der St. Petersburger Ztg. 
1876 Nr. 305 bei L. Stieda a. a. O. Seite 194. 

*) L. Stieda. a. a. O. Seite 198. 

') Stölzle: K. E. v. Baer und seine Weltanschauung. Regens- 
burg 1897. Seite 32. 



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In seiner allgemeinen Bedeutung für die Naturforschung 
ist Baer auch von Stieda und Haake in eigenen Bio- 
graphien gewürdigt worden; seine Weltanschauung ist der 
Gegenstand einer gründlichen Darstellung Stölzles ge- 
worden; nur seine Stellung zur Geographie und ihren 
Problemen ist noch nicht im besonderen beleuchtet worden. 
Als ein Versuch dazu nun seien die folgenden Ausführungen 
gedacht. 

Zunächst soll davon die Rede sein, welche Auffassung 
Baer von der Geographie als Wissenschaft hatte. 

Dabei müssen wir uns daran erinnern, dass um die 
Zeit, da Baer sich der Geographie mehr und mehr zuwandte, 
diese Wissenschaft bereits in ein neues Zeitalter der Blüte ^ 
eingetreten war. Aus der unwürdigen Stellung, die sie als 
Dienerin anderer Wissenschaften, besonders der Geschichte 
eingenommen hatte, hatte sie sich zur Selbständigkeit empor- 
geschwungen. Zwei berühmte deutsche Namen sind es, an 
die sich diese Entwicklung der Geographie knüpft: Alex, 
v. Humboldt u. Karl Ritter. Jener Meister in der Kunst 
des wissenschaftlichen Reisens wie in der Darstellung des 
Beobachteten; dieser Schöpfer der vergleichenden Länder- 
kunde. Ein neuer Geist war durch sie in die Wissenschaft 
eingezogen. Baer zeigt sich von diesem erfüllt, wenn er 
seine Ansicht über Geographie ausspricht. 

Wie er über sie urteilte, welch grosse Bedeutung er ß^jj^urteii 
ihr beimass, erkennen wir deutlich aus den Worten, mit^^^srap^^i«- 
denen er 1839 das Erscheinen der „Beiträge zur Kenntnis 
des Russischen Reiches und der angrenzenden Länder" an- 
kündigt. Der Plan zur Gründung dieser Zeitschrift war von 
Baer und Helmersen zu einer Zeit gefasst worden, als 
Baer infolge seiner Reisen nach dem Norden (Nowaja-Semlja 
1832, Finnische Inselwelt 1838/39) und seines regen Verkehrs 
mit ausgezeichneten Reisenden wie Zivolka, v. Lütke, 
v. Krusenstern, v. Wrangell immer mehr von seinem ur- 
sprünglichen Wissensgebiet, der Anatomie und Embryologie, 
abgelenkt und der Geographie zugeführt worden war. Manchen 
für die Geographie Russlands wertvollen Aufsatz hat dieses 
Journal gebracht, und Baer hat zu einigen derselben ein 

1* 



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Vorwort geschriebeai oder Anmerkungen gdiefert. In dem 
I. Bande*) spricht er sich folgendermassen über Geographie 
aus: „Die Geographie im weitesten Sinne des Wortes ist 
eine Wissenschaft geworden von dem allgemeinsten Interesse, 
seitdem die Arbeiten eines Humboldt und eines, Ritter 
anschaulich gemacht haben, dass nicht nur die Gesetze der 
Verbreitung der organischen Körper, sondern zum grossen 
Teile auch die Schicksale der Völker an der Erdoberfläche 
geschrieben stehen. In der Tat ist die Weltgeschichte, im 
ganzen übersehen, die Entwicklung zweier Bedingungen : der 
Beschaffenheit des Wohngebietes der Völker und der inneren 
menschlichen Anlage der letzteren. Es ist daher in unseren 
Tagen, ausser dem speziell geographischen, auch das ethno- 
graphische Interesse sehr gesteigert, und je mehr die euro- 
päische Zivilisation sich verbreitet und alle Verhältnisse 
gleich zu machen strebt, um so mehr muss man bemüht 
sein, treue und vollständige Gemälde der gesellschaftlichen 
Zustände auf allen Stufen der Ausbildung zu erhalten. Nur 
aus ihnen wird sich die innere Anlage des Menschen, modi- 
fiziert nach den Stämmen und Völkern, erkennen lassen. Das 
Russische Reich darf diesen Bestrebungen nicht fremd bleiben 
und ist ihnen in neuester Zeit nicht fremd.'' 
^hfsSe^^e.' S^ betont Baer die Wichtigkeit geo- und ethno- 

Petereburgs graphischcr Studien als Voraussetzung der Geschichtsforschung 
und hält es dabei für eine Ehrenpflicht des Russischen 
Reiches, hierin nicht zurückzubleiben. Er fühlt in diesem 
Punkte als russischer Patriot, den es schmerzt, dass sein 
V^aterland bei dem Wettbewerbe der Nationen auf dem Ge- 
biete wissenschaftlicher Betätigung zurückbleiben könnte. 
Dies tritt noch mehr zu Tage bei einer anderen Tat Baers, 
die sein Interesse für Geographie zeigt, bei der Gründung 
der Geographischen Gesellschaft in St. Petersburg 1845. Da- 
mals war gerade Middendor ff von seiner sibirischen Reise 
zurückgekehrt; man feierte den kühnen Reisenden bei einem 
grossen Festmahle. Hiebei empfand man es als einen be- 



*) Baer un<i Helmersens Beiträge zur Kenntnis des russischen 
Reiches I Bd. St. Petersburg 1839. 



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- 5 - 

klagenswerten Missstarid, dass kein Verein in Russland be- 
stehe, der die Verdienste eines solchen Mannes wie Midden- 
dorff gebührend hervorhebe und sie auch im Westen 
Europas, etwa in deutscher oder französischer Sprache, be- 
kannt mache. Aus solchen Erwägungen heraus schritt man 
zur Gründung einer Geographischen Gesellschaft. Baer 
und die Admirale V. Lütke und v. Wrangeil bildeten den 
Stamm, bald schlössen sich andere Freunde der Geographie 
an. Baer wurde i. Vorsitzender der Sektion für Ethno- 
graphie. Er hatte wesentlich zur Gründung der Gesellschaft 
beigetragen und brachte ihr auch ferner lebhaftes Interesse 
entgegen. So schrieb er für das von ihr herausgegebene 
Taschenbuch eine Abhandlung „Ueber den Einfluss der 
äusseren Natur auf die sozialen Verhältnisse der einzelnen 
Völker und die Geschichte der Menschheit'*^), von der hier 
gleich die Rede sein soll, weil die schon oben erwähnte An- 
sicht Baers über die Stellung der Geschichte zur Geographie 
hier weiter ausgeführt ist. 

„Das Schicksal der Völker", sagt er, „wird durch die 
Beschaffenheit der Wohngebiete, die sie inne haben, mit einer 
gewissen Notwendigkeit geleitet und also voraus bestimmt/' 
Je mannigfaltiger die Beschaffenheit der Wohnbezirke, desto 
mannigfaltiger die Lebensweise und desto höher die Ent- 
wicklung der sozialen Zustände. Die Bodengestaltung, d. i. 
die Verteilung von Land- und Wasserflächen, von Gebirgen 
und Wüsten und die dadurch bedingten klimatischen Ver- 
hältnisse sind von bestimmendem Einfluss auf die Geschichte 
der Völker. „In der physischen Beschaffenheit der Wohn- 
gebiete ist das Schicksal der Völker und der gesamten 
Menschheit gleichsam vorgezeichnet." Da aber alle physi- 
schen Verhältnisse der Erdoberfläche bestimmt sind durch 
die Neigung der Erdachse, so folgert Baer, „war das Fatum 
des Menschengeschlechtes in grossen Umrissen voraus be- 
stimmt, als die Erdachse ihre Neigung erhielt, als das feste 
Land vom Wasser sich schied, als die Berghöhen sich hoben 
und die Ländergebiete begrenzten; und die Weltgeschichte 

^) Reden und Aufsätze IL Teil i. Hälfte. St. Petersburg 1873. 
5. 1—47. 



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- 6 - 

ist nur die Erfüllung dieses Fatums." Aber, so führt Baer 
seinie Gedanken weiter, dieselben Verhältnisse, die von An- 
fang an das Fatum der Menschen bestimmten, sind auch 
heute noch von Einfluss, obgleich die Eroberungen der 
Wissenschaft und der Industrie dem Menschengeschlechte 
ausserordentliche Mittel zur Beherrschung der Naturverhält- 
nisse gegeben haben. Der zivilisierte Mensch vermehrt sich 
rasch, der Boden kann nicht alle ernähren. Der Mangel an 
Nahrung wird zur Auswanderung zwingen. Der Mensch 
wird daher in ferner Zukunft in seine wahrscheinlich ur- 
sprüngliche Heimat, in die heisse Zone zurückwandern. 
Aber er bringt einen Gewinn mit, den er sich auf der hohen 
Schule der Menschheit, Europa, erworben hat und das ist 
die Arbeit. Damit erkennen wir auch, meint Baer, und 
dies ist bezeichnend für seine teleologische Weltanschauung, 
warum die Erdoberfläche nicht überall gleich üppig für die 
Bedürfnisse der Menschen sorgt. 

„So wird die Menschheitsgeschichte", und das ist der 
Kern von Baers Darlegungen, „nur verständlich durch das 
Studium der physischen Verhältnisse, und die Geographie ist 
also notwendig die Basis vom Studium der Weltgeschichte.'^ 

Baer und Mit dicscr Ansicht steht Baer auf einer Stufe mit 

K. Ritter, der „unbefriedigt von dem bisher bestehenden 
Verhältnis der Abhängigkeit der Geographie von der Ge- 
schichte diese Beziehungen für beide Teile fruchtbringender 
zu gestalten suchte, indem er die geographische Bedingtheit 
der historischen Ereignisse nachzuweisen sich bemühte/'^) 

Noch in manch anderer Beziehung zeigt sich eine Ueber- 
einstimmung der Anschauungen Baers und Ritters. So 
begrüsst Baer freudig die neu aufgekommene Ritt er sehe 
Methode des geographischen Unterrichtes. In seiner Selbst- 
biographie 2) äussert er sich über den geographischen Unter- 



^) S. Günther: Geschichte der Erdkunde, Wien 1904. Seite 292. 

*) Nachrichten über Leben und Schriften des Herrn Geheimrates 
Dr. K. C. V. Baer, mitgeteilt von ihm selbst. St Petersburg 1869. 
Seite 35—38. 



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rieht, den er in seiner Jugend genoss. Das einzige, was er 
dabei vermisste, war die Berücksichtigung der „Ab- 
dachung," wie sie die neue Methode Ritters brachte, 
wenn er auch das Fehlen derselben nicht für unersetzbar 
hält. Denn, da die Gestaltung der Länder und Staaten 
nebst dem Verlaufe der Gebirge und Flüsse durch das da- 
mals geübte Copieren der Karten dem Gedächtnis tief ein- 
geprägt wurde, so schien es ihm, dass sich die Vorstellung 
von den Höhenverhältnissen sehr leicht daran knüpfen Uesse, 
wie alle diejenigen finden würden, die vor Ritter ihren 
geographischen Unterricht genossen hätten. Sicher sei diese 
Vorstellung wesentlich und notwendig für jeden, der ein an- 
schauliches Bild von der Gestaltung der Gesamtoberfläche 
der Weltteile haben wolle, aber man habe nach seiner An- 
sicht Unrecht gehabt, eine Zeitlang wenigstens, diese An- 
schauung als fast alleinige Grundlage des geographischen 
Unterrichtes zu betrachten. Und zwar hauptsächlich aus 
zwei Gründen: Dem Kinde werde es schwer, Abdachungs- 
verhältnisse grösserer Ländermassen sich vorzustellen und 
diese Vorstellung sich zur Gewissheit zu bringen, wenn man 
nicht unausgesetzten Gebrauch von Reliefkarten machen 
könne. Zweitens führe die ausschliessliche Betonung der 
Abdachungsverhältnisse dazu, dass der Schüler keine rechte 
Vorstellung habe von der Lage von Städten und Staaten, 
von denen doch ununterbrochen die Rede sei. Als Beispiel 
führt Baer dazu einen Königsberger Schüler an, der seiner 
Obhut anvertraut war. „Dessen Lehrer," sagt Baer, „war 
so begeistert von der soeben erlernten Ritt er sehen Methode, 
dass er alle gewöhnlichen Benennungen der Länder und 
Staaten verbannt wissen wollte. Wenn ich den Knaben 
fragte, wo Lemberg oder Turin liege, so wusste er durchaus 
nur zu sagen: im Nordkarpartenlande oder im Südalpen- 
lande." „Dass doch jeder Fortschritt," so ruft Baer aus, 
„denn das ist die Berücksichtigung der Abdachungsverhält- 
nisse in der Geographie gewiss, da sie die Züge der Völker 
und die Wege des Handels bedingen, anfangs bis zur Narr- 
heit entwickelt werden muss." 

Noch bei anderer Gelegenheit in dem Aufsatze : „Ueber 



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— 8 — 

Flüsse und deren Wirkungen" ^) spricht Baer seine Achtung 
vor der neueren plastischen Behandlung der Geographie aus. 
Er weist darauf hin, dass Ritter die geographische Wissen- 
schaft neu belebt habe, indem er Hochländer und Tiefländer 
unterscheidend darauf gedrungen habe, die wahre Gestaltung 
der Kontinente nach der grösseren oder geringeren Er- 
hebung in ihren einzelnen Teilen zu unterscheiden und so 
eine wichtige Anschauung von den Formverhältnissen der 
Erdoberfläche zu gewinnen. Dabei nennt er den Unterricht, 
welchen die ältesten noch lebenden Personen erhalten haben, 
so flach wie die Landkarten. Eine übertriebene Berücksich- 
tigung der verschiedenen Abdachungen (Erhebungsverhält- 
nisse), wie er sie in seiner Umgebung beobachtet hatte, miss- 
billigt er zwar, doch hebt er nachdrücklich die wissenschaft- 
liche Wichtigkeit der Abdachungsverhältnisse hervor, da sie 
auf die Entwicklung der einzelnen Völker, ihre Berührungen 
und Bewegungen den grössten Einfluss ausüben. Der wich- 
tige Satz, in dem seine Anschauung zusammengefasst ist, 
lautet : „Man kann mit Recht sagen, dass die Naturbeschaffen- 
heit der Länder und der Lauf der Flüsse von den Verhält- 
nissen der Abdachung abhängig sind, die Geschichte der 
Völker aber von jenen beiden ersteren/' 
grapWe^ünd Wir haben oben erwähnt, wie Baer in dem Vorworte 

^adfßlert für die „Beiträge zur Kenntnis des Russischen Reiches" die 
Auffassung. Wichtigkeit ethnographischer Studien für die Geschichte 
eben dieses Reiches hervorgehoben hat. Noch eingehender 
tut er dies in einem Vortrag, den er als Vorstand der 
Sektion für Ethnographie in der Geographischen Gesellschaft 
zu halten hatte: „Ueber ethnographische Untersuchung des 
Russischen Reiches insbesondere/' 2) „Geschichte,'' sagt 
er da, „oder wenigstens Kulturgeschichte und Ethnographie 
greifen unendlich vielfach ineinander über, ja sie sind im 
Grunde nur ein und dieselbe Wissenschaft. Die vergleichende 
Ethnographie zeigt in der Gegenwart Zustände, welche die 

1) Reden und Aufsätze IL Teil i. Hälfte. St. Petersburg 1873. 
Seite 107 — 169. 

^) Denkschriften der Russischen Geographischen Gesellschaft zu 
St. Petersburg. I. Band. Weimar 1849. S. 66—92. 



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Geschichte als vergangen annehmen muss und nur in der 
Gegenwart vollständig kennen lernen und beurteilen kann. 
Ausser der allgemeinen Kenntnis der verschiedenen Kultur- 
zustände ist die genaueste Kunde von den verschiedenen 
Völkern, der jetzigen Zeit wichtig um daraus Schlüsse auf 
die Einzelheiten der Geschichte zu machen, wo die eigent- 
lichen historischen Nachrichten fehlen. Nichts hat sich bei 
einem Volke erhalten, was nicht auf irgend eine Weise Auf- 
schluss und zuweilen sehr wichtigen Aufschluss über die 
Vergangenheit geben könnte. Körperbeschaffenheit, geistiges 
Naturell, Religion und Aberglauben, Sitten, . Nahrungsmittel, 
Art der Wohnung, des Hausgerätes, der Waffen, Sprache, 
Sagen, Lieder, Märchen, Art der Musik u. a. Künste." 
Klar erkennt hier Baer die Bedeutung der Volkskunde 
als Quelle der Geschichte. „Die Ethnographie der jetzigen 
Zeit gibt die lebenden Bilder für längst entschwundene Zu- 
stände anderer Völker, die jetzt in ganz anderen Staats- 
einrichtungen leben. Die Geschichte der menschhchen Ge- 
schlechter hat eben zweierlei Quellen, solche, welche einst 
auf Stein, Pergament und Papier abgefasst wurden und 
solche, welche noch jetzt fliessen im Leben der Völker.*' 
Die Geschichtsforschung, meint Baer, sollte mit grossem 
Eifer auch die geringsten Spuren der Volkseigentümlichkeit 
in jeder Beziehung wahren. Er beklagt es, dass man nicht 
daran denke, die jetzigen Volkszustände zu erkennen und 
2. B. eine russische Balalaika (Musikinstrument) irgendwo 
aufzuheben und hält die Geographische Gesellschaft für ver- 
pflichtet, alle Mittel, über die sie verfügen könne, vorzüglich 
auf die ethnographische Erforschung des Reiches zu ver- 
wenden. 

Was Baer für die Ethnographie Russlands weiterhin i^^^!^""^^^ 
wünschte, hat er in einem Vortrag niedergelegt: „Ueber eine ^SidT 
bei der Geographischen Gesellschaft anzulegende Sammlung 
ethnographischer Gegenstände.'* Dieser Vortrag wurde in 
der Sitzung vom 14. (26.) April 1848 verlesen und ist nicht 
deutsch gedruckt. Stieda gibt einen Auszug davon. ^) 



ij L. S t i e d a : K. C. V. Baer. S. 227/228. 



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— lO — 

Baer legt den unmittelbaren Vorteil einer ethnographischen 
Sammlung dar. Er bestehe darin, dass dieselbe die Eigen- 
tümlichkeit des physischen Lebens der Völker, sowie den 
Zustand der Künste und Industrie einer bestimmten Zeit- 
epoche durch Anschauungsgegenstände darstelle. Der darin 
liegende Vorteil könne durch Beschreibung niemals erreicht 
werden. Auch gibt Baer ein Verzeichnis der Gegenstände, 
wie sie ein ethnographisches Museum enthalten solle. Was 
er darin als Sammlungsobjekte vorschlägt, gehört heute zu 
dem Grundbestande einer völkerkundlichen Sammlung. Doch 
bleibt es Baers Verdienst, dass er sich so lebhaft um das 
Zustandekommen eines Ethnographischen Museums bemüht 
und seine Errichtung auch erreicht hat. 

Auch hat Baer in der Folge der Sammlung zahlreiche 
Schädel russischer und fremder Völker zugeführt, die er 
geographisch ordnete und teilweise auch beschrieb. Zahl- 
reiche Abhandlungen Baers sind auf seine kraniologischen 
Studien zurückzuführen, wie über die Schädel von Karagas- 
sen, rhätischen Romanen, Papuas und Alfuren, doch sind 
die Schriften zu sehr anthropologischer Natur, um hier im 
einzelnen besprochen zu werden. Als eine auf Ethnographie 
bezugnehmende Arbeit kann man auch Baers Doctor- 
dissertation ansehen; sie handelt von den Krankheiten der 
Esthen. ^) 

Wir haben im vorausgegangenen Abschnitt gesehen, 
LeSSi^ST welch' hohe Auffassung Baer von der Bedeutung der Geo- 
phischem graphic als Wissenschaft besass und welch* grosse Erwar- 
tungen er von ihrer künftigen Entwicklung hegte. Es sei 
nun weiterhin hervorgehoben, welche Verdienste er sich 
um die Geographie selbst erworben hat. Baer war für sie 
tätig durch seine zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten, 
durch seine historischen Studien, durch Entwerfen von Reise- 
plänen für andere Forscher und Unterstützung derselben 
mit Rat und Tat und nicht zuletzt durch seine eigenen 
Reisen. Von diesen sei zunächst die Rede. Zwar dienten 



Gebiete. 



Dissertatio inauguralis medica de Morbis inter Esthenos ende- 
micis, quam 1. c. p. defendet auctor Carolus Ernestus Baer in Esthonia 
natus. Dorpati 1814. 



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— II — 

sie grösstenteils ursprünglich nicht rein geographischen 
Zwecken, sie hatten vielmehr hauptsächlich allgemein natur- 
wissenschaftliche oder rein praktische Aufgaben zu lösen, 
allein sein scharf beobachtender Blick liess ihn auch Wahr- 
nehmungen machen, die vom geographischen Standpunkt 
aus sehr bemerkenswert sind. Vor allem gilt dies von seiner 
Reise nach Nowaja Semlja, die für die Erschliessung dieser 
Doppelinsel sehr wertvolle Beiträge lieferte. 

Schon in seiner Königsberger Zeit hatte sich Baer ^^Jg^^^J^J 
lebhaft mit dem Wunsche getragen eine Reise nach dem 
hohen Norden zu unternehmen, um die Lebensbedingungen 
und die Verbreitung der Organismen daselbst kennen zu 
lernen. Allein an äusseren Gründen war die Ausführung 
gescheitert; das Projekt blieb zunächst liegen. Erst durch 
die Bekanntschaft Baers mit Zivolka, einem jungen 
Marineoffizier, wurde es wieder aufgenommen. Bei diesem 
Manne hatte sich Baer nach dem Walrossfange erkundigt; 
denn er hatte sich viel mit diesem Tiere beschäftigt und 
wünschte selbst eines zu zergliedern. Zivolka war schon 
viel im Weissen Meere gefahren und auch bis Nowaja Semlja 
gekommen. Er erzählte Baer nicht nur vom Walrossfang, 
sondern auch viel von der Insel, für die er grosse Vorliebe 
besass. Dadurch „erneuerte sich Baers alte Liebschaft für 
den hohen Norden"^) und die alten Reisepläne beschäftigten 
aufs neue seinen lebhaften Geist. Mit leidenschaftlichem Eifer 
vertiefte er sich in das Studium nordischer Reiseberichte 
und legte der Akademie einige einschlägige Arbeiten vor. 
In diesen berichtete er über die Reise Zivolkas nach No- 
waja Semlja und ihre Resultate. Dann trug er, wie er selbst 
erzählt, 2) bei der Akademie darauf an, ihn auf ihre Kosten 
dahin zu senden, denn er wolle doch sehen, „was mit so 
geringen Mitteln die Natur an Lebensprozessen produzieren 
könne." Auch in einem Briefe, den er später aus Kostin- 
Schar an seinen Freund Ernst Mayer in Königsberg, den 
berühmten Historiker der Botanik, richtete, erzählt er, was 



^) Selbstbiogr. S. 553. 
^) Selbstbiogr. S. 554. 



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— 12 — 

ihn bewogen habe „seine alten Knochen nach Nowaja Semlja 
zu tragen." Zuvörderst der Wunsch, sagt er, noch ein 
Walross zu zergliedern^ dann die Berechnung von zweijährigen, 
meteorologischen Beobachtungen aus Nowaja Semlja. „Was 
kann in einem solchen Lande gedeihen, dachte ich, und ist 
die Flora von Nowaja Semlja nicht darin sehr wichtig, dass 
sie uns lehren kann, wie weit eine Menge europäischer 
Pflanzen wirklich gehen, deren Grenze man an das Nordkap 
versetzt, die aber vielleicht weiter gegangen wären, wenn 
jenseits Mageroe noch Land wäre."^) Die Akademie be- 
willigte die Reisemittel und Baer ging sogleich Sommer 1837 
nach Archangelsk, um von dort aus die Reise anzutreten. 
In seiner Begleitung befanden sich Zivolka, Alex. Leh- 
mann, ein junger Naturfprscher, ferner ein Zeichner, ein 
Laborant und ein Diener. 
studienüber Bevor wir aber auf den Verlauf und die äusseren Schick- 

Nowaja 

Semlja. gale der Expedition eingehen, wollen wir die schon erwähnten, 
auf Nowaja Semlja bezüglichen Arbeiten Baers betrachten, 
die seiner Reise vorausgingen. Die erste derselben gibt einen 
„Bericht über die neuesten Entdeckungen an der Küste von 
Nowaja Semlja.*'^) Er meint damit die Expeditionen Pach- 
tussows 1832 und Pachtussows und Zivolkas 1833/34. 
Zivolka hatte auch eine Karte der Insel angefertigt ; Baer 
hatte sie bei ihm kennen gelernt und gibt sie in seinem Auf- 
satze wieder. Er bemerkt dazu, dass Nowaja Semlja hier 
eine ganz andere Gestalt gewonnen habe, als auf der L ü t - 
keschen (1824), der einzigen, auf wissenschaftliche Bestim- 
mungen gegründeten, welche seit der Reise der Holländer 
(1594— 1596) ins grössere Publikum gekommen sei. Dieser 
Unterschied beruhe erstens auf der Zeichnung der Ostküste, 
welche technisch korrekt aufgenommen sei und daher volles 
Vertrauen verdiene, zweitens in der Verkürzung des nord- 
östlichen Teiles, den v. Lü t k e zu erreichen vom Eise gehindert 
worden sei. Als das wichtigste Ergebnis der Pachtus- 



^) Selbstbiogr. S. 554. 

^) Bulletin scientifique de rAcademie Imperiale des sciences de 
St. Petersbourg. Tome II, 1837 S. 137— 171. 



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— 13 ~ 

sow'schen Expedition von 1832 bezeichnet Baer die Auf- 
nahme der Ostküste der südlichen Hälfte und die Beobach- 
tung, dass diese Küste im allgemeinen niedrig und nur in 
sehr wechselnden Intervallen ganz frei von Eis sei; als das 
Ergebnis der zweiten Expedition unter Pachtussow und 
Zivolka die Aufnahme von Matotschkin -Schar und der 
Ostküste der Nordinsel bis zur Pachtussow-Insel. Es erfüllt 
Baer mit Befriedigung, dass die russische Marine durch 
Verfolgung der Ostküste von Nowaja Semija das Gebiet 
ihrer Herrschaft weiter ausgedehnt hatte, und er stellt mit 
Genugtuung fest, dass die ganze Nordküste der alten Welt von 
der Obischen Halbinsel bis zur Beringstrasse von den Russen 
entdeckt worden ist, und dass jenseits des Ostkaps im Lande 
der Tschuktschen noch nie eine andere Flagge geweht habe 
als die russische, wie an der Küste von Nordamerika keine 
andere als die britische. Wir erwähnen dies als ein Zeichen 
von Baers warmer Liebe für sein Vaterland, denn er fühlte 
sich zu gleicher Zeit als Deutscher in nationalem und als 
Russe in politischem Sinne. Der Name der Insel Nowaja 
Semija erscheint Baer als ein Beweis, dass sie von den 
Russen entdeckt worden ist, denn Nowa Sembla ist ein 
russischer Name, nicht holländisch oder englisch ; auch hätten 
die Holländer schon vor ihrer Abreise Kenntnis von der 
Insel gehabt, die sie nur von den Russen hätten erhalten 
haben können. In der Tat fand Barendsz, als er 1594 
auf Nowaja Semija landete, mannigfache Anzeichen ehe- 
maliger russischer Besiedlung. Und dieser holländische See- 
fahrer darf, nachdem es zweifelhaft ist, welche Insel — ob 
Nowaja Semija oder Kolgujew — Willoughby gesichtet 
hat, als der eigentliche historische Entdecker der Insel gelten, 
wie überhaupt die Grosstaten bei der Entdeckung der Nord- 
westlichen und Nordöstlichen Durchfahrt ausschliesslich 
Germanen vollbrachten. Da aber die Russen Nowaja Semija 
nicht durch Küstenschiffahrt erreicht haben können, so sieht 
Baer in ihrer Fährt dahin auch einen Beweis dafür, dass sie 
schon vor Peter dem Grossen Schiffahrt getrieben hätten, 
Peter also nicht, wie gewöhnlich behauptet werde, ihr ein- 
ziger Lehrmeister darin gewesen sei. Damit wolle er, sagt 



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— 14 — 

Baer, keineswegs Peters Verdienste schmälern. Und er 
hat diese Versicherung dadurch bekräftigt, dass er später 
eine Schrift über Peters Verdienste um die Erweiterung 
der geographischen Kenntnisse verfasste, in der dieser Zar 
als Schöpfer der Schiffahrtskunde in wissenschaftlicher Ge- 
stalt gepriesen wird. 
Das KHma Wir haben oben erwähnt, dass zu den Gründen, welche 

scmijas. B a e r zu seiner nordischen Reise veranlassten, auch der Wunsch 
gehörte, die Flora eines von der Natur so wenig begünstigten 
Landes kennen zu lernen. Darum nahmen die Temperatur- 
beobachtungen, die Pachtussow 1832/33 und Pachtus- 
sow und Zivolka 1834/35 angestellt hatten, sein höchstes 
Interesse in Anspruch. Er studierte sie durch, berechnete 
die mittleren Jahrestemperaturen und berichtete darüber an 
die Akademie. „Ueber das Klima von Nowaja Semlja und 
die mittlere Temperatur insbesondere."^) Es standen Baer 
zwei meteorologische Tagebücher zur Verfügung. Das erste 
war auf der Pachtussowschen Reise in den Jahren 1832/33 
gefiihrt worden und zwar vom 2. Aug. bis 14. Nov. 1833. 
Die Beobachtungen wurden über ein Jahr ausgedehnt und 
ununterbrochen von 2 zu 2 Stunden angestellt. Für jede 
Beobachtung wurde nicht nur die Temperatur, sondern auch 
der Stand des Barometers, die Richtung und Stärke des 
Windes und die Beschaffenheit des Himmels aufgezeichnet. 
Die Lage der Beobachtungshütte in der Felsenbai an der 
Südostüste wurde astronomisch zu 70^ 36' 47" n. Br. und 
57^ 47' ö. L. von Greenwich bestimmt. Dennoch ergab sich 
aus der Berechnung von 11 monatigen Beobachtungen eine 
merklich niedrigere Temperatur als in der fast 3 Grad nörd- 
licher sich befindenden Westmündung von Matotschkin-Schar, 
nämlich —9,45 ^ Celsius gegen —8,37 ® Geis. Das zweite Journal 
wurde auf der zweiten Reise geführt, welche Pachtussow 
mit Zivolka unternommen hatte. Es begann am 25. JuU 
1834 und reichte bis zum 21. Aug. 1835. Die Hütte lag in 
der Nähe der Westmündung von Matotschkin-Schar. Baer 
fand die mittlere Temparatur für die Westmündung dieser 



*) Bulletin scientifique. Tome II S. 225—238. 



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— 15 — 

Meeresstrasse aus den arithmetischen Mitteln aller Beobach- 
tungen berechnet gleich — 8,37^0 Diese mehr als i ^ betragende 
Differenz der mittleren Temperaturen beider Orte findet Baer 
zwar auffallend, doch übereinstimmend mit allen Erfahrungen, 
welche Seefahrer an diesen Küsten gemacht hätten, und bei 
näherer Erwägung der Verhältnisse auch verständlich. Die 
Westküste werde von einem weiten Wasserbecken bespült, 
das während des grössten Teiles des Jahres eisfrei sei. Die 
Ostküste dagegen liege an dem Karischen Meer, das von 
drei Seiten von Land umschlossen sei und einem Eiskeller^) 
gleiche, und dessen Pforte fast immer durch Eis gesperrt sei. 
Dieselbe Wirkung, welche die Lokalverhältnisse der Karischen 
Pforte im Süden hervorbrächten, werde weiter nach Norden 
durch die hohe Bergkette bedingt, welche längs der West- 
küste laufe und einen ähnlichen Einfluss wie an der Küste 
von Norwegen äussere. Sie bräche die mildernden Wirkungen 
des Wasserbeckens zwischen Lappland, Nowaja Semlja und 
Spitzbergen. Westwinde brächten an der Westküste Feuch- 
tigkeit, an der Ostküste aber kämen die Westwinde trocken 
an und nur Ostwinde bringen, wenn das Karische Meer offen 
sei, Feuchtigkeit, die ebenso wenig an die Westküste reiche. 
Nowaja Semlja bildet also, zu diesem Schlüsse kommt Baer, 
eine Wetterscheide, obgleich die südliche Hälfte nicht einmal 
eine bedeutende Bergreihe enthält. 

Die mittlere Temperatur Nowaja Semljas berechnet 
Baer auf — 8,91 ® C. Er stellt sie in Vergleich zu derjenigen 
anderer Länder. Nowaja Semlja ist viel kälter als Grön- 
land, bedeutend kälter als die Nordküste von Labrador 
( — 3,4^), noch merklich kälter als die Süd- und Westküste 
von Spitzbergen ( — 7^). Auch Jakutsk (— 8,07**) ist noch 
wärmer. Dagegen ist Nowaja Semlja wärmer als Nischnij 
Kolymsk (—10% als Ustjansk ( — 15,240), wärmer als ein 
grosser Teil Nordamerikas, z. B. Fort Enterprise ( — 12,13^). 
Es fällt nun Baer auf, dass in den nordamerikanischen Gegen- 
den Menschen wohnen, in Nowaja Semlja dagegen nicht. 

^) Die Bezeichnung der Karischen See als „Eiskeller" hat Baer 
mancherlei Angriffe eingetragen, auf die wir später zu sprechen kommen 
werden. 



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- j6 - 

Er sieht den Grund nicht in der geringen Wärme an sich, 
sondern vielmehr in der ungünstigen Verteilung derselben. 
Der Winter hat nur eine mittlere Kälte von — 19,66*^, ist 
mithin nicht viel strenger als im Inneren von Lappland, aber 
die mittlere Sommerwärme ist überaus gering mit +2,53^. 
Dieser kalte und neblige Sommer ist beinahe der rauheste, 
den man kennt, und er schadet nach Baers Ansicht Nowaja 
Semlja sehr. 

Zu den eben gegebenen Resultaten seiner Berechnungen 
fügte Baer noch zwei weitere über den jährlichen und den 
täglichen Gang der Temperatur in Nowaja Semlja. ^) Er stellt 
die mittlere Temperatur der 12 Monate des Beobachtungs- 
jahres für die Westmündung von Matotschkin - Schar und 
die Südostspitze der Ostküste nebeneinander und es fällt ihm 
dabei auf, dass der März, wie fast überall im Nordpolarge- 
biete, so entschieden der kälteste Monat ist in der Reihe 
für die Südostspitze, der August der wärmste und der Mai 
ungefähr der mittlere. Den Grund sieht Baer in der steten 
Hinleitung des Eises im Karischen Meer, durch das eine Ver- 
schiebung der Jahreszeiten veranlasst werde. Baer hält es 
unter diesen Umständen für ein Unrecht, die meteorologische 
Begrenzung der Jahreszeiten hier ebenso anzunehmen wie 
gewöhnlich, indem man für den Winter den Januar, für den 
Sommer den Juli in die Mitte nimmt. Man solle mit diesen 
Monaten den Anfang machen. Er ist überhaupt der Meinung,, 
dass die Frage über das Verhältnis des Winters und des 
Sommers in den verschiedenen Gegenden nur dadurch be- 
antwortet werden könnte, dass man die Kurve, welche der 
jährliche Gang der Temperatur beschreibt, für jeden Ort 
durch graphische Darstellung oder mathematischen Ausdruck 
bestimme und die Epochen der höchsten und niedrigsten 
Temperatur als die Mitte von Sommer und Winter annehme* 
Man solle, verlangt er, unterscheiden zwischen meteoro- 
logischem und astronomischem Jahr. 

Baer gibt weiterhin eine Tabelle, in der er für jede 
der beiden Stationen (West- und Ostküste) die höchste und 

^) Ueber den jährlichen Gang der Temperatur in Nowaja Semljai. 
Bull, scient. Tome II 1837 N. 16 u. 17. C. 242—254. 



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- 17 - 

niedrigste Temperatur für jeden einzelnen Monat zusammen- 
stellt und das daraus berechnete mit dem aus allen Tem- 
peraturbeobachtungen gewonnenen oder „wahren Mittel" ver- 
gleicht. Aus dieser Uebersicht erkennt man, wie sehr in 
diesen Gegenden die Berechnung der mittleren monatlichen 
Temperatur aus dem höchsten und niedrigsten Stande des 
Thermometers während eines Monats von der Wahrheit ab- 
weicht. Die Tabelle macht auch anschaulich, dass die grössten 
Temperaturdifferenzen nicht in die Sommermonate fallen, wie 
in den mittleren Breiten. Dasselbe Ergebnis findet Baer bei 
den dreissigmonatigen Beobachtungen von Ross in Boothia 
felix, wo ebenfalls die Temperaturunterschiede im Sommer 
am geringsten waren, im Herbst rasch zunahmen, im Winter 
wieder kleiner wurden und im Frühling wieder wuchsen. 
Der November zeigte die grössten Differenzen und zwar in 
allen drei Jahren fast dieselben.. Da ganz offenbar, so folgert 
nun Baer, diese Temperaturdifferenzen der einzelnen Monate 
sich nach dem Wechsel von Tag und Nacht richten, so dürfe 
man annehmen, dass unter dem Pole, in der Mitte der Polar- 
nacht und insbesondere des Polartages geringe Schwankungen 
in der Temperatur obwalten werden. 

Die eben erwähnten Beobachtungen, die Ross 30 Mo- 
nate alle 2 Stunden in der Nähe des amerikanischen Kälte- 
poles anstellen liess, benützt Baer in einem weiteren Aufsatze 
nochmals zu einem Vergleiche: „Ueber den täglichen Gang 
der Temperatur in Nowaja Semlja."^) Aus der Gegenüber- 
stellung der Beobachtungen auf Nowaja Semlja und Boothia 
felix schliesst Baer: 

1. Dass der tägliche Temperaturwechsel in den Winter- 
monaten am geringsten war, dass er dann im Frühling rasch 
zunahm, im April und Mai am grössten wurde und im Sommer 
wieder bedeutend abnahm. 

2. Dass die Differenzen der täglichen Temperatur in 
hohen Breiten nicht so gross sind als in mittleren. 

3. Dass die grösste Wärme im allgemeinen und beson- 
ders im hohen Norden früher eintritt als tiefer im Süden. 



*) Bull, scientifique, Tome II, Nr. i8. S. 289 — ^300. 1837. 

V. Baer als Geograph. 



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— i8 — 

4. Dass auch im hohen Norden die grösste Wärme auf 
verschiedene Stunden des Tages fällt, dass aber die Diffe- 
renzen nicht so gross sind als weiter im Süden. 

Sehr auffallend erscheint es Baer, dass in der Karischen 
Pforte während des Januars die grösste Wärme um 4 Uhr 
nachmittags und im November sogar 2 Stunden vor Mitter- 
nacht beobachtet wurde. Ja, in Matotschkin-Schar gewinnt 
diese nächtliche Erwärmung zu viel Regelmässigkeit, um sie 
zufälligen Strömungen beizumessen. Im November fällt näm- 
lich die grösste Wärme auf 6 Uhr nachmittags, im Dezember 
zwischen 10 Uhr und Mitternacht, im Januar zwischen Mitter- 
nacht und 2 Uhr. Im Februar fällt zwar die grösste Er- 
wärmung, welche die Sonne hervorbringt, auf die Zeit nach 
dem Mittag, allein es ist deutlich, dass einige Stunden nach 
Mitternacht eine geringe Erwärmung vorherging. Dies lässt 
nun Baer zu der Vermutung kommen, dass im Winter un- 
abhängig von der Sonne ein anderer Grund der Erwärmung 
wirke, dessen Erfolg von Monat zu Monat später kenntlich 
werde. Da nun beide Beobachtungsorte an Meerengen liegen, 
so stellt Baer die Frage, ob nicht, da notwendig fortgehend 
die verschiedenen Temperaturen der Ost- und Westküste sich 
ausglichen, in der Nacht regelmässig ein Luftstrom aus 
wärmeren Gegenden vorbeigehe. Um sich zu überzeugen, 
ob der sonderbare Gang der Temperatur im Winter auf 
Lokalverhältnissen der Beobachtungen beruhe, zog Baer die 
mittlere Temperatur aus den Beobachtungen von Ross auf 
Boothia felix aus. Die Tabelle bestätigte seine Vermutung, 
dass dort keine solche Erwärmung nach den verschiedenen 
Monaten innerhalb der Stunden eines Tages hervortrete. 

Aus dem Vergleich der drei Tabellen ersieht nun Baer 5. 
dass, je weiter nach Norden, um so entschiedener während 
des Polartages die niedrigste Temperatur auf Mitternacht 
oder sehr bald nach Mitternacht fällt. 

Und 6. endlich scheint Baer aus diesen Uebersichten 
hervorzugehen, dass in der Tat der Anfang der Dämmerung 
eine abkühlende Wirkung habe, wogegen es aber auch scheine, 
dass bei geringer Tiefe der Sonne unter dem Horizonte die- 
selbe schon erwärmend wirke. 



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- 19 - 

Die vier Arbeiten Baers, die seiner Reise vorausgingen, gj^l^l^jj^ 
legen Zeugnis dafür ab, auf welch' gründliche Weise er sich ^riSch^"* 
vorbereitete. Nach solch eingehenden Vorstudien und bei **««»^ 
der Fülle seines naturhistorischen Wissens und seiner scharfen 
Beobachtungsgabe war Baer wie kein anderer geeignet, die 
Forschungsreise anzutreten. „Bisher war Nowaja Semlja 
bloss im kommerziellen und nautischen Interesse besucht worden, 
kein Naturforscher von Fach hatte noch mit dem Zauberstab 
der Wissenschaft das Land berührt". i) Baer war der erste 
Naturforscher, der die Insel besuchte. 

Am 7. Juni 1837 ^'"^.t er seine Reise an. lieber den 
Gang derselben berichtet er in zwei Briefen, die er von 
Archangelsk aus an die Akademie richtete. 2)^) Am 18. Juni 
kamen die Reisenden glücklich in Archangelsk an. Hier 
wurde die Geduld Baers auf die erste Probe gestellt. Noch 
war noch kein Walrossfänger angekommen, das Weisse 
Meer war noch voll Eis. Man benützte den unfreiwilligen 
Aufenthalt zu einer Fahrt in die See und zum Sammeln von 
Muscheln, Tangen und Küstenpflanzen des Weissen Meeres. 
Der von der russischen Marine zur Verfügung gestellte 
Schooner war zu klein; Baer mietete deshalb noch die Lodja 
eines Walrossfängers. Die fünf Reisenden verteilten sich 
auf beide Fahrzeuge, und am 19. Juni segelten sie ab. In 
der Nacht vom i. auf 2. Juli kamen sie an der Südküste 
von Lappland an. Sie fuhren die Küste entlang und ge- 
langten bis Tri-Ostrova an der Ostseite; gelegentlich unter- 
brachen sie die Fahrt, um Exkursionen an das Land zu unter- 
nehmen. Auf einen Besuch in Kola verzichteten sie wegen 
des Zeitverlustes und segelten nun direkt nach Matotschkin- 
Schar, wo sie am 17. Juli nach stägiger Fahrt ankamen. 
Nachdem die Ausmündung der genannten Meerenge in 
geognostischer, botanischer und zoologischer Hinsicht unter- 



^) J- Spörer: Nowaja Semlä in geographischer, naturhistorischer 
und volkswirtschaftlicher Bedeutung. (Ergänzungsheft 21 zu Petermanns 
Mitt. 2. Teil 1867.) 

*) Expedition ä Nowaja Zemlia et en Laponie. Premier Rapport 
de Mons. de Baer. Bull, scient. Tome II S. 345. 

») Tome III. Bullet, scient. 1838 Nr. 5—7. S. 96—107. 

2* 



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— - .20 — 

sucht worden war, wurde etwas tiefer in ihr ein Ankerplatz 
für längeren Aufenthalt gesucht. Von hier aus wurden nach 
allen Richtungen Exkursionen unternommen. Am letzten 
Juli durchfuhren sie Matotschkin-Schar bis an den Ausgang 
ins Karische Meer. Nach der Rückkehr an die Westmündung 
segelten sie nach Süden und ankerten in der Nähe von 
Kostin-Schar an der Mündung eines Flusses Nechwatowa. 
Von hier aus unternahmen sie wieder Ausflüge in die Um- 
gegend und ins Innere, Am 30. August lichteten sie dann 
nach 6 wöchigem Aufenthalt auf der Insel die Anker mit 
Kurs nach der Halbinsel Kola. Infolge widriger Winde gaben 
sie jedoch die Fahrt dahin auf und erreichten dann am 
II. Sept. glücklich Archangelsk, von da in kurzer Zeit 
St. Petersburg. 

Baer war mit dem Verlauf seiner Reise zufrieden; er 
hatte Glück gehabt. Das Wetter war im Vergleich zu dem,^ 
das frühere Expeditionen gehabt hatten, günstig gewesen^ 
Schiffe und Mannschaft waren in gutem Zustand zurückge- 
kehrt. Die wissenschaftlichen Früchte der Expedition waren 
reichlich. 90 verschiedene Arten von Phanerogamen waren ge- 
funden worden und mindestens halb so viel Kryptogamen. 
lieber 70 Arten wirbelloser Tiere hatte man festgestellt. 
Das Felsengebäude Nowaja Semljas war an besuchten Stellen 
von Lehmann genauer erforscht worden, Zivolka hatte 
die Höhe der bedeutendsten Berge um Matotschkin-Schar ge- 
messen, Witterungsbeobachtungen gemacht und magnetische 
Beobachtungen angestellt, der Zeichner Abbildungen von 
naturhistorischen Gegenständen und landschaftlichen Auf- 
nahmen geliefert. 

Die Reise hatte einen tiefen und bleibenden Eindruck 
auf Baer hinterlassen. Nach fast 30 Jahren noch, 1864, als 
er seine Selbstbiographie schrieb, war die Erinnerung lebendig 
in ihm. Er sagt:^) „Noch jetzt gehört die Erinnerung an 
den grossartigen Anblick des Wechsels der dunklen Gebirge 
mit den mächtigen Schneemassen und den farbenreichen^ 
überaus kurzen und fast sämtlich in Miniaturrasen gesammelten 



^) SelbstWographie S. 407. 



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21 — 

Blumen der Ufersäume, die in die Erde kriechenden, nur mit 
döi letzten Schüssen aus den Spalten vorragenden Weiden 
zu den lebhaftesten Bildern meines Gedächtnisses. Zu den 
schönsten, möchte ich sagen, gehören die Eindrücke der 
feierlichen Stille, welche auf dem Lande herrscht, wenn die 
Luft ruht und die Sonne heiter scheint, sei es am Mittage 
oder um Mitternacht. Weder ein schwirrendes Insekt, noch 
die Bewegung eines Grashalmes oder Gesträuches unter- 
bricht diese Stille; denn alle Vegetation ist nur am Boden." 

Was Baers Reise für die geographische Wissenschaft 
besonders wertvoll macht, ist die Tatsache, dass sie, als die 
erste wissenschaftliche Expedition nach Nowaja Semlja „für 
die Klimatologie und Physiographie dieser Insel den Grund 
gelegt''. „Flora und Fauna der Wissenschaft einverleibt und 
die Naturverhältnisse der Insel in klaren Zusammenhang mit 
der Erdphysik gebracht hat/' ^) „Die Abhandlungen, welche 
Baer in den Bulletins der Akademie veröffentlicht hat, haben 
ihm mit Recht den Namen eines wissenschaftlichen Entdeckers 
der Insel erworben." 2) In ihnen will er der Akademie „ein 
physisches Gemälde der von ihm besuchten Gegenden (tableau 
physique des contrees visit6es)" geben. Sie umfassen fünf 
Artikel. 

Der erste handelt von dem Ufer des Weissen Meeres Pflanzen- 

gtogr&phi' 

und Lappland. ^) Baer hatte, wie erwähnt, die kurze Zeit sche^Resui- 
seines lappländischen Aufenthaltes hauptsächlich zur Be- 
obachtung der Pflanzenwelt benützt und gibt von derselben 
eine anschauliche Schilderung. i,Lappland^', sagt er, „kann 
man mit Recht das Land der Flechten und Moose nennen. 
Wo der Boden während des Sommers austrocknet, erzeugen 
sich Flechten, wo er feucht bleibt, Moose. Und Flechten 
und Moose scheinen in einem fortwährenden siegreichen 
Kampfe mit der übrigen Vegetation zu stehen.*' Der Anblick 
der verkümmerten Bäume und Wälder bestärkte Baer in 
seiner Ueberzeugung. „Fügt man noch hinzu," so fährt er 
fort, „dass in der Nähe der kleinen Flüsse oder an andern 

^) J. Spörer a. a. O. Seite 45. 

) »> >i ff »> 45' 

*) Bulletin scient. Tome III 1838 S. 132 — 144. 



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— 22 — 

wasserreich sich erhaltenden Stellen niedriges, aber oft un- 
durchdringliches Weidengestrüpp sich bildet, so hat man ein 
allgemeines Bild der gesamten Küstengegend des russischen 
Lapplandes, das wir teils besucht, teils vom Schiffe aus 
immer im Auge behalten haben." Auch das animalische 
Leben des Festlandes fesselte Baers Aufmerksamkeit. Er 
fand, dass die Zahl und Mannigfaltigkeit der Seevögel, wie 
sie sich an der norwegischen Küste zeige, in Lappland nicht 
erwartet werden dürfe. Die Zahl der Singvögel in den 
Wäldern südlich und nördlich von Archangelsk zeige eine 
auffallende Abnahme, die der hühnerartigen Vögel sei an- 
sehnlich. Der Ruf des Kuckucks, der sich bis jenseits des 66^ 
n. Er. hören lasse, werde unter diesen Umständen um so 
auffallender. Wir sehen, dass Baer, was bei ihm als Zoologen 
ja sehr nahe liegt, sein Augenmerk auch auf die geogra- 
phische Verbreitung der Tiere richtet. Zum Schlüsse seines 
Aufsatzes spricht er in anregender Weise von der Bevölke- 
rung Lapplands und ihren Erwerbsquellen. 
Geoiofische Der zweite der Reiseaufsätze handelt von der „Geo- 

Resuitate. gnostischeu Konstitution von Nowaja Semlja".^) 

Der Geognost der Expedition, der schon erwähnte 
Studierende der Naturwissenschaft in Dorpat Lehmann 
entwarf einen Umriss von der geognostischen Beschaffenheit 
des Landes. Er führte als die wesentlichen, von der Ex- 
pedition auf Nowaja Semlja angetroffenen Gesteinsarten 
folgende auf: Tonschiefer, Talkschiefer, grauer Quarzfels, 
grauer, versteinerungloser Kalk, schwarzer, orthoceratiter 
Kalk, Mandelstein, Aupitporphyr. Als Hauptaufgabe der 
Expedition auf dem Gebiete der Geognosie bezeichnet Baer 
jedoch die Untersuchung darüber, ob das Gebirge auf Nowaja 
Semlja eine Fortsetzung des Ural sei oder nicht. Baer be- 
ruft sich bei der Lösung dieser Frage zunächst auf Alex. 
Schrenck, der im Dienste des kaiserlichen botanischen 
Gartens 1838 die Samojedentundra des Archangelskschen 
Gouvernements durchreiste. Dieser drang bis zum Ural vor, 
untersuchte denselben geologisch und verfolgte die nörd- 



^) Bullet, scient. Tome III 1838 S. 151— 159. 



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— 23 — 

lichsten Ausläufer dieses Gebirges bis nach Waigatsch hin. 
Hier herrscht nun, nach seiner Mitteilung, derselbe graue, 
versteinerungslose Kalkstein, der Kostin-Schar umgibt und 
sich von hier über die Südspitze von Nowaja Semlja fort- 
setzt. Es gleichen nicht nur die um Kostin-Schar geschlagenen 
Belegstücke denen von Waigatsch einigermassen, sondern 
es stimmen auch die anderen geognostischen Verhältnisse 
miteinander überein. Baer selbst ist der Ansicht, dass schon 
die äussere Form und Lage von Nowaja Semlja in Verbin- 
dung mit der Insel Waigatsch fast zu der Ueberzeugung 
nötigen, dass die ganze Inselgruppe eine Fortsetzung des 
Ural sei. Er findet es daher sehr auffallend, dass.Ludlow,^) 
der einzige Geognost, der bisher Nowaja Semlja besucht 
hatte, als Resultat seiner Beobachtung die Behauptung auf- 
stellte^ dieses Land dürfe nicht als Fortsetzung des genannten 
Gebirges betrachtet werden. Um so erfreulicher erscheint 
es Baer, dass es den vereinten Bemühungen Lehmanns 
und Schrencks gelungen sei, den Zusammenhang voll- 
ständig nachzuweisen. Auch Hessen die zahlreichen Klippen, 
meint Baer, zwischen Waigatsch und Nowaja Semlja, sowie 
das hier gewöhnliche Anhalten des vom Karischen Meer 
nach Westen bewegten Eises vermuten, dass unter dem 
Niveau des Meeres ein Höhenzug durch diese breite Strasse 
gehe. Auch zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlja hält 
Baer einen versenkten Höhenzug für möglich, der das regel- 
mässige Anhäufen der Eismassen erklären könnte. Wäre 
dies der Fall, so schliesst er weiter, wäre es eine unterseeische 
Fortsetzung des Urals, welche das Wasserbecken südlich 
von Spitzbergen von dem Hauptandrange der Wassermassen 
aus dem nordsibirischen Eismeere sichere, so wäre der Ural 
der grösste Wohltäter Europas, das er gegen die klimatischen 
Einflüsse Sibiriens bewahrt, und dann wäre es auch klar, 
warum der Golfstrom Spitzbergen so erwärmen könnte, wie 
wir es in der Tat erwärmt finden. 



^) Lud low, Uralscher Bergwerksbeamter, hatte im Jahre 1807 
die Expedition des Kaiserl. Steuermanns P o s p e 1 o w nach Nowaja 
Semlja zum Zwecke der bergmännischen Erforschung der Insel mit- 
gemacht. 



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— 24 — 

Im Gegensatz zu Baers Ansicht , däss das Gebirge auf 
Nowaja Semlja eine Fortsetzung des Ural sei, steht Spör er. ^) 
Er sagt: „Nowaja Semlja und Waigatsch sind geognostisch 
nicht als Fortsetzung des Ural, sondern des Pai Chloi anzu- 
sehen. Nach dem Resultat der Uralschen Expedition der 
Geogr. Gesellschaft schliesst der Ural mit dem Konstanti- 
nowsky Kameny ab, und 40 Werst weiter nach N. W. be- 
ginnt ein anderer Gebirgszug, der Pai-Chloi mit durchaus 
anderer, der von Waigatsch und Nowaja Semlja ähnlichen 
Formation/ 

Auch Hiekisch^) hält den Pai-Chloi für ein durch 
seine Richtung und die äussere Form der Berge als selbst- 
ständiges zu bezeichnendes Gebirge, wenn es auch in seinen 
geologischen Altersbeziehungen vom Ural nicht zu unter- 
scheiden sei. Dagegen erscheint ihm die nächste geologische 
Verwandtschaft des Pai-Chloi mit den Inseln Waigatsch und 
Nowaja Semlja zweifellos. 

In Wirklichkeit ist es, wie Toppen^) mit Recht be- 
merkt, gleichgültig, ob man die Erhebung von Nowaja 
Semlja als Fortsetzung des Ural oder des Pai-Chloi betrachtet, 
denn auch diese Gebirge wird man kaum von einander 
trennen können, wenn gleich sie durch eine tiefe Boden- 
senkung geschieden sind. 

Über „Vegetation und Klima von Nowaja Semlja* 

Klimatolo- • , t^ • . . * , , ,, .x ^ t t ^ 

guche Re- spricht Baer m emer weiteren Abhandlung.*) Er schildert 
pflanzenver- ^^^ Pflanzendccke der Insel als sehr arm und dürftig. Es 

frachtung. fehlt an Humus, dieser ist an den meisten Stellen sehr gering 
und vermehrt sich unglaublich langsam, da viele Pflanzen im 
Herbste ihre Blätter entfärbt beibehalten. Doch würde No- 
waja Semlja noch viel nackter erscheinen, wenn es nicht 
viele Pflanzen trüge, die gar keines Humus zu bedürfen 
scheinen, sondern nur einer Felsenspalte oder eines lockeren 



^) S p ö r e r , a. a. O. Seite 58. 

*; H i e k i s c h , das System des Urals, Dorpat 1882 Seite 230. 
*) Toppen, die Doppelinsel Nowaja Selmja, Leipzig 1878 S. 80. 
*) Bulletin scient. Tome III S. 171— 192. 



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— 25 — 

Kieses, in dessen Zwischenräumen sich etwas Feuchtigkeit 
erhält. Die geringe Vegetation in Nowaja Semlja erscheint 
Baer nicht verwunderlich, wenn er sich erinnert, dass nach 
den Beobachtungen von Pachtussow die Sommerwärme 
dort geringer als in irgend einem Lande ist, von dem wir 
sie durch Messung kennen. Es gedeihen aber auch nur 
solche Pflanzen, die ihrer inneren Anlage nach eine sehr 
kurze Vegetationsperiode haben. Dabei findet sich, dass 
bei anscheinend gleicher Beschaffenheit des Bodens im all- 
gemeinen die Küste reicher besetzt ist als die von ihr mehr 
entfernten Gebiete und spricht die Vermutung aus, dass das 
Eis fremde Pflanzen gestrandet habe. Von bestimmendem 
Einfluss auf das Wachstum der Pflanzen ist nach Baer 
weiterhin die Temperatur des Bodens. Er hat sich wieder- 
holt überzeugt, dass, nach der speziellen Lokalität wechselnd, 
der Boden in einer Tiefe von 2 V*— 2^/4 Fuss nie auftaut. 
Die Boden wärme steigt um so höher, je mehr sich dieser 
der Natur des reinen Felsens nähert, und durch diese Wärme 
allein, die im allgemeinen höher ist, als die mittlere Tem- 
peratur der Luft, wird die Vegetation verständlich. Und nun 
spricht Baer über den Bau der Pflanzen Nowaja Semljas 
einen Satz aus, der uns heute für die gesamte Flora der 
Arktis geläufig ist: ,, Sämtliche Vegetation ist auf die oberste 
Schicht des Bodens und die unterste Luftschicht beschränkt*' 
und beide sind im Sommer wärmer als die höhere Luft- und 
die tiefere Bodentemperatur. Die Wurzeln krautartiger 
Pflanzen, stellt Baer fest, dringen gewöhnlich nicht über 
2 Zoll in den Boden. Selbst die Holzgewächse gehen nicht 
viel tiefer. Es versteht sich von selbst, fügt er bei, dass 
sie nie die Form von Bäumen, sondern nur von Sträuchern 
haben. Die aus dem Boden hervortretenden Triebe er- 
scheinen nur als ganz unbedeutende überirdische Ausläufer 
eines unterirdischen Stammes. „In der Tat sind die Wälder 
in Nowaja Semlja mehr in als über der Erde." 

Welchen Eindruck nun dieser Mangel an Baumwuchs zooeco|ra. 
und an jeglichem augenfälligen Gesträuche auf den Menschen »uiute. 
macht und welche Wirkung er auf das animalische Leben 
ausübt, schildert Baer in einem 4. Artikel : „Tierisches Leben 



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— 26 — 

auf Nowaja Semlja/' ^) Zuvörderst, sagt er, geht alles Mass 
für das Auge verloren. In Ermangelung der gewohnten 
Gegenstände von bekannter Dimension, der Bäume und der 
menschlichen Bauwerke hält man die Entfernungen für viel 
geringer als sie sind und eben deshalb auch die Berge Ar 
viel niedriger. Doch beruht diese Täuschung nach Baers 
Überzeugung nicht allein auf dem Mangel an gewohnten 
Gegenständen, sondern auch auf einer besonderen Durch- 
sichtigkeit der Luft. Eine andere Wirkung des Mangels an 
Baumwuchs ist das Gefühl der Einsamkeit. Wir haben schon 
eine Stelle angeführt, in der Baer von dem Eindrucke spricht, 
den die feierliche Stille der Natur auf den Menschen macht. 
Auch hier schildert er wieder in anschaulicher und schöner Weise 
die Lautlosigkeit der Natur. „Es fehlt bei stillem Wetter 
an Lauten und an hinlänglicher Bewegung. Lautlos sind 
alle ohnehin spärlichen Landvögel Nowaja Semljas, lautlos 
sind auch die verhältnismässig noch viel spärlicheren Insekten. 
Auch der Eisfuchs lässt sich nur in der Nacht hören. Trotz 
Zeichen tierischen Lebens scheint dieses zu fehlen, weil man 
zu wenig Bewegung sieht." Viel lebendiger als die Fläche 
des Landes findet Baer die Küste von Nowaja Semlja infolge 
der hier nistenden Seevögel. Sie sind oft so zahlreich, sagt 
er, dass die dunkle Felswand von ihren weissen Bäuchen 
fleckig erscheint. In ihnen sieht er die besten Zeugen, 
dass in der Tiefe der See mehr zu holen ist als auf dem 
Lande und die „Summe des tierischen Lebens" unter die 
Fläche des Ozeans gesunken ist. Auf dem Lande fand Baer 
die Zahl der Lemminge trotz der spärlichen Vegetation 
gross, auch sah er zahlreiche Eisfüchse, dagegen wenig Eis- 
bären, Wölfe, gewöhnliche Füchse und Renntiere. Wichtiger 
erschienen ihm die Seesäugetiere, deren Vorkommen stark 
wechselt, je nach der Zahl der Expeditionen. Das wichtigste 
darunter für die Jagdzüge ist das Walross ; unter den Robben 
nennt er 4 Arten. Merkwürdig kommt es Baer vor, dass 
sich der grönländische Walfisch niemals in die Umgegend 
von Nowaja Semlja zu verirren scheint. Was die Schwimm- 



^) Bulletin scient. Tome III pag. 343—352. 



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— 27 — 

Vögel betrifft, die die „Saison" hier zubringen, so sind nach 
Baers Beobachtung, wenigstens in d^r südlichen Insel, die 
Saatgänse so allgemein, dass das Einsammeln der ausge- 
fallenen Schwungfedern ein Gegenstand des Jagderwerbes 
ist. Die Eisenten sind häufig, die Singschwäne, Eiderenten 
und -gänse nicht selten. Von der gesamten Klasse der 
Amphibien fand Baer keine Spur, von den Fischen wohl 
eine reiche Zahl an Individuen, doch eine geringe an Arten. 

Im Anschluss an diese 4 Artikel macht Baer noch eine "höhen^aü' 
kurze Mitteilung über Zivolkas Messung einiger Berge sS^Ji* 
von Nowaja Semlja. ^) Während des Aufenthaltes in der 
Meerenge Matotschkin-Schar hatte man mit Hilfe einer an 
dem schmalen Küstensaum abgesteckten Basis die Höhe der 
bedeutendsten von dieser Gegend aus sichtbaren Gipfel ge- 
messen. Die Höhen schwanken zwischen 1841,7 Fuss = 
561,72 m (Lütkes erstgesehener Berg) und 3475 Fuss = 
1059,87 m (ein Berg am Südufer der Meerenge). . 

Nachdem so Baer durch seine Reise und die sich daran ^^iSSmc" 
anschliessenden Artikel zur Erforschung Nowaja Semljas Sih«s^ 
einen namhaften Beitrag geliefert hatte, verfolgte er begreif- ^'^'i^eP**' 
licherweise ihre fernere Erschliessung mit regem Interesse. 
Schon bald nach seiner Rückkehr wurde in den Jahren 
1838/39 eine neue Expedition unter dem Befehle der Leutnants 
Zivolka und Moissejew ausgeführt, und Baer, Hess es 
sich nicht nehmen, über die Resultate derselben an die Aka- 
demie zu berichten. 2) Der Hauptzweck der Expedition die 
Nordostspitze aufzunehmen war nicht erreicht worden — dies 
blieb Johannsen 1870 vorbehalten — , woran nach Baers An- 
sicht die späte Ankunft 1838 und das baldige Erkranken und der 
Tod des Führers Zivolka schuld sein mochte. Indessen war 
die Expedition nicht ganz ohne Erfolg geblieben. Für die 
wichtigste Nachricht, die man zurückgebracht hatte, hielt 
Baer die, dass die Kreuzbai keineswegs, wie Zivolka ver- 
mutet hatte, eine Meerenge sei, sondern ein tiefer Fjord. 
Die Expedition hatte ferner einen Teil der Nordwestküste 

*) Bullet, scient. Tome III S. 314. 

') Die neuesten Entdeckungen in N. S. aus den Jahren 1838/39. 
Bullet, scient. Tome VII S. 133—134. 



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- 28 — 

au%enommen und gefunden, dass die nördliche Hälfte ' der 
Insel ein von tiefen Fjorden eingeschnittenes Land ist. 

Das Interessanteste, was die Expiedition aber heim- 
brachte, war für Baer wohl das meteorologische Tagebuch, 
dessen Resultate er eigens veröfientlichte : „Temperatur- 
beobachtungen, die an der Westküste von Nowaja Semlja 
unter dem 74* n. Br. angestellt worden sind. ^) Sie sind für 
ihn deswegen so interessant, weil er in ihren Resultaten 
die Folgerungen hn allgemeinen bestätigt findet, die er selbst 
aus den früheren Beobachtungen gezogen hat. So hatte Baer 
die Vermutung ausgesprochen, dass die grosse Temperatur- 
differenz zwischen dem wärmeren, obwohl nördlicher ge- 
legenen Westende des Matotschkin-Schar und der südlicher 
gelegenen, aber kälteren Karischen Pforte mit den bisherigen 
Erfahrungen über die Verschiedenheit der Temperatur an 
der Ost- und Westküste übereinstimme, ja noch auffallender 
befunden worden wäre, wenn nicht beide Beobachtungen an 
Meerengen angestellt worden wären. Er findet seine Ver- 
mutung durch die neuen Beobachtungen sehr auffallend, mehr 
sogar als er erwartet, bestätigt. Nicht nur die Gesamttemperatur 
des Jahres, sondern die fast aller einzelnen Monate ist höher 
befunden worden als 1834/35 im Westende von Matotschkin- 
Schar und noch viel mehr als 1832/33 in der Karischen 
Pforte, obgleich der neue Beobachtungsort etwas weiter nach 
N. liegt als die erstere Meerenge und bedeutend weiter als 
die letztere. Auf jede Weise zeigte sich dieser nördliche 
Punkt auf Nowaja Semlja wärmer als die früheren südlichen, 
vorzüglich aber im Winter. Baer ermittelte die mittlere 
Jahrestemperatur in der Seichten Bai auf —7,28® Cels. ; der- 
selben steht diejenige von Matotschkin-Schar gegenüber mit 
-8,37® und die der Karischen Pforte mit —9,43^ C. Auch 
die Verspätung des meteorologischen Jahres gegen das astro- 
nomische zeigte sich in der Seichten Bai, obgleich nicht in 
dem Masse wie in der Karischen Pforte. Baer kann die 
früher schon gefasste Ueberzeugung nicht aufgeben, dass die 



Bullet, scient. Tome VII 1840 S. 229—248. 



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- 29 — 

Bildung und das Schwinden des Seeises der Grund dieser 
Verspätung der Temperaturkurven ist. Was den täglichen 
Gang der Temperatur betrifft, so erkennt er auch aus 
dieser Beobachtung, dass in den Wintermonaten die täglichen 
Differenzen am geringsten, in den Sommermonaten etwas 
grösser, am grössten aber während des Ueberganges aus 
der langen Polarnacht in den Polartag sind. Die grösste 
tägliche Erwärmung findet er auch jetzt, wie bei der ersten 
Beobachtung des Klimas von Nowaja Semlja, im Sommer 
sehr bald nach Mittag. Nur im August tritt die höchste 
Erwärmung nach i Uhr ein, im Mai, Juni, Juli, September, 
.Oktober sehr bald nach 12 Uhr. Im November, Dezember, 
Januar, Februar, März erscheint dagegen die höchste Wärme 
nach 2 Uhr und zuweilen sehr viel später. Diies erinnert 
ihn daran, dass bei Berechnung des Temperaturganges in 
Matotschkin-Schar ebenfalls ein eigentümliches Verhältnis in 
der Reihenfolge der erwärmten Stunden hervortrat. Er hält 
es nicht für schwer, in Matotschkin-Schar den Grund dieser 
zur Regel gewordenen Störung zu erkennen. Die genannte 
Meerenge verbindet das Karische Meer mit dem Eismeer, 
sowie die Luftmassen über den beiden Meeren. Das Karische 
Meer ist fast nie ohne Eis. Es ist daher kälter als das west- 
liche Eismeer (Barendsz-See). Die Luft über demselben ist 
im grössten Teil des Jahres bedeutend kälter als die Luft, 
welche auf dem westlichen Eismeere liegt. In der Höhe 
des Sommers mag sie wärmer sein, denn die grossen Länder- 
massen, die das enge Meer umschliessen und sich bedeutend 
mehr erwärmen als die See geben der Luft über dem Kari- 
schen Meer eine höhere Temperatur, als die Luft westlich 
von Nowaja Semlja hat. Es muss aber nicht nur eine Aus- 
gleichung der verschiedenen Temperaturen durch die Meer- 
enge stattfinden, sondern es wird auch mit Ausnahme der 
Sommermonate ein fortwährender Luftzug durch Matotschkin- 
Schar von Osten nach Westen stattfinden, da, wenn zwei 
verschieden erwärmte Luftmassen miteinander in Verbindung 
stehen, in den unteren Schichten die kältere gegen die 
wärmere strömt. Diesen Verhältnissen meint Baer, muss 
man die Depression der mittleren Jahrestemperatur in Ma- 



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— 30 — 

totschkin Schar gegen die übrige Westküste zuschreiben. 
Die kältere Luft über dem Karischen Meer und über Nowaja 
Semlja strömt gegen die wärmere über dem Eismeere. In 
dieser vorherrschenden Windrichtung liegt, wie Baer nicht 
bezweifelt, der Grund der sonderbaren, im Verlauf des Jahres 
nach den Tagesstunden scheinbar zirkulierenden Erwärmung, 
das Phänomen nun, das in Matotschkin-Schar unverschleiert 
hervortritt, das Vorherrschen des Landwindes in den kalten 
Jahres- und Tageszeiten (das Karische Meer im Winter als 
Land betrachtet) bringt auch wohl nach Baers Ansicht in 
anderen arktischen Gegenden die Störungen im täglichen 
Gang der Temperatur während des Winters hervor, wenn 
auch nicht mit derselben Bestimmtheit. Es zeigt sich auch 
in der Tabelle von der Seichten Bai. Die Beobachtung, die 
hier Baer gemacht hat, ist ein Beispiel von örtlicher Luft- 
bewegung, wie wir sie an Meeresküsten häufig als „Land- 
und Seewind" finden. Die Folgerungen, die er aus den 
früheren Beobachtungen gezogen hatte, konnte er, wie ge- 
sagt, durch die Beobachtungen in der Seichten Bai völlig be- 
stätigt finden. 
Anderweite Djg eben besprochenc Arbeit Baers über Temperatur- 

kbmatologi- *^ ^ 

be^tenB^rs beobachtungen an der Westküste von Nowa Semlja führt 
uns von selbst auf eine andere Gruppe von Arbeiten, die 
klimatologischen. Es war für ihn eine interessante Be- 
schäftigung, Berechnungen aus Temperaturbeobachtungen 
Anderer zu machen, sie zu schon bekannten in Vergleich zu 
stellen und Schlüsse daraus zu ziehen. Eine Reihe von 
meteorologischen Arbeiten verdankt solchen Studien Baers 
ihre Entstehung. So benützt er das meteorologische Tage- 
buch, das der Kontreadmiral und ehemalige Verwalter der 
russischen Kolonien in Amerika v. Wränge 11 während 
seines Aufenthaltes in Neu-Archangelsk auf Sitcha oder Ba- 
ranow, einer Insel des Alexander-Archipels an der Westküste 
von Alaska, vom November 1831 bis Februar 1835 geführt 
hatte, zu einem Artikel „lieber das Klima in Sitcha und den 
russischen Besitzungen an der Nordwestküste von Amerika 
überhaupt, nebst einer Untersuchung der Frage, welche 
Gegenstände des Landbaues in dieser Gegend gedeihen 



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_ 31 — 

können."^) Er stellt Wran gel Is Beobachtungen gegenüber 
die von Kämtz aus älteren Beobachtungen berechneten 
mittleren Temperaturen für die Kolonie Nain in Labrador, 
die auf der Ostküste von Nordamerika in fast gleicher Breite 
mit Neu- Archangelsk liegt. Den schon lang beobachteten Unter- 
schied auf der Ost- und Westküste von Nordamerika unter 
gleichen Breiten hofft er durch Zahlenwerte mit Sicherheit 
bestimmen zu können. In der Tat ergeben die gefundenen 
Zahlen diesen Unterschied in auffälliger Weise. Die mittlere 
Temperatur von Neu- Archangelsk betrug +7,89*^ Cels., die 
von Nain —3,62® C. So ist das. Klima im Verhältnis zu 
dem der Ostküste Nordamerikas begünstigt. Doch sprechen 
bei Sitcha Lokalverhältnisse mit. Es erfährt den Einfluss 
des Kontinents und der See zugleich und hat daher nicht 
ein Insel-, sondern ein Küstenklima. Ausserdem ist die Insel, 
wie die Küste von hohen Bergen besetzt, wodurch die Aus- 
gleichung der Temperaturverschiedenheit zwischen dem 
Kontinent und dem Ozean bedeutend gehemmt wird. Diese 
Berge sind zudem noch mit dichten Waldungen besetzt, wo- 
durch die Luft sehr viel Feuchtigkeit erhält. Neu- Archangelsk 
ist also im Sommer kühler und im Winter wärmer als es 
ohne dieses Lokal Verhältnis sein würde und kann nicht un- 
mittelbar den Lauf der Isotheren und Isochimenen bezeich- 
nen. Die russische Kolonie, findet Baer, gibt einen auffallen- 
den Beleg dafür, dass die Raumverhältnisse zwischen dem 
festen Land und dem Ozean die Abweichung der Isothermen, 
Isotheren und Isochimenen bedingen. Die mittlere Tempe- 
ratur des Winters in Neu-Archangelsk ist +1,52*^ C, die mitt- 
lere Jahrestemperatur +7,39^ C. Dagegen beträgt die mitt- 
lere Sommertemperatur von Sitcha nur +13,5^ C, entspricht 
also denjenigen Gegenden Europas, wo der Roggen gar nicht 
gedeiht. Man dürfe also, meint Baer, nicht erwarten, dass 
der Bau von Roggen auf Sitcha gelingen werde, zumal 
Sitcha so feucht ist und der Roggai Trockenheit braucht. 



*) Bulletin scient. Tome V No. 9 u. 10 1839 S. 129 — 141 «zugleich 
auch abgedruckt im I. Bd. der Beiträge zur Kenntnis des russischen 
Reiches. S. 290—320. 



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— 32 — 

Anders sei es mit Gerste, die wahrscheinlich gedeihen werde, 
da ihr Feuchtigkeit weniger schadet. Auf dem Küstensaume 
baut man einige Gemüsearten und Kartoffeln, die sehr gut 
gedeihen. Baer schlägt vor, man solle die Quinoa pflanzen, 
die in Südamerika auf einer Höhe gedeiht, welche die Gerste 
nicht mehr verträgt. 

In der Ausgabe im Bd. I der Beiträge ist der Aufsatz 
Baers über das Klima von Sitcha mit einem Zusatz versehen, 
der die Stellung der damals russischen Halbinsel als Klima- 
scheide betont. Alaska, sagt er da, bildet in seiner Länge 
von mehr als 80 Meilen eine ununterbrochene Mauer zwischen 
dem Beringsmeer und dem Busen, den die Südsee im Osten 
von dieser Halbinsel bildet. Eine lange Inselkette setzt diese 
Scheidewand mit einigen Unterbrechungen fort. Die Folge 
davon ist, dass das Beringsmeer kälter ist als jener Busen. 
Ausserdem ist nicht nur Alaska, sondern auch ein Teil der 
Inselkette sehr hoch. Dadurch wird auch die Temperatur- 
ausgleichung in den Luftmassen über beiden Meeren gehemmt. 
Daher ist kein Meer so reich an Nebeln als das Beringsmeer, 
denn fast von allen Seiten kommt der Wind aus einer mehr 
erwärmten Luftregion und muss über der Fläche des kalten 
Beringsmeeres Nebel absetzen. Wohl nirgends auf der Erde, 
meint Baer, ist ein so bedeutender Unterschied der Klimate 
in so geringer Entfernung als auf beiden Seiten von Alaska. 
Diese Halbinsel scheidet die waldigen von den waldlosen 
Ufern, die Kolibris von den Walrossen. 

Bemerkungen ähnlicher Art wie die zu Wrangells Be- 
obachtungen machte Baer auch zu den Temperaturbeobach- 
tungen der Herren Tschichatschew und Dahl in den 
Steppen der Kirgisen während des Winters 1839/40: „Petites 
notes sur les observationsde temperature, faites pendant Thiver 
1839-— 1840 dans les steppes de Kirghises par MU. Tsch. et 
D."^) Die Herren hatten aus der Steppe zwei Briefe an Baer 
gesendet von denen der eine meteorologische Beobachtungen 
dortselbst vom 18. Nov. 1839 bis 27. Februar 1840 ent- 
hielt. Baer berechnete aus den Beobachtungen die wahr- 



*) Bullet, scient. VII 1840. S. 66. 



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- 33 - 

scheinliche mittlere Temperatur der drei Wintermonate auf 
— 2i^ C. Indem er dieses Resultat mit denjenigen thermo- 
metrischer Beobachtungen in analogen Gegenden verglich, 
kam er zu dem Schluss, dass die Isochimene der Kirgisen- 
steppe gegen Norden fast der Richtung des Meridians folgt. 

Zu den meteorologischen Arbeiten ist ferner zu rechnen Studien über 
ein Artikel: „Sur la fr^quence des orages dans les regions ^^'^tter. 
arctiques;"^) „Ueber die Häufigkeit der Gewitter in den 
arktischen Gegenden." 2) Der französische Physiker Arago 
hatte im „Annuaire 1838" einen Artikel über den Donner 
veröffentlicht und darin die Behauptung aufgestellt, dass es 
im offenen Meere oder auf den Inseln jenseits des 75® n. Br, 
niemals donnere und dass der 70^ n. Br. die Grenze der 
Gewitter bilde. 

Der Petersburger Physiker und Akademiker Jakob i 
stellte nun bezugnehmend auf diesen Teil der Arago sehen 
Arbeit an ßaer die Frage, ob er während seiner nordischen 
Reise 1837 Donner über 70^ n. Br. gehört habe oder ob er 
irgend eine andere Kenntnis habe von Gewittern, die im 
Norden beobachtet worden seien. Baer antwortet Jakob i 
in einem ausführlichen Briefe, den er im Auszuge der Aka- 
demie mitteilt. Es ist ihm kein Zweifel, sagt er, dass der 
Donner immer seltener wird, je weiter man gegen Norden 
vorrückt. Indessen scheint es ihm, dass Arago den Donner 
zu sehr begrenzt habe, weil er sich nur auf englische Quellen 
stützt und auf Thorstensens Beobachtungen in Island. 
Baer ist der Ansicht, dass es keine von Menschen erreichte 
nördliche Breite gibt, wo der Donner fehlt, und gibt dafür 
einige Beispiele. In Island ist das Gewitter ein zwar seltenes, 
aber doch sehr gut bekanntes Phänomen. Anderson, 
Olafsen und Po v eisen sind ihm dafür Zeugen. ^) In Grön- 
land ist der Donner noch seltener, wie Egede und Crantz 
versichern.*) Auf dem Kontinente unter den Breiten Islands, 



Bullet, scient. VI p. 66—73 oder 
^) Petersburger Ztg. 1839 Nr. 273. 

®) Anderson: Nachrichten von Island und Grönland. Hamburg 
1747. Olafsen: Reise durch Island. Kopenhagen 1774. 

*) Egede, Paul: Nachrichten von Grönland. Kopenh. 1790. 

V. Baer als Geograph. 3 



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— 34 - 

vermutet Baer, ist der Donner häufiger als auf dieser Insel. 
Uleäborg hat z. B. durchschnittlich 7,3 Donnerschläge im 
Jahr, Archangelsk 6,5 Gewitter, Beresow (64®) 6, 
Jakutsk 6, Nertschinsk 18 in 6 Jahren. Baer bemerkt, 
dass sich die Häufigkeit der Gewitter mehr nach dem Iso- 
thermen richtet oder vielmehr nach den Isotheren als nach 
den Breitegraden. Der Botaniker Schwenk hat auf seiner 
Reise durch das Samojedenland 1837 mehrere Gewitter er- 
lebt. Baer selbst beobachtete, als er sich eine Woche in 
Russisch - Lappland aufhielt unter dem 68® ein Gewitter. 
Rein ecke, der sich zur Erforschung der Küsten des 
Weissen Meeres und Russischen Lapplandes dort auihielt, 
erzählte Baer, dass er zwischen 69 und 70*^ achtmal Gewitter 
beobachtet habe und dass sie alle im Süd-Osten sich gezeigt 
hätten. Man kann also nicht zweifeln, folgert Baer, dass im 
Zentrum von Lappland die Gewitter häufiger sein werden. 
Selbst inmitten des Polareises fehlen sie nicht gänzlich. 
V. Wrangell erzählte Baer einen solchen Fall. Es gibt also 
keine Gründe, sagt letzterer, um zu bezweifeln, dass die grossen 
Inseln des Polarmeeres Gewittern nicht mehr ausgesetzt 
seien. Baer widerlegt also Aragos Ansicht durch die mit 
Fleiss zusammengestellten interessanten Beispiele aus den 
Beobachtungen Fremder und dann zweitens dadurch, dass 
er selbst mit Zivolka ein Gewitter an der östl. Mündung 
des Matotschkin-Schar unter 75® 10' beobachtet hat. 
Baers Diiu- . wij. verlasseu damit die auf Klimatologie bezüglichen 
a^ung^en. Arbeiten K. E. v. Baers und wenden uns einer neuen Kate- 
gorie derselben zu, den geologischen. Es handelt sich dabei im 
wesentlichen darum zu untersuchen, welche Stellung derselbe 
zur Erklärung des erratischen Phänomens einnahm und zwar 
zu einer Zeit, als die Meinungen darüber noch sehr geteilt 
waren. Baer hatte im Sommer 1838 eine Reise durch das 
südliche Finnland bis nach Helsingfors unternommen, auf 
welcher, wie er selbst erzählt,^) die Schrammen und Ab- 
schleifungen der dortigen Felsen fast gewaltsam seine Auf- 
Crantz: Geschichte von Grönland. Barby 1765 — 70, Olafsenund 
Eg. Povelsens Reise durch Island Kopenh. u. Leipz. 1 7 74—7 9- 
*) Selbstbiographie S. 557 bis 55** 



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— 35 - 

merksamkeit erregten. , J)iese Beobachtungen," so berichtet 
er weiter, ^) weckten mein Interesse für diesen Gegenstand 
für immer, und da es mir schwer wurde, mich in die von 
Aggassiz kühn und geistreich entwickelte Erklärung durch 
Gletscher einer ehemaligen Eiszeit zu finden, habe ich Finn- 
land noch mehrmals besucht, zuvörderst aber nach dieser 
Reise 1838 und im Jahre 1839 eine andere Reise auf die 
Inseln des Finnischen Meerbusens unternommen, um mir eine 
Ansicht von der Häufigkeit der durch Schwimmeis auch in 
jetziger Zeit umhergetragenen Felsblöcke zu verschaffen. 
Obgleich ich von manchen in neuerer Zeit angekommenen, 
ansehnlichen Blöcken Nachricht erhielt und der Transport 
. von kleinen sich als sehr häufig erwies , so dass einzelne 
Inseln im Laufe eines Jahrhunderts dadurch auffallend wachsen, 
drängten doch die ansehnlichen und zahlreichen Haufen von 
grossen Blöcken, die man im Meere selbst aufgeschichtet 
findet, zu der Annahme von Gletschern." Der Gedanke 
Ag a s s iz', dass beim Transporte grosser Blöcke die Gletscher 
einer ehemaligen Eiszeit beteiligt gewesen seien, den Baer 
kühn und geistreich nennt, hatte um die Zeit dieser 
Reisen eben an Festigkeit gewonnen, wurde aber noch leb- 
haft bekämpft von L. v. Buch. 2) Wir sehen, wie Baer 
nach beiden Seiten Konzessionen macht. Er bringt Beispiele 
für fortgewanderte Felsblöcke. „Zwei Beispiele von fortge- 
wanderten Felsblöcken, an der Südküste von Finnland be- 
obachtet/'^) Zivolka hatte Baer diese Fälle aus seinem 
Tagebuche mitgeteilt, und diesem schienen sie zu den merk- 
würdigsten zu gehören, über die man historische Nachrichten 
hat. Der eine ist besonders merkwürdig durch die Höhe, 
auf welche der gewanderte Stein geführt ist. Dieselbe liegt 
drei Klafter über dem Meeresspiegel bei Kittelholm in der 
Nähe von Sweaborg auf anstehendem Felsen lose auf. Er 
soll 1814/ 15 erschienen sein. Im zweiten Fall in der gleichen 
Gegend glauben die Bewohner den gewanderten Stein wieder 



1) Selbstbiographie S. 557 bezw. 558. 

2) Vgl. darüber Günthers Geophysik IL S. 936. 

3) Bulletin scient. Tome II S. 124—126. 1837. 



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- 36 - 

ZU erkennen, wodurch eine sehr weite Wanderung (V2 Werst 
im Winter) nachgewiesen würde. Sie soll 1806/07 erfolgt 
seih. Baer ist der Ansicht, dass diese Notizen ebenso wenig 
genügen können, das Phänomen im ganzen zu erklären, wie 
alle anderen bekannt gewordenen Beispiele von Steinwan- 
derungen in historischer Zeit, wenn sie auch für die Theorie 
der Verbreitung der Granitgeschiebe des Nordens nicht ohne 
Interesse sein werden. 

Noch von einer anderen „Wanderung eines sehr grossen 
Granitblockes über den Finnischen Meerbusen nach Hoch- 
land" gibt Baer Nachricht.*) Es handelt sich um einen un- 
geheuren Granitblock, der vom Eise über das Meer nach 
der Insel ,>Hochland'' im Finnischen Meerbusen getragen 
worden war. Die Eingeborenen behaupten, er sei nicht vor 
dem Eisgang des Frühlings 1838 bemerkt worden. Der 
Block war scharfkantig und lag nicht weit vom Strande im 
Wasser. Baer findet nun eine derartige Verfrachtung eines 
Felsens durch das Eis durchaus nicht unwahrscheinlich; er 
ist der Ansicht, dickes Eis könne einen gefassten Block in 
die weiteste Entfernung, in die es ohne zu schmelzen gelangt, 
tragen. Wir sehen, Baer bekennt sich in diesem Fall zur 
Drifttheorie, und müssen zugestehen, dass sie hier auch wohl 
berechtigt ist. 

Damals fesselten ausser diesem Felsblock Baers Auf- 
merksamkeit nicht nur der Anblick der unzähligen und un- 
geheuren Geschiebe, sowie ihre zuweilen höchst abenteuer- 
liche Stellung, sondern vor allem die Furchung der anstehen- 
den Felsmassen. Er findet es unbegreiflich, wie sie bis auf 
die neueste Zeit die Aufmerksamkeit der Geologen nicht ge- 
fesselt haben, und erklärt es sich daraus, dass in Finnland die 
Furchen vielleicht deutlicher seien, als jenseits des Bottnischen 
Meerbusens in Schweden 2). Was nun ihre Entstehung be- 



>) Bulletin sclent V pag. 154—157. 

*) Hier kannte Baer die ältere Literatur nicht. Denn schon im 
18. Jahrhundert beschäftigten sich Abildgaard und Tilas mit den für 
Finnland typischen Gesteinsanhäufungen der Rapaviki. Ersterer er- 
klärte sie durch tellurische Umwälzungen; Tilas begnügte sich mit 
der Erklärung durch einen ausgiebigen Verwitterungsprozess. 



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- 37 - 

trifft, so will sie Baer nicht stärkerer Verwitterung oder der 
inneren Struktur der Gesteine zuschreiben, sondern einer 
mechanischen Einwirkung auf die Oberfläche. Er ist der 
richtigen Erklärung auf der Spur, ohne sie weiter zu ver- 
folgen. Auch über die Kraft ist sich Baer nicht klar, welche 
die Lagerung von manchen Felsblöcken in Finnland bewirkt 
hat. Er sah Felsen, die ihm ohne bedeutende Geschwindig- 
keit in der Bewegung in die Lagerstätte und die Stellung 
gekommen zu sein schienen, welche sie jetzt einnehmen. 
Oft, sagt er, hatte es den Anschein, als seien sie mit Vor- 
sicht geschoben oder gehoben, hin und wieder waren sie wie 
Tischplatten auf ihr Untergestell aufgesetzt. Da sie auch 
auf weiten Flächen und auf abgeflachten Bergrücken vor- 
kommen, so findet es Baer schwer, nach der jetzigen Gestalt 
des Landes die hebende Kraft zu finden. An Gehängen von 
verengten Flussbetten erscheinende Blöcke erklärt sich Baer 
durch die bewegende Kraft des aufgestauten Eises; aber von 
der Reise jener Geschiebe, die auf weiten Flächen oder auf 
Bergrücken langsam abgelagert sind, kann er sich keine 
Vorstellung machen. Noch im Jahre 1842 nennt er in einem 
Artikel über Diluvialschrammen ^) die Vermutung, dass die 
erratischen Blöcke aus Skandinavien über die Ostsee nach 
Norddeutschland imd Russland gekommen seien, „eine kühne 
Hypothese, die bloss in Ermangelung einer anderen Erklä- 
rungsweise für das Vorkommen jener Felsstücke und yi^egen 
verwandter Erscheinungen in viel kleinerem Massstabe im 
Gebiete der europäischen Alpen sich Anhänger erwerben 
und bewahren konnte/' Als Baer im Jahre 1839 in Gesell- 
schaft seines ältesten Sohnes Karl eine Reise auf die Inseln 



Abildgaard: Eine merkwürdige Veränderung auf der Ober- 
fläche der Erde in Finnland. Abh. der schwed. Akad. d. W. 
XIX. S. 205. 

Tillas: Anmerk. über den vorhergehenden Aufsatz. Ebenda 
XIX S. 219 bei Günther Geophysik II S 882. 

^) Bericht über kleine Reisen im Finnischen Meerbusen in bezug 
auf Diluvialschrammen und Verwandte Erscheinungen. Bullet, physico- 
math. I Nr. 7 S. 108— 112. 



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- 3» - 

des Finnischen Meerbusens machte, war es ihm, wie er in 
dem gleichen Artikel berichtet, vor allem darum zu tun ge- 
wesen, diejenigen in der Ostsee liegenden Inseln, welche aus 
hinlänglich harten Felsmassen bestehen, nach Furchen und 
Schrammen zu imtersuchen. Zeigten sie sich, so überlegte er, 
nicht geschrammt, so hatte man niu- den Beweis von der 
Fortbewegung stark reibender Massen bis an das Meer. 
Zeigten sich dagegen die Inseln geschrammt, so war damit 
der Beweis geliefert, dass dieselben Bedingungen, durch welche 
die Felsmassen Skandinaviens geschrammt sind, über einen 
grossen Teil des Meeres fortgewirkt haben und es gäbe dann 
kein Hindernis anzunehmen, dass sie auch über das ganze 
Wasserbecken ihre Wirkung ausgedehnt haben. Nun kommt 
Baer in den Finnischen Busen nach Lawin Sari, Wier, Hoch- 
land, Aspö und einigen um Aspö liegenden Inseln. Er sieht 
Schrammen, Furchen und Abschleifungen in denselben Modifi- 
kationen, wie das feste Land von Finnland sie zeigte. Damit 
räumt er nach dem Vorausgeschickten ein, dass dieselben 
Bedingungen, die in Skandinavien die Schrammen geschaffen 
haben, auch auf den Inseln gewirkt haben. Allein eine be- 
stimmte Erklärung gibt er nicht. Er sagt nur, dass man aus 
dem Transport der Felsblöcke durch Seeis die Entstehung 
der Schrammen am wenigsten herleiten könne. Denn unter 
diesen seien so tiefe Ausfurchungen, dass man sie nur der 
Einwirkung eines sehr starken Druckes auf die reibende Masse 
zuschreiben könne. Desgleichen erscheint ihm die Versetzung 
durch das Seeis, die für kleinere Blöcke häufig, für grössere 
aber doch selten sei, für die allgemeine Erklärung der errati- 
schen Blöcke keineswegs ausreichend, 
kjn* MhSi* Damit war für Baer die Frage zunächst abgetan, und 

^"j.^^°^stu- es vergingen viele Jahre, ohne dass er sich wieder damit 
Ke*^e?. beschäftigt hätte. Erst im Jahre 1863 wurde er wieder an 
zuf D^*I seine finnische Reise und die sich daran knüpfenden Fragen 
hypothese. erinnert. Graf Keyserlingk hatte im Bulletin de TAca- 
demie VI eine Notiz zur Erklärung des erratischen Phänomens 
gegeben; Baer hatte sie gelesen und war durch die darin 
enthaltenen Gedanken angeregt worden, seine Meinung zu 
äussern. Er bringt die Keyserlingkschen Ausführungen 



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— 39 - 

nochmal und knüpft seine Ansicht daran. ^) Keyserlingk 
macht zunächst Einwände gegen die bisherigen Erklärungen 
der finnländischen Felsblöcke auf weiten Strecken Esthlands, 
Denkt man sich, sagt er, Finnland mit Gletschern bedeckt, 
die von Felstrümmern überschüttet ins Meer sich hinab- 
drängen und deren Eismassen sich schwimmend weithin ver- 
breiten, so könnten auf diese Weise geflösste Steinblöcke nur 
auf dem Meeresgrund oder an der Küste sich absetzen. Dann 
müsste das ganze mit nordischen Blöcken bedeckte Flachland 
in jüngster geologischer Zeit Seegrund gewesen und Spuren 
davon noch sichtbar sein. Dies lässt sich aber nicht nach- 
weisen. Auch die Reibungserscheinungen an den erratischen 
Ablagerungen können nicht durch die unregelmässigen, oft 
drehenden Bewegungen des schwimmenden Eises hervor- 
gebracht werden. Gletschereis, das mittelst Grus allerdings 
Rutschflächen zu bilden imstande ist, will Keyserlingk 
auch nicht annehmen, da nach seiner Ansicht in einem flachen 
Lande wie Esthland die wesentlichen Bedingungen zur Bildung 
von Gletschern fehlen. Darum sind ihm die Beobachtungen 
eines Herrn v. Stael an der Pernauschen Bucht (Rigaer 
Meerbusen) willkommen, weil sie eine besondere Art der 
Fortbewegung des Eises von der Meeresfläche aus landein- 
wärts und bergauf kennen lehren. Stael hatte mehreremale 
beobachtet, wie eine schwimmende Eisfläche von ungeheurer 
Ausdehnung gegen das Ufer gedrängt und über das Land 
geschoben wurde. Wo die schwimmende Eisdecke des Meeres 
auf steile Abstürze des Ufers stiess, drängte sie sich nach 
der Beschreibung wie ein Blatt Papier in die Höhe. Überall 
wurden gleichzeitig mit dem Eise Steine aus dem Meere ge- 
hoben und ans Land gedrängt. Keyserlingk leuchtet dies 
ein und er glaubt, dass Packeis, das auf dem Meeresgrund 
festsitzt, Steine in recht bedeutenden Meerestiefen erfassen 
und an die Oberfläche bringen könne. Hier berührt K ey se r ■ 
lingk die zu seiner Zeit noch sehr strittige Frage nach dem 
sog. Grundeis des Meerwassers und der hebenden Kraft des- 



*) Zusatz zu des Grafen Keyserlingks Notiz zur Erklärung des 
erratischen Phänomens. Bullet, de TAcad. Tome VI p. 195—207. 



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- 40 — 

selben. Seine Ansicht erscheint zutreffend, denn nach den 
Untersuchungen des Schweden Petterson in der Nordsee 
ist die Bildung von ^^Grundeis** in beliebiger Tiefe unter dem 
Wasserspiegel und damit auch das Wiederaufholen ver- 
sunkener Gegenstände möglich, wenn nur die vertikale Wärme- 
verteilung das keilförmige Einschieben einer kalten Schicht 
zwischen zwei warme gestattet. Diese Erklärung findet nun 
Baer sehr verständlich. Er hatte, wie schon erwähnt, auf 
seiner finnischen Reise eine Reihe von Beispielen gesehen, 
die erkennen Hessen, dass Felsen von beträchtlicher Grösse 
in eine auffallende Lage geschoben worden seien. Auch war 
ihm bei einem Vergleich der heutigen Form der Insel Lawen- 
Sari mit der auf dem Kartenbild vonSpafariew (26 Jahre 
vorher aufgenommen) aufgefallen, dass die Insel an einer Stelle 
grösser geworden sei. Hier kommt ihm nun die Keyser- 
lingksche Erklärung sehr gelegen. Er sagt sich: An den 
Riffen, welche die Insel umgeben, stapelt sich das Schwimmeis 
im Frühling in hohen Schichten auf, die schwimmenden Eis- 
felder brechen im Andrang und es bildet sich ein Wall von 
Bruchstücken, Liegt dieser „Toross" auf stehendem Eis, so 
kann er dasselbe durch sein Gewicht leicht zum Brechen 
bringen, sinkt nun tiefer und fasst die Steinblöcke auf dem 
Grunde, die es weiter nach innen schiebt. Doch will Baer 
keineswegs behaupten, dass die Insel nur durch das Antreiben 
neuer erratischer Blöcke vergrössert werde, er hält es für 
denkbar, dass auch Hebung mitwirkt, zumal dem Besucher 
des Finnischen Meerbusens manche Phänomene vorkommen, 
welche anzudeuten scheinen, dass die skandinavische, säkulare 
Erhebung unter diesem Busen sich fortsetzt. Das Resultat 
seiner Nachforschung über die Bewegung der Blöcke möchte 
Baer wie folgt ausdrücken: „Sehr grosse Blöcke werden nur 
selten und für jede Gegend nur in sehr langen Zwischen- 
räumen vom Eise herangeführt, mittelmässige viel weniger 
selten, kleine aber und besonders dem Niveau des Meeres 
nahe werden so häufig transportiert und insbesondere vom 
Eise zusammengeschoben, dass die Bewohner der Gegend 
davon wenig Notiz nehmen und die Umrisse der flachen Inseln 
sich in einem Jahrhundert ganz merklich ändern können/' 



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— 41 - 

In dieser Beziehung meint Ba er, greift also das erratische 
Phänomen tief in die Jetztzeit ein. Andererseits aber gesteht 
er zu, weisen uns die erratischen Blöcke Verhältnisse nach, 
die von den jetzigen ganz verschieden scheinen und von 
denen es sehr schwer ist, sich eine Vorstellung zu machen 
und welche auch auf das jetzige Meer und sein schwimmendes 
Eis gar nicht bezug zu haben scheinen. Er meint damit vor 
allem die tiefe Verschattung von erratischen Blöcken in die 
Schuttmassen des Bodens z. B. in Esthland und die weite 
Verteilung der Blöcke. Für sie muss man, das gibt er doch 
zu, auf die Gletscher- oder eine andere Hypothese zurück- 
gehen, die die schwimmenden Eisfelder diese Blöcke nicht 
füglich in Haufen verteilt haben würden, sondern mehr gleich- 
massig gewirkt hätten. Das Gesamtresultat seiner Erfahrungen 
möchte er darum folgendermassen zusammenfassen : Er glaubt 
ein noch fortgehendes oder rezentes erratisches Phänomen 
von anderen, die man Diluvialphänomene nennen könnte, 
unterscheiden zu müssen. Für das erstere könne das Schwimm- 
eis und das jetzige Niveau des Meeres oder ein etwas höheres 
den Erklärungsgrund vollkommen abgeben. Über die antiken, 
erratischen oder diluvialen Phänomene wagt er keine Ver- 
mutung. Wenn man für diese das schwimmende Eis nicht 
requirieren wolle, so habe man auch kein Bedürfnis, nach den 
Resten von Seetieren zu suchen. Das wäre, so schliesst 
Baer, der bescheidene Beitrag, den er zur Kenntnis des 
rezenten erratischen Phaenomens geben zu können glaube. 
Wir sehen daraus, dass er im allgemeinen ein Anhänger der 
„Drifttheorie" ist. Wenn er auch über die von ihm diluvial 
genannten Phänortiene keine Vermutung ausspricht, so können 
wir doch wohl annehmen, dass er den Transport durch 
skandinavische Gletscher, der uns heute als Erklärung ge- 
läufig ist, als befriedigende Lösung der Frage zu ahnen scheint. 

Wir haben im Vorausgegangenen erwähnt, dass Baer Bemer- 
für die Vergrösserung der Insel Laven-Sari auch die Hebung die ver- 
des Landes als erklärenden Faktor mit heranzieht und dass ^SrMsen'^ 
er es fttr möglich hält, dass sich die skandinavische säkulare 
Hebung unter dem Finnischen Busen fortsetze. Die Frage 
der Niveauverschiebung des Meeres nimmt sein Interesse in 



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— 42 — 

Anspruch. Als Kapitän Rein ecke daher 1837 bei der Auf- 
nahme der Küsten von Finnland Marken in die Felsen ein- 
hauen liess, erstattete Baer über diese Arbeit einen Bericht 
an die Akademie.^) Aus den Beobachtungen Reineckes 
schien eine Erhebung des Landes am Finnischen Meerbusen 
hervorzugehen. Es hatte sich nämlich gezeigt, dass der fest- 
gestellte mittlere Wasserstand bei der Admiralität zu St- 
Petersburg um 2 Zoll = 7 cm, bei Kronstadt um 6,9 
^=^ 24,15 cm, bei Reval um 2,6 := 10 cm und bei Swea- 
borg um 8,4 Zoll = 29,40 cm niedriger war als auf den 
Hafenpegeln nach Beobachtungen 15 Jahre zuvor. Ob aber 
diese Differenzen eine Erhebung des Bodens beweisen, will 
Baer dahingestellt sein lassen. Nun berichtete Reine cke 
aber auch, dass im Jahre 1800 der mittlere Wasserstand bei 
Sweaborg durch 2 Marken bestimmt worden sei, von denen 
jetzt eine 8,9 = 31,15 cm und eine 9,8 =- 34,30 cm über 
dem Meeresspiegel stehe. Dies ergibt ein Sinken des Wasser- 
spiegels bei Sweaborg um rund 9 Zoll =^ 31,5 cm in 40 
Jahren; dem steht gegenüber die Senkung des Wasser- 
standes bei Hanpönd um die gleiche Zahl von Zoll aber in 
85 Jahren. Dies lässt Baer die Hebung sehr ungleichmässig 
erscheinen, und er vergleicht sie mit derjenigen an der Küste 
Schwedens, die auch unregelmässig befunden worden ist 
Beide scheinen sie ihm ein Falten oder Runzeln des er- 
starrten Erdreiches anzudeuten. Baer bekennt sich mit dieser 
Ansicht zu der Kontraktionstheorie, wie sie Johnston 
aufgestellt und Berzelius nach ihm in den lapidaren 
Satz gekleidet hat: „Die Ursache des Phänomens ist die 
allmählich stattfindende Abkühlung unserer Erde, wobei 
sich der Durchmesser vermindert und die erstarrte Rinde 
entweder leere Zwischenräume zwischen sich und der Ge- 
schmolzenen lassen oder nachsinken muss, wobei sie jedoch 
einen zu grossen Umfang hat, um nicht Falten oder Biegungen 



^) Bericht über die Marken, die der Capt. Rein ecke bei Ge- 
legenheit der Aufnahme des Finnischen Meerbusens zur Bezeichnung 
des Wasserspiegels hat machen lassen. Bullet, scient. IX S. 144—146. 1841. 



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^ 43 - 

zu bilden, so dass sich auf der einen Seite Teile erhöhen, 
auf der andern senken müssen".^) 

Zu den geologischen Arbeiten Baers sind ferner zu biem^es 
rechnen die Abhandlungen, welche sich auf den sibirischen Eisboden«. 
Eisboden beziehen, „the groundice or froizen soilof Siberia''^) 
wie er ihn nennt. Dass Baer zwischen diese beiden Bezeich- 
nungen or = oder setzt, ist kein Zeichen dafür, dass er 
zwischen ihnen keinen Unterschied macht. Und doch ist 
derselbe, worauf Günther^) mit Bestimmtheit hinweist, ein 
wesentlicher, indem froizen soil der unterirdische Eisboden 
Sibiriens ist, in dessen Innerem das sonst im Boden frei zirku- 
lierende Wasser in gefrorenem Zustande vorkommt, während 
ground ice Boden- oder Steineis bezeichnet, das kompaktes, 
verschüttetes Eis und ein massgebender morphologischer 
Faktor ist. In dem oben genannten ersten Artikel gibt nun 
Baer eine kurze Geschichte der Beobachtungen über den Eis- 
boden Sibiriens. Er nennt Gmelin als den, der die ersten 
Nachrichten vom Eisboden aus Jakutsk brachte, erwähnt den 
Gegensatz zwischen v. Buch, Erman und v. Hum- 
boldt und hebt das Verdienst des Kaufmanns S c h e r g i n 
in Jakutsk hervor, der bei einem Brunnenbau die efsten Ex- 
perimente über die Bodentemperatur anstellte. Er fand in 
einer Tiefe von 382 Fuss eine Temperatur von —^l2^ R. 
= 0,65 Cels., weiter gegen die Oberfläche war die Temperatur 
niedriger. Baer hält es bei dem damaligen Stand der Kennt- 
nisse über diesen Gegenstand für unmöglich, genau festzu- 
stellen, welches die Grenze der Eisbodenschicht ist. Er hofft 
daher, dass die Akademie der Wissenschaften die Temperatur- 
messungen in den verschiedenen Tiefen genauer vornehmen 
werde als es M. Schergin konnte und dass man sich be- 
mühen werde, die Tiefe festzustellen, bis zu welcher die Isolation 
in Jakutsk wie in anderen Orten eindringe und somit die 

^) Vgl. Günther, Ein vergessenes Dokument zur Geschichte 
der Erdphysik Ausland 66 S. 129 ff. u. Roh. Sieger: Zur Geschichte 
der Kontraktionstheorie Ausl. 66 S. 18. 

*) On the ground ice or froizen soil of Siberia. Journal of the 
Geogr. Society Vol. VIII. 210 — 213 und Athenaeum 1838 N. 540 S. 169. 

') Günther Geophysik I S. 332 und II S. 758. 



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— 44 — 

Ausdehnung des Eisbodens. Im Anschluss an seihe Mit- 
teilung bringt Baer noch den Bericht von A. Er man, der 
ihm mitteilt, dass er den fraglichen Brunnen in Jakutsk ge- 
sehen habe, er habe damals soFuss = 15,^5 m gehabt und die 
Erdstücke daraus hätten die Temperatur — 6^R* = — 7,5Cels. 
gezeigt. Er man, der der Frage des Eisbodens das höchste 
Interesse entgegenbrachte, war mit dem von Baer gewählten 
Ausdruck „ground ice" nicht einverstanden. In einem zweiten 
Artikel erklärt darum Baer noch einmal, was er darunter 
versteht.^) „Perpetual ground ice'*, sagt er da, ist das Eis, 
welches in den arktischen Regionen in der Schicht der Erde 
gefunden wird, die unmittelbar unter der von der Sonne auf- 
getauten liegt, diese reicht bis zu der Tiefe/ wo die Tempe- 
ratur der Erde am Gefrierpunkte ist.'* Die Dicke des immer 
gefrorenen Bodens in Ländern festzustellen, in denen die 
mittlere Temperatur bedeutend unter dem Gefrierpunkte liegt, 
scheint Baer wichtig vor allem mit Rücksicht auf die Theorie 
der Quellenbildung. Wenn, sagt er, der Boden, wie es der 
Fall ist in Jakutsk, 300—400 Fuss niemals auftaut, dann müssen 
alle die kleinen Flüsse, deren Wasser nur im Sommer im 
flüssigen Zustande ist, im Winter ganz ohne Wasser sein 
und umgekehrt müssen alle Flüsse, welche ganz innerhalb 
der Länder mit Eisboden fliessen und doch im Winter Wasser 
führen, dieses aus grösseren Tiefen erhalten, als diejenigen, 
welche in gefrorenem Zustande bleiben. Diese Wasseradern 
müssen den Eisboden durchdringen. Darum wünscht Baer, 
dass einige Nachforschungen darüber in nördhcheren Breiten 
angestellt würden. Ferner möchte Baer — was er später 
ja auch getan hat — Material sammeln, um die südliche 
Grenze des ewigen Eisbodens in der alten Welt festzustellen. 
Er zeigt an Beispielen, dass man, je weiter man östlich geht, 
desto südlicher die Grenze des Eisbodens findet. In den 
Wäldern allerdings, wo das Licht der Sonne abgeschwächt 
ist, geht das Auftauen nur V* — 6 Fuss (23,5 cm — 1,83 cm weit). 
Weit im Osten wird wenig Eisboden gefunden, wahrscheinlich. 



*) Recent intelligence of the froizen ground in Siberia. journ. of 
the G. S. VIII S. 401—406 auch Athenaeum 1838 N. 565, S. 509. 



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- 45 - 

so vermutet Baer, weil die Nachbarschaft der See die Tem- 
peratur des Bodens hebt. So fand Er man kein Eis im Boden 
von Ochotsk. Baer glaubt, dass Fort Gurchill in Amerika 
in 59^ n. Br. genau an der Grenze des ewigen Eisbodens 
liegt, da die mittlere Temperatur dieses Ortes nur wenig 
unter dem Gefrierpunkt steht. Nach der Karte der Grenz- 
linie des Eisbodens von Fritz, reproduziert in Günthers Geo- 
physik I S. 333 geht diese allerdings noch einige Grad süd- 
licher.' 

Wir sehen, welch' reges Interesse Baer der Frage des physIfchS'' 
sibirischen Eisbodens entgegenbrachte, wie ihm überhaupt die siwrien*^* 
Erschliessung dieses Landes sehr am Herzen lag. Hat er 
auch keine eigenen Beobachtungen an Ort und Stelle aus- 
geführt und keine Expedition in das Innere von Sibirien 
unternommen, so gebührt ihm doch das Verdienst, die Er- 
forschung dieses Landes durch seine Bemühungen um das 
Zustandekommen von Expeditionen wesentUch gefördert zu 
haben. Nach seiner ersten Reise nach Nowaja Semlja war 
ihm die Notwendigkeit einer Reise in den nördlichsten Teil 
von Sibirien zum Zwecke der Erforschung der Pflanzen- und 
Tierwelt noch dringender erschienen als früher. Es wurde 
denn auch eine Expedition dorthin im Schosse der Akademie 
1838 in Vorschlag gebracht. Da man aber Zweifel hegte an 
der Ausführbarkeit derselben, so beschloss man auf Baer s 
Vorschlag zur vorherigen Orientierung durch Vermittlung 
des Generalgouverneurs von Westsibirien Fürsten Gortscha- 
ko w in Turuchansk eine Reihe von Fragen an Personen^ 
welche die Taimyrgegend kennen, zu senden. Baer hat sie 
mit den Antworten veröffentlicht.^)- Die Fragen, insgesamt 36, 
erkundigen sich zunächst nach praktischen Erfahrungen z. B. 
über die Art, wie man die Nordküste erreichen könne, ob 
mit Hunden oder Renntieren. Andere Fragen beziehen sich 
auf die Verteilung der Bevölkerung. Dazu treten noch rein 
naturhistorische und geographische Fragen über Vogel- und 
Fischarten, Lemminge, über Ursprung, Laufrichtung, Länge 

^) Neueste Nachrichten über die nördlichsten Gegenden von Si- 
birien zwischen den Flüssen Pjäsida und Chatanga. Baer u. H e 1 - 
mersen's Beiträge Bd. IV. S. 269—300. 



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- 46 - 

von Flüssen, über Eintritt und Dauer des Frostes u. a. Baer 
findet, dass in den Antworten manche willkommene natur-. 
historische Notiz vorkomme, wie die über die Grenzen des 
hochstämmigen Holzes; doch nennt er im ganzen ihren In- 
halt sehr niederschlagend. Trotzdem stellte er 1843 ^^^ 
Antrag an die Akademie, sie wolle eine Kommission er- 
nennen, die über die Zweckmässigkeit und Ausführbarkeit 
einer Expedition in das Taimyrland beraten, dann später die 
Ausführung bestimmen und schliesslich die Überwachung 
übernehmen sollte. Die Kommission wurde gewählt, sie be- 
stand aus dem Petersburger Zoologen Fried r. v. Brandt, 
dem Physiker Fr d. Emil Lenz und Baer. Dieser war es, 
der der Akademie einen für die Durchführung der Aufgabe 
vorzüglich geeigneten Mann empfahl, den Professor an der 
Universität zu Kiew Theodor v. Middendorff Er hatte 
diesen ausgezeichneten Forscher kennen gelernt auf seiner 
Reise nach Lappland 1840, auf der er ihn begleitete. Über 
diese Reise übrigens, welche Baer nach der Halbinsel Kola 
führte, ist nicht viel bekannt gegeben worden. Bevor 
V. Middendorff seine grosse Reise antrat, unternahm Baer 
mit ihm im Sommer 1842 noch eine kleine Reise auf die 
Inseln des Finnischen Meerbusens bis nach Helsingfors, damit 
Middendorff die Spuren der Eiszeit kennen lernen sollte. 
Wir haben die darauf bezügliche Arbeit^) Baers schon bei 
der Frage des erratischen Phänomens erwähnt. Dann schrieb 
letzterer eine besonders ausführliche Instruktion für M i d d e n - 
d o r f f.2) Zwei Aufgaben, heisst es da, sind es vorzüglich, denen 
diese Expedition sich zu widmen hat. i. Eine allgemeine 
Erforschung der Gegend nördlich von Turuchansk bis Cha- 
tanga in geographischer, ethnographischer und naturhistorischer 
Hinsicht. 2. Die Untersuchung der Ausdehnung und so viel 
wie möglich der Mächtigkeit des bleibenden Eisbodens in 
Sibirien, sowie aller übrigen Verhältnisse der Bodentem- 
peratur, soweit es die Verhältnisse und Mittel dieser Reise 



^) Bericht über kleinere Reisen im Finnischen Meerbusen. Bullet, 
phys. math. I No. 7. 

^) Instruktion ftlr den Dr. v. Middendorff zu seiner Reise nach 
Sibirien. Bullet, physico-math. 1 S. 177—185. 1843. 



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— 47 - 

erlauben. Die zweite Hauptaufgabe zerfällt in zwei Reihen 
von Beobachtungen, von denen die eine auf eine möglichst 
genaue Untersuchung des Brunnens in Jakutsk sich bezieht, 
die andere aber korrespondierende Beobachtungen in anderen 
Gegenden Sibiriens sammeln wird. 

Ende des Jahres 1842 trat Middendorff seine Reise ^Midd«^° 
an; Baer verfolgte sie begreiflicherweise mit dem grössten **°'^'* 
Interesse. Aus den Briefen, die Middendorff an ihn rich- 
tete, entnahm er von Zeit zu Zeit Berichte im „Bulletin** der 
Akademie. Diese sowie alle seine Aufsätze, welche sich auf 
Middendorffs Reise bezogen, hat er später summarisch 
zusammengefasst. *) Middendorffs Reise, die von November 
1842 bis April 1845 dauerte, war für ihn und alle Teilnehmer 
überreich an furchtbaren Anstrengungen und Gefahren ge- 
wesen, und seine Berichte lesen sich, wie Günther sagt,*) 
stellenweise wie eine ausschweifende Robinsonade. Baer 
gab von dem Gange und den Schicksalen der Expedition 
„die erste zusammenhängende, höchst anziehend und fesselnd 
geschriebene Darstellung". ®) 

Von grösster Wichtigkeit musste es für Baer bei seiner 
Vorliebe für klimatologische Beobachtungen und bei seinem 
Interesse für den sibirischen Eisboden sein, Middendorffs 
Beobachtungen darüber zu erfahren. Er bemächtigte sich 
mit Eifer der Ergebnisse von dessen Beobachtungen über die 
Temperatur in der Luft und im Boden und stellte sie zu- 
sammen. Es erschien eine eigene Arbeit von ihm über das 
KUma des Taimyrlandes nach den Beobachtungen der Mid- 
d e n d o r f sehen Expedition. *) Dieser Forscher hatte Tempe- 
raturbeobachtungen an der Boganida in dem Orte Korennoje- 
Filippowskoje unter 70^5' n. Br. und 118 ö. L. gemacht. 
Baer findet die gegebenen Zahlen deshalb wertvoll, weil sie 
uns zuerst ein Mass gaben für die Wirkung der Sonne auf 
dem Kontinent in Gegenden, wo sie einige Monate über 



*) Summarischer Bericht von Herrn Th. v. Middendorffs Reise 
im arktischen Sibirien. Beiträge IX. Bd. 2. Abt. Petersb. 1855. 
^) Günther, Geschichte der Erdkunde S. 282. 
*) Stieda a. a. O. S. 132. 
*) Bulletin physico-math. Tome IV p. 315 — 336. 



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- 48 - 

dem Horizonte verweilt. Die mittlere Sommertemperatur 
betrug + 7,25 ® C. Wenn wir, sagt Baer, den Sommer vom 
Aufgehen des Flusses bis zum Bedecken desselben mit Eis 
rechnen, so währt er 90 Tage. Fast ebenso lange währt 
im allgemeinen die Zeit der Vegetation. Diese kurze Zeit 
und die angegebene Intensität der Wärme während derselben 
genügt, um Bäume, namentlich Lärchen von 8—10 Zoll zu 
erzeugen. Erst unter 72® lag nach dem Ausdruck Mi dd en- 
do rffs der Wald in den letzten Zügen. 
Kiima und Daraus folgert nun Baer, dass für den Baum wuchs ausser 

Pflanzenent- '^ ' 

wicuung einer bestimmten Quantität Wärme oder einer bestimmten Inten- 

nach Baer. ** 

sität derselben noch ein Schutz gegen den unmittelbaren Einfluss 
der Seewinde erforderlich sei. Denn bisher habe man keinen 
bestimmten Beweis in Zahlen geben können, dass, auch ab- 
gesehen von der Verminderung der Sommertemperatur, welche 
das Meer besonders im Norden erzeugt, die Nähe desselben 
dem Wachstum der Bäume sei es durch Winde oder auf 
andere Weise hinderlich wird, eben weil man dieses Mini- 
mum von Wärme noch nicht kannte, mit welchem ein Wald 
noch bestehen kann. Da wir nun ein solches von der Boga- 
nida haben, so lässt sich, meint Baer, durch Vergleichung 
der Sommertemperaturen zeigen, dass eine Menge nordischer 
Gegenden waldlos sind, die mehr Sommerwärme haben als 
die Waldregion an der Boganida. Ueberhaupt, so steigert 
Baer seine Behauptung, hat man durch die Middendorff- 
sche Expedition nicht nur auf dem nördlichsten Vortreten 
des Landes auch das nördlichste Vortreten des Waldsaumes 
kennen gelernt, sondern man darf wohl auch überzeugt sein, 
dass, wenn das Land bedeutend weiter vorginge, der Wald 
es auch täte. Ja Baer bezweifelt sogar kaum, dass der Wald 
bis an den Pol reichte, wenn das Land in weiter Ausdehnung 
über denselben hinaus sich verlängerte, da ohnehin mit dem 
weiteren Vortreten des Landes der Sommer in derselben 
Breite wärmer sein würde. 

Ein weiteres, nicht uninteressantes Ergebnis der Tempe- 
J*^^[*^Yn r^^^'^'^^^'^^^htungen an der Boganida sieht Baer in dem 

Sibirien. 

') Vgl. Kärtchen I. 



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— 49 — ■ • '^" •'■' .,.^. 

Umstand, dass dort die Höhe der Sommerwärme Vuf^di^'t 
erste Hälfte des August traf. Da in zwei anderen Beorocfe 
tungsstationen, auf welche das Karische Meer und die Luft 
über demselben unmittelbare Einwirkung ausüben (Felsenbai 
an der Südostspitze von Nowaja Semija und Matotschkin- 
Schar), dasselbe Verhältnis beobachtet ist, so bezweifelt Baer 
nicht, dass die Retardation der Sommerwärme ihren Grund 
in den Verhältnissen des Karischen Meeres selbst habe. Er 
wiederholt hier die gleiche Ansicht über das Eis des Kari- 
schen Meeres und seine Wirkung, wie er sie schon in den 
Aufsätzen über Nowaja Semija geäussert hat. Wir wollen 
später noch einmal darauf zurückkommen. 

Für viel wichtiger als diese Beobachtungen der Tempe- Bodentem. 

^ *^ *^. peraturen u. 

ratur m freier Luft hält Baer bei Middendorffs Reise die gefrorene» 

. . Erdreich. 

Beobachtungen der Bodentemperatur, weil sich hiezu eme 
ganz ausserordentliche Gelegenheit darbot, und weil dieser 
Gegenstand viel weniger wissenschaftlich erforscht war. Aus 
diesem Grunde findet er aber auch nur einige Fragen durch 
die Reise gelöst, andere Fragen und neue Zweifel erheben 
sich ihm erst jetzt, und es scheint ihm, dass die Temperatur 
des Bodens überhaupt und des gefrorenen Bodens insbesondere 
noch langjähriger Untersuchung bedürfen wird. Die Mäch- 
tigkeit des Eisbodens, in den der Schacht von Jakutsk ge- 
trieben ist, erscheint Baer bedeutender als man nach Scher- 
gins Temperaturablesungen glauben konnte. Middendorff 
berechnete nämlich, dass der Nullpunkt bei Jakutsk erst in 
einer Tiefe von 600—700 Fuss (183—213,5 m) zu erwarten 
sei, wie schon Erman vermutet hatte. Dass die Temperatur 
in den tieferen Schichten, auf welche der Wechsel der Jahres- 
zeiten keinen bedeutenden Einfluss mehr ausübt, zunimmt, 
erscheint Baer mit genügender Sicherheit bestimmt. Dagegen 
bezweifelt er nicht, dass der Scherginschacht mit seiner 
Mitteltemperatur von —6,61^ R. (8,26^ Gels.) bei 50 Fuss 
{15,25 m) Tiefe keineswegs die Bodentemperatur angibt, 
sondern nur das Mass seiner eigenen Abkühlung. Es findet 
nämlich, vermutet Baer, innerhalb des Schachtes eine auf- 
und absteigende Luftströmung statt, hervorgerufen durch den 
freien Zutritt der kalten Luft in den offenen Schacht. Da- 

V. Baer als Geograph. 4 



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_ gO — 

durch erklärt sich Baer auch, dass alle anderen Gruben, 
welche man neu anlegte, eine auffallend höhere Temperatur 
zeigten. Middendorff hält die Temperaturen in der Wand 
des Scherginschachtes im allgemeinen für die normalen, Baer 
dag^en kann sich nicht entschliessen, die fast übereinstim- 
menden Temperaturen der drei neuen Gruben und die zwei 
anderen sämtlich für Abweichungen zu halten. Wenn es 
richtig ist, sagt er, dass der Schacht in Jakutsk durch den Zutritt 
der atmosphärischen Luft und. die im Schacht unterhaltenen 
Strömungen um mehrere Grade abgekühlt ist, so folgt dar- 
aus, dass wir die Leitungsfähigkeit für die Wärme im ge- 
frorenen Boden nicht kennen und dass man aus dem Scher- 
ginschacht nicht auf die Mächtigkeit des Eisbodens schliessen 
kann. Unter diesen Umständen und bis die Frage entschieden 
ist, ob der Unterschied der Boden- und Lufttemperatur in 
Sibirien so gross ist, als wir glauben, hält es Baer für völlig 
unmöglich, die Ausdehnung des Eisbodens theoretisch oder 
nach der Lufttemperatur einigermassen annähernd zu be- 
stimmen. In der Tat können wir auch heute nur das eine 
sicher feststellen, dass die Eisbodenschicht eine sehr mäch- 
tige ist, ohne genaue Angaben über ihre Dicke machen zu 
können. Statt einen solchen Versuch zu wagen, möchte 
Baer lieber zusammenstellen, wo die unmittelbare Beobach- 
tung bleibendes Bodeneis nachgewiesen hat. In Lappland 
ist seines Wissens nirgends bleibendes Bodeneis, auf der 
Ostküste des Weissen Meeres scheint ihm aber der Eisboden 
bald zu beginnen. Schrenck fand in der Umgegend von 
Mesen^) eine gefrorene Schicht in 7 Fuss (engl.) (2,13 m) 
Tiefe. Die Insel Ko 1 g u j e w, sowie alle Inseln des Eismeeres 
bis zur Beringstrasse haben Eisboden. In der Nähe von 
Mesen beginnt der zusammenhängende Eisboden, bis gegen 
die erste Hauptkrümmung der Petschora reicht er nach 
Schrenck. Nach dem Ural hin scheint Beresow dem Südrande 
des Eisbodens nahe zu liegen. Weiter nach Osten am Jenissei 
hat man jetzt nach Middendorffs Beobachtungen die 
Grenze ziemlich genau festgestellt, da Turuchansk^ fast 



') Vgl. Kärtchen I. 



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— 51 - 

auf dem Rande des Eisbodens zu liegen scheint. Weiter 
nach Osten im Gebiete der Len«^ sind die Verhältnisse ausser- 
ordentlich verändert. Dass von der Küste bis über Jakutsk 
hinaus ununterbrochen Eisboden i^« wusste man von der 
Zeit der ersten Besetzung her. Wie ungemein mächtig er ist, 
Hessen die Erfahrungen Sc her g ins erkennen. Zur Abschät- 
zung der Südgrenze hatte Baer einige Vergleichungspunkte 
erhalten. Nach Südosten fand man in Amginsk in 60 Fuss 
(18,30 m Tiefe) — 1,5^ R. (1,87^ Cels.) Noch weiter in der- 
selben Richtung an der Mündung der Maja wird in der Tiefe, 
wo der Einfluss der Jahreszeiten schwindet, die Temperatur 
nur sehr wenig unter dem Gefrierpunkte sein. Nach Süd- 
westen ist Olekminsk noch innerhalb des Eisbodens, Witimsk 
entschieden ausserhalb. Dagegen ist auf dem Witimplateau 
nach mehrfachen Nachrichten der Boden selbst am Schlüsse 
des Sommers in geringer Tiefe gefroren. Baer bezweifelt 
nicht, dass die ganze Höhe südlich der Witimsteppe im Westen 
bis zum Baikalsee, im Osten bis zum Flussgebiet des Amur 
bleibendes Bodeneis enthält, weil in Nertschinskischen Gruben- 
revieren an vielen Stellen Eis in so bedeutenden Tiefen ge- 
funden wurde, dass man es nicht für ein Produkt des vor- 
herigen Winters halten darf. Ja Baer findet es sogar wahr- 
scheinlich, dass der Eisboden aus den Grenzen des russischen 
Gebietes heraustritt und mehr oder weniger über die Stadt 
Urga reicht. Dass östlich von Jakutsk der Eisboden sich 
bis an die unmittelbare Nähe des Meeres hinzieht, schliesst 
Baer aus Nachrichten, die Georgi vor sich hatte und die 
Eis bei Ochotsk melden. Die Südgrenze mag mit der Reichs- 
grenze ziemlich zusammenfallen. Wenigstens fandMidden- 
d-orff bei Udskoi am 13. Juni in 6V2 Fuss den Boden ge- 
froren, ohne dass er jedoch entscheiden konnte, ob er un- 
veränderlich so bleibt und ob dieses Verhältnis allgemein 
ist. Aus Kamtschatka kennt Baer keine Nachrichten über 
bleibendes Bodeneis. Er glaubt daher, dass es in der süd- 
lichen Hälfte fehlt — was ja auch der Fall ist —, und sieht 
den Grund teils in der vulkanischen Tiefe, teils in der Lage 
zwischen zwei weiten Meeren. In der nördlichen Hälfte, 
dem Lande der Korjaken, glaubt er, wird es nicht fehlen. 

4* 



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— 52 — 

keSe^EÜ. Bevor wir die Arbeiten Baers, die sich auf Sibirien be- 

ropas. ziehen, verlassen, müssen wir noch, wie oben angekündigt, 
den wissenschaftlichen Streit berühren, den seine Aeusse- 
rung über das Karische Meer hervorgerufen hatte. In seinem 
Aufsatze: „Ueber das Klima von Nowaja Semlja und die 
mittlere Temperatur insbesondere ^) hatte Ba er das Karische 
Meer mit einem „Eiskeller" verglichen. Diese Bezeichnung 
hatte nun vielfach die Vorstellung erweckt, als ob das 
Karische Meer gar nicht schiffbar sei. In einem Artikel des 
„Ausland'' 1876 Nr. 2 kommt dies besonders zum Ausdruck, 
Hier verteidigt v. H e 1 1 w a 1 d den Gothaer Geographen Peter- 
mann gegen die schwedische Zeitung „Aftonbladet", die ihn 
der Verkleinerung Nordenskiölds beschuldigte, da er die Er- 
gebnisse von dessen Expedition (1875) als Bestätigung seiner 
schon 187 1 ausgesprochenen Ansicht von einem neuen nor- 
dischen See weg hingestellt haben soll, während Nor denskiöld 
' diesen schon 1869 prophezeit habe. v. Hellwald zeigt nun, 
dass Nordenskiöld seine Voraussetzung nur bedingt gebraucht 
habe, und dass die Frage, ob die Karasee schiffbar sei, weder 
vonNordenskiöld(i869)noch vonPetermann entschieden 
worden sei, weil damals „die von E. v. Baer herrührende 
Vorstellung von dem Eiskeller des Karischen Meeres noch 
die Oberhand hatte.'* „Hätte," so fragt der Verfasser weiter, 
„Peter mann etwa von den Resultaten der Walfischfahrer 
keine Notiz nehmen, seine Vorstellung von dem Baerschen 
Eiskeller nicht rektifizieren, den alten Irrtum weiterschleppen 
sollen?" 

An diese Auseinandersetzung knüpft nun B a e r in dem 
Artikel: „Verdient das Karische Meer die Vergleichung mit 
einem Eiskeller?" 2) an und wendet sich mit Bitterkeit gegen 
den Vorwurf, als hätte er behauptet, das Karische Meer 
könne gar nicht zu Schiff befahren werden. Er weist 
darauf hin, dass er in seinem ersten Aufsatze über den hohen 



^) Bullet, scient. Tome II. 

2) Ausland 1876 Nr. 11 und Bullet, de TAcad. de St. Petersbourg^ 
Tome XXI 1876 S. 289—292. 



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— 53 — 

Norden, ^) in welchem er von den letzten Besuchen ih Nowaja 
Semlja spricht, zuerst bekannt gemacht hat, dass die alte 
Sage von dem Walrossfänger Loschkin, der Nowaja 
Semlja vollständig umsegelt habe, dadurch zur Gewissheit 
erhoben sei, dass Pachtussow ein von ihm errichtetes 
Kreuz an der Ostküste der Südinsel aufgefunden habe. Dann 
hebt Baer hervor, dass er ja selbst das Karische Meer be- 
sucht und in seinem Bericht gesagt habe, dass gar kein Eis 
zu sehen gewesen wäre. Unmöglich, folgert er daraus, könne 
er also behauptet haben, dass das Karische Meer nicht be- 
fahrbar sei. Es scheint in der Tat, dass man Baer Unrecht 
tut, wenn man ihm die Urheberschaft des Vorurteils gegen 
die Schiffbarkeit des Karischen Meeres zuschreibt. Denn 
dadurch, dass er es mit einem Eiskeller vergleicht, spricht 
er keineswegs zugleich die Unschiffbarkeit desselben aus. 
Daran hält er auch in der eben genannten Verteidigungs- 
schrift fest Er habe, sagt er, das Karische Meer, das rings 
von Landmassen umgeben sei, die im Winter viel kälter 
seien als die See und das darum sein Eis länger bewahren 
und nur gelegentlich ganz eisfrei sein könne, mit einem Eis- 
keller verglichen. Sei denn dies so falsch? Ein Eiskeller 
ist eine Räumlichkeit, in welche Eis gebracht wird und in 
der es sich lange erhält, weshalb jene Räumlichkeit auch 
eine niedrigere Temperatur hat als die Umgebung, denn 
selbst wenn das Eis geschwunden ist, unterhalten die abge- 
kühlten Erd wände die niedere Temperatur. Wolle man 
übrigens, so fährt er fort, die Vergleichung mit einem -Eis- 
keller missbilligen, so habe er nichts dagegen; wenn man 
aber zu verstehen gebe, er habe das Karische Meer für ganz 
unfahrbar erklärt, so könne er das nicht billigen. Gegen 
die Hoffnungen Norde nski öl ds, dass ein bleibender Handels- 
weg nach dem Jenissei durch die letzte Fahrt der Schweden 
(Nor denskiöld mit dem Segler „Pröven" 1875) eingeleitet sei, 
spricht sich Baer sehr skeptisch aus: „Zu einem Handelsweg 
gehört nicht nur ein Weg, sondern auch Handel. Wenn 



Bericht über die neuesten Entdeckungen an der Küste von 
Nowaja Semlja. Bullet, scient. T. II. 



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-^ 54 - 

aber die Westeuropäer noch mehr bekannrmit dem Karischen 
Meer werden, so vertauschen sie vielleicht den Vergleich 
mit einem Eiskeller mit dem eines Warenhauses und pflanzen 
Ananas und Kokosbäume an den Ufern desselben." 

Diese pessimistische Anschauung Baers hat sich später- 
hin nicht als zutreflFend erwiesen. Nordens kiöld wieder- 
holte 1876 glücklich seine Fahrt nach dem Jenissei mit dem 
Dampfer „Ymer" und setzte seinen Taten die Krone auf, in- 
dem er 1878 mit der „Vega" die ganze Nordküste umsegelte 
und als erster die nordöstliche Durchfährt erzwang. 

Wenn auch diese für einen regelmässigen Verkehr 
zwischen Europa und Asien nicht geeignet ist, so ist es doch 
andrerseits ganz gewiss, dass die Karasee, — entgegen der 
Ansicht Baers — als Handels weg zu den grossen sibirischen 
Flüssen und damit zum Innern des Landes sehr wohl brauch- 
bar ist, wenn nur die Jahreszeit richtig gewählt wird, 
bdten^r Wir kommcu nun zu einer anderen Art von Arbeiten 

dcsK^? Bäcrs, zu denjenigen, die sich auf seine Fischereireisen 
Meerel beziehen. Wenngleich diese Reiseuntemehmurtgen ursprüng- 
lich einen rein praktischen Zweck im Auge haben, so sind 
sie doch auch für die Geographie von Bedeutung, da 
aus ihnen mehrere rein geographische Abhandlungen hervor- 
gegangen sind. Die ersten Fischereiexpeditionen, sechs an 
der Zahl, unternahm Baer 1851/52 nach dem Peipus-See 
und dem Baltischen Meere. Diese für die Geographie nicht 
in Betracht kommenden Reisen sind aber nur die Vorläufer 
jener „1853 beginnenden, mehrere Jahre anhaltenden Reisen 
Baers zur Untersuchung der in staatsökonomischer Beziehung 
so überaus wichtigen Fischerei des Kaspischen Meeres, jener 
Reisen, welche in praktischer, wie in wissenschaftlicher Be- 
ziehung so reiche Resultate lieferten". ^) „Seit langer Zeit,'' 
so erzählt Baer 2) über die Veranlassung der Expeditionen, 
beschwerte man sich über den Verfall der kaspischen Fischerei. 
Es galt darum, von derselben ein vollständiges Bild zu ge- 
winnen, die Klagen über den Verfall zu untersuchen und 



Stieda a. a. O. S. 154. 
*) Selbstbiographie S. 565. 



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— 55 — 

Schomingsmassregeln vorzuschlagen.*' Es wurden drei Jahre 
dazu bestimmt, doch dehnte sich die Unternehmung auf fest 
vier Jahre aus (1853—57). Ueber den Gang und den äusseren 
Verlauf der Reisen erzählt Baer in seiner Selbsitbiographie 
in fesselnder Weise. Sie waren reich an Beschwerden und 
Anstrengimgen, brachten aber auch reiche Ergebnisse. Diese 
sind, soweit sie praktischer Natur, in dem zweiten Band des 
in russischer Sprache erschienenen grossen Werkes über 
die Fischerei Russlands enthalten, soweit sie wissenschaft- 
licher Art, in den sog. „Kaspiscben Studien", zu denen wir 
ims jetzt wenden wollen. 

Sie geben in ihrer Gesamtheit eine ausfahrliche Be- 
schreibung des Kaspischen Meeres, die für die geographische 
Darstellung dieses Sees grundlegend ist und als die beste 
vorhandene angesehen werden darf. Die erste derselben, ge- 
schrieben zu Astrachan am 12. Oktober 1854, handelt von 
dem Wasser des Kaspischen Meeres und seinem Verhältnis 
zur Molluskenfauna. ^) Bevor Baer von der chemischen Zu- 
sammensetzung des Wassers spricht, gibt er zuerst ein Bild 
des Kaspischen Meeres. Er zerlegt es in das eigentliche 
grosse Becken und die einzelnen abgesonderten Glieder. 
Unter diesen steht an erster Stelle die Kara-Bugas. Das 
Wasser in ihr bildet eine so stark gesalzene Soole, dass 
kein Fisch darin weilt. Sherebzow fand eine Salzschicht 
auf dem Boden von unbekannter Mächtigkeit. Baer glaubt 
daher, dass dieser Busen eine der Sättigung nahe Salzlauge 
enthalte und hält ihn für eine natürliche Salzpfanne von 
ungeheuren Dimensionen, welche das Meer selbst ohne fremde 
Hilfe speist und in welcher die Steppenhitze die Sole ab- 
dampfen lässt. Ausser diesem grossen Becken hält Baer 
auch den aus dem nordöstl. Winkel des Kaspischen Meeres 
südwestlich sich erstreckenden schmalen Busen Kara-Su 
(Kaidak) für einen im Entstehen begriffenen Salzsee und den 
Mertwyi-Kultuk, von dem ersterer abgeht, für sehr stark 
salzhaltig. Er gründet seine Ansicht auf die Nachrichten 
von der Fischlosigkeit dieser Meeresteile und auf den Um- 



*) Bulletin physico-math. Tome XIII. 1855 S. 193—210. 



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- 56 - 

Stand, dass kein Zufluss von Süsswasser erfolgt. Dagegen 
haben zwei grössere Busen im Süden, der Astrabadsche und 
der von Enseli wegen starken Zuflusses von süssem Wasser 
nur geringen Salzgehalt. Nach Ausscheidung dieser einzel- 
nen abgesonderten Teile zerlegt nun Baer das übrig 
bleibende grosse Becken in zwei Abteilungen, in das nörd- 
lich flache und das südlich tiefe Becken. Wenn man, sagt 
er, eine fast parabolische Bogenlinie, deren Scheitel gegen 
die Wolga gerichtet ist. von dem Agrachanschen Vorgebirge 
nach Osten hinüberzieht, nicht nach dem Vorgebirge Tjuk 
Karagan selbst, wie gewöhnlich angegeben wird, sondern 
auf ein Drittel der Entfernung zwischen diesem Vorgebirge 
und dem Südende der Insel Kulaly, so scheidet diese Linie 
ein nördliches flaches Becken von einem südlichen tiefen. 
Das flache nördliche Becken hat nicht über 9 Faden == 
etwa 17 m Tiefe und enthält nur brackisches, an der Nord- 
küste fast ungesalzenes Wasser. Das südliche Becken da- 
gegen gewinnt sehr rasch an Tiefe, selbst an der Küste, die 
Mitte gilt für unergründlich tief. Neuere Messungen be- 
stätigen diese Vermutung Baers nicht, sie ergeben als die 
grösste Tiefe 946 m. Das tiefe Becken möchte dieser wieder 
in zwei Abteilungen, eine nördliche und südliche teilen, die 
Grenze wäre da, wo das Meer am meisten verengt wird, 
zwischen dem Apscheronschen und dem Krasnowodkischen 
Vorgebirge. 

Das flache Becken wird immer flacher an allen seinen 
Rändern von dem Absätze der grossen Flüsse und vom 
Sande der östlichen Steppe, den der vorherrschende Ostwind 
ins Meer treibt. Im tiefen Becken versandet aus demselben 
Grunde der südöstliche Winkel. Die Mündungen des Terek 
haben sich dem Agrachanschen Vorgebirge um ein paar 
Werft genähert. Im tiefen südlichen Becken ist nur die 
Mündung der Kura bedeutend vorschreitend. Das flache 
Becken ist überall von flachen Steppenländern umgeben mit 
alleiniger Ausnahme des Ueberganges von Mertwyi-Kultuk in 
den Kara-See, wo der hohe Ustjurt nahe zum Kaspischen 
Meere vortritt- Das tiefe Becken aber hat meist hohe Ufer, 
hie und da mit schmalem Vorlande; an der Ostküste jedoch 



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- 57 - 

um den Kara-Bugas und vom Kraswodkischen Busen bis 
zum Astrabadschen flaches Land. 

Was nun die Beschaffenheit des Wassers betrifft, so 
fand Baer folgendes. Er hatte Wasser schöpfen lassen in 
der Nähe der Landspitze Tjuk-Karagan, weil er diese Gegend 
als den „Mischpunkt" der Wasser beider Becken betrachtete 
oder als die Gegend, wo zunächst erwartet werden durfte, 
die mittlere Beschaffenheit des Wassers vom Kaspischen 
Meer zu finden. Das Wasser zeigte einen Salzgehalt von 
1,4 Prozent, doppelt so viel als in dem Wasser, welches 
G ö b e 1 nicht weit von der Uralmündung sammelte und mehr 
als achtmal so viel als in dem Wasser, das Rose 95 Werst 
jenseits der Wolgamündung schöpfte (Göbel 0.6294; Rose 
0,1654). 

lieber die Molluskenfauna im Kaspischen Meere brauchen 
wir uns hier, wo von der Geographie des Sees die Rede ist, 
nicht weiter zu verbreiten, wir wenden uns daher gleich der 
zweiten der Studien zu. Sie lautet: „Das Niveau des alten 
Kaspischen Meeres ist nicht allmählich gesunken, sondern 
rasch." Dokumente, die dafür zeugen: „Die Bugors."^) Baer 
setzt die Tatsache voraus, dass das Kaspische Meer seinen 
Umfang bedeutend verringert und einen ansehnlichen Teil 
seines Bodens trocken zurückgelassen hat. Diese Abnahme 
des Kaspischen Meeres ist nach ihm, wenn auch für die 
historische Zeit sehr alt, mit geologischem Zeitmass ge- 
messen, doch sehr neu zu nennen. Sie erfolgte aber nicht, 
behauptet nun Baer, allmählich, sondern plötzlich. Wäh- 
rend er keine Verhältnisse kennt, welche für eine ganz lang- 
same Abnahme sprächen, glaubt er Beweise für plötzHchen 
Abfluss gefunden zu haben. Zuvörderst in der ungestörten, 
ursprünglichen Lage einer ungefähr 3 Zoll = 91,5 cm mäch- 
tigen Schicht von Brackwassermuscheln am hohen Ufer der 
Wolga. Ueber derselben liegen zwei Schichten horizontal, 
in ihnen sieht Baer nur einen Absatz, welchen die Wolga 
auf die Muschelschicht des alten Seebodens abgelegt hat, 
aber nicht in einzelnen Jahren, sondern durch eine im grossen 



Bulletin de rAcademie Tome XIII. S. 305—332. 



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- 58 - 

und fast plötzlich wirkende Ueberschüttung, denn es zeigen 
sich keine dünnen untergeordneten Jahresschichten, und der 
Boden ist salzhaltig. Einen mehr augenfälligen Beweis sieht 
er in gewissen Einwirkungen, welche das frühere Meer mit 
seiner Brandung an steilen, vortretenden Flussufem hinter- 
lassen hat: gewundene, durch Reibsteine ausgearbeitete 
Höhlen, die nicht nach unten fortgehen, sondern sich nur in 
gewisser Höhe zeigen. Das wichtigste Zeugnis aber für die 
rasche und gewaltsame Abnahme des Kaspischen Meeres 
findet Baer in den gigantischen Schriftzügen, die es hinter- 
lassen hat. Er meint damit die langgezogenen, fi^t paralieieii 
Hügel aus „festgedrücktem* Steppenboden, welche sich be- 
sonders zusammendrängen, wo die Ufer des Kaspischen 
Meeres sich dem Flachlande zwischen der Donschen Steppe 
und den Vorbergen des Kaukasus nähern, am meisten aber 
gegenüber dem westlichen Ende des Manytschtales. Baer 
glaubt nun, dass diese Hügel einen raschen und gewaltsamen 
Ab-' oder Zufluss des Kaspischen Meeres und zwar durch die 
Kuma- und Manytschniederung nachweisen, einen Abfluss, 
der immerhin Wochen und Monate gewährt haben mag. 
Ob er aber durch rasche Hebung des östlichen oder irgend 
eines Ufers anzunehmen ist oder durch rasches Sinken des 
Schwarzen Meeres oder sonstige Ursache kann Baer nicht 
beurteilen. Die erwähnten Hügel nennt man Bugors. Sie 
sind sämtlich in die Länge gezogen, ihre Länge ist am 
häufigsten V2— 3 Werst = 534 m bis 3,281 km. Es gibt auch 
solche, die 5,7 und mehr Werst = 6,82 km lang sind. Alle 
haben einen breiten Rücken und sanfte Abdachung nach 
den Seiten. Sie sind mit Wellen zu vergleichen, die aus 
Erdmassen nachgebildet sind. Zwischen ihnen liegen schmale 
Wasserarme oder Limane, welche sich zum Teil 30, 40 und 
60 Werst = 32, 42, 68 bis 64 km ins Land erstrecken. Die 
Bugors aber sind das Ursprüngliche, das Bestimmende, zwi- 
schen sie trat das Wasser ein. Um einer Verwechslung der 
Bugors, mit langgedehnten Sandhügeln (Dünen) vorzubeugen, 
weist Baer daraufhin, dass sie aus Sand und Lehm be- 
stehen und Muscheltrümmer und Salze enthalten. Was nun 
die Entstehung dieser Burgors anbelangt, so bezweifelt Baer 



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— 59 — 

sehr, dass die Högel unmittelbare Auswaschungen des noch 
weichen und nachgiebigen Meeresbodens sind. Solarige 
man nicht ganze Schichten oder grosse Lager von wenig 
zerbrochenen Muscheln in ihnen nachweisen kann, hält er 
sie nicht für ausgefurchte oder ausgewaschene Reste des 
Meeresbodens. Die ganz zerstreuten Muscheltrümmer und 
das durch die ganze Höhe gehende, so gleichmässige Ge- 
misch von Ton und Sand, die doch ein so verschiedenes 
Sinkvermögen haben, lassen ihn glauben, dass die Bugors 
sich während eines heftig aufgewühlten Meeres bildeten. 
Ihre „dünne Schichtung" würde er am liebsten durch zu- 
sammenschlagende Wellen erklären, die in gewisser Regel- 
mässigkeit gegeneinander schlagen und auf derselben Stelle 
zusammentreffend einen Teil ihres Inhaltes fallen lassen 
müssen. Das fächerförmige Streichen der Bugors nach der 
Kuma-Manytsch-Niederung und die Art ihrer Schichtung 
lässt Baer auf eine gleichzeitige Strömung dahin oder von 
da schliessen. Doch kann er sich über die Richtung der 
Strömung wegen der mangelhaften Untersuchung kein Urteil 
bilden. Bei der eben gegebenen Ansicht über die «Entstehung 
der Bugors fühlt Baer selbst heraus, dass das Bedenkliche 
und Unwahrscheinliche darin liegt, dass gegeneinander sich 
bewegende Wellen längere Zeit in derselben Richtung zu- 
sammentreffen müssen, um den Absatz der Bugors zu er- 
klären. Darum ist er doch schliesslich geneigt, sie als Pro- 
dukte der unmittelbaren Auswaschung anzusehen, wenn man 
nur mehr unzertrümmerte Muscheln, die es doch zur Zeit 
der Bugorsbildung lebend genug gegeben haben müsste, 
finden ^würde oder wenn es sich nachweisen liesse, wohin 
sonst der grosse Vorrat lebender Muscheln gespült wurde. 

Die nächste, III. der kaspischen Studien spricht von dem Betrachtun- 
Salzgehalte des Kaspischen Meeres. „Nimmt das Kaspische ^|^j^***[^^" 
Meer fortwährend an Salzgehalt zu? Salzlagunen und Salz- des Kaspi- 
seen, die sich auf Kosten des Meeres bilden. Meeresbuchten, ^*^^®° ^***' 
die reicher an Salz werden. Salzseen, die auf Kosten des 
Landes sich bilden."^) 



Bullet, physlco-math. 1855 Tome XIV. S. i— 34. 



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— 6o — 

Baer führt zunächst die bisher ausgesprochenen An- 
sichten über den Salzgehalt des Kaspischen Meeres an und 
beurteilt sie dann. GöbeP) hatte die Vermutung ausge- 
sprochen, dass das Kaspische Meer, ursprünglich ein Süss- 
wassersee aus der angrenzenden Steppe, erst allmählich sein 
Salz erhalten haben möge. Eichwald^) hatte ebenfalls das 
Wasser des Kaspischen Meetes für sehr salzig und bitter 
erklärt und behauptet, dass die Tiere in ihm im Absterben 
begriffen seien. Ebenso Stuckenberg. •'^) Hommaire de 
Hell*) nahm für das Kaspische Meer 5 Prozent Salzgehalt 
an. Dagegen wendet sich nun Baer. Gegen Göbel wendet 
er ein: „Die Cardiaceen und andere Salzwassermuscheln, 
welche wir in allen Ablagerungen des Kaspischen Meeres, 
in den felsigen sowohl als lose in den Steppen in zahlloser 
Menge finden, werden wohl nachweisen, dass das Kaspische 
Meer von unermesslicher Zeit her salzig war, wahrscheinlich 
schon in früheren Bildungsperioden des Erdballs, wo es vom 
allgemeinen Meere nicht geschieden sein wird." Es wird 
somit als Reliktensee erklärt. Was die Abnahme der Tier- 
welt betrifft, so weist Baer auf ein Zeugnis hin, welches 
beweist, dass dies nicht der Fall ist Es ist die Zunahme 
des Ertrages der Kaspischen Fischerei. Doch verkennt Baer 
nicht die Bedeutung der ganzen Frage. Wir haben jetzt, 
meint er, ein Kaspisches Meer mit geschlossenem Umfange 
und in seiner Umgebung eine weitgedehnte, salzreiche 
Steppe. Wenn nun die Verhältnisse so wären, dass das 
Kaspische Becken allmählich alles Salz aufnehmen müsste, 
welches in dieser. Steppe enthalten ist, ohne von seinem 
Salzvorrat bedeutende Quantitäten abzugeben, so müsste es 
notwendig an Salzgehalt zunehmen. Dann wäre allerdings 



^) Göbel: Reisen in die Steppen des südlichen Russlands. Bd. II 
S. 104. Dorpat 1837 — 38. 

^) Eich wald: Reise nach dem Kaspischen Meer und dem Kaukasus 
unternommen in den Jahren 1825—26. Stuttgart 1834—37. 

^) Stuckenberg: Hydographie des Russischen Reiches. Bd. IV. 
S. 38. St. Petersburg 1844—49. 

*) Hommaire de Hell: Les Steppes de la mer Caspienne 
Tome III S. 398. Paris Strassburg 1843—45. 



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— 6i - 

möglich, dass maqche Tiere, welche jetzt in ihm leben, nicht 
mehr bestehen könnten. Aber — und das bezeichnet Baer 
als einen glücklichen Umstand — das Kaspische Meer hat 
nicht nur seine Einnahmen, sondern auch seine Ausgaben 
an Salz und es kommt nur darauf an, ob es gelingt, beide 
gegeneinander abzuschätzen. Der Verlust wird bedingt 
durch die Bildung von Salzlagunen und Salzseen. Die Ab- 
scheidung von Meeresteilen durch verlängerte Sandbänke 
erfolgt auch am Kaspischen Meer, namentlich an der Ost- 
küste. Nicht weit von der Alexander - Bai ist der lang- 
gezogene Salzsee Karakul von dem Meere durch eine Sand- 
bank schon abgetrennt. Als weitere Beispiele für die Ent- 
stehungsgeschichte von Salzseen am Kaspisee führt Baer 
vier nahe beieinander liegende „Salzmulden" an der Spitze 
von Mangischlak zwischen der Festung Nowo-Petrowsk und 
dem Hafen an. Sie stellen vier Abstufungen in der Bildung 
von Salzmulden dar und es ist für Baer kein Zweifel, dass sie 
ihr Salz durch einrieselndes Wasser aus dem Kaspischen 
Meere erhalten haben und ihr Salzabsatz allmählich zu- 
nehmen muss auf Kosten des Meeres. Aber ausser diesen 
Salzmulden gibt es grosse, buchtenförmige Abteilungen des 
Meeres, welche salzreicher sind als das allgemeine Becken 
und welche auf Kosten desselben ihren grösseren Salzgehalt 
gewonnen zu haben scheinen. Baer nennt als solchen ,den 
Mertwyi-Kultuk, ganz besonders aber den schmalen Busen, 
der davon nach Südwesten abzweigt, den Kara-Su (Kaidak- 
Busen). Auch den Kara-Bugas zieht er bei. Dieser ist nach 
Sherebzows^) Bericht „beissend salzig" und sein Boden 
besteht aus Salz. Durch seinen schmalen Eingangskanal 
geht eine Strömung, die fortwährend Seewasser zuführt. 

'Wie gross nun der Gewinn und Verlust an Salzgehalt 
im Kaspischen Meere ist, das versucht Baer in der vierten 
der Kaspischen Studien zu berechnen: „Abschätzung von 
Gewinn und Verlust an Salzgehalt im jetzigen Kaspischen 



Leutnant Sherebzow unternahm 1847 im Auftrage der Admi- 
ralität eine Untersuchung des Kara-Bugas. Er teilte Baer mündlich 
seine Beobachtungen mit. 



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— 6» - 

Meeresbecken. Zufluss salzhaltigen Wassers aus der Wolga- 
Uralschen Steppe, aus der Pontisch-Kaspischen Steppe, aus 
dem Felsboden der Mangischlakschen Halbinsel, aus dem 
Transkaukasischen Salzboden. Abgang desselben (salzhal- 
tigen) Wassers durch Bildung von Salzseen und durch Be- 
reicherung abgesandeter Buchten."^) 

Um den Einfluss der einzelnen Steppengebiete des 
Kaspischen Beckens auf dessen Salzgehalt darzutun und 
ihre Verschiedenheit anschaulich zu machen, gibt Baer erst 
eine Schilderung der Steppen. Die Bilder, die er dabei ent- 
wirft, sind mit vortrefflicher AnschauHchkeit gezeichnet. 
Ueber den Beitrag von Salz, den die einzelnen Steppen leisten, 
äussert er sich, wie folgt : Die Ural-Wolgasche Steppe führt 
dem Kaspischen Meere nur sehr wenig Salz zu, eine Quan- 
tität, die gegen den jährlichen Verlust des Meeres als ganz 
unbedeutend zu betrachten ist. Der Grund liegt in den 
verschiedenen Schichten, aus denen die Steppe besteht. 
Die eine der sanft geneigten Schichten enthält vorherrschend 
Sand, die andere Lehm. Die Sandschichten in der Steppe 
sind fast vollständig ausgesüsst, die Lehmschichten dagegen 
enthalten noch viel Salz. Das meteorische Wasser senkt sich, 
wo es auf Sandschichten fällt, durch diese herab und da das 
Kaspische Becken das tiefste dieser Gegend ist, muss es die- 
sem zugute kommen. Das Wasser, welches auf die Lehm- 
schichten fällt, wird von ihnen mit grosser Zähigkeit fest- 
gehalten. Daraus geht hervor, dass das Wasser, das in 
der Tiefe fliesst oder sich filtriert, entweder ganz oder fast 
rein von Salz ist. Eben weil es in den mehr sandigen 
Schichten sich senkt und zuletzt rinnt, sind diese ja aus- 
gesüsst. Und aus dem umgekehrten Gründe sind es die 
andern nicht. 

In der Pontisch-Kaspischen Steppe erscheint es Baer 
noch viel augenscheinlicher als in der vorher beschrie- 
benen, dass der Sandboden ausgewaschen ist, der Lehm- 
boden aber nicht und dass beide hier häufiger wechseln und 
schärfer geschieden sind. Ebenso findet er, dass der Boden, 



*) Bulletin physico-math. Tome XV. S. 53—59 u. 65—86. 



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- 63 - 

abgesehen von dem grösseren oder geringeren Sandgehalt, 
umsoweniger Salz enthält, je mehr er Neigung hat. Was 
mm die Frage betrifft, welchen Beitrag an Salz die Pontisch- 
Kaspische Steppe gibt, bemerkt Baer, dass ihm auch hier 
kein salzreicher Fluss bekannt ist, der das Meer erreichte. 
Dass aber doch ein Teil derselben in die Tiefe dem Meer 
zufliesst, dafür scheint ihm das schlechte Brunnenwasser zu 
sprechen, das er in der Nähe des Meeresufers antraf. . Er 
kommt darum zu dem Schlüsse, dass die Pontisch-Kas- 
pische Steppe, obgleich sie viel mehr salzlosen Boden hat, 
doch dem Meere mehr Salz zuführt als die Wolga-Uralsche. 

Die Felsensteppe von Mangischlak zeigt poröses Gestein, 
der Fels zeigt Beimischung von Salz. Das meteorische 
.Wasser rinnt von der Oberfläche in die Tiefe. Es verdampft 
nur zum geringeren Teil, zum grösseren rinnt es durch den 
porösen Felsboden und wird dabei salzhaltig. Baer hält 
es nicht für wahrscheinlich, dass eine irgend bedeutende 
Menge Salz von hier aus ins Meer gelangt, wenn auch ver- 
hältnismässig mehr als aus den vorher genannten Steppen. 

Der Salzboden Transkaukasiens endlich ist sehr aus- 
gedehnt. Die Steppe wird in Norden von einer fortlaufenden 
Reihe abschüssiger Lehmberge begrenzt, welche in ihrer 
ganzen Masse salzreich sind. Ein grosser Teil des weit aus- 
gedehnten Bodens ist stark mit Salz angefüllt, und Baer 
kann sich der Ueberzeugung nicht erwehren, dass dieser 
Boden reicher an Salz ist als ein gleicher Umfang der drei 
ersten Steppen. Darum ist er auch gar nicht im Zweifel, 
dass der Transkaukasische Salzboden dem Meere mehr Salz 
zukommen lässt als eine der drei genannten Steppen. Hier 
enthält das Wasser selbst grosser Flüsse sehr merkbaren 
Salzgehalt. 

Die südhche oder Persische Steppe gibt nur süsses 
Wasser. 

Die Wege nun, auf denen der Verlust des Meeres an 
Salz erfolgt, hat Baer schon in der 3. Studie angedeudet. 
Er wiederholt: das Meer verliert Salz durch die Bildung 
von Salzseen. Beispiele dafür sind die schon genannten 
Salzseen bei Tjukkaragan. Manche der Salzlager in der 



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- 64 - 

Kirgisischen Steppe, fügt Baer noch hinzu, mögen sich auf 
Kosten des Kaspischen Meeres gebildet haben. Der Salz- 
gehalt im Meerbusen von Kaidak ist viermal so gross als 
in^ dem grossen Becken. Man ersehe daraus, dass in sol- 
chen Busen des Kaspischen Meeres, welche mit dem grossen 
Becken nur eine enge Verbindung haben, die Satzteile sich 
anhäufen. Die fortschreitende Abscheidung hat die Zunahme 
des Salzgehaltes zur Folge. Das ist auch bei dem Kara-Bugas 
der Fall, den Günther^) ein belehrendes Beispiel natürlicher 
'Salzbereitung durch Verdampfung des Wassers nennt. Er 
hat eine ganz enge Verbindung mit dem grossen Becken 
und liegt überdies in einem heisseren Erdstrich. Da findet 
ies Baer ganz natürlich oder notwendig, dass die Verdun- 
stung in ihm, wie ein „gigantisches Saugwerk" auf das grosse 
Becken wirkt. 

Baer kommt zu dem Resultat, dass das Kaspische 
Meeresbecken jetzt weniger an Salz zu empfangen als abzu- 
geben scheint. Damit findet er eine andere Erscheinung in 
Harmonie stehend, nämlich das Verhältnis der Muscheln der 
Vorwelt zu den jetzigen. Muschelschalen fossiler Formen, 
welche man im Ufer und in der Astrachanschen Steppe fand, 
gehören Gattungen an, die gar nicht mehr im jetzigen Meere 
lebend zu finden sind, sondern in salzreicheren. 

Aus alledem folgert nun Baer: Das alte Kaspische 
Meer war reicher an Salzgehalt als das jetzige, obgleich es 
höchst wahrscheinlich oder fast gewiss eine grössere Aus- 
dehnung gehabt hatte. 
DicMa- Die V. der kaspischen Studien führt uns in das Tal 

nytechscnke. ^gj. Mauytsch. Sic lautet: „Das Manytschtal und der 
Manytschfluss.*^) Die Reise Baers in dieses Gebiet war 
von wissenschaftlichem und praktischem Interesse; erstens 
weil man über das Manytschtal die widersprechendsten Nacji- 
richten hatte und seine nähere Bekanntschaft für die genauere 
Erkenntnis der jetzigen Gestaltung der Steppe zwischen 
dem Schwarzen und dem Kaspischen Meere und der Ver- 
gangenheit beider Meere höchst wichtig war, zweitens wegen 

Günther, Geophysik IL S. 433, 

^) Bulletin physico-math. Tome XV. S. 91 — 112. 



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- 65 - 

der Möglichkeit einer Kanalverbindung zwischen dem Kas- 
pischen- und Asowschen Meere. Der Manytsch war bisher 
noch wenig bekannt. Der westliche Teil allerdings war 
schon aufgenommen, allein der östliche war noch unbekannt, 
kein Naturforscher hatte ihn noch besucht, höchstens No- 
maden im Winter, wegen des vollständigen Mangels an 
Trinkwasser im Sommer. Pallas, der Petersburger Natur- 
forscher und Akademiker, hatte Andeutungen über den öst- 
lichen Lauf, den er selbst nicht gesehen, gegeben. Seine 
Darstellung des Manytschflusses war richtig, des Tales aber 
sehr falsch. Er hatte die Quellen des Manytsch zu weit 
nach Osten verlegt, das war deswegen nicht richtig, weil das 
Tal sich nach Osten senkt. Parrot,Baers Freund, Natur- 
forscher und Reisender aus Dorpat, erhob die ersten Zweifel 
gegen die Richtigkeit der Pallasschen Darstellung nach 
Berichten von Augenzeugen. Er hörte, dass der öst- 
liche Manytsch aus dem Kaiaus seinen Ursprung nehme und 
sein Wasser nach Osten fliessen lasse, das Kaspische Meer 
aber nicht erreiche. Ein Nivellement, welches späterhin die 
Akademie der Wissenschaften anordnete, ergab als Resultat 
ein Tieferstehen des Kaspischen Meeres von zirka 84 engl. 
Fuss = 25,62 m. 

Dies war der Stand der Kenntnisse über den „Manytsch*^ 
als Baer 1856 in dieses Gebiet kam. Die Resultate, die er 
gibt, sind übereinstimmend mit der heutigen Darstellung, 
nämlich: Man muss unterscheiden die Manytsch-Niederung, 
das eigentliche Manytschtal und den Manytschfluss, oder, 
wenn das Wasser sich verloren hat, sein Bett. Für diese 
drei Begriffe gebraucht man im Lande den Ausdruck Manytsch, 
und die Verwechselungen derselben haben die irrigen An- 
gaben veranlasst. 

Die Manytsch-Niederung ist nur in der Mitte scharf 
begrenzt, nach Norden von dem Südrande der Ergeniberge, 
nach Süden von den Vorbergen des Kaukasus. Das Manytsch- 
tal ist ein in dieser Niederung scharf ausgearbeiteter, breiter 
Graben, der sich in zwei Arme teilt, von denen der nördlichere 
nach Osten, der südlichere nach Südosten gerichtet ist. Der 
erstere erreicht das Kaspische Meer nicht mehr, der zweite 

V. Baer als Geograph. 5 



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— 66 — 

südöstliche Häuptarm des Manytschtales nimmt vorzüglich 
das Wasser aus dem ungeteilten Manytschtale von der Mün- 
dung des Kaiaus an, auf. Er ist gegen die Kumaniederung 
gerichtet und enthält einige seeartige Vertiefungen. Das 
mittlere, d. h. ungeteilte Manytschtal, hat eine ansehnliche 
Breite. Das gesamte Tal ist nach zwei Seiten geneigt, sowohl 
nach Westen als nach Osten. Der Scheidepünkt dieser Neigungen 
ist sehr wenig westlich von der Mündung des Kaiaus. Die 
seeförmige Erweiterung, die das Wasser des Kaiaus gebildet 
hat, liegt schon ganz auf dem östlichen Abhänge. Bei Hoch- 
wasser aber fliesst das Wasser von der westlichen Seite 
auch nach der östlichen über. So erklärt sich die Behauptung, 
dass der Kaiaus sich nach beiden Seiten ergiesse. 

Aus dieser Schilderung des Manytschtales* sagt Baer 
weiter, geht schon hervor, wie es mit dem Manytschfhisse 
steht. Ein Fluss, der in der Nähe des Kaspischen Meeres 
entspringe und bis in den Don flösse, existiert nicht. Wohl 
aber fliesst in der westlichen Hälfte des Manytschtales ein 
Fluss, der aus den kleinen vom Südende der Ergeni-Berge 
kommenden Flüsschen Ilan Sucha und Chara Sucha gebildet 
wird, welche das ganze Jahr hindurch einiges Wasser zu 
enthalten pflegen. Ausserdem erhält der Fluss Wasser im 
Frühling aus dem Kara - Chulussum , dem höchsten Teile 
des Tales selbst, und aus der ganzen Breite der Manytsch- 
Niederung vermittelst seitlicher A wrage (von Murchison aus 
dem Russischen adoptierter Ausdruck für durch Frühlings- 
wasser gemachte Einrisse)^) Im weiteren Verlaufe nimmt 
der Fluss noch einige kleine Nebenflüsse auf und mündet, 
bald seeartig erweitert, bald verengt in den Don. In der 
kleineren östlichen Hälfte des Manytschtales fliesst auch 
Wasser, aber nur im Frühling oder Spätherbst. Da 
es selbst im Winter fehlt, so möchte Baer dieses Wasser 
nicht mit dem Namen eines Flusses belegen. Es ist viel- 
mehr die östliche Hälfte des Manytschtales nach ihm ein 
Awrag, dessen Wasser einesteils die Sakpfützen und Salz- 
gründe der Umgegend überschwemmt, andernteils aber in 



^) Erklärung nach Stieda a. a. O. S. 260. 



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-^ 67 - 

die Kuma-Niederung sich ergiesst und zuweilen mit dem 
Kumawasser in offener Strömung das Kaspische Meer erreicht. 

Für das Kanalprojekt nun zur Verbindung des Asow- *j^^°*;;^*|- 
sehen Meeres oder des Don mit dem Kaspischen Meere be- p™^^^^*"^ 
zeichnet Baer die Tatsache als sehr wichtig, dass die Sohle Kas|Uchem 
des Manytschtales ihren höchsten Punkt nicht in der Nähe 
des Kaspischen Meeres hat, sondern fast genau in der Mitte 
zwischen beiden Meeren. Ein Kanal müsste bei der. tiefen 
Lage des Kaspischen Meeres in einer ununterbrochenen 
Senkung fortgehen. Natürlich müsste er in das Manytschtal 
gelegt werden, doch käme dies wohl zu teuer. Leichter 
ausführbar und lohnender erscheint ihm ein Kanal in der 
Kuma-Niederung, der den Stromlauf dieses Flusses bis in das 
Kaspische Meer wieder herstellte. 

Später ergriff Baer noch einmal in der Kanalfrage das 
Wort: „Ein Wort über das Projekt den Manytsch zu kana- 
lisieren und die öffentlichen Streitigkeiten darüber."^) Er 
bekennt sich hier als Gegner des Projektes, da der Erfolg 
nur gering und die Schwierigkeiten sehr gross wären. 

Im Sommer des gleichen Jahres, das Baer in das ^jf^^^^*^^^" 
Manytschtal führte, machte er eine Rundreise um das Kas- ^Me'Sres*'' 
pische Meer. Das Resultat derselben ist die VI. der Kas- 
pischen Studien. „Besuch der Ostküste. Der Chiwasche 
Meerbusen und Kolotkins Atlas des Kaspischen Meeres. 
Tschelekün oder die Naphtha-Insel. Neft-degil und Fauna der 
Insel. Beabsichtigter Leuchtturm auf der Insel Swätoi mit 
Benutzung der Gase aus der Tiefe. Inseln der „zwei Brü- 
der". Temperatur des Kaspischen Seewassers in der Tiefe 
von 300 Faden. Temperatur des Wassers an der Ober- 
fläche."2) Baers Besuch galt vor allem der ihm noch unbe- 
kannten Ostküste, insbesondere der Chiwaschen Bucht. Diese 
hatte Kolotkin in seinem Atlas des Kaspischen Meeres an 
die Ostküste als einen tief nach Osten in das Land hinein- 
gehenden, im allgemeinen ausgezackten Busen gezeichnet. 
Dies gibt Baer Anlass überhaupt in Kürze die Geschichte 



*) Petermanns Geogr. Mitteil. 1862 S. 446—451. 
*j Bulletin physico-math. Tome XV Nr. 12 u. 13 S. 177—203. 

5* 



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~ 68 — 

der kartographischen Darstellung des Kaspischen Meeres zu 
berühren. Nach ihm ist die Verden 'sehe Karte die erste im 
allgemeinen richtige Karte des Kaspischen Meeres, alle 
froheren seien unverbesserlich falsch, die von Olearius^) 
nicht ausgenommen. Soimonow verbesserte 1731 den grössten 
Fehler der Verden 'sehen Karte, die den nordöstlichen 
Winkel an den Mündungen des Ural- und Embaflusses viel zu 
weit nach Norden gerückt hatte. Nach ihm hatKolotkin 
zuerst das Kaspische Meer in seiner wahren Form dargestellt, 
nur die Chiwasche Bucht zeichnete er zu tief hinein in ein 
flaches Sandufer als einen Busen mit scharfen Auszackungen, 
wie sie nur ein Felsboden geben kann. K a r e 1 i n 1836 zeichnete 
sie dann als eine flach abgerundete Einbuchtung. Baer 
fand diesen Busen als einen Einsprung des flachen Sandufers. 
Er hält es nicht für unwahrscheinlich, dass im Verlauf eines 
Jahrhunderts durch Abschneidung von Meerwasser dort Salz- 
seen entstehen, wo man damals das Ende der Bucht hinsetzte. 

Auf der gleichen Fahrt besuchten sie auch die Naphtha- 
insel TschelekOn. Ein Produkt aus der Naphtha, Neft-degil, 
welches man ihnen zeigte, erklärte Baer identisch mit dem 
Kir Bakus, einem künstlichen Gemisch von dicker Naphtha 
mit erdigen Teilen. Beide schienen Baer vorweltliche Naphtha- 
ansammlungen zu sein. 

Am meisten aber interessierte es Baer auf dieser Fahrt, 
dass zuerst ein ernsterer Versuch gemacht wxu-de, den Boden 
des tiefen Beckens zu erreichen und aus der Tiefe Wasser 
zu schöpfen. Zwar erreichte man den Boden im tieferen 
Teile nicht, doch bestätigten die gefundenen Zahlen die Schei- 
dung des allgemeinen Beckens in zwei gesonderte, wie sie 
Baer schon in der I. Studie schildert. Wasser, welches aus 
der Tiefe von 275 Faden = 517 m heraufgeholt wurde, 
zeigte eine Temperatur von 15® R. = 18,75® C^^^- ^^^ 
Temperatur des Wassers an der Oberfläche des Meeres wurde 



^) Adam Olearius unternahm mit dem Dichter und Arzt 
F 1 e m i n g im Auftrage des Hersogs Friedrich III. von Holstein-Gottorp 
eine Gesandtschaftsreise nach Persien und gab nach seiner Rückkehr 
t839 eine Beschreibung heraus: „Beschreibung der moskowitischen und 
persischen Reise," Schleswig 1647. 



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- 69 - 

21 V2® R.= 26,9® Cels. gefunden. Baer schätzte die Tiefe an 
der Beobachtungsstelle 37%' n. Br. u. 51^15' ö. L.) mit mehr 
als 1800 Fuss = 549 m noch zu gering ein. 

Was den Salzgehalt betrifft, so fand er ein Ver- 
hältnis des Salzgehaltes der Oberfläche zu dem der Tiefe 
wie II : 11,75. Daraus ersah er, dass von unten eine fort- 
gehende Aufnahme an Salz nicht stattfindet, während von 
oben sicher süsses Wasser zufliesst. 

Die VII. der kaspischen Studien ist historisch - geo- ali* aJJSIIs. 
graphische! Natur. „Der alte Lauf des armenischen Araxes".^) 
Baer stellt die Frage: „Wie ist der Widerspruch alter und 
neuer Nachrichten über den unteren Lauf des Araxes zu 
lösen?" Strabo^) lässt nämlich den Araxes gesondert 
vom Kur in das Kaspische Meer sich ergiessen, heute strömt 
der Araxes in die Kura. Baer erscheint es nun aus histo- 
rischen und naturhistorischen Gründen wissenswert, ob 
Strabos Angaben den Tatsachen entsprechen oder nicht. 
Dass Strabo nicht die wahre Ausmündung, wie sie damals 
bestand, erfahren haben sollte, erscheint Baer bei dem langen 
Verkehr dieses Forschers in Armenien, bei den vielen Hilfs- 
mitteln, die ihm zu Gebote standen und bei seiner Zuver- 
lässigkeit fast unmöglich. Strabo erzählt nun in seiner Be- 
schreibung Albaniens Lib. XI. Kap. 4 von den Flüssen Kyros 
und Araxes, dass der erstere viel Schlamm im Meere absetze 
und die Küste „dünenvoU" mache und der letztere, so wild 
er auch herabströme, ihn nicht forttreiben könne. Baer be- 
anstandet da an der Uebersetzung das Wort „Schlamm"; 
es sei Sediment gemeint. Ebenso erklärt er sich nicht ein- 
verstanden mit der Uebersetzung von „Mveg"' mit Dünen. 
Er möchte es erklären durch „Untiefen" oder „Bänke". Tut 
man dies, sagt er, lässt man also das Meer vor den Mün- 
dungen des Kur voll Untiefen sein, so ist die Beschreibung, 
welche der griechische Geograph vor fast 2000 Jahren gab, 



^) Bulletin de la classe historico-philologique. Tome XIV, S. 
305—348- 1857. 

*) Baer beruft sich hier auf Strabo, Beschrb. Albaniens Lib. XI 
Kap. 4 S. 52 nach Groskurds Uebersetzung. Berlin 1831—35. 



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— ^o — 

noch vollkommen dem jetzigen Zustande entsprechend. Baer 
glaubt nun die Lösung des Rätsels gefunden zu haben, in- 
dem er ein früheres Flussbett nachweist, welches ehemals dem 
alten Araxes angehört zu haben scheint. Er sei keineswegs 
mit dieser Frage beschäftigt gewesen, erzählt er, als ihm auf 
dem Wege von Lenkoran nach Saljan (1855) ein sehr an- 
sehnliches, trockenes Flussbett aufgefallen sei, das in einem 
grossen Bogen durch die trockenen Steppen gezogen sei. 
Auf seine Erkundigung habe er erfahren, dass der „Kanal", 
den er gesehen, ganz für sich ins Meer auslaufe und auf der 
andern Seite mit einem See kommuniziere. In diesem See 
sieht Baer den Intscha-See. Weiterhin erkannte er nun 
aus der Karte des Generalstabes, dass vom rechten Ufer des 
Araxes ein stark gewundener Hauptkanal ausgeht, dessen 
Zweck nicht ersichtlich ist. Er sieht in demselben ein altes 
Flussbett, das aus dem persischen Gebiet in das russische 
übertritt. Die Zeichnung endet im Flussbett des „Bolgary 
Tschai'*, das letzte Ende des Bettes ist genau nach derti 
trockenen Flussbett gerichtet, das Baer getroffen hat. Da- 
zwischen liegt noch der Intscha-See, der dieselbe Richtung 
hat. Es bleibt nur noch ein Zwischenraum von neun Werst 
etwa, in welchem die Karte keine Vertiefung in derselben 
Richtung angibt. Sie war aber wohl da uhd wurde nur 
undeutlich durch das Ausbleiben des Araxes- Wassers. „Da 
hätten wir denn," ruft Baer aus, „den ganzen alten Lauf des 
Araxes, wie ihn Strabo beschreibt, gesondert von den Mün- 
dungen des Kur, aber doch nahe von ihnen in das Meer 
sich ergiessend." 

Den Uebergang des Araxes aus diesem alten Flussbett 
in ein neues möchte nun Baer auch noch durch eine Reihe 
historischer Nachrichten erweisen. Es hat eine Zeit gegeben, 
in welcher der Araxes zwei Ausmündungen hatte, eine in den 
Kur und eine andere unmittelbar in das Meer. Cl. Ptole- 
maeus (Lib. V Kap. 13) sagt es nicht nur bestimmt, sondern 
gibt auch die geographische Länge und Breite an. Strabo 
muss nur von der Ausmündung ins Meer gewusst haben, 
denn er erwähnt der andern nicht. Pomponius Mela, ein 
Menschenalter später, hat dieselbe Meinung. Plinius (Lib. VI 



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— 71 — 

Kap. lo), um zwei Menschenalter später, scheint der erste, 
welcher von einem Ausfluss des Araxes in die Kura be- 
richtet. Gerade die Zeitfolge der verschiedenen Angaben 
über die Mündung des Araxes scheint nun B aer nachzuweisen, 
dass die Veränderung im unteren Laufe dieses Flusses im 
Anfang der christlichen 2^itrechnung eintrat. Für die Frage, 
wie lange nun wohl diese Bifurkation des Araxes bestanden 
haben mag, ist B aer neben Moses v. Chorene^) und dem 
Araber Ista^clhri^), die von zwei Mündungen sprechen, ent- 
scheidend Abulfeda, der seine berühmte Geographie 1321 
beendete. Dieser sagt sehr bestimmt: „Der Araxes giesst 
sich in den Kur, und beide Flüsse bilden von da an nur 
einen, der in das Meer geht.'' 

Am Schlüsse des 13. Jahrhunderts, das ist das Ergebnis, 
zu dem Baer kommt, bestand also wohl keine Gabelung mehr. 

Die letzte der 8 kaspischen Studien*^) ist vor den andern ßaera ^.g«- 
deswegen besonders wichtig, weil sie das allgemeine Gesetz 
über die Gestaltung der Flussbetten enthält, das unter dem 
Nanien „Baersches Gesetz'' wohl bekannt ist. Es war eine 
alte Wahrnehmung, dass die Flüsse Russlands in der Regel 
ein hohes rechtes und ein niedriges linkes Ufer haben. Pal- 
las und andere Reisende hatten sie schon gemacht; Baer 
war sie bekannt. Ueberzeugen konnte er sich von der Tat- 
sache, als er 1853 auf der Wolga von Nischnij -Nowgorod bis 
Kasan fuhr. Ebenso, als er 1854 die Wolga zur Zeit der 
stärksten Strömung sah. Damals- fiel ihm besonders auf, 
wie die Seitenkraft — so will er den Ueberschuss oder Mangel 
an Rotationsgeschwindigkeit nennen — in diesem Fluss auf 
das rechte Ufer wirkte. Er suchte nach einer Erklärung und 
glaubte sie in der Rotation der Erde gefunden zu haben. 
Der Satz, den er darüber aufstellt, lautet wie folgt: 



M Moses V. Chorene, armenischer Geograph um 450. 

^) Istachri, arabischer Geograph aus der ersten Hälfte des X. Jh., 
aus dem Jaqut, Ihn Hauqual und andere Orientalen so viel ge- 
schöpft haben. 

') Bulletin de l'Academie imperiale de St. Petersbourg. Tome II 
1860. S. 1-49; 218-259: 353—382 u. f. 



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— 72 — 

Das fliessende Wasser bringt, wenn es vom Aequator 
gegen die Pole sich bewegt, eine grössere Rotations- 
geschwindigkeit mit, als den hohen Breiten eigentlich zukommt, 
und drängt deshalb gegen die östlichen Ufer. Umgekehrt 
wird das Wasser, welches von den Polen g^en den Aequator 
fliesst, mit geringerer Rotationsgeschwindigkeit ankommen 
und deshalb gegen das westliche Ufer drängen. Auf der 
nördlichen Halbkugel muss also an Flüssen, die mehr oder 
weniger nach dem Meridian fliessen, das rechte Ufer das 
angegriffenere, steilere und höhere, das linke das über- 
schwemmte und deshalb verflachte sein und zwar in dem- 
selben Masse, in welchem sie sich dem Meridian nähern. 
Auf der südlichen Halbkugel muss umgekehrt das linke Ufer 
hoch, das rechte überschwemmt sein. 

Es soll nicht unsere Aufgabe sein, das schon so oft 
besprochene Baersche Gesetz mit allen den Gründen dafür 
und dagegen noch einmal eingehend darzulegen, es kommt 
hier, wo es sich um die Feststellung der Verdienste Baers 
um die geographische Wissenschaft handelt, hauptsächlich 
darauf an, zu betonen, dass er es war, der die Rotation 
der Erde als einen Grund zur Erklärung des tatsächlich be- 
stehenden Unterschiedes der Flussufer beibrachte. „Dass 
ich an die Rotation der Erde dachte," sagt er,*) „habe ich 
vielleicht nur dem Umstände zuzuschreiben, dass mich die 
Drehung der Winde und der Seestürme öfters beschäf- 
tigt hatte." Gleichgültig. Dass er daran dachte, ist sein 
Verdienst ; sein Fehler, dass er die Bedeutung dieses Moments 
überschätzte, dass er ihm Wirkungen zuschrieb, die es 
nimmer zustande bringen konnte, wenn nicht im Bunde mit 
anderen kräftigeren Faktoren. Mit ausserordentlicher Zähig- 
keit hielt Baer an dem einmal als wahr erkannten Satze 
fest, und eifrig bemühte er sich, von allen Seiten bestätigende 
Beispiele für die Richtigkeit seiner Anschauung zu sammeln. 
Zwar verhehlt er sich keineswegs, dass man Einwände gegen 
sein „Gesetz" machen könnte, er übt selbst Kritik, aber er 
geht in seinen Zugeständnissen nie so weit, dass dadurch 

^) Nachträge zu dem Aufsatz: lieber ein allgemeines Gesetz in der 
Gestaltung der Flussbetten. Bullet, de TAcad. 1860. Tome II, S. 373. 



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— 73 — 

seine ganze Stellung zu der Frage erschüttert würde. Mit 
Freuden begrüsst er alle, die sich zu seiner Meinung be- 
kennen, mit Erbitterung bekämpft er bis in seine letzten 
Tage die Gegner. Denn die Ueberzeugung von der Richtig- 
keit seiner Anschauung nahm er mit in das Grab; Ueber 
seinen Tod hinaus, jedoch dauerte der Streit um das 
„Baersche Gesetz'*. Eine umfangreiche . Literatur entstand 
darüber im Laufe der Zeit. ^) Die ganze Streitfrage hat für 
uns heute nur mehr historische Bedeutung. Die Bedeutung 
der Erdrotation für die Morphologie der Flussbetten ist als 
eine geringe erkannt. Sie vermag höchstens, wie Günther 
sagt,^) „im Verlaufe sehf* langer Zeiträume mitzuwirken." 

Wir schliessen hier eine Arbeit Baers über das P»? »°5«*>- 

lichc Was- 

Asowsche Meer an. „Ueber das behauptete Seichterwerden ^^^^^, 
des Asowschen Meeres;" Bericht einer Kommission an die »<*«»* 

' Meeres. 

Akademie der Wissenschaften.^) Es war von dem Gross- 
fürsten Konstantin Nikolajewitsch an die Akademie der 
Wissenschaften sowie an die Geographische Gesellschaft die 
Bitte gerichtet worden, ein Urteil über das behauptete 
Seichterwerden des Asowschen Meeres abzugeben. Die 
Akademie ernannte eine Kommission zur Abstattung eines 
Berichtes,* der auch Baer angehörte. Baer verfasste den 
Bericht. Zunächst stellt er in demselben historische Nach- 
richten über das Asowsche Meer zusammen. Von Herodot 
(Lib. IV Kap. 86), dessen Nachrichten zweifellos irrig sind, 
abgesehen, bezeichnen alle späteren Nachrichten den „Maeoti- 
schen Sumpf als sehr viel kleiner als den Pontus. So 
Polybius (Lib. IV Kap. 40), Strabon (Lib. IV Kap. 49) 
und Ptolemaeus (Lib. V Kap. 13). Aus diesen Nachrich- 
ten zieht Baer den Schluss, dass das Niveau des Asowschen 
Meeres seit 2000 Jahren sich nicht merklich verändert hat. 
Aehnlich verhält es sich mit der Tiefe. Die Alten nannten 
ja schon das Wasserbecken einen Sumpf. Die Tiefe, 
welche Polybius den meisten Teilen des Asowschen Meeres 

*) Eine genaue Uebersicht über dieselbe gibt Günther: „Die 
sichtbaren u. fühlbaren Wirkungen der Erdrotation". Humboldt i. Bd. S.328if. 
*) Günther, Geophysik II p. 915. 
*) Bulletin de TAcademie. 1861 Tome V S. 72—105. 



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— 74 — 

gibt, besteht noch jetzt im grössten Teile desselben. 
Eine gleiche üebereinstimmung zwischen der Wahrnehmung 
des alten Historikers und dem jetzigen Zustand zeigt sich 
auch bei der Beobachtung über den Ueberfluss des Wassers. 
Pölybius bemerkt, der Don und die andern Flüsse brächten 
viel Wasser in dieses Becken, so dass der Spiegel des 
Sees sich heben müsste, wenn das Wasser nicht immer 
durch den Kimmerischen Bosporus abflösse. Noch jetzt, 
sagt Baer, fliesst der Ueberschuss an Wasser, den dieses 
Seebecken erhält, durch die Meerenge von Kertsch ab, noch 
jetzt bleiben die Sedimente, welche der Don und andere 
Flüsse in das Meer führen, grösstenteils in demselben liegen. 
Dennoch ist das Seichterwerden des Meeres im allgemeinen 
nicht bedeutend und nur für gewisse beschränkte Regionen 
sehr merklich. Baer möchte überhaupt, was die Tiefen- 
verhältnisse betrifft, zwei Teile des Asowschen Meeres unter- 
scheiden: das grosse Becken und den nordöstlich gelegenen 
Busen von Taganrog. Die Tiefe des grossen Beckens hat 
nachweisbar nicht abgenommen; man sollte daher, meint 
Baer, auch aufhören, von einem Seichterwerden des Asow- 
schen Meeres überhaupt zu reden. Anders ist es in dem 
- engeren Teil des Asowschen Meeres oder dem Taganrog- 
schen Busen im weiteren Sinn. In dieser Bucht sind die 
Tiefen veränderlich, sie hat etwas von der Natur eines 
Flusses angenommen. Die zunehmende Beengung und Krüm- 
mung des Fahrwassers macht im Verein mit dem Wechsel 
in der Höhe des Wasserstandes die Fahrt auf dem nord- 
östlichen Busen des Asowschen Meeres beschwerlich und 
gefährlich. Im allgemeinen scheint es Baer, dass die Tiefe der 
Bucht seit dem Ende des 17. Jahrhunderts abgenommen hat, aber 
weniger als man gewöhnlich glaubt, um höchstens 1—2 Fuss. 
Die Ursachen der Eigentümlichkeiten des Asowschen 
Meeres nun, seiner Seichtigkeit, der zahlreichen und weit 
vorstehenden Landzungen, der zunehmenden Versandung im 
nordöstlichen Busen und des auffallenden Wechsels im 
Niveau desselben, scheinen Baer einfach aus den Natur- 
verhältnissen hervorzugehen, unter denen es steht. Der 
Boden, in dem das Asowsche Meer eingegrabien ist, besteht 



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— 75 - 

vorherrschend aus lockerem Steppenboden; alle Wasser- 
ansammlungen in der Steppe sind flach. Aus der Umgebung 
werden viele Sinkstoffe eingeführt. Auch der Don setzt eine 
Menge SinkstofFe im Taganrögschen Busen ab. 

Dass trotzdem das Delta des Flusses seit der Zeit der 
Griechen nicht gewachsen zu sein scheint, dafür sieht die 
Kommission den Grund in den heftigen- Ost-Ostnordosf- und 
Nordostwinden, welche an der Mündung des Don herrschen. 
Durch diese Winde entstehen Strömungen, welche die Sand- 
teile nach Westen tragen und das Fahrwasser von Zeit zu 
Zeit reinigen. Die Sandteile bleiben an den nächsten Land- 
zungen liegen. Diese vergrössern sich und dadurch wird 
das Fahrwasser zwischen ihnen immer mehr beengt und ge- 
wunden. Der Täganrogsche Busen nimmt somit, nach dem 
Ausdrucke der Kommission, immer mehr die Natur eines 
Flusses an. Auch hielt die Kommission die Behauptung, 
dass durch den ausgeworfenen Ballast die Taganroger Bucht 
unfahrbar gemacht werde, für einen Irrtum. Die Mündungen 
des Don sind seit Jahrhunderten, wahrscheinlich seit Jahr- 
tausenden, auch von mittelmässigen Schiffen nicht zu erreichen. 

Für eine weitere wissenschaftliche Untersuchung im 
Asowschen Meere äussert Baer noch mancherlei Wünsche. 
Es sollten neue Lotungen zum Vergleich mit den alten an- 
gestellt werden. Dann hält er es auch für nützlich für die 
Schiffahrt und die physikalische Geographie, festzustellen, 
welchen Einfluss der Luftdruck auf das Niveau der Wasser- 
fläche ausübt. Weiterhin bezeichnet er als künftige Auf- 
gaben Untersuchungen über den Salzgehalt und den Fisch- 
reichtum des Meeres und über die Wassermenge, welche die 
kleinen Flüsse jährlich bringen. 

Wir wenden uns nun einer Arbeit Baers zu, die der Ge- 
schichte der Gegoraphie angehört und den Uebergang bilden soll 
zu der letzten Gruppe seiner Schriften, denjenigen, die sich 
mit geographischen Fragen aus dem Altertum beschäftigen. 

Es ist: „Peters des Grossen Verdienste um die Erwei- Peters des 

' ^ , , Grossen 

terung der geographischen Kenntnisse".^) Diese Abhandlung . ^^^^^v^j.. 

*) Beiträge zur Kenntnis des russischen Reiches XVI. Bd. Peters- ^»«"®*^- 
bürg 1872. 



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- 76 - 

B a er s ist, wie Stie da sagt/) ein Dokument für seinen patrio- 
tischen Sinn und sein Gerechtigkeitsgefühl, welches den 
Männern, die durch ihre Bemühungen Erfolge erzielt haben, 
auch die nötige Anerkennung wünscht. Das Werk zerfällt 
in zwei Teile, die getrennt voneinander abgefasst wurden, 
der erste schon 1849, der zweite erst 1872. Die Veranlassung 
dieser Unterbrechung bildete eine Polemik Baers mit dem 
Marineleutnant Sokolow über die Bedeutung Be rings und 
TschirikowSi Als nämlich Baer den ersten Teil seiner 
Arbeit, worin er am Schlüsse Be rings tragischen Tod er- 
zählt und seine Verdienste rühmt, vorgetragen hatte, erschien 
in einer russischen Zeitung ein Artikel Sokolows „Bering 
und Tschirikow". In dem von russischem Chauvinismus 
und Deutschenhass getragenen Artikel beschwert sich der 
Verfasser darüber, dass man immer nur von Deutschen spreche 
(zu denen er auch den Dänen Bering rechnet) und nicht 
von den Russen, dass man namentlich immer Bering preise 
und seinen Gefährten Tschirikow vernachlässige, der doch 
ein viel tüchtigerer Seemann gewesen sei als Bering. 
Gegert diesen Angriff wendete sich nun Baer mit einem Ar- 
tikel, der den gleichen Titel führt: „BeringundTschiri- 
kow".^) In demselben weisst er die unbegründeten An- 
klagen gegen Bering zurück. Doch war ihm infolge dieses 
Streites die Lust zur Fortsetzung seiner Arbeit benommen. 
Erst als sich die Petersburger Akademie zum Feste des 
200. Geburtstages Peters des Grossen rüstete, entschloss er 
sich zur Beendigung seiner Schrift. In derselben rühmt er 
nun mit Wärme die Verdienste des bildungsdurstigen Zaren 
um die Erweiterung der geographischen Kenntnisse. Vor 
allem sucht er nachzuweisen, dass „die grösste geographische 
Entdeckung — nach dem Auffinden von Amerika — welche 
die Weltgeschichte kennt", nämlich die Erkenntnis der Tren- 
nung der Alten Welt von der Neuen, nichts anderes war 
als die Ausführung einer Aufgabe des Kaisers, eine unmittel- 
bare Fortsetzung einer von ihm selbst angeordneten Expe- 



^) S t i e d a a. a. O. S. 274. 

*'*) Petersburger Ztg. 1849- N. 114— 116. 



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— 77 — 

dition.^) Die Frage über den Zusammenhang oder das Ge- 
trenntsein von Asien und Amerika sollte durch eine Expe- 
dition gelöst werden. Zur Führung derselben erschien dem 
Zaren Kpt. Bering der rechte Mann. Peter selbst schrieb 
die Instruktion. Sie bestand nur aus drei Sätzen: 

I. „In Kamtschatka oder an einem anderen Ort ein 
oder zwei SchifFsbote mit Verdecken bauen. 

IL Mit diesen längs der Küste fahren, welche nach Norden 
verläuft und wahrscheinlich, da man ihr Ende nicht kennt, ist 
dieses Land ein Teil von Amerika. 

III. Und deswegen suchen, wo sie mit Amerika zu- 
sammenläuft und bis zu irgend einer Stadt einer europäischen 
Macht gehen und wenn man irgend ein Schiff sieht, von ihm 
erfragen, wie die Küste heisst und es aufschreiben und selbst 
an der Küste landen, wahrhafte Nachrichten einziehen und 
nachdem man sie auf eine Karte gebracht hat, zurückkehren. 

Diese im eigenartigen imperativen Stile geschriebene 
Instruktion hatte Peter fünf Wochen vor seinem Tode ab- 
gefasst und es ist unleugbar, meint Baer, „dass die Expe- 
dition Berings eine Frucht der Saat ist, welche Peter 
mit seiner kleinen Instruktion von 3 Paragraphen gesät hat". 

Den zweiten grossen Erfolg Peters sieht Baer in der 
durch des Zaren Expeditionen gewonnenen Kenntnis von der 
wahren Gestalt des Kaspischen Meeres und der Gewissheit, 
dass die beiden Flüsse der mittelasiatischen Steppe, der Syr- 
und Amu-Darja, sich nicht in dieses Meer ergiessen. 

Infolge des unglücklichen Krieges am Pruth 171 1 war 
das Russische Reich vom Asowschen und Schwarzen Meere 
ausgeschlossen. Das Kaspische sollte nun Ersatz bieten; 
seine Erforschung war notwendig, gleichzeitig sollte nach 
Peters Plan ein Handelsweg über den Amu nach Indien 
eröffnet werden. Peter erhielt durch Bekowitsch, der 
Fahrten an der Ostküste des Kaspischen Meeres gemacht 
hatte, eine richtige Vorstellung von der Gestalt deselben. 
Dies benutzte er, als er 1717 in Paris die Akademie besuchte. 



*) Baer erinnert sich hier nicht an die Fahrt des Kosaken Se- 
men Deschnew, der schon 1648 in das Beringsmeer eindrang und 
als der erste Entdecker der Beringstrasse anzusehen ist. 



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- 78 - 

Delisle der Aeltere legte ihm eine von ihm entworfene 
Karte des Kaspischen Meeres vor, die Peter für falsch er- 
klären und verbessern konnte. Die Akademie ernannte den 
Zaren T718 auch zum Ehrenmitglied. 1721 entstand auf 
Peters Veranlassung die sog. Verden sehe Karte des 
Kaspischen Meeres, Von der schon in der 6. der Kaspischen 
Studien die Rede war. 

Die Versuche, die P e t e r zur Erschliessung eines Handels- 
weges nach Indien anstellen liess, scheiterten. Er dachte an 
die Gründung eines Stapelortes für den orientalischen Handel 
an der Kurmündung. Sein früher Tod verhinderte die Aus- 
führung dieses Planes. 
Diejopo- In den letzten Jahren seines Lebens beschäftigte sich 

^pJ?'^.^^^<^Baer mit der Lösung einiger geographischer Fragen aus der 
Ho"mcra V^^^^it* ^^ deren Besprechung wir nunmehr übergehen 
wollen. Er bezeichnet die darauf bezüglichen Arbeiten als 
„Historische Fragen mit Hilfe der Naturwissenschaften be- 
antwortet". Diese Ueberschrift bezeichnet schon den Gesichts- 
punkt, von dem aus er die Fragen behandeln will, er möchte 
im Gegensatz zu der bisherigen mehr philologischen Be- 
urteilung naturhistorische Momente in den Vordergrund treten 
lassen. Es sind im ganzen drei Aufsätze, die hierher ge- 
hören. Der erste sucht die Lage des biblischen Ophir zu 
bestimmen, der zweite einen alten Handelsweg durch Russ- 
land nachzuweisen, der dritte den Schauplatz der Fahrten 
des Odysseus zu finden, 
^phirf Es sei zunächst von der ersten Frage die Rede. „Wo 

ist das Salomonische Ophir zu finden?"^) Ophir ist das Land, 
in das nach einer Erzählung der Bibel [I. König. Kap. 9 (26/28), 
Kap. i^ (V. 11/12)]; IL Chron. Kap. 8 (V. 17/18) Kap. 9{V.rio)] 
Salomo mit Hilfe des Königs Hir am von Tyrus eine Flotte 
ausgesandt hat, um Gold zu holen, Diese Flotte trachte nach 
drei Jahren nicht weniger als 420 Kikkar (Zentner, Talente) 
Gold zurück. Man hatte nun dieses Land Ophir in allen 
Weltgegenden gesucht, meist nahe bei den Phöniziern oder 
in den östlichen Meeren. Auch das südliche Spanien, 



^) Reden und Aufsätze III. Teil. Petersburg 1873 S. 112—379. 



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— 79 - 

Arabien und die Ostküste Afrikas waren dafür angesehen 
worden. Baer billigt alle diese Erklärungen nicht. In einer 
Anmerkung zu. dem Aufsätze : „Ueber den Einfluss der äusseren 
Natur auf die sozialen Verhältnisse der Völker''^) wendet er 
sich kurz dagegen. Das südliche Spanien oder ein anderes 
Küstenland des Mittelmeeres anzunehmen, erklärt er für un- 
statthaft, da sehr bestimmt gesagt wird, dass die Schiffe, die 
nach Ophir gingen, an der Nordspitze des Roten Meeres 
ausgerüstet wurden. Gegen Arabien wendet er ein, dass 
dort weder Ebenholz noch Pfauen, die doch die Expedition 
zurückbrachte, zu haben sind. Das Nichtvorhandensein der 
Pfauen lässt ihn auch Ostafrika ausschalten. Nach seiner An- 
sicht kann Ophir nur der indischen Welt angehört haben 
und . zwar aus folgenden Gründen. Die Namen der mit- 
gebrachten Gegenstände und diese selbst weisen auf Indien 
hin: Sie sind gar nicht hebräisch und wurden deshalb bei 
der Uebersetzung ins Griechische zuerst gar nicht verstanden. 
Lassen, der berühmte Sanskritforscher, hat nachgewiesen, 
dass sie sich von der Sanskritsprache ableiten lassen. Ferner 
haben die mitgebrachten Gegenstände, wie Em m er an 
Turnert (ein ehemaliger Gouverneur von Ceylon) sagt, 
noch heute auf der Insel eine fast gleichlautende Benennung. 
Weiterhin führt Baer als Grund an, dass das mitgebrachte 
Gold, dessen Quantität ungemein gross ist, von den Israeliten 
nicht durch Handel erworben worden sei, da sie keine ent- 
sprechenden Tauschobjekte besassen, sondern dass sie es 
selbst sammelten, Dazu musste es in reichlichem Masse und 
zwar an der Küste vorhanden sein. Ein solch goldreiches 
Land ist nun Malakka, das gleich nachdem es den späteren 
Völkern des Westens bekannt geworden war, die goldene 
Halbinsel, Aurea Chersonesus, genannt worden ist. Die erste 
Veranlassung für die Phönizier, nach Malakka zu fahren, 
sieht Baer gegeben in dem sehr reichlich und oberflächlich 
liegenden Zinnsande. Hatten die Phönizier in den südlichen 
Ländern Vorderindiens oder in Ceylon erfahren, dass gerade 
nach Osten ein reichlicher Vorrat an Zinn vorhanden war,^ so 



1) Reden und Aufsätze. IL Teil S. 



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— 8o — 

war es für sie eine natürliche Aufgabe, sich in dieses Land 
führen zu lassen, zumal sie Zinn zur Herstellung von Bronze 
brauchten und vor Entdeckung der Cassiterischen Inseln 
einzig und allein von hier beziehen konnten. Dabei werden 
sie leicht erfahren haben, dass die Flüsse in Malakka Gold 
führen. 

Baer kommt also zu dem Schluss, dass die Phönizier 
die Israeliten nach Ceylon brachten, und dass sie, da Ceylon 
selbst kein Gold lieferte, weiter nach Malakka gingen. Diese 
Ansicht findet er noch bestätigt darin, dass in den hebräi- 
schen Nachrichten zwei sehr scharf geschiedene Oertlich- 
keiten vorkommen, Tarsis und Ophir. Beide liegen auf dem- 
selben Wege und da Ophir das Ziel war, so vermutet Baer, 
dass mit dem Namen Tarsis^) Ceylon bezeichnet wurde. 

Diese Erklärung Baer s, der zugestanden werden muss, 
dass sie wohl durchdacht ist, fand in der Folge zustimmende 
und ablehnende Kritik. Heute allerdings ist sie in den 
Hintergrund getreten. Die am meisten anerkannte Erklärung 
ist jetzt diejenige Lassens,^) der Ophir im Nord- Westen Ost- 
indiens sucht und den Namen von dem Kirtenvolk Abhira 
ableitet.^) Nichtsdestoweniger bleibt Baers Verdienst be- 
stehen, dass er, wie gesagt, die Frage von der naturhistori- 
schen Seite beleuchtet hat und als Grundlage seiner Er- 
klärung nicht wie die meisten die philologische, sondern 
' die realistische Seite genommen hat. „Irgend eine Entdeckung, 
gleichviel von welcher Seite sie käme^', sagt er selbst in der 
Nachrede zu seinem Ophiraufsatze, „könnte noch ein anderes 
Ophir nachweisen, allein die leitenden Ideen, denen ich ge- 
folgt bin, werden doch wohl ihre Geltung behalten.'* 
odysscus Die wichtigste der historisch-geographischen Fragen, 

Schwarzen wclchc Bacr ZU bcautwortcn sucht, ist diejenige nach dem 

Meere? - "^ ^ 

*) Tarsis (Tartessus) ist aber ganz sicher in Spanien zu suchen. 

^) Lassen: Indische Altertumskunde Berlin 1843 i. S. 538. 

') Auch der bekannte Afrikareisende Karl Peters hat eine 
Hypothese über Ophir aufgestellt. (Peters: Das Goldene Ophir Salo- 
mos, Mtknchen 1895.) Er sieht den alten Namen Ophir in latinisierter 
Form bis auf heute in unserem Wort Afrika erhalten und sucht das 
Land selbst in dem uralten sabäisch-phönikischeh Goldlande hinter Sofala. 



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-- 8i - 

Schauplatze der Fahrten des Odysseus Eine Reihe von 
Abhandlungen sind ihr gewidmet. Der Kern von Baers 
Darlegungen ist der Versuch — entgegen der bisherigen 
Anschauung — , die Fahrten des Odysseus nach dem Schwarten 
Meer zu verlegen. In einem Begleitworte zur Orientierung 
der Leser sagt er selbst : „Der Besuch des Schwarzen Meeres 
an sehr verschiedenen Punkten hat mir die Ueberzeugung 
gegeben, dass die Auffassung von den Reisen des Odysseus, 
wie sie bei den Philologen und Historikern herrschend ist, 
eine sehr erzwungene und dem einfachen Text des Homer 
nicht entsprechende ist." ^) Zunächst kritisiert Baer die 
Karten, welche die Irrfahrten des Odysseus mit aller Ge- 
nauigkeit darstellen sollen, die von Voss und v. Spruner 
(Atlas antiquus 1865). Er wendet sich dagegen, dass die 
Karten die Einfahrt in die Unterwelt nach der Strasse von 
Gibraltar verlegen* Bei dem Volke der Kimmerier erreicht 
Odysseus den Eingang in die Unterwelt, sagt er, wer gibt 
uns das Recht, die Kimmerier an der Strasse von Gibraltar 
zu suchen? Kein Schriftsteller des Altertums kennt Kim- 
merier in dieser Gegend. Von der vielfach verbreiteten 
Meinung, der auch Mannert (Geographie der Griechen und 
Römer) huldigt, dass Homer das Schwarze Meer gar nicht 
kannte, will Baer nur die Behauptung unbedenklich annehmen, 
dass das Schwarze Meer nicht als geschlossenes Becken vor- 
kommt. Ja, es erscheint ihm unzweifelhaft, dass der Sänger 
der Odyssee dieses Meer über Thracien hinaus in Verbindung 
mit dem Mittelländischen sich dachte; Griechenland mit Mace- 
donien und Thracien also als eine Insel, Wie die Argonauten, 
so meint er, auf dem Heimweg nicht durch den Bosporus 
fuhren, so konnte man auch nach der Vorstellung der Odyssee 
in das Schwarze Meer kommen, ohne die- bekannten Meer- 
engen zu passieren. 

Baer stützt sich mit seiner Ueberzeugung, dass die 
Honierischen Schilderungen in der Odyssee auf Lokalitäten 
des Schwarzen Meeres anzuwenden sind, auf Dubois de 



Wo ist der Schauplatz der Fahrten des Odysseus zu finden? 
Reden und Aufsätze IIL Teil 1873 S. 13—62. 

V. Baer als Geograph. 6 



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— 82 - 

Montpereux (Voyage autour du Caucase et en Crimee, Paris 
1 847), der diesen Nachweis überzeugend schon vor 26 Jahren 
geführt hätte. Baer hat die von D'ubois erwähnten Ort- 
schaften besucht und schlagende Wahrheiten in seinen An- 
sichten gefunden. 

So findet er, dass die Schilderung, welche Homer 
von der Bucht der Lästrygonen gibt, so genau auf die Bucht 
von Balaklava an der Südküste der Krim passe, dass sie 
wohl nur nach derselben entworfen und die Uebereinstim- 
mung unmöglich eine zufällige sein könne. Die Schilderung 
der Unterwelt weiterhin hält Baer für der Meerenge von 
Kertsch entnommen, da auf beiden Seiten dieser Strasse, 
dem ehemaligen Bosporus Cimmericus, dem historisch be- 
glaubigten früheren Wohnsitz der Kimmerier, zahlreiche 
Schlammvulkane mit mehr oder weniger Naphthaerguss vor- 
kommen, deren Schlünde sehr natürlich die Vorstellung er- 
regen konnten, dass durch sie die Geister aus der Unterwelt 
aufzusteigen vermögen. Für wichtig und entscheidend be- 
tfachtet Baer ferner einige kleine Angaben in der Schilde- 
rung der Gegend, in der Odysseus nach Durchschiffung des 
Okeanos landen soll. Es soll dort geschehen, wo das Gestade 
flach ist und die traurigen Haine der Persephone aus langen 
Pappeln und Weiden bestehend sich finden. Nun ist die 
Südküste des Asowschen Meeres nahe an der genannten 
Meerenge sehr flach, femer fand Baer an diesem Arm bei 
Atschujew einen dunklen Pappelhain mit hoher Laubdecke, 
der trefflich zu den dunklen Hainen der Proserpina passte. 
Die Wohnung der Kirke verlegt Baer ebenfalls in das 
Schwarze Meer. Schon die Tatsache allein, sagt er, dass 
die Insel der Wohnsitz der Morgenröte genannt wird, hätte 
davon abhalten 'sollen, sie im fernen Westen zu suchen. 
Die alles zerschlagenden Irrfelsen sieht Baer in der Strasse 
von Konstantinopel. Sie besitzt eine starke Strömung und 
hat zudem eine Länge von 5 Meilen, während die von Messina 
kaum eine habe. (!) Es war also hier wohl mehr Stoff für die 
Sage von der in der Felshöhle drohenden Skylla und der 
einschlürfenden Charybdis als in der sich schnell erweitern- 
den Strasse von Messina. J obst, der die Skylla und Charyb- 



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- 83 - 

dis ebenfalls in die Strasse von Messina verlegt, bezeichnet 
B a e r s Meinung als eine gegenwärtig unverständliche.^) Folge- 
richtigerweise sieht dann Baer weiterhin in der Insel Ijnbros 
g.n der. Ausmündung der Dardanellen die Insel der heiligen 
Rinder des Phöbus Apollo (Thrinakia = dreispitzige). Ihre 
Gestalt mit den drei entschiedenen Spitzen konnte von jedem 
Schiff erkannt werden, die Gesamtgestalt Siziliens konnten 
die Griechen der Homerischen Zeit nicht überblicken. 

Doch will Baer keineswegs alle Fahrten des Odysseus 
auf das Schwarze Meer beschränken. Den Schauplatz des 
Anfangs der Fahrten sieht er auch nur im östlichen Mittelmeer. 
Die Lotophagen wohnen in Afrika, Wo früher und später 
Lotösesser bekannt waren. Für ihn ist die Hauptsache, dass 
Bilder aus dem Schwarzen Meere unverkennbar in der Qdys- 
see (X., XL, XIl. Gesang) vorkommen, dass also diese Gegen- 
den seinerzeit besucht und bekannt waren, mögen Homer' 
nun diese Bilder durch Griechen oder Phönizier zuge- 
kommen sein. 

Diese Ansichten B a e r s erfuhren im Lit. Zentralblatt Literarische 
18742) von einem Herrn Kr. (nach Stieda S. 191 Kammerrungen aber 
aus Königsberg) — und zwar mit Recht — eine ungünstige uyp^se. 
Besprechung. Es wird ihn vorgeworfen, dass seine Aufsätze 
„an umständlicher Breite und oft sehr lästigen Wiederholungen^' 
litten, und dass ihm seine „leicht bewegliche Phantasie oft 
zu den gewagtesten und unhaltbarsten Kombinationen'' führe. 
Dies veranlasste Baer zu einer nochmaligen Bearbeitung der 
ganzen Frage. '^j Er wendet sich mit Bitterkeit und Spott 
gegen seinen Angreifer, in dem er in erster Linie den wenig 
geschätzten Philologen sieht^ .,der wahrscheinlich beleidigt 
sei durch die Zumutung, seine bisherige Ueberzeugung zu 
ändern." Nicht für Graekologen habe er geschrieben, sondern 
nur für Leser von allgemeiner Bildung, und wenn er die 
Fragen jetzt nochmals bespreche, so gebe er die Versicherung, 

^) J o b st , Skylla und Charybdis, Würzburger Dissertation. 
') Leipzig 1874 Nr. 9. 

*) lieber die Homerischen Lokalitäten in der Odyssee. Nach dem 
Tode des Verfassers herausgegeben von L. Stieda. Braunschweig 1877. 

6* 



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- 84 - 

dass er die Philologen und namentlich die Graekologen weder 
zu belehren, noch zu erzürnen wünsche. Er habe selbst 
nie geglaubt, dass seine Darstellung schnell als die richtige 
anerkannt werden würde, aber er denke, dass sich sein 
Rezensent wohl hätte sagen müssen, dass er sich auf Autopsie 
berufe, welche Voss, Mannert und Ukert, den Begrün-' 
dem der herrschenden Ansicht, abginge, 
^teiärg^^g* Baer erneuert in seiner letzten Arbeit die Entwicklung 

"lachten"* seiner Ansicht. Bestärkt fühlte er sich in derselben, weil er 
unerwartet ein Werk zu Gesicht bekommen hatte, in welchem 
zum Teil seine Ansichten über die Lokalitäten der Odyssee 
bereits 1858 entwickelt worden waren. Es war ein drei- 
bändiges Werk von dem berühmten englischen Minister 
W. E. Gladstone: Studies on Homer and the Homerie 
age, in dem der Verfasser die zweite Hälfte der Abenteuer 
des Odysseus ebenfalls ins Schwarze Meer verlegt. 

Wenn nun auch die heutige geographische Wissenschaft 
die eben dargelegten Erklärungen des Schauplatzes der 
Odysseischen Fahrten, wie sie Baer gibt, nicht teilt, so muss 
doch anerkannt werden, dass diese in ihrer Schärfe und 
Logik etwas Bestechendes haben, und dass der Eifer, ja die 
Leidenschaft, mit denen sie Baer verficht, den vorurteilslosen 
Leser für ihn gefangen nehmen, so bedenklich sie auch dem 
nüchternen Kritiker erscheinen müssen. 

Unterstützt sieht Baer seine Ansicht, dass Homer die 
Nordküste des Schwarzen Meeres bis ins Asowsche Meer 
hinein und einen Teil der Ostküste sehr gut kannte, noch 
dadurch, dass zur ZeitHerodots eine griechische Handels- 
niederlassung tief im Inneren des Waldlandes vom jetzigen 
Mittelrussland bestand, welche nach Angabe dieses Autors 
ursprünglich von Griechen gestiftet war, aber zu seiner Zeit ' 
schon von einem Gemisch von Griechen und Skythen, den 
Kallipoden, bewohnt wurde. Da dieser grossen Niederlassung 
notwendig lange eine Handelsbewegung der Griechen voraus- 
gegangen sein musste, so schliesst Baer, dass schon zur Zeit 
Homers oder sehr bald nach ihm die Griechen bis in diese 
Gegend vorgedrungen waren. Ihrem „Handelsweg, der im 
5. Jahrh. v. Chr. durch einen grossen Teil des jezt russischen 



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wegc in 
lanerasien. 



- 85 - 

Gebietes ging/' widmet er eine Abhandlung. ^) Der Weg, 
den Herodot von den Skythen bis zu den Agrippäern be- 
schreibt, war von Historikern und Philologen oft und viel 
besprochen worden. Baer weicht auch hier von den Resul- 
taten derselben ab und versucht eine Deutung mit beson- 
derer Berücksichtigung der in dem Berichte vorkommenden 
naturhistorischen Winke. Der Weg führte nach Herodots 
Schilderung von den Küsten des Pontischen Meeres durch 
das Land der Sauromaten (nach Baer die Sarmaten späterer 
Zeit). Dann ging er 15 Tage durch eine waldlose Steppe 
nach Norden und erreichte schliesslich das Land der Budiner, 
In dem Lande dieses nach Herodot zahlreichen und mäch- 
tigen Volkes befand sich die griechische Stadt Gelonos, deren 
Bewohner ein Gemisch von Griechisch und Skytisch redeten. 
Diese Nachricht greift nun Baer als eine sehr wichtige auf, 
da sie ihm beweist, dass schon längere Zeit vor Herodot 
die griechischen Handelsstädte im Lande der Skythen das 
Bedürfnis fühlten, hier im Waldlande Filialen zu errichten. 
In dem Lande befand sich nach Herodot auch ein grosser 
See, dessen Spuren Baer in einem fast unüberwindlichen Morast 
bei Nischnij-Nowgorod erkannt zu haben glaubt. Die hölzerne 
Stadt Gelonos sucht er in der Nähe davon und sieht sie für 
eine Faktorei des Pelzhandels an. Besonders kühn ist nun 
weiter die Deutung, die Baer von dem letzten Ziele des 
Weges, den Agrippäern am Fusse unübersteiglicher Ber^e, 
gibt. Da sie nach Herodot für heilig gehalten wurden, 
kahlköpfig und flachnasig waren, so möchte sie Baer für 
Priester eines mongolischen Volkes halten, die als ein von 
den Ostländern vorgeschobener Posten die aus Westen an- 
kommenden Waren zu empfangen und weiter zu befördern 
hatten. Die Frucht, welche die Agrippäer zu ihrer Nahrung 
gebrauchten, verwendet Baer dazu, deren Wohnsitz näher 
zu bestimmen. Heeren (Ideen über die Politik, den Ver- 
kehr und den Handel der vornehmsten Völker der alten 
Welt) erklärt sie für die Vogelkirsche (Prunus Padus); Baer 
hält sie für den Oleaster (Elaeagnus hortensis). Da sie sich 



^) Reden und Aufsätze III. Teil., Petersburg 1873 S. 62—112. 



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- 86 - 

in guter Qualität erst am Syr Darja findet, so schreckt Baer 
nicht davor zurück, bis dorthin den skytischen Karawanenzug 
zu führen. Das unübersteigliche Gebirge, an dessen Fuss 
die Agrippäer wohnen, hält er nicht für den Ural, da der- 
selbe Einsenkungen hat und das Land westlich von ihm Ur- 
wald ist, der nicht von einem Volke zum Aufenthalt gewählt 
worden sein konnte. Darum geht er bis zum Belur. ^) Eine 
besondere Ansicht hat Baer auch von dem Volke der lyrken, 
das Herodot als Nachbarvolk der Thyssageten nennt. Er 
berichtet von demselben, dass es bei der Jagd auf Bäume 
steige, von dort das Wild anschiesse und dann zu Pferd 
verfolge. Diese Jagdprozedur lässt sich nach Baer nur ^üf 
vereinzelte Baumgruppen in der Steppe anwenden. Darum 
versetzt er die lyrken in die Steppe, ihr Name weist ihn ' 
auf die wichtigste Stadt im chinesischen Turkestan Jarkend, 
Jarken, Irken; sie selbst erklärt er für ein türkisches Volk. 
Noch mehr wohl als von den vorausgegangenen histo- 
risch-geographischen Arbeiten Baers gilt von der letzten das 
Urteil, es seien die Schlüsse, die er aus gegebenen Anhalts- 
punkten zieht, zu weitgehend und seine Spekulationen zu 
gewagt. 
Rückblick. Wir sind zu Ende. Uebersehen wir noch einmal Baers 

Tätigkeit auf dem Gebiete der Geographie, so müssen wir 
sagen, sie war eine ungemein reiche, fruchtbare, auf alle 
Zweige dieser Wissenschaft sich erstreckende. Nicht immer 
zwar war sie von dauerndem Erfolg gekrönt. Wie der letzte 
Abschnitt zeigte, haben seine Kombinationen über das Land 
Ophir, über den Schauplatz der Odysseischen Fahrten oder 
gar den Handelsweg nach dem Skythenland die Anerkennung 
der Nachwelt nicht gefunden. Auch die Bedeutung des von 
ihm so hochgehaltenen „Baerschen Gesetzes" ist heute auf 
ein Minimum beschränkt. Trotzdem aber hat er sich durch 
seine ernsten Bemühungen um die Erforschung der Wahr- 
heit wissenschaftliche Lorbeeren errungen, und seine immer 
geistvollen Ansichten haben überaus anregend und befruch- 
tend auf dem Gebiete der geographischen Literatur gewirkt; 



Offenbar Bolor Dagh-Pamir. 



I 



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- 87 - 

Doch auch direkte Verdienste um die geographische 
Wissenschaft hat er sich erworben. Er war es, der als 
erster Naturforscher die nordische Doppelinsel Nowaja Semlja 
betrat und mit seinen Abhandlungen über sie den Grundton 
zu ihrem physischen Gemälde gab. Er war es, der die eisigen 
Fluten der nordischen Meere und ihre reizlosen Ufer, wie 
die glühenden Steppen der kaspischen Senke forschend durch- 
reiste und von beiden gleich lebensvolle, treffliche Schilde- 
rungen entwarf. Seine Beschreibung des Kaspischen Meeres 
ist die beste bis auf den heutigen Tag geblieben. Die Ge- 
setze, die er aus dem Gang der Temperatur abzuleiten wusste, 
haben spätere Beobachtungen als richtig , bestätigt. Auch 
was er für die Belebung der geographischen Forschung durch 
Entwerfen von Reiseplänen und durch selbstlose Unter- 
stützung von Reisenden getan; was er femer für die Hebung 
des geistigen Lebens Russlands durch Mitbegründung der 
Geo- und Ethnographischen Gesellschaft und ihrer Journale 
geleistet hat, müssen wir ihm als solches Verdienst anrechnen. 

Aus alledem kommen wir zum Schlüsse zu 
der Erkenntnis, dass Karl Ernst v. Baer, dem im 
Kreise der Naturforscher so hervorragende n Ge- 
lehrten, auch unter den Geographen ein Ehren- 
platz gebührt. 



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Literaturverzeichnis. 



Haake, Wilhelm: Karl Ernst v. Baer. 111. Bd. Leipzig 1905. Der 
„Klassiker der Naturwissenschaften" herausgegeben von Lothar 
Brieger-Wasservogel. 

S t i e d a , Ludwig : Karl Ernst v. Baer. Eine biogr. Skizze. Zweite 
Ausgabe. Braunschweig 1866. 

Nachrichten über Leben und Schriften des Herrn Geheimrats 
Dr. K. E. V. Baer, mitgeteilt von v ihm selbst. Veröffentlicht bei 
Gelegenheit seines 50 jährigen Doktor- Jubiläums am 29. August 1869, 
von der Ritterschaft Esthlands. St. Petersburg. 

S t ö 1 z 1 e , Karl : K. E. v. Baer und seine Weltanschauung. Regens- 
burg 1897. 

S p ö r e r : Nowaja Semlja in geographischer, naturhistorischer und 
volkswirtschaftlicher Beziehung. Ergänzungsheft 21 zu Peter* 
manns Geogr. Mitteil. 1867. 

Toppen: Die Doppelinsel Nowaja Semlja. Leipzig 1878. 

H i e k i s c h : Das System des Urals. Dorpat 1882. 

S. Günther: Geschichte der Erdkunde. Wien-Leipzig 1904. (I. Teil 
der geographischen Enzyklopädit von M. Klar.) 

S. Günther: Handbuch der Geophysik, Stuttgart 1897— 1899. 

K. E. V. B^e'rs veri^ofife^^m^ geographische Schriften. 



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Namen-Index.*^ 



Abildgaard 36, 37. 
Abulfeda 71. 
Agassiz 35. 
Anderson 33. 
Arago 33, 34. 

Baer (Karl jun.) 37. 
Barendsz 13. 
Bekowitsch 77. 
Bering 76, 77. 
Berzelius 42. 
V. Brandt 46. 

Brieger- Wasser vogel i, 87. 
V. Buch 35, 43. 

Crantz 33, 34. 

Dahl 32. 

Darwin i. 

Delisle 78. 

Deschnew 77. 

Dubois de Montpereux 82. 

Egede 33. 
Eichwald 60. 
Erman 43. 44, 45, 49. 

Fleming 68. 

Friedrich (III., Herzog) 68. 

Fritz 45. 

Georgi 51. 
Gladstone 84. 
Gmelin 43. 
Goebel 52, 57, 60. 
Gortschakow (Fürst) 45. 



Grosskurd 69. 

Günther 6, 35, 37, 43, 45. 47, 64, 
73, 87- 

i Haake i, 3, 87. 
i Heeren 85. 

V. Hellwald 52. 
j V. Helmersen 2, 3, 4, 45. 
I Herodotus 73, 84, 85. 
r Hiekisch 24, 87. 

Hiram (König) 78. 

Homer US 81, 82, 83. 84. 

Hommaire de Hell 60. 

Jacobi 33. 
Jaqut 71. 
Ibn Hauqual 71. 
Jobst 82, 83. 
Johannsen 27. 
Johnston 42. 
Istachri 71. 

Kaemtz 31. 

Kammer 83. 

Karelin 68. 

Keyserlingk (Graf) 38, 39, 40. 

Klar 87. 

Kolotkin 67, 68. 

Konstantin (Grossftirst) 73. 

V. Krusenstern 3. 

Lassen 79, 80. 
Lehmann 12, 20, 22, 23. 
Lenz 46. 
Liebig i. 



•) K. E. V. Baer ist aus naheliegender Ursache weggelassen. 



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Loschkin 53. 

Ludlow 23. 

V. Lütke 3, 5. 12, 37. 

Mannert 81, 84. 

Mayer 11. 

V. Middendorft' 45, 46, 47, 4Ö, 

5o> 51- 
Moissejew 27. 
Moses von Chorene 71. 
Murchison 66. 

Nordenskiöld 52, 53, 54 

Olafsen 33, 34 
Olearius 68. 

Pachtussow 12, 13. 14. 25. 

Pallas 65. 

Parrot 65 

Peter der Grosse 13, 14, 75. 

77, 78. 
Petermanii 52, 66, 87. 
Peters 80. 
Petterson 40. 
Plinius 70. 
Polybius 73, 74 
Pomponius Mela 70. 
Pospelow 23. 
Povelsen 33, 34. 
Ptolemaeus 70, 73. 

Reinecke 34, 42. 
Ritter 3, 4, 6, 7, 8. 
Rose 57. 
Ross 17, 18. 



49i 



76. 



Salomo (König) 78. 

Schergin 43, 49» 5^ 

Schrenck i, 22, 23, 50. 

Schwenk 38. 

Sherebzow 55, 61. 

Sieger 43. 

Soimonow 68. 

Sokolow 76. 

Spafariew 40. 

Spoerer 19, 21, 24, 87. 

V. Spruner 81. 

V. Stael 39. 

Stieda i, 2, 3, 9, 54» ^6, 76, 83, 87. 

Stoelzle 2, 87. 

Strabo 69, 70, 73. 

Stuckenberg 60. 

Thorstensen 33. 
Tilas 36, 37- 
Toeppen 24, 87 
Tschichatschew 32. 
Tschirikow 76. 
Turnert 79. 

Ukert 84. 

Verden 68, 78. 
Voss 81, 84. 

Willoughby 13. 

V. Wrangeil 3, 5, 30, 31, 34 

Zivolka 3, II, 12, 13, 14, 20, 27, 
Mf 35- 



-)9e- 



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