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Full text of "Kirche und kirchen, papstthum und kirchenstaat"

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_ — — — — — — — — — — — — — 





— — — — — —— -— DT HTW m — - - - : 


Kirche und Kirchen, 
Papſtthum und Kirhenftant, 


—— — — 


Hiſtoriſch⸗politiſche Betrachtungen 
von 


Joh. Joſ. Ign. v. Döllinger. 


70 Li 4 


Münden 1861. 
Literarifhsartiftifhe Anftalt 
ber I. ©. Cotta'ſchen Buchhandlung. 








Sorrede 


—— — — 


Dieſes Buch iſt veranlaßt durch zwei Vorträge unter 
vieren, welche im April dieſes Jahres gehalten wurden. 
Wie ich dazu gekommen, die ſchwierigſte, verwickeltſte Frage 
unferer Zeit vor einer ſehr gemiſchten Zuhdrerſchaft zu 
befprechen, und in einer von ber berlämmlichen ſtark ab» 
weichenden Weife zu beiprechen, barüber bin ich eine Er- 
Härung ſchuldig. Ich Hatte zuerft, als die Anfforderung, 
einige Vorträge zu halten, an mich erging, mir nur vorge- 
nommen, über bie religiöfen Zuſtände ber Gegenwart im 
Allgemeinen und im weiteften, bie ganze Menfchheit um⸗ 
fafjenden Ausblid zu reden. Es traf fich aber, baß gerade 
aus den Kreiſen, von welchen die Anregung zu den Vor⸗ 
trägen ausging, mehrfach Anfragen an mich geftellt wurden, 
wie man fich die Lage des päpftlichen Stubles, den theils 
eingetretenen, theils drohenden Verluft feiner weltlichen Herr» 
fchaft zu erflären habe. Was foll man — fo wurde ich 
wiederholt gefragt — jenen Außerkirchlichen eriwiebern, welche 
mit triumphivendem Hohne auf die zahlreichen biſchöflichen 
Kundgebungen binweijen, in denen der Sirchenftaat für we⸗ 

1* 


IV 


fentlih und unentbehrlich zum Beſtand der Kirche erklärt 
wird, während doch die Ereigniffe feit dreißig Jahren mit 
fteigender Klarheit ven Zerfall desfelben zu verkündigen 
fcheinen. 

Ich Hatte eben in Blättern, Zeitfchriften, Büchern 
mehrfach die Hoffnung ausgefprochen gefunden, daß mit dem 
Untergange ber weltlichen Herrſchaft der Päpfte auch die 
Kirche ſelbſt dem Schickſale der Auflöfung nicht entgehen 
werde. Zu gleicher Zeit war mir in Chateaubriand's Me⸗ 
moiren die Aeußerung des Cardinals Bernetti, Staatsſekre⸗ 
taͤrs unter Leo XIL., aufgefallen: Wenn er lange lebe, habe 
er Ausficht, noch den Ball der weltlichen Macht des Papſt⸗ 
thums zu ſehen.') Und eben Hatte ich auch in dem Berichte 
eines Gorrefpondenten aus Paris, deſſen Name mir als der 
eines ſehr gut unterrichteten und glaubwürtigen Mannes 
genannt wurde, gelefen: Der aus Rom zurüdgelehrte Erz 
biſchof von Rennes habe erzählt, daß Pius zu ihm gejagt 
babe: „Sch mache mir Feine Illuſionen; die weltliche Ge⸗ 
walt muß fallen. Goyon wird mich preisgeben, ich werde 
dann meine noch übrigen Truppen entlaffen, ben König, 
wenn er einzieht, mit dem Bann belegen, und mit Ruhe | 
meinen Tod erwarten."?) 

3) Mömoires d’outretombe. VIII. 186. Ed. de Berlin. 


2) Eo das katholiſche in London erſcheinende Wochenblatt: Weekly 
Register, March 2, 1861, p. 4. 








V 


Ich ſelber glaubte bereits im April zu erkennen, was 
nun im Oltober noch deutlicher ſich zeigt: daß die Gegner 
der weltlichen Papftberrichaft entjchloffen, einig, übermächtig 
feien, und daß nirgends eine Schugmacht vorhanden ſei, 
welche mit dem Willen auch die Kraft befäße, die Kataſtrophe 
abzuwehren. Ich bielt es demnach fir wahrfcheintich, daß 
eine Unterbredhung bes weltlichen Beſitzſtandes in Baͤlde 
eintreten werde — eine Unterbrechung, welche, gleich andern 
porausgegangenen, auch wieder aufhören, und eine Wieber- 
einfeßung zur Folge haben werde. Ich beichloß aljo, vie 
burch die Vorträge gebotene Gelegenheit zu benüßen, das 
Bublicum auf die kommenden Dinge, bie bereits ihren Schat- 
ten in bie Gegenwart hereinwarfen, vorzubereiten, und fo 
dem Aergerniffe, den Zweifeln und Anftößen zu wehren, 
weiche unvermeidlich fich ergeben mußten, wenn der Kirchen- 
ftaat in andre Hände überginge, obgleich die biſchöflichen 
Erlaffe eben erft fo energifch verfichert hatten, daß er zur 
Integrität der Kirche gehöre. Ich wollte alfo fagen: An 
und für fih kann die Kirche befteben, und bat 7 Jahr⸗ 
hunderte beftanden ohne den Länderbeſitz der Päpfte; fpäter 
aber ift viefer Beſitz durch die Weltlage nothwendig ge⸗ 
worden, und Bat, ohngeachtet großer Veränderungen und 
Wechjelfälle, feine Beſtimmung, der Unabhängigkeit und 
Freiheit der Päpſte zur Grundlage zu dienen, in ben meiften 
Fällen erfüllt. So lange die jeßige Lage und Geftaltung 


VI 


von Europa bleibt, können wir kein anderes Mittel, dem 
päpftlichen Stuhle feine Freiheit, und bamit das allgemeine 
Vertrauen zu fichern, entveden. Uber Gottes Einfiht und 
Macht reicht weiter als die unfrige, und wir bilrfen une 
. nicht herausnehmen, der göttlichen Weisheit und Allmacht 
Sränzpfähle fteden zu wollen, ihr zuzurufen: So und nicht 
anders! Wenn dennoch das drohende Ereigniß eintritt, der 
Papft feines Länderbefiges beraubt wird, fo wird von drei. 
Eventualitäten ficher eine fich verwirklichen: entweder ber 
Verluſt des Kirchenftaates ift blos ein zeitweiliger, und das ˖ 
Land kehrt ganz oder zum Theil nach einigen Zwifchenfällen 
zu feinem rechtmäßigen Souverain zurüd. Ober die Vor⸗ 
jehung führt auf uns unbelannten Wegen und durch nicht 
errathbare Combinationen eine Stellung des päpftlichen 
Stuhles herbei, durch welche der Zwed, nämlich die Selbſt⸗ 
ftänbigfeit und ungehinderte Bewegung dieſes Stuhles, ohne 
das bisherige Mittel erreicht wird. Oder endlich: Wir 
gehen in Europa großen Kataftrophen, einem Zujammen- 
brechen des ganzen Gebäudes der gegenwärtigen geſellſchaft⸗ 
lichen Ordnung entgegen, Ereigniffen, von denen ber Unter» 
gang bes Kirchenftaate® dann nur ver Vorläufer, fo zu 
fagen bie erfte Hiobsbotfchaft ift. 

Die Öründe, warum ich von biefen drei Möglichkeiten 
bie erfte für die wahrfcheinlichere Halte, habe ich in biejem 
Buche ausgeführt. Weber vie zweite Möglichkeit iſt nichte 


vu 


Näheres zu fagen, fie iſt eben ein unbelanntes und folglich 
unbeſchreibbares — x, es gilt nur, fie feitzubalten gegen 
gewiffe allzu zuverfichtliche Behauptungen, welche das Ge⸗ 
heimniß der Zukunft zu wiſſen vorgeben, und, in bie götte 
liche Domäne eingreifend, die Zukunft jchlechthin und unbe⸗ 
bingt den Gefegen ver jüngften Vergangenheit unterwerfen 
wollen. Daß auch die dritte Möglichkeit in Ausficht ge 
nommen werben müfje, werben wohl nur Wenige von benen, 
die Die Zeichen der Zeit prüfen beobachten, in Abrede 
ſtellen. Hat doch einer der fcharfjinnigften Gefchichtichreiber 
und Staatdömänner, Niebuhr, bereits am 5. Oftober 1830 
gefchrieben: „Wenn Gott nicht wunderbar hilft, jo fteht uns 
eine Zerftörung bevor, wie die römifche Welt fie um bie 
Mitte des 3. Jahrhunderts erfahren hat: Vernichtung des 
Wohlſtandes, ver Freiheit, der Bildung und ber Wiſſen⸗ 
ſchaft.“ Und feitbem find wir auf der fchiefen Ebene um 
ein Bedeutendes weiter gerüdt. Die Mächte von Europa 
haben vie beiden Grundſäulen ihres Gebäubes, das Legiti- 
mitätSprinzip und das Öffentliche internationale Recht umge⸗ 
ftürzt oder umftürzen laffen. Jene Monarchen, welche fich 
der Revolution al® ihre Werkzeuge zu leibeigen ergeben 
baden, find die handelnden Perſonen des welthiftoriichen 
Drama's geworben, bie Uebrigen verhalten fich als ruhige 
Zufchauer und, in ihrer Hoffnung, lachende Erben, wie 
Preußen und Rußland, oder Beifall und Hülfe fpendenb wie 


vn 





England, oder als paffive Kranke, wie Defterreich und bie 
am Zehrfleber fiechende Türkei. Die Revolution aber tft 
ftebend geworben, ift nun ein chronifches, bald da bald 
bort auebrechendes, bald mehrere Glieder zugleich ergreifen- 
bes Leiden. Die Bentarchie ift aufgelöst, die heilige Alltanz, 
immerbin eine, wenn auch mangelhafte und misbraucdhte 
Form europäifcher Staatsordnung, iſt begraben; in Europa 
gilt nur noch das Necht des Stärlern. Iſt e8 ein Umbil⸗ 
bungsproceß oder ein Zerfegungsproceß, in welchem die euros 
päiſche Gefellfchaft begriffen iſt? Ich glaube noch Immer 
das erjtere; aber ich muß, wie gejagt, bie Möglichkeit der 
andern Alternative zugeben. Tritt diefe ein, dann wirb es, 
wenn die Mächte der Zerftörung ihr Werk vollbracht, bie 
Sache ver Kirche fein, fofort bei dem aus den Ruinen fich 
erhebenden Neubau gefellichaftlicher Ordnung als binvenbe, 
civilifirende ‘Macht und als bie Zrägerin ber fittlichen und 
religiöfen Weberlieferungen eingreifend mitzumwirfen. Und 
hiemit ift dann auch dem Papſtthume, mit over ohne Ges 
biet, fein Amt angewielen, feine Sendung gegeben. 

Dieß alfo waren die Gedanken, von denen ich ausging, 
und es begreift ſich, daß dabei meine Aeußerungen über bie 
nächſten Geſchicke ver weltlichen Bapftmacht ziemlich zwei⸗ 
felhaft klingen mußten, daß ich nicht wohl mit der Zuverſicht, die 
anderen, vielleicht fchärfer blidenden Männern gegeben war, 
vor meine Zuhörer Hintreten und fagen fonnte: Verlaßt euch 


IX 


daranf: der Kirchenftaat, dieſes Land von Rapicofani bis 
Geperano, von Ravenna bis Gteitaneckhia, foll und muß 
und wird unveränberlich den Bäpften bleiben; eher wird 
Himmel und Erbe vergehen, ehe der Kirchenſtaat vergeht. 
Das konnte idy nicht, weil Ich dieſe Zuverficht damals nicht 
hatte, wie ich fie denn auch jetzt micht im geringften habe, 
ſondern nur die, daß dem päpftlichen Stuhle die Bedin⸗ 
gungen zur Erfüllung feines Berufes auf die Dauer nicht 
werden entzogen werben. Und demnach war die Summe 
meiner Worte die: Möge Niemand an der Kirche irre wer- 
den, wenn bie weltliche Fürftengewalt des Papſtthums, fet 
es zeitweilig, fei es für Immer, verſchwindet. Sie tft nicht 
Wefen, fontern Beigabe, nicht Zwed, fonvdern Mittel, fie 
bat erft fpät begonnen, fie war früher etwa® ganz Anveres, 
als fie heute ift, fie erfcheint ung jett mit Recht als unent- 
behrlich, und fo lange bie gegenwärtige Orbnung Europa'e 
bauert, muß fie-um jeden Preis erhalten, ober, wenn ges 
waltfam unterbrochen, wieberbergeftellt werden. Es läßt 
fi aber andy ein politifcher Zuftand in Europa denken, in 
weichem fie entbehrlich, und dann nur noch eine hemmende 
Loft wäre. Nebenbei wollte ich auch Bapft Pius IX. und 
feine Regierung gegen zahlreiche Anſchuldigungen vertheis 
digen, und darauf hinweifen, daß die allerdings vorhande⸗ 
nen inneren Gebrechen und WMisverbältniffe im Lande, 
burch welche der Staat in einen fo befremblichen Zuftand 


x 


von Schwäche und Hüfflofigleit verſetzt worden, nicht ihm 
zur Laſt fielen, daß er vielmehr vor und nach 1848 ven 
beften Willen, zu reformiren, gezeigt habe, und daß wirklich 
Vieles durch ihn und unter ihm beffer geworden ſei. 

Die Berichte in den Tagblättern, zu Haufe aus ber 
Erinnerung aufgefchrieben, gaben nur ein ungenaues Bild 
von einem Vortrage, ver nicht in berfömmlicher Weiſe ven 
Knoten zerhauen wollte, fondern mit „wenn“ unb „aber“ 
und mit Hinweiſung auf einige, meift außer Berechnung 
gelaffene Entſcheidungemomente, von einer unfichern Zu⸗ 
kunft und mehrfachen Möglichkeiten redete. Das war uns 
vermeidlich. Jede nicht ganz wörtliche Reproduction mußte, 
auch bei dem beiten Willen bes Referirenden, fchiefe Auf- 
- faffungen erzeugen. Ich ließ daher, gleich nachbem eines 
ber verbreitetften Blätter über ven erſten Vortrag obne alle 
abfichtliche Entftellung, aber mit einigen den Sinn und bie 
Tragweite meiner Worte alterirenden Auslaffungen berichtet 
hatte, der Redaktion den Abdrud meines Manujcripts vor» 
ſchlagen; dieß wurde jeboch abgelehnt. In audern Berich⸗ 
ten ber Zagesorgane konnte ich häufig meine Gedanken 
nicht wieber erfennen, und hatte man mir Weußerungen in 
ben Mund gelegt, die mir ganz fremb waren. Und bier 
will ich nur gefteben, daß ich bei Haltung ber Vorträge an 
die Befprechung verfelben in der Tagespreſſe nicht gedacht, 
vielmehr erwartet hatte, fie würben, wie andere ähnliche, 


— — 


hochſtens mit zwei Worten in futuram oblivionem er⸗- 
wähnt werben. Weber die Polemik, die fich in eignen Schrif- 
ten und Sonrnalartilein fofort in Deutfchland, Frankreich, 
England, Statten, felbft in Amerika, daran knüpfte, ſchweige 
ih. Bieles habe ich nicht gelefen; die Verfaffer hatten fich 
zum Theil nicht einmal bie Frage vorgelegt, ob denn ber 
Bericht, den ihnen der Zufall zugeführt, und ven fie auf 
gerathewohl zu Grunde gelegt hatten, nur irgend genau 
fi. Doch muß ich einer Darftellung in einer der gelejen« 
Ren englifchen Zeitfchriften erwähnen, weil ich ba in eine 
Geſellſchaft gebracht werbe, in bie ich nicht gehöre. Das 
Zuliyeft des Edinburgh Review Kat nämlich einen, dem 
Bernehmen nad von H. Cartwright verfaßten Artilel ges 
bracht, überfchrieben: Church Reformation in Italy. Der 
Berfaffer zergliedert zuaft Roſmini's Schrift: le cinque 
piaghe dells chiess, fpricht dann von ben verwandten, 
ber jetigen Wenbung der Dinge in Italien günftigen Ge⸗ 
finuungen ver Rofminianer, der Dominikaner zu S. Marco 
in Florenz, der Kapuziner, von einer Schrift des Oratoria⸗ 
ners Sapecelatro In Neapel, in ber ein ber weltlichen 
Barfikerrichaft ungnfliger Standpunkt eingenommen werde. 
Hierauf beruft er fich auf mich, die Tendenz meiner Aeuße⸗ 
rungen miöverftehenn, und in der irrigen Meinung, ich hätte 
bereits eine Schrift mit einer Apologie meiner Orthobogie 
veröffentlicht. Darauf werben Baffaglia’s und Toftt’s 


XII 


Aeußerungen und Bemühungen näher beſchrieben. Einen 
ſcharf polemiſchen, gegen mich gerichteten Artikel des Dublin 
Review kenne ich nur aus den Auszügen in andern eng» 
lifchen Blättern, ſehe aber fchon aus der Entſchiedenheit, 
mit ber ſich der Verfaſſer gegen „liberale“ Inftitutionen er» 
Härt, daß ich auch nach dem Erfcheinen dieſes Buches 
auf eine Verftändigung mit ihm nicht rechnen darf. 

Damit übrigens jeder felbft urtheilen köͤnne, und um 
ein gegebenes Verſprechen zu erfüllen, babe ich bie beiden 
Vorträge als Beilage abdrucken laſſen, fowte ich fie vorher 
Schriftlich entworfen hatte, nur mit Weglaffung der Einlei« 
tung, bie fih in allgemeinen, bie Kirchenſtaatsfrage nicht 
berüßrenben, Zeitbetrachtungen erging; und natürlich mit 
Uebergehung mander, im miünbliden Bortrage aus dem 
Stegreife eingeflochtenen, näheren Ausführungen, bie felbft« 
verſtaͤndlich an dem Sinne des Hier Abgedruckten nichts Änberten. 

Die Aufregung, welche durch meine Vorträge, oder 
vielmehr durch die Berichte der Tagespreſſe über biefelben 
hervorgerufen worven, hatte da® Gute, daß babet in einer 
bis dahin vielfach nicht geahnten Weife an ben Tag kam, 
in welch’ weiten Umkreiſen, wie tief und feſt bie Anhäng- 
lichkeit bes Volkes an den Stuhl Petri gewurzelt fe. Das 
für konnte ih Alles das gerne hinnehmen, was fich bei 
biefer Gelegenheit an Angtiffen und Bitterkeiten über mich 
ergoß. Aber warum — fo wird man fragen, und fo bin 


XI 


ih unzählige Male gefragt worden — nicht durch fofortigen 
Drud der, doch in der Hauptfache vorher aufgefchriebenen 
Borträge die Misverftändnifje abfchneiden, warum fünf Mo⸗ 
nate zumwarten? Dafür Hatte ich zwei Gründe Erſtens 
handelte es fich nicht blos um Misverftänpniffe; vielmehr 
batte gar Manches, was ich allerdings gefagt, in vielen 
Kreifen, vor Allem bei unjern Optimiften unangenehme Em⸗ 
pfindungen erregt. Ich wäre alfo fofort mit meinen nadt 
Dingeftellten Behauptungen in einen aufreizenden Zeitungs 
und Flugſchriftenhader verwidelt worden, und das war feine 
lockende Ausficht. Mein zweiter Grund war: ich erwartete, 
daß die weitere Entwidiung der Dinge in Italien, die uns 
aufhaltfam fortfchreitende Logik der Thatfachen die Ges 
müther für gewiſſe Wahrheiten empfänglicher machen würbe, 
Ich Hoffte, man würbe allmälig in ber Schule ber That⸗ 
fachen lernen, baß es nicht genüge, immer nur mit ben 
Ziffern: Revolution, Geheimbünde, Mazzinismus, Atheis- 
mus zu rechnen, vie Dinge nur nach dem im „Juden bon 
Verona“ dargebotenen Maßſtabe zu meflen, daß vielmehr 
noch andere Faktoren binzugenommen werben müßten, 5. B. 
die Befchaffenbeit des italiänifchen Klerus und fein Ver⸗ 
bältniß zu den Laien. Ich wollte daher einige Donate ver- 
ftreichen laffen, che ich vor das Publicum träte. Ob ich 
bierin richtig gerechnet babe, wird bie Aufnahme biefes 
Buches zeigen. 





IN _ 


Diejenigen, welche es tadelnswerth finden, daß ich Zu- 
ftände und Thatjachen, vie man gerne ignorirt, ober nur 
flüchtigen Fußes barüber Hinwegellenb berührt, näher ein- 
gehend beiprochen und dieß noch bazu gerade In biefem 
Zeitpunfte gethan babe, begreife ich volllommen. Habe ich 
doch felbft, ohngeachtet des Dranges, den ich empfand, mich 
über die Frage bes Kirchenſtaats auszufprechen, zwei (Jahre 
lang durch ſolche Bedenken mich abhalten laffen, und bes 
burfte e8 der oben erzählten Vorgänge, um mich zum öffent- 
lichen Mitfprechen in dieſer Sache — ich darf fait fagen — 
zu nöthigen. Sch Bitte aber biefe Männer, folgende Puntte 
zu erwägen. (rftens: wenn ein Autor Zuſtände, welche 
ohnehin in der Zeitpreffe vielfach beiprochen werven, offen 
darlegt, wenn er von ben Wunden, welche nicht an ber 
Kirche felbft, fondern nur an einem mit der Kirche in nächfte 
Berührung gelommenen und bie Kirche in bie Mitleiven- 
ſchaft hineinziehenden Inſtitut Maffen, die ohnehin fehr durch⸗ 
fihtige Hülle wegzieht, fo thut er dieß — das darf man 
ihm billiger Weife zutrauen, dem Beiſpiele älterer Freunde 
und großer Männer der Kirche folgend, nır um bie Mög 
Itchfeit und Nothwenbigkeit der Heilung Far zu machen, um, 
fo viel an ihm ift, den Vorwurf zu entfräften, als ob bie 
Vertheidiger der Kirche nur bie Splitter im fremden und 
nicht die Ballen Im eignen Auge fehen wollten, und in eng⸗ 
herziger Befangenheit jede ihrer Sache ungünftige ober un⸗ 


XV 


günjtig fcheinende Thatfache zu befchönigen oder zu ver⸗ 
tnfchen und abzuläugnen bejtrebt feien. Er thut es end⸗ 
fich, damit man erkenne, daß, wo die Ohnmacht ber Men⸗ 
fchen, vie Heilung zu beivirfen, fichtbar wird, Gott ein- 
greife, ver nun auf feiner Tenne bie Spreu vom Weizen 
fondern und jene mit der Feuersgluth der Kataftrophen, 
welche nur feine Gerichte und Arzneimittel find, verzehren 
will. Zweitens: Wenn ich ſchon als Hiftorifer die Wirkun- 
gem nicht varflellen durfte, ohne auf die Urfachen derſelben 
zurüdzugeben, fo mußte ich zugleich, wie jeder religidfe For⸗ 
icher und Beobachter menfchlicher Dinge, einen Beitrag zur 
Theodicee zu liefern fuchen. Wer über fo Hohe, das Wohl 
und Wehe ver Kirche nahe berührende Intereffen zu fchreiben 
unternimmt, der Tann nicht umbin, bie Weisheit und Ges 
rechtigfeit Gottes in der Leitung ber hierauf bezäglichen irdiſchen 
Ereigniffe zu erforfchen und zu zeigen. Das Verhängniß, das 
den Kirchenftaat getroffen, muß doch vor allem unter dem 
Geſichtspunkt einer göttlichen Veranftaltung zum Beften ber 
Kirche aufgefaßt werden. So gefaßt, ftellt es fich als eine 
Prüfung dar, die fo lange dauern wirb, bis ber Ywed er. 
reicht, das Wohl der Kirche von dieſer Seite ficher geftellt ift. 

Es ſchien mir Mar, daß, wie überhaupt eine nee Ord⸗ 
nung ber Dinge in Europa im Plan der Vorfehung liege, 
fo auch der Krankheitsproceß, in welchem fich ver Kirchen- 


ſtaat unverkennbar feit einem halben Jahrhunderte befindet, 
v. Dößinger, Papfitfum. 2 


XVI 


der Uebergaugsproceß zu einer neuen Form ſein möchte. 
Dieſen Krankheitsproceß zu beſchreiben, keines der Symp⸗ 
tome zu übergehen oder zu verdecken, wurde hiemit eine 
Aufgabe, der ich mich nicht entziehen durfte. Die Krankheit hat 
ihren Grunb in dem inneren Wiverfpruche, der Dishar- 
monte der Einrichtungen und Zuſtände; denn bie franzöjifch- 
mobernen Einrichtungen ftehen dort unvermittelt neben ben 
bierarchifch - mittelalterlichen; keines viefer beiden Ele— 
mente ift flarf genug, das andere auszuſtoßen, und jedes 
bon ihnen würde, wenn es zur Wlleinberrichaft gelangte, 
boch wieber eine Krankheitsform varftellen. Doch ich erkenne in 
der Gejchichte der letzten Jahre auch bereite Symptome bes 
Heilungsprocefjes, wie ſchwach und bunfel und zweibeutig 
auch noch die Spuren beffelben erfcheinen mögen. Was 
wir ſehen, ift fein boffnungslofes Hinfterben, keine Vers 
wefung; es tit eine Läuterung, fo ſchmerzlich, fo verzehrend, 
fo Mark und Bein burchbringend, wie Gott fie über feine 
auserwählten Perſonen und Suftitutionen zu verhängen 
pflegt. An Schladen ift fein Mangel, und es gehört Zeit 
Dazu, bi das reine Bold aus dem Schmelzofen berborgebe. 
Im Verlaufe diefes Proceffes kann e8 zu einer Unterbrechung 
des Beſitzſtandes, zu einer Auflöfung des Staates ober 
einem Uebergang beffelben in andre Hänbe kommen; aber 
er wird, wenn auch in anderer Form und Regierungsweife, 
wieber aufleben. Mit Einem Worte: Sanbilibus labora- 





XVII 


mus malis, das wollte ich zeigen, das glanbe ich gezeigt 
zu baben. 

Gegenwärtig und ſchon feit 40 Jahren iſt der Zuftand 
des Kirchenſtaates die Achillesferfe der katholiſchen Kirche, 
ber ſtehende Vorwurf, den die Gegner in der ganzen Welt, 
in Amerifa wie in Europa erheben, der Stein des An⸗ 
ſtoßes für Unzählige. Nicht als ob die Einwürfe, die von 
biefer Thatſache einer vorübergehenden Störung und Die 
harmonie im focialen und politifchen Gebiete hergenommen 
werben, irgend ein Gewicht in theologifcher Beziehung hätten. 
Aber das ift doch nicht zu läugnen, daß fie von unermeß⸗ 
lichem Einfluffe auf die Stimmung ber ganzen aufers 
lirchlichen Welt find. 

So oft krankhafte Zuftände in ver Kirche hervorge⸗ 
treten find, bat ed nur Einen Weg der Hellung gegeben: 
den des gewedten, erneuerten, gefunden kirchlichen Bewußt⸗ 
feins, der erleuchteten öffentlichen Meinung in ver Kirche. 
Der befte Wille der kirchlichen Häupter und Führer hat bie 
Heilung nicht zu vollbringen vermocht, wenn fie nicht bie 
allgemeine Stimmung, die Ueberzeugung der Geiftlichen wie 
der Laien für fih hatten. Die Heilung der großen krch⸗ 
lichen Krankheit des 16. Jahrhunderts, die wahre innere 
Reformation der Kirche iſt erft dann möglich geworben, 
als man aufhörte, die Uebel zu befchönigen oder abzuleug⸗ 


nen, zu vertufchen und ſchweigend barüber megzugehen, 
2* 


XVDI 


als eine fo ftarke und übermächtige Sffentliche Meinung in 
ber Kirche fich gebildet hatte, daß man fich eben dem über- 
wältigenden Einfluffe berfelben nicht mehr entziehen konnte. 
Auch Heute ift das, was und Noth thut, vor Allem Wahr- 
beit, die ganze Wahrheit, nicht bloß vie Erfenntniß, daß 
die weltliche Macht des Papftthums ver Kirche nöthig ſei — 
das leuchtet, wenigftend außerhalb Btaliens, jedem ein, und 
es ift Alles darüber bereits gejagt — fonbern auch die Er- 
tenntniß, unter weldhen Bedingungen dieſe Herr- 
Ichaft fernerhin möglich fei. Die Gefchtchte der Päpfte ift 
voll von Beifpielen, daß ihre beſten Abfichten unerreicht 
blieben, ihre fefteften Entfchläffe fcheiterten, weil man eben 
in den unteren Kreifen nicht wollte, weil bie Intereffen einer 
feft zuſammenhaltenden Klaſſe wie eine unburchbringliche 
Dornenhede wiverftanden. Wie feft war Habrian VI. ent» 
fchloffen, mit ver Reformation Ernft zu mäcen, und 
gleichwohl that er als Papft fo gut‘ wie nichte, fühlte er 
fih im Beſitze der höchſten Gewalt doch gänzlich ohnmächtig 
gegenüber dem paffiven Widerſtande aller berer, bie ihm 
als Werkzeuge dabei dienen follten. Erſt als bie öffentliche 
Meinung auch in Italien, in Mom feleft gewedt, gereinigt 
und erftarkt war, als der Ruf nach Reformen von allen 
Seiten gebieterifch ertönte, erft dann warb es ben Päpften 
möglich, den Wiverftand in ben nieberen Sphären zu über- 
winden und allmälig, Schritt für Schritt, geſünderen Zu- 


—— 


ſtaͤnden Bahn zu brechen. Möge denn auch dem neunten 
Bins eine ſtarke, gefunbe, einmütbige, öffentliche Meinung 
im Tatholifchen Europa entgegenlommen. 


Noh muß ich mich Über einen Punkt rechtfertigen: 
Es ift mir fehr übel gebeutet worben, daß ich mich auf bie 
Berichte von Lord Lyons, die auf Geheiß des englifchen 
Parlaments gedruckt worden, berufen habe. Engliſche Bes 
richte, hieß es, feien felbftverftännlich parteiifch und unzus 
verlaͤſſig. Ich Hatte fie angeführt zum Zeugniß, daß ber 
Bapft mit den beftgemeinten Reformen boch feine unzufriebenen 
Unterthanen nicht zu befriedigen im Stande fei, unb daß 
jedes Zugeftänpniß von biefen fofort in ein Werkzeug zur 
Untergrabung ber Regierung verlehrt werde. Nun macht 
Graf Montalembert in feinem berühmten zweiten Send⸗ 
fhreiben an Cavour benfelben Gebrauch von tiefen Be⸗ 
richten, mit der Bemerkung: M. Lyons, le seul diplomate 
honn&te que l’Angleterre aitenvoy6 en Italie. ch unterfchreibe 
biefes Lob, möchte aber, ſchon aus Rüdficht auf Lord Nor⸗ 
manby und Sheil, an welche mein Freund beim Nieber- 
fchreiben biefer Worte wohl nicht gedacht Hat, das seul 
ſtreichen. 


Ueber einen andern Theil dieſes Buches habe ich noch 
Einiges zu ſagen. Ich habe eine Rundſchau über alle ge 
gemwärtig beſtehenden Kirchen und kirchlichen Genoſſenſchaf⸗ 


XX 


ten geliefert. Die Nothwendigkeit, dieß zu verſuchen, ergab 
ſich mir dadurch, daß ich die univerſale Bedeutung bes 
Papftthumes als Weltmacht zu zeigen, die wirklichen Leiſt⸗ 
ungen desſelben Har zu machen hatte Dieß konnte nur 
bann vollftänbig gefchehen, wenn bie inneren Zuftände der 
Kirchen, welde das Papſtthum verworfen, und tem Ein- 
fluffe desfelben fich entzogen Haben, vargeftellt wurben. 
Allerdings erweiterte ſich mit nun ber Plan unter ben 
Händen, und ich verfuchte, ein möglichft Mares Bild von 
. ver Entwidlung zu geben, weiche feit der Reformation und 
durch diefelbe fich mit innerer Nothwendigkeit unb in Folge 
ber einmal ergriffenen Anfchauungen und Principien in ben 
getrennten Kirchen vollzogen hat. Ich babe darum in meiner 
Darftellung keinen Zug aufgenommen, der nicht, meiner Ueber⸗ 
zeugung nach, ale Wirkung, als ein, wenn auch entferntes 
Ergebniß jener Principien und Doctrinen fich auswiefe. 
Darüber läßt fih nun im Einzelnen ohne Zweifel ftreiten, 
und ficher wird, wenn biefes Buch überhaupt jenfeits bes 
Kirchengebiets, welchem ich angehöre, beachtet werben follte, 
ftarer Wiberfpruch erfolgen. Möge man dann nur bie 
Gerechtigkeit mir wiberfahren Taffen, zu glauben, daß jebe 
Abficht, zu verlegen, mir babei völlig fremb war, daß ich 
nur gefagt Habe, was, wenn man überhaupt tiefer auf den 
Grund diefer Dinge eingehen will, gefagt werben muß, daß 
ih es mit Inftitutionen zu thun Hatte, welche in Kraft ber 


XXI 


Dogmen und Principien, aus denen fie erwachſen find, gleich 
einem an ein Spalier angenagelten Baume in ber Einen 
Richtung, wie unnatürlich fie auch fein möge, bleiben müſſen. 
Das erferme ich gerne an, daß jenfeits vie Menfchen häufig 
beffer find, ale das Syſtem, an welches fie ſich gebunden 
finten ober gebunden wähnen, und daß umgefehrt in ber 
Kirche die Individuen burchfchnittlich in Theorie und Praris 
tiefer fteben, al8 das Syſtem, in welchen: fie leben. 

Und bier wird es wohl am Orte fein, wenn ich mid 
in der Kürze über die Erfurter Konferenz unb bie baran 
fih Inüpfenden Hoffnungen, fowie überhaupt über bie gegen- 
wärtige Stellung der Confeffionen in Deutfchland zu ein- 
ander erläre. Ich glaube dieß um fo mehr thun zu follen, 
ald Aeußerungen von mir, die ich darüber in Briefen an 
einen Freund gethan, bereitd, wenn auch ohne meinen Namen, 
gedruckt worven find. Folgende Säte bürften vielleicht dazu 
beitragen, einiges Licht Über den Stand der Sache zu ver- 
breiten. 

1. Die Wiebervereinigung ber katholiſchen und ber 
proteftantifchen Eonfeflionen in Deutfchland wärbe, wenn fie 
et over in nächſter Zukunft zu Stande käme, in religiöfer, 
politifcher und ſocialer Beziehung das heilbringenbfte Ereig- 
niß für Deutfchland, für Europa fein. 

2. Es ift nicht Die geringfte Wahrfcheinlichleit vorhanden, 
daß diefe Vereinigung in der nächften Zeit zu Stande femme. 


XXII 


3. Sie iſt für jetzt nicht möglich, erſtens weil der 
größere, thätigere und einflußreichere Theil der deutſchen 
Proteſtanten fie, theils aus politifchen, theils aus religiöfen 
Gründen in Feiner Form, nnd unter leiner irgend möglichen 
Dedingung will, 

4. Ste ift zweitens für jeßt unmöglich, weil Unter 
handlungen über ven Mobus und die Bebingungen ver Union 
gegenwärtig nicht mehr gepflogen werben können. Denn 
dazu würden bevollmächtigte Vertreter von beiten Seiten 
erfordert; und folche vermag nur die Fatholifche Kirche ver⸗ 
möge ihres kirchlichen Organismus zu ftellen, nicht aber bie 
proteftantifche Seite. Auf dieſer Seite gibt es jet Feine 
Bemeinfchaftlide Grundlage, keinen Ausgangspunkt mehr 
(auch nicht die Augsburgifche Confeflion), und jeder Be⸗ 
fchluß, jeve dogmatiſche Feſtſtellung unterläge prinzipiell dem 
Veto jedes Einzelnen fowie ganzer Schulen oder Parteien. 

5. Die latholifche Kirche Rönnte ohne die geringſte Schwierige 
keit mit der getrennten griechifchen und ber ruffifchen Kirche 
in Unterbanblungen bezüglich einer Vereinigung treten, und 
dieſe Unterbanblungen würven, wenn nicht bie wiberftreben- 
den frembartigen Intereſſen und bie tiefe Unmiffenheit des 
Klerus und Volles in jenen Kirchen wären, den gänftigften 
Erfolg verfprechen. Denn beide Theile ftehen auf vemfelben 
Boden, infoferne fie bie gleiche Anfchauung von der Kirche, 
ihrer Autorität und ımunterbrochenen Stetigleit haben. 


ZZ 


Dagegen fehlt diefe Anfchauung auf proteftantifcher Seite, 
und fehlt hiemit die gemeinfchaftliche Grundlage, ohne welche 
Unterhandlungen und Verſtändigungsverſuche nicht möglich 
ſind. Einzelne kommen hier natürlich nicht in Betracht. 

6. Die heilige Schrift als die gemeinſame Grundlage 
gebrauchen zu wollen, auf welcher Katholiken und Proteſtan⸗ 
ten eine Berftänbigung verfuchen könnten, würde rein illu⸗ 
forifch fein, denn 

einmal ift, fo lange es Ehriften gibt, noch nie auf 
biefem Wege eine Einigung erreicht worden Als fchlagen- 
des Beifpiel fteht der Streit über bie euchariftifchen Ein« 
fegungsworte zwifchen Lutheranern und NReformirten ba, 
der nach unzähligen Colloquien und in Tauſenden von 
Bädern in breifundert Jahren um feinen Schritt welter 
gebracht worben ift. 

Zweitens daben bie großen Fortſchritte in der Bibel⸗ 
auslegung, welche feit breißig Jahren unläugbar gemacht 
worben find, keineswegs eine größere Glaubens⸗ und Lehr⸗ 
einheit auf proteftantifcher Seite erzeugt, vielmehr ift das 
Gegentheil eingetreten. 

7. Gleichwohl find theologiſch Proteftanten und 
Katholiken einander näher gekommen, denn jene Hauptiehren, 
jene „&rtifel ver ftehenden und fallenden Kirchen, um welcher 
willen die Neformatoren die Trennung von ber Tatholifchen 
Kirche für nothwendig erflärt haben, find nun durch bie 


AXIV 


proteftantifche Theologie überwunden und preisgegeben, ober 
werden nur nominell, indem man mit ben Worten andere 
Begriffe verbindet, beibehalten. 

8. Die Augsburgiſche Eonfeffion ift nicht nur 
das „Grundbekenntniß der Reformationu, fie ift auch bas 
einzige, zu welchem bie chriftusgläubigen Proteftanten ver 
großen Mehrzahl nach fich jebt noch befennen. Wäre biefes 
fih Belennen ein völlig ernftliches und auf Mare Erkenntniß 
und richtiges Verftänpniß des Inhaltes gegränbetes, dann 
würde bie Wiebervereinigung ber getrennten Kirchen ver⸗ 
hältnigmäßig leicht fein. „Aber, wie Heinrich Leo") jüngft 
bemerkt hat: Jedermann führt diefe Confeſſion im Munde, 
und faft fein Menfch kennt fie; Niemand fucht fie in ihrem 
urſprünglichen Sinne zu faffen. Man erflärt fie zum 
Editein des Proteftantismus , man bat ihr zu Ehren große 
Feſte gefeiert, jährlich wirb fie in jeber proteftantifchen 
Schule gepriefen, und faft fein Mienfch weiß, was barinnen 
fteht.« 

9. Die Augsburgifche Confeſſion erflärt im fiebenten 
Artikel: "daß die eine, heilige Kirche allezeit fein und blei⸗ 
ben müffe, welche ift die Verſammlung aller Gläubigen, bei 
welchen das Gvangelium rein geprebigt und bie heiligen 
Sakramente laut des Evangelii gereicht werben." Wenn 


') Neue Preuß. Big. 26. Septbr. 


XXV 


bie Sprache nicht erfunden ift, um die Gebanfen dee Menfchen 
zu verhüllen, jo beißt dieß doch, daß bie Kirche auch vor 
Entftehung ber proteftantifchen Lehre bereit6 die eine, heilige, 
mit reiner Prebigt und ächten Sakramenten ausgeftattete 
Kirche geweien fei. Kann es neben ber Einen, heiligen 
Kirche noch eine zweite und britte geben? Hat bie Kirche, 
welche im Jahr 1517 noch die Eine, heilige war, plöglich 
dieß zu fein aufgehört, weil ſeitdem neue Gefellfchaften burch 
Zrennung von ihr entftanden find, welche fie fofort be 
ſchuldigten, falfche Lehre und. unächte Sakramente zu haben, 
ohne daß boch in ihr, nach der eigenen Ausſage ver Ge⸗ 
trennten, feitvem irgend eine wefentliche Veränderung vor- 
gegangen wäre? Können bie Urbeber und Unterzeichner ber 
Confeſſion dieſen Artikel fo verftanden haben, daß bie Eine, 
heilige Kirche aus einer unbeftimmten Zahl getrennter, in 
Lehre, Sakramenten, Verfaſſung verfchiedener, ſich wechfel- 
feitig wefentlicher Irrthümer beſchuldigender Kirchenkörper 
beſtehe? Kann von einer Autorität und von ſymboliſcher 
Geltung der Augsburgiſchen Confeſſion ernſtlich die Rede 
fein, wenn dieſer wichtige und entſcheidende Artilel im Leben 
als nicht vorhanden behandelt, in ver Wiſſenſchaft ignorirt 
ober gewaltfam umgedeutet, ja in fein Gegenteil verkehrt wird? 
Eine eingehende, logifch Haltbare Beantwortung biefer 
ragen dürfte wohl zu ben unentbehrlichiten Präliminarien 
jeder confefltonellen Verftändbigung gehören, und, felbit ab« 


XXVI 


geſehen hievon, im Intereſſe aller nach religiöſer Klarheit 
und Gewißheit ringenden Laien liegen. 

10. So weit ſich aus ber Literatur urtheilen läßt, iſt 
unter den Theologen und Geiſtlichen auf proteſtantiſcher 
Seite der Wunſch, daß es zu einer Vereinigung der kirchlich 
geſpaltenen Dentſchen kommen möge, theils nicht vorhanden, 
theils nur in Geſtalt des Poſtulats, daß die Katholiken ein⸗ 
fach proteſtantiſch werden ſollten, vorhanden, theils exiftirt 
er als bloſe Velleitaͤt mit gänzlicher Unklarheit über Wege 
und Mittel. Anders ſcheint es ſich mit den Laien zu ver⸗ 
halten. Schreiber dieſes iſt wenigſtens noch ſelten im Leben 
einem religiös geſinnten proteſtantiſchen Laien begegnet, ver 
nicht die Sehnfucht nach einer Bereinigung empfunden, und 
meift auch die Anficht gehegt Hätte, daß die Zeit dazu infos 
fern gekommen ſei, al® die Fortdauer der Trenung mehr 
Schlimmes als Gutes wirke. 

11. Gegenwärtig iſt bie proteſtantiſche Theologie in ge 
wiffen Sinne ireniſcher als die Theologen. Denn während 
die Theologie die ftärkften Bollwerle und doctrinellen Scheide⸗ 
wänbe niebergelegt bat, melde bie Reformation zur Ber 
feftigung der Trennung aufgeworfen hatte, find die Theologen 
Dagegen weit entfernt, bie dadurch erreichte Erleichterung der 
Wiedervereinigung mit günftigen Augen zu betrachten, häufig 
eber beftrebt, die Thatſache zu verbergen, ober neue Differenz 
punkte zu fchaffen. Diele unter ihnen mögen bie Anflcht 


XXVII 


theilen, welche Stahl in Berlin noch kurz vor feinem Tode 
ausgefprochen: „Weit entfernt, daß ber Bruch des ſechs⸗ 
zehnten Jahrhunderts geheilt werden kann, wir müßten ihn, 
wäre es nicht fchon gefchehen, erft jet brechen“.) So 
wird es jedoch nicht bleiben, vielmehr wirb eine künftige 
Generation, vielleicht die ſchon heranwachſende, fich eher ber 
jäugften Erklärung Heinrich Leo's zuwenden: „In ber 
römifch-fatholifchen Kirche Hat feit Luther’s Zeiten ein Reis 
nigungoproceß ftattgefunden, und wenn zu Luther’ Zeit bie 
Kirche gewefen wäre, was heutzutage die römifch-Latholifche 
Kirche in Deutſchland wirllich if, fo wäre es ihm nie ein⸗ 
gefallen, feinen Gegenſatz jo energifch geltend zu machen, 
daß eine Trennung erfolgt wäre”.”) Die, welche fo denken, 
werben dann die rechten Männer und auserlorenen Werk⸗ 
zeuge für das Gott und ben Menfchen gefällige Werk ver 
Berjöhnung der Kirchen und ver wahren Einigung Deutfch- 
lands werben. 

12. Au dem Tage, an welchem auf beiden Seiten bie 
Ueberzeugung lebendig und thatlräftig erwachen wird, daß 
Ehriftus wirklich die Einheit feiner Kirche wolle, daß bie 
Zerriffenheit der Chriftenheit, die Vielheit der Kirchen ein 


2) Anſprache zur Eröffnung ber Berliner Paftoral- Conferenz, in 
ber Evang. Kirchen⸗Zig, Juni 1861, ©. 564. 
2), N. Preuß. Big. 27. Geptbr. 





XXVIII 


unnatürlicher, Gott misfälliger Zuſtand ſei, daß jeder, der 
dazu hilft, dieſen Zuſtand zu verlängern, dem Herrn bafür 
verantwortlich ſei — an biefem Tage werden mit Einem 
Schlage vier Fünftheile der herkömmlichen proteftantijchen 
Polemik gegen vie katholiſche Kirche als Spreu und Kehricht 
in den Winkel geworfen werden; denn vier Fünftheile beruhen 
auf Misverftändniffen, Logomachien, willkührlichen Ent- 
ftellungen, ober beziehen fich auf perfönliche, alſo zufällige 
Dinge, welche da, wo es fich nur noch um Prinzipien und 
Dogmen handeln kann, völlig beveutungelos jind. 

13. An diefem Tage wird aber auch auf katholifcher 
Seite Manches fih ändern. Von da an wird man nicht 
mehr bie Perföntichkeiten Luther und ber Neformatoren 
überhaupt auf die Kanzeln bringen, Die Geifllichen wer- 
ben, eingedenk des Wortes: interficite errores, diligite 
homines, ftet6 gegen die Glieder anderer Kirchen nach allen 
Negeln der Liebe verfahren, werben alſo überall, wo nicht 
Hare Beweife des Gegentheile vorliegen, den „guten Glauben” 
(bona fides) vorausfegen.‘) Sie werben nie vergeffen, daß 


1) Nach dem Beiſpiele eines ber trefflichften Prälaten unjerer Zeit, 
bes Cardinals de Cheverus, ber, als er noch Biſchof von 
Bofton in Amerifa war, im Umgange mit Proteftanten, bie er 
zum katholiſchen Glauben befehrte, erfannte: que plusieurs 
Protestans pouvaient &tre dans la bonne fol ou ignoranoe 
invincible qui exouse l’erreur devant Dieu. Il en concolut 


XXIX 


kein Menſch durch bittere Worte und heftige Ausfälle über⸗ 
zeugt und geivonnen, jeder vielmehr nur damit zurückge⸗ 
fioßen wird. Sie werben ferner, gemahnt durch das Wort des 
Römerbriefs (14, 13), inböherem Grabe, ald es bisher gejchehen, 
befliffen fein, den getrennten Brüdern kein Aergerniß, keinen 
Grund zur Anklage der Kirche zugeben. Demnach werben fie im 
Voltsunterrichte wie im Tirchlichen Leben die großen Heils- 
wabrbeiten ftet® zum Mittelpunfte ‘aller Lehre machen, vie 
Rebendinge dagegen in der Lehre wie im Leben nicht ale 
Hanptfache behandeln, vielmehr dem Volke das Bewußtfein 
ſtets wach erhalten, daß folche Dinge nur Mittel zum Zwecke 
find, nur untergeorpnete Bedeutung und fubfibiarifchen Werth 
haben. 

14. Bis jener Tag uns Deutfchen aufgeht, ift es Auf⸗ 
gabe für uns Katholifche, die Glaubens-Spaltung nach dem 
Ausorud des Cardinals Diepenbrod „im Geifte ver Buße 
für gemeinſames Berfchulden zu ertragen”. Wir haben an⸗ 
zuerfennen, daß Bott auch hier aus den Verirrungen der 
Menſchen, aus ven Kämpfen und Leidenfchaften des 16. 
Sahrhunderts neben viel Schlimmem viel Gutes Hat her⸗ 
vorgeben laffen; daß der Drang ver veutfchen Nation, die 
unerträglich gewordenen Misbräuche und Aergerniffe in ver 


qu’il falloit &tre trös-indulgent pour oeux qui se trompent, 
ot tres resorv6 & les condamner. Vie du Cardinal de 
Cherverus, 2° ddit. p. 140. 


XXX 


Kirche abgeſtellt zu ſehen, ein an ſich wohlberechtigter und 
den beſſeren Eigenſchaften unſeres Volles, feinem ethiſchen 
Unwillen über Verunſtaltung und Entweihung des Heiligen 
durch Herabziehen der veligiöfen Dinge zu habgierigen und 
beuchlerifchen Zweden, entftammt war. Wir weigern uns 
nicht zu geftehen, daß die große Trennung und bie damit 
verknüpften Stürme und Wehen ein ernftes über bie katho⸗ 
liſche Chriftenheit verhängtes, nur allzu fehr von Klerus 
und Laien verbientes Strafgericht waren, ein Gericht, wel- 
ches läuternd und beilend gewirkt bat. Der große Geilter- 
kampf bat bie europäiſche Luft gereinigt, Bat den menſch⸗ 
lichen Geift auf neue Bahnen getrieben, bat ein reiches 
wiffenfchaftliches und geiftige® Leben erzeugt. Die proteſtan⸗ 
tifche Theologie mit ihrem vaftlofen Forfchungsgeifte iſt ber 
Latholifchen wedend und anregend, mahnend und belebenb 
zur Seite gegangen; und jeder unter ben hervorragenden 
deutfchen Tatholifchen Theologen wird es gerne belennen, 
daß er den Schriften proteftantifcher Gelehrten Vieles 
verbanle. 

15. Auch das haben wir anzuerkennen, daß fich in ver 
Kirche der Roſt der Misbräuche, des abergläublichen Mecha⸗ 
nismus, immer wieder anfekt, daß die Diener der Kirche 
zuweilen durch Trägheit und Unverftand, das Volk durch 
Unwiſſenheit das Geiftige in der Religion vergröbern und 
dadurch erniebrigen, entftellen, zum eignen Schaden anwen⸗ 


XXXI 


den. Der rechte reformatoriſche Geiſt darf alſo in der 
Kirche nie entſchwinden, muß vielmehr periodiſch mit neu 
verjüũngender Kraft hervorbrechen, und in das Bewußtſein 
und den Willen des Klerus eindringen. In biefem Sinne 
weigern wir uns nicht, die Berechtigung eines auch vom 
Außen ber an uns gerichteten Rufes zur Buße, pas heißt 
zur forgfältigen Prüfung unferes kirchlichen Lebens und pas 
Roralen Verhaltens und zur Verbeſſerung des fchaphaft 
Befundenen zuzugeben. 

16. Dabei ift jedoch nie zu vergeflen, daß die Tren⸗ 
nung nicht wegen ber Miisbräuche in der Kirche erfolgt tft. 
Denn die Pflicht und Nothwendigkeit, dieſe Misbräuche ab⸗ 
zuftellen, ift immer in ber Kirche anerkannt worden, unb 
nur die Schwierigleit der Sache und die, mitunter fehr be» 
rechtigte Zurcht, daß mit dem Unkraut auch der Walzen 
ausgerauft werden möchte, haben bie wirkliche, in der Kirche 
umd burch fie volibrachte, Reformation eine Zeit lang ver⸗ 
zögert. Trennung wegen ber blojen Mishräuche im kirch- 
lichen Leben bei gleicher Lehre verwerfen auch die proteftans 
tifchen Kirchen als frevelhafl. Um ver Lehre willen ift 
alfo Die Zrennung erfolgt, und die allgemeine Unzufrieven« 
heit des Volles, die Schwächung der kirchlichen Autorität 
durch die vorhandenen Misbräuche hat nur den neuen Lehren 
leichteren Eingang verſchafft. Nun find aber einerfeits jene 
Gebrechen und Ausartungen bes Tirchlichen Lebens ſeit dem 

v. Dillinger, Papſtihum. 3 


reformatorifchen Auffchwung in der Kirche teil verſchwun⸗ 
den, theils bedeuten gemilvert. Und andrerſeits find bie 
wichtigiten ver Lehren, um welcher willen man fich getrennt, 
und auf deren Wahrheit und Unentbehrlichkeit für das Heil 
man dad Recht und die Nothwendigkeit der Trennung ges 
baut bat, von der proteftantifchen Wiffenfchaft aufgegeben, 
burch die Exegeſe ihrer biblifhen Begründung entfleivet, 
ober durch den MWiderfpruch der angeſehenſten proteftan- 
tifchen Theologen mindeften® fehr unficher gemacht. 

17. Inzwiſchen leben wir auf Hoffnung, tröjten une 
ber Ueberzeugung, daß die Gejchichte, oder jener europäifche 
Entwidlungsprozeß, der fich zugleich im focialen, politifchen, 
firchlichen Gebiete vor unferen Augen vollzieht, der mäch⸗ 
tige Bundesgenoffe ber Freunde kirchlicher Einigung ift, und 
reichen allen Ehriftusgläubigen auf der andern Seite die 
Hand zum gemeinfchaftlihen Vertheibigungs - Kampfe gegen 
die deftructiven Bewegungen ber Zeit. Denn es ift fo, 
wie v. Radowitz gefagt: „Bor unfern Augen fcheiden fich 
bie Geifter unter zwei Bahnen, auf deren einer ber Name 
Ehrifti des Sohnes Gottes fteht, während unter ber andern 
alle fich vereinigen, denen diefer Name eine Thorheit oder 
ein Aergerniß ift”. 


XXXIII 


Zum Schluſſe ſei es mir geſtattet, einige Berichtigungen, 
die ſich mir erſt im Laufe des Druckes ergeben haben, hier 
nachzutragen. S. 78 wollte ich die merkwürdige Thatſache 
anführen, daß Papſt Innocenz XI. die Bedrückungen der 
franzöſiſchen Proteſtanten misbilligt und Schritte gethan 
babe, ulm größere Schonung für fie zu erlangen. Ich wußte 
nicht mehr, wo ich dieß gefunden hatte, unterdeß aber habe 
ih meine Quellen wieder entdeckt, nämlich die Histoire de 
la revolution de 1688, von Mazure (Paris, 1825, IL, 
126) und Macaulay’s befanntes Wert (Tauchnitz edit. 
1I., 250). Da das Berhältniß zwifchen vem Könige und 
dem Bapfte belanntlich ein ziemlich ſchroffes und feinpfeliges 
war, fo mußte Innocenz auf einem Umwege feinen Zweck 
zu erreichen juchen: er beauftragte feinen Nuncius d'Adda 
in London, ven König Jakob II. von England zu bitten, 
daß er doch bei Ludwig XIV. zu Gunſten ver beprüdten 
Proteftanten interveniren möge. Jakob wollte das aber 
nicht, obgleich er Manches zur Erleichterung ihrer Lage 
that. Ferner habe ich ©. 314, durch eine Angabe in Schaff's 
Buch über Nordamerika verleitet, die Zahl ber kirchenbe⸗ 
fuchenden Mitglieder der verfchiedenen proteftantifchen Be⸗ 
fenntniffe wohl zu gering angegeben, fie muß, wie mir 
fcheint, doppelt fo ftark angenommen werben. ©. 606 ift 
durch ein Verſehen der Batican ftatt des Quirinals ges 


nannt. Endlich erinnere ih, daß ver erfte heil meines 
3* 


FIN 


Buches bereits gebrudt war, als bie Nachricht von bem 
ſchmerzlichen Verlufte, den Deutfchland durch Stahl’8 Ton 
erlitten bat, eintraf, weshalb in meinem Buche von ihm 
al8 einem Lebenden geredet wird. 


Münden, ven 12. Oktober 1861. 


Inhalts - Verzeichniß. 


Borrebe . . ee ee Gehe II fg. 


L Der römiſche Stuhl und die Kirche unter ihm. 


getrennten Kirchen. 
1. Die Kirche und bie Völlker. 


Katholicität des Chriſtenthums umb ber Kirche 

Reaktionen ber Nationalitäten gegen bie Kathoficität vor dem 
Auftreten des Proteflantismus: Perſiſche und Afri- 
kaniſche (Donatiftifche) 4, Byzantiniſche 5 fg., sr 
ſiſche und Czeſchiſche (Huffitifche) . 

Der Broteftantismus in feinen Benpiformen: 


Lutheranismus 

Calvinismus 

Engliſche Staatskirche 
Providentielle Bedeutung ber Nationalitäten unb Wechſelver⸗ 

hältniß zwiſchen ihnen md br Kirchee 


Der Katholicismus gegenüber dem Muhammebanismus und 
Bubbhaiennus . . . . . 

2. Das Bapfitbum. 

Die Nothwendigkeit des Papſtthums, begründet in ber Natur 
und Architektonik ber Kicche, beionbers ihrer Einheit 
und Sichtbarkeit . 

Ucberblid ber San bes — bis ei bie & 
genwart 


Die 


26 fg. 


31 fe. 


XXXVI 


Seite 
Funktion und Beruf bes Papſtthums in der Gegenwart. 85 fg. 
Umfang und Beſchränkung der päpftlihen Gewalt . .. 88 fg. 
Broteftation gegen ben weſtphäliſchen Frieden . 49 fg. 
Religiontzwang und Religionsfreiheit. 
Verſchiedenheit zwiſchen Katholicismus und Proteſtantismus 
in Bezug auf Religionszwang . .68 ig. 
Intoleranz des Proteſtautismus 68 fg. 
Geſchichtlicher Bang ber Dulbung und bes Zwanges: 
in ben Nieberlanben . 73 fg. 
in England 0. . 75 fg. 
in Deutſchland 81 fg. 
in Dänemark, Frankreich . BE fg. 
Berhältniß der Tatholifchen Kirche zur Religiouofreiheit 86 ig. 
Gegenwärtiger Stand ber Dinge © in Dans auf 1 Beton 
freiheit . 00.2.8 BR. 
8. Die Kirchen umb bie bürgerliche Freiheit. 
Stahl’s Behauptung von bem förbernden Einfluß ber prote- 
ſtantiſchen Regheſertigunglehre auf die politiſche Frei⸗ 
heit 98 fe. 
Geſchichtlicher Nathweis bes Einfluffes des Beoteflantismus 
anf bie bürgerliche Freiheit in den einzelnen Ländern: 
in ben fcandinavifchen Staaten 96 fg. 
in Deutſchland . . . . « 108 fg. 
in ben Nieberlanben . 122 fg. 
° "in Schottland . 1286 19. 
in England . 129 19. 
Geſammtergebniß . 155 fe 
4, Die Kirchen ohne Papſtthum: eine Rundſchau. 
a. Die Kirche des Patriarchats Eonftantinopel. 
Gtatiſtik, Berfaffung und Regierung, bie Patriarden 156 fg. 


ZXXVUO 


Der Klerus und feine Stellung zur Gtaategewalt 
Zukunft der Kirche im türfifchen Reihe . 

b. Die Hellenifche Kirche. 
Berfaffung, Klerus, Zuhunft . 

eo. Die ruflifche Kirche, 
Stellung zur byzantiniſchen und katholiſchen Kirche . 
Berfaffung und Regierung, Berhältniß ber Kaifer zur 

Landeskirche und zur Iutherifchen 

Zuſtand bes Klerus . 

Kirchliche und patriotiſche Gefimung der Safe, FR 
fertuftus 

Polizeilicher Charalter bes airchenweſene mb Kite 
liemus . . . . . . 

Sektenweſen 

Abweichung von der bozantiniſchen Birke in Bun 
ber Taufe . 

4. Die Kirche von England und bie Diffenterkiten. 

Allgemeine Charalteriſtik; ariſtokratiſcher Charakter ber 
Staatsirche . 

Folgen der Reformation für bie aArmeren alaſſen ku 
Bezug auf Beſitz, Almoſen, Gottesbienft und Schnul⸗ 
weſen 

Regierung uud Berweltung ber Birke und airchenim 
ter 

Biderſpruch ‚wilden den 89 Artileln und ber Aturgie 

Gegenwärtiger Zuſtand und deſſen Urſachen. 

Die einzelnen Parteien und Schulen: 

Die Evangelicals 220 fg., bie Anglikaner 228 fg., 
bie ZTraftarianer . . 

Gtreitfragen über Taufe ab Cie ab deren Ent 
fheibung . . . . . 


161 fg. 


. 168 fg. 


. 167 


170 


171 fg. 
175 fg. 


179 fg. 


183 fg. 
185 fg. 


187 fg. 


190 fg. 


198 fg. 
210 fg. 
216 fe 
219 fg. 
225 fg. 


238 fg- 


XXXVIII 


Seite 
Zuſtand ber Theologie und Diseiplin und ber 
Staatskirche Überhaupt, Ausſicht in bie Zukunft 238 fg. 
Die proteſtantiſchen Selten Englands im Allgemeinen 240 fg. 
Die einzelnen Selten: 
Die Presbpterianer . . 247 fg. 
Die Unitarier-Gemeinden 248 
Die Methopiften ober Wesleyaner . 249 fg. 
Die Eongregationafiften oder Inbepenbenten 255 
Die Baptiften 256 fg. 
Die Quäler, mährifchen "Brlder und bie 
Swedenborgiſche Kirche . 257 
Die Irvingianer . . 0. 257 fg. 
Die Mominn . . x 258 fg. 
e. Die Kirche in Schottland. 
Calvimiſcher Charakter der fchottifchen Kirche und ihr 
Berhältniß zur englifhen Staatsfirde . 259 fg. 
Wirknng des Calvinismus auf bie fchottifche Nation 
in religiöfer, fittlicher und focialer Begiehung 261 fg. 
Ausfihten der bifchöflichen Kirche und Lage bes Ka⸗ 
tholiciomus in- Schottland . . . . 276 fg. 
f. Die Kirchen in Holland. 
Statiftil, Berfaffung, der Ealoinisnme 278 fg. 
Tyheologiſche Schulen, Bekenntniß und Eultus . 281 fg. 
Schilderungen ber Gegenwart, Ansfiht in die Bu 
kunft, Reſultat 287 
8. Die proteſtantiſchen Kirchen in Frentreich 
Stellung nach außen, zum Staat und zum NKatholi⸗ 
eismus 288 fg. 
Innere Zuflände, theotogifce Eqnlen, bie Diffidenz. 290 fg. 
Heußerungen über ben- gegenwärtigen Zuflanb . 297 fg. 
(b) j Die proteftantifchen Kirchen in ber Schweiz. 
Sertatiſtik, Verhältniß ber Kirche zum Stadt. . . 800 fg. 


IX 


Zuflanb bes Ealviniemus in Genf umb ber Übrigen 
Ein . . 

Religiöier Zuſtand ber Ktoeigerifggen Kirge im Bun 
anf Bekenntniß, Glauben unb Eultus . 

Die Lage der Geiftlichen . . 

k. Die proteflantifhen Denominationen in ben Berinig- 

ten Staaten von Nordamerika. 

Die Religiofität ber Amerikaner im Allgemeinen 


Folgen des: Greitvilligteite- Principe und des Mangels 


einer Nationallirde . . 

Sanptformen bes amerilanifchen Proteſtantiemn⸗ 
Das Seltenweſen und deſſen Einfluß anf die Theologie 
Einige gemeinfchaftlihe Züge ber Selten . 

Die einzelnen Selten: 

Baptiften 386, Preebyterianer 838, Congregationa⸗ 

fiften 


Unitarier-Gemeinden 884, Univerfafiften 345, Meho⸗ 


biften 346, die biſchöfliche Kirche 850, deutſche Luther⸗ 
aner 352, Deutichreformirte Gemeinfchaft . 
Stellung ber PBrebiger zu den Gemeinden 
Stellung bes Proteflantismus zum Katholicismus 
Gegenwärtiger religiöfer Zuftand Norbamerila’s 
1. Die lutheriſche Kirche in den ſeandinaviſchen Ländern. 
Dänemark: Regierung und Berfaffung ber Kirche 
Die Geiftlichleit, Theologie, Gottesbienft . 
Schweden: Regierung, ber König nub bie Serie 
Theologie . . . 
Die lrchlichen Zufänbe in Nerwegen 
Mißverhältnig ber Predigerzahl zur Beoäfterung im 
proteflantifchen Norden . . 
m. Die proteftantifchen Kirchen in Deut 
Die Berfönlichleit Luthers 


— _ 


Seite 
Berhältniß des Proteſtautismus zum Kathoficiemus in 
Deutichland . 887 fg. 
Der theologiſche Ratiomafiemus und —* * 889 fg. 
Die Union . 401 fg 
Theologie und theofogifche Säulen . « 406 fg. 
Die evangelifhe Allianz . . 410 fg. 
Die einzelnen Hauptmomente bes Tirchlichen Lebens: 
1. Kirchenverfaffung . . 415 fe. 
2. Theologie, — . 420 fg. 
8. Gotteedienſt. . 444 fe. 
4, Geelforge und Birhenuät . . 454 fg. 
5. Prebigerftanb und fein Berhältuiß zum Be . 459 fg. 
6, Religiöfer Zuftanb der Laien 468 fg. 
7. Erwartungen einer Kirche ber Zukuuft und eines 
taujenbjährigen Reiches 476 fg. 
Gegenwärtige Stellung bes Proteflantismne in Da 
and zur Tatholifchen Kirche 485 fg. 
DO. Der Rirchenſtaat. 
*1. Die Papſte und ber Kirchenſtaat bis zur frangäftichen 
Revolution. 
Das Papſtthum unter ben weſt⸗ unb Meiaiden 
Raten . . 493 fg. 
Das Papſtthum unter ben Rerofingern . . 495 fg. 
Das Papſtthum unter dem Einfluß ber römtichen Abeie- 
partien . . . 498 fg. 
Deutihe Kaiſer unb bentfihe Bäpfe 499 fg. 
Schentungsurtunde Dtto’s III. 508 


XLI 


Die Bafallenfhhaft der normännifchen Eroberer in Un- 
teritalien . 

Die Päpfte unb ber Aigen von u Sn vn. sie 
Sunocenz IH. . . .. 

Guelfen und Ghibellinen 

Rubolf von Habsburg . 

Die Anjou’s, die franzofiſchen —* bie arrie zu 
Avignon, Echisma . 

Martin V. und Calliſtus 1. 

Nepotiamus 

Berfahren ber bourboniſchen Se gegen bas vn 
thum und ben Kirchenſtaat . 


2. Innere Zuflänbe des Kirchenſtaates vor 1789. 


Der Nepotismus .. 

Das Cardinalscollegium 

Freiheiten der Etäbte . . 

Ausbildung ber Regierung bes airchenſiaates buch 
Geiſtliche 

Stehende Tongregetionen, Praiatur, vertäufliche Stellen 

Die weltliche Berwaltung ber Fön: im Bag mit 
der geiflihden . . . . 

Finanzen, Induſtrie, Hanbel . 

Die Gewalt des Souveräns 


3. Der Kirchenſtaat von 1814 — 1846. 


Pius VII. und Napoleon I. 

Wiener Beichlüffe, Syſtem und Berwaltung Sonfatois 

Leo XII., Berhältniß feiner Maßregeln zu bem Safe 
Eonfalvi’s 

Pins VIL. Umfichgreifen ber "geheimen Sefeicaften. 

Gregor XVI, Iulirevolution, dad Memorandum ber 
Mächte von 1881 . . . 





— — — — — — — — — 


Drudfehler. 


Seite 5 Note 1 lies Cerularius flatt Eerulerius. 
» 29 Zeile 11 von oben tilge ihr. 
„ 39 „ 9 von oben tilge beruht. 
» 39 , 15 von oben I. de Maiftre ftatt del Maiftre. 
„» 98 die Note 2 ift am Ende ber 6. Zeile von unten zu jeben. 
» 220 Zeile 8 von oben lies Stiftung ftatt Etifung. 
„ 276 ,„ 1 von unten nah bat lies fie. 
„ 380 , 8 von oben I. geleiftet ſtatt geeiftet. 
„ 387 „ 7 von unten I. in flatt in. 
„ 893 lette Zeile l’istorie ftatt l’histoire ©. 466. 
„ 420 Zeile 3 von oben ergänze Nr. 2. 
„ 422 ,„ 7 von oben I. jenigen ftatt enigen. 
„ 466 Note 2 Universities flatt Univerties. 
» 5834 Rote 1 Saracini flatt Saracinelli, 
‚„ 557 Ießte Zeile ift VII ftatt 1711 zu ſetzen. 
„ 568 Zeile 3 von unten ohe flatt ehe. 
„ 585 Note 8 ed hanno flatt ad hanno, 


Der römifche Stuhl und die Kirche 
unter ihm. Die getrennten Kirchen. 





1. Die Kirche und die Wölher. 


In der ganzen Zeit vor Ehriftus gab es nur Volls⸗ 
und Staats- Religionen. Jedes Volt batte feine eigenen 
Gottheiten, feine befonderen Eultusformen. Die Religion 
wirkte weſentlich dazu mit, pie Völker in ſcharfer Trennung ge⸗ 
gen einander zu halten. Wohl mochte ein Volt Götter 
und Eulte von dem anbern entlehnen, aber ein religiöfes 
Band, das beide Völker umfaßt und einander näher gebradht 
hätte, wurde dadurch doch nicht gefchlungen. Erſt bie chrift- 
liche Religion, deren Dafein von Anfang an auf einer Durch- 
bredung des jüdiſchen national religiöfen Partikularismus 
rubte, trat mit dem Anfpruche ver Statholicität unter bie 
Menfchen; fie erflärte eine Weltreligion zu fein, bie feinem 
Bolle befonders angehöre, die vielmehr ben Beruf und die 
Vähigfeit in fich trage, fich über den Erbfreis zu verbreiten, 
Völker ber mannigfaltigften Art, der verfchiebenften Bildungs- 
fiufen in ihren Schooß aufzunehmen, ihre wahren religiöfen 
Bedürfniſſe zu befriedigen, und, ohne nationale oder geogra- 
pbifche Gränzen, ein großes Reich Gottes auf Erven, eine 


Kirche der Menfchheit aufzubauen. 
». Dillinger, Papftihum. 1 


Das Nömifche Reich, durch welches bereits bie ftantlichen, 
fprachlichen und conventignellen Schranten und Bollwerle der 
unterworfenen Nationen burchbrochen und eingeebnet waren, 
hatte der chriftlichen Kirche bahnbrechend vorgearbeitet. Nach 
breihunbertjährigem Kampfe bes Duldens und Belennens 
ber Einen, bes DVerfolgens und Tödtens der Andern, war 
dieſes Reich von der Kirche erobert. Gleichzeitig hatte fie 
fih, in ven drei Hauptfprachen jener Zeit, ver Griechifchen, 
Lateinifchen und Shrifchen eine breifache Literatur erzeugend, 
weit über die Römifchen Gränzen hinaus bis tief nach Ber- 
fien hinein verbreitet, und war gen Norden zu ben Germa⸗ 
nifchen Vollern vorgebrungen. “Der Mittelpunkt des kirch⸗ 
lichen Lebens war Rom, bie Weltftabt, ver „Zufammenfluß 
ber Völler, wo Aeghptier, Shrer, Aflaten, Armenier, Hel⸗ 
lenen, Juden, Gallier, Hifpanier fi fanden und mifchten, 
ſich anzogen und abftießen. Neben Rom biente Aleranbrien 
das große Emporium des Weltbanvels, ver Sit hellenifcher 
und orientalifcher Wiffenfchaft und Literatur, ven losmo⸗ 
politifchen Charakter des Chriſtenthums zu nähren und zu 
entwideln. . | 

So war unb blieb die Kirche national farblos. Nie- 
manb Tonnte damals ober fpäter je fagen, daß eine Nation 
mehr als bie andere ber Kirche das Gepräge ihrer Eigen⸗ 
thümlichleit aufgebrüdt Habe. Nach dem Falle des Roͤmi⸗ 
chen Weſtreichs warb die Kirche vie Erzieherin, vie Pflege- 


3 


mmtter der neuen Staaten. In ihrem Schooße entwickel⸗ 
ten fich bie herrſchenden Nationalitäten des Abendlandes, 
alle purchbrungen von dem Bewußtſein eine große chriftliche 
Böllerfamilie, ein Europäifches Gemeinwefen unter bem 
lirchlichen Supremat bes päpftlichen Stuhls und ber welt⸗ 
lichen Spike des neugefchaffenen Römtfch - Germanifchen 
Kaiſerthums zu bilden. War Frankreich ftolz, der erfiges 
borne Sohn der Kirche zu heißen, fo erkannte e8 eben damit 
das Bruberverhältniß an, in welchem es zu ben übrigen 
Söhnen der mächtigen Mutter, ven Völlern und Staaten 
des Südens, Nordens und Dftens ftehe. Seriege umter den 
Brudervölkern durften nur noch vorübergehende Erjcheinun- 
gen fein; ein permanenter Kriegszuſtand zwifchen zwei Glie⸗ 
dern der großen Familie war im Grunde nicht mehr denk⸗ 
bar. Die Eoncilten waren zugleich Congreſſe ver Nationen. 
Ward ein heidnifches Volt chriftlich und begann es fein ge⸗ 
fettfchaftliches und ftaatliches Leben chriftlich zu geftalten, 
fo wurde fein Häuptling oder Herzog vom PBapfte zum Kö⸗ 
wig erhoben, von ber Sirche feterlich geweiht und gekrönt, 
und damit trat das Bolt als ebenbürtiges, vwollberechtigte® 
Glied in die chriftfiche Völferfamilie ein. - 

Dergeftalt war das Problem gelöft, und der Gedanke 
verwirklicht, ven Griechen und Römer für eben fo unfinnig 
als unmöglich erflärt hatten: eine Menge von Völkern durch 


die Gemeinfchaft Eines Glaubens und Eines Gottesdienſtes 
1 *® 


— 


4 


und durch bie Bande einer Alle umfaſſenden lirchlichen 
Organifation zu einem großen einheitlich geleiteten Ganzen 
zu verfnüpfen. Es war zu erwarten, daß ſtarke Reactionen 
einzelner Nationalitäten nicht ausbleiben würben. Jene 
lange und blutige Verfolgung, welche in Perfien unter ben 
Königen der Saſſaniden⸗Dynaſtie über die Chriſten ver- 
hängt wurbe, war eine foldhe Reaction. Man baßte und 
fürchtete pie fremde, unperfifche, aus dem Gebiete bes al« 
ten Grbfeinds, des NRömer-Neiches eingebrungene Religion, 
und wollte ihre Belenner als Menfchen, bie mit dem Per⸗ 
ſiſchen Nationalcult auch ven Berfiichen Patriotismus weg⸗ 
geworfen hätten, ausrotten. 

Der Donatiftifchen Spaltung mifchte ſich bald ein na- 
tionales Element bei. Diefe Losreifung von ber Kirche 
und ihrem Mittelpunkte zu Rom, bie fich in Norbafrifa voll⸗ 
zog, in ber ganzen übrigen chriftlichen Welt aber zurückge⸗ 
wiefen wurbe, war ein Auflobern bes Norbafrilanifchen 
Volksgeiſtes, ber fich eine eigene reine Landeskirche im Ge⸗ 
genfage gegen bie übrigen, angeblich unvein gewordenen und 
abgefallenen Kirchen einrichten wollte. In ähnlicher Weife 
warf fih bie Aeghptiſche Nationalität in ben großen chriſto⸗ 
Iogifhen Kämpfen feit vem fünften Jahrhundert der mono» 
phnfitifchen Lehre in die Arme, und brachte es zu einer eignen 
national-Toptifchen Kirche, die von ber Tatholifhen Welt 
völlig gefchieden blieb, und deren Trümmer, freilich in kläg⸗ 


6 


ticher Verlommenheit, noch heute fortbeftehen. In Armenteit 
erzeugten gleiche Urfachen gleiche Wirkungen. 

Später, feit dem zwölften Jahrhundert, vollzog ſich 
allmälig die Trennung und Ifolirung der Kirche des Byzan⸗ 
tinifchen Kaiſerreiches. Dort herrfchten zwei Gewalten, 
venen bie Verbindung mit der Gefammtlicche und mit Rom, 
und bie baburch bebingte Abhängigkeit und Beſchränkung 
gleich unbequem war: die faiferliche und bie der Patriarchen 
von Konftantinopel ’). Die lehtere ftrehte, ihre geiftliche 
Macht über alle Bewohner des Neiches bis zur abfoluten 
Alleinherrſchaft zu erweitern. Die Kaifer aber wollten ihrer- 
feitS die Kirche und vor Allem den Patriarchen felbft als 
ein politifch brauchbares Werkzeug zu freier Verfügung in 
igren Händen haben. Unter folchen Zuftänven entwickelte 
fh der Byzantinismus, das heißt jener national⸗poli⸗ 
tifche Geift des Griechifchen Kaiſerreichs, deſſen beide Fak⸗ 
toren der Abfolutismus der Kaifermacht über Staat nnd 
Kirche nnd der Dünkel, die hoffärtige Selbftüberhebung bes 
Bolkes, waren. Die Bhzantiner betrachteten ihre Kaiſer 
als die Nachfolger ver alten Römifchen Imperatoren. Ieber 


?) Die gewöhnliche Anficht, wonach Photius und Cerulerius bie 
Urheber ber Trennung waren, ift doch nicht ganz richtig; noch 
im zwölften Jahrhundert fand vielfach Gemeinſchaft bes Gottes⸗ 
bienftes zwiſchen Griechen und Lateinern ftatt; fo im I. 1147, 
ale König Ludwig VII. von Frankreich nach Konflantinopellam. 





6 


war ein neuer Konftautin, berechtigt zu berrfchen über Oft 
und Weft, fowelt nur die Grenzen des alten Imperium ſich 
erftredten. Die Grundung bes abendlänbifchen Kaiferthums, 
bie Ablöfung Staliens, die Selbftftänbigteit der Päpfte, 
welche fernerhin weder Unterthanen des Kaifers zu Konſtan⸗ 
tinopel fein wollten, noch fein konnten — alle dieſe Dinge 
waren in ben Augen ber Griechen Auflehnungen, Uſurpa⸗ 
tionen, Attentate gegen die älumenifche Macht des von Gott 
zum Haupt der ganzen Chriftenbeit beftellten Kaiſerthums. 
Das Volt aber hatte, wie man ihm fagte, mit ver Sprade 
auch die Erbfchaft ver claffiich-griechifchen Literatur und Bil⸗ 
bung überkommen; vornehm und felbitgefällig blickte es auf 
alle Nichtgriechen als Barbaren herab. 

In der vollftändigen Beherrſchung der Kirche ihres 
Reiches giengen die Kaifer, befonders feit ver Erhebung ber 
Kommenen » Dynaftie, noch weiter, als es fpäter die Aufft- 
fen Czaren taten. Gerne ließen fie es geſchehen, baß ber 
Batriarch faft ſchrankenlos über Biſchöfe und Geiftliche ge⸗ 
bot; aber fie ernannten ihn und fetten ihn nach Gutbänlen 
ab. Jeder Kaifer war ein geborner Theologe‘), er ftanb 
über den Kanonen ber Kirche wie über ben Staatsgefeken"). 


1) So fagt ber Geſchichtoſchreiber Cinnamus p. 521. Die Natur 
Sottes erforichen zu wollen, fei Niemanden geftattet, als bem 
Doktoren, ben Biſchofen und ben Kaifern. 

!) Balsamon ap. Bevereg. Cod. Canon, I, 888. 


7 


Durch ihre Salbung und kaiſerliche Würde Hatten fie, wie 
IJſaal Ungelus (reg. ſeit 1185') exflärte, auch das 
Borfteheramt in Sachen ver Tirchlichen Lehre und Disciplin 
überfommen. Kurz fie waren, mit Ausnahme der Salra- 
menten-Spenbung, im Beſitz glier kirchlichen Amts⸗ und 
Regierungsrechte, und das neue Byzantiniſche Staats⸗ und 
Hofticchenrecht Hatte das Alles in fchulgerechte Theorie 
gebracht. *) 

Gegenüber dem regen Leben, ber jugenvlichen Friſche 
und erpanfiven Kraft des Dcciventes zeigte der Byzantinis⸗ 
mus jene altersſchwache Unbeweglichkeit und hochmüthige 
Erflarrung, die nichts mehr zu lernen fählg, ebenfo fteril 
als ohnmächtig zur Verbeſſerung der verrotteten inneren 


3) Kowos ı@y Exxinowy drtotnuovagxns zul ov xal 090- 
nualousvos, jagt Demetrine Ehomaterne ap. Leunolav. 
jur. gr. rom p. 817. 

2) Sinzelne Männer fühlten e8 wohl, welches Unheil durch biejes 
kaiſerliche Papſtthum über bie Kirche gekommen fei, aber es 
feinen ihrer nur Wenige geweien zu fein. Das Stärkſte, 
was mir aufgeftoffen, ift bie Aeußerung bes Erzbifchofes Simeon 
von Theſſalonika (ap. Morin. de ordin. p. 138, ed 
Amstelod.), ber die Verkehrung ber kirchlichen Ordnung durch 
die Anmaßungen und Eingriffe der weltlichen Macht als bie 
Urfache des Berfalle des Reiches umb ber Nation darſtellt. 
„Darum, jagt er, find wir vor allen Völkern ohnmächtig und 
verachtet geworben, Darum höhnen uns unjere Feinde und ber- 
zehren unfere Saaten vor unferen Augen unb befiten unſere 
Heiligthumer unb geweihten Stätten“ u. f. w. 





8 


Zuftände war. Wie ein entibronter Herrſcher ober ein 
feines Beſitzes beraubter Eigenthümer blidte er auf Rom 
und das unrubige. Zreiben der lateinifchen, Halb oder 
ganz barbarifchen Welt. Das große Blutbad, welches 
im Jahre 1182 die zahlreichen .Lateiner in ber Hauptſtadt 
vertilgte, war ein Ausbruch des nationalen Haffes, der dann 
unvertilgbar Wurzeln ſchlug, als biefelben Fremden mit 
Heeresmacht den Sriechifchen Thron umftürzten und das 
Iateinifche Kaifertbum in Conftantinopel aufrichteten. Im 
folher Stimmung und Lage wurden dann alle, auch die 
geringfügigften Differenzen in ber dogmatiſchen Ausdrucks⸗ 
weile, im Ritus und im kirchlichen Leben forgfältig hervor⸗ 
gefucht, wurben cultivirt und erweitert; es war förmlich 
eine Trage der Nationalehre geworben, die Lateiner der 
Kegerei befchuldigen zu innen, man erfand eigene rituelle 
Formen, um die Befleckung, weldhe vie Berührung ber 
Lateiner mit fich bringe, recht bandgreiflich auszudrücken, 
man ftellte felbft im täglichen Sprachgebraudhe Chriften 
(nämlich Bhzantiner) und Lateiner einander gegenüber; in 
der Hauptſtadt ſchwätzten felbft Die Weiber, die Tagelöhner 
und bie Schullnaben vom Ausgange des heiligen Geiſtes, 
denn um biefe abfteufe und nur dem geübteften Theologen 
einigermaßen faßliche Frage drehte fich zuletzt bie Contro⸗ 
verje zwifchen beiden Kirchen. ‘Da waren benn bie jpäteren 
Griechifchen Kaifer, durch die Noth Hüger geworben als ihre 


9 


Vorgänger, nicht mehr im Stande, ben Riß zu heilen. 
Sie unterlagen im ungfeichen Kampfe mit einem National- 
willen, der, in allem Uebrigen impotent, in biefem einen 
Pantte des Antilatinismus fih 36h und unbezwingbar er⸗ 
wies. Die Union von Florenz, ward wieber zerriffen; bie 
Sophienfirche mußte zur Mofchee werben. 

Selbft jene verberbliche Spaltung, welche gegen Ende 
des vierzehnten Jahrhunderts durch die Wahl eines Franzö⸗ 
ſiſchen Gegenpapftes die Kirche Über 40 Jahre lang zerrüt- 
tete, ging aus rein nationalen Intereffen hervor. Denn 
es handelte fich dabei im Grunde nur barum, ben päpftlichen 
Stuhl und die Curie im ausfchließlichen Beſitze der Fran⸗ 
zöfiichen Nation, auf Franzoͤſiſchem Boden und unter dem 
überwiegenden Einfluße ver bortigen Regierung zu erhalten. 
Und kaum war diefe Wunde geheilt, al8 in ber huffitifchen 
Bewegung wiener ein Anlauf zur nationalen Abjonberung 
and Bildung einer partitulären Volkskirche genommen wurbe; 
Ezechifche Antipathie gegen die Deutjchen batte von Anbe⸗ 
ginn an den größten Antheil an biefem Verſuch einer firch- 
lichen Reugeftaltung, die denn auch auf den Czechiſchen 
Bolksitamm befchräntt blieb. 

Als mit dem Auftreten Luther's jene gewaltige Be⸗ 
wegung begann, welche bie ganze, bisher vereinigte abend» 
länvifche Ehriftenheit fpaltete, ala nene Kirchen mit einer 
von ber alten, völlig abweichenden Lehre und Verfaſſung 


10 


fih bilveten, da war es im erften Anfange nicht ber Trieb 
und das Sonberinterefie der Nationalität, was die Refor⸗ 
mation und bie Anflehnung gegen Bapft und Kirche erzeugte 
und förderte. Das Deutiche Volt hatte eine Neihe vom 
Jahrhunderten hindurch ſich tief und mit vollftänpiger 
Hingabe in den Geiſt der Tatholifchen Religion verſenkt, 
es hatte feine Kirche zu der reichſt ausgeftatteten der 
ganzen Welt gemacht; es hatte fich eine ganz dem Deutfchen 
Geifte entjproffene und doch rein Tatholifche Literatur ges 
fchaffen. Aber im Beginne des fechzehnten Jahrhunderts 
Batte ein tiefer Unwille über das damalige Papſtthum und 
eine nicht ungerechte Entrüftung über die Mißbräuche In 
ber Kirche und bie fittliche Verfuntenheit eines viel zu zahl⸗ 
reichen, viel zu reichen Klerus weit in Dentſchland um fidh 
gegriffen. Das Nationalgefühl des Deutfchen Volles war 
fhon feit geraumer Zeit verlegt durch vie Behandlung, 
weiche Deutſche Perfonen, Dinge und Intereffen in Rom 
erfuhren, und durch vie Rolle, welche Deutjche Könige und 
Raifer jeit dem vierzgehnten Jahrhundert dem Römifchen Stuble 
gegenüber fpielten. Dieſer Geſinnung bot fich der gewaltigfte 
Volksmann, der populärfte Charakter, ven Deutfchland je | 
befeffen, der Auguftinermönd von Wittenberg als Führer 
und berebter Sprecher dar. Zugleich Hatte er in ber vom 
ihm geichaffenen Lehre von der Rechtfertigung einen Hebel 
von wunderbarer Stärke gefunben, mitteld deſſen er bie 


11 


noch immer große Anhänglichfeit des Volles an bie katho⸗ 
fifche Religion zu zerftören und ihm einen freubig unb be 
gierig ergriffeuen Erfah fir das Verlorene zu reichen ver⸗ 
mochte. 

Dabei bat es aber Luther fehr wohl verftanven, das 
Deutfche Nationalgefühl und eine, damals in ftärlerem Maße 
vorhandne Abneigung gegen bie Italieniſche Nation in ben 
Dienft feiner Sache zu ziehen. Das zeigen feine zahlreichen 
Aenkerungen über die „Wahlen“ mie er bie Sytaliener zu 
sennen pflegt. Es ift Yaum ein Lafter, das er ihmen nicht 
nachfagt, und gerne verweilt er bei ihrem angeblichen Hoch⸗ 
muth und ihrer Verachtung ber Deutfchen,, vie in ihren 
Augen nicht einmal Menfchen find.') 

Die nun die Trennung vollzogen, das neue Kirchenwe⸗ 
fen befeftigt war, bie gewaltige Bewegung in Deutſchland 
zu einem Stillſtand und Abſchluß gelommen war, ba fand 
fich, daß es denn doch nur die Hälfte Deutſchlands wer, 
welche der Intherifchen Lehre fich ergeben hatte. Die andere 
Hälfte blieb, ober wurbe wieber fatbolifh. Der proteitan- 
tifche Theil fpaltete fich wieber, indem ver Calvinismus in 
einigen bisher Iutherifchen Gebieten eingeführt wurde. Im 
Ganzen und Großen jeboch Blieben die Deutfchen, fe weit 


) Man vergl Luther’s Werke, Wald. Ausg. XIV, 278. XIX, 
1156. Xxil, 2366. 1, 1429 u. a. 


12 





pie Losfagung von der alten Kirche reichte, ber Iutberifchen 
Lehre zugetban, bie caloinifche war ihnen eine unbeutfche, 
ausländiſche und befriebigte nicht ihren religiäfen Sinn, 
währenb bie Iutberifche in ven zwei erjten Jahrhunderten 
feit ihrer Entftehung als das eigenfte Erzeugniß des Deut⸗ 
fhen Geiftes in religiöfen Dingen empfunden und umfaßt 
wurde, Außer Deutfchland waren es nur bie ſtammver⸗ 
wandten Scanbinavifchen Staaten, welche bie Intherifche Form 
des Proteftantismus bei fich einführten, während anbrerfeits 
die calvinifche Form großentheils nur dem von einzelnen 
Furften ausgeübten Zwange ihre Exiſtenz und Verbreitung 
auf Deutfchem Boden verdankte. 

Zu einer lutheriſchen Nationallirde kam es indeß in 
Deutfchland nicht. Einmal hatte man grundfäglich die ganze 
Kirchengewalt, wie fie in ber Yatholifchen Kirche vom Pri⸗ 
mat und Epifcopat ausgeübt wurbe, ven weltlichen Fürſten 
und (in ben Neichsftäbten) ben ftäbtiihen Behörden zuges 
wiefen, fo daß alfo fo viele für ſich ſtehende Kirchen, als 
Staaten und Landesgebiete fich Bilden mußten, “Jeder Fürft 
oder reichsunmittelbare Edelmann war nun Fapft und Bi 
ſchof in feinem Lande oder Ländchen. Er war im Grunde 
noch mehr: er konnte auch bie Religion feiner Unterthanen nach 
Gutdunken verändern, und die pfäßifchen Kurfürften haben bins» 
nen Einem Mienfchenalter viermal die Religion ihres Landes mit 
Zwang, mit Abfegungen und Berbannungen geändert. Dann 


13 


aber war im proteftantifchen Deutfchland unter dem Einflufle 
der lutheriſchen Lehre ver lirchliche Trieb fo abgefchwächt, 
bag in drei Yahrhunderten nicht einmal ein ernftlicher Ver 
fu zur Herftellung eines alle Zutheraner umfaſſenden kirch⸗ 
lichen Bandes und einer gemeinfchaftlichen kirchlichen Aktion 
gemacht wurde. 

Dan begnügte fih mit dem Bewußtfeln, im Allein- 
befige der reinen Lehre zu fein, worunter vor Allem bie 
augerechnete Gerechtigkeit und bie barauf gebaute unbebingte 
perfönliche Heilsgewißheit verftanden wurde. Dieſe bieß 
„sad Evangelium”. Im Vebrigen tröftete man fich über 
bie Hägliche Beichaffenheit, die Zerrifienbeit und territoriale 
Knechtſchaft des Kirchenweſens mit ber vorausgeſetzten Herr⸗ 
lichleit der unſichtbaren Kirche, bie Alles das in reicher 
Gülle und idealer Bolllommenheit befike, was ber ficht- 
baren abgebe. 

Im übrigen Europa hatte bie Iutherifche Lehre ent- 
ſchiedenes Mißgeſchick; fie wurbe zurückgewieſen, oder mußte 
ber calvinifch- veformirten Lehre weichen. Zwar fielen ihre 
die Sachfen in Siebenbürgen zu; nach Ungarn und Polen 
bahnten ihr Deutſche Stäptebemohner den Weg. Aber auch 
bier brachte fie es boch nur dazu, das DBelenntniß einer 
Heinen Minorität zu werben, und überall ſah fie fich von 
dem confequenteren und, was die Hauptſache war, noch 
tröftlicherem Calvinismus überflügelt und verbrängt. So 


14 


in den Niederlanden und in Frankreich. Es ift daher rich“ 
tig, wenn neuerlich gefagt wurde: „bie Lutheriſche Kirche 
ift fo durch und durch wefentlich vom Deutfchen Charakter 
bedingt und veranlaft, daß fie in einem andern Lande und 
unter anders geftalteten Volksverhältnißen gar nie exiſtiren 
könnte. Die Schotten z. B. werben nie Lutheraner werben, 
fo lange fie Schotten find“). Nah Schaff's Bemerkung 
verliert das Lutherthum mehr oder weniger von feinen ur⸗ 
fprünglichen Zügen und affimilirt fi unvermerlt der refor⸗ 
mirten GSonfeffion, fobald es durch Emigration auf Franz 
ſiſchen, Englifchen, oder Amerilanifchen Boden verpflanzt 
wird. Man febe vieß, fügte er bei, recht beutlich in ben 
Vereinigten Staaten, wenn man ben anglificirten Theil der 
Iutherifchen Denomination mit den ansländifchen Deutfchen 
Synoden von Miffurt und Buffalo vergleiche, *) 

Calvin tft ebenfo entfchieven der Schöpfer des foge- 
nannten reformirten Lehrbegriffes, als Luther der Ur⸗ 
beber des nach ihm genannten ift. Nur hatte Calvin Zwingli 
zum Vorläufer, während Luther an Niemanden anlnüpfte, 
Niemanden etwas verbanfte. Calvin vermochte aber in 
feinem Vaterlande, Frankreich, bie Erfolge und demnach 
auch die hohe Stellung nicht zu erringen, welche dem Deut⸗ 


1) Allgemeine Kirchenzeitung vom 15. Mai 1855. 
?) Germany; its Universities, Theology and Religion. Edin- 
burgh 1857, p. 168. 


15 


ſchen Reformator in ber Helmat zuflel. Die große Mehr⸗ 
zabl feiner Lanpslente bebarrte babei, in ihm nur ben 
Etifter einer Irrlehre und falfchen Kirche zu fehen. Den 
übrigen Nationen aber, welche in ihrer Geſammtheit oder 
theilweife feinem Syſteme ſich unterwarfen, blieb er doch 
immer ein Auslaͤnder, und das Nationalgefähl ließ es nicht 
zu, daß die Landeslirche fich fchon durch ihren Namen als 
das Wert eines Fremden befannte. Man wollte daher nur 
von einer reformirten Kirche wifjen, während ver Deutſche 
Broteftaut, in dem Bewußtſein, daß Luther Fleiſch von 
feinem Fleiſch und Bein von feinem Bein, daß er ber au« 
tochthone Prophet der Germanen fei, fich mit Befriedigung 
einen Lutheraner und feine Kirche bie Iutherifche nannte. 
Im Ganzen brachte es die calvinifche Kirchenform, ba 
fie von Haus aus nicht das Gepräge einer beftimmten Na- 
tionalität trug, zu einer größeren Verbreitung, als die lu⸗ 
therifche. Schottland wurde ber großen Mehrbeit feiner 
Bewohner nach calvinifch; in den Nieberlanden und in der 
Schweiz war es bie größere Hälfte ver Bevölkerung, welche 
den Proteftantismus in biefer Lebrform annahm. Sm 
Deutfchland gewann der Calvinismus in ver Pfalz, in Ans 
halt, Helfen, Bremen, endlich auch in den Brandenburgifchen 
Ländern (feit dem Uebertritte Sigismunds 1614) Cingang. 
In Ungarn wurben bie Magyaren, foweit fie von ver alten 
Kirche fih abwandten, größtentheils calviniſch. In Frank 


16 


reich war, bis zur Einverleibung des Elſaſſes, calviniſch und 
_ proteftantifch gleichbebentenb. Die Kirchen diefes Belenntnifſes 
blieben jeboch nach- Ländern von einander getrennt, in ber 
Schweiz felbft nach Eantonen. Nur einmal fand ein Zuſam⸗ 
menwirlen und eine große Repräfentation aller over ver meiften 
auf Grund der caloinifchen Lehre erbauten Genoſſenſchaften ftatt. 
Das war auf der Dorbrechter Synode im Jahre 1618, als 
es galt, den Ächten Galvinismus in feinen praftifchen und 
ben Maſſen erwünfchteften Lehrbeftimmungen gegen vie 
Alterationen der Arminianer zu fehirmen und zu bejtätigen. 
Dieß war zugleich der Höhepunkt ber calvinifch -Tirchlichen 
Entwicklung. Bon da an begann bie innere bogmatifche 
und kirchliche Zerſetzung. 

Als dritte Hauptform des Proteſtantismus und mit 
völlig nationaler Färbung und Abſchließung geſtaltete ſich 
bie biſchöfliche Staatskirche in England. Ganz ver⸗ 
ſchieden vom Lutherthume, im Dogma anfänglich überwie⸗ 
gend calvinifch, in der Verfaffung ein Gemifch Tatholifcher 
und proteftantifch » territorialiftifcher ober cäfaropapiftifcher 


Prinzipien und Einrichtungen, in ihrer Liturgie mehr Tathor 


liſch, in ihrer Belenntnißfchrift, ven 39 Artikeln, mehr pro⸗ 
teftantifch, litt fie an inneren Widerfprüchen, glich fie einem 
aus fehr heterogenen Stoffen errichteten Gebäude und konnte 
fie nur durch die ftarfe Hand des Staates vor bem Aus⸗ 
einanberfallen bewahrt werben. Der Kampf mit ven calvi- 


nifchen nach völliger Herrfchaft ringenden Elementen: wurbe 
eine Zeit lang in ihrem Schooße gejtritten, führte aber allınd- 
lig zur Ansfcheivung ber Puritaner umb zu bem großen 
Dürger- und Religionsfrieg des 17. Jahrhunderts. Zuletzt 
gaben fich die folgerichtig proteftantifchen Parteien, Presbp- 
terianer, Congregationaliſten, Baptiften, ihre eigne Verfaffung, 
ſtellten fich als felbfiftändige Kirchen ver Staatslirche gegen- 
über; dieſe aber fchloß fich gegen alle proteftantifchen Ge⸗ 
noflenfchaften des Eontinents, wie Englands vergeftalt ab, 
daß ein orbinirter Intherifcher oder veformirter Prediger in 
England nur als Laie galt und gilt, und berfelbe, um in 
den Dienft ver anglilanifchen Kirche zu treten, fich einer 
nochmaligen bifchöflichen Ordination unterziehen mußte. 

Veberfchaute man nım nach Ablauf des Reformations⸗ 
Jahrhunderts das Ergebniß der großen Beweguug und ven 
Stand der nengebilbeten religtöfen Genoffenfchaften, fo zeigte fich 
überall das fiegreiche Princip ber nationalen Sonderfirchen. 
„Princip“ ift wohl nicht der richtige Ausprud ; denn man führte 
feineswegs planmäßig biefen Zuftand herbei, er machte fich 
vielmehr von felbit, er war bie ımvermeibliche Yolge bavon, 
daß das entgegengefette Princip, das ber Katholicität, ver 
Weltkirche, allerdings mit vollem Bewußtfein aufgegeben 
worben war. An die weltliche Macht, an die Hürften und 
ihre Beamten war in ben proteftantifchen Ländern bie Fülle 
ver Kirchengewalt, die Herrfchaft in religtöfen Dingen ge⸗ 

v. Döllinger, Papfſtthum. 


18 


tonmen, bie Reformatoren felbft Hatten es fo gewollt‘), und 
bamit mußte jede religiöfe Verknüpfung der Völler aufhören. 
In Deutfchland gab es fo viele proteftantifche Kirchen als 
Territorien; in jedem war ber Lanbeöherr vie höchfte kirch⸗ 
liche Gewalt. Wollte man von einer deutſchen lutherifchen 
Kirche oder von einer enangelifchen Kicche reden, fo entſprach 
biefer Bezeichnung in ber Wirklichkeit nur ein ‚Aggregat von 
Lonbeslirchen, deren jebe durch die Grenzen ihres Landes 
begrenzt war, und bie in feiner Beziehung ein lebendiges 
Ganzes, eine organifch verbundene Einheit darſtellten. In 
gleicher Weiſe gab und gibt es in ber reformirten Schweiz 
nur Gantonslicchen. Es ift aber, wie ein proteftauttifcher 


Dieß wirb jeht häufig in Abrede geſtellt; aber man vergleiche 
bo nur bie Wittenberger Konfiftorial- Orbnung vom Jahre 
1542, in Richter's Sammlung ber Kirchen - Orbnungen S. 
371, bie doch felbftrebenb von Luther und Melanchthon ent- 


weber verfaßt ober genehmigt iſt. Darüber fagt Profeffor - 


Schenkel: „Auf biefe Weife warb mit Einem Federzuge 
bie fo wichtige Kirchen» Discipfin in bie alleinige Hand bes 
Staatsoberhauptes, und zwar fo ganz ohne allen Vorbehalt ber 


firchlichen Rechte, gelegt, ba Angelegenheiten bes Ge. 


wiffene von nun an ganz gleich wie weltliche Gegenſtände 
behandelt ımb ganz in ber Form weltliher Proceburen abge» 
macht werben follten. Die Unterorbnung der Kirche unter ben 
Staat war damit vollendet, und einer ſchrankenloſen Gewiflens- 
Tyrannei von Seite des Gtaates Thür unb Thor geöffnet.“ 
Studien und Kritifen, 1850, ©. 459. 


19 


Theologe richtig bemerkt, unwahr und ſinnverwirrend, von 
Einheit zu fprechen, wo biefelbe immer nur etwas Gefuch- 
tes, in Gedanken Vorhandenes tft, ımb wo man nichts 
aufzeigen Tann, worin fi) die angegebene Einheit als eine 
aumerifche barftell. Einheit und Aehnlichkeit ober Ver⸗ 
wanbtfchaft find verfchiedene Begriffe‘). 

Gewiß find die Nationalitäten nicht Erzeugniffe bes 
Zufalls, nicht Ausgeburten einer blind waltenden Naturkraft. 
Bielmehr hat in dem großen Weltplan ver göttlichen Vor⸗ 
ſehung jedes Volk eine elgne Aufgabe zu löſen, ‚eine Mile 
fion zu erfüllen, vie es allerdings auch verfennen und in 
verlehrter Weiſe hinausführen, ober in Trägheit und mo⸗ 
raliichem Siechthum verkommend unerfüllt laſſen kann, wor 
von und Beiſpiele vor Augen liegen. Dieſe Aufgabe ift 
bedingt durch den Charakter nes Volkes, durch die Schranfen, 
bie Natur und Umgebung ihm fegen, durch feine eigenthüm- 
liche Begabung. Die Art, wie dad Bolt fich der Röfung 
berjelben unterzieht, wirkt wieder zurüd auf feine Stellung 
und feinen Charakter, beſtimmt fein Wohlergehen, ent- 
fcheidet über feinen Pla in ber Gefchichte. Denn jedes 
Bolt ift ein organiſch verbundenes Glied am großen Leibe 
ber Menſchheit, ein edleres und vornehmeres Glied, viel» 
leiht beftimmt, Lenter und Erzieher oder Lehrer andrer 
Völker zu werben, ober ein geringeres, dienendes Glied. 


1) Ledhler, Lehre vom heiligen Amte. 1857. ©. 139. 
9% 


20 


Jede Nationalität aber hat ein urfprüngliches Recht, fich, 
innerhalb leicht erfennbarer Schranken, ohne Beeinträch⸗ 
tigung anderer gleichherechtigten, geltend zu machen und 
frei fich zu entfalten. Die Unterbrüdung einer Nationalität 
überhaupt oder in ihren einzelnen natürlichen und legitimen 
Lebensäußerungen iſt ein Frevel gegen eine von Gott ge- 
wollte Ordnung, ver früher ober fpäter fich rächt. 

Höher jedoch als die Vollsgenoſſenſchaft fteht jene Ge⸗ 
meinfchaft, welche vie Vielheit der Völker zu einer gottge- 
weihten Einheit zu verfnäpfen, fie in ein brüberliches Ver⸗ 
haältniß zu einander zu feßen, alfo eine große Völferfamilte 
zu fchaffen berufen tft: bie Kirche Chrifti. Es ift der Wille 
ihres Stifters, daß fie jeder Volklsthümlichkeit gerecht werde: 
Ein Hirt und Eine Heerde. Ste felber darf daͤher in 
ihren Anſchauungen, Einrichtungen und Sitten feine na⸗ 
tionale Farbe tragen; fle darf weder vorwiegend beutfch, 
noch italieniſch, weder franzöftfceh noch engliſch fein, ober 
einer dieſer Nationen einen Vorzug einräumen, noch 
weniger anvern Völkern das Gepräge einer fremben Natio- 
nalität aufprüden wollen. Nie wird es ihr beilommen, 
ein Volt zum Vortheil eines andern ausbenten ober be= 
ſchädigen, in feinen Rechten und Eigenthümlichleiten ver⸗ 
Tegen zu wollen. Ste nimmt das Volksthümliche, wie fie 
e8 findet, und verleiht ihm vie Höhere Weihe. Sie ift 
weit entfernt, alle Nationalitäten in ihrem Schooße unter 





21 


das Joch einer monotonen Gfeichfärmigfeit beugen, bie 
Unterſchiede ber Racen, bes gejchichtlichen Lebensganges, 
vernichten zn wollen. Als die fefteite und zugleich bie bieg⸗ 
fomfte und gefchmeidigfte aller Inſtitutionen vermag fie 
Alen Alles zu werben, und jede Nation zu erziehen, obne 
ihrer Natur Gewalt anzuthun. Die Kirche geht in jebe 
Nationalität ein, läutert fie, befeftigt fie bapurch, und übers 
windet ſie nur, indem fie dieſelbe fich affimilirt. Ste über- 
windet fie, indem fie bie Auswüchſe des Volkscharakters bes 
kaͤmpft, die Verwilderung der nationalen Züge abwehrt. 
Sie ift wie das Haus des Baters, in welchen es nach bem 
Worte Chrifti viele Wohnungen gibt. Der Pole und ber 
Sicilianer, ver Irländer und der Maronit, fie haben dem 
Nationalcharalter nach nichts mit einander gemein, und doc) 
ift jedes dieſer Völker in feiner Weiſe gut katholiſch. Gibt 
es indeß DVöller oder Stämme, bie fo tief geſunken, fo 
gründlich verborben find, daß bie Kirche mit allen ihren 
Mitteln nichts mehr an ihnen auszurichten vermag, fo wer- 
den dieſe allmälig ausfterben und andern Plab machen. 
Der Gewinn ift aber ein wechjelfeitiger: mit jebem nen 
in den Kreis der Kirche eintretenden lebensfräftigen Wolfe 
wirb die Kirche nicht blos numerifch, räumlich und äußer⸗ 
lich, fondern auch innerlich und dynamiſch bereichert. Je⸗ 
bes einigermaßen begabte Volk fügt allmälig feinen Beitrag 
an religiöfen Erfahrungen, an eigenthämlichen Tirchlichen 


Sebräuchen und Einrichtungen, an Verftändniß ber chrift- 
lichen Lehre und Ausprägung berfelben im Leben und in ver Wif- 
fenfchaft zu dem großen Tirchlichen Kapitale, dem Produkte 
früherer Zelten und Nationalitäten Hinzu. Jedes tatholifche Volt 
fann von dem andern lernen, kann nachahmenswerthe Ein- 
richtungen fremder Nationen fich aneignen. Das iſt, und 
meift mit fichtbarem Segen, oft ſchon und auch in jüngfter Zeit 
geichehen, und wird künftig bei dem rafch zunehmenden 
Vöolkerverkehr und ver fteigenden wechfelfeitigen Kenntniß 
in noch höherem Grabe gejchehen als bisher. Auch. längft 
untergegangene Bevöllerungen üben in viefem Sinne einen 
fortdauernd wohlthätigen Einfluß aus. Noch jett empfindet 
bie Kirche dankbar die Nachwirkungen ver altafrikanijchen, 
der ägyptiſchen Kirche ber erften Jahrhunderte. 

Hienach läßt fi der Gang, welchen vie Gefchichte 
des Chriftenthums von Anbeginn bis auf den heutigen Tag 
gewandelt ift, ermeffen. 

Mit dem erften Hervortreten ber chriftlichen Kirche aus 
bem mütterlichen Schooße ber jüdiſchen entwidelt ſich auch 
fofort als Grundgeſetz des Tirchlichen Lebens das Princip 
ver Katholicität, der Weltreligion, ver Weltlirche, vie für 
alle Völfer Luft und Ram, Gefek und Freiheit hat, alle 
beruft, alle, die dem Rufe folgen, in fich aufnimmt. Diefes 
Princip ift aber ein wahrhaft übermenfchliches, es kann fich 
unter den Menfchen nur durch Saftitute, denen eine höhere Kraft 


und ein bleibenber Segen einwohnt, befaupten. Es wirb immer 
wieder bie gewaltigfien Gegenftrebungen beruntürlichen Menſch⸗ 
heit hervorrufen. Die centrifugalen Kräfte umb Xenbenzen 
erwachen in einzelnen Nationen; fie reißen ſich loe, fie. rich 
ten fich Tirchlich nach eigenem Bauriß und Gutbünfen ein, 
und erleben nun ihre beſondre Gefchichte, welche ihrerfeits 
bedingt ift burch die That ver anfänglichen Trennung, durch 
ven Charakter ver Nation, und durch die einmal angenommene 
Lehre. Die ſtirche aber wandelt ihre Bahn, bie Mehrzahl 
bleibt ihr treu, neue Glieder erfegen bie abgefallenen, unb 
fie nähert fi), wenn auch langſam, doch fiheren Schrittes, 
wenn auch mit großen Verluften, doch immer wieder anfegend 
und fortichreitend, ihrem Ziele: ver abfoluten Katholicität. 
Es ift noch in weiter Ferne, dieſes Ziel, fie wird es erft dann er⸗ 
reicht Haben, wenn fie in jevem heile ver Erde ihre Stätte hat, 
wenn das Wort Malach.1, 11 vollftänbig erfüllt fein wird. *) 

So einzig ift die Stellung der Tatholifchen Kirche in 
Vergangenheit ımb Gegenwart, daß Feine andere Religion 
oder religiöfe Genofjenfchaft ihr auch nur von Ferne ver⸗ 
gliden werben kann. Wohl gibt es außer ber latholiſchen 
noch zwei Religionen, bie, weil fie bie Gränzen eines Bolles 
ober Staates weit überfchritten haben, auf den Namen 


) „Bom Sonnenaufgang bis zum Untergang if mein Name 
groß nuter den Völlern unb aller Orten wird ein reines 
Speifeopfer meinem Ramen dargebracht.“ 


24 


Weitreligion Anfprnch machen Binnen. Das find bie Mu⸗ 
bammebanifche unb bie Buddhaiftiſche.) Der Islam jeboch, 
Abgefehen davon, daß er eigentlich nirgende bie organtfche 
Einheit und Glieberung einer Kirche aufzuweiſen vermag, 
tft Durch und durch gefpalten. Den Sunniten fteben bie 
Schiiten, vem Sunmitiſchen Hauptreich, dem Türkifchen, ſteht 
das Schiitifche Hauptreich, das Perfifche, feinplich entgegen. 
Der Buddhaismus, befchränkt auf pas Öftliche Aften, ift ei⸗ 
gentlich nur eine Religion von Geiftlichen, kennt nur Brüber- 
fohaften, keine Gemeinde, Tein organifches Verhältniß zwi⸗ 
ſchen Geiftlihen und Laien, keine kirchliche Gewalt, feine 
Eeremonien ber Aufnahme. 


) Man bezeichnet jett gewöhnlich die Bubbhaifttiche als bie zahl⸗ 
reichfte aller Religionen, und fpricht, indem man ganz China 
ale Buddhaiſtiſch rechnet, von 500 Millionen. Das iſt aber 
unrihtig. Die Bubbhaiftifche Religion iſt in China eigentlich 
nur gebufbet; einen Chineſen zu fragen, ob er Bubddhaiſtiſch 
ſei ober nit, wäre, wie Waßiliew (in ben Abhandlungen 
ber Petersburger Akademie XI. 356) fagt, lächerlich. Die 
brei Religionen, bie des Confucins, der Taoße und bes Buddha 
befteben dort nicht nur neben einander, fonbern fo daß fle im 
einander verfließen, und ber Chineſe gelegentlich fih an allen 
breien betheiligt Es Läßt ſich daher nur fagen, daß es in 
China viele Buddhaiſtiſche Bruderſchaften gibt, und daß ei 
großer Theil des Volles regelmäßig ober von Zeit zu Zeit 
einige Buddhaiſtiſche Gebräuche beobachtet. Dadurch wirb es 
beun aber unerläßlich, wenn man bie Religionen ber Menſch⸗ 
beit in Zahlen ihrer Bekenner mit einander vergleichen will, 
von ber Bubbhatfifchen ganz Umgang zu nehmen. 


m 0 


— — — — — | — — — — — — 


So iſt denn bie latholiſche Religion, welche mehr Be⸗ 
teımer zählt, als alle übrigen chriſtlichen Genoſſenſchaften 
zufammen genommen, nemlich gegen 200 Millionen , vie eiu⸗ 
zige Weltreligion im wahren Sinne und wie e8 früher nur 
eine einzige Weltfirche gegeben Hat, fo ift es auch jet 
noch und wirb wohl immerbar fo bleiben. 


2. Bas Papfithum. 

Daß eine Vollerkirche fih ohne einen Primat, eine 
oberfte einheitliche Spite nicht zu behaupten vermöchte, 
leuchtet wohl jedem ein, und pie Gefchichte hat es beiwiefen. 

Jedes Lebendige Ganze forbert einen Mittel» und Ei⸗ 
nigungspunft, ein Oberhaupt, welches die Theile zufammen- 
Bält. In ber Natur und Architeltonit ver Kirche tft es 
begränbet, daß biefer Mittelpunkt eine beftimmte Perjän- 
lichkeit, der gewählte Träger eines der Sache ober bem 
Bebürfniffe ver Kirche entiprechendeun Amtes fein muß. 

Wer erklärt: ich erfenne ven Papft nicht an, ich oder 
bie Kirche, ber ich angehöre, will für fich ftehen, ver PBapft 
ift für uns ein Fremder, feine Kirche tft nicht die unfrige — 
ber erflärt eben damit: wir fagen ung los von der allgemeinen 
Kirche, wir wollen kein Glied mehr an biefem Leibe fein. 

Oper wenn theologifch behauptet wird: es ſoll und darf 
überhaupt feinen Primat in der Kirche geben, pas Papft« 
Gum ift ein dem Willen Chrifti widerſprechendes Inftitut, 


96. 


ift Urfurpation, fo Heißt das nur. mit anderen Worten: 
die Eine allgemeine, bie Vielheit der Nationen umfaſſenbe 
Kirche ſoll nicht eriftiren, ſoll vielmehr auseinanderfallen; 
ber normale Zuſtand tft, daß es fo viele verfchlebene Kir⸗ 
chen gebe, als es Nationen oder Staaten gibt. Run kann 
aber ber Zuſtand einer in eine Menge von Volls⸗ ober 
Staatsfirchen zerfplitterten Kirche auch nicht einen Schatten 
von höherer Berechtigung, von biblifcher Begründung für 
fi in Anfpruch nehmen. Dean bat auch nicht einmal ben 
Verſuch gemacht, ihn theologifch als einen gottgewollten 
zu eriweifen. 

Es liegt in der Natur der Dinge, daß eine Staats⸗ 
firche in ihrer Iſolirung keine Ehrfurcht, eine Pietät mehr 
einflößt, daß fie als etwas blos Conventionelles erfcheint, 
von dem man, fobalb nur ver ſtaatliche Zwang wegfällt 
oder erlahmt, fich mit Leichtigleit und ohne Gewiſſensbe⸗ 
denken trennt. So wirkt denn das einmal fanktionirte 
Princip und Gefeg der kirchlichen Zerfplitterung fort, neue 
Kicchengenoffenfchaften entftehen, das Sektenweſen fteht in 
DBlüthe, bie Theologen aber ziehen fi, an dem Artilel des 
Slaubensbelenntniffes von der Einen allgemeinen Kirche 
verzweifelnd, auf eine Abftraction, ein Gedankending, bie 
fogenannte unfichtbare Kirche zurück. Da müffen danu 
wohlklingende Phraſen von einer „geheimen, heiligen Ge⸗ 
meinfchaft, einem ſtillen Geifterbunde” ben Abgrund ber 


— — — — 


27 


Kirchenlofigkeit verdecken.) Je zerriffener und troftlofer die 
wirkliche Geſtalt der Kirche tft, deſto poetifcher und ſchwung⸗ 


N) Solcher Bhrafen bebient fih Iufins Müller in bem merkwilr⸗ 
digen Anflag: die unſichtbare Kirche, in ber deutſchen Zeit 
ſchrift für chriſtl. Wiffenfchaft, 1850, ©. 14 fi. Es fält ihm 
natärlich Leicht, das Unhaltbare und Verkehrte in ben neueſten 
Bemühnngen der lutheriſchen Theologen, eine fichtbare auf bie 
Belenner der reinen Iutheriichen Lehre eingefchränkte Kirche zu 
gevinnen, aufzumweifen, zu zeigen, baß bie Reformation mit 
Gewalt aus der fihtbaren Kirche Hinansgeführt, und zur Auf- 
ſtellung des Begriffs ber unfichtbaren Kirche gebrängt babe. 
Wenn er nun aber biefen Begriff begründen foll, fo werben 
bem Lefer feierliche, aber hohle Rebensarten geboten. Es ifl 
„en ſtiller Geifterbund, der unabhängig von Raum unb Zeit, 
feiner ſelbſt gewiß auch ohne alle Bürgſchaft änßerlicher Ein- 
richtungen — als die fernen und doch nahen, als Die zerftren- 
ten unb doch gefammelten, als die unbelannten unb doch be⸗ 
kannten — buch die Mannigfaltigleit ber Tirchlichen Bekennt⸗ 
niffe und Berfaffungen binburchgebt, und überall, wo er 
ift, das Bewußtſein mit ſich führt, daß biefer Bund Überhaupt 
der höchſte ſei, der auf Erben gefchloffen werben kaun u. f. w. 
Alſo der „fille Geiſterbund“ ift wirklich anf Erben geſchloſſen, 
bat Bemwußtfein von fih u. f. fe Wann, wo iſt er benn ge- 
fchlofien worden? An welchem Zeichen Tann man die Genoffen 
des Bundes, und köonnen dieſe ſich umter einander erfennen? 
Nüchtern und proſaiſch ansgebrüdt würde die Sache etwa lau⸗ 
ten: es läßt fih annehmen, daß es im jeber ber verſchiebdenen 
chriſtlichen Gewofienfchaften einzelne wohlmeinende, Fromme, 
ernfllih um ihr Heil bemühte Seelen gebe, und von biefen 
hoffen wir, baß fie bei Gott Gnade finden werden. Da nun 
aber kein vernünftiger Menſch in dieſem Gebanfen einen Er- 


. 


U’ 


veicher läßt fich reben von ber Eintracht unb Liebe in jenen 
geheimnißvollen unfindbaren Regionen, wo bie unfichtbare 


fat finden wirb für bas Weltinfiitut ber Einen allgemeinen 
Kirche mit ihrer fehlen Lehre und ihren Heilmitteln, fo wirb 
ein Bund ber Geifter fingirt, und wie ber Stein, ben Rhea 
ihren: Gemahl flatt bes Kindes reichte, mit ben Winbeln ber 
Rhetorik umwickelt. Bei Jean Paul wirb einem ſchwediſchen 
Pfarrer im Winter der Rath gegeben, im Zimmer auf- und 
abgehend etwas Orangenzucker zu beißen, um bas ſchöne Welſch⸗ 
land mit feinen Gärten auf bie Zunge und vor alle Sinne 
zu belonmen. H. Müller räth ebenfo feinen Glaubensgenofien, 
ben „ſtillen Geifterbund“ in ben Mund zu nehmen, unb fidh 
babei bie Kirche zu denken. Daß bie fichtbare Kirche auch 
ihre unfichtbare Seite habe, daß gerabe das Beſte und Hei⸗ 
ligſte an ihr unfichibar fei, das verſteht fich freilich; aber es 
ift etwas ganz anderes, Seele und Leib ber Einen Kirche ane- 
einanber zu reifen, und als zwei Kirchen einander gegenüber 
zu ftellen, nur um fich in ben „ftillen Geiſterbund“ zurückziehen 
zu können, wenn man mit ber Einen allgemeinen Kirche zer⸗ 
fallen if, und bie unliebfame Entdeckung macht, baf ber ab⸗ 
geriffene Zweig eben nicht mehr zum Baume gehört und Mangel 
an Lebensfäften Leibe. Der Tcharfjinuige Richard Rothe bat 
e8 (Anfänge ber chriſtl. Kirche, ©. 100) offen herausgeſagt: 
„Eine unfichtbare Kirche iſt eine contradictio in adjecto. 
Mau kann für fie fohlechterbings keinen Inhalt auffinden, bem 
nicht einer von ben beiden Uebelſtänden brüdte: entweber, daß 
zu feiner Bezeichnung der fragliche Ausdruck ganz umpaffenb, 
ober daß er in ſich ſelbſt kein reeller if. Die Vorſtellung ift 
erſt gebilbet worben, weil man faltiſch ben Begriff ber Kirche 
in feiner vollendeten Entwicklung als Begriff ber katholiſchen 
Kirche aufgegeben hatte.” Daß bie ganze Theorie von ber une 


29 


Kirche zu Haufe fein foll. Zwar hat dieſer „ftille Geifter- 
bund⸗ weder Hand noch Fuß, er fpricht nicht und Hört 
nicht, e8 gibt da weder Lehre, noch Zucht, noch Verwaltung 
firdlicher Onabenmittel, alle viefe Dinge find freilich auch 
entbehrlich, da die Gelfter, deren keiner etwas bon bem 
andern weiß, ohnehin nicht aufeinander wirken können, wes 
der im Guten noch im Böfen. 


Bekanntlich hat man, um fich ber Unterorbnung unter bie 
päpftliche Autorität zu entfchlagen, ſchon in ber Reformations- 
zeit und neuerlich wieder die Phrafe gewählt: Wir, die wir 
uns getrennt haben, ertennen nur Chriftus alsihr Haupt unfrer 
Kirchen an. Damit wollte man offenbar fagen, ober man hat 
wenigftens in unabweisbarer Conſequenz gefagt: es foll und 
darf kein irbifches Amt, Leinen Dienft ber oberften Kirchenlei⸗ 
tung geben, ober: Niemand iſt berechtigt, Die gemeinfchaftlichen 
Angelegenheiten vieler zufammengehörigen und ein Ganzes 
bildenden Theilkirchen zu leiten. Für bie Leitung einzelner 


fitbaren Kirche eine für bie Genoffenihaft, welche bamit Ernft 
machen will, felbimörberiiche ſei, wirb jekt mehr unb mehr 
anerlannt. Go heißt es in ben Götting. Gel. Anzeigen, 1843, 
©. 224: „Mit ber Theorie von ber unfihtbaren Kirche if 
etwas wahrhaft Sectiveriiches in ben Proteflantismus einge 
Drungen, was fi) wie natürlih ale jelbfizerfiörenb aus 
gewiefen bat, unb nur dem Umſtande, daß fle nicht zur vollen 
und allgemeinen Anerlennung gelangt if, haben wir es zu 
verbanfen, baß ber Selbfizerftörung Grenzen gelebt find 1 


50 


Bemeinden over Lokallirchen, allenfalls auch für die Leitung 
einzeluer Tirchlichen Abtheilungen ſoll es Aemter und trbifche 
Träger verjelben geben, aber für die Leitung der Geſammt⸗ 
firhe darf kein Amt und Tein Träger deſſelben exiſtiren. 
Diefer Plak muß ſtets Ieer bleiben. Ein paſſendes Sym⸗ 
bol diefer Theorie, wonach das Haupt ver Kirche nur im 
Himmel fein, der Kirche nicht allzunahe kommen unb baburch 
unbequem werben barf, möchte etwa jener ftattliche Leere 
Seffel fein, der in ver prachtvollen altgothifchen Kathedrale 
zu Glasgow zur unausfprechlichen Ernüchterung des Beichauers 
unter einem großartigen Baldachin jet gerade an der Stelle 
fteht, wo ehemals der Hochaltar fich befand. So Hatten 
die Manichäer in ihrem Verfammlungsfaale ven ftetö Teer 
ſtehenden Lehrſtuhl, Bema, für ihren unfichtbaren Herrn 
und Meijter Hingeftelit, und die Gläubigen warfen fich vor 
ibm zur Erbe nieber. 

Sagt alfo eine Genoffenfhaft: nur Chriſtus ift uns 
das Haupt der Kirche, fo heißt pas mit andern Worten: 
bie Trennung und Iſolirung der Kirche ift Princip, ift ver 
normale Zuftand. Wenn man im gewöhnlichen Reben fagt: 
ich überlaffe das Gott, ber mag dafür forgen, fo heißt das 
befanntlich: ich kümmere mich nicht um biefe Sache, fie gebt 
mich nichts an. Wenn man, wie z. B. neueftens wieder 
bie Kirche des Königreichs Griechenland, fagt: Niemand ſoll 
Haupt unſrer Kirche fein, als Chriſtus allein, fo läuft 


3 


bieß aulegt auf vie Marime Hinaus: wir forgen nar für 
ums, und kümmern uns nicht um andere Slirchen, Chriftus 
mag zujehen, was er mit ihnen anfangen wil. So birgt fich 
Binter ber Masle einer fromm⸗klingenden Nebensart am 
Ende ver orbinärfte nationale Egoismus. 

Es ift eine abjchäßige Bahn, auf ber fich die Kirchen⸗ 
genoffenfchaften in dieſer Beziehung bewegt haben. Erſt 
hieß es bei ven Byzantinern: nur Patriarchen, deren jeber 
ein Stück ber Kirche regiert, erkennen wir an, aber feinen 
Papft, lein Hanpt ber Patriarchen. Dann kam’ die Engli- 
ſche Kirche und fagte: weder Papft noch Patriarchen, blos 
Biſchofe. Ihrerſeits erflärten die Proteftanten des Conti 
nents: auch keine Bifchöfe, blos Pfarrer und über ihnen 
ben Lanbesfürften. Später kamen bie neuen proteftantifchen 
Selten in England ımb anberwärts mit ber Erklärung: 
Pfarrer können wir nicht brauchen, nur Ranzelprebiger. End⸗ 
lich erſchienen die „Breunbe” (Duäler) und mehrere andere 
nee Genofjenfchaften und Hatten bie Entdeckung gemacht: 
auch die Prediger find vom Uebel; jeber fei fein eigener 
Prophet, Lehrer und Priefter. Einen Schritt noch welter 
Hinab zu tun, ift bis jet noch nicht gelungen; doch foll 
man in den Vereinigten Staaten bereits baran ftubieren. 

Treten wir indeß ber in ihrer Art fo einzigen, leiner 
andern vergleichbaren Inſtitution des Papſtthums etwas näher 
und werfen wir zuerft einen Blic auf ihre Gefchichte. Gleich 


32 


allem Lebendigen, gleich der Kirche felbft, beven Krone un 
Schlußſtein es iſt, hat das Papfitfum eine geſchichtliche Ente 
wicklung volf bermannigfaltigften und überrafchenpften Wechſel 
durchlaufen. Im dieſer feiner Geſchichte aber iſt das Geſetz, 
‚ba8 dem Leben ber Kirche überhaupt zu Grunde Iiegt, nicht 
zu verfennen, das Geſetz der ftetigen Entwidlung, bes Wachs 
ſens von nen heraus. Das Papfitfum mußte alle Ge⸗ 
ſchicke und Wendungen ber Kirche mit erleben, in jeben 
Bildungsproceß mit eingehen. Seine Geburt beginnt mit 
zwei mächtigen, inhaltsſchweren und weittragenden Worten 
bes Herrn. Der, an ben dieſe Worte gerichtet find, ver⸗ 
wirklicht fie in feiner Perſon und Thaätigkeit und verpflanzt 
das Inftitut in den Mittelpunkt der eben werbenven Kirche, 
nad Rom. Hier wächft es in der Stille, occulto velut arbor 
aevo, nur in einzelnen Zügen tritt e& in ber Alteften Zeit 
hervor, aber immer beutlicher und beftimmter werben bie 
Umriffe der Gewalt und firchlicden Thätigleit des Roͤmi⸗ 
fchen Biſchofs. Die Päpfte find fchon in ber Zeit des 
Nömifchen Neiches die Wächter der ganzen Kirche, welche 
nach allen Seiten bin mahnen und warnen, verfügen un 
richten, binden und entbinden. Man beklagt fich nicht fel« 
ten über den Gebrauch, ven fie in einzelnen Zällen von 
ihrer Gewalt machen; man wiberfteht, weil man den Papft 
für getäufcht hält, man appellirt an den beffer zu Unter- 
richtenven, aber man taftet ihre Befugniß nicht an. Ueber» 





Haupt aber war das Eingreifen in bie kirchlichen Angeles 
genheiten weniger nöthig, brauchten bie Zügel kirchlicher 
Leitung weniger firaff angezogen zu werben, fo lange bie ge⸗ 
fommte Kirche mit wenigen Ausnahmen fich innerhalb 
ber Grenzen des Römifchen Reiches befand, und durch bie 
karten Bande biefer Staatsorbnung ſo zufanunengefaßt 
md getragen wurde, daß es für eine Reaktion ver ohne⸗ 
hin durch bie Römer-Herrichaft gebrachenen und nieberges 
haltenen Nationalitäten im Ganzen genommen weder Ber» 
anlafjung noch Ausſicht auf beſonderen Erfolg gab. 

Aus dem Chaos der Böllerwanberung und ben Ruinen 
des NRömerreihe erhebt ſich allmälig eine neue Staaten» 
Ordnung, deren Mittelpunlt ver päpftlihe Stuhl wird. 
Damit ergibt ſich unvermeiblich eine neue, von ber früheren 
fehr verfchtebene Stellung deſſelben. Das neue chriftliche Kai⸗ 
fertgum des Occidents wirb durch bie Päpfte geſchaffen und 
erhalten. Der Papft wir mehr und mehr durch die Lage 
der Dinge, durch ben Willen der Völker und Fürften, durch 
die Gewalt ber öffentlihen Meinung dazu gebrängt, als 
oberfier Moderator an die Spike des Europäifchen Ges 
meinweſens zu treten, das chriftliche Völkerrecht zu ver⸗ 
fünben und zu beichirmen, internationale Streitigleiten zu 
Ichlichten, zwiſchen Bürften und Völkern zu vermitteln, 
Frieden unter den Friegführennen Staaten zu fliften. Die 


Surie wird ein großes geiftlich-weltliches Tribural Kurz: 
v. Döllinger, Payſttihum. 


54 


die ganze Abendlaͤndiſche Ehriftenbeit bildet in gewiſſem Sinne 
ein Reich, an deflen Spike Bapft und Kaiſer ſtehen, jener 
jedoch mit fortwährenn ftelgenven, weit überw iegendem An⸗ 
fehen. Das Streben ver Hohenftauflichen Kaiſer, Stalien 
und mit Italien auch ven päpftlichen Stuhl zu unterjochen, 
führt zu einem langen Kampfe, aus welchen beide Gewal- 
ten, die Taiferliche und bie päpftliche gefchwächt und ver⸗ 
wunbet bervorgehen, denn auch die Lage des Papſt⸗ 
thums war feitben in politiſcher Beziehung fchwieriger 
und ungünftiger geworben. Das Papſtthum ſah fich 
genöthigt, fih mehr und mehr auf Frankreich zu flüßen, 
es gieng, als die hochjliegenden Plane Bonifacius VIII. 
jerronnen waren, völlig in franzdfifche Hände, auf franzd- 
fiiden Boden über, und bamit war ſchon eine Geg enftrebung 
der andern Nationen unvermeidlich gegeben, pie hohe Stel- 
lung über den Bölkern und Fürften konnte mit Erfolg nicht 
länger behauptet werben. Xiefer noch ſank tie Autorität 
des päpftlichen Stuhles durch das Franzöfifch » Italienifche 
Schisma. Dann kamen bie reformatorifchen, großentbeils 
gegen den Drud der Curie gerichteten Beftrebungen ber 
Eoncilien im 15. Jahrhundert; fpäter wurben die Päpfte 
in die Irrgänge ber Stalienifchen Politik verwidelt. Die 
frühere focialspolitifche, univerfale Machtftellung führte, 
wenn fie geltend gemacht werben follte, zu Bebrängniffen 
und Niederlagen. Ste zerbrach vollends in ben Stürmen 


35 


des Reformationszeitalters. Von da an erbielt ganz Eur 
topa eine neue Geſtalt. Mächtige, innerlich fich feft zur. 
ſanmenſchließende Stantölörper, ein eignes Intezeffe, eine 
beftimmte Politik verfolgend, traten in. den VBorbergrund:; 
Ein neues. Bleichgewichtefuften bildete fich unter ſchweren 
Kämpfen aus, und ber päpftlicde Stuhl Ionnte in biefem 
Gewirre blos politiicher Intereffen und ver bald verbün⸗ 
deten, bald feinblich ſich abſtoßenden proteflantifchen und 
katholiſchen Staaten nicht länger der Regulator des Euros 
päifchen Gemeinweſens, ver Mittelpuntt ber allgemeinen 
Politik fein. Die Paͤpſte zogen fich alfo immer mehr auf 
das rein kirchliche Gebiet zuräd. Sie Tonnten ven ueuen 
Principien gegenüber, welche durch den Proteftantisnns im 
das Europäifche Staats⸗ und Völkerrecht eingebrungen 
waren (Zerritorialfuften und ähnliches), fich nur ablehnend 
verhalten. So ift ed bis auf die neuefte Zeit geblieben. 
Auf kirchlichem Gebiet ift der päpftliche Stuhl gegenwärtig 
fo kräftig und ftark, fo ficher und frei walten, als er es 
nur jemals war. Die Gefahren und Bebrängniffe Itegen 
für ihn in ben weltlichen Dingen, in ber Lage Stalteng, 
dem Beſitze des Kirchenſtaats. 


Was ift nunin der Gegenwart bie eigentliche Funktion, 
der Beruf des Papſtthumes und warum ift ber ganze Bes 
ftand der Kirche auch jet noch und in Zukunft fo unauf- 

3% 


dB 


loelich an die Eriftenz und freie Handhabung der paͤpft⸗ 
Uchen Autorität gefnäpft? 

Die Tatholifche Kirche iſt der reichfte und mannigfal- 
tigfte Organismus. Ihre Aufgabe tft Leine geringere als 
bie Lehrerin und Bilbnerin ber Boller zu fein. So fehr 
ſie fih Hierin gehemmt fehen mag, fo befchränft das Gebiet 
fein mag, bad man ihr in dieſem ober jenem Staate übrig 
gelafien hat: bie Aufgabe bleibt Immer biefelbe unb bie 
Kicche bebarf dazu und befigt eine Fälle von Kräften, eine 
Dienge von verfchtebenartigen aber boch auf das gleiche Ziel 
gerichteten Einrichtungen, deren fie noch dazu immer neue 
erzeugt. Alle dieſe Kräfte, dieſe Inſtitutionen, dieſe geift- 
lichen Körperſchaften und Vereine erfordern eine oberſte, 
mit fefter und ſtarker Hand geführte Leitung, damit fie har⸗ 
monifch in einanbergreifen, bamit fie nicht ausarten, nicht 
ihrer Beſtimmung fich entfremben, nicht felbitmörberifch 
ihre Kräfte gegen einanber ober gegen bie Einheit und 
bas Gedeihen ver Kirche felbft kehren. Nur ver kirchliche 
Primat vermag dieſe Aufgabe zu erfüllen, nur pas Papftthum 
tft im Stande, jebes Glied in feiner Sphäre zu erhalten, 
jede etiva eingetretene Störung wieder auszugleichen. | 

Dazu lommt eine andere ebenfo wichtige als fchwierige 
Aufgabe, bie dem päpftlichen Stuhl zu Löfen obliegt. 

Dem Bapfte nämlich kommt es zu, der Staatsgewalt 
und den Fürften gegenüber bie Rechte ber einzelnen Theillirchen 





871 


zu vertreten unb zu wahren, zu wachen barüber, daß die 
Kirche nicht durch Verflechtung mit dem Staate in ihrem 
Befen alterirt ober verfämmert, in ihrer Kraft nicht gelähmt - 
werbe. Hier wirb neben ber Stimme und Altion ber zu 
nächft betheiligten Theilkixche die Dazwiſchenkunft ber ober» 
ſten Tirchlichen Autorität unentbehrlich. Indem diefe außer 
und über ven Gonflikten fteht, bie etiwa zwifchen ber betref« 
fenven Kirche und ber Staatsgewalt eingetreten, vermag nur 
fie in ihrer hoben unantaftbaren und ruhigen Stellung mıb 
im Befite ber reichften durch Jahrhunderte kirchlicher Re⸗ 
gierung gewonnenen Erfahrung bie Anſprüche beider Theile 
auf das richtige Maaß zurüdzuführen, und ber Schwäche 
bes einen Theils, der fonft unter ber Wucht ber mannig« 
faltigen, dem mobernen Staate fo reichlich zu Gebote ſteh⸗ 
enden Zwangs- und Verführungsmittel erliegen müßte, als 
Stüte und Rüdhalt zu dienen. 

Weiterhin ift es bie fchöne, erhabene aber * auch 
ſehr zarte und nur in Kraft einer erleuchteten Weisheit und 
umfaffenden Menfchenfenntniß zu erfüllende Miffion des 
päpftlihen Stuhles, den Eigenthümlichleiten und beſondern 
Anfprüden der einzelnen Nationen in der Kirche gerecht zu 
werven, ihre Bedürfniſſe zu verftehen, ihre Begehren auf 
das Maaß des Kathoktfchen und in bie durch die Einheit 
der Kirche geforverten Schranten zurädzuführen. 

Das Alles fegt num eine ftarfe, mit mannigfachen Mit 





40 


muß. Es geſchieht wohl, daß ſchwere Berwällungen, neue 
Situationen, für bie Kirche fich ergeben, für welche die be 
ſtehende lirchliche Orduung nicht ausreicht, im welchen eine 
fung nur gegeben werben Tann durch Ueberſchreitung ber 
fonft geltenden Satungen. Wenn es bie Noth erforbert, 
fagt Boffuet,, kann der Bapft Alles‘) — natürlich immer 
mit Ausschluß deſſen, was gättlicher Ordnung if. 

Das anffallenpfte Beiſpiel einer aufßerorbentlichen Au⸗ 
werbung ber böchften Kicchengewalt, weil das Wohl ver 
Rixche fie gebieterifch erheifchte, war wohl der Schritt, den 
Bins VIL beim Abfchluffe des franzöfifchen Concordats im 
Sabre 1801 that. Mit Einem Feberzuge (durch vie Bulle 
vom 29. November d. J.) entfekte er 37 franzdfifche Bi⸗ 
fchöfe, welche ihre Demiffion zu geben verweigert hatten, 
ihrer Würbe, hob alle bifchöflichen Kirchen mit ihren Kapi⸗ 
ten und Rechten für immer auf, und errichtete fofort zehn 
neue Metropolitanlicchen und fünfzig Bisthümer. Ein fo 
beifptellofes Verfahren, eine folche Vernichtung wohlbegrün« 
beter Rechte ließ ſich nur rechtfertigen burch bie äußerſte 
Noth, durch die Pflicht, eine neue Ordnung in ber tief zer 
rütteten franzöfifchen Kirche zu fchaffen. Pins felbft Kat 
fpäter gegen Dlänner, denen er fein Vertrauen fchenkte, ges 
äußert: Unter allen Greigniffen feines wechfelvollen Lebens 


*) Defens. declar. 2,20; Oeurres, t. 88, p. 354. 


41 


fet jener At, zu welchem er fich gezwungen geſehen, bas 
was ihm die größte Ueberwinpung geloftet, den tiefſten 
Schmerz ihm bereitet habe. Aber vie Nothwendigkelt ber’ 
von ihm ergriffenen Maßregel war fo einleuchtenn, daß 
außer einigen der dadurch Betroffenen jebermann in ber- 
Erche fein Verfahren billigte. 

Der Wahn, als ob der päpftliche Stuhl eine despotiſch 
willtürfiche Gewalt ſich beilege, und fie da ansübe, wo ihn 
Die Furcht nicht zurückhalte, ift fo allgemein verbreitet, be⸗ 
fonders in Deutfchland und England; es ift jo herkomm⸗ 
ich, das Schrankenlofe dieſer Macht, und die Schug- und 
Rechtloſigkeit, in welcher fich einzelne Kirchen und Perfonen 
ir gegenüber befänben, zu betonen, daß ich nicht umbin 
tann, mit entfcheidenden Zeugniffen biefem Irrthum entge 
genzutreten. Vernehmen wir barüber einen Papft felber, 
Pius VIL: „Der Papft,u heißt e8 in einer in feinem 
Ramen verfaßten anf Deutfchlanb bezäglichen Staatsfchrift '), 
„findet fchon in ber Natur und in ver Einrichtung ber 
Tatholifchen Kirche, deren Oberhaupt er ift, gewiſſe Grenzen, 
die er nicht überfchreiten darf, ohne fein Gewiſſen zu ver- 
rathen und jene höchfte Gewalt zu mißbrauchen, welche Jeſus 
Shriftus ihm übertragen bat, um fich berjelben zur Erbau⸗ 

) Esposizione dei Sentimenti di Sua Bantitä, in ber Schrift: 


Die neneften Grundlagen der beutich-Tatholifchen Kirchenver⸗ 
feffung Stutig. 1821, ©. 884. 


42 


ung, aber nicht zur Zerftörung feiner Kirche. zu bedienen. 
Unverlegbare Grenzen für das Oberhaupt ver Kirche find. 
die Dogmen des katholiſchen Glaubens, weldye ber römifche 
Biſchof weder direkt noch indirekt verlegen darf, und obſchon 
man in der katholiſchen Kirche immer den Glauben für un⸗ 
wandelbar, die Disciplin aber für wandelbar gehalten hat, 
fo haben doch die römiſchen Biſchöfe in der Disciplin ſelbſt 
ihrem Benehmen immer heilige Grenzen geſetzt, ſowohl da⸗ 
durch, daß ſie die Verbindlichkeit anerkannten, in gewiſſen 
Theilen derſelben nie irgend eine Neuerung vorzunehmen, 
als auch dadurch, daß fie andere Theile nicht Abänderungen 
unterwarfen, wenn nicht die wichtigften und unerläßlichften 
Gründe es geboten. In Beziehung auf dieſe Grundſätze 
haben die römifchen Bifchöfe nie geglaubt, daß fie je irgend 
eine Abänderung im jenen Theilen der Disciplin zulaffen 
Könnten, welche unmittelbar von eins Chriftus angeorbnet 
find, ober in jenen, welche ihrer Ratyr nach mit vem Dogma 
zufammenhängen, ober in jenen, welche von ben Irrgläu⸗ 
bigen angefochten werden, um ihre Neuerungen zu unter 
ftägen, ober auch in andern Theilen diefer Art, in welchen 
bie römifchen Bifchöfe wegen der Folgen, die zum Nachtheile 
der Religion unb ber katholiſchen Grundfäge daraus her⸗ 
vorgegangen wären, feine Veränderungen zulafien zu koönnen 
fich verpflichtet glaubten, welche Vortheile man ihnen auch immer 
anbieten oder mit welchen Uebeln man fie auch bebroben mochte. 


43 


„Was ſodann bie andern Theile ver Kirchendisciplin bes 
trifft, welche in den berührten Klaſſen nicht begriffen find, 
fo fanden bie römifchen Bifchöfe keinen Anſtand, manchmal 
Abänderungen in einigen berjelben vorzunehmen; aber immer 
geleitet von ben Grundſätzen, auf welchen jene wohlgeord⸗ 
nete Gefellfchaft beruht, haben fie zu biefen Abänderungen 
nur dann ihre Einwilligung gegeben, wenn die Nothwendig⸗ 
keit oder der Nutzen ver Kirche ed erforberte.u 

Ich laſſe noch einen Mann reden, der gewiſſermaſſen 
im Ramen einer ganzen Landeskirche, unb zwar bes jüngften 
Gliedes der allgemeinen Kirche fpricht, ven erften Prälaten 
der Amerilanifchen Kirche, ven gegenwärtigen Erzbifchof von 
Baltimore, 3. Patrik Kenrid. Die Gewalt des Papftesu, 
fagt er, "wird hauptſächlich ausgeübt in Behauptung ber 
ſchon beftehenvden allgemeinen Gefeke, in Regulirung ver 
wechfelfeitigen Beziehungen des Stlerus, und in Mildernng 
ber Strenge der Disciplin, fo oft örtliche ober perfänliche 
Urfachen e8 erheifchen. Die Gläubigen find Binlänglich ges 
fchütt gegen ven Mißbrauch ver Gewalt durch die Freiheit 
ihres eigenen Gewiſſens, welches nicht verbunden ift, ver 
Autorität Gehorſam zu leiften, wenn fie offenbar mißbraucht 
wird. Der Bapjt wendet ſich nur an das Gewiffen. Seine 
Satzungen und Cenfuren find mer infoweit mächtig, als es 
anerkannt wirb, daß fie unter einer göttlichen Sanktion er- 
Ioffen feien. Keine Heere ober Staatsbeamte werben dazu 


44 


verwendet, ihnen Nachbeud zu geben, und in dem falle eines 
offenbaren Mißbranchs der Autorität verliert er den einzi⸗ 
gen Einfluß, durch ven fie wirkſam werben Tönen.“ ') 

Das Werk des Erzbiichofs ift überhaupt auch für Eu⸗ 
ropa eine bemerkenswerthe Erſcheimung, es zeigt, wie bie 
zwei Millionen Ratboliten, welche in ben Amerilaniſchen 
Sreiftanten leben, ihr Verhältnig zum Bapfte umb zur Ne 
publit auffaffen. „Der Gehorfam, fagt Kenrid, welchen 
wir dem Papſte fchulden, betrifft bie Angelegenheiten bes 
Seelenheils, und hat nichts zu fchaffen mit ver Treue und 
Unterwerfung (allegiance) welche der bürgerlichen Regie 
zung gebührt. Die Kirche tft inbifferent gegen bie ver» 
ſchiedenen Formen ftaatlicher Ordnung. Die Anerfennung 
bes Primatd des Römifchen Biſchofs kann auch nicht mit 
ber entfernteften Gefahr fir unfere republikaniſchen Inftie 
tutionen verfnäpft fein; würbe vielmehr dazu dienen, fie zu 
ſtaͤrken und dauerhaft zu machen, indem fie ven Geunf 
bürgerlicher Freiheit purch moralifche Bande ermäßigen, und 
fo den Uebeln der Zügellofigfeit und Anarchie vorbeugen 
würde.‘ ®) 

Bor mir liegt eben die neuefte Schrift eines fehr an⸗ 
gefehenen Mannes, der in Holland an ver Spike einer bes 


'!) The Primacy of the Apostolic See vindioated. Philadel- 
phia 1845, p. 858. 
t) Kenrick’s Primacy p. 475. 


45 


[2 


deutenven Partei fteht, Groen van PBrinfterer. Er er- 
Märt fi gegen Stahl, welcher behauptet Hatte: bie welt⸗ 
liche Herrichaft des Bapftes, und die Verfolgung ber Häre 
tler durch bie weltliche Gewalt feien keine Dogmen ober 
Glanbensartikel, bezüglich welcher Rom feinen Anfpruch auf 
Unfehlbarkeit geltend gemacht babe. Groen will vieß nicht 
zugeben : Erft müfle Rom im Prinzip die Unabhängigkeit 
und Heiligfeit der weltlichen Gewalt anerkennen, fich nicht 
mebr das Recht beilegen, einen häretifchen König abzuſetzen 
oder des Succeffionsrechtes zu berauben u. |. w. ed mülfe 
anertennen, daß die Bulle Bonifacius VIII. mit ihrer Be» 
hauptung von ben beiben in ver Gewalt ber Kirche befind⸗ 
lichen Schwertern, dem geiſtlichen und weltlichen, nicht 
mehr das autbentifche Refume ber von Rom angeftrebten 
Dmmnipotenz ſei; es müſſe enblich feine Proteftation gegen 
den Weftpbälifchen Frieden zurücdnehmen. Mit allem viefem 
werbe aber, fügt er bei, Rom feine eigne Verdammung 
ausiprechen. ') 

Ih Habe nur darum Hrn. Groen van Prinfterer 
aus einer ganzen Schaar von Gleichgefinnten ausgewählt, 
weil feine Aeußerungen die neueften find, bie ich gerabe zu 
finden weiß, und weil in ber That Hunderte unferer Literaten 
das, was er nicht weiß ober ignorirt, eben auch nicht wiffen. 


!) Le parti antirevolutionnaire et confessionel. Amsterd. 186). 


46 


Alſo erftens: Rom fol vie Unabhängigfeit ber welt⸗ 
lichen Macht anerkennen, und auf das Necht der Abfegung 
eines nicht⸗katholiſchen Meonarchen verzichten. Das ift längſt 
gefchehen. Der Earbinal Antonelli, Präfelt ver Propaganda 
(unter welcher vie Iriſchen Prälaten ſtanden) bat barüber 
am 23. Juni 1791 ein Schreiben an bie Erzbifchöfe und 
Biſchöfe von Irland erlaffen, worin e8 heißt: „Man muß 
ſehr forgfältig unterfcheiden zwijchen ben wahren Rechten 
bes apoftolifhen Stuhle, und dem was ihm von Neuerern 
jegiger Zeit in feinplicher Abficht imputirt wird. Der Ro⸗ 
miſche Stuhl Hat nie gelehrt, daß man ven Anverögläubigen 
Treue und Glauben nicht halten folle; ober daß ein den 
von ber katholiſchen Gemeinfchaft getrennten Königen ge 
leifteter Eid verlegt werben pürfe, ober daß es dem Papſte 
erlaubt fei, ihre weltlihen Rechte und Beſitzun— 
gen anzutaften‘. Diefes Schreiben tft oft genug ge= 
brudt worben, und ich wüßte nicht, was noch Deutlicheres 
gefagt werben follte.') 

Bor einigen Jahren richteten die Bifchöfe der vereinig- 
ten Staaten von Rorbamerila auf ihrem fünften Concilium 
zu Baltimore eine. Abrefje an ven Papft, worin fie, Klage 


3) 3. 8. im Ami de la religion t. XVII, in bem Werte 
des Erzb. Affre von Paris: Essai sur la suprematie 
temp. du Pape. 1829, p. 508. Und fonft noch. 


47 


führend über ihre zahlreichen Geguer im Lande, äußerten: 
„Sie fuchen ihre Tatholifchen Mitbrüber, bie ihr Blut für bie 
Freiheit des Landes vergoffen, dem Argwohn und Haſſe 
der Regierung preiözugeben, uub behaupten fäljchlich, wir 
flänben unter ber Herrfchaft des Papftes in bürgerlichen 
und politiihen Dingen, felen alfo in ver Knechtſchaft eines 
fremden Fürften.‘) Man fieht: das tft daffelbe, was tauſend⸗ 
mol in Deutjchlanb vorgebracht worben, und uoch immer 
vorgebracht wird. Der Erzbiſchof von Baltimore, ver dieß 
mittheilt, fett bei: Dieſe Abläugnung jeder bürgerlichen 
Gewalt des Bapftes, weldhe Viele von uns mit eiblicher 
Belräftigung vollzogen haben, wurbe von dem Papfte (Gre- 
gor X VL) aufs Befte aufgenommen. Bebarf es noch eines 
weiteren DBeweifes, daß vie Autorität, welche wir in ihm 
ertennen, eine geiftliche ijt, und in keiner Weiſe und an 
der unbebingteften Treue und Ergebenheit gegen die bürger- 
liche Regierung hindert!“ 

Bier und fiebenzig franzöfifche Bifchöfe mit zwei Car⸗ 
binälen an ber Spige haben am 10, April 1826 in einer 
dem Könige überreichten Denkfchrift erlärt, daß fie an ver 
alten Lehre ver franzöfifchen Kirche über die Rechte ber 
Monarchen und ihre volle und abjolute Unabhängigkeit in 
weltlichen Dingen von der direkten ober inbireften Autorität 


) Keurick p. 484 führt den Inteinifchen Zert bes Concils an. 


48 





jeder Ticchlichen Gewalt fefthielten. Der Erzbiichof Affre!) 
bat dieſes Dokument wieder abgedruckt. 

Kurz vorher, am 26. Januar 1826, hatten die Erzbi⸗ 
ſchöfe und Bifchöfe von Irland eine ähnliche Erllaäͤrung 
ausgeftelit, in welcher fiel jebe direlte ober indirelte Juris⸗ 
diktion ober Gewalt, welche ber Bapft in weltliden Dingen 
in dem britifchen Meiche in Anfpruch nehmen könnte, mit ben 
ftärtftien Ausdrücken verwarfen. *) Es verfteht fich, daß biefe 
beiden Erklärungen nicht ohne Zuflimmung bes päpftlichen 
Stuhles gegeben wurben. 

Zweitens: Auf die Worberung beniglich der Bulle 
Bonifacius VIII. und die darin aufgeſtellte Theorie von 
der geiſtlichen und weltlichen Gewalt iſt kurz zu bemerken, 
daß die Zurücknahme oder Abrogation derſelben ſchon einige 
Jahre nach ihrer Erlaſſung erfolgt iſt und. zwar durch 
Bapft Clemens V.?) Der Erzbifchof Affre von Paris, ver 
nachher im Juni 1848 auf den Barriladen in Erfül⸗ 
fung feines Hirtenamtes eines heldenmuthigen Todes ftarb, hat 
(gegen La Mennais) Har eriviefen, daß die Bulle von Clemens 
nichtS anderes widerrufen konnte, als eben bie in der Bulle 
bes Bonifacius aufgeftellte Behauptung, daß bie Ausübung 


!) Affre, essei p. 505. 

) Unam sanctam eto. Cie ſteht im lib. VI decretal. 

2) Durch bie in bie Deeretalen- Sammlung eingerüdte Bulle 
Meruit. 


49 


ber weltlichen Gewalt ber Eorrection durch bie geiftliche 
unterworfen fei.') 

Endlich drittens: foll Rom feine Broteftation ge 
gen ven Weftphälifchen Frieden zurüdnehmen. Diele 
Broteftation iſt in der That ein Lieblingsthema, welches 
regelmäßig beiprochen wirb, fo oft e& einen Angriff auf 
den päpfilicden Stuhl over bie Tatholifche Kirche in Deutfch- 
land gibt. Im Jahre 1846 wurbe mir dieſe Broteftation 
als ein fchlagendes Argument in ber bayriichen Kammer 
vorgehalten. Und vor nicht langer Zeit hat in ver Pren⸗ 
ßiſchen Kammer Herr von Gerlach einen Antrag der katho⸗ 
liſchen Abgeordneten, deſſen Gerechtigkeit er, fo viel ich mich 
entfinne, ſelbſt zugeben mußte, mit ver Hinweiſung auf dieſe 
Proteftation belämpft.. Es wird daher gerechtfertigt fein, 
wenn ich auf den wahren Sachverhalt etwas näher eingebe, 
unb weiter aushole. Ich muß nun das parabor klingende 
Geſtändniß ablegen: ich freue mich, daß damals doch Ein 
Mann in Europa gefunden wurbe, ber gegen jenen Weſt⸗ 
phälifchen Frieden im Namen Gottes und des chriftlichen 
Gewiſſens Proteft einlegte, und daß diefer Mann gerabe 
der Träger des höchſten Firchlichen Amtes auf Erben war. 
Denn wahrlich nicht deshalb hat der Papſt proteftirt, weil 
er etwa überhaupt Teinen gerechten Trieben zwifchen Pro- 


1) Affre essai etc. p. 340 ss. 
v. Döllinger, Papſtthum. 4 





teftanten und Katholilen wollte — die ganze nachherige 
Geſchichte hat das Gegentheil bewiefen —, fonbern weil 
es galt und für ihn in ver That hohe Pflicht war, gegen 
ein tief unfittliches und unchriftliches Princip Verwahrung 
einzulegen, welches biefem ganzen Friedensſchluß hinſichtlich 
ber religidfen Stipulationen zu Grunde gelegt war. Sch 
nteine das XTerritortaliyften, oder das Princip: „Wem 
ba8 Land gehört, dem gehört die Religion.“) Leider finb 
es beutfche Theologen, beutjche Juriſten geivefen, welche zu⸗ 
erft die bis dahin in ber chriftlichen Welt unerbörte Lehre 
aufbrachten, daß es ein Hecht der Fürſten fet, bie Religion 
ihrer Untergebenen nah Gutdünken zu ändern, fie aus 
Katholiken zu Proteftanten, aus Lutheranern zu Calviniften 
und umgelehrt zu machen. Und wie bereitwillig bie Für⸗ 
ften von der neuen Doctrin Gebrauch machten, ift befaunt. 
In dem mittelalterlichen Staate beftand allerdings auch Re⸗ 
ligionszwang, aber wie ganz anders war bie frühere An- 
ſchauung und Praris im Vergleiche mit ber neuen! ‘Dort 
waren Bolt und Fürft Glieder der Tatholifchen Kirche, neben 
welcher Teine andere eriflirte. Alle waren einig, baß ber 
Staat in feiner engen Verbindung mit ber Kirche keinen 
Abfall von derſelben dulden, feine neue Religion einführen 
Infien bürfe, daß jeber Verfuch dieſer Art ein Attentat gegen 


#) Cujus est regio, illius est religio. 


61 


bie beſtehende geſellſchaftliche Ordnung ſei. Jede haͤretiſche 
Lehre, die im Mittelalter hervorbrach, hatte, klar ausge⸗ 
ſprochen, oder in nothwendiger Conſequenz, einen revolutio⸗ 
nären Charakter, das Heißt: fie mußte in dem Maße, als 
fie zur Herrfchaft gelangte, eine Aufldfung des beftehenben 
Staatsweſens, eine politifche und fociale Umwälzung herbei⸗ 
führen. Jene guoftifchen Selten, die Katharer und Albis 
genfer, welche eigentlich vie harte und unerbittliche Geſetz⸗ 
gebung des Mittelalters gegen Härefie bervorriefen, unb in 
Bintigen Kriegen belämpft werben mußten, waren bie So 
cialiften und Communiften jener Zeit. Sie griffen Che, 
Familie und Eigenthum an. Hätten fie gefiegt, ein allge» 
meiner Umfturz, ein Zurädfinfen in Barbarei und heid⸗ 
nifche Zuchtlofigfeit wäre die Folge gewefen. Daß auch 
die Waldenfer mit ihren Grundfägen über Eid und Strafe 
recht der Staatsgewalt fchlechterbings keine Stätte in ver 
bamaligen: Europäifchen Welt war, weiß jeber Kenner ber 
Geſchichte. 

Im Mittelalter waren alſo Recht und Geſetz in reli⸗ 
giäfen Dingen für Alle gleich. Nicht nur jeder Biſchof, 
der Papft felbft, Iehrte man allgemein, mußte, wenn er in 
Irrlehre verfiel, abgefegt, und im alle feines Beharrens 
gleich jedem Anvern gerichtet werben. ‘Der Stänig wußte, 
daß eine Trennung von ber Kirche ihm unfehlbar feine 
Krone koſten, daß er fofort aufhören würbe, König eines 

. 4* 


62 


Tatholifchen Volkes zu fein. Nie ift in ven taufend Jahren 
por Luther auch nur der Verfuch von einem Monarchen ge= 
macht worben, eine anbere Religion, eine neue Lehre in ſei⸗ 
nem Staate einzuführen, ober ſich In irgend einer Form 
bon ber Kirche loszuſagen. Wenn einmal einer, wie Kaifer 
Friedrich IL, wirklich ungläubig war, fo ftellte ex Sffentlich 
es entfchteven in Abrebe und Tieß fich von Bifchöfen und 
Theologen Zeugniffe feiner Orthodoxie ausftellen. 

Alles dieß Anberte fihb mit ver Reformation. Die 
Reformatoren übertrugen fchon frühe ven weltlichen Für« 
fien, der „Obrigleit«, wie fie fagten, die Gewalt über bie 
Religion ihres Landes und ihrer Untertbanen. Es ſei Recht 
und Pflicht der Obrigfeit, das reine Evangelium und bie 
neue Kirche aufzurichten, papiftifches Weſen auszurotten, 
und feine fremde Lehre auflommen zu Iaffen. Dieß wurde 
den weltfihen Machtbabern bei jeber Gelegenheit einge- 
fhärft. Freilich ergab fich Hiemit ein unauflöslicher Wider⸗ 
ſpruch; denn Luther ftellte es zugleich als heilige Pflicht 
jedes Einzelnen, fich in Sachen des Glaubens über jebe 
Autorität, vor Allem die der Kirche, dann aber auch bie 
ber Fürften wegzufegen, und bloß bem eigenen Gutbänfen 
zu folgen. „Obnangefehen aller Menfchen Gebot, fagt er, folle 
man feinen Glauben allein richten laſſen; felbft eine Müllers⸗ 
magb ober ein Kinb von neun Jahren, das nach bem Evan⸗ 
gelium (d. h. gemäß dem neuen Nechtfertigungsbogma) ur⸗ 


63 


teile, Tönne die Schrift beffer verſtehen, als es Bäpfte, 
Eoncilien und alle Gelehrten Tönnten.« "Du mußt felber 
beichließen, fagt er anberwärts, es gilt bir bein Lebenu, 
a. f. w.') Luther hat es nie verfucht, dieſen Widerſpruch 
zu löfen. In ber Praris blieb er dabei, und wurde bieß 
nun herrſchende proteftantifche Doctrin, daß die Fürften 
das Höchite Nichteramt über Religion, Lehre und Kirche 
hätten, und daß es ihr Necht und Beruf fei, jede von ber 
ihrigen abweichende Ölaubensmeinung zu unterbräden. Darin 
ſtimmten Lutheraner und Reformirte überein. In ber Augs⸗ 
burgifchen Confeflion Hatte Dielanchthon, der damals gerade 
geneigt war, die bifchäfliche Autorität zu erhalten ober 
wieberherftelfen zu helfen, es noch zum Amte ver Bifchäfe 
gerechnet, bie Lehre zu richten, aber ſchon in der Apologie ’) 
find es alle Könige und Fürſten, denen bie Beſchützung und 
Handhabung ber reinen Lehre als ein von Gott ihnen über 
tragenes Amt zugefchoben wird. Die Lutherifchen Fürften 
legten fich denn auch dieſes Recht in der Vorrede zum Con⸗ 
corbienbuch ausbrüdlich bei, und übten es feitbem im wei⸗ 
teften Umfange. Auch die calvinifchen Bekenntnißſchriften 
geben ber Obrigleit das Recht, Falfcher Lehre zu wehren?) 





) Luthers Werte, Wal’ Ausgabe XI, Sermon v. 3. 
1622. XI, 1887. 

2) Am Ende des Iten Artikels. 

3) Die Schweizeriſche Confeſſion im 8Oten, die Engliſche tm 


54 


und vie wahre zu ſchirmen. Luther felber vechnete ſich das 
zum befonbern Ruhme, daß er auf diefem Wege bie welt⸗ 
lichen Machthaber, welche in ber Tatbelifchen Kirche ihres 
guten Mechts beranbt gewefen, in baffelbe eingefegt und fo 
ben obrigkeitlichen Stand „Jonberlich herfürgezogen, erleuche 
tet und geziert habe. ') Der dänifche Hofprebiger Maſius 
weiß es als einen großen Vorzug ber Iutherifchen Religion 


8Tten, bie Schottifche Im 24ten, bie Belgifche im B6ten Ar⸗ 
tikel. Die Ehurbranbenburgifche ftellt bieß gleich an bie Spike 
ihres Belenntniffes. In ber Bafeler Eonfeffion heißt es: „hoo 
officium gentili magistratui injunctum fuit, quanto magis 
christiano magistratui commendatum esse debet, ut vero 
Dei vicario.“ Mau berief ſich bafür auf das Beifpiel ber 
jübifhen Könige, welche den Götzendienſt abgeichafft hätten. 

1) Walch's Ausg. XIV, 520 E. XIX, 2287. Wo ein Dant, 
fagt ex, um bie fchänbfiche, verfluchte Welt zur verbienen wäre, 
unb ih Dr. Martinus fonft nichts Gutes gelehrt und gethan 
hätte, denn baß ich das weltliche Regiment ober Obrigkeit fo 

erleuchtet und geziert habe, fo follten fie doch bes einzigen 
Gtüds halber mir banken und günftig fein, weil fle allefamımt, 
auch meine Argften Feinde, wohl wifien, baf folder Verſtand 
bon weltficher Obrigleit unter dem Papſtthum uuter ber Bauk 
gelegen“ u. |. w. — An ber Gunft der Fürſten bat es ibm 
wahrlich nicht gefehlt. Uebrigens gab er noch einen anbern 
Grund an, warum bie Fürften umb Obrigfeiten fir feine 
Lehre ganz befonbers dankbar fein follten. Vorher, in ber 
katholiſchen Zeit, feien fie ängſtlich geweſen mit Hinrichtungen, 
mancher Fürft babe aus religiöfen Bebenfen und unter bem 
Einfluße feines Beichtvaters fich gefehent, häufige Tobesurtbeile 


“ 


66 


- zu erheben, daß nach ihr ber Fürſt als „höchfter Statthalter 


Gottes auf Erben“ die Diener der Kirche beliebig ab- und 
einfeßen, über das ganze Gebiet des Firchlichen Ritus und 
der Geremonien frei verfügen Tönne.') Diefe Doctrin, bie 
fo lange bie herrſchende geweien, hat noch immer ihre Ver⸗ 
theibiger, 3. B. Peterſen, ber, nachbem er verfichert hat, 
daß das Volk der Deutfchen das ganz fpezififche Volt des 
neuen Zeftamentes fei, den Lanbeöheren für ben einzigen 
Machthaber der gefammten chriftlichen Reichögewalt erllaͤrt, 
„in welchem bie evangelifche Kirche ven Stellvertreter Chriſti 
verehre.« ?) 

So entftand ein Despotismus, deſſen Gleichen bis 
babin noch nicht gefehen worben war.) Das neue Shftem, 
wie es von Theologen und Zuriften jegt ausgebilvet wurde, 


zu unterzeichnen; jebt aber feien fie burch Luther's Lehre voll 
kommen beruhigt. &. Colloquis ot meditationes Lutheri, 
ed. Rebenstock, I, 147. 

’) Interesse principum circa religionem evangelicam. Hafn. 
1687, p. 81. 

?) Die Ibee der chriftlichen Kirche, 3. Band, S. 224—227. 

2) Um nur Ein Beifpiel zu ennähnen: Auf dem Weftphäfiichen 
Eriedenscongrefie führte Wolfgang von Gemmingen, ein Abge⸗ 
sehneter ber Reichsritterfchaft, an: daß bie an Pfalz verpfän- 
bete Reichsſtadt Oppenheim feit ber Reformation zehnmal ihren 
Religionszufkanb umgeformt gefehen babe. Pfanneri hist. 
pacis Westph. 1 ss. 42. 


56 . 


war Schlimmer als die byzantiniſche Praxis, denn bort hatte 
man boch nie ben Verſuch gemacht, vie Religion bes Volles 
zu änbern. Die proteftantifchen Fürften aber waren nicht 
blos Päpfte in ihrem Lande, fie waren mehr, fie vermoch⸗ 
ten, was nie einem Papfte eingefallen war. ‘Denn jeber 
Bapft wußte, daß feine Macht nur eine erhaltende, bie über- 
lieferte Lehre bewahrende ſei, und daß ein Verfuch von ihm, 
bie Lehre ver Kirche zu ändern, unfehlbar am allgemeinen 
Wiberftanbe fcheitern würde. Den proteftantifchen Fürften 
aber wurde gefagt, und fie felber glaubten und erflärten, 
daß ihre Macht in religiäfen Dingen eine völlig fehranten- 
loſe ſei, daß fie im Gebrauche verfelben ihr Gewiſſen 
zur einzigen Richtſchnur zu nehmen hätten. Es verfteht 
fih, dag fie immer babel vem "Koangelium« ober ber hei⸗ 
ligen Schrift unterworfen zu fein verficherten, aber eben 
nur ber von ihnen oder dem Hofprebiger ihrer Wahl 
ansgelegten Schrift. Die Neformatoren Hatten natürlich 
bie Sache fo verftanben, daß die Fürften ſich dabei nach 
ben Rathe ber Theologen richten, baß fie insbeſondere durch 
bie theologifchen Fakultäten an ihren Landes - Univerfitäten 
fih in allen Lehrfragen leiten laſſen follten. Uber biefe 
wechfelten ober wurden gewechfelt, und fo oft ver Landes⸗ 
herr die Religion feines Gebietes zu änbern befchloß, wur⸗ 
ben eben auch die alten Profeſſoren entfernt, und neue her⸗ 
beigerufen. 


22 — 


67 


Mit dieſem neuen Syftem ber in ber Perfon der Zür- 
fien vereinigten Firchlichen und politiichen Gewalt war eine 
umermeßliche, folgenfchtwere Umwandlung der geſammten Lage 
bes bentfchen Volles eingeleitet. Der Unterſchied und Ges 
genfat; ver beiden Gewalten, welcher im Ganzen und Großen 
woblthätig für die Voͤller gewirkt, durch deren Reibungen 
und Gegengewicht geiftige Thätigleit und polittfche Freiheit 
geweckt und gewahrt worden war, fiel völlig weg. Die 
Kirche wurbe ganz in den Staat eingefügt, als ein Rab in 
ber großen Staatsmafchine betrachtet. Wer über das Edelſte 
and fonft Unantaftbarfte, über die Religion und das Ge 
wiffen mit abfoluter Machtvolllommenheit gebot, dem mußte, 
wenn er nur zugreifen wollte, allmälig jedes anbere Gebiet 
bes Lebens in Staat und Volt anheimfallen. Mit der Ein- 
fegung der Eonfiftorien als landesherrlicher, das Kirchliche 
regierender Behörden begann demnach vie Entwidlung ber 
Bureaufratie, der fürftlichen und ftantlichen Augewalt, ber 
verwaltenben Gentrafifation. Sobald die Tirchlichen Dinge 
und religiöfen Angelegenheiten in bie Hände einer Behörde 
von fürftlichen Beamten gelegt wurde, mußte ein mechanifches 
Schreiberweſen und ber ftarre Geift einer blos befehlenden 
unb Berorbnungen machenden Berwaltungsmafchine an bie 
Stelle einer lebendigen Organiſation und einer mit fittlichen 
Hebeln operirenden Autorität treten. Es ging wie es noch 
Heutzutage geht: die burenufratifche Verwaltung wurde ein 


immer neue Aeſte treibenber, immer mehr Stoff umfchlingen«- 
ber Polyp. °) 

Demnach war bie unvermeibliche Folge, daß ein brüdenber 
Despotismus fich anf einen großen Theil Deutſchlands legte. 
Das proteftantifche Volt wurde von feinen fürftlichen Oberbi- 
fhöfen und deren Beamten zu einer nie früher dageweſenen 
Knechtſchaft Hinabgebrüdt: Gelbftrafen, Kerler, VBerbamung 
erfolgte wenn man am Sonntage nicht zur Kirche fam, wenn 
man bei ber Communion nicht regelmäßig erjchten, wenn 
einige Berfonen zur Privat - Erbauung fi) verfammelten. 

Diefem Syſtem der Fürſtenherrſchaft über Religion 
und Gewiſſen prüdte nun ver Weftphälifche Friebe das Sie⸗ 
gel auf. Das Neformationsrecht wurbe nur durch bie Feft- 


1) So bemerkt der befaunte Zurift Ley ſer (Medit. ad pandect. 
t. VII. p. 292): rüber und no bis in’s 17. Jahrhundert 
binein jeien bie Regierungegeſchäfte ber beutihen Fürſten fo 
beſchränkt geweſen, daß fie von wenigen Räthen, mitunter 
buch eim einziges Kollegium hätten beforgt werben Tönnen. 
Seitdem aber buch ben Weftphäliichen Frieden bie Territorial» 
Hoheit fo ſehr erweitert worben fei, hätten fih bie Geſchäfte 
ber Verwaltung um mehr als das zehnfache vermehrt, und jet 
eine Menge von Collegien, Inftanzen und Beamten nöthig ge» 
worden. Man erlennt bier ben Einfluß, ben das lichergehem 
bes ganzen kirchlichen und religiöfen Gebiets in bie Hände der 
Staatsgewalt auf die Verwaltung Üben mußte. Derfelbe Leyſer 
erinnert Übrigens t. VI. p. 49: bie proteftantifchen Conſiſto⸗ 
rien verführen mitunter eher tyrannifch als ber Bapfl. 





Rellung des Normaijahrs (1624) beſchränkt. ber aufer- 
halb des durch biefes Jahr verbürgten Befigftanbes Tonnte 
jeder Katholik durch feinen proteftantifchen Landesherrn, jeber 
Broteftant durch feine katholifche Obrigkeit genoͤthigt werben, 
entiweber bie Religion zu wechfeln oder auszumandern. Die 
Broteftation des Papſtes war aljo bie feierlihe Er⸗ 
Härung, daß die Theilnahme feines Gefanbten am Con⸗ 
greffe nicht auch als Zuftimmung zu Sagungen zu betrach⸗ 
ten fei, welche vorausfichtlich ben erzwungenen Abfall einer 
Anzahl von Katbolifen vonder Kirche zur Folge haben 
mußten. Es ift wahr, der PBapft ftellte fich in feiner Bulle 
auf den excluſiven Standpunkt, wonach er alle Abtretungen 
von Tatholiichen Bisthümern und Kirchengätern an proteftan« 
tiſche Fürſten und jede weitere Ausbreitung bes Proteftan- 
tismus al8 Dinge, bie er nicht billigen könne, gegen bie 
er Verwahrung einlegen müſſe, bezeichnete. Das wer un⸗ 
ter den damaligen Umftänven für ven Oberbirten ver Kirche 
unvermeiblid. Er ftand Hier einem Shitem gegenüber, 
welches zugleich mit Lãugnung der Kirche und ihrer Auto⸗ 
rität und in Folge dieſer Läugnung die abſolute Willkür 
der weltlichen Macht in kirchlichen Dingen, die ſchranken⸗ 
loſe Herrſchaft der Fürſten über die Gewiſſen der Men⸗ 

) Instr. P. O. 5,30: Cum statibus immediatis cum jure 


territorii et superioritatis — etiam jus reformandi 
exorcitium religionis competat. 


60 


fhen zum Prinzip, zur veliglöfen Doctrin erhoben hatte. 
Mit einem ſolchen Syſtem war im Grunde ein wirklicher 
Friede gar nicht möglich, nur ein Waffenftillftand konnte 
gefchloffen werben. Jedes Vorbringen dieſes Syſtems in 
bisher noch katholiſche Länder mußte als eine um jeben 
Preis abzuwehrende Calamität erfcheinen. Erſt mußte das 
furchtbare Zerritorial-Syftem in Deutfchland ermäßigt und 
einigermaßen durch die Sitte, durch die öffentliche Meinung 
und durch bie Erfahrung ver werberblichen Folgen überwun- 
ven fein, ehe an ein friebliches Nebeneinanderbeftehen von 
Katholiken und Proteftanten zu denken war. In Rom wie 
in Deutichland wußte man recht gut, daß in ben rein lu⸗ 
therifchen Ländern, wie Schweden und Dänemarl, die Todes⸗ 
ſtrafe auf Ausübung der Tatholifchen Religion gefett, und erſt 
vor wenigen Jahren durch Guſtav Adolph an mehreren jungen 
Männern vollftredt worden war.) Man wußte, daß in 
den fombolifchen Büchern der deutſchen Proteftanten, den 
Vürften und Königen gefagt wurbe: Ihr fein Herren und 
Gebieter über Religion und Kirche in euren Ländern, und 
habt babei feine andere Schranke zu achten, als bie von 
, euch oder von den burch euch ausgewählten Theologen inter- 
pretirte Bibel. Man wußte endlich, daß die Herrichaft ber 
Fürften über bie Religion von ben proteftantiichen Theo» 


1) Baas Inventar. ecol. Bueogoth. Linoop., 1642, p. 789. 


61 


logen und Yuriften für einen Ausflug und wefentlichen Be 
ftandtheil der Iandesherrlichen Gewalt erflärt mwurbe, daß 
alfo jeder Furſt die Anhänger einer von ber feinigen ver- 
ſchiedenen Religion im Grunde als Berfonen anfehen mußte, 
bie in permanenter Auflehnung gegen feine rechtmäßige 
Gewalt begriffen feien, als halbe Unterthanen, bie gerabe 
dem ebleren und vorzüglicderen Theile feiner Regierungs⸗ 
macht Anertennung unb Gehorfam zu zolfen fich weigerten.') 
Diefe Lage der Dinge muß erwogen und in Rechnung ges 
bracht werben, wenn es ſich um einen Vertrag banbelt, 
durch welchen mit feiner ober fehr ſchwacher Sicherheit für 
bie Freiheit des Belenntniffes fo viele Katholiten, fo viele 
ehemals Tatholifche Gebiete und Befitzungen an proteftan- 
tifche Gewalten abgetreten wurden. Damals konute ber 
Dberhirt der Kirche doch wirklich nichts Anderes thun als 
Berwahrung einlegen gegen Abtretungen und Ingeftänbniffe, 
m Das jun circa sacra unb bie jurisdictio ecclesiastica jet, hieß 


es, das Toflbare und vornehmfte Kleinod ber Territorial⸗Su⸗ 
periorität. Bei Schauroth, Sammlung d. Concl. Corp. 
evang. II, 89. &o nannte au Lorb Elarendon, ber 
Staatsmann und Gefchichtsfchreiber, bie kirchliche Suprematie 
ber Könige von England: the better moiety of their so- 
vereignty. Edinburgh Review, t. 19, p. 435. Über frei- 
lich if biefe „beſſere Hälfte der Gouverainetät“ bort feit ber 
Revolution von 1688 theils bebeutungslos geworben, theils an 
den jebesmaligen erfien Minifter und bie Majorität bes PBarla- 
ments übergegangen. 


62 


in Folge. deren eine beträchtliche Anzahl von Seelen ber 
Kirche verloren geben mußte. Hätte der Bapft noch bie 
frühere, burch die mittelalterlichen Zuftände feit und nach 
der BVöllerwanberung für ihn gefchaffene Stellung einge⸗ 
nommen, ſo würde ſeine Verwerfung des Vertrags aller⸗ 
dings einer Forderung gleichgekommen ſein, daß der Krieg 
wieder ausbrechen, oder doch das ganze Friedenswerk von 
vorne wieder angefangen werden ſolle. Das war nun aber 
anders geworden. Das Papſtthum ſtand ſeit ber Refor⸗ 
mation nicht mehr an der Spitze des Europäiſchen Gemein⸗ 
weſens, war nicht mehr der allgemein anerkannte Friedens⸗ 
vermittler, der Befchirmer und Ausleger des internatio⸗ 
nalen Rechte. Die päpftlihe Verwerfung bed Friedens⸗ 
ſchluſſes Hatte alfo nur ‚die Bedeutung einer vom kirchlichen 
Standpunkt aus verhängten Cenſur und Mißbilfigung. 
Kein Fürft bat je die Gültigkeit des Weftphältfchen Fries 
dens mit Berufung auf das Nömtfche Urtheil in frage ge» 
ftellt, und die Theologen haben ſtets gelehrt, daß hier eine 
päpftliche Entbindung von der Verpflichtung gar nicht ein⸗ 
treten Fönne. ') 

Allerdings warb auch in Tatholifchen Ländern Zwang 
angewandt, um ben’ eingebrungeney Proteſtantismus wieder 


) Z. B. Laymann, theoL mor. ib. 2, tr. 3 o. 12. Si 
Catholici cum acatholicis publicam foedus ineunt, non 
potest per auctoritatem Pontificiam solvi aut relaxari. 


'6& 





auszuftoßen unb bie Einheit ber Kirche wieder herzuftellem, 
und bie katholiſchen Fürſten beriefen fich gerne auf das 
vom Proteflantismus erfonnene Reformationsrecht, um ſo 
mit der von dem Gegner ſelbſt dargebotenen und als recht« 
mäßig anerlanunten Waffe venfelben in ihrem Lande zn über- 
winben. Um aber gerecht hierüber zu urtheilen, durfte Fol⸗ 
genbes zu erwägen fein. 

Erſtens: Auf Tatholifcher Seite Hatte man es mit einer 
Teorie und Praxis zu tun, beren Urheber unb Anhänger 
ſchon feit ber berühmten Proteftation von Speyer im Jahre 
1529 ertlärt hatten, daß fie bie latholiſche Religion neben 
ber neuen nicht dulden würden, welche thatfächlich überall 
damit begonnen, jede Spur ber alten Religion zu vertifgen; 
mit einem Syſteme, welches im Grunde durch bie Ueber- 
tragung ber Kirchengewalt an bie weltlichen Machthaber 
ben Beſtand jeber Religion, auch ber Iutherifchen over cal- 
vinifchen, zu einer bloßen Frage ber Gewalt ober fürftlichen 
Belieben herabſetzte. Erkannte ber fatholifche Fürft über 
fih und feinem Volle die fefte, ſtets gleiche Autorität ber 
Kirche, wollte er nur ein Glied, ein gläubiges und ges 
horchendes Glied in dem großen Organismus ber Weltlirhe 
fein, fo war ber proteftantifche Fürſt nach vermeintlich gött⸗ 
lichem Auftrage oberfter Richter in religiäfen Dingen für 
fi) und fänmtliche Untergebene, und wußte von feiner 
Autorität, die höher ftehe, als die feinige. So hatte man 


64 


in England eine bifchäfliche, aus Tatholifchen und proteflan- 
tiichen Elementen unmatirtich gemifchte Kirche, weil es bie 
Könige fo gewollt hatten. Dagegen mußten Dänemark, 
Schweren und Norwegen lutheriſch werben und bleiben, 
weil die Könige diefe Lehre fir Die bequemfte und ihrer 
Deachterweiterung günftigfte Hielten. In Holland bagegen 
herrſchte der reine Calvinismus, weil diefem bie zahlreichere 
und mächtigere Partei zugefallen war, und ſobald man fich 
ſtark genug gefühlt, Hatte man bie erft kurz vorher mit den 
Katholiken des Landes abgefchloffenen Verträge gebrochen '), 
und ihre Religionsfreiheit vernichtet. In ben Deutfchen 
Fürſtenthümern Tonnte Niemand wiffen, ob im nächften 
Jahre das Land lutheriſch ober caloinifh, oder halbcal⸗ 
viniſch (nach dem im Brandenburg’fchen eingeführten Muſter) 
fein würde. Denn das bieng von ber Perfon des Monar⸗ 
hen, von deſſen wechjelnden Anfichten, ober von bem Tode 
bes einen und der Succeffion eines anbersgläubigen ab. 
Zweitens: Die Theorie von ber oberbifchäflichen Ge⸗ 


1) Namentlih das Unions-Ebikt von Utrecht dom Jahre 1579, 
durch welches bie noch Überwiegenb katholiſchen Provinzen und 
Städte dem Bunbe beigetreten waren. Ueber vier Jahre baranf 
ließ Wilhelm von Oranien ein neues Ebikt entwerfen, welches, 
ohne irgend einen Vorwand, das ben Katholilen gegebene Wort 
brach, und nur bie Uebung der calvinifchen Religion geftattete. 
Bergl. barliber Stoupe la religion des Hollandois, 1672, 
p. 12 unb Oeuvres d’Ant. Arnauld, XIV, 509. 





65 


walt des Kanbesherrn und feiner Verpflichtung, Teine andre 
Religion als die feinige zu bulden, war fürmlich Beftand- 
theil bes proteftantifchen Shftems, war Glaubensartifel ge- 
worden. Wenn ein bisher lutherifcher Fürſt in feinem Lande 
das Lutherthum unterbrüdte, und ihm den Calvinismus auf⸗ 
drang, jo fagten die Iutherifhen Theologen natürlich: Dein 
calviniſches Gewiſſen irrt; aber zugleich mußten fie zugeben, 
daß, da ber Fürft nun einmal die calvinifche Lehre für pie 
biblifche hielt, er allervings berechtigt, ja verpflichtet fei, 
fein Land in biefer Richtung zu veformiren. In einer ganz 
anderen Lage befand fich die fatholifche Kirche. Hier waren 
die beiden Gewalten vollftänbig gefchieben, die Fürften und 
Obrigkeiten follten nicht Regenten uud Bifchöfe der Kirche, 
fondern nur Befchüger verfelben fein. Die Kirche war be 
reits durch fehr verfchiedene Stabien bezüglich der Stellung 
zu Anverögläubigen hinpurchgegangen. Unter ven chriftlichen 
Raifern war fie wohl im Römifchen Neiche im Ganzen ge- 
nommen herrſchende oder begünftigte Corporation, aber das 
Berhalten der Kaiſer gegen die außerhalb ber Kirche Befind⸗ 
lichen, gegen Heiden, Juden, Häretiler, Schtematifer, war fehr 
ungleich. Bei der großen Verſchiedenheit der Selten, von 
benen Cinige einen geradezu unfittlichen Charakter hatten, 
andre dagegen fih durch Sittenftrenge auszeichneten, waren 
allgemeine Regeln nicht anwenbbar. Im Ganzen war bei 


den Bifchdfen jener Zeit die Anficht vorherefihent, daß Ab⸗ 
v. Döllinger, Papſtthum. 








66 


weichung vom Glauben der Kirche, wenn nicht andere Ber⸗ 
gehen Hinzulämen, nicht von ber Stantögewalt mit fchweren 
Strafen geahndet werben folle. „Die Milde ber Kirche, 
erflärte Papft Leo ver Große, begnügt ſich mit dem pries 
fterlichen Urtbeile, und begehrt Teine blutige Rache.“ Daher 
wurde die That zweier Spanifcher Biſchöfe, welche als An⸗ 
Häger der Briscilftaniften vor dem kaiſerlichen Tribunal aufs 
traten, von den angefehenften Männern ver Kirche, einem 
Ambrofius und Martinus, als höchft verwerflich bezeichnet. 
Im Mittelalter dagegen kamen lange Zeit hindurch Tren⸗ 
nungen von ber Kirche auf Grund abweichender Lehre gar 
nicht vor. Erſt im eilften Jahrhunderte begann jenes 
finftere, ſittlich verberbliche Seltenwefen mit gnoftifchen 
Lehren, das aus dem Drient berübergelommen war, fich im 
Berborgenen auszubreiten. Gegen bie Anhänger biefer 
Selten verfuhren nun die Staatsgewalten mit großer 
Schärfe, und fein beharrlicher Seftirer warb am Leben ge» 
laſſen. Allmälig warb es zur Regel, daß Abfall vom Glau⸗ 
ben und Verbreitung unkicchlicher Lehre als topeswürbige 
Verbrechen galten. Daß neben der Einen Kirche, von wel⸗ 
her das ganze Staatswefen und Leben durchdrungen var 
unb getragen wurbe, noch andere religiöfe Genofjenfchaften 
mit eigener Lehre Im Staate beitehen Lönnten, das war ein 
Gedanke, den damals Niemand für möglich hielt, Niemand 
ausfprad. Wo Selten eriftirten, zogen fie ſich in tiefe 


67 


Berborgenbeit zurüd. Natürlich lag denn auch ben auf 
Härefie bezüglichen Verorpnungen der Goncilien unb ber 
Bäpfte die damals allgemein herrſchende Anficht zu Grunde, 
Aber vie tarin enthaltenen Forderungen und Beitimmungen 
gehörten nicht in das Gebiet des Glaubens, der überliefer- 
ten umb unveränberlichen Lehre, fondern in das der wan⸗ 
delbaren, durch eigenthümliche und vorübergehende Zuftänbe 
bedingten Disciplin. 

Die Erhebung des Proteftantismms gegen bie Kirche 
nahm in Fürzefter Frift die Ratur eines Kampfes auf Xeben 
und Tod an. Schon in den Schriften Luthers aus ben 
Jahren 1520 und 1521 that fich zwifchen der neuen Lehre 
und ber alten Kirche ein Abgrund auf, der nicht mehr 
überbrüdt werben konnte. Verwerfung ber ganzen Tirchli« 
chen Weberlieferung und jeber Tirchlichen Autorität, Aufs 
ftellung eines Dogma über das Verhältniß des Menfchen 
zu Gott, von welchem ver Urheber felbft bekannte, daß es 
feit den Zeiten ber Apoftel bis auf ihn der ganzen Kirche 
unbekannt geblieben fei, biefe Dinge traten gleich unver⸗ 
hüllt hervor. Die Forderung lautete nicht mehr wie bis 
babin: daß die Kirche fich reformiren folle an Haupt und 
Gliedern, fondern auflöfen folle fie fich, und das Gericht 
der Selbftzerftörung an fich vollziehen. Ihren Primat und 
Epifcopat folite fie abjchaffen, ven bie Völker zufammenhal- 
tenden Organismus zerreißen; an bie Stelle ihres Cultus 

5 ” 


68 


ber Anbetung und des Opfers follte fie das bloße Predigen 
ſetzen, und mit ihrer ganzen Bergangenbeit in Lehre wie 
in Salramenten uub Eiurichtungen brechen. An eine Ver⸗ 
ftändigung, eine nur halb aufrichtige Wiebervereinigung 
fonnten da nur Jene noch denken, welche dad Weſen ber 
proteftantifchen Lehre, die Tragweite ber Bewegung ver⸗ 
fannten. 

Auch von wechfelfeitiger Duldung, von ben Verfuche 
eine® friedlichen Nebeneinanverbeftehbene war noch lange 
nicht die Rebe. Ein folcher Gedanke war dem ganzen Zeit- 
alter noch völlig fremd. Auf proteftantifcher Seite machte 
fhon bie Theorie von der abfoluten Kirchengewalt ber welt» 
lichen Mächte ein Syſtem der Dulbuug unmöglich. Hiſto⸗ 
rifch tft nichts unrichtiger, als die Behauptung, bie Refor⸗ 
mation ſei eine Bewegung für Gewiſſensfreiheit geweſen. 
Gerade das Gegentheil iſt wahr. Für ſich ſelbſt freilich 
haben Lutheraner und Calviniſten, ebenſo, wie alle Men⸗ 
ſchen zu allen Zeiten, Gewiſſensfreiheit begehrt, aber An⸗ 
dern ſie zu gewähren, fiel ihnen, wo fie die Stärkeren 
waren, nicht ein. Boͤllige Unterdrückung und Ausrottung 
der Tatholifchen Kirche betrachteten alle Reformatoren als 
fih von felbit verftehend. Gleich im Beginne riefen fie 
die Fürften und ftädtifchen Gewalten auf, ven Gottesdienſt 
der alten Kirche zwangsweije abzufchaffen. In England, 
Irland, Schottland, in Dänemark und Schweben gieng man 


69 


bis zur Anwenbung ber XTobedftrafe gegen Ausübung ber 
tatholifchen Religion. Gegen die gleichzeitig fich bildenden 
Serten verfuhr man mit nicht geringerer Schärfe. Daß 
bie Wiebertänfer ihre Lehre mit bem Leben büßen follten, 
verlangte felbft der fonft als der mildefte der Reformatoren 
gerübmte Melanchthon.!) Derfelbe Mann begehrte, vaß 
anch gegen Katholiken mit Körperftrafen verfahren werbe, 
da es die Pflicht der meltlihen Macht fei, das göttliche 
Geſetz zu verkündigen unb zu wahren. :) Auch Calvin for 
derte den Herzog von Somerfet als Regenten von England 
anf, er folle Alle, weiche der neuen proteftantifchen @eftals 
tung des Rirchenwejens widerfirebten, namentlich die Ka⸗ 
tholiken, mit dem Schwerte vertilgen. ’) Könige und Staats⸗ 
männer, Zheologen und Bhilojophen, alle waren einig, daß 
weder Katholilen noch irgend einer, von der zur Herrichaft 


1) Bergl. 3. B. Corpus Ref, ed. Bretschneider, U, 18, 711, 
713 und fonf. 
2) Corp. Ref. IX, 77. 


3) Epistolae, Genev. 1579, p. 40. Es ift bemerfenswerth, baf 
auch er als Hauptgrund, warum Todesſtrafen verhängt wer⸗ 
ben follten, das Attentat gegen bas von Gott eingeſetzte König- 
thum hervorhebt, welches in ber Weigerung, ben kirchlichen Au⸗ 
orbuungen des Konigthums fih zu unterwerfen, liege. Gein 
Freunb Beza brang foger darauf, daß Antitrinitarier, auch 
wenn fie wiberriefen, dennoch hingerichtet werben ſollten. Crenũ 
animadversiones, XI, 90, 





70 


gelangten abweichenden, Kirche ober Partei Dulbung ges 
währt werben dürfe. Zwei oder mehrere Religionen im 
Lande zu haben, fagte man, fei gefährlich und ſchwäche bie 
Regierung.') Selbft der Kanzler Lord Bacon meinte: 
Die Aufßerfte Grenze der Duldung, bis zu welcher eine Re⸗ 
gierung gehen dürfe, fei erreicht, wenn fie fich mit bloß 
äuferlicher Anfchliegung au die herrſchende Religion be» 
gnüge, und nicht in das Gewiſſen und bie geheime Ueber⸗ 
zeugung ber Menfchen eiuzubringen verjuche.‘) 

So wußten die Katholiken, Fürften, Klerus und Bolt 
von Anfang au mit wölliger Beſtimmtheit, daß fie jelber 
unterbrüdt werben würden, fobald nur die Partei ver neuen 
Religion fich ftarl genug bazu fühle. Sie führten einen 
Kampf ver Selbfterhaltung, indem fie alles aufboten, das 
Eindringen des Proteftantismus in ihr Gebiet abzuwehren, 
ben bereit6 eingebrungenen iwieber auszuftoßen. Saͤmmt⸗ 
liche Reformatoren und Theologen der neuen Kirchen ließen 
in ihren Schriften nicht den leifeften Zweifel über das 
Princip, daß die Tatholifche Religion überall ausgerottet 

1) So 3. B. Lorb Burghley, ber Minifter ber Königin Eliſa⸗ 

beih ; fein Grundſatz war, ber Staat Tönne nie ficher fein, im 

welchem zwei Religionen geduldet würben. Denn e6 gebe keine 

größere Feindſchaft, ale bie um ber Religion willen u. ſ. w. 

Life of Lord Burghley, in Ped’s Desiderata ouriosa p. 33. 


?) Certain observations made upon a libel, 1592. Works, 
London, 1846, I, 882, 


71 


werben müſſe, wo man bie Macht dazu babe. Bald ent⸗ 
ſprach auch in Deutfchland, in den Scanbiuavifchen Län- 
dern, in England, in ber Schweiz, kurz überall, wo eines 
ber proteftantiichen Belenntniffe herrſchend wurbe, bie Praxis 
der Theorie. Und da man zugleich an ber Lehre fefthielt, 
dag vie Fürſten und bürgerlichen Behörden die Träger ber 
oberften Religionsgewalt feien, fo wurbe man, wie bieß bie 
Roryphäen des reformirten Belenniniffes thaten, dahingeführt, 
den Fürften, vie der calvintfchen Lehre nicht zuflelen, das 
Recht der Regierung abzufprechen, ihre Abfegung für er⸗ 
laubt ober nothwendig zu erfiären. Man weiß, wie weit 
Knor und Andere hierin giengen, welchen Antheil diefe An⸗ 
füht an dem Untergange Carls I. von Englaub hatte. 
Aber auh in Schweden wurde Sigismund feiner Krone 
beraubt, weil er katholiſch war. 

Bahle meint, die NReformatoren und ihre Anhänger 
hätten ſich doch iu großer Verlegenheit befunden, ba fie der 
alten Kirche gegenüber immer auf Gewifjensfreiheit ge- 
brungen, und den gegen fie gerichteten Zwang für vers 
brecherifch erflärt hätten, während fie doch wieber bie Obrig- 
leiten ermahnt hätten, jede andere Lehre und Genoſſenſchaft 
zu unterbrüden. Das geſchah indeß fo allgemein und war 
fo fehr im Geifte ver Zeit, daß ber Einzelne es nicht ein- 
mal mehr als einen Wiverjpruch empfand.) Die franzöft- 

+) Man barf nur fehen, wie ſich ber befannte Marnig be 


12 


Shen Proteftanten, fo fehr fie auch eine Minorität bilveten, 
und nur durch das Ediet von Nantes eine gefchükte Stel⸗ 
ung befaßen, wollten doch in den ihnen eingeräumten Sicher 
beitöpläßgen Teinem Katholilen geftatten, feine Religion aus⸗ 
zuüben. So war es im ganzen profeftantifchen Europa. 
Vreiheit für uns, Unterbrüdung für jebe andere Partei, 
war bie herrſchende Loſung. 

Die erften, welche mit der Religionsfreiheit Ernft mach⸗ 
ten, und die Eonfeffionen wirklich gletchftellten, waren bie 
fatholifchen Engländer, welche gegen die Mitte des 17. Jahr⸗ 
hunderts die Colonie Maryland in Norbamerika unter ver 
Führung des Lord Baltimore gründeten. Der Heine Staat 
genoß unter Fatholifcher Verwaltung eine kurze Zeit glück⸗ 
liher Ruhe und allfeitiger Freiheit. Aber fchon nach ein 
paar Decennten ftürzten bie zahlreicheren Proteftanten, von 
ber Regierung des Diutterlandes gedeckt, bie beftehende Ord⸗ 
nung, führten bie Kirche von England als herrſchende ein, 
und erließen fehwere Strafgefege gegen bie Uebung ber ka⸗ 


tholifchen Religion. ') 


Sainte⸗-Aldegonde gegen ben Vorwurf, ber ihm im 
einer Schrift: Antidote on Contrepoison contre les conseils 
sanguinaires de M.S A. gemacht wurbe, vertbeibigt in feiner 
röponse apologstique, 1598. 

1) Der Verlauf ift ausführlih bargeflellt in Macmahon’s 
histor. view of the government of Maryland, Baltimore, 1831, 
p. 198—250, und in Bancroft’sa histary of the United 


73 


Längere Zeit galten die Niederlande für das einzige 
Land in Europa, wo eine, wenn andy fehr befchräntte, Frei⸗ 
heit der Eonfeffionen beftehe. Hier war zwar ber Calvinis⸗ 
mus die Staatskirche, aber ein bedeutender Theil ber Bevöl- 
ferung war fatholifch geblieben; baneben gab es Arminianer, 
Lutheraner, Mennoniten und andere vom Ausland einge⸗ 
wanberte Selten. Diefe Tießen die General- Staaten im 
Ganzen ungeftört gewähren, jo daß Viele fih um biefer 
Freiheit willen in Holland nieberließen. Nur die Katholiken 
lagen unter ſchwerem Drucke.)) Seit der Mitte des 17. 


States, Boston, 1834. Es ift intereffant, das Urtheil eines 
lebenden proteftantifchen Theologen, Th o ma 8 Eoit zu New⸗ 
zochelle, darüber zu vernehmen. Er fagt in feinem Buche: 
Puritanism, or a Churchman’s defence, New-York 1855: 
In Maryland, as the Roman Catholics claim, the rights of 
conscience were first fully recognised in this country. 
This is a fact J never knew disputed by good authority, 
and, though a Protestant with all my beart, J accord them 
the full praise of it with the frankest sincerity etc 

N Das hebt Ihon Sir William Temple um 1670 in 
feinen Observations upon the United Provinces. Works, 
London 1720, I, 58 hervor. Der Prediger Brun, in 
feiner Schrift: La veritable religion des Hollandois, Amsterd. 
1675 p. 171 führt es als Beweis ber Frömmigkeit ber 
Nieberlänbifchen Regierung rühmend an, ba man ben Katho⸗ 
liken nicht nur alle ihre Kirchen, Schulen und Anſtalten ge» 
nommen, fie von allen Stellen ausgefchlofien, fonbern fie auch 
unzählige Male in der Ausübung ihres Gottesdienftes gehemmt 
und geftört babe u. |. w. 





14 


Jahrhunderts erhoben fich bereits einzelne pröteflantifche 
Stimmen für Gewährung confeffioneller Freiheit. Im An 
fange veffelben war ver Holländer Koornheert, ein Vor⸗ 
läufer der Arminianer, noch ganz vereinzelt mit feinen An⸗ 
fichten über Duldung geftanden. Erft feit ver Mitte und 
gegen Ende des 17. Jahrhunderts traten einige Vertheidi⸗ 
ger des Duldungs- Prinzips hervor: Milton, Richard 
Barter, Bapyle, Lode. Aber nur Locke erörterte bie 
Frage aufrichtig und gründlich, ohne in handgreifliche Wi« 
beriprüche zu fallen, oder zu Winkelzügen feine Zuflucht zu 
nehmen. ‘Die Uebrigen verlangten, nach dem Borbilde 
der Nieverlänver, alle proteftantifchen Parteien und Sel- 
ten follten fich wechfelfeitig Freiheit gewähren, bie katholifche 
Kicche jedoch als vie gemeinfame Gegnerin zu unterbrüden 
und zn veffolgen fortfahren. Als Gründe dafür gaben fie 
an, theil daß die Katholiken allein ein im Auslande befinb- 
liches Tirchliches Oberhaupt anerlenneten, theils daß fie, wenn 
fie einmal wieber die Stärferen würden, ihrerſeits bie Pro⸗ 
teftanten zu unterbräden verfuchen würden.“) Die biöherige 
Erfahrung batte freilich bewiefen, daß biefe Möglichkeit auch 
auf proteitantifcher Seite längft zur vollen Wirklichleit ge 
worben, denn 200 Jahre lang feit dem Entſtehen des Pros 
teftantismus war in einem Lande ober Länbchen, wo bie 


1) Bayle, Oeuvres, Il, 412. 


75 


Proteſtanten bie Uebermacht erlangt Hatten, ben Katholilen 
wirkliche Religionsfreibeit gewährt worden. Nur in einigen 
Städten und Ortfchaften Deutjchlands beftand in Folge bes 
Weſtphaliſchen Friedens gebotene Parität. 

Wie tief die Prinzipien des Religionszwanges den Ber 
fennern der neueren Lehren im Blute faßen, das zeigt in 
augenfälliger Weife das Benehmen des Angelfächfifchen Stam⸗ 
mes. In England waren nach der Reftauration zwar 
bie Hinrichtungen nicht mehr häufig; fie trafen nur noch 
latholiſche Geiftliche; aber dafür thaten bie Gefängniffe, bie 
fo ungefund waren, daß die Menfchen zu Tauſenden darin 
binftarben, ven Dienft des Henkers. Der Duäler William 
Benn vechnete, daß in Furzer Zeit gegen 5000 ber Religion 
wegen eingelerlerte Perfonen in ven Englifchen Gefängniffen 
aufgerieben worben ſeien.) Diefes Schickſal traf ſowohl 
bie Katholilen ale bie zahlreichen proteftantifchen Diffenter, 
vorzüglich die neuen Selten der Baptiften und Quäler. 

Puritaner und Preebyterianer waren abwechfelnd bie 
Unterbrüdten und bie Uutervrüder, immer aber theoretifch 
überzeugt, daß ed Gewiſſensſache fei, neben dem eigenen 


’) Mackintosh history of the English revolution, 
p- 158 — 60, Nach ber Berechnung biefes Geſchichtoforſchers 
find in England von 1660 bis 1685 gegen 25000 Berjonen 
ber Religion wegen eingelertert, nub 15000 Familien zu 
Grunde gerichtet worben. 


76 


Belentniffe Tein andres zu dulden, fobald man die Mittel 
zur Uebung des Zwanges befige. Sobald fie, vor ber 
Berfolgung des Deutterlandes entweichen, auf dem Boden 
von Nordamerika neue Staaten gegründet, fchufen fie eine 
Geſetzgebung, die an Härte und Unduldſamkeit ihres glet- 
hen fuchte‘). Katholifche Priefter, die fih nur im Lande 
fehen Tießen, wurben hingerichtet; Duäfer wurden gehängt, 
bie gelindeften Strafen des neuen Coder für fie und andere 
Iergläubige waren Brandmarkung, Verbannung, Durchs 
bohrung der Zunge mit einem glühenben Eifen. In dem 
Lande, welches feit feiner Unabhängigfeits- Erffärung im 
9. 1776 die Trennung der ftaatlichen Ordnung von ber 
religtöfen am weiteften burchgeführt hat, war im 17. Jahr⸗ 
Bunbert ein theokratiſches Regiment aufgerichtet, welches 
Religion und bürgerliches Leben vermifchte, ale Freiheit 
zerftörte, und wozu ſich faum ein zweites Beifptel in ver 
Befchichte finden dürfte. Doch reichten allerbings die Zu⸗ 
ftände in dem lutheriſchen Schweden nahe an dieſe calvi⸗ 
nifchen in Amerika bin. Denn dort war Staatsgefeß, daß 
wer über ein Iahr im Kirchenbann bleibe, des Reichs ver» 


1) Die fogenannten blue laws von Neu- England. Eine aus⸗ 
führliche Analyſe derfelden bat Spalbing, Biſchof von Louis⸗ 
ville in Norbamerila, gegeben in feinen Miscellanes, com- 
prising Reviews, Leotures and Essays. Louisville, 1855, 
p. 855 — 880. 


77 


wiejen werben folle, daß der Gebannte von jedem gefell- 
ſchaftlichen Umgang ausgejchloffen fein müffe; ferner war 
porgefchrieben, daß wer in theologifchen Materien auch nur 
anftößige Redensarten gebrauche, und davon nicht ablaffen 
wolle, abgejeßt und aus dem Lande verbannt werben folle'). 
Es verfteht fich, daß e8 bei einem Zuſtande, wie eine der⸗ 
artige Geſetzgebung ihn bevingt, in Schweden zu einer theo⸗ 
logiſchen Literatur und wiſſenſchaftlichen Bildung bes geiſt⸗ 
lichen Standes gar nicht kam. 


Mackin tofh hat treffend hervorgehoben, welch eine un⸗ 
berechenbare Willkür und ganz deſpotiſche Gewalt der Pros 
teftantismnd alfenthalben in bie Hände ver Fürften gelegt 
babe, indem er ihmen die oberfte Autorität über die Reli 
gion, und bamit Vollmachten übertrug, beren Ausübung 
weder durch Gefe noch durch Sitte oder Erfahrung ge 
regelt, deren Gränzen überhaupt nicht gezogen waren.?) 
Die Sache ſelbſt war aber ſo feſt mit dem proteſtantiſchen 
Bewußtſein verwachſen, daß die Theologen, wenn fie zur 
Sonformität mit ber Lanbesfirche mahnten, und gegen 
Separatiften jchrieben, bie Lobalität gegen ben Lan« 
desherrn, die Ehrfurcht vor Gefeg und Obrigkeit als 


1) Kirchengeſetz und Ordnung Karls XI. Stodholm, 1687. S. 7. 38. 

?) History of the revolution. ed. Paris. J., 230: the execu- 
tion of the prerogative of which neither law nor ex- 
perience bad defined the limits. 


78 

gewichtigftes Argument geltend machten. So führte ber 
Erzbifchof Tillotjon das Thema aus: Wer nicht gleich 
den Apofteln eine unmittelbar göttliche Sendung aufweifen 
koͤnne, der frevle durch Verkündigung einer andern ald ber 
ftaatlich approbirten Lehre gegen Obrigkeit und Geſetz.) 

Seldft in einem katholifchen Lande, in Frankreich, hatte 
die Theorie, daß die Religion des Königs auch vie aller 
guten Unterthanen fein mäffe, im 17. Jahrhundert vielfach 
Eingang gefunden. Ihr vorzüglich ift der Widerruf des 
Edicts von Nantes durch Ludwig XIV. und das Unter- 
nehmen entjprungen, die Proteftanten durch alle Mittel, 
milde und gewaltfame, erlaubte und unerlaubte, Tatholifch zu 
machen. Es ift Thatſache, daß die Intendanten und Mas 
giftrate den Proteftanten als entſcheidendes Argument den 
Willen, das Gebot ded Königs, vorzubalten pflegten, un 
ber Vorwurf, den Bahle dem Tatholifchen Clerus machte, 
daß er dieß gebuldet und nicht laut dagegen proteftirt habe, 
ba doch ein ſolches Verfahren ver Fatholifchen Religion geradezu 


1) S. feine Abhandlung ober Rebe: The protestant religion 
vindicated from novelty. Works, London, 1751, 11, 247. 
Noh in nenerer Zeit bob Danbeny (Appendix to the Guide 
to the Church., II, 434) das Berbrechen bes Ungehorſams 
gegen bie höchſte Autorität bes Staates hervor, das in jeber 
Abſonderung von ber Landeskirche Tiege, Jeder Kenner Eng⸗ 
liſcher Zuftände weiß, daß dieſes Motiv noch jettt bei gewiflen 
Claſſen der Bevölkerung ein fehr wirkfames ift. 


19 


widerfpreche — biefer Vorwurf ift nicht ungerecht.) Der 
franzöfifche Clerus hat hundert Jahre fpäter dieſe Schuld 
feineer Vorgänger mit Strömen feines beften Blutes abr 
wachen müffen. Bon ben Löniglichen Edikten, welche den 
Broteftantismus unterbrüdten, wurde in Büchern und Pas 
foralichreiben gerebet, al8 ob es Sacramente wären, wie 
berfelbe Bayle bemerkt.) Ein vormals proteftantifcher 
Schriftfteller, Brueys, fuchte in einer eignen Schrift über 
den Gehorfam, welchen bie Ehriften der weltlichen Gewalt 
ſchuldeten, zu zeigen, daß tie Proteftanten im Gewiſſen 
verpflichtet feien, ven königlichen Evikten, welche ihnen bie 
gottespienftlichen Berfammlungen unterfagten, zu gehorchen. 
Statt einer Hirchlichen Verwerfung feiner Schrift ärntete 
er Lob und Empfehlung. 

Aus dem Webermaß des Uebeld, dem Paroxysmus ber 
Krankheit erwuchs allmählig die Geneſung. Ste erforberte 
fange Zeit. Mehreres wirkte zufammen, einftweilen einen er⸗ 
träglicheren Zuftand herbeizuführen. Zuerſt vie innere Er- 
fchlaffung ber proteftantifchen Staatslirchen, namentlich 
ter mächtigften, ver Englifchen, welche durch die Folgen ihres 
Sieges, der Revolution von 1688, jchwer befchänigt wurde. 
Mit dem 18. Jahrhundert trat in England ein fo weit 


!) Oeuvres, Il, 348, 
?) Oeuvres, II, 33.: 


80 


und tief greifender Verfall ver Religion ein, gelangte eine fo 
inbifferentiftifche Gefinnung zur Herrichaft, daß in ven höheren 
Klaffen auch nicht einmal jene Gattung von Eifer mehr 
fih vorfand, welche zur Verfolgung Andersgläubiger erfor- 
berlih if. Es war fo weit gelommen, daß Fremde, wie 
Montesgquteu, in England den Eindrud empfingen, e8 gebe 
ba feine Religion mehr, und ernite Männer, wie vie Biſchöfe 
Gibſon und Butler, die Beſorgniß äußerten, bie ganze 
Nation möge in Sittenlofigkeit nnd Unglauben verfinten. ') 
Die Secten der Diffenters ließ man gewähren, ba man 
ihr Treiben nur noch als Thorheit oder unfchäblichen Fa⸗ 
natismus betrachtete; die Katholiten waren in England zu 
einem Keinen, flillen, faft nicht mehr bemerkten Häufchen 
zufammengefchmolzen, und man fcheute fich doch, ben ſchweren 
Hammer der Pönalgefege wider einen fo fchwachen, laum 
fichtbaren Gegner zu ſchwingen. Anders freilich ftanden 
die Dinge in Irland, wo das Intereffe ber proteftantiichen 
Partei noch immer erheifchte, daß die Mehrheit ver Nation 
im Zuftande des Helotenthums feitgehalten werde. Im 
England jedoch Fam zu dem Inpifferentismus, der nur eben 
bie Dinge gehen ließ, das dem angelfächfifchen Stamme 
eigene Rechts⸗ und Treiheitögefähl hinzu, um ben Sinn 
für religiöfe Dulbung mehr und mehr zu weden. 


3) Quarterly Review, t. 102 p. 463. 


81 





Deutfchland blieb währenn des 17. und im Beginne bes 
18. Jahrhunderts treulich in den Geleiſen des jechözehnten. 
Das Joch der kirchlichen Fürftenberrichaft, des @äfaropapismus, 
wie man fagte, faftete mit unverminberter, erftidender Wucht 
auf dem proteftantifchen Kirchenweſen; faft alle beffer ge⸗ 
finnten Männer Hagten barüber, unb wenn man gerabe 
vergaß, daß es doch die Reformatoren und Vaͤter ber neuen 
Kirche ſelbſt feien, die ihrem Kinde dieſes Angebinde bei 
feiner Geburt mit in die Wiege gegeben, fo fagte man 
wohl, wie Balentin Andreä: der Satan babe ven Ca⸗ 
faropapat erfunden.‘) Auch Hinrichtungen ber Religion we⸗ 
gen kamen noch immer vor.) Die Reaction gegen ben 
Bietismus führte zu neuen enblofen religiäfen Bedrückungen 
und Duälereien. Niemand follte fich mit Andern zu religiöfen 
Zweden verfammeln vürfen?). Bald kam auch die Feindſchaft 


— 





3) Anton Böhme’s Schriften, II, 986. 


n Im Schweden wurde Banier aus Stargard, weil er in ber 
Rechtfertigungslehre nicht rein lutheriſch dachte, hingerichtet. Im 
Königsberg wurde Joh. Abelgreiff 1636 enthauptet 
unb verbrannt, Im Lübel wurde Günther wegen fociniani- 
ſcher Anfichten im I. 1687 auf das Gutachten ber Juriſten⸗ 
facnltät zu Kiel und ber theologifchen Facultät zu Wittenberg 
enthauptet. Arnold s Kirchenhiſt. II, 643. 

2) Wenn im Anspachiſchen, berichtet Joh. Jal. Moſer in feiner 
Lebensgeſchichte, S. 191, nur Einige zuſammen in ihren Häu⸗ 
ſern ein geiſtliches Lied ſangen, wurden ſie in den Thurm ge⸗ 

v. Doͤllinger, Papſtihum. 6 


ber Behörben gegen bie Anhänger Zinzenborfs Hinzu. Bei 
Strafe der Landesverweifung wurde verboten, Herrnhutiſche 
Bücher zu verbreiten.) In ben preußifchen Staaten wur⸗ 
ben bie Lutheraner gemaßregelt, und bie Regierung unter- 
fagte veligidfe Gebräuche, die den Neformirten mißfielen. 
Man war fo gewöhnt an kirchlichen Despotisnus, an Ein⸗ 
mifchung ber Behörben in's Privatleben unter religiöfen 
Borwänden, daß ſelbſt Weltieute In Schriften dazu auffor- 
berten, Weußerungen im gefelligen Umgange, bie nicht ganz 
orthodox Iauteten, follten vor Gericht gezogen und ernftlidh 
beitraft werven ”). 

Darüber kam vie Mitte des vorigen Jahrhunderts 
berbei, und Deutichland war im Gruude ber Theologie des 
fechszehnten Jahrhunderts innerlich fatt geworden. Die 
bogmatifchen Syſteme des Concordienbuchs und des 
Heidelberger Catechismus mit ihren inneren Widerſprü⸗ 
hen und ihren focial» politifchen Gonfequenzen lagen wie 
ein brüdender Alp auf dem beutfchen Geiſte. Die 


ſteckt. — Ganze Bände find mit den Strafebicten gegen Pieti- 
ſten und Conventikel gefüllt. 

1) Meüfel’s hiſt. lit. Magazin, 1790, 11, 16. 

9 Dieß verlangt 3.8. Bernh. von Rohr, Einleitung zur Staats⸗ 
Hugheit, Leipjig 1718, ©. 292 bezüglich ber damals oft gehör- 
ten Aeußerung, daß man in allen Weligionen fellg wer⸗ 
den könne. 


88 


beiden Hauptftügen des alten proteftantifchen Syſtems, bie 
Autorität der Univerfitäts- Profefjoren und das Firchliche 
Fürftenregiment, waren abgenägt und morſch. Die Pros 
fefforen wurden Nationaliften, und auf dem Throne bed 
proteftantifchen Hauptftantes faß ein Oberbifchof der Kirchen 
feines Landes, der, wie er fagte, mit der Religion niemals 
umter einem Dache gewohnt hatte, und deſſen Lieblings⸗ 
befhäftigung war, die Geiftlichen, pie in feinen Augen nur 
ein Haufen von Dummlöpfen, Faullenzern und unnüßen 
Brobeifern waren, zu verhöhnen‘). Mit wunderbarer Schnel» 
figfeit ergoßen fich die Fluthen des, Nationalismus genanıt- 
ten, und als Theologie fich gebehrdenven, Unglaubens über 
Deutjchland, und überall waren die Theologen, die Prebiger 
bie erften, die fich ihm Bingaben. Friedrich's IL, Wort, 
daß in feinen Staaten jeder nach feiner Facon fellg werden 
könne, bezeichnete den Umfchwung: durch ben Glaubens⸗ 
mangel der Fürften und ver Theologen, ber fich bald ven 
höheren Ständen überhaupt mittheilte, entwidelte fich eine 
Gefinnung, bie zwar bie weltlich «polizeiliche Behandlung 
firchliher Dinge ſich wohl gefallen ließ, viefelbe eher noch 
befeftigte, die aber Doch der Anwendung von Zwangs⸗ 
mitteln im religidjen Gebiete ubgeneigt war. Man begehrte 


) Für die proteftantifche Kirche und deren Geiftlichkeit, ein Jour⸗ 
nal 1810, II, 84. 


6* 


94 


und verſchaffte ſich allgemein die Freiheit, ſich nach Gut⸗ 
dünfen ber Theilnahme am Cultus zu entziehen ober wieder 
zuzuwenden. Das führte weiter: es erfchien natürtich und 
billig, daß auch die confeffionellen Befchräntungen, vie bür- 
gerliche Ungleichheit der Bekenntniſſe wegfalle. Ohnehin 
hatte die bisherige Trennung von Lutheranern und Nefor- 
mirten feit der Verbreitung der rationaliftiichen Denkweife 
alle Bedeutung verloren. Schroffer freilich blieb ver alte 
Gegenſatz ber Tatholifchen Kirche umb des Proteſtantismus. 
In Dänemark, welches doch in religtöfer Beziehung allen 
Strömungen Deutjchlands zu folgen pflegte, konnte noch im 
den Iahren 1777 und 1779 verorbnet werden, daß Orbens- 
geiftliche bei Todesftrafe das Land nicht betreten bürften. ') 

In Frankreich hatte das gemwaltthätige und gehäßige 
Verfahren gegen bie Broteftanten und vie Folge davon, die 
Auswanderung fo vieler Tauſende, welche dem Wohlſtande 
bes Landes eine empfindliche Wunde ſchlug, einen gewaltigen 
und nachhaltigen Rüdichlag erzeugt. ‘Die Ausgewanderten, 
unter denen viele Männer von wiffenfchaftlicher Bildung 
ſich befanden, bemächtigten fich eines großen Theil® ber aus- 
wärtigen Prefie und erfüllten ganz Europa mit ihren An« 
Hagen. Die Dragonaben, bie verfolgungsfüchtige Thrannei 
der franzöfifchen Regierung wurden fprihwörtlid. Dean 


1) Reuter’s theolog. Repertorium, 70r Bb. ©. 168. 


begann in Frankreich, fich dem Auslande gegenüber befhämt 
und gebemüthigt zu fühlen. Der Nimbus des Königthums, 
ber ten Franzoſen jede Maßregel Ludwigs XIV. in gün⸗ 
fligem Lichte erfcheinen ließ, war durch bie Regentſchaft und 
burch Ludwigs XV. veräctliche Regierung zerftört. Die 
Geſchichte mit Calas gab Anlaß zu populären, warın und 
berebt gefchriebenen Erörterungen über bie Borzlige, bie 
Bernunftmäßigfeit religiöfer Duldung, unb bie beiftifche 
une indifferentiftifche Denkweife, die fich der höhern Stände 
auch in dieſem Lande bemächtigte, that das llebrige. Jede Wen- 
bung in den Anfichten und Gefinnungen des franzöftichen Volles 
pflegt auf die ‘Denkweife, die Zuftände von ganz Europa 
beftimmenden Einfluß zu üben. Damals nun wurbe, wie 
in Frankreich fo anberwärts, geltend gemacht, daß Verfol⸗ 
gung und Zwang nur Beuchler mache, daß das Bewußtſein, 
für den Glauben zu leiden, und Märtyrer aufweifen zu 
können, das Selbftgefühl und Bertrauen, fo wie das An⸗ 
feben einer Kirchengemeinſchaft nur erhöhe. Man fühlte und 
fagte: daß eine Kirche, welche ven Arm der Staatögewalt an⸗ 
rufe, und ihren Gegnern den Mund mit Zmangsmiitteln 
und Strafen verſchließe, ſich ein Zeugniß geiftiger Impo⸗ 
tenz ausftelle. In ganz Europa wurde mehr und mehr 
die Anficht herrfchend, daß die Kirchen blos geiftiger Waffen 
zu ihrem Schuße ſich bebienen dürften, daß es Pflicht ver 
Staatsgewalten fei, fich jedes Zwanges in religiäfer Bes 


‘86 





ziehung zu enthalten. Die alten Gefeßgebungen, bie auf 
bem entgegengejettten Prinzip rubten, beſtanden allerdings 
noch lange fort, beftehen zum heil, wie in Schweden und 
Spanien, noch jetzt; aber die Abneigung, fie in ihrer gan⸗ 
zen excluſiven Härte zu handhaben, Hält fchon feit geran- 
mer Zeit den Arm ver Staatsgewalt zurüd, ober läßt ihr 
felbft die Aenderung der noch beftebenden Pönalgeſetze als 
wänfchenswerth erjcheinen. Auch Tatholifhe Biſchöfe be= 
mühen fih mun zu zeigen, daß das Prinzip ver Unterbrüd- 
ung und Verfolgung Anbersgläubiger nie Lehre der Kirche 
gewefen fet, und vaß wenn bie Katholiken in früheren Zei⸗ 
ten Verfolgung geübt Hätten, dieß doch nicht als eine 
Folge des kirchlichen Dogma anzufehen ſei.) 

In der That konnte auch die Tatholifche Kirche in die 
neue Richtung der Zeit ohne Schwierigkeit und ohne Be- 
denken eingehen, und ver immer ftärfer unb gleichförmiger 
fi ausprägenden Sffentlichen Meinung, welche Zwang in 
religiöfen Dingen mißbilligte, Rechnung tragen. Sie hatte 
nie die Lehre aufgeftellt, daß die Fürften Gebieter über vie 
Religton ihrer Vöolker feien. Ihre ganze Doctrin von der 
Fürftengewalt und dem Verhältniße zwiſchen Obrigfeiten 
und Untertanen befchränfte ſich auf pie apoftolifche Forde⸗ 
zung bes Gehorſams In erlaubten Dingen. Ste hatte ſtets 


I) So Biſchoſ Spalbing in ber introductory Address zu feinen 
Mincellanea p. XXX. eq. 


87 


den mannigfaltigften politifchen Geftaltungen freien Spiel» 
ranın gelaffen, fie hatte, ihrer Schranken eingebent, nie zu 
beftimmen unternommen, welches das Maaß und die Form 
ber öffentlichen Gewalt fein, wie viel an Autonomie dem 
Bolfe, wie viel dem Herrſcher und feinen Organen zulont« 
men folle. Welche Dinge Gegenftanb der Verwaltung fein, 
welche dagegen ber autonomifchen Beftimmung bes Volles 
überlaflen, over an ftänbifche Zuftimmung gebunben fein folls 
ten, das ging fie nicht an. Nur Freiheit ber Bewegung in 
ihrer eigenen geifligen Sphäre Hatte fie ſtets geforbert. So 
tonnten nicht nur in ihrem Schooße Staaten mit fehr verſchied⸗ 
nen Einrichtungen bezüglich ber confeſſionellen Berhältniffe bes 
ftehen; die Monarchen konnten auch, ohne deshalb nie Mißbillig⸗ 
ung ber Kirche zu erfahren, ven Srembgläubigen ihrer Staaten 
die ftärfften Zugeftänpniffe machen, wie e8 ſchon bie fran- 
zöfiichen Könige durch das Edikt von Nantes ohne Wider 
fpruch des franzöfifchen Epiſtopats und des päpftlichen Stuhls 
gethan hatten. Man fand es von Seite der Kirche billig 
und recht, daß König Jakob II. von England, obgleich Ka⸗ 
tholik, fich verpflichtete, die Freiheiten und den Beſitzſtand 
der anglitanifchen Kirche aufrecht zu erhalten und beim 
Parlamente anf allgemeine Neligionsfreibeit zu bringen ?). 


) Bol. das Gutachten von Boffuet bei Mazure, histoire de 
la revolution de 1688. Paris, 1825, III, 886. 





Er Hat freilich fein Berfprechen nicht gehalten, unb bamit 
feinen Sturz herbeigeführt. Es war überhaupt zu erwarten, 
daß die Kirche in veränderter Lage und bei einemlimfchwung 
in den Anfichten der Böller wieber jene Haltung früherer 
Zeiten einnehmen würbe, gemäß welcher fie es rubig er- 
tragen hatte, daß ausgebildete und felbftftändig geivorbene 
Neligionsgefellfchaften neben ihr, gleich viel ob mit gleichen 
ober geringeren Rechten, beftanven. 

Gegeuwärtig nun herrfcht in ganz Europa ber ent« 
ſchiedenſte Widerwille gegen jeben Verſuch, vie Religion ale 
politifches Mittel zu gebrauchen, und eben fo allgemein und 
entſchieden proteftirt man gegen ftaatlichen over polizeilichen 
Zwang in religidfen Dingen. So oft irgendwo in Europa 
(mit Ausnahme Rußlands, das auch hierin für privilegtrt 
gilt) ein Akt confeffionellen Zwanges fich ereignet, entftebt 
allgemeine Aufregung, eine Agitation zum Behuf einer Des 
monftration im entgegengefekten Sinne findet gebahnte 
Wege, und erreicht, wenn fie gut geleitet und beharrlich 
fortgefett wird, faft immer ihren Zweck. 

Und doch bat vie Sache noch eine andere Seite, be 
ſonders wenn man bie Lage einer Staats⸗ und Vollsfirche 
erwägt, welche noch im Beſttze der ganzen Nation ift, fo 
daß im Lande noch kirchliche Einheit befteht, und dieſe Ein⸗ 
heit, dieſer kirchliche Landesfriede nur durch von Außen ber 
eindringenbe Verbreiter einer fremden Lehre geftört und 


9 
zerriſſen werben fol. Stellt man ſich nun auf ven allge 
wein chriftlichen Stanbpunkt, und abftrahirt man von ben 
Trennungen unter den Ehriften, fo lann man wohl jagen: 
Religion und Sittlichlett des Volles find in jebem Staate 
unzertrennlich mit einander verbunden, fo baß ein Angriff 
auf jene immer auch, und unvermeidlich, eine Beeinträch⸗ 
tigung der letzteren in fich begreift. Die Aufgabe der 
Staatsgewalt aber iſt es, für das öffentliche Wohl, für bie 
Erhaltung jener Prinzipien und Anfchauungen, von welchen 
bie allgemeine Sittlichleit getragen wird, zu forgen, drohende 
Berlegungen verfelben abzuwenden. Damit ergibt fich bie 
Berpflichtung, auch die Landesreligion zu fchügen. Dean 
darf Hier nicht einmwenben, daß bie chriftliche Kirche ftark 
genug fei ober fein müſſe, fich felber zu fchägen, Ungriffe 
der Härefie und des Uinglaubens zu überwinden; denn that⸗ 
fächlich ift fie eben nicht ſtark genug dazu. Sie ift es erftene 
nicht, weil ver Angriff auf eine dem natürlichen, gefallenen 
Menſchen fo läftige, fo Vieles und Schweres ihm zumu⸗ 
thende Religion im Bunde mit allen natürlichen Leiden» 
fchaften uud ben ftärfften Neigungen bes fich felbft über- 
laffenen Menſchen ftebt, und in ver Bruft eines jeben ſchon 
einen mächtigen Mitftreiter findet. Zweitens ift bie Reli⸗ 
gion auch barum dem Kampfe, wenn ihr Gegner völlig 
freie Hand Hat, nicht gewachien, weil das Chriſtenthum ein 
zufammenbängendes Ganze von Lehren, Vorfchriften, Rath⸗ 


90 


fihlägen und gefegichtlichen Thatſachen bildet, in welchem 
eines durch das andere getragen und verbürgt wird. Diefen 
Bufammenbang aber vermögen überhaupt nur äußerft wenige 
Menfchen zu überfchauen, und noch wenigere ober Riemanb 
vermag benfelben fich flet$ gegenwärtig und Mar zu erhalten. 
Die Gegner aber richten ihre Angriffe ftetd nur auf ein⸗ 
zelne, aus dem Ganzen herausgeriffene und ifolirte Be 
ftanbtbeile, wodurch der Angriff leicht ftärker ift und plau« 
fibler erfcheint, als die Vertbeipigung. Deshalb muß das 
Gewicht der Staatsmacht zu Gunften der angegriffenen 
Religion in die Wagfchale gelegt werben. 

Ferner tft auch das zuzugeben, daß es bis jeht noch 
feinem Anwalt ver Freiheit des Angriffs auf die beſtehende 
Religion gelungen ift, bie Gränzen genau zu beſtimmen, 
innerbafb welchen dieſe Freiheit geitattet werben folle. Con⸗ 
fequent tft dieſe Freiheit bis jet noch nirgends in der Welt 
durchgeführt, auch nicht in England und nicht in Norbamerifa. 
Dagegen läßt fich freilich auch erwiedern, bie Vertheidiger 
des der Religion zu gewährenden Staats⸗Schutzes und bes 
Zwanges, obne welchen zulegt ein folcher Schuß nicht wirk⸗ 
fan geibt werben kann, feten ihrerſeits auch nicht im Stanbe, 
vernünftige Graͤnzen anzugeben, bis zu welchen vie Repreffton 
nener Lehren und die Vertheidigung ber Staatslirche gehen 
folle. In Zeiten religiöfer Aufregung wirb eine folche Re- 
prefiton, wenn ernftlich und durchgreifend gehanbhabt, zur 


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91 


furchtbaren Tyrannei, welche die Gemüther empört, und 
deren Rüdichlag für die Kirche dann verberblicher wirb, als 
es der Zuſtand der Schutzloſigkeit für fie geweſen wäre. 
So Täßt fich denn am Ende nur fagen: Seit den gro- 
Sen Spaltungen des ſechszehnten Jahrhunderts ift in ben 
Enropãiſchen Eulturftaaten ein Zuſtand eingetreten, ift ber 
Verkehr und die Mifchung der Volker, die Leichtigkeit der 
Mittheilung fo gefteigert, der mwechfelfettige Einfluß ber Na⸗ 
tionen fo unberechenbar geworden, und übt die Sffentliche 
Meinung eine fo unmwiverftehliche Macht, daß die Staats 
gewalten im eignen Intereffe, wie in dem ber verfchlevenen 
Kirchen, fi in die Nothwendigkeit verfeßt fehen, der Ein- 
miſchung in die religiöfen Verwicklungen ſich möglichft zu 
enthalten, den Gliedern verſchiedner Bekenntniſſe, fo lange 
fie nur wirklich noch chriftlich Heißen Tönnen, bei glei 
chen Pflichten auch gleiche bürgerliche Nechte zu gewähren, 
und dem geiftigen Kampfe der Kirchen ruhig zuzufeben, 
doch mit dem Berufe, für Wahrung des öffentlichen Rech⸗ 
te8, der bürgerlichen Ordnung und ber vollen Freiheit Aller 
Sorge zu tragen. Seit hundert Jahren bat der ganze 
Entwidiungsgang Europa's dahin geführt — und darf 
man darin wohl bie Hand ber göttlichen Vorfehung erfen- 
nen — daß Ratholifen und Proteflanten immer mehr äu⸗ 
Berlich einanber ‚genäbert, in bäuflgere und engere bürger- 
liche und gefellfchaftliche Berührung mit einander gebracht, 


92 n/ 





in bie Nothwenbigleit des gemeinfchaftlichen Wirkens und 
fich Verftänbigens verfett worben find. Die alten confeffionel« 
len Bollwerke und Scheivewände im bürgerlichen Leben 
find mehr und mehr gefallen, oder unhaltbar geworden. 
Bir konnen nicht mehr von einander laffen, nicht mehr 
in bie alte Entfernung und Scheidung zurädtreten, fo läftig 
und fchmerzlich auch oft bie Folgen des jetzigen Zuftandes 
ſein mögen. Und manche aus dieſer Miſchung entſprungenen 
Verwickelungen und Probleme, wie unldébar fie auch ſchie⸗ 
nen, haben mit der Zeit denn doch eine Loſung gefunden, 
oder laſſen wenigfiens eine Hoffen. Unſere Nachkommen 
aber werden einſt erkennen, daß dieſe Verſchlingung und 
Miſchung zuletzt doch ihre überwiegenb wohlthaͤtigen Folgen 
hatte, daß fie 
like an ugly toad and venomous, 
Wears yet a precious jewel in its head, 

Dabei aber kaun und muß ber Staat, wenn 
er fih nicht felbft aufgeben, und fich gebunden ben über- 
wältigenben beftructiven Hichtungen und Mächten des Zeit- 
alters überliefern will, feinen Charakter als chriſtlicher 
Staat wahren und retten. Er darf das den chriſtlichen 
Kirchen Gemeinſame nicht darum abſtreifen und preisgeben, 
weil er bei beſtehender PBarität ver Eonfefflonen das Ei⸗ 
genthütnliche ber einzelnen Kirchengenoffenfchaften dieſen über- 
laſſen muß, ohne ihnen für ſolche Sonderlehren ober Ins 


ſtitute ſtaatsrechtliche Geltung zu gewähren. Denn bie 
&riftlich focialen Elemente und Prinzipien, durch welche 
Ehe, Bamilte, Kindheit, bie Grundlagen ber bürgerlichen 
Ordnung befeftigt und geweiht werben, bie focialen Tugen⸗ 
den der Nächftenliebe, Arbeitſamkeit, Keufchheit und Mäßig- 
keit zu religiöfen Pflichten werden, das Verhältniß zwifchen 
der Staatsgewalt und den Untergebenen von einer reli⸗ 
giöfen Grundlage getragen wird — dieſe ganze chriftliche 
Geſellſchaftsordnung und ihre Bürgfchaften in ber Lehre 
wie im Leben muß- jeder Staat, der leben will, fich um 
jeden Preis erhalten. Und wenn man ihm, wie jetzt häufig 
gefchieht, mit Berufung auf die „Freiheit der Wiffenfchaft“ 
zumutbet, diefe Dinge den Angriffen ver „Wiffenden“ und 
ihren zerfeßenden Doctrinen preiszugeben, ſei e8 im Namen 
einer materialiftifchen Naturlehre, ober einer kritiſch aufld- 
ſenden Geſchichtsbehandlung — fo iſt das gerabe, als wenn 
man einem Baume ſagte, er müſſe die Wurzeln zerſtören 
laffen , aus benen er bisher Saft und Leben gefogen; er 
werbe aber boch forteriftiren. 


3. Bie Kirchen und die bürgerliche Freiheit. 
Bor einigen Jahren hat ver geh. Juſtizrath und Brof. 
Stahl in Berlin in geprudten Vorträgen ') einen ſcharfen 


») Der Brotefantismus als politifhes Prinzip. 
Berlin 1858. Ich geſtehe, daß ich biefe Schrift. die ich früher 


94 


Angriff auf den focialen und politifchen Charakter und Eine 
fluß der katholiſchen Kirche unternommen. Was er über 
das Gapitel der religiöfen Duldung fagt, will ich Teiner 
weitern Prüfung unterziehen. Die bisher von mir gegebene 
Darſtellung ver gejchichtlichen Eutwicklung dieſer Frage wirb, 
mit ber bes H. Stahl verglichen, zur Bildung eines Urs 
theild darüber genügen. Hr. Stahl geht aber viel welter. 
Nach feiner Theorie gibt der Proteſtantismus burch bie 
Rechtfertigung ans dem Glauben dem Menichen einen 
höheren Grab innerer (moralifcher) Freihe it, und brängt 
dadurch („gewiffermaßen”, fügt ex beſchränkend bei) auch 
zu einem höheren Maß äußerer (politifcher) Freiheit. 
Er nimmt demnmach ay, daß bie proteftantifch gewordenen 
Staaten durch diefe Religionsveränderung zu größerer Freie 
beit gelangt feien, als vie fatholifchen. Kine kurze gefchicht» 
liche Prüfung dieſer Behauptung darf ich mir nicht erlaffen. 

Stahl bezeichnet die Hauptlehre, von ber er fo große 
politifche Segnungen ableitet, näher als bie Lehre von ber 
zugerechneten Gerechtigkeit, uud er bat ganz Recht, 
wenn er in biefem „Artikel ver ſtehenden und fallenden 


nicht beachtet, und jet erſt, da ich über ben Gegenſtand ſchrei⸗ 
ben wollte, zur Hand genommen babe, mit Erſtaunen gelejen 
habe. Ich habe wirklich keinen Begriff bavon gehabt, baf ein 
Mann von dem Anſehen des H. St. eine berartige Auffafjung 
und Behandlung der Geſchichte fich geftatten könne. 


96 


Kirche“, fo wie derſelbe in ver Soncorbien-Formel und von 
ber ganzen alten proteftantifchen Theologie verftanden wir, 
das Dogma erlennt, in welchem der Gegenſatz zwiſchen ber 
fatholifchen Kirche und dem BProteftantismus nach feiner 
älteren Geftalt ſich am fchärfften auspräge. Nur muß ich 
ihm doch bemerken, daß er mit biefer feiner Lieblingsichre 
und Mutter der politifchen Freiheit gegenwärtig ziemlich 
vereinfamt ſteht. Alle, oder faft alte, wiſſenſchaftlichen 
Theologen feiner eigenen Confeſſion, fowohl In Deutſchlaud 
als answärts, haben ihr entfagt, die Exegeten erlennen 
an, daß fie dem Neuen Teftamente fremd ift, baß fie Luther 
zur durch eine falſche Ueberfegung in einen ber Briefe 
Pauli hineingetragen bat, und die bogmatifchen Theologen 
verzichten darauf, fie biblifch oder ſpekulativ zu begründen. 
Ich mache mich anheiſchig, ihm gegen einen, ver fich ihrer noch 
annimmt, fünfzehn zu nennen, die fie als unbaltbar aufges 
geben haben’). 


2) Hr. Stahl beruft ih &. 98 anf Barter’s aſcetiſche Schrif⸗ 
ten, bie er bem Exercitien bes Ignatius weit vorziehe. Er 
ſcheint nicht zu willen, daß biefer allerdings ausgezeichnete 
Theologe fein ganzes Leben hindnrch ſich's zur eigenen Aufgabe 
gemacht bat, bie proteftantifche Rechtfertigungsiehre und bejon- 
ders bad Imputationsdogma ale eine unbiblifche und feelen- 
verberbfihe Irrlehre zu befämpfen, und zwar fowohl in feinen 
praftifch-afcetiichen wie in feinen bogmatifchen Schriften. Bier- 
zig Jahre lang hat Barter die Lehre, die in H. Stahls Augen 


Schen wir nun, wie es fi mit bem größeren 
Maße politiicher Freiheit verhält, welches die Zu» 
rechnungslehre ven Böllern gebracht Haben fol. Wir 
beginnen mit ven Scanbinavifhen Staaten, als den⸗ 
jenigen, in denen das Lutherthum fich ohne fremde Störung 
am zeinften zu entwideln, und feine ſocial⸗politiſchen Wir- 
Zungen obne irgend ein Hemmniß zu entfalten vermocht bat. 

Der Engländer, Lord Molesworth, ber ben pros 
teftantifhen Norden genau Tennen gelernt hatte, bemerkt 
im 9. 1692. „In der Römifchelatholiichen Religion mit 
ihrem Kirchenhaupte in Rom ift eiu Prinzip bes Wider⸗ 
ſtandes gegen unumſchränkte bürgerliche Gewalt; aber im 
Norden ift bie Iutherifche Kirche der bürgerlichen Gewalt 
solfftäudig unterwürfig und bienftbar, und bie ganze nor⸗ 
bifche Bevölkerung proteftantifcher Laͤnder hat ihre Freihei⸗ 
teu verloren, ſeitdem fie ihre Religion mit einer beiferen 
vertaufcht haben.” Die Urfache davon fucht er in ber ab» 
foluten und alleinigen Abhängigkeit bes proteftantifchen 
Elerus von den Monarchen. „Die Iutherifche Geiftlichkeit, 
fagt er, bewahrte ihre politiiche Macht als eigne Kammer 
oder Stand auf den Lanbtagen, obſchon fie zugleid von 
ber Krone als ihrem geiftlichen und weltlichen Obern abhing'). 

das innerſte Myſterium ber chrifllihen Religion if, in allen 

ihren Wendungen und bis in ihre Schlupfwinkel verfolgt und 


wiberlegt. 
1) Account of Denmark, London, s. a. p. 236. 


97 


In Dänemark bat bie Iutherifche Lehre fo vollſtändig, 
als es nur immer gewünfcht werben konnte, gefiegt; ihr 
Einfluß, ihre Kraft ift weber durch Sektenwefen, noch durch 
Refte der alten Religion geftört ober gelähmt worden. 
Dänemark und. Schweben find noch jett rein lutheriſche 
Zönber. Die focialspolitifchen Folgen des Sieges über bie 
tatholifche Kirche in Dänemark ſchildert Barthold mit 
drei Worten '). „Dünbifche Leibeigenfchaft Taftete wieder auf 
dem dänifchen Bauer, und, aller Vertretung beraubt, feufzten 
die Bürger unter Zwangslaften und Soldateneinlagen. 
Der Norden warb lutheriſch, aber König und Adel 
teilten die Herrichaft, und felbft die Kinder der Prebiger 
und Küfter blieben leibeigen.” 

Der nel benutzte fofort die Reformation, um nicht 
nur den größten Theil des Kirchenguts, ſondern auch freies 
Bauerngut ſich zuzueignen. Gleichzeitig trieb man (1569) 
durch gefchärfte Neligions-Artikel, deren Nicht-Annahme mit 
dem Leben geftraft werben follte, die Fremden aus dem 
Lande?). Bon 1536 bis 1660 Hatte der reich und über« 
mächtig gewordene Adel mit Unterbrüdung ber andern 
Gedichte von Rügen und Pommern. IV, 2, 294. 

?) Dieß und das folgende nah Allen’s Geſch. bes Königreichs 
Dänemark, überf. von Bald, 1846. ©. 287, 296, 304, 309; 
bie Kopenhagener Geſellſchaft hat dieſe Geſchichte durch Ber- 
leihnng des ansgeſetzten Preiſes als das befte Buch biefer Art 
anertannt. Bergl. Berliner Polit. Wochenblatt, 1832, &.224 ff. 

» Dölinger, Papfttum. 7 


4 


98 


Stände das Monopol aller Staatsvortheile in feinen Hän- 
den. Zu ben Bedürfniſſen des Staats trug er nichts bei, 
bie brüdenden Stenern mußten von ben ärmeren Klaſſen 
getragen werben. „An nachtbeiligfien für ven Staat wirkte 
bie Verarmung und Eruiedrigung des Bauernftandes, eine 
Folge der Macht und ftrengen Herrfchaft des Adels.“ „Die 
Bewohner der großen geiftlihen Befigungen mußten nım, 
fagt Allen, die milde Herrfchaft der Geiftlichleit mit dem 
brüdenden Joche des Adels vertaufchen. Die Frohnen wur⸗ 
den willkürlich gehäuft, die Bauern als Leibeigne behan⸗ 
beit!).” Der Aderbau fank tief unter die Stufe herab, 
auf der er fi im Mittelalter befunden hatte, pie Devdl- 
ferung verminderte filh, und das Land war mit wüſten 
Höfen überfüllt.” Durch neue adelige Privilegien, burch 
bie graufamften gleich nach ver Reformation eingeführten 
Jagdgeſetze) und durch Zaufchverträge wurde bie Knech⸗ 
tung, Beraubung und Herabwürbigung bes ehemals freien 
Bauernſtandes vollendet. Aber nicht nur der Bauernfland, 
auch die Bürger und die Geiftlichen, bie ganze Nation 
wurde von acht bis neunbundert Edelleuten unter die Füße 
getreten.?) Chriftians IV. (16588—1648) Verfuch, den Be⸗ 


) Allen, ©. 810, 11. 

) Schon 1537 Angenausſtechen; ja Lebeneftrafe für bas bloße 
Halten eines Jagbhunds. Allen, 813. 

N Allen, 819. 


rückten Grleichterung zu verfchaffen, fcheiterte an bem Wider⸗ 
fionde des auch dem König weit an Macht überlegenen 
Avels. Die Sklaverei der Bauern blieb. Der Känig und 
die Bürger waren im Grunde bes Adels Knechte. 

Durch die Revolution von 1660 wurbe nun zwar bie 
Macht des Adels gebrochen, bafür aber König Friedrich ILL. 
und feine Nachfolger zu unumfchränkten Monarchen erklärt. 
Dos Königegefe von 1665 beftimmte, daß der König von 
Dänemark keinen Eid zu leiften, feine Verpflichtung irgend 
einer Art zu übernehmen Gabe, fondern mit abfoluter Macht⸗ 
volftommenbeit thun könne, was ihm beliebe. Damit aber 
erlofch unter den Dänen ver Sinn für die öffentlichen An⸗ 
gelegenbeiten, ver Gemeingeift und das Zufammenwirken 
bes Volles mit ver Regierung.) Der Bauernftand blieb 
in verfelben Sklaverei wie früher und ber Adel behielt einen 
großen Theil feiner Privilegien. Das Elend der Bauern 
wurde fogar 1687 durch nene befpotifche Gefege noch ver- 
größert, fo daß „über ein Fünftheil ver Bauerngüter auf 
den Kronbeflgungen wüſt lag, und noch ärger ſah es auf 
den Privatgütern aus.) Im Jahre 1702 hob zwar Frie- 
drich IV. die Leibeigenfchaft auf, aber ein anderer Zwang, 
eine Gebundenheit an die Scholle warb bald an bie Stelle 
gefet, fo daß das Berhältniß, namentlich durch eine Ver⸗ 

) Allen, 366. 


®) Allen, 389, 431. 
7* 


100 


orbnung von 1764, wenig ober gar nicht von ber früheren 
Leibeigenfchaft verfchieven war. Die Wirkung war, daß bie 
Devöllerung des Landes im 18. Jahrhundert von Jahr zu 
Jahr abnahm, unzählige Bauernhöfe, ja ganze Dörfer ver- 
ſchwanden, um Moaierhöfen Plag zu machen.) Schulen 
mangelten. Der Vollsunterricht fand noch immer (um 
1766) auf der niebrigften Stufe. Erſt 1804 wurde 20,000 
leibeignen Familien die perfönliche Freiheit gefchenkt.*) 

Die von Friedrich VI. eingeführten Provinzialftände 
befchräuften ven Abſolutismus des daniſchen Königthumes 
nicht. Ein den Dänen günftiger Beobachter, ver Schotte 
Laing, bemerft im Jahre 1839: Dadurch, daß bie Dänen 
politiſch völlig paſſiv feien, und in ihren eignen Angelegen⸗ 
beiten keine Stimme hätten, befänben fie fi), trog mannig« 
facher guter Anorbnungen ber Regierung, nahezu in bem 
Zuſtande, in welchem fie im Sabre 1660 geweſen; und feien 
um zwei Jahrhunderte zurücigeblieben Hinter den Schotten, 
Holänvern unb Belgiern, mit denen fie nach Bollsmenge 
und Lage am erften verglichen werben Lünnten. ”) 


1) Allen, 438. Bon 600 vor 1660 anf Hollanb befinblichen 
Grundeigenthumern waren 1766 noch 100 übrig. 

2) Wie viel für ben däniſchen Bauernflanb zu thun war, zeigt bie 
furchtbare Schilderung feiner Lage aus Wegener’s Chronik 
Friedrichs VI. in ber „Begenwart.“ Leipzig, 1858, DBb. 
VIII, &. 478. 

) Tour in Sweden, London, 1889, p. 12. 


101 


Im März 1848 bat denn auch Dänemark ‚nach einer 
Jahrhundertlangen grunbfäßlichen und grunbgefeßlichen De⸗ 
fpotie” feine Revolution gehabt, und bie Regierung Yrie- 
drichs VIL wird durch Häufig wechjelnde Minifterien in 
Berbindung mit einem Reichötage geführt, in welchem tm 
fhärfften Eontraft gegen frühere Zuftänbe der Bauernftanb 
überwiegt. Dazu kommt eine Preſſe, die an Zügellofigkeit 
die franzöfifche von 1793 erreicht.) Ein nenes Inſtitut, 
ber Reichörath, zu zwei Drittheilen durch das Volt gewählt, 
ft geichaffen worben. Weber das Schidfal bes fehr ges 
ſchwächten Königthumes wird die nächfte Zeit entfcheiden. 

u Schweden hatte Guſtav Wafa bie Intherifche 
Confeffion eingeführt, und durch Beraubung ver überreichen 
Kirche ein ftarles Königthum und Neich gegründet. Das 
Boll war eigentlihd um feine Religion betrogen worden. 
Guſtav hatte nemlich ftets geleugnet, daß er eine neue Lehre 
einführe, und noch 50 Jahre fpäter wußte, ber eingeführten 
Beränberungen ungeachtet, ein großer Theil des Volles nichts 
Anderes, als daß fie katholiſch wären.*) Alimälig wurbe 
indeß Schweben ein burch und durch und bewußt Iutherifches 
Sand. 

Drei Wirkungen traten num ein. Die erfte mag ber 
Haffifche Gefchichtsfchreiber Schwebens, Beijer, berichten. 


3) Allgemeine Zeitung, 1859, ©. 5932. 
2) Seijer’s Geſchichte Schwebens. IL, 218, 


102 


Nach ven großen Religionskriegen wurbe, fagt er, bie eigne 
Theilnahme der Gemeinde an ben Tirchlichen Angelegenheiten 
immer mehr in bemfelben Grabe, wie fich die Furſtenmacht 
befeftigte, ſuſpendirt. So verlor die Kirche immer mehr 
ihren Zufammenbang mit dem Volle, und wurbe bald bios 
eine aüßere monarchiſche oder ariftofratifche Form, ein kle ri⸗ 
kal iſcher Zufat bes militären und civtlen Beamten- 
Staates. ') 

Die zweite Wirkung, welche zunächit der Beraubung 
und Unterjochung ber Kirche durch das Königthum verdankt 
wurde, war ein neues Staatsreht. Guftan erklärte pas 
Gemeindegut ber Dörfer und Ortfchaften, bald auch Flüffe, 
Wafjerwerle und Erzgebiete, endlich fogar alle unbebauten 
Gründe für Eigenthum ber Krone; damit war, wie Öeijer 
fagt, eine für ven Nechtsbefig der Einzelnen gefährliche 
Willkür ben Königen in bie Hanb gegeben.‘) Guſtav ſetzte 
fein Raubgefchäft umverbroffen fort, und wie er ſich als 
Univerfalerbe alles Kirchenbefiges anſah, fo nahm er auch 
Höfe, wo er mochte.) Das gauze Erbe der Kirche konnte 
er indeß doch nicht für fich behalten; ber Abel, deſſen Unter- 
ſtützung er fehr beburfte, mußte als Miterbe zugelaflen 


.. ?) Ueber bie inneren gefellichaftlichen Verhältniſſe unſerer Zeit mit 
befonberer Rüdfiht auf Schweben. Gtodholm, 1845, ©. 47T. 

) Geijer, DO, 101. 

2) Geijer, H, 110. 


108 


werben, unb z0g am Enbe eben fo großen ober noch größeren 
Gewinn aus ver Religionsveränberung ale bas Konigthum. 

ALS dritte Folge der Reformation trat jene VBerrüdung 
des natürlichen Verhältuiffes ber Stände, jene Disharmonie 
in der ftaatlichen Ordnung ein, welche der Geſchichte Schwe- 
bens feit 300 Jahren ihren wechfelvollen Charakter gegeben, 
eine Reihe von Umwälzungen erzeugt hat, wie fie bis 1789 
in feinem europäifchen Stante vorgelommen, und als her- 
vortretende nationale Eigenfchaften Rachſucht, Parteiung, 
Intrigue, menterifches Wefen, Beftechlichkeit und Leichtfinn 
erfcheinen läßt.) Drei ihrer Könige haben bie Schweben, 
ber Adel nämlich, ermorbet: Erich XIV., Karl XIL, 
und Guſtav III.; zwei find abgefegt worden: Sigismund 
und Guſtav IV., und enblich haben fie ihre einheimifche 
angejtammte Dynaſtie verftoßen und ihr Land unb ihre 
Krone an einen fremden Officier, einen Napoleonifchen Ge⸗ 
neral, verfchenkt ober verkauft. 

Auch bier, wie in Dänemark erwuchs aus ber Refor⸗ 
mation eine brüdenbe, ränlevolle Adelsherrſchaft. Nur da⸗ 
durch, daß „die Geſetze und Gewohnheiten bes früheren 
rohen Zuftandes fo brav waren, wurde Schweden, wie 
Arndt fagt, vor den Zuſtänden Rußlands und Polens bes 
wahrt.’) Es fehlte die würbige, nnabhängige Stellung und 

Bergl. Arndt &. 29, 81 fi. 
N, Shwebilche Geſchichten. Leipzig 1889, &. 30. 


104 \ 

ver geordnete Einfluß ber Kirche, Der Intherifche Elerus 
war ftets zu abhängig von ven Machthabern.u Ron jeher, 
bemerkt Arnbt, bat man bie Priefter (fo beißen bort noch 
bie Geiftlichen) befchulbigt, daß von ihnen felten etwas Be⸗ 
deutendes ausgegangen ift, und daß fie mehr als bie anbern 
Stände dem gebient haben, welcher vie Macht hatte. ’)" Die 
Reformation hatte die Geiftlichkeit völlig bem König und 
bem bel überliefert; Hatte doch jeder in einem Kirchſpiel 
wohnende Edelmann das Recht, den Pfarrer zu wählen‘), 
den er dann auch nach befieben befolbete. Die vier Stände 
waren auf bem Reichstage vertreten, aber ver Abel, ber 
beinah alle öffentlichen Stellen bes Reiches befaß, war ber 
eigentliche Reichsftand, purfte von den andern Ständen nicht 
überftimmt werben, ver Bauer war (unter bem Adel) blos 
ein mittelbarer Unterthan bes Reiches.“) Hatte der nel 
ſchon gleich bei der Aenderung ber Religion durch bie Theil» 
nahme an ber Kirchenplünberung ungemein an DBefig, an 
Nechten, an Macht und Einfluß gewonnen, fo erhöhte 
ſich fpäter dieſer Antbeil, als bie Regierung, gezwungen bie 
Domänen zu veräußern, fie nur an ben Adel veräußern 
burfte. *) 


) Arndt &. 47. 

?) Geijer III, 400. 

5) Geijer IH, 18. 

*) Geijer: Ueber bie inneren geſellſch. Berbältnifie. S. 65. 


18 


Wohl kam es vorübergehend, nach Guftav Mbolfe 
Zobe, zu Verfuchen ver Geiſtlichkeit, fich der abelichen Ueber⸗ 
mocht zu entziehen; man wollte, daß den Prebigerfühnen 
der Zutritt zu den öffentlichen Aemtern ermöglicht werde. 
Aber der Adel war zu ſtark, und bie Hoffnung zu eignem 
Adel, welche Bilchöfen, Superintendenten und Doltoren ber 
Theologie gemacht wurbe, reichte bin, um bie höhere Geiſt⸗ 
Uicteit von der niedern abzufonbern.‘) Daß eine ver- 
heiratete Geiftlichleit nicht zu einer feften Torporativen - 
Stellung gelangen, over fie nicht behaupten könne, Liegt in 
ber Ratur ber Sache. Unter bem Joche der Adelsherrſchaft 
war der Bauernftanb verarmt umb berabgelommen, das 
Bolt ohmmächtig, elenb und unterbrädt.’) Um fich ber- 
felben zu entlebigen, fuchte man in Schweben wie in Däne- 
mar, die Königegewalt unumſchränkt zu machen. So er⸗ 
Härten vie Stänve des Jahres 1680: der König fet an keine 
Regierungsform gebunden, und im Jahre 1682: die Stände 
bielten es für burchans umgereimt, daß ber König ver- 
pflichtet fein folle, bei Statuten und Verordnungen bie 
Stände erft zu hören. Bon da an galt ver Schluß: daß 
ve Königs Wille Geſetz fei, und Alles wurbe nun, 
wie Geijer fagt, zum Vortheil ver Alleinherrfchaft gebeutet. 


) Geijer, Berhältniffe m. |. w. ©. 110. 
9%) Arndt ©. 80. 


106 


Die Stande hießen nicht mehr Stände des Reichs, fon- 
vera Seiner königlichen Majeftät, und im Sabre 
1693 warb das Koͤnigthum für völlig unumfchränkt erffärt. 
Der König könne, bieß es, ohne irgend eine Verantwortlich 
feit nach reiner Willkür regieren. ') 

Das führte zu der verberblichen Regierung Karls XIL, 
ber dem Neichstag entbieten ließ, er wolle ihnen feinen 
Stiefel ſchicken, ihnen zu präfipiven, bas Land in ungeheures 
Elend ftürzte, und an ben Rand bed Untergangs brachte. 

Nach feiner Ermorbung wurde fofort die unumfchränfte 
Königemacht verbammt, und bie ſogenannte ſchwediſche Frei- 
heit, d. h. die Adelsherrſchaft, wieberbergeftellt. Alle Macht 
und Verwaltung, die großen Privilegien und Vorrechte — 
Alles fiel dem Adel wieder zu. Im den Reichötags- Alten 
von 1720—1772 fprach fi) nach Arndt's Bemerkung arifto- 
tratifcher Dünkel und Uebermuth gegen vie fogenannten 
unteren Stände oft auf das Unverfchämtefte aus.“). Die 
Monarchie war ein leerer Schatten, herabgewürdigt umb 
ohnmächtig. Zugleich Tämpften zwei Adelsfaltionen grimmig 
am bie Herrſchaft: die Hüte und die Mützen, ober bie 
franzöfifche und die rnffifche Partei. Endlich machte Guſtav IIL 
bie unbintige Revolution von 1772; ver Neicherath warb 
entfernt, der König gebot wieber al& Herr. Aber er war bem 


) Geijer S. 118—115. 
9%) Arndt S. 99. 


107 


Mel nicht lange gewachſen, die Dfficiere feiner eigenen 
Armee verrietben ihn, und er fiel aulekt 1792, als 
Opfer einer Übelöverfchwörung. 

„Dis jet, fagt Seijer im Fahre 1845, iſt in Schweben 
nie eine Repräfentationsveränderung gefchehen, es ſei denn 
in unb buch eine Revolution; und der Revolutionen auf 
unfere Weife haben wir ſchon gar zu viele gehabt. ‘u Seit 
dem Morde Guſtavs war Schweven ein Treibhaus politischer 
Iatriguen und Corruption. Finnland gieng an Rußland 
verloren durch verrätherifchen Verlauf ver Feftungen. Guſtav 
IV. warb entthront, auch feine Nachkommen wurben aus⸗ 
gefchloffen, und man z0g einen in Schweben umbelannten 
Fremden als Gründer einer neuen Dynaſtie ben Waſa's 
vor. Der Erwerb des unabhängig bleibenden Norwegen 
war kein Erfah für den Berluft Finmlands. Schweden fteßt 
num machtlo8 dem übermächtigen norbifchen Koloſſe, deſſen 
Kanonen faft ſchon die Hauptftabt Beftreichen, gegenüber, und 
mm erwarten, was Rußland über fein Schidfal befchließen 
werde. 

Der Schotte Laing, ber ſich viel mit dem politiſchen 
und moralifchen Zuftande des fchwebifchen Volles beichäftigt, 
und bemfelben in der einen und anderen Beziehung eine ber 
niedrigften Stellen unter den Nationen Europa's anmwelft, 


2) neber bie inner geſellſch. Verhätiniffe n. f. w. ©. 128. 


108 





iſt, obgleich ſelbſt entſchiedner Proteftant, zu bem Ergebuiffe 
gekommen, daß bie Reformation ver Moralität unb ben 
focialen Zuftänben des Schwebifchen Volles mehr geſchadet, 
als genügt habe, daß das Intherifche Kirchenthum fich im 
feinem Cinfluffe auf das Volt völlig kraftlos gezeigt, bie 
katholiſche Kirche dagegen zu ihrer Zeit ein wirkfameres 


Syſtem moralifcher Zucht gewefen fei.’) 


Sm Deutfhland war es „ein natürliches Ergebniß 
ber Reformation, daß bie Macht der Fürften und ver Reichs⸗ 
ftäbte (der Magiftrate nemlich) dadurch wuchs; bie Frei⸗ 
beit bes (mittelbaren) Adels bagegen, des Bauernftanbes 
unb ber Lanbftände dadurch herabkam.“) War der deutſche 
Klerus früher (zu feinem Unheil) ver reichfte und mächtigfte 
in ber Welt gewefen, fo war ver Umfchlag nun fo voll 
ftänbig, daß die proteftantifche Geiftlichkeit, wie K. U. 
Menzel fagt, ein vienftbares Werkzeug der Staatsgewalt, 
und bald eines ber am wenigften geachteten Glieder ber 
Kette warb, mit welcher eine neue Ordnung ber Dinge bie 
Nation umfchlang. °) 


Eine kurze Betrachtung der Zuftände in einzelnen dent⸗ 
fhen Ländern wird bie große Veränderung, die in der foctal- 


!) Tour in Sweden. p. 125. 
2) Leo’& Univerfalgefhichte 111, 208. Bte Aufl. 
3) Neuere Geſchichte ber Deutſchen. Bd. V, ©. 5. 6. 


109 


politifchen Zage ver Nation durch die Reformation bewirkt 
wurbe, deutlicher zeigen. 

In Mellenburg war vie erfte Wirkung, baß ber 
Prälatenftand von ben Lanbtagen verfchwand. Seit dem 
3. 15652 erſchienen nur noch zwei Stänve, die Nitter- und 
Landſchaft, anf ven Lanbtagen. ‘Der Abel Hatte neben ben 
Herzogen feinen Theil am Kirchengute davongetragen, und 
aum begann bie Unterjochung und Beraubung des Bauern- 
ftandes, veffen Rechte feit der Unterbrüdung ber Kirche 
Riemand mehr vertrat. Es galt, die Arbeitskräfte ver 
Bauern zum Vortheil des Adels auszubeuten, und fie von 
den bäuerlihen Hufen durch das fogenannte Legen zu 
verdrängen. Auf dem Landtage zu Güftrow im J. 1607 
wurben die Bauern für bloße Eoloniften erflärt, welche ven 
Grundherren auf deren Begehr felbft die feit undenklichen 
Zeiten in bäuerlichem Beſitz befindlichen Aeder wieder ab- 
treten müßten. Im 9. 1621 wurbe die unbefchränfte Ver- 
fügung über die Bauerhufe den Grundherren völlig ge⸗ 
fihert, varanf wurde die perfönliche Freiheit des Bauern⸗ 
ftandes (namentlich durch die Verordnungen von 1633, 
1646 und 1654) völlig vernichtet, und wurben alle Perſo⸗ 
nen biefes Standes zu Leibeigenen erklärt'). Da bie 
Bauern nun fich der Knechtſchaft durch häufiges Entweichen 


2) Boll's Geſchichte Melienburge. Neubrandenburg 1855, I, 
852 fi. II, 142 ff. 147. 48. 


1 


| 


110 


in andere Laͤnder zu entziehen fuchten, ſo wurden fie, weun 
fie ergriffen würben, mit Stäupung ober mit aubern »har⸗ 
ten, fchweren Strafen, nach Befinden auch mit Lebensftrafe“ 
bevrobt. Im 3. 1660 wurde gerabezu die Zobesftrafe auf 
Weggehen aus dem Fürftenthume geſetzt. So war denn, 
fagt Boll, die Sklavenkette gefchmievet, welche unfere 
Bauern bis vor wenigen Jahrzehnten zu fchleppen hatten. 
Ihr 2008 war gefeglich nur infofern günfliger, ald das ber 
Neger -SHlaven , ba es verboten war, fie einzeln, wie ein 
Städ Vieh, in Öffentlicher Auktion meiftbietenb zu verlans- 
fen, unter der Hand geſchah es aber fehr gewöhnlich, daß 
man mit beu Leibeignen, wie mit Pferben und Rüben, 
Handel trieb. 

Noch um bie Mitte des 18. Jahrhunderts wirb bes 
merkt, daß die Bauern in Mellenburg von den Evelleuten 
wie die geringften Knechte gehalten wurben’). Die Bauern 
begannen baber, wenn fie konnten, felbft nad) Rußland aus« 
zumanbern. Wieder mußte gegen das Entweichen Leibeige- 
ner mit eftungebau oder Zuchthausftrafe gebrobt werben. 
„Es wäre, hieß es in ber Verordnung, eine Entvölferung 
unfrer ohnehin von Menfchen ſehr entblößten Lande und 
die Zugrunbrichtung aller Lanbbegüterten zu beforgen *).“ 
Erft im J. 1820 wurbe bie Leibeigenfchaft aufgehoben. 


) Franke: tes unb neues Mellenburg. I, 102. 
r) Boll II, 669. 


‘ 


111 


Sa Pommern, weldges bis zum 9. 1687 feine eigenen 
Herzoge hatte, dann mit der Mark Brandenburg vereinigt 
wurde, hatte der Proteftantismus fchon im 3. 1534 ges 
ſiegt; auch Herzog Philipp erwog ben Gewinn, ben ihm 
bie neue Lehre in ven Reichthümern des Klerns, einer „Fülle 
Innbesherrlicher Rechte und ver oberften Leitung ber neuen 
Landeskirche“ darbot:). Das Bürgerthum aber, um mit 
ven Geſchichtſchreiber Pommerns zu reden, verzichtete, am 
firdliden Ziele (ber Reformation) angelangt, auf vie ir⸗ 
bifche Freiheit; in Stralfund und Stettin hörte gerabe 
jest vie Gemeinevertretung auf. Die niebere fläptifche Be⸗ 
sölferung wurde „aus bürgerlichen Freiheitsrauſche ſchmerz⸗ 
lich ernüchtert, und blidte begnügt auf den Himmel“ °), 
Das eingezogene SKirchenvermögen wurde auch bier, wie 
an fo vielen Orten in Luxus, Schlemmerei und Trinkge⸗ 
fagen verfchleudert ). Dem Bauernftande in Pommern 
widerfuhr, was ihm in Mellenburg zu Theil geworben. 
Seit der Reformation wurde mit Nachprud und Erfolg das 
Legen der Dörfer betrieben, um Schafweiden ober Vorwerle an 
beren Stelle einzurichten. Ober bie Evelleute legten bie Bauern⸗ 
güter wäfte, zogen fie dann in bie Rittergüter und machten 


2) Worte Barthold's, Gejchichte von Pommern, IV, 2, 259. 

2) Barthold 297, 299. 

3) Arndt, Geſch. ber Leibeigenfchaft in Pommern und Nügen. 
1808. ©. 148, 





112 


fie dadurch fteuerfrei. Der Drud war fo arg, daß felbft 
Bauern, die Höfe inne hatten, entliefen ’). Doch brachte 
nach Bartholds Bemerkung erſt der Einfluß des Römifchen 
Rechtsprinzips von der Sklaverei den vollen Fluch der Leib⸗ 
eigenichaft über Pommern. In der Bauernorbnung von 
1616°) werben fie bereit für rechtsloſe Leibeigne erfiärt. 
Flüchtige Bauern mußten die Prediger von der Kanzel ab« 
ündigen. Den Bauern, bie vom bel ober andern Bes 
figern gelegt wurden, nahm man gewöhnlich Alles über 
den Kopf. Der Pommeriſche Juriſt und Edelmann Bal- 
tbafar geftand im Jahre 1779, daß, während in Deutfch- 
fand bie erften Leibeignen faft frei geworben, in Pommern 
bie alten Weifen, Knechtfchaft zu begründen, noch vermehrt 
worven ſeien. Um fo länger, bis in biefe® Jahrhundert 
berein, wurde Klage geführt über die Veröbung unb Men» 
fchenleere des Landes. 

Su den Braunfhweigifch-Hannover’fchen Ges 
bieten fieht man beutlih, wie bie neue abfolute Kirchenge⸗ 
walt ber Fürſten, zugleich mit ver Verbrängung bed dent⸗ 
chen Rechts durch das Römifche, welche in Folge der Res 
formation vor fich gieng, bie alten Freiheiten des Volles 
untergrub, ver burenukratifchen Regierungsweife, der Will 
fürberrfchaft ven Weg bahnte. Die aus der Lanbfchaft ge- 


1) Arndt 159, 211. Barthold 865, 
?) Bei Dähnert, Urkunden-Sammlung III, 886. 


u 


nommenen Beifiger wurden aliniällg aus den Höheren Ge— 
richten und Verwaltungsbehörden durch vie als fürſtliche 
Räthe befoldeten Yuriften verbrängt; wo Herlommen und 
heimifches Landrecht entfchleven hatten, trat Romiſches Recht 
an die Stelle desſelben.) Die Städte verloren Ihre ver⸗ 
erbte Selbftändigleit — nur Braunfchweig allein behauptete 
fie noch einige Zeit — „und von gelehrten Anhängern bes 
Römischen Rechts unterftügt, gebot der Lanbesherr meiſt 
mit einer früher nicht gefannten Gewalt.” Bas eingezo- 
gene Kirchengut geftattete, wenigftens für einige Zeit, den 
enxus einer üppig und ſchwelgeriſch gewordenen Hofhaltung 
amd ſtark vermehrten Hofvienerfchaft zu befriedigen. In 
den Gerichten wurde das rafche mündliche Verfahren burch 
eine breite fchriftliche Verhandlung verbrängt.!) Gegenüber: 
dem wmaßlofen Aufwand, ben drückenden Geldforderungen 
und Steuern bes Hofes, leifteten die Stände, Nitterfchaft 
und Stäpte, noch bis ins 17. Jahrhundert hinein einigen 
Wiverftand. Aber das alte wohlthätige Inſtitut der von 
den Stänven aus Präluten, Adel und Rathsverwandten ges 
wählten Landräthe, welche zwiſchen ven Unterthanen und ben 


1) Savemann, Gedichte der Lande Braunſchweig und Rline 
burg, 1855, II, 479. Bet allen Klagen ber Lanbftänbe, fagt 
Spittier (Geſch. von Hannover, I, 347), war ber vblligſte 
Sieg des Römiſchen Rechts emtichieben. 

7) Savdemann, II, 515. 

». Döllinger, Papfſtthum. 8 


114 


Regenten vermittelten, und Gtreitfälle auf eine auch für 
ben Fürften bindende Weife entſchieden, verfiel ſchon burch 
ben mit ber Reformation eingetretenen Ausfall der geiftli- 
Shen Mitglieder, und warb allmälig dur Bildung anderer 
färftlicher Collegien verdrängt?). In Folge der durch den 
Raub des Kirchenguts erzeugten Verſchwendung trat enblich 
völlige Zerrüttung der fürftlicden Kammer ein, man griff 
zur Müngzverfchlechterung und andern unfittlichen Mitteln, 
das Unwefen ver Kipper und Wipper und ber berrfchend 
gewordene Luxus, und bie allgemeine Leivenfchaft bes 
Schmaufens und Trinkens halfen vollends den Wohlſtand 
von Tauſen den vernichten). An die Stelle der Landtagsab⸗ 
fchiede traten (im Fürſtenthum Calenberg zuerft 1651) 
berrichaftliche Refolutionen. Bald darauf wurben die legten 
Spuren altftändiicher Freiheit und Selbſtſtändigkeit vernichtet. 
„Die Geiftlichkeit, fagt Havemann, war längft (d. h. 
feit der Reformation) in Abhängigkeit gefunfen, der Adel 
war in ben Hofvienft getreten; die Städte fiechten am 
Mangel an Gemeinfinn, an den Nachwehen bes großen 
deutfchen Kriegs und an einem faulen Regiment im Innern. 
Ueber den fünmerlichen Reften des alten Ränbifchen Lebens ent- 
faltete ſich die „freie” fürfliche Macht des modernen Staates“ ?). 


1) Hepemann Ill, 112. 
) Spittler I, 880. 
5, Geſchichte ber Lande Braunfchw. und Lüneburg. II, 172. 


115 


Ya den Brandenburgifch- PreußifhenLänpern 
war bie flänbifche Verfaſſung in ben Zeiten nach der Re 
formation anfänglich noch ſtark und ungebrochen. Herzog 
Wbrecht von Preußen war ein zu fchwacher Charakter und 
Batte, in dem Bewußtſein feines fehr zweifelhaften Beſitz⸗ 
rechte8 den Stänven gegenüber ein zu zaghaftes Gewiffen, 
und Churfürſt Ioachim war durch feine und feiner Buh⸗ 
lerinnen Verſchwendung ftet8 von den Ständen, die feine 
Schulden übernahmen, abhängig‘). Ju derfelben Geldab⸗ 
haͤngigkeit befand fich fein Sohn Johann Georg (1571 bis 
1598). Aber die Lage der Bauern wurde Immer härter, ’) 
ſeitdem bie Kirche geftlirzt und ber Adel neben dem Fürſten 
die einzige Macht im Lande war. Seit dem 17. Jahrhun⸗ 
bert ftieg mit der Verarmung des Adels und ber Stäpte 
die immer mehr nach unumfchränfter Macht ftrebende Für⸗ 
ftengewalt. Militärifche Exrecutionen, früher In Deutſchland 
völlig unbelaunt, wurden, beſonders wegen nicht vollftändig 
eingehender Abgaben, häufiger; bie Berufung ber Stände 
unterblieb, der Fürft fchrieb die Steuern eigenmädhtig aus. 
Stenzel hat es nicht unbemerkt gelaffen, wie auch in 
Breußen die FZürftenberrichaft über das Kirchenwefen bazu 
führte, daß auch Angelegenheiten der höhern Polizei und 


) Gallus, Geſch der Mark Brandenburg. III. 94. 
2) Stengel, Geſch. d. Preuß. Staats. I, 847. 
g* 


116 


Bermaltung, die fon mit den Stänben berathen und bes 
fchloffen worden waren, mehr und mehr von den Würften 
eigenmächtig entfchieben, und in's Kabinet gezogen wılrben?), 
womit die Stände immer mehr an Debeutung verloren, 
und die Regierung in fteigender Progrefiion deſpotiſcher 
und bureaufratifch mechanifirt wurbe. 

‚Seit der Regierung bes Ehurfürften Friedrich Wilhelm 
(1640-1688) entwidelte fi) die abfolute Willfürherrichaft 
planmäßig. Fin allgemeiner Landtag wurde feit 1656 nicht 
wieder berufen. Die ohne bie Bewilligung unb gegen bie 
Vroteftation der Stände außgejchriebenen erdrückenden Ab» 
gaben ließ der Ehurfürft militärifch erpreſſen, fo daß die 
Bauern fchnarenweife ihre Güter verließen, Räuber wurden, 
Bauern und Edelleute nach Polen flohen, zwölftaufenn 
Banerngüter. wüft lagen, die Steuern von vielen taufend 
Hufen Höher waren, ald deren Ertrag. Die Stände im Herzog⸗ 
thum Preußen, bie fich noch Durch die Verträge mit Polen ges 
hätt wähnten, behaupteten, von ber ehemaligen Freiheit 
ſei nichts mehr übrig, als nur das Recht ihren Untergang 
zu beilogen, und brobten auszuwandern. In ber Mark 
waren fie ohnehin zu einem bloßen Erebitinftitut herabge⸗ 
feht'). Es war eine beifpiellofe Tyrannei, und ſolche Dinge, 
ärger al8 bie franzöfifche Verheerung ber Pfalz, wurden 


1) Geſch. des Preuß. Staats I, 869. 
N &tenzel OL, 422. 





417 


von einem Fürſten verübt, dem man nachher in feinem 
Lande den Namen des Großen zu geben übereingelommen tft. 

Preußen war, nah Stenzels Ausbrud, auf dem 
Wege, eine afiatiiche Defpotte zu werben, welche alles Edle 
und Schöne erftict hätte. Soldaten und bie Leidenſchaft 
der Jagd, für deren Befriebigung der Ehurfürft 3000 Leute 
befolbete ’), das waren bie Ziwede, denen zu genügen ba 
Land ansgefogen, viele Taufende an ben Bettlerftab ge 
bracht wurden. Dabei warb die Dienftbarkelt und Leib⸗ 
eigenfhaft, in welche die Bauern hinabgedrückt worden 
waren, fireng aufrecht erhalten. 

Friedrich J., ber prunkſüchtige erſte KöniggPreußen®, 
ſetzte das Syſtem des Vaters fort: die Stände, wo fie noch 
beftanden, waren uur dazu ba, bie Steuern, weun nicht 
willig, dann gezwungen, zu votiren und Anleihen zu ver- 
bärgen). Friedrich Wilden I, aber (1713—1740) über 
traf noch den Großvater. Mit feiner Thronbeſteigung be 
gann in Preußen die Herrfchaft eines Keinlichen, Inıtnenhafe 
ten, oft granfamen?) Defpoten, eines geiftig befchränften, 
harten, von ver Idee feiner fchrankenlofen Allmacht erfüll⸗ 


Stenzel II, 466. 

2) Stenzel II, 196. 

3) 1 faut donner une viotime au bourreau, fagten bie Großen 
von ihm. ——— Ueber Br. Wilh. den Erſten. 
Brauuſchw. 1793, ©. 140. . 


18 _ 





ten, nur nad Geld und Solbaten trachtenden Menichen, 
ber feine Richter mit Stodichlägen zwang, ihre Sentenzen 
nach feinem Willen zu reformiren, ber Menſchen „ohne 
proceſſualiſche Weitläufigleiten” hängen ließ, und feſtſetzte, 
daß, wenn ein Deferteur bei einer für Strafgelver allzu 
armen Ortfchaft durch⸗ ober vorbeigelommen, bie anges 
febenften Einwohner einige Monate karren follten‘). Unter 
ihm mußte die lutheriſche Geiftlichfeit den Leidenskelch des 
öntglichen Oberbiſchoſthums bis auf die Hefen anstrinken. 
Der König, felber reformirt, aber in kirchlichen wie in welt» 
lichen Dingen gleich allwiſſend und allmächtig, fchrieb ven 
Sutheranern als ihr getftliches Oberhaupt vor, welche Ma⸗ 
terien auf den Kanzeln erwähnt oder verfchiwiegen, welche 
Gebräuche beim Gottesdienſte geübt ober befeitigt werben 
ſollten. So verbot er 1729, bei Begräbniifen ber Luthera- 
ner ein Cruzifix ober Kreuz der Leiche vorzutragen, welches 
belanntlich eine aus dem Papfttyum übrig gebliebene ärger» 
fiche Gewohnbeit ſei?). 

Sein Sohn, Friedrich IL. vermochte durch fein Genie 
und durch bie Außerfe Anftrengung aller Kräfte feine® 
Volkes und Landes Preußen zn einem mächtigen Staate 
von Europäifcher Bedeutung zu erheben. Die Regierung 


I) Förſter's Friebri Wilhelm I. II, 202. 
) Stengel II, 474. Man vergleiche bort S. 475 bie De 
ſchreibung ber fogenannten „Priefterreuie” in Berlin. 


119 


war defpotifch und rein willfürlich nach wie vor, aber es 
war der aufgellärte, der im franzoͤſiſchen Sinne des Wortes 
philoſophiſche Defpotismus, und ber Träger beffelben war 
ein gewaltiger Serrfchergeift, ber zuerft ver Bevoͤllerung 
feiner Länder eine, nicht ſowohl national» als ſtaatlich⸗preu⸗ 
Bifche, Sinnesart einzuflößen verftand. ‘Der zahlreichſte 
Theil der Nation blieb indeß in feinem gebrüdten, elenden 
Zuftande. So fehr entbehrte der größte Theil der Laud⸗ 
bewohner aller Freiheit der Perſon, des Eigenthums und 
ber Bewegung, daß Buchholz viefen Zuften mit dem 
einer Weſtindiſchen Kolonie verglich‘). Friedrich verfügte 
fogar, daß abgedankte Solpaten nicht nur auf's Neue ihren 
alten Grundherren unterthänig fein follten, ſondern auch, 
daß dieſes Loos auch ihre im freien Stande gebornen Frauen, 
Wittwen und Kinder treffen follte*). ‘Der Breußifche Re⸗ 
gierung$ » Statiftiler Dieterici fchildert im 3. 1848 ben 
Zuftand des Landes, wie er noch im J. 1806 war, und ruft 
am Schluße feines Bildes aus: „Wie viel Beſchränkungen 
der Freiheit der Einzelnen! Wie vielfach erfchwert, daß 
ein Jeder feine Kraft entwickle, fo viel als möglich verdiene, 
fäne Lage verbefirel Wie viel perfönliche Abhängigkeit der 
nen von den Anvern! Welche Willlür, welche Gewalt 
der Bevorrechteten gegeben gegen ben Unterprüdten! Wie 


') Gemätde des gefellih. Lebens im Könige. Preußen. Th. J, 6.19 
) Verordnung vom 7. April 1777. 





dep 


jHwere Abgaben, wie viel perjönliche Laften dem Volle aufs 
gebürbet |") Doch Eine Freiheit hatte Friedrich gewährt ; 
jeber konnte nach feiner Bacon felig werben, jeber auch 
lonute, in der Weife des Gebieters, fich als Religionsver- 
üchter zu exleunen geben. 


gIm Churfürſtenthum Sachfen läßt fich deutlich wahr- 
nehmen, wie feit ver Reformation bie fürftliche Herrichaft 
über das gefammte Kirchenweſen, das wachfende Vielregie⸗ 
zen, die Hänfung der Abgaben, die Bebrüdung der Unter: 
thanen und die Verbrängung früherer Rechte Hand in Hart 
gingen. Der zweimel, unter Auguft und unter Ehriftianl., 
ansgebrochene Kampf zwiſchen Calvinismus und Lutherthum 
führte zu einer langen Kette von Gewwaltfchritten, zu Abfeßungen, 
"Berbannungen, Kerter, Folter und Hinrichtungen, bie Regierung 
griff in die verfchiepenften Lebenskreife ein, um nur den einges 
brungenen: Ealvinismus recht gründlich wieder auszurotten, 
und bie ftrengfte Beobachtung des burch ein neues Glaubens⸗ 
buch und burch den barauf abzulegenden Religionseid be⸗ 
feftigten Lutherthums zu fichern. So wurbe man an ge 
waltthaͤtiges Zufabren, an Härte und Schonungslofigkit 
in Behandlung ver Unterihanen gewöhnt. Die Städte vr- 
foren ihre frühere Selbftflänpigfeit, vie Stände mußen 


N Ueber Breufife Zuſtãude Berk, ‚1848, G. 19. 


«121 


fi die drückendſten Iagdgefege ’) und fogar 1612 die Ein⸗ 
führung einer geheimen Polizei gefallen laffen ’), und fich 
mehr unb mehr darauf befchränfen, Steuern zu bewilfigen 
und fürftliche Schulpden zu übernehmen. Schon auf dem 
Torgauer Landtag 1555 äußerten die Stänbe: „es fei ihnen 
nicht möglich, die neue Traulſteuer zu tragen, fie jollten 
denn ganz öde und wüfte werben, verderben und untergehen“. 
Über fie dauerte zugleich mit der 1582 beveutend erhöhten 
Landfteuer fort’). Die Wirkungen weren berartig, daß 
jelbft ein Hofprebiger befaunte: bie Unterthanen feien jo 
von allen Mitteln entblößt worben, daß fie kaum das Les 
ben mehr. übrig gehabt Hätten; und ein Zeitgenoffe berich⸗ 
tete: im 3. 1580 hätten bie Leute vor Armuth und Hun⸗ 
ger die Trebern im Bräuhaus gegeffen‘). Es ſei nicht 
zu läugnen, bemerkt Arnold biebei, daß mit der Reforma⸗ 
tion die Tyhrannei, Schinberei und Ungerechtigfeit auf's 
höchſte geftiegen jei°). 

Ic enthalte mich, weitere Umfchau in Deutſchland zu 
halten, von dem Zuftande in Heffen, Würtemberg und klei⸗ 


4) Wen nicht zum Sagbperfonal gehörigen Hunden mußte ein 
Borberfuß abgelöß werben: Bötticher IL, 67. 

N Böttiger 1,14. | 

32) Gretſchel Geld. des Sächſ. Volle und Staates. IL, 70. 

9) Jenisii Annal. Annaeberg, p. 45. 

2) Kicchenhiftorie, I, 792, 


122 


neren Staaten und Stäätchen zu reden. Es genüge, Sten- 
zel’® Aeußerung anzuführen: „Während vie unbefchräntte 
fürftfiche Gewalt in vielen andern deutſchen Länbern nicht 
weniger willfürlich (als in Preußen) einherfchritt, wurde bort 
ber Ertrag des fauren Schweißes der Unterthanen an Maitrefien 
und Günftlinge, an Opernfänger, Rammerherrn, Diener 
und Yunfer, an Tänzerinnen und andere Gegenftänve ber 
fürftlichen Launen und Genüffe, ohne allen höhern Staate- 
zwed verwendet“ ?). 

Wenden wir uns ben länbern zu, welche ben Proteftan- 
tismus in caloinifcher Form angenommen haben, fo ftellen 
fih und Niederland und Schottland dar; England 
mit feiner feiner andern gleichenden Kirche ift für fich zu 
betrachten. Die Schweiz laſſen wir bet Seite, da dort ka⸗ 
tholifche und proteftantifche Kantone neben einander befteben, 
und wohl Niemand behaupten wird, baß bie bürgerliche 
Freiheit in lettteren beifer gebieben fet, als in den erfteren. 

Die Niederlande, dieſes losgeriſſene Stüd Deutfch- 
lands, welches aus dem Kampfe mit Spanien als Republik 
hervorging, vermochten kaum zwei Jahrhunderte unter fleten 
inneren Kämpfen und Parteiungen fich zu behaupten, und 
ſchwankten zwiſchen republifanifchen AJuftänden, wie fie die 
ftäbtifche Ariftofratie wollte und vertrat, und zwijchen mo⸗ 


%) Geſchichte des Preuß. Eiaatet, II, 4 


123 


narchifcher Regierung durch die Generalftatihalter aus dem 
Dranifchen Hauſe. Wäre ber Calvinismus allgemein bort 
berrfchend geworden, fo würbe bie Macht ber Oranier bis 
zum ftabilen veligiös - politifchen Deipotismns ausgebildet 
unb befeftigt worden fein. „Die bollänbifche reformirte 
Kirche, fagt Niebuhr, ift von jeber, ſobald fie frei ges 
worben war, plump tyrannifch geweſen, und bat nie, weder 
durch den Geift, noch durch den guten Sinn ihrer Lehrer, 
fonderliche Achtung verdient. Die caloiniftifche Religion 
bat allenthalben, in England, in Holland, in Genf ihre 
Blutgerüfte eben jo gut aufgerichtet wie die Inquifition, 
und auch nicht ein einziges von den Verdienſten ber ka⸗ 
tholiichen”.*) Die unbebingte Herrichaft des Calvinismus, 
und bamit die der Oranter, wurde abgewenbet tbeil® durch 
die Bildung neuer Sekten, theils durch das Fortbeftehen 
einer febr beträchtlichen katholiſchen Bevölkerung, welche 
freilich aller politifchen und kirchlichen Rechte beraubt war, 
aber eben dadurch dem Parteigetriebe entrüdt, das Staats⸗ 
ſchiff in rubigerem Gange zu erhalten beitrug, unb mit 
ihrem Gewicht, jo weit fie eines hatte, bie dem Dranifchen 
Generalitatthalter und ber caloiniftifchen Prebiger-Herrfchaft 
entgegengefettte Partei verftärkte. Die neue, ven Calvinis« 
mus belämpfenbe, Arminianifche Lehre führte ven erften po» 


Nachgelaſſene Schriften, Hhanburg 1842, ©. 288. 





124 

litiſch⸗ kirchlichen Kampf herbei. Mit der Hinrichtung Ol⸗ 
denbarnevelds, der Einkerkerung ber Arminianer und der 
Dordrechter Synode war der Sieg bes vereinigten Gal- 
binismus und Orangismus errungen. Aber bie Stoaten- 
partei, deren Häupter atminianifch gefinnt, oder den: Armi⸗ 
nianern befreundet waren, kam nad) Morigens Tode wieder 
empor. Als Holland ˖ die Provinzialſtaaten für die Souperaine 
des Landes erklaͤrte, griff Wilhelm II. zu den Waffen, unb e8 
fchten, als ob ihm bie Unterjochung ber Republik durch nee 
narchifche Herrfchaft gelingen werde; der Tod vereitelte jedoch 
im J. 1650 feine füßnen Entwürfe. Nun gelangte vie 
Staatenpartet wieder zu vorübergehender Herrſchaft, und 
wollte durch das, ewige Edikt/ der Oranter und ihrer General 
ftatthalterfchaft loswerden. Der Barteilampf führte pa und 
dort zu bintigem Handgemenge. Der junge Wilhelm IIL 
bon Dranien wurde burch bie calvinifchen Prediger und 
das von ihnen geleitete Volt wieder emporgehoben, unb 
die von ihm -benütte und befchügte Ermorbung der Brüper 
be Witt befeftigte feine Herrſchaft. Als er jedoch, König 
kon England geivorden, von dert aus bie Niederlande zu 
regieren fortfuhr, kam es in Seeland und anberwärts zu 
energiſchem Widerſtande '). 

Die großen, im Ganzen mit glücklichem Erfolge ge⸗ 
führten Kriege, vie Seeherrfchaft, die auswärtigen Eroberuns 
9) Ban Rampen, Gef, b. Nicherlande, II, 892 fi 


126 


gen, das Alles Hatte bie Kraft und Aufmerkfamfelt ver 
Ration nad aufen gewandt; die Zerliäftung im Innern 
war baburd aufgehalten worben. Aber mit bem achtzehn; 
ten Jahrhunderte trat auch bereits der Verfall in. Der 
Egoismus der Provinzen machte fich gegen das Ganze, der 
Ezoismus der Städte. gegen die Provinzen fich geltenh, 
Gelpgier und engberziger. Rrämergeift neben beſchränkten 
Bortetweienbliebenam Ende die Haupttriebfebern. Bedeutenpe - 
Männer traten nicht mehr hervor; aber es gab eine Menge 
Deiner Tyranuen. Und dabei wurbe, wie Niebuhr ſagt, 
nicht blos der Untergang des Staates, fondern and) der 
Berfall der Nation durch ven Unſinn bes Parteibaffes ber 
förbert. Gegen Ende des Iahrhunberts rief man felbit bie 
Fremden berbei, und fahen die Nieberländer ohne Scham 
Brengen, Franzoſen, Eugländer im Herzen ihres Landes. 
Die Prengen eroberten 1787 Amfterdam, und nerfchafften 
den Drantenmännern den erfehnten Triumph. Die Patrio⸗ 
ten flüchteten nach Frankreich; und im J. 17% bemächtigten 
fi) die Franzoſen des ganzen Landes ohne Schwertitreich. Nun 
wurbe das franzöfliche Revolutionsweſen, Aubs und Yale 
binertfum mit allem. Zubehör, von dem charalterios ge 
worbenen Volle nachgeäfft; Nieberland worb zur Bataviſchen 
Republik, warb dann ein franzöfirtes Königreich, Bald darauf 
eine franzöfiiche Provinz, und enblich wieder durch fremde 
Mächte ein unabhängiges Königreich. 


126 


Wenn in den Niederlanden bie Freiheit, deren man 
genoß, weſentlich dadurch bebingt war, ba der Calvinismus 
feine große Herrfchaft bald wieber verlor, und e& zu keiner 
Einheit der Religion kam, fo fehen wir in Schottland, 
wo der Calvinismus durch Knor in feiner ächteften Geftalt 
Kingeführt wurbe, ein Ähnliches Ergebniß. Bis zu Ende 
des 16. Jahrhunderts gab ed dort noch kaum georbnete 
bürgerliche Zuftände. Das Land war noch der Schauplak 
feubaler Gewaltthaten und Privatfehpen, bie Yalob J. erft 
gegen Ende feiner Regierung (1624) unterbrädt zu haben 
fih rühmte. Dann kam die Zeit ver Kämpfe gegen biſchöf⸗ 
fiche VBerfaffung und Liturgie, welche Karl I. den Schotten 
auforingen . wollte. Mit dem Siege, ben der Schottifche 
Calvinismus errang, wurbe jener Zuftand proteftantifcher 
Blüthe und Alleinherrfchaft wieder aufgerichtet,. ben bie 
Reformation in Schottland nach dem Sinne ihrer Urheber 
begründet hatte, als der Reformator Knor erflärte, daß 
„Anorbnung und Umgeftaltung der Religion ganz befonbers 

” ver bürgerlichen Gewalt zuftehe )“, undauf zweimaliges Dar⸗ 
bringen des Meßopfers die Tobesftrafe gefett war. Aber hiemit 
trat auch eine geiftliche Tyrannei ein, pie mit ſolcher Härte, 
mit fo ſchonungsloſem Eingreifen in das Privat- und Fa⸗ 

) To the Civil Magistrate specially appertains the ordering 


and reformation of Religion Westminster Review, t 54, 
p. 453. 


127 


milienleben nur noch in Nordamerika geübt worben ft. Die 
Preebpterien dehnten ihre Gewalt fo weit aus, handhabten 
bie furdhtbare Waffe der Ercommunication,, bie faft einer 
völligen Aechtung und Ausftoßung aus dem gefellfchaftlichen 
Berbanbe gleich Tam, mit ſolchem Erfolge, daß kein Menich 
ein Gefühl der Sicherheit haben, daß faft jeve Handlung 
des Lebens vor das preöbhteriale Forum gezogen werben 
tounte. °) Es verfteht ſich, daß ba auch jeber Verſuch, in 
irgend einer geiftigen Richtung bie engen Schranfen der 
caloinifchen Anfchauungsweife zu durchbrechen, ſchon im 
Keime erftidt wurde. 

Es ift vielfach behauptet worben, daß bie calviniſche 
Kircheuverfaffung vor andern vollsmäßig, populär, ber Frei⸗ 
heit güuftig fet, weil fie dem Laien-Element in ven Presbh⸗ 
terien und höher hinauf einen fo bedeutenden Antheil une 
Einfluß einräume. Die Erfahrung bat aber bewiejen, daß 
keine andere Form lirchlicher Ordnung zu einer fo peinlichen 
sub unerträglichen Tyrannei geführt, Teinezu ftärlerer Oppo⸗ 
fition gereizt bat, weshalb fie denn auch überall Zivietracht 
und Erbitterung gefäet, und fich nicht lange zu Balten ver- 
mocht hat. Das Inſtitut der Presbpterien als Sittenge- 


1) Ein anſchauliches Bild diefer Zuftände hat neuerlich Robert 
Chambers in feinen Domestic Annals of Scotland from 
the Reformation to the Revolution, Edinburgh 1858, ent- 


worfen. 





128 


richte ift immer nur in Meinen Stäbten und in Dörfern ein⸗ 
geführt worden, wo jeder vie häuslichen Verhäftniffe ber 
übrigen Tennt, jeder mit feinen Nachbarn, mit vielen Andern 
In verwandtfchaftlicher Verbindung fteht, jeder feine Motive 
ber Feindſchaft, der Barteilichfeit bat. Werben nun Einzelne, 
als „Laien⸗Aelteſte⸗ ausgewählt, um über ihre Mitbürger 
zu Gericht zu fiken, fo ergeben fich unfehlbar drei Uebel⸗ 
ftände. Erſtens find dieſe Männer ver ftärfften Verſuchung 
ausgefeht, eine fo ganz discretionäre und weitausgreifenbe 
Gewalt zu. Privatzweden bes perfönlichen Bortheils ober 
zur Befriedigung ihrer Rache, ihres Mißwollens zu mißbrau- 
hen. Zweitens bildet ſich in jeder Gemeinde ein Syſtem 
bes Spionirene, bes Eindringens in die Heimlichleiten des 
Privatlebens; Denunciationen, Klatſchereien, Schadenfreude 
und Haß hüllen ſich in ben Schein bes Religionseifers. 
Drittens werben die Träger einer feldhen Gewalt unver⸗ 
meidlich Gegenftand des allgemeinen Widerwillens, des Haſ⸗ 
ſes und Argwohns; ihre äußere Neligiofität, welche bei 
Ihrer Auswahl entfchieven hat, erfcheint als berechnetes 
Mittel, als Heuchelei. Der Menfch läßt fich wohl beftim- 
men, einem Manne eine gewiffe religiöe-meralifche Antori- 
tät einzuräumen, ber das Siegel eines befonderen Rebens« 
beruf8 empfangen hat, und eine-abgefonberte, von bem All⸗ 
tagstreiben der Menge ausgefchierene Stellung im Leben 
einnimmt, aber nie wird er ſich denen, die nur feines Glei⸗ 


' 


129 


den find, die gleich ihm dem Erwerb und ver Sorge für 
bie Ihrigen leben, in religidfen Dingen. willig unterwerfen. 
Doß man in dem Jahrhundert des Neligionen» und Kir⸗ 
dhenmachens ein Inſtitut wie die Preöbpterien mit Laien 
Helteften und Sittengericht erfand, das ift eines ber zahl 
reichen Beifpiele von Kurzfichtigleit, von Mangel an prakti⸗ 
ſchem Berftand und Menſchenkenntniß, welche damals von 
den Reformatoren gegeben innrben. 

Indeß währte dieſer Zuſtand nicht allzulange, denn 
von 1660 bis 1688 war bie calvinifche Kirche in Schott- 
laud durch die erneuten Bemühungen der Englifchen Re⸗ 
gierung, die Anglifanifche Kirchenform einzuführen, gendthigt, 
mit Aufßerfter Anftrengung ihrer Kräfte für ihre Eriftenz zu 
fümpfen. Zwar fiegte wieder mit der Revolution von 1688 
der Calvinismus, aber eine Parlamentsakte, welche 1712 
Borlabungen vor kirchliche Gerichte bie Unterftükung des 
weltlichen Arms verjagte, machte die Wieberberftellung ver 
früheren Tyrahnet unmöglich. Zugleich mußten die Cal⸗ 
viniften eine bifchöfliche Kirche in Schottland neben ſich 
dulden. Damit und mit ven Spaltungen und Seceſſionen 
von ber herrichenden Kirche, welche nun (feit 1735) immer 
häufiger wurben, begann erſt bie Zeit der wirklichen Frei⸗ 
Beit in Schottland. 

England Hatte in feiner Tatholifchen Zeit und unter 


der mächtigen Deihülfe der Kirche den Grund zu feinen 
». Dölfinger, Papſtthum. ' 9 


130 


ſtaatlichen Freiheiten gelegt, unb das Gebäude bereits gro⸗ 
Sentheils aufgeführt. Die Kirche war es, welcher bie Na⸗ 
tion die Magna Charta von 1215, die allmälige Verſchmel⸗ 
zung und @leichftellung ber Eroberer und ber Befiegten, 
ber Ungelfächfifchen unb ver Normännifchen Race, und bie 
DBernichtung der bäuerlichen Knechtſchaft (villenage) ver 
dankte, ben hatten bie erften Funken des in Deutfchland 
ausgebrochenen religiöfen Brandes auch auf der Britijchen 
Infel gezündet, als Heinrich VIIL ven Plan faßte, fich 
durch vollftändige Unterjodhung ber Kirche ven Weg zum 
unumfchränkten Königthum zu bahnen. Daß ihm dieß ge= 
lang, ift befannt. Er und bie folgenden Fürften des Han⸗ 
je8 Tudor, oder die, welche in ihrem Namen regierten, 
fonnten mit der Kirche des Landes nach Gutdünken ver- 
fahren, und machten den umfafjenpften Gebrauch von biefer 
Macht. Unter Eduard VL warb ber volle Proteftantisnus, 
wie er fich auf dem Feſtlande bereits entwidelt hatte, ein- 
geführt. Eliſabeth ftellte das Werk ihres Bruders ober 
feiner Vormünder und Rathgeber, nachdem es durch Maria 
unterbrochen worden, wieder her, doch mit einigen bedeu⸗ 
tenden Modificationen. Die proteſtantiſche Lehre war ein 
der Nation fo fremdartiges Weſen, daß kein Engländer im 
16. Jahrhundert auch nur einen einzigen eigenen Gedanken 
auf biefem Gebiete entwidelt, oder zu ber vom Continent 
eingebrachten Lehre Hinzugefügt bat. Man wußte nichts 





131 


zu thun, als pie fertige Doctrin, wie fie in Genf und Zü- 
rich ausgeprägt worben, der Nation von oben herab aufzu⸗ 
legen. Mit Gewalt, mit den Waffen fremder Soldner 
wurde das Volk gezwungen, der katholiſchen Religion zu 
entſagen, und ſich dem Glauben Bullinger's und Calvin's 
zu unterwerfen. Selbſt ein jo lobredueriſcher Geſchichtſchrei⸗ 
ber der Engliſchen Reformation, wie Bifhof Burnet, ge 
fteht, Daß alle Bemühungen ver Regierung, ven Widerwillen 
des Volkes gegen den Proteſtantismus zu überwinden, vergeb« 
fich gewefen, und daß man deshalb von Calais Deutfche 
Sätonerfchanren im 93. 1549 babe. herüberlommen laffen, 
um diefen Widerftand zu brechen‘). Bei eilf Zmölftbeilen, 
fagte damals Paget dem Protector, Herzog von Somerfet, 
babe vie neue Religion noch nicht Eingang gefunden ?). 
Der Widerſtand des tatholifchen Volkes wurbe nun zwar, ſo⸗ 
wohl unter Eouard IV. als unter Elifabeth, gebrochen, aber 


2) History of the Engl. Reformation. Lomdon 1681, fol. III, 
190, 196. In Cornwoll war fhon im 3. 1547 ein Aufftand 
gegen ben Protector, ber England proteftantiih machen wolle, 
ausgebrodhen; das Bolt verlangte, man folle ihm geftatten, 
bei den Entſcheidungen der allgemeinen Kirchenverfammlungen 
zu bleiben. Quarterly Review, t. 102 (1867) p. 319. Im 
3. 1569 erfolgte im Norden eine neue große Volkserhebung 
gegen das Joch des Proteftantismus. Sie ward durch maflen- 
hafte Hinrichtungen erbrüdt. 

2) Strype’s eccles. memorials, II, Appendix H. H. 

g* 


132 


fchwieriger war e8, ober vielmehr unmöglich, pie Einheit 
ber proteftantifchen Kirche herzuftellen, und Trennungen auf 
ber Grundlage der Reformation abzuwenden. 

Die neue Staatskirche vepräfentirte in ihren Eigen- 
thünnlichleiten und heterogenen Beſtandtheilen keine Bartel, 
keines ber damals vorhandenen Syſteme, ſondern verbanfte 
ihre Eriftenz einerſeits dem Beftreben, dem noch überwie⸗ 
gend katholiſchen Wolle in ven Aeußerlichkeiten ber priefter 
lichen Kleidnug und mancher Gebräuche ven Schein bes 
Herlömmlichen und der Katholicität zu laſſen, anbererfeits 
den perjönlichen Neigungen ver Königin, welche, mehr aus 
Politik als aus bogmatifcher Vorliebe proteftantifh, mög⸗ 
Gchft viele Elemente der alten Religion, wenigftens in der 
Liturgie und Verwaltung ber Sacramente, beibehalten wiſ⸗ 
fen wollte. Uber die Männer, welche an der Spike ber 
neuen Kirche flanden, Parker und Grindal, Iewel, 
Nowell u. a., waren alle entfchiebene Calviniſten, jo gut 
wie die PBuritaner; fie waren nur zugleich auch gehorfante 
Hoftheologen. In der Nation hatten fie Teine rechte Stütze; 
ber katholiſch gefinnte, aber in fteter Verminderung be⸗ 
griffene Theil des Volles ſah in der neuen Hof» unb 
Staatskirche nur eben das kleinere Uebel im Vergleiche 
mit dem noch brüdenkeren Joche des verhaßten Calvinis- 
mus; wogegen alle eifrigeren Proteftanten im Grunde pu⸗ 
ritanifch gefinnt waren, d. h. folgerichtig meinten, das 


133 


Aeußere der Kirche folle dem Junern entfprechen; zu einem 
caloinifchen Lehrbegriffe gehöre auch eine calninifche Ber- 
faſſung und Gottesbienftorpnung. Die Stantsfirche Hatte 
baber auch fünfzig Jahre lang eigentlich Teine Theologie 
and tbeologifche Literatur, man uährte fi) von ven Pros 
ducten der Züricher, Straßburger, Genfer Schulen und 
copirte fie. Exft im Jahre 1594, ale Richard Hooker 
mit feinem berühmten Werk über bie Kirchenberfaſſung her⸗ 
vortrat, begaun ber Verſuch, der Staatslirche auch eine 
eigne bogmatifche Unterlage zu geben, der denn, im noth⸗ 
wenbigen Gegenfate gegen ben Calvinismus, ben Bruch 
mit der alten Kirche und beren Trabition zu einem mög» 
lichſt geringen zu machen fuchte, alfo uotbgedrungen in ka⸗ 
tholiſche Pfade einlentte. 

Aber nun kam noch ein andrer höchft bedentungsvoller 
Streitpunkt hinzu. Die Hofreformatoren der Tudore, 
Eranmer an ber Spitze, waren nicht bei ber allen Pro⸗ 
teftanten, Lutheranern wie Ealviniften, gemeinfamen Theorie 
ftehen geblieben, baß vie bürgerliche Obrigkeit auch über 
die Religion zu entfcheiden, bie kirchlichen Angelegenheiten 
zu ordnen, bie Kirche im alle des Bebürfniffes zu refor⸗ 
miren habe. Sie waren weiter gegangen: nad ihrer 
Theorie war der König Stellvertreter Gotte® auf Erben 
in dem Sinne, daß er als Hoherpriefter oberfter Kirchen- 
tehrer und Quelle jeber zum SKirchenbienft erforberlichen 


Ma 


Befugniß war.) Die Erzbifchöfe Cranmer und Parker 
behaupteten: Fürften könnten eben jo gut Priefter machen, 
als die Bifchäfe, und ein vom Könige ernannter Priefter be- 
bürfe keiner Ordination. Zwar pflegte man von biefem 
öniglichen Hohenpriefterthume die perfönliche Verrichtung 
ber Eultushanblungen und der Spenbung der Sacramente 
abzulehnen; baranf, hieß es gewöhnlich, mache ber König 
oder die Königin Teinen Anfpruch, aber, bemerkt ein leben» 
ber Theologe der Anglikanifchen Kirche richtig: offenbar 
wollte man nur dieſe eine Ausnahme gelten laffen, und 
nahm jebe andere Gattung Firchlicher Autorität für ben 
Monarchen in Anſpruch.) Nach dieſen Grunpfägen wurde 
nun bie Reformation ber Englifchen Kirche durchgeführt; 
die Bifchdfe Tiefen fich für jede Art kirchlicher Thaͤtigkeit 
Bollmachten ertheilen, welche die Krone beliebig befchräntte, 
over erweiterte, unb bei einem Thronwechſel mußten neue 
Vollmachten ausgeftellt werben, ba die übertragenen Ge⸗ 
walten mit dem Tode des Verleihers als erlofchen gebacht 
wurrden.?) 


!) The vicar of God, the expositor of catholio verity, the 
channel of sacramental graces. So bezeichnet Macanlay, 
hist. of England, I, 54, Tauchn. ed., biefe Theorie ganz 
richtig. 

N) Pretyman: the Church of England and Erastianism 
since the Reformation. London 1854, p. 34. 

2) Bolflänbig, mit reichen Belegen aus ben Duelle, ift dieſes 


— _ 


Eitfabeth wollte num zwar nicht, wie ihr Vater und Ihr 
Bruder, als Trägerin einer Hobepriefterlichen Wurde er⸗ 
fcheinen, aber fie und ihr Parlament beftätigten das Prin- 
cip, daß die ſchrankenloſe Bewalt des Konigthums über bad 
gefammte Kirchenweſen für immer in England beſtehen, 
umd jede Jurisdiction, jede Befugniß in Lehre, Disciplin, 
Reformation der Kirche mit der Krone verbunden fein folle.’) 
As nachher Jakob I. im Begriffe den Englifchen Thron 
zu befteigen, zum erftenmale ven ganzen Umfang des von 
ber Borgängerin ihm hinterlaffenen Erbes, die Größe feiner 
Königsprärogative begriff, rief ex entzüdt aus: „Ich alfo 
mache, was mir gefällt: Geſetz und Evangelium!“ *) 

So wurde die neue proteftantifche Staatskirche auf 
Bundert fünfzig Sabre hinaus „vie knechtiſche Dienerin der 


Berhättniß dargelegt von David Remis: Notes on the na- 
tare and extent of the royal supremacy in the Anglican 
Church. London; 1847. ©. beſonders ©. 29 ff. 

3) Doch war es nicht eigentlich bie Königin ober ihre Nachfolger, 
fondern das Parlament, welches bamals eine förmliche Unfehl- 
barkeit für fich in Anfpruch nahm; es fügte nemlich bem Statut über 
den Löniglichen Kirchenfupremat die Elaufel bei: kein Alt ober Be⸗ 
ſchluß des gegenwärtigen Parlaments in religiäfen Dingen bürfe je- 
mals ale irrig betrachtet werben. ©. bie Stelle bei Lewis, p. 37. 

2) Wörtfich in feinem ſchottiſchen Dinielte: „Do I mak the jud- 
ges? Do I mak the bishops ? Then, God’s wauns! I mak 
what likes me, law and gospel!“ Hist. Essays, by John 

‚Forster, London 1858, I, 227. 


156 


Monarchie, die beharrliche Feindin ber äffentlichen Frei⸗ 
beiten.) Das Englifche Bolt fehien feinen Charakter ges 
wartbelt zu haben; im 14. und 15. Jahrhundert hatten 
fremde Gefchichtsichreiber, Froiſſart und Comines es 
als das freiefte und ftolgefte in Europa, welches Unter 
brüädung am wenigfien ertrage, geſchildert. Und was war 
jetzt aus viefeun Volle geworben? Sein Parlament unter 
warf vie heiltgften Intereffen, die innerften Rechte des Ges 
wiffens ber Willlür eines Weibes; feine Kirche lag be 
mätbig zu den Füßen bes Königthums, prebigte bie abfo- 
Iute Macht der Krone, den unbebingten leivenden Gehor⸗ 
ſam gegen ven Willen bes Könige. Bedenkt man, daß bie 
Regierung kein ftehendes Heer im Lande hatte, fo wird vie 
Sache noch auffallender. Allein. die Lage der Dinge umb 
der Parteien erklärt Alles. Die Regierung konnte fich auf 
zwei ober. eigentlich brei Parteien fügen, und mit ihrer 
Hilfe erft die Anhänger der alten Religion, dann auch eine 
von ben Haltionen, bie ihr hiezu beigeftanven, unterdrücken. 
Sie Hatte einmal alle biejenigen für ſich, die bon ber rei⸗ 
hen Beute des Kirchen⸗ und Kloftergutes einen Antheil da⸗ 
von getragen hatten, d. 5. ven Hofabel und einen großen 
‚Shell des Landadels, der Gentry. Ste hatte ferner, fo lange 
ed galt, die Tatholifche Kirche zu zerftören und ihre An⸗ 





1) Ausbend Macaulay’s, Essays, Paris, 1848, p. 78. 


187 


Hänger zu unterbrüden, alle proteftantifch Geftnnten zu 
Freunden und Gehilfen. Pereinigt wären biefe ſtark ger 
zug gewelen, die volle Neformation im Schwelzertfchen 
Sime, die Aufrichtaung einer calviniſchen Nationallirche zu 
erzwingen, aber burch ben Koder der kirchlichen Würden 
und Pfränden gelang es dem Hofe, fie zu Ipalten. Die 
Mehrzahl der Theologen ließ ſich neben dem calvinifchen 
Dogma die aus der alten Kicche beibehaltenen liturgiichen 
umb facramentalen Beſtandtheile gefallen, zum Theil in ber 
Hoffnung, daß, wenn nur einmal das Dogma in ven Geis 
Kern Wurzel gefaßt hätte, dieſe papiftifchen Reſte von ſelbſt 
fallen, ober leicht abgeftreift werben wiärben. Die ächten 
Calviniſten fanden zu fpät, daß fie felber zur Errichtung 
einer fie nieverbrüdenden abfoluten Staats⸗ und Kirchen- 
macht mitgewirkt hatten, daß der Strid, ven fie den Katho⸗ 
fifen batten um ven Hals legen helfen, num auch ihren Nas 
den einfchnäre; Kerler, Folter, Schaffot brachen unter Eli⸗ 
fabeth ihren Widerſtand. Im Unterhaus faßen, da alle- 
Katholilen ansgefchloffen waren, nur Proteflanten, unter 
ihnen nicht wenige eifrige Puritaner, und doch, wurden Ges 
ſetze votirt, "welche jede Abweichung von Eliſabeth's Kirche, 
ſelbſt das bloße Nichtbeſuchen des Gottesdienſtes mit ben 
drũckendſten, grauſamſten Strafen belegten. Freilich kam 
der Regierung ſehr zu ſtatten, daß die Calviniſten unter 
fich ſelbſt uneinig waren, denn während Cart wright mit 


158 


feinem Anhang das presbhterianifche Syſtem ausbildeie, 
wurben bie weiter gehenden Bromniften vie Borläufer des 
nachherigen Congregationallsmus. Im ganzen war der Zus 
ftand, den der Proteftantismus gefchaffen, folcher Art, daß 
nah Macaulah's Aeußerung, wenn bie Verbältniffe dauer 
haft geworben, vie Reformation in politifchem Sinne ber 
größte Fluch geworden wäre, ver je auf England gefalten.') 
Das Englifche Volt war, wie ein andrer Befchichtichreiber 
England's fagt, bis zu jenem niebrigften Punkte politiicher 
und bürgerliher Degravation gefunten, zu welchem über- 
haupt bie moralifche und phhfifche Energie der Angelfächlt- 
ſchen Race hinabzubrüden möglich ift”). 

Die Königin Hatte ihr Inquiſitionsgericht,“) welches 
über Härefie und Rechtgläubigkeit entfchlen, und gemäß 
feiner Willkürgewalt mit Gelvftrafen, Kerker und Folter 
berfuhr. Durch dieſen ihren Lieblingsgerichtghof verhängte 
fie anf einmal Abfegung oder Sufpenfion tiber den britten 
Theil des ganzen Klerus wegen Nonconformität, Ste ver- 
bot, daß mehrere Perfonen ſich zum Lefen ver heil. Schrift 
verfammelten. „Niemanden darf geftattet fein, äußerte fie 
in einem Schreiben an den Exrzbifchof von Canterbury, von 


1) Essays p. 158, 

N) Macgregor: history of the British Empire. London, 
1852, I, p. CCLXX. 

9) Court of High Commission. 


138 


der durch meine Geſetze und Vorſchriften gezogenen Linie 
Irgenbivie zur Rechten ober zur Linken abzuweichen.“) Ihre 
Staatömänner und Yuriften behaupteten, und das Dans 
der Gemeinen gab eingefchichtert zu, daß fie fi über alle 
Geſetze erheben, alle Rechte und Freiheiten befchränten könne, 
daß fie kraft ihres Dispenjationsrechtes jede Parlamentsalte 
befeitigen lönne, vaß ihre Prärogative feine Gränzen 
habe.) Diefen Doctrinen gemäß regierte fie; aber, wie 
iyrannifch auch viele ihrer Maßregeln waren, fie war und 
blieb dennoch eine in hohem Grade populäre Hürftin, mau 
bengte fich vor ihrer geiftigen Ueberlegenheit; man wußte, 
daß unter ihr England in Europa mächtig und gefürchtet 
war, daß es an der Spike aller proteftantifchen Staaten 
and Intereffen im ganzen Welttheile ſtand, und man er 
trug von ihr, was ein fchmwächerer und geiftig befchränfter 
Monarch nicht Hätte wagen dürfen. 

Ein Umſtand von hoͤchſtem Gewichte bewahrte das 
Englifche Bolt vor dem Verſinken in die Zuftände bes proteftan- 
tifchen Continentes; es erhielt fich fortwährend im unge 
gehemmten Befig und Gebrauch feine® alten Germanifchen 
Rechts, nie konnte Nömifches Recht in England einbringen, 
nie konnte eine Clafſe Römifcher Juriſten, und in ven An⸗ 


1) Macgregor, I, cel. XXI. 
?) D’Ewes, p. 649. 


140 


ſchauungen Nömifcher Jurisprudenz erzogener Beamten fidh 
bilden. England erhielt keine Gonfiftorien nach Deutſchem 
Mufter, wurde ‚nie ein bureaukratiſch adminiſtrirtes uub 
bevormundetes Land, das continentale Beamtenthunt wit 
feinen ftet® wachfenden Aemtern und Stellen fand bort 
feine Heimat, und, obngeachtet ver in Folge der Refor⸗ 
mation gefchaffenen Ausnahmsgerichte, des Inquiſitionsge⸗ 
richte und der Sternlammer, bewahrte ſich doch England 
im Ganzen und Großen die Germaniſche Unabhängigkeit 
ber Rechtöpflege von der Stantögewalt. 

Unter ben erſten Stuarts, Jalob I. und Karl L. reifte 
bie nach zwei entgegengefeßten Richtungen bin ausgefireute 
Saat. In der Staatslirche, obwohl fie noch an ber Dord⸗ 
rechter Synode Theil nahm, griff die Abneigung gegen ben 
Salvinismus immer ftärker um fich, und in demſelben Grave 
erftarkte ver Wunſch und das Streben, ſich der alten Kirche 
zu nähern; das anticaloinifche Dogma, die firchenpolitiichen 
Einrichtungen, die Theorie des auf göttlicher Einſetzung bes 
ruheuden Epiflopat® und der apoftolifchen Succefiton, alles 
dieß gab der Anglilanifchen Kirche eine mehr katholiſche 
Faͤrbung. Die Kirche Englands folite nicht mehr als eine 
der verſchiedenen proteflantifchen Genoffenichaften, ſondern 
als eim gereinigter und verbefferter Zweig ber katholiſchen 
Kirche gelten. Um fo Heftiger entbrannte der Unwille aller 
calviniſch Gefinnten über dieſen Arminianismus und Papis- 


141 


mn In der Staatsfirde. Der Tönigliche Supremat über 
bie Kirche, nicht mehr von einer ftarken, verehrten und ge 
fürchteten Frau, fonbern ‚von einem pebantifch Tleinlichen, 
allgemein verachteten Monarchen wie Salob I., getragen, 
der immer fein göttliche® Recht, feine fchranfenlofe Präro» 
gative im Munde führte, ſank in ber öffentlichen Meinung, 
and man empfand, daß bie Kirche ber abſoluten Gewalt 
des Koͤnigthums als ſchuͤtzendes Bollwerk, als fügjames Werk 
zeug dienen follte. Erllärte doch Earl I., er ſehe in dem Epiftor 
pat eine ftärlere Stüße der monarchifchen Gewalt als felbft in 
ber Armee.“) So mußte ver politifche Kampf gegen das Koͤnig⸗ 
thum zugleich ein Kampf gegen bie Staatskirche werben. Die 
Buritaner aus Elifabeth8 Zeit waren nun größtentbeild Pres- 
byterianer, fie trachteten bie bifchöfliche Ordnung zu ftürzen, 
die Herrſchaft des caloinifchen Dogmen, verbunden mit ſtrenger 
Kicchenzucht, zu begründen, den in die Staatskirche eingedrun⸗ 
genen Arminianismus und Papismus auszurotten und deſſen 
Duelle, die Liturgie, abzufchaffen, und endlich die Kirche vom 
Konigthum unabhangig zu machen. Ihr Einfluß im Unterhaufe 
ward verſtärkt durch die „doctrinellen Puritaner“, d. h. 
die calviniſch gefinnten Mitglieder der Staatskirche.) Die 
Independenten, welche überhaupt keinen größeren Tirchlichen 


) Maocaulay’s, Essays p. 86. 
?) ©. darüber Banford, studies and illustrations of the 
great rebellion. London, 1858, p. 77. 


142 


Organismus, ſondern bie Unabhängigkeit ver einzelnen Ges 
meinven wollten, fpäter die gefährlichiten Geguer ver Bres- 
byterianer, gingen vorerjt mit ihnen zufammen gegen ven 
gemeinfchaftlichen Feind, gegen das nach Willtürherrichaft 
firebende Königthum und deſſen Werkgeug, die Stantölirche. 

Die Wechfelfälle des großen politifch- kirchlichen Kam⸗ 
pfes find bekannt. Strafford, Erzbifhof Laud, König 
Karl, die drei Repräfentanten des Firchlich-polttifchen Ab⸗ 
ſolutismus, beftiegen pas Blutgerüſfte. Die Kirche fiel mit 
dem Königthume. Aber die Hoffnung ber Presbyterianer, 
nunmehr, wie in Schottland, mit Unterbrüdung allerandern 
Kirchen und Parteien, die ganze Nation unter die Herr⸗ 
ſchaft des Achten Calvinismus zu beugen, wurbe bald ver⸗ 
eitelt; ihrem kurzen Triumphe folgte ihre Nieberlage; unter 
Cromwells Dictatur kamen die Independenten empor, neben 
ihnen aber erhoben fich die Sekten ver Baptiſten und Duä- 
fer. Herrfchen, die Andern verfolgen und unterbrüden, 
wollten, etwa mit Ausnahme der. Duäfer, alle; aber feine 
Partei war für jest ftarf genug. Bon ber Staatskirche aber 
Ionnte man nicht einmal fagen, baß fie zu einer Selte 
berabgeprüdt worden fei; fie hatte fürmlich zu exiſtiren 
aufgehört. 

Doc mit der Reftauration lebte fie wieder auf in ber 
vollen Glorie einer National» und Parlamentskirche mit 
ihrem Töniglichen Oberbifchof, unb vermochte abermals ven 


143 


Fuß auf den Naden ihrer Feinde zu fegen. So mächtig 
war die Reaktion gegen ben unleivlichen ‘Drud, ben ber 
Calbinismus in feinen verfchievenen Geftalten zulegt aus“ 
geübt hatte, daß ver König Karl IL. gezwungen warb, fein 
früher gegebenes Derfprechen ber religiäfen Duldung zu- 
rüdzunehmen. DieAbfegung von 2000 Prebigern, die Conven⸗ 
tifelatte, und noch andre, die Hoffnungen ver Nichtbiſchöflichen 
vernichtende Gefete folgten fi Schlag auf Schlag. Das 
Parlament ſchien in kirchlichen Dingen aufräumen, unb ber 
biſchöflichen Kirche nicht nur die alten Vorrechte, ſondern 
den ausfchließlichen Befig der ganzen Nation fichern zu 
wollen. Im J. 1673 wurbe ver Tefteid, eine eibliche Ver⸗ 
fiherung ver Zugehörigkeit zur Anglitanifchen Kirche unb 
der Unterwerfung unter ben Tirchlichen Supremat bes 
Königs, für alle Eivil- und Militärämter feſtgeſetzt. Aber 
fon viefe Maßregel war vorzugsweiſe gegen bie Katho⸗ 
liken gerichtet. ‘Denn, ſeitdem der Thronerbe, Herzog von 
Hork, des Königs Bruder, Tatholifch geworben, wurbe bie, 
allerdings nicht ungegründete Furcht, daß ber künftige König 
feinen Supremat über die Staatslirche dazu benüßen werde, 
diefe Kirche Schritt für Schritt wieder katholifch zu machen, 
vorberrfchendes Gefühl und politifche Zriebfever für alle 
Steatsmänner und eifrigen Proteftanten. Als Partei be- 
trachtet, konnten die Katholifen damals feine ernitliche Be⸗ 
forgniß einflößen:: fie waren in der Maffe ver Bevölkerung 


144 
nahezu ausgeftorben; ihr Meines Häufchen hatte nur noch 
durh die Namen einiger alter und vornehmer Familien 
Bedeutung; fie wären wohl alle völlig zufrieven gewefen, 
wenn man ihnen in ber Stille einige Duldung gewährt, 
in ihren Hausfapellen ihnen gottesbienftliche Freiheit ge⸗ 
laſſen Hätte. Nicht auf fie fette Jalob II. feine Hoffnungen, 
fondern auf die religtöfe Zerriffenbeit Englands, auf bie 
unbebingte Hingebung ber Staatslirche an ihren Löniglichen 
Oberbifchof, auf die Treue, mit der fie, wie er wähnte, 
ihre Lieblingslehre vom leivenden Gehorfam auch thatfäch- 
lich und mit ihrem Beiſpiele befräftigen werbe, endlich anf 
bie in der Staatskirche felbft vorhandenen Tatholifchen Ele⸗ 
mente und Neigungen. Denn allerbings hatten bie bebeu- 
tendften Theologen feit fünfzig Jahren nach und nach bie 
meiften Hauptlehren der Reformation und der eigentlichen 
Fundamente des Proteftantismus mit Scharffinn und Ge⸗ 
lehrfamfeit beftritten, und vie altkirchliche Lehre in vielen 
und wichtigen Punkten als die einzig haltbare erhoben. 
Die proteftantifche Hauptlehre von der Nechtfertigung war 
eben vurh Bull, Hammond, Thorndyke und andere 
in ber Kirche, durch Barter außerhalb ver Kirche, fo 
gründlich zergliedert, ihre Wiberfprüche und verberblichen 
Bolgen waren fo einlenchtend nachgewiefen worben, daß fie 
troß ihrer DVerbürgung in ben 39 Artikeln, feitbem nie 
wieder in der bifchöflichen Kirche bat zur Geltung fommen 


145 


fönne, und nicht Ein wiſſenſchaftlich gebilpeter Theologe 
fi) ihrer mehr angenommen bat.) 

Die Verſchmelzung der politifchen Königsgewalt mit 
ber lirchlichen hatte in der Staatskirche bie Lehre von dem 
paffiven Gehorſam erzeugt; die Anglilunifchen Biſchöfe 
und Theologen behaupteten nemlich, daß nach chriftlichen 
Grunpfägen pas Bolt und Die Stände bem Willen des Mo⸗ 
narchen nie, auch nicht in ven äußerſten Fällen ver Noth⸗ 
wehr ober bed Umſturzes ber gefellfchaftlichen Ordnung 
widerftehen bürften, fondern unbebingt gehorchen, ober, 
falls das Gebotene Sünde fei, fich völlig leidend verhalten 
mößten. Sie dachten dabei an den Urfprung ihrer Reli⸗ 
gion und Kirche, die doch im Grunde nur durch den Willen 
der Monarchen einem wiberftrebenven Volle aufgezwungen 
worben war. Diefe Pflicht des paſſiven Gehorfams fel, 
hieß es, die Lehre aller proteftantifchen Kirchen, vorzüglich 
aber ver Englifchen im Gegenfat gegen bie katholiſche Kirche, 
welche in gewiffen Fällen ein Necht des Widerſtandes zu⸗ 
laffe, fogar (nach den Principien des Mittelalters) eine 
Abfetbarkeit der Fürften in außerorventlichen Yällen bes 
haupte.“) Die Lehre wurbe nicht blos in Büchern und 
1) Die fogenaunten Evangelicals am Ende des vorigen Jahrhun⸗ 

berts, wie TZoplady, Benn, Newton, James Her 

vey und Aehnliche, find nemlich nicht zu ben wiſſenſchaftlichen 

Theologen zu rechnen. 


?) In der That if felbft unter Philipp IT. der Satz, ben ein 
v. Döllinger, Papfithum. 10 


146 


Fugſchriften vorgetragen '), fie erſcholl unabläffig von allen 
Kanzeln ; es fei dieß, hieß es, eine zur Seligfeit unumgäng-» 
lich erforderliche Lehre.) Ste wurde auf alle Maßregeln 
unter Karl II. und Jakob II. praktiſch angewendet, und 
beide Monarchen wurden fo burch die Kirche, deren Häup⸗ 
ter fie waren, in ihrem Streben nach abfoluter Herrſchaft 
kraͤftig ermuntert und ficher gemacht. Defoe warf es nach⸗ 
ber den Bifchdfen und Geiftlichen ver herrſchenden Kirche 
bitter vor, daß fie dem Könige Ialob fortwährend mit Ver⸗ 
fiherungen von feiner ſchrankenloſen Gewalt gejchmeichelt, 
ihn fo immer weiter geführt und dann ihn geftärzt Hätten. 
Denn als Wilhelm Ianvete, fiel ver ganze Anglifanifche 


Spaniſcher Prediger zu Madrid behauptet hatte, „baf bie R- 
nige eine abfolute Gewalt Über Die Perfonen und base Eigen⸗ 
thum ihrer Unterthauen hätten“, von ber Smquifition ver⸗ 
worfen worben. Der PBrebiger mußte auf derſelben Kanzel, 
wo ex bieß behauptet hatte, Öffentlich widerrufen unb ertlären: 
„bie Könige hätten über ihre Unterthanen feine anbere Gewalt, 
als die, welche ihnen göttliches und menfchliches Recht gebe, 
keineswegs aber eine Gewalt, welche aus ihrem freien unb ab⸗ 
foluten Willen besvorgebe.* Dieß berichtet Antonio Perez 
in feinen Relationen. Universit6 oath. XXII, 74. 

3) Reiches Material Über biefe für England damals höchſt wid. 
tige Wngelegenheit enthält bas Wert eines Ungenannten (Abr. 
Geller): History of passive obedience sinoo the Refor- 
mation. Amsterdam (London) 1689. 

?) Edinburgh Review t. 55, p. 82—84. S. bort bie Katmort, 
die Jakob U. anf Burnet’s Vorfiellung gab. 


147 


Nexus, feiner bisherigen Lehre zum Hehne, dem Ufurpator 
zu, und nur 400 NRonjurors hatten fo viel Gewiſſen, 
ben neuen Eid zu verweigern. ') 


Jakob IL. hatte nämlich eines in feiner Berechnung über- 
fehen: ven jett tiefgewurzelten proteftantifhen Sinn in ber 
großen Mehrheit des Volles. In der Furcht und dem 
Widerwillen gegen das, was man fich unter ber katholifchen 
Religion, oder mit ihr nothwendig verknüpft dachte, waren 
alle Bartelen, Ealviniften wie Anglikaner, einig. Politifcher 
und Tirchlicher Defpotismus, Verfolgung, Scheiterhaufen, 
Unterwerfung unter ben fremden Stalienifchen Fürften, 
oder, wie bie Eifrigeren fagten, unter ben Mömifchen 
Antichrift, Abfluß des Engliſchen Goldes nah Rom — alle 
diefe Schreckbilder jchwebten der Englifchen Phantafie bei 
rem Worte: „katholiſche Kirche” vor. Daß gerade die ka⸗ 
tholifchen Zeiten in England die Zeiten ber wachſenden 
bürgerlichen Freiheiten gewefen, die Reformation dagegen 
Nnechtſchaft, Abfolutisemus, Berluft an autonomifcher Bes 
rechtigung gebracht habe, das wußte damals unter taufend 
Englänbern nicht einer, und bie es etwa wußten, hüteten 
fih wohl, e8 zu fagen. Daß aber der Herzog von ort 
als ächter Stuart, als Bewunderer Ludwigs XIV., vor 
Allem nach Erweiterung der Löniglichen Gewalt, nach ab» 


») Wilson’s life of Defoe. I, 160. 
10* 


148 


foluter Macht fireben, und vie katholiſch gemachte Kirche 
von England als dienliches Werkzeng zu biefem Zwecke ges 
brauchen würde, dieß vorauszuſetzen, hieß ihm nicht Un⸗ 
recht thun. 

So diente die kurze Regierung Jakobs und die vor⸗ 
ausgegangenen Jahre der Furcht vor feinen Unternehmungen, 
einen mächtigen proteftantifchen Aufſchwung, eine, freilich 
nur vorübergehende, Annäherung der verfchiepnen Parteien 
und kirchlichen Secten bervorzurufen. Selbft bie von Ja⸗ 
kob augebotene Duldung warb von den letteren (mit Aus⸗ 
nahme der Quälker) zurückgewieſen; er bot fie ja nur an, 
um feinen verhaßten Slaubensgenofjen eine erträgliche Stel 
fung im Lande zu fichern. Mit dem Sturze Jakobs und 
der Stuart’fchen Dynaſtie, mit der Erhebung Wilhems IIL, 
ber Feſtſtellung der proteftantifchen Thronfolge, Hatte bie 
Bewegung, die mit der Reformation begonnen, in ber 
Hauptfache ihren Lauf vollendet. Die wichtigfte Erwerbung 
der legten Zeiten war die Habend-Eorpus-Alte, die Ver⸗ 
bürgung perfönlicher Sicherheit gegen tyrannifche Willkür, 
welche unter Karl II. 1679 burchgieng, wiewohl damit nur 
das alte in ver Magna Charta bereits verficherte Recht 
erneuert und gegen Umbentungen ber Rronjuriften feftger 
ſtellt wurde.) Die „Geburtsrechte” ober Grundrechte der 


1) Hallam's constit. History. Lond. 1882, II, 17. 





149 





Englifchen Nation, wie fie bei Wilhelms Erhebung 1689 
ausgeſprochen wurden, enthielten, abgefehen von der Bes 
fchräntung der Thronfolge, nur die alten Rechte und Frei⸗ 
heiten. Zwei Mächte aber, ober eine Macht nad zwei 
Seiten bin, war für immer gebrochen: das Königthum als 
felbftgebietende Autorität, und ber Lönigliche Supremat über 
die Staatslirche. Selbft Wilhelm vermochte, auch burch 
die Drohung, dem Throne zu entfagen, ven Widerſtand bes 
Barlaments nicht zu überwinden, und feit feinem Tode, 
feit dem Einzuge der Haundver'ſchen Dynaſtie in England 
bat kein König mehr felber zu regieren vermocht.) Die 
Könige dieſes Haufes waren und blieben dem Volle fremb 


9) Dagegen ließe fi) einwenden, daß body Georg II. feit feiner 
Thronbefteigung, bie zur Auflöfung bes Kabinets unter Lord 
North (1761-1782), einen großen Einfluß auf ben Gang 
ber Regierung und bie Entfcheibung ber politiichen Fragen ans 
gelibt habe, und zwar durch eine außerhalb feines Cabinetes 
gebilbete, und biefem entgegenwirfende Partei. Dieß war ein 
abusrmer, wunatärlicher Zuſtand, ber große Unzufriedenheit im 
ber Nation erregte, wie Burke in feinen Thoughts on the 
cause of the present discontents (Works, London 1884, I, 
127, ff.) geeigt bat. The power of the crown, heißt es 
bier, almost dead and rotten as Prerogative, 
has grown up anew, with much more strength, and far 
less odium under the name of influence. Er ſchildert Dam dieſes 
Berhältniß als ein Syſtem bes Favoritismus, bie Erfindung eines 
boppelten Eabinets n. |. w. Es wurde gelibt durch Beſtechung 
einer Anzahl Unterhaus-Mitglieber, mozu ein Theil ber Civil⸗ 


150 


und unbeliebt. Und während das Königthum vor ben 
Augen der Nation in den Hintergrund trat, und an An⸗ 
fehen immer mehr verlor, ftieg Macht und Autorität bes 
Barlaments, und wurde unter ber faft fechzigjährigen Ver⸗ 
waltung ber Whigpartei der Schwerpunct ber Gewalt in 
das Unterhaus verlegt. 

Mit diefer Abſchwächung des monarchifchen Elements 
in England mußte denn auch die kirchliche Suprematie ber 
Krone allmälig eine andere Bedeutung erlangen, anbere 
Wirkungen erzeugen. Die Königin Anna Hatte noch im 
Jahre 1707 ihre Suprematie für einen fundamentalen Bes 
ftanotheil der Berfaffung der Kirhe von England erklärt '), 
und Georg I., ver kurz vorher noch Lutheraner geweſen, 
traf bereits im Sabre 1714 fehr ins Einzelne gehende Au 
ordnungen über liturgifche Dinge untergeorbneter Art.?) 
Über der politifche Vortheil und das Gewicht dieſer Su- 
prematie fiel nun dem jebesmaligen Kabinets⸗Miniſter zu, 
pas Tirchliche Patronat wurde als ein Mittel, bie mächti⸗ 
tigeren Familien zu gewinnen, und im Intereſſe der Whig⸗ 


fifte verwendet wurbe. Die Sache beweift auf ſchlagende Weiſe, 
baß an eine legitime perjönlihe Machtäußerung bes Könige 
nicht mehr zu denen war. 

1) Bei Wilkins Conoilia M. Britannine, IV, 686. 

) David Lewis, p. 41. 


151 


Bartei und ihres Einfluffes auf die Wahlen und bie Kam⸗ 
mern gebanbhabt, vie Kirche aber, in ver Jalobitiſche und 
Toryiftifche Neigungen voriviegenb waren, wurde — unb 
dazu leiftete die Tönigliche Suprematie treffliche Dienfte — 
von den Whigs auch noch bes ihr übrig gebliebenen Heftes 
eiguer Bewegung beraubt, ihre Convocation burfte nicht 
mehr zufanmentreten, fie warb immer mehr verieltlicht, 
und zur VBerforgungsanftalt für bie Söfue und Bettern 
ber einflußreicheren Familien herabgewärbigt. 

Sobald die fländifche Verfaffung Englands, nach 1716, 
in das neue Stadium ber parlamentarifchen Regierung 
eingetreten war, mußte as, was man in England Eraftia- 
nismns nennt, bie Beherrſchung, Nieberhaltung und Aus⸗ 
beutung ver Kirche burch das politifche Laienthum, zur 
ſtehenden Obſervanz, gleichfam zur naturgemäßen Orbnung 
der Dinge werben. Die Regierung hatte und bat ſeitdem 
größere Gewalt über die Kirche und in der Kirche, als tm 
Staate‘), fowohl in der Theorie als in ber Praris. 
Wenn einmal ein Stantemann ben Supremat in einem für 
die Kirche wohlwoltenden Sinne anwenvete, fo war das 
eben ein glädlicher Zufall. 

Da die Nonconformiften over Diffenter Freunde ber 


#) Pretyman, the Church of England and Erastianism, 
p. 215. 


152 


Dannöner’fchen Dynaſtie unb der Whigs waren, fo fläkte 
fih die Regierung gerne auf fie, und befeitigte vie Be⸗ 
fohränfungen, weiche noch unter Anna fie getroffen hatten, 
fte erhielten, freilich nur durch eine jährlich erneuerte Iu- 
bemmität, Zutritt zu ben öffentlichen Aemtern, waͤhrend bie 
Staatskirche weder fich felbft gegen Heterodoxie und Un⸗ 
glauben in ihrem Schooße zu fchäten, noch irgendwie ag⸗ 
greflio, wie früher gegen das Diffentertfum vorzugehen 
vermochte. Nur gegen die Katholiten blieben die Strafges 
fee in Kraft. 

Dergeitalt bilvete ſich in England ber eigentbümliche 
Buftand, daß in Einem Reiche (feitvem Schottland, kraft 
der Union mit England vereinigt, eine Propinz des Briti- 
chen Neiches ausmachte) zwei ganz verfchievene und inner 
lich feindliche Staatslirchen, eine calvinifch-presbpterianifche 
im Rorben und eine bifchäflishe im Süden beſtanden, baß 
ferner vie Engliſche Kirche, aller felbftitänpigen Bewegung 
beraubt, Hilflo8 und gebunven von ber Staatsgewalt ab« 
hängt, während alle bereits gebilbeten ober Lünftig noch 
eutſtehenden Selten und religiöfen Geuoſſenſchaften, welches 
auch ihre Lehren und Einrichtungen fein mögen, in voll 
flänbigfter Freiheit und Autonomie fich felber regieren. Der 
Engländer finbet dieß ganz in der Orbnung. Die Suprematie 
iR, wie Hallam vie herrfchende Anficht ausfpricht, das 
Hunde» Halsband, welches ver Staat einer von ihm do⸗ 


153 


tirten und zum Staateinftitut erhobenen Kirche, ald Preis 
für Nahrung und Obdach, anlegt.') 

Fragen wir nun, was eigentlich in dieſem faft hun⸗ 
bertjäßrigen Ringen und erbitterten Parteien- und Kirchen« 
Kampfe erftritten worden und als Gewinn anzufchlagen 
ſei, fo ergibt fich erftens : vie religiöfe Freiheit, ober rich⸗ 
tiger bie Freiheit, nicht zur Staatslicche zu gehören, und 
eigne felkftftänpige Senoffenichaften zu bilden, tft, nach einem 
etwa hundert fiebenzig Jahre lang fortgefekten Kampfe, 
und nachdem Tauſende von Englänvdern ihr Leben barüber 
verloren hatten, endlich im Widerſpruch mit ven Grund» 
fügen des urfprünglichen Proteftantismus erfochten worden. 

Zweitens: die bürgerlichen Freiheiten, welche bie Eng⸗ 
länder in der katholifchen Zeit befeffen, hatte die Reformation 
und der Geiſt des proteflantifchen Staatslirchenthums we⸗ 
fentlich beeinträchtigt, theilweife vernichtet; fie mußten erft 
in dem blutigen Kriege, den vie Parteigänger ver Selten 
im Bunde mit den politifchen Freiheitsmännern gegen das 
auf dieſe Staatskirche fich ſtützende Königthum und bie 
von den Konigen gefchirmte Kirche führte, zurück erobert, 
und fofort befeftigt und erweitert werben. In fo ferne 
ann dieſe Selten alle and den Principien der Reformation 
hervorgegangen Waren, und fich proteftantifch nannten, läßt 


3) Const. History of England IIl, 444: The supremacy of 
tho legislature is like the collar of the watch-dog etc. 


154 


fich fagen, daß der Proteftantismus in England, nachbem 
er in feiner erften Geftalt der gefährlichite Feind und Zer⸗ 
ftörer bürgerlicher Freiheit gewefen, in feiner fpätern Ge⸗ 
ftalt, oder durch bie in ihm liegenden Eonfequenzen kirch⸗ 
licher Zerfplitterung, zur Derftellung ver politifchen Freihei⸗ 
ten und zu beren Erweiterung mitgewirkt babe. Jede der 
proteftantifchen Genoffenfchaften unterbrüdte, wenn fie es 
tounte, bie anderen, ober war bereit und entſchloſſen, dieß 
zu tbun, jebe wollte der Nation das Joch ihrer Anſchau⸗ 
ungen und Einrichtungen auflegen; bie Presbhteriauer 
Prynne und Edwards bewiefen, ſobald nur ihrer Selte 
bie momentane Herrichaft zuzufallen fchien, fofort in eige⸗ 
nen Schriften, daß die Obrigkeit gegen alle Irrlehren, (das 
hieß bei ihnen: gegen alle Nichtealoiniften) das Schwert zu 
führen berechtigt und verpflichtet ſei. Zuletzt giugen alle 
religtöfen Parteien gefehwächt und zerrüttet aus dem langen 
Hader hervor. Die Presbyterianer Iä6ten fich in England 
ganz auf, und wurben burch andere Seltenbildungen er⸗ 
fest. Die Staatslirche war innerlich jo kraftlos geworden, 
eine folche Unficherbeit aller Lehre, eine folche LWſung aller 
fichliden Bande hatte in ihrem Schooße überhaud genom- 
men, daß ſelbſt Bifchäfe den Englifchen Klerus für ben 
fehlechteften von ganz Europa erflärten'), und allgemeine 


3) ©. die Aeußerungen von Barnet, Laby Mary Wort 
ley und Anderen im Quarteriy Review, t. 10%, p. 462. 


155 


Mißachtung ver Kirche, weit verbreiteter Unglaube, felbft un⸗ 
ter dem weiblichen Gefchlechte im 18. Jahrhunderte Eng⸗ 
land ver andern Nationen Tennzeichnete. 

Der Ball Yalobs IL und die Berufung einer neuen 
Diymaftie bat nicht eigemtlich den Englifchen Volksfreiheiten 
Zuwachs gebracht, vie im wefentlichen alle bereitö errungen 
waren, aber er bat zwei folgenfchivere Veränderungen nach 
ih gezogen: die Herabfekung des Königthums zu einem 
machtlofen Schattenbilde, und das Syſtem ber parlamen- 
tarifchen Regierung durch die jebesmalige Majorität bes 
Unterhaufes, deren Anfichten und Beftrebungen fich je nad 
der Beſchränkung und Erweiterung des Wahlrechts ver- 
ſchieden geftalten müſſen. Ueber den Werth dieſer beiven 
Errungenſchaften muß die Zukunft entfcheiven. Seit der 
Parlamentsreform hat England eine abſchüßige Bahn be⸗ 
‚treten; von der Frage, ob England auf diefer Bahn einzu- 
halten, ob e8 der fortgehenden Demofratifirung des Unter- 
hauſes und der Verfaffung ſich zu entziehen im Stande 
fein werde, hängt die Zukunft des Neiches, gewifiermaßen 
die Zukunft der Welt ab. 

Im Ganzen bat fich als Ergebniß ver inneren Ge 
ſchichte der einzelnen Länder herausgeſtellt, daß bie Nefor- 
mation überall, wo eine einheitliche Staatskirche aus ihrem 
Proceſſe hervorging, nachtheilig auf bie bürgerliche Freiheit 
gewirkt, und daß biefe Staaten im 16. und 17. Jahrhun⸗ 





— — — 


156 


derte Rückſchritte auf der politiſchen Bahn gemacht haben; 
daß nur da, wo ber Proteſtantiomus in ber Form einer 
Staatskirche nicht zur Alleinherrichaft gelangte, wo viel- 
mehr ein beträchtliher Theil det Bevölkerung Tatholifch 
blieb, ein anderer getrennte kirchliche Genoſſenſchaften bildete, 
aus den dadurch erzeugten Neibungen und Befchränfungen 
ein größeres Mach ftaatsbürgerlicher Freiheit hervorging. 


4. Die Kirchen ohne Papſtihum: eine Bundfchen. 

Wil man erkennen, was Alles mit dem päpftlichen 
Stuble ftehe und falle, und wie berfelbe mit dem innerften 
Weſen der Kirche unablösbar verwachſen fei, fo darf man 
nur einen Dlid auf jene Sirchenlörper werfen, bie fich von 
Nom lodgefagt, oder überhaupt ihre Verfaſſung jo einge» 
richtet haben, daß für einen Primat kein Raum gelaffen 
iſt. Ich gehe Bier auf eine Kirchenſchau um jo eher eim, 
als es überhaupt in meinem Zwede liegt, die Situation 
der Gegenwart in Tirchlicder Beziehung Mar zu machen. 
Es iſt dieß auch für die Beurtheilung ver Kirchenftaats- 
Frage unerläßlich. 
a. Die Kirche des PBatriarhats Eonftantinopel. 

Wir beginnen mit der Alteften ber getrennten Kirchen, 
der orientaltfchen oder „ortboboren anatoliichen Kirche“, 
welche in dem Patriarchen von Gonftantinopel ihr Ober 
Haupt erfennt. Sie umfaßte ehemals alle Länder des Grier 





157 


chiſchen Kaiſerreichs, ift aber feit einiger Zeit in fortwäh- 
sender Zerbrödelung durch Tirchliche Auflehnung und Los⸗ 
reißung einzelner Theile begriffen. Diefe Abfonberungen 
haben ihren Grund in dem Gegenfate ver Nationalitäten 
and in ben VBerfalle des Türkifchen Reichs, welches fonft, 
in den Zeiten ber Macht, die Autorität des Patriarchen im 
eigenen Intereſſe aufrecht erhielt. Die Hellenifche Kirche 
des Griechiſchen Königreichs bat ſich unabhängig erklärt; 
daffelbe hat ver Metropolit zu Carlowig in Defterreich mit 
feinen eilf Bifchöfen gethan, und feine Kirche ift nun ein 
felbftftändiges Patriarchat. Auch die Kirchen von Cyprus, 
Montenegro und am Berge Sinai haben fi unabhängig 
gemadt. In den DonaufürftentHämern offenbart fich das 
gleiche DBeftreben, eine eigene Rumänijche Kirche zu bilven. 
Faft alle Organe der bortigen Preffe verlangen eine feier 
liche Unabhängigfeite-Erflärung der mol do⸗wallachiſchen 
Kirche, und die Bildung einer moldo⸗wallachiſchen Synode. 
Eben iſt auch die Abſonderung der Bulgaren, die ſich der 
katholiſchen Kirche angeſchloſfſen, erfolgt. Daß die Joni⸗ 
ſchen Inſeln noch den Patriarchen als ihr kirchliches Haupt 
anerkennen, und nicht mit ver Hellenifchen Kirche fich vers 
einigt haben, ift wohl nur dem Englifchen Einfluße oder 
Zwang zuzujchreiben '). 


7) Auch in Rumelien unb der Herzegowina werben Loßreißungen - 


158 


Der Batriarch, der noch immer über etwa 9 Millionen 
und mehr gebietet, bat in einigen Beziehungen eine mehr 
als päpftliche Gewalt; er kann nach Belieben ſämmtliche 
Erzbifchöfe, Bifchöfe und Priefter ein- und abfeken, ohne 
irgend Iemand dafür verantwortlich zu fein; er Tann fie 
alle, mit Ausnahme von vier zur ſtehenden Synobe gehöri« 
gen Prälaten, in ihre Diöcefen relegisen. Dabei befigt 
er eine ausgedehnte bürgerliche Jurisdiction und Strafges 
walt und ein unbefchränktes Necht der Beſteuerung. Diefe 
ganze Verwaltung ift num aber fchon feit Jahrhunderten 
von einem beifpiellofen Syſtem ver Gelderpreſſung ober 
Beftechung, der Simonie durchzogen. Jeder Patriarch ges 
langt auf biefem Wege zu feiner Würbe. Nach längſt her⸗ 
tönmlicher Uebung pflegt ver Batriarch alle zwei ober drei 
Sahre zu wechſeln, d. 5. er wird — fo bat es Türkiſche 
Willkür und Griechifche Eorruption eingeführt — durch die 
Synode wegen fchlechter Verwaltung abgefeßt ober zu res 
figniren gezwungen. Die Fälle, in benen ein Patriarch im 
Beſitze feiner Würde ftirbt, find äußerſt felten. Denn vie 
dabei Gewinnenben forgen bafür, baß ber Handel um das 


Batriarchat möglichft oft abgefchloffen werbe‘). Dat er fick 


von dem Batriarhat erwartet. Nene Evang. Kirdh.-Ztg. vom 
Mefner, 1860, ©. 460. 


1) Eichmann: die Reformen bes DOsmanifchen Reiches, Berlin 


159 


bie Würde feines abgefegten Vorgängers mit fchwerem 
Gelde erkauft, fo bringt er biefe Summen zunächft durch 
ben Verlauf der Erzbisthimer und Bisthümer herein, bie 
Käufer aber machen fi) wieder durch Erpreffungen von 
bem niebern Klerus und dem Volle bezahlt. Die gewich⸗ 
tigfte Rolle bei den Raͤnken und den Bedingungen, unter 
welchen das Patriarchat verkauft wird, fpielt ein weitlicher 
Beamter, ver Logothet, der zugleich als Firchlicher Würden⸗ 
träger dem Patriarchen für die Vollzugsgewalt zur Seite 
fteht, und zwiſchen ibm und ber Pforte vermittelt. Erft 
im vorigen Jahre ift der Patriarch Kyrillos wegen 
Simonie, Vergendung der PBatriarchats-Finanzen u. f. w. 
entſetzt worben; an feine Stelle wurbe nach einer förm⸗ 
lichen Wahlſchlacht Joachim, Biſchof von Cyzikus, ges 
wählt. Die ver Griechiſchen Rationalität angehörige Geiſt⸗ 
lichkeit war bisher das Werkzeug, durch welches die Türken 
nicht nur die Griechifche, ſondern auch vie Slaviſche Be⸗ 
völferung bed Reiches regierten, und bat einen beipotifchen 
Drad ausgeübt, gegen welchen die Siaven mehr und mehr 
fih auflehnen. Die acht Dignitäre der Synode (fie führen 
ven Zitel Metropoliten, aber ſechs ihrer Kirchen fin nur 
Dörfer) find nächſt dem Patriarchen bie Herrichenden, aber, 


1858, ©. 27, 28. Pitzipios: I’Eglise Orientale, Rome 
1855, 11, 82 ss. Gelzer’s Monatsblätter, VII, 224. 


160 


wenn unter fich einig, mächtiger als er. Die weltliche Ge⸗ 
walt, die den Griechifchen Kirchenfürften übertragen ober 
überlaffen wurde, ift eine Duelle zahllofer Gewaltthaten, 
und das Mittel zu maßlofer Bereicherung ihrer Familien, 
ſowie berer, von denen fie fich abhängig fühlen, geworben. 
Die große Siavenpartei arbeitet nun, auf ven „Hat Hu⸗ 
mayun“ des Türlifchen Monarchen fi flügenn, im Bünd- 
niffe mit einem Thelle der Sriechifchen Latenwelt, an Spreng- 
ung dieſer Tirchlich »politifchen Feſſeln. Dagegen kaͤmpfen 
die Griechiſchen Dligarchen, nämlich die fieben erfteu Brä- 
laten der Shnobe, im Verein mit der nationalshellenifchen, 
das Slaviſche Uebergewicht fürchtenden Partei, und es wirb 
immermehr ein Kampf auf Tod unb Leben, in welchem bie 
Gegenfäte ber Nationalitäten, verftärkt durch ben Wider⸗ 
willen gegen einen an fich ſchon unerträglichen Zuſtand ber 
Corruption, an feine Verſoͤhnung mehr zu denken geftatten. 
So ift das Patriarchat von Eonftantinopel bereits in das 
Stadium einer fortfchreitennen Aufldfung eingetreten. Die 
brei übrigen Patriarchate aber, welche nach ber anatoliſch⸗ 
ſchismatiſchen Theorie zufammen mit dem von Eonftantinos 
pel die höchſte und letzte Autorität in Glaubens⸗Sachen 
bilden, find faft nur Titularwürbenträger, denn das Patriarchat 
Alerandrien hat nur 5000, Antiochien 50,000, und Ierufalem 
25,000 Seelen, Der Patriarch von Ierufalem bat regelmäßig 
feinen Sommeraufenthalt auf ven Prinzeninfeln bei ber Haupt» 


161 


ſtadt, die beiden andern reſidiren, doch nur mit Erlaubniß | 
des Patriarchen von Conftantinopel und feiner Synode, in 
ver Hauptitabt. 

Iſt der Zuſtand des Griechifchen Patriarchats. ver 
ſchmachvollſte, verborbenfte, zu dem eine altehrwürbige Kirche 
Binabgeträdt werben Tonnte, fo hindert bieß freilich ben 
jüngften Propheten des zur Weltherrichaft berufenen Slaven⸗ 
thums nicht, glänzende Hoffnungen an dieſen Stuhl zu 
Inüpfen. „Wenn die Türkiſche Herrfchaft vernichtet ift, 
fagt Bogodin, wirb ver Eonftantinopolttanifche Patriarchen- 
finht in aller feiner Herrlichkeit wieder aufgerichtet werben 
fönnen, und bie morgenländtiche Kirche wird ihre weltum⸗ 
faſſende Bedeutung wieder erlangen Können. Dann wird 
auch der abgelebte Weften fich wieder verjüngern laffen — 
durch die Slaven nemlich und ihre Kirche, meint Pogodin — 
denn alle Zukunft gehört ven Siaven.*') 

Allerdings wäre eine Belebung und Selbftreform dieſer 
Kirche dringendſtes Bebürfnif, denn Simonie Im weiteften Um⸗ 
fange, NKäuflichkeit und Beſtechlichleit des hohen und nies 
bern Klerus, Anwendung aller denkbaren, religiöfen und 
fuperftitiöfen Mittel zum Erpreſſen von Gaben, find Züge 
des Byzantiniſchen Rirchenweiens, die von allen Beobach⸗ 
tern beftätigt werben. Dazu fommt bie tiefe Unwiſſenheit 


des Klerus, der zum großen, in manchen Gegenven zum 


2) Politiſche Briefe aus Rußland. Leipzig 1860. ©. 17. 
s. Doͤllinger, Papſtth um. 11 


x 
162 
[U — — — 


größten Theil nicht ſchreiben, ſelbſt nicht lefen Tanı. Der 
Berfaffer einer im Jahre 1856 erfchienenen Schrift über 
die Zuftände von @efalonia, Las kar ato, ſchildert in Briefen 
an den bortigen Erzbifchof, wie es Jedem begegnen Könne, 
baß er heute feinen Bedienten wegen fchlechter Aufführung 
fortjage, unb ihn morgen als Priefter wieder finde; Leute, 
bie man vor wenigen Tagen noch als Bootslente ober Feld⸗ 
bauer over Gewürzlsämer gekannt, erblide man plöglich au 
Altare und auf der Kanzel.') 

Hingebung au die Staatögewalt ift fo fehr das Erb⸗ 
‚ theil aller von ber allgemeinen Weltkirche abgeriffenen 
Sonberlicchen, vaß die Griechen fogar ihre Türlifchen Ge⸗ 
bieter als oberſte Richter in kirchlichen Fragen erfennen. 
So unglaublich dieß erfcheint, es ift in ver jüngften Zeit 
in der beftimmteften Form und officiell ausgeſprochen wor⸗ 
ben. Bius IX. hatte in feinem Rundſchreiben an die Prä- 
laten bes Orients im Jahre 1848 fie an ben Mangel re- 
ligiöfer Einheit erinnert; darauf erwiberte der Patriardh 
Anthimos mit feiner Synode: „In ftreitigen ober ſchwieri⸗ 
gen Fragen benehmen fich die brei Patriarchen mit dem vom 
Eonftantinopel, weil diefe Stadt der Raiferfig ifl, und weit 
er den Vorſitz auf der Synode Bat. Können fie nicht über» 
einlommen, fo wird bie Angelegenheit nem gefeglichen Her⸗ 


1) Ta uyorngea 75 Keyalorias. 1856. Dice Schrift hat 
dem Berfaffer bie Ercommunication zugezogen. 


168 


kommen gemäß zur Entſcheidung an bie (Tirkiſche) Regie 
rung gebracht” '), Der Grieche, ber dieß mittheilt, er⸗ 
wähnt auch eines Falles, wo dieß wirllich geſchah. Geiſt⸗ 
liche des Urmenifchen Ritus baberten mit Griechiſchen Prie⸗ 
ftern über den Gebrauch, Waſſer dem Abendmahlsweine 
beizumiſchen; der Streit wurde endlich vor den Türkiſchen 
Reis» Effendi gebracht, der dann auch fein Urtheil fällte; 
„ver Wein fei ein unreines, vom Koran verbammtes Ge⸗ 
tränfe; fie follten alſo bloßes Waſſer nehmen.“ 

Und doch ift unleugbar ver Kirche im Türkifchen Reiche 
noch eine glänzende Zukunft aufbewahrt, wenn fie nur ei» 
wigermaßen ſich aus ihrer gegenwärtigen Verſunkenheit zu 
erheben, und die Größe ihrer Miffion zu begreifen vermag. 
Denn die Tage der. Türkifchen Herrfchaft ſind gezählt ; und 
nicht nur dad Neich in feiner jchigen Geftalt wird fallen, 
fondern die Macht. des Muhammenaniömus in Europa wird 
auch untergehen, bie Türken werben zur Auswanderung, zur 
Nüdkehr nach Aſien gezwungen werben, ober fie werben 
ansfterben; wie denn in ver That ihre Zahl fich fertwäh- 
renb vermindert. Schon jebt find die Ehriften dort vier- 
mal zahlreicher als die Türken; ſchon jet fürchten dieſe, 
daß wenn der Hat Humayuımn wirklich und ehrlich aus⸗ 


I) Atayydilsıar 10 npayua xai eis nv Aroixıyaıw xata Ta 
xza9scıara. Pitzipios| c., I, 140, 


11* 


164 


geführt würde, fie, die Türken, binnen fünf Jahren über 
den Bosporus getrieben würben. Sie felber find ſchlecht⸗ 
hin unverbefferlich und ftationär; ber Haß jever Reform 
gehört bei ihnen ebenfo zur Religion, wie ver Haß jedes 
Nichtmuhammedaners. Ihre Polygamie, ihre häufigen Ehe⸗ 
ſcheidungen, die Abſchließung und unnatürliche Lebensweife 
ber Frauen, bie verbrecherifchen Mittel, welche gebraucht 
werben, um bie Vermehrung ber Bamilie zu hemmen, ber 
Mangel einer Ariftokratie fowte eines eigentlichen Mittels 
ftandes, ihre gange fociale Stellung, als träge, parafitifche, 
nur von Plünderung und Ausſaugung ver Chriften lebenbe 
Bevölkerung — dieſe Dinge machen alten Auffchwung ber 
Türkiſchen Race unmdglih. Sie felbft tft von dem Ge 
danken erfüllt, vaß ihre Zeit zu Ende gehe. Sie finkt fort» 
während wie an Zahl, fo an Sittlichleit, Lebensmuth und 
Hoffnung‘). Ihre Trägheit nährt ihren Fatalismus, und 


1) Tout se meurt autour des populations chretiennes, fagt 
Raoul de Malherbe, L’Orient 17181845. Histoire, 
Politique, Religion, Moeurs. Paris 1846, II, 157 ss. — 
tout p6rit sous la dure loi du fatalisme, tout s’dteint dans 
la polygamie, les vices et Ia debauche ; hors d’elles, 1’Orient 
n’a d’autro avenir que la ddpopulation et le desert. Da⸗ 
mit vergl. man bie Mittheilungen eines fo trefflichen Bericht⸗ 
erftatters wie Naſſau W. Sentor: Journal Kept in Tur- 
key and Greece, London 1859, p. 28. 32. 147. 212. Der 
Britiſche Eonful Finn äußerte kürzlich: die Muhammedaniſche 


165 


ihr Fatalismus bient ihrer Abneigung gegen jebe Anftren- 
gung zum Vorwand. Der Ehrift verhält ſich dort zum Tür⸗ 
ten, wie ein lebenbiger Dienfch, der an einen. Leichnam ges 
feffelt ift, zu biefem. Indeſſen wächſt Zahl, Wohlſtand, 
Intelligenz und Muth der Ehriften fichtlih. Schon jet 
äußern Zürlen felber: unvermeidlich wärben alle Aemter 
bald mit Ehriften beſetzt werden müſſen; dann werben bie 
Minifter eined Tages dem Sultan fagen: er müfle Ehrift 
werben und das werbe gefchehen‘). Die Zukunft gehört 
dort dem Chriftentbume, und nicht dem Islam, und zwar 
bis tief nach Afien Hinein, denn auch das Perfiiche Reich 
befindet fi in einem hoffnungsloſen Zuftande innerer Zer⸗ 
rättung bei fehr dünner und in fteter Abnahme begriffener 
Bevdlkerung. Sie wurde noch im Anfange dieſes Jahrh. 
auf zwölf Millionen geſchätzt, foll aber jett auf acht Mil. 
gefunten fein. Faft alle Perfiichen Städte, mit Ausnahme 
von Tabris, Teheran und Schiras, find in Ruinen verfallen.‘ 
Bevölkerung Syriens ftirbt aus; ich kann faum fagen, daß fie 
Tangfam ausfiirbt. (Allg. Zeitung 1861, &. 1144, 11. Mär). 
Selbſt in Kleinaſien, weiches die Türken in 850 Jahren aus 
einem reichen und blühenden Lande zu einer Wilſte gemacht 
haben, zeigt ſich daffelbe Phänomen. Ein Paſcha bafelbft gab 
jelber an, daß die Tobesfälle in feinem Paſchalik um 6 Procent 
ſtärker feien als die Geburten. Senior p. 188. 
) Diary in Turkish and Greek waters, by the Earl ofCar- 


lisle. London 1854, p. 78. 
2) Allg. Zeitung, 1. März 1857, &. 966. 


166 


und muß naturgemäß immer mehr Ruſſiſcher Herrſchaft ver 
fallen. Und wenn der Muhammebaniemus auch noch in jünge 
fter Zeit unter ben Malayen auf Borneo, unter ven Regern bes 
Sudan und auf Madagascar große Fortichritte gemacht hat"), 
fo ift er doch Im Ganzen in fein Stadium bes Verfalles ein- 
getreten, und muß zurüdweichen, wo immer bie überlegene und 
nachhaltigere Energie chriftlicher Völter ihm entgegentritt. 
Abgeſehen von ber Frage der Wahrheit, trägt ber Islam 
ſchon dadurch die Keime des Vergebene in fich, daß er eine 
Religion der feften und ſtarren, alle Lebensgebiete umfafs 
fenden und jede Fortbildung hemmenden, Satungen iſt, 
welche als das Produkt eines einzelnen Volkes und einer 
beftimmten nieberen Bildungsſtufe, in der Fortbauer und 
Uebertragung auf andere Rationalitäten ſich unzureichend und 
fchäblich erweifen, und zulegt an ben inneren burch fie ev» 
zeugten Widerfprüchen und den Bebürfniffen des Lebens 
zerbrechen mäflen, während das Chriftentbum, als eine Re⸗ 
ligion der Ideen und ein weder durch Zeit noch durch Na⸗ 
tionalität bebingtes Welt» Inftitut, jedem wahrhaft menfch- 
lichen Bebürfniffe gerecht zu werben vermag, unb nur för« 
bernd und anregenb zu ber Fortbildung ber Menfchheit fich 
verhält.") 


') Edinburgh Review, t. 100 (1854) p. 412. 
?) Diefen Gegenſatz beiber Religionen bat neunerlich ein feiner 


167 





b. Die Hellenifche Kirche. 

Die Kirche des Königreichs Griechenland Kat 
ifren Zufammenbang mit bem Patriarchen und ber Sy 
node zu Gonftantinopel aufgehoben. Auf ben Antrag von 
3 in Rauplia verfammelten Biſchoͤfen bat. die Regent⸗ 
ſchaft im Jahre 1833 die „orthobore orientalifche Kirche 
von Hellas" für unabhängig von jeder auswärtigen Be 
horde erflärt. Eine permanente Synobe, beftebenn aus 
fünf geiftliden jährlich vom Könige zu ernennenben 
Mitgliedern, und aus zwei weltlichen Beamten, von benen 
ber eine Staatsprokurator if, ſoll die Kirche regieren. 
Voraus war man über ein Concordat (den Tomos) üben 
eingelommen, nach welchem ber Kirche größere Zreibeit bes 
züglich ber Synode und ihrer Zufammenfegung gewährt 
worden wäre. Allein bie Negierung ünberte bie Beſtim⸗ 
mung, und eignete fich das Ernennungsrecht zu, nach Rufe 
fiſchem Vorbilde, wie denn die ganze neue Verfaſſung eine 
Nachahmung der Ruffiihen war. Indeß ging bie auffal- 
Iende Beſtimmung, daß die Mitglieder der Synode immer 
une auf ein Jahr von der Staatsgewalt ernannt werben 


Beobachter, ber Graf d’Esoayrao de Lauture, Ile 
Disert et le Boudan, Paris 1858, p. 185, in Folge feiner 
Behrnehmungen unter Muhammedaniſchen Böllern, hervorge⸗ 
hoben. Der Berfaffer iſt derſelbe, ber, jüngf im chineſiſche 
Gefongenichaft gerathen, grauſam vesftumelt wurde. 


168 


follten, weit über das Ruſſiſche Vorbild hinaus. Doch 
bat der Patriarch In Byzanz im Jahre 1860 diefe in ihrer 
Art einzige Kirchenverfaffung, blos mit einem Vorbehalt 
vor Ehrenleiftungen, anerlannt. 

Der Klerus der neuverfaßten Kirche, nur aus ber un⸗ 
terften Kaffe genommen, Außerft Tärglich befolvet, daher 
neberibei häufig ein Handwerk ober Feldarbeit zu treiben 
genöthigt, meiſt ohne alle Bilbung, ift ohne Einfluß auf 
bie gebildeten Stände, unter denen ein gewiſſer Boltatria- 
nismus große Bortfchritte macht.) Un dem mächtigen, 
and in ber That beiwunderungswürbigen geiftigen Aufs 
ſchwunge, der in jüngfter Zeit unter ben Dellenen einge 
treten, bat der Aerus keinen Theil genommen. Anbhäug- 


!) W. Senior, Journal kept in Turkey and Greece. Lond. 
1869, p. 880. Gelzer's Monmatsblätter, VII, 251. Der 
Berfaffer der Aufſätze: „Kreuz unb Halbmonb“, in Gelzer's 
Monatsblättern (VII, 226), der erwähnt, daß er auf ben Iu« 
feln des Archipelagus, in Kleinaſien unb Syrien eine ganze 
Anzahl von Biſchofen und Metropoliten beſucht, uud zum Theil 
ihre Gaſtfreundſchaft genoffen habe, erzählt, baß er häufig auf 
ben religiöfen Stumpffinn bes Volles, beffen Cultus nur wie 
eine ſehr umſtändliche Höflichkeitsbezgengung ohne alle innere 
Theilnahme ſichansnehme, hingewieſen habe; es fei ihm 
aber dann erwidert worben: was ſollen wir thun ꝰ wie konnen wir 
daran denken, in tube zu Mubiren unb Andere zu unterrichten, 
während wir für Weib und Kind zu forgen Haben, 
und nur mit Mühe bas nöthige Gelb zum Leben erhalten? 


169 


lichleit an die Landeslirche, Vorliebe für die Eigenthüm- 
licpleiten des anatoliihen Dogma und Ritus ift im nicht 
geringem Grabe bei den Griechen vorhanden, aber dieſe 
Anhänglichkeit ift mehr politifch als veligids. Die kirchli⸗ 
hen Befonderheiten werben als Bollwerle der Griechifchen 
Rationalität betrachtet, als Dinge, welche zu ver großen 
Ueberlegenbeit der Hellenen über alle andern Nationen ges 
hören. 


Auch vie Kirche von Hellas bat eine hoffnungsreiche 
Zulunft. Denn in dem Maße, als das Königreich fich er- 
weitert, was bei dem raschen Berfalle des Türkiſchen Reiche 
in naher Ausficht fteht, wird auch diefe Kirche auf Koften 
bes Patriarchenfprengel® von Eonftantinopel fich vergrößern. 
Ohne Zweifel würden bie Iontfchen Inſelbewohner fich bei 
erfier Gelegenheit auch kirchlich mit Hellas vereinigen. 
Da num auch Theffalten, wo bie griechifche Race überwiegt, 
den Anfchluß an das Königreich eben fo wünjcht, als bie 
Untertanen des Könige Otto dieſes Ereigniß begierig er- 
fehnen'), fo würde man dort, ſobald die Einverleibung ex- 
folgt wäre, ficher von dem Patriarchate in Stambul ſich 
lotreigen, und der Stmobelirche beitreten. Die politifc 
kirchlichen Hoffnungen ber Helfenen im Königreiche reichen 
indeß noch beveutend weiter, auch nach Kleinafien hinüber. 


1) Senior, 85 - 


‘ 


170 


c. Die Ruffifhe Kirche. 

Die Kirche des großen Europäifch"Mfiatiichen Reiches, 
welcher, wenn man die vom Staate ale nicht vorhanden 
betrachteten Selten mitrechnet, mehr als fünfzig Millionen 
Menſchen angehören, if gleichfalls eine Tochter der Byzan⸗ 
tintfchen, ‚die fich indeß fchon gegen Ende bes fechzehnten 
Jahrhunderts von dem dortigen Patriarchate losgeſagt, im 
übrigen aber mit völliger Treue das Kirchenwefen, bie 
Lehre und ben Ritus, wie ihr dieß von Bhzanz aus über- 
ftefert wurde, beibehalten hat. Der Theorie nach erkennt 
fie in Glaubensſachen die höhere Autorität der vier anator 
liſchen Patriarchen an, und wenn es ſich um bie Entſchei⸗ 
bung einer bogmatifchen Frage handelte, würden biefe zu⸗ 
gezogen oder befragt werben, d. h. eigentlich ver Patriarch 
zu Conftantinopel mit feiner Synode, denn bie brei andern, 
bie jest keine großen Kirchenkörper mehr repräfentiren, kom⸗ 
men im Grunde nur nominell, und al® Glieder der höhern 
Byzantiniſchen Geiftlichkeit in Betracht. Die katholifche 
Kirche gilt wegen ver Lehre vom Ausgang bes heiligen 
Geiſtes auch in Rußland für bäretifch, wegen ver Anfprüche 
bes päpftlichen Stuble® für fchlematifch. Leber einen brit- 
ten Differenzpunct, über ben Mittelzuftand nach dem Tode, 
ift die Verfländigung leicht; er wird auch nur bervorge 
fucht, wenn es gilt, die Vorwände zur Trennung zu dere 
vielfältigen, nnd bie Kluft zu vergrößern. 





171 


Die Rufſiſche Kirche war feit der Losfagumg vom 
Batriarchat zu Eonftantinopel (1587) eine auf fich felbft 
befchränfte Landeskirche ohne allen Zuſammenhang mit ber 
übrigen chriftlichen Welt geworden. An ihrer Spike ftanb 
der zu Kiew refivirende Patriarch oder Metropolit für ganz 
Außland, eine dem Zaren beinahe ebenblirtige Macht; denn 
die Kirche war noch nnabhängig und damals noch die Ver 
treterin der VBollörechte gegen Zarenthum und Bojaren, 
fo daß die Gegenvoritellungen der Patriarchen einem Veto 
faft gleich Tamen. Peter I., frühe durch feinen Genfer 
Erzieher mit proteftantifchen Vorſtellungen genährt, und 
entfchloffen, auch den mächtigen Einfinß ver Kirche in feine 
Hände zu bringen, fchaffte die Patriarchenwürbe ab, „weil 
das Volk fonft mehr auf den Oberhirten als auf den Ober⸗ 
berrfcher ehe”, und fegte (1721) eine von ihm ernannte, 
völlig von ihm abhängige „heilige Synode“ ein, ein per- 
manentes Concilium in den Augen ver Biſchöfe, ein Ober» 
Eonfiftorium in proteflantiihem Sinne in den Augen ber 
Zaren. Us der Klerus um Wiedereinfegung eines Patris 
archen bat, erwieberte Peter, unmwillig vie Hand an bie 
Bruſt ſchlagend: „Da ift euer Patriarch“.) Von dem 
Batriarchen Jeremias zu Eonftantinopel wurde biefer Um⸗ 
flurz der älteren Kirchenverfaſſung anerkannt: „bie von dem 


’) Herrmann’s Geichichte des Aufl. Staats. IV, 350. 








172 


Raifer Peter errichtete Synode, erklärte er, ift und beißt 
unfer Bruder in Ehrifto; fie hat bie Gewalt zu verhandeln 
und zu befchließen gleich den vier apoftolifchen beiligen 
Batrtarchenftühlen '). 

Diefe Synode, mit ihren dem Laienftande (mitunter 
ber Armee) entnommenen amovibeln Profurator, ift eine 
Art von Staatsrath und kirchlichem Gerichtshof, eine Ver⸗ 
waltungsmafchine für die Kirche, bie im Staate neben au⸗ 
dere adminiſtrative Behoͤrden geſtellt iſt. Für ſich ein Leib 
ohne Seele, empfängt fie ihr Lebensprincip vom Kaiſer 
durch den Profurator, ohne beffen Signatur feine ihrer 
Maßregeln gültig ift, keines ihrer Worte Kraft bat. Sie 
kann ihre Sefretäre und Unterbeamten, durch deren Hände 
alle Gefchäfte gehen, nicht felbft ernennen, fondern fie wer⸗ 
den ihr vom Zaren gegeben ober genonmen. Sie lebt nur 
vom Willen des Kaiſers, ift nur bie Vollſtreckerin feiner 
Entſchlüſſe. 

So iſt denn dem ganzen Ruſſiſchen Religionsweſen 
das Gepräge eines kaiſerlichen Staatskirchenthums aufge⸗ 
drückt. Das geſammte Kirchenvermögen bat Catharina LI 
bereitö mit den Krongütern vereinigt, um wie es hieß, dem 
Klerus die Laft der Verwaltung abzunehmen.?) Die Kirche 





ı) Muramwijew’s Gejcichte ber Ruſſiſchen Kirche Karleruhe 
1857, ©. 252. 
?) Dolgoroukow, la verite sur la Russie. Paris 1860 p. 844. 


173 


trägt dieſe Suprematie wie ein ihr auferlegte® och, aber 
fie trägt es willig, fie leiftet unmeigerlich dem Staate bie 
Dienfte eines politifchen Inftrument® und wirft zur Be 
feftigung ver abfoluten Zarengewalt. Den Bilchöfen, 
droht bei der leifeften Unabhängigkeits⸗Regung Verbannung 
and Einkerkerung. Und obgleich bie drei Metropoliten 
von Petersburg, Kiew und Moskau ſtehende Mitglieder der 
dirigirenden Synode find, ift doch der lettere, als er ein- 
mal andrer Meinung zu fein ſich herausnahm, als Kaifer 
Nikolaus, fofort in feine Diöcefe zurückgeſchickt worden, 
womit feine Theilnahme an der Synode wegflel.') 
Gleichwohl iſt die proteftantifche Vorftellung, daß ber 
Landesfürft zugleich Oberbifchof der Landeskirche fei, ber 
Ruſſiſchen Nation wie den Stavifchen Völkern überhaupt 
im Grunde ftet8 fremd geblieben. Selbft Heute würde wohl 
ein religiöfer Nuffe nicht zugeben, daß der Zar das Haupt 
feiner Kirche fei, und daß es zu feinem Amte gehöre, über 
Glauben und Lehre, Gottesvienft und Saframente zu vers 
fügen. In der That bat auch nie ein Zar fich beigeben 
faffen, das zu unternehmen, was in proteftantifchen Ländern 
zu den gewöhnlichen und fo zu fagen normalen Vorgängen 
gehörte; über den Glauben, ven Gottesdienſt der Kirche zu 
verfügen, und ber Kirche Aenderungen aufzubringen. 


) Dolgoroukow p. 343. 


174 


Was indeß der Ruſſiſche Zar bei alter Tirchlichen 
Machtfülle von fi ablehnt, Oberbifchof . feiner eigenen 
Rirche zu fein, das Kat ex, dem proteftantifchen Syſteme 
gemäß, über die lutheriſche Kirche ber Oſtſeeprovinzen in An⸗ 
fpruch genommen‘). Unb zwar ift biefe oberbifchöfliche Gewalt 
in einem ver fich hingebender Kirche felbft feinblichen Sinne 
ausgeübt worden, nicht nur durch bie Ausbehnung ber Ge⸗ 
fetge über die gemifchten Ehen auf die proteftantifchen Pros 
vinzen, wonach alte Kinder aus biefen Ehen ber Ruſſiſchen 
Kirche gehören, *) fondern auch durch das ben proteftan- 
tifchen Geiftlichen gegebene Verbot, Heiden, Juden, Mu⸗ 
hammedaner zu taufen. ine Autorität in bogmatifchen 
und liturgifchen ragen ift dem Kaiſer in jeiner eigenen 
Kirche doch nirgends zugefchrieben, wohl aber bat er eine 
ſolche über die proteftantifche Kirche. Denn das Edict vom 
%.1817 gebietet, daß das General-Eonfiftorium fich in folchen 
Materien an den Kaifer zu wenden habe. 


) Durch ein Refeript vom 3. 1817 f. Hengftenberg’s Kirchen⸗ 
zeitung, Bb. 81, ©. 569. 567. 


2) Ueber die bereits eingelretenen Kolgen |. Rußlaud und bie 
Gegenwart, Leipzig 1851, I, 163, und Hengſtenberg's R. 
Zeitung 1. oc. 575. Beide Zeugen behaupten, fchon durch 
biefes Geſetz muſſe allmälig das Aufgehen ber dortigen prote- 
ftantifchen Kirche in bie Griechiſch⸗Ruſſiſche herbeigeführt 
werben 


) 


175 


Bon einem kaiſerlichen Papſithum oder Califat kann 
man demnach in Rußland nicht reden; indeß ift boch in ber 
Succeſſions⸗Ordnung, welche Kaifer Paul in ver Kathebrale 
zu Moskau verlas, und auf dem Altar nieberlegte, ber 
Kaifer das „Haupt der Kirche” genannt. Im Geſetzbuch 
heißt er blos ver „gottgefalbte Befchüger ver Kirche Gottes, 
aub bei feiner Krönung wirb er als „erftgeborner Sohn. ver 
Kirche” behandelt. Auch Fürſt Dolgorukow bemerft: 
ſelbſt Kaifer Nilolaus habe ſich nie als das Haupt ber 
Kirche betrachtet, wohl aber habe er fo gehanvelt, als ob 
er es wäre!) Ihatfächlich iſt freilich die Kirche in Ruß 
land vollftändiger in der Gewalt des Monarchen, als wohl 
irgend eine andere Genoffenfchaft ver chriftlichen Welt. 

Sie entbehrt in einem Grabe, für den fich in ber 
chriſtlichen Geſchichte Taum ein zweites Beiſpiel finbet, 
jeve eigene Bewegung, jede freie organifche Thätig⸗ 
geit. Keine Eoncilien, keine Gonferenzen ver Geiftlichkeit, 
fein Zuſammenwirken des Klerus ımb ber Gemeinden, feine 
Mittelpuntte Eirchlicher Wiffenfchaft und Bildung, Tein Aus⸗ 
tauſch der Anfichten durch literariſche Organe, durch eine 
Kirchliche Literatur. Kine folche exiftirt in Rußland nicht, 
and foll nicht eriftiven. Daraus folgt nun, daß es auch in 
der Kirche keine öffentliche Meinung, keine Gefinnung gibt; 
es Läßt fich nicht fagen, daß ber Ruſſiſche Klerus irgend ein 
" N) La verite sur la Russie. Paris 1860, p. 341. 


176 


beftimmtes, Har von ihm erfanntes, oder doch inſtinktartig 
empfunbene® Ziel erftrebe, daß ihm ein organijche® Leben 
innetwohne. Der Bifchof und feine Beiftlichen find durch 
eine breite, unüberfteigbare Kluft von einander getrennt. 
Der Bifchof ift meift ein bejahrter Möndy, ver nad) einem 
in der Zelle verbrachten Leben fich durch kaiſerlichen Willen 
plöglich, der weltlichen Dinge und der Verwaltungsgefchäfte 
völlig unkundig, auf einen bifchöflicken Thron erhoben fieht, 
der mit befondrer Rädfiht auf Törperliche Eigenſchaften 
(ftattlichen Bart, hohe Statur, impofante Erfcheinung) aus⸗ 
gewählt, zwei Hauptpflichten lennt: Grgebenbeit gegen bie 
Perſon, fowie unbebingten Gehorfam gegen ven Willen des 
Kaifers, und forgfältige Pflege des Pompes Titurgifcher Ver⸗ 
sichtungen. Die ernften Sorgen und Gefchäfte katholifcher 
Bifchöfe überläßt er theild der Taiferlichen Synode, da bie 
Kaifer dem Epiflopat ben größten Theil feiner geiftlichen 
Gewalt und Jurisdiction entzogen haben, theil ben burch 
ihre Käuflichkeit und Simonie berüchtigten Confiſtorien. 
Unter ven Bifchöfen felbft findet Teine bierarchifche Olieder⸗ 
ung, Teine innere Verbindung und wechjelfeitige Einwirkung 
ftatt. Alles dieß haben die Kaiſer verhichtet. Und fo ſteht 
bie Verfaſſung der ruffifchen Kirche im grellen Widerſpruch 
mit einem body von ihr felbft anerkannten Grunbgefege, 
nämlich dem Zdften apoftolifchen Kanon, wonach jede Na⸗ 
tionallirche einen Biſchof als den erften und als ihr Haupt 





177 


anerfennen joll; vie Weltgeiftlichen, meift Söhne von Geift- 
lichen, (denn ver Klerus bildet dort eine erbliche KMaſſe), 
immer ſchon vor der Drbination, alſo meift in früher, un- 
reifer Jugend, und zwar gewöhnlich mit einer Prieftertochter 
verheirathet, und Väter einer häufig zahlreichen NRachlommen- 
fchaft, Tänpfen bei ver Entblößung einer buch bie Kaifer 
ihrer Befisungen beraubten Kirche mit Noth und Armuth, 
mũſſen oft mit eigner Hand ihr Feld bauen, find natürlich 
ganz unwillend, blos zum Lefen und Singen abgerichtet, und 
allzuoft dem Nationallafter bed Trunkes ergeben. ‘Dem 
Bifchofe gegenüber, der fie häufig wie Sklaven bebanbelt, 
völlig ſchutzlos, beugen fie fich vor ihm mit zitternber De- 
muth, wie fie denn auch ſchon durch die Unmöglichkeit, von 
dem kirchlichen Einfommen mit Yamilie zu leben, zur ge⸗ 
ſchmeidigſten Fügſamkeit nach oben (Bifchof und Patron) 
wie nach unten (Volt) gezwungen find. ') 


Die Ruſſiſche Kirche ift ftunnn; Tein gemeinfamer Gefang 
der Gemeinde, feine Prebigt; nur zuweilen, beſonders an Kaiſer⸗ 
feften, nimmt der Pope over Bifchof das Wort, um bem 
Volle die Pflicht und hohe Verpienftlichleit des unbedingten 
Gehorfams gegen den Zar einzuprägen, und ibm zu fagen, 
daß man bie Liebe Gottes nicht beſſer beweifen könne, als 


1) ©, hierüber die Schilderung eine® Augenzeugen im Correſpon⸗ 
dent T. XXI (1826) p. 316. 
». Dillinger, Parfttbum. 12 





178 


durch treue Unterwerfung unter ben Taiferlicden Willen. ') 
Dei ſolchem Mangel an aller Belehrung und geiftigen Er⸗ 
frifchung bleibt der Einzelue — denn auch Gebetbücher und 
afcetifche Schriften finden ſich nicht in ben Hänben bes 
Volles — völlig auf den eignen engen Gedankenkreis bes 
ſchränkt, unb gegen bie überwuchernde Maſſe von Super 
ftition, welche eine des Lebenbigen Wortes und ber Lehre fo 
fehr entbehrenve, rein ceremonlelle Religion nothwendig er⸗ 
zeugt, gibt es dort fein Heilmittel, 


Gelftige Bilpung und ein Anflug theofogif her Kenntnigfoll 


1) Daß es eine Verkehrtheit fei, nach ruffiiher Obſervanz bem 
Klerus die Berheiratfung als Zwang aufzulegn, unb keinen 
zur Orbination zuzulaſſen, ber im Cölibat leben will, ertennen 
nun auch einfichtige Rufſen an. S. darüber Dolgorulow 
p. 350. freilich dürfte Die Schwierigkeit nicht burch bloße Frei⸗ 
gebung zu Idfen fein, wie ber Fürſt meint; denn ein verheiratheter 
und ein im freiwilligen Cölibat Iebenber Klerus können nicht 
wohl neben einanber beſtehen, ba bie erfteren durch ben Con⸗ 
traf mit ben letzteren fofort allzutief in ber öffentlichen Meinung 
finten, und das Bertranen (und natürlich auch bie Gaben) bes 
Boltes nur biefen zufallen würben. Die Gemeinden würben bei 
Beſetzung ihrer Pfarrftellen ficher fat immer um eimen Ehe 
loſen Bitten, vorausgeſetzt, daß fie überhaupt bitten blxften. 
Uebrigens find kürzlich aud von Galizien ber Klagen erhoben 
worben über bie nachtheiligen Folgen, welche bie erzwungenen 
frühen SHeirathen ber bortigen Griechiichen Geiftlichen haben. 
S. Kleine Beiträge zu großen ragen in Oeſterreich. Leipzig 
1860, &. 81. 


179 


in Rußland nur in den Klöftern bei einzelnen Mönchen zu 
finden fein. Zugleich aber wird über den Möncheftand im 
Ganzen fehr ungünftig geurtheilt; er fei, fagt Dolgorus 
fow, mößig und verlommen, und, mit Ausnahme ber 
Bureaufratie, bie ſchädlichſte Menſchenllaſſe in Rußland. 
Der Weltpriefter aber fteht um fo tiefer in ber focialen 
Rangftufe und allgemeinen Achtung, als er aus eignem 
Willen wieder Laie werben, ober durch Degrabation wieber 
zum Laien gemacht, und dann unter bie Solpaten geftect 
werben Tann.') 

Indeß ift der Ruſſe feiner Kirche unbebingt ergeben ; 
fie ift ihm die fefte Burg feiner Nationalität, in ihr und 
durch fie fühlt er fich unüberwindlich; und die Slavoniſche 
Liturgie, die fo ganz ber Sitte und Neigung der Nation 
entjpricht, gibt dem Klerus eine große Macht über die Ges 
müther. Der Ruſſe ift weit entfernt, über ben tief ges 
funtenen Zuftand feiner Popen jenen ethifchen Unwillen zu 
empfinden, welcher Germanifchen und Romanifchen Völkern 
bie fittliche Corruption ihres Klerus auf die Länge uner- 
träglich macht.) Die Auffen glauben an ſich und an ihre 


N) Ldeouzon le Duc, p. 234 ss. 

2) Freilich fagt ber Auffifche Berfaffer ber Schrift: Bom anderen 
Ufer, (Hamburg, 1850) ©. 167 von bem Ruffiſchen Bauer: 
„Die Geiſtlichen verachtet er als Faulenzer und habſüchtige 
Menſchen, bie auf feine Koften Leben; alle Vollezoten und 

12* 








180 


große Zukunft, und biefes Vertrauen Tnüpft fich vor Allem 
an ihre Kirche. Die Ausbreitung ihres Reiches und ihrer 
Kirche füllt ihnen als das Biel alles nationalen Strebens 
zufammen; da ihre Kirche allein fteht in ver Welt, fo Tann 
die Regierung, wie es Nikolaus im letzten großen Kriege ger 
than bat, jeven Krieg zu einem Religionskrieg ftempeln. Ale 
Nichtruffen find nach der officiell dem Volke beigebradhten 
Anficht Ungläubige over Irrgläubige. Demmach forderte 
ein Aufruf der heiligen birigirenden Synode in Peteröburg 
im März; 1855 die NRuffen auf, Gut und Blut in bem 
heiligen Religionskriege dem Vaterland jest zum Opfer zu 
bringen. Und die Proclamation vom Jahre 1848 hatte 
mit den Worten gefchloffen: „Vernehmt es ihr Heiden und 
unterwerft euch, denn mit uns iſt Sott.u Rußland ijt dem 
Volle das heilige Land, Moskau vie heilige Stabt, fein 
Monarch ift ver Heilige Zar. Gott ift ihm ber „Ruf 
fiihe Sott.ua In den Slirchengebeten wird bie Erweiterung 
ber Herrichaft des Zaren und ber orthodoxen Kirche auf 
Erben erfleht, und mancher Ruſſe hofft ven Tag zu erleben, 


Saffenhauer haben als Heroen bes Lächerlichen und Berädt- 
lichen ftets ben Pfaffen, ben Diakonus, unb ihre Frauen.“ — 
Wenn das auch ber Fall fein follte, fo würde bie Thatſache, 
baß gleichwohl ber Geiſtliche gelegentlich eine große Macht Über 
bas Landvolk ausübt, damit nicht im Wiberfpruche flehen, viel⸗ 
mehr pfychologifch ſehr erflärbar fein. 


181 


an welchem das Griechifche Kreuz auf St, Peter in Nom 
werte anfgepflanzt werben. Die Regierung handelt nur 
im Sinne der Nation, wenn fle bedacht ift, bie übri⸗ 
gen Bölfer des gleichen Bekenntniſſes, fowohl Griechen 
als Süpflaven, für die Aufnahme in den Auffifchen Reichs⸗ 
umb Kirchenverband einſtweilen vorzubereiten. Vor Allem aber 
blickt die Nation fehnfächtig nach Eonftantinopel, der Kaifer- 
Statt (Zargrab), wie man bortfie nennt. Der Ruſſe glaubt 
ein von Gott ihm zugetheiltes Anrecht auf den Beſitz biefer 
Stadt, der Mutter feiner Kirche, und der Sophienlirche zu 
haben. Es ift feine Sendung, dieſe zur Moſchee entweihte 
Hauptkirche der anatoliſchen Chriſtenheit ihrer Beſtimmung 
zurückzugeben. 

Ein großes Slavenreich von Archangel bis zur Adria, 
und mittel dieſes Neiches eine Weltherrfchaft, welche, wie 
bie Frömmeren fagen, zur Verberrlihung und Ausbreitung 
der orthodoxen Kirche dienen wird — dieß ift das Ideal, 
welches, mehr ober minder bewußt, dem Ruſſen vorfchwebt. 
Schon in einer Urkunde der h. Synode zu Moskau v. 9. 
1619 wird dem Zar die Weltherrfchaft feierlich zugefichert, 
und unabläfjiges Gebet „baß er der einzige Herrfcher werde 
auf der ganzen Erbe”, verfprochen.‘) Man weiß, wie von 
bortber bei allen ver getrennten anatolifchen Kirche ange 
börenden Slaviſchen Bevölkerungen dies Vertranen und bie 

) Kopitar in ben Wiener Jahrbb. b. Lit. Wh. 28, ©. 247. 


182 


Hingebung an ben großen Schirmberen' der Kirche gewedt 
und gepflegt wird. Dazu dienen die Kirchenbücher mit ben 
obligaten Gebeten für den orthoboren Zar, welche von 
Rußland aus den Geiftlichen und Gemeinden umfonft ges 
liefert werben; dazu helfen die den Geiftlichen vielfach im 
Stillen gewährten Subventionen. „Geber noch fo unbe 
deutende Priefter in Albanien, Korfu, Zante und Cepha⸗ 
lonia erhält eine Heine Jahresrente aus der Kirchenkaſſe zu 
Niſchnei⸗Nowgorod“.) Aber auch unter ven Siaven in 
Defterreih, den Wallachen in Ungarn und Siebenbürgen 
iſt der Ruſſiſche Einfluß thätig. *) 

- Den Katfercult bei der Jugend zu pflanzen, bei den 
Erwachfenen zu pflegen und zu ftärken, ift, nach ben An⸗ 
fichten der Regierung und der Synode, Hauptaufgabe des 
Ruſſiſchen Klerus. Die Gewalt des Kaiſers, lehrt ber 
Katechismus, geht unmittelbar von Gott aus. Die ihm 
gebührende Verehrung muß fich durch einfältigfte Unterwür- 
figfeit in Worten, Geberden und Handlungen äußern; ber 


3) Allg. Zeitung 29. Febr. 1860, S. 988. . 

N) De Gerando, la Transylvanie, Paris, 1845, erzählt: ein 
Ungarifher Offizier babe auf einen von ihm Tommanbirtem 
Trupp Wallachiſcher Golbaten gezeigt unb gejagt: ces hommes 
m’aiment, ils m'obeissent aveuglement, mais le Pope s'’est 
laisse gagner par des moines Russes : qu’un seul cosaque 
paroisse & la frontidre, et ils me passeront sur ls oorpe 
pour aller od le prötre les conduira, 


183 


Gehorfam muß ein in jeder Rüdficht unbegrenzter und lei 
dender, ohne alle Prüfung feiner Gebote fein. ') 

Der polizeiliche Charakter, ver mechanifche Zwang eines 
zur Regierungsmaſchine berabgewürbigten Kirchenweſens 
tritt dem Beobachter in Rußland faft überall entgegen. 
Selbft für Beichte und Abfolution wird eine durch kaiſer⸗ 
liche Verordnungen feftgefette Gebühr bezahlt. Jeder Muffe 
muß jährlich einmal beichten und communiciren, und fich 
darüber durch einen Schein ausweifen. Ohne biefen Beicht- 
und Commtmumnion- Schein kann man weber einen Eid noch 
ein Zeugniß ablegen; er ift zu Allem nothwendig, und wird 
daher häufig erfauft, fo daß ein fürmlicher Handel damit 
getrieben wird. Daß bie Priefter augewiefen find, und in 
der Negel auch Fein Bedenken tragen, ven Negierungsbes 
börden Dinge, welche von politifcher Bedeutung fein Lönn- 
ten, aus der Beichte anzuzeigen, wird allgemein behauptet. 
Das bürgerliche Geſetzbuch, der Swod, fehreibt vor, daß 
man feinen Pla in der Kirche nicht ändern folle und 
Achnliches. Die Ehefcheivungen haben die Kaifer ſich vor- 
behalten,*) und die Eanonifationen von Heiligen gefchehen 
gleichfalls durch kaiſerliche Ukaſe. 

Indeß empfindet wohl ver größte Theil des Auffischen 


3) ©. Protefl. Kirchenzeitung, 1854, ©. 854. 
») Allg. Zeitung, 1868, 12. Dezbr. S. 5607. 


134 


Klerus den Drud der kaiſerlichen Suprematie nicht als 
einen Drud und nicht als eine Deformation der Kirche. 
Er ift in dem Anblick dieſes Zuſtandes aufgewachien, er 
kennt feinen andern; Bibel und Kirchengeſchichte find für 
ihn verfchloffene Bücher, und er fühlt wie der gemeine 
Ruſſe, zu deſſen National-Bewußtfein e8 gehört, der feinen 
Stolz darin findet, daß der Zar allein Herr und Gebieter 
im Reiche fei. „Wenn wir uns mit Rom vereinigten, ex 
wiederte ein Ruſſiſcher Priefter vor einiger Zeit einem 
Srangofen, fo würbe unfer Kaifer nicht mehr alleiniger 
Herr in feinen Staaten fein: er müßte einem fremden 
Sonverain Rechnung tragen, das wäre bemüthigenn. Und 
wir begreifen nicht, daß ihr Branzofen, die ihr doch eine 
tüchtige Doſis Nationalftolz befiket, euren Monarchen ges 
ftattet, in Rom bie Beftätigung ihrer Biſchofs⸗Ernennungen 
einzuholen. ?)“ 

Gleich den Individuen werben die Kirchen mit dem 
geftraft, womit fie gefündigt haben. Wie hat diefe Kirche 
das fchlimme Erbtheil, das fie von dem geiftig verarmten 
Byzanz überlommen, einen mechanifchen Ritualismus, forg« 
fältig gepflegt, und gegen jeden geiftigen Luftzug veligiöfer 
Ween und tieferer Gefühle abgeiperrti Wie hat fie ihren 
Klerus zu einer Maſſe roher, gedankenloſer Verrichter herab» 


!) Correspondant, Mai 1861, p. 189. 





185 


finfen laffen, ihr Volk ohne die Seelen-Speife der Lehre 
und ber Heilsverkündigung in dem dürren Einerlei religiöfer 
Höflichkeitöbezeigungen und unfruchtbarer Ceremonien dar» 
ben und verfommen lafjen! Durch die endloſen Belreuzungen, 
Proftrationen: und Kniebengungen ift ver Körper in ber 
Kirche fo beichäftigt und in ftete Bewegung verſetzt, daß 
der Geift darüber kaum zur Befinnung kommen Tann. ') 
Darum konnten aber auch nur in Rußland Secten fich bil 
den über die Fragen, ob das Kreuz mit zwei ober mit brei 
Fingern geſchlagen werben müffe, oder ob man am Mitt« 
woch und Freitag, auch wenn ein Felertag auf biefe Tage 
falfe, faften müſſe. Rußland ift die rechte Heimath für 
eine Selte, welche durch eine Revifion des fehlerhaften 
Textes der liturgifchen Bücher, durch eine Abweichung ber 
Bilder von dem alten Diufter, das Heil gefährbet wähnt. 
Ueberhaupt aber hat die Vermweltlichung ver Kirche 
durch den Zaren-Supremat großen Antheil gehabt an ber 
Bildung der zahlreichen religiöfen Secten und Separatiften- 
Gemeinben, welche in Rußland als ein mit kirchlichen Mit- 
teln unheilbares Uebel und als eine drohende Gefahr für 
ben Staat erjcheinen, da ed nur gewanbter Führer bebarf, 
um ihnen eine politifch-renolutionäre Richtung zu geben.- 


©. darüber: Le onzon le Due: La Russie contemporaine, 
Paris, 1854, p. 228. 





186 


Andrerfeits aber bat man von Ruſſiſcher Seite auf dieſes 
Sectenwefen als Grund hingewiefen, warum bie Obergewalt 
bes Kaiſers über pas geſammte Tirchliche Gebiet unverän- 
dert erhalten werden müſſe.) 

Bor Allem find es die Raskolniken, Abtrünnigen, 
wie die Staatskirche fie nennt, oder die Staromerzen, 
Altgläubigen, wie fie felber fich nennen, welche, in ben un⸗ 
tern Voltsfchichten weit verbreitet, das alte Rußland, wie 
e8 vor Peter I war, repräfentiren, und gegen die Reform 
der Kirchenbücher durch den Patriarchen Nilon, im Grunde 
aber auch gegen die Zarenberrichaft über bie Kirche prote⸗ 
ftiren. Diefes Sectenwefen breitet ſich mit jedem Jahre 
mehr aus; einer jüngft mitgetheilten Angabe zu Folge?) ift 
bie Zahl der Sectirer feit 1840 von 9 Millionen auf 13 
geftiegen; in ganz Sibirien, dem Ural und ven Koſalen⸗ 
ftämmen, dann in dem nörblichen Rußland, gehört die Be⸗ 
pöfferung größtentheils zu ven Starowerzen. Die Regierung 
will ſie nicht dulden, fie wiffen fic) aber mit ven Behörden 
abzufinden. °) Die von ber Synode nad Sibirien gefchid- 
ten Bifchöfe und Popen der Staatskirche werben von dem 
Volle fo angefeben, wie bie proteftantifchen Geiftlichen im 


1) S. bie Ruffifche Denfjchrift im Rambler, Novb. 1857, p. 813-556. 

N Golowine, Autocratie Russe. Leips. 1860. 

2) Wie bie Starowerzen einen Tucrativen Einfonnnenszweig für 
die Fäufliche Polizei bilden, zeigt Dolgornulow 866. 


187 


ben ganz Tatholifchen Gegenden Irlands.) Durch einen 
Bifchof ihres Ritus, der feinen Sit in einem Galizifchen 
Dorfe genommen, haben fie feit 1845, in ſechs große Diözes 
fen eingetheilt, ihre eigenen Biſchöfe und orbinirte Prieſter 
erhalten. Neben diefen Separatiften ift inbeß noch eine 
beträchtliche Zahl von häretifchen Secten aus dem frucht- 
baren Schooße ver Staatölirche hervorgegangen. Cine 
ver füngften dieſer Secten, die Molokaner, welche 
ftreng bibelgläubig, aber nach einer willführlich myſtiſchen 
Deutung ber Bibel, zu fein behaupten, ift bereit über ganz 
Rußland verbreitet, und zählt eine Million Anhänger. ”) 

Zu diejer wachſenden Entfrembung der niederen Klaffen 
fommt nun bie vollendete Sleichgältigleit der höheren und 
gebilpeten Stänpe?), jo daß e8, wie Sagarin fagt, vielleicht 
fein Land in ver Welt gibt, wo man fo viele Voltairianer 
zählt, wie in Rußland. 


Die Ruſſiſche Kirche behauptet zwar im Glauben und 
in der Verwaltung der Sacramente völlig mit ber Kirche 
bon Conftantinopel übereinzuſtimmen, in Wirklichkeit ift dieß 
jedoch nicht der Fall; vielmehr hat fich in neuerer Zeit ein 
ſehr erheblicher Differenzpunft ergeben. Beide nämlich, die 


3) Mefiner’s N. Ev. Kirchenzeitung, 1860 ©. 367. 
7) N. Pranf. Zeitung 21. Dezbr. 1859. 
2) La Russie sera-t- elle catholique? p. 66. 


188 


Ruſſiſche und die Griechiſche Kirche, pflegen die Taufe durch 
breimalige völlige Untertauchung zu vollziehen, während bie 
Tatholifche Kirche und bie proteftantifchen Eonfeflionen (mit 
Ausnahme der Baptiften) fih mit bloßem Aufgießen des 
Waffers auf den Kopf des Täuflings, ober, wie in England 
anb anberwärts, mit bloßer Beſprengung begnügen. Die 
Form der Taufe durch Aufgießung hatten die Griechen 
früher, im J. 1484, auf einer Synode zu Conftantinopel 
mit Zuftimmmg der vier Patriarchen für gültig erklärt, 
und basfelbe war für Rußland buch eine aus griechifchen 
und ruffifchen Bifchöfen gemifchte Synobe im J. 1667 ge⸗ 
ſchehen; aber im Jahre 1756 ftießen bie Griechen in einer 
zu Sonftantinopel von drei Patriarchen unterzeichneten Con⸗ 
ftitution bie fräberen Entfcheivungen um'), und verfügten, 
daß Fünftig alle Profelgten von einer ver weftlichen Kirchen, 
ber Fatholifchen ober der proteftantifchen, rgetauft« werben 
follten. Diefer Gebrauch tft denn feitbem in allen zum 
Batriarchat Sonftantinopel jest oder früher gehörigen Kirchen 
geübt worden, wirb auch gegenwärtig in ber Hellenifchen 
für unerläßlich erflärt. Die Ruffifche Kirche jeboch, deren 
Gebieter bei ihren umfaffenden, auf Hinüberziehen von Ra» 
tholiten und Lutheranern berechneten Eutwürfen die Zu- 
muthung einer neuen Taufe mit Recht als einen Stein des 


') Zum Vorwand wurde bie unrichtige Behauptung genommen, 
daß bie Lateiner durch bloße Beiprengung (gertiauos) tanften. 


189 





Anftoßes für die zu gewinnenden Profelyten betrachteten, 
nahm diefen neuen Beſchluß nicht an, fo daß in den Augen 
der Griechen nicht nur die ruffifchen Kaiferinnen, ſondern 
auch mancher Prieſter und eine bebeutende Anzahl Laien 
(3 B. die 150—180000 in ben Oſtſeeprovinzen ortbobor 
geworbenen Zutheraner, und die Tauſende, welche jedes Jahr 
übertreten und alle blos mit Salbung durch Chriſma auf« 
genommen werben), gar nicht getauft find.) Cine jo tiefe 
greifende Differenz würbe nun wohl unter andern Umftänden 
zur völligen Aufhebung ber Tirchlichen Gemeinfchaft geführt 
haben, allein im Türkiſchen Orient wie in Hellas hat man 
bie dringendſten Urfachen, mit Rußland unb der Zarenlirche 
in gutem Einvernehmen zu bleiben, und zieht daher mit 
Auger „Delonomie” vor, zu dem ſchweren Frevel, deſſen ſich 
die Ruſſiſche Kirche nach anatoliſchen Grundſätzen ſchuldig 
macht, indem ſie ganzen Schaaren von Ungetauften alle 
chriſtlichen Rechte und Heilmittel gewährt, ja ihr ganzes 
Kirchenwefen durch eine ungetaufte Raiferin (Catharina II.) 
regieren ließ, zu fchweigen. 

3) Der damalige Patriarch Syrillos von Eonftantinopel approbirte 
und veröffentlichte im Jahre 1756 das Buch bes Euftratius 
Argentes: Frnkirevars ov “Pavsıouov, welches zeigen fol, 
daß bie ganze weſtliche Chriſtenheit nicht getauft ſei. Man 
vergl. die ausführliche Erörterung biefer Sache von William 
Balmer in feinen Dissertstions on Subjects relating to 


the Orthodox or Eastern-Catholio Communion. London 
1853 p. 163— 203, 


1% 


d. Die Kirche von England und die Diffenter- 
Selten. 

Von einer Nationalkicche Tann man in England nicht 
mehr füglich reden, da mindeſtens vie Hälfte der Nation, 
eigentlich aber ein weit größerer Theil nicht zu der Angli- 
Tanifchen Kirche gehört. Zählenfchon vie Katholiken in Eng⸗ 
land (Schottland und Irland abgerechnet) anderthalb Mil 
lionen, jo find die verfchtenenen Diffenterparteien noch weit 
zahlreicher, und dazu kommt dann noch bie mafjenhafte 
Bevölferung der Armen, der Fabrilarbeiter, welche größten- 
theils Teiner Kirche angehören, und um vie fich auch bie 
Anglikaniſche Kirche nicht kümmert — ſchon deshalb nicht 
fümmert, weil fie in ihrer engen und fteifen Organifation, 
mit ihrem Mangel an paftoraler Elaſticität, ſich dieſen 
Maffen gegenüber ohnmächtig fühlt, — und biefe wieber 
ihrerfeit8 nicht daran denken, fich zur Kirche zu rechnen 
ober eine Leiftung von ihr zu begehren. 

Aber Staatskirche ift die Anglifanifche Kirche noch 
immer; fie ift bie einzige politifch-bevorrechtete; ihre Bi⸗ 
ſchöfe figen im Parlamente, freilih nur im Oberhaufe; 
während im Unterhaufe, welches ven eigentliden Schwers 
punkt der Gewalt und Regierung bildet, bie Kirche nur zu⸗ 
fällig, durch einzelne kirchlich geſinnte Mitglieder, vertreten 
ift. Aber fie ift mit der Staatsgewalt aufs engſte ver⸗ 
fnüpft. Der König oder die Königin tft ihr Oberhaupt im 


191 


voliften Sinne; der Staat forgt vor Allem für fie und ihre 
Bedürfniſſe. Die höhern Stänve gehören ihr faft ganz 
an; es kommt faft nie vor, daß ein Mann aus dieſen 
Ständen fi zu einer ber Diffenter-Secten befenne.') Und 
in England find die höheren Stände in fo weit religiög, 
als nicht leicht Jemand unter ihnen fich offen als Ungläus 
biger befennen wird, und bie Mehrzahl am Sonntage dem 
Gottesdienſte beiwohnt. Dort find es die Weichen und 
Bornehmen, welche zur Kirche gehen, die Armen und Nies 
brigen, welche wegbleiben. Auch tft der Klerus der biſchöf⸗ 
lichen Kirche felbft aus den höheren Ständen hervorge⸗ 
gangen; durch Verwandtſchaft wie durch Heirath benfelben 
innig verbunden; nur felten find Geiftlihe viefer Kirche 
den nieberen Vollsklaſſen entfproffen; wer nicht durch Ab⸗ 
Hunft und Verwandtſchaft zu den privilegirten Ständen ges 
bört, dem ift in der Regel die Pforte zum Sirchenamte 
verſchloſſen. Denn das Batronat befindet fich zum größten 
Theil in den Händen bes Adels und der Gentry, welche 
bie Kirche als die Verforgungsanftalt für ihre jüngeren 
Söhne, Schwiegerfühne und Vettern betrachten; theils ges 
hört es der Krone, den Biſchöfen und ven Univerfitäten, 
welche wieber nur die Ihrigen zu bebenfen pflegen. Doch 
gibt es neben dem reichen bepfründeten Klerus einen 


1) Der berühmte Chemiler Faraday bildet eine feltene Ausnahme. 








1% 


untergeorbneten armen Klerus, die Hilfs- Gelftlichen (Cu- 
rates), weldhe den Dienft für vie zahlreichen SMafien 
der Sinekuriſten und Piuraliften, gegen meiſt fehr 
geringe Beſoldung verfehen. Bis zu einem „Eurate” ober 
Hilfsgeiſtlichen mag es gelegentlich auch der Sohn eines 
ben nieberen Ständen angehörigen Vaters bringen. Ueber- 
haupt aber gibt es kein anderes chriftliches Land, wo bie 
Armen und Niebrigen fo fehr von ven höheren Schulen 
und Bildungsanftalten, und baburch natürlich auch von 
pen Klerus und dem Staatspienfte ausgejchloffen find, wie 
das in England der Fall ift. 

Nirgends ift die luft zwifchen ven höheren unb nie 
beren Ständen fo groß, findet zwifchen jenen und biefen 
fo wenig Berühruug, fo geringe Gemeinfchaft der Gedanken 
und Empfindungen ftatt, als in England. Der arifto« 
kratiſch geborne und gebilvete Geiſtliche der Staatsfirdhe 
gehört den höhern Klaffen, verfteht fie und wird von ihnen 
verftanden, denkt und fühlt gleich ihnen; von dem Volke 
ift er durch eine Kluft getrennt, die auch der paftorale Eifer 
felten zu überbrüden vermag.) Er prebigt nicht, er liest 
eine Rebe oder Abhandlung vor; er liest die ſehr in bie 
Länge gezogene fonntägliche Liturgie, und er befucht bie 

I) Treffende Bemerkungen über biefe: „cause of weakness in the 


established church“ bat Lytton Bulwer: England and 
the English, Paris 1833, p. 210 ss. 


18 


Suabenfchule, das Volk aber liebt die VBorlefungen in den 
Kirchen nicht fonderlich, findet auch bei dem berrfchenven 
Syfteme der gemietheten Sperrfige ober Kirchenftühle nicht 
einmal Raum in ben Kirchen. Von dem Inftitut der Beichte, 
weiches in ver katholiſchen uund den Griechiſchen und Ruſ⸗ 
fiiden Kirchen dem Priefter bie unmittelbare Einwirkung 
auf pie Einzelnen fichert, ift felbftverftändlich dort nicht bie 
Rede. Die Liturgie beflimmt zwar, daß der Kranke, wenn 
er fi zur Erleichterung feines Gewiſſens durch eine Beichte 
gebrängt fühle, dieß thun dürfe; von dieſer Erlaubniß wird 
inbeß natürlich nie Gebrauch gemacht, pa Perfonen, die ihr 
ganzes Leben nicht gebeichtet haben, auch auf dem Kranken⸗ 
bette nicht daran benfen. Der Englifche Geiftliche ift alfo 
ein Borlefer, und in ber Regel nicht mehr als dieß. Den 
niebern Ständen aber ift vie Geiftlichkeit der Staatsfirche, 
ihre Ausbrudsweife, ihre Sitte, fremd, unverftändlich, ab⸗ 
ftoßend. 

Es gibt wohl keine Kirche, die fo fehr ald die Angli« 
kaniſche das Erzeugniß und ber Abbrud der Bedürfniſſe 
und Wünfche, der Sinnesweife und Willensrichtung , nicht 
ſowohl einer beftimmten Nationalität, als vielmehr nur eines 
Bruchtheil® der Nation, nämlich der reichen, vornehmen 
und gebildeten Stände ift. Sie ift die Religion bes An« 
ſtandes, bes guten Tones, der klerikalen Zurüdhaltung ; 


Religion und Kirche follen vor Allem, will man, nicht läftig, 
d. Dillinger, Papfithum. 13 


194 


nicht unbefcheiden, nicht zubringlich fein. Was die Staate- 
fircde fo fehr empflehlt, ift ihre Anfpruchslofigleit, tft, daß 
fie eine höhere Autorität fich beilegt, daß fie keine läftige 
Mahnerin des Gewiſſens ift, ſich vielmehr innerhalb ber 
Grenzen allgemeiner, felten bie in das Gewiſſen hinein» 
reichender Moralität und einiger chriftlicher Hauptlehren 
hält, und was fie an pofitiv kirchlichen Sagungen früher 
noch befaß, altmälig außer Uebung bat kommen laſſen. Sie 
befcheivet fich, nur fo viel Raum im Leben einzunehmen, 
als Erwerb und Genuß des Reichthums und Sitte einer 
vor Allem auf Behaglichkeit des Lebens (Comfort) gerich- 
teten Menfchenclaffe etwa übrig läßt. Bon den zahlreichen 
Süden, durch welche früher das Leben des Englänvers in 
feinem ganzen Laufe an den chriitlichen Glauben gebunden 
war, hat fie vie meiften zerriffen ober zerreißen laffen, und 
nur jene beibehalten, welche das geringfte Maß zügelnder 
Kraft befigen. Sünde bekennen, Faften, Alles, was in das 
Gebiet der Ascefe gehört, rechnet der durchfchnittliche Eng⸗ 
(änber zum „Aberglauben“, ein Begriff, der für ihn ein 
unenblich weiter ift, feine Kirche aber, das rühmt er voll 
fommen an ihr, muthet ihm nichts Abergläubifches zu. Auch 
ihre infularifche Befchaffenheit, ihre Abfonderung von je⸗ 
der andern chriftlichen Gemeinfchaft, entfpricht dem natio⸗ 
nalen Sinne, und iſt ein populärer Zug an ihr. Der 
Engländer, befonders in den höheren Ständen, findet es 


1% 


ganz in ber Orbnung, daß er eine abgefchloffene Kirche für 
fi) habe, an der keine andere Nation Antheil nehme, und 
zwar eine Sirche, die, während fie einerfeits die ganze Be⸗ 
quemlichleit, die Zurüdhaltung und Selbftbefchräntung bes 
continentalen Proteftantismus barbletet, doch auch andrer- 
ſeits mitteld ihres Epiſtopats und ihres mehr liturgiſchen 
Charakters vornehmer und würdevoller erfcheint.') 


ı) Nationallirchliche Selbſtgefälligkeit it ein Gefühl, das man in Eng- 
land beobachtet haben muß, um von ber Stärke unb Eigen⸗ 
thlimlichleit biefes Zuſtandes fih eine Vorftellung zu machen. 
In katholiſchen Ländern kommt die Sache nicht vor, weil ber 
Katholil, ausgenommen ba, wo er zerfirent unter Fremdgläu⸗ 
bigen lebt, fich überhaupt bes Gegenſatzes feiner Kirche zu an⸗ 
deren wenig ober nicht bewußt wirb, weil er von Iugenb auf 
nur immer von der Einen allgemeinen Weltlirche gehört, nur 
ihre Luft eingeathmet hat, nur in ihrem Ideenkreiſe fich be⸗ 
wegt, und weiß, baß feine Nation nur eine unter Vielen, nur 
ein Zweig an bem großen Banme ber Kirche ift, ber vor ben 
übrigen Völkerzweigen nichts voraus hat. Ganz anders ber 
Engländer, der ſchon mit der Muttermild die Borftellung ein- 
faugt von einer Englifhen Religion, Englifchen Kirche, 
zu ber fih alle andern nur wie Abarten, wie Baftarblirchen, 
wie Superftition zum Glauben verhalten, und bamit das an- 
genehme Bewußtſein ber Zugehörigkeit zu dem ausermwählten 
Volke ber Neuzeit, dem modernen Lieblingsvolke ber Gottheit 
in fih aufnimmt. Diefe ganz judaiſtiſche Denkweiſe findet 
daher auch fo großes Gefallen an dem jübiihen Sabbath. 
Die Eine rechte Kirche, fo denkt ſich ber durchſchnittliche Eng⸗ 
länder die Sache, ift, wie phyſiſch fo auch moralifch eine In- 

13* 


1% 


Die bifchäflicde Staatslirche Hat ſeit der Revolution 
von 1688, beſonders aber feit 1770, ungeheure Verlufte er- 
litten. Im Jahre 1676, alfo nur 17 Jahre nad ver 
Wieverberftellung, vechnete man, daß Katholiken und Dif- 
jenter zufanmen nur ein Zwanzigtheil der Bevöllerung bil⸗ 
beten. Gegenwärtig ift es wenigftens die Hälfte der Na⸗ 
tion, bie fich ihr entfrembet bat. Was ſie den böhern 
Ständen werth und willlomnen macht, das ftößt die nie- 
beren ab. Dieje fehen in dem Geiſtlichen nur ven feinen, 
eleganten Mann; er hat keine Senbung für fie, er ift nicht 
Briefter, nicht Bote Gottes, und was das ſchlimmſte ift, 
er bat feine feſtſtehende Lehre ihnen zu verfünben, denn 
bie Kirche, der er dient, hat auch keine; was er lehrt, find 
nur Meinungen der Partei oder Schule, der er durch ven 
Zufall ver Geburt, der Bilbung oder des Umganges angehört. 


ſularkirche. Wo fefter britiicher Boden aufhört, und das Meer 
beginnt, ba hört auch ber fichere Lirchliche Boben auf, umb 
wogt das umfläte Meer bes Aberglaubens und ber falſchen ober 
mangelhaften Kirchen. Xreffenb, unb ganz aus ber Seele feiner 
Landsleute heraus, hat das Saturday Review (1859, IL, 10%) 
biefe Gefinnung gejchilbert: There is no feeling so pleasant, 
as the assuranoe, that you are yourself right and every 
body else wrong, that your church and nation are the 
very perfeotion of churches and nations, and that by im- 
plication you are yourself the most perfect specimen of 
both the spiritual and the temporal society. 


‘ 


197 


Man begreift, daß ein großer Theil des Volles es 
vorzieht, einer ber Selten fi) anzufchließen, bie doch eine 
beftimmte Lehrforn haben, und ver Willkür ber Prebiger 
feinen oder geringen Raum lafjen. 

Geiftliche der Staatskirche bebanpten,') feit der Refor- 
mation fet biefe Kirche nie fo recht vie Religion des Volles 
gewejen, nie babe fie jenes Vertrauen, mit welchem bas 
Bolt der Tatholifchen Kirche vor der Reformation zugethan 
geweſen, fich zu gewinnen vermocht. Aber als vie Kirche 
bes reichiten Landes ber Welt, und ber reichiten Klafien 
dieſes Landes, verfügt fie über gewaltige Gelbmittel, wie 
feine andre, und bat fo in ven letzten breißig Jahren durch 
Reftauration alter und Erbauung neuer ſchöner Kirchen 
das Außerordentliche geleiftet, was dieſes Jahrhundert aufs 
zuweijen hat. 

Gleichwohl ift auch jetzt noch Feine Ausficht dazu vor» 
handen, vaß es ihr gelingen werbe, wieder zu werben und 
zu leiften, was ihre katholiſche Vorgängerin war ımb leiftete: 
die Kirche auch der niederen Klaſſen, auch der Armen, unb 
bie Defiterin ihres Vertrauens und ihrer Aubänglichkeit. 
Jeder, der die Wirkungen überfchaut, welche die Religions⸗ 
Aenderung für diefen Theil der Nation gehabt, und bie 
Haltung, welche vie neue Kirche ihr gegenüber einge- 


9) Christian Remembrancer, t. 27 (1854)sp. 885. 


198 


nommen, wirb in biefer Beziehung leinem Zweifel Raum 
geben. 

Vertirzung, Zurückſetzung, Beraubung ber ärmeren 
Aafſen ift allenthalben die Signatur der „Reformation“ 
genannten Ummälzung. In England hatte die große Be⸗ 
ranbung ber Kirche, die mafjenhafte Uebertragung des Kir⸗ 
chenguts in Laienhände viele Tauſende von Armen brodlos, 
Tauſende von Befitern zu bilflofen Armen gemadt. Die 
Spenden ber Fatholifchen Zeit an Arme hatten mit der Re⸗ 
formation, der Berheirathung des Klerus, der Bereicherung 
des Adels aus dem Kirchengute, ganz aufgehört. An Or⸗ 
ten, wo fonft jährlich 20 Pfund Sterling den Armen ge 
geben wurden, fagt ein Zeitgenoffe, wird jegt keine Hand⸗ 
voll Mehl mehr gegeben.) Die Kirchen und Klöfter, dann 
bie Pfarrer hatten bisher die Sorge für die Armen haupt⸗ 
fächlich getragen, fie hatten auf ihren Gütern eine dichte 
Bevölkerung von Pächtern und Grunpholden gehabt. 
Leflie und Rennett?) beichreiben das Verfahren des ka⸗ 
tholifchen Klerus mit den Armen: man gab ihnen nicht bios 
Almoſen, man verjchaffte ihnen auch Arbeit, man brachte 
ihre Kinder bei Kaufleuten oder Handwerkern unter; fie fans 
den in den Möftern und Pfarrhäufern, wenn fie wanderten, 


2) Selden’s Works, III, 1389. 
⁊) Divine Right of Tithos. Works, II, 878. 


1% 


Herberge, und die Pfarrer hielten eigene Armenliften, nach 
denen fie die Dürftigften zum Empfange ber Spenben 
porriefen.') 

Aber durch die plögliche Aufhebung aller Kloſter, durch 
die Vergebung von Kirchen» und Kloſtergütern an die Hof- 
feute und den Adel wurben nicht nur Unzählige mit einem 
Male befitlos, die neuen Erwerber fanden es auch-vortheil« 
hafter, große Ländereien, auf denen bisher unter dem Schtem 
der Kirche eine ackerbauende Bevölkerung gelebt, in Weide⸗ 
land zu verwanbeln, und fie bamit zu entnölfern, fo baß 
jeßt „vie Schafe die Menfchen verzehrten.””) Es fchlen 


1) Case of Impropriations, 1704, p. 16. 

2) So heißt es in einer im Jahre 1581 erfchienenen politifchen 
Schrift: A compendious or briefe examination of oertayne 
ordinary complaints f.5: „Die Schafe find Schuld an allem 
Unheil, fie haben den Aderbau aus dem Lande getrieben n. f. 
w.* ap. Eden p. 115. Harriſon, Description of Eng- 
land, p. 205, rebet von ganzen Stäbten ober Sleden (towns), 
bie niebergeriffen und in Schafweiden verwandelt worben feien. 
Kalte Habſucht, rohe, erbarmungslofe Unterbrlidung ber Armen, 
ſchildern bie Reformatoren und proteflantifchen Biſchöfe und 
Theologen aus Eduard's und Eliſabeth's Zeit, Becon, 
Sandys und Anbere, als ben herrichenden Zug bes Abels 
unb der wohlhabenben Klaffen, und geftehen, daß die Englän- 
ber in ber katholiſchen Zeit barmherziger und milbthätiger ge- 
weſen feien. Die Urfache davon findet ein anderer proteftan- 
tiſcher Theologe in ber Lehre vom Glauben unb ber Rechtfer- 
tigung. Stubbes: Motive to good Workes. London, 
1596, p. 42. 


200 


nun (unter Eduard VI.), fagt Burnet,') der allgemeine 
Wille und Plan des Adels zu fein, die Landbewohner zu 
jener knechtiſchen Erniedrigung und Leibeigenfchaft hinab⸗ 
zubrüden, in welcher fie ſich anderwärts befanden. So 
wurbe denn auch gleich mit ben erften Schritten, welche 
Eduards Regierung zur Einführung des Calbinismus in 
England that, eine förmliche Sklaverei in England wieber 
gefeglich hergeſtellt. Eine fo erbarmungslofe und unchrifte 
liche Härte der Gefeßgebung, wie fie nunmehr (feit 1548) 
eintrat, war bis dahin unerhört geweifen. Müßig lebende 
Perjonen, (und zur Conftatirung des Müßigganges genügte 
fon ein breitägige® Nichtarbeiten), wandernde Bettler 
follten auf der Bruft gebranpmarlt, zu Sklaven gemacht, 
blos mit Waffer und Brod genährt, in Ketten gefchmiebet 
zur Zwangsarbeit gebraucht, bei Entweichungsverfuchen mit 
bem Tode beftraft werben.) So fehuf man erft eine hilf⸗ 
lofe Bettlerbevölferung — denn England war damals noch 
fein Induſtrieland — und dann behandelte man fie ärger 
als das Laftvieh. 
Unter Elifabetb wurben biefe Geſetze erneuert; jelbft 
1) History of the Reformation. Fol. ed. II, 114. 
?) Sir Fred. M, Eden: State of the Poor. London, 1797, 
I, 100. 101. Pashley, Pauperism and Poorlaws. 
London, 1852, 180. Dieſer nennt «6: a statute, oharao- 


terised by a barbarous and ruthless severity, wholly un- 
worthy of the legislation of any ohristian people. 


201 


Kuaben von 14 ober 15 Jahren follten, wenn fie um Al⸗ 
mofen gebeten, gebranpmarlt werden.) War einer über 18 
Jahre alt, fo Ionnte er, das zweitemal ergriffen, mit bem 
Tode beftraft werben.) Erſt im Jahre 1597 ward fett 
ber Brandmarkung Auspeitſchung Bis aufs Blug ober Ber- 
urtheilung zu ven Galeeren verfügt. Zugleich aber warb 
unter Eliſabeth zuerft ver Zwang ber Armentare eingeführt, 
woburch bie freie chriftliche Mildthätigkeit zu einer gefetli- 
hen Berpflichtung erniebrigt, an die Stelle der willigen 
Gabe die erziwungene brüdende Steuer gefegt wurde.) Da⸗ 
zu find denn in neuerer Zeit bie Armen- ober Arbeitöhäufer 
gekommen, beren Einrichtung durch die Trennung von Dann 
md Weib, von Kindern und Eltern eine völlig unchriftliche, 
die, felbft nach Englifchem Urtbeil, in ihrer gegenwärtigen 
Beichaffenbeit, eine Schmach für das Land find‘); da fih 

?) Stowe, Chronicles of England, Lond. 1630, ad an. 1564, 
1568, 1572. 

2) Eden, p. 128. 

3) Bergl. hierüber die Bemerkungen bes Edinburgh Review, t. 
90, 507. „Das Armengeſetz, heißt es bier, vergiftet felbft bie 
Duelle ber chriftfichen Nächftenliebe, inbem es fie auf ber einen 
Seite zu einem unabweisbaren Ausſpruche, auf ber andern 
zu einer unentfliebbaren Tare macht u S. f.“ Schon beim Be 
ginne des vorigen Jahrh. ftellt Leflie (TI, 873) die ſchwere 
Armentaye als eine gerechte Strafe dafür dar, daß man „Gott, 
bie Kirche und die Armen in der Reformationszeit durch Weg⸗ 


nahme ihres Batrimoniums beraubt habe.“ 
) Pashley, 364. 


a 


tm ganzen übrigen Europa nichts Aehnliches findet. Hier 
wird mit einem Aufwand von 6 Millionen Pfund fo viel 
erreicht, daß die Arbeiter lieber in ber härteften Entbehrung 
und dem gräulichften Schmutze leben, als daß fie das 
Armenhaus aufjuhen. Die Reformation aber iſt ed, bie, 
wie man in England wohl erfannt bat, dem Englifchen 
Volke als bleibende Folge den gefetlich beſtehenden und 
officiell eingerichteten Pauperismus gebracht bat.') 

Durch die Abfchaffung aller Tatholifchen Feiertage und 
durch die Verwandlung des chriftlichen Sonntags in einen 
jünifhen Sabbath wurde den Armen noch ein weiteres 
drückendes Joch aufgelegt. Alles, was bie alte Kirche dem 
Bolle an erquidenben, aufbeiternden Tirchlichen Weiten durch 
Proceffionen, Flurgänge, Wallfahrten, pramatifche Darſtel⸗ 
lungen, Geremonien gewährt hatte, wurde, wie fich verftebt, 
abgeſchafft; nichts blieb als die gelefene Predigt und bie 
gelefene Liturgie, und bazu die fehroffe calvinifche Unter⸗ 
drüdung jeder gemeinfchaftlichen Luſtbarkeit, jedes öffent« 
lihen Bergnügene am Sonntage. So änderte fich ber 
ganze Charakter des Englifhen Volkes.) Früher in ganz 

ı) Dublin Review, XX, 208. 

2) MWörtlih fo Lord John Manners in feinem Plea for Na- 
tional Holy Days, London, 1843, p.7: The English people, 
who of yore were famous over all Europe for their love 


of manly sports and their sturdy good humour, have ysar 
after year been losing that choerful character, and com 





208 


Europa belannt als ein Boll voll Träftigen Humors, als 
das heitere, Iuftige England, nahm es feit ver Reforma⸗ 
tion ein büftere®, unzufrievenes, mürrifches Weſen an.') 


trariwise been acquiring habits and thoughts of discontent 
and morosoness. Gewiß hängt die ungeheure Verbreitung ber 
Trunffucht unter ben nieberen Klaffen damit zufammen; macht 
man doch au an Imbivibuen überall Nie Erfahrung, daß fie, 
wenn fie mit ihrem Loofe unzufrieden find und ihr Leben ver- 
büftert if, fi gerne bem Trunke ergeben. Erſt nach ber 
Mitte des 16. Jahrhunderts Fam in England das unmäßige 
Trinken hinzu, um ben Pauperismus zu vergrößern und un⸗ 
heilbar zu machen. Im ber katholiſchen Zeit war das Eng⸗ 
liſche Volt von biefem Laſter fo frei, daß es für das mäßigfte 
unter ben norbifchen Nationen galt. Dieß änderte fich völlig 
unter Elifabeth, wie zwei Zeitgenoffen, ber Geſchichtsſchreiber 
Camden (Annals of Q. Elizabeth, p. 263) unb ber Bi- 
hof Godfrey Goodman (the fall of man, Lond. 1616, 
p. 866) berichten. Die aus bem Nieberlänbifchen Kriege Heim⸗ 
gelehrten follen beſonders zur Verbreitung bes Lafters beige. 
tragen haben. Unter Jakob 1606 wurden bie erften Strafge- 
fee dagegen erlaffen. Gegenwärtig vertrinfen bie arbeitenden 
Hafen in Großbritannien jährlih an Branntwein und Bier 
fo viel als das ganze Einkommen bes Reiches beträgt, nemlich 
(den Aufwand für Tabak hinzugerechnet) mehr ale 53 Mil- 
fionen Pfund. (&. Porter: On the self-imposed Taxa- 
tion of the Working Classes, im 13. Banb des Journal of 
the Btatistical Bociety). 

9 Das Englifhe Sprichwort: All work and no play makes 
Jack a dull boy, gilt von ben arbeitenden Klaſſen in Eng⸗ 
land ganz allgemein. Sie find durchaus mit Arbeit überbürdet, 


a _ 


Mufit und Tanz, früher Lieblings⸗Vergnügungen des Volles, 
verſchwanden. Der Engländer der nieberen Maffen ift nun un- 
mufilalifch, und zubem darf oder kann ernicht tanzen, wenn er 
auch möchte. Alle Lebensgenüffe, alle Mittel, fich die purita= 
nifhe Monotonie eines Englifchen Sabbaths oder Sonntage 
erträglicher zu machen, find ben höhern Ständen vorbehalten. 
Den arbeitenden Klaſſen tft michts geblieben ala — das 
Trinken. Das Volt kann fich felbft, feitvem die Autorität 
und bie alle gleihmäßig im Genuſſe ver Feiertage fchügenbe 
Intervention der Kirche gefallen iſt, keine Ruhezeit mehr 
gönnen, denn bei der allgemeinen, athemlofen Eoncurrenz 
wärben Ruhetage, ja ſchon Rubeftunden die Vorläufer des 
Mangels, des Elendes und des Todes fein. Beim An- 
blide eines ſolchen Zuſtandes Tonute ſelbſt ein fo feuriger 
Proteftant, wie Robert Southey, nicht umbin, unter 
fehnfüchtigen Blicken auf katholiſche Länder, wie Spanien, 
wo die Religion die unfchuldigen Vergnügungen bed Volles 
begänftige und heilige, den Calvinismus feines Landes zu 
beflagen, der mit feiner düſteren, freuvelofen Frömmigkeit, 
feiner jubaiftifchen Sabbathefeter und feiner Unterbrüdung 
aller Feittage vie arbeitende Klaſſe geiftig geknickt und brus 


und bie Kirche thut nichts für fie. Mit Recht bezeichnet Lorb 
John Manners den herrſchenden Zuſtand als: the „all 
work and no play‘ system. 


205 


talifirt habe.) Die Englifchen Könige hatten dieſes Un- 
heil längft erkannt; Karl I. wollte die freiheit des Vol⸗ 
kes fchügen gegen ven Puritanismus des Parlaments, unter 
lag aber, und „pie DHeiligleit des Sabbaths“ wurbe ein 
wirkſamer Kriegsruf gegen den andy in feinen beftgemeinten 
Maßregeln unglüdlichen König.) Hundert Yahre fpäter 
mußte der erfte König des Hanndver'ſchen Haufes fich mit 
dem unfruchtbaren Wunfche begnügen: „daß doch die Be 
Iufligungen und Spiele, beren fein Voll durch purita- 
nifche Bigotterie und übermüthigen Latitubinarianiemus bes 
raubt worden fei, ihm wieder gegeben werben möchten.” °) 
Etwas Wirkfames in dieſer Richtung zu thun, ift indeß bem 
jegigen Schattenfönigthum unmöglich. 

Dis zur Reformation gab es in faft jeder Pfarrei 
Englands mehrere Kapellen und Gebetftätten, die beſonders 
für die ärmeren Klaſſen und das Landvoll doppelt erwünfcht 
waren in einem Lande, wo es befanntlich nur wenige eigeut⸗ 
liche Dörfer gibt, die Lanpbevölferung vielmehr zerftreut in 
einzelnen Höfen und „Cottages“ wohnt, bie Pfarrkirche alſo 
einem großen Theile der Gemeinde allzuweit entfernt ift.*) 

!) Espriella’s Letters, London 1814, I, 147. 
2) J. Disraeli: Commentaries on the life of Charles I. 

London 1889, II, 29. 

3) Lord John Manners, p. 21. 


4) &. darüber unter Anberm: Polwhele: Letter to the Bi- 
sbop of Exeter, Truro 1833, p. 28. 


206 


Ale diefe Kapellen und religiäfen Stätten bat ber Pro⸗ 
teſtantismus zerflört und nur die Pfarrlirchen übrig 
gelaffen. 

Noch nicht genug: die Kirche iſt das Haus des Armen, 
in welchem er fi, wenn fie etwas mehr als ein bloßer 
Hörfaal ift, wohl fühlt, auch darum, weil er das bort 
finvet, was ihm in feiner meift fo engen und unerquidlichen 
Hänslichkeit abgeht: ven Schmud der Bilder und der Sym⸗ 
bole, den weiten, Raum, vie feierlich ſtimmenden ardhitel- 
tonifchen Proportionen, bie zur Andacht erregenve Ruhe 
und Stille, die Atmofphäre und pas Beiſpiel des Gebets. 
Der Proteftantismus bat nicht nur die übrig gebliebenen 
Kirchen jebes Schmuckes beraubt, er bat fie auch gefchloffen. 
Während der Woche kann Niemand die Kirche befuchen. 


Bor der Reformation waren feine gefchloffenen Kirchen» 
Kühle In den Kirchen zugelaffen worden; ber Raum der 
Kicche gehörte der ganzen Gemeinde, und Hohe und Niebere 
beteten vermifcht mit einander.') Mit dem Proteftantismns 
aber hielten auch vie Kirchenftühle ober Logen ihren Ein⸗ 
zug, die, mit allen Bequemlichleiten verjehen, ben Reichen 
und Vornehmen zugleich Die völlige kirchliche Abjonderung 
von dem gemeinen Volke verfchafften. 


1) Das bemerkt Biſchof Kennett im feinen Parochial Antiqui- 
ties, new ed. by Bandinel, Oxford 1818, 11, 282, ausbrüdtid. 


207 


So bat denn Alles zuſammengewirkt, um bie Armen 
und Niederen allmältg aus den Kirchen in England zu vers 
brängen, ober fie zur freiwilligen Entfernthaltung zu be⸗ 
ftimmen: die unerquickliche Form eines faft blos in Bor» 
lefungen beftehenben Gottesbienftes, die den Raum weg⸗ 
nehmenden SKixcchenftühle ber Reichen, die Dürftigkeit ihrer 
Keidung neben dem eleganten Anzuge ver Wohlbabenben, 
wid die wachfende Muft und Entfremdung zwilchen ven 
Ständen. 

Den Diffenter » Sekten können fi vie Armen auch 
nicht zuwenden, da biefe ganz auf die Zahlungen ihrer Mit⸗ 
glieder angewiefen find. Die Folge if, daß fie maffenhaft 
in völlige religiöfe und ſittliche Verwilderung verfunten find, 
daß eine „zahlreiche Nation von Heiden” ſich im Lande ge- 
bildet hat,) daß nach dem Geftänpniffe eines Biſchofs ſelbſt 
ein noch ſchlimmerer Zuſtand als Heidenthum, ein grim⸗ 
miger Haß gegen ben chriſtlichen Glauben, in vielen Ge⸗ 
genden Englands graffirt.) Nach einer ftatiftiichen Be⸗ 


1) Ausbrud von Puſey in feiner Nebe: Christ, the Source and 
Rule of christian Love. Preface, p. 5, 11. 

?) Charge of the Bishop of Exeter, p. 56. — Deutfche Beob» 
achter bezeugen dasſelbe: „Die Armen (in England) finden 
kaum einen anbern Weg, als entweber zu völliger religiöfer 
und kirchlicher Berwilberung, ober nach Rom. Leider ift nicht 
zu zweifeln, baß bie große Mehrzahl der Armen, welche im 


208 


rechnung ift e8 nur ein Fünftheil ver Bevölkerung, welches 
in Lonbon zur Kirche geht, und zwar eben bie wohlhaben- 
bere Kaffe; denn bie Armen in London, fagt einer ber ftäb- 
tiſchen Miffionäre, ') halten fich der Maffe nach von jedem 
Gottesbienft entfernt. Er fand, daß in der Pfarrei Cler⸗ 
tenwell, mit 50,000 Seelen, von den Armen nur etwa Einer 
unter fünfzig gelegentlich einmal in vie Kirche komme.) 
Die Folgen find denn auch nicht ausgeblieben; ein Geiſt⸗ 
licher der Staatliche, Worsley, behauptet, daß unter 
den Armen in ben großen Manufalturftäpten auch ver 
legte Reft von Schamgefühl bei beiden Gefchlechtern fat 


weitern Sime eben boc die Maſſe des Bolles ber untern 
Schichten bilden, ohne alles kirchliche und religidfe Leben dahin 
gegangen find.” 8. AU Huber in ber Hengflenberg’idem 
Kirchenzeitung, 1858, ©. 845. 

ı) Vander Kiste: Notes and Narrations of a six years 
Mission, principally among the Dens of London, 1858. 
Heathenism is the poor man's religion in the metropolis, 
fagt er, p- XIV. 

?) Nach dem Eenfus von 1851 bat fi ergeben, baf, wenn man 
die Zahl der zum Kirchenbefuch Fähigen zu 58 Proc. ber Be 
völferung annimmt, nahezu 6'/, Millionen bie Kirche ber 
Staatskirche, 6 Millionen bie ber freien Genoſſenſchaften (Ka⸗ 
tholiten und Diffentere) und 624 Millionen gar feine Kirche 
beſuchen. In den Gtäbten ift die Zahl ber Gtantslicchlichen 
Heiner als bie ber Diſſenter. In Wales und Wonmouth ges 
hört der Stantslircdhe nicht ein Drittheil ber Bevöllerung au. 


209 





völfig vertifgt fet, und, was noch bebentfamer ift, er bes 
Iennt, daß auch auf dem Lande und in ben Dörfern bei- 
der arbeitenden Kaffe Kenfchheit und Enthaltung nahezu 
allgemein verſchwunden fei.') 

Mit den Kirchen wurden auch die Schulen ben aͤr⸗ 
meren SHafien entzogen. Im Jahre 1563 erklärte ver 
„Speaker“ des Unterhaufes: In Folge der (mit ber Refor⸗ 
mation eingeriffenen) Raubfucht und Plünberung ver Stif- 
tungen, fet die Erziehung ver Jugend vereitelt, ber Nach 
wuchs Unterrichteter abgefchnitten. Es ſeien jetzt hundert 
Schulen weniger vorhanden, als früher, und von ben über» 
gebliebenen feien viele nur fchlecht beſucht. Deßhalb bes 
merfe man auch eine fo auffallende Verminderung gelehrter 
Männer.) Später wurden zwar allmälig mehrere Ge- 
Lehrten-Schulen gegründet, aber auch vie Armen Immer mehr 
ans venfelben verbrängt. Eben jo gieng e8 an ben beiben 
Untverfitäten. Bon ven zahlreichen Eollegien waren mehrere 
in katholiſcher Zeit eigens für arme Studirende geſtiftet; 
aber nach ver Reformation wurden auch biefe ariitofratifirt. 

Selbft ein ſtaatskirchliches Organ Tarın nicht umhin, 

*) Prize-Essay on juvenile Depravity. London, p. 68, 82. 

2) Collier's Eocles. History of Great Britain, II, 480. Auch 
Hallam, Introduction to the Literature of Europe, II, 
89, Paris ed., hebt die Armuth und VBebeutungslofigfeit ber 
Engfifchen Literatur in ber Zeit Eliſabeths hervor, und bemerkt, 


daß Spanien bamals hierin höher geftanben als England. 
v. Döllinger, Papſtthum. 14 





210 


Angefichts dieſer Thatfachen zu geſtehen, daß bie Nefor- 
matton in ihren Ergebniffen unzweifelhaft ein Triumph 
der Reichen über vie Armen, und des Geldes über das 
Necht der Arbeit war.') 

Die Reichsgeſetze aus der Zeit der brei Tudors, Hein⸗ 
richs, Edwards und Elifabeth’8, welche vie Suprematie über 
bie Englifche Kirche für ein unveräußerliches Königerecht 
erflären, befteben noch in voller Kraft. Der König ober 
bie regierenve Königin ift im Befige ber oberften Tixchlichen 
Gewalt, und die der Bifchöfe iſt nur ein Ausfluß der Tönige 
lichen. Dabei ift ber Träger der Krone freilich in einer 
Beziehung die unfreiefte Perſon feines Reiches, denn, wenn 
er in Gemeinfchaft mit dem Nömifchen Stuble träte, Tas 
tholifch würbe, ober nur eine Tatholifche Gattin nähe, 
träfe ihn fofort Abfegung ober Verluft des Thrones. Nach 
dem Statut von 1689 würbe die Nation in biefem Falle 
von Eid und Pflicht der Treue gelöft fein.) Zudem muß 
er als religiöfes Haupt zweier Kirchen auch abwechjelnd 
zwei Religionen befennen, vie fich gegenfeitig bekämpfen, 
benn in Schottland iſt der presbhtertantich-calvintfche Bros 


1) British Critio, t. 38, p. 419. 

?) Bergl. darüber bie Bemerkung von Puſey: Patienoo and 
Confdenos the strength of the Church, Oxford 1841, p. 
80; er citixt ben Wortlaut bes Statuts: the people are in 
such case absolved from their allegianoe,. 





211 


teftantiemus Staatskirche. Die gegenwärtige Königin pflegt 
daher im Winter Englifch -bifchäflih, im Sommer Schot⸗ 
tiſch⸗ presbyterianiſch zu fein; hat fie im Winter ber Angli⸗ 
Tanifchen Liturgie beigetwohnt, und das Sakrament aus ber 
Hand eines Biſchofs oder bifchäflich ordinirten GBeiftlichen 
empfangen, fo hoͤrt fie während ihres Sommeranfenthalts 
in Balmoral oder fonft wo in Schottland eine calviniftifche 
Predigt, und läßt fi) das Abendmahl von einem Geiftlichen 
reihen, der in England nit zur Communion und nicht 
anf die Kanzel gelafjen, von einem großen Theil des Klerus 
und ver Laien nicht einmal als ein gältig orbinirter Geift- 
licher betrachtet wird. 

Außer den Miniſtern und dem Parlamente ift es feit 
1833 der „Geheime Rath" "), der die Suprematie über 
Religion und Kirche ausübt. Er wurde vom Parlament 
als oberfter Appellationshof in kirch lichen Streitfragen, fe 
es ber Lehre, fei es der Disciplin eingefett, und befteht 
ganz ober Überwiegenb and Laien, bie zum Theil nicht ein- 
mal Mitglieder ver bifchöflichen Kirche find. 

Ein minifterielles Tagblatt, der „Globe“, gab vor 
einigen Jahren eine Erklärung über die Natur und Stel- 
Iung der nationalen Kirche, die auch ber Biſchof Wilder 
force von Orford als den Ausprud der Negierungsanficht 


1) Privy Council. 
| 14* 


212 


Öffentlich hervorhob. Die gefetliche Stantsfirche, Heißt es 
ba, iſt recht eigentlih ein Gefchöpf dieſer Welt, ift eine 
Mofchine, um das geiftliche Element in der wechjelnden 
‚Öffentlichen Meinung des Tages zu verkörpern. Ihre Fe 
gierung durch den Premierminifter, ihre paſſive Unbeweg⸗ 
lichkeit, ihr beharrliches Schweigen, die abfolute Nichtigfeit 
ihrer Rügen, die Tauſende Ihrer erflärten Anhänger, welche 
laut auflachen, fobald ihre Diener die befcheivene Sphäre 
von Beamten in einer Nationalanftalt überfchreiten, das 
alles find Zeichen und Merkmale einer Knechtfchaft, ber 
auch die niebrigfte Jumper⸗Selte fich nicht unterwerfen 
möchte, welche aber In unferm Departement des Bffentlt- 
chen Gottesbienftes natürlich und angemefjen wird.“ 

Als um diefelbe Zeit das Verlangen nach einer ge- 
wiffen felbftftändigen ſynodalen Thätigkeit unter vem Klerus 
der Staatskirche Iaut wurde, gab die „Times“ zu bebenten: 
diefe Kirche, ber das Parlament ihre gegenwärtige Form 
gegeben, beſitze jedes Attribut, jeden Vortheil und jeven 
Nachtbeil eines Compromiſſes. Ihre Artikel und officiellen 
Formulare feien fo eingerichtet, Daß Perfonen, deren Mei⸗ 
nungen fo weit auselnandergiengen ‚ als das unter Bes 
Tennern des Ehriftentgums nur möglich fel, boch in ihrem 
Schooße Raum fänden. Nicht um Einheit ber Lehre habe 
es fich bei der Einrichtung diefer Kirche gehandelt, ſondern 
um bie Kirchliche Zufammenfaffung verfchtedener Parteien 


213 


und Unfichten. Darum befänven fich innerhalb der Kirche 
Berfonen, vie nicht blos in einzelnen Dogmen von einander 
abwichen, ſondern bezüglich der Slaubensregel felbft, fo 
daß bie einen vie Privatauslegung ber Bibel durch ven ben 
Einzelnen gegebenen Geift, die andern vie Kirche unb ihre 
Veberlteferung zum Grund und zur Nichtfchnur Ihres Glau⸗ 
bens machten. Daher fchtenen Synoben over Convocations⸗ 
Berathungen zwar gut und nothwendig für eine freie Kirche, 
aber deſtructiv für eine Kirche, pie nur ein unter der Au⸗ 
torität des Staates gemachtes Compromiß ſei, denn bie 
alebald ausbrechenden Kämpfe über die Lehrverſchiedenhei⸗ 
ten würben biejent ven Untergang bereiten.') 

Die Biſchöfe find im Ganzen ohnmächtig in Sachen 
ber Lehre und der Disciplin, fie wagen, ſchon aus Furcht 
por einem langivierigen und Eoftfpieligen Procefje, gegen 
bepfründete Geiftliche nicht Leicht einzufchreiten. Größere 
Gewalt Haben fie über die, noch dazu großentheils fehr 
armen, Curates. Die Kathepral-Inftitute Haben keine Stel- 
lung im Organismus ver Kirche, und beitehen aus Sine⸗ 
furen. Die zahlreichen geiftlichen Gerichtshöfe haben gleich“ 
falls eine Menge Sineluren. Bon den 11,728 Pfründen 
in England und Wales hat die Krone 1144, Privatper« 
fonen haben 6092 zu vergeben nach bloßer Gunft, ohne 


N) Zimes, 5. Auguft 1852; ber Artikel ſteht auch im Christ. Re- 
membrancer, t. 24, p. 382. 








214 


durch Bedingungen bezüglich beſtimmter Prüfungen oder 
Dienftjahre befchränft zu fein. Die Bifchöfe verfügen, mit 
dem weiteften Spielraume für ben dort fprichwörtlich ges 
Wworbenen Nepotismus, über 1853 Pfründen. Pluralität 
ober Beſitz mehrerer Pfrünven, und bamit natürlich auch 
Abwefenheit von ber Pfarrei, kommt, wietwohl Durch neuere 
Geſetze in etwas beſchränkt, noch immer häufig vor. Im 
Irland Hatten im Sahre 1834 von 1385 ftaatsfirchlichen 
Pfarreien 157 gar keinen Gottesbienft und 339 keinen an- 
fäffigen Pfarrer. 

So ift, nad dem Geſtändniſſe ernjterer und geiviffen- 
hafter Männer in der Staatsfirche, diefe Kirche ein durch 
und burch verweltlichtes Inftitut. Die Kirchenämter find 
feit 150 Jahren von der Staatsgewalt vorzugsweife nach 
politifchen Geſichtspunkten vergeben, ganz nach ihrer Iucras 
tiven Seite betrachtet und behandelt worden. ‘Die Bes 
fegung der Bisthümer und andrer einträglicher Pfründen 
erfolgte früher, um dem Minifterium die Unterftügung ein- 
flußreicher Familien zu fichern, gegenwärtig werden Män- 
ner der Evangelifchen Partei vorgezogen, weil biefe ben 
mächtigen Diffenterd und einer großen Anzahl gleichgefinnter 
Anglifaner aus den Mittelflaffen genehm find. Die Bes 
zeichnung einer Kirchenpfründe (living) ift fehr charalteri- 
ftifch; fie wird denn auch ganz als Sache des Privateigen- 
tbums, als eine Waare, bie man kaufen, mit der man 


215 


Handel treiben kann, behandelt. Ohne Einrede von Seite 
ber Biſchöfe iſt Die offenfte Simonie in England ein all 
tägliches Vorlommniß. Es erregt keinen Anftoß, wenn bie 
nächfte, Berleibung einer Pfrände ffentlich ausgeboten wirh, 
and es ift ganz gewöhnlih, daß ein Vater für den einen 
feiner Söhne ein Officterspatent, für den andern eine nächfte 
PBräfentation zu einer Kirchenpfründe kauft.) Unb doch 
bat jeber Geiftliche bei feiner Linfegung einen Eid zu 
fchwören, daß er feine Pfründe nicht durch Simonie erlangt 
babe. Es ift ein mercantiler Gefchäftsgeift, ver über dieſes 
Kirchenweſen fich gelagert hat. Prebiger-Stellen an Kirchen 
oder Kapellen, vie auf Speculation erbaut tworben, werben 
ansgefchrieben, mit ver Bemerkung, daß „freie nnd voll⸗ 
ftändige Predigt des Evangeliums (d. h. der bequemen cals 
viniſchen Nechtfertigungslehre) eriwartet werde.“ Häufig 
bieten Geiftliche fich felbft aus, und empfehlen bann ihre 
träftige Stimme, ihre Einprud bervorbringende Manier, 
ihre rein-proteftantifchen Grundfäge, oder ihre Anhänglich- 
keit an die „gemäßigten und weiten“ Anfichten ver Staats⸗ 
kirche.) Andre verfichern „entſchieden evangelicaliſche Ans 
fichten“ zu haben. Beſonders Häufig werben „extreme re⸗ 
ligidſe Anfichten” in Abrede geftellt; man verfpricht, „nüch⸗ 
1) British Critie, t. 30, p. 281. 


?) Solche Ausbietungen finden fi in großer Menge in ber Ec- 
clesiastical Gazette. 


216 


tern, gemäßigt” zu fein. Wieder Anpre haben „Anglofae 
tholifche Principien“, ober ſie ſtimmen mit den Anglilani⸗ 
ſchen Theologen des 17. Jahrhunderts überein u. ſ. f. 

Es gibt wohl fein Hirchliches Blatt ver Welt, wo ſo viel von 
„Anfichten” bie Rede ift, und eine folche Auswahl von Mei⸗ 
nungen und Nichtungen für jenen Geſchmack bargeboten 
wird, als das Blatt, in welchem ber Klerus der Staats⸗ 
firche fo zu jagen zu Markte fit, und fich feilbietet. Im 
einem Lande wie England, follte man glauben, werde bem 
freien, feiner angebornen Rechte fich fo ſtark beivnften Bri« 
ten nichts unerträglicher erjcheinen, als ber Zuſtand fo 
vieler Gemeinden, welche fich an ven nächtten Beßten ver- 
kaufen laſſen müſſen. „Es gibt Nichts, ſagte neulich bie 
Zimes, was Jemanden hindern könnte, auf ven Markt 
zu geben, feinem einfältigen, fanatifchen, ausfchweifenpen 
ober unfähigen Sohne eine Pfarrpfründe zu laufen, und 
ihn damit als den geſetzmäßigen geiftlichen Mittler zwiſchen 
dem Allmächtigen und ein ober zweitaufend feiner Gefchöpfe 
binzuftellen.”’) Gleichwohl ift bis jetzt, fo viel ich weiß, 
noch nicht einmal eine Agitation gegen biefen enormen 
Mißbrauch, der nur in ver Türkei feines Gleichen hat, 
unternommen worben. - . 

Der unauflöslide Wiverfpruch zwifchen ven 39 Ars 


1) &. das Weekly Register, 11. Mai 1861. 


217 


tileln, die im wefentlichen caltoiniftifch finb, und der ſtark 
Intholifirenden Liturgie bat feinen Grund In ven Zuſtaͤn⸗ 
ven bed Weformationszeitalters. Die Artikel follten vie 
bogmatifche Feſſel fein, welche ven Klerus an ven Calvinie⸗ 
mus band, unb wurden nur biefen zur Unterzeichnung vor⸗ 
gelegt, bie Liturgie aber mit ihren Gebeten und ſakrament⸗ 
lichen Formeln follte dem noch überwiegend katholiſchen 
Bolte, welches man durch Gelpftrafen zwang, bem neuen 
Gottesdieuſte beiguwohnen, ben Beweis liefern, daß doch im 
Weſen der Religion nichts geänbert fet, und daß im Grunde 
die alte Tatholifche Kirche fortbeftehe.') 

So unterſcheidet fich denn die Anglikaniſche Kirche 
von andern proteftantifchen Kirchen ſchon darin, daß biefe 
in ihren ſymboliſchen Büchern doch die Möglichkeit einer 
einheitlichen Lehre und eines entiprechenden kirchlichen Les 
bens befigen, wie 3.8. die Lutheraner durch ernftliche und 
genaue Anſchließung an die Concorbienformel wirklich es zu 
einer Lehr⸗ und Lebenseinheit bringen könnten, vorausge⸗ 
fett freilich, daß fie fich der Theologie entfchlügen. Aber 


?) Das wird nun bon proteftantifcher Seite offen zugegeben. ©. 
wiilL Goode’s Defense of the thirty-nine Articles. 
London 1848, p. 10. Der Christian Remombrancer, 
t. 16, p. 472 meint freilich, in biefer Aeußerung Tiege eine 
Höhn dreiſte Verachtung ber Kirche, deren Diener Hr. Goode 
fl. Die Sache ift aber jebem Hiſtoriker geläufig. 


218 


bie Englifche Kirche hat die Zwietracht und bie Tirchliche 
Berfeßung fchon in ihren Normen und Belenntniffen. Sie 
ift eine durch bie Uniformitäts-Akte umfchloffene heterogene 
Sammlung theologifcher Propofitionen, welche in einem 
logiſch denkenden Kopfe frhlechterbings nicht neben und mit 
einander befteben Können, und ibre Wirkung auf den Eug⸗ 
liſchen Kirchenmann tft, daß er fich in beftänbigen Wider⸗ 
fprüchen, in einer Unaufrichtigkeit, deren fchmerzliches Ge⸗ 
fühl er nur durch Sophismen zu befchwichtigen vermag, zu 
bewegen genöthigt ift. 

Beide Hauptparteien in ber Kirche werfen fich baber 
bie Befchulbigung der Heuchelei und ber Unaufrichtigkeit 
mit gleichem Rechte zu; denn bie einen Können bie calvini« 
fen Artikel nicht mit innerer Ueberzeugung unterzeichnen, 
und bie andern laffen ſich die ihnen fo antipathifche Liturgie 
nur um ber Pfründe willen gefallen, und müffen ihre For⸗ 
meln in der gewaltfamften Weife umbenten. Diele em- 
pfinden ben Wiberfprud, ver darin liegt, daß man fich durch 
Lehrartitel im Gewiffen gebunden erachten folle, während 
doch eine Autorität, welche vie Wahrheit diefer Artikel ver⸗ 
bürgte, weber vorhanden ift, noch von irgend einer Seite 
wirfiih anerkannt wird. Denn einer der Artikel erffärt 
zwar, bie Kirche habe eine Autorität in Sachen des Glau⸗ 
bens, aber fein Menſch vermag zu fagen, welches und wo 
diefe Kirche fel. Die Engliſche Staatskirche kann es nicht 


219 


fein, denn biefe hat kein Organ, und feit ver Reformation 
nie eined gehabt, es müßte benn ber politifche Supremat, 
alfo jegt der Minifter des Tages und deſſen Laien⸗Ge⸗ 
heimrath fein. 

Die gegenwärtige Zerriffenheit der Staatskirche, in 
der es weniger eigentliche Schulen als nur Parteien mit 
höchft verfchiebnen nnd widerfprechenden Anfichten gibt, 
iſt die Folge des Berfahrens bei ver Reformation und bes 
fpäteren gejchichtlichen Verlaufs. Der alte Gegenfat zwi 
ſchen genuinsproteftantifchen und altlirchlichen ober katho⸗ 
liſchen Anfchauungen hat fich von Zeit zu Zeit unter ver- 
ſchiednen Formen in dem Schooße der Kirche felbft geltend 
gemacht. Nach ber Revolution von 1688 kam dann jene 
Kaffe von Theologen und Geiftlihen, bie als bie Vor⸗ 
länfer des Nationalismus anzufehen find, die fogenannten 
Ratitudinarier, Hinzu. Der Erzbiſchof Warte äußerte ſchon 
(um 1710): Die Englifche Kirche werde nur dadurch vor 
dem Untergange beivahrt, daß ihr (durch bie Staatöge- 
walt) die Hände gebunden feien, fich felbft zu zerftören.‘) 
In der langen Zeit der völligen Erfchlaffung und Gleich⸗ 
gültigleit, die hierauf eintrat, erlofch auch ber Gegenſatz 
der Barteien. Erft gegen Ende des vorigen Jahrhunderts 
erhob ſich die ältere „enangelifche” Schule; mit ihr und 
durch den Kampf mit dem Methodismus begannen wieber 

) Calamy’s Life of Baxter, I, 405. | 


— 


—— 


einige Lebens⸗Symptome an ben bisher fo todten Gliedern 
bes Engliſchen Kirchenkörpers ſich zu zeigen. Es war eine 
Reaction gegen den geiſtloſen Mechanismus und nur wenig 
verhüllten Unglauben in der Staatskirche, und eine, aus der 
Wiedererweckung ver in dieſer Kirche ausgeſtorbenen Calvi⸗ 
niſchen Doctrin, hervorgegangene rellgidfe Bewegung. Dieſer 
frühern Generation von Evangelicals verdanken pie Engländer 
die Aufhebung der Sklaverei und bie Stifung mehrerer nützli⸗ 
hen Gefellfchaften, bie zum Theil noch in großer finanzieller 
Blüthe ftehen. Aber pas jetzige Gefchlecht ver „Evangelifchen“ 
tft im Bergleiche mit den früheren ein geſunkenes zu nennen. 
Wie die Partei jet befchaffen tft, repräfentirt fie innerhalb ver 
Staatskirche den continentalen gläubigen Proteftantismus, 
doch ohne jeden Lutherifchen Zug, viel mehr mit überwiegendem 
Calvinismus. Namentlich hat fie den calsinifchen Zug ber 
Herabfegung der Sakramente zu bloßen Zeichen. Ihre 
Lieblingslehre und wirkfamftes Werkzeug ift das Dogma 
bon der Nechtfertigung durch Imputation, welches in Enge 
land wie in Norbamerifa noch immer fehr populär ift, und, 
mit einiger Nedefertigfeit verfünpigt, Kapellen umb Kirchen 
füllt. Sie ermangeln meiftens der Univerfitätsblldung, von 
theologifcher Wiffenfchaft tft nicht Die Rede, ihre Literatur 
befteht faft nur ans Predigten und Erbauungsfchriften; 
aber fie befchäftigen fich und ihre Zuhörer viel mit apoka⸗ 
Igptifchen und chiliaflifchen Theorieen und Wahrfagungen 


a 


über ven nahen Sturz des Menſchen ber Sünde und bes 
Thieres ober die Auffindung ber zehn verlorenen Stämme 
und dergleichen. Geringer Verſtand, mangelhafte Bilbung 
und Unbelanntfchaft mit ver Welt find nach Arnolp’e 
Definition vie Kennzeichen eines Evangelical. Die Partei 
fteht den Diffenters, den Methodiſten den Eongregatione- 
fiften und. Baptiften innerlich näher als ven Hochlirchlichen und 
den glůhend von ihnen gehaften Tractarianern, mit benen 
fie kirchlich verbunden tft. 

Da es au Allem, was Theologie heißen Tönnte, bei 
dieſer Bartet gänzlich mangelt, fo iſt ſchwer zu ſagen, wie 
die einzelnen Fraktionen, in welche fie zerfällt, ſich von ein- 
ander unterfcheiden. Außer ben beiden genannten Punkten 
find Berwerfung der ganzen kirchlichen Tradition, Leugnung 
ser fihtbaren Kirche als einer göttlichen Anftelt, Behand⸗ 
Iung der Bibel nach einer jede Theologie unmöglich machen- 
ben Theorie buchftäblicher Infpiration, Verwanblung des 
Sonntags in einen jüdiſchen Sabbath, wonach den unteren 
Bollsklaffen jede Erholung, ven Kindern das Spielen und 
Lachen am Sonntage verboten wird — hervorragende Züge. 
Das fakramentale Syſtem ift in ihren Augen nur verklei⸗ 
beter Papismus. Bon ber ausgeprägt calvinifchen Record⸗ 
Partei fagt Eonybeare‘): Die Neligton mandher Mit 


ı) In feiner Schilderung der Englifchen Kirchenparteien, Edinburgh 
Review, t. 98, p. 274 ss. 








glieder derſelben ſcheine nur in ber Liebe zu ben Juden 
und in dem Haſſe gegen bie PBapiften zu beftehen. Im 
Sanzen find die Evangelicald Söhne und Enkel ver alten 
PBuritaner, nur ohne den firengen Ernſt und ohne bie po⸗ 
litiſche Sefinnung der Väter, und ohne deren Haß gegen 
bie bifchöfliche Kirchenverfaffung, vie freitich bei dem Mangel 
aller Autorität nur noch der Schatten einer hierarchiſchen 
Ordnung ift. Im Jahre 1660, als es zwiſchen Puritanern 
und Episfopalen zur Entfcheivung kam, würben bie beit» 
tigen Evangelicals wohl aus der Staatskirche ansgeichieben, 
oder ansgeftoßen worven fein. Jetzt iſt es im Grunde nur 
bie Liturgie, das „Praher⸗book“, deren Joch fie widerwillig 
tragen. „Praher⸗book Geiftliche“ nennen fie böbnifch ihre 
Gegner. Die ftaatliche Suprematte laffen fie fich nicht un» 
gern gefallen, beſonders feitbem bie Regierung viele Bi6- 
thümer mit Männern ihrer Schule beſetzt.) 


1) Welche Motive Häufig einen Geiftlichen beftimmen, fich ber 
Partei der Evangelicals anzufchließen, unb wie bie Lehrweiſe 
diefer Partei auch in den Kreifen ber reichen und faſhionabeln 
Welt beliebt wird, ift anſchaulich gefhilbert in ben Tales by 
a Barrister, London 1844, 111, 174—183. Der Geiftfiche 
findet vor Allem, daß bie Anglofathofiihe Schufe zu vie 
Hingebung an bie Kirche verlange, zu wenig für bas Intereffe 
und bie perfänliche Geltung bes Individuums forge; ex ber 
merkt, daß die Stellung bes „evangeliſchen“ Prebigere hierin 
eine weit gänfligere if. Dann bie Lehre, fo ganz geeignet, 


Die reiten Anglitaner over Hochkirchlichen 
nehmen eine Mittelſtellung zwiſchen den Euangelicals und 
den Tractarianern ein. Ste verwerfen in ber Regel die 
proteftantifche Nechtfertigungslehre und bie calviniſche Her⸗ 
abfegung ver Taufe zu einer Ceremonte, fie legen Werth 
anf die angebliche apoftolifche Succeffion des Anglikaniſchen 
Epiſkopats; fie behaupten die Eriftenz einer mit boctrineller 
Auterität begabten Kirche, aber fie verwahren fich gegen 
jede Logifche Folgerung, die aus folchen Prämifien gezogen 
werben müßte. Die Englifche Staatskirche ift in ihren Au⸗ 
gen nicht die allein wahre, aber fie ift bie reinfte, bie beßt⸗ 
verfaßte, die von allen Uebertreibungen am meiften ent 
fernte. Sie find im Grunde bie beften Söhne und ächteſten 
Repräfentanten dieſer Kirche, find auch mit den beftehen- 
den Zufländen am meiften zufrieden, in ihren Anfprüchen 
an die Ehriftlichleit ihrer Gemeinden fehr befcheiden, und 
barum auch tm Ganzen bei ben tonangebenven höheren 
Maffen vorzugsweife beliebt. Daß fie einen fo zahlreichen 
Theil des Englifchen Klerus bilden, das ift eben nur er⸗ 
Härlih bei einer Nation, zu deren Eigenthümlichkeiten 
es, felbft nach dem Urtheile von Englänbern gehört, bie 


ber eleganten Welt zu munben: „So tröftliche Anfichten von ber 
unbeilbaren Gebrechlichleit unfrer Natur, fo füße Berficherungen, 
hergeleitet aus ben berubigeuben Lehren der Erwählung und 
ber Gnade u. ſ. w.“ 


- Confequenzen einer Lehre nicht zu fehen.‘) Wie übrigens 
biefe Anglifaner früher die fortwährende Profanation bes 
Abendmahls in Folge der Zeftalte ganz in der Orbnung 
fanven, fo nehmen fie auch Leinen Anftoß an ber Begräbniß⸗ 
Ziturgie®), und bie Geiſtlichen ver Staatälirche, Evangeli⸗ 
cals wie Hochkicchliche, find wohl ver einzige Klerus in ber 
"Welt, welcher jeben, wie er auch gelebt babe, auch ben 
Diffenter, auch den Katholiken, mit ber vorſchriftsmaͤßigen 
nfiheren Hoffnung ver Seligkeit" dem Grabe übergibt.?) 
Stärker läßt es fich kaum auspräden, daß an ber Zuges 
höorigkeit zur Kirche, an ver Theilnahme an ihrem Gottes- 


) The peculiar incapacity of the English mind for perceiving 
the sequence of doctrine, jagt ber Christ. Remembranger, 
t. 86, p. 247. 


2) Doch finde ich, ba im Jahre 1852 4000 Geiſtliche dem Erz⸗ 
Biihofe von Canterbury eine Vorftellung gegen ben obligato- 
riſchen Gebrauch bes Burial Service überreidhten. Der Erz- 
biſchof Üiberlegte bie Sache mit einer Anzahl von Biſchöfen, 
und man fand, baß jeber Berfuch einer Wenberung auf ımüber- 
fleigliche Hinderniſſe ftoßen wiürbe. Christian Remembrancer, 
t. 24, p. 254. 

3) „Jeber Diffenter, ber auf einem Gemeinbelicchhof begraben wer- 
den fol, muß unter hochkirchlichem Geremoniell und unter 
Leitung bes hochkirchlichen Geiſtlichen begraben werben, b. h. 
wie man ſich ausbriüdt, bei feinem Tobe wieber in ben Schoof 
ber Engfifhen Kirche zurldieheen. Erſt im April b. I. hat 
das Unterhaus ben Antrag bes Sir M. Peto: „Den Dif 


— 
dienſte, an dem Gebrauche ihrer Gnadenmittel zuletzt doch 
nichts gelegen ſei. 
Um ſo ſchlimmer ſind die Tractarianer in der 
‚öffentlichen Meinung angeſchrieben. Dieſe Schule entſtand 
vor dreißig Jahren in Orford, zumächft in ver Abſicht, bie 
durch die Unterdrückung von zehn JIriſchen Bisthümern 
ſtark bedrohte Staatskirche aus ihrem lethargiſchen Schlum⸗ 
wer zu wecken, und ihr, indem man die Theologie und kirch⸗ 
lichen Principien des Karolinifchen Zeitalter (vd. h. ber 
Zeit von 16251680) wieder belebte, neue Kraft einzu- 
hauchen. Indeß beburfte es nur weniger Jahre, um es zur 
Evidenz zu bringen, daß die Wieverherftellung eines längft 
vorübergegangenen unb durch bie eigne Gefchichte gerichtes 
ten theologischen und kirchlichen Standpunktes ein Ding 
der Unmöglichkeit fei, und daß man im 19. Jahrhundert 
nicht mehr ausreiche mit den Bruchjtäden eines Syflems, 
bie im 17. nur willkürlich, um einer eigenthümlichen Lage 
zu entiprechen, ausgewählt worven waren. Freilich glaubte 
man, und nicht mit Unrecht, in dem noch immer mit ſtaats⸗ 
firchlicher Autorität bekleiveten „Prayerbool” ein Denkmal 
und eine Bürgfchaft altlirchlicher und antiproteflantifcher 


jenters die Beerdigung ihrer Zobten auf ben Gemeinbelicch- 
höfen nad) ihrem confeffionellen Ritus zu geftatten, mit einer 
Majorität von 81 Stimmen zurückgewieſen. Allg. Zeitung, 
1861, 1. Mai, S. 1976, 


v. Dillinger, Papſtthum. 15 


U 0) 


Anſchauungen zu befiken. Aber die Mehrheit in der Staats⸗ 
firche war eben ſtillſchweigend übereingelonnnen, dieſe Dinge 
als tobten Buchftaben auf fich beruhen zu laſſen. Die Ur- 
beber der Bewegung, und bie bebeutenpften Männer ber 
gleichen Sinnesweiſe traten in die katholiſche Kirche ein. 
Biele lenkten, als ihnen die Conſequenzen ihrer Prinzipien 
an biefem Ereigniß Mar wurben, ihre Schritte zurüd, und 
wurden ans „AUnglolatholifchen“ wieder orbinäre Anglikaner. 
Biele find indeß auch ver Bewegung treu geblieben, 

und nothwendig durch dieſelbe weiter geführt worben bis an 
bie änßerfte Gränze der Staatslirche, ober eigentlich, ben 
Prinzipien nach, noch über dieſe hinaus in das katholiſche 
Gebiet. Es find jene — man fchäkt ihre Zahl anf etwa 
1200 ®eiftlide — deren Organ das Blatt „Union“ if. 
Ste lehnen fi im Grunde geiftig ganz an bie Tatholifche 
Kirche an, fie erfennen die Nothwendigkeit einer irrthums⸗ 
(ofen Autorität in der Kirche und finden fie zugleich nur 
in der katholiſchen. Ste bleiben vorläufig nur auf Hoffe 
nung in ber Staatskirche, kommender Ereigniſſe gewärtig. 
Ratholifche Lehre und Sinnesweiſe habe, fchmeicheln fie fich, 
bereits fo feften Fuß gefaßt, im Stillen folche Fortfchritte 
gemacht, daß die Katholifirung der Englifchen Staatskirche — 
die dann freilich aufhören müßte, in bisheriger Weife Staats- 
inftitut zu fein, nur noch eine Frage der Zeit ſei.) Die 
8. die Erflärung in der Schrift: Church Parties, Lond, 1857, p. 87. 





227 


Ereigniffe find diefer Anficht nicht günftig; die Geiſtlichen 
und Laien haben den Strom ver öffentlichen Meinung in ben 
höheren und mittleren Klaſſen gegen fich, und in den untern 
ift überhaupt ver Anglifanifche Einfluß zu gering. 

Endlich Hat man neuerlich auch eine „breittirch- 
liche" Partei oder Schule im Klerus unterfchieven. Die 
Bezeichnung „Partei ift Hier kaum angemeffen, da bie 
Gemeinten eigentlich nichts Pofitives gemein haben, ihr 
Weſen nur durch Negationen, daß fie nicht Evangeli⸗ 
cals, nicht Anglilaner u. f. w. feten, befchrieben werben 
kann. Alle fteben unter dem Einfluffe ver deutſchen Li⸗ 
teratur und Xheologie, find Gegner eines feften Lehrbe⸗ 
griffes, und fuchen ſich die Widerſprüche der Anglifanifchen 
Kirchenformulare dadurch erträglich zu machen, daß fie dog⸗ 
matifchen Beftimmungen überhaupt nur einen relativen und 
- temporären Werth zugeftehen, und ein nach rationaliftifchen 
Prinzipien verflachtes allgemeines Chriftenthum für das als 
fein Wefentliche erflären '), die Staatslirche aber als bie 
anftändige und den wirklichen Zuftänden am beßten ents 
fprecdende Verförperung des Nationalwillend in kirchlichen 
Dingen ſich gerne gefallen lafjen. 

Für die ernfteren Anglofatholifchen oder Tractarianer 


’) The semi-infidelity of the Broad Church school — brüdt 
fi} the Union aus, 4. Ian. 1861. 
15* 


ift das Zoch ber ftaatlihen Suprematie in ber That ein 
eiferne® zu nennen. Alle Gewalten find gegen fie. Die 
öffentliche Meinung ift ihnen durchaus feindlich. Die 
höheren und mittleren Klaſſen find entfchieven proteftautifch, 
d. 5. allem Katholiſchen in Lehre, Ritus, Disciplin abge- 
neigt. Und fo ift denn bis jeßt jeder Verfuch, ein altkirch⸗ 
liches Element in die Staatsfirche einzuführen ober wieder 
zu beleben, an dem Widerſtande ber Staatsgewalt, ver Bis 
ſchöfe, des Volles gefcheitert, jede Streitfrage zu ihrem 
Nachtheile entſchieden worden. Sie find unterlegen im 
Rampf gegen den theologiſchen Rationalismus in der 
Hamppen-Eontroverfe; fie haben in dem Gorham- Streite 
bie doppelte Nieberlage erlitten, daß die Frage im Sinne 
und zu Gunſten der Calviniften entſchieden wurde‘), unb 
daß eine ftaatliche Laienbehörde im Namen der Königin als 
oberfte® Tribunal, ja als einziges Organ ber fonft völlig 
fiummen Engliſchen Kirche, faft von dem ganzen Klerus, 
und natürlich auch von dem Volke, anerkannt worven ift — 
ein Ereigniß, zu welchen fich keine Parallele in der ganzen 
GSefchichte der Kirche vor 1517 finden dürfte. Zugleich 


') Die kirchliche Lehre von ber Wirkung ber Taufe wurbe nem⸗ 
lich nicht verworfen, aber die calvinifche wurbe (gegen ben Bi- 
[hof von Exeter) für zuläffig erflärt, und damit ausgeſprochen, 
daß bie Englifche Kirche eigentlich gar Feine Lehre von der Zaufe 
babe, jeber alfo fi babei denken und vor bem Bolle barüber 
lehren könne, was er wolle. 


gab ver erfte Brälat von England, der Erzbifchof von Eanter- 
bury, als er von einem Geiftlichen öffentlich über die Sache 
befragt wurbe, zur Antwort: er babe in folden Dingen 
nicht mehr Gewalt und Anfehen, als jeber andre; wer nur 
leſen Lönne, ſei mit ber Bibel in ver Hand eben fo ent- 
fheidungsfähig und berechtigt als er. Sp mußten benn 
bie Lirchlich Gefinnten, nothgedrungen auf jede Autorität, 
jede Kundgebung ihrer Kirche in Fragen ver Lehre verzich⸗ 
ten. Sie mußten fih, fo Bitter e8 war, mit der Anficht 
ber Evangelical® befreunden, daß in England die Kirche 
nicht mehr ſei, als ein religiöfer Klub, den die Staatöges 
walt in Zucht und Aufficht Hält und bebormundet, biefelbe 
Staatögewalt, vie, wie in England die Epislkopallirche, fo 
in Schottland und in Ulfter den Presbhterianismus, in 
Indien den Braminismus, in Cehlon ven Bupphaismus 
ftüßt und bezahlt.“) Im Grunde aber mußten und müfjen 
fie, wenn fle nur die kirchlichen Grundjäge wirklich gelten 


9) Wie wenig Überhaupt das Britifche Etaatsfirchenthum eine 
fefte und fichere Zukunft hat, mag ſchon daraus erhellen, daß 
Schottland eine erclufive Staatslirche für etwas weniger als 
ein Drittheil ber Bevölkerung, Irland für ein Siebentel, Wa⸗ 
les für ein Zehntel, England für bie Hälfte bat. Da bie 
Englifche und die Irifche Kirche gefetlih zufammengehören, als 
bie „vereinigte Kirche von England und Irland“, fo ergiebt ſich, 
baß diefe erciufive Staatslirche nur ein Drittheil ber Bevölte- 
rung beider Länder bat. 


230 


laſſen, den kirchlichen Maßſtab anlegen wollen, bie eigne 
Kirche für ein von Härefie durch und durch inficirtes, und 
BIS ins Innerfte verborbenes Inftitut erflären, deſſen Era. 
ſtianismus jeden Verfuh der Heilung faft hoffnungslos 
made. Denu bei jevem Schritte ſtellt fich ihnen ver Laien- 
Supremat in den Weg. Gerne möchten fie 3. B. das 
euchariftifche Opfer im Tatholiichen Sinne und als gottes⸗ 
dienftliche Gemeindefeier wieder zu feinem Rechte bringen, 
aber das Staatsminifterium oder fein Geheimrath bat ent» 
ſchieden, daß fein Altar in einer Kirche errichtet werben 
bürfe, nur ein Communiontiſch, daß keine Lichter beim 
Gottesdienſte brennen dürfen u. bergl.') 

Eine neue Niederlage für alle ernfteren kirchlich gefintte 
ten Männer des Klerus ift das Geſetz des Jahvs 1858, 
welches die Ehe für aufldsbar erklärte, und ein Scheidungs⸗ 
Gericht errichtete. Die Trage war fchon früher in ver 
Anglilanifchen Kirche ftreitig gewefen. Burnet erzählt, 
baß fchon 1694 eine Spaltung unter den Engliſchen Bi⸗ 
fchöfen darüber ausgebrochen fei, da alle Älteren unter 
Rarl II. und Ialob DL ernannten Bifchdfe gegen die Auf⸗ 
Löfung einer Ehe wegen Ehebruchs, die neuen aber, bie 
feit der Revolution ernannt worden, ſämmtlich für die 
Wiederverheirathung fich ausgeſprochen hätten.) Dießmal 


3) Hengſtenberg's Kircdhenzeitung, 1868, 791. 
) History of his own time, ed. 1888, p. 601. 


gab es nicht einmal zwei Parteien unter ben Biichöfen, 
feiner erklärte fich entſchieden für das Princip ber Unauf⸗ 
tösbarfeit. Der Biſchof Wilberforce von Orforb neigte 
ſich zwar dazu bin, begnügte fich aber doch, nur überhaupt die 
Entfcheidung ber Frage für die Kirche in Anfpruch zu 
uehmen, und über die Härte zu Hagen, bie barin liege, daß 
eine, zu beträchtlichen Theilen nicht einmal in ber kirchlichen 
Gemeinfchaft ſtehende Körperichaft, wie das Parlament, fich 
das Recht beilege, über Gottes Geſetz bezüglich der Ehe zu 
entjcheiven. Mit vemfelben Rechte könne es auch fordern, 
über Zaufe, Abendmahl und die Glaubensbekenntniſſe jelber 
zu entfcheiven. Der Biſchof fcheint vergefien zu haben, 
baß eben bieß erſt kürzlich in dem Gorham⸗Falle geſchehen, 
daß bier wirklich über Laufe und Glaubensbelenntniß ent» 
fchieden worden war. Ob das der Geheimrath oder das 
Parlament thut, ift doch wohl gleichgültig, da der Geheim⸗ 
Rath nur in Folge des Parlamentswillensd eriftirt. Bet 
der Trage, ob bie Anglifanifchen Geiftlichen gehalten fein 
follten, eine in Folge der Scheidung gefchloffene zweite Ehe 
zu trauen, hatte ver Attorney-General erklärt: es jet 
die Pflicht der Geiftlichen, al8 Diener ver Nationalficche, 
zu thun, was immer der Staat anorpne. Das fand nun 
der Biſchof von Oxford ſehr Hart; Hiermit fei bas Bild 
einer völlig entwürbigten, vemoralifirten uud religiös ohn⸗ 
mächtigen Kirche gezeichnet; die bitterften Feinde der Kirche 


hätten bisher nichts Stärkeres über ihre ſchmachvolle Skla⸗ 
verei geſagt.) Impeflen, ‚wenn man von bem in England 
verfaffungsmäßig beftehenden Staats -Supremat ausgeht, 
läßt fich doch Togifch und juriftifch fein andrer Schluß ziehen, 
als ver des Attorneys®eneral. Findet der Klerus, 
baß diefe Stellung für ihn fchimpflich fei, fo tft eben an 
bie Fabel von dem Hofhunde zu erinnern, ber für bie Des 
quemlichleiten feines Lebens und vie Qunftbezeugungen feines 
Herrn an ber Kette zu Liegen fich gefallen laffen muß. 
Lord Chatham fagte zu feiner Zeit, die Englifche 
Kirche babe calvinifche Artifel, einen papiftifchen Gottes⸗ 
dienft und einen Arminianifchen Klerus. Das Wort ift in 
das alfgemeine Bewußtfein übergegangen, obgleich die Be⸗ 
zeichnung der dogmatifchen Gefinnung des Klerus jetzt nicht 
mehr, ober nur infofern noch paßt, als die große Majorität 
des Klerus mit den Arminianern die beiden Haupt- nnd 
Lieblingslehren der Neformationdzeit, nämlich die Nechtfere 
figung durch Imputation und bie calvinifche Präpeftination 
berwirft. Aber vie Thatſache, daß es der Staatskirche an je⸗ 
der auch nur fcheinbaren Einheit ver Lehre und der Ge⸗ 
finnung gebreche, ift jedem gebildeten Engländer wohl be» 
kannt, und wirb fo zu fagen als etwas Natürliches und fich 


1) &. oharge of the Bishop of Oxford 1858, im Christian 
Remembr. t. 35 p. 258 


von felbft Verſtehendes hingenommen. Ste Hat vie 
Wirkung, daß felbft dem religiös gefinnten Engländer das 
Dogma als etwas verbältnigmäßig Bebeutungslofes und 
Untergeordnetes erfcheint, womit man e8 nicht genau zu 
nehmen brauche, und bie weitere Folge, daß mau Geiſt⸗ 
lichen der Staatskirche, da fie fich troß der winerfprechenpften 
Aufichten zu venfelden Formularen bekennen, in Sachen ver 
Lehre fein Vertrauen ſchenkt.) 

Hieraus erflärt ſich auch die Thatfache, daß Im Allge⸗ 
meinen unter bem Klerus eine gewiffe Furcht vor ver Theo» 
logie und eine Abneigung gegen theologifche Studien herrſcht. 
Profeſſor Huffey hat in feiner legten Rede zu Oxford kurz 
vor feinem Tode beklagt, daß das Studium der Theologie 
in England ausfterbe.) In einer theologifchen Zeitſchrift 
wurde jüngf behauptet: in Orforb gebe es nicht ſechs Geiſt⸗ 
liche mehr, vie mit Theologie fich bejchäftigen.?) Das iſt 


!) The result is, that the preachers of truth in their own 
place and office, are the very last persons in the nation 
to be believed; that the pulpit is as little trusted for 
sinoerity as that appointed resort of hired advooacy, the 
bar. eto. Westminster Review, t. 54, p. 485. 


2) Christian Rememhrancer, Octob. 1860, p. 325. 


2) Eeclesisstic and Theologian, Deoembr. 1860, p. 547 ss. 
Der Artikel if Aberfchrieben: intelleotual declension of the 
clergy. 


— _ 


begreiflih. Die meiften ‚bebeutenden tbeologifchen Werte 
jängfter Zeit find von Männern gefchrieben worben, welche 
bald darauf katholiſch wurden.) Seitvem find es bie Breit» 
tirchlichen oder Germaniſirenden Nationaliften, deren theo⸗ 
logiſche Schriften fait allein größere Beachtung gefunden 
haben. Die Evangelicals find ohnehin mit Sterilität ge 
ſchlagen, und alle befjeren Köpfe der jüngeren Generation 
wenden fi mit Widerwillen und Geringſchätzung von die⸗ 
fer verlommenen Schule ab, deren Bilpungsftufe durch⸗ 
ſchnittlich kaum die eines guten deutſchen Schulmeifters 
erreicht.) Die Anglikaniſche oder bochlirchliche Schule aber 
bat es nie, auch in ihrer Blüthezeit nicht, zu einer ſhſte⸗ 
matifchen und umfafjenden Theologie gebracht. Nur Au⸗ 
fäge, nur Bruchftäde finden fich bei ihren Theologen. Es 
iſt ſehr charalteriſtiſch, daß die ganze Anglilaniſche Kirche 
nicht ein einziges Syſtem oder Handbuch der Dogmatik auf⸗ 
zuweiſen hat.) Es fehlt eben dieſer Kirche an allen feſten 
bogmatifchen Principien, wie ſchon der treffllide Aleran- 


) Newman, Wilberforce, Manning, William Bal- 
mer, Allies m a. 

?) Jowett, Maurice, bie Berfafier ber Essays and Re- 
views etc. 

3) Pearson’s Exposition of the Creed, welches ben Jüngeren 
als Lehrbuch in die Hand gegeben wird, Tann doch auch bem 
bürftigften Unforberungen nicht genügen. 


ber Kuor beklagt Hat.) Ein theologifches Syſtem, eine 
Dogmatik feht voraus, daß man doch wiffe, was bie Kirche 
lehre. Das weiß aber in England Niemand, und. kann 
Niemand wiffen — felbft nicht der Premierminifter nnd 
fein Geheimrath. Wäre 3. B. ein Handbuch ber Anglika⸗ 
nifchen Theologie vor der Entfcheidung des Gorham-Streites 
herausgegeben worden, fo hätte basjelbe nach dieſer Ent 
ſcheidung völlig umgegoffen werben müflen, da das Princip, 
das dadurch verworfen, und das andre, welches damit feft- 
geftellt wurbe, ein den ganzen Organismus ber Lehre bes 
herrſchendes ift. Denn bie Frage, die burch biefe berühmte 
Enticheivung des Geheimrathes verneint wurde, war, ob 
das Dogma von der fatramentlihen Wirkung ver Taufe, 
Lehre der Anglilanifchen Kirche fei. Die Anficht der Evans 
gelicald, wonach bie Taufe ein bloßer Weiheritus ift, er⸗ 
hielt biemit Bürgerrecht in der Anglilaniichen Kirche, und 
das ift, auch nach ber Anficht der Lutherifchen Theologie, 
„eine Häreſie, welche allein für immer jede Bereinigung 
(von Zutheranern und Reformirten) unmöglich macht.” ”) 
Dean Tann von der Engliſchen Staatslirche fagen, 
daß fie, wie ein Indiſches Götzenbild, viele Köpfe (und je 
den mit eignen „Anfichten“) aber wenig Hände bat. Ihr 


*) Remains. London, 1837, 1V, 283. 
2?) Kahnis: die Sache ber lutheriſchen Kirche gegenüber ber 
Union. Leipzig, 1854, ©. 17. . 


RB 2% 


Zuftand ber Unfreiheit, Traft deſſen fie, angebunden an bie 
Mäder des Staatswagens, von dieſem willenlos durch did 
und dünn fi) nachfchleppen laſſen muß, wirkt um fo ver- 
berblicher, als er der Schwäche, der Trägbeit und der Un⸗ 
schläffigkeit im Klerus willtommene Vorwände zur Beſchö⸗ 
nigung feines Nichtsthuns darbietet. Ein großer ‘Theil der 
Geiftlichen bringt, zufrieden mit feiner fonntäglichen Leſe⸗ 
Abung, bie Übrige Zeit mit Weib und Kind und mit Bes 
fuchen zu.) Und unterbeß exiſtiren Millionen in England, 
welche nach ber Fiktion einer allgemeinen Nationalreligion 


I) Erf vor einigen Monaten bat eine ſtaatskirchliche Zeitſchriſt bie 
Bemerkung gemacht: Perhaps no men in any other pro- 
fession under the sun spend so much time with their 
wives and children. Ecclesiastico and Theologian, Dechr. 
1860, p. 558. &o hat man in England zwei moberne Hã⸗ 
vefieen, die den Mäglichen Zuſtand ber Kirche haben berbeis 
führen helfen, erſtens: the Gentloman-heresy, über welche ber 
verflorbene Froude häufig Magte, (d. h. bie Borftellung, daß 
ber Geiflihe vor Allem ein *Gentleman“ fein unb als folder 
fi zeigen mäfle), und von ber auch Edw. Lytton Bulwer 
(England and the English p. 214) fagt: The vulgar notion, 
that „olergymen must be gentlemen born‘‘, is both an 
upstart and an insular opinion. Zweitens: the „domestio 
heresy“, bie darin befleht, daß vor lauter Familienleben bie Ge⸗ 
meinbe leer ausgeht. Indeß iſt die Verheirathung der Geiftfichen 
nach der richtigen Bemerkung eines berühmten Engliſchen Digei- 
tare, bie feſte Baſis, anf welcher die Kirche von England ruht, 
durch welche fie zufammengehalten wirb. Ohne bieß wärben 


237 


Mitglieder der Staatskirche find, von denen aber nie ein 
Geiftlicher diefer Kirche Notiz nimmt, und von benen Tau 
fenbe den Namen des Erldſers nie gehört, nie ausgefprochen 
haben. 

Die wärmften Anhänger ver Stantslirche beklagen ihren 
Mangel an Einfluß auf das Volk, ihre geiftige und mo⸗ 
ralifche Ohnmacht. Alexander Knox meinte: innerlich fet 
die Englifche. Kirche die vortrefflichfte von allen, aber frei 
lich auch die praftifch unwirkſamſte.) Wenn die ganze bis 
fchöflihe Verfaſſung abgefchafft würde, fagt Hallam, fo 
würbe dieß in der Religion des Volles Teinen irgend bes 
merfbaren Unterfchiev machen.) Die katholiſche Vorſtel⸗ 
fung, daß die Kirche die Bewahrerin der geoffenbarten 
Heilswahrheit, die göttlich beftellte Lehrerin fei, ift dem 
Engländer fremd. Die wahre Kirche, fagt Carlhle nicht 
mit Unrecht, befteht jet in den Herausgebern der politi» 
fchen Tagesblätter; dieſe find es, die dem Volle täglich 
und wöchentlich prebigen, mit einer Autorität, wie fie fonft 
nur die Reformatoren oder bie Päpfte hatten, ?) 


die fonft fo fehr an Freiheit und Gelbfiregierung gewöhnten 
Engländer das Joch der minifteriellen Guprematie nicht fo 
zahm und gebufdig ertragen. 

') Remains. London, 1832, I, 51. 

?) Constitutional History of England. Il, 238, 

3) Miscellanies. U, 165. 


Die Kirche von England erklärt bie reine Lehre, den 
rechten Gebrauch der Sakramente und die Hanbhabung ber 
Disciplin für die drei Kennzeichen einer wahren Kirche. 
Ste ſelbſt aber hat Feine fefte Lehre, denn ihre Formeln 
widerfprechen fich, und, was ber eine Theil ihrer Diener 
lehrt, gilt den andern für feelenvergiftende Irrlehre. Sie 
ft zudem ftumm und unfähig, ihre wirkliche Gefinnung, 
wenn fie auch eine hätte, in irgend einer Form kund zu 
geben. Ueber vie rechte Verwaltung der Sakramente bes 
fteben in ihrem Schooße ähnliche Widerfprüche, wie über 
das Dogma, und was vollends die Disciplin betrifft, hat 
fie auch ben letzten Schein einer folchen verloren. Wie 
önnte auch von irgend einer Correctiv- Zucht in einer Ge 
noffenfchaft ‚Die Mebe fein, welche jeven, wie er auch ges 
lebt, welche Sündenkette ſich auch durch fein ganzes Leben 
bis zum Tode, ohne jedes Zeichen der Buße, hindurchziehen 
mag, am Grabe felig fpricht, ſelbſt alfe jene felig ſpricht, 
die auch nicht einmal äußerlich oder nominell zu ihrer Ge 
meinfchaft gehören mochten. Wie verberblich diefes von 
der Liturgie vorgefchriebene allgemeine Seligiprechen am 
Grabe wirkte, welche falfche Sicherheit e8 in ven Gemüthern 
erzeuge, das ift von Englänbern mit erjchütternder Schärfe 
gefchildert worven.‘) Aber auch bier ift die Kirche eben 


) Bergl. z. B. Thorn's fifty Tracts on the State Church. 
Tract. XII, p. 3. 


a 


rath⸗ und hilflos, fchon durch die Furcht, daß jede Aenverung 
in der Liturgie von den Evangelicals als Brefche zu durch⸗ 
greifenderen Veraͤnderungen benütt werden würbe. 
Uebrigens ift die ganze Exiſtenz der bifchöflichen Staats⸗ 
Kirche im Grunde bereits ſchwer bedroht, und ihre Aufe 
fung nur noch eine Frage ber Zeit. Sie ift völlig in 
der Gewalt des Unterhaufes und des jedesmal aus deſſen 
Moajorität hervorgehenden Kabinett; das Unterhaus zählt 
aber jett fchon eine bedeutende Anzahl von Diſſenters, vie 
alle Feinde der Staatskirche find, und von Katholiken, ber 
Juden nicht zu gedenken, in feinem Schooße. In dem 
Maße, als durch neue, das Wahlrecht erweiternde, Reform⸗ 
bills die demokratiſch gefinnten Mittelklaſſen zur Herrichaft 
gelangen werden, wird auch durch die combinirte Feind» 
fchaft der Selkten-Anhänger und ber an Zahl und Einfluß 
mit jevem Jahre wachſenden Religionslofen erft der gegen- 
wärtige Beftand der Englijchen Kirche alterirt werben; man 
wird fie, etwa in ber Welfe, wie es im Wanbtlande ges 
fchehen, noch feiter in die Bande bes Staatöwejens und 
des Majoritätöwillens einfchnüären, und damit wirb dann ber 
ohnedieß fchlecht gefügte Organismus auseinanbergehen, und 
werben bie ernfteren und tieferen Geifter aus einer Kirche 
entweichen, in welcher das boppelte Joch ftantlicher Zwingherr⸗ 
lichkeit und gezwungener Gemeinfchaft mit fremder Lehre 
ihrem Gewiſſen und Ehrgefühl nicht länger zu bleiben geſtattet. 


Wenn man bie proteftantiihen Selten Eng- 
lands als ein Ganzes. nimmt, fo erfcheinen fie blüähenb 
un lebensk räftig. Sie haben fich im Laufe von 200 Jahren 
einen breiten Boden erftritten, haben ihrer Gegnerin, ber 
Staatskirche, Millionen Engländer entzogen, und liefern 
einen glänzenden Beweis, welche Kraft ber Aſſociation, 
welche Gabe der Organifation dem Angelfächfiichen Stammte 
innewohnt. Sie genteßen ber volllommenſten Freiheit, ordnen 
ihre Angelegenheiten ganz nach Gutdünken, der Staat übt 
auch nicht einmal ein Auffichtsrecht über fie, und mit einem 
nicht umberechtigten Gefühle der Verachtung bliden fie auf 
die Hilflofigkeit und Knechtſchaft der Staatskirche, welche in 
ihrer Berriffenheit, ihrem Mangel aller feften Lehre und 
lirchlichen Disciplin, ihrer Unfähigkeit, eine den Bebürfniffen 
der Bevölkerung entjprechende Thätigleit zu üben und ben 
Kreis derſelben zu erweitern, ven Vergleich mit freien Ge⸗ 
meinfchaften fcheuen zu müſſen fcheint. Bei fehr vielen, 
die ſich von der Staatskirche getrennt, mag ber Wunſch 
mitgewirkt haben, einer fo erniebrigten, und an ber Erfüllung 
der erſten und einfachiten Pflichten und Aufgaben ver 
Kirche gehinverten Inftitution nicht länger anzugehören. 
Gewöhnlich ift es aber doch ein anderes Motiv, welches 
ı die gewerbtreibenden Mittelllaſſen aus ber Staatskirche 
heraus und einer der Diffenter-Selten zuführt. Der prak⸗ 
tifche Engländer will eine Lehre vernehmen, bie bequem, 


241 


verftänblich, tröftlich und berubigenb fei, bie feinen Nei- 
gungen, feiner vorherrſchenden Richtung und feinem Selbft- 
gefühl fchmeichle. Alle dieß findet er in ber calviniſchen 
Lehre, wie fie von den Diffenter-Selten aufgefaßt und ges 
handhabt wird. Der Menſch wird hier augewiefen, durch 
einen Akt der bloßen Imputation frember Gerechtigleit rafch 
in den Zuſtand der vollftänbigften Sicherheit und Heilsge⸗ 
wißheit überzugehen. Er glaubt, fo feit er nur kann, daß er 
ein Auserwählter ſei, daß er, in bas Verbienft bes Erlöjers 
gehüllt, vor Gott als gerecht gelte, ohne es noch innerlich zu 
fein, unb daß ihm biefer Stanb der Gnade und die Krone 
des ewigen Heils nie mehr verloren geben könne. Er weiß 
nicht anders, als daß Alles darauf anfomme, eine recht 
günftige Meinung von dem eigenen Zuftande zu haben. 
Dieß ift die „Zuperficht“ '), welche in dem religiöfen Leben 
Englands und Amerifa’s eine jo wichtige Rolle fpielt. Pre⸗ 


1) Assurance. Jonathan Edwarbs, ber berühmtefte unter 
den Amerilaniſchen Xheologen, bemerlt: er kenne kaum ein 
einziges Beifpiel, baf ein Menſch, der einmal in Folge einer 
fo leichten und fo häufig vorlommenben Selbſttäuſchung in ber 
falfchen Gewißheit feines Gnadenſtandes fich befeftigt babe, je 
enttäufcht worben fe. Denn bei ber natürlichen Neigung ber 
Menſchen zu Selbſtſchmeiche lei unb Selbfterhebung fehle bie Vor⸗ 
fit des Geiftes unb bie Furcht, fih zu täufchen, faft Allen. 
Treatise concerning religious affeostions. Works, London 
1839, I, 257. 

v. Dillinger, Papſtthum. 16 


242 


biger auf öffentlichen Plägen, wie in ben Kapellen und Kir⸗ 
chen verlündigen ihren Zuhörern unmittelbare und gewiſſe 
Bergebung aller Sünden, und Sicherheit des Held, um 
ben Preis einer momentanen Aufregung und Concentration 
bes Gefühle. Dieß beißt das „Evangelium in feiner Fülle 
und Freiheit“ prebigen. 

So dreht fich die innere Geſchichte der Sekten wejent- 
lich um die Rechtfertigungslehre, und was bamit zufammen- 
hängt, und man mag fagen, baß fie weder ohue biefe Kebre, 
noch mit verjelben zu eriftiren und zu gebeihen im Stande 
find. Nicht ohne dieſe Lehre, denn wo fie aufgegeben wor» 
ben, da war auch der Talisman, ver die Menfchen zur 
Sekte hinzog und in berjelben fefthielt, gebrochen, unb der 
Berfall der einzelnen Gemeinde, in ber bie Lieblingslehre 
nicht mehr vernommen wurbe, ober ber ganzen Denomina- 
tion, ließ nicht lange auffich warten.") Aber auch mit biefer 
Lehre konnten die Sekten nicht geveihen, benn bie moralifch- 
religiöfe Wirkung war ftet8 eine höchſt nachtheilige. Man hat 
fih in England gewöhnt, das Gewebe von Vorftellungen, 
welches fich regelmäßig aus dem Vortrag der Rechtfertigung®- 
Lehre in calvinifcher Form erzeugt, Antinomianiemus 
zu nennen; bie angefebenften Theologen, Barter, Wil 





1) J. Bogue and Bennett: History of the Dissenters. 
III, 318. 





—— 


liams, Bull und andere haben ſchon im 17. Jahrhundert 
gezeigt, daß das, was man fo nenne, nichts anderes als 
das Achte calviniſche, bis in feine Harften und unabweis- 
barften Confequenzen verfolgte Syſtem ſei. Und fo bes 
gegnet man in ber Befchichte und Literatur dieſer Kirchen 
und Selten ven ftetS fich erneuernven Klagen über bie 
Bet des Antinomianiemns'), oder, was boch iu der That 
völlig dasſelbe war, des Calvinismus, der bie Gewifſen 
verhärte, und fie in eine falfche Sicherheit einwiege.) Die 
Genoſſenſchaft der Baptiften war, nach dem ſtarken Aus⸗ 
drude ihres Prebigerd Fuller, nahe daran, mit ihrem Cal⸗ 
viniemus ein moralifcher Mifthaufen zu werben.?) _ 


Will man das Weſen gemachter Religionen recht er- 
fennen, jo muß man vie Englifchen und Amerilanijchen 
Selten und Diffenters Barteien fludiren. Das Chriften- 
thum ift ein Teig, ber in ihren Händen in bie ihnen be« 
quemfte Geftalt gefnetet wird. Das erſte Requiſit ift eine 
leicht überfehbare, in ein paar Gedanken und Gefühle ſich 


’) Bogueo and Bennett. IV, 390. 

2) Starle Geftänbniffe barliber bei Robert Hall, dem beden⸗ 
tendfien unter ben Baptiften- Brebigern: Difference between 
Christian Baptism and that of John, p.68. (Auch in feinen 
gefammelten Werten, 1839, III, 123.) 

2) Morris Life of A. Fuller. Lond. 1816, p. 267. Baptists 
would have become a perfect dunghill in society. 

16* 


244 


zufammenbrängende, ven berrfchenben Neigungen und ber 
Lebensrichtung ber Mittelllaſſen, ber Handel» und Gewerbtrei« 
benden, fich freundlich aflommobirende Lehre. Aber fefte, ge- 
nau fich ausdrückende Belenntniffe werben als ein läftige® 
Joch angejeben, welchen weber Prediger noch Gemeinden 
fich unterziehen mögen. Bon ver eignen Genoffenfchaft 
Haben die Diffenter in ver Negel eine geringe Meinung, 
das heißt: fie find weit entfernt, fie al® das anzujehen, 
was dem Katholilen Die Kirche ift: als eine göttliche, mit 
Kraft und Anſehen von Oben ausgerüftete Anſtalt. Sie 
wiften ſehr wohl, daß ihre Selte ober kirchliche Ordnung 
nur ein fehr fpätes für beſtimmte Zwecke erfunbenes Pro⸗ 
buft iſt.) Sie behalten fi) das Recht vor, ihre Einrich- 
tungen nad Gutdünken zu änbern. Vene objeltive, vor 
Irrthum in ber Lehre fichernde Gewißheit, welche bie Kirche 
in Anfpruch nimmt, bat für ven praltifchen Engländer 


1) What shop do you go to? „Welchen Kramlaben beinchen 
Sie? pflegt der Engländer ber Mittelfaffen zu fragen, um zu 
erfahren, welcher Kirche ober Diffenter- Gemeinfchaft Jemand 
angehöre.” Bon einem Prebiger fagt man: He works that 
Chapel, wie man fagt: he works a manufacture. In ber 
That find die Kirchen und Kapellen häufig „shops“; fle wer 
ben auf Speculation erbaut, und ber Eigenthümer pflegt, wenn 
ber von ihm gemiethete Prebiger nicht genug Anziehungskraft 
befitt, um bie Kapelle gehörig zu füllen, ihn zu entlafſen, unb 
einen andern anzuwerben. 


a 


der Mittelliaffen einen Werth; ihm kommt Alles auf bie 
fubjective, eigne Unfebhlbarkeit an; er braudt ein Syſtem, 
das ihm vie leicht zu erwerbende Gewißheit feiner eignen 
Auserwählung, Begnadigung und Seligleit gewähre.. Hat 
er diefe, fo machen ihm dogmatiſche Bedenken, biblifche 
Dunfelheiten feine Sorge. Er bat einen entfchievenen 
Wiperwillen gegen religiöje Gebräuche, Symbole, Uebungen, 
gegen ben Eult der Anbetung Gottes, gegen das Knieen. 
Saft Alles in ver Religion, was nicht Predigt ift, fällt bei 
ihm in ven weiten Schlund ver „Superftition“, beten Deich 
für ihn unermeßlich ift. Doch Hält er gerne ven „Sabbath“, 
d. 5. er arbeitet nicht an dieſem Tage, und hört prebigen, 
und figt lieber über Form und Inhalt ber Prebigt zu Ges 
richt, als daß er ſich demüthig und anbetenb vor Gott 
niederwürfe. 

Wie wenig im Ganzen durch die freien oder Diſſenter⸗ 
Gemeinden für die Millionen von Armen geleiſtet wird, er⸗ 
gibt ſich aus der Bemerkung, die Dr. Hume vor dem Co⸗ 
mite des Oberhauſes machte, daß, wenn ein Diſtrikt ver⸗ 
arme, die Diſſenter⸗Congegration gewöhnlich wegziehe, und 
ſich anderswo bilde.) Die Prediger find, ausgenommen 
bei ven Methodiſten, völlig abhängig von den Gemeinden, 
meift karg befolvet, und in fteter Furcht, auch von ihrem 
— — ¶ 


1) Christian Remembrancer, 1860, I, 97. 


Heinen Gehalt noch einen Theil durch Unzufriedenheit ober 
größere Sparfamleit der Eongregation zu verlieren. Die 
Zuhörer bes Prebigers find feine Richter und feine Ges 
bieter; fie entfcheiben, ob feine Vorträge gemäß dem Maß- 
ftabe ber Sekte orthodox, evangelifch und erbauenb feien 
ober nicht, und davon hängt feine Eriftenz ab. Bor Allem 
wollen die Gemeinden ihre Lieblingslehren immer wieber 
vernehmen, wollen hören, daß der Menfch zu feinem Seile 
nichts zu thun brauche, ald nur das Verdienſt Ehrifti fich 
zuzurechnen, und feſt an feine eigne Erwählung und Bes 
gnabigung zu glauben‘); daß fie Erwäßlte feien, daß nur 
fie im Befige des reinen, unverfümmerten Evangeliums, 
ihre Genoffenfchaft die ächtefte und beßte unter pen Kirchen 
fei.) Würde der Prebiger fi unvorfichtiger Weile bei- 
geben laſſen, bie in feiner Gemeinde herrſchenden Lieblings» 
Sünden und Gebrechen, beſonders die der Reicheren, ernſt⸗ 
[ih zu rügen, fo wäre er verloren. Sobald, fagt Thoma 8 


3) Bergl. British Critic. VII, 282. Reinſten Calvinisınus ver⸗ 
fündet denn auch ber befiebtefte unter ben Engliſchen Prebigern 
bes Tages, Spurgeon, ber feinen zahlreihen Zuhörern 
gerne vorfagt, wie unfehlbar gewiß er feiner ewigen Geligfeit 
fei, fo baß eigentlich nur zwei Dinge für ihn paßten: Oymmen 
fingen und fchlafen. &. Spurgeon's Gems, Lond. 1859, 
und das Saturday Review darüber, 1859, I, 840, 

2) Man vergleiche bie anfchaulihe Schilderung ber Lage eines 
Diffenter-Brebigers im Christ. Remembrancer, 1860, Il, 86. 





247 


Scott, einer der beveutenbften Theologen unter ben Evan⸗ 
geltcals, ein Prediger in vollem Ernfte fi an die Gewiflen 
feiner Zuhörer in eindringenber, praßtifcher Weife zu wen⸗ 
ben beginnt, bildet fich eine Partei gegen ihn, um ihn zu 
cenfuriren, einzufchächtern, ihn zu entmuthigen, ihm zu 
widerfteben, ihn auszuftoffen.‘) Doc auch ohne folchen 
Anftoß zu geben, mag er nach einigen Jahren fich auf einen 
Wink, zu refigniren, gefaßt machen, wenn er fich etiva aus» 
geprebigt bat, ober wenn bie Gemeinde müde wirb, immer 
denfelben Mann und diefelben Phraſen zu hören, ober auch, 
wenn feine Fran ober feine Töchter durch allzuforgfältige 
Kleidung das Miffallen des weiblichen Theils ber Congre- 
gation erregt haben, oder wenn er bei einer politifchen 
Wahl nicht für den Candidaten der Mehrzahl geftimmt Bat. 


Die alte Presbyterianiſche Genoffenfchaft, einft Die 
ftärkfle und einflußreichfte unter den nichtbifchöflichen Ver⸗ 
bindungen, iſt im Laufe des vorigen Jahrhunderts in England 
zu Grunde gegangen, und bamit ift das ächte Puritanerthunt 
ausgeftorben. Der Grund lag hauptſächlich in der Ver⸗ 
änderung der Lehre. Die angejehenften Theologen der 
Partei, Richard Barter und Daniel Williams 
hatten die Widerſprüche der calviniſchen Nechtfertigungs- 


1) John8cott: Lifeofthe rer. Thomas Scott. Lond. 1836, 
p. 136. Die ganze Schilderung ift Ichrreich. 


248 


Lehre und ihre unabweisbaren ethifchen Conſequenzen fo 
Har und ſcharfſinnig dargelegt, daß die meiften Gemeinden 
biefer Lehre entſagten, und nach der damals geläufigen Be⸗ 
zeichnung Arminianif wurden.) Damit war aber das 
geiftige, die Genoffenfchaft zufammenbaltende Band gelöft, 
und in den leßten Jahren des 17., dem Beginne bes 18. 
Jahrhunderts trat bereits die innere Zerfegung ber Pres⸗ 
byterianer-Gemeinven ein. Mehrere verjelben nahmen ben 
damals von einigen Theologen, auch der Staatsfirche, em⸗ 
pfohlenen Arianismus an, und giengen von da naturgemäß 
in furzer Zeit zum Socinianismus über. So find die heu⸗ 
tigen Unitarier-Gemeinden entitanben, bie jetzt, faft 
alle chriftlidhen Hauptlehren verwerfend, obngefähr auf ver 
Stufe ftehen, die in Deutjchland die freien Gemeinden ein⸗ 
nehmen. Bon den 229 Unitarifchen Kapellen, vie im Sabre 
1851 beftanven, find 170 urfprünglicy Presbpterianifche ges 
wejen. Die calvinijch bleibenden Presbhterianer verfchmolgen 
mit den Independenten. Doch gibt e8 gegenwärtig in Eng⸗ 
land 160 Presbyterianiſche Gemeinden mit calvinijcher Lehre, 
bon denen indeß bie meiften Schottifchen Urſprungs find, 
oder aus eingewanderten Schotten beftehen, und mit Schot« 
tiſchen Selten in Verbindung getreten find.”) 


1) Bogue and Bennett, Il, 303 (new edition). 
?) Mann’s Census of religious Worship, p. 1. zxvııt. 





249 


Ein längeres Leben, als den Presbyterianern befchie- 
ben war, mögen fich die nun etwa hunvertjährigen Metho⸗ 
biften oder Wesleyaner verfprehen. Sohn Weslen, 
nebft Barter wohl der bebeutendfte Mann, den das Pros 
teftantifche England hervorgebracht Bat, wollte im Grunde 
feine Kirche neben die Staatslirche ftellen, fonvern nur eine 
Hilfsgeſellſchaft errichten, aber unter feinen Nachfolgern, 
befonders durch Bunting, welcher der Verbindung erft 
ihre feite Organifation gab, tft aus der Gehilfin eine Neben- 
bublerin geworben, und, früher nur eine „Connexion“, nennen 
fih die Wesleyaner feit etwa 25 Jahren eine Kirche, be= 
haupten indeß fortwährend, in ver Lehre mit der Staats⸗ 
lirche einig zu fein. 

Auh in Wesich’s Genoſſenſchaft bildet die Rechtferti⸗ 
gungslehre den Wendepunkt und zieht ſich wie ein Schick⸗ 
ſalsfaden durch die Geſchichte der Sekte. Wesley ſelbſt 
hatte ſich bezüglich dieſer Lehre in den grellſten Widerſprü⸗ 
chen und Sprüngen von einem Dogma zum entgegengeſetzten 
bewegt. Zehn Jahre lang ſei er, ſagt er, im Grunde ein 
Papiſt geweſen, ohne es zu wiſſen, und habe die Rechtfer⸗ 
tigung durch Glauben und Werke gelehrt, dieſen verderb⸗ 
lichſten unter den Irrthümern Roms, im Vergleich mit welchem 
die anderen Irrlehren dieſer Mutter aller Gräuel unbedeu⸗ 
tende Kleinigkeiten feien.') Aber fein Eifer für die Lieblingslehre 

1) Bouthey’s Life of Wesley, I, 287, 288. 


a _ 


Luthers und Ealvins hielt nicht ange vor. Die Erfahrung eini⸗ 
ger Iahre überzeugte ihn, fowie feinen Bruder und Gehilfen 
Karl Wesley, daß proteftantifche Slaubensgerechtigkeit und 
calvinifche Präbeftination ver Ruin alles ernfteren religidfen 
Lebens feien. Antinomianiemus, fagt er, fet für das Ges 
beihen feines Werkes ein größeres Hinberniß geworben, ale 
alle andern zufammengenommen, und babe ben größten 
Theil des viele Jahre lang von ihm ausgeftreuten Samens 
zerſtört.) „Wir möüffen alle unterfinten (durch ben 
Solifivianismus), fehrieb fein Bruder, wenn wir nicht Ja⸗ 
kobus zu Hülfe rufen”) Im Jahre 1770 gab John 
Wesley feiner Gefellfchaft das Signal zur dogmatiſchen 
Umfehr, und es zeugt von ber perfönlichen Größe des 
Mannes und von feiner wunderbaren Gabe der Geifterbe- 
berrihung, daß er, ohne feinem Anfeben Eintrag zu thun, 
ein fo öffentliches und unummunbdenes ÜBelenntniß feines 
Irrthums in einer chriftlichen Grundlehre ablegen durfte, 
daß er wirklich feine ganze Sekte zu beivegen vermochte, 
ihre Lehre zu ändern, aus Calviniſten Arminianer zu wer» 


) Southey, 1, 318. 
t) Fletcher’s Works. London 1836, I, 105. 


2) Die Proclamation (minutes) Wesley's fteht bei Bouthey, 
11, 866, und vollftänbiger in bem Werke: Life and Times of 
Selina Countess of Huntingdon. London 1841, 11, 236, 


251 


ben.) Hundert anbere Seltenftifter wären an einem ber. 
artigen Verſuche gejcheitert. Eine wirkſame Stüge fanb 
er dabei an feinem Freunde Fletcher von Madelh, deſſen 
Schriften gegen das proteitantifche Syſtem das Bedeu⸗ 
tendfte find, was die damalige theologijche Literatur Eng⸗ 
lands aufzuweifen bat. Die Furcht vor calviniftifcher An⸗ 
ftedung war e8 auch, welche Wesley endlich zu der lange ver- 
zögerten und gefcheuten Trennung feiner Gemeinfchaft von 
ber Staatslirche bewog.') Allerdings war fein Erfolg nur 
ein halber. Ein Bruch trat ein, fein bisheriger Freund 
Whitfield mit einer caloiniftifch gefinnten Schaar trennte 
fih von Wesley und den diefem treu Gebliebenen, und eine 
calviniftiihe Gemeinſchaft von Methodiſten wurde gebilbet, 
deren Prophet Wpitfield, deren Kirchenmutter die Gräfin 
Duntingdon war, eine begabte, ihres kirchlichen Herr⸗ 
fcherberufe® bewußte Frau, welche die Prebiger ihrer „Con⸗ 
nexion“ nach Gutdünken ein» und abſetzte. Dieſe Selte, 
die noch im Jahre 1794 an 100,000 Anhänger gezählt 
baben joll, war aber ſchon im Jahre 1851 troß ihres reinen 
Calvinismus auf 109 Kapellen mit nur 19,159 Mitgliedern 
berabgefunfen.?) 

In größerem Flore und bis vor Kurzem ununter⸗ 


I) Correspondence of J. Jebb and A. Knox, ed. by Forster. 
Lond. 1836, II, 472. 
) Marsden’s History of christ. Churches and Sects. II, 8, 


252 


brochenen Wachsthum erhielt fi der Hauptſtamm ber 
Wesleyaner. Er verdankte dieß feiner feften und wohlbe- 
rechneten Organifation. Aber eine im Uebrigen proteftan« 
tiiche Senoffenfchaft mit Arminianifchem Dogma und Aufs 
gebung der Imputationslehre vermag fich, wie das Beiſpiel 
ber Remonftranten in Niederland bewiefen, nicht lange, we⸗ 
nigſtens nicht als eine ben Volksmaſſen erwünfchte Ges 
meinichaft, zu Halten. Die Methopiften find allmälig zu 
einer dem proteftantifchen Ipeenkreife angehörigen Auffafe 
fung des Belehrungs- uud Nechtfertigungsprocefies wieder 
übergegangen, und pflegen pad Weſen der Religion in eine 
möglichft ftarte Erregung ver Gefühle, eine eingebilvete Ges 
wißheit der Begnadigung und der Seligleit zu jegen. Hiezu 
will nun Wesley’ s Lieblingslehre bon einer volllommenen 
Heiligung, zu der man es ſchon in dieſem Leben bringen 
könne und folle, nicht mehr paſſen. Zugleich ift mit einer 
ſolchen Rechtfertigung durch Gefühle den jchäblichiten I⸗ 
Iufionen und Selbftfchmeicheleien eine weite Pforte geöffnet. 
Sie wird noch erweitert durch die Einrichtungen ver Ge⸗ 
ſellſchaft. Die in Banden und Klaffen eingetheilten Mit⸗ 
glieder pflegen in ihren Zufammenkünften wechielfeitig ihr 
Gewiſſen zu erforfchen, ſie follen einanver ausfragen über 
ihre innerften Regungen und „Erfahrungen“, follen öffent- 
lich beichten, was denn unausbleibli dazu führt, daß fie 
nicht. ihre Sünden, ſondern ihre Tugenden und vermeintlich 


253 


empfangenen Gnaben-Verficherungen beichten, und während 
fie fich die elendeften Sünder nemen, ſtets bie Gewißheit 
ihrer Seligfeit zu haben verfichern. Nie find wohl Ein- 
richtungen erfunden worben, die ed dem geiftlichen Hoch⸗ 
muth leichter machen, fich in da8 Gewand ver Demuth zu 
hüllen, zuerft fi) und dann Andre zu täufchen. 

Dan bat e8 ven Methodiſten nachgerähmt, daß fie eine 
befondere Babe hätten, unbußfertige, felbft verhärtete Sün- 
ber durch ihre Prebigten zu erfchlittern. Ihre Prebigtmeife 
ift vor Allen auf Erbikung ver Einbildungskraft berechnet, 
und bie förperlichen Gefühle, die fie erregen, werben dann 
für Eingebungen und Wirkungen des Geiftes ausgegeben. 
Ste haben, gleich gewiffen Aerzten, für Alle ohne Unterſchied 
des Geſchlechts, Alters und Standes nur Eine Mediche. 
Ihre einförmige Methode ift: die Menfchen bis zum Wahn- 
finn zu ängſtigen und zu erfchüttern, fie erft völlig troftlos 
zu machen, wie e8 in ihren Borfchriften heißt, und fie dann 
zur abfoluten Gewißheit ihrer Begnadigung hinüberzuleiten, 
wozu es nur eines Glaubensaftes bevarf.‘) Der Menfch 
wird angewiefen zu fühlen, daß ihn Gott gerechtfertigt habe, 
mb fofort ift er es auch. So fehr der Methodismus fonft 
von Widerwillen gegen bie Calviniſche Lehre erfüllt ift, in 


1) Es if: a distinet and indubitable internal witness, which 
tells the believer of his certain acceptance. British Critio 
XxVI, 12. 


284 


dieſem Bunkte trifft ex doch ſehr nahe mit dem Calvinismus 
zuſammen.) Die Wirkung aber iſt derartig, daß man in 
Gegenden, wo der Methodismus ſehr verbreitet iſt, ſelbſt 
eine Veränderung der Phyſiognomieen wahrnimmt; man bes 
gegnet da einer Menge harter, roher unb verbüfterter 
Sefichter.*) 

Die oft bewunderte Stärke der Methodiſtiſchen Kir- 
henverfaffung hat doch fortgehende Zrennungen und einen 
immer fichtbarer werdenden Verfall nicht abzumwenben ver» 
mocht. Die erfte Trennung (dur Kilham) erfolgte 1796; 
zwanzig Jahre fpäter gab bie Einführung einer Orgel bie 
Veranlaffung zu einer zweiten Abſonderung; 1835 trat 
die dritte große Seceifion ein, und warb bie neue Affocia- 
tion von Warren gegründet. Indeß warb bie Unzufrieben« 
beit über bie ſchrankenloſe Mucht und Willlühr der an ber 
Epite befindlichen und ſich ſelbſt ergänzenden Conferenz 
immer größer: dieſe Prediger-Oligarchie warb befchulbigt, 
fih von einer Clique beberrichen zu laffen, jo daß 1850 
heftige innere Kämpfe ausbrachen, und die ganze Geſellſchaft 
in einen Zuftand der Verwirrung und des tobenven Auf⸗ 
ruhrs verjett wurde. Die Reformers wollten die Verfaſ⸗ 


1) So warb benn auch jüngft (1857) bemertt, daß in Cornwall 

- der Methodismus durchaus antinomianiſch (aljo gefleigert cal⸗ 
vinifch gefärbt ſei. Quarterly Review, t. 102, p. 823. 

?) Quarterly Review, IV, D03. 


255 


fung mehr vemokratifiren, dem Laienelement größeren Ein- 
fluß verichaffen. Die Eonferenz widerſtand mit unbeug- 
famer Härte, und fo kam es binnen drei bis vier Jahren 
zu einer Abfunderung von 100,000 Mitglievern, faft einem 
Drittel des Ganzen. 


Nächft den Methodiften ift die Sekte der Eongre- 
gationaliften ober Indepenbenten die durch Zahl 
und Wohlftand der Mitglieder einflußreichfte. Sie Bat in 
England 1401 Prebiger und noch einige hundert Gemein- 
den ohne Prediger. Sie haben fih im 17. Jahrhundert 
von ben Presbhterianern getrennt, um das Princip ber 
völligen Unabhängigkeit aller einzelnen Gemeinden und einer 
bloßen Affoctation unter ihnen durchzuführen. Brüder waren 
fie ftreng calvinifch im Dogma, und wurden baber auch 
burch den Uebertritt der Anhänger Whitfields, vie fich ihnen 
mehr verwandt fühlten, al8 den Arminianifchen Wesleya⸗ 
nern, verftärkt'), während in Wales die calvinifchen Mes 
thobiften eine felbftftändige, ziemlich zahlreiche Selte bilden. 
Die Indepenventen haben im Jahre 1833 ein Glaubens 
Bekenntniß veröffentlicht), welches weit und unbeftimmt 
genug iſt, um ſehr verfchievene Anfichten zuzulaffen, und 


’) Marsden, II, 22. 


2) Es ſteht in Mann’s Census of religious Worship, 1858, 
p. liv. 


26 


üiberbieß ausdrücklich auf jede Autorität und bindende Kraft 
verzichtet. Es wirb daher auch von Niemanden unterzeichnet. 
Bon einer beftimmten Lehre kann demnach bei den Congre- 
gationaliften nicht mehr die Rebe fein. Die Prebiger finb 
aber deßhalb keineswegs frei, diefe ober jene Doctrin nad 
Gutdünken zu prebigen; vielmehr haben fie fi) nach ben 
Anfichten und Erwartungen ihrer Gemeinden, beſonders ber 
wohlhabenveren und einflußreicheren Mitglieder, zu richten; 
fie müffen, um fich in ihrer Stellung zu behaupten, fort . 
während der Stimmung der Gemeinde mit feinem Yinger 
den Puls zu fühlen wiffen, und ihre Vorträge mit verfelben 
iu Einklang fegen. 

Auch die Baptiften find im Allgemeinen entſchiedene 
Ealviniften in ven Dogmen ver Erwählung und Rechtfer- 
tigung, unterjcheiven fich aber von den übrigen Parteien 
dieſer Gefinnung durch ihr Princip, die Taufe nur Er- 
wachfenen und nur durch völlige Untertauchung zu ertheilen, 
da jede andere Form nach ihrer Anficht gar eine Zaufe 
if. Sie begannen in England um das Yahr 1608, flan« 
den nie in einem Zuſammenhang mit den Mennoniten 
Holland und Deutſchlands, und gelangten erft nach 1688 
zu einiger Bedeutung. Gegen Enbe bes vorigen Jahr⸗ 
hunderts war ihr Calvinismus over Antinomianismus fo 
ausgebildet, daß bie meiften ihrer Prebiger nur noch von 
und zu Erwählten rebeten, und von Sünbern in ihren Ge⸗ 


257 


meinden nichts wiffen wollten.‘) Qelenntnißlofigleit, Uns» 
gebunvdenbeit der VBerfaffung und damit natürlich auch voll 
ftänpige Abhängigkeit der Prediger von ven Gemeinden ge- 
hören zu ihrem Charakter. Von ber Hauptpartei, den Par⸗ 
titular-Baptiften, haben fich fünf Kleinere Selten, theild aus 
Abneigung gegen den Calvinismus, theils um einzelner 
Buntte willen, abgezweigt. Die calvinifchen Partikular⸗ 
Baptiſten beftanpen im Jahre 1851 aus 1947 Gemeinden, 


Die Quäker over Freunde, bie, der unmittelbaren 
jedem erreichbaren Inſpiration des heiligen Geifte® gewiß, 
ohne Sakramente und ohne orbinirte Prediger an den Vor⸗ 
trägen erwecter Männer und Frauen fich erbauen, find jetzt 
eine im Niebergange begriffene Selte, und baben fich feit 
Anfang des Jahrhunderts in England beveutend vermindert. 
Die Mährifchen Brüder mit ihren 32 Kapellen veges 
tiren in England als ein ftilles, kaum bemerktes Häufchen. 
Auch die Swedenborgiſche Kirche des Neuen Jeruſalem 
kann es, da ihre Lehren nichts beſonders Tröftliches haben, 
ohngeachtet ihrer 50 Congregationen (im Jahre 1851) zu 
feinem vegeren Leben bringen. Größeres Auffehen haben 
die noch fehr jungen Irvingianer erregt. Einverftanden 
mit den Plymouth⸗Brüdern, daß fchon glei nach den 


1) Das berichtet Olinthus Gregory in ber Biographie bes be- 
rühmten Baptiflen-Prebigers Robert Hall. ©. Marsden I, 83. 
v. Döllinger, Papftthum. 17 


— 8ß— 


Apoſteln ein Zerfall ver Kirche eingetreten fei, haben fie es 
unternonmen, die längft in Trümmer und Bruchitüde zer- 
fplitterte rechte Kirche mittelft einer neuen ihnen zu Theil 
gewordenen Ausgießung des heiligen Geiſtes und mit ben 
vier wefentlichen Aemtern: des neuen Apoftolats, des Pro⸗ 
phetenthums, der Evangeliften und Hirten, wieberberzuftellen. 
Sie verwerfen den gefammten Proteftantismus mit feiner 
Anmaßung eines jebem zuftehenden fouveränen Urtheils in 
Slaubensfachen, feinem venolutionären „von Unten ber“, fie 
nähern fich in der Rechtfertigungsfehre, den Sakramenten, 
bem ‚facrificiellen Charakter des Gottesbienftes, ſtark ber ka⸗ 
tholifchen Kirche. ‘Die perfönliche, fichtbare Erfcheinung des 
Herren, die erfte Auferftehung und der Anbruch des taufend«- 
jährigen Reiche wird in nächiter Zulunft erwartet. Aber 
die Genoffenfchaft der „apoftolifchen Kirche”, Hat nichts, 
was dem Englänber beſonders gefallen könnte, ihre Lehre 
tft nicht, gleich der der andern Selten, bequem und tröftlich, 
{ihr mangelt- ver Talisman des Imputationsbogmas und ber 
wohlfetllen Heilsgewißheit; fie hat zu viel Katholifches, Li- 
turgiſches, Sakramentales. Ste bat e8 daher in England 
nur zu wenigen und Beinen Gemeinden gebracht, und Bat 
feine Ausficht, größere Erfolge dort zu erlangen. Dagegen 
bat der von Amerika eingeführte Mormonismus fich mit 
feiner chriftlichen Larve binnen wenig Jahren gegen 20,000 
Anhänger in England zu gewinnen vermocht. 


259 


Die Plymouth⸗Brüder ober Darbyiten, wie fie 
von ihrem noch lebenven Stifter heißen, leben gleichfam von dem 
wirffichen oder vorausgeſetzten Zope aller andern chriftlichen 
Kirchen. Denn in Folge einer fchon in ber apoftolifchen 
Zeit eingetretenen Apoftafle der erften Kirche gibt ed und 
darf es überhaupt, lehren fie, feine Kirche und daher auch 
fein geiftliches Amt mehr geben, und ftehen alle Kirchen 
unter dem göttlichen Fluche. Niemand barf fich unterfteben, bie 
gefallene Kirche wieder aufbauen zu wollen. Aber der Geift 
mit feinen Gaben ift bei ven Gläubigen geblieben unb bie 
Brüder erbauen fich mittel diefer unter ihnen vorhandenen 
GSeiftesgaben. Die Sekte ift ein verjüngtes und modificirtes 
Quãkterthum. Sie bewegt ſich hauptſächlich in Negationen: 
fie will keine Belenntnißformeln, keine Liturgie, Teine kirch⸗ 
lihe Gliederung, keinen Sabbath nad Englifcher Weile, 
feine Sakramente, nur zwei Symbole oder Zeugniffe: Taufe 
und Brovbbrechen. Dafür befchäftigt fie fich gleich den 
meiften Englifchen Selten viel mit der Erwartung des 
naben taufenvjährigen Reiches. Ste Hat es in England im 
Sabre 1851 auf 132 Verfammlungspläße gebracht. ') 

e. Die Rirde in Schottland. 
In Schottland Hatte Calvins treuefter Sohn, John 
Knorx, die calvinifch=presbpterianifche Lehr» und Kirchen- 
1) Reuter’s Aepertorium, Bd. 50, ©. 276 ff. und Bd. 51 
S, 82 fi. 
17* 


” — —7 


—60 


Form nach dem Muſter Genf's fiegreich durch geführt. Das 
Volk Hatte ſich ganz in dieſes Syſtem hinein gelebt. Zwar 
war ber Presbyterianismus unter Karl II. endlich unter⸗ 
legen, 400 Prediger hatten weichen müfjen; bie Epiflopal- 
Verfaffung fchien zu fiegen. Nur bie Cameronier behaups 
teten fich noch in abgelegenen Gegenben. Die Veränderung 
war jedoch eine ganz Außerliche. Lehre, kirchliche Sitte 
und Obſervanz wurden nicht angetaftet; der Calvinismus blieb 
allgemein herrſchende Denkweife. In biefem langen Kampfe 
ber Schottifchen Kirche mit der königlichen Gewalt wurde bie 
Widerſtandskraft ver Schotten durch die republifanifche, Geift- 
liche und Laien zu gemeinfamer Wirkfamfeit verknüpfende, 
Kicchenverfaffung verftärkt, uub bie Folge war, daß biefe 
Kirche unter allen proteftantiichen Genoſſenſchaften durch 
Selbftändigkeit und Freiheit fich auszeichnete, und nie zu ber 
Knechtſchaft ver Englifchen Kirche herabfant. 

Mit ver Revolution von 1688 und ber Erhebung Wil- 
helms, ver felbft Salvinift und Presbpterianer war, trat 
ein völliger Umſchwung ein; die „Pfarrer“, fo hießen vie 
bifchöflichen Geiftlihen, wurden durch Pobelaufruhr miß- 
handelt, geplündert, fortgejagt, und bie „Minifter8” — ver 
Schottifche Presbyterianer will weder von Pfarrern, noch 
von Prieftern, noch von Geiftlichen etwas wiſſen, ſondern 
nur von „Dienern” — festen fich fofort in ben Beſitz ber 
Pfarrwohnungen und Kirchen. Die Presbyterianiſche Na⸗ 


261 


tionallicche, nun auch von ber Regierung begünftigt, trat 
fofort als die allein im Lande berrfchende Kirche auf, nnd 
fonnte den Fuß auf den Naden ihrer Feindin, ber bifchöf« 
fihen, ſetzen. Es ift wohl eine ber außerorbentlichiten, 
aber bezeichnenpften Zhatfachen in der Gefchichte des Pro- 
teftantismus, daß nach der lekten Erhebung ver Hochlänber 
zu Gunſten ver Stuarts im Jahre 1745, pas Britifche Parla⸗ 
ment, welches damals im Unterhaufe unter 528 Mitgliedern 513 
Angehörige der bifchöflichen Kirche zählte, eine Reihe von 
Strafgefegen gegen dieſe Kirche jenſeits des Tweed erließ, 
welche die Geiftlihen verfelben ganz in bie Gewalt ihrer 
erbitterten Feinde, der Bresbyterianer, lieferten '), unb eine 
Schwere Verfolgung über fie brachten. 

Im Ganzen hatte der Calvinismus nach anderthalbhundert- 
jähriger Herrſchaft feine günftige Wirkung auf bie focialen Zu⸗ 
ftände ver Schottifchen Nation geübt. Der Schottifche Patriot 
Andrew Fletcher von Salton fdhildert am Schluffe des 
17. Jahrhunderts biefe Zuftänne mit pen püfterften Farben. Ein 
Fünftheil der Bevölkerung beftand aus herumwandernden Bett» 
lern, und Biele von ihnen ftarben Hungers; e8 gab an hundert- 
taufend von Raub und Diebftahl lebende Vagabunden im 
Lande; und bie Hälfte des ganzen Grunpbefikes war in 
den Händen einer trägen, nichtewürbigen, gewaltthätigen 


) Stephens: History of the Church of Bootland. London 
1848, IV, 827 ss. 





262 


ränberifchen Menſchenklaſſe). Fletcher wußte bei folcher 
Derwilderung kein anderes Heilmittel vorzufchlagen, als: 
Einführung ber Sklaverei. 

Es ift ſehr bezeichnend, daß das Schottifche Volk, 
das bei vielen Veranlofjungen einen glühenden Eifer für 
den Salvinismus entwickelte, und von feinen Prebigern leicht 
bis zum religiöfen Aufruhr entflammt werben lonnte, Jahrhun⸗ 
berte lang nichts für feine Kirchen that. Die Reformation, bie 
nirgendes eine wildere Zerftörungsiuft erzeugte, als in Schott» 
land, hatte von ben fchönen und geräumigen Landkirchen ber 
Tatholifchen Zeit nur einige Ruinen übrig gelaffen. Und 
nun behalf man fich mit elenden Hütten, mit feuchten, uns 
gefunden Spelunfen, bie oft Viehſtällen ähnlicher fahen als 
Gotteshäufern, und im ganzen 18. Jahrhundert wurde von 
dem Volke, das fich für das religiöfeite in Europa hielt, 
nicht eine einzige Kirche gebaut. Viele Pfarreien hatten 
gar Feine Kirche; die Leute ließen fich unter freiem Himmel 
prebigen.”) 

Was in der Gegenwart bei dem Volle, welches Eng- 
länvern unter den Europäifchen Nationen das vorzugsweiſe 
theologifche Volk zu fein fcheint, gleich auf den erften Blick 


1) Tytler’s Memoirs of Lord Kames. Edinburgh 1814, 
nl, 227. 

?) Cunningham’s Church History of Bootland. Edinburgh 
1860, II, 586, 87. 


263 


befrembet, das tft die allgemeine Leidenfchaft des Trunkes. 
„Es ift Thatfache, fagt dad Saturday Review'), daß 
Schottland ven Anblid der am meilten puritanifirten, unb 
am meiften dem Trunk ergebenen Nation auf dem ganzen 
Erdboden darbietet. New⸗York ift obngefähr die unfitt- 
lichfle Stabt der Welt, in Genf iſt die Religion nahezu 
unbekannt, und in Glasgow find die Söhne der Covenan⸗ 
ters die dem Trunk ergebenfte Bevöllerung auf der Exrbe.’)“ 

Bergleiht man die Nieberlänpifche und die Schottifche 
Kirche miteinander, fo ift der Eontraft auffallend. Beide 
Kirchen Haben in der Hauptjache das gleiche Bekenntniß 
and eine auf bie fünf Dorbrechter Artikel gebaute Lehre, 
haben bie gleiche Verfaffung, aber wie groß ift doch die 
Berichievenbeit! Während der Proteftantismus in Niebers 
Land eine fo reiche theologifche Literatur erzeugt hat, ift ber 


1) Octob. 8, 1859, p. 421. 

2, „Schottland if jetst durch feinen vermehrten Branntweinverbrauch 
das Land, das in ganz Europa dem Trunke am meiften ers 
geben. Seit 1825 hat bie Branntwein-Confumtion fi bei- 
nabe verfünffacht. Im ähnlichem Verhältniſſe haben Verbrechen, 
Krankheiten und Tob zugenommen.“ Neue Preuß. Zig., 21. 
Gebr. 1854. — Der Schottetaing meint (Observations on 
the social and political State of the European People, 
Lond., 1850, p. 284): Seine Landsleute bilrften fich ihrer 
Moralität nicht rühmen, fo lange fie nad ſtatiſtiſchem Ausweis 
in ber ungeheuern Confinution von Branntwein ſelbſt England 
überträfen und faft viermal fo viel tränfen, ale Irland. 


— — 





— _ 


Schottiſche Ealvinismus, obgleich er durch die Gleichheit 
ber Sprache unter vie Einwirkung ver reichhaltigen Engli⸗ 
fchen Literatur geftellt war, fteril geblieben, und bat fich 
in einer an einem fo begabten Volke voppelt befrembenden 
theologifchen Geiſtesarmuth und Lethargie mit fehr wenigen 
und bürftigen Produkten begnügt. Arge Unwifjenheit in 
theologifchen Dingen war von jeher ein Hauptzug der Schot⸗ 
tifchen Prediger. Burnet hebt das bereits hervor.') Ceit 
ber Reformation bat Schottland eigentlich nur zwei beteus 
tenbe Theologen gehabt, Robert Leighton und Forbes, 
und beide gehörten ber Epiſkopalkirche an, waren felbit Bi⸗ 
fhöfe. Der theologifche Unterricht wird noch jetzt fehr 
nachläjjig betrieben; „vie Studirenden find theils weit ven 
größten, theils wenigftens einen ſehr großen Theil bes 
Sahres hindurch aus dem eigentlich wiffenfchaftlichen Cur⸗ 
ſus entlaffen“?), und geben fich unterveß mit dem Unter⸗ 
richt von Kindern ab. Eigne Gedanken, abweichende Mei- 
nungen und Lehren find in Schottland bei Geiftlichen, wie 
bei Laien, wenn man bie Zeit des herrſchenden, aber doch 
blo8 fleptifch gegen das Dogma fich verhaltennen Modera⸗ 
tismus abrechnet?), ſtets unerhört gewefen, obgleich der 


1) History of his own Time, p. 103. 

2) Köflin in der deutſchen Zeitfhrift für chriftl. Wiſſenſchaft. 
Bd. I, S. 190, 

3) Diefer Zeit und Richtung gehört auch ber einzige Ereget von 


2 _ 


officielle Katechismus es jedem Schottifchen CEhriften zur 
Pflicht macht, das, was er in den Predigten gehört habe, 
durch die heilige Schrift zu prüfen.) Würbe biefe „Pflicht 
wirklich auch nur von einer Kleinen Anzabl geübt, fo wäre . 
bie kirchliche Zerriffenbeit natürlich noch viel größer, als 
fie es fchon iſt. Der Geift der Nation blieb eingefchnürt 
in das caloinifche Syſtem. Nur Fragen ber kirchlichen Ver⸗ 
faffung, vor Allen bie des Patronats, bewegten die Schotten. 
Das Seltenwefen entftand nicht auf ihrem Boden, fondern 
wurde mehr von Englanb her bei ihnen eingefchleppt. ‘Die 
großen Seceffionen des vorigen Jahrhunderts fanden nicht 
um ber Lehre, fonvern um ver Verfaffung und der Stel 
lung zur Staatögewalt willen ftatt. 

Ein Blick auf das Dogma der Schottifchen Kirche, wie 
es in der noch jetzt als Hauptbekenntniß⸗Schrift geltenven 
Weftminfter-Eonfeffion feinen Ausdruck gefunden bat, läßt 
die Haupturſache ver Schottifchen Abkehr von ber Theologie 
ertennen. 


Es ift in der That eine feite Glaubensfette, mit der 
das Calviniſche Syſtem, wie e8 in dem Weſtminſter⸗Bekennt⸗ 


einiger Bebentung , ben die Schottifche Kirk hervorgebracht hat, 
an: Madnight, ber indeß, mit dem Maßftabe ber Weſt⸗ 
minfter-Eonfeffion gemefien, ſehr beterobor if. 

1) Confession of faith etc. p. 318. 


266 





niffe fieixt ift, den Geiſt ver Menſchen umfchlingt. Seit» 
dem man das Voll gelehrt hat, den Werth einer. Religion 
nach dem Grade ihrer Tröftlichleit zu meſſen, iſt es na⸗ 
tärlich, daß der Calviniſt von der Vortrefflichkeit der ſeini⸗ 
gen noch fefter überzeugt ift als der Lutheraner, ba das 
Problem, noch einen höheren Grad tröftlicher Beruhigung 
zu gewähren, bier wirklich gelöft ift. Der Menſch — fo 
lehrt dieſes Syſtem — empfängt durch das Anhören von 
Predigten den heilbringenden Glauben, daß er einvon Ewig⸗ 
keit Erwählter fei, und daß Gott ihm ven Gehorfam Eprifti, 
al® ob er ihn felbft geleiftet Hätte, zurechne. Diefer Glaube 
und biefe unfeblbare Gewißheit feiner Erwählung, feines 
Snabenftandes ober feiner Gerechtigleit und feiner künf⸗ 
tigen Seligkeit, geht ihm nie mehr ganz verloren, obwohl 
zeitweilige Verbunkelung und Zweifel eintreten Tann.) Er 
weiß nun, daß er unter der Herrſchaft der unmwiberfleh- 
lichen Gnade Gottes fteht, und daß Alles, was er thut 
oder unterläßt, nach Gottes Willen und durch Gottes Gnade 
von ihm getban wird. Sünbigt er, fo bleibt er dennoch 
ein Erwählter und unwiderruflich Begnadigter, unb weiß 
bieß, auch wenn er, wie David, Mord und Ehebruch bes 
gehen folltee Durch ſolche Sünden mag wohl bie Heils 


1) ©. The Confession of Faith etc. , of public Authority in 
the Church of Scotland. Glasgow 1756, p 98. 


267 


Gewißheit erjchättert, vermindert, verdunkelt werben, fagt 
bie Eonfeflion, aber biefer Same Gottes und das Leben 
bes Glaubens geht ven Glaͤubigen doch nie ganz verloren. 
Und da fie völlig unfrei und blos paffive Werkzeuge bes 
göttlichen Willens find, va nach der Lehre des Belennt⸗ 
niffes jede, auch bie befte That, eine Beimifchung von Bö⸗ 
fem bat, fo daß das Gute daran die That Gottes durch 
ben Menfchen, das Böfe aber die eigne Zuthat des Men» 
fhen ift, fo Tönnen fie fih aud über Sünden, vie nach 
menſchlichem Urtheile fchiwere find, wohl berubtgen.') 

Bei einem folchen Lehrbegriffe ift es fehr erklärbar, 
daß, wie Köftlin bemerit, in ven Prebigten bie Offen- 
barung des Gottesfohnes im Fleiſche, die menfchliche Ge⸗ 


1) Ueber bie praftifhe Wirkung, die dieſes Syſtem berborbringt, 
theilt ein Artikel im Quarterly Review, t, 89, p. 807 se. 
Puritanism in the Highlands, merkwürdige Thatſachen mit, 
Der Berf. bemerkt: It is held, that a person of great faith, 
according to his own account, and of extraordinary at- 
tainments, as his neighbours believe, in praying and pro- 
phesying, and generally of high devotional repute, may 
indulge in varions sins, without endangering his everlasting 
safety, or, of course, weakening his position as a Man. 
(So heißen nemlich bort bie befonbers Erwedten und From⸗ 
men.) Daß das Beifpiel Davids gerne von bem Bolle als ber 
ſonders tröftlih und berubigenb angeführt werbe, ift mir in 
Schottland verfichert worden. Der Verf. des eben angeführten 
Artikels bemerkt, p. 825, daß auch bie Prebiger häufig ſolche 
Anfichten hegten — nach ber Weftminfter-Eonfeffion mit Recht.) 


268 


Ihichte des Erloͤſers auffallend wenig behandelt wird, und 
daß „bie Schottifche Theologie eine eigentliche chriftliche 
Ethik überhaupt nicht kennt.” ') Er rügt ferner, daß in bies 
fem Syſteme die wefentliche Bebeutung des eigentlichen 
enangelifchen Glaubens nicht an’8 Licht trete. 


Was Köftlin von ver Schottiichen Kirche bier be⸗ 
merkt, das zeigte ſich auch anderwärts als bie natürliche 
Folge der proteftantifchen Nechtfertigungsiehre. Es war 
nicht möglich, eine einigermaßen wiflenfchaftlicde Moral 
Theologie mit diefer Lehre in Einklang zu bringen, und fo 
gab man, fo lange die Herrichaft des auf die Imputation 
gebauten Syſtems dauerte, jede Beichäftigung mit der chrifl« 
lichen Moral auf. 

So bat ſchon Staüdlin?) bemerkt; in Folge ter lu— 
therifchen Lehre vom Glauben habe im ganzen 16. Jahrhundert 
(und bis 1634) Niemand in der deutſchen evangelifchen Kirche 
daran gebacht, die chriftlide Moral als eine befonbere 
Wiffenfchaft zu bearbeiten, oder auch nur in ben dogma⸗ 
tifchen Syſtemen ihre Lehre mit einiger Ausführlichleit ab» 
zubandeln. Der erfte, ber ed unternahm, Calixtus, wich 
auch fogleich vom Iutherifchen Dogma ab. Die Gejchicht- 
Schreiber der Nieverlänpifchen Kirche, Ypey und Dermout, 


1) Deutſche Zeitſchrift, I, 187, 188. 
?) Geſchichte ber chriſtl. Moral, Göttingen 1808, ©. 285. 


— — —- —-- — 


269 


conſtatiren dieſelbe Thatſache bezüglich der dortigen calvi⸗ 
niſchen Theologie. Theologiſche, bibliſche Ethik Hatte we—⸗ 
der in den Univerſitätsvorträgen, noch in der Literatur eine 
Stätte. Jeder fürchtete die unansweichliche Colliſion mit 
dem Dogma, jeder beforgte, als „Geſetzeslehrer“ im Verruf 
zu kommen.) Daher wurden auch alle fpäteren proteſtan⸗ 
tifchen Doraltheologen, Männer wie Barter, Hammond, 
Taylor, Maftriht, la Blacette, Bernd, Arnold, 
entfchievene Gegner der proteftantifchen Lehre von der Rechts 
| fertigung. Da aber, wo die Xehre herrfchenn geblieben, 
gibt e8 eben auch keine Moraltheologie. 

Die Furcht vor den ethifch verberblichen Wirkungen 
bes calvinifchen Syſtems und die Wahrnehmung ver that. 
fächlich eingetretenen Folgen trug wefentlich dazu bei, daß 
um die Mitte des vorigen Jahrhunderts der fogenannte 
Mopderatismus, eine vem-deutfchen Nationalismus ent- 
fprechende Sinnesweife, unter ber Geiftlichleit Schottlands 
um fich griff”), wiewohl auch Hier wieder, wie faft immer 
in Schottland, der kirchenrechtliche Gegenfat zwiſchen Pa⸗ 
tronat und Gemeindewahl am meiften bervortrat. Nach 
ihrer theologifchen Richtung waren die meiften, dieſer Rich⸗ 
tung angehörigen Prediger pelaglanifch, felbft focintanifch 


3) Geeschiedenis van de hervormde Kerk in Nederland. Breda 
1822, II, 409. 


2) Köflin in Herzogs Encyklop. XII, 720. 


270 


gefinnt, doch wurbe bie berfönnnliche Lehre in der Regel 
nicht angegriffen, man fuchte ihr nur durch Beſchraͤnkung 
der Prebigten auf moralifche Materien auszumeichen, und 
machte fich das Joch der calvinifchen Bekenntnißſchriften Teicht. 
Die Führer dieſer Schule galten beim Volle für Unglän- 
bige; und beim @ottesbienfte pflegte kaum ein Zehntel ber 
Gemeinden zu erfcheinen.’) 

Segen viefen lange herrſchenden Moderatismus erhob 
fih im gegenwärtigen Jahrhundert die Reaktion der „evan⸗ 
geliſchen“ Bartei, deren geifliger Führer Th. Chalmers 
ward. Sie tft nun in bie Treificche übergegangen. Aber 
ber ächte alte Dordrechter Calvinismus wird auch jegt von 
ber Mehrzahl ver Geiftlichen in beiden Kirchen, der Staats- 
fische und ber Freifieche, nicht mehr vorgetragen. Nur uns 
ter den „reformirten“ und den „vereinigten Predbhterianern“ 
berricht er noch.) Doc Hat, nach den Angaben von 
Maurice, die mechanifchsbeterminiftifche Lehre des Ameri⸗ 
faners Jonathan Edwards, welche jede menfchliche 
Freiheit und Selbftbeflimmung vor dem Alles allein wirken⸗ 
ven göttlichen Willen verfchwinden läßt, in Schottland 
großen Einfluß geübt. Diefer Einfluß fteht nach der Ber» 


) S. die Schilderung aus Hamilton's Autobiography im 
Quarterly Review, t, 98, p. 362. 


2) S. bie Zeitſchrift: Union, 7. June 1861, p. 856. 


271 


fiherung von Maurice im Zufammenbang mit dem in 
Schottland fo verbreiteten Materialismus. Daß aber ver 
alte calvinifhe Glaube der Schottifchen Kirche unwieder⸗ 
bringlich verloren jet, ift, feinem Zeugniſſe nach, die An⸗ 
ficht aller einfichtigeren Männer im Lande.) In folcher 
Lage der Dinge ift denn an eine willenfchaftliche Theologie 
in Schottland nicht zu denken. Die unverföhnlichften 
Widerſprüche würden fogleich an ven Zag treten, und bie 
Prediger bei dem dort auf alles Kirchliche fo achtjamen 
Boll um alled Anfehen bringen. Nur durch bie gänzliche 
Abwefenbeit ver Theologie können die brei presbhterianifchen 
Gemeinfchaften ihre Exiftenz friften. 

In der Jüdiſchen Strenge der Sabbathefeler fuchen 
bie Schottifchen Calviniften ihre Englifchen Glaubensver⸗ 
wanbten noch zu übertreffen. Selbft ein Heiner Spazier⸗ 
gang am Sonntag gilt für unerlaubt. Um fo ftärler ift 
dagegen die Confumtion gebrannter Getränte an dieſem 
Tage. Yun den Kirchen Feine Orgel, Fein Altar, Tein Kreuz, 
fein Bild, kein Licht.) Im Gottespienfte kein Symbol, 
feine Liturgiiche Handlung. Eine religiöfe Poeſie hat ver 
Ealvinismus nirgends, am wenigften in Schottland zu er- 
zeugen vermocht. Don geiftlichen Liedern, bie man in ben 


!) Kingdom of Christ. London 1842, I, 157—160. 
?) Hengftenberg’s Kirchenzeitung, Bb. 49, S. 962. 


272 


Kirchen fingen könnte, iſt nicht die Rebe; nur ein Pſalm 
wird gefungen. Wirb es fchon in England als ein bedenk⸗ 
liher Mangel empfunden, daß es religtöfe Schriften für 
das Bolt kaum gibt, fo tritt diefer Mangel in Schottland 
noch flärker hervor. Um fo mehr aber hängt das Boll an 
ben Lippen ber Prebiger, von denen e8 allein mit veligiöfen 
Gedanken und Gefühlen verforgt wird. Es läßt fi das 
vollftändige Uebergewicht der Prebigt in dem von allen li 
turgifchen Beſtandtheilen entblößten Gottesbienfte gerne ges 
fallen, da dieſe Paffinität des bloßen Hörens und Em- 
pfangens ftatt der religiöfen Selbftthätigkeit, auf welche ber 
Tatholifche Cultus gerichtet ift, feiner Sinnesweiſe zufagt. 
Im dem gleichen Intereffe ver Bequemlichkeit und ver Paſ⸗ 
fivität find bie langen, gewöhnlich eine halbe Stunde bauern- 
den Gebete eingeführt worden, welche bei jevem Gottes 
bienfte von dent Geiftlichen vorgetragen werben, und in welche 
biefer Alles, was fich ihm gerade barbietet, aufnimmt. So 
lange es Chriſten gibt, ift wohl bie völlige geiftige Ab⸗ 
bängigleit der Laien von dem Geiltlichen, bie religiöfe Be⸗ 
vormunbung nicht fo weit getrieben worben, wie dieß im 
Schottland geſchieht. Statt aus feiner Inbivipualität heran, 
feiner perfönlichen Lage und Beſchaffenheit gemäß felber zu 
Gott zu reben, Überläßt es der Schotte dem Prebiger, ihm 
eine halbe Stunde lang vorzufagen, wie er allenfalls beten 
tönnte ober follte. Die Einrichtung ift, wenigftens nach 


273 


dem Gefühle aller Gebildeten, um fo verfehrter, als ber 
Geiftliche bei dem gänzlichen Mangel der Beichte von bem 
Seelenzuftande und ven Bedürfniſſen ver Laien in ver Regel 
feine nähere Kenntniß hat. Die fehr lebendig und au⸗ 
ſchaulich gefchriebene Schrift eines berühmten und ernſtre⸗ 
ligidſen Schottifchen Nechtögelehrten, H. Home Lord Ka⸗ 
mes’), entwirft eine Schilverung der enblofen Mifbräuche, 
der Abfurbitäten und Blafphemien, vie hiebei mit unters 
laufen. Die Nothwendigkeit des langen öffentlichen Vor⸗ 
beten® bewirkt natürlich, daß dieſe Gebete fehr häufig nichts 
anderes als, in eine Anrede an Gott eingelleivete, Prebigten 
find, oder in leeres Geſchwätz und Kohle Phraſen ausarten, 
daß der Prediger feine Heinlichen Leivenfchaften und Vor⸗ 
urtheile den Zuhörern in Gebetsform aufpringt. Der Herzog 
von Argihll Hat in feiner Schukfchrift für den Schotti- 
ſchen Presbyterianismus zugegeben, daß e8 ein arges Ge⸗ 
brechen viefe® Kirchenweſens fei, die ganze Andacht der Ge⸗ 
meinbe jo ganz und gar ver Willlür eines Prebigers preiß« 
zugeben.) Die Yolgen hievon find denn auch nicht ausge⸗ 
blieben. Die Preebpteriantichen Kirchen verlieren mehr 
und mehr die höheren und gebildeten Stände bed Landes. 


!) A Letter from a Blacksmith to the Ministers and Elders 
of the Church of Scotland. Dublin 1759. 
?) Presbytery examined. Lond. 1848, p. 802. 
9. Döllinger, Papſtthum. 18 


274 


Der ganze Abel bis auf zwei Yamilien if allmälig in bie 
bifchöfliche Kirche eingetreten, vie nebfl der Tatholifchen in 
fortwährendem Wachfen begriffen iſt, und groß ift bie Zahl 
derer, die, ven gebilbeten Aaſſen angebörig, zwar nicht ans 
der Staatslirche förmlich austreten, wohl aber Site in ben 
biſchoflichen Kapellen mietben, um boch flatt ver jebe® eblere 
Gefühl verlegennen Declamationen und für Gebet ſich aus⸗ 
gebenven Phraſen ungebilbeter over halbgebildeter geiftlicher 
Sprecher am Sonntage vie wärbevollen Formeln der bis 
fchöflichen Liturgie zu bören.') 

Serner wirb bie feltne und würbelofe Feier des Abend⸗ 
mahls al8 ein abftoßenber Uebelftanp empfunden. Sie ift 
zu einem theatraliſch fich ausnehmenven Effect» Stüd ges 
macht worben, wobet bie lange Vorbereitung burch mehrere 
fich ablöfende Prebiger die Hauptſache iſt. Das Gebränge 
der ab» und zugehenden Gäfte, bie au langen Tafeln fiten, 
während Brod und Wein in verſchiedenen Schüfleln und 
Bechern berumgereicht wirb, nnd viele Zuſchauer bie Kirche 
füllen, vie dabei ftattfindende Unruhe und Verwirrung 
ſchildert Lord Kames mit grellen Farben. Bei ber ge» 
ringen Vorftellung, welche Schottifche wie Englifche Calvi⸗ 
niften fi von dem Inhalte des Abendmahls zu machen 


1) ©. hieriber den Artikel im Edinburgh Review: John Knox’s 
Liturgy, t. 95, p. 477 as. 


— 


pflegen, ſoll dieß ſpannende Pathos der in tobender Aufe 
regung ſich überbietenden Prediger die Dirftigkeit ver 
Handlung ſelbſt erſetzen. 

Auch das Begräbniß entſpricht in Schottland jeuer ri⸗ 
tuellen Armuth und Verfchmähung alles Symboliſchen, vie 
ber Herzog von Arghll beklagt. Als Wesleh in Schottlanb 
war, fiel ihm ver Gegenſatz zwifchen dem Englifchen und 
dem Schottifchen Begräbniffe auf. Wenn pa, fagt ex, ein 
Sarg in die Erde verfcharrt werde, ohne ein einziges da⸗ 
bei geiprochenes Wort, fo erinnere ihn dieß an die Worte 
der Schrift von dem Eſelsbegräbniß Iehotakiıne.') 

Die Freilirche, beren Zrennung von der Stantslirche 
im Sahre 1843 begann, und bie num ein Drittheil ver Be⸗ 
völferung umfaßt, hat eiue beivunderungswürbige Kraft un 
Thaͤtigkeit entwidell. Sie bat in 17 Jahren über 800 
Lirchen und eine entfprechenve Zahl von Pfarrhäufern und 
Schulen aus freiwilligen Beiträgen gebaut, unb ihren Pre⸗ 
digern anfehnlihe Gehalte ausgeworfen. ‘Die früheren 
Secefjionen haben fich großentheil® unter einander vereinigt, 
fo daß jett drei Presbhterianifche Kirchen, die Staatslirche, 
die Freie und bie Unirte, neben einander ſtehen. Hiezu 
fommen nun aber bie Inbepenbenten, welche bort gegen 
100, zum Theil freilich Heine, Gemeinden haben. In Meineren 


1) Bouthey’s Life of Wesley, Il, 248. 
18* 


216 


Dimenfionen exiſtiren Baptiiten, Methobiften boppelter 
Dualttät, Glaffiten, Unitarier, Quaͤler. Yüngft ift noch 
eine neue ziemlich verbreitete Sekte, bie ber Morifonianer, 
binzugelonmmen, bie im Gegenſatz gegen ben Calvinismus 
die Univerfalität der Erlöfung lehren.) So ift venn Schott- 
land eines ber kirchlich zerriffenften Länder in Europa, und 
wird hierin nur von Amerika übertroffen. 

Die bifchöfliche Kirche Hat demnach in Schottland günftige 
Ausfichten. Früher galt fie und ihre Gottesdienſtordnung 
als „mobificirter Gößenbienft.” Um fie mit dem Schwerte 
auszurotten, hatten bie Schotten den Eovenant aufgerichtet. 
Als über die politifche Union Schottlands mit England ver- 
handelt wurbe, gieng bie Schottifche Kirche das Parlament 
zu Edinburg mit einer Betition an: wenn fle nicht ſchwere 
Schuld anf fi) und die Nation laden wollten, fo vürften 
fie nie einwilligen, daß die Verfafjung und die Ceremonien 
der Kirche von England in England felbft zu geſetzlichem 
Beftande gelangten.) Noch viel weniger Tonnte mau nas 
türlich den Gedanken einer Dulpung dieſer Kirche auf Schotti« 
ſchem Boden ertragen. uf die Nachricht von dem Tode der 
Königin Anua im Jahre 1714 warb denn auch fofort pie bifchöf- 
liche Kapelle in Glasgow zerftört. Seitdem aber dieſe Kirche 
vollftändige Freiheit erlangt, Hat auch in ben legten Jahren 


) Union, Decb., 14., 1860, p. 188. 
?) Edinburgh Review, t. 26, p. 55. 


_ 2 _ 


burch Errichtung einiger guten Schulen und des Eollegiums von 
Glenalmond, durch Erbauung ber Kathedrale von Bertb, Br- 
weifeihrer Kraft gegeben. Aber jüngft ift das Parteienweſen, 
ber dogmatifche Gegenfak und bie Ziwietracht auch in ihrem 
Schooße zum Ausbruch gelommen, und man ift nun, wie eine 
Zeitfchrift kürzlich fagte, in dieſer Kirche mit allen Kräften und 
Mitteln thätig, das nieberzureißen, was man aufbauen folfte.*) 

Lord Clarendon fagte feiner Zeit (1660) von ben 
Schotten: ihre ganze Religion beftebe in ver Verabfcheuung 
bes Papftthume.”) Daß der „PBapft der Antichrift, der 
Menſch der Sünde und das Kind des Verderbens“, und 
folglid Alle, die ihm anhängen, verloren ſeien, ift da, wo 
der Achte Calvinismus berrichte, ſtets als Glaubensartikel 
betrachtet worden, und ſteht in ber Weſtminſterconfeſſiou. 
Alle Haffen und Behörden, die Hirchlichen wie bie weltlichen, 
haben denn auch jeit dem Siege ver Reformation eifrig zu- 
ſammengewirkt, die Tatholifche Religion zu vertilgen. Es 
ift indeß nicht gelungen. Noch im Jahre 1700 wurbe je 
dem Priefter, der aus der Berbannung rückkehren wärbe, 
bie Zobesftrafe angelünbigt; fiebzigjährige Greife ließ man, 
weil fie den armen katholiſchen Hochlaͤndern hatten bienen 


!) Eoclesiastio, Febr. 1860, p. 50. 


2) Die Orforber Herausgeber haben bieß gemilbert in: a great 
part of their religion. ©. Edinb. Review, t. 44, p. 88. 


278 


wollen, in ungefunben Kerkern langſam verſchmachten.) 
Die alte Kirche erhielt fich dennoch, fie bat fich in jüngfter 
Zeit, namentlich durch Seife Einwanderung, anfehnlich 
vermehrt, und ihre Kirchen und Kapellen find von 87 im 
Jahre 1848 auf 183 im Jahre 1859 geftiegen. 
j f. Die Kirchen in Hollant. 

Die reformirte Kirche in ben Nieberlanden umfaßt 
etwa die Hälfte ver Bevölkerung. Sie zählte im Jahre 
1866 1,668,443 Mitgliever. (Die Gefammtzahl ver Be 


vblkerung betrug im Jahre 1859: 3,348,747 Seelen.) 


Neben ihr fteht vie Tatholifche Kirche mit 1,164,142 Seelen. 
Dazu kommen gegen 600,000 (in zwei Selten gejpaltene) 
Lutberaner, 38,000 Mennoniten, 42,000 Separatiften, 5000 


-Remonftranten. Zwei Fünftel find alfo katholiſch. Zwei 
‚ber eilf Provinzen find faft ganz Tatholifch, drei faft ganz 


proteftantifeh. Indeß hat der Calviniemus noch bie Tradi⸗ 


tion - ehemaliger Herrfchaft. Und obgleich das calvinifche 


Dogma, die Dordrechter Orthodoxie, aus dem Bewußtfein 


der großen Mehrzahl ganz entſchwunden, hat doch die cal- 
viniſche Antipathie gegen bie Katholiken fich erhalten, fo 


daß beide Eonfefflonen dort fchroffer getrennt find, feind- 
licher fich gegenüber ftehen, als dieß in Deutſchland ver 
Fall iſt. 


1) Chambers: Domestic Annals of Scotland, Il, 205. 


279 


Die eue Drganifation der reformirten Kirche im Jahre 
1816 Hatte, fchon im Widerſpruche mit den äfteren calvini⸗ 
ſchen Prineipien durch den König eingeführt, der Staatsge⸗ 
walt großen, nach der Anficht Vieler, allzugroßen Einfluß 
auf die Firchlichen Angelegenheiten eingeräumt. 

Allein durch die neue Verfaffung von 1862 iſt der re 
formirten Kirche die größte Freiheit und Selbſtſtändigkeit 
der Bewegung eingeräumt. Die oberfte Gewalt ruht in 
der freigewählten Generalſhnode, und ihre Befchläffe unter- 
liegen feinem Lönigfichen Place. Das Einzige faft, was 
man bort noch auszufegen findet, tft, daß die Profefforen 
ber Theologie ohne Mitwirkung ver Kirche von der Res 
gierung ernannt werben.) 

Der Calvinismus hat in Holland ben großen Vortheil, 
daß er mit den biftorifchen Erinnerungen, auf welche ber 
Niederländer vorzüglich ftolz zu fein pflegt, enge verflochten 
ft. Der Kampf gegen die Spanifche Herrfchaft war zu⸗ 
gleich ein Kampf für die proteftantifche Sache, und mit ber 
Gründung der Hollänbifchen Nepublit erfolgte auch die 
Gründung ber reformirten Kirche. 

Holland ift längere Zeit das Haffifche Land des Achten 
Calvinismus geweſen. Die Kämpfe zwiſchen Lutherthum 


1) Xxpossé historique de l’6tat de l'églias ref. des Pays-bas. 
Amsterd. 1865, p. 28. 


— _ 


und Calvinismus in Deutſchland haben auf die innere Ent- 
wicklung ber reformirten Kirchen überhaupt geringen over 
feinen Einfluß geübt, aber die Ausftoffung des Arminia⸗ 
nismus, die durch biefen Streit berbeigeführte Fixirung und 
Abſchließung der calvinifchen Lehre von Gnade, Erwählung, 
Rechtfertigung, dieß ift das wichtigfte Ereigniß in ber 
ganzen früheren Gefchichte des reformirten Proteſtantismus; 
bie Dorbrechter Synode ift der Glanzpunlt biefer Ge⸗ 
fchichte, und bie Hollänbifche Kirche ift es, in deren Schooße, 
mit deren Kräften dieſe Schlachten gefchlagen, dieſe Beſitz⸗ 
thümer errungen wurben.') 

Aber von diefer Höhe des calviniichen Ruhmes iſt bie 
Hollänbifche Kirche Längft berabgeftiegen. In Gngland, 
Schottland, Nordamerika gibt es noch Anhänger der fünf 
Artikel; in der Heimath derſelben ift das Geſchlecht Dor⸗ 
drechter Bekenner unter den Geiſtlichen, wenn nicht ausge⸗ 
ſtorben, doch zu einer kleinen Schaar zuſammengeſchmolzen. 





) So auch jüngſt Merle d’Aubignd: Quand estoe que 
V’Eglise de Hollande a éto triomphante et glorieuse? Quand 
a-t-elle marched & 1a töte de toutes les dglises de la Chre- 
tient6? c'est lorsqu'il lui fut donnd de porter dans les murs 
de Dordrecht le plus complet, le plus magnifique t6moi- 
gnage, qu’il ait jamais dtd permis aux hommes de rendre 
& la gräce de Jdsus-Christ. of. Groen de Prinsterer, 
le Parti antirdvol. et oonfessionnel. p. 18. 


281 


Drei oder auch vier Parteien laffen fich unter ben 
Geiftlichen untericheiven, und jebe weicht in ihrer Anfigt 
vom Chriftenthume weit vom ber andern ab. 

Die Gröninger Schule, deren theologiſches Haupt 
Hofftede de Groot ift, war noch vor kurzer Zeit bie 
zahlreichſte. Sie würde nach beutfcher Bezeichnung ratio⸗ 
naliftifch zu nennen fein; nur daß der Titel „Rationalift” 
in Holland als Schimpfwort gilt.‘) Ihr ift Chriſtus ein 
potenzirter Sokrates, der fich weile an beſtehende Vorſtel⸗ 
kungen anbequemt bat, und Heinen Anfpruch auf abfolute 
Wahrheit feiner Lehre machen Tann. Alle chriftlichen Haupt⸗ 
Lehren Löfen fich fonach in vergängliche Zeitporftellungen 
auf. ine Kirche mit fefter, die Geiftlichen bindender Lehre 
iſt diefer Partei ein Greuel.‘) 

Momentan iſt es inveß die Leidener Schule mit 
Profefior Schalten an ver Spike, welche im Klerus das 
Uebergewicht Bat, ober zu erlangen verfpricht, unb zu ber 
bie meiften jüngeren Theologen zählen. Viele halten ihren 
Geiſt für fchäplicher noch, als den der Gröninger Theo⸗ 
logie, weil ber verhüllte Nationalismus und Pantheismus 
der Leidner ſich das Anſehen einer tieferen fpeculativen Be- 


gränbung des caloinifchen Syſtems ver unbebingten Prä- 


!) Mehner’s Kirchenzeitung, 1861, ©. 163. 
2) Ehantepie de la Sauffaye in ber bentfchen Zeitfchrift für 
heiftt. Wiffenfchaft, 1866, ©. 200. 


* 


deftination gebe, während in ber That bie ganze Theologie 
biefer Schule zuletzt zn einer Verflüchtigung und Auflöfung 
der Berfönlichteit, ver göttlichen wie ber menfchlichen, fährt. 
Bon den Theologen zu Utrecht und ihren Sängern 
wird Dagegen gerühmt, daß fie, wenn auch nicht calviniſch 
orthodox, doch chriftlich confervativer feten, als vie beiden 
andern Schulen. Die confeffionelte Partei unter Groen 
van Brinfterer, auf den Univerfitäten nicht vertreten, 
nennt ſich die hriftlich Hiftorifche, fie vertritt das gute 
Hecht des Achten, mit ver Gefchichte des Landes enge ver⸗ 
wachfenen Calvinismus, begehrt von ber Staatögewalt, fle 
ſolle die alten Belenntniß- Schriften zwangsweiſe aufrecht 
erhalten, von der Kirchenbebörbe, fie folle keine Abweichung 
bei den Predigern dulden, klagt aber zugleih über ihre 
Schwäche, über das Scheitern ihrer kürzlich gemachten Ver⸗ 
fuche, über ven Abfall ihrer Freunde, und befenut ver- 
zweifelnd, es jei, für jetzt meinbeftend, unmöglich, gegen bie 
unter ben Proteftanten herrſchende Eonfufion ein Heilmittel 
zu finden.) Was Groen nicht fehen will, fehen indeß 
Andre Kar genug: der dogmatiſche Calviniemus bes 16. umb 
17. Jahrhunderts iſt in Holland, wie andertpärts, an ber 
Theologie geftorben, und jede Wieberbelebung vesfelben 
müßte mit der Unterdrückung ber Theologie beginnen. 


) Groen, le Parti antirevol, p. 108, of Pref., p. 1. 


283 


Der Nieberländifche Klerus Kat ſich denn auch das 
Joch der Belenntnißfchriften beften® erleichtert. Die wich 
tigfte Erflärung über biefen Gegenftand ift der Beſchluß 
der Generalſhnode von 1854: „Da e8 doch unmöglich et, 
auch in dem Fürzeften Glaubensbelenntniſſe, alle Meinungen 
und Wünfche zu vereinigen, fo gebe die Kirche Abweichungen 
von den fumbolifchen Schriften frei; nur folle man das 
Weſen: Ehrfurcht vor der heiligen Schrift und Glauben 
an ben Seligmacher der Sünder, feſthalten.)“ 

Damit iſt denn für die Freiheit der Paftoren, nach 
Gutdünken zu lehren, trefflich geforgt, vie Freiheit der Ge⸗ 
meinden dagegen, fich Leinen ungläubigen oder irrgläubigen 
Prediger aufbringen zu laffen, iſt völlig illuſoriſch, und in 
Faͤllen der letzten Sabre, in welchen die Gemeinde gegen 
einen Paſtor Proteft erhoben, hat dieſer jedesmal geflegt.*) 
Die Gemeinden werden wie „Heerden“ behandelt, fagt 
Chantepie, die Tyrannei ift vollftändig. MWeberbieß tft 
kürzlich die bisherige Verpflichtung, über ben Beibelberger 
Katechismus zu prebigen, von der Shnode abgeichafft, und 
damit das legte confefitonelle Band zerriffen worden. 

Gegenwärtig, fagt Molenaar, lehrt und prebigt je 
ber, was er will. Gleichwohl redet die jährlich zufammen- 
) Berl. proteft. Rirdegeitung, 1854, S. 846. 


?) Chantepie de la’ Saussaye: La Crise relig. en Hol- 
lande. Leyde, 1860, p. 67. 


284 


tretende Synode und die jhnobale Commiſſion von der 
„Lehre unfrer Kirche”; bie General⸗Synode aber gibt auf 
alle Anfragen über bie Lehre der Kirche und das Bekennt⸗ 
niß abweifende oder ausweichende Antworten.) Die Ein« 
heit der Nieberlänbifchen Kirche beiteht nach Groen’& 
Yeußerung nur noch darin, daß alle ihre Prediger aus der⸗ 
jelben Kaffe bezahlt werden, und man follte dieſes Chaos, 
meint er, nicht mehr Kirche nennen.) 

Die Unzufriedenheit mit der beftehenden Kirche, ihrer 
Betenntnißlofigteit, ihrem allgemeinen Abfalle von ven 
Lehren der Reformationszeit und ihrem gänzlichen Mangel 
an Disciplin Bat feit 1838 unter der Leitung der Prebiger 
de Eod und Scholte zur Bildung einer getrennten Kirche 
geführt, die in einer Anzahl von Heinen Gemeinden über 
das ganze Land zerſtreut iſt. Im Jahre 1863 wurde ihre 
Zahl auf 42,000 angegeben. Aber auch unter ihnen iſt bes 
reits eine Spaltung über eine calvinifche Hauptlehre (von 
dem fteten Bewußtfein des eignen Glaubens als weſentlichem 
Zeichen ver Erwählung) ausgebrochen ?), und regen fich noch 
andre Zwiftigleiten. Abgeſondert von den „Coccianern”, wie 
biefe genannt werben, fowie von ber Staatskirche befteht 


1) Beknopte Opgaaf van de verschillende Gevoelens etc. 
Gravenhage 1856, p. 88—92. 

?) Le Parti antirdvolutionnaire, p. 106. 

) Reuter'e Repertorium, Bd. 86, ©. 147. 


BR... 


noch eine kleinere Kirchengemeinfchaft von etwa breißig Ge⸗ 
meinden unter bem Kreuze.“ 

Auch in Holland befteht faft der ganze Gottesbienft in 
ber meift fehr langen und Häufig abgelefenen Prebigt; das 
Abendmahl wirb, wie in andern calvinifchen Kirchen, nur alle 
Bierteljahre gehalten, und ver Religions unterricht ber Jugend 
von der Bequemlichkeit der Prebiger ven „Eatechifirmeiftern”, 
welche dabei noch ein Handwerk zu treiben pflegen, über» 
loffen. Wie in Schottlanp tft auch in ben Nieberlanven, 
wenigftens in mehreren Provinzen, das Begräbniß fein re- 
figidfer Alt, fo daß Todesfaͤlle dem Geiftlichen nicht einmal 
angezeigt werben.) Der Gebrauch, die Plaͤtze in den Kir- 
hen zu vermietben, bat auch bier die Ausſchließung ber 
Aermeren aus den Kirchen zur Folge, um fo mehr als bie 
Zahl der Kirchen auffallend, gering ift. Nottertam 3. B. 
bat mit 104,000 Einwohnern nur vier Kirchen. Gibt fich 
in dieſen Verbältniffen ein Mangel an religiöfem Sinne 
fund, fo tft anbrerfeitS das proteftantifhe Bewußtjein nach 
feiner negativen Seite um fo lebendiger und fräftiger. 
Schon der Engliſche Biſchof Burnet bemerkte zu feiner 
Zeit: „Die Hauptfache, welche die Prebiger in Holland 
ihrem Volle einflößten, fei Abſcheu gegen bie Arminianifche 
Lehre; daran fei ihnen mehr gelegen, als an ven font wich⸗ 


) Gsbel'so ref. Kirchenzeitung, 1855, ©. 266. 





— ⸗ 


tigſten Materien.““) Jetzt find bie Arminianer zu einem 
Heinen, ſchwachen Häufchen zuſammengeſchmolzen, und bie 
große Mehrzahl des Kerus der reformirten Kirche denkt 
theils Arminianiſch, theils gebt fie noch weit über ven alten 
Arminianismus hinaus. Dafür find jet vie fehr zahlreichen 
und nach langer Unterbrüdung rechtlich ben BProteftanten 
gleich geftelften Katholiken das Ziel der meiſten Augriffe. 
Schon Niebuhr Hat bemerft, daß ein „Techtglänbiger“ 
Calviniſt in der Ueberzeugung von feiner perfönlichen Er⸗ 
wählung (und von der Berwerfung Andersgläubiger) der 
unverfähnlichfte Gegner ſei. Man bürfe, jagt er im Jahre 
1808, gegen einen folchen ‚ven großen Dichter Vondel, 
ben einzigen Dichter, der der Nation Ehre, und zwar uns 
fterbliche Ehre, mache, nicht nennen, weil er Tatholifch ges 
worden fei.?) 

Seitdem iſt die Whneigung natürlich noch geftiegen, 
befonders Hat bie Organifation ver Tatholifchen Bisthünter 
tn Jahre 1858, in ähnlicher Weije wie zwei Jahre vorher 
in England, einen von ben Ranzeln forgfältig genäbrten 
Sturm bes Unmwillens erregt, das Minifterium mußte wel 
hen, Groen und bie Seinigen fchmeichelten fich mit einem 
großen proteflantifchen Auffchwung des Landes. Zuletzt warb 





') History of his own Time. Fol ed. I, 689. 
2) Nachgelaffene Echriften, S. 289. Vergl. die ſtarke Schifberung 
des Holländ. Fanatiomus, S. 266, 


387 


aber doch nichts erreicht, als daß fich fünf Gefellichaften 
bibeten, theils um die Katholiken zum Proteftantiemus zu 
bekehren, theils um fie im bürgerlichen Leben möglichft zu⸗ 
rüdzubrängen. Das religidfe Leben ver Proteftanten bat 
feinen Gewinn aus der großen Wgitation gezogen und bie 
Zertlüftung ihrer Kirche tft nach wie vor gleich groß. 

So lauten denn die Urtbeile Über den gegenwärtigen 
Stand und die künftigen Ausfichten ber reformirten Kirche 
in Holland büfter und troftlo8 genug. Von 1500 Predi⸗ 
gern, wurde kürzlich öffentlich behauptet, feien 1400 Unis 
tarier oder Socinianer.) „Hält der gegenwärtige Zuſtand 
an, fagt der Prebiger Chantepie, fo lann bie reformirte 
Kirche ihrer Beftimmung (der Hauptdamm gegen die Herr- 
ſchaft der Principien der Revolution zu fein), unmöglich ges 
nügen, fonbern läßt, felbft in der Auflöfung begriffen, ben 
auflöfenden und zerftörenden Kräften freien Lauf.”*) Nicht 
minder büfter lautet bie jüngfte Schilderung biefer Zuftänbe, 
die mit den Worten fchließt: „Die Todeswaſſer bed Un⸗ 
glanbens in Nationalismus, PBantheismus und Materia⸗ 
lomus burchfidern und durchfreſſen wie in Dentichland, fo 
auch in Holland die, Familie, Staat und Kirche fchligen- 
den Dämme.“’) Rath und Hilfe weiß Niemand, bie Krank⸗ 


1) Mefiner’s Kicchenzeitnng 1860, S. 541. 
7) Deutfche Zeitfhrift 1855, &. 206. 
3) In Meßner's Kirchenzeitung 1861, 16. März. 





— _ 


beit Bat ihren Sig mehr noch im Kierus als im Bolle 
es fehlt das Band des gemeinfamen Glaubens und ver 
feften Lehre, und man kann in diefer Beziehung vie Lage 
in drei kurzen Sägen bezeichnen: - 

1. Ohne eineNorm ver Lehre in autoritativen Bekenntniß⸗ 
Schriften kann die Kirche auf die Dauer nicht beftehen. 

2. Die alten Belenntniß-Schriften find nicht zu alten, 
find allgemein aufgegeben. 

3. Neue Belenntniffe zu machen, ift unmöglich. 


g. Die proteftantifhen Kirchen in Frankreich. 


Die reformirte, ihrem Urſprunge nach calviniſche Kirche 
genießt in Fraukreich bedeutende Vortheile. Sie bewegt 
fih in Allem, was ihre Lehre und ihr kirchliches Leben be 
trifft, mit ver volfftänbigften Freiheit, die fie nur wünfchen 
kann; fie hat für fich das Präftigium eines faft ein Jahr⸗ 
bunbert lang (bi8 auf Ludwig XVI.) erbulveten Drudes 
und einer fchweren, mitunter blutigen Verfolgung. Durch 
die Revolution von 1789 ift fie weit weniger beſchädigt 
worben, als bie Tatholifche Kirche, vie fich dort noch Tange 
nicht von den damals gegen fie geführten Keulenfchlägen erholt 
bat, vielmehr noch jekt an ben empfangenen Wunden bintet. 
Im Vergleiche damit wurde der Proteftantiemus von 
ber Revolution fehr fchonend behandelt, mitunter als Bundes 
genoſſe begünftigt. 





Bei einer verhältnigmäßig fo Heinen, in-ber großen ka⸗ 
tholiſchen Maffe zerftreuten und überall von ihr umfluthe- 
ten &emeinfchaft ift natürlich das Bewußtſein ftets wach 
und lebendig, daß bie fpecifiich proteftantiichen Ideen und 
der fcharfe Gegenſatz gegen alle® Katholiſche in Lehre und 
Uebung das Lebensprincip dieſer Kirche fei, ohne beffen 
Fefthalten fie unaufhaltfam von ver großen Kirche aufge» 
fogen werben würde. Daß ber franzöfifche Geiſt blatholiſch 
fei, fagen auch vie bortigen Proteftanten; „das Gefühl, daß 
bem fo fei, beberricht die evangelifche Kirche Frankreiché, 
fchreibt ein deutſcher Berichterftatter aus Paris, fie fühlt 
fih als eine Ausnahme von der Regel.” ’) Aber um fo 
fefter, folite man erwarten, werde alles Proteftantiiche fich 
um feine Fahne fammeln, fich zufammenfchließen, und nicht 
blos verneinend, fondern auch mit einem pofitiven Belennt- 
niffe der katholiſchen Kirche entgegentreten. 

Inſoweit nun Taffen fi) allerdings die naturgemäßen 
Wirkungen diefer Stellung nicht verlennen, als von irgend 
einer Annäherung an katholiſche Lehren, Vorftellungen, Ein- 
richtungen und Obſervanzen bei ven franzöſiſchen Proteftanten 
nicht die letfefte Spur ſich findet. Nicht ein einziger fran- 
zöftfcher Theologe oder PBrebiger ift, fo viel ich weiß, auch 
nur in den Verdacht gerathen, ähnlich gefinnt zu fein, wie 


1) Sengftenberg’3 Kirchengeitung, 1851, ©. 866 
v. Dillinger, Papſtihum. 19 





Re 


bie zahlreichen Tractarianer ober Anglofatholifcheri in Eng⸗ 
land. In Frankreich find fie in dieſem Sinne Alle ausge⸗ 
zeichnet gute und fefte Proteſtanten. Auch laſſen fie fich 
durch bie Verſchiedenheit ver Richtungen, durch den mannig- 
fach geitalteten Kampf tm Schooße der eignen Communität 
nicht hindern, den Tatholifchen Gegner mit vereinten Kräften 
zu befehben. Seinem Chriftusgläubigen Proteftanten wird, 
wenn er Prebiger if, der Gebanfe kommen, daß ihm ber 
gläubige Katholik näher ftehe, als der ungläubige ober ratior 
naliſtiſche Kirchengenoſſe. 

Gleichwohl iſt die innere Uneinigkeit und Zerfahrenheit 
unter den franzöftichen Proteftanten auffallend groß, und 
an irgend ein gemeinfchaftliches dogmatiſches Beſitzthum, 
eine feftftehende Lehre iſt bier fo wenig als in Holland zu 
denken. Dieß Hat zum großen Theil feine Urfachen in ver 
früheren Gefchichte dieſer Kirche. Unter allen proteftanti- 
chen Genoffenfchaften, calviniſchen wie lutheriſchen — von 
der Englifchen Kirche ift Hier abzuſehen — war die fran- 
zöfiiche bie erfle, in welcher ver Zerfekungsproceß ber pro 
teftantiichen Hauptlehren ſich vollzog. Schon vor 1686, 
aljio ehe die große protejtantifche Answanberung begann, 
hatten die bedeutenbften Theologen, Männer wie&ameron, 
Drelincourt, Meftrezat, Daills, Teftard, Any 
rault, Leblanc de Beaulien, Iurieu, La PBlacette, 
bie alte Rechtfertigungstehre und bie von ihrer Kirche ans 





291 





fänglicd angenommenen Dorbrechter Artikel als unbaltbar 
aufgegeben, hatten auch In Holland, wo nach dem Wider⸗ 
ruf des Edilts von Nantes Viele non ihnen ein Aſyl ges 
funden, zur Untergrabung bed bortigen Ealviniemus we⸗ 
fentlich mitgewirtt. So war bie alte calsinifche Tradition 
des fTranzöfifchen Broteftantismus fchon feit Ende des 17. 
Jahrhunderts unterbrochen, und nie ift eine Wieberbelebung 
des urfpränglichen Calvinismus erfolgt. Der neuere fran⸗ 
zoͤſiſche Pro teſtautismus, wie er fich feit etwa fünfzig Jahren 
geftaltet, Hat eine bogmatifche Antnüpfung an bie Hiftorifche 
Bergangenheit nie .verfucht, und Adolf Monod, auf bie 
Anklage feines Eonfiftoriums in Lyon abgefett, biieb ber 
einzige, der bie fortbauernde Gültigleit der alten Confeſfion 
von La Nochelle behauptete. Die große Mehrzahl der Geiſt⸗ 
lichen erflärte fich im Jahre 1849 gegen dieſes Belenntniß, 
und wollte und will in der That gar kein Bekenntniß, wie 
benn die ganze reformirte Kirche Frankreichs auch feine 
Theologie bat. Die Werte ber älteren Theologen find völlig 
vergeffen, eine neue tbeologifche Kiteratur hat fich nicht ge- 
bildet, und bie theologiichen Schriften des deutſchen Prote⸗ 
ftantiemus haben nur fehr geringen Einfluß erlangt. 

Seit dem Yahre 1819 hatte eine „Erweckung“ ſtattge⸗ 
funden ; da fie nicht auf franzöfifchem Boden eriwuche, ſon⸗ 
dern aus England und der Schweiz, zum Theil durch me- 


thodiſtiſche Mifftionäre eingeführt wurde, nannte man bie 
19* 


" 


292 

Erweckten Methodiſten, wie fle iu der franzoͤſiſchen Schweiz 
Momiers hießen. Der durch diefe Erweckung in ber fran- 
zöfifch proteftantifchen Kirche eingebrungene Methodismus 
wird als eine Haupturfache der Schwäche und bes elenven 
Zuftandes dieſer Kirche gefchilbert. Ex fei eine das Dogma 
zerftörende Sekte; unter dem Vorwand, daß ein Eirchliches 
Glaubensbekenntniß eine Form fei, deren das ächte Ehriften- 
thum entbehren folle, babe ex die Belenntniffe abgefchafft, 
bie Feſttage befettigt, die Communion zu einem bloßen 
Liebesmahl herabgeſetzt, ımb nach einzelnen Bekehrungs⸗ 
Geſchichten eine Methode der Wiedergeburt zugefchnitten. 
Der Methodismus untergrabe alle Bande des politifchen wie 
firchlicden Gemeindelebens.) So lauten bie Befchufpigungen, 
welche Freunde des franzöftfchen Proteftantiemus gegen bie 
bortige „evangelifche Bartei”, wie fie fich gerne nennt, erheben. 

Seitdem zerfallen die franzöſiſchen Reformirten in bie 
zwei fehr ungleichen Abtheilungen ber Gläubigen oder Er⸗ 
wedten und ber Ungläubigen ober Inbifferenten. Die Pre 
Diger werben an einer der drei theologiſchen Schulen zu 
Genf, Straßburg ober Montauban gebildet, von denen pie beiden 
erften überwiegend rationaliftifch find, bie (eßtere fo gemifcht 
iſt, daß nahezu jeder Profeffor eine befondere Richtung vertritt. 

Es ift jedoch ein Alterer und ein jüngerer Rattona- 


1) Breffel: Zuſtänbe bes Proteſtantiomus in Frankreich. Tübing. 
1848, &. 66 fi. 


2% R 


lismus in Frankreich zu unterfcheiven. -Der ältere, ale 
deſſen Repräfentant etva Athanaſe Coquerel in Paris 
gelten ınag, läßt der Heiligen Schrift die Bedeutung einer gött- 
lichen Offenbarung, verflacht aber, oder leugnet vie einzelnen 
Dogmen, und will es vor Allem zu keiner feften, bindenden 
Lehre kommen laffen. Er gibt fich entweber mit beftimmten 
 Dogmen nicht weiter ab, oder verweift fie ganz in bas 
Gebiet inbivinuellen Beliebens. Verneinung jeber Antoyität 
tft ihm das Wefen des Proteftantiemus. Der neuere Ra- 
tionalismus dagegen tft im Wefentlichen der hiſtoriſch⸗kri⸗ 
tifehe der beutfchen Schulen, oder der deftructive, wie ber 
gläubige Proteftantismus fagt, und hat durch die Vermitt⸗ 
lung ber Straßburger theologifchen Fakultät in Frankreich 
Eingang gewonnen. Diefe Richtung wirb auch durch bie 
von Colant und Scherer herausgegebene Zeitjchrift, die 
einzige wirklich theologifche Zeitichrift des frangdfiichen Pro⸗ 
teftantiemus, vertreten. Es wird berichtet, daß überhaupt 
die feptifche Richtung unter den jüngeren @eiftlichen immer 
mehr Anhänger gewinne‘) Selbſt Grandpierre mußvor ber 
Berliner Verſammlung gefteben, daß das rationaliftiiche oder 
Iatitubinarijche Element vor dem rechtgläubigen vorherrſche, 
und bie meiften Paftoren mit ihren Gemeinden fchliefen.?) 


1) Mefner’s Kirchenzeitung, 1860, ©. 48. 
?) Berhanbiungen ber Berfammlung evangelifcher Eheiften. Berlin, 
1867, &. 128. 


294 


Ans den Kreifen der Erwedten ift allmälig, beſonders 
feit 1848, die Diffivenz hervorgegangen. Diefe Treunung 
einer Anzahl von Prebigern und Gemeinden hatte ihren 
Grund nichtin dem Verhältniffe der Stantslirche zur Staats⸗ 
Gewalt. An Freiheit dem Staate gegenüber fehlt es ber 
franzöfifchereformirten Kirche burchaus nicht; vielmehr ift 
ihre Freiheit noch volfftänbiger, als die der Schottifchen 
Staatskirche. Der Grund der Trennung lag in bem dog⸗ 
matifchen Indifferentismus ober Latitubinarismus der großen 
Mehrzahl von Geiſtlichen und Laien. Diefer kam in be 
ſonders auffälliger Weife zu Tage, als die PBroteftanten 
gleich nach der Februar» Revolution 1848, wie ohne Aus 
thun fo auch ohne Einfprache der Regierung, zu einer Sy⸗ 
node zufammentraten. Dan fand bier, daß eine Genoffen- 
fchaft, die auf den Namen einer Kirche Anipruch machen 
wolle, doch vor Allem eine gemeinfame Lehre befiten, unb 
eine Urkunde, ein Bekenntniß diefer Lehre aufzuzeigen im 
Stande fein müffe. Gleichwohl war das Ergebniß der 
Berathung, daß die ganze Verfamminng die Unmöglichkeit 
erfannte, ein Belenntniß aufzuftellen, und das demüthigende 
Geſtändniß ablegen mußte, ihre Kirche babe eigentlich feine 
gemeinfchaftliche Lehre mehr.) Die alten Belenntnißfchrife 
ten gab man allgemein auf, die Aufftellung einer neuen 


— — 


) Bergl. die ausführliche Darſtellung tu Dengftenberg'e 8. 8, 
1849, €. 98 fi. 





BR. 


Sormel wurbe mit der Phrafe abgelehnt, daß man bie reis 
heit ber Kinder Gottes durch Anfftellung einer andern 
Autorität als des Wortes Gottes nicht fchmälern wolle. 
Dieß fehlen denn doch mehreren Predigern und Laien, 
unter denen ber Graf Gaſparin herborragte, ein uner- 
träglicher Zuftand, fie befchloffen aus der Staatskirche aus⸗ 
zutreten, unb evrichteten eine „freie evangelifche Kirche.” 
Dreiunbzwanzig Heine Gemeinben bilden nun bie „Union ber 
evangelifchen Kirchen Frankreichs.” '). Dieſe Diffiventen, 
zufanımen etwa 3000 ober wenig mehr, reichlich mit Geld⸗ 
mitteln aus England und ber Schweiz unterflägt, haben 
nur den Widerwillen gegen die Staatskirche und eine, fehr 
verſchiedne Farben und Geftalten annehmenve, &läubigfeit 
mit einanber gemein, unb find infofern baptiftifch gefinnt, 
als bie Kinder bei ihnen nach dem Belieben ber Eltern 
auch ungetauft gelaffen, und erklaͤrte Baptiften bereitwillig 
angenommen werben. Es verhält. fih mit biefer „Union“ 
ohngefähr wie mit der evangelifchen Allianz. Was fie zu- 
fammenhält, wiewohl eine vie Einzelnen umfaffende Orga⸗ 
nifation im Grunde nicht befteht, ift nicht das Pofitine, 
nicht ein gemeinfchaftliches Bekenntniß, fondern nur das 
Berneinte. Da aber ber Staat die Koften des reformirten 
Kicchenwejens trägt, und bie Geiftlidden der Staatskirche 


— — — nn 


1) Aufgezählt im Annuaire Protestant. Paris 1858, p. 107. 


28 _ 


befolvet, fo bleibt bie auf fremde Mittel angewieſene Se- 
ceſſion fehr ſchwach, zumal den Engliſchen und Schweizer» 
fhen Gebern mehr daran gelegen ift, daß ihr Geld zur Er 
taufung Tatholifcher Proſelhten, als daß es zur Bildung von 
Diffiventengemeinben verwandt werbe. 


Es erregte faft Verwunderung, baß Adolf Monot, 
nach Vinet der beveutenpfte Dann bes franzöfifchen Pro⸗ 
teftantiemus‘), ohngeachtet feines Calvinismus in ber eta⸗ 
blirten Kirche bleiben zu wollen erflärte. Freilich rügte er 
zugleich bitter das organtfirte Unweſen tiefer Kirche, in der 
man „unter der Firma von Toleranz und Freiſinnigkeit nicht 
nur bie Verbindlichkeit, ſondern gar die Eriftenz einer po⸗ 
fitiven Lehre leugne.“?) 

Durch die neue Verfaſſung, welche Napoleon III. der 
proteftantifchen Kirche des Reiches gab, erhielten die Res 
formirten die gewünfchten Presbpteralräthe und die aus 
biefen bervorgebenden Eonfiflorien, zugleich aber einen, von 
ben Meiften wohl nicht gewünfchten, Gentralsath als oberite 
Behörbe. Wieberum regte fih feitvem, wie früher ſchon, 
das Verlangen nach einer Beneralfynope, von ver man fich 
große Dinge verſprach. Allein die einflufreicheren Pro» 


3) Wenn nemli von Guizot, dem Staatsmanne, abgefehen wirb. 
2) S. die Schrift: Pourquoi je demeure dans l'église #tablie, 
Paris, 1849. 


a 


teftanten in Paris bemühen fih vielmehr, die Berufung 
einer Synode zu hindern; feien ja doch, jagen fie, pie Con⸗ 
fiftorien fchon fo uneinig'), auf einer allgemeinen Verſamm⸗ 
lung werbe bie Zwietracht erft recht entbrennen; man werbe 
nur den Katholiken das ärgerliche Schanfpiel proteftantifcher 
Bielfinnigleit geben, und in ben Hauptfragen boch feine mit 
imponirender Majorität gefaßten Beſchlüfſe erzielen. 

Es ift natürlih, daß foldde Verhältniffe ernſter ges 
finnten Männern die bitterften lagen auspreffen. Erſt in 
jüngfter Zeit hieß es: ver gegenwärtige Zuftand fei ein 
unerträglicher geworvden.’) Es exijtire feine Behörde, welche 
barüber wachen könne, daß bie Beiftlichen nicht unchriftliche 
Lehren vortragen. Dan gefteht: die Genoffenfchaft der Re 
formirten in Frankreich in ihrer völligen Bekenntnißloſigkeit, 
ihrem Mangel an jeber Art von Dieciplin, fei eigentlich 
Beine Kirche, fondern nur „eine vom erften Napoleon ges 
gründete Erbauungsanftalt für alatholifche Ehriften.” Die 
Kirche fei, fagt ein Organ der noch gläubigen Proteftanten?), 
anf dem Wege zum Individualismus, der gänzlichen Zer⸗ 
brödelung in Meinungen und Anfichten der Einzelnen. 


) Link. S. 14. 
?) Mefiner’s Kirchenzeitung, 1860, ©. 48. Vergl. Hengftenberg’s 
Kirch.-3., 1851, &. 984. 


3) Die Esperanoe, vebigirt von Graudbpierre. 


298 


Jedes Eonfiftorium orbinirt Prediger nach Gutbünfen '), der 
zu Orbinirende bat nicht etwa feine Webereinftimmung mit 
ber Lehre ber Kirche zu bezeugen — bie Kirche bat feine 
Lehre — ſondern er überreicht dem Conſiſtorium ein von 
ihm verfaßtes Belenntniß, und wirb, wenn bieß ver Bebörbe 
gefältt, orbinirt. Bon den Confiftorien aber hörte Liu, 
daß nur der vierte Theil chriftlich fei, weil, wo nur Ein 
ungläubiger Pfarrer fet, die Aelteften fi fämmtlih an 
ihn anfchlößen.:) Und jedes Eonfiftorium bildet eine eigne 


)Y Link: Kirchliche Skizzen aus dem evangelifhen Frankreich. 
Göttingen, 1855, ©. 22. 

?) Auf der Allianz Berfammlung zu Berlin 1867 bat ber Pre⸗ 
biger Graudpierre von Paris, bemäht, eine möglihfl gäu- 
fige Schilderung zu entwerfen, erflärt: „May bürfe wohl bes 
baupten, baf von ben taufend proteftantifchen Paſtoren Frank⸗ 
reihe, von denen 600 reformirt, 800 lutheriſch, 100 Inde⸗ 
penbenten feien, wenigfiens 5—600 rechtgläubig ſeien (ba 
Wort natürlih im Sinne ber Allianz genommen)” Allein bas 
officielle, von ber proteftantifhen Behörde ſelbſt herausgegebene 
Annusire vom 9. 1858, liefert fehr abweichende Ungaben. 
Hienach giebt es 530 reformirte, 253 lutheriſche und etwa 23 
Subepenbentenprebiger, zuſammen alſo 806 Prebiger. Hienach 
läßt fich auch beurtheilen, ob bie officielle Statiſtik richtig ſei, 
welche nach ber Ietsten Zählung 480,507 Reformirte unb 267,825 
Lutheraner, allo 748,882 Proteflanten zufammen angibt. Kolb, 
Handbuch der vergl. Statiſtik, 2. Aufl, S. 51, meint, biefe Angabe 
fi um mehr als bie Hälfte zu gering, und „if geneigt“, 
1,300,000 #eformirte und 700,000 Lutheraner anzunehmen. 
Das würde benn durchſchnittlich mehr ale 2000 Geelen anf 


— ⸗ 


Kirche, die andern Kirchen gegenüber in gänzlicher Unabhängig⸗ 
Zeit, in getrennter Haushaltung lebt.') 

So find denn die Staatöbefoldung und die Negation 
des Katbolifchen noch die ftärfften Bande, welche bie refors 
mirte Kirche in Frankreich zufammenhalten. Diefe Kirche 
bat Teine Lehre, fein Bekenntniß, Teine Theologie, feine 
Diesciplin, und einen Tahlen blos auf die Predigt und einige 
Borlefungen des Küfters nebft einem Pfalm- befchräntten 
Gottesdienſt.) Niemand kann von ihr ausgefchloffen wer- 
den. Niemand kann die Principien angeben, nach benen 
fie regiert wird oder fich felbft regiert. Ein beutfcher Be 
obachter diefer Zuftände äußert darüber: „Es iſt leider nur 
zu wahr, was die Feinde des Proteſtantismus unfrer Kirche 
ohne Unterloß zum Vorwurf machen, daß in ihr nichts als 
Zerriffenheit und individuelle Willkühr ihr Wefen treiben, 
fein anderes Band dieſe Maffe von „Unzufriepnen” zufammen- 
balte, als der Proteft, die Negation."?) Seitvem find noch 


einen Prediger geben, während in Frankreich notoriſch eine 
Menge von Gemeinden höchſtens 2—300 Mitglieber zählt. 
Das Annuaire, befjen Herausgeber bei ber Vollſtändigkeit ihrer 
ſtatiſtiſchen Notizen ganz genau über die Zahl ihrer Glaubens. 
Genoſſen unterrichtet fein müffen, fchweigt, und beftätigt eben 
damit bie Nichtigkeit ber Regierunge-Angaben. 

3) Breffel. ©. 86. 

9) Kienlen in Herzogs Encyhklopädie, IV, 561. 

3) Preſſel. &. 85 


300 \ 


andre Phänomene, bie den fortgehenden Zerſetzungsproccß 
andeuten, hinzugekommen. Auch die Darbpitifche Sefte, 
welche jedes Firchliche Amt und jeden Neft kirchlicher Ord⸗ 
nung vollends zerftören, und nichts ald vie Privaterbauung 
Einzelner oder Einiger übrig laffen will, hat Eingang unter 
ben franzöfiichen Proteftanten gefunden. Im Süden, in 
ben Gevennen, erhält, wie ſchon Gelzer geſehen Hat'), ein 
zerbroͤckelnder Seltengeift die Oberhand, Dudler, Wet» 
leyaner, Infpirirte, fogenannte „Konvertirte” oder ſtrenge 
Präpeftinatianer, und andre Selten finden Anhang. In 
der Gemeinde Eongenies 3. B., nahe bei Nismes, zählte 
man vor ein paar Jahren ſechs Selten. „Faßt man, jagt 
ein deutſcher Berichterftatter, die Frage nach der kirchlichen 
Zukunft in's Auge, fo ift der Anblid ber franzöſiſch⸗pro⸗ 
teftantischen Kirche ein folder, daß e8 eben fo ſchwer if, 
Klarheit dabei zu gewinnen, als die Hoffnung nicht ſinken 
zu lafjen.“ ’) 


i. Die proteftantifhen Kirchen in der Schweiz. 

In der Schweiz verhält fich die proteltantiiche Be⸗ 
vöfferung zur Tatholifchen in ähnlicher Weife wie in ven 
Niederlanden. Auf etwa 1 Millton Katholiten kommen 


1) Broteftantifche Briefe aus Sudfraukreich unb Italien. Züsid, 
1852, &. Bl. 
) Hengſtenberg's K.⸗Ztg. 1851, ©. 982. 


301 


nahe an 17, Miltion Broteftanten (im Sabre 1850 1,417,916). 
Lutherthum iſt Hier unbelannt; bie ganze proteftantifche 
Schweiz ift reformirt, iſt oder war wenigftens calvinifch; 
ihre Belenntnißfchriften und Normen ver Lehre waren nebft 
ber Helvetifchen Gonfeffton der Heidelberger Katechismus, 
bie Dordrechter Befchlüffe und vie Conſenſus⸗Formel, Durch 
aus ächt calvintiche Schriften. Bern mit 403,000, Züri - 
mit 243,000, Waadtland mit 192,000 Proteftanten ') fommen 
bei ver Erwägung ber kirchlichen Verhältniffe am meiften 
in Betracht. Durch den Vorzug, der zweiten Hauptform 
bed Proteſtantiomus das Dafein gegeben, bie erfte Geftal- 
tung und Stätte bereitet zu haben, reiht fich die Schweiz 
als Haffifcher Boden und Heimath des Proteftantismus an 
Dentichland an; Zürich und Genf find in religiöfer Be⸗ 
ziehung eben fo bebeutend als Wittenberg geworben. Don 
ber Plage der Bürftenherrfchaft, bie man fo häufig als bie 
Hauptquelle des kirchlichen Verderbens betrachten möchte, 
iſt die S chweizeriſche Kirche natürlich ſtets frei geblieben, 
fie Hatte es in politifcher Beziehung nur mit republikani⸗ 
ſchen, früher meift ariftofratifchen Behörven zu thun. Ohn⸗ 
geachtet der Gleichheit der Lehre tft nie ein Verſuch ges 
macht worden, eine proteftantifche Gefammtlicche ber Schweiz 


1) Nach der Zählung von 1850 in Kinsler’s kirchl. Statiſtik 
ber ref. Schweiz. Züri 1854, ©. 1. 


302 


berzuftellen. Geiftlichleit und Voll fählten Leinen Xrieb, 
tim Kirchlichen über pie kantonale Gränzichelve hinaudjn⸗ 
gehen, und bie Regierungen wollten fich ihre Tirdhliche 
Souverainetät nicht fchmälern laffen. 

Gleichwie anderwärts Hatte auch in der Schweiz bie 
Reformation die nene Kirche unter pie Herrichaft der Stante- 
gewalt geftellt. Die Regierungen festen ſich an die Stelle 
ber Biichöfe. Hatte doch fchon Zwingli das Kirchenregis 
ment dem Zürcherifchen Rath übertragen. In Bern war 
die ftaatliche Beherrſchung der Kirche confequent durchge⸗ 
führt; fie wurde als ein Zweig des äffentlichen Dienſtes 
behandelt, und die Berner Rathsherren beftimmten Lehre 
und Ritus, und entfchteven über theologifche Streit⸗ 
Fragen nach eignem Gutdünken, wenn fie auch den Rath 
der Theologen vorher vernahmen. Bon einer beftimmten 
rechtlichen Stellung der Kirche dem Staate gegenüber war 
demnach feine Nebe'), und ſchon im Sabre 1837 Hatte 
Profeſſor Zyro in Bern den Staat angellagt: er habe 
die Kirche vermweltlicht und beinahe vernichtet; bie Geiſt⸗ 
lichen feten Knechte der Neichen und der Machthaber ges 
worben.?) 


1) Romang in Geher’s Mon. Blättern V, 90. 


2) Die evangelifcheref. Kirche, befonder® im Kanton Bern. 1837. 
©. 81, 82. 


— 


Dieſe Herrſchaft über das Kirchliche erbten die neuen, 
ſeit 1830 ans den Stürmen der Revolutionsjahre hervor⸗ 
gegangenen Regierungen. Häufig unter dem Einfluß des 
in der Schweiz fo mächtigen Radicalismus ftehend, verbal 
ten fie fih im günfligften Falle gegen bie Kirche gleich» 
gültig und behandeln fie als eine Pollzeianſtalt. 

Die alte Metropole des Ealvinismus, Genf, würde 
Calvin heute kaum wieber erfennen. Sie wird mehr und 
mehr eine Tatholifche Stadt. ) „Der Glaube unfrer Väter 
zahlt nur noch eine Heine Schaar von Belennern in unfrer 
Mitte", Hat jüngft Merle d'Aubigné erklärt. Calvin's 
Kirche mit beflimmter Lehre und Verfaſſung eriftirt nicht 
mehr, fie ift in ben politifchen Newolutionen von 1841 und 
1846 gefallen; die neue wird von einem durch die abfolute Mehr» 
beit aller Proteftanten erwählten Laten-Confiftorium regiert; 
die Glaubensbekenntniſſe find abgefchafft"); die Kirche „gründet 
ihren Glauben auf die Bibel, und gefteht jevem das Recht 
freier Unterfuchung zu.“) Bel ver Geiftlichleit „berricht 


1) Bon ben 83,845 Einwohnern Genf's find jetzt 42,855 ka⸗ 
tholiſch, 40,266 proteftantiih. Im Jahre 1850 Hatte es 
64,146 Einwohner, von benen 34,212 Proteflanten, 29,764 
Katholiken waren. 

2) Mefiner’s K.⸗Ztg. 1861, S. 202. 


3) Genf’s kirchliche und chriftliche Zuſtände, in der Deutſchen Zeit- 
ſchrift. I, 248 fi. 





304 


bie abfolutefte Verwirrung binfichtlicy der Lehre.” ') Unter 
dem Einfluſſe des von England aus einbringenden Metho⸗ 
dismus hat fich in Genf feit 1816 eine „evangelifche Ge⸗ 
ſellſchaft“, und aus biefer eine „freie Kirche” gebilvet, vie 
fih des Bewußtſeins freut, mitten unter dem allgemeinen 
Abfall ein Heines Häuflein von Auserwählten zu fein. 
Ernjter waren die Vorgänge im Waadtlande. Hier, wo 
die Regierung ſchon feit der Neformation und durch biefe 
Im Befige volljtändiger Herrfchaft über die Kirche war, 
fand pie Mehrheit der Geiftlichen, ald die Gewalt in demo⸗ 
Iratifche Hände übergegangen war, pas Joch allzu brüdend, 
beſonders als der Staatsrath anf einmal 43 Prebiger ab⸗ 
fegte. Durch Vinet ermuthigt, traten von etwa 250 Geiſt⸗ 
lichen 180 aus ber Staatsliche aus. Man erfehte fie 
burch Andre; und die Ausgetretenen errichteten eine, vom 
Volke vielfach angefeinvete, „freie Kirche”, bie es iudeß in 
zwanzig Jahren nur aufetwa 3000 Mitglieber in 40 Heinen 
Gemeinden gebracht hat. 

Dem Berner Volke ift der Heidelberger Katechismus 
mit feiner 80. Frage ftetd fo forgfältig eingeprägt worden, 
daß es nach dem Zeugniffe feines Pfarrers Romang „kaum 
ein fo entfchieven akatholiſches Volt gibt, wie das Bernifche.“*) 


1) Genf's kirchliche und chriftliche Zuftänbe, in ber Deutfchen Beits 
ſchrift. 1, 258. 
?) Gelzer's M.-Bl. V, 194. 


806 


Um fo leichter war es denn im Jahre 1847, die Agitation 
gegen ven Eatholifchen Sonverbund bis zum Religionskrieg 
zu fteigeern. Der Zwed wurde erreicht, der Sonderbund 
ift vernichtet, aber den Rückſchlag Hatte man wohl nicht 
berechnet. Er traf die eigne Kirche. Romang fchildert 
nun die nächften Folgen: Zeller’8 Berufung, bie fteigenbe 
Gleichgültigkeit des Volles gegen vie Religion, den Berfal 
Des Kirchenbeſuchs, die Ohnmacht einer Geiftlichleit ohne 
alle corporative Kraft und Autorität, deren Hauptangele⸗ 
genheit Verforgung zunächſt der eignen Perfon, dann der 
Familie fe, und das Hauptübel: den gänzlichen Mangel 
‚einer kirchlichen Autorität, welche früher die Regierung und 
nur fie allein befeffen und geübt hatte, vie aber bie jeige 
vemofratifche Regierung weber in Anfpruch nehmen konnte 
noch wollte. 

Anhänger ber calvinifchen Lehre gibt e8 unter ben 
Geiſtlichen der deutſchen Schweiz längft nicht mehr; auch 
in ber franzöfiichen bilden fie Höchftens ein Feines Hänfchen. 
Don ven Belenntnißjchriften und von einer dieſen Schriften 
gemäßen Lehre ift eigentlich nicht bie Nebe mehr. Ein 
Schweizerifcher Theologe bezeugt es rühmend, daß auch bie 
Släubigen wenig mehr nach ber Confeſſion fragten, fich 
meift um das Inftitut der Kirche nicht fümmerten.‘) In 


1) Süder in Gelzer's Monateblättern, VI, 121. 
v. Dillinger, Papſtthum. 20 


506 


den Santonen Zürich, Glarus, St. Ballen, Aargau, Genf, 
Waadt, Thurgau, Uppenzell, Baſelland, Neuenburg gilt 
feine einzige altproteftantifche Belenntnißfchrift mehr. Im 
Waadtland iſt die Abjchaffung ver Helvetiichen Eonfeffion 
im Jahre 1839 ganz confequent erfolgt, da nur etwa 9000 
Dürger die Beibehaltung, aber 12,000 bie Befeitigung bes 
gehrt Hatten. In Bern, Bünbten und Schaffbaufen wirb 
ber Geiftliche verpflichtet, nach den Grundſätzen ober 
Grundlehren, welde in der Helvetifchen Confeſſion ent- 
Balten find, fich zu richten, womit vie Freiheit zu lehren 
nur wenig befchräntt if. In St. Gallen verjpricht man, 
nad) ber Bibel im Geifte der reformirten Kirche zu prebigen. 
Nur in der Stadt Baſel findet noch wirkliche Verpflichtung 
ftatt. Die beiden theologifchen Fakultäten in Zürich und 
Bern folgen Überwiegend der glaubenslofen und deſtructiven 
Richtung. Nur die Schule zu Bafel befigt und lehrt noch 
eine poſitiv chriftliche Theologie, freilich eine „Vermittlungs⸗ 
tbeologie* nach dem Maßſtabe von de Wette's und Dagen- 
bach's Schriften. 

Die Lage der Schweizerifchen proteftantifchen Kirche 
ift fchlimmer als vie anderer Länder; fie leidet an zwei 
ſchweren Krankheiten, am Radicalismus des Volles und an 
bem Unglauben, ber geiftigen Haltungslofigteit und Zer⸗ 
fahrenheit der Prebiger. Bei dem Klerus bat fi unter 
dem Einfluffe veutfcher Literatur und Theologie der Zer- 


307 


ſetzungsproceß der kirchlichen Lehre mit ſeinen Folgen voll⸗ 
zogen, und jeder Prediger pflegt zu lehren, wie es ihm 
oder feiner Gemeinde gefällt. Der ältere Rationalismus 
ift nicht mehr im Beſitze der Herrichaft‘); aber auch ber 
alte pofitive Proteſtantismus findet fich nur bei den „Ge⸗ 
meindlein in ber Gemeinde.“) Die Mehrheit der Geiſt⸗ 
fichen Halt ſich natirlih an das, was ihr in Bern 
oder Zürih oder Bafel gelehrt worden if. Im Ean- 
ton Bern haben die meiften Geiftlichen und bie Firchlichen 
Behörven offen für vie glaubenslofe Fakultät Partei ges 
nommen. In den Shnoden und andern BVerfammlungen 
befinden ſich die gläubig gefinnten Geiftlichen gewöhnlich in 
der Minderheit.) Andrerſeits bat der Radikalismus, ber 
feit 30 Jahren in ver Schweiz bald ftoßweife durch Revo⸗ 
Iutionen, bald ftille und allmälig durch die Verbreitung 
feiner auflöfenden Grunpfäge zur Herrichaft gelommen, vor 
Allem das Tirchliche Gebiet verwüſtet. Man fühlt bieß an 
ver Beröbung der Kirchen, der Entfrembung der Schulen, 
der Vernichtung des den Geiftlichen fonft zuftehenden Ein- 
—fluffes. Der Unglaube ift fchon fo tief in das Volk einges 
drangen, daß die Aelteften einer Berniſchen Stadtgemeinde 


1) Bfeiffer: Ueber bie Zukunft ber evangelifchen Kirche in ber 
Schweiz, St. Gallen 1854, ©. 21. 
2) Daſelbſt S. 23. 
3) Hengſtenberg's Kirch.⸗Ztg. 1856, ©. 598, 599, 
90° 


308 


bezeugen: unter zehn Haushaltungen fei kaum eine zu 
treffen, die noch an Bott und Chriſtus glaube und noch bie 
Schrift brauche.) „Nur eine Kirche mit Tatholifcher Orga- 
nifation hätte fich, fagt der Prediger Güder, ohne bie 
feltenfte Geiftesausgießung wider bie Angriffe behaupten 
Tönnen, mit welchen ber Radikalismus und bie rabilale De⸗ 
mofratie auf dem ſchon zuvor morjchen Boden in bie 
Schranken traten.” *) 

In dem Generalberichte der Berner Synode vom Jahre 
1854 Heißt es: „Wir bürfen es uns nicht länger verhehlen, 
unfern Öffentlichen Gottesdienſten fehlt irgend ein großes 
Etwas gegenüber den unabweislichen Bebürfniffen des Ge⸗ 
Ichlechte8 diefer Tage." Um dieſes fehlende große Etwas 
zu erlennen, bevarf es nicht etwa, wie ber Bericht meint, 
eines neuen Pfingften; es genügt fchon, das Bild, das ein 
andrer Schweizerifcher Prebiger von bem bortigen Gottes- 
dienjte entworfen Bat, in's Auge zu fallen. Unfer Eultus, 
fagt er, ift der einer bloßen Lebrgefellichaft, unſre Kirchen 
find Hörfäle mit nadten Wänden ohne Sanctuarium. Und 
diefe ſtets gefchloffenen, nur am Sonntage einige Stunden 
geöffneten Kirchen find die uns einzig noch gebliebenen 
öffentlichen Erinnerungszeihen an unfre Religion. Die 
Predigt tft und im Grunde das Eins und Alles bei un- 


1) Scher’s Mon.⸗Bl. IV, 149. 
2) Gelzer's Mon.-Bl. IV, ©. 124. 


ferem Gottesbienfte; das Mebrige ift möglich abgekürzt, auf 
ein paar Geſang⸗ Stropben und Gebetsformeln bejchränkt 
worben. Nur auf der Kanzel kann der Geiſtliche vor und 
zu ber Gemeinde fprechen; vort befindet er ſich während 
bes ganzen Gottespienftes. Die ftets fibenbe ober ſtehende, 
nie aber. Inteende Gemeinde bat nur zu Hören, läßt fich 
nur vorſprechen.) 

Diefes Bild ergänzt ein Anberer desfelben Standes 
und Landes: Die Geiftlichen, fagt er, find faft nur Redner 
auf ver Kanzel, und nicht Hirten in der Gemeinde. Die 
Wochen» Bottesbienfte erlöfchen immer mehr. In vielen 
Gegenden kommt nicht ein Achtel, nicht ein Zehntel der Be⸗ 
völferung mehr zur Kirche.“) Man gefteht, es fet mit ber 
Religion und Kirche feit geraumer Zeit fortwährend „bergab“ 
gegangen. Und doch hatte fchon im Jahre 1837 ein angelehener 
Theologe und öffentlicher Lehrer über die Kirche und den 
Klerus feine® Landes das Urtheil gefällt: „Die Geiftlichkeit 
fheint genau das Bild unfrer proteftantifchen Kirche an 
fih zu tragen, das Bild der vorherrſchenden einfeitigen Ver⸗ 
ftändigleit, welche nur „vernünftelt“, und nur jich kennt, 
nur das Seine ſucht u. ſ. w."°) 


3) Bögelin: Welche Beränderungen und Berbefferungen jollten in 
unjerm Eultus vorgenommen werben? Frauenfeld 1887, S. 34 ff. 

2) Gelger’s Monatsblätter, IV, 160. 

2) Zyro,,bdie Kirche im. Canton Bern. ©. 10%. 


310 


— — — 


Wenn denmach bie Schweizeriſchen Geiſtlichen ſich bei 
Verſammlungen über den Zuſtand ihrer Kirchen ausſprechen, 
ſo thun fie dieß in einer die Kirche anklagenden, troſtloſen 
Stimmung So geſteht Güder auf ver Pariſer Verſamm⸗ 
lung der Evangeliſchen Allianz im Jahre 1866: Unfre re⸗ 
figiöfe Lage iſt ſehr demüthigend, ſehr geeignet uns zur 
Buße zu treiben.) Bfarrer Meyer äußert in feinem vor 
der Berfanmlung der Prediger⸗Geſellſchaft in St. Gallen 
1859 erftatteten Berichte: Der Zug ver Zeit gebt nicht zur 
Kirche; ex geht an der Kirche vorbei. Daran iſt aber bie 
Kirche mit ihren Widerfprüchen ſchuld. Heute befämpft fie 
3. DB. die Baptiften und morgen bietet man ihnen auf der 
Allianz die Hand. Tie proteftantijche Kirche ift fo groß, 
der proteftantifche Kirchengeiſt fo klein.) 

Im Jahre 1849 fchrieb Profeffor Ebrard, der mehrere 
Yahre in der Schweiz gewirkt Hatte, über viefes Land: „Iu 
ber Schweiz fieht ed um bie kirchlichen Berhältniffe traurig 
aus. Läfareopapie des fouveränen Volles, das feine Reli⸗ 
gion fo nnd fo haben will. Im Waadtlande Unterbrüädung 
und Berfolgung der freien Kirche, gänzliche Fäulniß ver 
Staats - Prebigtauftalt. In den übrigen Kantonen fehlen, 
wie mir jüngft ein chriftlicher Freund aus Zürich fchrieb, 


1) Conförence de Chretiens Evang. Paris 1856, p. 800. 
») Hengſtenberge Kirhemeitung, 1869, ©. 917. 


811 


zu einer freien Kirche 5108 zwei Kleinigkeiten, Hirten unb 
Schafe; an Hunden und Wölfen ift Ueberfluß.“ ') 

Die Lage der Beiftlichen in ber proteftantifcehen Schweiz, 
der beutfchen fowohl als der franzöfifchen, ift bei ſolchen 
Umftänden nicht beneidenswerth. Zu ber religidfen Gleich 
gültigleit und ber materialiſtiſchen Geiftesrichtung kommt 
für fie die Plage des Seltenwefens hinzu, welches ihnen 
hänfig gerabe bie religiös Gefinuten in ben Gemeinden ent⸗ 
fremdet. Neutäufer, Neugläubige oder Böhmiſten, Autos 
nianer, für die es fein Gefeß und keine Sünbe mehr gibt, 
Mormonen, Irvingianer, Darbpiten haben da und bort 
Eingang gefunden. Doch ift der Volkscharakter und bie 
herrſchende Richtung dem Sektenweſen nicht günftig. Schlim⸗ 
mer für den Klerus iſt es, daß in einigen Cautonen die 
Geiſtlichen auf Ruf und Widerruf angeſtellt ſind, oder ſich 
nach einigen Jahren einer neuen Wahl unterwerfen müſſen, 
aljo gleich ven Diffenterprebigern ganz von ber Gunft der 
einflußreicheren Gemeinbeglieber abhängig find. Dazu kom⸗ 
men noch Klagen über ihre immer trauriger werbenbe na» 
terielle Lage, die derartig ift, daß man in ven Tagblättern 
vor einiger Zeit die Frage erörtert bat, ob es denn ange- 
meſſen fei, daß Pfarrerstächter in öffentlichen Ansfchreibungen 
als Hausmägve gefucht würben.') 

) Schaff’s Deutſcher Richenframb. Mercereburg 1849. ©. 272. 
N) Broteftantifche Kicchenzeitung, 1856, ©. 188, 


512 


&k.. Die proteftantifhen Denominationen in den 
Bereinigten Staaten von Nordamerika. 


Keine Staats⸗ oder Volkskirche und dennoch, vorzüglich 
in den öftlihen Staaten, allgemeines Bekenntniß zum 
Chriſtenthum — dieß ift das erite, was in religiöfer Be 
ziehung an Nordamerika auffält. Niemand würde in bies 
fem Lande wagen, ſich offen für einen Ungläubigen zu er 
Hären; es gehört in den höheren und mittleren reifen zum 
guten Tone, zur anftänbigen Haltung des Lebens, Chriſt 
zu fein. Es gibt daher auch ober gab bis in die neuefte 
Zeit keine Literatur des Atheismus, Pantheismus, Materia⸗ 
mus. Ueber das ganze Land ift eine religiöſe Atmofphäre 
verbreitet, welcher Niemand fich zu entziehen vermag, bie 
fih vor Allem kundgibt in der ftrengen Haltung des Sonn- 
tags, in der außerordentlich großen Menge der Kirchen ') 
und Bethäufer, in dem fleißigen Beſuche derjelben, in ber 
energiichen, wettelfernden Tchätigleit der verfchievenen Res 
Nigionsparteien, in ihren Anftvengungen für Mifftonen und 
in der Menge ber Firchlichen Blätter. Irreligiofität und 
Religionsverachtung wird bort nur von den Deutichen zur 
Schau getragen, und trägt wieder zu ber Mißachtung bei, 
mit welcher der Angloamerikaner auf die Deutſchen herabblickt. 


1) Die freilich, nach Löher’s Bemerkung, faft alle nur ausichen 
wie Kapellen zum Hausgebraud. 


813 


Im Weiten freilich, wohin jekt ver Strom ver Aus⸗ 
wanderung aus Europa fowohl ald aus den öftlichen Staa» 
ten Amerilo’8 in vollen Fluthen fich ergießt, da tft es an⸗ 
dere. Dort find Gegenden, wo über neun Zehntheile der 
Bewohner zu gar keiner Kirche gehören, und, ſelbſt unge⸗ 
touft, auch ihre Kinder weder taufen noch chriftlich unter- 
richten laſſen.) Dort antworten Viele auf vie Frage, zu 
welcher Kirche fie gehören: „ich gehöre zur großen Kirche“?), 
vd. h. als freier Amerifaner glaube ich fo viel oder jo wenig 
als mir beliebt, weiß mit meiner Dibel ganz gut allein 
fertig zu werben, und bebarf nicht der Krüde einer reli» 
giöfen Gejellichaft, nicht der fektifch gefärbten Augengläfer, 
purch welche fie ihre Glieder die Bibel zu lefen nöthigt. 
Denn die Bibel läßt in der Regel doch jeder Amerikaner 
gelten, und auch im Weften find nur die Deutfchen bie 
Propheten des offnen Unglaubene. 

Der Name der „großen Kirche” ift aber in ver That 
Legion, denn bei einer Bevölkerung von jegt 29 Millionen 
‚beläuft fich vie Zahl der wirklichen, durch Theilnahme an 
der Communton als SKirchengliever erlennbaren Chriften 
höchſtens auf 5 Miillionen.’) Jede der größeren Selten 


1) Ranſchenbuſch: Die Nacht des Weſtens. Barmen 1847. S. 45. 

2) ] belong to tbe big church. 

2) Schaff’s Bericht in den Verhandlungen ber Verſammlung 
evang. Chriften in Berlin 1857. ©. 234. 


814 


zerfällt nämlich in zwei Klaſſen, in bie Mehrheit Derjenigen, 
welche fich äußerlich zu ihr Halten oder, wie man bort fagt, 
„unter ihrem Einfluffe fteben“, ihre Gottesdienſte regel- 
mäßig over boch bie und da befuchen; und in bie Minori⸗ 
tät der wirklichen, vollen Mitglieder. Zieht man bievon 
bie Katholilen mit 2,400,000 Seelen ab, fo bleiben etwa 
2,600,000 Broteftanten in obhngefähr 70 Selten und De 
nominationen, welche vollen Gebrauch von den durch ihre 
Selte dargebotenen Religionsmitteln machen. 

Demnach ergeben fich 24 Millionen, welche zum heil 
ganz religionslos ſind und bleiben, zum Theil aber die Ber- 
fanmlungen einer Selte regelmäßig over gelegentlich bes 
ſuchen. Bon dieſen find Viele nicht getauft, Alle enthalten 
fi natürlich) des Abendmahls, und dieß um fo leichter, als 
in ber ganzen proteftantifchen Welt Amerika's die Ziwinge 
lifche Anficht von demſelben vorberrfcht. Man Hat zwar 
berechnet, daß auf 1000 Berfonen Ein Prebiger komme, 
das wirkliche Verhaͤltniß ftellt fich aber ganz anders, deun 
die meiften Prediger haben nur ganz kleine Gemeinden. 
So haben von den Gemeinden ber Presbpterianer Alter 
Schule 1239 nicht mehr ale 50 Mitglieder, 1907 zwiſchen 
50 und 100, und nur 736 über 100. Don ven Eongre 
gattonaliften Haben 696 Gemeinden bis 50, 1219 bis 100, und 
152 über 100, und bieß felbft in den großen Stäbten.') 


) Krauſe's Kirchenzeitung, 1866, ©. 480. 


315 


Die Folge bavon ift große Armuth der Prebiger und ihrer 
Samilien, und bie Klage, daß nirgends ber Geiftliche fe 
Ichlecht bezahlt fei als in Norbamerita, kann nicht befrem- 
den. Wie groß die Zahl der von jeder Religionsübung 
fih ferne Haltenden fe, mag man aus der Thatjache er⸗ 
mefjen, daß in den fämmtlichen Kirchen von New⸗HYork nur 
205,580 Berfonen Blat finden, und 638,131 ausgeichloffen 
find.) Die mäßigfte Angabe ift, daß über die Hälfte aller 
Erwachſenen in Amerika keiner religiöfen Gemeinſchaft ans 
geböre.?) 

Dieß find die Folgen des Freiwiliigfeits- Principe. So 
rächt fi der Mangel einer Nationalkirche. So wirkt bie 
Herrichaft des Sektenweſens, und fo muß fie wirken. Denn 
wenn Millionen den Eindrud empfangen, daß fie fich ihre 
Religion und Kirche aus einer bunten Dienge von Denoe 
minationen frei auszuwählen haben, fo werben wohl Einige 
fih durch irgend einen zufälligen Umftand bejtimmen laffen, 
eine Wahl zu treffen. Die Mehrzahl aber wird dem pein- 
lichen Zuftanbe des rathlofen Schwankens durch indifferente 
Neutralität ein Ende machen, und fich mit ver Erwägung 
berubigen, daß unter fo vielen vorgeblichen Bräuten feine 
die rechtmäßige Gemahlin, Alle am Ende nur Sleböweiber 


1) Meßner's Kirchenzeitung, 1861, ©. 288. 
?) Marshall’s Notes on the Episcopal Polity. London 
1844, p. 501. 


316 


feien, pie keinen Anfpruch auf die Treue und Huldigung 
eines freien Mannes zu machen hätten’) 


Der Zuſtand des Chriſtenthums in Amerila ift eine 
große, ernfte Warnungstafel, und wird es künftig noch mehr 
werben. Der Mangel einer Volkskirche, welche jeden fchon 
als Säugling empfängt, ihn durch die Taufe fidh einver- 
leibt, ihn erziebt und in eine Atmofphäre des gemeinfamen 
Lebens verpflanzt — diefer Mangel ift durch nichts zu er- 
fegen. Den Zuftand, den Europa felbft nicht verwirklichen 


) So erzählt H. Seymour Tremenbeere in feinen Notes 
on public Subjects, made during a Tour in the United 
States, London 1852, p. 51, auf das Zeugniß bes proteflan- 
tischen Pfarrers Edfon zu Lowell bin: Die jungen Leute, 
welche al® Arbeiter aus ben benachbarten Staaten nach Powell 
zufammenftrömten, feien gewöhnlich obne alle Kenntniß chrif- 
licher Lehre und völlig inbifferent bezüglich der Selte, ber fie etwa 
angehören möchten, indem fie meinten, baß ja boch alle Religionen 
gleich feien; dabei zwar fonft gut unterrichtet, aber fehr lax in 
ihren Begriffen von Moral und Pfliht. Bei ben Kindern, 
welche einen Religionsunterricht erhalten hatten, fand Epfon, 
baß ihnen gewöhnlich Fein einziger Punkt ale auf Autorität be» 
rubenb beigebracht worden war, daß man vielmehr alle 
Lehren als Ergebniffe inbivibueller Anfichten behandelt, und 
fie fo ziemlich dem eignen Ermefien des Kindes an heimgeſtellt 
hatte. Dan fieht, daß die Amerikaner doch einigen Sinn für 
Conjequenz haben. Ed ſon fügte inbeß bei, biefer gänzlicdhe 
Mangel an aller Autorität ſchon in ber Srziehung der Kinber 
werbe jebt allgemein als ein fchweres Unheil empfunden. 


317 


mochte, bat es nach Amerika verpflanzt, denn Amerika iſt 
doch nur der Sammelplag aller Selten und Spaltungen 
bes proteftantifchen Europa geworben. 

Eine der fchlinmften Folgen dieſes Mangels ift gleich 
das Amerilanifche Schulſyſtem, von welchem jeder Religions 
Unterricht ansgeichloffen iſt. Die Bibel darf zur Lefe- 
Mebung gebraucht, aber kein Wort ver Erklärung vom 
Lehrer beigefügt, fein Gebet geſprochen werden.) Wenn 
das Sektenweſen feinen andern Fluch über Amerika gebracht 
Hätte, als ein ſolches Schulfyften, welches die Jugend des 


1) Religidss gefinnte Amerikaner Äußern fi) mit ber fchärfften 
Mißbilligung und beftigem Umwillen über biefes religionsloſe 
Etaatsſchulweſen. Our ten-times helpless, wretched, aud 
ruinous Common School System, nennt e8 das Mercersburg 
Review, V, 41. Eine Schrift von Colwell über biefen 
Gegenſtand: The Position of Christianity in the United 
States, Philadelphia 1854, p. 98, fagt: Dieſe Ausſchließung 
bes Chriftentbume von ber öffentlihen Erziehung fei eine felbft- 
mörberiihe Einrichtung; ber fchlimmfte Feind ber Menfchheit 
hätte nichts erfinnen können, was für bie republifanifchen In⸗ 
flitutionen des Landes verberblicder wäre u. ſ. w. Bekanntlich 
befteht in Holland biefelbe Einrihtung und wirb bort eben fo 
bitter Darliber geffagt, wie dieß 3. B. ber Baron v. Lynden 
auf der Berfammmlung ber Evangelifghen Allianz in Berlin 1857 
that. &o lange aber in beiden Ländern die Urſache, nämlich ' 
die kirchliche Zeriplitterung bleibt, werben bie Klagen und 
wechfeljeitigen Beſchuldigungen ber Parteien wohl wirkungslos 
verhallen. 


318 


Bandes gewöhnt, Willen und Leben einerfeit6 und Religion 
andrerſeits als zwei völlig geſchiedene und von einander 
unabhängige Gebiete anzufehen, fo müßte bieß ſchon ges 
nügen, in ihm eine ber größten Calamitäten der neuen 
Welt zu erkennen. Man macht gegenwärtig in Amerika 
bie bittere Erfahrung, daß eine von chriftlichem Geiſte ent⸗ 
blößte Erziehung nicht blos mangelhaft, fonbern pofitiv ver 
derblich iſt, daß fie Kräfte mit ver Gewißheit ihres Miß⸗ 
brauche verleiht, und die Menfchen zu kalt berechnenben 
Schurken mad.) Die Sonntage-Schulen, die man bort 
eingeführt bat, find Fein Erfat für den Ausfall ver chriſt⸗ 
(then Pfarrſchule. Möge Europa durch die traurigen Fol⸗ 
gen, die dieſes Syſtem in Amerika erzeugt bat, und künftig 
noch mehr erzeugen wird, fi) von ver Betretung ber glei« 
ben Bahn abfchreden laſſen. 
Die Trennung von Kirche und Staat hat im Grunde 
erft der ungläubige Jefferſon und fein gleichgefinnter Au⸗ 
-bang burchgefegt, ver Mann, ver fich fchmeichelte, daß ganz 
Amerila nod vor Ablauf einer Generation unitarifch wer- 
den würde. Kraft dieſer Trennung ift es dem Staate und 
feinen Beamten verboten, fich irgendwie in die Angelegen- 
beiten ber religiöfen Benofjenfchaften zu mifchen. 





1) Bergl. die energiſchen Worte einer Amerikaniſch⸗ theologifchen 
Zeitjchrift, der Presbpterianiichen Bibliotheca Sacra, 1851, p. 768. 


819 


Man ift aber noch weiter gegangen: bie Berfaffung 
verfügt, daß zu feinem öffentlichen Amte ein religiöjes Be⸗ 
kenntniß je geforbert werben '), daß ber Congreß kein &e- 
feg machen dürfe bezüglich des geſetzlichen Schuges einer 
Religion ?), oder um die freie Ausühnng einer Religion zu 
nnterfagen. Die ganze Urkunde ignorirt die Exiftenz bes 
Ehriftentgums. Story, der Amerifanifche Bladftone, 
meint in feinem Commentar, an ber Pflicht jeber Regierung, 
das Chriftentbum unter allen Bürgern und Unterthanen zu 
pflegen und zu ermuntern, fei nicht zu zweifeln; aber man 
babe durch jene Beftimmungen aller Nebenbuhlerichaft zwi⸗ 
ſchen den chriftlichen Sekten vorbeugen, und das Aufkommen 
einer nationalen Staatslirche, welche ihrer Hierarchie das 
ausichließende Patronat der Regierung zuwenden würbe, 
verhindern wollen.) Dagegen wird in ben einzelnen Staa⸗ 
ten, 3. B. in Benfylvanien, der Sabbath und die Bibel 
förmlich unter den Schuß der Geſetze geftellt, und Tann 
man wegen blasphemifcher Aeußerungen vor Gericht ge- 
ftellt werben. In Maffachufetts wırrde fogar von dem Ge- 
richtshof entſchieden, daß nach dem Geſetze der Mord eines 
„Infidel“ (Ungläubigen) kein Verbrechen fei.*) 


) Mercersburg Review, III, 329. 

?) Respeoting an establishment of religion. 
?) Mercersburg Review, III, 831. 

*) Atlantiſche Studien, III, 65. 


320 


Es find die Firchlichen Barteien und Genoſſenſchaften 
Englands, welche fich feit dem 17. Jahrhundert, theils um 
dem beimifchen Drude zu entgehen, tbeils, wie bie Epi- 
jtopalen, bloß in Folge der Eolontfation dort verbreitet und 
“im Boden Wurzel gefchlagen haben. Wie der Angeljächfiche 
Bolleftamm ber vorherrfchende ift, fo ift auch Angelfächfi- 
ſches Religionsweſen, als das Probuft des langen wechfel- 
vollen Kämpfens und Ringens zwifchen Calvinismus und 
Epifkopalismus, zwifchen Affociationskirche und Staatskirche, 
das überwiegende Element, das feinen Einfluß auf bie Eins 
gewanderten andrer Nationalitäten und ihre mitgebrachten 
Glaubens⸗ und Kirchenformen erftredt. Nur eine, bie 
latholiſche Kirche, verfchließt fich dieſem Einfluffe, in fo weit 
ihr Weſen durch denfelben alterirt werden würbe. 

Alle Kirchen oder religiöfen Genoſſenſchaften find alfe 
an Rechten volllommen gleich; Jeder kann nad) Butbünfen 
irgend welcher Sekte oder auch keiner fich anfchließen, ober 
eine neue gründen. Wie in Bolitit, im Handel und im 
Gewerbe, fo berricht auch auf dem religiöfen Gebiete bie 
freiefte Concurrenz, und erzeugt eine energifche Thätigkeit, 
eine Elaſticität der Tirchlichen Organismen, freilich auch ein 
aufpringliches Hafchen und Jagen nach Profelgten, wogegen 
die träge Ruhe und Stagnation ſtaatskirchlicher Körper 
ſchaften grell abftiht. In dem praftifhen Geſchick, ihre 
Netze zu ſtellen, und die Maſſen einzufangen, ſcheinen die 


821 


Methodiſten Allen überlegen zu fein. Umfo mehr müffen auch 
bie andern ihre Kraft zufammennehmen, mäfjen die Ihrigen 
feftzuhalten und neue Belenner zu gewinnen ftreben. Schon 
die Ausficht, im Notbfalle unterftügt zu werben, führt bie 
fen Kicchengemeinfchaften ganze Schaaren zu. Die Kunit, 
für religiöfe Zwede Gelomittel aufzubringen, ift hier forg« 
fältig ausgebildet, und in ver Gefchietlichkeit, wie mit jedem 
Dinge, fo auch mit der Religion Geld zu machen, über, 
treffen die Amerikaner wohl alle Nationen. Man verfteht 
es, bie Schaaren, welche, fich felbft überlaffen, wenig oder 
nichts beitragen würben, burch Uebung eines den Schein 
der Freiwilligkeit nie verlegenden moralifchen Drudes zu 
zeichlihen Spenden zu bewegen, und ber Erfolg " ein 
außerorventlicher. 

Auf alles Ehriftliche ift ein Segen gelegt, der im Ganzen 
und Großen nicht zerftört, nicht iu Fluch verkehrt werben 
kann. Dieß gilt vor Allem in focialer Beziehung. Auch 
in der mangelhafteften Geftalt, uuch mit mannigfachen Irre 
thümern verfegt, auch durch menfchliche Verkehrtheit und 
Leidenschaft entjtellt und degradirt, wirkt das Chriſtenthum 
noch unberechenbar viel Gutes. Tocqueville hat es bes 
redt hervorgehoben, wie viel Amerika dem ernftreligiöfen 
Sinne und der kirchlichen Zucht verdanke, welche bie Puri⸗ 
taner aus England mitbracdhten und in dem neuen Vaterlande 


einbeimifch machten. Es war bieß das Verdienſt ber brei 
». Döllinger, Papfıhum. 21 


322 





großen puritsnifchen Parteien, ver Presbyterianer, Congre⸗ 
gationaliften und Baptiften, die bis gegen Enbe bes vori⸗ 
gen Jahrhunderts Norbamerila geiftig beberrfchten. Seit- 
dem find die Methopiften hinzugelommen, und haben, io» 
dem fie ſich au den gefuntenften Theil ber menfchlichen Ge⸗ 
fellfchaft gewenbet, bedeutende Erfolge erreicht. Diefe vier 
Hauptformen des Amerikanifchen Proteftantismus, und neben 
ihnen bie in ber jüngften Zeit zu größeren Kräften ge» 
tommene bifchöfliche Kirche, find demnach bie eigentlichen 
Träger derjenigen Religiöfität, welche berzeit noch, beſonders 
in den Streifen der eingebornen Amerifaner, vorhält. Jene 
Hauptparteien find wohl felbjt in eine größere Zahl von 
Selten zerklüftet, doch find dieſen gewiſſe gemeinfchaftliche 
Grundzüge und Tendenzen geblieben; das Gewimmel ber 
übrigen Selten aber — kürzlich wurde von ben bios in 
New⸗York befindlichen eine Lifte, die über 7O Namen ent» 
bielt, mitgetheilt‘) — iſt, wenigftens in ben höheren und 
mittleren Stänben, von geringem pofitiven Einfluß, wenn 
ed auch negativ durch Schwächung des Glaubens an eine 
fefte chriftliche Wahrheit, und durch Erzeugung und Nährung 
eines fleptifchen Indifferentismus, ſchwer genug in bie 
Wagſchale fällt. 

Die herrſchende Meinung ift in Amerika den Selten- 


1) Darınfläbter K.-Btg., 1867, ©. 1160. 


323 


weſen nicht ungünſtig. Man betrachtet dasſelbe eher ale 
einen Borzug. Der Begriff Kirche, ber Gedanke, ber 
Kirche anzugehören oder angehören zu follen, exiftirt für 
ben Amerilauer nicht. Er weiß, daß er ſich nur zu einer 
Selte hält, nur Glied einer Denomination ift, wie es beren 
im Lande noch viele gibt, daß feine Genoſſenſchaft nur in 
den Vereinigten Staaten, ober etwa noch in England ober 
Schottland, fonft aber in der ganzen Welt nicht exlitire. 
In der Kegel kommt ihm bier bie feite Ueberzeugung zu 
. Stetten, daß nun einmal die Angelſächſiſche Race das aus⸗ 
erwählte Gefchlecht der jetigen Zeit, und demnach auch der 
von Gott erforne Xräger der wahren Religion fei. Zus 
gleih macht er fi von ber chriftlihen Vergangenheit, 
wenn er überhaupt daran denkt, gewöhnlich pie Vorftellung, 
daß e8 von jeher nur Selten, nur eine bunte Vielheit von 
feindlichen Kirchenlörpern gegeben habe, daß alfo eine von 
Chriſtus geftiftete Kirche entweder nie eriftirt, oder längft in 
Selten ſich aufgelöft Habe. Er meint alfo natürfich, in Er⸗ 
manglung des ganzen noch unzerbrochenen Gefäßes müfle 
man ſich mit Scherben begnügen, und da fei denn fein einzelnes 
Stüd viel beſſer oder viel fchlechter als das andere, ſondern 
jeves babe doch noch etwas von der urjprünglichen Vaſe 
an fih. Oder man vergleicht die Ehriftenheit mit einem 
Walde, in welchem viele verfchievenartige Bäume neben 


einander Licht und Luft Hätten. 
21* 


324 


Nach der vorherrfchenden Anſicht darf denn auch bie 
Regierung kein religiöfes Belenntniß begünftigen und feines 
zurüdjeßen, fie muß fich gegen alle kirchlichen Genoſſen⸗ 
ichaften, fo lange fie nichts ven Landesgeſetzen Widerfprechen- 
des (ehren und thun, gleich neutral und gleich inpifferent 
verhalten. 

In den Augen ber Politiker, Advocaten, Literaten bes 
fteht der Vortheil des gegenwärtigen Zuftandes vornehmlich 
darin, daß „die Sekten durch ihre gegenfeitige Eiferfucht 
einander im Zaum halten”, wie ber New» York Obferver 
fagt. Ihnen feheint e8 ein großer Gewinn, daß es in 
Amerika feine Nationallirche, Leine religiöfe Autorität gibt. 
Die rechte Religionsfreiheit, wozu vor Allem die Freiheit, 
ſich aller Religion zu entfchlagen, gehört, ift, wie fie meinen, 
durch die Menge ver Selten am beften gejichert. 

Indeß es gibt doch auch Bibelleſer in jenem Lanbe, 
und ba fällt denn ihr Blick zuweilen auf bie Stellen, in 
denen Chriftus jo deutlich und energifch von der Einheit, 
von ber fichtbaren, Tirchlichen Einheit feiner Belenner rebet. 
Und wirkli wird behauptet‘): man höre felten mehr eine 
förmliche Rechtfertigung des Seltenwefens, wie fie wenige 
Jahre früher fo gewöhnlich gewejen. Vielmehr fchienen 


Schaff's deutſcher Kirchenfreund für bie amerifanifch-beutichen 
Kirchen. Mercersburg 1848, S. 141—47. 





825 





jest die ausgezeichnetften Theologen und Chriſten in ber 
Berurtbeilung des Seltenwefens zufammenzuftimmen, un 
es als etwas Krankhaftes anzufehen, deſſen Heilung fich 
alle angelegen fein laffen. Seiner Innern Natur nach ift 
dieſes Sektenweſen ein-Oreuel — fagt vie beßte ver kirchlichen 
Zeitjchriften Amerika's. Die ganze Welt weiß, daß das gegenſei⸗ 
tige Verhältniß unferer Selten weit mehr ein Verhältniß der 
‚Rivalität, Oppofition und Eiferjucht, als ein VBerhältni brüder⸗ 
ficher Liebe und darmonifchen Zuſammenwirkens ift. Wenn es 
von ben alten Ehriften hieß: Seht wie fie einander lieben, jo gilt 
von ben jegigen Amerifanifchen Ehriften: Seht wie fie ein- 
ander haffen.') Das Schlimmfte jedoch ift, „daß auch diejeni⸗ 
gen, welche diefe Spaltungen verdammen, durch bie Berhältniffe 
und turch das Gefet ver Selbfterhaltung gezwungen find, fich 
mehr oder weniger mit dem denominationellen und fektirert- 
ſchen Geiſte zu identificiren.“ 

„Alles iſt dort Selte bezeugt ein Deutſcher Be- 
obachter, nur als Seltirer kann ein Previger fortlom« 
men“, und Vergrößerung ber eignen Selte ift bie große 
Angelegenheit, ber jede andre Rückſicht weichen muß.) 
Da gibt Iemand 500 Dollars jährlich zur Aufrecht⸗ 
haltung feiner aus fünf Gliedern und einem Prebiger 


) Mercersburg Review, V, 584. 
n, Büttner: Die Vereinigten Staaten, I, 346, 247. 











326 


beftehenden Sekte.) Ein auf Metbopiftifche Weiſe befehrter 
berumreifender Neligionslehrer prebigt in den Gemeinden 
gegen ihre nicht nach gleichem Zufchnitte bekehrten Geift- 
lichen.) Selbft die frieblichen Duäfer, die in England ver 
einigt geblieben, haben fich in Amerika gefpalten. Es ifl, 
ale ob in dem Lande ver freieften politifchen Bewegung ber 
religiöfe Sinn des Menfchen unvermeiblich fich in bie enge 
Schnürbruft eines Sektenſyſtems einpreffen laſſen müſſe, 
als ob man ven Geiſt des confelfionellen Haders mit ber 
Luft dort einathme; Kaum Haben fich deutſche Gemeinden 
von proteftantifchen Auswanderern gebildet, fo Tehrt auch 
Zank und Streit bei ihnen ein.?) 

Selbſt den proteftantifchen Geiftlichen Amerika's bat 
fih die Wahrnehmung aufgeprängt, daß ihr Land ber Frei⸗ 
beit im Grunde ſich doch als das unbulpfamfte von allen 
bewährt, und Unduldſamkeit die Spaltungen wie eine 
Heufchredenplage vervielfältigt habe.) „Die religiöfe Ges 
fchichte unfres Landes, fagt Colton, wird charakterifirt durch 
bie beiden Ertreme: ein fletiges Ruhmen religiöfer Freiheit, 
und ein beharrliches Streben dieſe Freiheit zu erftiden.“ 


3) Büttner I, 288. 
2) Büttner I, 341. 
2) Büttner I, 857. 
ı) Colton’s Thoughts on the religious State of the Country, 


p. 204, 6. 





\ 





327 


Eine folide wiffenfchaftliche Theologie ift in der jetigen 
Loge für Amerika eine Unmöglichleit. Geber Theologe ober 
zum Anbau ver Theologie Berufene eriftirt nur in einer 
beflimmten Sekte, fteht mehr ober weniger unter ber Th⸗ 
rannet oder doch unter dem Einfluffe feiner Denomination. 
Seine Sekte ift eine von befchräntten Menſchen zum mo⸗ 
mentanen Rothbehelf aus boctrinellen Bruchflüden gezim- 
merte Hütte, die ihm zum theologiichen Fluge weder Raum, 
noch Licht, noch Luft gewährt. So gefteht denn auch Nevin, 
der einzige bort lebende Theologe von Bedeutung: bie 
Amerilanifhe Theologie fei mit allen ihren Anfprüchen und 
fromm klingenden Phrafen, doch zum größten Theile bloße 
Scullnaben-PBedanterei, verglichen mit ver deutſchen.) Der 
einzige Mann, der außer Nevin Stoff und Beruf zum 
eminenten Theologen in fih trug, war William Ellery 
Ehanning, Prediger zu Boſton. Aber fein tiefer Wider» 
wille gegen das Galvinifche Syſtem, dieſe „Schmählchrift 
gegen feinen bimmlifchen Water“, wie er es nannte, beffen 
ververbliche Wirkungen er überall um fich ber ſah, erfüllte 
ihn, der feine beffere Theologie zu Tennen Gelegenheit hatte, 
mit Haß gegen die ganze Theologie feiner Zeit, und machte 
ihn zum Unitarier.?) 

1) Mercersburg Review, 11, 165. 


2) Bergl. feine Aenßerungen im 2. Banbe bes Memoir of W. 
E. Channing. London, 1850, bejonbere p. 134, 185. 


828 


Ein Wert über die Amerilanifchen Religionsparteien, 
das im Jahre 1844, und reichlich vermehrt im Jahre 1848 
erſchien, liefert von jever derfelben einen im Schooße der frag- 
lichen Selte felbft verfaßten und von ihr eingefanbten Abriß.') 
Da zeigt fih denn, daß faft alle, wie eng auch tie Um⸗ 
zäunung ihres Sonverlebens, wie kümmerlich auch die Bruch» 
ftüde igres Chriſtenthums fein mögen, doch verfichern, die Bibel, 
bie ganze Bibel, und nichts als die Bibel zur Duelle und Richts 
ſchnur ihrer Lehre und Einrichtung zu haben. Jede rühmt, wie 
gewiſſenhaft fie fich an das Neue Teitament anfchließe, und 
forgfältigft bemüht fei, jedes Stäubchen kirchlicher Tradition 
von ihrem Gewande wegzublafen. So Hat es denn bieler 
biblifde Purismus, dem die abfolute Klarheit und Durch⸗ 
fichtigleit der Schrift als erſtes Ariom fefjteht, ver für 
jeben feiner Selten» Artitel Kapitel und Vers ver Bibel 
zu citiren verfteht, in Amerifa bereits zu mehr als fünfzig 
Selten gebracht. Und indem faft jedes Yahr eine oder 
ein. paar neue „Kirchen“ entiteben, weiß man immer genan 
nachzumweifen, wie biefer oder jener DBibeltert e8 gewiſſen⸗ 
haften Ehriften unmöglich mache, einer ber bereits eriftiren« 
ben fünfzig ober fechzig Kirchen fich anzufchließen, vielmehr 
gebieterifch bie Stiftung einer neuen Kirche fordere. Be⸗ 


) D. Rupp: Original History of the religious Denominations. 
‚ Harrisburg 1848, 2. ed. 


329 


fenntnißfchriften, fomboliiche Bücher, werden entweber ganz 
verworfen, da fie neben ver Bibel überflüffig feien und 
fih nicht gut mit verfelben vertrügen, wie die Campbell 
Baptiften jagen, ober fie müffen, wie bie Congregationa« 
liften erliären, felbjt wierer nach ber Bibel gemeffen wer⸗ 
ben.) Mehrere der neuern Sekten verfichern, gerade zur 
Wieverherftellung der urſprünglichen Einheit der Kirche fich 
gebildet zu haben, ein Zwed, ver nur durch Erhebung der 
Bibel zur alleinigen Richtſchnur erreicht werben könne. 
Jede der andern Sefkten-Schweftern, meinen fie, habe zwar 
vorgegeben, fi rein an die Bibel halten zu wollen, fei 
aber dem Grundſatz doch nicht treu geblieben; fie erſt woll« 
ten nun Ernft damit machen. So oft eine neue Bartei 
ſich von der alten abzweigt, gefchieht e8 ihrer Beftätigung 
nach, weil die alte Sekte ohngeachtet ihres excluſiven Bibel 
thums unbiblifchen „Traditionen“, unrichtigen Deutungen 
Raum gegeben bat. 

Inſoweit alfo findet fich eine gewiffe Lebereinftimmung 
unter den Amerikanischen Sekten, als alle von bemfelben 
Vorderſatz des alleingeltenden Bibelworts und ber Leug⸗ 
nung jeber kirchlichen Eontinuität und Autorität ausgehen. 
Jede hat das Rojungswort: „Offene Bibel und fouveraines 
PBrivaturtheil”, auf ihre Sahne geſchrieben. Die Bibel, dieß 


ı) Rupp, p. 224, 281. 


330 


iſt die allgemeine Theorie, ift völlig Mar für jeben mit 
mäßigen Verſtande begabten Menichen, befonbere Stubien 
und Vorkenntniffe find zur ficheren Auslegung verjelben 
nicht nöthig; liest er fie, fo darf und foll er glauben, daß 
der Sinn, den er in ihr findet, der allein wahre fei, und 
daß er ihn mit Hülfe des heiligen Geiſtes erfannt babe. 
Diefes Recht des Privaturtheils wird als das Palladium 
bes Evangeliums, als die einzige Alternative bezeichnet, 
wenn man fich nicht einer unfehlbaren Autorität unter 
werfen wolle.‘) -In Wirklichkeit aber geftattet feine einzige 
diefer Selten, daß der Einzelne nun auch wirklich von bie 
ſem Rechte Gebrauch mache. Jede hat ihr Syſtem, jebe 
zwingt ben biblifchen Text, ihre Anfichten auszufagen; jede 
ftößt, wenigſtens der Theorie nach, denjenigen, ver feinem 
eignen Urtheile über den Sinn einer Bibelftelle ven Borzug 

vor der berfömmlichen Auslegung feiner Gemeinſchaft geben 
wollte, aus ihrem Schooße auß. 

Mehrere der Amerilanifchen Selten behaupten, fi 
aus Freibeitstrieb von Älteren Denominationen abgefondert 
zu haben, ober „um ber Geißel eines menfchlichen Glaubens 
Belenntniffes zu entgehen.” In der That aber find biefe 
Selten wahre Zwiugburgen des Geiſtes; jede hat ihre eigne, 
meift fehr magere und engbrüftige Ueberlieferung und Ob⸗ 


1,6. z. B. von den Sumberlanb Preobyterianern. 
Rupp, p. 512. 


— — — — — — __ — 





331 


fervanz. Die Selte ift ihrer Natur nach jeder wiſſenſchaft⸗ 
lichen Theologie inftinkttmäßig feind. Sie hat das Gefühl, 
furzlebig zu fein, und keine Befchichte, feinen Zuſammen⸗ 
bang mit dem großen durch die Jahrhunderte fich gleich« 
mäßig fortbewegenden Tirchlichen Strome zu haben, fie ift 
baber von Widerwillen gegen die ganze Firchliche Bergangens 
beit erfüllt.) So fagen z. 9. die Baptiften der feche 
BPrincipien: Ein ächtes Glied ihrer Gemeinfchaft kümmere 
fich nicht darum, ob auch ihre Lehren in ben verjchiebenen 
Zeitaltern ver Kirche dageweſen feien ; ihm genüge, daß Ehriftus 
fie verfünbet habe. Die Stammfelte ver Baptiften fett fogar 
ihren Ruhm und Vorzug darein, daß fie um vie ältere 
Lehre der Kirche fich nicht befümmere. Bezüglich ver kirchlichen 
Tradition pflegen fich die Sekten thatfächlich an das Princip zu 
halten, daß eine Tradition um fo verwerflicher fei, je Alter 
und allgemeiner fie fei, um fo wertbooller aber, je jünger 
und blos ber einzelnen Selte eigenthümlich fie fei. ‘Die 
furze Vergangenheit des eignen Sektenlebend mit feinen 
Erfindungen und Einrichtungen von geftern wird fofort zu 
einer Kette, die jeven unter Strafe ver Ausftoffung bindet. 

Ein andrer gemeinfchaftlicher Zug der jüngeren Selten 
tft Verwerfung ver Rinvertaufe. Einzelne, wie bie Bap- 
tiften bes fiebenten Tags, Haben entvedt, daß im Neuen 


Zeftament nicht von einer Webertragung des Sabbath 


) Rupp, p 88. 


332 


auf den Sonntag vorlomme, und halten demnach die Be⸗ 
obachtung des Sonnabend als Sabbath für durchaus noth- 
wendig.) Sie und Andre erkennen auch in der Fuß—⸗ 
waschung ein von Chriftus eingeſetztes Sakrament. Bei 
faft allen Amerilanifchen Selten find ferner die Sakramente 
nicht Vehikel ober mwerkzeugliche Vermittler der Gnade, auch 
nicht Pfänder beffen, was Gott uns gibt, ſondern finfen zu 
bloßen Symbolen veffen herab, was im Menfchen vorgeht, 
ober fie find bloße Zeichen, die den Menſchen veranlaffen 
follen, fich eines Ereigniffes zu erinnern oder ein gewiſſes 
Gefühl zu empfinden. Germanismus (vd. h. deutfche Theo⸗ 
logie) und Papiemus find Übrigens tie beiden von ben 
Amerilanifhen Selten beſonders gefürchteten und gehaßten 
Mächte.?) | 

Segen zwölf Sekten behaupten nicht blos auf ver Baſis 
der Bibel, fondern auch auf der Weftminfter-Confeffion zu 
fteben, fo daß diefes Bekenntniß, obgleich das voliftänpigfte 
und tbeologifch beftimmtefte unter den calviniftifchen, das 
3. B. die Augsburgifche Confeffion in Bezug auf Klarheit 
und offene Sprache weit übertrifft, dennoch felbft in dem 
engen Kreiſe des Amerikanifchen Calvinismus eine foldye 
Zahl von Spaltungen nicht zu verhüten vermocht hat. 

Noch findet fih in Einem Artikel große Uebereinftim- 


) Rupp, p: 121. 
?) Mercersburg Review, I, 517. 


333 


— — — — — — 


mung: „Rechtfertigung allein durch den Glauben“ haben 
alle „evangeliſchen“ Sekten auf ihr Banner geſchrieben. 
So erllären z. B. die Campbelliten: Die Eine große Bes 
bingung der Zulaffung zu ihrer Gemeinſchaft fei „vollftän- 
diges Vertrauen auf die bloßen Verdienſte Ehrifti zum Be⸗ 
Buf der Rechtfertigung”, ihre Sekte gründe ſich auf bie 
zwei Funpamentallehren ver Reformation: Verwerfung aller 
Tradition und Bertrauen auf ven bloßen Glanben.‘) Mit 
biefem Solifivianism, wonach die Gerechtigkeit Chrifti dem 
Menſchen nur ganz äußerlich in Rechnung geftellt wire, ift 
nun ein in bem Seltenleben höchſt wichtiger Sa verknüpft, 
auf weichem bie ganze Theorie der „Revivals“" (Erwedungen) 
beruht. Der Menſch, der durch bloßen Glauben ober durch 
Imputation der Gerechtigkeit Chrifti gerechtfertigt wird, ift 
fi diefer Thatfache mit unfehlbarer Gewißheit bewußt, er 
bat eine „Erfahrung” von feiner Belehrung oder Begna- 
digung, er weiß den Moment feines Ueberganges aus dem 
Tod in's Leben genau anzugeben. Demnach Haben vie 
Amerilaner die „Bekehrung“ geſchäftsmäßig eingerichtet. 
Mehrere Prediger und Laien treten in Verbindung, und 
beginnen, eine Berfammlung yon Berfonen, bie fich bekehren 
laffen wollen, zu bearbeiten. Männer und Frauen werben 
durch anhaltende aufregende Predigten, durch ftürmijche an 
das Individuum gerichtete Aureden, durch Liever mit leb- 


1) Rupp, p. 225. 


334 


baften, hüpfenden Melodien, durch Drohungen mit gräßlichen 
Schilderungen ver Höllenpein, durch Bitten, Beichwörungen, 
leivenfchaftliche Apoftrophen fo erfchttert, daß es bei ihnen 
zum „Durchbruch“ kommt. ‘Die geiftige und körperliche Er 
fhöpfung, in welche Männer und beſonders Weiber durch 
folche Mittel verfett werben, erzeugt eine Balfivität, in ber 
fie Ulles fühlen, was man fie fühlen Heißt. Körperliche 
Zufälle, die fich einftellen, unmwilltührliche Ausrufungen gel» 
ten al® Unterpfänder der Gnade und als fichere Zeichen 
des Sieges über den alten Menfchen. Die Abipannung 
und Erfchöpfung, welche naturgemäß den ftürmiichen Ge⸗ 
füplswallungen, ten frampfhaften Körperzudungen zu folgen 
pflegt, ift „ver Seelenfriede der Heilsgewißheit.“ Iſt je 
mand unter folder Bearbeitung fo weit gebracht, daß er 
fih auf die „Angſtbank“ fest, fo ift Die Sache entſchieden, 
er bat fich der Gnade ergebeh, er muß fich gleich darauf 
vorfchriftsmäßig völlig erleichtert und wunberbar erauidt 
fühlen, und er wirb nun als ein Belebrter und als voll 
ftändiges Mitglied in die Liften ver Sekte eingetragen. Die 
Angftbant ift pas Sakrament bet ven Revivals, das unfehl- 
bare Mittel der Wiedergeburt. Da die ganze Mafchinerte 
eine folgerichtige Anwendung ber altproteftantifchen Rechtfer⸗ 
tigungslehre ift, fo haben alle „euangelifchen” Gemeinfchaften, 
auch die beutfchen Lutheraner und Reformirten, die Revivals 
bei fich eingeführt, und in Amerika fieht man darin bie 


wichtigfte und wohltbätigfte religiöfe Erfindung ber neueren 
Zeit. Zu ven ftäntifchen Revivals find noch die, beſonders 
von Methodiſten veranftalteten, Lagerverfammlungen als ein 
Haupthebel Amerikanifcher Religion Hinzugelommen.') Selbft 
folche Sekten, welche focinianifch die Trinität und die Gott- 
beit Chriſti leugnen, wie die Sampbelliten, bebienen fich der 
Revivals mit beftem Erfolge”), und haben es durch biefes 
Mittel binnen 36 Jahren zu einer anfehnlichen Verbreitung 
gebracht. Freilich findet fild auch, daß bie durch bie Res 
vivals zufammengebrachten Gemeinden oft raſch wierer zu- 
fammenfchmelzen, und Schaaren folcher plötzlich Wieberge- 
bornen kurz nachher ihre Wiedergeburt rein vergefjen haben. 


Zwei Umftände haben viefen Revivals mächtigen Vor⸗ 
ſchub geleiftet, einmal der Charakter des Amerikaners, wels 
der unter dem Einfluffe des dortigen Klima's und feines 
ganz auf Erwerb gerichteten Trachtens und höchſt eintd« 
nigen Lebens von Zeit zu Zeit heftiger Aufregung bebarf, 
und fie, wenn nicht im Trunk oder Hazarbfpiel, in der Re⸗ 
ligion fucht”); und dann ver puritanifch bürftige und kalte 
Gottesdienſt, der mit Befeitigung alles Liturgifchen und 


!) Camp-meetings. 


t) Flavel 8. Mines: A Prosbyterian clergyman looking 
for the Church, New-York 1855, p. 81. 


3) Otto: Nordweſtliche Bilder, Schwerin 1854, &. 122. 


336 


Symbolifchen bloß in Predigten, Singen und in langen 
von Geiftlichen gepretigten Gebeten befteht. Um fo bejjern 
Eingang und gänftigern Erfolg fand eine theatralifche, auch 
die ftärfften Nerven überwältigende und buchftäblich ſchla⸗ 
gende Effecte hervorbringende, Belehrungsmethode. 


Faßt man nun den gegenwärtigen Zuftand der einzelnen 
Amerikaniſchen Hauptparteien in's Ange, jo findet fich zu⸗ 
nächft, daß die Baptiften, nebft den Methodiſten bie 
jüngſte unter ven größeren Gemeinfchaften'), in etwa fieben 
Selten, in welche fie zerfallen find, bie zahfreichite ver pro- 
teftantifchen Denominationen in Amerika bilden. Nur bie 
Methopiften könnten ihnen allenfalls diefen Vorrang ftreitig 
machen. Ihre Kirchen waren von 1000 im Sahre 1792 
auf 9584 im Sabre 1852 geftiegen. Sie zählten im Jahre 
18566 1,322,469 communicirende Mitglieder. Sie haben 
feine Repräfentation, keine Organifation und feine Belennt- 
niffe. Nach ihrer Theorie iſt alles- Kirchenthum, find alle 
Rirchenbehörben vom Uebel. Jede Gemeinde ift ein völlig 
unabhängiger Körper. ‘Die einzelnen baptiftifchen Selten 
find freilich durch fehr fcharfe Lehrunterſchiede von einander 
getrennt. Ein Amerikanifcher Baptift oder ein fociniani- 


1) In New-Pork bildete fih erſt 1762 eine Baptifien-Gemeinbe. 
Gorrie: Churohes and Bects of the United States, New- 
York 1850, p. 134. 


857 


fer Sampbellit hat außer der Tanfpraris mit einem cal- 
viniſchen Baptiften wenig gemein. 

Die Thatfache, daß die Baptiſten eine ſo zahlreiche, 
oder geradezu bie zahlreichſte von allen Religionsparteien 
in Nordamerika ſind, verdient alle Aufmerkſamkeit. Sie 
würden wohl noch zahlreicher fein, wenn nicht Taufe wie Abend⸗ 
mahl nach ihrer falramentlichen Bebentung in der calviniſch⸗ 
gefinnten Welt als etwas fo Untergeorbnetes betrachtet würden, 
daß die Frage nach ber urfprünglicden Form Btelen als etwas 
Gleichgültiges erfcheint, um das man fich nicht fonderlich 
zu befümmern babe. Die Baptiften find aber in der That 
von proteftantifchem Standpunkte aus unangreifbar; ba fie 
für ihre Forderung ber Taufe durch Untertauchen den Haren 
Bibeltert haben, und bie Autorität ver Kirche und ihres 
Zeugnifjes weder für den einen noch für den andern Theil 


befteht.') 


2) Nicht einmal eine baptiſtiſche Bibel⸗Ueberſezung kann deshalb 
von ben andern Parteien gebraucht werden. Sin Engliſcher 
Miffionär der Congregationaliſten ſchreibt aus Calcutta: „Die 
Baptiften nehmen ben erften Pla ein, was bie Ueberſetzung 
der Bibel in’s Bengalifche betriff. Wir gebrauchen bier am 
meiften bie Weberjegung bes (Baptiften) Dates. Da aber bie 
hiefige Baptiſten⸗Geſellſchaft, deren Eigenthum biefe Ueberſetzung 
iſt, darauf beſteht, Bamzileıw nur durch Worte zu üÜberſetzen, 
welche eintauchen, untertauchen bebeuten, fo fühlen alle 
unfere Freunde ber Kinbertaufe, fowie andy bie Salcuttabibel- 


9. Dillinger, Papftihum. ‚22 


— 


Bedeutender in geiſtiger Beziehung iſt ber Einfluß 
der. Bresbpterianer, die mit den Eongregationaliften 
die Erben und Nachlommen ver alten Puritaner ober 
„Bilgrim- Väter“, ver Gründer von Nen-England find. Sie 
find die Urheber und Pfleger der Amerikanifchen Theologie, 
fo weit es eine folhe gibt. Aus der Englifchen Deimath 
nahmen fie ven ächteften Ealvinismus mit herüber, und hielten 
geraume Zeit feft an einem Syſtem, dem fie fo große Opfer 
gebracht Hatten. Ihre Prediger waren umerfchöpflich in 
Ausbeutung der Präbeftinations-Theorie, in Schilderungen 
der Verdammniß, zu welcher Gott die Mehrzahl der Kleinen 
Kinder vorher beſtimmt habe. Fatalismus, Antinomianiemus 
trugen auch bier ihre Früchte in der geiftigen und ſittlichen 
Berlommenheit der Gemeinden. Edwards fuchte ven Eal- 
vinismus noch mittels Lode’fcher Philofopbie zu fügen, aber 
Dwight, Lyman, Beecher und Barnes Haben im 
neuerer Zeit bie Derrfchaft der caloinifchen Lehre und ber 
Beftminfter- Confeffion gebrochen. Darüber erfolgte aber 
im Yahre 1838 eine volfftändige Spaltung; Barnes mit 
etwa 500 Prebigern und 60,000 Laien wurde von der Ma- 
jorität der General» Berfammlung wegen Irrlehre ausge⸗ 


Sefellichaft, das Bebürfnif einer andern Ueberſetzung.“ Reuter’s 
Repertorium, Bb. 58, ©. 70. Man muß alfo, heißt bie 
eigentlich, die Bibel faljch überfegen, damit bie zu beichrenben 
Heiden bie Blößen bes Euftems nicht merken. 


— — — 1 1 — — — — 


8809 


ſtoſſen. Er und fein Auhang bildete ſofort die presbyteria⸗ 
niſche Kirche der „neuen Schule.“) 

Die Achten Puritaner oder Eongregationaliften, 
welche vorzugsweife in Neuengland leben, haben ſich in 
Amerika fehr geändert. Der alte organifche Zufammenhang, 
in welchem die einzelnen Gemeinden durch fogenannte Eon» 
ſociationen over Affoctationen mit einer höhern Inſtanz 
ftanden, iſt aufgelöft. Ihre Kirche tft in Folge der unitari⸗ 
ſchen und univerfalifiiichen Bewegungen demokratiſcher ges 
worben; es gibt fein gemeinfchaftliches Symbol mehr, ſon⸗ 
dern jede Gemeinde Hat ihr eignes Symbol. Der Geift- 
Liche ift nur der von der einzelnen Gemeinde berufene und 
abhängige Diener ver Gemeinde.) Die Preöbpterianer das 
gegen haben ven entgegengefegten Entwicklungsgang einge 
ſchlagen; bei ihnen ift ‚vie Unterordnung der Gemeinden 
umter die Melteften, Presbyterien und Shuopen befeftigt 
und gefteigert worden. Die Folge ift, daß beide Kirchen⸗ 
förper, die ſich bioher vielfach annäherten, fich jetzt gegen- 
feitig mehr abftoßen. 

Das ganze Wefen ver puritanifchen Selten und ihrer 
Revivals hat unter den Geiftlichen, beſonders ver Presbh⸗ 


1) Bergl. History of the Division of the Presbyterian Church. 
By a committee of the Synod etc. Newyork 1856. 
2) Krauſe's Kirch.-Ztg. 1856, ©. 129. 
22 * 


340 





terianifchen Parteien, welche mehr tbeologifch gebildet find, 
als die großentheilß ſehr unwiſſenden Baptiften und Metho⸗ 
biften, eine ftarle Bewegung und eine Abneigung bervorge- 
zufen, welche zu zahlreichen Austritten geführt bat. Binnen 
wenigen Jahren find bis 1856 300 Presbyterianiſche Geiſt⸗ 
liche zu der bifchöflichen Kirche übergetreten, welche vie Re⸗ 
vivals verwirft, und dem Calvinismus widerſtrebt, wenig⸗ 
ſtens die Freiheit laͤßt, bezüglich ber Gnade nnd Rechtfer⸗ 
tigung anticalviniſch zu lehren. ') 

Einer diefer Geiftlichen, Eolton, früher ver Lobrebner 
ber Revivals?), in denen er „eine neue zur Verbreitung 
über bie ganze Welt beftimmte Difpenfation” erkannte, 
gieng allmälig in Folge ber Erfahrungen, die er dabei 
machte, zur entfchiedenften Verwerfung des ganzen Suftituts 
über: der Geift werde dadurch gelnechtet, ein faljches Ge⸗ 
wiffen gebildet und gepflegt, der ganze intellectuelle und 
moraliſche Eharalter ver Menſchen verborben.?) 

Es wird nun auch immer beftimmter und nachbräd« 
licher anf die Wurzel alles Unheils hingewieſen. Was pro⸗ 
teftantifche Theologen früherer Zeit, Lutheraner ſowohl als 


!) Mines: Looking for the Church., p. 11. 

?) In feiner Schrift: History and character of American Be- 
virals London 1832. 

3) Colton’s Thoughts on the religious State ofthe Country. 
New-York 1886, p. 178. 


341 


Reformirte, von den verberblichen Wirkungen ber Rechtfer⸗ 
tigungelehre, wie fie burch die Reformation geftaltet wor⸗ 
den, berichten, das wirb nun auch in Amerifa, wo biefe 
Lehre noch in hohem Anfehen fteht und von zahlloſen Kan⸗ 
zein verfündet wird, von Einzelnen beftätigt. Die Schrif- 
ten Amerilanifcher Theologen enthalten deßfalls merkwürdige 
Geſtaͤndniſſe. Der Prebiger Flavel S. Mines fagt 
parüber: Nach langer und forgfältiger Prüfung ver Sache 
fet e8 feine Ueberzeugung, daß bie Lehre von ber Rechtfer⸗ 
tigung durch den Ölauben, fo wie fie geprebigt werbe, in. 
dem man fie von ber Heiligung trenne, und fie zu einem 
reflectiven, in ein Gefühl (ver Begnapigungsgewißheit) aus- 
laufenden Seelenact mache, vorzugsweiſe bie feelenmörberifche 
Härefie biefer Zeit ſei.) Der grünplichfte und tieffinnigfte 
alfer lebenden Ameritanifchen Theologen, Nevin, behauptet 
gleichfalls: Diefe Lehre werde in Amerika zu einer furcht- 
baren Täufchung gemacht, und richte unausfprechliches Un» 
Beil an.?) 


!) Looking for the Church., p. 492. 


?) Mercersburg Review, IV, 615. Ginige Jahre fpäter, 1858, 
Mercersb. Review, X, 395, bemerkt berfelbe Theologe: in ber 
gewöhnlichen puritaniichen Auffaffung werbe bie Lehre von ber 
Rechtfertigung buch ben Glauben in eine Fiktion verkehrt, 
weiche dem apoftofifchen Symbolum wiberipredge, und ber chrifl- 
lichen Religion in ber That eine ganz anbre Geftalt gebe. 


—⸗— 


Die allgemeine Geringſchätzung der Sakramente und 
das calviniſche Dogma von ber Erwählung bat bewirkt, daß 
die Presbhterianer und die Eongregationaliften viele Kinder 
ungetauft zu laſſen pflegen. Die eltern halten es für 
überfläffig, ihre Kinder taufen zu Iaffen, vie Prediger ihrer- 
ſeits laffen um ver religiöfen Beſchaffenheit der eltern 
willen viele Kinder nicht zur Taufe zu, und da bie Bap- 
tiften aller Denominationen ohnehin die Kindertaufe ganz 
beriwerfen, fo wachfen viele Tauſende, obgleich zu einer ber 
Selten gehörig, ohne Zaufe heran, und Schaaren von Bap⸗ 
tiften und Presbhterianern fterben ungetauft.') 

Die Gefchichte der Secten pflegt fih, wenn fie nicht 
in den Zuſtand des bloßen Vegetirens verſunken find, ftoß- 
weife und in Sprüngen von einem Extrem zum andern zu 
bewegen, und es geichieht unvermeiblich, daß Erzeugniffe 
tappender Willführ, ober momentaner Verlegenheit ober in⸗ 
dividueller Beſchränktheit die Stelle der aus organtfcher 
I) Meroersburg Review, VIII, 34, 385. X, 41. Diefelbe Zeit- 

ſchrift, ®b. VII, 202, behauptet, baf gegenwärtig bie Taufe 
von ber Hälfte ber befennenben Amerilanifchen Chriften beu 
Kindern verweigert, bon ber Mehrheit aber geringgeadhtet werde, 
fo daß nım in allen Denominationen allgemein barliber ge 
klagt werde. Flavel B. Mines p. 60. Die Presbpterie 
nifche Zeitfchrift, Princeton Review, 1857, p.86, rechnet nad, 


daß im ben letzten zwanzig Jahren in biefer Gemeinſchaft zwei 
Drittel der Kinder, nemlich 418,298 ungelauft geblieben feien. 





348 


Nothwendigkeit hervorgegangenen Inftitutionen vertreten 
müffen. So tft e8 denn gekommen, daß bie Amerikaniſchen 
Puritaner nach ihren beiden Hauptzweigen, Presbhterinnern 
und Eongregationaliften, mit ihrer Weftminfter« Eonfeflion 
nicht zufrieben, eine Menge von, zum Theil baroden und 
ausfchweifenden Glaubensbelenntniffen in ven einzelnen Ges 
meinben oder Synoden eingeführt haben, fo baß nach der 
Angabe des Predigers Eolton einige hundert Glaubens⸗ 
Formeln unter den Presbyterianern fich finden, und man 
faum von einer Stadt nach einer andern gehen faun, ohne 
dort, ohngeachtet der Gleichheit ver Sekte, ein verſchiednes 
Bekenntniß zu finden.) Colton, ver bie einflußreichfien 
Aemter in der Presbyterianifchen Kirche bekleidete, erzählt: 
er babe felbft gegen fünfzehn Kirchen organifirt, und bei 
jeder verfelben eine von ihm entworfene Belenntnißformel 
eingeführt, die aber jedesmal nach dem Grab feiner Er- 
fenntniß und der momentanen Beſchaffenheit feiner Anfich- 
ten anders gelautet babe. 


So ringt denn in ben puritanifchen Genoffenichaften 
bie änßerfle Larität ber Meinungen mit vereinzelten im 
Ganzen erfolglojen Verſuchen, eine feftbindende Orthodoxie 
wieder herzuftellen. Zu ven alten Streitigleiten und Gegen» 


1) Thoughts on the religious State of the Country. New- 
York 1836, p. 63. 


- 344 


fätzen der Puritaner find num noch neue binzugelonmen. 
Es gibt Hopkinfianer und Anhänger des „neuen Lichtes“, 
gemäßigte und ftrenge Calviniften, es gibt Deftructioniften 
und Reftorationiften, Läugner der Erbſünde wie Taylor 
und Bart, Präeriftentianer, welche ben Sündenfall in 
ein früheres Daſein verlegen, wie Eduard Beecher. 
Verwerfung ber Erbſünde iſt ſogar bie vorherrſchende Theorie 
in Neuengland (d. h. in ben ſechs norböftlichen Staaten, 
ben älteften ver Unton und ber Heimath des urjprünglichen 
Amerikanifchen Proteftantismus) geworben.') 


Wie früher in England, fo find auch in Amerika aus 
dem Puritanismus in Folge eines dogmatiſchen Zerfegungs- 
Proceſſes ohne fremden Einfluß gegen Ende des vorigen Jahr⸗ 
hunderts Unitarier-Gemeinden erwacfen. Es war bie 
ealviniſche rohe und mechanifche Auffaffung ver Satisfactions- 
Theorie, bie darin liegende Zerreiffung ber Trinität, und 
Entgegenftellung ber göttlichen Perfonen, vie nach biefer 
Auffaffung ganz juriſtiſch und proceßualiſch mit einander 
handeln, dieſe Entitellung ber chriftlichen Gentrallehre war 
«8, welche die Buritanifchen Theologen und Prebiger all 
mälig durch eine natürliche Reaction zu Unitariern machte. 
Im Staate Maflachufetts, in Boſton beſonders, find jene 
Ranzeln, auf venen ehemals vie Orakel des Amerilanifchen 


— — — — — 


!) Meroersburg Review, VIII, 219, 


Salvintemus, die Mather, Davenport, Hooler, Ro 
binfon, Rutherford prebigten, in dem Beſtitze von 
©eiftlichen, welche bie Trinität läugnen, die göttliche Natur 
des Sohnes verwerfen. 

Inzwiſchen ift der Unitariemus in Amerila bexeits in 
008 Stabium des Auflöfungsproceifes eingetreten. Die 
Brebiger der Sekte jagen fich theild ganz vom Chriften- 
thume 108 und befennen fih zu pantbeiftiichen Anfichten, 
wie der begabtefte unter ihnen, Theodor Parker, im 
Jahre 1859 gethan, theils treten fie zur bifchöfltchen Kirche 
über.) Gorrie zählt im Jahre 1850 noch 244 Unitarijche 
Prediger und gegen 30,000 Mitglieder.“) 

Den Unitariern ſehr nahe ſtehen die Univerfaliften, 
welche im Jahre 1840 nur 83 Prediger hatten, im Jahre 
1865 aber 700 Prediger mit etwa 1100 Congregationen 
zählten. Ihre Lehre, daß eine endliche Befeligung aller 
Menſchen erfolgen werbe, bat viele von ihnen bald zu einer 
rationaliftifchen Verwerfung aller chriftlichen Myſterien ge 
führt. Auch dieſe Sekte ift bereits in Verfall gerathen. 

Es iſt in der religiöfen Welt wie in ber vegetabilt« 
fhen. Jene Gewächle, die fich am leichteften befaamen, am 
rafcheften fich verbreiten, am üppigften auffchießen, find 


1) Meßner's Kirch.⸗Ztg. 1860, ©. 96. 
) Churches aud Beocts, p. 132. 


6 


nicht gerade bie gefunbeften und dem Gärtner willlommenften 
Pflanzen. In Amerifa find es vor Allem bie Methodiſten 
und bie Baptiften, bie fich ber leichteften Verbreitung, ver 
gewaltigften SFortfchritte rühmen töunen. Sie verbanten 
bieß der Geſchicklichkeit, mit ber fie die Religion möglichft 
greiffich und mundrecht gemacht haben, fo daß fich Seber 
bequem fie aneignen und mit ihr fich abfinden Tann, und 
auch die geringfte Fähigkeit Hinreicht, um bie Scheivemünge 
biefer Lehre und Praxis in kürzeſter Srift zu erwerben und 
dann von ben Kanzeln berab auszufpenven. 

Aber auch ihrem Eifer, ihrer unermüblichen Thätigleit 
verbanfen bie beiden großen Genoſſenſchaften ihre Erfolge. 
Unter allen Selten haben bie Methopiften in Amerika 
wohl bie umfafjendfte Thätigkeit entwidelt, und binnen 90 
Jahren eine Ausvehnung gewonnen, wie fie nicht häufig in 
ber Gefchichte vorkommt. Sie find freilich auch unter fich 
geipalten. Die angefehenfte Partei ift die bifchöfliche Me⸗ 
thodiſtenkirche. Doch auch in dieſer bat bie Sklavereifrage 
einen Bruch der nörblichen und ber füblichen Methopiften 
und einen langen Proceß über Thellung bes Kircheneigen- 
thums herbeigeführt. Die Bezeichnung „biſchöflich“ iſt frei- 
lich nicht ernft zu nehmen. Wesley hatte in Amerika ges 
than, was er in England nicht thun mochte, er hatte einen 
Anglikaniſchen Geiftlichen TH. Coke zum Superiutenbenten 
orbinirt, und feitben haben feine Sünger dort Superluten- 


347 


benten, welche ſich Bifchöfe nennen laffen. Die Laien find 
von aller Theilnabme an dieſer Regierung ber Gejell- 
ſchaft ausgefchloffen, die Eonferenz Herrfcht allein, vie Ge⸗ 
meinben dürfen fich ihre Prebiger nicht wählen, fondern fie 
werben ihnen gegeben, und zwar nur auf einige Jahre. 
Der größte Theil der methobiftifchen Prebiger ift jeder 
wiffenfchaftlichen Bildung bar; an wirkliche Bibellenntniß 
ift bei ihnen nicht zu benken '), eine Anzahl von Sprüchen 
genügt. Viele find vorher Handwerker gewefen, und wer⸗ 
den, wenn fie Redefertigkeit verrathen, nach Türzefter Ab⸗ 
richtung zuerft als „Ermahner”, dann als Prebiger vers 
wendet. Die häufigen Elaffenverfammlungen und Betftunden 
laffen ihnen bann feine Zeit zum Bibelftubium. Nicht ruhige 
Belehrung und harmonifche Ausbildung des ganzen Men⸗ 
fhen zum Chriſten, fondern gewaltfame Spannung und 
Aufregung ber Gefühle purch die für den Zweck wohl bes 
rechneten Mittel der Sekte wird erzielt und erreicht.) Bei 


1) Bel, darüber: Rauſchenbuſch: bie Nacht des Weſtens. 
Barmen 1847, ©. 22. 

2) „Chriftlide Erkenntniß ift den Methodiſten in ben meiften ihrer 
Kreiſe Nebenfache, fie wirb als überflüffig, ja als gefährlich an⸗ 
gefehen, der religiöfe Unterricht ber Jugend wirb vernadjläffigt ; 
wozu follte er auch dienen, ba auf ber Angſibank Alles vor⸗ 
geht, deſſen bie Seele bebarf, um bes Heils gewiß zu werben. 
Ein wirres unbeftimmtes Gefühl ift bas Pfanb ber Erwählung.“ 
Hengſtenberg's Kirch.-Ztg. 1847, ©. 888. 


ihrem Gottesdienfte machen die Methodiſten, wie ber Pre» 
biger Rauſchenbuſch berichtet‘), Häufig folcden Lärm, 
zum Theil fchon während ber Prebigt, mehr aber nod 
während des Gebets, wobei fie. nicht felten Alle burchein- 
ander beten ober durcheinander fchreien, daß man ben Pre 
biger oder Borbeter gar nicht verftehen kann. 

Der ftete Wechfel der Prebiger, bie Neifeprebiger, bie 
zum Theil nach ben wilbeften Gaffenmelopien gefungenen 
Lieder, die für Wahrheitsſtun und Demuth gleich verberb- 
lichen „Mittbeilungen ber Herzenserfahrungen“, bie Bere 
wechjlung ganz phufiicher, in Körperaffeltionen wurzelnder 
Zuſtände mit religiöfen, das künſtlich und burch eine Art 
phyſiſch⸗ moraliſcher Epivemie erzeugte Stöhnen unb darauf 
folgende Aufjauchzen — biefer ganze Apparat von Mitteln, 
welche die Methobiften erfunden, bie andern Selten, auch 
bie deutfchen, fich von ihnen angeeignet haben, foll eigent» 
lich das, wozu fonft eine Yahre Lang fortgejegte Uebung 
und religiöfe Selbfterziehung erforberlich ift, in ein paar 
Stunden verwirklichen, erzeugt einen Taumel, ver augen 
blicklich zu fättigen feheint, fpäter aber um jo empfindlicher 
barben läßt, denn der gewaltiamen Aufregung und Be 
geifterung folgt nicht felten vie oͤdeſte Gleichgältigleit. Viele 
der fo Belehrten fallen bald wieber ab, und werben an 


1) Die Nacht des Weftens, ©. 48. 


— — — — — 


349 


einer Religion, welche ihnen fo bittere Taäͤuſchungen bereitet, 
völlig irre. Gleichwohl geht das falfche Vertrauen auf biefe 
Methode fo weit, daß bei ven Methodiſten Häufig vie ganze 
religiöfe Kinder⸗Erziehung in ver Erwartung vernachläffigt 
wird, ein Revival, eine Lagerverfammlung, ein paar Stun⸗ 
den auf der Angſtbank wurden mit einem Male vie Ver⸗ 
fäumniß vieler Iahre erfegen.') 

Der Theologie in Amerika entfpricht bie Geftalt und 
Beſchaffenheit ver Kirchen, deren Zahl das außerorbentliche 
Wachsthum der Bevölferung und der Wettelfer der Selten 
feit einigen Decennien ungemein vervielfältigt bat. Den 
Europätfchen Maßſtab darf man an biefe Gebäude nicht 
anlegen. Das Gefühl ver religidfen Ehrfurcht vor einer ge 
weihten Stätte gebt dort leer aus; viele find einem Thea⸗ 
ter ähnlicher, al® einem Gothifchen Dom. Bon einem Als 
tar ift felbftverftänplich nichts zu fehen, das wäre ein Greuel 
tn den Augen bes proteftantifchen Amerikaners; ihr gefällt 
ein Gebäude, in welchem eine pomphafte, theatralifche Bühne 
für den geiftlichen „Nebner” ven Raum einnimmt, ven fonft 
ber Altar inne bat, unb in welchem für möglichite Bequem⸗ 
lichkeit der Zuhsrerſchaft geforgt iſt. Viele Kirchen in ven 
Stäbten nehmen fich daher aus wie das elegante Empfang. 
Zimmer einer fafhionablen Dame.?) 


) Schaff: Amerika, S. 129. 
?) Bgl. bie Schilderung im Mercersburg Review, IV, 214. 





Rn _ 


Die biſchöfliche Kirche iſt auch bier wie in England 
die Kirche des guten Tons und fagt den Bornehmen um fo 
mehr zu, als fie beim Gottesbienfte ven Kirchenraum ganz für 
fich Haben, und keine Theilnahme und Nähe der Armen und Ges 
ringen zu bejorgen ftebt. Auch vie gebildeten Deutfchen halten 
fih, wenn fie überhaupt ein Firchliches Bedürfniß haben, zu 
diefer Kirche '), und kümmern fich nicht um vie lutheriſchen 
ober reformirten Gemeinden, währenp umgekehrt vie meiften 
Englifchen Auswanderer, wenn fie in der Heimath Mitglie⸗ 
ber der Staatölirche geweſen, in Amerika einer ber puritas 
nifchen Selten oder den Methodiſten fich anzufchließen pfles 
gen.’) Abweichend von dem Vorbild ihrer Englifchen Mutter 
bat fie eine Laien-Repräfentatton eingeführt. Aber die tiefe 
Spaltung zwifchen Evangelicald und Arminianiich- Hochkirdh- 
lichen, welche, wie im Mutterlande, fo auch in Amerika bie 
Biſchofe ſowohl als die Geiftlichen in zwei ganz ungleich 
gefinnte Parteien fcheidet, macht jebes Träftige Zufammen- 
wirken in biefer Kirche unmöglih. In jeder andern Des 
nomination wärbe ein folcher innerer Gegenſatz zur offuen 
Trennung und Bildung einer neuen Gemeinſchaft geführt 
haben. Sobald bie einen oder die andern mit ihren An⸗ 
fihten Ernſt machen, muß es auch dazu kommen. 


1) Hengſtenberg's Kirch.-Ztg. 1847, ©. 340. 
!) Caswall, the Western World revisited. Oxford 1854, 
p. 296. 


361 


In England Hat man vielfach mit Neid und Sehn- 
ſucht auf biefe Tochter der Anglitanifchen Staatskirche ge 
bit, welcher die Freiheit von dem brüdenben Joche ver 
Staats» Suprematie zu Theil geworben fei, und Biſchof 
Wilberforce Hat in diefem Sinne vor einigen Jahren 
ihre Gefchichte gefchrieben, auf daß die Mutter fich doch an 
dem Dewußtfein, einer glüdlicheren Tochter das Dafein ge 
geben zu haben, aufrichte. Allein einer der Amerilanifchen 
Biſchöfe bemerkt, daß die Laien in allen kirchlichen Ange⸗ 
legenheiten gemäß ben Geſetzen dieſer Kirche einen über 
wiegenden Einfluß hätten, ber noch durch bie Abhängigfeit 
ber Geiftlihen von den freiwilligen Beiträgen ber Laien 
verftärft werde.) Und dieſes Laienjoch wird, wie er hin⸗ 
zuſetzt, in der Kirche um fo härter empfunden, als biefe 
Laien in der Ausübung ihrer Tirchlichen Funktionen unver 
antwortlich find, und von keinem Tribunal, auch nicht we⸗ 
gen Haͤreſie und Schiema, gerichtet werben Können. 


Neben und nach der Angelfächfifchen Race bilden bie Deut- 
fhen die wichtigfte Nationalität in Norbamerifa, und bie 


') Silliman Ivos: the Triale of a mind. London 1854, 
p. 148. Der Berfaffer ift Latholifch geworben. Auch Puſey: 
The Councils of the Church, London 1858, p. 24, meint: 
Die Einführung ber Laien-Kepräfentation in ber Amerifanifchen 
Kirche ſei ein unalüdiiches in ſehr ſchlimmen Zeiten aufgeftelltes 
Borbild, 


352 


zahlreichen Proteſtanten dieſes Volkes haben fich ihr Kirchen- 
weien ganz nach Gutdunken eingerichtet. Bor Allem haben 
die fehr zahlreichen Dentichen Lutheraner in Amerila 
eine Zeit lang große Aufmerkſamkeit und Theilnahme er⸗ 
regt. Dort nämlich, wo das Lutherthum von ſtaatlicher 
Herrſchaft und Bevormundung völlig frei fich geftalten 
konnte, follte e8, fo hoffte man, feine kirchenbildende Kraft 
thatfächlich erweiſen, und eine einheitliche und freie deuntſch⸗ 
lutheriſche Kirche zu Stande bringen. Diefe Hoffnung iſt 
völlig getäufcht worden. Die große Mehrzahl ver Lutheraner 
bat mit ber Sprache auch auf bie Iutherifche Lehre ver 
zichtet, ift Zwinglianifch, zum Theil methopiftifch geworben, 
und bat ſich von ihren alten Bekenntuißſchriften losgefagt. 
Das Amerilaniſche Lutherthum tft mit Einem Worte ein 
autochtbones, von ber beutichen Religionsform biefe® Na⸗ 
mens fehr verfchiennes Gewäds. Aber auch vie Prebiger 
und Gemeinben, welche ihr aus Deutichland mitgebrachtes 
Lutherthum zu erhalten begehren, haben es zu Teiner Ein- 
heit gebracht. @erabe bei dieſen finb die Geiftlichen „ber 
penibelften Ueberwachung von Seiten ver felbjt regieren 
wollenden Gemeinbegliever überall ausgeſetzt, gehemmt, ge⸗ 
plagt, gemeiftert, bebrüdt von allen Seiten, babei elenbig- 
lich befolbet.') Keine Kirchliche Behörde iſt zu Stanbe ge 


1) Hengſtenberg's Kirch -Zig., 1847, &. 300. Vergl. Reuters 
Repertor. Bb. 74, &, 93. 


— 


kommen; die Gemeinden find faſt alle independent. „Gebe 
Kirche, fagt ver beutfche Berichterftatter, tft vielfach bis 
zur Feindſchaft geipalten, Feine in einem gefunden Zuftanbe, 
feine ficher, Har, treu, unbefangen in ihrer Richtung. Der 
Einzelne muß mühbevoll fein bornenvolled Arbeitsfeld anf 
ſuchen, Niemand tft, ver es ihm anwieſe.“ Wie in jeber 
Stabt, wo bie Zahl der beutjchen Proteflanten nur einige 
Bunbert erreicht, fofort andy der Dämon Tirchlicder Zwie⸗ 
tracht in fie fährt, und es zu keiner einheitlichen Gemeinde 
bildung kommen läßt, bat Prediger Büttner anfchaulich 
geſchildert.)) Viele diefer deutſchen Gemeinden fin nur „zucht» 
loſe Rationaliftengemeinven”, welche fich einen Prediger wie 
einen Lohndiener miethen und ihn vom Kirchenrath aus⸗ 
fchließen.?) 

Die deutfhereformirte Gemeinfchaft wird von 
den ächten Amerikaniſchen Calpiniſten als eine abtrünnige 
Kirche betrachtet; fie iſt faſt ganz Arminianiſch, ſagen fie, 
und num auch noch, ſeit Nevin und feine Geſinnungsge⸗ 
noſſen in ihrem Schooß⸗ hervorgetreten, romanifirend.?) 


1) Die Vereinigten Staaten von Norbamerila. Hamburg 1844. 
Und: Briefe aus und Über Norbamerila. Dresben 1845. 
) Schaff. ©. 99. 
3) So der Presbyterianer Blaikie in feiner Philosophy of 
Sectarianism, London 1854, p. 65. Das Buch iſt Ichrreich 
+ fie die Kenntniß des Amerilaniihen Seltemvefens, aber mehr 
v. Dillinger, Papflihum. 23 


— 


Im ganzen Umfange des Amerilaniſchen Proteſtantis⸗ 
mus wird die knechtiſche Abhängigkeit ber Prediger von ven 
Gemeinden als eine ver fchlimmften Wirfungen bes berr- 
ſchenden Kirchenweſens empfunden. Das Gefühl diefer Ab⸗ 
haͤngigkeit ift freilich von Anfang an eben fo ſtark ober 
noch ftärker in der Seele des Predigers als in ber der 
Zuhdrerſchaft. Das Bewußtſein laſtet auf ihm, daß er 
teine höhere Sendung, Fein von einer alten, höheren Ju⸗ 
ſtitution getragenes und verbärgtes Amt bat. Ex ift nur 
ein Delegirter, der feinen Zuhörern nur das prebigen barf, 
was diefe zuvor ſchon fich prebigen zu laffen befchloffen 
haben. 

Schaff Hat in feinem vor der Berliner Allianz-Ber- 
fammlung erftatteten Berichte, wo man eine möglichft rofen- 
farbige Schilderung der Amerifanifchen Zuftände erwartete, 
in Abrede geftellt, daß ver Geiftliche dort gewöhnlich im 
einer unwürdigen Abhängigkeit von feiner Gemeinde ftehe. 
„Die Amerilaner, fagt er’), erwarten von einem Geift- 
Uchen, daß ex feine Pflicht thue, und achten venjenigen am 
meiften, ver ohne Menfchenfurcht und Mienfchengefälfigfeit 


buch das Licht, welches ber Verf. auf feine eigene Genoſſen⸗ 
ſchaft, bie Presbyterianifche, fallen Läßt, ale durch bas, was er 
über bie andern fagt. 


2) Amerika, Berlin 1854, S. 68. 


den ganzen Heilsrathſchluß barlegt, und eben fo feharf un 
fpeciel das menfchliche Verderben als deſſen troftreiche 
Berheigungen hervorhebt.“ Das heißt: die Mienfchen hören 
ed in Amerika, wie allenthalben, wo bie Doctrinen ber Re» 
formationgzeit noch in Anfehen ftehen, gerne, daß der Pre- 
biger fie der fittlichen Berantwortlichleit enthebe, indem er 
ihnen die brei zuſammenhängenden Lehren von ber abfos 
Inten göttlichen Erwählung, vom totalen Berberben und ver 
völfigen fittlihen Ohnmacht, und von der Begnabigung 
durch bloße Imputation vorträgt. Dazu bebarf es aber 
nicht im Geringften einer befonveren Yurchtiofigleit, viel⸗ 
mebr würbe er Freiheit von Menſchenfurcht dadurch an 
ven Tag legen, baß er bie entgegengejette altkirchliche Lehre 
predigte. 

Schon bie von jedem Fremden bezeugte Thatſache, 
daß e8 in feinem civilifirten Lande fo wenig Menfchen wie 
in Amerila gibt, welche eine eigue Meinung und ven Muth 
isrer Meinung befigen, ift ber Geifteöfreiheit ver Prebiger 
höchft ungünſtig. Es ift dort, wie ein kundiger und ſcharf⸗ 
blickender Beobachter kürzlich geäußert bat, „auch in allen 
nicht politifchen Dingen eine tyranniſch vorwaltende und 
uniformirende Majorität zur Geltung gelommen, welche bie 
Geiſter jo fchleift und bearbeitet, daß fie wie bie in einem 
Bache bewegten Kiefelfteine einander ähnlich werben.“ ') 


’) Skizzen aus Norbamerila. Allg. Ztg., 11. Juni 1861, &. 2646. 
23 * 


— ⸗ 


Man weiß, wie dieſe Thrannei der allgemeinen Meinung 
in der Racenfrage gewirkt hat, und noch wirkt: die geſammte 
proteftantiſche Geiſtlichkeit bat ſich ver herrſchenden Ab⸗ 
neigung gegen jede Gemeinſchaft der Weißen mit den Far⸗ 
bigen gefügt, und in Neu⸗Orleans z. B. find bie katholi⸗ 
ſchen Kirchen die einzigen, in denen Farbige und Weiße 
mit einanber beten.) 

Alle proteftautifchen Theologen, deren Schriften ich ge⸗ 
jehen, Hagen über die Unfelbftftänbigleit ver Prebiger, ihren 
allgemeinen Mangel an fittlichem Muthe, und bas brüdenbe 
Joch, das die Gemeinden auf ihnen laften lafſen. Chan⸗ 
ning, Eolton, Mines kommen öfter barauf zurüd.”) 
Sie ſchildern die Prebiger ald bie Opfer einer häufig von 
ven Niebrigen und Unwiſſenden geübten Tyrannei, wie fie 
in biefem Umfang wohl noch uie bagewefen jei. In der 
Regel fteht die Auverficht und Anmaßung, mit ber bie Ge⸗ 
meinberepräfentanten fich gegen ben Prebiger benehmen, 
im umgelehrten Berhältniffe zu bem Grave ihrer Bildung.’) 
Feder Gedanke, ver über ihren theologifchen Geſichtskreis 
hinausgeht, macht ihnen bie Rechtgläubigkeit bes Prebigers 


1) Christian Roemembranoer, 1860, II, 79. 

®) 3. 8. Channing’s Works’, V, 817. Colton p. 138, 
Mines p. 291. 

9) Vergl. bie lebendige Schilberung in Hengſtenberg's Kirch⸗Zig. 
XX, 182. 


867 


verbächtig; fie find freigebig mit Ermahnungen ober Ver⸗ 
weifen, vie fie ihm von Amtöwegen ertheilen. Bor einigen 
Jahren wurbe in Neuengland eine förmliche Prebiger-Bifi- 
tation durch felbft gejenbete Laien veranftaltet, welche von 
Drt zu Ort reifend, und überall Erfunbigungen über vie 
Geiftlichen einziehend, ihnen dann Rath, Warnungen und 
Zabel fpenveten. Dieſem Zuftande ber Dinge entfpricht 
es denn auch, daß die Gemeinde ihren Previger Häufig nur 
auf Zeit und mit dem Vorbehalte der Auflünbigung mwäßlt 
und befoldet.') Natürlich gehören unter ſolchen Umftänden 
Seiftliche, welche dem Previgtamte freiwillig oder gezwungen 
entfagt haben, und nun irgend ein Gewerbe treiben, zu den 
alltäglichften Erſcheinungen. 

Die orthoporen Kirchen, fagt der reformirte Prediger 
Büttner (er verfteht darunter alle calvinifchen, lutheri⸗ 
fhen und beutfch -reformirten Denominationen) fo fehr fie 
ſich gegenfeitig befeinden und auf einanber losziehen, ſobald 
e& heißt: „römifch-katholifch”, vergeffen alle gegenjeitigen 
Befeinpungen und Zäntereten, und ftehen gegen das Römiſch⸗ 
Tatholifche wie eine Mauer. Sollte es in ven Vereinigten 
Staaten zu-einem Religionskrieg kommen, was nicht uns 
wahrfcheinlich ift, denn Zunder genug iſt dazu vorhanden, 
fo wird gewiß nicht gefragt werben: Biſt du Presbhterianer 


) Atlantiſche Stubien. II, 130. 


over Methobift, Baptift oder Lutheraner, Reformirter ober 
Congregationaliſt, fonvern einfach: biſt bu Proteftant ober 
Ratholit? ') 

Schaff Hat die Polemik gegen vie Tatholtfche Kirche 
gefchilvert, wie fie von ber gefammten proteftantifchen Preffe 
Amerika's getrieben wird *), mit den grob erfonnenen Lügen, 
der handgreiflichen VBerläumbung, dem Ignoriven oder Ver⸗ 
fälfchen ber Geſchichte. Das kann nicht Wunder nehmen, 
wenu man bie Breite und Tiefe der Kluft erwägt, welche 
alle dieſe Sekten, vor Allem aber bie puritantfchen, von ber 
Kirche trennt, und ben Eontraft der Stellung fich vergegen- 
wärtigt. Während, fchreibt ein beutfcher PBroteftant aus 
Amerika, alle einzelnen proteftantifchen Denominationen burd 
ewig neue Zeriplitterung gefchwächt werben unb unter ein 
ander meift im bitteren Hader liegen, ſteht vie Latholifche 
Kirche da wie ein Mann; ein Organismus von einem 
Beifte befeelt, ein Ziel mit feftem, klarem Bewußtſein ver- 
folgend, fchreitet fie fort ohne Geräufch, ohne felbft bis nor 
Kurzem auf Anklagen und feindfelige Angriffe ein Wort ver 
Vertheidigung zu erivivern, aber in eiferner Confequenz bes 
harrend und von Jahr zu Jahr neues Terrain geivinnend.’) 


1) Lirchliche Viertel⸗Jahresſchrift. Berlin 1845, I, 180, 
2) Rirchenfreunb, Septb. 1852. 
3) Hengſtenbergs Rirhen-Beitung, 1847, €. 841. 


359 


Der ganze gegenwärtige Zuſtand Nordamerila's in re⸗ 
ligiöſer Beziehung iſt geeignet, bei den benfenden Männern 
bes Laudes ſtarke Beſorgniſſe zu erweden. „Die große 
Mehrheit des beranmwachienden Geſchlechts ift ohne pofltive 
Religion, äußerte ver oben erwähnte Prebigerr Edſon; 
was fie noch annehmen, finb etwa bie Lehren einer bloß 
untürlichen Religion, und ich fürchte fehr, daß wir fichere 
und keineswegs langfame Schritte in der Richtung zu völ⸗ 
liger Weligionslofigleit und fittlichem Verderben thun.* ') 
In ber ganzen Tagespreſſe gibt fih ein nichtswürdiger 
Radikalismus und feit einiger Zeit auch unverhüllte Irre⸗ 
Ugiöfität kund.“) Mangel an jebem Gefühl der Ehrfurcht 
tft, wie die Amerilanifchen Theologen trauernd eingefleben, 
ein vorherrſchender Zug des Nationalcharakters.) Der 
ganze Geiſt, in welchem bie religiöfe Preffe gefchrieben 
wird, ift eine Schmach für die Sache des Chriftenthums.*) 
Die Zahl der Bekennenden, fagt ein Baptiftifcher Brebiger, 


N) Tremenheere p. 53. 

7) ©. ben Artikel: Bigns of the times, im Mercersburg Re 
view, VII, 290 ff. 

3) Colton: Genius and Mission of the Protestant Episcopal 
Church. London 1853, p. 260. 

*) Mercersburg Review, VII, 293. Es ift kaum möglich, ſchlimmere 
Dinge Über ben Charakter ber Ticchlichen Preſſe Amerika’s zu 
fagen, als es hier gefchieht. 


860 





mindert fich in allen unferen Selten. Die Kirchen werden 
Rationär aus Mangel an Predigern. Das Verhalten ber 
befennenven Ehriften ift durchſchnittlich fo befchaffen, daß es 
für einen ehrenhaften Dann faft ein Schimpf wäre, wenn 
man ihm zumuthete, fich zu befehren unb zu werben, wie 
einer von diefen. Wenn die gegenwärtige Abnahme anhält, 
wird in zwanzig ober breißig Jahren der Lenchter von feiner 
Stelle gerüdt fein. Die Kirche bat keine Belehrungen und 
feinen Einfluß auf die Mafjen.‘) 

Wenn kürzlich in einer Amerikanifchen Zeitjchrift, dem 
„Evangeliſten“, behauptet wurde: auch in den Freiſtaaten 
ber Union fei bie jetige Zeit dem römifch-katholifchen Weſen 
günftiger als feit Jahrhunderten, fo tft das ficherlich nicht 
von der in Nordamerika norherrichenden Gefinnung zu ver⸗ 
ftehen, viefe tft vielmehr eine ver Fatholifchen Religion ent» 
ſchieden feindliche.) Das aber ift natürlich, daß Vielen 
bort innerhalb der Sekten-Umzäunungen enge und bange 
wird, daß fie, unbefriebigt Durch bie bort pargebotenen ma» 
geren und verarmten Nefte des alten chriftlichen Glaubens, 
ein ganzes, ein innerlich zufammenhängenbes und harmo⸗ 
niſches Syſtem des chriftlichen Glaubens und Lebens er- 
fehnen, daß fie vor Allem erlöft zu werben begehren von 


1) ©. die Schrift bes Amerikaners Heder: Aspirations of Na- 
ture. New-York 1857. 
*) Krauje's Kirchenzeitung, 1858, ©. 651. 


361 


ber Qual eines troftlofen Subjectiviomus, eines autoritäte- 
bofen, conventionellen Bibeldeutens. Zu welchen Ergeb» 
niffen diefe im Wachen begriffene Richtung füuftig noch 
führen wird, muß bie Zeit lehren. 


l. Die lutheriſche Kirche in den Skandinaviſchen 
Ländern. 


Die Wittenbergifche Lehre iſt in ben norbifchen Rei⸗ 
hen im Ganzen mit Gewalt, durch den Willen der Mo⸗ 
narchen und mit Hilfe des nach dem SKirchengute lüfternen 
Adels, gegen bie Neigungen des Volles eingeführt worden. 
Das Bolt wurde theils planmäßig um feine Religion bes 
trogen, wie in Schweben, theils in tiefer Unwiſſenheit er⸗ 
Halten, fo daß in Dänemark no am Ende bes 16. Jahr⸗ 
hunderts von zwanzig Landleuten nicht Einer lefen Konnte. 
Im Norwegen hatte Chriſtian III. das Volk gleichzeitig 
unter das doppelte Ioch der neuen bäntichen Religion und 
des dänifchen Adels gebeugt; aber für wirkliche religiöfe 
Bildung des Volles gefchah nichts. Diefer Zuftand währte 
bis in's 18. Jahrhundert hinein. Katechetifcher Unterricht 
wurbe nicht ertheilt, die Prebigten blieben tem unvorbes 
reiteten Volle unverftänblich, „es berrichte im Lande eine 
beinahe heidniſche Blinbheit.” ') In einer Bittfchrift, welche 


2) So ſchildert der Biſchof Bontoppiban bie gänzliche Bernach⸗ 


die Norwegifchen Bifchöfe im Jahre 1714 an König Frie⸗ 
brich IV. richteten, mußten fie das Geſtändniß ablegen: 
„Wenn einige wenige Kinder Gottes ausgenommen werben, 
ift ımter und und unfern beibnifchen Vorfahren nur biefer 
Unterfchieb, daß wir ben chriftliden Namen tragen.” ') 
In Dänemark war buch bie Reformation der König 
ale Oberbifchof vollftändig Herr ver Kirche geworben. In 
dem Konigsgeſetze von 1665 iſt es ohne irgend eine Be⸗ 
ſchraͤnkung oder Milderung ausgefprochen, daß ber König 
als Höchfter Richter und Herrfcher anf Erben über Alles 
and Jedes in der Kirche und Religion, wie im Staate, 
ſchrankenloſe Macht beſitze.) Nur Eine Bedingung war 
ihm durch bie Handfeſte von 1648 vorgefchrieben: er burfte 
nicht Die Ausübung einer andern Religion neben ber lutheri⸗ 
ſchen verftatten. So regierten denn bie Könige bie Kirche 
durch ihre Kanzler, fpäter durch das Kanzlei- Collegium, 
welches neben Yuftiz, Armenwefen und vergleichen auch bie 
firchlichen Angelegenheiten zu verwalten hatte Die nem 
ober zehn Biſchöfe des Landes, vie mit den Bifchöfen ber 
Tatholifchen Kirche nichts al& den Namen gemein babem, 


läfſigung unb Berwilberung des Volles, bis zum Jahre 1714, 
in feinen Hirtenbriefen, überſetzt von Schönfelbt. Roſtock 1756, 
&. 129, 80. 

1) Hengftenberg’s Kirchenzeitung, 1848, &. 586. 

2) Engelstoft in Herzog's Enchfiopäble. IIL, 610. 





und bei denen in einer futherifchen Kirche natärlich jede 
Borftellung von bifchöflider Succeffion und überlieferter 
Autorität ferne gehalten werben mußte, waren nichts weiter 
als Beamte des Töniglichen Oberbifchofs. Die däniſche 
Geſchichte feit der Reformation weiß von feinem Verſuch, 
keinem Streben nach Tirchlicher Selbſtſtändigkeit, überhaupt 
von Feiner befonderen Lebensregung ber bortigen Kirche zu 
berichten. Alles blieb ftumm und unterwürfig, und in dankbarer 
Anerkennung diefer dem Iutherifchen Geiſte entfprechenden Füg⸗ 
ſamkeit unterprüdten vie Gebietenden forgfältig jede Ab⸗ 
weichung von dem lutherifchen Dogma und dem Lehrtypus der 
Wittenbergijchen theologifchen Bakultät. Die einzige Landes» 
Univerfität zu Kopenhagen, „kaum noch eine dürftige Ab⸗ 
richtungsanftalt zum Kirchendienfte”'), forgte für eine am 
Hofe genehme Theologie, und die Streitigkeiten und Spal⸗ 
tungen, welche der Pietismus erzeugte, wurben durch könig⸗ 
liche Reftripte und Kabinetsbefehle entſchieden und beigelegt.*) 

Dur das neue Staatsgrundgefeg vom Jahre 1849, 
welches dem Dänifchen Stantswefen eine überwiegend de⸗ 





1) S. die ausführlide Schilderung in Bruns’ und Häfner’s 
Neuem Repertorium, V, 101 fi. 

2) „Der maßlofen Ignoranz ber (in Kopenhagen gebildeten) Theo- 
fogen, wozu noch ihre fittfiche Berfumpfung hinzukam, entſprach 
ber granenvoll gefnechtete Zuftand ber Landbevölkerung und bie 
Bhilifterhaftigkeit und Berbummung ber Stäbter nur allzuſehr.“ 
So ber bänijche Berichterſtatter. Repert. S. 103. 


364 


mokratiſche Geftalt gegeben hat, ift die Iutherifche Kirche 
zur „Dänifchen Bollöfirche” eriärt und der confeflionelle 
Charakter des Staates aufgehoben worden, indem volle 
Sreibeit des Belenntuiffes und des Gottesdienſtes gewährt 
wurde, wozu denn in jüngfter Zeit noch bie Aufhebung des Tauf⸗ 
zwangs kam. Die alte Abhängigkeit ver Kirche von der Staats⸗ 
gewalt ift indeß geblieben. ‘Der König, ver einzige Menſch 
in ganz Dänemark, ver lutheriſch zu fein verpflichtet ift, 
bleibt nach wie vor Oberbifchof; jedoch iſt es nicht mehr 
ber König perfönlich, fondern ber conftitutionelle Cultus⸗ 
Minifter, der die Kirche regiert, und welche Stabilität 
burch ſolche Regierungsweiſe verbürgt fei, läßt fich ſchon 
aus der Thatſache ermeflen, daß Dänemark feit 1848 fünf 
und vierzig Minifter gehabt Kat. Bon einer georbneten 
Verfaſſung der dänifchen Kirche kann nicht die Rebe fein; 
zur Zeit befindet fich biefe Kirche, wie Biſchof Martenfen 
fagt, „in einem ſchwebenden Mittelzuftande, den man nur 
Höchft uneigentlih) eine Form ober eine Orbnung nennen 
lann.“) Ihre Berfaffung ift vorerft nur „Gegenſtand des 
Nachdenken.” Drei Anfichten machen fich bis jet geltend. 
Einige wünfchen eine kirchenpolitiſche Stellung der Bifchöfe 
nah Art der Engliihen Kirche. Dabei bliebe dann das 
Oberbifhofthum des Minifterd ber geiſtlichen Angelegen- 


) Die Berfaffungsfrage der Daniſchen Vollelirche. Kiel, 1862. © 7. 





5 

heiten und bes Reichstags. Andere wünfchen eine Tirchliche 
Repräfentation in Synoden von Geiftlichen und Laien, auf 
Grund des allgemeinen Stimmrechte. Aber vor den Er⸗ 
gebniffen des allgemeinen Stimmrechts in Tirchlichen Dingen 
fchreden alle Befonnenen zurüd, Die Majorität ftimmt 
dafür, daß die Kirche fich vorerft ohne alle Verfaffung mit 
ben proviſoriſchen Zuftünden bebelfe, da bie Gegenwart „zu 
nnrubig fei und zu wenig Hare Anfhauungen habe.“) Es 
muß ſchlimm ftehen, wenn man ben gegenwärtigen Zuftanb 
jedem Berfaffungsverfuch vorzieht, einen Zuftand, kraft deſſen 
die Kirche abhängig ift von einem Reichstage, deſſen 
Mitglieder weder Angehörige der Lutberifchen Gemeinfchaft, 
noch überhaupt befennenve Ehriften zu fein brauchen. Daß 
„eine Aenderung der kirchlichen Verhältniffe innmer mehr 
als eine Nothwendigkeit empfunden werbe”, hat ber Pre⸗ 
diger Kalkar von Gladſaxe bei Kopenhagen auf ver Ber- 
Iiner Verſammlung der Allianz behauptet.) Chriftus, fügt 
er entjchulbigend bei, fei in Dänemark nicht fo offen ver⸗ 
worfen, wie an andern Orten, aber e8 berriche dort wenig 
geiftliche® Leben. | 

Unter dem Einfluffe des aus Deutfchlann eingebrungenen 
Nationalismus war feit bem Ende des vorigen Jahrhunderts 


N’ Deutiche Zeitichrift für chrifil. Will. 1859, ©. 88. 
9 Verhandlungen u. |. w. ©. 584. 





I 


nicht nur das Voll in den höheren und mittleren Stänben, 
fondern auch bie Geiftlichfeit in Maſſe ungläubig geworden. 
Die Pfarr⸗Candidaten erheuchelten noch im Examen Ortho⸗ 
doxie, und zeigten fich in ber unmittelbar auf die Orbis 
nation zu haltenden Previgt unter ben Augen ihrer Bi⸗ 
ichöfe als entfchiebne Naturaliften.!) Nach Däniſchen Schil⸗ 
berungen war bie große Mehrheit ber bortigen Geiftlichen 
den glaubenslofen neutheologifchen Anfichten eben jo voll⸗ 
ftänbig verfallen, wie ihre deutſchen Standes» und Belenut- 
nißgenofien; man fchwankte nur zwilchen einem frivolen 
Unglauben, und einem ſich mehr wiffenfchaftlich gebehrden⸗ 
den Rationalismus. 

Gegenwärtig und ſchon feit geraumer Zeit theilt ſich 
die Dänifche Geiftlichkeit im Großen in zwei Parteien, die 
rattonaliftifch-ungläubige, deren Lehrer und Führer Profeffor 
Staufen war, und bie Anhänger Grundtvig's. Der 
beharrlihe Kampf biefes Mannes gegen ven NRationalis- 
mus bat ihn zu einer Theorie geführt, welche die beutfchen 
Lutheraner ihrerfeits als eine „im innerflen Kern antirefor⸗ 
matorifche und antilutheriſche“ bezeichnen.) Während ber 
Proteſtantismus in Amerika das apoſtoliſche Glaubensbe⸗ 
kenntniß ganz verwirft oder als werthlos bei Seite ſchiebt, 





ı) Bruns’ Repert. V, ©. 106. 
2) Rudelbach, in ber Zeitichr. für luth. Theol. 1857, ©. 7. 


367 


will Grundtvig dasſelbe ald eine eben fo Klare wie fefte 
Lehrformel und ein evidentes Zeugniß bed Glaubens ber 
älteften Kirche über die der Willführ fubjectiver Deutung 
verfallene Bibel geftellt wiffen, in ähnlicher Weife wie 
Leffing und Delbrück. Er und feine Partei ift indeß 
immer mehr mit dem Lutherthum zerfallen; und bringt auf 
gänzliche Aufloͤſung des Staatskirchenwejens und Parochial⸗ 
Berbandes, damit Jeder fich beliebig an biefen ober jenen 
ihm zuſagenden Prebiger anfchließen könne. Die Hauptfache 
aber ift, daß die ganze Grundtvig'ſche Schule mit dem deutfchen 
Proteftantismus zu brechen geneigt ift, ober theilweife bereits 
gebrochen hat. Man will nichts mehr von ber deutſchen 
proteſtantiſchen Theologie, nichts von ben beutfchen Bes 
lenntnißſchriften wiſſen. Rudelbach hat diefe Richtung 
einem fanatifchen Haffe gegen Altes, was deutſch heiße, zu⸗ 
geichrieben; fie bat aber ohne Zweifel, wie Grunbtoig’s 
ganzer Gedankengang feit vielen Jahren beweift, einen ties 
feren Grund; fie entquilft einer ven Principien ber Engli⸗ 
fen Zractarianer nahe verwandten Anſchauung. 
Dänemart war feit 300 Iahren in geiftig religiöfer 
Beziehung völlig von ber beutfchen Theologie und Literatur 
abhängig, was fich dort regte war immer nur ein abges 
[hwächter Nachhall der deutſchen Bewegungen und Erzeug- 
niffe. Aber der gläubige Proteftantismus, wie er gegen- 
wärtig in Deutfchland exriftirt, hat in der That in Düne 











_ 


mark keinen Boden mehr. „Gläubige Predigt, fagt Beterfen, 
tommt in Dänemark nur fehr fporabifch vor.“ ') 

Ein Däntfcher Geiſtlicher, ber in der Darmfläbter 
Allgemeinen Kirchenzeitung eine Schilderung ber Eicchlichen 
Zuftände feines Landes niedergelegt bat, ftellt zwar bie 
Lage als fehr fchlimm var, erflärt aber dann, feine Meis 
nung jet nicht, „daß ber Herr bie Dänifche Kirche ver- 
laffen Habe." Manche Laien feten erwedt, und als Beleg 
wirb nun angeführt, daß ein von einem fünblichen Wandel 
bekehrter Schmied im Lande herumreiſe, daß ein Bauer 
eine Gefellfehaft für innere Miſſion geftiftet habe, und daß 
auch ein Bäder „für die Freiheit der Kirche und ein reges 
Leben arbeite.") Bon ven Thaten der Beiftlichen berichtet 
er nichts. 

Es wäre in ber That fehwer, ein noch Häglicheres 
Bild von einem Kirchenwefen zu entwerfen. Das Boll in 
ben Stäpten zieht fi vom Gottesbienfte jo maſſenweiſe 
zurüd, daß in Kopenhagen von 150,000 Einwohnern nur 
etwa 6000 beftänbige Kirchengeher find, und das Ehriftene 
thum einer großen Menge bios noch darin befteht, jährlich 
etwa zum Neujahrsfeft in die Kirche zu geben.) In bem 
übrigen Städten iſt ver Kirchenbefuch noch fehlechter ale im 

) A. 4. O. ©. 106. 


?) Jahrgang 1855, ©. 1473 ff. 
3) Krauſe's Kirch⸗Zig. 1859, ©. 968. 


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a 

Kopenhagen.) In Altona genügt eine einzige Kirche für 
45,000 Einwohner. Die Kirche, geleitet an eine nunmehr 
in den Händen einer völlig demokratiſch conftituirten Ver⸗ 
ſammlung befinbliche Staatsgewalt, ift unfähig, in irgend 
einer Lebensfrage fich felber zu helfen. Die Geiſtlichkeit ift 
in Parteien geſpalten, fie vermag ſich nirgends an eine 
geiftige over moralifche Autorität anzulehnen, und das rath- 
loſe Bolt fucht bei Baptiften und Methodiften religidfe 
Nahrung, ober verwilbert. 


Auch in Schleswig, ſowohl im deutſchredenden als im 
däniſchredenden Theile des Landes, ftehen bie Kirchen leer. 
Als eine Haupturfache davon wird die Beichaffenheit ver 
Dänifcyen Geiftlichleit angegeben. „Däntfche Berflachung, 
Dänifcher Unglaube und Dänifche Unfittlichleit werden jet, 
fagt der Schleöwiger Prediger Beterfen, vem Lande (durch 
bie Däntfchen Geiftlichen und Beamten) eingeimpft. Nicht 
ber großartige Drud, der die Dentfche Zunge trifft, ift 
das Hauptleiden, fondern die von Dänemark nad Schles- 
wig verpflanzte Srreligiofttät, umb im Geleite dieſer bie 
Demoralifation. Bei ven Däntfchen Geiftlichen iſt die res 
ligtds- fittliche Haltung ‚Ausnahme, nicht Regel“.) Die 





1) Ag. Lit. Ztg. 1841, IT, 491, 
2) Erlebniffe eines Schleswig'ſchen Predigers. Frankfurt 1856, 
©. 881.- 
». Döllinger, Papſtthum. 24 


870 


Dänifche Mißhandlung der Kirche in Schleswig tft übri⸗ 
gend, wie nun erfannt und bitter geflagt wird, eine Folge 
der auch in den Herzogthümern feit der Reformation ein- 
geführten Epiffopalgewalt des Landesherrn. Auch bier find 
längft fchon alle Tirchlicden Anorbunngen, auch bie das 
innerfte Wefen bes Tirchlichen Lebens berüßrenpen, einfeitig 
bon dem Landesherrn ausgegangen. Im Jahre 1834 Hatte 
man fogar die Verwaltung ber Kirche dort den Oberconfi- 
ftorien genommen, und fie ver Schleswig-Holfteinifchen Re 
gierung übertragen.’) 

Mehr noch als in Dänemark iſt vie lutheriſche Staats⸗ 
fiche in Schweden von Anbeginn an in theologifcher 
Beziehung von Deutfchland völlig abhängig geweſen unb 
geblieben. ‘Die Heine Anzahl tbeologifcher Schriften, vie 
Schweben befigt, beftebt faft nur aus Ueberfegungen aus 
den Deutſchen. Doch hat ber theologiſche Nationalismus 
Deutfchlande in Schweren wenig Eingang gefunden; 
bie Geiftlichleit Batte am Ende des vorigen unb 
im Unfange be gegenwärtigen Jahrhunderts über 
haupt aufgehört, ſich mit Theologie zu befchäftigen, und 
wenn ein berühmter Schwebifcher Theologe ver jüngften 
Zeit, Wiefelgren, äußert: „unfre kirchliche Verfaſſung 
und Gefetgebung hat faft nur auf dem Papiere ihre Guül⸗ 


) Schrader: Die Kirchenverfaflungtfenge. Altona 1849, &. 174. 


371 


tigkeit; Alles hat der Nation aliomus Lofe gemacht“, — fo nimmt 
er wohl das Wort im Sinne eines praftifchen Inbifferentismus. 

In England Hatte man vor einiger Zeit ben Blick 
anf die Schwebifche , Kirche geworfen, in ver Hoffnung, 
dort eine gewiffe Verwandtſchaft und kirch liche Sympathie 
mit ven Engliſchen Zuftänden und anglofathoftfchen Stre- 
bungen zu finden. Diefe Hoffnung zeigte ſich fofort bei 
näherer Prüfung als eine Iüufton. Man erkannte, daß 
das Schwediſche Epiflopat ebenfo wenig als das Dänifche 
irgend einen Anſpruch auf apoſtoliſche Succeffion babe, 
daß die Schwebifchen Bifchöfe weit entfernt feien, ihr Amt 
im Sinne der alten Fische aufzufaffen, daß fle vielmehr 
Intherifche Superintendenten und nichts weiter feien. “Die 
Schwebifche Kirche, fand man, ift einfach eine Iutherifche, 
von jeder Fatholifchen Idee gründlich gereinigte Commn⸗ 
nität, in ber feine Spur von dem, was ein Anglitaner 
unter „Kirchengeiſt“ verfteht, zurückgeblieben ift. ') 

Dabet wird aber der Schwebifchen Kirche auch das 
Zeugniß nicht verfagt, daß fie „die am vollkommenſten or⸗ 
ganifirte proteftantifche Communttät in Europa fel“,') daß 
fie in der Liebe für ihren Luther vielleicht felbft die Alt⸗ 
Eutheraner in Deutſchland übertreffe. ’) 

!) Christian Remembrancer. XIII, 425. 
®) Chr. Rem. XIII, 488. 


2) Hubers Janus. Berlin, 1845 I. 232. 
24* 


372 


Andrerſeits freilich behauptet der Prebiger Zrottet, 
das Vaterland Guſtav Adolf ſei ohne Zweifel dad am 
wentgften proteftantifche unter allen Landern, in denen bie 
Reformation Eingang gefunden habe. Er fett nämlich als 
Anhänger Vinets, von der Geſchichte der Reformation und 
den durch diefelbe begründeten Zuftänden ganz abſehend, 
das Weſen des Proteftantismus in die Freiheit des religt- 
Öfen Lebens und die Ungebunbenheit der Tirchlichen Bewe⸗ 
gung; da muß ihm denn bie Schwebifche Kirche, in welcher 
Staatliches und Religiöfes fo arg verwachſen ift, allerbinge 
als unproteftantifch erfcheinen. 

Der König ift in Schweden „oberfter Auffeher und 
irdbifher Herr ber Kirche,” er vereinigt die höchite geiſt⸗ 
liche und weltliche Macht des Meiches in fi, und läßt 
feine Gewalt über die Kirche durch „die Königliche Kanzlei- 
Regierung” ausüben, deren Vorſtand ber Minifter ver aus⸗ 
wärtigen Angelegenheiten tft.') Zugleich mit dem Könige 
beherrfcht der Neichötag die Kirche; auch Kirchliche Dinge 
werben auf bemjelben verhandelt. So bat fih denn ber ſelt⸗ 
fame Auftand dort gebildet, daß bie Geiſtlichkeit nach 
ihrer ganzen Stellung als. privilegirter Stand und durch 
ihre Vertretung auf dem Reichstage großen politiſch en 
Einfluß befigt, gleichwohl aber pie Kirche in ſclaviſcher Ab- 


— — 


) Klippel in Herzogs Encpffopäbie, XIV, 89. 





873 


bängigfett vom Staate fteht.?) Der König kann fogar zu 
Sunften von fcheiveluftigen Ehegatten dem Confiftorium 
Scheivebriefe a bfordern, auch für andere Fälle als Ehebrud). 
Die Beichäftigung der Pfarrer ift zumeift nur weltlicher 
Art; fie find die beften Finanziers und Geichäftsmänner, 
‚oft zu Allem tüchtiger, als zur Führung des geiftlichen 
Amtes.) Diekirchlichen Befchäfte werden zumelft den Hülfs⸗ 
prebigern überlaffen. Die Predigten werden vorgelefen, 
das Bolt felbit, heißt es, wünfche keine frei vorgetragenen 
Predigten; und nach ver Prebigt muß der Geiſtliche von 
der Kanzel herab eine Halbe Stunde lang Ausrufer oder 
Büttel fein für die trivialften Bekanntmachungen. NIS 
neuerlich in einer Verſammlung der Bifchdfe die Abfchafe 
fung dieſes anftößigen und läftigen Brauches, ver „Kung- 
örelfer” zur Sprache kam, erflärten fich faft alle für vie Bei⸗ 
bebaltung, auch aus dem Grunde, weil fie ohne biejelben 
aur die alten Weiber und Kinder als Zuhörer behalten 
würden.*) Die Hausverhöre, die urfprünglich den Prebiger 
befähigten, vie religiöfen Kenntniffe feiner Gemeinde im 
Einzelnen zu prüfen, find in den meiften Gegenden herabge- 
funfen zu einer Gelegenheit für Ausfüllung der Steuer- 

1) Trottet, Prediger in Stodholm, in Gelzer's Monatsblättern 

XI, 140. 
?) Kirchliche Bierteljahreichrift. Berlin 1845, IV, 149. 


3) Liebetrut, Hengfienberg’s 8. Zig., Bd. 34, 119. 
*%) Liebetrut, 34, 172, 





874 


rollen und Vollsverzeichniſſe.) Deutiche Beobachter bes 
richten von einer faft unglaublichen Unwiſſenheit ber borti« 
gen Geiftfichen, bis zu den böchften Stellen hinauf; es fei 
unerbört, daß ein von Patron zu einem Paftorat Berufe 
ner, wenn er auch noch jo roh und bilbungslos fei, zurück⸗ 
gewiefen werbe.:) Im Amte bereitet ihm feine Unwiſſen⸗ 
beit, wenn er nur lefen und fohreiben fann, Leine Schwierig» 
teiten, da er allen Unforberungen fchon genügt, weun er, 
nebjt der Berrichtung der in Schweben mehr als anderswo 
noch beibebhaltenen Firchlichen Formalien und Ceremonien, 
ſonntäglich eine abgefchriebene Prebigt vorliejt. Nimmt 
man noch Hinzu, daß die in Schweden uoch immer um ſich 
greifende Peſt des Branntweintrintens?) auch einen großen 
Theil ver Geiftlichen befallen bat, fo erklärt ſich Vieles in 
ben bortigen Zuftänden. 

Im Ganzen läßt fich indeß doch -fagen, daß gegenwär- 
tig ber geiftlihe Stand in feinem proteftantifden Lande 
fo bebeutende Privilegien, fo großen und mannigfachen 
Einfluß befigt, als in Schweden. Diefem Einfluffe ift denn 
auch die Härte des dortigen Verfahrens gegen vie Erwec⸗ 
ten und „Leſer“, der zäbe Widerſtand gegen alle Reformen 


I) Kirchl. Bierteljahresichrift. 1845. IV, 149. 
N) Liebetrut, 168. 
2) Bgl. darüber Allg. Ztg. 1857, &. 5475. 


375 


zuzufchreiben. Nach Liebetruts Bemerkung würde ein Schwebe, 
der die beſtehenden Webelftände rügte, von allen Seiten, 
von Frommen und Unfrommen, als ein Samariter verwor⸗ 
fen werben, der mehr nach dem Leben als nach der Lehre 
frage, als ein blinder Eiferer über Dinge, denen nicht zu 
belfen fei.') 

Liebetrut und andre Berichterftatter pflegen der Schwe⸗ 
diſchen Kirche und Geiftlichkeit das Zeugniß Tutherifcher 
Nechtgläubigkeit zu geben, aber, fagen fie, es berrfcht eine 
todte Orthodoxie. Die Schwerifche Kirche, fagt Liebetrut, 
ift eine ‚veriwäftete, erftorbene, unter dem Banne Gottes 
befindliche Kirche, in ganzen Provinzen ift alles kirchliche 
Leben völlig erloſchen. Ihre Lirchliche Einheit iſt die Eins 
heit unb ber Friede des Kirchhofes?). Und nicht anders ber 
Schwediſche Prediger Cervin⸗Steenhoff: Es iſt jet 
die Zeit der Erniedrigung der Kirche, fie iſt tobt; Alles ift 
jet öde, leer und zankfüchtig geworden’) 

Schweden ift jet wohl nebſt Rorwegen das einzige 
Land in Europa, wo noch die ächte Iutberifche Lehre auf 
ben Kanzeln berricht. Die tiefe Unwiffenheit ver Mehrheit 
der Geiftlichen bildet kein Hinverniß, denn die herkoͤmmli⸗ 
Gen Formeln und Stichworte des Syſtems findet und ges . 


1) Hengftenberg’s Kirch. Ztg. Bd. 38, ©. 148. 
2) Hengſtenberg's Kirch. Ztg Bb. 34, ©. 172. 151. 
3) Kliefoth's kirchl. Zeitichrift, 1856, ©. 713 fi. 


376 


braucht am Ende doch jeder mit Leichtigkeit. Nichte iſt 
feichter,, fagt Trottet, als hier ver Ketzzerei verbächtig 
"zu werben. Seiner Behauptung nad ift biefer Zuftand 
ber Kirche in Schweben mit die Haupturfadhe bes Sitten» 
verberbniffes, das in dieſem Lande herrſcht. Ein verberb- 
licher Formalismus babe überhand genommen, die religidſe 
Gleichgültigkeit Habe nach und nach die Strenge ver alten 
Sitten aufgehoben, und bie öffentliche Meinung autorifire 
nnd fchäge in vielen Fällen die empörenbfte Unfittlichleit.") 

Die „tobte Orthobogie“ ift gegenwärtig eines ber bes 
Hebten Schlagworte, und man meint, ihr auch in Deutfch- 
land die Schuld an ben fchlimmen kirchlichen Zuſtänden 
bes 17. und 18. Jahrh. beilegen zu dürfen. Da möchte 
aber doch wohl eine ftarle Illuſion mit unterlaufen. Die 
Iutberifche Orthodoxie war in Deutfchland nicht tobt, viel» 
mebr, fo lange fie eriftirte, ſehr lebendig, und fie bat zwei 
Sahrhunverte lang (1550 — 1750) ven Kampf ver 
Neibe nach gegen Calviniomus, dann gegen Arnbt und bie 
Arndtianer, bieranf gegen Calixtus und die Helmſtädter 
Schule, weiter dann gegen Spener, ben Pietiomus und 
bie Haltifche Schule rüſtig und erfolgreich burchgeftritten, 
und fich aller Abſchwaͤchungoverſuche glücklich erwehrt, bis 
enblich der Rationaliemus ſowohl der Orthodoxie als ihrer 


1) Selgers Mon. Blätter Xi., 148. 


377 


Gegner Meifter geworden ift, und auf ihren Trümmern 
feine Hütte erbaut bat. Was mau in Deutfchland :für 
eine Wirkung ber „todten“ Orthodoxie ausgeben möchte, 
das war vielmehr die natürliche pſfychologiſch und elklefiologifſch 
nothwenbige Folge des Intherifchen Syſtems feldft, wie n 
biftorifch leicht nachweifen ließe. 

BU man in Schweden von einer todten Orthodorxie 
reden, fo iſt auch bier zu erinnern, daß dieß dort eben 
nichts Neues, fondern der normale Zuſtand feit ver Refor⸗ 
mation iſt. Die Schwerifche Staatskirche ift bis auf die 
Gegenwart im unbeftrittenen Wlleinbefige abfoluter, andh 
nicht die leifefte Abweichung vom fymbolgemäßen Luther- 
thume duldender Herrfchaft geblieben. Ernſte theologische 
Controverſen find eigentlich, etwa mit Ausnahme des litur⸗ 
gifchen durch die katholiſirenden Beſtrebungen des Königs 
Johann veranlaßten Streites, in der Schwediſchen Geſchichte 
gar nicht vorgefallen, und zur Abwehr fremder Lehre bedurfte 
die Geiftlichkett Feiner theologifchen Kenntuiffe. Als Guſtav 
Waſa die Einwohner von Helfingland zum Lutherthum bes: 
tehren wollte, fchidte er ihnen nicht, etwa Verteiler Schwe⸗ 
diſcher Bibeln oder Prediger der neuen Lehre, fondern er 
ſchrieb ihnen: wenn fie nicht alsbald [utherifch wärben, 
fo laſſe er eine Oeffnung in das Eis des Deelen- Sees 
machen und fie alle ertränten.‘) So blieb ed: Schwert, 


) Dieß führt die von den Profefforen zu Upſala herausgegebene 


378 


Sefängniß, Verbannung, in neuerer Zeit Geloftrafen find 
bort immer als die erprobten Mittel betrachtet worben, 
jevem kirchlichen Zwiſte vorzubengen, oder den ausgebroche⸗ 
nen beizulegen. Es fchien dieß um fo nothiwenviger, als, 
wie der berühmte Atterbom bemerkt, öffentlicher Unter⸗ 
richt und Bildung des geiftlichen Standes fich ſehr lange 
Zeit in einem Zuſtande befand, ber tief unter demjeni⸗ 
gen der unmittelbar vorausgegangenen papiftifchen Epoche 
ſtand.) So griffen denn auch Karl IX. und fein Sohn 
Guſtav Adolf zu dem einfachen Mittel, beharrlicden Katho⸗ 
lifen vie Köpfe abfohlagen zu laffen. Und als gegen Ende 
des 17. Jahrhunderts und im Anfange des folgenden meh⸗ 
rere Schweden, Ulftadius, Peter Schäfer, Ulhagins 
und Erit Molin an der Iutheriichen Hanptlehre von ber 
Imputotion irre wurben, und von einer Nothiwenbigfeit ber 
guten Werke redeten, da wurden Schäfer und Ulhagius 
zum Zobe, Ulſtadius zu lebenslänglichem Zuchthaus vers 
urtbeilt, in welchem er 30 Sabre blieb, und Molin wurde 
verbannt. *) Nach diefen Grundfätzen tft man denn aud 
feit 30 Jahren gegen die „Erweckten“ oder „Leſer“ verfahren. 


Zeitfehrift Frey in einem durch eine Schrift Wieſelgren's ver 
anlaften Artilel über Guſtav Waſa an. Diefer Artikel if 
überjebt in den von Bonnetty beransgegebenen Annales deb. 
Philosophie Chret. Paris, 1848 XVII, 282. 

) Dafeldft, p. 291. 

7) Norbifche Eammiungen, 1755 Sb. IE. 44 — bi. Bel 


379 


Man weiß eigentlich nicht anzugeben, wie ed in Schwes 
den zugegangen, daß nun ſchon feit fo langer Zeit das res 
ligiöfe Leben fo erftorben, vie geiftliche Thätigleit fo hand⸗ 
werlömäßig geworben ift. Fremder, Deutſcher Einfluß ift 
nicht die Urſache. Als eine Haupturſache fällt zunächft je⸗ 
dem Beobachter Die große Verweltlichung des geiſtlichen Stan- 
des, ver Mangel an Bildung und Vorbereitung — in bie 
Augen. Eine kurze Wbrichtung von wenigen Monaten 
genügt, um ein Paſtorat zu erlangen; man tritt mit 
großer Leichtigkeit aus einem beliebigen Gewerbe ober 
weltlichen Amt plögli in ven durch gutes Einkommen 
und Anſehen lockenden, geiftliden Stand, man wirb 
ſelbſt Biſchof, ohne auch nur einen Anflug von theolegi« 
fcher Bildung zu befigen.‘) So ver Dichter Tegner, fo 
jeßt ein früherer Profeffor der Botanil. Die Sorge für 
Weib und Kinder und pie Menge ver bürgerlichen Gefchäfte 
tbut dann das Uebrige. Es fcheint faft raͤthſelhaft, daß 
ein Volk, das einen Linné Berzelius, Geljer, Atter- 
bom hervorgebracht, das eine reich botirte Kirche und zwei 
Hochſchulen hat, eine Kirche, Die doch auch, gleich anvern 


Berliner Allg. Kirchenztg, 1849, S. 752. Das Todesurtheil 
bes geiftlichen Gerichtes zu Abo wurbe von ber weltlichen Be⸗ 
hörde in Gefängnißftrafe verwandelt. 

3) Bergl die von Liebetrut angeführten Beiſpiele. a. a. O. 
Bd. 34, &. 169. 


a _ 


proteftantifchen Kirchen, das Poftulat allgemeiner Bibelfor- 
fung zuin' veligiöfen Prinzip erhoben bat, daß ein folches 
Bolt in theofogifher Beziehung jo gar nichts geeiftet hat. 
Der. frühere Brofeflor der Theologie, nachher Bichof Reu⸗ 
terbahl, fagt: ‘Der theologifche Unterricht hätte ſchwerlich 
ſchlechter orgauifirt fein Lönnen, als in Schweben. Die 
Unmwiffenheit oder Gewinnfucht uud der Unverſtand ver 
Geiſtlichen fei die Urfache, daß fo Viele in den Gemeinden 
pie Kirche enibehren zu können meinten‘) Die Schweben 
durften indeß nur nach Dänemark binüberbliden, um as 
dem dortigen ganz rationaliftifch gewordenen Klerus bie 
Folgen theologifcher Stupien wahrzunehmen. Ste hatten 
eben nur die Wahl, ihre utherifche Orthodoxie zu behalten, 
und der Theologie zu entfagen, oder auf Koften ber erfte- 
zen fich mit der Theologie einzulaffen. Es war natürlich, 
daß fie fich in einem Lande, wo die Staatsgewalt mit ſol⸗ 
her Strenge die alten religiöfen Strafgejete aufrecht erhält, 
wp der Klerus fo gefnechtet tft, daß vie weltlichen Behörben 
die Kiechenbußen diktiren, und dann der Pfarrer jeven Verbre⸗ 
her ohne weiters abfoleiren mug — baß fie unter ſolchen 
Umftänden auf bie Theologie verzichteten, and gute Luther⸗ 
aner zu bleiben vorzogen. Symbolmäßige Rechtgläubig- 


-1).&, die Auszüge aus feiner Schrift in Heugſtenberg'e 8. Ztg. 
Br. 38., ©. 151. 


381 


teit und wiflenfchaftliche Theologie können nun einmal’ in 
Schweden fo wenig als in andern proteftantifchen Ländern 
in frieplicder Ehe mit einander leben. Seit fie fi tm 
vorigen Jahrhundert miteinander überworfen, bat kein 
Sühneverfuch gelingen wollen, und beide Satten haben ein- 
ander den Scheibebrief bereits eingehänpigt. 


Die „Leſer“, welche feit einigen Decennien faſt die ein- 
zige Wellenbewegung in den fonft flagnirenden Gewäſſern 
der Schwebifchen Staatölirche hervorgebracht haben, waren 
zuerit im Grunde nichts weiter als eifrige Lutheraner; ihr 
Wahlſpruch war das „gerecht durch den bloßen Glauben“ 
und die Knechtſchaft des Willens, und fie fonberten fich, 
weil die Geiftlichen ihnen dieſe Lieblingsdogmen nicht rein 
und nicht oft genug prebigten.') Als nun das lutheriſche 
Staatöfirchenweien die armen Menfchen mit der ganzen 
Wucht eines brutalen Polizeivefpotismus zu erbrüden trach⸗ 
tete, da Tießen fih Hunderte eher an den Bettelftab bringen, 
oder wanderten aus und floben in bie Eindven Lapplands. 
Hatten die „Leſer“ Schon begonnen, Taufe und Abendmahl 
durch einen aus ihrer Mitte verrichten zu laffen, fo erga- 
ben fie fih nun Engliichen und Amerikaniſchen Ba ptiften- 
Miffiondren, und ließen fich von Neuem taufen. Im Sabre 
1853 mußte man endlich die Wirfungslofigfeit-ver Straf- 


1) Neue Preuß. Zeitung, 18. Dech, 1866. 


BER. 


ben, bie bier, wie in Dänemart, Jedem ohne irgend ein Be⸗ 
fenntniß, fogar ohne daß er auch nur eine Frage mit ja ober 
nein zu beantworten brauchte, ertheilt wird. Krankenbeſuche 
find gleichfalls nicht Ablich. Der völlige Verfall ver Sir- - 
chenzucht wird auch hier beflagt. Der Deutfche bat dort 
nur einen Heinen Kreis Erwedter gegenüber ver großen ge 
bantenlofen. Maſſe des Volkes gefunden. Auch vort fiehen 
die Kirchenftühle, namentlich der höheren Klaffen und Be⸗ 
amten nicht felten leer). Die Laien Tagen allgemein 
über die Prediger, ihren weltlichen Sinn, ihre Unter⸗ 
laffung aller Seelforge. Diefe aber verweifen auf ihre 
Ueberbürbung mit weltlichen Gefchäften,”) die Größe 
ihrer Pfarriprengel, ihre Delonomie- und Familien⸗ 
Sorgen uud bie weite Entfernung der meiften Gemeinde 
giieber. 

Es führt uns dieß auf einen dem ganzen proteftanti- 
fehen Norden gemeinfamen Zug, ic meine das Mißver⸗ 
hältniß der Prebiger- Zahl zur Bendtlerung, und die ſchon 
dadurch bebingte geiſtliche Ohnmacht der Kirche. In Ror- 
wegen gibt: es auf eine Beydlkerung von 1,500000 Seelen 
nur 485 geiftliche Stellen; burchfchnittlih Tommen 3600 
Seelen auf eine Pfarrei, und, ohngeachtet der enormen 
Ausdehnung der Pfarrſprengel, find haͤufig noch mehrere, 


1) Hengſtenberg's K. Z3. Bb. 62, S. 499.. 
2) Sarwey a, a. D. II. 780. 


385 


bis zu fünf, in der Hand Eines Pfarrers vereinigt, bamit 
derſelbe mit Frau und Kindern ein reichlicheres Ein⸗ 
tommen babe. Selbft ver Engliſche Beſucher Foreſter 
" äußert fein Erſtaunen über dieſen „Pluralismus im großen 
Maßſtabe⸗, und die Vernachläfjigung des Volkes zu Gun- 
ften reicher Priefterfamilien?). Es gibt viele Gemeinden von 
6000 bis 12000 über große Streden zerftreuten Menſchen 
mit einem einzigen, felten zwei Prebigern‘), So hat Hol 
ftein für 544,419 faft nur Iutherifche Einwohner nur 192 
Prebiger, die noch dazu nicht felten zu zweien ober breien 
an ein und berfelben Stiche ſtehen). Im gefammten 
Scandinavifchen Länbergebiete ift die proteftantifche Kirche 
im Ganzen genommen fchlecht genug vertreten, d. h. 
veicht die Zahl ber Gotteshäufer und Prediger bei weitem 
niht ans, fo daß Unzählige nicht im Stande find, 
die Kirche zu befuchen. Im Berzogthum Schleswig find 
feit ber Reformation nicht wenige Pfarreien eingegan. 
gen, weil die Pfarrer mit Frau und Kindern bas Einkom⸗ 
men zu gering fanden. So gibt es denn dort Parocdhien 
mit 13000 auf Meilen zerftreuten Menſchen und zwei Pre 
bigern. Ebenſo find in Hinterpommern bis 1850 nach und nach 
17 Mutter» und 13 Tochtergemeinven mit 30 Kirchen unb 


?) Norway, p. 809. 
2) Darmſt. Allg. Kirch⸗Ztg. 1866, ©. 1650. 
3) Metzuer's R-Big. 1861, ©. 282. 
v. Dillinger, Papfttum. 25 


a _ 


einer Bevoͤllerung von 15000 Seelen, welche früher felbit- 
ftändige Pfarreien geivefen, durch Eombination eingegangen. ') 
Unzählige Menfchen in allen drei fcandinavifchen Länbern 
haben in ihrem Leben nie ein Gotteshaus bejucht.*) 
In den Ruſſiſchen Länvern, hauptfächlich in ben Oftfeepro- 
pinzen, haben bie Zutheraner, deren im J. 1854 1,834,224 
waren, 192 Prediger, fo daß dort auf 4,394 Seelen ein Pre 
biger fommt.?) So muß das Volk büßen für das Bebürfniß ver 
Geiftlichen, Weiber und Kinder zu haben und zu verforgen. 
m. Die proteftantifchen Kirchen iu Deutſchland. 

Deutfchland ift die Geburtftätte ber Reformation; in 
bem Geifte eines deutſchen Mannes, bes größten unter ben 
Deutfchen feines Zeitalters, ift die proteftantifche Doctrin 
entfprungen. Bor der Weberlegenheit unb fchöpferifchen 
Energie dieſes Geiſtes bog damals ver aufftrebenbe, that- 
träftige Theil der Nation demuthsvoll und gläubig bie 
Knie. In ihn, in dieſer Verbindung von Kraft und Geift, 
erfannten fie ihren Meiſter, von feinen Gedanken lebten fie; 
er erſchien ihnen als der Heros, in welchem bie Nation 
mit allen ihren igenthümlichleiten fich verkörpert habe. 
Sie bewunderten ihn, fie gaben ſich ihm Hin, weil fie in 
ihm ihr potenzirtes Selbft zu erkennen glaubten, weil es 

1) Mofer’s Kirchenblatt, 1856, ©. 188, 


2) Darmft. Allg. 8.-Ztg. 1866, G. 1650. 
3) Reuters Repert, Bb. 94, ©, 168, 


387 


ihre innerften Empfindungen waren, denen fie, nur klarer, 
berebter, kraftvoller ausgebrüdt, als fie e& vermocht Hätten, 
in feinen Schriften begegneten. So ift Luthers Name 
für Deutfchland nicht mehr bloß ver eines ausgezeichneten 
Mannes, er ift der Kern einer Periode des nationalen 
Lebens, das Centrum eines nenen Ideenkreifes, ver kürzefte 
Ausprud jener religiäfen und ethifchen Anfchauungsweife, 
im welcher der deutfche Geift fich bewegte, deren mächtigem 
Einfluſſe auch die, welche fie befämpften, fich nicht ganz 
zu entziehen vermocten. Luthers Schriften finb fchon 
lange nicht mehr Vollsfchriften, und werben nur noch von Ge⸗ 
fehrten um BHiftorifcher Zwede willen gelefen, aber bas 
Bild feiner Perfönlichkeit ift noch nicht erbleiht. Sein 
Name, feine Hervengeftalt wirkt noch mit Zaubermacht in 
böbern und nieberen Sreifen, und aus ber Magie biefes 
Namens fchäpft die proteftantifche Lehre fortwährend einen 
Theil ihrer Lebenskraft. In andern Ländern empfiudet 
man eine Abneigung, fich nach dem lirheber des herrfchen- 
den Religionsbelenntniffes zu nennen; in Deutfchland und 
in Schweven gibt es noch Tauſende, die ftolz darauf find, 
Lutheraner zu beißen. 

Obgleich das proteftantifche Deutfchlanb bie etwas 
Heinere Hälfte der Nation bildet, ift biefe kleinere Hälfte 
boch politifch und geiftig bie ftärlere. Politiſch ftärker, 
benn bie deutſchen Dynaſtien find vorwiegend proteftantifch, 

25 I 








388 


und, was in Deutfchland noch mehr fagen will, bie Ber- 
waltung wirb, auch in Tatholifchen Gebieten, von einer 
größtentheild proteftantifchen und confeffionell eiferfüchtigen 
Beamtenwelt geführt. Geiftig ftärker, denn bie große Mebr- 
zahl der hoͤhern Schulen iſt ganz ober zu größten Xheilen 
in proteftantifchen Händen, und bie gefammte Literatur, wie 
fie feit Hundert Jahren die Nahrung ver höheren und mitt- 
leren Klaſſen bilvet, ift im weiteren Sinne proteftantijch, 
das heißt, fie ift hervorgewachſen aus dem großen Brudhe 
mit der ganzen chriftlichen Vergangenheit, welchen die Res 
formation im Bunde mit dem kirchenfeindlich gewordenen 
Humanismus berbeiführte und dritthalb Jahrhunderte hin⸗ 
burch befeftigte. Sie Hat feit Leffing bie proteftantifche 
Anfchauung von ber Entwidlung des Chriſtenthums unb 
ber Kirche auch auf die Zeit der Anfänge übertragen, bat 
bie apoftolifche Zeit mit demfelben Mafftabe der Motive 
und Charaktere gemeffen, den ver Proteftantismus an bie 
folgenden Jahrhunderte anzulegen gelehrt hatte. Bon ber 
eigentlich längft fchon herrſchenden, wenn auch früher noch 
vielfach unklaren und nicht zum vollen Bewußtſein hindurch⸗ 
gebrungenen Anficht, daß die chriftliche Kirche überhaupt 
eine Fehlgeburt fei, umb weit mehr Unheil und Lüge als 
Wahrheit und Segen über bie Menfchheit gebracht babe, 
ging man aus, bie ganze Gefchichte der chriftlichen Böller 
und Staaten war bamit entfeelt und trivialifirt; das wa® 


U — 


in Folge der Reformation an bie Stelle des alten Kirchen« 
banes getreten war, Tonnte noch weniger Ehrfurcht und 
Sympathie ver Gebilveten in Aufpruch nehmen. ‘Daß über 
haupt ber damalige Zuftand ver proteftantifchen Theologie 
und Kirche „viele der ebelften und begabtefien Männer 
der Nation dem Chriftenthum entfrembet habe”, das wirb 
jetzt ſo ziemlich allgemein auch von den Blänbigen zugeftanben, 
So bilpete fich jene Atmofphäre des Unglaubens, der Mif- 
achtung alles Ehriftlichen, in ber Heidenthum ober Islam 
heiterer, menfchlicher, poetifcher erfchten, als bie büftere Ga⸗ 
filätfche Lehre von der Entfagung und Helligung. 
Gervinus bat es in feiner verben, rüdhaltlofen Weiſe 
ausgefprochen: „Wir flehen durchſchnittlich uoch immer auf 
den Standpunkt der Gothe und Schiller, der Voß unb 
Jean Baul, der Windelmann und Wieland, derforfterund 
Lichtenberg, die fich alle „ber Schranken bed Dogmatifchen 
Epriftentyums entiebigt haben.“) Seitdem find ſechszehn 
Yabre verfloffen, und die Worte find noch heute eben fo 
wahr. Der Widerwille gegen das Ehriftentbum, ſobald es 
fih im Leben wie in der Wiffenfchaft geltend machen will, 
iſt in den Regionen ver Gebildeten allgemein. Dem gläu⸗ 
bigen Proteftantiemns ftellt ex fich bei jedem Schritte ebenſo 
in ven Weg, wie ber Tatholtichen Kirche; nur daß bie Feind» 
haft gegen vie lektere aus mehreren Gründen, zunddift 
V Die Miffion ber Deutfchlathofiten, Heidelberg 1845. 


fon um ihrer fefteren Organifation und zäbheren Wider⸗ 
Raubekraft willen, energifcher, thätiger, allgemeiner ift, und 
jeder Feldzug gegen fie, Alles was fich proteftantifch nennt, 
Bofitive und Negative, Schaaren ber verjchiebenartigften 
Rampfesgenoffen zu kurzer Eintracht unter Einem Banner 
vereint. Die Ereigniffe in Deutfchland und in ber Schweiz 
bon 1845 bie 1847 und jängft wieder in Baden und 
Wörtemberg haben es bewieſen. 

In andern proteftantifchen Ländern führte die innere 
Unverträglichleit des prote ftantifchen Syſtems mit der theo⸗ 
logiſchen Wiffenfchaft gewöhnlich, wie wir gefeben, zum 
Zerfall oder Untergang ber legteren. In Deutſchland aber 
ift der theologifche Trieb im Bunde mit ber geſammten 
geiftigen Strömung ber Nation ftets zu ſtark unb über 
mächtig gewefen. Die Lutherifche Nechigläubigleit hat ihn 
nicht zu erſticken vermocht, aber fie bat faft zwei Sahrhun- 
berte lang die Theologie, freilich nur bie verftämmelte, 
die auf Dogmatik und Polemik beſchränkte, und ihrer beiben 
Augen, Bibelſtudium und Sirchengefchichte beraubte Theo 
logie, als unteriwärfige Dienfimagb gebraudt. Nachdem 
ber Pietiamus bereits der Orthoborie fehwere Wunden 
geichlagen, raffte ſich enblich vie Theologie auf zum Kampfe 
für ihhre Emancipation, in kürzefler Friſt war bie Rieder» 
[age ver bisherigen Gebieterin entichieben, und fie überlebte 
fie nicht lange. 


391 


Diefer Einbruch und vollflänpige, faſt ohne eruften 
Kampf errungene Sieg des theologifchen. Rationaliomus in 
Deutfchland iſt ein Ereigniß, das, an fich höchſt merlwür⸗ 
big und in der Sefchichte einzig, wohl in feinen Urfachen 
noch nicht binlänglich erflärt ift. Die Lutherifche Theologie 
war, durch den langen Kampf erft mit ver Helmftäbter, 
bann mit ber Spenerfhen Schule und dem Pietismus, 
zwar innerlich confeguent fortgebifvet worden. aber dabei 
waren zugleich bieinneren Wiberfprüche, an benen bad Syitem 
fitt, die logifchen und moraliichen Antinomieen, in denen es 
fih feftgefahren Hatte, auch ben blödeſten Augen fichtbar 
bervorgetreten. Gegen die Mitte des 18. Jahrh. kam ber 
Einfluß der neuen biblifchen und gefchichtlichen Stubien 
Hinzu. So fange bie Herefchaft des Lutherifchen Syftems, 
gemäß feinem Wbfchluffe in der Eoncorbienformel, fich 
behauptete, ward das Bibelftudium, offenbar abjichtlich, ver⸗ 
nachläffigt. Man ſcheute fich vor dem unvermeiblidhen Con⸗ 
flitt mit den fombolifchen Büchern. So rägte e8 der Pro- 
feffor Heinrih Majus zu Gießen:“) als er fein Lehramt 
angetreten, ſei auf den wenigſten Univerfitäten Deutſchlands, 
ober eigentlich auffaft gar Yeiner, dieAuslegungber heiligen 
Schrift mit Ernft getrieben worden. Spener bezeugt 


') Praxis pietatis, sive Synopsis theologise moralis. Gissae 
1697. Prof. 





392° 


basfelbe, und jüngft Haben Tholud und Lücke) wieber 
darauf hingewieſen, wie im ganzen 17. Iahrh. vie Exegeſe 
außer Sitte und Geſchmack gekommen. Noch im I. 1742 
Hagte Bengel in ber Vorrede zu feinem Gnomon: ber 
mannigfache Mißbrauch, ja bie bößliche Verachtung ber Hl. 
Schrift, tft auf's hochſte geftiegen, und das nicht bios bei 
profanen Menfchen, fonbern auch bei denen, die fich ſelbſt 
weile, ja geiftlich pünfen.” Sobald nun, zum Teil 
buch Bengel felbft und als Nachwirkung ver pietiftiichen Be 
wegaäng, das Bibelftubium wieder einen Aufichwung nahın, 
war damit auch die Auflöfung der Qutherifchen Lehre ein- 
geleitet. Weſentlich trug zu biefer Auflöfung ver Gang 
bei, den bie gefchichtliche Betrachtung, und insbefondere 
bie Auffaffung der Kirchengefhichte in Deutfchland nahm. 
Die Anflcht, daß ber ganze Entwicklungsproceß des Ehriften- 
thums nach den Apofteln eine fortgehenve, immer wachſende 
Deformation gewefen ſei, bis endlich in der Reformation 
eine Wiebererweckung ber völlig ansgenrteten oder zu Grunde 
gegangenen Religion finttgefunden habe, war feit dem 16. 
Jahrh. die herrſchende. In biefem Sinne wurde alle Ge 
ſchichte gelehrt und gefchrieben. Ein Mann, ver wohl bet 
ſcharffinnigſte und gründlichſte Theologe in ver exften Veri⸗ 


) Deutſche Zeitſchrift, 1864, ©. 178. 


398; 


obe bed Rationalismus genannt zu werben verbient, ſchil⸗ 
dert dieſen Zuftanb: „Unter ven Proteftanten ift die Kirchen» 
geichichte nicht® anders, als ein hiſtoriſcher Beweis für bie 
Nothwendigkeit einer Kirchenverbefjerung und von einem in 
Lehr und Leben überhand genommenen VBerberben. Nach 
ben Broteftanten war die Kirche wenigftens feit dem achten 
Jahrhundert ein Schauplag von Unwiſſenheit und Boßheit. 
Alle Vorſteher verfelben waren gräuliche Irrlehrer und 
fie ſelbſt ein volllommenes Narrenhaus.“ Er bemerkt dann: 
„die übertriebne Sorgfalt, mit welcher bisher proteſtantiſcher 
Seits Alles geſammelt worden, was nur zu einigem Zeug⸗ 
niffe für den ehemaligen herrſchend gewordnen Verfall in ver 
Kirche brauchbar iſt, die Ungerechtigkeit, mit welcher biefer 
Seit! alle ehemaligen Vorfteher und Häupter der Kirche 
als Tyrannen und alle Glieder verfelben. als Heiden vor⸗ 
geftellt werden, und die Nachläffigleit, mit welcher biefer 
Sets das neben allem eingeriffenen Verderben in ber 
Kiche zu aller Zeit vorhanden gewejene Gute überjehen 
wird, dieſe Mängel in der Kirchengefchichte unter ven Pros 
tefianten werben von den Widerfachern des Chriſtenthums 
"begierig zu ihrem Endzweck benußt.') 

Zöllner führt fofort eine Schrift Friedrichs IL an’), 





) Töllner’s kurze vermiſchte Aufſätze. Frankf. a. db. Ober, 
1769. U, 87 ff. 
N) Die Vorrede zu dem Buche Abregs6 de l'istoire ocoldsiasti- 


594 


worin dieſer Monarch die herfömmliche proteftantifche Vor⸗ 
ftellung von ver Kirchengefchichte, daß fie ein großes von 
Schurken und Heuchlern auf Koften der betrogenen Maſſen 
aufgefährtes Drama fei, als bie eigentliche Urſache feiner 
Verachtung des Chriftentgums enthüllt. 

Diefe Anfchauungsweife ver Gefchichte des Chriften- 
thums ging nun völlig in die herrſchende Literatur und 
Denkweiſe der Zeit über, und aus ihr entwickelte ſich ber 
geiftige Abfall vom Chriſtenthum, ven in Deutfchland bie 
Prebiger fowohl als bie gebildeten Klaſſen gleichzeitig und 
in lebenbiger Wechſelwirkung vollzogen. Die Theologie ber 
Reformatoren und. ihrer Nachfolger Hatte bie Borftellung 
ausgebilbet, daß Gott nach dem Tode ver Apoſtel fich bald 
von der Kirche zurücgezogen, und feine Stelle bem Satan 
überlaffen Habe, ver nun das Amt, welches nach ben eban⸗ 
gelifchen Verheißungen dem heiligen Geiſt hätte zufallen 
follen, übernommen, und ein diaboliſches Millennium er⸗ 
richtet habe, bis Luther aufgetreten.') Als nun ber Haube 
an bie Srethumsleftgfeit ber ſhmboliſchen Bücher in dolge 


que de Fleury. Berne (Berlin) 1767. Das Bud if © 
de Prabes; daß die Vorrede vom Könige fei, wußte "wohl 
Töllner nidt. 

3) Bel. was Semler, Lebensbeſchreibung II, 186, über die 
dem Teufel in der proteflantifchen Welt zugetheilte kirchenge 
ſchichtliche Action fagt. 


895 


U 02 





ber neuen biblifchen Studien binnen wenigen Jahren erlofch"), 
als die Lutheriſche Rechtglänbigkeit feit der Thronbeſteigung 
Friedrichs II. immer mehr den Schuß der ftantliden Kir⸗ 
chengewalt verlor, als die Theologen begannen, bie Blößen 
und Wiberfprüche des refornatorifchen Lehrbegriffs ſchonungs⸗ 
[08 aufzudeden?), da brachen ven Menſchen alle Stützen 
ihres religiöfen Bewußtfeins mit einem Male zufammen. 
Ihre gefammte Bildung, die Vorftellungen die fie mit ver 
Muttermilch fchon eingefogen, alles war barauf berechnet, 
daß ihnen Die ganze Gefchichte des Chriſtenthums vor ber 
Reformation wie ein Todtenader mit verwitterten und ver- 
ſunlenen Leichenfleinen und modernden umberliegenden Ge⸗ 
beinen erichien, wo nur gefpenfterhafte Schemen wanbelten. 
Nun fiel mit dem Glauben an vie göttliche Leitung ber 
Kirche aud der Glaube an die göttliche Gründung derſel⸗ 
ben. Die Wurzel wurde nach dem Stamme, ber Beginn 
nach dem Verlaufe beurtheilt und verurtheilt. 


') Im I. 1770 exiſtirte „noch nirgend ein Theolog auf proteftan- 
tiſchen Univerſttäten, ber eine Schrift, bie nicht bei ben füfte- 
matifchen Formeln bleibt, billigen würbe". Sa d’s Lebensbeſchrei⸗ 
bung, I, 252. Wie hatte ſich das ſchon in 15 Jahren geändert! 

2) Es find befonbers Töllner’s Schriften, bie, im dogmatiſchen 
Gebiete weit dedentender als bie Semler'ſchen, ben Auflöfunge- 
Proceß der proteftantiichen Theologie und bie Geneſis des 
Nationaliomus erlennen Taffen. 





396 


So blieb denn den Männern die doch Amt und Brod vom 
Chriſtenthum Hatten, nur übrig ſich auf jenes bürre, von 
allem höhern Halt und Gehalt entleerte Aggregat von Vor⸗ 
ftellungen über Gott, Moral und Unfterblichkeit zurückzuziehen, 
welches man Nationalismus genannt bat. 

Um fo ficherer und mächtiger war die Wirkung, welche 
die Schriften von Semler, Leffing, Reimarus, das Pröfti- 
gium des von Friedrich II. gegebenen Beifpiels, nub bie 
Kantifche Philoſophie Herb orbrachte. Binnen wenigen Jah 
ren war ber ganze Stand ber Deutfchen proteftantifchen 
Breviger, die Theologen an ben Hochichulen voran, vom 
alten pofitiven Glauben abgefallen, wuchs bie ganze neue 
Generation von Geiftlihen im Nationalismus heran, warb 
Stein um Stein am Tempel von beffen eignen Prieftern 
hbgetragen. Bon den SKanzeln felbft ter Dorfgemeinden 
warb das neue „vernünftige“ Chriftenthum gelehrt, mit 
einige entlegene Gemeinden blieben im ungeftörten Befike 
bes alten Glaubens‘), und in den Stäpten waren bie Pre 
biger oft ſchon Rational iſten, ehe noch die Gebilbeten ber 
mittleren Stände ber eben um fich greifenden, und durch bie 


1) So heißt es in ber neuen Dorpater theol. Zeitſchrift, I, 588: 
Im manchen abfeits gelegenen DOrtfcheften Weſtphalent, 
der Rheinlanbe und bes weſtlichen Schleewigs gibt es Gemein 
ben, bie nie vom rationaliſtiſchen Gifte berügrt worben fab. 


397 


neu aufblühende deutſche Literatur gepflegten, beiftifchen 
Aufflärung verfallen waren. So berichtet ein Mecklenbur⸗ 
giſcher Prediger aus dem Munde alter Geiftlichen: vie reis 
gende Schnelligkeit, womit in biefem Lande ver Spott bes 
Unglaubens vie alten Glaubensformen aus Mund und Sitte 
zu verwifchen gewußt, habe an das Wunberfame gegrenzt. ') 

An Frankreich hatte um dieſelbe Zeit ver leichtfertige Un⸗ 
glaube vie höheren Stände ergriffen; aber der Klerus blieb 
Davon im Ganzen unberührt, und felbjt in ven Stürmen ver 
Revolutionwar es nur eine verhältnigmäßig Heinere Anzahl von 
Brieftern, welche abtrünnig wurben. Die große Mehrheit 
blieb, auch unter den fchwerften Verfolgungen, dem Glauben 
tren. Im proteftantifchen Deutſchland Dagegen war es ges 
rade bie Theologie, welche das Zerftärungsiwert vollbrachte, 
war es ber geiftliche Stand, ber ben Gemeinden in Stabt 
unb Land offener ober verhüllter ven Naturalismus beibrachte, 
unb jenen Abfall der Maſſen vom Chriſtenthum einleitete, 
vor welchem man jest rathlos und händeringend fteht. 

Auf die Geftaltung des Verhältniffes von Kirche und 
Staat und die Kirchenverfaffung bat der Rationaliemus im 
Ganzen Teinen tieferen Einfluß geübt. Hier Hatte die Res 
formation bereit8 das Wejentliche vollbracht. Deutſchland, 
Wittenberg ift bie wahre Geburtsftätte des fürftlichen Ober- 


1) Kheinwalb’s Repert. VIII, 259. 


2 


bifchofthums und bes Territorialismus. Aus den Händen 
ber Theologen empfingen die Fürſten bie oberfte Gewalt 
über bie neugeborene Kirche, nicht obgleich, fondern weil 
fie Fürften waren. Ihr Recht wie ihre Pflicht war es, 
fo wurbe ihnen gefagt, das kirchliche Regiment als die Con⸗ 
fequenz, als einen Zweig und Ausflug des politifchen Res 
giments zu führen. Wenn ein Lebender jagt: „Man laffe 
ja ten Namen Epiflopat (des Fürften) zum ewigen An- 
benten an bie Schmach der Kirche beftehen, bis fie fich der⸗ 
felben bewußt werde und Buße thue,u fo ift damit eine 
Anficht ausgeiprochen, bie ber ganzen erften und zweiten 
Generation des deutſchen Proteftantismus völlig fremb war, 
bie auch jegt der Mehrzahl ver Prediger und Confiftorial- 
räthe fremb ift, wenn auch viele Laien wie Hommel benten 
mögen. ') 

Dadurch nun, daß die Fürften und Reichsftände im 
Deutfhland zum Beſitze ver proteftantifchen Kirchengewalt 
in fchrantenlofer Fülle gelangt waren, entftanben im Deut 
schen Weiche fo viele einzelne Kirchen, als es fürftliche und 
Iandftänbifche Territorien gab. Der Verſuch, eine einheitliche 
Deutfch- Proteftantifche, Lutherifche oder Calviniſch⸗Refor⸗ 
mirte Kirche zu errichten, wurde nie gemacht; jebermann 


) Hommel: Die wahre Geſtalt ber Baheriſchen Lanbesfirdie 
1850, ©. 26. 


war mit bem gegebenen Zuftanbe zufrieven, baß in jedem 
Landchen eine andere ewangelifche Kirche eriftirte, und vaß 
diefer Menge von Kirchen jeder Einigungspuntt mit Aus⸗ 
nahme des Widerfpruche gegen bie katholiſche Kirche man⸗ 
gelte. Auf ven Reichötagen bildete das Corpus Evangeli- 
corum eine gewiffe gemeinfame Vertretung nach außen. 
Auch war unter den Zutberanern im Ganzen doch Gleich 
beit ver Lebre, wiewohl die einzelnen Kirchen zum Xheil 
auch ihre eigenen ſymboliſchen Bücher, und fehr verfchiebene 
Liturgien hatten. Thatſächlich gab es alfo nur ein Aggre- 
gat von Lanbeslirhen. Vor ber Auflöfung des veutjchen 
Reihe war bie Zahl der unabhängigen Einzellirchen noch 
weit größer. „Dentfchland, fagt ErnftSalomoCyprian?), 
hat allein in feiner Barticnlarevangelifchen Kirche, wenn 
man die reichöfreie Nitterfchaft dazu rechnet, mehr als tan⸗ 
ſend ganz indepenbente Regenten, beren ein jeber in feiner 
Gemeinde Alles zu thun vermag, was ver Papft in ber 
Römifchen thut. Wer lann fo viele Herren, bie fehr unter 
ſchiedne Temperamente, Neigungen, Abfichten, Lockungen zur 
Sünde und Unordnung haben, zu einem einträchtigen Schluß 
Bringen? Diefer Zuftand, meint Cyprian, erkläre und ent- 


1) Borrebe zu Groſch: Nothw. Bertheibigung ber cdengeliſchen 
Kirche. 1746. ©. 83. 





_ a 


ſchuldige die unzähligen Gräuel und Gebrechen im Deutfchen 
Kirchenwefen; verantwortlich fei bie Kirche nur für ihre 
Lehre, vie glüclicherweife überall gut Lutheriſch fet. 

Jetzt find in Deutfchland gegen 38 proteftautiiche Kir⸗ 
Ken, von benen jede völlig für fich befteht, jede ihre eigne 
DOrganifation hat. Indem aber in ven einzelnen Staaten 
bie Kirche zu einem “Zweige ber Stanatsverwaltung herab» 
gefeßt, der großen Staatsmafchine als ein Rab eingefügt 
worben, ift es dahin gelommen, baß zulegt alle Fäden Des 
kirchlichen Regiments in der Hand eines einzigen Staatöbe- 
amten, meiftens des Eultus-Minifters, zufammenlaufen. So 
hängt es 3. B. in Sachfen einzig von dem Ermeſſen bes 
Eultusminifters ab, ob und wie weit er dem Öntachten des 
Landesconſiſtoriums in Tirchlichen Dingen eine Folge geben 
will.) Thatſächlich Liegt im feiner Hand das Schichkſal 
der Sächſiſchen Kirche. So verhält es ſich auch in Hanno» 
ver: der Minifter handelt in kirchlichen ‘Dingen, obne von 
dem Conſiſtorium Beirath ober Gutachten zu verlangen; 
bas Eonfiftorium bat nur die Befehle des Minifteriums 
auszuführen. °) 

Wenn in einigen Ländern noch das Inſtitut ber Gy 





1) ©. darüber Lehmann: Zur Frage ber Nangeflaltung ber eb. 
luther. Kirche Sachſens. Dresden 1861, ©. 6. 
2) Reuter's Repertor. Bd. 64, ©. 277. 


401 


noden zu dem lanbesfürftlichen Epifcopat und dem Eonfi«: 
ftortum Hinzugefügt ward, jo bat dieß dem DVerfaffungsbau 
feine fonverliche Würde verliehen; bie Synoden find ganz 
überwiegend aus Theologen und Prebigern zufammengefekt,. 
das Laienelement iſt nur fparfam darin vertreten, unb fo: 
haben fich die organifchen, zwiſchen dem Sirchenzegimente. 
und den Synoden vereinbarten Exrlaffe dem Wiperftanbe 
ber Laien gegenüber, in Bayern, in Baden, in ver Pfalz, 
ohnmächtig eriwiefen. 

Die Unton, welche, in Breußen begonnen unb ander 
wärts nachgeahmt, feit 1817 die Lutheraner mit den Cal 
pinifch-Reformirten Hrchlich verſchmolz, hat dem gefammten 
beutichen Proteftantismus eine wefentlich veränderte Ge 
ftalt gegeben. Die neue anf diefem Wege gebilvete Kirche, 
folite den Namen „evangelifche Kirche“ führen, und bie 
Preußiiche Regierung war es befonbers, bie auf die Ein» 
führung biefer Bezeichnung drang, weil ver Name „pro- 
teftantifch” ein Barteiname fei und nicht gut Hinge, „evan⸗ 
geliſch“ dagegen einen viel befjeren Klang habe.) ‘Die bie 
dahin Iutherifchen oder calviniftifchen Mitglieder ver unit» 
ten Kirche Hatten alfo biemit aufgehört, dieß zu fein, und. 
waren „Evangeliſche“ geworben. . Dan wollte aber über- 


1) Bol. Haupt’s Handbuch über die Neligionsangelegenheiten 
im 8. Preußen 1822. 11, 160. Kampz Annalen 1821, S. 341. 
v. Döllinger, Papfithum. 26 


haupt die Namen „Iutherifg“ und „proteftantifch” wo mög. 
ich gänzlich verbrängen, und fo hat nenerlich das Eonfifto- 
vinm der Provinz Pommern erklärt: der allgemeine Name 
„euangelifch" bedeute nicht mehr, was er 1818 babe be 
deuten follen, er fei bereits in flaatörechtliche Dokumente 
übergegangen, wie in die Verfaffungsurfunde von 1860, 
und bezeichne da nicht bie Union, fonbern fei ein Collectiv- 
Name, der den Gegenſatz vom Katholicismus aus 
brüden folle Im offiziellen Erlaffen fei daher die Be⸗ 
zeichnung „evangelifch” nicht aufzugeben. 

In Folge der Union gibt es alſo jetzt, theologifch ge- 
nommen, brei Kirchen ftatt ver früheren zwei in Deutfchland: 
die lutheriſche, die veformirte und bie unirte oder ebange- 
liſche. Doch iſt der Achte Ealvinismus, dem bie Dorbrechter 
Beichlüffe ale Norm gelten, in Deutfchland nahezu ausge 
ftorben, nur noch Eine Gemeinde dieſes Belenntniffes fol 
exiſtiren.) Bei den übrigen nicht unirten Gemeinven Heißt 
„reformirt” im Grunde num, daß man bie lutheriſche Abend⸗ 
mahlslehre verwerfe. Andrerſeits aber ift auch die alte 
lutheriſche Kirche vom veutfchen Boden verfchtvunden. Deu 
nächften Anfpruch auf den Namen lutherifch wilrben eiwe 
noch die 31,000 feparirten -Preußifchen Lutheraner haben. 


So Wil ſing: Die reformirte Kirche in Dentihland, W- 
tona 1858, ©. 128, 


19 I 


— 2 


Aein dieſe werden wieder von ben Lutheranern in Sachſen 
und anderwaͤrts nicht als Achte Zünger Luthers anerlaunt, 
man wirft ifmen vielmehr gewichtige und anftöffige Abweich⸗ 
ungen vom Lutherthume vor. Hinwieberum Tonnen aber 
auch bie vormals lutheriſchen Laudeskirchen, welche ver Union 
nicht beigetreten find, kaum mehr Iutberifch Heißen. ‚Denn 
einmal tt allgemein die Abenpmahlsgemeinfchgft mit den 
Neformirten oder Unirten eingeführt, worin gerabe das un⸗ 
terfcheidende und entfcheivende Merkmal einer kirchlichen 
Union liegt, und dann find aud) in biefen Kirchen Gebräuche 
und Einrichtungen, durch welche fich fonft der Lutheranismus 
vom Calvinismus entfernte, aufgegeben worben, vor Allen 
bie Privatbeichte. . Wenn daher Stahl jüngft fiber bie 
immer näher drohende Auflöfung der lutheriſchen Kirche in 
bie Unton gelingt Bat,') fo darf wohl vielmehr gejagt wer- 
ben, daß in Deutſchland bie Iutherifche Kirche nur noch in 
dem Wunfche und der Sehnfucht einiger Theologen, Paſto⸗ 
ren und Iuriften, keineswegs aber noch als Mealität, als 
eoncretes Kircheninſtitut befteht. Zwiſchen den unirten und 
ben nichtunirten Kirchen handelt es fih nur um ein Mehr 
ober Weniger. 

Die Union war der perſönliche Alt des Königs non 
Preußen, der dabei von dem dynaſtiſchen Intereſſe geleitet 


3) Die Iutherifche Kirche und bie Union. Borr. S. VIH. 
26* 


— 


wurde, das preußifche Fürftenhaus, welches ſeit 1613 dem 
Lutherthum entſagt und den Calvinismus angenommen hatte, 
mit ber überwiegend lutheriſchen Bevöllerung des Landes 
kirchlich wieder zu verbinden... Eine Agenve, zum Theil des 
Könige eigened Werk, follte als vornehmftes Bindemittel 
dienen. ‚Sie ftieß auf größere Schwierigkeiten, als bie 
Union felbft, weil man bie Einführung liturgiſcher Elemente 
in den Gottespienft für eine bebenkliche Annäherung an bie 
tatholifche Kirche Hielt. Im Ganzen wurde indeß die Unten 
mit wunderbarer Leichtigfeit und Bereitwilligleit von den 
Brebigern und ben Gemeinden angenommen; man war all» 
gemein einverftanden, baß bie trennenven Lehren keine ſon⸗ 
berliche Bebeutung mehr hätten, und füglich auf ſich bes 
ruhen Föunten. Nicht an den Dogmen, fondern am Beicht⸗ 
gelbe, fürchtete Schleiermacher kurze Zeit, Könnte das Fries 
denswerk fcheitern. Man erwog auch, daß eine vereinigte 
Kirche der katholiſchen gegenüber um fo flärler und ehr» 
furchtgebietender auftreten werbe. 

Im ganzen proteſtantiſchen Deutfchland war die Ge 
finnung ber Prediger wie der Laien ber Union günftig. Sie 
warb baher auch rajch in Raffau, in Nheinbayern, in Ba 
den, Anhalt, Würtemberg, ohne auf ven geringften Wiberftanb 
zu ftoffen, eingeführt, und wenn bieß in Sachſen, Hannover, 
Medienburg, Bayern nicht gefchah, fo war nur bie fehr 
geringe Zahl der Reformirten in biefen Ländern die Urſache. 


406 


Der König von Preußen äußerte, nur eine rituelle 
Bereinigung, nicht eine Verſchmelzung der Glaubenslehren 
fei e8, was er mit der Union gewollt babe; beibes ließ fich 
aber ebeu nicht trenıen. Mehrere Prebiger und Dorfe 
gemeinben, bie bieß fühlten, und in ber Union die Vernich⸗ 
tung ihres Intherifchen Belenntniffes erkannten, wollten fich 
‚getrennt erhalten. Aber die Regierung befchloß, fie „al® 
gefährliche Seltirer" nach Vorfhrift des allgemeinen Land⸗ 
rechts zu behandeln,)) d. 5. mit Zwang, Abſetzung, Ges 
fängnig, mit militärifchen Exekutionen gegen fie zu verfahren. 
In Berlin waren die Bifhdfe Eylert und Neander 
ganz einverftanden. Der jetige General» Superintendent 
Hahn zog an ver Spitze des gegen bie Gemeinden aus- 
gefandten Militärs einher. Der Minifter Altenftein erlärte 
gemäß der Theorie vom befchräntten Untertbanenverftanbe: 
es jet Pflicht der Regierung, vie Verblendeten gegen bie 
Folgen ihrer unüberlegten Handlungen zu fehlten.) So 
wurben Zaufenbe zur Auswanberung nach Amerila gedrängt. 
Nirgends im proteftantifchen Deutfchland erhob fich eine 
Stimme für die mit raffinirter Härte, mit dem ganzen 
Apparat bureaukratiſcher Zwangsmittel Gequälten; die ges 
fanmte Liberale Preffe Hatfchte Beifall. 


9%) Eilers: Meine Wanderung durch's Leben. IV, 204. 
) A. a. O. IV, 288. 


Die Zutheraner hatten richtig erkannt, daß bie Union 
anvermeidlich zu zwei Ergebriffen führen müſſe, zur Auf⸗ 
fung des Lutherthums und zum Förderung eines dogma⸗ 
tifchen Imbifferentismus, alſo des Unglaubens. Sobalb 
Friebrich Wilhelm IV. bie eingekerkerten Prebiger freigelaffen 
Batte, ſtifteten fie auf einer Synode zu Breslau im Jahre 
1841 eine. feparicte Iutherifche Kirche, an deren Spige ber 
Zuriſt Hufſchke trat und die bald von ber Regierung eine 
Anerkennung und Duldung ala Seltenlirche erlangte. 

Indeß begann die Theologie fih aus dem Sumpfe 
des. geiftlos-unglänbigen Rationalismus wieder emporzuars 
beiten. Die Thronbefteigung Friedrich Wilhelm's IV., ver 
als ein warmer Freund feiner Kirche ihr fofort ven Eräf- 
tigſten Schuß. verhieß unb gewährte, verlieh einer bereits 
erwachten und durch tüchtige Lehrer ber Hochichulen ges 
nährten pofitiven Nichtung neuen Aufſchwung. Die gläu« 
bigen Theologen und Prediger fahen ſich bald faft allent- 
halben von den Regierungen bevorzugt; bie nachwachſende 
Generation der Stubirenden wanbte ſich ihnen zu; bie Ka⸗ 
taftropbe des Fahres 1848, welche ven geſammten Stand ber 
proteftantifchen Geiftlichen in Norddeutſchland mit Schreden 
erfüllte, und ihnen bie drohende Herrfchaft einer durch 
bie eigne Schuld der Geiftliden religionslos gewordenen 
Maſſe in ver Perfpeltive zeigte, entfchieb bie Geflunung 
ber eltern wie ver Jüngern. In Preußen war bie Herr 


(haft des Hege’fchen Pantheionus, bei ber Minifier 
Wienftein bie Schulen und Katheder übergeben Hatte, ges 
brochen. Allmaͤlig wurden Im ganzen proteftautiſchen Dentfch- 
land bie theologiſchen Lehrämter mit gläublgen Profefieren 
befeßt. Nur Iena und Gießen blieben in ben Hänben ber 
Rationaliſten. Alsbald trat aber eine doppelte, von fehr ver⸗ 
ſchiedenen Vorausfegungen ausgehende und zu jehr abwei⸗ 
enden Ergebniffen führende Richtung der neuen gläubig 
gewordenen Theologie hervor. Es bildete fich, Hauptfächlic 
auf der von Schleiermader und Neanber gelegten 
Grundlage, eine Unions⸗ ober Vermittlungs⸗Theologie, ver⸗ 
treten burh Nitzſch, Iulins Müller, Dorner, Rüde, 
Rothe und Anpre. Neben ihr aber erhob ſich eine luthe⸗ 
riſche Theologie, gepflegt vorzüglich In Erlangen, Dorpat, 
Leipzig, Roſtock. Sie follte und wollte wohl zuerſt bloße 
Nepriftinationstheologie fein, nur die Doctrin der Concor⸗ 
bienformel aus ver Sprache bed 16. in die des 19. Jahr⸗ 
bunberts übertragen. Das erwies fich ſehr bald als zeine 
Unmöglichkeit für wiflenfchaftlich gebildete und exegetiſch ge 
fhulte Männes. Dean überließ das unerquidliche Gefchäft 
einigen Paftoren, an beren Spike Rudelbach fich ftellte, 
umb benen nun ber Ruhm blieb, ale „Altlutheraner” bie 
einzig ächte Iutherifche Theologie zu cnltiviren, fo baß, ven 
Luther wieder käme, er nur bie Mitarbeiter ver „Zeitfehrift 
für futherifche Theologie” als feine wahren Söhne und 





D 
® 


Geifiederben erkeunen würbe. Auf den Univerfitäten wollte 
tan, faft ohne Ausnahme, von biefem Lutherthume michte 
wiſſen, e8 bildete fich bier die Nichtung der Neulutheraner, 
vertreten durch Männer wie Kahnis, Delitzſch, Klie 
foth, Stahl und Andre, mit denen noch Harnad, Vilmar, 
Betr, Münchmeher genannt werben. Diefe Theologen 
verfihern, an ber Intherifchen Rechtfertigungslehre feſtzu⸗ 
Bolten, wollen aber nicht durch die proteflantifchen Haupt⸗ 
und Rieblingsbogmen von der Unfichtbarkeit ver Kirche und 
ben allgemeinen Prieftertfume gebunben fein. Indem fie 
bie göttliche Stiftung des Kirchenamtes dem Begriff einer 
‚bloßen Webertragung durch die Gemeinde entgegenfehen, 
werben fie folgerecht zu der Annahme auch einer göttlich 
‚georpneten Mebertragung, d. h. bes Sacraments ber Or⸗ 
dination gefäßrt. Ste flellen daher über Amt und Orb 
nation, über Sacramente und Opfer Anfichten auf, welche 
ihnen von allen Seiten ven Vorwurf des Katholifirene zu⸗ 
gezogen haben. „Ste find ſchon, heißt es, ganz nahe an 
die Thore Noms gerückt. Nur noch eine kurze Strede und 
fie find in der ewigen Stabt.“') Diefer deutſch⸗lutheriſche 
Puſehismus müffe, eben fo wie der Anglicanifche, ber Union 
art ven Papiften entgegenführen, meint Rudelbach's und 
Guerile's Beitfcheift.”) 
) Lehmann ©. 2, 6. 
®, Jahrg. 1858, ©, 168, 





409 


Bon den mit ber Union unzufriebenen Prebigern ift 
in Preußen nur eine Heine Zahl aus ber Staatslirche aus⸗ 
getreten, bie große Mehrheit der der Union Abgeneigten 
iſt im Kirchenverbande geblieben, theils weil fie nicht auf 
ihre Gemeinven rechnen konnten, theils weil fie dem feſten 
von der Willkühr der Gemeinde unabhängigen Einkommen 
nicht entſagen mochten. Aber ſie möchten das Joch der 
Union abwerfen, ſich ver Gemeinſchaft mit dem Calvinis⸗ 
mus in Dogma und Cultus möglichſt entziehen. Sie wollen 
ihre Stellung in der Unionskirche nicht aufgeben, weil fie 
die Staatskirche ift, deren Rechte und Vortheile man nicht 
durch Abfonderung von ihr aufopfern bürfe, weil man im 
Schooße verjelben die Union wirkſamer belämpfen Tönne, 
als außerhalb verjelben.‘) Die Unloniften halten ihnen 
entgegen: wenn man bie Union aufhöbe, jo würde man 
mindeftens fünf Kirchen haben. &9 würde die unpreußifchefte 
That fein, die gefcheben könne, und es feien bie Feinde 
Preußens, welche auf die Aufhebung ver Union hinarbeiten.”) 


Die Berorbnungen Friedrich Wilhelm's IV. fuchten 
die Intherifche oder confeffionelle Partei, an deren Spike 


1) S. bie Erflärung bei Lenz: Denlſchrift Über bie neneften 
firhlicden Bewegungen in Pommern. Berlin 1858, ©. 43. 

N) So ber Öeneralfuperintendent Hoffmann; Berhanblungen ber 
Berl. kirchl. Conferenz 1857, ©. 677. J 








«0 


Stahl unb Hengftenberg fkauben, bald burd Zuge 
ftänbniffe zu befriedigen, bald bieder durch erneuerte Pros 
Hoamirung ber Unionsprinzipien in gewiffe Schranlen zu- 
rückzuweiſen. Endlich warb bie Englifche enangelifche Allianz 
im Sabre 1857 zur Verſtärkung der Unionsſache nad 
Berlin gerufen. Baptiften, Methobiften, Preöbhteriauer, 
‚Congregationaliften, calsintiche Anglicaner, und anbere 
Selten, zumächft durch den gemeinfchaftlichen Haß gegen 
die Tatholtiche Kirche zu einer Verbrüderung mit Vorbe⸗ 
halt ihrer Differenzen getrieben, kündigten an, daß fie 
nach Berlin fämen, um Zeugniß abzulegen wiber bie neuen 
Pharifäer nnd Sabbucher, und bie Häupter ber unirten 
Lutheraner ſahen wohl, daß unter den erfteren fie gemeint 
feien.') Dagegen begeugten Hoffmann, Nitzſch, Shen 
kel, Deppe, Krummacher, Sad, Kapff, Plitt, Led⸗ 
derhoſe und eine zahlreiche Schaar beuticher Geiftesver- 
wanbter: biefe englifchen, fchottifchen, amerilanifchen „Des 
nominationen“ felen Fleiſch von ihrem Fleiſch und Bein 
von ihrem Bein, und willlommene Streitgenofjen im Kampfe 
gegen exclufives Lutherthum und gegen „Rom“. Man folle 
boch bebenlen, riefen fie den Confefjionellen zu, daß bie 
Alltanz ans lauter gut proteftantifchen Denominationen be 
ftehe, die ſich alle zu der Kernlehre von ber Gerechtigfeit 


1) Stahl's Rebe, in Hengfienberg’s 8. Big. 1867, ©. 668. 


al’ 





durch Amputation befeuuten; nur durch eine ſolche Allianz 
ſei es möglich, auf proteſtantiſcher Seite die weſentliche 
Einheit der Kirche Chriſti anſchaulich darzuſtellen.“) 

Als die große Schauftellung vorüber war, fragten bie 
Lutheraner höhniſch, was denn num Vleibendes erreicht ſei? 
Dean habe vor den herbeigerufenen Ausländern bie dentſchen 
Kicchengenoffen, mit benen man biöker in einem Haufe 
aufammengeiwohnt, blos weit fle Lutheraner bleiben wollten, 
mit Verbächtigungen und Anfchulbigungen beingefucht, man 
babe Irrlehrer, dadurch daß man mit Ihnen fraternificte, 
in ihrem Irrthum befefligt.‘) In der That war ber Ei 
folg diefer in Berlin ſichtbar gewordenen „@emeinfchaft der 
Heiligen“ der, daß bie allgemeine Verwirrung vermehrt, 
der Zweifel und bie Unficherheit ver Laien verftärkt. und 
das Bolt in der Vorftellung bekräftigt wurde, wie Theolo⸗ 
gen und Prebiger hätten felber keine fefte Lehre, und es 
könne am Ende auf die Lehre nicht viel anlommen. Hatte 
bie Union dafür geforgt, daß im Grunde das Volt nicht 
mehr wnfte, was denn vom Abenpmahle zu glauben ſei, 
fo Yam nun noch die Allianz Hinzu, um auch bie Taufe 
in bie Reihe ber Artikel, von denen man nichts Sicheres 
wife, zu ftellen. 1W 


1) Liebetrut: bie evang. Allianz. Berlin 1867, &. 27. 
2) Wangemann's Preuß. Kirchengeich. III, 780. 


412 





Der Hanptbeförberer der Berliner Allianz. Berjammt- 
lung war v. Bunfen, ber, wie Geheimrath Eilers ber 
zeugt,') von ver Idee beherrſcht wurde, alle nicht Tatholi- 
fchen Confeſſionen und Selten zu einer großen evangelifchen 
Union gegen die katholiſche Kirche zu vereinigen. Nach 
dem Tode Friedrich Wilhelm's III. batte man in der Ber⸗ 
liner höhern Beamtenwelt, wo nach dem Ausdrucke des⸗ 
ſelben Staatsmannes*) der Haß gegen bie katholiſche Kirche 
das Intereffe für die evangelifche anregte, bie Berufung 
Bunfen’8 zum Dlinifter ber geiftlichen Angelegenheiten er⸗ 
wartet und gewünſcht. Jetzt war die Demonftration ber 
Allianz in ber veutfchen Metropole des Proteſtantismus 
in diefen Kreiſen aus dem gleichen Beweggrunde willkom⸗ 
men. Diefelben Männer, vie anf dem SKirchentage zu 
Dremen 1852 ven Kampf gegen „Rom“ für die erfte und 
dringenpfte Angelegenheit erklärt Hatten?) bildeten auch bem 


1) Wanderung durch'e Leben IV, 48, 

Ua O. IV, 41. 

3) „Segen Hengftenberg’s Nede Über das Verhältniß zur katho⸗ 
liſchen Kirche befonbers ber Miffionen, trat eine Wolle von Rebnern 
anf. Nah Zander’s Rebe, bie bamit ſchloß: Laffet uns ben Feinh 
fucdhen, wo er wirklich if, nämlich im Herzen Roms — heißt eb: 
Jetzt waren die Schleufen gezogen, unb nun gingen bie Waffer hoch. 
„Babel nn fallen, Rom ift eine Ausgeburt ber Hölle, das infernafe 
Syſtem bes Bapfittums forbert Haß, uub das Evangelium barf, fo 


418 


dentſchen Kern der Berliner Allianz Berfammiung. Zwar 
309 fich ber Haß gegen die fatholifche Kirche unb die Freude 
über jeden wirklichen ober vermeintlichen Schaben, den fie 
erlitten, als Grundton durch die Verhandlungen ber Ver⸗ 
ſammlung; von nachhaltiger Bedeutung war diefelbe aber 
doch nur für die Geftaltung des proteftantifchen Kirchen 
weiens. Als ein gegen die Släubigen und Eonfefltonellen 
geführter Schlag wurbe fie von biefen auch aufgefaßt. 
Seit der Krankheit und dem Aädtritte des Königs 
Friedrich Wilhelm IV. von der Regierung, der unmittelbav 
auf die Alllanz-Berfammlung folgte, ift ein gewiſſer Still 
ftand eingetreten. Die lutheriſch Gefinnten jchätteln von 
Zeit zu Zeit umwillig die kirchlichen Ketten, welche bie 
Union ihnen angelegt bat, aber von Austritten aus ver 
Staatskirche ift uicht mehr die Rebe. Einzelne fuchen eine 
Stellung in andern Iutherifch gebliebenen Lünvern zu er⸗ 
langen. Die Mehrzahl aber fühlt fih um fo fchwächer, 
als fie doch eben nur eine Partei von Theologen und Paſto⸗ 
xen ift, und das Volt nicht Hinter fi Hat. Trauernd ges 
ſtand Türzlich einer ver weltlichen Führer des Lutherthums, 
Goſchel: die Intherifche Kirche fei in Deutſchland eigent«. 


Iange Rom noch Rom ift, Feine Gemeinfhaft mit ihm haben.” — 
Das waren Grundaccorbe, bie angeichlagen wurden.“ Go berichtete 
bie Reue Braskiihe Zeitung, 19. Sept. 1852. 


DC 


lich im Abſterben Begriffen; felbft ihren Namen babe fie 
fchon großentheils verioren, in manchen Ländern fei fie bes 
reits zur Ruine getvorden, und bie Urfache ihres Todes 
fet die herrſchende Gleichgültigkeit. Zwar ſei eine Reaktion 
gegen bie das Lutherthum abſorbirende Union erwacht, aber 
dieſer mangle es völlig an Energie, fie Träne‘ an NRäd« 
fichten aller Art.) Im ganz Deutſchland Hit, wie ein Wär 
tembergifcher Theologe ſagt,“) die Intherifche Kirche beine 
Bolke bis auf den Ramen faſt verſchwunden, und bei bem 
Bebilbeten und ven Theologen bis auf die Wurzel abge- 
than. Sogar in Würtemberg ift „Lpiberaner“ ein ganz 
übellautender Selten und Schimpfname geworben. 

 . Gehen wir nun. zur Betrachtung ber einzefnen kirch⸗ 
lichen Zuftände tm proteftantifchen Deutſchland über, fo iſt 
nor Allem berporzubeben, daß, beſonders feit 1846, ein ſehr 
reges Leben und ein Drang des Eirchlichen Geftaltens unb 
Berbefferns unter den Geiftlichen und einigen ihnen befreun⸗ 
beten Laien erwacht ift. Zahlreiche Beratbungen, auf Con⸗ 
ferenzen und Kirchentagen, provinziellen und allgemeinen, 
find angeftellt worben; durch die „Innere Miſſion“ ift eime 
bebentenbe Anzahl päbagogifcher und ethiſch und phyſtſch 
heilender Anftalten gegründet worden. Aber alle großen 


i) Zeitſchrift für inth. Theolog. 1860, &. 810. 
:) In Scchaff's Kirchenfrennb 1857, ©. 67. 


415 


und eigentlich Fixchlichen Probleme harren noch einer Wſung; 
bei den meiften iſt noch kaum ein Verfuch gemacht, ift noch 
nicht einmal eine Verflänbigung über das Wie ver Löfung 
zu Stande gelommen. 

1. . 

Die erfte Angelegenheit, die ver Lirchen verfaſſung, 
ver Beibehaltung oder Befeitigung der fürftliden Epiſco⸗ 
palgewalt, iſt ſchon gleich geeignet, bie Geiſter zu fpalten, 
und bie. Freunde der Kirche zu entmuthigen. In ben mei» 
fien Ländern glaubt man jegt in dem Cäſaropapat eine 
Sanpturfache des Firchlichen Verfalis zu erkennen. „Was 
unfere Kirche brüdt, heißt es bezüglich Sachſens, ift Be 
amtenherrichaft un Verweltlichung ver Kirche in allen ihren 
Juſtituten, fo daß Miles bureaukratiſch regiert, auch das 
Geiftliche im Wege des Gefchäfts abgemacht wirb.")" 

Neueftens iſt nun auch befannt geivorben, wie ber 
Monarch, der wohl unter aflen Fürften ber Neuzeit ber 
wärmfte und zugleich der geiſtvollſte und einfichtigfte Freund 
unb Förberer ber proteftantiichen Kirche war, über. fein 
eignes Oberbifchoftyum und über die Entividlung einer 
Kirche, die ihm eine ſolche Stellung aufprang, gebacht hat. 
Die deutfchen Kirchenzuſtaͤnde find in feinen Augen „wider 
finnig und unhaltbar.” „Territorialfgften und (andesherr- 


1) Hengftenberg’e 8. 3. 1851, ©. 99. 








416 


liches Epiſtopat,“ jagt Wriebri Wilhelm IV., „find von 
ſolcher Beichaffenheit in ſich, daß Eins allein chen voll 
kommen ausreichend wäre, bie Kirche zu töbten, wäre fie 
ſterblich“ Er erwähnt es dann als eine hochſt charalte⸗ 
riftifche Thatfache, daß die im Yahre 1808 erfolgte Auf⸗ 
bebung der Eonfiftorien und bie Ueberiragung ihrer Ge⸗ 
ſchafte an die Regierungsbehörden, als eine ganz inbifferente 
Berwaltungsmaßregel Babe vor fich geben können, ohne daß 
bie „Kirche“ eigentlich davon berührt worben wäre. Mit 
allen Kräften feiner Seele, fagt ber König, fehne er ſich 
nach bem Augenblide, wo er fein oberbifchöfliches Necht weg⸗ 
werfen‘, e8 an Biichöfe, welchen Namen man ihnen auch 
geben wolle, abtreten köune.') 

"Allein auf der andern Seite zittert man vor jeber 
tiefer gehenden Veränderung bes bisherigen Verhältniſſes, 
fo brüdenn und erniebrigend auch dieſe Knechtſchaft ber 
Kirche, dieſes Aufgehen im Staatsorganismus jein möge. 
„Rehnt, beißt es, der Kirche bie Stüße und den Halt, ben 
ihr in ihrer .feit dem Jahre 1848 um Vieles größer ge 
worbenen Zerriffenheit der Lanbesherr als ihr Oberhaupt 
und Fürſorger verleiht, und ihr follt erfahren, wie fie in 
Stüden zerfällt, die Niemand wieber zu vereinigen Kraft 


) L. Richter: König Friedrich Wilhelm IV. und bie Ber- 
faflung ber evang. Kirde. Berlin 1861 ©. 22, 88. 


417 





haben wird.)“ Bis jetzt haben noch nirgends die Öläubigen 
Neigung gezeigt, mit dem Prinzip ver kirchlichen Selbſt⸗ 
ftänbigleit Eraft zu machen. Die Mehrzahl warnt und 
droht mit verhängnißvollen Folgen. Das einzige Land, in 
welchem eine wirklich neue Kirchenverfaflung eben in ber 
Einführung begriffen if, Baden, feheint in der That nur 
als abſchreckendes Beiſpiel wirken zu follen, wiewohl bie 
Urheber im Gegentheil ihre Verfaſſung als „maßgebend für 
das ganze evangelifche Deutfchland“ betrachten. ‘Der Ent⸗ 
wurf ift eine Uebertragung bed politifchen Eonftitutionalis- 
mus auf die Kirche, eine Veränverung ſelbſt des Begriffs 
und Weſens der Kirche, bie hiemit „aus einer Gemeinjchaft 
aller derer, welche allein durch ben Glauben an Chriſtus 
gerecht zu werben gebenten, in eine Gemeinſchaft aller derer, 
bie an eine fittliche Weltorbnung glauben (mach dem Aus 
brude des Regierungs⸗Organs) umgeſetzt wirb.‘*) 


Große Hoffnungen wurden mehrere Jahre lang auf 
das Inſtitut der Synoden geſetzt. In Preußen, in ganz 
Deutichland erwartete man hohe Dinge von folchen Ber- 
fammlungen, doch follten fie, das war erfte Vorbebingung, 
das Ianbeöherrliche Epifcopat unangetaftet laffen, und ſich 
auf eine blos berathende Rolle befchränten, mehr einer Ver⸗ 


3), Meßner's K. Ztg. 1860, ©. 84. 
?) Meßner's 8. tg. Juli 1861. 
». Dillinger, Papftihum. 27 


418 


fammlung kirchlicher Notabeln als einer modern-conftitutig« 
nellen Vertretung gleichen. Die erflen Proben waren 
nicht einladend. Weber vie kirchliche Eonferenz von Abge⸗ 
orbneten beutjcher Fürften, welche 1845 in Berlin gehalten 
wurde, wird bemerkt: „Der erfte Verfuch blieb auch ber 
legte, ohne eine fichtbare Wirkung zu äußern.) Dann kam 
die glänzend zufammengefette Generalfynode von 1846; fie 
umfchloß die Blüthe der tbeologifchen Intelligenz und bes 
religiös gefinnten Beamtenthums. Ste unternahm bie Löſung 
ber fehwierigen Bekenntnißfrage, und wollte mit Befeitigung 
der reformatoriichen Belenntnißfchriften eine neue Formel 
einführen; dieſe, von Nitzſch erfonnen, war aber fo 
vag und phrafenhaft, daß ohngefähr alle Parteien fie 
annehmen konnten, daß, wie die Lutheraner fagten, ven 
Ungläubigen nicht zu viel Glauben, und den Gläubigen nicht 
zu viel Unglauben zugemuthet wurbe. Ste ward denn auch, 
obgleich von der Synode gut geheißen, bald zum allgemeinen 
Spotte, und ſchon wenige Monate nach dem Schluffe ber 
Synode wollte kaum jemand noch etwas wiflen von ben 
Beichläffen, die auf ihr mit einer fo großen Majorität ge 
faßt worden waren.’) 


1) Richt er's Gefchichte ber evang. Kirchenverfafſung in Dentid- 
land. ©. 258. 

?) Hengftenberg in den Altenſtücken d. evang. Oberlirchen⸗ 
rathe, 1856. Ill, II, ©. 25. 


419 


Neue Anfäge zu Synoden wurden in Berlin in ven 
Sahren 1856 und 1857 gemacht. ‘Der König wünfchte fie, 
aber man warnte: durch die Beranftaltung einer Synode 
werde vor aller Welt offenbar, was bis jett zum Theil ein 
Geheimniß der Behörden und in feiner ganzen Auspehnung 
nur wenigen tiefer Eingeweihten belannt fel,') nämlich bie 
Schäden und Zerrüttungen im Kirchenweſen. Die Unmög- 
fichkeit, daß eine Synode bezüglich des Belenntniſſes irgend 
etwas Haltbares erfinne und befchließe, daß fle zwifchen den 
Anfprücden ber Union und ver Confeffionellen glücklich hin⸗ 
durchſteure, die Furcht vor neuen Zerwärfniffen und öffent⸗ 
lichen Aergerniffen, vorzüglich aber wohl die Beſorgniß vor 
der Geftalt, zu welcher das Synodalweſen fich faſt unab- 
weisbar entwideln würde, bewirkte, daß man ben Plan 
wieber fallen ließ. Eines nämlich wirb von ben conjerva« 
tiven Kirchenmännern als das Schredlichfte gefürchtet und 

verabfcheut, was der Kirche begegnen könne: bie Herrichaft 
der Majoritaten, oder die von Bunſen fo warm empfohlene 
kirchliche Demokratie. Soll, fagt Rothe, die Majoritüt 
berjenigen, bie fich zu unferer Kirche zählen, über den Glau⸗ 
ben, die Lehre und den Gottesvienft berfelben becretiren, 
jo wird die nach ihrem Sinne eingerichtete Kirche, wenn 





— 


3) A. a. O. 
27° 


420 


En 


fie überhaupt nur eine folche zu Stande bringt, wenig mehr 
von einer hriftlicden Kirche an fich haben.‘) 

Wenden wir und zur boctrinären, tbeologifchen Seite 
ber deutſchen proteftantiichen Kirche, fo erkennen wir bier 
auch in der Gegenwart ihre eigentliche Stärle und ihren 
Ruhm. Daß es jegt nur noch in Deutfchland eine wirk- 
liche proteftantifhe Theologie, eine Wiffenfchaft gebe, if 
wohl allgemein anerlannt. Alle anderen Kirchen ber Refor- 
mation ziehen ihre theologische Nahrung, foweit fie über- 
haupt das Bedürfniß einer folchen empfinden, aus ber beutfchen. 
Yulius Müller und Liebner haben Recht, jener, wenn 
er die Theologie „mit ihrem raftlofen Forſchungsgeiſte und 
ihrer ernften Arbeit in bie Tiefe” als das eigentliche Cha⸗ 
risma des deutſchen Proteftantismus bezeichnet,”) biefer, 
wenn er den Eontraft ausmalt zwifchen der Laſt ver Un- 
wiffenheit, die auf der proteftantifchen Kirche Liege, fo, „daß 
die Stadt auf dem Berge faft nicht mehr zu fehen, ober 
das Auge dafür fait erblinvet ſei,“ und zwifchen ben glän- 
zenden Leiftungen ver heutigen ZTheologen.?) 

Die proteftantifche Kirche Ift in Deutfchland vor Allen 
und von Haufe aus eine Theologenkirche. Xheologen, 
Untverfitätsgelehrte, Literaten, haben fie geſchaffen, haben 

1) Ethik, III, 1041. Vergl. Hengftenberg’s X. Zeitg., 1856, ©. 633. 
2) Fortbildung ber bentich-proteftantifchen Kirchenverfafiung, ©. 4. 


3) Zur kirchlichen Prinzipienfrage ber Gegenwart. Dresben 1860, 
©. 24 ff. 


431 


ihr das Gepräge ihres Denkens und Thuns unvertilgbar 
aufgedrückt. Theologen find ihre einzige Autorität, und 
— durch bie von ihnen berathenen Fürften — ihre Regen 
ten gewefen. Ihre Kirchen find daher Schulen oder Hör- 
fäle, ihre Ranzeln finb popularifixte Katheder. Mit Theſen 
einer alabemifchen ‘Disputation Hat fie begonnen. Das 
„Wort, wie ihr Stifter zu jagen pflegte, der im Grunde 
nie aus feiner Profeffor-Rolle fiel, ift in der That ihr er 
ſtes und letztes und einzige® Wort. Ste lehrt und dann 
tritt fie ab. Ste prebigt und fingt, aber ihre Lieber find 
nicht Hymnen, fondern großentheild verfifizirte theologifche 
Abhandlungen oder gereimte Predigten. Aus dem Connu⸗ 
bium von Brofefforen und Fürſten ift fie geboren worben, 
bie Züge beider eltern find in ihrem Antlig, nicht gerade 
in barmonifcher Mifchung, vereint, und wenn man ihr 
häufig den Vorwurf macht, daß „des Gebantens Bläſſe ihr 
angekränkelt, daß fie verweltlicht, und mehr ein Polizei⸗Inſti⸗ 
tut als eine Kirche fei”, fo ift damit eben nur gejagt, baß 
das Kind Bater und Mutter nicht verläugnen könne. Und 
jo vürfte das Urtheil wohl prophetifch fein, das ber reichfte 
md tiefjinnigfte Beift unter den lebenden proteftantifchen 
Theologen gefällt hat: „Die proteftantifche Kirche in Deutſch⸗ 
land zog fich eine Theologie groß (ich würde dieß VBerhältniß 
umlehren), bie fih im Laufe ber Zeit — und zwar nicht 
etwa zufälliger Weife, ſondern nermöge einer Innern Noth- 





wen digkeit — mit ihr felbft aufs grünplichfte verfeinbete, 
und in eine Richtung eintrat, deren letztes Refultat naturs 
gemäß nichts anders fein kann als ihre völlige Auflöſung.“) 

Denn die Theologie ift zwar in Deutfchland wieder gläubig 
geworben, aber es fehlt fehr viel, daß fie auch rechtgläubig 
geworben wäre im Sinne ber Belenntnißfchriften. Auch bie- 
enigen Theologen, bie fich vorzugsweiſe treuer Dingebung 
an das lutheriſche Syſtem rühmen, find nicht orthobor. 
Die Thatfache, fagt Iulius Müller, liegt offen vor, daß 
unter allen ven lutheriſchen Theologen, bie neueftend im 
Gebiete der Glaubenslehre umfaffendere Arbeiten veröffent- 
licht Haben, Hein einziger ift, ber nicht ben Rehrbegriff 
der Iutherifch-[yumbolifchen Bücher an dem einen over an« 
bern Punkt einer Mopifilation bedürftig erachtete.?) 
Und hiebei handelt e8 fi um Beſtimmungen von tief ein- 
greifender Bedeutung. Eine lange Reihe von Jahren hin⸗ 
durch, fagte Ehrenberg auf der Berliner Generaliynobe, 
babe er nach einem Manne gefucht, ver in allen Stüden 
mit den fombolifhen Büchern einer Eonfeffion in Ueber⸗ 
einftimmung wäre, habe aber Leinen gefunden.“) Seit einem 
Sahrhundert, wird behauptet, hat fein Theologe, weber auf 


1) Rothe's theologifhe Ethil III, 1015. 
2) Deutſche Zeitichrift, 1855, S. 107. 
I), Berkandlungen der ebang. Generalſynode zu Berlin, &. 801. 


43 


dem Lehrftuhl noch auf der Kanzel, in völliger Ueberein⸗ 
ſümmung nah Form und Inhalt mit den ſhmboliſchen 
Büchern gelehrt.) Und fo prängt denn bie Lage gebieterifch 
Dazu, daß in Bezug auf die Bekenntniß⸗Verpflich—⸗ 
tung ber Geiftlichen ein Weg gefunden werde, Necht und 
Dbfervanz mit den wirklich beftebenden Verhältniſſen aus« 
augleichen. 

So lange bie veutichen Proteftanten fich jeder kirch⸗ 
lichen Verfügung ihrer fürftlichen Oberbifchöfe zu unter 
werfen gewöhnt waren, berubigte man fich dabei, daß bie 
Bürften den Eid auf die fymbolifchen Bücher vorgefchrieben 
hätten; noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts äußerten 
die Juriſten: das fymboltfche Anfehen der unter den Pro« 
teftanten in Deutfchland angenommenen Lehrvorſchriften be- 
ftehe nur fo lange, als vie proteftirenden Fürſten wollen, 
daß es beftehen folle.”) Nach langem Streite varüber, ob 
man die ſhmboliſchen Bücher zu beichwören habe, weil, 
ober nur in wie fern fie die Schriftlehre enthielten, kam bie 
Periobe des Nationalismus, in welcher man es mit Eib und 
Bekenntniß leicht nahm, und jeder fich mit der großen Menge 
ber Sleichgefinnten und in gleicher Lage Befindlichen tröftete. 
Seit 1817 waren die kirchlichen Behörden erfinderifch im Er⸗ 


1) Monatfchrift für bie unirte evang. Kirche 1847, II, 84. 
?) Töllner’s Unterricht von ſymboliſchen Büchern. ©. 30. 


— 


finnen ausweichender, Privatmeinungen Raum laſſender, das 
Anſehen der Bekenntnißſchriften eigentlich entkraftender For⸗ 
meln. Man verſprach, „im Geifte“ oder „nach den Grund⸗ 
fätzen“ ober „infofern fle biblifch find,“ ober „mit gewiſſen⸗ 
after Berüdfichtigung ver Belenntnißfchriften“ zu lehren, 
in Baden fogar nur in fo weit, als in der Eonfefllon pas 
Prinzip der freien Bibelforfchung behauptet ſei. In Sachien 
und Hannover blieb die alte ftrifte und unbebingt lautende 
Berpflichtung. 

Alle Vorſchläge und Erörterungen der Frage haben 
bis jeßt ein unbefriebigendes Nefultat geliefert. Die Kirche 
ber Reformation kann nicht wohl ohne eine Verpflichtung 
ihrer Geiftlichen auf eine feite Lehrnorm, aber aud nicht 
mit einer folchen beſtehen. Auf ber einen Seite heißt es: 
Was wäre eine Kirche, in der jeder von den Symbolen ab⸗ 
weichen kann, anders als ein Babel?) Von ber andern 
aber wird mit vollem Rechte gejagt: firenge Bindung an 
bie Symbole müßte bei dem gegenwärtigen Stande ber 
Theologie zur Heuchelet und zur unerträglichen Gewiſſens⸗ 
tyrannei führen.) Man muß alfo bie Verpflichtung fehr 
weit machen und dem Kleriker eine freie Stellung zu den 
Symbolen geben. Nur auf ven Geift derfelben können fie 


) Brömel in db. INth. Zeitfchrift, 1855, S. 275. 
2 So Rothe, Peterſen, Marheinete. 





fich verpflichten laffen, und die Dentung viefes Gelftes und 
feiner Tragweite muß doch am Ende ihnen ſelbſt überlaffen 
bleiben, da eine lebendige, wirklich anerlannte, autbentifch 
in Sachen ber Lehre interpretirende und entfcheid de Aus 
torität nicht vorhanden ift. 

Bei der Gründung des evangeliſchen Kirchenbundes 
zu Wittenberg im Jahre 1848 erflärte eine erkleckliche Zahl 
bedeutender Theologen zum erftenmale: „Ste ftänden in 
ihrem Glauben auf dem Grunde ver reformatorifchen Be⸗ 
tenntniffe.” Diefe ſehr dehnbare und im Grunde zu nichts 
verpflichtende Phraſe ift feitbem beliebt geworben. Hierauf 
wurde im Jahre 1863 auf einer Verſammlung in Berlin 
erflärt, die Augsburgifche Eonfeflion folle als Richtſchnur 
und Ausbrud bed gemeinfamen Glaubens und Lehrens gels 
ten. Das war ver ftärkite Aufſchwung in ber Unterwer⸗ 
fung unter eine Formel, zu welchem man es bis jeßt ge- 
bracht Kat. Sehr ernftlih war die Sache fchon barum 
nicht gemeint, weil die Aumefenden doch wußten, daß unter 
ihnen und in ganz Deutichlanp Fein einziger Theologe 
fel, ver wirklich alfe Artitel der Augsburger Eonfeffion ans 
nähme. Wie wenig man fih damit in Glaubensſachen bin⸗ 
ben wollte, bewiefen bald barauf einzelne Theilnehmer (3. 
DB. Schenkel) durch ihre dem Belenntniffe von 1530 fchroff 
wiberfprechenden Schriften. 

Da, wo bie Union zu Mecht befteht, iſt ohnehin bie 


— ⸗— 


Autorität der ſymboliſchen Bücher unheilbar gebrochen. Man 
bat jüngft auf Kirchentagen und Paftorenverfammlungen 
erörtert, daß in Preußen jeber boch wenigſtens den zehnten 
Artikel vom Abendmahl nach Belieben in drei verſchiedenen 
Auffaffungen nehmen dürfe, entwever im Iutberifchen ober 
im calvinifchen oder im untrten Sinne; und Andre meinten, 
es ſei nicht abzufehen, warum man ihn nicht auch noch in 
einem vierten ober fünften Sinn verftehen dürfte.) Ueber⸗ 
baupt aber koͤnne, geftand man, nicht in Abrede geftellt 
werben, daß in ber Verpflichtung auf das Orbinations 
Formular, wie fie in Preußen (auch in Sachfen, Hannover) 
geſetzlich flattfinde, Viele zu lügen genöthigt feien, pas laſſe 
fidh nicht bemänteln, fondern nur beklagen; doch lönne man 
fih dabei beruhigen, daß eine Menge Anbrer ebenfo lügen 
ober gelogen haben, und daß man bie Lüge dulden müſſe, 
weil die Menge der ihr Anhängenden eine unabjehbare 
Verwicklung herbeiführen müßte, wenn man mit ber Ver⸗ 
pflichtung Ernft machen wollte.‘) 

Solite nämlich die Verpflichtung. als eine wirklich 
bindende genommen und banach verfahren werben, fo 
müßte man ber tbeologifch-wiffenfchaftlicden Bildung des 
geiftlihen Standes entfagen, und fich darauf beichränten, 
die Candidaten fünftig in Anstalten, welche ven Englifchen 


1) Deutſche Zeitfchrift 1854, S. 200. 
?) Bruns’ Repertorium. VIII, 134. 


\ 


421 

Diffenter-Alabemien gleichen möchten, blos abzurichten. Kein 
Theologe kann und wird ſich mehr im Ernfte an die ganze 
Lehre der Augsburgifchen Eonfeffion und der Goncorbien- 
formel binden. Der Gebrauch, ber daher jegt von biefen 
ehemaligen Slanbensnormen gemacht wird, ift hauptſächlich 
noch ein polemijcher. Jeder legt den Maßſtab ver ſhmbo⸗ 
liſchen Bücher an denjenigen an, ben er gerade als heteros 
dor in Verruf bringen will, jeber aber geftattet fich feiner- 
feits, von dieſer Lehrnorm abzumweichen. Niemand mag fich 
doch, wenn er ein Öffentliches Lehramt befleivet, dem ganzen 
Strom der neueren Eregefe entgegenftenmen, und wenn 
auch 3. B. die Erlanger Theologen ſchwören, keine Bibel⸗ 
ſtelle anders auszulegen, als es in den ſymboliſchen Büchern 
geſchieht, fo zeigt ſchon der „Schriftbeweis“ des Profeſſors 
v. Hofmann, der nun von allen Seiten als ein VBerfäl« 
fcher der reinen lutherifchen Lehre von der Genugthuung und 
Rechtfertigung angeklagt wird — fchon dieſes Werk zeigt, 
daß Heutzutage weder große noch Beine Fliegen In ben 
Spinnengeweben folder Verpflichtungen hängen bfeiben. 

Darüber find Alle einverſtanden, daß die Hanptlehre 
ſämmtlicher Belenntnißfchriften die von der Rechtfertig— 
ung fei, daß in biefem Dogma ver proteftantifche Gegen- 
ſatz gegen das katholiſche Syſtem fein Centrum und feinen 
prägnanteften Ausbrud habe. In ihr „erkennt bie Nefor- 
mation ihren Mittelpunkt, ihr edelſtes Kleinod, ihre eigent- 


428 


liche Subftanz, fie ift das, womit bie enangelifche, auf’s 
Evangelium gegründete Chriſtenheit fteht und fällt.“ *) 
Niemand verfteht etwas vom Chriſteuthum, ber 
diefe Lehre nicht Mar und lebendig erfaßt Hat und von 
ihr ergriffen ift. Diefe Lehre ift aber in ver NRömifchen 
Kirche im innigften Kerne ververbt.) Im Einverftänbniffe 
biemit fagt Hengſtenberg's Organ: Im jeder Previgt muß 
unfer Panier, unſer Sola, wenigſtens Einmal zu ſehen 
fein.) Die Rechtfertigungslehre, Heißt es in Erlangen, ift 
ber immerwährende Tod, der an ben Gebeinen ber Katho⸗ 
lien nagt;*) fie ift zugleich die Richtſchnur, nach welcher 
die ganze Heilige Schrift ausgelegt, jede dunklere Stelle 
ertlärt werben muß.“°) 

Wenn man nun einem religiöfen Gliede der beutfchen, 
fih doch hanptſächlich um biefer Lehre willen evangeliich 
nennenben Kirche fagt: Dieſe Lehre fet jet von der wiflen- 
Ichaftlichen Theologie in Deutſchland aufgegeben; es gebe 
kaum noch. einen namhaften Theologen, ber für das Dogma 
ber Reformatoren und ber ſymboliſchen Bücher (fpeziell 
bier der Eoncorbienformel) in rechtem Ernfte und mit An- 
nahme ver Maren Conjequenzen einftehen möge, — fo wird 

I) Kling in Herzogs Encyllopäbie, XII, 682. 

2) So F. W. Krummader im Halliſchen Volleblatte 1858, 
S. 203. 

3) Evang. 8. 3. Bb. 48, 415, 16. 


5) Zeitfchr. für Proteſt. Bb. 26, ©. 119. 
8) Ebendaſ. Bd. 29, ©. 184. 


429 . 


man wohl ein ungläubig-mitleibiges Lächeln erregen. Und 
doch ift e8 fo. Schon Tholuds „litterarifcher Anzeiger” 
bat zur Umfchau aufgeforbert über die unerbörte Leicht« 
fertigteit, mit welcher ber Yuftififations - Artikel heutiges 
Tages behandelt werbe,’) fo daß gerade das, was bie Re⸗ 
formatoren (an Oſiander u. ſ. w.) verworfen, jest für 
bie rechtglänbige Lehre ausgegeben werde. Hierauf bat 
Schnedenburger nachgewieſen,“) daß bie neueren Tuthe- 
rifchen Theologen ſämmtlich die Lehre Luthers und ber 
fymbolifchen Bücher verläugnen, fännntli den Hauptartitel 
bon der zugerechneten Gerechtigkeit entweder geradezu preiß- 
geben ober in das Gegentheil von dem, was bie Nefor- 
matoren bamit gewollt, umbeuten. Es laſſe fi, bemerkt 
er, vielleicht nur ein einziger tbeologifcher Schriftfteller 
ber Gegenwart nennen, welcher die altlutherifche Lehre treu 
gegeben habe, Petri.) Seit Schnedenburger’8 Tode iſt denn 


3) Jahrg. 1848, ©. 248. 

2) Bergleichenbe Darftellung bes Iutherifchen und rveformirten Lehr- 
begriffe. Herausgegeben v. Güber 1855. II, 88 — 45. 

) Shnedenburger if jeboch, fo richtig er im Ganzen bie 
Intherifche Lehre und bie lutheriſchen Theologen beurtheilt, ba- 
buch auf einen faljhen Weg gerathen, daß er ben Reformirten 
bie entgegengefetste Lehre zufchreibt, inbem er ſich einige Theo⸗ 
logen dieſer Eonfeffion, welche gerabe von ber herrſchenden 
Lehre abgewichen find, herausſucht, und fie als Repräfentanten 
ber Tirchlichen Lehre behandelt. ‚ 


: 480 





ber Widerfpruch zwifchen den dogmatifchen und eregetifchen 
Ausführungen der Theologen und zwifchen der allgemeinen 
Berufung auf das „Belenntniß“, vie „reine Lehre“, den Artikel 
ber „ſtehenden und fallenden Kirche’ immer greller geworben. 
Bor einigen Jahren hat denn auh Kahnis erklärt: er 
fenne in der Richtung der Unionstheologie (Nitzſch, Lange, 
Müller u. |. w.) feinen Theologen, welcher auf dem Boden 
ber Rechtfertigung durch den Glauben ftehe.') Kahnis hätte 
nur um der Gerechtigkeit willen noch bemerken follen, er- 
ſtens: daß es mit Iutherifchen Theologen, Martenfen, von 
Hofmann, Sartorius und Andern fich ebenfo verhalte, 
zweitens: daß er felkft früher fich in gleicher Lage befun⸗ 
ben babe.') 

Damit mir indeß nicht Webertreibung | vorgeworfen 
werde, ſo mögen hier die Namen der theils lebenden, theils 
doch der neueſten theologiſchen Entwicklung angebörigen 
Theologen genannt werden, welche ſich von der proteſtan⸗ 
tiſchen Rechtfertigungslehre, wie ſie in der Concordienfor⸗ 
mel und im Heidelberger Katechismus erſcheint, und bis 
1760 etwa herrſchend war, losgeſagt haben: 

Olshauſen, Schleiermacher und ſeine ganze Schule, 
Heydenreich, Brandt, Nitzſch, Ullmann, Neander, 


2* 


I) Die Lehre vom heiligen Geiſte. Halle 1847. 8. 82. 


481 


Sartorius, Baͤhr, Schenkel, Martenſen, Nagel«—⸗ 
bad, J. T. Bed, Kollner, Schöberlein, Geroch, 
Hundeshagen, Richard Rothe, J. P. Lange, Eb⸗ 
rard, von Hofmann, Julius Mäller, Lipfius, Ber 
neke, Rennede, Sad, Dorner, Köflin, Baumgar 
ten, Düſterdiet, Kurg, Adermann, Krehl, Schmib, 
Weizſäcker, Kaldreuter, Krahner, Gef, Stier, 
Grüneiſen, Hagenbach, de Wette.) Diefe Lifte könute 
bei genauerer Prüfung ficher noch beträchtlich erweitert 
werden. Sie umfaßt aber unftreitig die begabteften Mläns- 
ner, bie gründlichften Bibelforſcher, die, benen ber neue 
Auffhwung der gläubigen Theologie vorzugsweife verdankt 
wird. Und noch mandhe andre würden ficher den Genann⸗ 
ten anzureiden fein, wenn fie es nicht vorgezogen hätten, 
fi in diefer Materie blos mit den herkömmlichen Phrafen 


I) Aber auch die Theologen, bie als bie Ächteften Lutheraner in 
unfern Tagen gelten, entgehen bem Bormwurfe nicht, von ber 
lutheriſchen Rechtfertigungslehre abgefallen zu fein; fo Klie 
fotb, f. Zeitfch. für luth. Theol. 1850, ©. 84, fo Thoma- 
fius, Harleß und jüngft Preger; ſ. Kliefoths kirchl. Zeitſch. 
1868, ©. 404. Guerike, dem vor Allen das Lob reinſter 
luth. Orthodoxie zu Theil geworden, hat in ſeiner Symbolik 
(2. Aufl. 1846, ©. 365) wie ihm in Tholuck's theol. Anzei⸗ 
ger, 1848 ©. 232 ff. nachgewieſen worden, buch feine Be⸗ 
ihreibung des rechtfertigenden Glaubens gerabe den Grundge⸗ 
danken Luthers und der Reformation zerftört. 


482 


| CC 


von®laubenegerechtigkeit u.ſ.w. zu begnügen, und jebe näher ein⸗ 
gehende Erpofition oder Zerglieverung des Dogma zu vermeiben. 

Hertömmlich iſt e8 freilich feit einiger Zeit, fih zum 
materialen Brinzip der Reformation zu belennen, biemit 
aber eben nur mit Phrafen wie mit Rechenpfennigen zu 
fptelen, und entweber gar keine feften Begriffe, ober pie ver- 
ſchiedenartigſten Dinge mit den folennen Worten von ber 
Glaubensgerechtigkeit zu verfnüpfen. „Was hilft es, fagt ein 
Theologe, der enangelifchen Ehriftenheit, wenn fie befennt, 
nur durch den Glauben gerecht und felig zu werben, unb 
fih jo wenig Eins barüber ift, woran zur Seligleit zu 
glauben iſt!“) Ein fchlagendes Beiſpiel ift bier Schen- 
tel, ber bei jever Gelegenheit vie reformatorifche Recht⸗ 
fertigungslehre als ganz unbaltbar verwirft, dann aber 
wieder, gerade wie einer aus der Maffe der Previger, von 
bem großen Materialprincip des Proteftantismus zu veben 
weiß. So bebeutet nah Bunfen die Rechtfertigung allein 
aus dem Glauben, aus der jemitischen Sprache in's Japheti⸗ 
tiſche überſetzt: den Grunbfag der fittlichen Selbſtver⸗ 
antwortlichleit.”) Und kürzlich Hat Roßmann in feinen 


N L8we in der Göttinger Monatfchrift fiir Theol. und Kirche, 
1851, ©. 836. Auch Haufe, bie Entwidiung bes Proteſtau⸗ 
tismus, 1855, S. 19, fpricht fich offen über den Widerſpruch 
zwiſchen der jetst verbreiteten Auffaffung ber Rechtfertigung durch 
ben Glauben unb ber orthoboren Lehre aus. 

2) Sippolytus, I, 889. 


. — 

„Betrachtungen über das Zeitalter der Reformation” ent⸗ 
bedt, daß der ganze moberne Staat auf ben evangelifchen 
Grundfag von der Rechtfertigung durch den Glauben allein 
bafirt ſei. 

Das ift nun unftreitig eines ber denfwürbigften und weit« 
greifendften Ereigniffe in der neuern Neligionsgefchichte, daß 
bie Lehre, bie das eigentliche Fundament des ganzen proteftan« 
tifchen Lebrgebäupes bilden foll, wifjenfchaftlich fo völlig zu 
Grunde gegangen iſt. Zwar iſt es noch immer ein ſtehender 
Borwurf, den ein Theologe dem andern, wenn er ihn ber Irrs 
Iehre überführen will, zu machen pflegt, daß er von dem 
„Evangelium“, von der reinen Lehre der Glaubensgerechtigkeit 
abgewichen ſei. Sobald aber einer genöthigt ift, fich in 
wifienfchaftlicher Darftellung über das Dogma zu erklären, 
und die allgemeinen Phrafen nicht mehr ausreichen, kommt 
regelmäßig eine Lehre zum Vorſchein, welche die Reforma⸗ 
toren und ihre ächten Nachfolger für papiftiich oder armi- 
nianiſch erklärt haben würden. Namentlich ift Die ereges 
tifche Theologie in Deutfchland zu mächtig geworben, und 
bie bebeutenderen Bibelausleger haben doch auch eine wiſſen⸗ 
Ihaftliche Reputation zu behaupten, fo daß eine Zurüd- 
fhraubung dieſer Theologie zu den Auslegungen bes 16. 
und 17. Jahrhunderts einfach nicht mehr möglich ift. Nicht 
wenige ber neueren Exegeten find, man fieht es, mit bem 


beßten Vorſatze, die SDoctrinen der Weformatoren in ber 
v. Dölinger, Papſtthum. 28 


— — 

Bibel nachzuweiſen, an's Wert gegaugen, aber — es geht 
eben nicht. Damit iſt indeß auch der Stab gebrochen über 
jede Geltung der Bekenntnißſchriften und über jedes Be⸗ 
mühen, die alte proteſtantiſche Rechtgläubigkeit, d. h. bie 
den ſhmboliſchen Büchern entſprechende Lehre und Auſchau⸗ 
ung wieber berzuftellen. Selbft die Bezeichnung „evange⸗ 
liſch“ Hat nım keinen rechten Sinn mehr, benn was man 
im Neformationszeitalter mit biefem Worte meinte, das 
war eben pie Imputationslehre und ihre Eonfequenzen. 

Was ift doch Alles verfucht, gewagt worden, um nur 
dieſen „Artikel der flehenven und fallenden Kirche“ zu er» 
halten und zu empfehlen. Ihm zu gefallen wurde ver Brief 
Jakobi für eine ſtroherne Epiftel erklärt, wurbe in das 
Augsburger Bekenntniß vor Kaiſer und Neich die offenbare 
Unwahrheit aufgenommen, daß dieſe Lehre fich ſchon bei 
Anguftinus finde, und als Melanchthon aus Scham fie aus 
den Ausgaben der Eonfeffion weggelaffen Hatte, wurde fie, 
wiewohl unter dem nachdrücklichften Widerfpruche der eig- 
nen Theologen, doch wieder (1576) in ben Text ber Con⸗ 
feffton eingerüdt, Dieſer Lehre zu gefallen hat Luther bie 
heilige Schrift in mehreren Stellen, beſonders der Pauli» 
niſchen Briefe, mit berechneter Untreue überfegt, und bem 
Urterte fremde, von dem Reformator erft zur Unterflütung 
feines Lieblingsdogmas erfonnene Ausdrücke eingefchoben. 

Man bat ferner, um nur viefen, dem kirchlichen Altertfume 


» 


435 


völlig fremben Artikel behaupten zu tönnen, mit ber ges 
fommten kirchlichen Tradition gebrochen, und dem bogma- 
tiſchen Zeugniſſe ver Kirche aller Jahrhunderte jenen Werth 
abgefprochen. „Das, fagt Julius Mäller, muß unbes 
fangene hiſtoriſche Forſchung jeßt offen zugeſtehen, was bie 
Neformation felbft fi noch verbarg, daß nicht blos bie 
firchliche Xheologie des Mittelalters, ſondern auch bie pa- 
triftifche Theologie des vierten, fünften, fechsten Jahrhun⸗ 
bertd in ven meiften Streitfragen zwifchen Katholicismus 
und Proteftantismus, mehr auf ber Seite bes erftern als 
des letztern fteht.').- | 

Wenn Müller meint, vie Reformation babe fich felber 
bie wichtige Thatſache verborgen, daß ihre Lehre im Wider⸗ 
fpruche mit ber ber erſten chriftlicden Jahrhunderte ftehe, 
fo ift dieß doch nur theilweife richtig, dem Volke, den Laten 
juchte man dieß allerdings forgfältig zu verbergen, aber im 
engeren Kreiſe redete man ziemlich offen barüber. Me⸗ 
lanchthon erklärte in feinen Briefen an Brenz das, was 
er die deutfchen Proteftanten in der Augsburger Confeffion 
batte behaupten laſſen, jelbft für eine Unwahrheit. Luther 
bat fih mehrfah unummwunden barüber ausgefprochen, 
wie feine Lehre eine ganz andre fei, al® bie ber älteften 
Kirche, und wie fehr er deshalb die Väter als Zeugen ber 





2) Deutfche Zeitfehrift 1854, Juli, ©. 214. j 
28* 


.'. 
* 
2 


alten Kirchenlehre verachte. Sein Bemühen, bie alten Eon- 
eilten möglichft berabzufegen umb in den Augen des Volkes 
verächtlich zu machen, war offenbar bemfelben Bewußtſein 
entfproffen. Desgleichen bat Cal vin es befannt, daß von 
ber neuen Rechtfertigungslehre in ber Trabition unb bei 
den Vätern nichts zu finden fe. Und wenn die fämmtli- 
hen Theologen und Prediger von Roftod in einem Schreis 
ben an bie Prebiger ver Stäpte Lübed, Hamburg und Lü- 
neburg erfiärten: In den Artikeln vom freien Willen, ver 
Gnade und der Rechtfertigung, ftinme bie Lehre des ortho⸗ 
doren Altertbums völlig mit der der Fatholifchen Theologen 
überein,’) fo fieht man, daß die Theologen fich feine Illu⸗ 
fionen in dieſem Punkte machten. Bor ber Welt freilich 
wurde eine ganz andere Sprache gerebet. 


Man muß diefe Dinge um jener willen fagen, weldhe 
etwa niit Stahl ver Anficht find: Die zugerechnete Gerech⸗ 
tigkeit fei das Myſterium, welches das Innerſte der chrift- 
lichen Neligton und bie Fülle des göttlichen Lichtes fei, und 
erft durch die Reformation -fet diefe Fülle des göttlichen 


1) Bei Bertram’s Evangel. Lüneburg. Beil. &. 271. Gie 
bemerfen, baß nur einige wenige Stellen aus ben letzten Schrif- 
ten Auguftiin’s und Profper’s (Über die unwiderſtehliche Wir⸗ 
fung ber Gnade) von biefem Tatholifchen und altkirchlichen Con⸗ 
fenfus eine Ausnahme machten 


431 


Lichtes im Beifte des Menfchen aufgegangen,') welche über 
auch mit ihm zugleich der Iutherifchen Kirche den hohen Vor⸗ 
zug ber Katholicität in der Lehre zueignen möchten, jener 
Katholicität, die, wie er fagt, immerbar ald bie gottge⸗ 
ftiftete Lehre und Ordnung befteht, die das Band ber Ehri« 
ftenbeit für alle Orte und durch alle Zeiten fein foll, ent« 


) Hengftenberg’s 8. 3. 1858, ©. 824, 325. Die The 
logen ber Neuzeit pflegen fonft biefen Ausdruck: „zugerechnete 
Gerechtigkeit” (zur Unterjcheibung von "wahrer, innerlih ge 
wirkter Gerechtigkeit) zu vermeiden. Man rebet immer mur 
von ber Gerechtigkeit bes Glaubens, ber Rechtfertigung durch 
ben Glauben. Diefe Bezeichnung iſt aber in proteflantifchen: 
Munde um fo ungeeigneter und täufchenber, als es gerabe bie 
katholiſche Kirche ift, welche ben Menſchen wirklich und eigent- 
lich durch den (in Liebe wirffamen) Glauben vor Gott als 
gerecht erfunben werben läßt, wogegen nad) dem altproteitan- 
tiihen Syſteme es nicht der Glaube, fonbern die Zurecdhnung 
ber Leitungen Chrifti ift, welche ben Menfchen vor Gott ge- 
recht erjcheinen läßt, oder ber Proceß ber Rechtfertigung ſich 
bamit vollzieht, daß Gott dem Menfchen bas Leiden und bie 
Geſetzeserfüllung Chriſti, fo, als ob er felbft dieſen Gehorfam 
gel einci hätte, imputirt, umb ber Menſch durch einen Glaubens⸗ 
4 dieſer Imputation bewußt und gewiß wird. Bei folcher 
Auffaſſung läßt fih nur in ſehr umeigentlichem Sinne, nur 
mittel® einer gezwungenen Figur fagen: ber Menſch werbe durch 
ben Glauben gerechtfertigt, num etwa fo, wie man fagen könnte: 
Jemand fei durch die Gabel gefättiget worben. Welchen Dienft 
aber bie Imputationslehre dem Einzelnen fowohl als ber Ge— 
fhichte der ganzen Gemeinfchaft Teiften folle, das mag man 


438 


gegen dem menfchlich aufgebrachten Irrthum, ber niemals 
allgemein war.') 
Ih meine, die Bedeutſamkeit der hier befprochenen 


Thatfache könne kaum allzu hoch angefchlagen werben. Hier 
ftehen auf ver einen Seite Luther, Melanchthon, Calvin, 
alle ihre Jünger, bie proteftantifchen Belenutnißfchriften, 
bie gefammte Iutherifhe und calvinifche Theologie des 16. 
und 17. Jahrhunderts. Sie alle haben in der Bibel bie 
Lehre, die wir ber Kürze wegen bie Imputationslehre nennen, 
mit evidenter Klarheit ausgefprochen gefunden. Auf ber 
andern Seite fteht die neuere und neueſte Theologie, ſteht 
die ganze wiffenfchaftliche Eregeje der Neuzeit, und verwirft 
bie Lehre, verwirft die veformatorifche Erklaͤrung der frag- 


aus folgenden Worten Bilmar’s entnehmen: Auch im Luther 
iſt tro aller unendlichen Gnade, bie ihm widerfahren, Sünbe, 
und Sünde wirb nie entſchuldigt. Aber wir fehen an ihm 
nicht die Sünde, fonbern die bem Sünder zugerechnete Gerech⸗ 
tigkeit, buch den Glauben an ben einigen Erxlöfer Jeſum 
Chriſtum, hören in Allem, was er geiprochen, bieje zugerech⸗ 
nete Gerechtigkeit hindurch, und feine ganze irdiſche Eriftenz und 
Alles, was an ihm zum Erſcheinung gelommen, iſt nur hieraus 
zu beurtbeilen. Nehmen wir bieje zugerechnete Gerechtigkeit 
hinweg unb wollen wir fie nicht fehen, fo bleibt gerade in ihm 
nichts übrig als ber größte Sünder unb in allen feinen Ge 
dauken das verworrenfte Zeug, wie es ber ärsfte Rubellopf 
nicht ausbenlen kann. Zeitſchr. für luth. Theol. 1848, ©. 384. 
1) Die Intberiide Kirche, 1869, S. 452. 


— — 
lichen Bibelſtellen als falſch und unhaltbar. Die Schrift 
aber iſt, das iſt oberſtes evangeliſches Princip, in allen 
Fundamentallehren vollfommen klar und ſich ſelber genügend. 
Wie iſt nun dieſer fundamentale Diſſenſus zu erklären? 
Und dabei handelt es ſich um eine Lehre, die, wie jedermaun 
zugibt, von unermeßlichem Einfluffe auf die ganze Geſtaltung 
bes chriftlichen Bewußtfeins und tes Tirchlichen Lebens tft, 
um eine 2ehre, welche, jelbft nach der Behauptung ober 
dem Geftänpniffe vieler proteftantifcher Theologen, früher 
eine Duelle des Verderbens für Unzählige geworben ift, 
eine Verwüſtung in den Kirchen angerichtet hat, von ber 
man vorher feine Ahnung hatte. So foll der ganze Bau 
ber evangelifchen Theologie und Kirche auf zwei Prinzipien, 
dem materialen und dem formalen, Imputationslehre und Suffi⸗ 
cienz der Bibel, ruhen; aber das materiale iſt von der Exe⸗ 
geſe wie von der Dogmatik aufgegeben, und für das fov⸗ 
male läßt ſich, ſowohl was die Sufficienz als deren Be⸗ 
vingung, bie Inſpiration auch ber von Apoſtelſchülern ver⸗ 
faßten Schriften betrifft, auch nicht einmal der Schein eines 
bibliſchen Beweiſes beibringen. Die Zeit wird — muß 
kommen, wo man dieſe Thatſache nach ihrem ganzen Ge⸗ 
wichte in's Auge faffen wird. Zu ſolchem ernten Nach 
denken muß ſchon die allgemein gemachte Erfahrung an⸗ 
treiben, daß die Verbrängung bed Rationalismus von ben 
Kanzeln und die Wieberherftellung einer proteftautiich-gläu- 


. 48 


bigen Prebigt den davon gehegten Erwartungen durchaus 
nicht entfprochen bat. Eine Zeit lang, fagt Baumgarten‘), 
fonnte man ſich wohl dem Gedanken hingeben, daß der Ra⸗ 
tionalismus es fei, der die Kirchen leer und oͤde prebige. 
Seitvem nun aber burchweg wieber Ehriftus der Gekreuzigte 
gepredigt wird, unb im Ganzen und Großen keine bejon- 
bere Wirkung fich fund gibt, muß man auch diefe Täufchung 
aufgeben, und ſich nicht mehr verhehlen, daß bie Prebigt 
unmöglich dem kirchlichen Leben aufzubelfen im Stande fei. 
— „Die Ohnmacht der gegenwärtigen Predigt, fährt er 
fort, ift noch weit abfchredenver, als es gemeiniglich bes 
kannt ift und geftanden wird, denn bie Zeugen ber unterften 
Stufe biefer Ohnmacht verjchweigen die volle Wirklichkeit 
biefer Thatſache u. f. w. 

Delitzſch hat diefed Zeugniß Baumgartend beftätigt: 
es ſei freilich wahr, daß die Erfolglofigfeit der Prebigt eine 
traurige Erfahrungstbatfacdde der Gegenwart fel.) Und 
nun bat man jüngft mancherlei Berathungen über bie Urs 
fachen ver fchlimmen Thatſache angeftellt. Die Berliner 
Berfammlung der evangelifchen Allianz bejchäftigte fich wiel 
mit dem Thema: „Wozu fordert die Wahrnehmung auf, daß 
fih troß der Rückkehr der Theologie zum kirchlichen Ber 


1) Nachtg eſichte des Sachariae, 1855, II, 124 ff. 
N) Erlang. Zeitſchr. für Proteftantiemus, 1868, ©. 306. 


41. 


kenntniß fo wenig geiftliches Qeben in den Gemeinden zeigt?" 
Profefior Krafft, der darüber einen Vortrag gehalten, 
bat wohl einige Urfachen des Uebels erkannt; er bat es 
deutlich genug gefagt, daß die Lehre der ſymboliſchen Bücher 
fchon früher den „Untergang alles geiftlichen Rebens“ bes 
wirkt habe, daß man fich alfo nicht wunbern dürfe, wenn 
ihre Erneuerung in ber Gegenwart biefelben Früchte trage.') 
Noch beftimmter bat der Hofprebiger Beyfchlag aus Karla 
rube, der gleich nach ihm über dasſelbe Thema, „vie eigentliche 
Tirchliche Nothfrage der Zeit," gerebet, darauf hingewiejen :”) 
Das ganze Elend der proteftantifchen Kirche bis heute, ſei 
„die einfeitige Ausbildung bes Bekenntniſſes“, vie „tobte 
Orthoborie” mit ihrer Lehre von der Rechtfertigung.) Aus 
ihr fei naturgemäß der Nationalismus erwachſen; bie Wies 
dererweckung biefer Orthodoxie fei zur förmlichen Tirchlichen 
Zeitkrankheit geworden, die den großen Haufen der Geiſt⸗ 
lichen ergreife und dahinreiße. 


Natürlich wird diefe Erklärung des Phänomens von Vielen 
zurücdgewiefen, aber in der Thatſache felbft find Alle einig; 
auch die Prebigerverfammlungen, 3. B. die Berliner 1858, 
bie Sächſiſche zu Gnadau 1859, Haben Berathungen da⸗ 


3) Berbanbfungen ©. 186. 

2) Berbanblungen ©. 194. 

3) Als justitia forensis von ihm bezeichnet, alſo gerade bie eigent- 
lich altproteſtantiſche Lehre, S. 195. 


442 





rüber gepflogen. Und wenn jüngft auch in einem Pfälzifchen 
Kicchenblatte der gläubigen Richtung‘) gelagt wirb: „Ben 
man in bie einzelnen Gemeinden Hineinfieht, in welchen oft 
ſchon Jahre lang das Evangelium in Einfelt und Lauterkeit 
geprebigt wird, wie gleichen fie meift den bornigen Lande, 
dem fteinigen Erbreich oder dem bartgetretenen Weg,” dann 
liegt hierin doch wohl vie ftärkite Aufforberung, einmal das 
fogenannte „Evangelium“ felbft einer Revifion zu unterwerfen. 

In folgerichtigem Zufammenhange mit ver Imputati⸗ 
onslehre ftand bie reformatorifche Auffaffung ber letzten 
Dinge des Menfchen. Die ältere Iutherifche und calvi⸗ 
nifche Lehre nahm an, daß jeber Menſch bei feinem Tode 
entweder fofort zur himmlifchen Seligkeit gelange, ober im 
bie Hölle verftoßen werde. Die doch unerläßliche Entjün- 
bigung und Reinigung wurde mechanifch als ein phyſiſcher 
Proceß gedacht, und in ben Tod und die Verweſung bed 
Leibes verlegt, fo daß, wie ein Neuerer bemerkt, nur ber 
Name noch fehlt, um den Tob geradezu ald das Salrament 
der Vollendung den beiden andern beizuorpnen.’) Im Zeit» 
alter der Reformation und bis gegen Ende des vorigen 


1) Evangelifcher Reichebote, 1859, Neujahrsiwort. 

2) Fries in den Jahrbüchern für beutiche Theol. I, 804. Ich 
begreife nicht, wie Kliefoth, Liturg. Abhaudlungen, I, 169, 
das dem Rationalismus zur La legen kann, was ſchon Lehre 
ber Reformatoren war. 


443 


Jahrhunderts beruhigte ſich das Voll gerne bei biefer An 
ſchauung, vie ibm bei ber Leichtigkeit - des allein entſchei⸗ 
denden Glaubeus⸗ oder Aneignungsaltes bequem und tröft- 
lich fchien. Freilich bat auch, wie Brofeffor Neumann 
beflagt, vie Aufhebung jeglicher Verbindung zwiichen den 
Lebenden und den Todten das proteftautifche Volk bis an 
den Rand des Zweifeld am ewigen Leben überhaupt ges 
führt‘) Daraus ift dann jenes allgemeine Seligpreifen, je⸗ 
nes ſchädliche Unweſen der Leichenpredigten entſtanden, welches 
an der fittlichen und religidſen Erſchlaffung und dem weit ver⸗ 
breiteten, leichtfertigen Wahne einer wohlfeilen und unmittel⸗ 
baren Verſetzung in den Himmel nicht geringen Antheil hat.’) 

Die Theologen haben nun dieſes ſchlimme Gebrechen 
des alten Syſtems erkannt, und felbft eifrige Lutheraner 
mögen doch in dieſem Punkte nicht mehr zur Anfchauung 
der Reformatoren zurückkehren. So wird denn feit einiger 
Zeit die Nothwendigkeit erkannt, einen Zwifchenzuftand ver 
Läuterung anzunehmen, wie 3. B. Kern, Fries, Girgen- 
ſohn und viele Andre getban. ‘Die Hiemit zufammenhän« 
genve Trage, ob das Gebet für die DVerftorbenen zuläffig 
und rathſam fei, muß als unentfchieven auf fich beruhen; 
jeder Prediger hat darüber feine eigne Meinung, oder auch 


1) Zeitſchrift für Tuth. Theologie, 1852, 282. 
2) Bgl. darüber bie Erinnerungen von Maymwahlen, in dem 
Borworte zu feiner Schrift: der Tod, Berlin 1854. 


444 


feine. Was den Laien in biefem Punkte an einem Orte 
empfohlen wird, erfährt an einem andern Orte fcharfen 
Zabel. Die älteren Iutherifchen Theologen pflegten folge 
recht die Fürbitte für die Todten für ganz unnäg zu er 
Mären.!) Die Preußifche Agende Hat fie aufgenommen, 
aber, indem fie zngleich nach dem Muſter ver anglitanifchen 
Liturgie von jedem Verftorbenen verfichert, daß er bereits 
unzweifelbaft im Vollgenuß ver Seltgleit ſich befinde, iſt 
die Würbitte zu einer nichtsfagenden Formel berabgefekt. 
Daneben finven fich unter den Geiftlichen, in Würtemberg 
namentlich, nicht wenige Anhänger ber Lehre von der Wie- 
derbringung aller Dinge, wie 3. B. ber Brälat Kapff, und 
bemerken gar nicht in ihrer Unſchuld, wie damit das ganze 
altproteftantifche Syſtem fo aufgelöst wird, daß kein Stein 
davon auf dem Anvern bleibt. 


3. 

Im Gottes dienſte gibt die Xehre, die religiöfe An» 
ſchauung der Kirche fich Geftalt. Ob in einer Kirche ein 
gejundes und barmonifches Verhältniß zwifchen Lehre und 
Leben, zwifchen Klerus und Laien beſtehe, das zeigt ſich an 
ber Beichaffenheit des Gottesbienftes, an der Theilnahme 
des Bolfes. 


3) Kliefoth’s liturg. Abbanblungen I, 811. 


Es gibt überhaupt nur drei mögliche chriftliche Cultus⸗ 
formen. Entweber bilbet die Prebigt den Hauptbeftanbtheil 
und Mittelpuntt tes Cultus, fo daß das Uebrige, Geſang 
nnd Gebet, nur dienendes Beiwerk ift. Ober der Hauptalt 
beftebt in einer vorgelefenen, aus Bibelabfchnitten und Gebet- 
formeln zuſammengeſetzten Liturgie. Oper brittens, ber 
Cultus ift eine thatfächliche Feier des ganzen Erlöfungs- 
werles, ein gemeinfchaftlicder, unter der Theilnahme aller 
Anwefenden fich vollziehender Alt des Abenpmahlopfers, das 
Selbftopfer ver mit Ehriftus zugleich dem Water fich dar⸗ 
bringenden Gemeinde, als die volllommenfte Form der An⸗ 
detung Gottes. Die erfte Form ift unftreitig die dem alten, 
ächten Proteftantismus angenehmfte; die zweite bat fich bie 
englifche Staatskirche gewählt, fie befriedigt bie höhern 
Stände, aber durchaus nicht das Voll; bie dritte ift bie 
der alten Kirche und berjenigen Tirchlichen Genoffenfchaften, 
welche ihre Eontinuität ohne eine Unterbrechung oder we⸗ 
fentliche Veränderung bewahrt haben, aljo ver Tatholifchen, 
der Sriechifchen und Auffifchen, der monophyſitiſchen in Aſien 
und Afrika. Im proteftantifchen Deutfchland Hatte ftets 
die Predigt die Alleinherrfchaft. Der Gottesdienſt ift Pres 
bigtgottespienft, die Kirche iſt eigentlih und vorzugsweiſe 
Hörſaal oder Schule. Es wird auch von Theologen ange- 
nommen, daß ohne Prebigt Fein Gottesdienſt gehalten wer- 
den könne. Schon der gleichmäßige Gang, in welchem, ohne 


— 


alle Verabredung und ohne ſichtbare Einwirkung einer Lan⸗ 
veslirche auf die andre, auch die wenigen zuerſt noch bei⸗ 
bebaltenen liturgifchen Stüde aus dem Gottespienfte der 
Gemeinden in ganz Deutfchland verfchwanden,') zeigt, daß 
biefe Entleerung des Gottesdienſtes eine ganz naturgemäße 
war, daß fie eben ber proteftantifchen Dent- und Empfin- 
dungsweife entiprach. 

Die Folge hievon iſt nun: einmal, daß die Gemeinde 
für ihre Erbauung faft ganz an bie Subjectivität des Geift- 
lichen gewiefen ift, zweitens, daß die nöllige Paffivität bes 
Volles beim Gottesbienfte jetzt das charakteriftifche Merkmal 
des proteftantifchen Eultus ift. Die Theologen geftehen es 
jelbft: zu keiner Zeit habe in ver katholiſchen ein gleich 
großer Mangel an Gemeinvethättgleit ftattgefunden, wie in 
der proteftantifchen.) Die evangelifche Kirche, fagt ein 
Andrer, weife jeden Schein eines Priefteramtes oder Stan 
des ab, übertrage aber bie ganze gottesdienſtliche Handlung 
dem Einen Prebiger, und räume biefem eine ungleich höhere 


) Grüneifen, bie evang. Öottesbienftorbnung u. |. w. Stuttgart 
1856, ©. 41. Er zeigt, wie ganz natürlich fchon feit bem 
16. Iabrh., es in Würtemberg babin gelommen, baf bie 
Gottesdienftorbuung „an Armuth und Einſeitigkeit“ nicht ihres 
gleichen habe. 

?) Bähr, Begründung einer ottesbienftorbnung. Karlerıche, 
1856, $. 154. 


447 


Bollmacht, ein ausjchließlicheres Vertreten der ganzen Ges 
meinde ein, als jemal® die Römifche Kirche dieſem Einen 
augeRanben habe.‘) Daher richte ſich der Befuch des Gottes 
dienſtes ganz nach der Popularität bes Prebigers und 
pflege man zu jagen: „Dem gehe ich nicht in bie. Kirche.” 
Ein dritter weift auf den Wiperfpruch Hin, ben das viele 
Neben vom geiftlichen Priefterthume und die Paſſivität der 
Gemeinde bilde, die nicht einmal ein Amen zu ven Gebeten 
babe, und eben nur zu fich reden laffe, und meint, bie oft 
gerühmte Einfachheit des proteftantifchen Gottesdienſtes ver⸗ 
diene vielmehr Armuth und Monotonie zu heißen, und 
neben dem Einprud der Dürftigleit empfange man auch 
noch den der Mattheit, Trägheit und Schläfrigfeit.”) 

So kommt e8 denn, daß die Prediger laut eigenem 
Geſtändniß feine Gemeinde mehr haben, fondern nur ein 
Bublitum, welches da, wo man wählen Tann, dem Prebiger 
nachzugehen pflegt, der ihm durch Stimme, Vortrag, Action, 
Gedanken am beften gefällt, und ihn verläßt, wenn er fich 
auögeprebigt hat, oder aus der Mobe gekommen ifl. Und 
damit erflären auch diefe Männer die kränkende Thatſache 
des jäumigen und unfruchtbaren Kirchenbeſuchs und ber fo 


1) Nees v. Efenbed, der chriſtl. Gottesbienft, 1854, 5. 161. 
2) Schöberlein, über ben Titurgifchen Ausbau u. f. w., 1859, 
©. 83. 


. 
= 
RB 
+. 
2. Pi 


448 





oft leerſtehenden Kirchen. ‚Die Menſchen, jagt ein Preu- 
Biicher Geiftlicher, find fatt gefüttert von Predigten. Und 
gar mancher wird des ewigen in die Schule Gehens über- 
bräffig.‘') 

Unter ſolchen Verhaͤltniſſen ift, als ein denkwürdiges 
Symptom des gegenwärtigen Zuſtandes, ein Ringen und 
Erperimentiren auf dem Gebiete des Gottespienftes eingetre- 
ten, wie e8 nie vorher dageweſen. In 300 Jahren tft nicht 
fo viel darüber gejchrieben worven, als in den legten 10 bis 
20 Jahren?). Die erfte ſich darbietende Hilfe war und ift 
natürlich die Vermehrung der Gefänge Gebete und, wie es 
in Preußen ſchon längft gefcheben, die Einführung liturgi« 
ſcher Beſtaudtheile. 

Aber num zeigt ſich allenthalben, daß das Kirchen be⸗ 
ſuchende Publikum wirklich nur um ber Predigt willen er» 
fheint. Der Gefang- und Gebetsgottespienft wird ver⸗ 
nachläffigt, nur kurz vor der Prebigt beginnen bie Kirchen 
fich zu füllen. So ift es im ganzen Königreich Sachfen.?) 
Und da wo die Agende eingeführt ift, verhält es fich nicht 
andere. In Nord» und Mittelveutichland, fagt Zittel, 
habe ich oft Gelegenheit gehabt, zu beobachten, wie brei 


3) Eunz, das geiftliche Amt und ber Paſtorenſtand. &. 60. 
2) Bähr, ©. 1. 
3) Hengftenberg's 8. 3. 1858, ©, 1114, 


449 


Viertel der Kirchenbefucher erft nach beenbigter Liturgie in 
die Kirche kamen, und unmittelbar nad) dem Schluß ver 
Predigt fie wieder verließen‘) Auch ber Generalfuperinten- 
dent Hofmann bemerkt es, daß in ven meiften Fällen bie 
Gemeinde fich bei der Liturgie theilunahmslos verhalte oder 
durch einen Kinderchor vertreten werbe.’) 

Man vermißt nun bie Feſtfeier der Tatholifchen Kirche, 
in welcher jedes Haupifeft Tymbolifch individualiſirt iſt, und 
gleichſam plaftifch fich in das Vollsbewußtſein eingelebt at. 
Die proteftantifche Kirche pagegen „legt einen wahren Abfcheu 
vor allem ſhmboliſch Bedeutſamen in ihrem Gottesbienfte 
an den Tag,” und barum haben, fagt ein Geiftlicher viefer 
Kirche, unfre Fefte etwas jo Mionotones, find fich in ihrer 
Phyfiognomie jo volllommen ähnlich, daß fle weder von ein⸗ 
ander noch von den gewöhnlichen Sonntagen zu unterfchel- 
ben find.) Soll nun aber eine Aenverung verficht, ein 
fumbolifches Element eingeführt werben, fo verhält es fich 
biemit wie mit dem Snieen beim Gottesdienfte. Dieß ift 
jetzt faft überall gänzlich abgelommen.‘) Die Prebiger und 


y Hundeshagen, ber Badiſche Agendenftreit. Frankfurt 1859, 
S. 13. 

2) Mefiner’s Kir. Ztg. 1860, ©. 105. 

3) Zittel, Zuftände u. |. w. ©. 286. 

) Schöberlein, Über ben Titurg. Ausbau. Gotha 1859, 
S. 329, 330. 


v. Töllinger, Papſtthum. 29 


450 


die Eonfiftorien möchten es gerne wieder einführen, aber das 
Bolt wendet ein: Knieen fei katholiſch. Man wünfcht ferner, 
daß die Kirchen auch bei ben Proteftanten nicht blos Stätten 
ber Predigt, ſondern auch des Gebetes werben möchten.‘) 
Denn der traurige Zuftand, in welchem fich fo viele Kir 
chen befinden, „fo, daß man ohne Schamröthe feinen Hei⸗ 
ven bineinführen Tönnte,“*) Hängt, glaubt man, zum guten 
Theil mit ihrer Vereinfommung zuſammen. Man braucht 
fie alle acht Tage nur einmal, und dann nur zwei Stun 
ben. Das Volt felbft mag daher nichts für die Au 
ſchmückung feiner Kirchen thun; das „fteinerne Haus, in 
welchem der Prebiger am Sonntage redet,“ ift ihm nicht werth 
genug dazu. Aber auch hier ift kein Rath zu finden. Man 
Tönnte in der Woche nur eben wieber prebigen, unb beffen 
bat das Doll, wie allgemein anerkannt wird, ſchon genug. 
Sind ja die fonft noch gebräuchlichen Wochengottesbienfte 
an vielen Orten erft in den lebten Decennien eingegangen 

Auch den andern Weg hat man — zwar noch nicht 
eingefhlagen — das würbe ſchon wegen bes zu erwarten⸗ 
den allgemeinen Widerſtandes nicht gehen — aber bei 
empfohlen und theoretiſch begründet: nach dem Gebrauche 
ber alten Kirchen bie Abendmahlsfeier zum Hauptalt und 





3) Erlang. Zeitfch. Ub. 25. S. 185. 
?) Hengftenberg’s 8. 3., 1867 ©. 529. 


451 


Mittelpunlt des Gottesdienftes zu machen, und bemmach 
auch den Charakter des Opfers an biefer Heiligen Handlung 
wieder anzuerlennen und hervorzuheben. Das thun jeit 
die nambafteften Theologen: Kliefoth, Hengftenberg, 
Höfling, Sartorius, Harnad, Lähe, Kahnis, Bad 
mann u. ſ. w. Es wird num als ein wejentlicher Unter 
ſchied zwifchen Lutherthum und Calvinismus betont, daß 
bie Lutheraner in ihren Kirchen einen Alter Hätten, und 
damit wenigſtens das Verlangen nach einem Opfer unb 
bie Zulaͤſſigkeit vesielben ausbrüdten, während bie Refor⸗ 
mirten nur einen ordinaͤren Tiſch zu ihrer Abenpmabisfeier 
gebrauchen.) Diefe Opfertheorie tft indeß eine fo offenbare 
Berläuguung des Achten Proteftanttemus, daß bie Urheber 
und Beförberer verfelben vor Allem, wenn fle mit ver Sache 
Ernft machen wollen, den Namen „Lutheraner” ablegen 
müßten. Es bat denn auch nicht an fcharfen Vorwürfen 
über die neue Meßopfertheorie biefer Theologen und über 
ihr Katholifiren gefehlt.”) 

Man fühlt die dringende Nothwendigkeit, bie fo fehr 
verfallene Sonntagsfeier wieder berzuftellen und dem 
Vollke als eine heilige Pflicht einzuprägen. Aber auch bier 
ftößt man in ben proteftantifchen Prinzipien auf ein unüber- 
ſteigliches Hinderniß. 


7) Gobel's reform. K. 3. 1855, &. 167. 
?) Bol. Studien und Kritiken, 1856, S. 472. 


452 





— GE 


Kraußold,') Liebetrut und Andre haben 
gezeigt, daß die Grundſätze der Reformatiou es unmög- 
lich gemacht haben, eine Verpflichtung zur Feier des 
Sonntags zu begründen. Der Sabbath iſt mit dem mo⸗ 
ſaiſchen Geſetze gefallen; der Sonntag iſt als gebotene 
Feier im neuen Teſtamente nicht zu finden; die Kirche hat 
feine höhere Autorität, eine ſolche Feier einzuführen; ihren 
Geboten barüber tft man kraft enangelifcher Freiheit fo 
wenig Gehorfam ſchuldig, als ihren Auordnungen über Taften, 
Beichte und fo fort. Wie foll man nun bem proteftanti- 
fchen Volle die Verpflichtung zur Sonntagsfeler begreiflid 
machen? Die unzähligen Berathungen, bie man feit 30 
Jahren darüber gepflogen, haben natürlich nur dazu geführt, 
bie allgemeine Rathloſigkeit zu confiatiren. Bereits wirb 
die Forderung geftellt, die Lutherifche Bibelüberſetzung zu 
verändern, bamit das Volt, welches in derſelben eine Stelle 
über ven Sonntag und befien Verpflichtung fuche und nicht 
finden könne, die Prebiger mit feinen Einwürfen nicht zu 
fehr in's Gebränge bringe.*) 


Die gleiche Verlegenheit zeigt fih den Baptiften gegen- 
über, bie jegt eine jo bebeutenbe und ſtets wachſende Fraction 


I) Drei Kapitel Über die Sonntagsfeier. Erlangen 1850. 
2) Deutiche Zeitichrift, 1865, &. 278. 


453 


ber proteftantifchen Chriftenheit bilden. Es ift nun von 
allen Seiten zugeftanden, daß man ein Gebot Ehrifti ober 
der Apoftel für die Kindertaufe nicht aufzuweiſen ver- 
möge. Auf dem Kirchentage von Frankfurt 1854 mußte 
dieß den anweſenden Baptiften eingeräumt werben, und ber 
Vorfitzende erklärte: die Kinvertaufe fei „ein noch nicht 
vollſtaͤndig gelöstes Problem." Schon wollen einzelne Theolo- 
gen, 3. B. Ebrard, die Sache felbft lieber preisgegeben, 
die Kindertaufe abgefchafft wiffen, damit nur das Princip 
des allein geltenden Bibelbuchftaben® gerettet werbe, und 
man nicht eine Autorität der Kirche anzuertennen genöthigt 
fei. Seit Jahren pflegt man auf Eonferenzen und Kirchen- 
tagen mit der ‘Doppelfrage (Taufe ber Kinder und Taufe 
durch Aufgießung oder Beiprengung) fi) abzumühen, ohne 
einen Schritt weiter zu kommen. 

Aber noch nicht genug: auch über Ehe und Trauung 
werben jeßt Behauptungen aufgeftellt, von welchen boch in 
der That nicht anzunehmen ift, daß man auch nur ben 
Berfuch einer biblifchen Beweisführung machen werbe. So 
bat Türzlich die Iutherifche Paftoralconferenz im Ravensber⸗ 
giſchen unter Anbern ven Beſchluß gefaßt: „bie Kirche kann 
eine wahre Ehe ohne Kirchliche Trauung nicht anerkennen.“) 
Zugleich wurde der Entfchluß der Verfammlung erklärt, 


) Darmfläbt. 8. Zig. 1859, Nr. 84. 





54 
Proteſt einzulegen gegen jede Elvilehe innerhalb der Kirche, 
unb jeden, ber eine Civilehe eingebe, zu excommuniciren. 
Welche Antwort dieſe Baftoren geben wärben, wenn bie 
Laien einen Schriftbeweis für ſolche Dinge von ihnen for 
berten, läßt fich kaum errathen. 





4. 


Die völlige Ohnmacht der Geiftlichen Im Verhaͤltniß zu 
ben Gemeinden wie zu den einzelnen Gliedern, bie Thatſache, 
daß gegenwärtig bie Kanzel ber einzige Ort ſei, von welchem, 
und das einzige Mittel, durch welches ber Prediger irgend 
eine Wirkſamkeit ausüben Lönne, dieſe Dinge gaben ben 
Blick Bieler auf die zwei empfinblichften Lücken bes fird- 
lichen Lebens, auf ven Mangel an Seelforge und bei 
an Lirchenzucht gelenkt. Ueber die Mögfichfeit und 
Dringlichkeit, eine Wieverherftellung beider zu verfuhen 
ift viel berathen und gefchrieben worden; faft jebe Predi⸗ 
gerverſammlung befchäftigt ſich beſonders mit ber Droge 
ber Kirchenzucht, von ber auch bie letzten Reſte längft ver⸗ 
ſchwunden find. Man hat e8 nun wohl erkannt, daß mal 
Seelforge nur dann üben könne, wenn bie Seelen ſich de 
Beiftlichen öffnen, fich mittheilen, Rath und fpezielle Leitung 
fuchen und begehren, alfo nur mittels ber Beichte. DA 
Beichtſtuhl, fagt Kliefoth, iſt die georbnete Stätte für bie 


2 , 
* 455 


Seelforge.') Die Beichte aber ift in ganz Deutſchland ver⸗ 
ſchwunden, die Prediger verkünden nun allgemeine Abſolu⸗ 
tion von der Kanzel, ohne daß nur bie Form eines Sün- 
denbelenntniffes ftattfände, oder auf ein bloßes lautes Ja 
bin. Jeder Verſuch, die Wiederbelebung der Beichte auch 
nur anzubahnen, ftößt fofort auf ven entfchloffenen Wider⸗ 
fland des Volles.) Die Brivatbeichte, hieß es im ber 
Broteftatton der Augsburger Proteftanten gegen bie Ver⸗ 
fügungen des Oberconfiftoriums im Jahre 1866, fei eine 
mit der Stellung des enangelifchen Geiftlichen, welcher mit 
dem Familienleben verziveigt fet, ganz unverträglicde Inſti⸗ 


I) Liturgiſche Abhandlungen II, 496. 

) Mit welchen Mitteln es bie Prediger dahin gebracht haben, 
daß jebe Seelſorge unmöglid; geworben ift, das zeigt folgen- 
ber Beriht aus Riga: „Die feelforgerliche Amtspflicht bes 
Predigers ift bier wie anberwärts fo gut wie gang in Ver⸗ 
geflenheit gelommen. Man bat es Tängft verlernt, ben Geifl- 
lichen zum Bertrauten feines Geelenzuftandes zu machen. Ieber 
benkt babei fofort an Obrenbeichte, Pfaffenränte, Gewiſſens⸗ 
tyrannei n. f. w. Manche würben in ber leijeften Annäherung 
an ben Prebiger, bie fie bei einem anbern wahrnähmen, als⸗ 
bald einen Abfall vom evangelifhen Glauben zum Katholicig- 
mus finden. Kirchliche Vierteljahrsichrift, Berlin 1845, &. 166. 
Cunz und anbre haben ſchon bemerkt, daß man in proteflan- 
tifchen Gegenden auf bie Frage nad) dem Geeljorger bes Orts 
die Antwort erhalte: man fei bier nicht katholiſch, hier gebe es 
nur einen Prebiger. 


"456 | 


tution. Das Volt, ſagen die Erlanger Theologen, hat 
nirgends ein Vertrauen zu feinen Geiſtlichen als Beicht⸗ 
pätern.‘) Es ift alfo nicht mehr möglich, die Beichte im 
irgenb einer Form iwieber berzuftellen; felbft die altlutheri- 
ſche, wornach man nur vor dem Prebiger ein auswendig 
gelerntes ober abgelejenes DBelenntniß allgemeiner Sünb- 
baftigleit recitirte — felbft dieſe bequemfte und abgeſchwäch⸗ 
tefte Form der Beichte, an welcher die gewifienbafteren 
Geiſtlichen fchon im 17. Jahrhundert den größten Anftoß 
nahmen, fo daß fie das Intherifche Beichtweſen für eine 
Peft ihrer Kirche erklärten — fie kann nicht mehr einge 
führt werben. Jeder Verfuch fcheitert fchon an ver Haupt- 
und Lieblingslehre von dem allgemeinen Priefter- 
thume, kraft welcher jeder, als fein eigner Priefter und 
Lehrer, Teiner Mittelperfon, feines Zeugniſſes und Amtes 
bebarf, vielmehr fich felber mit zweifelsfreier Gewißheit von 
feinen Sünden losſpricht. So ift es auch ſtets in allen 
calvintfch-reformirten Kirchen gehalten worben, und in Folge 
ber Union ift noch viel weniger an eine Wieverherftellung 
ber Beichte zu denken. Wozu nützte mir denn auch mein 
Prieftertfum, fagt ber proteftantifche Laie, wenn ich mit 
erft von bem Paſtor, der nicht einmal meinen Seelenzuftand 
tennt, die Verficherung ber Sünbenvergebung ertheilen Lafien 


1) Zeitſchr. für Protefl. Ob. 21, ©. 52. 


457 


follte. Die Enlbehrlichkeit jeder prieſterlichen Vermittelnng, 
die „Unmittelbarleit des Bandes zu Chriſtus“ ift ja, wie 
uns in den mannigfaltigften Wenbungen gejagt wirb, ber 
große Vorzug, den der Proteflant durch vie Imputations⸗ 
lehre vor dem Katholilen voraus bat.') 

Man Bat freilich, um die Möglichleit eines priefter- 
lichen, fünbevergebenpen Amtes zu gewiunen, um neben bem 
Prediger doch auch ben ver proteftantifchen Welt fo fremb 
gewordenen Seelforger wieder zur Anerkennung zu bringen, 
von dem allgemeinen Prieftertfpume eine Auficht aufge 
ftelit, die genau bie Katbolifche, und das Gegentbeil ber 
von Luther gleich im Beginne feines Auftretens verkün⸗ 
bigten iſt. Das Hat unter andern Hengftenberg gethan.*) 
Allein folche Theorien gewinnen feinen Einfluß auf das 
Leben. 

Eben darum muß aber auch jeber Hoffnung, eine 
Kirchenzucht in irgendwelcher Form eingeführt zu fehen, 
entfagt werben. ‘Da von ber Beichte und einer burch ben 
Beichtſtuhl anszuübenden Zucht nicht die Rebe fein Tann, 
fo blieben am Ende nur die Ausfchliefung von ber Eoms 
munion und bie Verſagung des kirchlichen Begräbnifjes 
übrig.‘ Das erftere Mittel ift aber fchon barum unan⸗ 


1) Bgl. 3. B. Deutiche Zeitichrift, 1857, ©. 66. 
7) Bergl. feine Neußerung in feiner Kirchenzeitung 1862. &. 19 
mit bem Catochismus Romanus, 2, 7, 22. 


— — 


wendbar, weil oßnehln-bie Gleichgültigkeit gegen das Sa⸗ 
krament bes Altars und bie Vernachlaͤſſigung deſſelben eines 
der großen lirchlichen Uebel tft, über welche gellagt wird. 
- Bon ben verfchiebenften Seiten ber wird berichtet, baß ber 
Abendmahlsbeſuch immer mehr abnehme,') daß felbft bie 
Meiften ver kirchlich Gefinnten fih mit Einer jährlichen 
Eommunion begnügten.) Hunberttaufende ebangelifcher 
Ehriften, fagt Srühbuß,?) Haben ſich felbft ercommunickt, 
und mögen grumbfäglic vom Altarsfalramente ganz und 
gar nichts wiffen. Unzählige Andre mögen fich gewiſſens⸗ 
halber an dem unioniſtiſch verwalteten Sakramente nicht bes 
theiligen. Es find alſo große Maſſen in der Kirche, gegen 
welche durch die Sakramentsſperre, ſonach durch bie ganze 
Kirchenzucht nichts auszurichten iſt. Noch fchlimmer fleht 
es mit dem kirchlichen Begräbniſſe. Im Norben tft in 
ganzen Städten bie Sitte, daß die Geiftlichen die Tobten 
zu Grabe geleiten, völlig abgekommen.“) In Hamburg z. 
DB. geſchieht die Beerdigung ohne alle Betheillgung des 
geiftlichen Amtes.) In Stadt nnd Land, fagt Frühbuß 


) 3.8. Baumgarten: ber firdlihe Nothſtand in Medien 
Burg. 1861, ©. 41. | 

) Hengflenberg’s 8. Ztg, 1858, ©. 1116. 

2) Ueber Wieberbelebung ber Kichenzudt. Breslau 1859, ©. 50. 

*) Berlin. Kirchenzeitung 1844. Nr. 68. 

*) Hengfienberg’s K. 8. 1867, &. 60. 


469 


wird in der Negel nicht tirchlich bezraben, wer nicht be⸗ 
zahlen kaun, bie aͤrmeren Leute erbitten ſich aus pecu⸗ 
niären Rüuckſichten die Erlaubniß zu ſtillen Beerdigungen. 
Es hat fich ſogar die Anſchauung gebildet, als ſei das ſtille 
Begraͤbniß ohne kirchliche Ceremonie „feierlicher,“ und fo 
iſt dasſelbe zu einem Vorrecht der Gebildeten und zum 
PBrivtlegium mancher Stände geworben.‘) In Preußen if 
noch überbieß erinnert worden, daß wenn bie Kirchenzucht 
wieder auflebte, fie, in Gemaͤßheit Ihrer wichtigften Canons 
es ihr Erftes fein laffen müßte, pie mehreften jet dociren⸗ 
ben preußifchen Profefforen der Theologie und drei Vier⸗ 
theile der Pafloren in den Bann zu thun.?) 


5. 

Die proteſtantiſche Kirche in Deutſchland hat keinen 
Raum für eine Maunigfaltigkeit der Aemter und Berufe. 
Jeder, der in ihren Dienſt eintritt, muß Prediger ſein, 
muß dieß zu ſeinem Hauptgeſchaͤft machen, und unterliegt 
natürlich den Verſuchungen und Nachtheilen, welche ber Be⸗ 
zuf des fleten Öffentlichen Redens unvermeiblich mit fich 


2) Kliefoth’s Kiturg. Abhandlungen, I, 201. In Berlin pflegt 
man, wie Frühbuß ©. 68 bemerkt, einigen Cigarrenran- 
ern als Begleitern der Leiche ben Vorzug vor dem Paftor zu 
geben. 

N Frühbuß ©. 61. 


460 


bringt. „Er mag nun Gaben Haben ober nicht, fagt Kar⸗ 
ften, ee muß prebigen; was er häufig am enigften vers 
fiebt, varnach wird bei ihm der Maßftab feiner Tüchtig- 
keit angelegt; was er aber verfteht, das kann ex, in ber 
jegigen Stellung des Amtes, der Gemeinde nicht zu Gute 
tommen Laffen.’) Und wie Bein ift am Ende bie Zahl der 
wirklich guten Prediger! Rechuet man boch, daß kaum ber 
zehnte Theil der Geiftlichen zum Prebiger geeignet fe‘) 
Dazu kommt die Herrfchaft der conventionellen Redens⸗ 
arten and bergebrachten Stichworte, der hohlen Phraſen 
und tbeologifchen Dunftgeftalten, die ſobald man ſie zu 
greifen und feftzubalten verfucht, in dünnen Nebel fi auf 
löſen. Diefe Herrſchaft der Phrafe hat in der neuern 
beutfchen Homiletik eine faft beifpiellofe Höhe erreicht. Ha⸗ 
ben wir denn noch immter nicht genug, ruft der Prebiger 
Hoher, an der entjeglichen Sprache ver heutigen Theolo⸗ 
gie, welche gleich einem verwirrenden Dämon Beſitz nimmt 
von dem armen Stuventen, ihn in’® Amt begleitet und 
feine Prebigt, wenn nicht ganz unverftänpfich, doch uner- 
quicklich und reizlos macht?“°) 

Schon feit langer Zeit hat man fich in Schriften und 
öffentlichen Befprechungen mit ber Candidatennoth be 


) Die protefl. Kirche, S. 5A. 
2) Sunny, das geifllihe Amt. ©. 61. 
2) Zeitjchrift für luth. Theologie, 1866, 205. 


461 


ſchaͤftigt. Wir find, Magen-bie Egnboaten des Prebigtamtes, 
nach beenbigten alabemifchen Studien die befte Zeit .unfres 
Lebens (jehr häufig 15 Yahre lang) nom Dienfte der Kirche 
ausgeſchloſſen. Wir müſſen Schullehrer oder Hauslehrer 
| anf viele Jahre werben, und wenn wir enblich fpät eine 

Bredigerftelle erlangen, fo find wir durch jahrelange, bis⸗ 
weilen. ausſchließende Befchäftigung außerhalb unferes Be- 
rufes dieſem jelbft entfrembet.’) Ohne nähere Beziehung 
zur Kirche, fo ſchildert Schmieder die Lage, ohne Zus 
ſammenhang unter fich, irren fie vereinzelt, heimathlos, oft 
ohne allen Beruf, umber, dem Mangel preisgegeben, hoffe 
nungslos. Die Kirche überließ fie ihrem Schickſale. Wie 
viele Canbibaten find unter biefem Drud im Stillen 
verfümmert nnd verborben.) Mau bürfte nur bie Orga⸗ 
nifation ber proteftantifchen Kirche mit ver Tatholifchen, in 
ber jeber junge Mann gleich nad vollenbeter Vorbildung 
feine Verwendung im Kirchendienſte findet, vergleichen, um 
den Grund des Uebels zu entbeden. 

Bekanntlich pflegt jeder Candidat, fo bald er eine für 
ben Unterhalt einer Familie nothbürftig ausreichende Stelle 
erlangt bat, zu heiraten. Damit wird die Sorge für das 
Einkommen, für Weib und Kind, erfte Lebensangelegenheit, 


1) Landſchreiber, bie firchliche Situstion. Leipzig 1860, ©. 80. 
?) Verhandlungen bes Kirchentags zu Elberfeld. ©. 57. 


462 


und welche Mohängigkeif‘ und Fugſamkeit damit unverneld- 
Lich verknüpft tft, das hat kürzlich Schenkel lebhaft ge 
fchilvert.‘) Es gibt, fagt er richtig, eine Art der Dem 
raltfation, die „lediglich in den Zufländen Liegt, man muf 
„to billig fein, fie nicht ven Perföulichleiten Schuld zu ge 
„ben. Die unzulänglichen, begriffswidrigen, unproteftant- 
„ſchen Saftituttonen in unfrer deutfch-proteftantifchen Kirche 
„üben als folche eine charaktersabfchwächenne Wirkung aus.“ 
In dieſem Urtheile iſt nur das unrichtig, daß bie fraglichen 
Inftitutionen „unpxoteftantifch” feien, fie find dieß fo we 
nig, daß fie vielmehr in naturgemäßer Eonfequenz ans ber 
Reformation ſich entwidelt haben. 

Da hat man große Pfarrfprengel und Gemeinden don 
2, 3, 4000 Seelen bilven, hat zwei Pfarreien in eine ver⸗ 
einigen müffen, bamit bie „Familie“ bequem leben Tönne 
Und jet ftelgt die Noth mit jebem Jahre. So hat dab 
Schlefifche Eonfiftortum in einem Aufruf des Jahres 1858 
geflagt, daß fchon in nächfter Zukunft manche Pfarrämter 
kaum noch zu beſetzen fein bürften, daß bie Pfarrer die. 
fach unter beftänbigem Kummer um bas tägliche Brod Für 
ihre Familien, pie ihnen fo nötige Amtsfreudigkeit und 


Geiftesfrifche verldren.) Bon allen Seiten werben büftett 


1) Die Erneuerung der beutfchen evangeliſchen Kirche. Gotha 1860 
€. 55. 
2) Kraufe's Kirhemeitung 1868, ©. 82. Bergl. bie Klage 


463 


Schilderungen entworfen Yon bem =, Darben ber Pfarrer, 
ben gefteigerten Auforderungen des Samilienlebens, und ben 
fich gleich bleibenben ober noch fich mindernden Einkünften. 
Man pflegt e häufig als einen hohen Vorzug ber Geifl- 
lichen evangeliſchen Bekenntniſſes zu preifen, baß fie als 
Gatten und Samiltenväter den Lebensverhältniffen ber Laien 
fo gleihförmig, in ven gefellfchaftlichen Verkehr verflochten, 
feinen abgefonberten Stand, Teine „Kafte” bilven, und fo 
eben bamit ber Lehre vom allgemeinen Priefterthum, welche 
möglichite Gleichheit ver Laien und ber Prebiger erheifche, 
am beßten entjprächen. Indeſſen zieht fi, taufenbflimmig 
bezeugt, durch drei Jahrhunderte die Klage, daß der Stand 
ber Prebiger allgemein mißachtet, ihr Amt gering geſchaͤtzt 
fei, daß e8 ihnen fo felten gelinge, die Neigung und das 
Bertrauen des Volles zu gewinnen, und baß bie Ungunft 
der Dienfchen ſich in dem bürftigen Einkommen, in ber . 
ſchwer gebrüdten Lage ber großen Mehrzahl ver Geiftlichen 
peinlich fühlbar mache. Im vorigen Jahrhundert war bie 
Verachtung, zu welcher der Prebigerftand hinabgeſunken 
war, bie Veranlaffung, daß Sablonsty mit Bewilligung 
bes preußifchen Hofs über die Einführung bes Epifcopats 


in der Göttinger Monatjchrift, 1849, ©. 825. „Auf ben Hei- 
neren Stellen können bie Prediger mit ihren Familien ohne 
Sorgen nicht leben, ja eigentlich faum durchlommen u. ſ. w. 


464 


"in Preußen mit England unterhandelte.) Im Sabre 172 
erwähnt ein Prebiger, bie beiten Theologen feiner Zeit 
pflegten Luthern die Schuld davon beizumefien, daß bie 
Lage der Geiftlichen fo Häglich fe.) - In unferen Tagen 
wollte die preußifche Regierung das Anſehen des Standes 
durch Verleihung von Orden und Xiteln wieder heben’) 
und gerne betrachteten die Geiftlichen fich nur als eine 
Partikel des weit verzweigten Beamtenftandes, um bob 
an deſſen Ehre und Vorrechten einigen Autheil zu nehmen. 
Das Maͤrkiſche Oberconfiftorium beflagte, daß den Predi⸗ 
gern auch nicht einmal bie Ansficht bleibe, durch eine reiche 
Fran in Wohlftand zu kommen, denn ein reiches Mäbchen 
werbe ſich nur äußerft felten entfchließen, einen Previger 
zum Manne zu nehmen‘) 

So ift e8 denn dahin gelommen, daß nach dem Ge⸗ 
flänpniffe, welches Brebiger Kunte in Berlin vor ber der 
fammlung der Allianz ablegte, das von der Kirche ent 
frembete Volt auf Prediger, Kirche und Chriſtenthum alb 


f) Christian Remembr. 1845, I, 120, Bergl. Henke's Megan 
V, 224, wo fich die ſtarke Schilderung finbet, bie er del ber 
berrfchenden Verachtung ber Geiſtlichen entwirft. 

2) Steined, Nachricht vom bem Lehen bes I. M. Göge, Ham⸗ 
burg 1792, ©. 19. 

3) Hengftenberg’s 8. Ztg. Bd. 30, ©. 20. 

) A. a. O. © 2. | 


466... 





anf eine Staats» und Polizeianftalt hinſieht, nub der Kirche 
feinen Spott und feine Verachtung auf's Deutlichite zeigt.*) 
Bei uns, heißt es, ift bie Kirche feine Macht .mehr im 
Gewiſſen und Bewußtfein des Volles. Man bat fo lange 
auf vie Vergeiftigung ver Kirche hingearbeitet, daß fie bei- 
nabe Leib und Geift verloren bat. Der Baftor repräfen- 
tirt in der Meinung ver Leute Niemanden mehr als fich 
feibft.”) In ben meiften Gemeinben, jagt Moll, wird jebe 
Gemeinſchaft mit dem Geiftlichen gefürchtet nnd gemieden, 
oder das Bebürfniß verfelben gar nicht gefühlt ober ver- 
flanden. Vertrauen genießt er nicht; die allgemeine Auf- 
forberung, welche der Agende gemäß an vie Verfammelten 
gerichtet wird, fich iu geiftiger Bedrängniß an ven Pfarrer 
zu wenven, wird faft von Niemand befolgt.) Es befteht, 
äußerte Jaſpis auf dem Rirchentage zu Hamburg im Jahre 
1858, eine entjegliche Scheidewand zwifchen den Seelfor- 
gern und Gemeinden, fo groß, daß bie und ba manche felbft 
ernftere Geiftliche Alles verloren geben, nichts mehr wagen.‘) 
Ein Jahr früher hatte der Dekan Rind auf dem Kirchen⸗ 
tage zu Stuttgart die bitteren Worten gefprochen: Durch⸗ 


1) Verhandlungen ©. 432. 
?) Sengflenberg’s 8. 3. 1857, ©. 690. 

-?) Die gegenwärtige Noth ber evang. Kirche Preußens. ©. 11. 26. 
) Verhandlungen, herausgegeben v. Biernagli. ©. 8. 

v. Döllinger, Papftthum. 30 


466 





gängig müffen wir den geiftlichen Stand ber Neuzeit an 
Hagen, er Hat fich ver lebendigen perfönlichen Einwirkung 
auf Seelen und Familien felbft auf dem Lande zu fehr 
entzogen, fich die Seelforge aus der Hand winben laſſen.) 
„Uns Geiftliche, fagte ein angefehener Wiürtembergifcer 
Theologe zum Profefior Schaff, betrachtet das Volk jet 
als königliche Beamte und fchwarze Bolizeiviener.“”) 

So weit geht vie völlige Entnnithigung, das Verzwei⸗ 
feln an ber Möglichkeit eines fruchtbringenden Wirtene, 
daß bie Frage aufgeworfen wird, ob man heutzutage Im 
Rirchenbienfte bleiben: bürfe, over ob man denſelben noth⸗ 
mweubig verlaffen müffe. Der Superintenbent Thym weiß, wie 
er fagt, aus Erempeln und ans eigener Erfahrung, wie biefe 
Frage faft alle guten Seelen bisweilen nagt und angreift 
bie das fchrediiche Verberben unfrer Zeit recht tief einfehen, 
aber auch, wie wenig fie mit allen Arbeiten ausrichten.) 

„Die Kirche — fagt ein würtembergiſcher Geiflicher 
— iſt bis auf den Namen faft in Deutfchland verſchwun⸗ 
ven beim Wolle und bei ben Gebilveten. Die Theologen 


') Verhandlungen, &. 140. 

*) Germany, its Univerties, Theology and Religion. Edinb- 
1857, p. 116. 

3) Iſt die evangelifche Kirche Babel, und ber Austritt au® iht 
daher merläßliche Pflicht. Bon Spener, üÜberarbeitet ven 
Thym. Greifswalde 1853. 


467 





freilich ſprechen viel von bes Kirche, d. h. von ſich ſelbſt, 
und ihrer Ehre, Macht, Einkünften u. |. w. Die Leute 
gehen noch, oder auch wieder „in Die Kirche,“ aber nur 
als „Publikum,“ nicht als „Gemeinde,“ und daß fie felber 
mit die Kirche bilden und als die lebendigen Steine fich 
miterbanen follen zu einer Gemeinfchaft, das iſt allenthal- 
ben ein Ungebanfe und Unverjtand geworben. Der Eäfaro- 
papismus und noch mehr ber Bureaukratismus Hat im 
Bunde mit dem Nationalismus „bie Kirche vollftänpig auf- 
gezehrt und aus dem Sinn ber politifchen Gemeinde weg⸗ 
gewifcht; der Pietismus aber hat dabei den letten Ueberreſt 
von Kirchen⸗ d. h. Gemeinfchaftsbegriff in feine „Gemein⸗ 
fchaften“ zurücdgezogen. An die Stelle objektiven kirchlichen 
Glaubensbekenntniſſes tft allenthalben „mein fubjektiver 
Standpunkt,” mein ſouveränes Ich und der Geiſt meiner 
Zeit mit feinen Zeichen und feinen Feſſeln getreten, bie 
man lieber trägt als Ehriftt Joch und reformatorifches Be⸗ 
kenntniß.“) Nicht minder düfter lautet das Urtheil zweier 
fächſiſcher Geiftlichen: „Die Kirche weiß nichts von ber 
Noth und von den Seelenzuftänven ihrer Glieder, fie bat 
fein Auge, hat feine Hand und Herz für fie; fie hat Feine 
Beziehung zu dem täglichen Leben; fie ift ein Sonntage 
Inſtitut, welches die ganze Woche über nicht wahrgenom- 


) Schaff's Kirchenfreund, 1857, ©. 416. 
30* 


468 


‚men wird. Prebigen und Zaufen und Stolgebühren und 
theologifche® Gezaͤnk find faft bie einzigen Zeichen, an denen 
man ihr Dafein merkt.“) 


6. 


Hat man die gegenwärtige Stellung ber proteftanti- 
ſchen Geiftlichleit in Deutſchland gefchilnert, fo ift damit 
zugleich auch ver religidfe Zuftand der Laien zum 
großen Theile gezeichnet. Alles beftätigt die leivige That 
fache: die Maffen find unkirchlich; es wäre ſchwäch⸗ 
lich und thöricht zugleich, fich Darüber in fruchtlofen Klagen 
ergehen zu wollen. Man muß den Thatfachen feft ins An⸗ 
geficht bliden können.) Im weiter Kluft ftehen Theologie 
und chriſtliche Exkenntniß des Volles auseinander, bis zur 
höchſten Speculation ift jene fortgefchritten, währenp dieſe 
noh das ABC buchftabirt.”) Jeder im proteftantifchen 
Volle, Hagen die Erlanger Theologen, meint, fich feine 
Religion felbft machen zu können, feiner weiß mehr recht, 
was er zu glauben, woran er zu halten habe, und bamit 
bat das Bolt auch feinen fittlichen Halt verloren.?) 


1) Kirchen und Schulblatt von Teuſcher uns Hanſchmenn. 
Weimar, 1852, ©. 65. 

2), Sächſtſches Kirchenblatt, Vorwort zu 1860. 

) Ebendaſelbſt, 1860, Nr. 6. 

) Zeitichr. für Proteftantismus, Bd. 20, ©. 371. 


469 





Wie wird es erſt werden, wenn bie Kenntniß des wirk- 
lichen Zuſtandes der Dinge mehr und mehr in vie Kreife 
bes eigentlichen Volkes, vorläufig auch nur des gebilbeten 
Laienthums eindringt? Es Klingt parabor, ift aber eine 
jedem tiefer Blickenden fich aufdringende Wahrheit, daß bie 
allgemeine kirchliche Indifferenz der Gebildeten gegenwärtig 
bie ficherfte Schutzwehr des proteftantifchen Kirchenbeſtandes 
if. Denn wenn einmal in biefen Kreifen ein lebenbiges 
Intereſſe für religiöfe Dinge erwacht, wenn fie vie Bibel 
felber prüfen zur Hand nehmen, wenn fie nach Inhalt und 
Autorität der Belenntnißfchriften fragen, wenn fie zu willen 
begebren, wie fich denn bie jetige theologifche Wiſſenſchaft 
zur Kanzellehre verhalte, wie ihre Prebiger mit benen ans 
drer Städte und Länder zufammenftimnen, dann wird bie 
Zeit der Entpedungen, der Enttäufchungen kommen, und 
was wird dann aus dem in religiöfen Dingen fo wefent- 
lichen Gefühle der unerfchütterlihen Zuverläſſigkeit werben ? 
Sie werben dann inne werben, daß Luthers Bibel nicht 
blos von groben, finnentftellenden Fehlern wimmelt, jonbern 
baß er auch mehrmals abfichtlich im Intereſſe feiner Lehre 
bie apoftolifchen Worte entftellt Hat, daß gerabe bie Paull- 
nifchen Briefe vorzugsweife von ihm mißhandelt worben 
find.) Sie werden erfahren, daß bie große Errungen⸗ 


N) Der einzige Prebiger, von bem belannt if, daß ex in biefem 


** 
« 


470 


ſchaft ver Reformation, die proteflantifche Nechtfertigunge- 
lehre von den ungefehenften Theologen als unhaltbar auf 
gegeben, non ben Exegeten als unbiblifch gebranpmarkt wird. 
Zwar empfiehlt Nitz ſch den Theologen, die Symbole ſtill 
zu korrigiren,) aber bie Zeit kann doch nicht ausbleiben, 
wo dieſes ftille Korrigiven das Tante Geheimniß auch bed 
Bolles wird; es wird doch nicht immer verfchwiegen blei⸗ 
ben, baß kein einziger namhafter Theologe mehr fi wir 
lich an die Belenntnißfchriften bindet. 

Der erſte Prälat der fächfifchen Kirche, Liebner, hat 
kürzlich mit den düſterſten Farben ven völligen Mangel an 
hriftlicher Erkenntuiß geſchildert, „der theilweis in wahrhaft 
erftaunenswerthen Maßen gegenwärtig in der deutſchen 
evangelifchen Kirche bei ver Maſſe ver Gebildeten und Un⸗ 


Punkte offen gegen ſeine Gemeinde verfuhr, iſt der nach Ame⸗ 
rifa ausgewanderte preußiſche Prediger Ehrenfträm; dieſer 
bat feine Gemeindeglieder die griechiſche Sprache gelehrt, md 
ihnen dann nachgewieſen, mo überall Luther falſch Aberſetzt habe. 
(VBang emann's Preuß. Kirchengeſchichte III, 132.) Dagtgen 
ermahnt Palmer (omiletik, S. 803) alle Prediger naqh⸗ 
drũclichſt, dem Volke nie zu ſagen, daß dieſe ober jene Stele 
von Luther falfch Aberfet fei, dieß ſei ein Geheimniß, das Fur 
aus verichwiegen werben müfle, man folle höchftens nur dieß 
zugeben, daß bie Ueberſetzung unklar, undeutlich ſei. 
7) Deutſche Zeitſchrift, VEIT, 201. 


a1 


gebildeten vorhanden fei.”') Ihm erſcheint bie Kirche feines Be⸗ 
lenntniſſes faſt wie eine manichäiſche Welt: ein Reich des Lich⸗ 
tes, nämlich die deutſche Theologie und ihre Pfleger, und ein 
Reich der Finſterniß, nämlich bie Laienwelt, die letztere, der 
größten Maſſe nach, tief verjunfen in negative und pofitine 
Unmiffenheit, ftehen einander gegenüber. Bor Allem ift es 
bie Reformation, über welche, und ift es Luther, über ben bie 
Maſſe der Laien fich die verkehrteften Vorftellungen gebil- 
bet hat. Die Laien nämlich, das iſt doch Liebner's Gedanke, 
ftellen fich Luther als den Mann ber rettenden That vor, 
ber fie nicht nur von dem Joche ver Päpfte, Bilchöfe und 
Eoncilien, fondern, wenn auch ohne es zu wollen, zugleich 
bon der Vormundſchaft ber proteftantifchen Theologen er» 
löſt, und jedem das Necht wieder gegeben hat, nach eignem 
Ermeſſen zu glanben und zu leben. Das iſt aber nicht bes 
Luther der Theologen. 


Die Laien ihrerſeits erwiedern dieſe fehweren Auflagen 
mit einer Gegenrechnung. Wenn Liebner es ber proteflan- 
tifchen Theologie der Gegenwart als ihren hoben Vorzug 
nachrühmt:*) daß fie fich in fleter Einheit und Eontinuität 


') Zur kirchlichen Prinzipienfrage der Gegenwart; Zeugniſſe a. b. 
Sächſiſchen Kirchenregimente. Dresden 1860, ©. 19. 

) A. a. 0.6. 37. So hat auh Stahl Im vorigen Jahre in 
einer Rebe über bie kirchliche Gemeindeorbnung von „dem 


—W 


' 4R 
mit der das Schriftgange in fortfchreitender und geſteiger⸗ 
ter Entwicklung nachbenfenden und befennenden Kirche wifle, 
und daher ächt Fatholifch ſei — dann können bie Gebilveten 
entgegen fragen: habt ihr uns denn nicht felber gefagt und 
bewiefen, daß bie Reformation der tieffte, unbeilbarfte Bruch 
tft, ber jemals in die Einheit und Eontinuität der Kirche ges 
macht worden ? Iſt es denn nicht eingeftanbene Thatſache, 
baß bie Hauptlehre der neuen Kirche bis dahin völlig unbe⸗ 
kannt geweſen, daß fie nicht bie Fortbildung, fondern die Nes 
gation der bisherigen Lehre war? Iſt die Deſtruktion bed 
Primats, des Epifcopats, der ganzen KRirchenverfaffung ein 
Dieiben in ver kirchlichen Eontinnität? Iſt Zeritörung 
gleichbebeutend mit Entwicklung und Fortbildung? Ihr 
werft uns bie Nacht unfrer tbeologifchen Unwiſſenheit vor; 
aber reicht uns boch endlich einmal den Ariadnefaden, ber 
und aus bem Labyrinth des Zweifels, der Ungewißheit 
herausführe. Gebt uns doch eine Hare Antwort anf bie 
bringenbfle der Fragen: Wem follen wir glauben? bem 
einzelnen Prediger, unter deſſen Kanzel der Zufall uns 


Glauben ber Kirche, ber buch bie Iahrhunderte derſelbe IR’ 
gerebet. Wollte Stahl wirklich die Berliner bereben, ihre Bor 
fahren hätten im Jahre 1580 basfelbe geglaubt, was bort IM 
Jahre 1516 geglaubt wurbe? 





43 

geftellt bat? Dem Eonfiftorium des Landes? Der theo⸗ 
logifhen Fakultät der Landes -lniverfität? Dem ober» 
bifchöflichen Landesheren? Den ſymboliſchen Büchern, von 
denen jeder Theologe ſich emancipirt? Unſerm Privat- 
urtheil über Bibelftellen? Wir nehmen eure neueiten Bibel» 
commentere als Wegweifer zu Hälfe, und was finden wir? 
Zehn verfchievene Erklärungen einer und berjelben Stelle, 
jeve von berühmten theologiſchen Namen vertreten. Wie 
viele Deweisftellen werben nicht mehr in dem Siune geveutet, 
den bie fymbolifchen Bücher ihnen unterlegen? Wir begehren 
Drod, und ihr habt nur Steine uns zu reichen. Ihr führt 
ſtets die proteftantifche Freiheit im Munde, und es ift ein 
ehernes Joch, das ihr und auflegt, eine Geiftestnechtfchaft, 
bie ihr uns Laien zumuthet. Wir follen glänbig bie Lehren 
eined Prebigerd hinnehmen, der felber durch feine höhere 
Autorität gebunden, von Feiner umfafjenderen Lehrgemein⸗ 
ſchaft getragen if. Sagt es boch einer der Enrigen: eine 
Geſammtheit kann nicht mehr tyrannifirt werben, als wenn 
der Einzelne amtlich autorifirt wird, biefelbe unter bie un⸗ 
gemefjenfte Willlühr feiner Privatanfichten zu ftellen.‘) 

Wenn Liebner gleichwohl behauptet, feine und feiner 
Collegen Theologie trage alle Heilmittel, deren bie Zeit 
bebürfe, in ihrem Schooße, aber freilich nur als Geheim⸗ 


1) Karften, bie proteft. Kirche. S. 29, 


MA. 

lehre, fo läßt fich allerdings über dieſes Geheimniß feine Mei» 
nung bilden; indeſſen fauten bie Urtbeile Andrer über die 
Leiftungen der Theologie des Tages fehr verſchieden. So 
bat Stahl erft vor einigen Wochen erklärt: die theologiſche 
Wiſſenſchaft Deutfchlands ſei meift ein eben fo fehr ben 
Glauben wie den Unglauben veriwundendes Schwert.!) So 
haben Profeffor Krafft aus Bonn und Hofprebiger Behr 
fhlag vor der Berliner PVerfammlung ver evangeliſchen 
Allianz die moderne orthobore Theologie mit ihrem Zuräd- 
gehen anf bie ſymboliſchen Bücher ale eine Haupturſache 
ber religiäfen Ohnmacht des deutfchen Proteftantismus an- 
geflagt.”) 

Die Dibelgefellfehaften haber fett fünfzig Jahren in 
Deutſchland wie allenthalben Millionen von Bibeln auß 
geteilt. Auch der Aermſie kann ſich jetzt mit leichter Mühe 
eine beutfche Bibel verfchaffen. Die Wirkung ift aber bie, 
daß gegenwärtig nach ben Verficherungen der Prebiger fein 
Bud weniger gelefen wird, als die Bibel. „Unter hun 
dert chriftlichen Haushaltungen findet ſich Taum eine, in ber 
bie heilige Schrift noch gelefen würbe.”) Das Volk, fagt 
Güder, nährt ein geheimes Mistrauen gegen bie Schrift, 


I) Meßner’s K. Ztg., 1861, S. 377. 
2) Berbanblungen &. 187, 196. 
2) Tholud’s Liter. Anz. 1845. S. 289. 


475 


e3 weiß nicht ficher, woran es mit ihr iſt.“) Selbſt bie 
Beſten unter dem Landvolke, bezeugt ein Andrer, brauchen 
fie meift nur zur Lefung der fonn- und feittägigen Peri⸗ 
topen.) 

Gleichwohl Hat nun jüngjt eine ganze tbeologifche Fa⸗ 
kultät erflärt: Nicht auf die Lehre der Kirche bürften 
bie Prediger das Bolt vermeifen; die entfcheivende Grund⸗ 
frage fe, wie und warum zu glauben fet, und ba verführe 
man das Volk zu einen falfchen Wahn, wenn man e8 auf 
bie blos menfchliche Autorität der evangelifchen Kirche Hin 
etwas zu glauben, eine Auslegung der Schrift anzunehmen. 
lehre.“) Hienach darf alfo eigentlich kein Prediger feiner 
Gemeinde zumuthen, daß fie feine Lehre einfach annehme, 
er muß jeden auf das Selbftftubium ver Bibel verweilen; 
nur das Ergebniß dieſes Stubinms, nicht das Zeugniß jei- 
ner Kirche darf ihn zur Annahme ver chriftlichen Lehren bes 
ſtimmen. Daß hiemit wenigſtens neunzehn Zwanzigtheile 
der noch kirchengehenden Bevölkerung für glaubenslos er» 
Härt werben, daß, wenn man wirklich dieſe Theorie über 
den Glauben von den Kanzeln prebigen würde, bie Kirchen 


3) Deutihe Zeitichrift, 1855, ©. 151. 

?) Hengflenbergs 8. 3. 1852, ©. 873. 

3) Ueber die gegenwärtige Kriſis bes religiöfen Lebens. Denk⸗ 
ſchrift der Göttinger theol. Facnltät. 1864, ©. 18. 


416 

bald vollends leer ſtehen würben, barım kümmert vie 
Fakultät fi um fo weniger, als ihr hier eine gemichtige 
Autorität zur Seite fteht, die enangelifche Allianz nämlic, 
beren zweiter Artikel feftftellt, daß es das Recht und bie 
Pflicht eines jeden Ehriften fe, nach eigner Veberzeugung 
bie Schrift auszulegen. Die Theologen und Prediger, bie 
fih ſchaarenweiſe in Berlin der Allianz angefchloffen, Haben 
biefen Artikel ohne Beanſtandung hingenommen. In bie 
Katechismen ift ſie wohl noch nicht aufgenommen. Wie 
viele Laien mag e8 wohl in Deutfchland geben, welche biefer 
„Pflicht“ und ihres Umfanges gebenken ? 


7. 


Es gibt eine kleine Zahl lutheriſcher Theologen von 
der ſtrengſten Richtung, welche alles Ernſtes meinen, fo 
klaͤglich die Geftalt der lutheriſchen Kirche in Deutſchland 
fei, fo trage fie doch, und fie allein, alle Hoffnungen einer 
befieren kirchlichen Zukunft in ihrem Schoofe. Etwas gib 
fer mag die Zahl derer fein, welche ihre Erivartungen an 
die unirte Kirche Mnüpfen, und von einer großartigen Ent 
faltung verfelben in nächfter Zeit träumen. Aber nicht Be 
nige ber denkenden Theologen erkennen, daß weber Luther 
anismus, noch Calvinismus noch der aus beiden gemifchte 
Untoniemus Elemente der Dauer und einer lebensvollen 
Entwicklung in ſich trage, und erwarten daher eine Kirche 


477 


ber Zuknunft. Vorerſt nämlich muß doch jeber gläubige 
Ehrift zugeben, daß der gegenwärtige Zuſtand Firchlicher 
Zeriplitternng unmöglich der normale und fort und fort 
‚bleibende fein könne, daß vielmehr „das ver Kirche einge. 
borue Weſen ber Einheit einft die gegenwärtige, durch 
Möchte der Welt mitbebingte Zertrennung überwinden“ 
werde.) 

Zu dieſer künftigen Einheit ſoll nun auch bie katho⸗ 
liche Kirche Hinzugenommen werben, daß heißt, fie foll im 
Weſentlichen proteftantifch werden, was natürlich erforvert, 
baß ihr „fpröber“ Organismus erſt zertrümmert werbe. 
Dofür, Hofft man, werben nähere ober entferntere Ereig- 
niffe forgen. Das Richtige an dieſer Anficht tft nun aller« 
dings dieß, „daß eine Verfchmelzung ver katholiſchen Kirche 
mit ber proteftantifchen, fo daß die Eigenthümlichkeiten bei- 
ber in bie vereinigte Kirche Übergingen, unmöglich ift. Denn 
Katholifches und proteftantifches Weſen verhalten fich nicht 
zu einanber wie zwei Seiten einer Sache, bie fich wechfel- 
feltig ergänzen, und verbunden ein reicheres und harmo⸗ 
nifcheres Ganzes bilden, fondern wie Begenfähe verhalten 
fie fi; das eine ift die Negation bes andern. 

Eine Vereinigung beider Kirchen durch Verſchmelzung 
Lönnte alſo nur erreicht werben, indem bie eine aufbörte 


3) So bie Gsttinger Theologen in ihrer Erklärung, 1854, S. 66. 


418 


zu fein was fie ift, mit ihrer (latholiſchen ober proteftanti« 
ſchen) Zrabition braͤche. 

Die Aufnahme eines einzigen Princips wurde, auf ber 
einen ober auf ber andern Seite, chen bazu binreichen. 
In dem Angenblide, in welchen ver beutiche Proteftantie- 
mus 3. D. anerlenuete, daß es eine Kirche gebe in dem 
Sinne einer realen, göttlichen, mit Verheißungen und Ge⸗ 
walten ansgeftatteten Inftitution, in biefem Momente wäre 
berfelbe bereits in ven Progeh ver Katholifirung eingetreten. 
Und ebenſo würde die katholiſche Kirche an vem Tage ſich 
‚auflöfen, an weichen fie etwa ben zweiten Artifel ver evan- 
gelifchen Allianz annähme, und proflamirte: Niemanb barf 
fich mehr einer religiöfen Autorität unterordnen, vielmehr 
muß jeber feinen Glauben in letter Inftanz auf nichts 
anderes als feine eigne Auslegung ber Bibel gründen. 

Fichte ift, irre ich nicht, ver erfte, der im Jahre 1806 
den Gedanken ausfprach: es müſſe auf bie Petriniſche (la⸗ 
thofifche), und vie Paulinifche (proteftantifche) Kirche noch 
eine dritte al8 die Verflärung und Berſchmelzung beiber, 
als „bie Aufhebung ihrer Einfeitigleiten,”“ folgen, die For 
banneifche. Schelling bat dann fpäter benfelben Gebanten 
in feinen Borlefungen weiter ausgeführt, und er tft feitvem 
vielfach mit Beifall wiederholt werben. So hat 3. 9. 
Profeffor Piper auf dem Kirchentage zu Stuttgart 1857 
die Verfammlung mit der zu erwartenden Sohannesfirche 


419 


getröftet.) So bat auch Merz pie „Menſchheitslirche bes 
fiebenden Johannes,“ unb ven mit dieſer Johanneskirche 
beginnenden „vierten Umlauf ber Kirche” in Ausficht ges 
ftellt.”) 

Gleicher Geiftesrichtung fich hingehend hat Ullmann?) 
drei Hanptformen bes Chriſtenthums entbedt, bie in ber 
griechifchen, römischen und proteftantifchen Kirche ihren Aus⸗ 
druck gefunden hätten, und dann auf eine vierte hingewieſen, 
in welcher das Ehriftentgum als die Religion der Einheit 
des Böttlichen mit dem Meenjchlichen, als die volllommne, 
abfolute Religion fich geftalten werbe, als bie „Kirche ber 
Zukunft.” 

Die Vorftellung ift ohne Zweifel eine gegenwärtig fehr 
verbreitete. Zwar ift die Zurüdführung bes Gegenfates 
zwiichen Katholicismus und Proteſtantismus auf die Diffe- 
renz zwifchen Petrus und Paulus innerlih unwahr, und 
wird wohl kaum von irgend einem Theologen als zu⸗ 
läffig erfannt werben, aber das meinen allerdings auch viele 
Theologen, daß eine neue Kirche kommen werde, in welcher 
wirklich Ein Hirt und Eine Heerbe fein werde, daß biefe 
Kirche eine bon der jetigen Geftalt des Proteſtantismus 
fehr verjchiebene fein werde. 


1) Berhanblungen, ©. 48. 
2) Armuth und Chriſtenthum. ©. 88. 
3) Weſen bes Chriſtenthums. Hamburg 1849. 


10 


Wenn man, wie die Berliner deutſche Zeitfchrift thut, 
die proteftantifche Kirche der Gegenwart als „eine bem 
Sinn und Leben des Volles fremd geworbene Geftalt und 
Ruine aus vorigen Zeiten“ befchreibt,‘) oder wenn man, wie 
Schenkel, Lange, Rothe, der Anficht ifl,”) ber Prote⸗ 
ftantismus habe es noch nie zn einer wirklichen Kirche ge⸗ 
bracht, fo muß wohl eine Aulunfts- ober Johanneskirche 
in Ausficht geftellt werben, man müßte benn, wie Hafe, 
ben Untergang des Chriftentfums felbft und die Geburt 
und Herrſchaft einer ganz neuen Religion weiffagen wollen. 
Denn auch das Aufgehen ver Kirche im Staate, welches 
Rothe erwartet, würbe am Ende doch auch zu einer Zu- 
kunftskirche eigner Art, zu einem univerfalen Kirchenſtaat 
etwa führen. 

Wenn es fi nunaber darum handelt, dieſem Schatten 
der Zukunftskirche einen Körper zu geben, bann werden 
die Speologen zu Phrafeologen, ober fie mahlen ein me 
bernes taufenbjährige® Reich, und laſſen eine Schaar von 
Wünfchen und Hoffnungen gleich Schmetterlingen ausflie⸗ 
gen, „an beren Verwirklichung ber einfache Ehrift jo wenig 
als der nüchterne Menfch je glauben wird.‘“) 

2) Yalrg. 1851, ©. 804. 

?) Rothe's theol. Ethik, MW, 1012, Schenkel, das Prinzip 

bes Proteſtantismus. S. 11. Lange, Über bie Nengeſtaltung 


bes Berhältniffes zwifchen Staat und Kirche, 1848, ©. 89, 
3) Nach der richtigen Bemerkung ber Zeitichrift für luth. Theol. 


481 


In naher Verwandtſchaft mit dieſen Erwartungen einer 
neuen Kirche ſteht die weit verbreitete, im ganzen prote⸗ 
ſtantiſchen Europa ſich kund gebende Sehnſucht nach einer 
„neuen Ausgießung des heiligen Geiſtes.“ In England 
ſind eigne Gebetsvereine dafür geſtiftet. Auf dem Kirchen⸗ 
tage zu Berlin, trotz des einmüthigen Bekenntniſſes zur 
unveränderten Augsburgiſchen Confeſſion, ertönte der Ruf: 
feine Rettung ohne eine neue Ausgiekung des heiligen Gei- 
ftes! Auf den Ranzeln, in Schriften wirb ein zweites Pfingft- 
feft, ohne welches man nicht länger beftehen koönne, gewünfcht 
und daher erwartet. Selbft ein Deligfch meint:‘) Es 
bedarf einer Geiftesausgießung von Oben.” Cine folche 
Wiederholung des Pfingftereigniffes tft aber weder in ber 
Schrift verheißen, noch in dem achtzehnhundertjährigen 
Beſtand der Kirche jemals eingetreten, begehrt ober ge- 
hofft worben.?) 


1857, &. 311. Die Zukunftskirchen, jagt Rudelbach, eben 
daſelbſt 1858, S. 190, find eine acabies ber Zeit, fie tragen 
alle das Charalteriſtiſche biefer Krankheit an fi, nämlich das 
innerliche Berzehrtwerben und den äußerlichen Kitzel. 

1) Erlanger Zeitfhrift für Protefl. 1868, S. 305. 

?) Alfo wenn das ernft gemeint ift, fagt Hafe bierliber, ftellen 
fie ihre letzte Hoffnung auf ein Wunber, wie e8 feit ben Zeiten 
ber Apoſtel nicht geſchehen if. Darin ift nur die Verzweiflung 
ausgeiprochen, ihre Sache auf dem Wege ber gefchichtlichen 

v. Dölinger, Papſtthum. 31 


Neben den Hoffnungsreichen, welche einer neuen Kirche 
und einem zweiten Pfingfifeft als Geburtötag ber neuen 
Kirche entgegenfeben, ſind indeß auch biejenigen zahlreich, 
welche, Heinmüthiger ober weniger fchwunghaft in ihren 
Hoffnungen, die Nähe des Weltendes und vie Wieberfunft 
Jeſu Ehrifti entweder zum Gericht ober zur Eröffnung bes 
taufenpjährigen Reiches verfünbigen. 

Wenn überhaupt die Erwartungen eine® taufenbjähri« 
gen irdiſchen Neiches Ehrifti wieber, und, troß ber augs⸗ 
burgifchen Confeſſion, gerade unter ven Lutheranern ber- 
vorgetreten find,') fo tft e8 im Grunde nur bie Verzweif⸗ 
lung an jedem Befferwerben, die Wahrnehmung ber ums» 
aufhaltfamen kirchlichen Auflöfung,. welche viefem Wahn 
wieder Eingang verfchafft. Geiftliche und Theologen, welche 
als rathlofe Aerzte am Krankenbette ihrer Kirche ftehen, 
find fo zu fagen geborne Chiliaften. Da Heißt es: „Die 
Zucht des Glaubens hat keinen Halt mehr weber oben noch 
unten — felbft die einfache aber treue Prebigt des Evans 
gelium® begegnet maſſenhaftem Widerwillen, oder maflen- 
bafter Gleichgiltigkeit."”) Oder man fieht mit Rudelbach 


naturgemäßen Entwicklung durchzuführen, auf welchem Chriſtus 
feine Kirche durch 18 Jahrhunderte geführt hat. Prot. K. 3. 
1856, &. 1161. 

?) Neuerlih von Leſſing, Florke, Karſten n. A. 

°) Sengſtenberg'e K. 3. 1869. Seite 1181. 


· 
are” 
4 
« 


— — — — 


in dieſer Zeit, „wo eine Burg der lutheriſchen Rechtgläu⸗ 
bigfeit nach ver andern flürzt, und im eignen Lager (ver 
Zutberaner) eine fo tiefe Zerklüftung fich zeigt, dem „großen 
Abfall” entgegen, der in dieſer Zeit heranreift.“) 

So ſuchen denn Viele Heil und Troft in neuen Deus 
tungen ber Apofalypfe, in der Hinweifung auf das bem- 
nächft anbrechende taufenbjährige Neich, wo kann Alles, 
was bem heutigen Proteftantismms mangfe, in reicher Fülle 
im gefchenkt, alles Krumme gerade werbe gemacht werben. 
Da hat Auberlen neuerlich entvedt, daß vie ganze ficht- 
bare Kirche, auch ber proteftantifche Thetl, zur apofalypti« 
ſchen Hure geworben fel, und daß daher nichts übrig bleibe, 
als das Millennium abzuwarten,?) und ein Andrer, N &- 
gelsbach, ift num entzädt über den von Auberlen an’s 
Licht gebrachten „Zroft für Alle, welche einerſeits der Kirche 
gern helfen möchten, andrerſeits aber feine Möglichkeit gründ⸗ 
licher Abhilfe abſehen,“ es gilt ja demnach nichts zu thun, . 
fondern blos zu warten.?) 

Andre, wie Baumgarten, geben zu, bie jebige 
Kirche ſei von Grund aus verkehrt, tröften ſich aber mit 


3) Zeitſchrift für Inth. Theologie, 1869, 256. 
?) Der Prophet Daniel und bie Offenbarung Johannis, 1864, 
©. 294. 
3) Henter’s Nepertor. Bb. 92, &. 204, und noch einmal Bd. 
103, ©. 86. 
31? 


484 


ber Ausficht auf eine baldige Belehrung bes Judenvolles. 
Die ganze bisherige kirchliche Entwicklung ſei, behauptet 
Baumgarten, nur eine große Verirrung der zum Staats⸗ 
kirchenthum entartete Heibenficche; das befehrte Iſrael aber 
ſei beftimmt, für alle Wölfer das „erlöfende und heiligenbe 
Haupt zu werben,”') und werde einft wieder blutige Opfer 
im Tempel zu Verufalem barbringen. Beftimmter noch 
verfünbet ein Andrer, daß ein irbifcher von Chriſtus als 
Tröfter geweiſſagter Meſſias demnächſt erfcheinen wird, 
Wir ftehen, weiß er, im Jahre 5976 der Erldfung, und im 
Yahre 6000 erfolgt die erfte Auferftehung und das taufend- 
jährige Neich.*) 

Endlich Hat auch noch der gegenwärtige Minifter des 
Kirchen und Schulwefene in Preußen, v. Bethmann⸗ 
Hollweg, kurz vor feiner Erhebung feine Verzweiflung 
wie feine chiliaftifche Hoffnung ausgefprochen:’) „Den Apo⸗ 
fteln Petrus und Paulus, deren jeder feine Kirchenzeit ge 
habt, muß Johannes folgen. In Staat und Kirche zeigt 
fih das Wiberfpiel des behaupteten Fortſchrittes: Auflöfung 


) Hengftenberg’s 8. Ztg. 1859, &. 697. 

) EChrifianus, das Evangelium bes Reiches, Leipzig 1859. 
Der Verfaffer verfihert, die Werke bes Erlanger Theologen v. 
Hofmann vorzugeweife benützt zu haben. 

2) In Gelzer's Monatsblättern, 1858, 8b. 11 &. 136. 


485 


in Staat und Kirche, Verfall der organifchen Formen und 
Unfähigkeit der Zeit neue zu fchaffen. Gott will vie Hätte 
abbrechen. Beide, Staat und Kirche, müſſen in ihrer zeit 
lichen Geftalt zerträmmern, damit bas Königreich Jeſn Chrifti 
über alle Bölfer aufgerichtet werde, die Braut des Lammes, 
die vollendete Gemeinde, das neue Iernfalem vom 
Himmel berablomme.“ 

Kurz vorher hatte ein anbrer preußifcher Staatsmann 
feinen proteftantifchen Lefern zugerufen: fie follten ſich ab- 
wenden von den falfchen Propheten, welche das Enbe ber 
Welt verkündigen, weil fie an's Ende ihrer eignen Weis⸗ 
beit gekommen find.') 


Die Schilderung ver kirchlichen Gegenwart erheifcht, 
baß der Stellung, welche der Proteftantismus in Deutfch- 
land zur Fatholifchen Kirche einnimmt, noch mit einigen 
Worten gebacht werbe. Die Angehörigen beider Confeſſio⸗ 
nen mifchen und burchbringen fi in ganz Deutjchland 
immer mehr, in gleichem Schritte wachfen und mehren fich 
bie geiftigen Berührungen; überall ftellen fich proteftantifche 
Kirchen und Gemeinden neben katholiſche und umgelehrt. 
Selbft im äußerften Norden wie im Süden fann die Zu- 


N) Bunfen, Gott in ber Geſchichte. I, 183. 


— ⸗ 

laſſung bes frembden Belenntniſſes nur noch eine Frage 
ber Zeit fein. Weber die Stellung, welche den Katholiken 
einzunehmen ziemt, werbe ich an anbrem Orte reden. Hier 
ift e8 die Haltung, welche die Firchlichen Führer und Spres 
her des Proteftantismus ihrer Kirche gegen die Fatholifche 
anmweifen, und bie Haltung, in welche fie felber fich verfegen, 
bon der zu reben ft. 

Man Tann fagen: ber ganzen auf Erwedung eines 
religiäfen Lebens und kirchliche Reftauration gerichteten 
Dewegung liegen Tatholifche Tendenzen zu Grund. Der 
Beobachter empfängt den Einbrud, als ob eine Anzahl von 
Männern fi in einem engen, Iuft- und lichtlofen Raume 
unbehaglich befände; fie verfuchen bald viefe bald jene 
Thüre zu öffnen, um frtfche Luft und Lebenskraft herein 
zulaffen, aber bei jedem Anfage, ertönt ein Chorus geiftlis 
cher und weltliher Stimmen: Weg mit dem Miasma, ber 
dumpfen Grabesiuft aus dem alten mobrigen Gewölbe! 
Mit dem Vorwurf, ihr Tatholifirt, haben die Gegner im 
Klerus, mit dem Rufe: man will uns Tatbolifch machen, 
haben die Maffen feit zwanzig Jahren jede verfuchte Kräf 
tigung, Bereicherung, Berichtigung im Dogma, im kirch⸗ 
lichen Leben, im Gottespienfte zurüdgewiefen. Daß dieſe 
abwehrende Haltung dem proteftantifchen Geifte, wie er ſich 
aus,feinen Prämiffen naturgemäß entwickelt Kat, entſpreche, 
wer wollte das läugnen? „Der ganze Proteftantiemme, 


487 


ſagt Stahl, befindet fich fortwährend in der Stellung bes 
Borgheſiſchen Fechters. Es ift ein beftänbiger Ausfall, 
ein äußerftes Anfpannen aller Sehnen und Muskeln gegen 
Rom. Die ganze Energie ift darauf gerichtet, römiſch⸗ 
Tatholifche Lehre und Weife nicht auflommen zu laffen, ver 
geringfte Anfak dazu erregt mehr Abfcheu, als vielleicht 
große Ueberfchreitung nach der andern Seite‘) u. f. w. 
In den Jahren 1848 — 1861 ließen manche Zeichen 
auf eine Annäherung beider Eonfeffionen fchließen, e8 fchten als 
ob beide, die trennenden Motive und Lehren nicht gerade her⸗ 
vorlehrend, fich zur gemeinfchaftlichen Beſchirmung und Forts 
bildung der fittlichereligiöfen Grundlagen im ftaatlicden und 
geiellfchaftliden Leben die Hand reichen könnten und wolls 
ten. Auf den Landtagen einzelner Länder hatte ein folches 
Zuſammengehen gläubiger Proteftanten und Katholiten fich 
günftig erprobt; es hatte fich gezeigt, daß in ben meiften 
Meaterien die Alternative nur lautete: Chriftenthum ober 
Atheismus, und daß eine confeffionelle Sonderftellung in 
ber Mehrzahl der Fragen vermieden werden könne. Da kam 
der Kirchentag in Bremen, und es mußte einen tiefen Eins 
drud im ganzen fatholifchen Deutfchland machen, als bie 
große Majorität einer Berfammlung von Profefforen und 
Geiftlichen ſich mit fo tiefer Berbitterung, mit folder Energie 


) Die Intbherifche Kirche und die Union. Berlin 1869, ©. 456. 


— 
des Haſſes gegen bie Kirche ausſprach, welcher ber größere 
Theil der deutſchen Nation, die Mehrzahl alter Getauften 
angehört. Eine befonvere Veranlaffung von Tatholifcher 
Seite war nicht vorbergegangen; bie Gelegenheit zu folchen 
Ergüffen fchien wie vom Zaune gebrochen. Und nun faßte 
man noch einftimmig ben Beſchluß: der Ausbrud dieſes 
eonfefltonellen Hafjes folle in jeder deutſchen Gemeinde zu 
einem bleibenden Beſtandtheile bes Gottesdienſtes gemacht, 
an jebem Orte folle wieder wie ehemals gefungen werben: 
„Und ſteur' des Papſts und Türken Mord!“) Die ras 
tionafiftifche Zeit hatte dieſe Worte geändert, die wieder 
gläubig geworvenen Theologen und Paftoren erachteten es 
als eine dringende Aufgabe, fle wieder dem Wolfe auf bie 
Lippen zu legen. Andeutungen über bie wahrſcheinlichen 
oder nothwendigen Folgen dieſer Dinge, über ihre Beveu- 
tung als pathologiſche Symptome gehören nicht hieher, ftatt 
berfelben mögen zum Schluße zwei Aeußerungen von Mäns- 
nern bier ftehen, bie beide von ver Höhe ihrer früheren 
amtlichen Stellung berab Inftitutionen und Perfonen gründs 
lich zu kennen und zu wilrdigen bie befte Gelegenheit. bes 
faßen, beide zu den entfchiebenften politifchen Gegnern ber 
Yatholifchen Intereffen gehört Haben, beide eifrige Freunde 


1) Berhandlungen, S. 152. 


_ 

und Förderer ber evangelifchen Kirche find. Es find dieß 
der Bräfident von Gerlach und der geheime Rath Eilers. 
Jener fagt: „Wir fehen täglich, wie gering im Vergleich 
mit der Macht der Tatholifchen Kirche der Einfluß ift, ben 
die enangelifche Kirche auf die Erleuchtung und Heiligung 
des Volkes im Großen und Ganzen und auf die Mehrzahl 
ihrer Glieder übt. Die Urfache ift nicht weit zu ſuchen.“) 

Letzterer, befanntlich einer der einflußreichften Beamten 
bes Minifteriums Eichhorn, der feiner Zeit gleichzeitig bie 
Leitung von drei ber Belämpfung ber Tatholifchen Kirche 
gewinmeten und von ber Regierung fubventionirten Zeit 
fhriften in feinen Händen Hatte, gefteht: „Ich Hatte ben 
Zuſammenhang des chriftlichen Lebens in der Tatbolifchen 
Bevölkerung mit den Einrichtungen und Gebräuchen ber 
tatholifchen Kirche kennen gelernt, und mich widerſtre⸗ 
benden Herzens überzeugen müffen, daß im Allgemei⸗ 
nen mehr Chriftliches in ver beſtehenden Tatholifchen als 
in ber beſtehenden evangelifchen Kirche lebt. Es Hatte fi 
mir als eine ausgemachte Thatfache ergeben, daß die evan- 
gelifche Geiftlichlett im Allgemeinen in aufopfernver pfarre 
amtlicher Wirkſamkeit weit hinter ver katholiſchen zurückſtehe.“) 


) Attenftüde aus ber Verwaltung des evangel. Oberkirchenraths, 
Berlin 1856. III, 428. 

2) Eillers, meine Wanderung durch's Leben. Leipzig 1857, II, 
©. 266. 





4% 

Wenn zwei Männer des Laienſtandes fich in fo billi⸗ 
gem, verföhnlidem Sinne ausiprechen, follte nicht auch bie 
Zeit kommen, vielleicht nahe fein, wo Pretiger und Theo⸗ 
logen einer milderen Gefinnung Raum geben, wo fie er⸗ 
fennen werben, baß bie katholifche Kirche In Deutfchland 
im Ganzen und Großen nur gethan, was fie nicht laffen 
Tounte. Alle Vorwürfe und Anklagen gegen diefe Kirche 
laufen zulett doch darin zufammen, daß fle eben vie ihr 
unter dem Namen ber Reformation gemachte Zumuthung, 
mit ihrer Vergangenheit zu brechen, zurückgewieſen bat, daß 
fie ihrer Ueberlieferung treu geblieben ift, auf ihrer Grund⸗ 
Inge beharrend fich mit innerer Negelmäßigkeit entmwidelt 
Bat und auch fernerhin, an der ununterbrocdenen Stetig- 
keit des Tirchlichen Lebens und dem Zuſammenhange mit 


den andern Thellen der Kirche feſthaltend, ihre Aufgabe zu 
erfüllen gebentt. 


Der Kirchenftaat. 


1. Bie Päpfte und der Kirchenflant bis zur frauzöffchen 
Revolntion. 


Bis zum Sturze des weitrömifchen Kaiſerthums waren 
die Päpfte Untertbanen ver römifchen Raifer. Ste flanden 
dann feit dem Ende des 5. Jahrhunderts in demſelben Ver⸗ 
bältniffe zu den oftgothifchen Königen von Italien, und 
einer von ihnen, Johann I, mußte in dem Kerler flerben, 
in den ihn König Tcheoberich Hatte werfen laſſen. ALS das 
oftgothiiche Reich den Byzantiniſchen Waffen erlegen war, 
wurden die Päpſte Untertbanen ber oftrömifchen Sailer. 
Zuweilen von dieſen fchwer mishandelt, gewannen fie boch 
in der ſchwierigen Stellung zwifchen Conftantinopel, dem 
Erarchen und ben nach dem Beſitze Roms lüſternen Longo⸗ 
barben ftetig an Macht und Einfluß in Btalien. Am Ende 
des 6. Jahrhunderts war der Papft bereits der reichite 
Lanpbefiter in Italien. Große Patrimonien, in der ganzen 
Halbinfel zerftreut, auch auf Sicilien, Sardinien, Corfica, 
felbft in Frankreich, von geiftlichen Nectoren verwaltet, fe- 
ten den Papſt in den Stand, vie Benölferung Roms zu 
ernähren, den Longobarden Friedensgelder zu zahlen. 


494 


Gregor der Große übte auf feinen zahlreichen Gütern eine 
gewiffe Jurisdiction, beauffichtigte die Eaiferlichen Beamten, 
und in dem Maße als die oftrömifche Macht erlahmte, als 
das Erarchat ven ſtarken Longobarden gegenüber fich faum 
zu behaupten vermochte, erhob fich von felbft bie natürliche 
Macht des Papftes, fiel ihm auch bie weltliche Herrichaft 
in Rom zu, nicht als ein ehrgeizig gefuchter Befig, fondern 
als eine Sache der Noth und Pflicht. Selbft als Kriege 
herren mußten bie Bäpfte handeln, Schlöffer anlegen, Trup⸗ 
pen anwerben und beren Offiziere ernennen. 

Der Bilderftreit und der dabei grell bervorgetretene 
kirchlich⸗ politifche Despotismus der neuen byzantiniſchen 
Soldatenkaiſer führte zum Bruche zwifchen Nom und Con⸗ 
ftentinopel, viefer zum Verluſte der reihen Patrimonien 
in Sicilien und Unteritalien, die Kaiſer Leo gewaltfam bem 
päpftlichen Stuhle entriß. Bald erlangte dieſer reichlichen 
Erſatz. Der Longobarvenlönig Luitprand fchenkte mit einer 
diefem Fürften fonft nicht eigenen Großmuth einen Theil 
des füblichen Tookana ber Kirche des Heiligen Petrus, und 
ber Srantenlönig Pipin übergab in gleicher Weife bie don 
ihm eroberten Lanpfchaften Emilia, Flaminia und Penta⸗ 
polis, d. h. das Küflenland von ver Pomünbung bis nad 
Ancona bin, und zſtlich vom Rücken der Apenninen und dem 
Reno. Der Papſt ſeinerſeits verlieh, obgleich er und die 
Romer die byzantiniſche Oberhoheit damals noch theoretiſch 


468 


anerkannten, dem Frankenkönige und deſſen Söhnen das 
römiſche Patriciat, d. h. die Schirmvogtei über Rom und 
den päpftlichen Stuhl. 

Obgleich Pipin die Schläffel der Städte des Erarchats 
auf den Altar des Hi. Petrus zu Rom hatte legen laffen, 
tonnte der Papſt doch noch Feine wirkliche Herrfchaft in 
venfelben ausüben; vielmehr machten ſich Sergius und nach 
ihm Leo, Exrzbifchöfe der reichbegüterten Kirche von Ravenna, 
zu Gebietern des Erarchats. Auch durch Karl’s Siege und 
erneuerte Schenkungen gelangte der päpftliche Stuhl nicht 
zur eigentlichen Negierungsgewalt über jene Gegenven; bie 
fräntifchen Könige bewilligten ber römifchen Kirche die Ein- 
ünfte ver Ländereien, bebielten ſich aber vie Oberhoheits⸗ 
rechte vor.) Karl betätigte wohl die Schenkung feines 
Baters, fügte auch in den folgenden Jahren neue Batrimo- 
nien und Einkünfte hinzu, übergab dem Papfte tosfanifche 
Städte, und wir ſehen fpäter, feit 780, ven Bapft im Befite 
per Herrichaft über Ravenna, dabei aber auch eine Ober- 
herrlichkeit Karls durch raſche Vollziehung Töniglicher Be⸗ 
fehle anerklennend.“) Die Stadt Rom gehorchte dem Papſte, 
aber dieſer begehrte ſelbſt die militäͤriſche und richterliche 
Gewalt in den Händen Karls als Patricius zu ſehen, forgte 


!) Vesi Storia di Romagna, 1, 394. 
®) Cod. Carol. 67, ap. Cenni Monum. 81, p. 489. 


436 


felber dafür, daß das römifche Volt dem Könige den Eid 
ber Treue und des Gehorfams fchwur. 

Erft durch Karls Uebernahme des Kaiſerthums und 
die Errichtung oder Herftellung des abenplänbifchen Reiches 
warb bie weltliche Stellung des Papftes Marer und fefler. 

Der Schatten der byzantinischen Oberhoheit verſchwand 
nun. Rom gehörte jetzt zum Neiche, der Papſt und bie 
Römer leifteten dem Kaifer ven Eid der Treue. Wie ber 
Kaiſer vor Allem Schutzherr der Kirche fein follte, fo ftanb 
nun auch der weltliche Beſitz des Papſtthums unter befon- 
derem kaiſerlichen Schuge, aber auch unter Taiferlicher 
Oberhoheit. Die Gränzen zwifchen dieſer unb der päpft- 
lichen Landesheit waren wohl nie genau gezogen. Das 
italiänifche Königthum, das Karls Sohn Pipin erhielt, blieb 
auf das ehedem longobarbifche Nord» und Mittelitalien 
beſchraͤnkt. In Rom und dem römifchen Gebiete blieb die 
fatferliche Oberhoheit, vie durch Bevollmächtigte oder Send⸗ 
“boten (Miffi) ausgeübt wurde. Da fie eine höhere In⸗ 
ftanz über den vom Papſte ernannten Beamten, bie in ben 
Städten feiner Herrihaft Duces hießen, bilveten, unb 
biefe beauffichtigten, fo verfügte Kaifer Lothar im Jahre 
824, daß diefe Miſſi gemeinfchaftlich von Papft und Kaifer 
ernannt werden und jede Nachläffigkeit der päpftlichen Be 
amten (Duces und Judices) zuerft an den Papft berichten 
follten. Beide Gewalten, bie päpftliche und die kaiſerliche, 


— — 


umterftäßten fi) wechſelſeitig, ver Papſt ließ das römiſche 
Bolt dem Kaiſer Treue ſchwören, und der Kaiſer drohte, 
wie Lothar that, jedem mit feiner Ungnade, der nicht in 
allen Dingen dem Papfte Gehorſam beweifen würde. Die 
Urkunden wurden nach den Negierungsjahren des Kalſers 
datirt, die zömifchen Münzen trugen fein Bild. Daß die 
Wahl des Papftes, die durch bie geiftlichen und weltlichen 
Großen in Rom geſchah, der Beitätigung des Kaiſers un- 
terliegen folle, ftanb feft, und war au fich zwedmäßig als 
Bürgichaft für die Wreiheit und Regelmäßigkeit des Wahl- 
altes. Aber die ferne des Kalfers, die lange Verzögerung, 
und das Intereffe der römifchen Parteien, Alles dieß führte 
dazu, daß man fich häufig darüber wegſetzte. 

Diefer georbnete, dem päpftlicden Stuhle fo günftige 
Zuftand war von nicht langer Dauer. Das Carolingifche 
Haus und feine Macht ging burch inneren Zwieſpalt, durch 
Bruberfrieg und ftete Erbtbeilungen zu Grunde, ohne baß 
fofort eine andere ſtarke Dynaftie an beffen Stelle getreten 
wäre. Der Glanz des Kaiſerthums erbleichte; in ver Perfon 
Ludwigs II. war es fchon auf Italien beſchränkt, und bes 
ſaß fchon nicht mehr die Kraft, Rom und bie Halbinſel 
gegen bie vom Süden her vorbrängenden Saracenen zu 
fügen. Als mit dem Tode des Finverlofen Ludwig das 
Erbfaiferthum ein Ende nahm, und die Päpfte durch ihre 


Krönung über die Kaiſerwürde ohne Rüdficht auf die Erb- 
». Döllinger, Papftihum. 32 


498 


folge entfchteven, war dieß zwar ein höchft wichtiger Schritt 
zue Hebung ber päpftlicden Autorität, für jet aber zog 
weber Italien noch der Papft Nuten von obnmächtigen 
Schattenkaifern. Der waffenlofe Bapft konnte nicht hindern, 
aß feine Stäbte ihm und ber römtfchen Kirche von ita- 
lieniſchen Fürften entriffen wurden. Schlimmer noch war 
das jetzt durch Teine Träftige Kaiſerhand mehr gezügelte 
Treiben der römifchen Adelsparteien, die, ver Wahl fih bes 
mächtigend, den Stuhl Petri mit ihren Werkzeugen zu bes 
fegen, für ihre Zwede auszubeuten trachteten. 

Sp begann mit dem Ausgange bed neunten Jahrhun⸗ 
derts die trübe, anarchifche Zeit des 'entwürbigten, von ben 
mächtigen Laien mißhandelten Papſtthums. Dem römifchen 
Klerus fehlte es damals an einer feiten Organifation, je 
denfalls zeigt er fich dem Adel gegenüber völlig ohnmächtig. 
Raſch wechfelten vie Päpfte; fie wurben von ver einen Fak⸗ 
tion erhoben, von ber andern geftürzt, eingeferfert, ermor- 
det. Die Römer tbhaten, was fie konnten, das Papftthum 
zu Grunde zu richten, aber bie moralifche Kraft ver JInſti⸗ 
tution war unverwäftlih. Bon bem durch bie früheren 
Päpfte und Kaiſer gefchaffenen Kirchenftante waren nur 
Trümmer noch übrig. Die Städte der Romagna mußten, 
als die Einbrüche ver Ungarn begannen, ſich ohnehin felber 
helfen. 
Zu Rom berrfchte nach einem räntenollen Weide, Ma⸗ 


499 


rozia, ihr Sohn Alberich durch Familienmacht, Reichthum und 
Beſitz der Engelöburg, als „Fürft und Senator aller NR» 
mer“ mit unumfchräntter Gewalt bis 954. Exarchat und 
Pentapolis waren in ber Gewalt Berengar’s, Königs von 
Stalten. Alberich muß aber felber gefühlt haben, daß ein 
weltliches Fürftenthum in Rom nicht von Dauer fein könne; 
er ficherte daher feinem jüngern Sohne und Erben Octavian 
die Erwählung zur Papſtwürde. So hatte Rom in ber 
Berfon Detavian’s oder Johann's XII. wieder einen geifts 
lichen Fürften, die Kirche aber einen nichtswürbigen Papft. 

Da erfcheint, vom Bapfte felbft gerufen, ver beutfche 
König Otto der Sachfe, wirb ber zweite Wiederheriteller 
des abenblänbifchen Kaiſerthums, welches nun an bie beut- 
Ihe Nation übergeht, und übt fofort in Nom und bem 
Papfte gegenüber vie Kaiferrechte im weiteften Umfange. 
Er läßt Johann XII. durch eine Synode abfeßen, Leo VIII. 
an beffen Stelle erwählen, und als die Römer noch einmal 
durch die Erhebung Benedikts V. fich des päpſtlichen Stuhls 
zu bemächtigen trachteten, läßt er auch diefen abjegen und 
in's Exil nach Deutfchland führen. Don wahrhaft freier 
Papftwahl war in biefer Zeit und bem ganzen folgenben 
Sahrhunderte nicht die Rede. In Rom wie außerhalb Roms 
beitand nichts, worauf der Papſt fich Hätte ftügen können; 
ohne den Kaifer war er ein Spielball in den Händen ber 


übermüthigen Adelsfaktionen. Jedenfalls gaben die von ihren 
32” 


0 


Bifchdfen und geiftlicden Kanzlern berathenen Kaiſer ber 
Kirche würbigere Päpfte, als die römiſchen Häuptlinge, für 
welche außer ber eignen Herrichbegier feine Rüdficht be⸗ 
ftand, und die mitunter den Unwürdigeren gerade darum 
vorzogen, weil er ein um fo gefügigeres Werkzeug zu wer- 
den verſprach. 

Gleich nach Otto's I. Tode brach das Unweſen ver 
Anelsfaktionen wieder los. Zwei Parteien, die Sabinifche 
und die Zufeulanifche, rangen um die Gewalt; die Päpfte 
wurben wieber bald von ber einen bald von ber andern Partei 
erhoben, nach kurzer Zeit verbrängt, und endeten burch Worb 
ober im Kerker. Erft ale Otto III. feinen Vetter Bruno, 
bierauf ven berühmten @erbert, als Bäpfte einfegte, und fie 
mit Waffengewalt ſchirmte, Tonnte das Papſtthum wieder 
zu einigem Anſehen und Einfluß auf die Kirchenangelegen⸗ 
heiten gelangen. 

Seit dem frühen Tode Gerberts oder Sylveſters II. 
tft e8 das Tufeulanifche Haus, mwahrfcheinlih von jenem 
Alberich, dem Beherrſcher Roms, abftammend, welches, im 
Beſitze der Herrfchaft in Rom, auch über den päpftlichen 
Stuhl verfügt. Ein Papft diefes Haufes, Benedikt VILI, 
deffen Regierung, obwohl fie nur zwölf Jahre währte, hoch 
in 200 Jahren bie längfte war, zu ber e8 ein Papft brachte, 
konnte wohl, durch feine Familienmacht getragen, unb von 
Kaifer Heinrich IL kräftig unterftügt, in Rom als Herr 


501 


gebieten, und in Sachen ver allgemeinen Kirche wieber mit 
Kraft und Autorität auftreten. Aber fein Bontificat diente 
wieber dazu, die Macht feines Haufes zu befeftligen, und 
nach feinem Tode folgten zwei Päpfte besfelben Haufes, 
fein Bruder Johann XIX., und fein Neffe Benedilt IX. 
AS die Lafter des letztern unerträglich geivorben, und das 
Unbeil einer Spaltung noch zu der Schmach und Erniebri- 
gung ber Kirche hinzugefügt Hatten, da brachte enblich 
Deutſchland gründliche und dauerhafte Hülfe. Heinrich's III. 
ftarfer Arm und die beutfchen Päpfte, die er der Reihe 
nach ver Kirche gab, reinigten und erhoben den befledten und 
entwärbigten römifchen Stuhl. Die dringend gewordene allges 
meine Reformation des Merus, welcher bieCongregation von 
Clumy bisher vorgearbeitet hatte, konnte nun begonnen werben. 
Der größere Theil des Kirchenſtaats war in biefer 
ganzen Zeit (db. 5. von 850 bis 1050 over 1060) in Laien⸗ 
hänve gerathen. Ravenna fammt Geblet und die Städte 
ber PBentapolis waren kaiſerlich. In Sabinum und Praͤ⸗ 
nefte faß ein Zweig des Erefcentifchen Haufes.‘) Das füb- 
liche Tuſcien und die Marken Spoleto und Camerino befaß 
Hugo der Große, Herzog von Tuſcien, doch flelen fie bald 
an den Kaiſer zuräd. Die Einkünfte des vömifchen Stuhle 
beftanden aus Gefällen von einigen Lehensträgern. 


N) ©. Sfrärer’s Papſt Gregorius VIL V, 597. 


\ 


602 


Einiges Licht auf den Stand ver Dinge am Schlaffe 
bes zehnten Jahrhunderts wirft bie Schentungsurkunde 
Otto's III. vom Jahre 999.') Der Kaifer rügt bier in 


3) Ueber die Wechtheit dieſes fo viel (zulett noch von @Wilmans, 
Jahrbücher bes deutſchen Reiche, U, 2, ©. 233 — 43) be 
firittenen Dokuments, (ap. Ports, Mon. Germ, IV, B. 162). 
bege ich feinen Zweifel, und bin alfo mit Muratori, Berg, 
Gieſebrecht, Ofrörer, Sregorovius, bie fich gleichfalls für 
bie Aechtheit entfehieben haben, gegen Baronins und Pagi 
einverſtanden. P. Spivefter felber klagt in bem Lehentdiplom 
von Terracina vom Jahre 999 barliber, baf die Päpfte Eigar- 
thum ber romiſchen Kirche verfchleubert hätten, cum lucris 
operam darent et sub parvissimo censu maximas res eecle 
sise perderent. ap, Contatore hist. Terracin. p. 41. 
Und.die acht Eomitate werben in einem Schreiben Dito’s an 
den Papft als: qui sub lite sunt, erwähnt. (Gerberti 
epistolae, p. 70), Er habe fie, fagt ber Kaifer, bem Marl 
grafen Hugo von Xufcien, ber zugleich bie Grafichaften Spo⸗ 
Ieto und Camerino befike, aus Liebe zum Papfte übergeben, 
damit das Volk einen Regenten habe und ber Papft durch dem 
felben bie ihm gebührenben Dienfte und Leiftungen von beit 
Eomitaten empfang. Man flebt, wie bamals ſolche Schen⸗ 
tungen verftanden wurben. Die Päpfte follten und konnten 
bie gefchentten Gebiete nicht unmittelbar regieren, fonbern bie 
servitia berfelben (Abgaben in Gelb ober Naturalien und Kriegt⸗ 
bienft im Fall des Angriffe) genießen. Dabei follte bie far 
ferliche Oberhoheit Über bie gefchentten Gebiete fortbefehen. 
Die Gründe für die Wechtheit bes Documents, bie Giele 
brecht und Gfrörer angeführt haben, laſſen fi) noch ver⸗ 
mehren. 


8 


fcharfen Worten die Sorglofigfeit uud Unwiffenheit früherer 
Päpfte (wie fie als ohmmächtige Geſchöpfe der Alberiche 
und Grefcentier in biefem Jahrhundert der Kirche waren 
aufgebrungen worden), welche für Geld (für ganz geringe 
Abgaben, wie der Papft jagt), faft das ganze Beſitzthum 
der Kirche in und außerhalb ber Stadt verichleubert und 
dafür kaiſerliches Beſitzthum ſich angemaft hätten. Daranf 
fchenfte ex feinem zur päpftlichen Würbe von ihm erhobenen 
Lehrer acht Grafichaften: Peſaro, Fano, Sinigaglia, An- 
cona, Soflombrone, Eagli, Aeſi und Ofimo. Im folgenden 
Sahrhundert gingen diefe Landſchaften wieder verloren, unb 
mußten von neuem erworben werben. 

Im Kampfe um das von Kaiſer Heinrich III. dem 
Bapfte Leo IX. abgetretene Benevent, gewann ber päpft- 
fihe Stuhl, was mehr werth war, als ber Beſitz dieſes 
Gebietes: die Vaſallenſchaſt der normaͤnniſchen Eroberer 
in Unteritalien. Was Leo IX. mit den Brüdern Hum⸗ 
phred und Robert begann, führte Gregor VII. mit Robert 
fort, vollendete Innocenz II. im Sabre 1139 mit König 
Roger. Es war eine Entſchädigung für den bisher nie 
erfegten, noch von Nikolaus I. beflagten Berluft der reichen 
Patrimonien In Unteritalien und Siceilien, daß bie Päpfte 
aun Leihnsherren eines mächtigen Königreichs wurden, und 
die Fürſten dieſes Reiches als Vaſallen mit Entrichtung eines 
Zinſes ihnen huldigten. In der Folge freilich iſt gerade 


504 


dieſes Vaſallenreich die Urfache geworben, daß bie Papſte 
in jene Abhängigkeit von Frankreich geriethen, welche zu 
der Epiſode von Avignon, und dadurch zum großen Schtema 
und beffen noch heute unüberfehbaren Folgen führte. 

Als in dem langen Inveftiturftreite pie geiftige Macht 
des Papſtthumes fich In ihrer ganzen Größe entwickelte, 
war die materielle Grundlage ihrer Stellung ſchwach und 
unficher. Gregor VII. gebot anfänglich in Rom mit feiter 
Hand, nach einigen Jahren trat aber unter dem Bolle 
eine tatjerliche Partei hervor, deren wachſende Stärfe Gre 
gor zuletzt beiwog, mit den Normannen nach Unteritalien 
zu ziehen, die feinen Nachfolger Victor III. aus der Stadt 
trieb, und Urban II. eine Zeitlang ein Afyl in Frankreich 
zu ſuchen nöthigte. Die Landfchaften des fpäteren Kirchen 
ſtaats waren großentheils in den Händen kaiſerlicher Lehen⸗ 
träger. Ein folder war jener Werner oder Guarnieri, 
ber fich von Gottes Gnaden Herzog und Markgraf ber 
durch die Mark Ancona vergrößerten Mark von Camerino 
oder Fermo fchrieb.') 

Urban II., einer der mächtigften Päpfte außerhalb Romb, 
war in Rom felbft ganz machtlos, und lebte, feiner Ein- 
fünfte beraubt, eine Zeit lang von Almofen. Seine Rad 
folger, Pafchalis IT, Gelaſius IL, mußten vor ber licher 


N) Perussi Storia d’Anoona. I, 280. 


505 


macht ber Aneldfamilien mehrfach aus Rom entweichen. 
Die zwei mächtigften Häufer in Rom waren jett bie Fran⸗ 
gipani's und die Familie bes Petrus Leonis; nur wenn 
beide entzweit waren, konnten bie Bäpfte, auf eine von 
ihnen fich ftügend, fich mit einiger Selbftjtänbigkeit in Rom 
behaupten. Eine dieſer Familien ftürzte Durch die Erbes 
bung eines Sohnes des BetrusLeonis unter dem Namen An- 
nacletS II. die ganze Kirche in einlänger dauerndes Schisma. 
Einige Jahre nachher, 1143, erhob fich das römifche Volk, 
ſetzte aus feiner Mitte einen vom Bapfte unabhängigen 
Senat und ein ftädtifches Oberhaupt mit dem Titel eines 
Patricius ein, und Lucius TI. fand bei dem Verſuche, fich 
der Stadt zu bemächtigen, einen gewaltſamen Tod. 

Kaiſer Friedrich I. zwang die Römer, die damals un⸗ 
ter dem Einfluffe Arnolds von Breſcia von ber Heritellung 
ber alten Republid träumten, dem Papfte Eugen III. alle 
Regalien heranszugeben, aber gleichwohl war er von allen 
Kaiſern feit Karl dem Großen ber entſchiedenſte Gegner 
und Belämpfer eines felbftftändigen Papſtthums und einer 
firchenftaatlichen Grundlage für dasſelbe. So Hatten benn 
bie Päpfte im ganzen zwölften Jahrhundert eigentlich keinen 
feiten Boden in Stalien; nur vorübergehend vermochten fie 
fid in Rom zu balten; außerhalb Roms war auch nicht 
eine bebeutende Stabt, auf bie fie mit Sicherheit Hät- 
ten rechnen können; baber ſehen wir fie fo häufig zu 


5 _ 


längerem Aufenthalte fich nach Frankreich wenden. Nach 
Urben II. thaten dieß Paſchalis IL, Gelafius II, Cal- 
liſtus II, Innocenz IL, Eugen IIL, Alexander IH. Rad 
deffen Tode zogen Rucius III. und Urban LIT. vor, ba Die 
Römer ſich nicht unterwerfen wollten, in Verona zu weilen. 
Große Ausfichten auf geficherten Befig eines umfaffenpen 
Gebiets Hatte den Bäpften die Schenkung der mächtigen Mark⸗ 
gräfin Mathilde eröffnet. Wäre fie dem ganzen Wortlaute nach 
vollzogen worden, fo würden baburch bie Päpfte jofort bie län⸗ 
berreichften Fürften In Ober und Mittelitallen geworben 
fein; Ligurien und Tuſcien, fagen bie Zeitgenoffen, fei in 
ber Schenkung begriffen gewefen; aber ba ſich Reichslehen 
und Allobialgut unmöglich mehr ausjcheiven ließ, nahın ber 
Kaifer, auch unter dem Vorwand der Verwandtſchaft, bie 
ganze Erbichaft in Anſpruch. Das mußten vie Päpfte bei 
Heinrich V. gefchehen laſſen. Kaifer Lothar aber erfannte 
ihr Recht jo weit an, daß er fich zugleich mit dem Herzoge 
Heinrid von Bayern 1133 ven Innocenz II. mit dem 
Allove der Graͤfin belebnen ließ, worauf dann 1135 der 
vom Kaifer zum Markgrafen von Tufcien ernannte Engel 
bert wegen des Mathildiniſchen Allode's dem Papfle ben 
Treueid leiflete.') Vergeblich war indeß ber Rückfall ver 
Güter an den päpftlichen Stuhl nach Heinrich’8 Tode bes 


) Chron. Pisan. ap. Murstori VI, 170. 


507 


. bungen worben. Kaiſer Friedrich I. und fein Sohn Hein- 


rich VI. bielten fie fe, bis Innocenz III im rechten 
Momente die Rechte ſeines Stuhls mit ber ihm eigenen 
thatkräftigen Energie geltend machte, und fo enblich das 
fogenannte Batrimonium Betrt, d. 5. das ſüdliche Tuſcien, 
aus der Mathildiſchen Verlaſſenſchaft wirklich an bie rö⸗ 
mifche Kirche kam. 

Innocenz IH. (1198— 1216) wurde, nicht fowohl der 
Neftsurator, als thatfächlich ber erfte eigentliche Begründer 
bes Kirchenftaats, denn vor ihm läßt fich kein Papft nam⸗ 
haft machen, ber wirklich über ein größeres Gebiet geherrfcht 
hätte. rüber hatten die Päpfte wohl Befitungen, von 
denen fie Gefälle und Lebenspienfte in Anfpruch nahmen, 
aber nicht einen Staat, den fie regierten. Als er im Jahre 
1198. fein Amt antrat, war Alles in fremden Hänben; Her⸗ 
309 von Spoleto war ber ſchwäbiſche Ritter Conrad; in 
Sampanien hatte Heinrich VI. die Lehen an feine Kriegs⸗ 
leute vertheilt; in Ravenna, der Mark und Romandiole 
gebot der Senefchall des Reiches, Markwald; Im Erarchat 
und der Pentapolis hatten vie Städte fich zu freien muni⸗ 
cipalen Republiten entwidelt, ſeitdem bie große Communen⸗ 
Bewegung fich Über ganz Ober- und Mittelitalien verbrei- 
tet Batte. Die Städte hatten es wohl verftanben, den Zwiſt 
zwifchen Kaiſerthum und Papſtthum zu ihrem Vortheile 
auszunugen, fih, wie Macchiavelli fagt, der Kirche ge» 


508 


gen bie Kaifergewalt und biefer gegen jene zu bebienen, 
um Freiheit, Selbftregierung, Wahl und jährlichen Wechſel 
ihrer Vorsteher, Conſuln oder Pobefta’s, zu erlangen. 
Schon im erften Jahre hatte Innocenz die beventen- 
deren Städte ver Marten Eamerino und Fermo und bes 
Herzogthums Spoleto, dann Perugia, Montefinfcone, Ra⸗ 
bicofani und Acguapendente nebft der Grafichaft Benevent 
unterworfen. Bald erfannten auch die Städte der Romagna 
die Oberhoheit der Kirche an, bie damals fo milde war, 
daß die Städte fie kaum bemerkten.‘) Die freiheit und 
volle Autonomie der Städte wurde anerlannt. So erklärte 
Innocenz 1198 Perugia für ein Eigenthum bes römifchen 
Stuhle, beitätigte aber dann die Berfaffung der Stabt, ihre 
Regierung durch Conſuln und den freien Gebrauch der Ge 
fete, die fich die Bürgerſchaft gegeben hatte.) Die Päpfte 
gaben tn biefer Beziehung mehr als bie Katfer. Die Stäpte 
botten nur einen geringen jährlichen Tribut zu entrichten 
"und im Bedirfnißfalle Reifige zu ftellen, und felbft jenes 
war nicht allgemein, denn von Viterbo wirb bemerkt, daß 
e8 vor dem 15. Jahrhundert nichts zu zahlen gehabt habe.’) 


— 


3) Vosi Storia di Romagna, Il, 224. 

2) Die Einleitungen zu ben Chroniken von Perugia im Archivio 
stor. t. XVI, I, p. XXII. ®gl. Innocentii epistolae, I], 
875. 426. 

®) Bussi istorla di Viterbo, p. 47. 


a 


Mm Rom felbft hatte der Papft den zähbeften Widerſtand 
zu überwinven; auch er mußte zeitweilig die Stabt ver» 
laſſen, bis er es enblich burchjegte, daß die Römer ihm bie 
Ernennung des Stabthauptmanne, der nun Senator bieß, 
überließen. 

In dem ſchweren Kampfe mit bem übermächtigen Fried⸗ 
rich II. ging den Päpften das Meifte wieber verloren, 
und mußte nach feinem Tode und dem Untergange feines 
Sohnes Manfred allmälig wieder erworben werben. Als 
nachhaltige Wirkung des Zwiſtes zwifchen Kaiſer und Papft 
war bie allgemeine durch alle Städte hindurchgehende Par⸗ 
teiftellung der Guelfen und Ghibellinen geblieben ; die kirch⸗ 
lich gefinnten Guelfen waren äberall bie demofratifche Par⸗ 
tei, während die Abelsintereffen in den Taiferlichen Ghibel⸗ 
linen Geftalt und Macht gewannen. Wo dieſe die Ober- 
band behielten, konnte ber päpftlicde Stuhl auch nicht ein- 
mal nominell feine Oberhoheit behaupten, aber auch bie 
Buelfen wollten fich felbft regieren, felber nach Gutdünken 
Krieg führen und Frieden fchließen. Die Päpfte hatten 
bet allem Glanz des Anfehens, welches ihnen dad ſiegende 
Guelfenthum in einem großen Theil von Italien, auch über 
die Gränzen des Kirchenfinate® Hinaus, gewährte, boch 
eigentlich Leine unterihänigen Stäbte, und waren oft in 
Berlegenheit, wo fie ihren Sig nehmen follten. So fagt 
Clemens IV. in einem Schreiben des Jahres 1265: er 


510 


wolle, nachdem er eine Kirche in Affiffi geweiht, wieber 
nach Perugia geben; denn nirgends anderswo könne er 
feinen Wohnfi nehmen, da die übrigen Städte des Patri- 
moniums in Fehben verwidelt feien, ober nicht Lebensmittel 
genug barböten.!) Hatte man eine Stabt zu länger bauern- 
dem Aufenthalte gewählt, fo mußte erft ein Vertrag mit 
ber Bürgerfchaft abgefchloffen werben, worin ber römifchen 
Kurie freie ungehinderte Bewegung innerhalb ihres Ge⸗ 
ſchaftskreiſes zugefichert, und verfprochen wurbe, baß bie 
Stadt nur Männer, die dem römifchen Stuble treu und 
ergeben feien, zu Eonfuln und Podeſta's erwählen, und baß 
fie den Marſchall des Papftes in der Ausübung feiner Ge⸗ 
richtöbarkeit Über das Berfonal der Kurie nicht hindern 
wolle.') 

Da faft alle Hoheitsrechte an die Städte, ober an ein- 
zelne Adelöfamilten, zum Theil auch an die Bifchöfe ober 
Stifte gelommen waren, fo war bie päpfllicde Autorität 
in weltlichen Dingen nicht viel mehr als eine Oberhobeit 
ber Würde über eine Anzahl ftäptifcher Republilen und 
abelicher oder fürftlicher Signorien.’) Die Herrfchergewalt 


1) Bullarium Franciscanum ed. Sbaralea. IV, 29. 

2) So ber Bertrag, ber im Jahre 1278 im Namen Nicolaus IH. 
mit ber Stadt Biterbo abgeichloffen wurbe, bei Marini degli 
Archistri Pontifioj. Rom, 1783, 11, 11. 

2) Cantsd, Storia degli Italiani, IV, 11. Leo’ Geſchichte ber 
italiänifchen Staaten. IV. 423, 





Gil 


der Päpfte befchränfte fih auf die Ausübung einer, im 
Ganzen fehr enge begränzten Gerichtsbarkeit, auf Verfügung 
über die Gelpmittel und Truppen, welche die wohlgefinnten 
Städte und Dynaſten lieferten, und auf fchteberichterliche 
Alte. Die gewöhnlich angewendeten Mittel des Bannes 
und Interdikts wirkten fchon bei ben Guelfiſchen Städten 
nicht mehr ſicher, noch weniger bei ven Ghibelliniſchen. 
Rom, wo jebt die Savelli's, Orſini's, Colonna's das Ueber⸗ 
gewicht befaffen, blieb nach wie vor eine unruhige, gegen 
jeve Befeftigung päpftlicher Regierung argwöhniſch wach- 
fame Stadt, kaiſerlich gefinnt oder ghibellinifch"), theils 
ans Oppofition gegen bie Päpfte, theild weil nach der ba» 
maligen in ganz Italien herrſchenden Theorie das Volt 
und bie Stadt Rom der eigentliche Träger und Inhaber 
der kaiſerlichen Würde und Herrfchaft war,“) fo baß bie 


9) Populus urbis (Romae) qui naturaliter imperialis existit. 
Saba Malaspina ap. Murator. SS. Ital. VIII, 842. 

2) Dieß war nicht bios die Ghibelliniſche Anſchauung, wie fie 
Dante in ber Schrift de monarchia vertritt, fonbern auch 
die Guelfiſche, ſo daß auch Matteo Billani fie lib. 4, 
o. 77 unb lib. 5, c. 1, prologo, vorträgt; ba heißt es unter 
Anberm: Vautoritk del popolo Romano oreava gli impera- 
dori: e questo medesimo popolo, non da sd, ma la chiesa 
per lui, in certo sussidio de’fedeli cristiani, concedette 
I’ elezione degli imperadori a sette principi della Magna. 
Daraus wurde nun weiter geichlofien: Da bie Tofcaner ur- 


612 


Päpfte nur im Namen und Auftrag des römifchen Volles 
bie Kaiferwahl an vie deutfchen Fürften übertragen hätten. 

Nubolf von Habsburg Hatte dem Papfte Gregor X. 
bei der Zufammenkunft in Laufanne 1274 ven vollen Befig 
aller Tirchenftaatlichen Länder, alfo nach ber bamaligen 
Bezeichnung das Land von Radicofani bis Eeperano, das 
Erarchat Ravenna, Pentapolis, die Mark Ancona, das Her- 
zogthum Spoleto, das Land ber. Gräfin Matbilbe, bie Graf 
ſchaft Bertinoro, feierlich betätigt und gewährleiftet. Selbft 
Eorfila und Sardinien wurden noch inbegriffen‘) Damit 
fiel denn auch bie Aufftellung Taiferlicher Grafen oder Reiche- 
Bicare weg, welche bisher noch in ver Romagna, ver Ben- 
tapolis, der Markt und Spoleto durch Ausübung Iaiferlicher 
Gerechtſame die päpftliche Gewalt befchräntt hatten. Wirl⸗ 
lich ließ Rudolf im Jahre 1278 durch einen eigenen Ab» 
georbneten, den er an Papft Nikolaus III. fanbte, die Eibe 
widerrufen, und für nichtig erflären, welche fein Kanzler in 
Stalien von den Stäbten Bologna, Imola, Faenza, Forli, 
Gefena, Ravenna, Rimini und Urbino hatte ſchpoͤren lafien.’) 


ſprünglich Latiner, b. 5. Römer felen, jo flänben fie and) nicht 
unter Taiferlicher Botmäßigkeit, und natirlich noch weniger bie 
Römer ſelbſt. Vergl. Btoria Fiorentina di Pietro Bo 
ninsegni, p. 487. 

1) Pertz, Mon. Germ. IV, 408. 404. 

) Raynald ad a. 1278, 51. 


513 


Die. Berufung und Erhebung bes Haufes Anjou auf 
ben fichlifchen Thron war ber verhängnißvolle Wende⸗ 
punkt, burch ben bie Geſtalt Ftaliens, der Charalter der 
guelfiſchen Partei, vor Allem aber die Stellung des paͤpft⸗ 
lichen Stubles umgewandelt wurde. Die Guelfen hörten 
auf, die nationale, der Fremdherrſchaft feinbliche, und vor» 
zugsweiſe kirchliche Partei zu fein; fie wurden Angiovint, 
and damit dem franzöfifchen Einfluffe zugänglich, dem frau⸗ 
zöfifchen Intereffe dienſtbar. Die Päpfte verloren die Führer 
fchaft der guelfiſchen Partei, die nun an die Anjou's und 
aubre Prinzen bes franzöflichen Königshauſes überging. 
So enftand jenes Baſtard⸗Guelfenthum, welches Dante fo 
haßte. Damit war bie hohe Bedeutung des Kaiſerthums 
für Italien, für die Päpfte und den Kirchenſtaat in ihrer 
Wurzel angegriffen, bie Taiferliche Action in der Halbinfel 
gelähmt. Franzoſiſche Earbinäle, franzöſiſche Päpfte (Cle⸗ 
mens IV., Urban IV., am flärkften Martin IV.) tbaten, 
was fie konnten, den Einfluß ihrer Nation und ber beiven 
Dynaftien, der Capetingifchen und ber Angiovinifchen, in 
Stalten zu befeftigen. Martin IV. ernannte Branzofen aus 
dem Gefolge Karls von Anjou zu Rektoren der Tirchenftant- 
lichen Provinzen, bezwang das Ghibelliniſche Forli mit fran- 
zöfifchen Sälonern,') ernannte Karl zum Senator von Rom, 


3) Chron. Pipini, ap. Murat. IX, 720. 
v. Döllinger, Papſtthum. 33 


614 


ber num feine Beamten dort einfekte, während bie Päpfte 
fih nur felten mehr in Rom bliden ließen, lieber in Biterbo, 
Orvieto, Anagni weilten, fo daß, ald Innocenz V. im 
Zahre 1276 wieder einmal in ver Peterslicche Gottesdienſt 
hielt, dieß feit dreißig Jahren das erftemal war.) Das 
Berhältnig der Päpfte, zumal der franzöftichen, zu den Be⸗ 
pölferungen des Kirchenſtaats wurde gefpannter, gewaltfas 
mer. Beſonders da zeitweife bie Herrfchaft über bie Pro» 
vinzen mehr in den Händen Karla von Aujon, als in denen 
ber Päpfte lag. Gregor X., der weifefte und ebelfte ber 
Päpfte jener Zeit, Hatte allentbalben vie Shibellinen zu 
verjößnen und mit den Guelfen zu verfchmelzen geftrebt, 
aber feine Nachfolger verließen unter Angiovinifchem Ein⸗ 
fluffe dieſe Bahn. Man trieb pie Ghibellinen zur Ber⸗ 
zweiflung; Dann und Interbict wurben als Negierungs- 
mittel durch bie gewöhnlich geworbene Anwendung abe 
genügt. Die Kriege, welche bie Päpfte mittelft fremder 
Conbottiert’3 und theuer bezahlter auslänbifcher Miethlinge 
führen mußten, vervielfältigten fich, und bei der Unergiebig- 
teit des Einkommens aus dem Kirchenſtaat mußten vie Gelb⸗ 
kraͤfte zu diefen Kriegen durch kirchliche Mittel, durch Er⸗ 
findung neuer firchlicher Steuern aufgebracht werden. Schon 
in den erften Yahren des 14. Jahrhunderts machte daher 


1) Annal, Salisburg. ap. Ports Mon. G. Xi, 801. 


515 


ein ungenannter Staatemann den Vorfchlag: Die Länder 
des Bapftes foliten einem mächtigen Könige gegen bie Ver⸗ 
pflichtung, dem Papſte das Einkommen aus denſelben frei 
verabfolgen zu laffen, in Empbhteufe gegeben werben; fo 
würde der Papft, der alle& Friedens Urheber und Beſchir⸗ 
mer fein follte, keine Beranlaffung mehr haben, Kriege zu 
führen und Schäße anfzubäufen.‘) 

Die franzöjifchen Paͤpſte verftanden ed, das Bontiftlat 
auf lange Zeit binaus in den ausichließenden Beſitz ihrer 
Rationalität zu dringen, indem fie eine Mehrheit franzöfi- 
feher Carbindle ernannten. Für fie war nun Rom und 
Statten die Fremde, fie wollten auf heimiſchem Boden leben, 
und fo erfolgte die Berpflanzung der Kurie nach Avignon, 
wo fie 70 Jahre blieb. Der Kirchenftaat hatte nun faſt 
alle Bedeutung verloren; man betrachtete und behanvelte 
ihn in Avignon wie eine entfernte Provinz, die man, ohne 
genau zuzufehen, durch Statthalter regieren läßt. Der Ein- 
fluß des Parifer Hofe war in Avignon fo mächtig, in man⸗ 
hen Dingen fo überwältigend, als ob der Papft feinen 
Zoll breit in Stalien bejeffen hätte. 

Eben um den Anfang des 14. Jahrhunderts war ber 


") De recuperatione terras sanctae, in ben Gesta Dei per Fran- 
eos, Bongars Il, 324, 


. 33% 


616 


Zeitpunkt des Verfalls für die italiänifchen Freiftanten ge 
tommen, die, mit wenigen Ausnahmen, in Folge bürgerlicher 
Wirren zu Fürſtenthümern wurden. Bor Allen in ber 
Romagna und der Marl, wo die Polenta’s in Ravenna, 
die Malateſta's in Rimini, die Manfredi's in Faenza, bie 
Orbelaffi’8 in Forli, die Montefeltro's in Urbino, die Vara⸗ 
no's in Camerino, die Gewalt an fich riffen. Der ganze 
Kirchenſtaat warb allmälig zeritüdelt. In Nom und ver 
Campagna herrſchte Anarchie und wildes Bauftrecht, fo daß, 
nah Billani's Worten, vie Fremden und Pilger wie Lam⸗ 
mer unter Wölfen waren, und Alles zu Raub und Delle 
wurde. Da gelang e6 dem von Bildern altrömifcher Herr- 
lichleit erfüllten Tribunen Cola Rienzo, ben vergäng- 
lichen Schimmer einer georbneten, gefeßliche Freiheit ver⸗ 
bürgenden Republil auf kurze Zelt zurüczuführen. Wohl 
hatte er die Rechte des Papſtes als einzig rechtmäßigen 
Dberheren vorbehalten. Uber weder zu regieren noch zu 
kaͤmpfen verftand er, umb ging bald, obgleich vom Papſte 
zum Senator ernannt, unb nach feinem erften Sturze zu 
rückgeſchickt, an Eitelleit und Ungefchid zn Grunde. Das 
gegen vermochte der von Avignon gefanbte Cardinal Albor- 
noz (1353 — 1368), groß als Feldherr und Staatsmant, 
allmälig die Städte und Gebiete des Kirchenftaatd von 
ihren Zwingherren zu befreien. Zugleich wurbe er durch 
die „Aegidianiſchen Eonftitutionen,“ welche bis in vie ſpaͤ⸗ 


577 


tefte Zeit fortbeftanben, der Geſetzgeber und, Schöpfer bes 
Öffentlichen echtes in ver Romagna. 

Der Drud und die Wilftühr der franzöfiichen Legaten 
erzeugte bald einen allgemeinen Abfall. Durch bie gegen 
Gregor XI. erbitterten Florentiner aufgeregt, empörten fich 
im Jahre 1376 binnen neun Tagen achtzig Städte und 
Flecken des Kirchenftants, und erflärten ſich entweder für 
frei, oder riefen die von Wbornoz entfegten Zwingherren 
zurüd. Damals empörte ſich auch Perugia, welches Tange 
eiferfüchtig feine Freiheit bewahrt Hatte, wiewohl vie guel- 
fifch gefinnten Einwohner ſich gerne „bie Leute der Kirche“ 
nannten. Die Stabt hatte ſich erſt 1370 dem Papſte un- 
terworfen. Nach ihrem Abfalle vermochte fie doch mit dem 
neuen Bapfte auf ihre eignen Bedingungen Frieden zu 
ſchließen.) In Rom wuchs bamald Gras in den Straßen, 
und man züblte nur 17000 Einwohner. 

Der große Abfall hatte aber einen Krieg entzündet, 
ber in der Weife jener Zeit zugleich mit verſchwenderiſcher 
Anwenbung kirchlicher Eenfuren und mit auslänpifchen thie⸗ 
rifch verwilderten Sälönerhanfen geführt wurde. Da brach 
mit dem Tode des Türzlich exit aus Avignon nach Rom 
gelommenen Gregor XI. jene verhängnißvolle, in ihren 
Folgen unüberfehbare, noch heute nachwirtende Kirchenfpal- 


!) Mariotti Memories di Perugia, 1806, p. 81. 





'b18 


tung aus. „Einen Römer, wenigftens einen Staliäner, 
wollen wir,“ rief das Voll vor ven Benftern des Conclave. 
Wir Branzofen wollen uns bie Beute des Pontififats mit 
Allen, was daran hängt, nicht entwinden laſſen, erwieber- 
ten im Stillen die franzöfiichen Earbinäle, und wählten 
gegen ben Staliäner Urban VI. jenen Cardinal Robert 
von Genf, an deſſen Händen noch das Blut ber unglüd« 
lichen Einwohner von Ceſena klebte. In Frankreich galt 
bie Nationalität mehr ala Recht und Heil ver Kirche; ber 
Gegenpapſt warb anerfannt, und bamit ber Fluch ber Spal- 
tung über ganz Europa gebracht. Die ganze Ehriftenheit 
und ber päpftliche Stuhl in feiner Ohnmacht, ſich und ber 
Kicche zu beifen, vor Allem, empfand es nun, was es auf 
fi) Batte, daß das Kaiſerthum zn einem Schatten geſchwun⸗ 
den, die Schirmvogtei über die Kirche und den Stuhl Be 
tri ein leerer Zitel geworben war. 

Die Zerriffenheit des Kirchenftants war aufs Köchfte 
geftiegen, die alten Häuptlinge waren wieber emporgelom- 
men, auch Republiten Hatten fich gebildet oder neue Herr- 
fher waren an vielen Orten aufgetreten; ba verkaufte 
Urban's Nachfolger, ber gelbbebürftige Bonifactue IX., 
ben Zwingberren und ben Nepublifen gegen fofort zu zah⸗ 
ende Summen unb einen jährlichen Lehenszins pie Hoheite⸗ 
rechte, in deren Beſitz fie fich geſetzt Hatten. 

Als Martin V. nach beenbigter Spaltung zu Con⸗ 


519 


Ranz zum alleinigen Papfte gewählt, im Jahre 1418 im 
Stalien erichten, fand er Rom und Benevent in ven Hän⸗ 
ben der Nenpolitaner, eine Republik in Bologna, die Ro- 
magna, bie Marl und Umbrien in ben Bänden ver- 
fhiedener Häuptlinge. Manches wurde gewonnen unb wies 
der durch neue Empörungen verloren; mehrere Fürſten er- 
fannten den Bapft an. Entfcheidend für die Zukunft des 
Kirchenſtaates wurde bie Wahl feines Nachfolgers Eugen's IV. 
im Sabre 1431. Denn dieſer beichwor das im Conclave 
befchleffene Statut, nach welchem der Bapft alle Lebenträger, 
Vicarien und Amtleute des Kirchenftaats nicht für fich allein, 
fondern auch für das Garbinalscoliegium, welchem im Er⸗ 
ledigungsfalle die Landesherrichaft zuftehe, in Eid und Pflicht 
nehmen ſollte. Da er fich zugleich verpflichtete, den Car» 
binälen die Hälfte aller Einnahmen zu überlaffen, fo ergab 
fih damit auch eine Theilnahme und Mitwirkung der Car» 
binäle bei allen bebeutenderen Hoheitsrechten.) Damit 
war ein neues Stantörecht für den Kirchenftaat, und eine 
ſehr tief greifende Beſchraͤnkung ber weltlichen Papftmacht 
gefchaffen. Doch war die Sache nur von kurzem Bes 
ftanbe. 

Als der Spanier Alfons Borgia uuter dem Namen 
Calliſtus III. im Jahre 1455 den päpftlichen Stuhl beftieg, 


’) Cap. Raynald. ad a 1431. 





620 


befanden fich im Kirchenſtaate noch acht fürſtliche Famllen 
im Befiß ihrer Leben: die Manfredi's in Faenza und Imola, 
die Ordelaffi's in Forli, Aleſſandro Sforza in Belaro, 
Domenico Malateſta in Eefena, Sigismondo Malatefti in 
Rimini, Feberigo von Montefeltro in Urbino, die Barano’s 
im Eamerino, die Eſte's in Ferrara. Alle übrigen Häupt⸗ 
Iinge waren früher fchon befeitiget worben.‘) In Rom 


and ber Campagna vermochten die Päpfte diefer Zeit, gleich 


ihren Vorgängern, nur wenig. Gegenüber ver Willlkühr 
und den iwechfelfeitigen Feindſeligkeiten der Barone, bie 
noch immer den Zuſtand des Fauftrechtd fortpflanzten, und 
ihre Verwandten und Angehörigen unter den Garbinälen 
hatten, beſaſſen fie keine gewaffnete Macht; dann auch lie⸗ 
Ben es die häufig kurzen Pontifilate und bie Unterbrechungen 
der Conclaven zu Teinen burchgreifenden und nachhaltigen 
Maßregeln kommen. 

Die centrifugale Richtung, der Zug zur Zerfplitterung, 
zur Aufrichtung vielee Sonverberrfchaften war feit anberts 
halb Jahrhunderten fo vorherrfchend In Stalien, daß umn 
auch am Ende bes 15. Jahrhunderts die Päpfte davon er- 
griffen wurden. Zuerft Sixtus IV., der einen feiner Ne 


1) Bergl. Righi Annali di Faenza, 1840, II, 204, sq. Com- 
pendio della Storia d’Imola, 1810, 241 sq. Ugolini 
Storia dei Conti e Duchi d’Urbino, Firenze 1859, I, 840 &o. 


a 


poten zum Herrn von Imola und Yorli, ben andern zum 
Fürften von Sintgaglia und Monbovio machte. Das Sta- 
tut von 1431 bezüglich der Nechte der Earbindle erwies 
fich in folchen Fällen ftets als unwirkfam. ‘Darauf gelang 
es Alexander VI. und feinem Sohne Eäfar Borgia, alle 
Fürſtenthümer im Kirchenſtaate mit einziger Ausnahme bes 
Herzogtums Montefelteo zu ftürzen, felbft vie mächtigen 
Barone Roms und der Campagna zu verjagen. Alerander 
wollte feinen Sohn zum Fürften eines anfehnlichen, wohl 
ben größeren Theil des gefammten Batrimontums umfaffen- 
ben Staate® machen. Es' gelang nicht. Yulius IL, der 
dem Borgia Alles wieder abnahm, fette indeß das begon- 
nene Wert der Nüdforverungen fort, nöthigte bie Venetia- 
ner, die erworbenen Gebietsheile der Romagna wieber her⸗ 
auszugeben, ftürzte bie Herrichaft ber Bentivogli in Bologna, 
die der Fredduccini in Fermo, und ward, nach Innocenz III. 
und Albornoz, ber britte Begründer oder Wiederherſteller 
des Kirchenftants. Sogar Parma, Piacenza, Reggio ge 
wann ber päpfiliche Greis als erobernder Feldherr. E86 
war noch nicht fange Her, daß Heine Häuptlinge mit ein 
paar Schlöffern und Stäptchen der weltlichen Macht bes 
Papftes getrogt hatten; jetzt flößte fie felbft ben größten 
Staaten Scheu ein. 

Da eine georonete einheitliche Regierung in den Läns 
‘dern des roͤmiſchen Stuhls noch immer nicht beftand, und 


622 


bie einzelnen heile in Folge ber alten Zerfplitterung ur 
ſehr lofe oder gar nicht zufammenhingen, fo wuchfen bie 
Häuptlinge und Heinen Thrannen, befonders In der Marl, 
immer wieber wie aus dem Boden hervor. Leo X. ver- 
trieb fie bis auf zwei oder ließ fie hinrichten. Bor allem 
auf die Vergrößerung feines Haufes, des Mebickifchen, bes 
bacht, nahm Leo dem Herzog von Urbino, Francefco Maria 
della Novere, fein Herzogthum, um es feinem Nepoten 
Lorenzo dei Mebici zu geben. Delle Rovere eroberte es 
freilich nach Leo's Tode zurüd. 

Die nun, feit dem Ausgang des 15. Jahrhunderte, 
in ganz Europa der Uebergang aus ben mittelalterlichen 
Zuftänden in die neue Zeit fih rafcher ober langſamer 
vollzog, begann man auch im Kirchenftaate zwei in ber 
Richtung der Zeit gelegene Ziele zu verfolgen: einmal bie 
ftaatlihen Bande enger zu knüpfen und das Ganze gleich- 
förmiger zu machen, und ſodann, was hiemit zuſammen⸗ 
Bing, die päpftlicde Herrichaft bis zur fchrankenlofen Macht- 
fülle zu erweitern. Es ſchien um fo nothwendiger, als 
gerade hier das alte, völlig finnlo® geworbene, Faltionswefen 
der Buelfen und Ghibellinen ſich noch immer, ſelbſt unter 
ben Lanblenten erhielt, und zu zahlreichen Verbrechen mb 
Gewaltthaten Anlaß gab. Leo X. hatte bie Regierung 
großentheild Slorentinern, feinen Landeleuten, anvertraut, 
welche, zunäcft um Geld zu fchaffen, argen Drud übten; 


623 


die Städte fandten eine Gefanbtichaft nach der andern, 
um lage zu führen. Bergeblih; man war vielmehr in 
Rom bemüht, die Freiheiten, welche manche Städte noch 
befaßen, zu brechen; bieß vollbrachte Clemens VII. im 
Sabre 1532 bei Ancona‘) durch einen plöglichen Ueberfall 
und milttärifche Befetzung, Paul III. im Sabre 1540 bei 
Berugia, ale die Stabt wegen einer Erhöhung des Salz 
preifes fich gegen bie päpftliche Herrſchaft erhob, fich aber 
bald unterwerfen mußte, und nun alle ihre Nechte und 
Freiheiten verlor.’) In ähnlicher Weife waren früher ſchon 
Ravenna, Faenza, Jeſi geitraft worden. Seit der Mitte 
bes 16. Jahrhunderts war Alles im Kirchenſtaate vollftän« 
big unterworfen; Städte und Barone gehorchten unbebingt. 
Doch führte der Nepotismus einzelner Päpfte noch, in grel⸗ 
lem Widerſpruche mit ber vorherrſchenden Richtung auf 
Eonfolivirung des Staates, zu Dismembrationen. So machte 
Baul III. feinen Sohn Pier Luigi Tarnefe zum Herzoge 
von Barma und Piacenza, und das Land ging unwieder⸗ 
bringlic für den römischen Stuhl verloren. Paul IV. 
beraubte die Familie Colonna des Herzogthums Palliano, um 
es feinem Neffen Caraffa zu geben; doch biefen erreichte 
fofort nach dem Tode des Oheims das Strafgericht des 


1) Relasioni degli Ambasciatori Veneti. VII, 55. 
2) Mariotti p. 118— 160. 


524 


Nachfolgers Pins IV. Damit nahm viefe Gattung bes 
Nepotismus, welche bie Verwandten eines Papftes auf 
Koſten des Kirchenftantes vergrößerte, ein Ende; nachbem 
fie von Sixtus IV. bis Paul IV. gedauert, verbot Pius V. 
in der nachbrüdlichiten Weiſe jede Belehnung mit irgend 
einer Befigung der römifchen Kirche, unter welchem Titel 
und Vorwand es auch fel,’) belegte diejenigen im voraus 
mit dem Banne, welche auch nur dazu rathen würden, umb 
ließ fein, nachher noch mehrfach beftätigtes und auch auf 
temporäre Veräußerungen außgebehntes, Geſetz von allen 
Cardinälen unterfchreiben. Bon dieſer Zeit an traten nur 
noch zwei bedeutende Ereigniffe in ver äußern Gelchichte 
des Kirchenftante® ein: der Heimfall von Fervara beim 
Tode des Herzogs Alfons LI. im Jahre 1506, und ber des 
Herzogthums Urbino im Jahre 1631. 

Im 18. Jahrhundert Tamen Zeiten, in denen bie 
Bäpfte die bittere Erfahrung ihrer Schwäde und Schut⸗ 
tofigleit den Höfen gegenüber machen mußten, Zeiten in 
denen der Kirchenftaat, weit entfernt, bie päpftliche Unab⸗ 
bängigfeit zu fichern, vielmehr als ein Mittel betsachtet und 
behandelt wurde, einen Papſt zu Schritten zu zwingen, die 
er fonft nicht gethan Haben würde. Die Bourbonifchen 
Höfe ahmten das Beifpiel Kaifer Heinrihe V. nad, ber 


1) Bulla Admonet nos. 29. Mart. 1567. 


625 


durch bie Verheerung bes römtichen Gebiets den Papſt 
Paſchalis IL. nöthigte, ihm das preißzugeben, wogegen 
die Kirche fchon feit dreißig Jahren gelämpft batte: bie 
Inveſtitur. Man hatte e8 nicht für möglich gehalten, daß 
ein Bapft die Hand zur Zerftörung einer Gefellfchaft bieten 
würde, gegen welche keine einzige wirkliche ober bewieſene 
Anklage vorlag, mit welcher, von andern Gründen abges 
fehen, bie meiften und blühendſten Miffionen unter ven 
Heiden zu Grunde geben, die Kirche um viele Tauſende 
von Seelen ärmer werben mußte. Aber die Bourbonifchen 
Höfe wußten auch das Unmögliche zu erreichen; fie faßten 
den römischen Stuhl gerabe beim Kirchenftant, fie nahmen 
ihm Avignon und Venaiſſin, Benevent und Pontecorvo, 
brobten bereit auch Caſtro und Ronciglioni zu nehmen,!) 
und als fie den ftandhaften Clemens XIII. zu Tode ges 
quält Hatten, forgten fie durch ihren Anhang unter den 
Earbinälen dafür, daß ein Mann, ver fich zum Vollſtrecker 
ihres Willens bergab, auf den Stuhl bed Apoftelfürften 
gelangte. Und als zwei Päpfte nacheinander, Pins VI. und 
Pius VII, ruhig in ihrem Lande ausharrend, ſich von ven 
franzöfifhen Machtbabern zu Gefangenen machen, nach 
Frankreich fchleppen und einkerkern ließen, da konnte man 
Vergleiche anftellen zwifchen fonft und jegt. Ein Alexan⸗ 


2) Theiner’s Geſchichte Clemens XIV., I, 97. 


626. 


der IIL, ein Imnocenz IV. wäre binüber nah Sicilien 
gegangen, und Hätte bort, den galliſchen Thrannen uner- 
reichbar, unter engliihem Schutze die Kirche zu regieren 
fortgefohren. Nicht fo bie beiden Pins; beide höchft ges 
wiſſenhaft, ftellten fie doch beide den Landesfürſten gewifjer- 
maßen Höher als das Kirchenhaupt, fie wollten ihren Staat, 
ihr Volk nicht verlaffen, fte zogen vor, gleich jenen roömi⸗ 
fchen Senatoren den Gallier auf ihren Stühlen zu erwarten, 
und — die Welt weiß, wie fie behandelt wurden. 

Am Schluffe des 18. Yahrhunderts aber geſchah, was 
in taufend Jahren nicht vorgelommen war: Pius VL. mußte 
in dem Bertrage von Xolentino im Jahre 1797 nicht nur 
Avignon und Benaiffin, fondern auch Die drei Legationen: 
Navenna, Ferrara und Romagna an Frankreich abtreten. 
Ihm blieb Rom, das Patrimonium, Umbrien, und man 
ließ ihn die Rückgabe der Mark Ancona hoffen. Es war 
leicht voraus zu fehen, daß man ihm balb auch das Uebrige 
nehmen würbe, aber Pius erkannte doch faltiih an, daß 
es Fälle gebe, in denen der Papft, obgleich nicht Eigen» 
thümer, fondern nur Depofitar des Kirchenftants, eines 
Theils deſſelben fich entäußern dürfe, wenn nämlich die 
eigentliche Beftimmung des Staates auch ohne bie abge» 
tretenen Beſtandtheile noch erreicht werben koͤnne. 


627 


2. Innere Dufände des Kirchenſtaals vor 1780. 


Macchiavelli's Bemerkung, daß ber Kirchenftaat 
keiner Vertheidigung gegen äußere Feinde bebürfe, da er 
durch die Religion gefchügt fei, wurde fpäter noch oft wies 
derbolt; man fah einen großen Vorzug barin, daß das 
Sand feines ftehenden Heeres, keiner koſtſpieligen Befeſti⸗ 
gungen bebürfe, und bie Einwohner doch im Gefühle un⸗ 
getrübter Sicherheit leben und inbuftriellen Unternehmungen 
gefahrlos fih widmen könnten.) Seit Paul IV. ven Kö⸗ 
nig Philipp von Spanten förmlich zu einem Sriege, ben 
diefer nur mit dem größten Widerwillen führte, gezwungen 
batte, wırde fein Theil des Kirchenftants mehr feinplich 
überzogen, bis Urban VILL, eben auch wie Paul IV. durch 
feine Nepoten verleitet, den verftanblojen Krieg von Eajtro 
berbeizerrte, der, mit einem unebrenbaften Frieden endend, 
durch erhöhte Auflagen, durch Häufung ver Schulden, durch 
Berarmung des Landes, durch die verhaßte Anwenbung ber 
geiftfichen Waffen zugleich mit ven weltlichen, eine lange 


fortwirtende Salamität für das Papſtthum wie für das Land 
wurbe.’) 


]) Relas. Venet. VIl, 407. 


N Start drückt fi Über diefe Folgen ber Kardinal Sacchetti 
in einem Schreiben an Alexander VIL aus, das Bfter gedruckt 


528 


Man bat die Periove bed großen und des Heinen 
Nepotismus unterſchieden. In jener wollten bie Päpfte 
für ihre Familien große Fürſtenthümer gründen; in ber 
fegteren, die mit Gregor XIIL begann, mit der Bulle 
Innocenz XII. und dem Tode Alexanders VIII. (1691) 
endete, war das Streben darauf gerichtet, ihre Familien 
burch reichliche Ausftattung und Nangerhöhung zur Gleich 
beit mit den erſten adelichen Häufern bes Landes zu erhe- 
ben. So die Buoncompagni’8 durch Öregor XIIL, die Pe⸗ 
retti's durch Sixtus V., die Aldobrandini's durch Cle⸗ 
mens VIII. die Borgheſe's durch Paul V., die Ludovifi's 
buch Gregor XV. Die Bereicherung der Barberini's durch 
Urban VIII. übertraf Alles, was bis dahin noch geſchehen 
war. Zugleich wurde häufig ein Verwandter als „Sarbinal 
Padrone“ mit der oberften Leitung ber Regierung betraut. 
Geraume Zeit hindurch meinte man, ein Carbinalnepot 
birfe an dem päpftlicden Hofe nicht fehlen. Wenn dann 
ber Nachfolger die Nepoten ver letten Regierung zur Re 
chenſchaft zog, verfolgte, fo warb zugleih das Andenken 
bes vorigen Papftes entehrt, der Autorität des Pontififate 
eine Wunde gefchlagen. Die Päpfte des 18. und 19. Jahr⸗ 
hunderts haben fich von viefen Gebrechen unb argen Mis- 


if, zieht bei Massimo d’Aseglio: La Politique et le 
droit chretien, Paris 1860, p. 165. 





529 


bräuchen im Ganzen frei erhalten. Nur Pius VI. mit 
feinen Brafcht’8 bildete eine Ausnahme Der Nepotismus 
der Päpfte, kann man fagen, tft erlofchen, und lebt nur noch 
in der Gefchichte. Anders verhält es fich mit dem Nepo- 
tismus der Sarbinäle und Prälaten. 

Wäre das Statut Eugen’8 IV. in Kraft geblieben, fo 
hätte das Collegium ver Cardinaͤle eine wohlthätige Schrante 
in Sachen ver Landesregierung gebildet. Der Nepotismus 
hätte nicht fo fchäblich werden können, das Günftlingsmwefen, 
das Treiben eines Camillo Aftalli, Mafcambrunt, 
Don Mario, Eofcia wäre verhindert worden, ober hätte 
boch minder ververblih gewirkt. Das Land und feine Ins 
tereffen hätte an ven Carbinälen berechtigte Fürſprecher und 
Vertreter gehabt. Allein jenes Statut war bald zum tobten 
Buchſtaben geworben. Die Päpfte fühlten fi und han- 
delten als völlig abfolute Gebieter. Selbft als Paul IV. 
den Cardinälen die Beraubung ver Colonna’8 zu Gunften 
feines Neffen, und den Krieg gegen den Kaiſer und Spanien 
ankünbigte, hörten fie ihn mit nievergefchlagenen Augen an, 
ohne ein Wort der Gegenrede zu wagen. Seitbem- verhielt 
fih das Collegium völlig pafjiv. Als Corporation diente 
es hauptſächlich, um Allocutionen über wichtige Ereigniffe 
zu vernehmen, Zeuge zu fein bei der Veröffentlichung von 
Berträgen und beveutenden Verfügungen, vie Papftwahl 
vorzunehmen und bie böchfte Gewalt während der Sedis⸗ 

d. Dölinger, Papſtthum. 34 


0 


bacanzen zu repräfentiren. Der neugewählte Papft trat 
alsbald in den Vollgenuß einer Sonverainetät ein, deren 
Schranfenlofigleit in ganz Europa nicht ihres gleichen hatte. 
Paruta ſchildert im Jahre 1595 dieſes Verhältnig zwi- 
ſchen Papft und Carbindlen; feit Pius IL, fagt er, fei die 
Autorität der Carbinäle fo binabgebrüdt worben, und hät» 
ten die Päpfte Alles an fich gezogen. Jetzt würben dem 
Collegium einzelne Angelegenheiten nur noch in Form einer 
Promulgation, und nicht um deſſen Rath zu erholen, mit 
getbeilt. Und wenn in feltnen Fällen ver Papft einmal 
ihren Rath begehre, ober vielmehr zu begehren fcheine, fo 
befchränte man fich darauf, das vom Papſte Vorgefchlagene 
zu loben.') 

Noch im Anfange des 16. Jahrhunderts, unter Julius IL. 
beſonders, genofjen vie Städte große Freiheiten; es war, 
fagt Guicciardini, dem Papfte darum zu thun, dem 
Volke Neigung zu den Männern der Kirche beizubringen, fo 
bag man in Bologna bei der Eitesleiftung ben Uebergang 
an die päpflliche Wegierung als eine Verſetzung aus dem 
bisherigen Zuſtand der Knechtſchaft (unter den Bentivo⸗ 
glio’8) in den ber Freiheit fchilvderte, wo bie Bürger, in 
friedlichem Genuſſe des Vaterlandes, Theil nähmen an der 
Regierung wie an ben Einkünften.”) Und ver Zeitgenoffe 


!) Relaz, Ven. X, 413. 
8) Lib. 7, oc. 1. Lib. 9, o. 5. 





531 


Sulius’ IL, Macchiavelli, fchilvert e8 als das Eigen- 
thümliche des SKirchenftantes, daß ver Beſitzer ihn nicht zu 
vertbeidigen brauche, und feine Untertbanen nicht vegiere, 
die denn auch nicht regiert zu werben begehrten, und nicht 
baran bächten, fich lo8zureißen.') 

Erft im Laufe des 16. Jahrhunderts bildete fich eigent« 
lich die Negierung des Kirchenſtaates durch Geiftliche aus, 
und wurde die Verwaltung zugleih in Rom centralifirt. 
Bor 1550 kamen Laien als Häupter der Verwaltung, we⸗ 
nigften® in der Romagna, häufig vor. Aber merfwürtiger 
Weiſe zogen bie Stäpte felbft Prälaten den weltlichen Go⸗ 
vernatoren vor, und begehrten fie ausdrücklich. Fermo er- 
hielt fi bis 1676 in dem Nechte, einen Verwandten des 
Papfted zum Governatore zu haben; bann trat eine eigne 
Kongregation von Prälaten, blos für dieſes Gebiet, an 
deſſen Stelle. Bologna behielt manche Vorrechte, barunter 
das eined eigenen Wejidenten in Rom, leiftete auch bis⸗ 
weilen beharrlichen und wirkſamen Widerſtand. Im Ganzen 
aber gab es doch, wenigftens feit Ende des 16. Jahrhun⸗ 
derts, feine individuelle oder corporative Selbitftändigkeit 
mehr, weder ber Städte noch der adelichen Vafallen. Bon 
ber Stabt Rom fagt der Carbinal de Luca, fie ftelle noch 
ein in feiner Art magiftratifches Schattenbild eined Mus 


2) 1. Principe. o. 11. 
34° 


582 


nietpiums vor.) Doc, ließ man zu, baß einige ber grö- 
Beren Städte fich ziemlich felbftftänpig regierten. Auch bie 
Grundherren konnten in ihrem Gebiete fich frei bewegen.®) 

Sirtus V., den man als den vornehmften Begründer 
bes modernen päpftlichen Regierungsſyftems betrachtet, bil⸗ 
dete das Inſtitut der ftehenden Con gregationen aus, wohl 
berechnet für jene Zeit, wo es galt, vem Nepotismus und 
Bavoritismus einen Damm, eine Einrichtung entgegenzu- 
ftellen, welche Stabilität und Gleichförmigleit in die Be 
handlung ver Gefchäfte brachte, und die fchlimmften Aus- 
wüchfe ver Willkühr befchräntte. Im Zufammenbang bie- 
mit gelangte nun auch die Prälatur als bie eigentliche 
höhere Beamtenllaffe des Kirchenftants zur Entwidelung. 
Man fett den Anfang derfelben in die Zeit Gregor's XIII. 
In älteren Zeiten nannte man bie geiftlichen Beamten: 
Eurialen. Im engeren Sinne wurbe die „Prälatur” als 
das Noviziat, die Vorbebingung und Pflanzfchule für bie 
höheren Aemter betrachtet; man mußte (feit Alexander VIL) 
ein Einlommen von 1500 Scudi nachweifen, womit alfo 


1) Dottor volgare, lib 15, c. 84 

2) Auch die venet. Relation von 1615 (Cod. ital. 868) be 
merkt: in Rom beftänben noch bie Formen municipaler SchhR- 
verwaltung, aber das feien alle® Dinge, che servono piuttosto 
per apparenzs, che per assistenza di governo; bie Berathun- 
gen hingen völlig von bem Willen bes Papſtes ab. 


633 


alfe Unbemittelten von dem Stande und ver ihm eröffneten 
Laufbahn ausgefchloffen waren. Ä 

Eine bevenkliche Laft für das Land wurde bie große 
Menge von römischen Beamten, deren Stellen die Päpfte, 
wenn fie fih in finanziellen Verlegenheiten befanden, ges 
Schaffen Hatten, nur um fie zu verfaufen. Ihre Gefchäfte 
waren unbebeutend, zum Theil waren ed auch bios Titel 
ohne jedes wirkliche Amt. Der Käufer zahlte entweber eine 
jährlide Summe, over eine einmalige Averfalfumme, und 
konnte feine Stelle auch wieder verkaufen. Angewiejen war 
er nicht auf ein fire Gehalt, fondern auf Sporteln und 
Erträgniffe des Amtes. Schon im Jahre 1470 gab es 
650 folcher käuflicher Stellen; darauf ſchuf Sirtus IV. 
ganze Collegien, um deren Stellen zu verlaufen, unb ba 
bie folgenden Päpfte, vor allen Leo X., dieſem Beiſpiele 
nachahmten, fo gab es unter Paul IV. bereits 3500 fol 
her Stellen. Man berubigte fich hiebei damit, daß man 
doch der Nothwenpigkeit, das Volt mit neuen Auflagen zu 
belaften, überhoben fe. Es war eigentlich ein verſtecktes 
Anleihefgitem in der Form von XLeibrenten. Die Folgen 
bievon machten fich vorzugsweife im firchlichen Gebiete fühl 
bar, denn hauptſächlich auf die Zaren im Bereiche ber 
Denefizien und Difpenfationen waren bie Käufer anges 
wiefen. Aber auch in der Verwaltung bes Sirchenftaate 
empfand man die Wirkungen, da auch die Regierungsftellen 


DM 


mitunter verkauft wurben,') und ba vie Eloße Eriftenz einer 
zablreichen Kaffe von eingelauften und ihre Stelle wie 
eine Waare, einen Hanbelsartifel behandelnden Beamten am 
Ende dem fiscalifchen Geift in der gefammten Verwaltung 
das Uebergemwicht verfchaffen mußte.) Es war eines der 
Berbienfte, welche ber treffliche Innocenz XII. ſich erwarb, 
daß er im Yahre 1693 dieſe Käuflichkeit ver Stellen, durch 
Nüderftattung des Kaufpreiſes an die Inhaber, abichaffte.”) 
Aber freilich konnte er die folgen der über zwei Jahrhun⸗ 
derte beftandenen Einrichtung, die bis in die jüngfte Zeit 
nachgewirkt haben, nicht mit vertilgen. 

Da die Geiftlihen Bier einen fo mannigfach bevor- 
zugten und privilegirten Stand bildeten, wie das in keinem 
andern Lande der Welt ver Fall fein Eonnte, fo waren denn 


1) So erwähnt 3. B. Saracinelli, Notizie storiche della 
eitt& d’Ancona, p. 335, baß bie Regierung von Ancona an 
Benebetto Accolti am bie jährliche Eumme von 20,000 
Ecudi verfauft warb. 

N) Murstori Annali, a. 1693, XVI., 237, ed. Milan. 

2) Per la qual cosa si viene a riempire la corte d’uomini 
mercenarii e mercanti, — — non avendo detti mercens- 
rii d’offici involto l’animo che in cose meccaniche e basse 
— — si che tolta l’economia esteriore ogni altra eosa ai 
reduce a deterioramento. So ber venetianiihe Botſchafter 
Grimani ımter Clemens IX. Tesori della corte Rom. 
p. 426. 


BE. ZEE 


auch die beiden Klaſſen wie durch eine breite und tiefe 
Kluft von einander gefchteden, und die Laien gegen die 
ihnen fo überlegenen, fo von allen Seiten gefchirmten 
und unverletlichen Geiftlichen von einer Eiferfucht erfüllt, 
die oft in entſchiedne Abneigung überging. Einerfeitd wird 
ſchon im 16. Jahrhundert mehrfach erwähnt, daß im Volle 
Misftimmung berrfche Über pas Regiment der Geiftlichen,') 
andrerſeits fiel e& dem berühmten Staatsmann und Hiftoe 
riter Baolo Baruta, einem ernft religiöfen Manne, im 
Jahre 1595 auf, daß man in Rom bie Erhaltung ber Vor⸗ 
rechte und Immmnitäten ber Geiftlichen als die erite und 
wichtigfte Angelegenheit behandle. Er babe, berichtet er, 
bäufig nicht ohne Verwunderung und Aergerniß bemerlt, daß 
ſelbſt ungeiftlich lebende Prälaten hoch geachtet und belohnt 
würden, wenn fie nur bie Vorrechte des geiftlichen Stan⸗ 
des gegen die Lalen vertheibigten, fowie man es auch mit« 
unter einem Prälaten zum Vorwurf rechne, daß er zu fehr 
bie Laien begünſtige. Es fehe aus, ald ob Geißliche und 
Laien nicht zu der einen und felben Heerde gehörten, nicht 
innerhalb der Einen Kirche fich befänden.*) | 

Man bemerkte ferner, daß, feitvem feine Päpfte mehr 
aus geiftlichen Orden erhoben wurden, (nah Sirtus V. 





1) Governo dei preti, feitbem flebenber Ausorud. 
!) Relasioni Venete, X. 375, 





_ 536 

ft. 1590, war Benebilt XIII. 1724 wieber ber erite Monch 
auf dem päpftlichen Stuble) und feitvem tie Repotenre- 
sierung Gebrauch geworben, die Ordensgeiſtlichen felten 
“ mehr bervorgezogen ober gebraucht wurden. Alles war in 
den Hänben ber Weltgeiftlichen, beſonders derer, die das 
leifteten, was bie Orbensgeiftlichen nicht konnten: ben Res 
poten zu bienen, ober bie durch ihre juriftifchen Studien 
fich beffer zu eignen fchienen.‘) 

Auffallend war ber Contraft, ven vie geiſtliche unb 
bie weltliche Verwaltung der Päpfte darbot. Die erftere 
trug durchaus das Sepräge würbevoller, auf feſten Regeln 
und alten Ueberlieferungen ruhender Stabilität; pie Re⸗ 
gierung des Landes dagegen war bem häufigen Wechfel ver 
Berfonen, ver Maßregeln, ver Syſteme preisgegeben.‘) Die 


) Grimani, ber biefe VBerhältniffe ſchilbert, behauptet: nelle 
concorrense un pretuccio ignorante 6 vizioso otterrä il 
premio sopra il religioso dotto e dabbene, unb beſchreibt 
dann bie nachtheiligen Folgen, unter anbern auch bie, daß es 
fehr an brauchbaren Männern für die Aemter bes Kirchenflaats 
fehle. Diit dem Aufhören bes Nepotenweſens (feit Innocenz XII.) 
mußten dieſe Zufänbe fich beffern. 

*) Die Relation (Cod. ital, 358) della qualitk e abusi della 
Corte di Roma f. 127 bemerkt: Die fleten Beränberungen in 
ber Berwaltung fielen Jedem, ber nah Rom komme, fo auf, 
baß Manche meinten, bie Urſache müffe in ber Luft, im Mima 
ber Stabt Tiegen. Die Thatjache ſelbſt wird allgemein bemerkt. 


637 


Pontifikate waren, im Vergleich mit ben Regterungen welt 
licher Fürſten, kurz: burchfchnittlich bauerte die Regierung 
eines Papftes neun Jahre.,) Selten gefchah es, daß ber 
neue Papft in weltlichen Dingen das Syſtem bed Vor⸗ 
gängers beibebielt; unter dem lebhaften Eindrud ber Un⸗ 
zufrievenheit, bie gewiffe Uebelſtaͤnde ver bisherigen Ver⸗ 
waltung erregt hatten, trat er die feinige an, und war alfo 
um fo geneigter, feiner Herrichaft gleich burch entgegen- 
gefegte Maßregeln ein günſtiges Vorurtheil zu erwecken. 
So hat man bemerkt, daß bezüglich des Anbau’ der römi⸗ 
fhen Campagna jever Papit ein andres Syſtem befolgte, 
was denn freilich die Folge hatte, daß in ber Hauptfache 
nichts zu Stande gebracht wurbe. 

Bor Allem waren es die Perfonen, die jeder neue 
Papft wechjelte, was denn dazu führte, daß gerade bie ein, 
flußreichften Aemter nicht lange in benfelben Händen blieben, 


So heißt es in einer Inftruction für die fpanifchen Gefanbten 
in Rom aus bem 17. Jahrhundert, beigebrudt ber Schrift: 
La monarchia di Spagna erescente e calante, 1669, p. 7. 
Questa corte (ber römiſche Hof) & variabilissima, e cosi 
bisogna, come il buon piloto, mutar le vele conforme al 
vento che soffia &c. Bergl. au) Cantü Storia degli Ita- 
liani, V, 660. 

1) So folgten fih 3. B. in Frankreich in zwei Jahrhunderten 
(von 1589 — 1789) fünf Könige, in Deutſchland neun Kaifer, 
in Epanien fieben Könige, in Rom aber 23 Päpfte. 


538 


und die Staats- und Gefchäftsmänner nicht hinreichende 
Beit Hatten, fich vie rechte Kenntniß und Erfahrung zu 
erwerben, ober bie erworbene praltifch zu verwertben. Pa⸗ 
ruta bebt den großen Nachtheil Hervor, ven biefe Sitte 
mit jich führe. Die neuen Päpfte feien gewöhnlich burch 
Güte over Gelehrſamkeit amegezeichnete, aber in den 
Staatsgefchäften unerfahrene Männer?) bebürften alfo um 
fo mehr alter und erfahrner Minifter und eines feften, 
beharrlichen Rathes. Statt deſſen babe der Neugewählte 
nicht® Eiligeres zu thun, als die vornehmften Aemter feinen 
Nepoten oder Günſtlingen und Landsleuten zu verleihen.?) 
Clemens IX. war der erfte, der von dem Gebrauche, zum 
Verdruſſe feiner Landsleute, der Biftojefen, abwich, und, 
außer in einigen wenigen hohen Stellen, alle Beamten fei- 
nes Vorgängers beftätigte.’) 

) Es if in ber That merfwllrbig, daß bie fpätere Praris im 
biefem Punkte jo ganz von ber des Mittelalters, in ber Zeit 
wo bie Papftwahl von äußern Einfläffen frei war, abgewichen 
if. Im eilften, zwölften, breizehnten Jahrhundert werben häufig 
jene Männer zu Päpften gewählt, welche fchon unter einem 
ober zwei Päpften das widhtigfte Amt ber römifchen Kirche 
beffeibet hatten. So Gregor VII, Urban II, Gelafius 11, 
Lucius II., Alerander III, Gregor VII, Gregor IX., Aleran- 
ber IV. Jetzt iſt ber Carbinal-Etaate-Eefretär ber eigentlidhe 
Regent, und man betrachtet es als Regel, daß er nie zur pärf- 
fihen Würde gelange. 


?) Relazioni Venete. X, 420. 
2) Grimani relaz. in den Tesori, p. 417. 


539 


Die Finanzverwaltung der Püpfte feit dem Beginne 
des 16. Jahrhunderts erfcheint, wenn man fich an bie Ziffern 
and die angemwantten Mittel hält, in ungünftigem Lichte. 
Trotz ber vervielfältigten Auflagen, vie um fo drückender 
waren, als der Wohlftand der Bevölkerung Teineswegs im 
Steigen begriffen war,’) wuchs bie Staatsfchuld fortwährend, 
da tie Püpfte mitteld der Errichtung von Monti, fo wie 
durch den Aemterverfauf die Einnahmen immer wieder vers 
äußerten. Man bemerkte, daß feit Sirtus V. die Päpfte 
ihren Nachfolgern nur Schulden Hinterließen.) Hatten fie 
unter Clemens VIII. 12,242,620 Scudi over 17,751,799 
Rthlr. betragen, fo daß fie drei Viertel der ganzen Staats⸗ 
Einnahmen zur Verzinfung erforverten; fo hinterließ Innos 
cenz X. 1655 bereit8 48,000,000 Seudi Schulden. Das 
Motiv aber zu fo ſchweren Belaftungen des Staates war, 
abgejehen von den zwei unnützen italiänifchen Kriegen und 
den Verjchleuderungen der Nepoten und ihrer Günftlinge, 
ein für die Päpſte rühmliches. Ste durften fich der Ver⸗ 


1) Bon Clemens IX. bemalt Muratori, XVI, 92: er habe 
fortwährend auf Mittel gefonnen, fein Boll von ben vielen, 
durch feine Borgänger auferlegten Abgaben zu erleichtern, unb 
eine Congregation deshalb eingeſetzt. Das war aber ſchon we⸗ 
gen ber Etaateſchuld nicht möglich. 

?) Grimani relasione, in ben Tesori della Corte Romana, 
1672, p. 429. 


— — 


pflichtung, die katholiſchen Mächte in den religidſen Kämpfen 
bed 16. und 17. Jahrhunderts, beſonders aber in ben Tür⸗ 
kenkriegen mit Gelpbeiträgen over mit Truppen und Schiffen 
zu unterftügen, nicht entziehen. Sie Hatten bie Aufgabe, 
in Italien gemeinfchaftlich mit den Venezianern die Vor⸗ 
mauer der Chriftenheit gegen ven Erbfeind im Orient zu 
fein, von ihren Vorfahren überlommen. Frankreich, bes 
ſonders aber Polen, Ungarn, ver Kaijerhof, am häufigften 
die Venezianer, begehrten und empfingen große Summen. 
Alle Berfolgten und Beraubten in den füpöftlichen Ländern 
wandten ſich immer zuerft an fie, und fanden in der Regel 
großmäthige Hilfe.) Die Laften, welche die Benöfferung 
trug, waren alſo Opfer, welde für das allgemeine Wohl 
ber Ehriftenheit gebracht wurden, aber es waren zwei Uebel« 
ftände dabei. Einmal gelangte das Land zu feinem auf 
Induftrie gegründeten Wohlſtande, die Städte blieben, mit 
wenigen Ausnahmen, Hein und arm; und da man Alle ans 


1) Auch Ranke, die römiichen Päpfte, I, 422, fagt: „Die Päpfe 
wünſchen das Land zu verwalten wie eine große Domäne, 
beren Rente alsdann zum Theil wohl ihrem Haufe zu Etattem 
käme, hauptfächlih aber für die Bedürfniſſe ber Kirche ver» 
wenbet würde.“ Was er von ber Sorge für bie eigne Familie 
fagt, gilt doch nur von den Päpften vor 1691, umb aud 
ba nicht von Allen, namentlich nicht von Clemens IX., einem 
Papfte, den man vortrefflich nennen müßte, wenn ex nicht allzu 
Inbolent und energielos geweſen wäre. 


541 


dem Auslanbe bezog’) warb das Land trotz feiner treffli⸗ 
hen Naturgaben immer ärmer. Sobanı war bie Finanz⸗ 
Berwaltung natürlich geheim, von Öffentlicher Rechenſchaft 
war nicht die Rede; ein Teſoriere durfte nur Cardinal 
werben, fo war er, vermöge ſeines Standesvorrechts, jeber 
Berantwortlichkeit überhoben. Das Volk fühlte nur den 
Drud der wachfenden Abgaben, und wurbe immer unzu⸗ 
frievener mit dem „Priefter-Regiment.” Diefe Abneigung 
muß fchon zu Baruta’s Zeit, um 1595, arg geweſen fein.’) 
Das Vebel warb aber im folgenden Jahrhundert noch grö- 
er, und wenn auch die Behauptung des Cardinals Sac⸗ 
chetti eine Mebertreibung ift, daß im Jahre 1664 vie Be⸗ 
völferung nahezu um bie Hälfte vermindert geweſen ſei, fo 


— 


N) Die hebt eine venezianiſche Relation v. J. 1615 (im Cod. 
Ital. 358, f. 45, der Münchner Bibliothek) beſonders hervor: 
Quasi tutte le cose, che si usano, sono portate da paesi 
forastieri &c. 

?) Relas. Ven. X, 896. Bon ber gravezza quasi insopportabile 
dell’ imposizion rebet bereits Tiepolo um 1570, f. 
Ranke I, 421. Im Jahre 1664 klagt der Cardinal Sac⸗ 
chetti wieder Über il numero innumerabile delle gabelle 
u. ſ. w. Durch Pallavicini erfährt man, daß das Boll 
dem Nepotenwefen und ber Ausflattung und Bereicherung ber 
päpftlichen Familien die Schuld bes Abgabendruds zuſchrieb: 
Populus, qui prae multis vectigalibus humeris sibi ferre 
videbatur recentiores pontificias domos tot opibus onustas 
&o. In ber vita ms. Alexandri VII, 


BR. 


ift es doch richtig, daß Viele auswanberten, um ben Zaften 
fich zu entziehen. 

Im Iahre 1670 war die Schuld auf 52 Millionen 
Scudi geftiegen, und verfchlang nun auch vie fonft für vie 
Bepürfniffe des päpftlichen Hofs verbehaltenen Renten der 
Datarie. Unter Clemens XII. betrug das Deficit 120,000 
Seudi. Beſſer ftand es bei dem Tode Benerilt8 XIV. 
im Sabre 1758; das Deflcit war um mehr als die Hälfte 
gefunlen, aber die Berzinfung der Staateſchuld verjchlang 
die Hälfte der Einnahmen. Ale darauf die Etürme ber 
frangdfifchen Revolution auch über den Kirchenftaat losbra⸗ 
chen, erfolgte unter der römischen Republik, welche nach der 
GSefangennahme Bius VI. ein paar Jahre lang eine füm- 
merliche Eriftenz friftete, der Staats» Bankerott, der das 
von Pius VI. gejchaffene Papiergeld befeitigte.') 

Im 17. und 18. Jahrhundert wird der Zufland tes 
Landes gemwöhnli in büfteren Farben gefchilvert. Die 
fremden Gefandten meinen: wenn ein weltlidher Monarch 
den Sirchenftaat regierte, Lönnte verfelbe zu einem hoben 
Flor des Wohlftandes, jelbft des Reichthums, emporgebracht 
iwerben,!) da im Boden wie in der Bevölkerung alle Bes 
dingungen dazu vorhanden feien. Sehr verfchieen find bie 


1) Coppi Annali d'Italia. Ill, 219. 
?) So bie venet. Relation von 1615. 


548 


Urſachen, welche zur Erflärung bes allgemeinen Verfalis 
angeführt werden. Bor Allem natürlich bie ftete Zerrüttung 
ber Finanzen, die freilich wieder nicht blos durch das Un⸗ 
weien der Nepoten und Günftlinge motivirt war, ſon⸗ 
bern tiefer liegende Gründe Hatte Zu dem durch ben 
Mangel einer einheimifchen Inbuftrie verurfachten Geldab⸗ 
fluß fam nun noch, daß auch tie Zinfen der ungeheuren 
Staatsſchuld großentheils in's Ausland floffen, da die Haupt⸗ 
gläubiger Genuefen und Florentiner waren. Nach der Des 
merkung des Bräfidenten de Broffes') kamen nicht eins 
mal die firchliden Zahlungen aus dem Auslande baar nad 
Nom, fondern in Wechfeln an bie Banquiers, bie fofort 
die fremden Staatsgläubiger damit befriedigten. 

Die Gefege über den Handel waren jo unbegreiflich 
verkehrt, daß der Verbacht geäußert wurde, fie möchten ger 
fliffentlich auf die Unterbrüdung alles Kunftfleißes und 
Handels berechnet fein. In gleicher Richtung wirkten bie 
widerfinnigen Zölle im Innern des Landes. 

Hieran ſchloßen ſich die wilfführlichen Mafregeln bezüg⸗ 
lich des Getreidhandels (das Inftitut ver Annona) und bie 
Einführung von Moncopolen der wichtigften Lebensbedürf⸗ 
niffe, Dinge, Über welche lange und viel geflagt wurbe. Es 


1) Le President de Brosses en Italie, lettres &o. Paris 
1858, II, 452 499. Die Briefe find von 1789 und 1740. 


644 


fehlte eben an aller Vertretung der Vollsinterefjen. Die 
einzelne Stadt mochte wohl ihre Wünfche und lagen in 
Rom anbringen, aber an irgend etwas einer Provinzialver- 
tretung Analoges ift im Kirchenftaate nie gedacht worden, 
noch weniger an eine Vertretung bes ganzen Lanbes.') 
Der Präfident de Broffes fand um das Jahr 1740, 
bie Verwaltung des Kirchenftaates fei die mangelhaftefte in 
Europa, aber auch zugleich die milvefte. Dadurch, daß 
biefe Milde In Nachläffigleit und Schwäche entarte, babe 
fie zur Verarmung des Landes beigetragen, und unter ber 
Hand bejahrter und hinfälliger Souveräne Alles verkom⸗ 
men laffen. Er meint ferner: ber Papft würbe der reichite 
Fürſt in Europa fein, wenn er fo viel von feinen Unter- 
tbanen erhöbe als ein andrer Souverän, und feine Finanzen 
erträglich verwaltet würden.) In Italien urteilte man, 
was die fehlerhafte Beſchaffenheit der päpftlichen Verwal⸗ 
tung betraf, ebenfo. In einem paneghrifch gehaltenen Leben 
Bius VI. geſteht Becattint: mit Ausnahme ber Türkei 
fei ver Kirchenſtaat das am fchlechteften verwaltete Land. 
Die beillofe Annona ober Getreidegeſetzgebung, das quäle 


1) Gegenwärtiger Zuftanb bes päpftlichen Staats. Helmftabt 1792, 
©. 217. gl. die Riflessioni bes Cardinals Buoncom- 
pagni vom Jahre 1780, theilweife überſezt in Le Bret’s 
Magazin, IX, 452 — 527, 

2) Lettres familidres. II, 452. 465. 


645 


rifche und bemoralifirende Victualientribunal; der Mangel 
an Manufalturen, bie Aufmunterung des Schleihhandels 
durch die hohe Beftenerung ver Einfuhr, bie Bereicherung 
der Staatspächter zum größten Schaden des Aerars, bie 
Menge ver Mordthaten, das waren ohngefähr die That⸗ 
fachen, auf pie man zur Eharakterifirung der Zuftänbe im 
Kirchenſtaate Hinwies,') und man wird in der That bei 
Betrachtung dieſer Dinge flart an einen Ausipruch des 
alten Kanzler Elarendon erinnert.) Die Milde ver 
päpftlihen Regierung bat Übrigens noch neuerlich ein mit 
ber ttaliänifchen Gefchichte vertrauter Engländer bezeugt.’) 

Den Fremben, die in's Land kamen, und fich um deſſen 
Regierungsweiſe bekümmerten, flel meiftens zuerſt die Ab- 
wefenbeit jeber Schranke, die Omnipotenz bed Souverains 
anf. So fagt Grosley, der um das Yahr 1760 ven 
Kirchenſtaat befuchte:*) Die päpftliche Regierung fei die ab- 
folutefte von allen Europätfchen. Bon allen ven Befchrän- 


) Cantü St. degli Ital. VI, 126. 

?) He observes, that of all mankind none form so bad an 
estimate of human aflairs asohurchmen. Hallam’s oonstit. 
History of England. III, 330. 

2) Whatever objection there may be to the papal sway, it 
sannot in fairness be rcgarded as otherwise than mild. 
Dennistoun’s Memoirs of the Dukes of Urbino. 1851. 
UI, 238. 

%) Observations sur l'Italie, Paris 1774, 11, 329. 

v. Döllinger, Papſtihum. 35 


—4 


kungen, welche in den monarchiſchen Staaten beſtünden: 
Staatsgrundgeſetze, Kroönungseid, Verordnungen der Vor⸗ 
gänger, Reiche oder Provinzialftände, mächtige Corpora⸗ 
tionen, finde ſich im Kirchenſtaate eine einzige Man 
ftannte über ein Imftitut, wie das des Uditore Santiffimo, 
welcher im Namen des Papftes willlührlich in jedes Gebiet 
ber NRechtöpflege eingreifen, Proceſſe und Perfonen ihrem 
ordentlichen Nichter entziehen konnte. Bei näherer Prüfung 
fand man inbeß, daß dieſe abfolute Gewalt doch fehr er- 
mäßigt war durch Gebräuche, über die ſich ein Papft nie, 
oder faft nie, binwegfegte, durch manche zu nehmende Rück⸗ 
fichten, durch fchon lange zum Princip gewordene möglichfte 
Schonung ber Berfonen, fo daß der, ohnehin im Ganzen 
mit Milde gehanphabte, Abfolutiemus mehr zum Schein 
und in ber Theorie als im praftifchen Leben eriftirte. 


3. Der Kirchenſtaat von 1S14— 1846. 


AS Napoleon I. den Papft Pius VII. des Kirchen» 
ſtaates beranbte, da that er e8 nicht zuerſt und hauptſäch⸗ 
lich, weil es ihm um den Beſitz dieſes Landes zu thun war, 
ſondern weil er dem Papfte die Unabhängigkeit nicht gönnte, 
bie ihm fein Staat verbürgte, weil er ihn leiten, zu feinem 
Werkzeuge in der Unterjochung und Beherrſchung der Völker 
machen wollte. Er bat das belannt. „Ich verzweifelte nicht, 


547 


fagte er, durch ein Mittel oder das andere bie Leitung 
dieſes Papftes an mich 315 bringen, und alsdann welch ein 
Einfluß!“) Er wollte den römifchen Hof in Paris an- 
fieveln, ihn zu einer franzöfiichen und kaiſerlichen Inftitu- 
tion machen, fich dadurch feines Einfluffes auf alle Tatho- 
lifchen Nationen bemächtigen, über vie Seelen wie über bie 
Leiber herrſchen.) Es ift ihm nicht gelungen; auch ber 
gefangene Bapft, nah des Eroberers eignem Ausbrud 
„fanft wie ein Lamm und ein Engel von Güte," ließ fich 
nicht leiten, nicht gebrauchen. Die momentane Schwäche, 
welche der gequälte, umgarnte, überliftete Pius durch Un- 
terzeichnung des Goncorbats von Fontainebleau im Jahre 
1813 mit impliciter Verzichtung auf feine weltliche Gewalt 
gezeigt Hatte, warb rafch wieder gut gemacht, und nach 
wenigen Monaten konnte er, ftanphafter Dulder und num 
friepfertiger Sieger, durch vie Provinzen feines ihm wieder⸗ 
gegebenen Landes unter den aufrichtigen Freudensbezeu⸗ 
gungen bed ganzen Volkes, auch der fo lange getrennt ge- 
wefenen Romagnolen, nach feiner Hauptftabt ziehen. Es 

war Ein großer Triumphzug. | 


1) Memorial de St. Helene V, 826. 

?) B’en servir comme un moyen social pour röprimer l’anar- 
chie, consolider sa domination en Europe, accroitre la 
consideration de la France et l’influence de Paris, objet 
de toutes ses pensdes. Memorial de Ste Helöne, 1. o. 

35 * 





548 





Der ganze Kirchenfinat, wie er ihn nie befefien, war 
ihm durch die Wiener Beichläfig übergeben, unb in ber 
Berfon Conſalvi's befaß er einen Staatsmann von fel«- 
tener Begabung, der tum bie fchiwierige Aufgabe, die tra- 
bittonelle päpftlicde Verwaltungsweiſe ftatt der bisherigen 
franzöfifchen theilweiſe berzuftellen, Idfen Half. 

Daß die Form der fung den Staat und das Papft- 
thum in neue, unlößbare ober bis auf bie Gegenwart noch 
nngelöste Schwierigleiten vertwidelte, pas follte man freilich 
erſt ſpaͤter erfahren. 

In der Vorrede zu dem Motuproprio vom 6. Juli 
1816, welches die Verwaltung des Kirchenſtaats beſtimmte, 
erklaͤrte Conſalvi: Früher babe im Staate ein Aggre⸗ 
gat von mancherlei Gebräuchen, Geſetzen und Privilegien 
beſtanden; da ſei es nun ein Vortheil und eine göttliche 
Fügung, daß durch bie Unterbrechung der päpftlichen Re⸗ 
gierung und während biefer Awifchenherrfchaft alle dieſe 
Ungfeichheiten aufgehoben, Einheit und Gleichförmigkeit ein- 
geführt worben fei. Denn eine Regierung ſei um jo voll» 
kommener, je mebr fie fich dem Syſtem ver Einheit nähere. 

Das bevachte diefer Staatsmann nicht, baß eine ab⸗ 
folute Regierung nur dadurch erträglich werde, nur dann 
nicht unter der Laft der ungeheuren Berantwortlichleit er» 
liege, wenn fie ein mannigfach geglievertes, durch Sitte und 
Herlommen gefchüßtes Leben, untergeorpnete, aber in ihrer 


549 


Sphäre frei fich bewegende Kreife duldet und anerkennt. 
Seine geprief ene Einheit und Gleichfoͤrmigkeit war deſtructiv, 
und auch er follte die Erfahrung machen, daß es weit leich⸗ 
ter fei zu zeritören als aufzubauen, als etwas Lebenskräf⸗ 
tige8 in den öffentlichen Verhältniffen zu fchaffen. 

Es wurde alfo Feine einzige der alten municipalen und 
provinzialen Einrichtungen hergeftellt; der Sonfaloniere und 
die Anziant’8 der Communen erbielten Teine Selbſtſtändig⸗ 
feit; auch Rom und Bologna erhielten nım den Schatten 
municipaler Verwaltung. Die lokalen Gefete und Statuten, 
welche ſehr verjchiebenartige, und in der Nechtöpflege aller- 
dings unbequeme Berechtigungen gewährten, fo wie fämmt- 
liche Privilegien der Communen und Eremtionen ober Vor⸗ 
rechte blieben aufgehoben. So trat Conſalvi bereitwillig 
bie Erbfehaft an, welche die fremde, im napoleonifchen 
Regimente incarnirte, Revolution ihm binterlaffen Batte; 
er dankte ihr, daß fie feiner Verwaltung fo energifch und 
ſchonungslos vorgearbeitet, den Boden für ihn eingeebnet 
hatte; darin jeboch wich er von dem franzöfiichen Syſteme 
ab, daß er die Gewalt wieder in geiftliche Hände legte. 
Der Kirchenſtaat follte ein abfoluter Beamtenſtaat nach 
franzöfifchem Mufter fein, aber die höheren Beamten follten 
ber Brälatur angehören. Dieſe Form eines geiftlichen, 
omnipotenten, bureaufratifch verwaltennen Beamtenftaate® 
war im Grunde etwas Neues, unendlich weit verfchteven 


Re 


von ben Älteren Zuftänden, vor Allem von denen bed Mit- 
telalterd. Demnach wurde das ganze Sand in 17 Dele⸗ 
gationen (oder Legationen, wenn fie einen Carbinal zum 
Vorfteher Hatten) eingetheilt. Die Delegaten entiprechen 
ben franzöfifchen Präfekten, müſſen Prälaten fein, entſchei⸗ 
ben über Alles, und haben eine blos berathenbe, von Rom 
aus ernannte Verſammlung zur Seite. Zugleich fteht ihnen 
bie Ernennung der Magiftrate zu, welche bie Verwaltung 
ber Commune führen, und in denen auch Geiftliche, den 
Laien vorgehenbe Mitglieder figen. Unter den Delegaten 
ftehen die ernannten Governatoren, mit niederer Gerichts⸗ 
barkeit. In Rom wurden dann bie alten oberften Behörs 

ben wieder hergeſtellt, bie Congregazione della Conſulta, 
del buon Governo, economica, dell’ Acque, degli Studii, 
dann die mit den verſchiedenartigſten Attributen ausge⸗ 
ſtattete Camera Apoſtolica, eingetheilt in 21 Unterbehör⸗ 
den oder Geſchäftskreiſe, mit dem Cardinal Camerlengo 
und dem Teſoriere oder Schatzminiſter. Hiezu kamen 15 
verſchiedene Gerichtshöfe. An der Spitze ber Regierung, 
der geiſtlichen ſowohl als der weltlichen, ſtand der Cardi⸗ 
nal⸗Staatsſekretar. Die Pflanzſchule, aus ver die Regie⸗ 
rung ihre Beamten nahm, war jene Klaffe römifcher Aba⸗ 
te's, welche, mit fehr unzureichenden juriftifchen und ohne 
alle ftaatswirthfchaftlichen Studien, mehr abgerichtet al® ge 
bildet, befjer vertraut mit ben kirchlichen Geremonien als 


551 

mit ben DBerwidelungen und Intereſſen des bürgerlichen 
Lebens, ihr Vertrauen auf das Patronat eines Cardinals 
oder Monſignore fegend, in Rom felbft nur fehr geringes 
Anfehen genoffen, in den Provinzen der Mehrzahl nach 
mindeftens nicht beliebt waren. Bon allen europälfchen 
Berwaltungsiuftemen war pas Nömifche unftreitig das com⸗ 
plicirtefte, fo zwar, baß in einzelnen Fällen erft weitläufige 
und zeitraubende Eorrefponbenzen vorausgehben mußten, um 
nur zu beftimmen, ob eine Sache zu dem Reſſort der einen 
ober andern Behörbe gehöre. Bon einigen Behörben wirb 
indeß bemerkt, daß fie nur noch dem Namen nach und um 
der Titel willen befteben. 


Uebrigens erprobten fich einzelne Einrichtungen Con» 
ſalvi's als fehr zwedmäßig und wohlthätig, namentlich 
bie den Delegaten an die Seite gejeßten Congregaziont 
governative, bie den franzöfifchen Präfecturräthen nach» 
gebildet waren. Allgemein wurde auch anerkannt, daß das 
Tribunal der Sacra Ruota ein trefflicher Gerichtshof mit 
einem muſterhaften Proceßverfahren fet. 


In den deutfchen geiftlichen Staaten war geiftliche und 
weltliche Berwaltung getrennt, im Kirchenſtaate find fie 
mit einander vermifht. Man Hat dieß fiir eine Nothwen⸗ 
bigfeit erklärt, man bat behauptet: Die voppeljeitige Stel- 
lung des Dberhauptes müſſe fi in ben unteren Sreifen 


662 - 


wiederholen.) Dieß ift aber fo wenig richtig, als bie Be⸗ 
bauptung richtig wäre: Darum weil ein König zugleich das 
Haupt der Wehrkraft oder oberſter Kriegsherr und das 
Haupt der Verwaltung in feinem Lande iſt, müſſe ſich biefe 
Vermiſchung der militärifhen und ber bürgerlichen Gewal⸗ 
ten auch in den untern Kreiſen wiederholen. Belanntlich 
findet in jedem georpneten Staate vielmehr die völlige 
Auseinanberhaltung beider Gebiete ohne die mindefte Schwie⸗ 
rigleit ftatt, Und fo könnte auch im Kirchenftante das 
Geiſtliche und das Politiſche, Kirche und bürgerliche Ver⸗ 
waltung, trog ber Einheit des Hauptes, in den Gliedern 
fehr wohl gefchieden fein. 

Das Finanzweſen fand Confalvi in einer fchon alten, 
theild von früheren Iahrhunderten fortgeerbten, dann aber 
burch bie Plünderungen ber Franzoſen und bie hohen Be⸗ 
bürfniffe der napoleonifchen Herrſchaft gefteigerten Zerrüt- 
tung, fo daß fchon das Deficit von 1816 1,200,000 Scudi 
oder 1,740,000 Rthlr. betrug; gleichwohl Hatte fich die Ein⸗ 
nahme in Folge der franzöfifchen Verwaltung nahezu ver» 
breifacht. Natürlich mußten die von den Franzoſen ein- 
geführten Abgaben in ter Hauptſache beibehalten werben. 

Das gefammte franzöfifche Recht in allen Zweigen, 
fowie die Proceßordnung, hatte Thon vor des Papfte® Aue 


ı) Ranke, in feiner biftorifch-politifchen Zeitfchrift 1, 682. 


563 


kunft fein Delegat Rivarola abgefchafft; nun waren auch 
noch alle prowinziellen Statuten und ftäbtifchen Sonder⸗ 
rechte aufgehoben. Einftweilen follten das kanoniſche Recht 
und bie päpftlichen Eonftitutionen älterer Zeit, eine faft un« 
überjebbare, verwirrende Maſſe von zum Theil widerſpre⸗ 
enden Berfügungen, die Stelle vertreten. Peinliche Ver⸗ 
wirrung in allen Kreifen der Nechtöpflege war bie nächſte 
Folge. Sie wurde vergrößert durch die Concurrenz ber 
bifchöflichen Berichte, da dieſe jede, einen Geiftlichen be⸗ 
rührende Sache vor ihr Forum zogen. Auch die alten 
Zribunale der Fabbrica di San Pietro für religidfe Ver⸗ 
mächtniffe und der Eherici bi Camera für Domänenjachen 
wurben bergeftellt. ‘Doch wurben neue Gefeblicher ver- 
beißen. Im Ganzen war die Gewalt ber Geiftlichkeit in 
ber weltlichen Regierung bedeutend größer geworben, al& fie 
es früher gewefen war. So manche Schranke war gefallen. 
Zudem befand fi das ganze Unterrichtswefen, und eine 
fehr gefchärfte, von den höheren Klaſſen widerwillig getra- 
gene Eenfur in ihren Händen. 

Gleichwohl erfchten Eonfaloi der zahlreichen und mäch- 
tigen Partei der Zelantt, zu der wohl die Mehrzahl ver 
Carbinäle gehörte, als ein gefährlicher Neuerer, und ber 
Cardinal Matte, Decan des Eollegiums und Principe bi 
Belletri, ließ die Edicte des Staatsfelretärs in Velletri 
Durch feine eignen Sbirren abreißen. 


— 


Italien wear, gleich Polen, auf dem Wiener Congreß 
als „geographiicher Begriff“ behandelt worden. Die Ras 
tionen, ihre Wünfche, ihre Bebürfniffe waren bort über 
haupt nicht in Rechnung gebracht worben. Defterreich 
berrfchte, nicht allein in feinem Antbeil, fein Einfluß, fein 
Machtwort galt auch in den übrigen ttaliänifchen Staaten; 
nicht6 follte in viefen dem Volle an Rechten und Inſtitn⸗ 
tionen gewährt werben, was nicht mit ben Intereſſen ber 
öfterreichifchen Beamtenherrfchaft, wie man fie damals in 
Wien veritand, verträglich erſchien. Die Yolge war, daß 
binnen wenigen Yahren Italien fich mit einem Nee gebei- 
mer Gefellichaften bedeckte. Das dfterreichliche Joch abe 
zufchütteln, ward ber Lieblingswunfch der höheren Klaſſen. 
Die Franzofen hatten in Spanien doch eine Partei für fich 
zu gewinnen vwermocht, bie Afranceſados; aber Defterreich 
brachte e8 in Italien nicht einmal dazu; mochten anch bie 
Landbewohner im Lombarbifch-Venetianifchen fich der ges 
ordneten Verwaltung und Sicherheit erfreuen; in den Stäbten 
war Alles antiöftreichifch, Alles für nationale Unabhängige 
keit. Bald war auch die ftubirende Jugend an ben Untver- 
fitäten in den Wirbel ber geheimen aber mächtigen Bewe⸗ 
gung bineingezogen. Die Literatur mit dem ganzen un⸗ 
widerftehlihen Gewichte ihres Einfluſſes kam Hinzu. Jedes 
Verbot eines Buches bewirkte ftärleren Abfag, und man 
Ind einen Autor um fo begieriger und vertrauensvoller, 


655 





wenn er ein politifch Verfolgter war. Die geheimen Ges 
jellichaften, vie Carbonari's, Adelfi's, die Guelfen, die ſu⸗ 
blimen Meifter, bie zum Theil fchon früher mit antinapo⸗ 
feonifcher Zenbenz beftanden, machten ihre Exiſtenz von Zeit 
zu Zeit burch einen politifchen ober mit politiichem Vor⸗ 
wand beichönigten Meuchelmorb bemerklich. Als nun 1820 
“und 1821 der Ausbruch in Neapel und Piemont erfolgte, 
gährte ed auch im Slirchenftaate gewaltig. Conſalvi, von 
zwei entgegengejegten Parteien, von den auf politifche Umwäl⸗ 
zung Sinnenven und von den Zelanti, gehaßt, follte geftürzt, 
„bie fpanifche Cortes⸗Conſtitution oder eine ihr ähnliche 
follte proflamirt werden. Die Flamme warb noch zeitig 
erftidt durch die raſche Beſiegung des Aufruhrs in Neapel 
und Biemont. 

Mit dem Tode Pius VII., mit der Erhebung Leo's XII 
ſchloß fich die Wirkſamkeit Conſalvi's, des viel angefeindes 
ten Mannes'). Unter dem neuen burch die Zelanti gewähl- 
ten Bapfte Leo XII. kam fofort das entgegengefehte Sy⸗ 
ftem zur Geltung Man hatte ihn gewählt theils wegen 
feiner Gefinnung, theild aber auch weil er, kränklich und 


1) Das römijche Urtheil Über ihn fiehe bei Coppi Annali, VII, 
334. Er fei corteggiatore degli stranieri potenti ed im- 
perioso sui sudditi pontificj gewejen, wirb ihm vorgeworfen, 


_ bi 


binfällig, einem baldigen Tode entgegenzugehen fchlen”). 
Er nahm fich einen achtzigjährigen, wenig thätigen Mini- 
fter, den Earbinal della Somaglia, und fo waren in ber 
fchwierigften, gefahrvoliften Zeit die, Geſchicke eines Landes, 
in welchem noch fo viel zu ordnen, zu fchaffen war, in bie 
Hände zweier lebensmüben, dem Grabe zuwankenden Greife 
gelegt. Man hatte den Papft gleich am erften Tage zur 
Ernennung einer Cardinals⸗Congregation für Staatsfachen 
gebrängt, und biefe gebachte ziemlich felbftftändig zu regie⸗ 
ren; allein Leo trat dem alsbald durch vie Erklärung, daß 
fie nur gelegentlich und zu bloßen Confultationen berufen 
werben würbe, entgegen. 

Der kranke, ſchwache Bapft arbeitete gleichwohl uner- 
müblih. Im Ganzen war die Richtung feiner Maaßre⸗ 
geln der Eonfalvifchen entgegengefegt, ven Wünfchen ber 
Zelanti entiprechend. Die Provinzialrätbe, eine ber beften 
Inſtitutionen Conſalvi's, wurden wieber aufgehoben; nicht 
nur wurde bie Inquiſition bergeftellt, fonvern e8 warb auch 
ein weit ausgedehntes Spionirwefen zur Ueberwachung ber 


) Dieß fagt ber franzöfiiche Geſchäftoträger in feiner Depeche bei 
Artaund Hist. de Leon XII, I, 180, unb Chateanbriaud 
felöft in feinen Me&moires, VIII, 215, dd. de Berlin. Della 
Benga warb freifih erſt gewählt, nachdem Oeſtreich bem 
Card. Severoli die Erclufive gegeben hatte, 


667 


Deamten und ver Bollsmoral eingeführt‘). Die alten 
Einrichtungen und Zuftänve follten möglichft hergeftellt wer- 
den, darauf, glaubte Leo, beruhe das Heil. Daher warb 
das gefammte Studienweſen ver Geiftlichkeit noch vollftändiger 
übergeben; die Podenimpfung warb wieder aufgehoben, wo⸗ 
von eine größere Sterblichkeit die nächſte Folge war. Selbft 
die lateiniſche Sprache wurde in dem Gerichtönerfahren 
einiger Tribunale wied erbergeftellt. Leo’8 Verwaltung wurbe 
bie unpopulärfte, die feit einem Jahrhundert bagewefen. 
Man gab ihm dieß auch Öffentlich durch Unterlaffen ver 
fonft gebräuchlichen Beifallerufe zu erfennen. 

ia Und doch war Leo von dem beften Willen befeelt; er 
fühlte die Unhaltbarleit der neuen Zuftände und Einrich- 
tungen, aber er täufchte fich in der Wahl der Mittel, in 
dem Streben, Erflorbenes wieder zu beleben. Ex erkannte 
wohl, daß das ganze Beamtenwefen an ſchweren Gebrechen 
leide, und daß hierin eine große Gefahr für die beſtehende 
Ordnung liege. Es war jchon längft bemerkt worden, daß 
ein geiftlicher Beamten» Organismus, eben darum weil bie 
Glieder veffelben Priefter und mit fo großen Standesvor⸗ 


— — — — 


1) Coppi Annali, VII, 337. Ich bemerke bier, daß Coppi, 
den ich noch oft anzuführen habe, ein angeſehener römiſcher 
Geiſtlicher iſt, der auch in Staatsſachen confultirt wurde, wie 
er ſelbſt 1711, 146, berichtet. 


BR ZU 


rechten begabt feien, allzufehr der feiten Disciplin ermangle, 
daß es feine Geſetze, kein Mittel gebe, fie in Schranfen zu 
halten, daß nur die Hoffnung des Vorrüdens bei ihnen 
wire. 


„Rom, fagt der franzöfifche Geſandte in einer Depefche 
d. J. 1823 '), ift eine Republik, in welcher jever Herr in 
feinem Dicafterium ift. Conſalvi hatte das zu änbern ge= 
fucht, aber alle diefe Heinen Autoritäten haben fich auf das 
erfte Gerücht von feinem Falle fofort wieder bergeftellt.“ 
Sodann fehlt in einer Verwaltung, in welcher die Geiftlt- 
chen alle höheren Aemter und Ebrenftellen, vie Laien da⸗ 
gegen bie große Menge der niederen und gering befoldeten 
Dienfte inne haben, jener moralifche Hebel, ohne welchen 
bie modernen Beamtenftaaten nicht wohl exiftiren können: 
das Gefühl der Stanbesehre und der Einfluß des Eorpo- 
rationsgeiftes, Dinge, burch welche auch die Schaar der⸗ 
jenigen Ungeftellten, welche fich nicht durch die höheren 
fittlichereligiäfen Motive leiten laffen, doch im Ganzen auf 
ber Bahn der Amtstreue und forgfältiger Pflichterfüllung 
erhalten wird. So betrachtet denn dort ber weltliche Beamte 
— und ber Italiäner iſt an fich fchon fehr geneigt dazu — feine 
Stelle als eine Verforgung, fie ift ihm eine Pfründe, bie ex für 


N) Bei Artaud, hist do Leon XI. l, 184. 


569 


fih und die Seinigen beftens benützt und ausbeutet. Leo 
fuchte nun bier Hüffe zu fchaffen durch die Errichtung einer 
„Songregazione di VBigilanza,“") welche alle Befchwerben ge- 
gen Beamte, deren er, jagt er, nur allzuviele zu feinem 
großen Schmerze gegrünbet befunden habe, aunnehmen und 
unterfuchen folle. Die Wirkung war nur, daß, wie Coppi 
bemerkt, das Spionirwefen mit feinen verberblichen Folgen 
vermehrt wurbe ’). 

Die neue Wahl im Jahre 1829 glich ziemlich ber 
vorigen. Der fromme und reine Eaftiglioni ober 
Bius VIIL war ein tränklicher, zitternder Greis, ber nur 
noch wenige Monate zu leben hatte. Doch unterbrüdte er 
fofort die Congregazione di Wigtlanza und das Späher- 
weien, das fein Vorgänger organifirt hatte Er ärntete 
Lob dafür, daß er nur wenig gethan, nachdem Leo zuniel 


1) Bisogna far per la famiglia, ift der Wahlipruch nnirer Laien- 
Beamten, fagte mir ein bornehmer Mann in Bologna; bamit 
entfchulbigen fie jede Beflechlichleit unb Beruntreuung. Dort 
vernahm ih auch noch ein anderes Sprichwort, welches ben 
obenerwähnten Mangel an abminiftrativer Difciplin charalteris 
firt: Da noi, luna met& comanda e l’altra non ubbidisce. 
Natürlich in einem Staate, wo ber Geiſtliche, wie früher 
in einigen Ländern und jetzt noch z. B. in Ungarn ber Abel, 
fih als einen Privilegirten, ber als folcher ſchon zur rvegieren- 
ben Kaffe gehöre, betrachtet. 

N) Coppi VII, 374. 


560 


gethan habe. Die Geheimbünde hatten inziwifchen um Kir⸗ 
chenftaate drohend um fich gegriffen, in der Romagna waren 
zahlreiche politifche Ermorbimgen vorgelommen, ber Car⸗ 
dinal Rivarola, deshalb dahin gefandt, Hatte auf einmal 
508 Berfonen, barunter 30 Evelleute, 156 Grunbbefiker 
oder Kaufleute, 74 Angeftelite, 38 Militäre, verurtheilt, 
doch war kein Todesurtheil vollzogen worven. Über man 
zertrat Einen Kopf ber Hydra, um alsbald beren neue an 
feiner Stelle entfteben zu ſehen. 

Man Hat in dieſem Unweſen ber geheimen Gejell- 
fchaften, das nun faft fchon feit 50 Jahren die größte Lanb- 
plage Italiens ift, eine den Staliänern, befonbers des Sü- 
dens, eigentbümliche Krankheit gefehen. Allein einmal 
bilden fih in einem Lande, in welchem bei gänzlicder Un⸗ 
terbrüdung der Preffe eine argmwöhnifche Polizei über ein 
mit feiner Lage unzufrievenes Volt berricht, eben jo na⸗ 
turgemäß geheime Gefellichaften, als fich im menfchlichen 
Organismus in Folge gewaltfam zurüdgebrängter Eran- 
theme innere organifche Krankheiten bilden. Zweitens ift 
das Treiben ver Geheimbünde nur das natürliche Erzeug- 
niß jenes Triebe nach focialer Thätigfeit, welchen ein bes 
gabtes und lebhaftes Volt dort, wo bie erften Lebensbe⸗ 
bürfniffe leicht und mühelos errungen werben, empfinbet. 
Da dem Italiüner die normale Befriedigung biefes Trie- 
bes durch feine Ausſchließung von ber Theilnahme an ben 


561 


Öffentlichen Angelegenheiten und durch Abfchneiden jeder 
Diseuffion mitteld ber Cenfur unterfagt wurbe, fo fuchte 
er fich ſchadlos zu Halten durch die Rolle und perfönliche 
Bedeutung, welche ihm bie Mitgliedſchaft in einer Ge- 
beimloge gewährte. Freilich wurden dieſe Verbindungen, 
in welche auch moraliich verfommene Individuen wetteifernd 
fich eindrängten, Häufig zu Kloaken ber ärgften Eorruption 
und zu einem Fluche für das Land. Diefes Geheimbünd⸗ 
lerwefen machte nun wieber die Gegenwart unerträglich und 
die Zukunft hoffnungslos, und nöthigte die Regierungen, 
rohe Gewalt an die Stelle georbneter Verwaltung zu 
fegen. In ber Bebrängniß hatten die päpftlichen Behörden 
zu einem fehr bevenklichen Gegenmittel gegriffen; fie hatten 
pie freiwillige, gleichfalls ungefeglicheAffociation der Sanfes 
diften aufgemuntert, die ihnen bald über den Kopf wuchs 
und, vorzugsweife aus den ärmften und niedrigſten Klaſſen 
fih ergänzend, in einigen Gegenden thatfächlich fich der 
Regierung bemächtigte. 

Als Nachfolger des Ende 1830 geftorbenen Pius warb 
der Camalbulenfermönd Mauro Capellari, ber erft 1826 
Carbinal geworben, und den Staatsgefchäften bisher ferne 
geftanden war, erwählt. Gregor XVI., Mönch und Ge⸗ 
Iehrter , Schriftfteller, der bi® zu feinem Ende mit Vor⸗ 
liebe der Literatur zugewendet blieb, verftand die Kirchlichen 


Dinge fehr gut, die weltlichen um fo weniger. So erhielt 
». Dillinger, Papfithum. 36 


I __ 


ber Kirchenſtaat eine Reihe von Päpften, pie alle in kirch⸗ 
lichen ‘Dingen tadellos, ſelbſt vortrefflih waren, aber ale 
Lanbesfürften nur eben ven guten Willen befaßen. 

Eben hatte die Parifer Yuli- Revolutiou das Signal 
zu Volldaufftänden gegeben, und in wenigen Wochen ftaub 
ein großer Theil des Kirchenſtaats nebft Modena und Parma 
in Slammen. Der Ausbruch war bier noch währen be 
Eonclave’8 erfolgt. Man gewann bad Voll durch Herab- 
ſetzung der Zölle auf Salz und Mehl, verließ ſich darauf, 
baß Frankreich ven Oeftreichern eine Intervention nicht ges 
ftatten würbe, und ein raſch verfammelter Congreß gewähl« 
ter Bollövertreter erflärte ven Papft feiner weltlichen Herr⸗ 
ſchaft entjegt. Rom blieb treu; auswärts aber gaben bie 
päpftlichen Beamten in den meiften Fällen Alles mit einer 
Eile und Zaghaftigleit preis, welche bewies, auf wie ges 
brechlicher Bafis ein an allen volldmäßigen Inftitutionen 
ermangelnber Staat ruhe. Die ganze Revolution verlief 
wie ein Kinderſpiel, und ver unblutige Einmarfch ber Oeſt⸗ 
reicher ftellte mit leichter Mühe vie alte Regierung, unter 
der Bedingung allgemeiner Amneſtie mit Ausnahme von 
38 Führern, wieder ber. 

Eine Eonferenz der Mächte, an ver auch Preußen, 
Rußland, England theilnahmen, überreichte dem Papfte am 
31. Mai 1831 jenes berühmte Memorandum, um welches 
ſeitdem ein großer Theil ver Gefchichte des Kirchenftante 


663 


fih gebrebt Hat. Es empfahl erften®: die Berbeflerungen 
möchten nicht nur in den abgefallenen, ſondern auch in 
ben treu gebliebenen Provinzen und in der Hauptitabt ein- 
geführt werben; zweitens: ‚überall follten vie Laien zu ben 
Juſtiz⸗ und Verwaltungsämtern Autritt erhalten. Ferner 
wurde Selbftverwaltung der Gemeinden burch gewählte 
Käthe und Wieberberftellung der Provinzialräthe, enplich 
eine „innere Garantie gegen bie Beränberungen, welche ein 
Wahlreich mit fich bringe,“ begehrt"). 

Coppi, der dem empfangenen Auftrage gemäß Vor» 
ſchläge über Reformen entworfen hatte, berichtet, daß Gre⸗ 
gor und bie Mehrzahl der Carbinäle jebe tiefer eingreie 
fende Veränderung abgewiefen hätten: die alten monarchi«- 
ſchen und Firchlichen Principten müßten bewahrt, ber Volks⸗ 
oder Lalenpartei dürfe nichts zugeſtanden werben ?); „denn 
wenn man freiwillig etwas gewähre, fo babe man fein 
Recht mehr, es nachher wieder zurüdzunehmen.” Zwei 
Dinge beſonders ſeien durchaus nicht zu bewilligen: Keine 
Wahlen von Communals und Provinztalräthen, und Tein 
Stantsrath von Laien neben dem Carbvinals» Collegium. 

Der Card. Staats - Sekretär Bernetti, ber zuerit 


') ®gl. Mdmoires de Guizot 1859. 11, 432. Coppi VIII,’ 
143. 
) Coppi VIII. 148. 
36* 


—6ö 


von einer „neuen, mit dem jetzigen Pontifikate beginnenden 
Aera“ geredet hatte, richtete an den franzoͤſiſchen Gefandten 
ein Schriftſtück, in welchem in allgemein gehaltenen Aus- 
brüden Bieles, was gefcheben folle, angekündigt war, ohne 
daß man fih zu beflimmten Einrichtungen over Wenderun- 
gen verpflichtet hätte. Doch warb eine „neue Einrichtung 
der ganzen Bffentlichen Verwaltung, eine beffere, Teinem 
Verdachte mehr Raum gebende Finanzverwaltung und bie 
Einführung confervativer Suftitutionen” zugeſagt). Man 
bat e8 nachher im In⸗ und Auslande der Regierung bit- 
ter vorgeivorfen, daß im Grunde unter dem damaligen 
Pontifilate, das noch über 15 Jahre währte, von bem Als 
len nichts erfüllt worden fei. 

Einftweilen fuchte man fich durch Anwerbung von 5000 
Schweizern zu helfen, da auf bie einheimifchen Truppen 
fein Verlag war, aber ver englifche Bevollmächtigte, Se y⸗ 
mour, erflärte nun: Die Finanzlage der römifchen Re⸗ 
gterung geftatte ihr nicht, ſo viele Fremde in Sold zu neh⸗ 
men, als zur Nieberhaltung einer ganzen unzufriedenen Be⸗ 
völferung erforberlich feien, und ba feine Regierung feine 
Hoffnung mehr habe, noch etwas Gutes dort zu wirken, 
fo fei er angewiefen, Rom zu verlaffen.’) 


1) Gualterio, Documemti TI, 94, 
?) Qualterio, Documenti, I, 102. 


Und doch, es ift feine Frage, erfannte Gregor klar bie 
Nothwendigleit purchgreifender Reformen. J. Bernardi 
bat Türzlich geäußert, er babe zu feiner VBerwunberung im 
Sahre 1843 folgende Worte aus dem Munde bes Papſtes 
vernommen: „Die bürgerlihe Verwaltung der römifchen 
Staaten bedarf einer großen Reform. Ich war zu alt, 
als man mich zum Papft wählte, ich glaubte nicht fo lange 
zu leben, und hatte nicht den Muth fie zu unternehmen. 
Denn wer fie beginnt, der muß fie auch burchführen. 
Jetzt bleiben mir nur noch fehr wenige Jahre oder vielleicht 
Tage zu leben. Nach mir wird man einen jungen Papft 
wählen, ihm wird es zufallen, dieſe That zu vollbringen, 
ohne welche man nicht forteriftiren Tann ').“ 

Aber freilich vermag in biefen Dingen auch ber ent- 
fchloffenfte Wille eines Papftes, wenn er nur wenige Gleich⸗ 
gefinnte in feiner Nähe und In dem verfchievenen Dienſtes⸗ 
kategorien bat, auf die Dauer nicht viel. Bisher ift es unfäg- 
lich ſchwer gewefen, gewiffe Reformen im Kirchenftaate durch» 
zufegen, da ein Papft mit dem reinften Willen an dem 
ftillen, beharrlichen, gemeinfchaftlichen Widerflande Derer, 


I) Rivista contemporanea, 1860, febbr. p. 97. Daſſelbe wurbe 
mir emige Zeit früher, ehe dieß im ber Riviſta gedruckt erjchien, 
von einem berühmten vömiichen Gelehrten erzählt. Ich hege 
alfo Leinen Zweifel an der Wahrheit ber Thatſache. 


56 _ 


bie bei der Erhaltung des Herlömmlichen ihre Rechnung 
finden, fcheitert, und die rechten Männer zur Durchführung 
ber Reformen fich nicht barbieten. So find ehemals Ha- 
brian VL und @lemens VIL., ohngeachtet ihres guten Wil⸗ 
tens, in den kirchlichen Zuftänden zu beffern, doch zu nichts 
gelommen. Sie, und viele andre nach ihnen, haben ſich in 
ihrer Aktion geläbmt gefunden. Es war, als ob bie Yor- 
mel, mit der ehemald bie Aragonefen einen misliebigen 
öniglichen Befehl zu entlräften verftanden,‘) auch bier 
gelte. 

Gleichwohl gewährten die Neformverfügungen Gre- 
gor's, welche im Juli, Oktober und November 1831 er⸗ 
fohienen, mehr als man nach der Weigerung bes Papftes, 
beftimmte Berpflichtungen einzugeben, erwarten Tonnte. 
Namentlich in Bezug auf Verbefferung der Nechtöpflege, 
wie denn das monftröfe Inftitut des Uditore Santiffimo, 
befien bloße Eriftenz ſchon von Staatsmännern und Ju⸗ 
riften al8 eine Schmach für den päpftlichen Stuhl betrach⸗ 
tet wurde, wirklich 1831 abgeſchafft wurbe.‘) 

Sreilih wurde bie Bevölkerung, die noch ganz anbre 
Dinge erwartet und begehrt hatte, durch dieſe Edilte durch⸗ 
aus nicht befriedigt, und ber Graf Bellegrino Roffi, 

1) Be obedezca, pero no se cumpla — man gebordye, aber 


man bollziehe nicht. 
2) Berg. darüber Guisot, Memoires, I, 486 — 442. 


967 


nachher Miniſter Pius’ IX., ſchrieb damals an Guizot: 
Man möge fich ja Teiner Täufchung hingeben. Die Revo⸗ 
Iution, in dem Sinne einer gründlichen Unverträglichleit 
zwiſchen dem gegenwärtigen Syſteme ber römifchen Re⸗ 
gierung und ber Bevölkerung, fei bis in's Innerfte bes 
Landes gebrungen. Nur wenn eine ganz durchgreifende 
Veränderung in ber Rechtspflege eintrete, und eine Reform 
ber ganzen Geſetzgebung wenigſtens vorbereitet werde, könnte 
das Volk mit dem paäpſtlichen Regimente verſöhnt werden.“) 

Kaum waren bie Deftreicher abgezogen, als der Auf⸗ 
ruhr von Neuem ausbrach. Die gemäßigte Partei ließ zu 
Nom Ausführung des Memorandums begehren, ſah fich 
aber, wie e8 in NRevolutionen immer geht, jehr fchnell von 
ben Rapicalen überwältigt, und die geängftete Bevölkerung 
begrüßte mit Freudengeſchrei die wiebereinziehenden Oeft⸗ 
reicher. Bald kamen auch die Franzoſen und befehten Ans 
cona, um ben Deutfchen das Feld nicht allein zu laffen. 
Die kurz vorher erlaffenen Edikte wurden nun in Rom 
wiberrufen oder unausgeführt gelaffen. Natürlich herrfchte 
wieder allgemeines Misbehagen. Bon da an verichlimmerte 
fih die Lage mit jebem Jahre. Die aus ben unterften 
Klaſſen gebildeten „päpftlichen Volontärs“ übten argen Ter⸗ 
rorismus, und politifche Mordthaten, durch Die renolutionäre 


) Quizot lc. p. 449. 





b68 


Partei begonnen, wurden haͤufiger, die Regierung warb une 
vermeidlich immer argmwöhnifcher und quälerifcher; man ver- 
ließ fich auf ven vierfachen Arm der Deftreicher, der Frau⸗ 
ofen, der Schweizer und ber eignen Truppen ober ber 
Sanfebiften und der Volontärsd. Spionage, doppelt ver⸗ 
haft und gefährlich bei einer Priefterregierung, da das Bol 
fofort Misbrauch religidfer Mittel vabei argwöhnt, warb 
in großem Maßſtabe getrieben. Die Gegner der Regie- 
rung batten ſich indeß, hauptfählih durch Mazzini's 
Einfluß, in Liberale und Radicale („junges Italien“) ge⸗ 
Ipalten. Die letteren, vie eigentlichen Umflurgmänner, 
wollten alle Regierungen, fowie die Kirche, vernichten, ganz 
Stalten in eine Republif nach dem Muſter von 1793 ver- 
wandeln. Doch waren fie in Meittelitalien noch ohne Ein- 
fluß, und hatten nach 15 Jahren wohl eine Anzahl Stu 
denten verführt, aber auf das eigentliche Volt, ihrem eignen 
Geftänpniffe gemäß, Teinen Einprud hervorgebradht.') 

Im Jahre 1838 verließen die Franzoſen Ancona, die 
Deftreicher die Legationen. Die Schweizertruppen wurben 
altmälig fehr erhöht. Die Zabl von 17000 Mann, vie ich 
angegeben finde, ift wohl übertrieben, over gilt für das ges 

1) Im Archivio triennale delle oose d’Italia, Capolago 1850, 

I, 191, jchreibt ein Mazzinianer: Noi dovevamo oonfessare 

ebe, in quindioi anni, non eravamo riusciti che a propa- 


. garo nella gioventü studiosa la passione politica, ma nel 
vero popolo mai. 


569 


fammte Militär. Jedenfalls aber waren bie fremden Söld⸗ 
ner eine ſchwere Laft für den, an dem jährlichen Deficit von 
einer Million Seudi und darüber krankenden Staatsſchatz. 

Gregor XVI., alt und kränklich, war unzugänglich 
geworben, feine Umgebung fuchte Unangenehmes von ihm 
ferne zu halten; für die Verwicklungen der Staatsverwal- 
tung mangelte ihm das Verſtändniß. So war denn Alles 
in der Hanb bes Staatsfelretärs Lambrufchini und ber 
Monfignori als Legaten und Delegaten in ven Provinzen. 
Deftändige Militärcommiffionen, welche die wegen politifcher 
Ausfchreitungen Angellagten nach willkührlichem Verfahren 
richteten, erbielten mit Hülfe der Schweizerregimenter bie 
öffentlihe Orpnung und nährten, verbunden mit ven Ges 
waltthätigkeiten der Sanfebiften, die allgemeine Misftim- 
mung. Die Regierung ſcheint nicht geahnt zu haben, welche 
tiefe Erbitterung das Bewußtfein erzeugte, daß man mit 
ſchweren Abgaben die ausländischen Söldner bezahlen müffe, 
bie Dazu verwendet würben, das Wolf niederzubalten, und 
ber Staatögewalt die Verweigerung aller Vollewunſchez zu 
ermoͤglichen.) 

Ueberhaupt hatte damals der Geiſt der Unzufriedenheit 
und der Wunſch, ſich der päpftlichen Herrſchaft zu entziehen, 


) Der Italiäner bat ein energifches, damals oft vernommenes 
Spridwort: pagare il boja che ci frusti. 


570 


zwei Daupturfachen. Die eine lag in jenem Haſſe gegen 
bie Öftreichifche Herrfchaft und bie auf der ganzen Halbinfel 
laftende Wiener Politik, welcher ſich der Nation bemächtigt 
hatte. Dean glaubte, vie päpftliche Regierung fei ganz 
diefem Einfluffe hingegeben; Tonnte fie fich doch nur durch 
öftreichifche Waffen behaupten. Die andre Urfacdhe lag in 
ben inneren Zuftänden, die nun, fo wie fie von 1824 Bis 
1846 und zum Theil wieder nach der Reflauration, ſeit 
1850, waren und find, näher betrachtet werben müſſen. 

Bemerken wir vorerft, daß der Kirchenftaat, wie Italien 
überhaupt, an einem großen Liebel leidet; dieß iſt der Man 
gel an Ständen. Es gibt vort keinen felbftftändigen Bau⸗ 
ernfland und feinen Landadel. Dort tft nur ein Stabt- 
bürgerftand mit einem großentheild trägen, berabgelommenen, 
bemoralifirten Batriziatapel. Leo XII. erkannte dieſes Uebel, 
und meinte, den Abel durch Herftelluing gewiffer Rechte des⸗ 
felben wieder heben zu können; aber ver Verſuch fcheiterte 
ſchon an der dort Alles überjchattenden focialen Stellung 
der Geifilichkeit und ihren Prärogativen. Neben ihr konnte 
en felbftftänpiger Adel nicht auflommen. 

Und doch wäre das Voll im Kirchenftaate bei ben Bor- 
zügen, die beſonders der gemeine Italiener befigt, nicht 
eben ſchwer zu regieren. Ein Dentfcher fchrieb 1867 aus 
der Campagna von Rom:’) Unter all’ diefen Taufenben, bie 


') Allg. Zeitung, 5. Im. ©. 75. 


671 


mir vorübergingen, unter allen den Proceffionen, denen ich 
mich bei der Rückkehr nach vollenbetem Feſt anſchloß — — 
bemerkte ich nie einen Zug von Rohheit. In der That 
bürfte die Sittenreinheit des bortigen Landvolkes, nament- 
ih im Punkte der Nüchternheit und ber geichlechtlichen 
Berhältniffe, ven Neid mancher ſich beifer dünkenden Na⸗ 
tionen erregen. Beſtünde uur dort nicht jene traurige Ein- 
richtung, die der Fluch Irlands ift, daß der Grundherr ven 
Eolonen zu jeder Zeit beliebig fortfchiden kann‘). Indeß 
war das Landvolk der päpftlichen Regierung keineswegs fo ab» 
geneigt, wie die Städter.) Dan Hagte nur über vie Schwäche 
oder Sorglofigkeit der Regierung, welche dem Landbewohner 
feinen hinreichenden Schuß gegen das Räuberunweſen ges 
währe, und über die drückenden und hoben Sporteln, welche 
an bie geiftlichen Behörden, namentlich vie bifchöflichen 
Kanzleien bezahlt werden müffen. Anders verhält es ſich 
mit der ftäntifchen Bevölkerung, welche im Allgemeinen dem 
„Prieſter⸗Regimente“ abgeneigt war, und eine Menge von 
lagen und Befchwerden zu führen hatte. Vor Allem ſchmerzte 
ſchon die Ausfchliegung der Laien von den höheren Aemtern, 
y Selfferig, Briefe aus Stalin. II, 57. 
2) Freilich behauptet ber Carb. Maffimo in feinem Berichte 
ans Imola dv. J. 1845, baß bort nur noch una parte ben 
piccola della classe agricola, non ancor guasta del tutto 


nelle campagne, ber Regierung ergeben ſei. Documenti sul 
Gov. pontif. 1., 66. 


572 


bie burchaus den Prälaten vorbehalten find. Die Stellen 
find zwifchen ven Geiftlihen unb ven Laien fo vertbeilt, 
daß jene allein vie Regierenden, dieſe aber nur die Werk⸗ 
zeuge find, mittels welcher regiert wird. Das Staates 
felretatiat, bie Sagra Eonfulta, die Camera Apoftolica, das 
Buon Governo, die Eongregazione economica, vie Polizei, 
ber Zeforo, das Kriegsminiſterium, vie Legationen und 
Delegationen, bie Leitung ver Juſtiz und bes Unterrichts 
— Alles war in den Händen von Carvinälen und Prälaten. 
Geber weltliche Beamte wußte aljo, daß feine Laufbahn eine 
nothwendig beſchraäͤnkte ſei, daß er auch nach einer langen 
Reihe von Jahren und treu geleiteten Dienften doch nicht 
mehr vorrüden, daß felbft der minder befähigte Geift- 
liche ihm werbe vorgezogen werben. Da nun im Kirchen 
ftaate die menfchliche Natur nicht anders geartet ift, als im 
ber übrigen Welt, fo war die ganze Laienbeamtenwelt inner» 
lich unzufrieden und gerne bereit, einer andern Wegierung 
fich anzufchließen, wie bie jüngften Ereigniffe gezeigt haben. 
Aber auch über die Art ver Auftellung wurbe geflagt. Jenes 
Syſtem langer vorbereitender Stubien und wieberholter 
lorgfältiger Prüfungen, durch welches andere Staaten Bürg⸗ 
haften für gerechte Vertheilung ver öffentlichen Aemter 
darbieten, war dort unbefannt. Der Laie mußte irgend einer 
religiöfen Aggregation angehören, mußte ver Schägling eines 
Brälaten, oder Cardinals, oder eines Moönchsordens fein, um 


573 


auch nur zu einer unterften Stelle zu gelangen. So waren 
die weltlichen Beamten die gezwungenen und häufig bie ftet6 
bebürftigen Elienten ver Prälaten. Die Folge von Allem 
war, daß bie vornehmeren und gebildeteren Stände fich 
größtentbeild, und zwar gerabe die unabhängigen, ſich ſelbft 
achtenden Charaktere unter ihnen, vom Staatsdienſte ab⸗ 
wanbten, und eben bamit, zur Unthätigfeit und Inhalts 
fofigleit des Lebens verurtheilt, unvermeidlich die Maſſe der 
Unzufriednen und gelegentlich bie ber Conſpirirenden ver. 
mebrten. 

In dem Briefe eines dentſchen Edelmanns an mid, 
der als feinfinniger und gründlicher Beobachter fremder 
Bollözuftände einen europäifchen Auf befitt, und längere 
Zeit im SKicchenftaate lebte, heißt es: „ES ift die tiefe 
Berborbenheit der mittleren und höheren Stände und der 
daraus bervorgegangenen Beamtenwelt, welche bie päpftliche 
Regierung fo herunterbringt. Die Unzuverläffigleit und 
Benalität verfelben ift nur mit dem ruflifchen Beamten⸗ 
thum zu vergleichen. Unter ven 5000 Beamten find etwa’ 
2 — 300 Geiftlihe. Sie find moralifch die befferen, faft 
nie beftechlich gegen Gelb, aber weicdhlih, ohne Energie, 
träg; dagegen find alle Laienbeamte faft ohne Ausnahme 
beftechlich, unzuverläffig.“ 

Hiezu kam das Gefühl, daß bei dem Mangel feiter 
Ordnungen Freiheit, Vermögen, Ehre der Einzelnen ver 


674 


Willkühr der Herrfchenven preißgegeben fel; denn bie vor⸗ 
bandenen Gefeße boten feine Sicherheit, und konnten von 
den oberften Autoritäten auch in einzelnen Fällen befeitigt 
werden. Bedurften doch die Sbirren zur Verletzung 
des Domicil8 bei Tag und Nacht nicht einmal einer bes 
fonderen Vollmacht.) ALS die drei Hauptwunden ver Yuftiz« 
verhältniffe im Kirchenftante bezeichneten die Unzufriebenen 
die Civil⸗Gerichtsbarkleit ver Bifchöfe, den privilegirten Ges 
richtsſtand der Geiftlichen, fowie die ungleiche Beitrafung 
berfelben, und das Inquifitionstribunal.”) Die Bifchöfe, 
die dort ihre eigenen @efängniffe haben, richteten und 
ftroften in allen ragen, welche geiftlihe Berfonen und 
geiftliches Eigentbum betrafen, in geichlechtlichen Verhält⸗ 
niffen, in Fällen der Blasphemie und ber Uebertretung ber 
Faſten⸗ und Feiertaggeſetze.') 
Der Cardinal und Biſchof von Sinigaglia verordnete 
im Jahre 1844, junge Männer und Mädchen dürften ein⸗ 
ander keine Geſchenke geben, und bie Väter dieß nicht dul⸗ 
1) Aguirre, l’Itslie apr&s Villafranca. 1859, p. 110. Der 
Berfaffer it oder war Bewohner des Kirchenflante. Er ges 
hört zu denen, welche bie weltliche Herrſchaft des Papftes er- 
halten wiffen wollen, und an die Heilbarkeit ber beftehenden 
Gehrechen der Verwaltung glauben. Aber das Bilb, bas er 
von ber bisherigen Regierungsweiſe entwirft, iſt ein ſehr 
büfteres. 


?) Montanelli, Memorie sull’ Italia. II, 79. 
?) Cause di stupro e di illegitima pregnansa. 


575 


den, im Webertretungsfalle foliten Väter und Söhne ober 
Töchter mit Gefängnig von 15 Tagen büßen.‘) Die Bis 
ſchoͤe der Provinzialſynode von Fermo bedrohten im Jahre 
1850 die Wirthe mit Strafen, welche an Faſttagen ihren 
Bäften auf deren Verlangen Fleiſch reichen würden, wenn 
diefe nicht zwei Zeugniffe, eine® vom Arzte und eines vom 
Pfarrer, vorlegten.?) 

Eine eigne neue Strafe war erfonnen worben, von 
der 229 PBerfonen in der Romagna auf einmal betroffen 
wurden: Das Precetto politico erfter Klaſſe. Der damit 
Belegte durfte feinen Geburtsort nicht verlaffen, mußte zu 
einer beftimmten Stunde bes Abends zu Haufe fein, unb 
e8 vor Sonnenaufgang nicht verlaffen, alle 14 Tage ſich 
dem Polizei⸗Inſpektor vorftellen, jeven Monat beichten, und 
dieß der Bolizei mit einem, von einem approbirten Beicht- 
vater ausgeftellten, Zeugniffe beweifen, und alle Sabre breit 
Tage lang geiftliche Exercitien in einem vom Bifchofe ihm 
zu beflimmenven Kofter machen. Verſäumung einer biefer 
Berpflichtungen wurbe mit brei Sahren öffentlicher Zwangs⸗ 
arbeit beftraft. In Stalten meinten Viele: Es dürfte wohl 
wenige Länder in Europa geben, wo man eine folche Vers 
mifchung von Polizei und Religion gebulbig ertrüge. 

1) Das Docıment abgebeudt bei: Gennarelli, i lutti dello 


stato Romano. Firenze 1860, p. 160. 
®) Documenti sul Governo pontificio, II, 299. 


576 


Griffen nun ſchon die Biſchöfe und die Präfatenpoltzei 
tief in das häusliche und Familienleben ein, fo kam nod 
bie Gerichtsbarkeit der Inquiſition Hinzu. Diefe war ohn⸗ 
geachtet der Milde, die man ihr nachrühmte,") doch ver 
haßt und gefürchtet, weil fie von dem Grunbfag ausgeht, 
baß Jeder, der um eines in ihr Forum einſchlagendes Ver⸗ 
gehen wille, ftrafbar ſei, wenn er es nicht anzeige, ber 
Denuncirende aber durch das Geheimniß gefchigt ift, und 
ber Angeklagte die Namen des Anklägers und der Zeugen 
nie erfährt.*) | | 

Im Jahre 1841 erließ der Inquifitor zu Pefaro, Fra 
Filippo Bertolotti, ein Edikt, worin er unter Anbrohung 
mancher Strafen, nanelligh der Ercommanilation, Jeder⸗ 
mann aufforderte, jebes zu feiner Kenntniß gelommene lirch⸗ 


) Wenn ich nicht irre, find ſeit dem Tode Pins V. (1572) keine 
Hinrichtungen durch die Inquiſition, oder überhaupt wegen re⸗ 
ligiöſer Vergehen, im Kirchenſtaate mehr vorgekommen. 

?) Bol. Über die Erbitterung ber Bewohner gegen bie Inquiſttion 
die Briefe des Cavalie Tommafjo Poggi von Ceſena an 
ben franzöftichen Gefanbten in Rom, Sainte-Aulaire, bei 
Gualterio Documenti, I, 274. Unter andern heißt es ba: 
„So bilden benn bie Innerften Gebeimniffe ber Gewifſen und 
der Familien bei uns ben Gegenftanb gebäffiger Proceburen und 
finftrer Sentenzen. So wenig denkt man in Rom baran, fi 
mit der Bevöllerung unb mit ber Öffentlichen Meinung zu ver- 
ſöhnen.“ 


677 


liche Vergehen, 3. B. wenn Jemand an Fafttagen ohne 
beſondere Erlaubniß Fleiſch⸗ ober Milchſpeiſen gegefien, 
anzuzeigen.“) Verwundert fragten bie im Kirchenftante 
wohnenden Fremden: ob denn das Sant’ Uffizio wirklich 


Bedienten und Mägven es zur Gewifjensfache machen wolle, 


ihre Herrichaft, die etwa an einem Faſttage Fleiſch gekocht, 
zu denunziren und in einen Prozeß zu vertideln. 

Der Geiftliche, wenn er mit der doppelten Macht, ber 
gerichtlichen und ber abminiftrativen ausgerüftet ift, vermag 
fi nur äußerft ſchwer ver Verjuchung zu erwehren, fein 
individuelles Dafürbalten, fein fubjectives Urtheil über bie 
Perjonen, fein Mitleid, feine Neigung Einfluß gewinnen 
zu laffen auf feine amtlichen Handlungen. Er tft als PBriefter 
bor Allem Diener und Herold der Gnade, der Vergebung, 
bed Strafnachlaffes; er vergißt daher allzuleicht, daß in 
menfchlichen Verhältniifen das Geſetz „taub und unerbittlich“ 
ift, daß jebe Bengung bes Nechtes zu Gunften des einen 
fi in eine Beſchädigung eines ober vieler Anbrer ober ber 
ganzen Gejellichaft verwandelt; er gewöhnt fich allmälig, 
feine Willkühr, anfänglich immer in ver beften Meinung, 
über dad Gefeg zu ftellen; ift doch der Staliäner an fich 
Ihon wenig geneigt, die unparteiifche, leidenfchaftslofe Con⸗ 
fequenz des Gefeges zu begreifen und zu üben. Die ein- 


1) Documenti, I, 308. 
v. Dölinger, Papftthum. 37 


578 


mal betretene abfchäffige Bahn führt dann unaufbaltjam 
weiter. Und nun bie fubalternen weltlichen @erichtsbeamten, 
gewöhnfih nach Gunſt und geiftliher Empfehlung ange 
ftellt, gering befoldet, mit Weib und Kind, und mit bem 
von den geiftlichen Oberen gegebenen Beiſpiele ver willtühr- 
lichen Rechtsbehandlung vor Augen. So ergibt fi denn 
jene Beftechlichleit und Juſtizwillkühr, welche Cantu als 
Züge der Rechtspflege unter Gregor X VL. angibt.") 

Noch bebenklicher if die Haubhabung der Bolizeige- 
walt durch Geiftliche; bier ift die Anlegung eines dem chrift- 
lichen Urtbeile fremben Maßſtabes fchwer zu vermeiden. Die 
Bolizet ift in einem abfolut regierten Staate im Grunde all 
mächtig, und fie macht in ver Berührung, im Kampfe mit dem 
täglichen Leben, in einer Zeit politifcher Aufregung und häu⸗ 
figer Verſchwörungen von dieſer Allmacht einen quäferifchen 
Gebrauch, fie läßt Dinge ungeftraft, die, evangeliſch beur- 
teilt, ſchwere Sünden find, fie ftraft andre, in denen ver 
Chriſt nichts Sundliches entvedt. IR es zu vermunbern, 
wenn das Volk in dem Widerfpruche zwifchen dem priefter- 
lien Charakter unb ver polizeilichen Amtstbätigleit fich 
nicht zurechtzufinben vermag? 


') La giustizia era corruttibile non solo, ma esposta agli 
arbitrij de’ superiori, e alle interminabili restituzioni in 
intero. Storia degli Italiani, VI, 684, 


579 


In einem fchlimmen Eontrafte mit der fonft ale Charak⸗ 
terzug der päpftlichen Regierung mit Recht gepriefenen 
Milde ftand die Willlühr der Einkerkerung, und die Ans 
füllung ver Gefängnifie, da Niemand, wie in andern Län⸗ 
dern gefchieht, zur Bürgſchaft zugelaffen wurde. Carbinal 
Morichini hob in feinem Finanzberichte den fchlechten Zu⸗ 
ftand der Gefängniffe, die nothwenbige Demoralifation ber 
darin angehäuften Perfonen hervor.) Aber die finanzielle 
Bebrängniß machte es auch bier unmöglich, burchgreifenbe 
Reformen eintreten zu laſſen. In den traurigen Zeiten feit 
1848 erzeugte das Syſtem bes maflenbaften Einkerkerns 
in den ungefunden Gefängniffen noch größere Erbitterung. 
Der Sovernatore von Faenza, Luigi Maraviglia, ftellte 
im Jahre 1853 vor: man babe eine große Anzahl von 
Perſonen ohne Verbör, ohne Proceß, vielleicht felbft ohne 
Berdacht, blos zur Vorficht in die Gefängniffe gebracht, 
wo fie nun fchon Jahre lang fich befänden. Mehr ale 450 
Proceſſe ſeien ſchon feit vier oder fünf Jahren anhängig. 
Auf ſolche Weife könne keine Liebe zum Fürften beim Wolfe 
gepflanzt werben.’) Es verfteht fich, daß folche Dinge ohne 
Wiffen des Papftes vorfielen, ber, wenn er Kenntniß da⸗ 


1) Documenti sul gov. pontif. f. I, 578. 
?) Documenti, I, 42. 


87? 


650 


von gehabt Hätte, bei feiner Herzensgüte und Gerechtigleits- 
Itebe ſicher dagegen eingefchritten wäre. 

Es if feit 30 Jahren Unglüd über Unglüd über bie 
päpftlihe Regierung im Kirchenftaate gekommen, aber zu 
dem Traurigften gehörte doch dieß, bag man es für noth⸗ 
wenbig hielt, Geiftlichen vie Verurtheilung und Beftrafung 
politifcher Vergehen zu übertragen. Wenn man, wie e6 
häufig geſchah, Befinnungen und Meinungen, die nach bem 
eignen Geftänpniffe der Negierenden vie allgemein herr⸗ 
ſchenden waren, als fubfintäre Beweiſe gebrauchte, um dar» 
auf die Verurtheilung eines nicht hinreichend überführten 
Menſchen zu den ſchwerſten Strafen zu begrünven, baum 
mußte freilich die luft zwifchen dem Volle und dem Kle⸗ 
rus immer Ereiter werben.') 

Eine weitere Beſchwerde veranlafte bie exceptionelle 
und bevorredhtete Stellung des ſehr zahlreichen Klerus. Der 
Cardinal de Luca conflatirt das Prinzip, daß vie Verfü- 
gungen und Gefeße des Papftes als weltlichen Fürſten für 
die Geiftlichen nicht verbindend feien, wenn nicht ausbrüd- 
lich gejagt fei, oder aus dem Inhalt präfumirt werden mäffe, 
daß er zugleich als Kirchenoberhaupt das Geſetz gegeben 
babe.?) Die Geiftlichleit Hat alfo ihr privilegirtes Forum, 


1) Vergl. die im 2. Bde. ber Documenti sul Gorerno ponti- 
Acio abgebrudten Proceßakten und Sentenzen. passim. 
®) Dottor volgare, lib. 15, c. 1. 


581 


fo daß, wenn ein Geiftlicher und. ein Laie fich an einem 
Verbrechen betheiligen, fie von verſchiedenen Berichtähöfen 
gerichtet werben. Aber auch die Beftrafungen find verfchies 
den. Die priefterlichen Schuldigen haben das Vorrecht, 
immer milder gejtraft zu werben als bie Laien.) Das 
umgelehrte Verbältnig würde das gerechtere fein, meinte 
Maffimo v’Apeglio. 

Ein höchft bebenklicher Fall dieſer Art, ver von ben 
englifchen Blättern und Zeitfchriften mit frohlockender Schaden⸗ 


freude begrüßt und ausgebeutet wurde, und in ganz Europa 


peinliches Aufjeben erregte, fam im Jahre 1852 zum Vor⸗ 
fein. In dem Proceffe zu London, welchen der zum Pros 
teftantismus übergetretene römifche Dominikanermönch Achilli 
veranlaßte, ergab fich, daß dieſer Mann wegen wieberholter 
ſchändlicher Verbrechen, die in deutſchen Landen infamirende 
Zuchthausſtrafe zur Folge gehabt hätten, vor ben geiftlichen 
Tribunalen geſtanden, aber mit einer Gelindigkeit, die in 
jedem andern Lande unmöglich gewejen wäre, bebanbelt 
worben war, daß trog der Verurtheilungen der Provinzial 


1) Die Geſetzesbeſtimmung lautet: Ove pero possa aver luogo 
la pena stabilita pei laici, si aocorda loro (ai cherici) nei 
delitti coommuni un grado di minorasione di pena. linb: 
Be la pena stabilita della logge d l’opera o la galera, tras- 
mettono il oondannato al luogo ove trasmetterebbe il Tri- 
bunale Eoolesiastico. 


BR 8— 


bes Ordens ihn noch als feinen Gehilfen unb Begleiter 
bei der Bifitation mitgenommen, daß man ihn dann zum 
Projeflor im Collegium der Minerva zu Rom gemacht, und 
als Prediger nach Capua geſchickt hatte”) 

Eine Zwifchenbemerkung fei mir bier geftattet: man bat 
oft mit Verwunberung auf ben völligen Umfchlag ber eng» 
liſchen Politit bezüglich des Kirchenftaates hingewieſen. Eng⸗ 
land war es, welches energifch zur Rückgabe desſelben an 
Pins VII. mitwirkte. Lange Zeit betrachtete bie römifche 
Regierung die engltiche als eine durchweg wohlwollende und 
befreundete Macht. Gregor XVI. erllärte dem Lord Nor» 


ı) Ee war noch dazu bie katholiſche unter bem Batronat bes Car- 
dinals Wiſeman erſcheinende Zeitfchrift, ba8 Dublin Review, 
June 1850, welches biefe Thatfachen zuerft an's Licht brachte. 
Dann lam infolge bes von Achilli gegn Newman einge- 
feiteten berühmten Proceffes noch weit mehr durch bie Zeugen⸗ 
ausſagen zu Tage; bie Sache bildete Wochen lang ben Banpt- 
inhalt aller englifchen Zeitungen; Newman's Proceßloſten wur- 
ben buch eine allgemeine Eubfeription in ben katholiſchen 
Ländern gebedt. Die Procefacten, von Finlaſon beran® 
gegeben, erlebten binnen Kurzer Zeit mehrere Auflagen. Welche 
Scälüffe man proteftantifcherfeits daraus zog, welche Vorwürfe 
man bem römifchen Stuhl machte, bavon gibt unter unzähligen 
andern ber Artikel im Christian Remembrancer, ®b XXIV,, 
p. 401 —424 einen Begriff. Weber in England noch in Rom 
wurbe auf fo fchneidenbe, in ben Times u. f. w. natärfich 
noch gefchärfte Vorwürfe eine Antwort verfucht. 


PYy —; 


583 


manby im Yahre 1844: er wünfche fehnlih, daß England 
in birelte biplomatifche Verbindungen mit dem vömtjchen 
Stuhle treten, und einen Gefandten nach Rom fenben möge. 
Im April 1847 fagte der päpftlicde Nuncius Fornari in 
Paris demfelben Lord Normanby, es ſei fchon lange ver be⸗ 
harrliche Wunſch der römifchen Regierung, daß Englaud 
doch derſelben eine thätigere moraliſche Unterſtützung ge⸗ 
währen, und dadurch die Sache der ſocialen Verbeſſerungen 
in Italien fördern möge.) Lord Balmerfton, damals Mi⸗ 
nifter des Auswärtigen, ſandte denn auch Lord Minto mit 
der Weiſung nach Rom, dem Bapfte die entfchiedenfte Unter- 
ſtützung Englands bei der Durchführung des Memorandums 
ber Mächte von 1831 zuzufagen. Damals dachten bie eng⸗ 
liſchen Staatemänuer noch nicht daran, den Fall der welt« 
lihen Herrichaft des Papftes zu beförvern. Das bat fih num 
freilich Alles geändert”), fett 1851 ift die englifche Negierung 
bie offene Gegnerin des Kirchenftaate und wirft das ganze 
Gewicht ihres Einfluffes in die piemontefifche Wagſchale. 
Eie fteht dabei unter dem Drude der öffentlichen Meinung 
in England, welchem dort jedes Kabinet unterliegt. Auch 


1) Bl. das Blaubuch: Correspondence respecting the affairs of 
Italy, 1846 —47. London 1849, p. 86. 38, 

2) Man vergl. ben Bericht Lorb Minto’s Über feine Unterredung 
mit bem Papfte, Ian. 1848. Correspondence, Part II., 1848 
p- 4. 


584 


ein Torh⸗Miniſterium würde biefer herrſchenden Stimmung 
in feiner italiäniſchen Polttit Rechnung zu tragen genöthigt 
fein. Diefe öffentlihe Meinung aber iſt durch bie Be 
richte der im Kirchenſtaate reſidirenden Englänber in ben 
Zagblättern, fowie durch das von dem Schaklanzler Glad⸗ 
ftone in's Englifche überjegte Wert Farinie’') gebilbet umb 
beftimmt worben, fo daß gegenwärtig der Wille ber ganzen 
Nation und die Politit ihrer Regierung dem Fortbeflande 
des Kirchenſtaats auf's Feinpfeligfte entgegentritt. Bei einem 
Theile des Volles, aber nur bei einem heile, ift es aller 
dings der proteftantifche Haß gegen ben päpftlidden Stuhl, 
welcher mitwirkt, gejchärft durch den Zorn über bie zwei 
Maßregeln Rom’s: die Errichtung ber engliihen Bisthüzer 
und bie Verwerfung ber confeffionelf gemijchten Regierunge- 
Collegien in Iceland. Die Bolitit des Kabinets wirb z1- 
gleich durch den Wunfch beftimmt, ein mächtiges Italien = 
Stande kommen zu fehen, welche auf eigenen Füßen za 
ftehen vermöge, und im Gegenfate gegen Frankreichs br» 
hende Uebermacht englifcher Leitung fich anvertraue. 

Auch die Lage und ſociale Stellung bes Klerus erheifchte td 





) Lo Stato Romano dall’a, 1815 all’a. 1850. 4 Voll. $a:i- 
ni's Werk wirb in Rom ſelbſt als in ben Thatſachen ges 
und glaubwärbig bezeichnet. Coppi hat ansgebehnten Be 
brauch bavon gemacht. 





685 


greifende Reformen. Daß er im Ganzen fittlich tadellos 
fei, wird allgemein zugeftanden’); aber die Bedingungen zum 
Eintritt in den Priefterftand waren ſehr niebrig geftellt, 
man konnte ohngeachtet der vollftändigften Unwiſſenheit uub 
Geiftesrohheit fo leicht Priefter werben, und babe gab es 
fo viele Pfründen, welche werner Beichäftigung noch anſtän⸗ 
diges Auskommen gewährten. Die folge war, daß bie 
Schaar der müßigen, den Tag im Kaffeehauſe und auf 
den Strafen verbringenven, auf ungeiftliden Erwerb anges 
wiefenen Geiftlichen übergroß, und das Anfehen des ganzen 
Standes beim Volke dadurch ſehr geſunken if’). Auf dem 
Lande befand ſich der wichtige Stand ber Pfarrer in kläg⸗ 
licher Armuth,’) und ließ, vielleicht eben darum, und aus 
Zrägbeit das Volt ohne Unterricht.) Die höheren Stände 
wänfchten, daß der Druck der Cenſur befeitiget oder erleich⸗ 


) Farini I, 164. Vergl. Appendice al libro d’Äzeglio, 
1846. p. 57. Aguirre p. 112. 

) Die in Rom gemefen, wiflen, was man bort preti di piazza 
nennt. So etwas findet fih nur noch in Rußland. 

?) I curati che sono generalmente poverissimi, ad hanno il 
peso de’ poveri, fagt Card. Morichini in feinem Bericht, 
p. 575. 

*) Appendice al libro d’Azeglio, p.56. Der Berf., ein Roma- 
guole, meint: il clero pontificio & il piü ignorante di tutto 
il olero cattolico salvo poche ecoesioni. In andern Xheilen 
Italiens ift es freilich nicht beſſer, da bie Biſchöfe mit einer 


__ 56 


tert würde. Man bat es, fagten bie Gebilveten im Kirchen⸗ 
ftaate, dahin gebracht, daß es in dieſem fchönften, begabteften 
Theile Italiens eigentlich feine Literatur mehr gibt, daß 
außer einigen archäologifchen und lokalgeſchichtlichen Ar⸗ 
beiten faft nichts von irgend einer wiflenfchaftlihen ober 
literarifchen Bedeutung ericheint. In der That hatte Leo 
XI. die durch Dominikaner⸗Mönche ohnehin ſchon mit 
größter Aengftlichleit gehanphabte Präventiv- Cenjur noch 
gefchärft durch die Beftimmung, daß eine Schrift, bie 
durch irgend eine Aeußerung das Misfallen einer fremben 
Regierung erregen, oder auch nur zu bedenklichen Streitig- 
feiten Anlaß geben könnte, nur mit Erlaubniß bes Staats» 
ſekretariats veröffentlicht werben bürfte”) So fühlte man 
ſich nach den verſchiedenſten Richtungen hin beengt, gehemmt. 
Die Bewohner von Forli wünſchen einen landwirth⸗ 
ſchaftlichen Verein zu errichten; fie erhalten endlich nadh 
langem Zögern bie Erlaubniß dazu von ber Congre⸗ 
gazione degli Studi, aber unter der Bedingung, daß alle 
Mitglieder erft vom Negierungspräfiventen approbirt wer- 


Leichtigkeit, wovon man in Deutihland keine Vorftellung Hat, 

bie Orbination gewähren. Man vergl. was ber angeichene, 

Pädagoge, Prof. Domenico Berti, in ber Rirvista Italiana, 

1850, I., 128 — 124, über die unglaubliche Unwiſſenheit vieler 

Geiſtlichen in Piemont jagt. 
3) Coppi IX., 76. 


\ 


687 


den, daß fie nicht zufammentommen, blos um fich über land⸗ 
wirtbichaftliche Gegenftände zu befprechen, daß vielmehr bei 
jeder Zuſammenkunft eine Abhandlung vorgelefen werbe, bie 
vorher von der Cenfur approbirt worben.) Natürlich gab 
man das ganze Unternehmen fogleih wieber auf. Schwer 
litt das Anſehen ver Regierung und das Vertrauen 
bes Volles durch ven zerrütteten Zuftand der Staatsfinanzen. 
Anleihen zu den ungünftigften Bebingungen, einmal bei 
Rothſchild foger nur zu 62'/,. Procent des Nennwerthes, 
ein jährliches Deficht von über 2 Mill. Gulden, und große 
Zerrättung und Unorbnung im Haushalt. Es gab kaum 
ein Land in Europa, wo eine fo bobenlofe Willkühr im 
Vinanzgebiete herrſchte. Namentlich wurde der Teſoriere 
Toſti als Mufter eines fohlechten Finanzminifters betrach⸗ 
tet. Als Galli im Jahre 1848 dieſes Miniſterium an⸗ 
trat, erflärte erin einem offiziellen Berichte: für das Vergangene 
tönne er nicht die geringfte Verantwortlichleit übernehmen, 
da viele Rechnungen nicht feftgeftellt feien, eine Menge von 
Belegen mangelten, vie Ausgabenverzeichniffe zum Theil 
nicht aufgefunden werben könnten, und bie vorhandenen, 
im Allgemeinen mit Aenderungen, Zuſätzen und Abzügen, 
bie jede Beglaubigung derſelben unmöglich machten, über- 
laden jeten.*) 


I) Documenti, I, 540. 
N) Aguirre p. 141. 


688 


Zudem wurde in ganz Italien ver päpftlichen Berwal⸗ 
tung der Vorwurf gemacht, daß fie durch bie Lotterie, bei 
welcher Geiftlihe zu funkttoniren Tein Bebenten tragen, 
ein Lafter, zu welchem ber gemeine Staliäner an fich fchon 
binneigt, die Spielwuth, nähre und ermuntere. Alexau⸗ 
ber VII. und Benebift XIII. hatten ehemals das Lotto⸗ 
fpiel unter Ercommumnication verboten. Cardinal Morichint 
erlärte in feinem Berichte" über den Stand der Finanzen: 
es fet dringend rathſam, die Einnahme aus bem Lotto 
„ber öffentlichen Moral aufzuopfern.“) Der Papft hätte 
es mit Freuden gethan, aber das Defizit und bie nenen 
Kataſtrophen, welche das Land trafen, machten e8 unmöge 
lich.) 





Sp war denn bie Stimmung in ben Provinzen büfter, 
verbittert. Die Stäpte richteten ſtarke Petitionen an das 
Carbinalscollegium. Es hieß: die Verwendung der Groß⸗ 
mädte für uns ift vergeblich geweien; von ihren Vorſchlä⸗ 
gen ift nichts verwirklicht, oder das Gegebene iwieber zurück⸗ 
genommen. Dem Volke ift nicht einmal geftattet, feine 


1) Man vergl. was Azeglio, Raccolta degli scritti politici, 
1850, p. 67, Tommasco, Roma e il mondo, 1851, p. 243 usb 
faſt Alle, bie über bie dortigen Zuftänbe gefchrieben, Darüber fagen. 

?) Documenti sul governo pontif. I, 577. 


589 


Wünſche der Regierung vorzulegen.) Gegen zweitauſend 
Berfonen find verurtbeilt, leben in ven Gefängniffen, oder 
als Geächtete im Auslande. Und in welchen Gefängnifien? 
in ungefunben Kerken, wo Schuldige mit Unfchulbigen, po» 
litiſch Verdaͤchtige mit Werbrechern gegen Eigenthum und 
Leben vermengt find.) Unfrer Gefeßgebung fehlt Einheit 
und Harmonie; Niemand Tann wiffen, welches ältere ober 
neuere Gejek, Motuproprio ober Edikt in einem gegebenen 
Falle gegen oder für ihn zur Anmwenbung kommen wirb.?) 
In unfrer Strafgefeßgebung ift Alles vag, ungewiß und 
wiberfprechend. Eine gefetlofe Polizei treibt ihre Willkühr 
aufs Aeußerfte, und mifcht ſich in Alles.) Anftellung und 
Defdrverung im Staatsbienfte hängt völlig von ber Gunſt 
oder Ungunft einiger Mächtiger ab; wiſſenſchaftliche Bil⸗ 
bung, Erfahrung und Verbienft hat wenig bamit zu 
fchaffen.‘) Man verweigert und Eifenbabnen; ber Han- 
bel erliegt unter dem brüdenden Prohibitiv⸗Syſteme. 
Wir werben ausgefogen durch Monopole und Steuerver- 


> 


1) Gualterio, documenti. p. 184, 

2) Appendice al libro d’Azeglio p. 51. 

2) Aguirre p. 134. 

*) Un capo di polizia appunto perchd non vi & un codice, 
pud far tutto &c. Appendice p. 47. 

6) Was hier gemilbert ausgebrüdt ift, ſchildern bie Staliäner, ber 
Berf. des Appendice p. 79, Uguirre, Azeglio und Andre 
mit den büfterflen Farben. 


0 


pachtungen, welche die unentbehrlichften Lebensbebärfniffe 
vertheuern, einige Berfonen auf Koften des Staates und 
des Vollkes bereichern, einen Theil des Volles bemoralifiren, 
und bie Regierung mit dem Haffe von vielen Tauſenden 
belaſten.) Durch unfer unvernänftiges Mauthweſen ift 
unfer Land der klaſſiſche Boden des Schmuggels und 
Schleichhandels geworben. ine Induſtrie bat bei unfern 
Zuftänden und Geſetzen fich nicht zu entwideln vermodht,?) 
und bei dem baburch verurfachten enormen Misverbältniffe 
zwilchen Ausfuhr und Einfuhr,’) geben wir einer völligen 
Verarmung entgegen. Man rechnet uns freilich vor, baf 
wir weniger Abgaben zahlen, ald andre Böller, aber e6 
wird dabei nicht angefchlagen, daß wir weit ärmer find ale 
bie Andern, und baß drückende Communalabgaben und Laften 
daneben beftehen. 

Die Militärcommiffionen und ihr Verfahren in ver 
Romagna 1843 und 1844 fteigerten die Erbitterung. Eine 
Schaar von Infurgenten bemächtigte ſich ohne Widerſtand 
der Stabt Rimint, entwich aber dann nad Toſcana. In 


!) Appendice p. 68. 

2) L’industris rimaste in culla fra noi nel meszo del pro- 
gresso di tutta IVuropa — fagt Carb. Moridini im ſei⸗ 
nem Berichte p. 877. 

2) Einfuhr: 92,000,000 Franten. Ausfuhr: nur 81,000,000. 
Zeller histoire de l’Italie. 1853. p. 558. 


691 


einem 1845 erſchienenen Manifefte an vie Fürſten und 
Bölter Europa's begehrte man 1. Amneftie; 2. Verleihung 
von Civil⸗ und Criminalgeſetzbüchern, welde nach denen | 
andrer gebilveter Nationen abgefaßt wären mit Deffentlich- 
teit ver Verhandlungen, Geſchworenen, Aufhebung ber Con⸗ 
fiscation und ber Todesſtrafe für politifche Vergeben; 3. Ent - 
bindung der Laien von ber Gerichtsbarkeit ver Inquiſition 
und ber geiftlichen Gerichtshöfe; weiter: freie Wahlen ber 
Muntcipalräthe, Errichtung eines Staatsrathes in Nom, 
Verleihung aller bürgerlichen, milttärifchen und richterlichen 
Aemter an Weltlihe, Milderung der Cenſur, Entlafjung 
ber fremden Truppen, Leitung bes Unterrichtsweſens durch 
Weltliche, Einführung einer Bürgerwache. Farini foll ber 
Berfaffer des Manifeftes geweſen fein, bem aber fpäter 
felbft manche der Forberungen unbillig ober zu weit aus⸗ 
greifend ſchienen. \ 
Die päpftliche Regierung erflärte in einer offiziellen 
Gegenſchrift:) Ste weife alle dieſe Forderungen zurüd. 
Die Ausfchliegung der Laien von ben höhern Aemtern, hieß 
es, ſei dadurch gemilvert, daß man Prälat werben könne, 
obne Priefter zu fein, blo8 durch Anlegung des Gewandes 
und Beobachtung bes Cödlibats.“) Die Inquifition, welche 


) Sie fieht bei Margotti, le vittorie della chiesa, Milano 
1857, p. 490 — 507. 
*) Kaum mochte fi Jemand durch die Hinweiſung auf jenen 


boch ſehr gelinde verfahre, auf vie Geiftlichen beſchränken 
und die Laien davon befreien zu iollen, wäre ungerecht. 
Univerfitäten und Literatur befänben fi im blühenden Zu- 
ſtande (wovon freifih ganz Europa das Gegentheil bes 
bauptete.) Und fo ergab ſich denn als Anficht des Staats⸗ 
Sekretariatd: daß die Behauptung, im Kirchenftante bes 
ſtünden Gebrechen und feten Reformen nothwendig, blos bie 
böswillige Erfindung einiger unruhiger Köpfe fei. 

In ganz Stalten berrfchte vie entgegengefeßte Ueber⸗ 
zeugung. Die Männer, beren Worte bei ber Nation am 
meiften Gewicht Hatten, ſprachen e8 alle aus, baß bie 
Dinge im Kicchenftaat nicht fo bleiben könnten. Große 
Senfation machte die Schrift von Maffimo D’Azeglio. 
Selbft Ceſare Balbo, der eifrige Guelfe und Biftorifche 
Verehrer des Papſtthums,“) freute ſich, daß die Schriften 
von Azeglio und Baleotti, welche die Fehler und Misbräuche 


Theil der Prälatur befriedigt fühlen, weldher von bem Priefter 
nur das Gewand und ben Edlibat hat, alfo aus Laien beftcht, 
bie nur als Briefter masfirt find, Es tft begreiflich, daß ſolche 
Bwitterweien, bie, wie man meint, ihre Ampbibienflellung mur 
aus Ehrgeiz oder Geldgier eingenommen haben, nicht hoch im 
ber Öffentlichen Meinung fiehen, und baß bie Verheiratheten, 
benen biefe halben Geiftlichen im Amte vorgezogen werben, ihre 
Zurüdfegung nur um fo Bitterer empfinben. 

') Jo son gran papalino al solito, fagt er von fich im Jahre 

1848. Ricottj, vita di Balbo, 1856, p. 265. 





698 


in ber Regierung bed Kirchenſtaats aufgebedt Hätten, 
erjchienen feien, und meinte, die Schrift von Azeglio ſei 
nicht ohne Einfluß auf das Eonclave, ans welchen Pius IX. 
hervorging, und auf dieſen felbft geblieben.’) 

Der Marcheſe Gino Eapponi, fo Hoch geehrt in 
Italien wie nur irgend einer, ſprach die Anficht aus:?) im 
Kirchenftaate werde nie Friede werben, wenn bie Regierung 
nicht aus der Hand ver Geiftlichen in pie der Laien über» 
gehe, und erinnerte daran, wie im Mittelalter die päpfts 
liche Souverainetät auf der Macht der Idee und bem 
Präftigium des Namens beruht Habe, aber allfeitig burch 
bie Widerftand leiſtenden Zurisdictionen bed Volles und bes 
Adels befchräntt geweſen fe. Die jetige Regterungsweife, 
dieſes Hriefterliche, in Alles fich einmijchenve, Zaren erhes 
bende, mit Shirren regierenve Abminiftrationswefen, ſei eine 
Neuerung der legten Zeiten. Der PBapft möge daher feine 
Herrſchaft zu dem, was fie ehemals gewefen, zurädführen, 
allmälig eine andre Gattung von Miniftern, andre Inſti⸗ 
tutionen und Geſetze bewilligen, ſonſt werde die Tiara, mit 
Blut befleckt, zuletzt in den Koth fallen. 

Die Schwierigkeiten, die mislungenen Verſuche, die 
Demüthigungen und Niederlagen der Regierung vermehrten 


N) Lettere di politica e letteratura. 1855, p. 356. 

2) In ber Gazzetta Italiana, anonym. ©. barüber Montanelli, 
Memorie, ], 84. 

9. Döllinger, Papſtthum. 38 


BER 


fih mit jevem Tage. Die Misverhäftniffe, pie unlösbaren 
Berwidelungen, bie Eollifionen, in welche bie regierenden 
Praͤlaten und Geiſtlichen zwiſchen ihrem priefterlichen Stande 
und den Anforderungen ihres Amtes geriethen, nahmen 
fein Ende, erwuchſen wie Polhpen eine aus ber andern. 
Alle Werkzeuge zerbrachen der Regierung in den Hänben. 
Das päpftliche Militär war fo verachtet, daß bie Leute fich 
nicht anmwerben laſſen woliten; hatte man mit hohem Hand» 
geld Einige zufammengebracht, fo liefen fie bald wieber 
auseinander, oder man mußte bie Deitreicher anrufen, vie 
päpftlichen Soldaten gegen den Hohn und bie Injurien des 
Volkes zu befhügen. 

Aus Ferrara wurde im Jahre 1845 der Regierung 
berichtet: Die ganze Benöllerung ber Romagna fei regie 
rungsfeindlich gefinnt.‘) Aus Imola berichtete der Legat 
Cardinal Maffimo am 12. Auguft 1845: Der Stolz ver 
Bevölkerung mache ihr das Priefterregiment ımerträglich; 
vom Batrizier bis zum niebrigften Ladenjungen hinab felen 
alle verſchworen, jeden von ben Behörden DBerfolgten zu 
befhägen und der Strafe zu entziehen. Viele Beamte und 
Geiftliche feien geneigt, fih mit den Neuerern zu verflän- 


1) 1 pochissimi amici del Governo non hanno voce in queste 
provincie, perchd appunto sono pochı e l’Universale d ne- 
mioo, Documenti, I, 70. 


595 


digen; man müffe bie ganze jeßige Generation von 18 Jahren 
an aufwärts verloren geben, denn fie fei grunbfägtich feind⸗ 
lich gegen die Regierung, und man werbe fich immer mit 
ihr im Kriegszuftande befinden.) Der Gopernatore von 
Rom, Marini, meinte in feiner Antwort: Nach vielen, 
auch von anderwärts ber, eingelaufenen Berichten verhalte 
es fich freilich jo; zugleich aber berührte er eine Haupt» 
quelle des Uebels: Die gezwungene Thatenlofigkeit, ven 
Mangel an befriedigenber Thätigfeit, welchen das Regierungs- 
foftem mit fich brachte.*) 

Manche Prälaten, wie der Cardinal Maffimo, wa⸗ 
ren geneigt, die Grundurſache ber traurigen Zuftinde un 
der Abneigung gegen bie päpftliche Regierung in ber durch 
vie franzöfifche Occupation ausgeftreuten Saat der Inpiffe- 
ren; und bes Unglaubens zu finden.?) Allein die Laien, wie 
Aguirre, Tommaſeo, Azeglio erwiederten: Gerabe bie 
großen Gebrechen und Misbräuche in der Civilverwaltung 
jeten e8, welche das Volk auch in feinem Glauben irre 
machten, fein Vertrauen auf bie päpftliche Reitung ber Kirche 


) Documenti, I, 66. Nebenbei geftcht ber Cardinal hier auch 
bie mangelhafte Beichaffenheit ber Rechtspflege ein: si rende 
formolaria ed inefficace. 

?) L’oaio e il niun sfogo che hanno gli amor proprii eccitati 
dall’ esempio degli esteri. 1. c. p. 67. 

’) Documenti sul gov. pontif. I, 66. 


98% 


58 _ 


erjhätterten; in ganz Italien bahne die ungünftige Mei⸗ 
nung, bie man von den Zuſtänden und ber geiftliden Re⸗ 
gierung des Kirchenſtaats hege, religiöfer Srriehre ven Weg.") 


4. Pins IX., 18316 — 1861. 


Aus einem nur breitägigen Eonclave, dem Türzeften 
feit faft 300 Yahren, ging Pius IX. hervor. Man hatte 
bie Ankunft der frempen Carbinäle abfichtlich nicht erwartet. 
Es galt befonders, äftreichifchen Einfluß und öftreichifche 
Excluſive abzuwehren. Cardinal Maftai, erft 50 Sabre 
alt, von Gregor felbft zu feinem Nachfolger gewünfcht,") 
bien der rechte Dann. As Nuncius in Chile Hatte er 
bie Welt außerhalb des SKirchenftantes gefehen; er hatte 
Vergleiche angeftellt zwifchen ven Zuſtänden anbrer Staaten 
und dem feinigen. Im Geifte jeined Vorgängers, oder 
eigentlich Lambruſchini's, fortzuregieren, war einfach unmög- 
lich geworden; Pius hatte aber auch nicht Die geringite 
Neigung dazu. Er fab mehr Unheil als er verbeſſern Tonute, 
aber er brachte ven reinften Willen, die unbebingtefte Hin⸗ 
gebung an feinen Beruf mit auf ven Thron, und als fel- 


1) Aguirrep. 174. Tommaseo, Roma e il mondo p. 73. 
d’Azeglio, la Politique et le droit chretien p. 115. 
®) Das fagt Silvio Pellico, Epistolario, 1856, p. 324. 


697 


nen Beruf erlannte.er, ein Reformator in der Landesver⸗ 
waltung, ein Verſohner der Hegierten mit den Regierenpen 
zu fein. In dem guten Glauben, daß Liebe nırr @egenliebe, 
Wohlthat nur Dankbarkeit erzeugen könne, beganı Pius 
feine Regierung mit der umfaffenpften Ammeftie Damit 
fagte er ſich aufs beflimmtefte von ver bisherigen Bolitit 
nnd Negierungsweife los, aber freilich äffnete er auch da⸗ 
mit, wie Fürft Metternich fagte, den profeffionellen Brand⸗ 
ftiftern die Pforten feines Hauſes, geftattete er den radicalen 
Verſchwörern, vie bisher vom Auslande her gewühlt hatten, 
den Sit ihres Treibens mitten in fein Land zu verlegen. 
In der Reinheit, dem fittlichen Adel feiner Sefinnung, zau⸗ 
berte Pius, der fich darüber wohl nicht verbfenbete, dennoch 
nit. Er bielt es für feine Pflicht, die Amneftie zu ge⸗ 
währen, nicht nur als einen politifchen Alt der Verfähnung, 
fondern auch um geſchehenes Unrecht wieder gut zu machen. 
Der preußifche Geſandte, Herr v. Uſe dom, führt die eignen 
Worte des Papftes an: „Die Amneſtie zu geben, war nicht 
nur eine politifche Nothwendigkeit, e8 war meine Pflicht. 
Der Haß, der ſich gegen das Papſtthum durch das alte 
Syſtem feftgefegt, mußte verföhnt, mit einem Worte, das 
Alte durch das Neue nachgeholt und wieder gut gemacht 
werden."') 

Auch die VBerfprechen von 1831 eudlich zn erfüllen, 


V Politiſche Briefe und Charalteriſtilen 1849, ©. 254. 


glaubte Pins fich verpflichtet. Am 23. Upril 1848 erflärte 
er in einer Anrede an die Carbinäle: Schon feit ven legten 
Jahren Bine’ VII. hätten die größeren Mächte von Europa 
dem päpftlichen Stuhle Borftellungen gemacht, ex möge doch 
in der bürgerlichen Verwaltung Einrichtungen treffen, welche 
den Wünfchen ber Laien mehr entfprächen. Zugleich ftügt er 
fih ganz auf das Memorandum ber Mächte von 1831, 
welches die Einführung von Provinzialräthen und bie Zu⸗ 
laffung ber Laien zu ben abminiftrativen und richterlichen 
Aemtern für Lebensfragen ver päpftlichen Regierung 
ertlärt Habe. Sein Vorgänger habe darauf Einiges ver- 
fügt, Unberes verſprochen; allein feine Anorbnungen hätten 
weder den Winfchen der Mächte entfprochen, noch hätten 
fie genügt, das öffentliche Wohl und bie Ruhe tes Staates 
zu fichern.') 

. Demnach wurden Commiffionen zur Bräfung ber gan⸗ 
zen Verwaltung, zur Verbefferung ber Gefetgebung, zur 
genaueren Eintheilung der Verwaltungszweige eingefekt; 
die Wahl Gizzi's zum Staatefelretär fanb allgemeine 
Billigung; der Bau der Eifenbahnen, unter Öregor zurüd- 
gewiejen, wurde genehmigt. Die Regierung duldete, daß 
ba, wo vor wenigen Monaten noch jedes Wort über öffent 
liche Angelegenheiten erſtickt worben war, eine politifche 
Preffe ſich bilvete, daß die Bedürfniſſe und Zuftänbe bes 

1) Dosamenti, I, 405. 


699 


Baubes und ganz Italiens beſprochen wurben. Ein Eenfur- 
Edikt verbefferte durch Einfegung von Cenſurcollegien ben 
bisherigen Zuftand, ver Alle ver Wilſkühr einzelner Mönche 
überlaffen hatte, und gab bie Erörterung wiffenichaftlicher 
Dinge, der zeitgenöfftfchen Gefchichte, ver Fragen über Ader- 
bau und Imbuftrie frei.') 

Die größte Freude erregte ein Decret vom 19. April 
1847, welches die Einberufung ver Notabeln aus ben Pro⸗ 
vinzen zu einer Staats⸗Conſulta ankündigte. Ein Miniſter⸗ 
rath warb gebildet, Rom erhielt eine Communalvertretung ; 
mehrere andre reformirende Dekrete erfchienen, die Staats⸗ 
Eonfulta trat zufgmmen und machte gemäßigte Vorſchläge. 

In wenigen Wochen fchon war Pius das Tool aller 
Staliäner; alle Stimmen rebeten biefelbe Sprache. Sein 
Name war ein Talisman; nicht was er wirklich that, fon« 
bern was er thun follte, was man von ihm beffte, machte 
ihn zum nationalen Heros der Btalläner. Er fellte als 
Priefterlönig die Ketten der Nation brechen, follte die übri⸗ 
gen Regierungen burch fein bloßes Beifpiel nöthigen. Das 
mals, fagt Montanelli, war das Präftigtum des Papftes 
bie einzige ſchützende Vormauer zwiſchen uns und ben öftrels 
chiſchen Waffen.?) 


1) Coppi IX, 78. 
?) Memorie sull’ Italia. 11, 180. 





m _ 


Laien und Geiftliche wetteiferten, dem reformirenben 
Fapfte ihre Hulvigungen darzubringen. Pins, ſchrieb Graf 
Balbo,') regiert erft ſechs Monate, und ift in dieſer Spanne 
Zeit der thatkräftigfte Reformator dieſes tbatenreichen Jahr⸗ 
hunderts geworben. Die große Mehrzahl der Geiflichen 
im Kirchenftaate erkannte e8 wohl, daß nur auf diefem Wege 
der Haß der ftäptifchen Benölferung gegen den ganzen Stand 
gehoben werben könne. Man hoffte, die Zeiten feien für 
immer vorbei, in benen Zribumale, ganz aus Geiſtlichen ge⸗ 
bübet, die politifcher Vergehen Angeklagten zum Tode oder 
zur Galeere verurtheilten, ohne ihnen die Mittel der Ber- 
tbeivigung zu gewähren.?) 

Es war nur die Gefinnung aller gebilveten und reli- 
giöfen Staliäner, die Graf Eefare Balbo damald aus⸗ 
ſprach, als er die fchönen Worte an Pius richtete: 

Tu non ci maledici! Tu sei figlio 

Di nostra etä, e Fintendi e la secondi: 

Perdura e avanza! a te bramando mirano 
Ormai due mondi. 


Tu prineipe, tu padre, tu pontifice, 


1) Lettere, p. 366. 
®) Bol. den Brief von Poggi an Sainte-Aulaire be 
Gualterio, dooumenti, p. 973. 


601 


Ogni via giä t’apristi, ogni speranza; 
Ora dal volgo di color che dubbiano 
Ti scerni e avanza.') 

Und nicht nur in Itallen, in der ganzen fatholifchen 
Welt war allgemeine Freude, war Pius amor et delicise 
generis humani. Der Klerus tin allen Ländern, bie reli⸗ 
giöfen Katholiken, jedermann war erfreut, daß enblich bie 
Derjöhnung des römifchen Stuhles mit den Freiheitsineen 
der mobernen Völker verkündet und befiegelt fei, daß jene 
Makel getilgt werben folle, mit welcher bie Gebrechen und 
. Die Unpopularität der Firchenftaatlichen Klerofratie den gans 
zen Briefteritand zu belaften fchienen.?) 

Es ift bekannt, wie gleichzeitig mit den Anfängen 
Bius’ IX. der Ruf nach nationaler Unabhängigkeit, nad 
einem freien Stalten fich von einem Ende der Halbinfel 
bis zum andern erhob. Wir wollen Eine Nation fein, hieß 
es, wollen die Kraft und Würbe einer Nation befigen, wollen 
unfer Gewicht mit in die Wagfchale ver Weltgeſchicke legen. 


1) „Du fluchſt ums nicht, du biſt ein Sohn unfrer Zeit, bu ver⸗ 
ſtehſt ſie und förderſt fie. Harre aus und fchreite vor; zwei 
Welten ſchauen jett ſehnſüchtig auf Did. — Du Fürft und 
Bater unb Hoherpriefter haſt jede Bahn Dir fchon geöffnet und 
jede Hoffnung: von ber gemeinen Schaar ber Zweifler ſcheideſt 
Du Di nım und fhreiteft furchtlos vor.“ 

?) Man erinnere fih an den Beifall, den namentlich bie franzd- 
ſijchen Biföfe dem reformirenden Bapfte zollten. 





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wollen nicht den fremden Intereſſen transalpinifcher Mächte 
verfnechtet fein. Die Bewegung ging nicht mehr von ben 
Logen ber geheimen Gefellfegaften ans; fie beherrſchte in 
ganz Italien die gebilvete Befellfchaft, vie höheren unb 
mittleren Stände. Alles begehrte nationale Selbftftändig- 
feit, Sturz ber öftreichifchen Herrfchaft in Oberitaften, ber 
Öftreichiichen Präponderanz in ber ganzen Halbinfel, politi- 
fche Freiheit. 

Auch Nom, auch die Umgebung bes Papftes entzog 
ſich damals nicht der allgemeinen ttaliänifchen Begeiſterung 
fie die Befrelung von ber Fremdherrſchaft, und bie Aufs 
richtung eines italiänifchen Königreichs, und es wirb be» 
richtet, Pins habe verſprochen: Wenn ber Steg Karl Alberts 
Waffen günftig fei, fo fei er Hereit, ihn mit eigner Hand 
zum Könige von Oberitalten zu krönen.) Ein von Rof- 
mini ausgearbeiteter Plan einer italiänifchen Conföderation 
fand die Billigung bed Papftes. Eine Tagſatzung aller 
ttaliänifchen Staaten follte in Rom über Krieg und Frieben, 
Zölle, Hanbelsverträge nnd einige andre gemeinfchaftliche 
Ungelegenbeiten beratben und entfcheiven, Nom alfo bas 
Frankfurt des ttaliänifchen Staatenbundes werben. 

Auf Rom aber laftete bereits das Unweſen der Mubbs 


) Gioberti, Rinnovamento oivile d'Italis. ], 210.Coppi 
X, 868, 


608 





(bed Eircolo Romans) und der Bürgerwehren, die fich bald 
hier, wie überall, unentfchloffen, ohnmächtig oder bdowillig 
erwiefen, wenn es Aufrechthaltung ber Orbnung und Schut 
ber Regierung galt; rabicale Demagogen erbisten, fanati⸗ 
firten das Volt durch endlofe Straßendemonftrationen; in 
Rom konnte vie Regierung ſchon nicht mehr auf Gehorſam 
rechnen.) Unter ver Madle von Huldigungen und Dank⸗ 
bezeugungen follte der Bapft zu einem Werkzeug ber Maz⸗ 
äiniften erniedrigt, zum Kriege gegen Deftreich gezwungen 
werben. Bius follte nicht blos Theil nehmen an biefen 
Kriege, er follte als erfter und vornehmfter Herold vefjelben 
an bie Spike treten.) Die Minifterien, größtentheils aus 
Laien gebildet, wechfelten rafch. Anfangs 1848, als bereite 
in Sicilien und Frankreich pie Nevolutionen ausgebrochen 
waren, erjchien das Statuto fondamentale, eine Eonftitution, 
in deren Eingang Pius erklärte: er wolle feine Völker nicht 
geringer fehägen, nicht weniger Vertrauen ihnen beweifen, 
als die Nachbarſtaaten, die ihre Völker reif erachtet Hätten 
zu einer nicht blos berathenden fondern auch befchließenden 
Bertretung. In alter Zeit hätten die Communen das Recht 
der Selbftregierung gehabt. Er wolle dieſe Prärogative 
zwei Kammern anvertrauen, beren eine von ihm ernannt, 
bie andre gewählt werben folle. In den Punkten, über 


') Ranalli, del riordinamento d'Italia. 1859, 298. 
!) Ranalli, del riordinamento d’Italia 1859, 298. 


= 





604 


welche dieſes Statut nicht verfüge, und in den die Religion 
und Moral berührenden Dingen behalte er ſich und ſeinen 
Nachfolgern die volle Ausübung der fonverainen Gewalt vor.!) 

Das Statuto unterfchieb fich wefentlich von einer ge- 
wöhnlichen mobern conftitutionelfen Verfaſſung. Denn das 
Cardinals⸗Collegium follte al® ganz unabhängige, gewiſſer⸗ 
maßen an der Sonverainetät participirenbe Körperfchaft neben 
und über den beiden Kammern ftehen. Im Grunde gab 
es alfo drei beliberirende Verſammlungen. Es war natür- 
lich, vielleicht unvermeiblich, daß Pius das Statuto bewil⸗ 
ligte. Jetzt, nachdem der Erfolg gerichtet bat, ift es frei- 
Tich nicht ſchwer zu erfennen, daß das Volk für den rich 
tigen Gebrauch der durch das Statuto gewährten politi- 
fchen Freiheiten zu wenig vorbereitet und erzogen war, daß 
vor Allem mehr bürgerliche Freiheit gegenüber ver Beamten» 
Willkühr und dem beratorifchen Gebahren der Polizei, mehr 
Uebung und Erfahrung In municipaler und provinzialer Selbſt⸗ 
verwaltung Noth that. Es fehlten die Borbebingungen für 
ein normales Berfafiungsieben. Bor Allem Hätte hiezu ge 
hört eine Ausſcheidung der geiftlichen und weltlichen Ge⸗ 
walten und Attribute. Wenn z. B. der Carbinal- Bicar, 
der den Papit in deſſen Eigenfchaft ale Biſchof von Nom 
erſetzt, auch die Sittenpolizgei bat, wenn er neben feiner 


) Coppi X., 188. 


605 . 


bifchöflichen Autorität auch noch eine Eiviljurisbiction aus- 
übt mit einem eignen Tribunal und eignen Agenten, fo ift 
nicht abzufehen, wie bei folchen Einrichtungen auch noch 
eine NRepräfentativ-Berfaffung beftehen folle. Wie fehr man 
auch die Repräfentation des Volles und ihre Nechte be» 
ſchraͤnken, die Macht der Regierung verftärlen möge, un 
fehlbar wird die bloße Eriftenz einer aus freien Wahlen 
bervorgegangenen Berfammlung bem Laien» Elemente das 
Mebergewicht über das klerikale im Staate verfchaffen, wäh- 
rend in ber Verwaltung das umgelehrte Verhältniß ftatt- 
findet, der weltliche, amopible, von den höheren Stellen aus“ 
gefchlofiene Beamte durchaus von feinen Herilalen Obern 
abhängig if. An eine friebliche Löfung dieſer Antinomie 
tft nicht zu venlten. Ohnehin würbe jede gewählte Ver⸗ 
fammiung, wie entichieven man auch das gejammte kirch⸗ 
liche Gebiet ihrer Competenz entziehen möge, Mittel fuchen 
und finden, die Aufhebung der Inquifition, der Civilgerichts⸗ 
barkeit der Bifchöfe und der gerichtlichen Privilegien bes 
Klerus zu erreichen. Gleichwohl war es eine Kommiffion 
von Prälaten, welche mit Ausſchluß aller Laien das Statuto 
entwarf, war es das Collegium der Carbinäle, welches nach 
Bine’ eigner VBerfiherung basfelbe einmüthig billigte.') 


3) L’intero sagro Collegio vi ha convenuto di buon grado 
ed unanimamente, waren bie Worte bed Papſtes an das 
Municipio Romano. Farini, IL, 5. 


. 606 


Hat man damals diefe unausbleiblichen Folgen nicht ge 
ſehen, oder war man wirklich darauf gefaßt, eine allmälige 
Umwandlung, die nachher wieder für fchlechthin verwerflich 
ertlärt wurbe, geichehen zu laffen? Ich weiß es nicht. 
Bold nachher wurde die Cenſur auf theologiſche und bie 
Religion betreffende Schriften beſchränkt. Inzwiſchen aber 
war Rom der Sammelplat von Mazziniften und Umfturz- 
männern geworben; auch hatten bie Bewegungen von 1831, 
1843, 1845 ein unter der Aſche glimmendes euer im 
Lande zurüdgelafien.”) Das Widerſtreben des Papſftes 
gegen die Theilnahme am öfterreichifchen Kriege warb be» 
nätt, ihm jede Gewalt zu entwinven, ihm ein revolutionäre® 
Minifterium unter Mamiani aufzubringen. Da ergriff 
des Papſtes neuer Minifter Pellegrino Rojfi, früher 
franzöfifcher Geſandter, die Zügel der Regierung mit träf- 
tiger Hand, und e8 fehlen, als ob ihm bie Herftellung eines 
georbneten Zuſtandes und bie Bewältigung ber fchon weit 
vorgeſchrittenen Revolution gelingen würbe, als Die Häupter 
ber Umfturzpartei, Sterbini, Cicernacchio und andere die 
Ermordung bes Mannes befchloffen und ausführten, welcher 
ber gefährlichite Gegner des Unitariomus, ber einen und 
untheilbaren italiäniſchen Mepublit war. Es folgte ver 
Sturm auf den Vatican, vie Flucht des Papftes nach Gaeta. 


1) Ranalli Istorie Ital. I, 86. 





607 


Auch dießmal fiel die päpftliche Gewalt im ganzen Lande 
troß der Verehrung, die Pius IX. perfönlich genoß, mit 
größter Leichtigkeit. Die völlige Urtheilslofigkeit einer Be⸗ 
bölferung, von welcher mindeſtens 99 Hunderttheile nie, weber 
vor noch nach ber Revolution, ein Buch oder eine Zeitung 
zur Hand nahmen, erleichterte ven Triumvirn und ihrem 
Anhange ihr Werk. 

In den 69 Tagen ber durch bie Saribalpiften und 
Mazziniften gefchaffenen Republik mußten die Bewohner 
des Kirchenftants den Taumelkelch der Revolution bis auf 
bie Hefe austrinten. Die Raubvdgel hatten ſich ſchnell um 
ven Leichnam des Staates verfammelt, und das Volk wurde 
nun unter dem Namen einer bemolratifchen Republit von 
einer, aus Anarchiften aller Länder beftehenden, babgierigen 
Faktion terrorifirt und gebranpfchagt. An demokratiſchen Ad⸗ 
vocaten und hohlen Schwägern war Ueberfluß, an allem 
Andern Mangel. 

As die Franzoſen erfhienen, um ben Papft wieber 
zurüdzuführen, meldete General Dudinot über den Geift 
der Benölferung: man liebe Pins IX. zwar perfönlich, 
aber man fürchte jebe Flerifaltfche Regierung.') Indeß über- 
gab er in ber eroberten Stabt die Gewalt den von Pius 

I) Daß bie ungeheure Mehrheit ber Bevölkerung in Rom ben 


Bapft zurückkehren zu ſehen wünſchte, bemerkt als Augenzeuge 
Helfferich in feinen Briefen ans Stalien, II, 56, 


a _ 


gefandten GKommiffären, ven Carbinälen della Genga, 
Banicelli und Altieri (1. Auguft 1849). ft am 
4, April 1850 hielt Pius feinen Einzug in Rom. 

In ber Allocution am 20. April 1849 hatte Pins er- 
-Härt, er babe nie daran gebacht, die Natur und den Cha⸗ 
rakter feiner Regierung zu Ändern, hatte alfo das Statuto 
mit feiner Repräfentatioverfaffung als völlig verträglich 
mit dem Charakter ber päpftlihen Herrſchaft bezeichnet. 
Allein nun kamen Iene zur Herrichaft, welche das Heil des 
Staates in der ſchleunigen Wiederherſtellung alles beffen, 
was gefallen war, erblidten. Auch die Inquifition erflanb 
wieder. Man behauptet, eine Mittelpartei, auf welche ver 
Bapft fich auch jetzt noch, wie im Jahre 1847, Hätte ftügen 
tönnen, fei nicht mehr vorhanden geweien; bie ganze Um⸗ 
gebung bes Papftes. babe die Beſeitigung der Schöpfungen 
und Zugeftänpniffe von 1847 und 1848 begehrt. Carbinal 
Antonelli regierte in diefem Sinne als Staatsjelretär und 
wurbe ber eigentliche Lenker des Staatswefens, bie fünf 
Minifter waren nur die erften Verwaltungsbeamten. Graf 
Balbo war nach Gaeta geſchickt worden, um ben Papf und 
feinen Deinifter im Namen ber piemontefiichen Regierung 
zu bewegen, baß er doch an dem Statuto feflhalten möge; 
er hatte aber nicht8 erreicht.) Pius war überzeugt worben, 


— 





9) Ricotti, vita di Balbo. p. 278. 


609 


daß die unverbeſſerlichen Radicalen als Feinde aller ftaat- 
lichen Ordnung und pofitiven Religion jede Conceflion zu 
ihren Zweden ausbeuten würben. ine durch wenige und 
unvermeibliche Ausnahmen befchränkte Amneftie wurde ge⸗ 
geben. Durch die Einſetzung der Staatsconfulta erhielten 
die Laien das Recht, in inneren Angelegenheiten ihre bes 
ratbende Stimme abzugeben, aber die Entjcheivung und 
faft alle höheren Aemter kamen wieder ganz in die Hände 
ber Prälaten. Doch wurde den Municipien eine gewiſſe 
Selbftftänbigfeit zugefagt; bie Gemeinderäthe follten Yon 
einem aus ber fechsfachen Zahl ver NRäthe beftehenben 
Wahllörper erwählt werben, nur bie erften zu ernennen 
bebielt ver Papft fich vor. 

Zehn Jahre (1849— 1859) tft die Regierung bed 
Kirchenſtaats, geftügt auf vie öſtreichiſche Beſatzung in ber 
Romagna und die franzöfifche in Nom und Civitavecchia, 
ihren, im Ganzen ruhigen und gleichmäßigen Gang gewan⸗ 
beit. Selten wohl hat eine Regierung unter fo entmuthi⸗ 
genden Umftänden, umgeben von erbitierten ober jelbftjäch- 
tig lauernven Feinden, ohne irgend eine feite Stüte, ohne 
einen einzigen zuverläffigen Freund, ihr mühevolles Tag⸗ 
wert begonnen und fortgeführt. 

Die Denkſchrift des franzöfiichen Gefandten, Grafen 
Rayneval, vom Jahre 1856 hat die Verwaltung bes 


Kirchenftants unter dem jebigen Papfte und dem Carbinal 
9. Dillinger, Papftthum. 39 


610 


Antonelli gegen bie Vorwürfe der Staliäner und gegen eine 
weitverbreitete Meinung in Frankreich und England in ben 
meiften Punkten in Schug genommen; er beftätigt es, daß 
im Bolle fortwährend Unzufrievenheit und Abneigung bor- 
berrfche, aber er fucht die Urſache hievon nicht in ben Feh⸗ 
lern des Regierungsfyftens, fonbern in ben Fehlern des 
Bollscharakters und in der bamaligen Lage und Stimmung 
Staltens überhaupt. Der gleichzeitige englifche Geſchäfts⸗ 
träger in Rom, Lyons, hat in feinen Berichten vielfach 
auf Rahneval's Denkichrift Bezug genommen; er behanptet 
zwar, fie ſei im Einverftänbniffe mit der päpftlichen Re 
gterung und nach deren Angaben verfaßt, um in Paris auf 
die Entjchlüffe des Kabinets zu Gunften ver Fortbaner des 
franzöftiihen Schutzes einzuwirken und um zu zeigen, baß 
der Papft nicht zu Veränderungen in ber Verwaltungsweiſe 
gebrängt werben bürfe. Er beftreitet Rahneval's Dar- 
ftellung vielfach. Indeß ftimmen beide, Lyons und Rahne⸗ 
val, in einigen Hauptpunften liberein. Beide verfichern, 
baß bie jehige Negierung keine Schuld trage an ber all» 
gemeinen Misftimmung und dem Verlangen des Bolls 
nad einem Herrichaftswechfe. Es gibt, wie Lyous be 
richtet, nur zwei Gattungen von Menſchen im Lande: ent 
ſchiedene, principielle und unverföhnliche Feinde der Re 
glerung, deren Lofung ift: Tein Priefterregiment! Diele 
önnen burch keine Reformen im Einzelnen gewonnen wer- 


611 


ben, fie würben vielmehr jedes Zugeftänpnig nur als Waffe 
gegen bie Regierung benützen. Nicht Reform, fondern Um⸗ 
fturz ber Regierung ift ihr Ziel. Die Uebrigen find indiffe⸗ 
rent, lau, unzuverläfftg, und im Moment der Gefahr würbe 
bie Regierung keine Stüge an ihnen finden. Sie würben 
feinen Finger aufheben, um dem angegriffenen Herrſcher 
beizuftehen. Diefe Borausfegung des englifchen Geſandten 
iſt im Jahre 1859 nur zu fehr in Erfüllung gegangen. 
Selbft die niedere Klaffe der päpftlichen Beamten if, nach 
Lyons, notoriſch der päpftlichen Herrſchaft abgeneigt,') da- 
bei träge und beftechlich. 

Zwei Dinge dürfen nicht überfehen werben, damit man 
bie Zuftänbe bes Kirchenſtaats gerecht würbige. Das eine 
ift die Erwägung, daß bie Megierenden doch wefentlic zu 
bem Vollke gehören, und die Tugenven wie bie Fehler bes 
Volkes befigen. Den Mangel an Energie und Thatkraft 
kann man vernünftiger Weife einer Regierung nicht vor- 
werfen, wenn fie hierin nur einen Zug ber Nation über- 
haupt veflectirt. Zweitens: wo einmal das richtige Vers 
bältniß zwifchen Volt und Regierung getrübt, das wechſel⸗ 
feitige Vertrauen gewichen ift, da pflegt die unzufriedene 
Bevöllerung Alles, auch die Nachtheile und Gebrechen, 
welche fie felber verfchuldet hat, welche in ihrem Charakter 

') Dispatches from Mr. Lyons respecting the condition and 


administration of the Papal States. London 1860. p. 53 
39* 





02 


legen, ihre Begehnungd- und Unterlaffungsfünden ven Herr⸗ 
fhenden zur Laft zu legen. In welch hohem Grabe dieß 
im Sirchenftaate ver Fall ift, bat Graf Rayneval bemerklich 
gemacht. Die Bewohner des Kirchenftaats gleichen einiger- 
maßen bierin ven Merilanern, bie, wie mir ein von bort 
gelommener fcharfiinniger Beobachter fagte, wenn fie einen 
zerriffenen Rod anbaben, bie Regierung deshalb anlagen. 
Im Kirchenftante freifich tft die Sinnesweiſe auch wieber 
die natürfiche Folge eines allzu vormunbfchaftlichen, jebe 
Discuffion ver öffentlichen Intereffen und jebe Theilnahme 
an benjelben hemmenden Regiments. Dazu kommt das 
leidige Mistrauen: fie träumen, fagt ber franzöfifche 
Botichafter, von nichts als von Unreblichleiten und Er⸗ 
preffungen. Site Hagen, daß der Staat fich nicht mit ber 
Ausführung großer Unternehmungen befaffe, bie fie vielmehr 
jelbft angreifen follten.') 


AS das erfte, drückendſte Problem gilt das Verhältniß 
ber geiftliden zu den weltlichen Beamten, oder bie Frage 
ber Aemter-Säculartfation. Viele halten- fie für die ſchwie⸗ 
rigfte, ober für geradezu unlösbar. Es handelt ſich babei 
nicht blos um die Tchatfache, daß faft alle höheren Aemter 
in ben Hänben von Geiftlichen, und den Weltlichen in ber 


’) Allg. Ztg. 1867, ©. 1666. 


613 


Regel unerreichbar find. Die Regierung fagt:") Unter dem 
Bapfte als geiftlichem Souverän muß bie Leitung der Ver⸗ 
waltung eine durch Beiftliche geübte fein; zudem haben wir 
nur eine fehr Heine Zahl von brauchbaren Laien zur Aus» 
wahl, auch begehren vie Städte felbft (3. B. Türzlich erft 
Orvieto und Camerino), Geiftliche al8 Governatoren. Die 
Laien und bie Gefandten der fremden Mächte erwiebern: 
die Verwaltung muß fäcularifirt werben, damit Laien von 
Talent, Ehrgefühl und Ambition eine Laufbahn und eine 
Hoffnung bes Vorrückens zu höhern Aemtern eröffnet werde, 
bie e8 ihnen ver Mühe werth erſcheinen Laffe, fich ernft« 
fih auf den Staatsdienſt vorzubereiten und in benfelben 
einzutreten. So lange dieß nicht gefchieht, werben fich ge⸗ 
rade bie tüchtigeren Laien ferne halten, und werben Laien 
und Geiftliche zwei feindlich geſchiedene Klaſſen bilden, wer⸗ 
ben jene ſtets unzufrieden fein, confpiriven, eine Veraͤnde⸗ 
zung ber Regierung erjehnen. Zubem würbe, wie bie 
Stellung jetzt ift, ein Laie von Bildung und unabhängiger 
Sinnesiweife ſich in allen Fällen genöthigt fehen, feine 
Meinung ver feines geiftlichen Obern aufzuopfern, und bazu 
verfteben fich nur Wenige und nicht bie Tüchtigften und 
Verläffigften. Hiezu kommt noch, daß ber Gelftliche, wie 


1) So Earbinal Antonelli in ber Unterrebung mit Lyon: 
Dispatches, p. 17. 


BEER. BE 


ein feiner franzdfifcher Beobachter fagt,') gleichfam als 
Schildwache am Eingange jeder Earridre fleht, denu er hat 
bie Zeugniffe über Neligiofität und Erfüllung der Firchlichen 
Verpflichtungen auezuftellen, ohne welche Niemand zum 
Öffentlichen Dienfte zugelaffen wird. 

Wir wollen, erflärte daher kürzlich ein Italläner, mit 
ber begehrten Säcularifatton im Kirchenſtaate nicht die Aus⸗ 
fohließung der Geiftlichen aus den Staatsämtern, fonbern 
nur das Anfhören einer Kaften-Regierung, vie Einführung 
bes Prinzips der Gleichheit in die weltliche Hierarchie, 
bie Thellnahme bes Landes an der Verwaltung feiner Au- 
gelegenheiten.”) Graf Rayneval flimmt ber Anfchauung 
ber Regierung bei, indem er erinnert: das Doll beweife 
dem Latenbeamten keine Ehrerbietung und vergebe ihm viel 
weniger bie Superiorität?) feines Ranges ober feiner Stel⸗ 
lung als einem Geiftlichen, fo daß Laien viel heftigeren per- 
fönlihen Angriffen ausgefett ſeien als Geiſtliche. Über er 
bemerkt auch gleich darauf, daß der Nuf nach völliger Säcu- 
lariſation ver Verwaltung bei dem Volle Beifall finde. 

Man fleht: die Lage tft diefe, daß das eigentliche Voll 


1) 9. v. Mep-Noblat in feinen Varia, Morale, Politigue 
Literature. Paris 1861, p. 488. 

?) Rivista oontemp. VIII, 470. 

3) Denlſchrift, Allg. Zig, 1857, 17. Apr. 


615 


gewöhnlich ben geiftlicden Beamten als gewiffenhafter und 


minder babjüchtig dem weltlichen Beamten vorzieht, felbft 
dann, wenn es, im Allgemeinen mit bem Geifte der Ver⸗ 
woltung unzufrieden, ſich unwillig über das „Prieſter⸗Re⸗ 
giment“ äußert. Die höheren Stände dagegen, das heißt, 
alle Diejenigen, welche für fich oder ihre Verwandten auf 
bie Carridre des Staatsbienftes Anfpruch zu haben glauben, 
find unzufrieden, fühlen fich zurüdgefeßt und fordern Ueber⸗ 
gabe aller Aemter und Stellen an bie Weltliden. Als 


Prinzip aufgeſtellt, hieße dieß freilich die Einleitung zur 


demnaächſtigen Säkularifation des Papftes jelbft treffen. 
Und anbrerjeits ift Har, daß, wenn bie Dinge fo bleiben 
wie fie jett find, eine Verföhnung ver beiven Stände, und 
folglich ein ruhiges und gebeihliches Beſtehen des Kirchen⸗ 
ftante® kaum gehofft werden darf. Das Misverhältniß liegt 
aber nicht fowohl in ven Zahlen, als vielmehr in ber großen 
Ungleichheit der foctalen Stellung, welche die Kleriker durch» 
weg zu ben Herrfchenden, die Laien zu Dienenden macht, 
welche in jedem amtlichen oder privatperfönlichen Conflikt 
zwifchen einem Laien und einem Kleriker alle Vortheile in 
die Hände des letteren legt, und das Unterliegen des er» 


. fteren vorhinein wahrfcheinlich macht. In andern Lan⸗ 


bern eben wir ©eiftliche und Laien in ber gleichen Dienſtes⸗ 
fategorie ganz gut und frieblich neben einander beftehen und 
harmonisch zuſammenwirken, 3. B. an Univerfitäten und 


616 


Gymnaſien, auch in Negterungsbehörben. Das wäre alſo 
auch im Kirchenſtaate erreichbar, aber bie Bedingung wäre: 
Sleichheit der Rechte und der Pflichten, freie Eoncurrenz, 
amtliche Geltung der perfönlichen Fähigkeiten und Leiftungen, 
nicht des Standes, 

Eine andere Schwierigkeit liegt in dem Mangel ftrenger 
Gefeglichkeit. Aus allen Berichten gewinnt man bie Ueber- 
zengung, baß eine® ber größten Gebrechen in den Zufländen 
des Kirchenftaates in dieſem Mangel zu fuchen if. Man 
fennt dort nicht die ruhige, feite, für Regierende und Unter- 
gebene gleichmäßig bindende Herrichaft und unantaftbare 
Heiligkeit des Geſetzes. Zuviel liegt in der Gewalt, hängt 
ab don ber Willkühr ber einzelnen Beamten. Lyons bes 
merkt: man fcheine zu glauben, daß bie Regierung in ihrem 
Berhalten gegen ihre Untertbanen ganz nach Gutdunken, 
nah dem jedesmaligen Ergebniß der Umftänve verfahren 
könne und folle.’) Es findet fich, daß ein Governatore er- 
Härt: Wegen mangelnder Beweiſe könne der Angeflagte nicht 
überführt werben, gleichwohl aber folle er mit adhttägigen 
Sefängnig bei Waffer und Brod beftraft werben.) Ober 
ber Staatsfelretär Carb. Bernetti verfügt bezüglich eines 
Mannes, dem gleichfalls nichts nachgewiefen werben konnte: 


’) Dispatches, p. 61. Bgl. Aguirre p. 124. 
) Documenti sul gor. pontif. II, 580. 


617 


bei der erften Webertretung folle ihn nicht nur bie geſetz⸗ 
liche Strafe, fonbern noch nebftvem fünfjährige Zwangs⸗ 
arbeit treffen‘) Der Graf Rayneval Bat biefen Zus 
ftand ver Wilführ, dieſe Ungebunvenbeit der Regierenden 
unb der Verwaltenden, vie bei jever Gelegenheit bereit find, 
den Buchitaben des Gefetes zu umgeben, mit den Worten 
bezeichnet: Pinterprötation de la loi Yemporte sur la loi 
elle-m&me. Das Schlimme dabei ift, daß ein gefunbes 
Staatsleben ſich bei einer folchen Verfahrungsweiſe kaum 
entwideln kann, da das Beifpiel ver Regierenven e8 unmög» 
lich macht, daß das Volk, welches unter dem fteten Ein⸗ 
brud arbiträrer Behandlung lebt, die erforberliche Achtung 
und Scheu vor der objectiven Macht des Geſetzes hege, 
und da zuletzt fich die Vorftellung geltend macht, pie Men⸗ 
ſchen feien in biefem Lande überhaupt nicht dem Gefeke, 
jondern einer Anzahl von Einzelwillen unterworfen, die felbft 
nur durch ihre Leidenſchaften und Stanvesintereffen bes 
wegt würden.) 

Das freilich iſt Mar, daß das conftitutionelle Syſtem, 
wie es gewöhnlich verſtanden ober ausgedehnt wird, für 
den Kirchenſtaat nicht anwendbar fe. Es darf nicht vor⸗ 
Iommen, daß eine Triegsfuftige Faktion, etwa durch Ver⸗ 


1) Doeumenti II, 595. 
) Marsusi de Aguirre p. 166. 





618 


"weigerung bes Budgets, ven Bapft, ven Oberhirten ber 
Völker, zu einem Kriege gegen eine chriftlide Macht zu 
zwingen verfuche, wie man Pius zum Kriege gegen Oeſter⸗ 
reich nöthigen wollte. Weberhaupt muß ber Papft im Des 
fige wirklicher, nicht blos nomineller Souverainetät fein, 
um in feiner Tirchlichen Stellung und Thätigleit als voll» 
kommen frei zu erfcheinen; ob er unter dem Zwange einer 
fremden Macht, oder unter dem einer übermüthigen und 
bespotilchen Kammermajorität fteht, pas läuft am Enbe auf 
eines hinaus. Aber Souverainetät und eine Herikaliich- 
büreaufratifche Allgewalt und Alles bevormundende, in Alles 
ſich einmifchende Verwaltung, das find zwei himmelweit ver 
ſchiedene Dinge. Dieautokratifche Souveralnetät des Papftes 
Tönnte beftehen, wenn auch dem Volle ein Antheil an ber 
Geſetzgebung, ven Corporationen autonomifche Bewegung, 
wenn eine gemäßigte Preßfreibeit und eine. Scheidung von 
Religion und Polizei geftattet würde. rüber war es ge 
rade Defterreich und waren es die von Defterreich geleiteten 
übrigen italiäntfchen Regierungen geweſen, welche unter dem 
Vorgeben, pas Prinzip von Vollswahlen jet mit ihrer Staatee 
ordnung unvereinbar, fich der Einführung der Wahlen zu 
ben Provinziale und Muntcipalräthen wiverfegt Hatten.') 

1) Galeotti della sovranitä dei Papi. 1846. p. 339. Bel. 


bie Bemerkung des H dv. Edftein, Allg. Zeitung, April 
1860, ©. 1808. 


619 


Nah dem Motuproprio von 1850 follen fie ftattfinden, und 
bie franzöfifchen Vertheidiger des päpftlichen Stubles, Er. 
Montalembert und de Eorcelle, haben ſich darauf be- 
rufen. Die Staliäner eriwiedern: das Wahlfyſtem für bie 
Municipal» und Brovinciafräthe befteht wohl in der Theorie, 
allein der Card. Antonelli bat durch ein Eircular nom 29 
April 1854 verorbnet, daß die Wahlcollegien nicht_zufan- 
menberufen werben follen.) Die Negierung kann nach der 
Demerlung des englifchen Diplomaten zu ihrer Rechtferti⸗ 
gung anführen, daß fie nach dem Geſetze der Selbfterhal- 
tung trachten muß, ihre Feinde, welche freilich an vielen 
Orten die fonft am beflen geeigneten Männer find, von 
diefen Körperfchaften auszufchließen.”) In der That iſt Die 
Zahl derjenigen allzugroß, in deren Augen, wie ber britifche 
Diplomat jagt, ver Maßſtab des Werthes für eine Reform⸗ 
Moßregel nur die Brauchbarteit derſelben als eines Mit- 
tel, um das och des Heiligen Stuhles abzuwerfen, ift. 
Es würde ihnen leid thun, wenn die Regierung etwas 
thäte, wa® ben Umfang oder die Stärle der Unzufrieden⸗ 
heit zu vermindern geeignet wäre.?) 

Nun trägt aber dieſe allzu Häufig vorklommende That⸗ 
ſache, daß Gefetze verfündet werden, die dann unvollitredt 


1) $arini in ber Rivista oontempor. 1867, IX., 19. 
?) Lyons Dispatches, p. 19. 
3) Lyons Dispatches p. 20. 


620 


bleiben, wiederum zu der Misachtung bei, in welche bie 
päpftlihe Negierung ihren eignen Unterthanen gegenüber 
gefallen tft, und erhöht das Gefühl, daß man unter einer 
reinen Wilfführberrichaft febe.') 

Der Bapft hat es Tlängft erfannt, daß ein begabte, 
höchſt bewegliches Boll, wie das DBtaliänifche, die Unter⸗ 
brüdung aller öffentlichen Discuffion, die Ausfchließung von 
aller öffentlichen Wirkſamkeit nicht erträgt, daß fein Thä⸗ 
tigleitötrieb der Betten und Canaͤle bebarf, in vie er fi 
ergieße, um gebänbigt unb befruchtenb babinzufließen. 
Aber neben öffentlichen Berathungen eine firenge, alle Dis⸗ 
cuffionen verhindernde Präventiv-Genfur und gewiffe Ein- 
richtungen und Privilegien feitzubalten, welche in der ganzen 
übrigen Welt längſt verfchwunden find, dieß ift boch auf 
bie Dauer nicht möglich, und darum mag es allerdings fich 
fo verhalten, wie vielfach behauptet wird, daß Diejenigen, 
die an dem alten Syſteme feftbalten, jebe Einführung von 
gewählten und berathenden Eollegien zu verhindern ftreben, 
felbft gegen ven Willen ober zum Bedauern des Papites.”) 


1) Dieß hebt ber anonyme italiänifche Berfaffer bes Artilels: 
M&moires du Comte Aldini, in ber Rivista contemp. YIIE, 
469 hervor. 

2) Der Berfaffer bes Artikels in ber Rivista contemp. 1856, 
v1, 470, behauptet aus ficherer Quelle zu wiffen, daß Pius 
ſelbſt die jetzige Regierungspraris beklage. 


621 


Ste wiflen, daß der Kamin nicht verftopft bleiben barf, 
wenn ınan ein Feuer auf dem Herde anziubet. 

Im Jahre 1856 erließ der Inquiſitor Airaldi in 
Ancona ein langes Edikt, worin wieder unter Androhung 
ber ſchwerſten Cenſuren die Denunctation jedes Tirchlichen 
ober religiöfen Vergebene, welches Jemand an Anderen 
wahrgenommen habe, Allen zur ftrengften Pflicht gemacht 
wird, fo daß eine Magd 3. B. in ven Bann verfiele und 
ftraffältig würde, wenn fie verfäumte, der Inquifition ans 
auzeigen, baß jemand im Haufe an einem Freitage ober 
Sonnabend Fleifch gegeffen babe. Alle Zeitungen,') das 
Siecle voran, bemächtigten fich fofort dieſes Aktenftüds; 
es wurde in feinem ganzen Umfange abgeprudt. Welche 
Eommentare in Frankreich, England, Italien darüber ges 
macht, welche Schlüffe über ven Charakter der päpftlichen 
Regierung und bie Hoffnung auf Reformen daraus gezogen 
wurden, braucht nicht gefagt zu werben. ‘Den zahllofen 
Feinden des päpftlicden Stuhls ‚hätte kaum etwas Willlom- 
meneres bargeboten werben können. Man boffte noch, von 
Rom aus werde irgend etwas gefchehen, um ben Einbrud 
der Thatjache zu verwifchen, und ein Journal brachte bie 
Nachricht, Airaldi ſei entſetzt worden; fofort aber wiberfprach 


1) Zuerft hatte e8 die Correspondence italienne lithographide, 
19. Oltober 1856 gebracht. 


622 


die in Rom erjcheinende Tirchliche Zeitfchrift dieſer Nachricht: 
Airaldi, hieß es, Habe nur das Seinige gethan.') 

Es fcheint in der That, als ob man in den maßge- 
benden römifchen Kreifen von der ungeheuren Macht des 
Journalismus und ber dadurch gebifpeten, ober in demſelben 
fich reflektirenden, öffentlichen Meinung keine, ober eine vou 
ber Wirklichkeit noch weit entfernte Vorftellung habe. Je⸗ 
ber, der die europälichen Zuftände und Machtverhältnifie 
fennt, wird doch fügen müffen, daß drei Ereigniſſe, wie 
der Fall mit Achilli, das Edikt des Airaldi (unb frübere 
ähnliche) und die Angelegenheit Mortara, in der Wagfchale, 
in ber die Frage des Sirchenftants gewogen wirb, ftärfer 
in's Gewicht fallen, als eine gewonnene ober verlorene 
Schlacht. Es iſt Hier nicht die Rede davon, wie biefe 
Ereigniffe an fich zu beurtbeilen feien, fondern in welcher 
Weife fie die zulegt doch unwiderſtehliche öffentliche Mei⸗ 
nung in Europa zu beftimmen beitragen. Gegenwärtig 
wohnt jedermann in Europa in gläfernem Haufe, und es 
genügt nicht, blos mit den Megierungen zu verhandeln, benn 
biefe hängen alle in ihren Entfchlüffen von ver Hinter ihnen 
ftehenden Meinung ver Völler ab. Wie ungünftig aber in 
Stalien, in England, in dem größeren Theile von Franl⸗ 
reih und Deutichland u. |. w. die öffentliche Stimme 


) Die Civiltä cattolica im fasc. vom 20. Dez. 1856. 


623 


der Fortbaner der weltlichen PBapftberrichaft ift, das kann 
jeder ſehen, ver feine Augen gebrauchen will. 

So kann es denn nicht fonderlich befremben daß, wo 
immer eine Mitwirkung ber Laien nöthig ift, Alles mis⸗ 
Imgt und bie Negierung nirgent® in ver Bevölkerung eine 
Stüße finbet, wie die fremden Diplomaten dieß einftimmig 
berichten. Mit großem Aufwand, mit unfäglicher Mühe 
hat man nach 1850 wieber eine Keine päpftliche Armee von 
Eingebornen gebildet, aber bie Ereigniffe von 1859 haben 
auch dieſes Werkzeug zerbrochen, dieſe Hoffnung zerftört; 
es bat fich ergeben, daß dieſe Truppen völlig unzuverläflig 
find. Und nun muß man mit fremden Sälonern ſich bes 
beifen. 

Die Prälaten und “Delegaten berichten fortwährend 
über ben ſyſtematiſch⸗feindſeligen Geift der Bevölkerung, 
ihren bartnädigen Widerwillen gegen ben Kintritt in’ 
päpftliche Militär, ihre Weigerung, irgend ein Communal⸗ 
Amt, welches mit ber Regierung in Berührung bringe, und 
pie Verfügungen verfelben zu handhaben nöthige, zu über- 
nehnten. Aus Ferrara fchrieb der Delegat Folicaldi im 
Jahre 1849: bie Liberalen fagten, Tieber noch öftreichifch 
ale paͤpſtlich, nur um ihren Haß gegen die päpftliche Re⸗ 
gierung auszudrücken.) Aus Bologna mußte ber Prälat 


!) Documenti, I, 57. 


624 


Bebini melden, baß er nicht eine einzige Perfon auffinven 
könne, welche das Amt eines Cenſors übernehmen wolle. 
So war e& aud in Ravenna, Ferrara. In Faenza wolle 
Niemand ein Amt annehmen. Ans Ceſena meldete ber 
Delegat Laſagna 1858: in dieſem Lande gebe es nur ie 
nige der Regierung geneigte Perfonen.') 

Gleichwohl ift die Verwaltung Pins’ IX. weife, wohl 
wollend, milde, fparfam, nützlichen Anftalten und Berbefle 
rungen zugewandt. Alles was von Pins IX. perfönlid 
ausgeht, ift eines Hauptes ver Kirche würdig, ebelfinniz 
liberal im guten Sinne bed Wortes. Kein Fürft Tann fir 
feinen Hof und feine perfönlicden Bebürfniffe geringere 
Aufwand machen, ale Pius. Dächten und handelten alle 
wie er, fo wäre ber Kirchenftant wirklich der Diufterfladt 
Beide Geſandte, ver Branzöfifche und ber Englifche bemer 
ten, daß die finanzielle Verwaltung fich gebeffert habe, ir 
Werth des Bodens im Steigen, ver Aderbau blühend, dei 
überhaupt viele Zeichen bes Fortſchrittes im Lande wahr 
nehmbar feten.”) 

Was nur immer von einem liebevollen, einzig im Er 
weifen von Wohlthaten feine Erholung fuchenden Monat 
chen erwartet werben Tann, das leiftet Pins im veichlicher 


1) Documenti, I, 210. 
?) Lyons Dispatches, p. 54. 


625 


Maße. Pertransüt benefaciendo, dieſes Wort, von einem 
viel Höheren gebraucht, ift, auf ihn angewendet, doch nur 
einfache Wahrheit. Man erlennt an ihm recht bentlich, 
wie das Papſtthum (auch als weltlicher Staat), was bie 
Berfönlichkeit des Fürften betrifft, bei zweckmäßigen Wahlen 
bie trefflichſte aller menfchlichen Suftitutionen fein könnte. 
Hier if ein Dann, noch im Mräftigften Mannesalter, nach 
einer unbefledt burchlebten Jugend, nach einer geiviffen« 
haften bifchöflichen Amtsführnng, zur höchften Würbe und 
fürftlichen Gewalt erhoben. Er weiß nichts, von koſt⸗ 
fpieligen Liebbabereien, er hat leine andre Leidenſchaft, als 
bie, Gutes zu thun, feinen andern Ehrgeiz, als den, von 
feinem Volle geliebt zu werben. Sein Tagwerk ift getheilt 
zwifchen Gebet und Wegentenarbeit, feine Erholung ein 
Bang in den Garten, der Befuch einer Kirche, eines Ge⸗ 
fängniffes, einer milden Stiftung. Ohne perfönliche Be⸗ 
bürfniffe, frei von irbifchen Banden, Hat er Teine Nepoten, 
feine Sünftlinge zu verjorgen; allen gewährt er gleichen 
Anſpruch, gleichen Zutritt zu ihm. Für ihn find bie Rechte 
und Gewalten feined Amtes nur um der Pflichten willen 
da. Seine nüchterne und fparfame Hofhaltung läßt ihm 
zeichliche Mittel, nach allen Seiten hin Noih und Leiden 
zu mildern. Auch er läßt, wie faft alle Päpfte, Bauwerke 
ausführen, aber nicht prunkende Paläfte, ſondern Werke des 


öffentlichen Nutzens. Schwer verlegt, mishanbelt, mit Un⸗ 
v. Dölinger, Papſtthum. 40 


624 


Bedini melden, daß er nicht eine einzige Perfon auffinden 
könne, welche das Amt eines Cenſors übernehmen wolle. 
So war ed auch in Navenna, Ferrara. In Faenza wollte 
Niemand ein Amt annehmen. Aus Gejena melbete ver 
Delegat Lafagna 1858: in diefem Lande gebe ed nur we 
nige ber Regierung geneigte Perjonen.‘) 

Gleichwohl ift die Verwaltung Pius’ IX. weife, wohl 
wollend, milde, fparfam, nüglichen Unftalten und Verbeſſe⸗ 
rungen zugewandt. Alles was von Pins IX. perjönlid 
ausgeht, ift eines Hauptes ber Kirche würbig, ebelfinnig, 
“ Mberal im guten Sinne des Wortes. Kein Fürſt kaun für 
feinen Hof und feine perfönlichen Bebürfniffe geringeren 
Aufwand machen, als Pius. Dächten und bandelten alle 
wie er, fo wäre ver Kirchenftant wirklich der Diufterftaat. 
Beide Geſandte, der Franzöfiiche und ver Englifche bemer⸗ 
fen, daß die finanzielle Verwaltung fich gebeffert habe, ver 
Werth des Bodens im Steigen, ber Aderbau blühend, va 
überhaupt viele Zeichen des Fortſchrittes im Lande wahr- 
nehmbar feten.”) 

Was nur immer von einem liebevollen, einzig im Er- 
weifen von Wohltbaten feine Erholung fuchenden Mongar⸗ 
chen erwartet werben Tann, das leiftet Pins ins reichlichen 


1) Documenti, I, 210. 
?) Lyons Dispatches, p. 54. 


625 


Maße. Pertrausüt benefaciendo, vieſes Wort, von einent 
viel Höheren gebraucht, tft, auf ihn angewenbet, doch nur 
einfache Wahrheit. Mamn erkennt an ihr recht dentlich, 
wie das Papftthum (auch als weltlicher Staat), was bie 
Berjönlichleit des Zürften betrifft, bei zweckmäßigen Wahlen 
bie trefflichſte aller menfchlichen Suftitntionen fein könnte. 
Hter if ein Mann, noch im kräftigſten Mannesalter, nach 
einer unbefledt burchlebten Jugend, nach einer gewiſſen⸗ 
haften bifchöflichen Amtsführung, zur höchften Würde und 
fürftlihen Gewalt erhoben. Er weiß nichts, von koſt⸗ 
fpteligen Liebhabereien, ex bat keine andre Leivenfchaft, al8 
bie, Gutes zu thun, Teinen andern Ehrgeiz, als ben, von 
feinem Volle geliebt zu werben. Sein Tagwerk ift getheilt 
zwifchen Gebet und Wegentenarbeit, feine Erholung ein 
Gang in den Garten, der Befuch einer Kirche, eines Ges 
fängniffes, einer milden Stiftung. Ohne perfönliche Be⸗ 
dürfniffe, frei von irbifchen Banden, hat er Teine Nepoten, 
feine Sünftlinge zu verforgen; allen gewährt er gleichen 
Anfpruch, gleichen Zutritt zu ihm. Für ihu find bie Nechte 
und Gewalten feines Amtes nur um der Pflichten willen 
da. Seine nüchterne und fparjame Hofhaltung läßt ibm 
reichliche Mittel, nach allen Seiten hin Noth und Leiden 
zu mildern. Auch er läßt, wie faft alle Päpfte, Bauwerke 
ansführen, aber nicht prunkende Paläfte, fondern Werke des 


öffentlichen Nutzens. Schwer verlegt, mishandelt, mit Un« 
». Döfinger, Papſtihum. 40 


628 


fie ift ein permanenter Krlegszuſtand, fie Fönnte nur durch 
Waffengewalt' fich ‚behaupten, das heißt, fie muß früher ober 
fpäter fterben. Alle Freunde der Kirche und bes päpftlichen 
Stuhles find Berufen, dieſer Auffoffung entgegenzutreten. 
Nur an das, was nach Tätholifcher Lehre göttlichen Rechtes 
, alfo für alle Zeiten weſentlich und unabänderlich, ift ber 
Bapft gebunden. 

Gtädlicher Weife ift pie Souverainetät der Päpfte fehr 
elaftiicher Natur; fie bat fchon fehr verfchiedene Formen 
burchlebt. Bergleicht man ven Gebrauch, welchen bie Bäpfte 
von ihrer Souverainetät im 13. ober 15. Jahrhundert 
machten, mit ber Regierungsform, welche Conſalvi ein- 
führte, ſo kann es kaum einen größeren Eontraft geben. Es 
läßt fi daher nicht bloß denken, fondern es ift ſehr wahr- 
fcheinlich, daß fie auch jet wiener, wenn auch erft nach einer 
gewaltfamen Unterbrechung, diejenige Form annehmen wird, 
welche dem Charakter des Jahrhunderts und ven Bebürf- 
niffen Italiens entipricht. Geſchieht dieß, dann bat bie 
päpftliche Staatsgewalt vor allen andern Regierungen große 
Vortheile voraus, und dann werben bie Bevölkerungen wil- 
ig unter bie päpftlihe Botmäßigleit zurückkehren. Was 
hindert und denn, einen Zuſtand zu denken, in welchem bie 
Wahlen zur Papftwirbe nicht mehr auf abgelebte Greiſe, 
ſondern auf kraftvolle, noch In ihren beften Lebensjahren ſtehende 
Männer fielen, das Volk durch freie Smftitutionen und 


Theilnagme an der Orbnung und Verwaltung der ‚eigenen 
Angelegenheiten mit feiner Regierung ausgefühnt, die Höheren 
Stände durch Eröffnung eine angemefjenen Wirkungs⸗ 
freifes in Öffentlichen Dingen befriedigt wären. Im 
ſolchem Zuftande des Kirchenflants befäße eine öffentliche 
und raſche Rechtöpflege das Vertrauen bes Volles, hätte 
fi unter den Beamten ein fittlicher Sorporationdgeift, ein 
Standesgefühl ver Chre und ber amtlichen Integrität ent» 
widelt, wäre bie feindliche Kluft zwifchen Merus und Laien 
durch Gleichſtellung in Rechten und Pflichten ausgefüllt, 
würde die Polizei nicht mehr mit religiöfen Mitteln unter» 
ſtützt, und ſchleppte die Religion nicht mehr anf polizeilichen 
Krüden fih fort. Der Bapft ımb fein Gebiet würden 
unter dem Schutze der katholiſchen Mächte ftehen, berfelben 
Mächte, welche auch die Neutralität Belgiens unb ber 
Schweiz gewährleiftet, fogar die Integrität des elenden, in fich 
zufammenfallenden o8manifchen Reiches unter die Bürg⸗ 
ſchaft des europätfchen Rechtes geftellt Haben. Gedeckt durch 
biefen Schild, Beherrſcher eines bernhigten, zufriedenen 
Volkes, hätte er feine Hände völlig frei. Die Schranken 
des materiellen und geifligen Verkehrs, welche bisher bie 
einzelnen italiänifchen Länter und Ländchen in uunatürlicher 
Abfonderung von einander erhalten, wären gefallen; vers 
möge ber internationalen Beziehungen und einer gewiſſen 
Freizügigkeit, wie fie in Deutſchland bie Univerſitäts⸗Pro⸗ 





fefioren genießen, würben bie ehrgeizigeren Köpfe feines 
Landes im. übrigen Italien zur Earridre der ftaatsmänni⸗ 
ſchen and militärifchen Stellen zugelaffen. Der Pupft aber 
hätte weder innere noch äußere Feinde zu fürchten, feine 
Unterthanen wären frei von der verhaßten Eonfcription, das 
Staatsbudget frei von ber Laft eines Arniee- Aufwandes; 
für die Bewahrung ver öffentlichen Sicherheit genügten 
einige Genbarmerie-s Brigaden. Für Ausführung gemein» 
näßiger Unternehmungen würden die Geldmittel nicht fehlen. 

Es ift dieß Fein leeres Phantafiegebilve. Sehen wir 
ab von Webelftänden und Gebrechen, von welchen jedes ein- 
zein, den guten Willen und tie richtige Einficht der maß- 
gebenden Berfönlichkeiten vorausgeſetzt, beilbar iſt, und denken 
wir uns in Italien einen ruhigen, geordneten Zuſtand, ſo 
konnte die Regierung des Kirchenſtaates eine Muſterregierung 
fein, ein Vorbild für alle andern Staaten und Verwal 
tungen. Daß fie ein folches Mufter fein follte, hat nicht nur 
Z ommafeo ansgeſprochen, auch der Biſchof von Orleans, 
defien Wert der Papft felbft für das beite von allen zur 
Bertheivigung ber päpftlichen Staatsgewalt erfchienenen er» 
Hört bat, auch er bat es als eine gerechte Forderung be 
zeichnet, daß bie Länder der Kirche blühenver, beffer ver- 
waltet fein follten, als andere Länder, daß das Boll zu- 
friebener fein ſollte als jedes andre.) Auch Düpanloup 


') 51 la perfection doit so rencontrer sur la terre quelque 


631 


ertennt an, daß piejenigen, welde „unter dem Bor. 
wanbe per Dogmen behaupten, der Bapft dürfe 
feine Regierung nit in Harmonie fegen mit den 
Bedürfniſſen der neueren Zeit und den legiti— 
men Wünfchen der Völker, biemit die Zerſtdrung 
der päpfliden Gewalt für unvermeiblih er. 
klären“. Erwägt man das hohe autoritative Zeugniß, wel- 
ches diefem Buche von Rom aus zu heil geworben, fo 
liegt in dieſen Worten eine hoffnungsreide und ermuthi⸗ 
gende Verbeißung. 

Man verweilt jet in Italten gerne bei einer bie welt» 
liche Papſtherrſchaft drückenden Schwierigleit, die man für 
unauflöslih ausgibt. Es iſt die des freien Religionsbe⸗ 
kenntniſſes.) Man jagt: Neligionsfreiheit in dem boppel- 
ten Sinne der Freiheit von aller Religion und der Frei 
beit, auch ein anderes Bekenntniß als das herrſchende oder 
das der Moajorität zu wählen nnd zu üben, tft jebt ein 
Poftulat, welchem kein Staat in Europa fich mehr entziehen 
ann. Sie tft im übrigen Italien eingeführt, ver Papft 
aber wirb fie nie zugeftehen. 

part, ce doit Stre dans les 6tats de l’Eglise. — J’admets 

oetto exigenoe comme un hommage involontaire qui nous 

honore, et avec lequel nous devons compter, La Souverali- 

net6 pontificale. 1860, p. 570. 


) Montanelli, l’impero, il Papato o la democrasia in Italia, 
1859, p. 29. 


B__ 


Ich ‚halte dieſe angebliche Schwierigkeit für geringfügig, 
ich meine, fie jet eigentlich thatſächlich jchon gelöst, oder doch 
in ber Löfung begriffen. Das Leben, die concrete Wirt 
lichkeit mit ihren unabweisbaren Anforderungen pflegt öfter 
Knoten zu zerhauen, bie in ber Theorie unauflösbar ſchei⸗ 
nen. Wan bat bereits im Sirchenftaate, wie an fo vielen 
andern Drten Verfuche gemacht, durch Gelb und Weber 
rebung BProfelyten für den Proteftantiemus zu gewinnen. 
Sie find bisher erfolglos geblieben.') Geſetzt aber, es hätten 
wirklich mehrere Uebertritte ftattgefunden, hätte es denn in 
der Macht der vortigen Behörden geftanden, gegen bie Ueber- 
getretenen erufte Strafmittel anzumwenven, überhaupt einen 
bleibenden Zwang auszuüben? Wir willen poch alle, in 
welch’ hohem Grade Heutzutage die Kunft ausgebilvet iſt, 
blos auf dem Wege ber Diplomatie oder ber Agitation, ber 
Öffentlichen Angriffe in Preſſe und Parlamentsreden, auf 
eine mistlebige Regierung einen Drud auszuüben, ber 
einer bewaffneten Intervention ziemlich gleichlommt, und 
auf die Länge unwiberftehlich wirkt. Bekanntlich ift ber 
Tall mit dem Judenknaben Mortara für alle Feinde der 
Kirche und des römifchen Stuhles eines ber wilfflommenften 
Ereigniffe gewefen, und fie haben ihn trefflich auszubeuten 


1) ©. barüber: Oäddo, l’indipendenza, il Cattolieismo « !’Ktalia. 
1859, p. 34. 


BB 


verſtanden. Sollte ſich nun ereignen, daß ein proteſtantiſch 
gewordener Raliaͤner der Inquiſition denuncirt und von 
dieſer eingekerkert würde, was wäre bie Folge? Ein Schrei 
des Unwillens würde ſich von Norwegen bis Sicilien er⸗ 
heben, die Zeitungen, die Volksverſammlungen, die Par⸗ 
lamente und Kammern wilden ſich der Sache bemächtigen; 
die gewaltige Agitation, die wir bei der Florentiner Ge⸗ 
ſchichte mit den Madiai erlebt haben, würde von neuem 
und in weit größeren Dimenſionen in Scene geſetzt wer« 
ben, und bie Mächte, die wir nicht zu nennen brauchen, 
würden mit Vergnügen den Vorwand ergreifen, um ben 
Papft auch des Reſtes feiner weltlichen Gewalt zu bes 
tauben. Und wo find die Hände, tie fich in ſolchem Falle 
zum Schute des Papftes erheben würden? Es ift jegt viel 
von ber Einführung bes Proteflantismus in Italien bie 
Rede. Würde es Ernft bamit, erlangte der Proteitantis« 
mus eine geiftige Machtftellung, einen Einfluß auf die Ideen 
und Gefühle in der Halbinfel, fo würde dadurch allerdings 
Die Stellung des päpftlicden Stuhles in unberechenbarer 
Weiſe erfchwert, die Verjöhnung des Papſtes mit dem ita⸗ 
liänifohen Vollsgeiſte vielleicht unmöglich gemacht werben. 
Es wird aber nicht Ernſt damit werden. Selbft in dem 
Jahrhundert, wo die proteftantijchen Ideen die größte Macht 
und Anziehungsfraft befaßen, wo fie im Norven wirklich 
populär geworben waren, und bad Bewußtſein und Leben 


—— 


bes Bolles beherrſchten — ſelbſt damals war ver Proteftan- 
tiomus in Italien nur die Sache einiger Gelehrten und Geiſt⸗ 
lichen; das Bolt wurde nirgends ernſtlich davon beräßtt, 
Das eigentlich protefantifche Beifteserzeugniß Italiens, das 
Eontingent, welches Italien zur religiöfen Bewegung des 
16. Jahrhunderts lieferte, war der Socinianismus. Heutzu⸗ 
tage, da die Vorftellungen, welche vor 300 Sahren in ihrer 
jugendlichen Friſche die Menfchen fo mächtig anzogen, ihre 
zündende Kraft großentheils verloren haben, iſt nicht zu er- 
warten, baß fie unter dem italiäniichen Volle bedeutende 
Eroberungen machen werben, mag auch piemontefifcher Re 
gierungseinfluß "und englifches Geld fie empfehlen. Der 
Staliäner, fagte mir der Mann, anf den ganz Toscana 
ſtolz ift, in Florenz vor einigen Sahren, wird nie gläubiger 
Ealvinift oder Lutheraner werben; Alles, was man buch 
diefe englifchen und deutfchen Beftrebungen erreichen Tann 
und. wird, ift dieß, daß eine Anzahl von Perfonen, aller 
Religion entfremdet, in Unglauben verfintt. Bei uns wirb 
ber Proteftantiemus Immer nur als zerftärende Macht wir 
fen, nur fociale Verwirrung und Zwietracht ftiften.”) 

So hat denn auch der englifche Prediger S. W. King, 
der im Yahre 1858 Italien befuchte, eingeftanden, daß bie 


*) Im demſelben Sinne äußert ſich Ginria: Silvio Pellico e 
il suo tempo. 1854, p. 81. 


— 


Bemühungen ver mit engliſchem Gelde reichlich unterſtützten 
Waldenſer und zahlreicher andrer Prebiger des Proteftan- 
tismus in Italien Im Großen vergeblich felen, daß in Pie 
mont, wo bie größten Anftrengungen ftattgefunden, ber 
Proteftantismus keine Fortfchritte mache, und daß jenfeits 
der walbenfifchen Thäler nicht 1000 Broteftanten im gan« 
zen Königreiche ſeien.) Es fiel ihm auf, daß die Gegner 
der Kirche zwar fehr geläufig Bibelſtellen gegen vie Tatho- 
liſche Religion zu citiven wüßten, aber außerdem nicht den 
geringften Glauben an die Bibel und an dieſe Ausfprüche 
zeigten. Sehr begreiflich für ven Kenner italiänifcher Zu- 
ftände. Yüngft haben fogar auf der Verſammlung der pro« 
teftantifchen Allianz zu Genf bie befolveten Agenten ver 
Allianz, die Herren Bert, Balette, Mazarella für noth- 
wendig gefunden, die hohen Erwartungen von ben glän- 
zenden Erfolgen „des Evangellums in Italien“ auf ein 
fehr befcheivenes Maß zurüdzuführen, und vor ihrem das 
durch ernüchterten Publikum nahezu eingeftanden, daß voch 
eigentlich noch fehr wenig erreicht fei. 





A — — — 


2) The Italian Valleys of the Pennine Alps. London 1868. 
Bergl. Giac. Oddo, l'indipendenza, il Cattolicismo e l'Ita- 
lia, 1859, p. 40, der dem Gedanken, in Stalien könne ber 
Proteftantiemns zu einer Macht errᷣachfen, für ganz grundlos 
und thöricht hält. Ebenfo Maſſimo b’Azeglio. 


— — — 


636 


Die franzoͤſiſche Regiexung hat wieder und wieder ber 
paͤpſtlichen umfaſſende Reformen empfohlen und im Einzel⸗ 
nen vorgeſchlagen. Auch Deſtreich exklaärte fich noch im 
Jahre 1859 bereit, die Unterhandlungen wegen der Refor⸗ 
men in ber papſtlichen Regierung, welche 1857 mit Frank⸗ 
zeich gepflogen worden, und welche dieſes hatte fallen laſſen, 
wieder aufzunehmen,') oder neue Vorjtellungen in Rom 
machen zu laffen. SeinerfeitS bat das römifche Kabine 
biefe Reformen nie eigentlich abgelehnt, vielmehr erklärte 
es noch im Jahre 1860: „ver Beil. Stuhl betraddtet bie 
Frage der Reformen ald dem Brincip nach gelöst, aber er 
befteht Darauf, pie Veröffentlichung berjenigen, in bie er eiu⸗ 
willigte, zu verfchieben, bi er wierer im Beſitz der au 
Sardinien annexirten Provinzen fein wird.“:) Früher fchen 
batte ver Papft erflärt, er fei bereit, die von den Mächten 
borgefchlagenen Reformen einzuführen, aber unter ver (eben 
fo gerechten al8 unvermeiblichen) Bedingung, daß man ibm 
bie Integrität des Kirchenftantes garantire. Dieß wurde 
in Paris verweigert, nad bamit war ber Maßſtab für bie 
Aufrichtigleit der von dorther geftellten Reformforderungen 
gegeben. Hienach wird auch eine andre Thatſache, vie 


) Malmesbury, Correspondence, p. 155. 
*) Bericht des Herzogs v. Grammont, 14. April 1860. Kg. 
Ztg. 1861, ©. 718. 


637 


durch Lord John Ruſſell's Erklärung im Parlamente 
fund geworben Ift, Niemanven befremven: bie Höfe von 
Wien und Madrid trugen in Paris daranf an, daß bie 
Angelegenheit des Kixchenftaats von den fatholifchen Maͤch⸗ 
ten gemeinfchaftlich berathen und behandelt werben folle; 
tm Paris aber lehnte man dieß unter dem Vorwande ab, 
daß an ben Verfügungen bes Wiener Friedens über ben 
Kicchenftant auch Eugland, Preußen und Schweben theil⸗ 
genommen hätten,’) eine Yeußerung, die faft wie Hohn 
Hang, angeſichts ber Ereignifie in den legten Jahren, wo 
Alles zwilchen Turin und Paris abgemacht, und ficherltch 
weber Preußen noch Schweden befragt worben waren. Gleich⸗ 
wohl ſah fich gerade in der Zeit, wo biefe Dinge befannt 
wurben, ber Papft gendtbigt, in Paris das Anſuchen zu 
Rellen: man möge „bie Zurückziehung der Oceupations⸗ 
truppen nicht befchlennigen.“’) Beim Anblidle einer fo trans 
rigen Sage fonnte man fi wirklich verfucht fühlen, bie 
Krifis, auch in der Form einer Kataftrophe, der Fortdauer 
eines folchen chronifchen, mit fo tiefer Demüthigung ver⸗ 
knüpften Leidens vorzuziehen. 

Für jest läßt ſich aus der jüngften Vergangenheit mit 
Wahrfcheinlichkeit auf die nächfte Zukunft fchließen. Die 


— — — —— 


) Weekly Register. London, June 22, 1861. 
2) Allg. Ztg, 1861, 25. Juni, ©. 2872. 


638 


Romagna, weldhe 1846 die Annexion an Zofcana begehrt 
hatte, wolle, fo hieß es 1859, gleich nach dem Abzuge ber 
Öftreichifchen Beſatzung, piemontefifch werden, und 121 Des 
putirte, zur Hälfte aus Epelleuten beſtehend, votirten ein- 
ftimmig die Annegion an Piemont. Der franzdiiihe Kaifer 
aber fehrieb dem Bapfte:”) vie Legationen würben nur durch 
eine verlängerte militärische Occupation im Gehorſame des 
Papſtes erhalten werben können, wodurch ein Zuftand ber 
Erbitterung, des Misbehagens und der Furcht danernd be» 
gründet werben würde. Der PBapit möge alfo ver Rube 
von Europa bad Opfer diefer Provinzen bringen. Daffelbe 
Motiv kann und wird wieder geltend gemacht werben, ſo⸗ 
bald ver Moment gelommen fein wird, dem Papfte auch 
den Berziht auf den Reſt feines Landes zuzumuthen. 
„Die Zhatfachen, fügte Napoleon III. in einem andern 
Briefe an den Bapft, haben eine unerbittliche Logik.” 

Kurz darauf erfchien in Baris die befannte Flugfchrift: 
„Der Bapft und ter Congreß,“ von ver Lord John Ruſſell 
fagte: fie habe dem Papſte mehr al8 vie Hälfte feiner 
Staaten entriffen. Sie fehlug vor: dem Haupte der Kirche 
Rom und einen Garten zu laffen. Gleichzeitig aber hieß 
es in Italien, fagte Cavour im Barlament zu Turin 
(13. April 1860): Nom gerade wollen wir, Rom muß bie 
Hauptftadt unfered Reiches werben. 


) Der Brief fieht im Moniteur, 11. Jannar 1860. 





U 0] 


Das Berfahren war beijpiellos: der Bapft wurde auf⸗ 
gefordert, feine Truppen zu entwaffnen, währenn man in 
fein Land eindringend, feine Untertanen zu ven Waffen 
rief. Ohne Kriegderllärung, nach vollgogener Invaſion ſei⸗ 
ned Gebiets, legte man ihm ein Ultimatum vor, erprüdte 
man mit zehufach flärkerer Macht feine Heine Soldaten 
fchaar, erließ man wüthende, Blut und Ausrottung athmende 
Preflamationen gegen bie "päpftlichen Borken,» und Cavour 
erflärte im Parlament (11. Oltober 1860): nbiefe denl⸗ 
würdigen Ereigniſſe find die nothwendige Folge unfrer Po- 
litik feit zwölf Jahren gewefen.« 

Welche Bürgichaften Lönnte biefe Regierung barbieten? 
würbe fie nicht felbft nachher bie Leichtgläubigleit derer ver- 
böhnen, welche ihren Verheißungen Glauben beimäßen? Sie 
wird ihrem Sharalter getreu bleiben. Sie yereinigt vie 
ſchamloſe Tyrannei eines Konvents, die freche Sophiſtik einer 
Anpolatenwirtbfchaft, und die fchonungslofe Brutalität des 
Säbelregiments. Weit eher Könnte Pius auf türkiſchem Bo⸗ 
den, in Unterbanblungen mit dem Sultan fich ficher fühlen, 
als in der Nähe des piemontefifhen Raubthieres, in ver 
Gewalt eines Ricaſoli oder Ratazzi, oder überhaupt jener 
Advocaten und Literaten, bie, eine Geißel bes Landes, mit 
ihrer wohlfeilen pomphaften Rhetorik und ihrem hohlen 
Phrafengellingel wohl noch einige Zeit obenauf Schwimmen 
werben. Möge Pins dem Beifpiele ver großen Päpfte des 








640 


12. Jahrhunderts folgen. Ste haben, der gelftigen Macht bes 
Papſtthums vertrauend, jenfeitS ver Alpen bie Freiheit und 
Unabhängigkeit gefucht und gefunden, bie ihnen in Italien 
verweigert ward. Deutfchland, Belgien, Spanien, bie jonifchen 
Inſeln, die Tatholifche Schweiz: er kann wählen, er wird 
allenthalben eine freubig ihm huldigende DBenökferung und 
volle Freiheit der Bewegung finden. 

Wenn Piemont unter Frankreichs Eonnivenz auch Rom 
noch und den Reſt des Kirchenftantes an fich reift, fo wirb 
ber vechtmäßige Beſitz des Papftes wohl unterbrochen, aber 
nicht aufgehoben. Das Bapftthum Hat ſchon manchen Thron 
errichten und wieber zerbrechen gefehen. Sicher wirb ber 
Stuhl Petrt das Königreich Italien und noch manche andre 
Neiche überbanern. Er kann gebulbig zuwarten: petions, 
quia aeternus. Die Stärfe des Papftes, ſchrieb Lord 
Cowley, ver britifche Gefandbte in Paris, am 19. Januar 
1869 an ven Grafen von Malmesbury, Liegt in feiner 
Schwäche, und wehl mögen wir fragen: Was könnt ihr mit 
einem Manne anfangen, ber, ſobald Drud auf ihn an 
geäbt wird, ausruft: Thut mit mir, was ihr wollt; treibt 
mich aus Rom, aber bedenket, daß ich Papft bin und bleibe, 
th mag auf dem Throne bes HI. Petrus ober auf einem 
nackten Felſen figen.“") 


') Official Correspondence on the Italian question, by the 
Earl of Malmesbury. London %59, p. 29. 


641 


Segen wir noch bei, daß Rom, wie fchon ver Marchefe 
Gino Eapponi gefagt, bes Papftes weit mehr bebarf, als 
ber Papſt Rom's bebarf, daß mit der dauernden Entfer- 
nung bes Bapftes von Rom ver Verfall dieſer Stapt un⸗ 
vermeiblich beginnen würde. In Rom gibt es, wie Cer- 
nufcht, einer der römischen Revolutionäre von 1849, ber 
unterdeß andern Sinnes geworben, fagt, über ben Katakom⸗ 
ben, inmitten der Baftlifen, neben dem Vatican keinen 
Platz für die Volfstribunen, noch weniger für einen König. 
Mag Rom e8 erfahren, ob es fich beſſer befinvet ald Wohn⸗ 
fig Victor Emanuels, als Titularhauptftabt eines Neiches, 
in welchem bie centrifugale Richtung und Bewegung viel 
ftärker ift als die centripetale, und ob ihm biefer Vorzug 
Erfat gewährt für den Rang undd ie Bedeutung, bie ihm 
als Metropole der ganzen katholiſchen Ehriftenheit, als erfte 
religiöfe Weltftant zulommt. Wir werben erleben, was 
da® 14. Jahrhundert bereits gefehen hat. Roͤmiſche Ge⸗ 
fandte werben den Papft auffuchen und dringend bitten, in 
feine getreue Stadt zurückzukehren. 

Man kann die Augen nicht vor der Thatfache ver- 
fchließen, daß ver Bapft und die ganze Kurie gegenwärtig 
von der franzöfifchen Regierung abhängig iſt. Die bloße 
Drohung, die franzöfifche Befatung zurüdzurnfen, ven Papft 
und den Reſt des Kirchenftaates feinem Schidjale zu über- 


lafjen, würde Rom beftimmen, Allee, was nur nicht geradezu 
v. Dillinger, Papfifem. 41 


642 


Sünde ift, dem Drohenden zu bewilligen. Unb mit 
Hecht, denn es würde fich dabei um bie Pflicht ber Selbſi⸗ 
erbaltung handeln. Zugleich leuchtet aber ein, daß ein fol 
ches Berhältnig für alle andern Regierungen und Nationen 
in hohem Grade bebenllich erfcheint. Nur das unbebingte 
Vertrauen, welches jevermann auf bie hohe Gewiſſenhaftig⸗ 
keit und reine Berufstreue des gegenwärtigen Papftes fett, 
und ber glüdlihe Umftand, daß gerade jetzt keine kirchliche 
Berwidlung vorliegt, welche von dem Pariſer Hofe zu ſelbſt⸗ 
füchtigen Zweden ausgebeutet werden könnte — nur biefe 
Dinge erklären, daß man fich im Allgemeinen in ber fa- 
tholiſchen Welt bei einem an fich fo bevenklichen Zuſtande 
beruhigt. Da aber dieſe Verhältniffe ſich plöglic) ändern 
lönnen, und in näherer ober entfernterer Zeit ändern wer⸗ 
ben, jo dürfte doch Niemand im Ernfte die längere Fort⸗ 
bauer des gegenwärtigen Zuſtandes wünfchen. Sein Ka⸗ 
tholit wird biefen Zuſtand, wenn er permanent werben 
folite over Tönnte, erträglich finden. Die franzöfifche Be⸗ 
fagung aber ift zunächit nicht dort, um Angriffe Piemonts 
abzuwehren, denn dazu genügte auch ein kräftiges, von Paris 
nach Zurin telegraphirtes Machtwort, fonbern um ben Papfl 
gegen feine eigenen Unterthanen, oder gegen einen Einfall 
Garibaldiſcher Freifchaaren zu befchügen. 

Im Princip ift die Erhaltung des verftünmelten Kir⸗ 
chenſtaats von der franzdfiichen Regierung bereits aufgege- 


ae, 


ben. Sie hatte fich für die Gonfüberation als bie Form 
ber politifchen Exiſtenz der Halbinſel erllärt; bamit war 
eine Bürgfchaft für die Fortoaner ver weltlidden Herrichaft 
des Papftes gegeben. Aber am 25. Juni diefes Jahres hat 
Frankreich das neue Königreich Italien anerkannt, und wer 
nige Tage darauf hat die piemontefijche Regierung Öffentlich 
erklärt: man folle ſich durch den Schein nicht beirren lafjen; 
Piemont werde zur gehörigen Zeit, mit Zuftimmung 
Frankreichs, in Rom einziehen, Rom zur Reſidenz des Kö⸗ 
nigs machen, und ben Reſt bes Kirchenſtaats dem Reiche 
einverleiben. 

Für jetzt iſt es das Intereſſe der franzöſiſchen Regie⸗ 
rung, den Papſt ſo geſchwächt zu ſehen, daß er des fran⸗ 
zöſiſchen Schutzes nicht entbehren, daß man jedem Begehren 
durch die Drohung, den Papft feinen italiäniſchen Feinden 
preiszugeben, Nachdruck verleihen kann. Hätte die Zurück⸗ 


ziehung der franzäfifchen Beſatzung die Wirkung, daß Bapft 


und Kurie in Frankreich ihren ig nähmen, fo würben 
die Franzoſen Rom und bie Reſte des Kirchenſtaats Lieber 
heute als morgen ben Piemontefen überlaffen. Daß ber 
Papft von Piemont abhängig werde, das liegt wohl nicht 
in den Abfichten des Kaiſers. Aber könnte bie Uebertragung 
der Kurie nach Frankreich erreicht werben, fo wäre dieß 
ber größte Triumph des Cäſarismus. Der Neffe, ver Erbe 


und Vollitreder ber Ideen und Pläne des Oheims, hätte 
41? 


644 


dann mit „friedlichen“ Mitteln und mit Bermeidung direkter 
Gewalt vollbracht, was der erite Rapoleon nicht einmal mit 
Gefangenſch aft zu erzwingen vermocht hatte. 

Gegenwärtig gibt es in Europa keine Macht, welche 
dem Papſte auch nur zur Erhaltung des noch übrig ges 
bliebenen Gebietes aufrichtigen und wirkſamen Beiftand leiften 
möchte oder könnte. 

Drei mächtige Racen, drei. große VBöltercomplere ringen 
gegenwärtig um vie Weltberrfchaft, und find alle drei im 
mächtigen Geburtswehen neuer Geftaltungen begriffen: vie 
romanifche Welt unter Frankreichs Hegemonie, die ſlaviſche 
mit ruſſiſchem Primat, und bie germanifche mit Englands 
Präponderanz. In der lekteren find durch England und 
Preußen die proteftantifchen nterefien vorwiegend. Die 
Bolge ift, daß England fich geradezu gegen die Fortbauer 
des Rirchenftantes feinbfelig erweilt, und feit zwei Jahren 
thätig zu deſſen Zerflörung mitwirkt, während in Preußen 
bie Majorität fich durch ein boppeltes Interefje beftimmen 
läßt, einmal durch das confeffionelle, welchem vie Schwächung 
und Demüthigung des römifchen Stuhles willlommen ift, 
und dann durch das politifche, welches das Prinzip ver An⸗ 
nerionen und ber gemachten Blebifcite mit Erfolg gerät 
fehen will, damit man es von bort nach Deutſchland im 
portiren köͤnne. Um foldden Preis ift man bort gerne be- 
reit, das gemeinfchaftliche Intereffe aller Monarchen preis 


. 


—*— 


zugeben, uud ruhig zuzuſehen, wie ber Untergang bes Legi⸗ 
timitätsprinzips und des ganzen Öffentlichen Rechtes von 
Europa fich volßieht. Die ſlaviſche Welt fteht theils 
unter Rußlands Einfluß, theils Hält fie ſich abſeits und 
orbnet jede Frage dem großen Intereffe der Nationalität 
unter, iſt alfo am fich frhon geneigt, mit der Italiänifchen 
Nationalität gegen die Sonderftellung des Kirchenftaate zu 
fompathificen. Das katholiſche Deutſchland, bei ver Schwächung 
Defterreich® jedes politifchen Mittelpunktes und jeber Wirt 
famleit über die deutſchen Gränzen hinaus ermangelnd, ift 
in diefer Frage machtlos, und muß fich für jetzt auf Adreſſen 
und harmloſe Geſinnungs⸗Kundgebungen befhränfen. Demmach 
bleiben, va Spanien von Paris aus bevormundet wird, als ent» 
ſcheidende Faktoren Italien und Frankreich. Beide verfügen, 
menschlich zu reden, zwar in letzter Inftanz, aber dennoch 
nicht enpgültig, über die Geſchicke der weltlichen Papſtherr⸗ 
Schaft. Frankreich bat im Jahre 1849, als Republik, ven 
durch die Revolution beraubten und vertriebenen Papft mit 
Waffenmacht zurüdgeführt. Damals war die große Mehr⸗ 
beit der Nation der Sache des Papftes günflig. Seine 
liberale, zu jeber billigen Forderung des Volles die Hand 
bietende Regierung, fein veformatorifches Streben hatte ihm 
den Beifall von ganz Europa gewonnen, ihn zum popu⸗ 
färften Fürften gemacht. Als aber beiver Wiedereinſetzung durch 
die franzöfifchen Waffen auch eine vollftändige Reſtauration 


“ 


648 

der ganzen geiftlichen Verwaltung erfolgte, als das Statute 
und mit ihm jede Selbftregierung und Bollsvertretung fiel, alb 
Dinge wiederhergeftellt wurben, die man ſchon für immer 
Befeitigt wähnte, da wenbete fi) der Sinn ber Franzoſen 
Die gelefenften Tagesblätter haben nun zehn Jahre Zeit 
und freiheit gehabt, bie pänftliche Negierung und bie Zu⸗ 
fläinde im Kirchenftante mit den büfterften Farben zu ſchil⸗ 
dern, und das bortige Herikale Regiment als ein umheilber 
verrottete® barzuftellen. Sie haben das viele Gute, ie 
dort gefchehen Hit und gefchieht, forgfältg verfchwiegen ode 
entftellt, jeden Misbrauch vergrößert. So ift es gel 
men, daß vie bifchöflichen Hirtenbriefe und vie bereim 
Schriften ver erften Männer ver Nation in dieſen It 
Sohren Teinen der Erhaltung bes Kirchenſtaats günftiga 
Aufſchwung der nationalen Sefinnung bervorzubringen ur 
mochten, und wenn der Kaifer feine Truppen zurücziet 
wird bie baburch verurfachte' Bewegung vorausſichtlich u 
Frankreich nicht fehr ſtark fein, und keinen für die Megierm 
beprohlichen Charakter annehmen.') 


Auch ein in ber Regel fehr gut unterrichteter Correſponde 
ber N. Preußiſchen Zeitung, 26. Septbr. 1861, fagt: „D* 
katholiſchen Bevdlkerungen (in Frankreich) begreifen dark 
aus nicht, daß umb im wiefern ber Chef ber Kirche auch 
Monarch fein müſſe, und das franzöfifche Epiffopat bat nö 
dieß ſelber zuzuſchreiben, teil es fi; — nothgebrumgen ode 


. a 


647 


Die Gefinnung des Volles foll auch in den dem Bapfte 
noch verbliebenen Gebietstheilen der Einverleibung in das 
neue italifche Neich geneigt ſein.) Es verhält fich jet wohl 
ruhig in Folge der von Turin her empfangenen Welfungen; 
fobald aber vie beiven Regierungen, bie Pariſer und bie 
Zuriner, einig find, und den Zeitpunkt für gefonnnen er- 
achten, dürfte eine Erhebung ver Einwohner und ein Ple- 
bifett auch dort den piemontefifchen Griffen ven Schein 
verleihen, als ob fie nur Vollſtreckung des Vollkswilleus 
ſeien. 

So iſt es denn zuletzt doch bie italiäniſche Nation, die 
Nation, zu der eben auch der Papft und bie Prälaten ber 
Kurie ſelbft gehören, welche bie Geſchicke des Papſtihums 


nicht, wir haben biefe Hiftorifche Frage hier nicht in's Auge zu 
fafien — für den Berluft ber ber Kirche vom Staate geraubten 
Güter (fie waren feine weltliche Macht) durch einen Staats⸗ 
gehalt abfinden Tief. Man zähle zu allem biefem ben über- 
wiegenden Einfluß der antireligidfen Blätter, unb man wird 
ſich der Ueberzeugung nicht erwehren können, baß bie weltliche 
Macht des Papfles von einem Berbicte ber öffentlichen Meinung 
in Frankreich nichte Gutes zu erwarten haben würbe, es fei 
denn, baß ber Kaifer felber das Loſungswort zu einem gün⸗ 
figen Botum gäbe.“ 

N) Allg. Zeitung 26. Mai 1861, Beil. Nene Preuß. Ztg., 8. Aug 
1861: „Die ganze Bevolkerung jener Gegend (Gubiaco) be- 
herrſcht der eine Gedanke, möglichſt balb bie Piemontefen ein- 
jieben zu fehen.“ 


648 


in ihrem Schooße trägt. Lind das ift gerade das Tragifche 
an ber jebigen Lage, daß bier Staliäner gegen Stalläner 
ftehen. Dadurch iſt fie von jeber früheren fo völlig ver- 
ſchieden, daß die active Mehrheit der Nation entjchloffen 
icheint, dieſe Regierung nicht länger in ver Mitte der Halb- 
infel zu dulden. Ste ift, heißt es, mit ihren der Vergangen- 
beit angebörigen Zufländen, mit ihren dem übrigen Italien 
fo fremb und antipathiſch gewordenen Einrichtungen, und 
in ihrer Abhängigkeit von ausländiihem Schuge und er⸗ 
betenen Befaungen ein entftellender Auswuche, ein athem- 
beklemmender Kropf am Leibe Italiens, und eine ftets 
drohende Gefahr. 

Wenn in anderen Zeiten vie Päpfte bedroht ober an- 
gegriffen wurden, ftanben die Staliäner auf ihrer Seite, 
ober verhielten ſich doch paffiv. Jetzt aber prebiget faft bie 
ganze Literatur, bie periobijche mit Ausnahme ber Armonia 
in Turin und der Eiviltd in Rom, die Lieblingslebre des 
Tages: der Papft müſſe zum Wohl Italtens feiner welt- 
lichen Herrichaft entlleidet werden, entweber unter dem Bor« 
wand, daß Staliend Größe und Einheit biefes Opfer er- 
heifche, ober indem man bie Gebrechen ber päpftlichen Ber. 
waltung für unheilbar ausgibt. Man will ein mächtiges 
Stalten, das Beifpiel des einheitlichen mächtigen Fraukreichs 
wirkt verlodend in einem Lande, wo bie höheren Stänbe 
fih feit längerer Zeit mit franzöfifcher Literatur näbren. 


649 


Zu diefer Machtſtellung, heißt es, Tann Italien nur durch 
bie Abforbirung jenes feiner Natur nach neutralen Staates 
gelangen, durch welchen es in zwei abgefonberte Theile ge 
ſchieden iſt.) Ueberdieß wirb bie Unmöglichkeit, daß bie 
römijche Prieſterherrſchaft fich felbft reformire und ven Be⸗ 
bürfniffen unb Ideen ber Neuzeit fich anbequeme, jett gerne 
als unbeftreitbare Thatfache vorausgeſezt. Cavour bat 
biefe Parole ausgetheilt. Als in biefem Frühjahre Bope 
Henneffey im britifhen Parlamente berebt zu Gunften 
ber päpftlichen Rechte gefprochen, forberte ihn Layard auf, 
er möge einen einzigen geiftig bebentenben Dann in Italien 
nennen, ber in ber Frage des Kirchenſtaats auf ber Seite 
ber päpftlihen Regierung ftehe. Henneſſey wußte nur Einen 
zu nennen, und biefer war — der Jeſuit Secchi. In ber 
That haben fich felbft zwei geiftig hervorragende Männer 
im Klerus dafür ausgeſprochen, daß ber Kirchenſtaat, wenig⸗ 
ſtens in ſeiner jetzigen Geſtalt, aufhören ober umgewandelt 
werben möge, nämlich Paſſaglia und Tofti.”) 





) Bgl. die Deuffchrift des Gr. Rayneval, Allg. Ztg. 1857, 
15. April. 

*) Der Brief bes letztern aus Montecaffino vom 15. Juni if im 
Edinburgh Review, Juli 1861 p. 277 abgebrudt. Er Bittet 
barin ben Papft, bie politiſche Laft bes Kirchenftaates abzu⸗ 
werfen: perohò oggi i popoli non si lasciano piü portare 
addosso, come una volts, ma vogliono andare co’ piedi 
loro eto. Toſti's Schrift: 8. Benedetto al Parlamento nazio- 


— 


Dennoch wird Die Zeit kommen, in ber bie italiänifche 
Nation fich wieder mit dem Papfitfume und beffen Macht 
ftellung in ihrer Mitte verföhnen wird. Jener unfelige, 
verhaßte Drud, welchen Oeſtreich auf die ganze Halbinfel 
ausgeibt Kat, tft am Ende boch bisher die Haupturfache 
gewefen, warum der hohe politifche Werth bes päpftlichen 
Stuhles als des moraliſchen Bollwerks für ganz Stalien in 
den Augen ver Nation fo fehr verbunfelt worden iſt. Un⸗ 
terlag doch die römifche Regierung felbft dieſem Drude, ja 
fie verftärkte und befeftigte venfelben noch durch die Herbei- 
ziehung öſtreichiſcher Dccupationstruppen, und burch bie 
politiſche Hälflofigkeit, welche fie nöthigte, fick in weltlichen 
und ftaatlichen Dingen dem Willen des Wiener Cabinets 
zu fügen‘) | 

Seit 1500 Jahren bildet ber päpftliche Stuhl ben 
Angelpuntt, um den bie Geſchicke Italiens ſich bewegen. 
Das großartigfte, mächtigfte Inftitut der Halbinfel ift dieſer 
Stuhl; auf dem Befſitz veffelben beruht das europälfche 
Gewicht, die weltbiftorifche Bedeutung Italiens. Jeder 


nale, Napoli 1861, eine Bitte für dieBerjhonung von Monte 
caſſino ſtellt fi ganz auf den Etandpunkt der italiänifchen Reiche» 
einheit, und gibt implicit Neapel ımb den Kirchenſtaat preis. 

1) Che & egli (il Papa) in realtk se non un suddito delP 
Austria? jagt Torelli im Iahre 1846 in feinen Pensieri 
sull’ Italia, p. 83. Das war bis 1859 bie allgemeine Auficht 
in Italien. 


661 


benlende Stalläner muß ertemmen, daß, wenn ber päpftliche 
Stuhl für Italien verloren ginge, vie Sonne von feinem 
Firmamente gewichen wäre. Nur dann würde bie Ent« 
zweiung zwifchen der Nation und dem Sange ber Italiäni« 
fchen Geſchichte einerfeits und dem Papſtthume anbrerjeits 
eine gründliche fein, wem ganz Stalten das wärbe, wozu 
es Einige jet machen möchten: ein reiner Militärftaat, 
umb folglich ein auf fteten Krieg und Eroberung berechnetes 
Gemeinwefen. Dieß wiberftrebt aber fo fehr ber Natur 
und den Neigungen des beutigen Staliäners, daß ber mili⸗ 
tärifche Aufſchwung ber Gegenwart, ber noch dazu einen 
großen Theil des Volles völlig unberührt gelafien hat, ficher 
bald vorübergeben wird. 

Es ift eine bemerkenswerthe Aeußerung Siſsmonds, 
daß die Schmach, mit welcher Alexander VI. während ſei⸗ 
ner Regierung bie römifche Kirche bedeckt, jene religidſe 
Ehrfurcht vernichtet habe, welche ganz Italien befchirmte, 
und es wie eine leichter zu ergreifende Beute ven Fremden 
überliefert babe. So war es feit Leo I., feit 1400 Sahren: 
jede Schwächung und Erniedrigung bes Papftthumes ift 
zugleich eine Nieberlage für Italien geworben, an ber Größe 
und Majeftät des Stubles Petri hat immer Italien Theil 
genommen, und wenn ber Staliäner feine Waffen gegen 
diefen Stuhl kehrt, wenn er mit dem an biefem Stuble 
begangenen Raube reich zu werben, mit bem dem Papſte 


entriffenen Bürftengewande feine Bloße zu bedecken hofft, 
fo wird er damit „felo de fe,“ und er wird endlich erkennen, 
daß er felbftmörberifch gegen den eignen Leib, und deſſen 
edelſtes Organ gewüthet hat. Das haben nenerlih alle 
gründlichen Kenner ver italiäniſchen Gefchichte geſehen: 
Balbo, Troya, Eantda, Galeotti, Gino Capponi 
haben nicht anders gerebet. Auch Ferrari würbe es zit-, 
geben, wenn ihn nicht etwa fein troftiofer unchriftlider 
Fatalismus abhält. 

Wohl ift es der in Stalien gerade vorherrichenven 
Bartei nicht nur um bie Einverleibung des ganzen Kirchen⸗ 
ftants in ihr neues Einheitoreich zu thun, fie möchte fi 
auch der geiftigen Macht des Papftthumes zu ihren poli- 
tiſchen Zwecken bemächtigen, zu Zweden, bie für jet noch 
unberechenbar find; der Papft foll nicht ein Weltpapft, ſon⸗ 
bern ber Papft ber Italiäner fein, ver ihren Willen tue, 
ihr Reich befeftige; und gewiß würbe man nicht wenig bes 
troffen fein, wenn ver Papft über vie Alpen zu gehen An⸗ 
falten machte. Es Lönnte der Verfuch eines Schisma ges 
macht, ein Anlauf zur Aufftelung eines Gegenpapfte® ge 
nommen werben ; das würde aber ein ganz gefahrlofe® 
Experiment werben, und würde ſchließlich für bie Staliäner 
nur bie Lection abgeben, daß alle, bie eine Inftitution, wie 
das Papſtthum, zu eigenfüchtigen Zweden ausnügen wollen, 
zulegt nur Schaden und Schande bavontragen. 


a 


Jahrhunderte lang trag man ſich In Italien mit der 
Hoffnung und Weiffagung, daß einft ein Papa Angelico 
fommen werde, der Orbnung aus der Zerrättung, Friebe 
aus der Zwietracht, Frömmigkeit aus dem religidfen Zer- 
falle fchaffen, ver Reftaurator und Beglüder Italiens wer- 
ben würbe.‘) Was der im Untersberge fchlafende Barba- 
roſſa für die Deutſchen, das iſt der Papa Angelico für bie 
Stalläner. Es fpricht fich in dieſer Sage das Gefühl aus, 
daß Staltens Gefchide durch das Papſtthum beflimmt wer: 
den, baß beide auf einander angewiefen felen, daß es bie 
Beſtimmung bes päpftlicden Stubles fe, als der ſchützende 
Genius der Nation in ihrer Mitte und über ihr zu walten. 

Mag auch für jekt die Einficht bei den Vtaliänern 
verbunfelt fein, vaß das Papfttbum ein hohes, von Gott 
ihnen verliehenes Pfand und Depofitum ift, und baß fie 
als Nation verantwortlich find für den Gebrauch ober Mis- 
brauch, den fie davon machen; fie wird ihnen wieber aufe 
gehen. Die bebeutendften Männer ihrer Nation in der 


') So heißt e8 in Cambi Storie Fiorentine, III, 60, baß im 
Sabre 1514 ein Mönch Theodor das Volt verführt habe mit 
ber Berfiherung: avergli un angelo rivelato, come egli 
sarebbe quel Papa Angelico, che i popoli italiani aspetta- 
vano. Auch Savonarola wurde beſchuldigt: feine ehrgeizige 
Abſicht fei geweſen: farsi Papa Angelico. Bgl. Scritti vari 
de) P. Vince. Marchese. Firenze 1855, p. 29. 


666 


über die ganze italiänifche Nationalität berufen ericheinen 
Ünnte, | 

08 die Regierung in Zurin dem Papfte anbieten 
kann, was fie früher unter Cavour durch Paſſaglia hat an- 
bieten laffen, auch jetzt wieber unter Ricafoli ange 
boten bat ober anzubieten gefonnen if, das if fein 
Geheimniß.“) Es handelt fich theils um Die Lage des Papftes 
und ber Earbinäle, theild um bie Freiheit ber Kirche in 
Stalien. In leterer Beziehung hat Cavour am 26. Mär 
1861 im Parlamente ertlärt: Italien werbe bie Kirche vom 
Staate emancipiren, und ihre Freiheit auf ven umfaflend- 
Ken Grundlagen ficher ſtellen. Hinfichtlich des Papftes und 
ber Rurie erklärt man fich bereit, ihm und ben Garbindien 
als Fürften und Geheimräthen ver Kirche alle Rechte und 
Privilegien perjönlicder Souverainetät und Linverleglichkeit 
einzuräumen. Dan würde wohl auch, heißt e8, eine Aus 
Rattung mit einem von Staatsabgaben freien Grundbeſit 
nicht verweigern, denn baß ber Papſt nicht piemontefifdher 
Staatspenſionar werben könne, fieht man boch auch in Zurin. 
Indeß würden diefe beiden Dinge, Souverainetät und freier 
Grundbeſitz, mit einander verbunden, einfach wieder einen 
Kirchenſtaat oder den Anfang deſſelben bilden. Man würde 
alfo den Papft nur des Seinigen beranben, um ihn mit 


') ©. barüiber das Edinburgh Review 1861, July, p. 260 19. 





687 


frembem Gute auszuftatten, doch auch abgefehen Hievon — 
welche Bürgfchaften könnte die Turiner oder bie künftige 
römifche Regierung dem Papfte und der ganzen Tatholifchen 
Welt parbieten? Wer würde für die Garanten einftehen? 
wer die Öarantien verbürgen? 

Eine Regierung, die fich ihres Treubruches rühmt, bie 
fein Völferrecht, Teine Verträge, keine Legitimität des Be⸗ 
fies, nichts ale die brutale Gewalt und das Recht bes 
Stärferen ober bie Autorität ber vollbrachten Thatſachen 
anerkennt, die in einem Dekrete das Andenken eines Mör- 
ders für gebeiligt erflärt, eine Regierung, für bie es Teine 
rechtlichen, keine fittlichen, Teine religiöfen Bande gibt, die 
follte aufrichtig der Kirche Freiheit, dem Papſte Unantafte 
barkeit und Selbftftänpigkeit gewähren? Man dürfte nur 
bie Brofferio’8 und Gallenga's in Turin fragen, fie, welche 
die Kirche wie einen Klo betrachten, aus welchem fie nach 
Gutdünken, gleich jenem horaziſchen Bildhauer, eine Bank 
ober ein Nol ſchnitzen können — fie würben wohl ſagen, 
welches 2008 fie ihre zugebacht haben. Ihre Kicchenfreiheit 
würbe mit der Befreiung ber Kirche von ber Laft bes ir- 
bifchen Befiges beginnen. Mit ver Bettlerin Könnte man 
dann verfahren, wie Laune, Haß und angeborner Despoten- 
trieb e8 eingeben wird. Die Behandlung ver geiftlichen 
Corporationen, die Unterbrüdung und Beraubung ber Klö⸗ 


fter, die Vertreibung und Mishanblung der Biſchöfe — das 
v. Dillinger, Papſtihum. 42 


668 


find dort die vielverheißenden Exfilingsfrüchte ber neuen 
Hera lirchlicher Freiheit. 

Daß der päpftliche Stuhl in einem Reiche, wie das 
Piemontefifche, wahrhaft frei fei, tft rein unmöglich. Selbft 
wenn bie gegenwärtigen und künftigen Staatomänner dieſes 
Meiches den ernften Willen hätten, feine Freiheit nicht an⸗ 
zutaften, würden bie Umftände ftärker fein, als fie. Die 
ZTagespreffe würde unabläffig ſchüren und beten, würbe ben 
Papft und feine Umgebung heute als geheime Verſchwörer, 
morgen als Bollsaufwiegler venunciren ; man würde in rafcher 
Progreffion den ganzen Apparat polizeilicher und politiſcher 
Zwangsmittel gegen ihn aufbieten. Den Mächten gegenüber, 
bie dort walten und noch einige Zeit walten werben, wäre 
jeder Bertrag, jene Zuficherung wie ein papierner Hemm⸗ 
ſchuh, mit dem man einen fortrollenden Wagen aufhalten wolite. 
Wie würden dort die emporgelommenen Abvolaten und Jonr- 
naliften beim erften Anlaffe mit dem Beſen brutaler Ges 
walt über die Spinnengewebe ver Stipulationen bahinfahren! 
An fonoren Phraſen zur Befchönigung jeber Rechtsver⸗ 
letzung und Gewaltthat würden bie italienifchen Bardre's 
ihre Vorgänger im Pariſer Convent noch überbieten, und 
wie man dort nach dem Sage: il faut avilir et puis détruiro, 
mit dem Konigthume verfahren, fo find bie Epigonen bes 
Eonvents in der Halbinfel bereits gerüftet, daſſelbe Verdict 
in gleicher Reihenfolge an dem Papſtthume zu voliftreden. 


659 


Nach den Angaben öffentlicher Blätter gäbe ed in Nom 
gegenwärtig neun Earbinäle, welche zu einem Ablonımen mit 
Piemont rathen. Es ift Taum zu glauben, fie müßten denn 
eine Binde vor den Augen haben. Ober meinen fie, vie 
Zeiten felen bereits gelommen, wo ber Meazzinifche Wolf 
ſanft und friedlich neben dem kirchlichen Lamme lagern werde? 

Kommt es wirklich dahin, daß ber Papſt nur zu wählen 
Bat zwifchen dem Unterthan und ven Verbannten, fo wirb 
er, wir hoffen es mit aller Zuverficht, das letztere wählen. 
Doch — der Papft ift in der ganzen Tatholifchen Welt zu 
Haufe‘) Nur unter Belennern eined andern Glaubens wäre 
er in der Fremde. Wo er auch ſich hinwenden möge, er 
wird überall Kinder finden, überall al8 ein Vater verehrt 
werden. Du biſt unfer und wir find dein — mit biejem 
Gruße wird man ihn empfangen. 

Möge man fih in Rom erinnern, welchen Jubelrauſch 
feiner Zeit die Erjcheinung des aus der franzöfifchen Haft 
heimgekehrten fiebenten Pius in Italien wedte. Es wird 
auch diegmal feine guten Folgen Haben, wenn dem religiöfen 
Theile der Nation recht handgreiflich Kar gemacht wirb: 
Unfere Unitarier find es, fie, die uns das dreifache Joch 


1) Betrarca an Urban V. im I. 1366: Ubicungque ille (Pon- 
tifex) sibi moram eligit, illic sponsa, illio sedes propria 
sua est. Ap. Raynald, ad a, 1366, 22. 

42* 


660 


der Conſeription, unerfchwinglicher Steuern und fremder 
Beamten aufgebürbet haben, bie nun auch den Papft aus 
unferer Mitte hinweg über bie Alpen in's Exil getrieben 
haben. Freilich es wird bei einer folchen temporären Scheidung 
zwiſchen Mann und Weib, zwifchen dem Papfte und Rom, 
nicht ohne mannigfaltige Störungen bes kirchlichen Ge⸗ 
Tchäftsganges abgehen; das PBerfongl der Kurie, ber vielen 
kirchlichen Eongregationen ift zu zahlreich, um fich in Maſſe in 
ein frembes Land verpflanzen zu laffen. In früheren Jahr⸗ 
hunderten war bie Mafchinerie ver Tirchlichen Verwaltung 
viel einfacher, und wenn ber Papft, was damals fo Häufig 
geſchah, feinen Aufenthalt in einer andern Stabt nahm 
oder über bie Alpen ging, folgte ihm das ganze Perfonal 
der Kurie, und fand Raum in einer einzigen franzöfifchen 
Abtei. Das ift nun ganz ander® geworben. Auch könnten 
einzelne Mächte wähnen, der bebrängten, aus ihrem ange- 
ftammten Boden herausgeriffenen Kurie fei leichter etwas 
abzugewinnen. Es wird alfo, wenn bie Nothiwendigleit, Rom 
zu verlaffen, eintritt, an Schwierigkeiten und peinlichen Si⸗ 
tuationen nicht mangeln. Es muß eben das Kleinere von 
zwei Uebeln gewählt werben, und ba Tann fein Zweifel 
barüber beftehen, daß bie zeitweilige Verlegung bes päpft- 
lichen Siges das geringere Uebel ift im Vergleiche mit einer 
prigzipiellen Entfagung, bie nie wieder zurüdgenommen wer⸗ 
den könnte. 


661 


Eine Verlegung bes päpftlicden Stuhles nah Frauf- 
reich würde unter ben gegenwärtigen Verhältniſſen fo viel 
fein, als eine förmliche Herausforberung bes Schiöma, 
würde mindeſtens Allen, denen au Beſchränkung ber päpft 
lichen Rechte oder an ber Loderung der Beziehungen zwi⸗ 
fhen der Kurie und den Einzellirchen gelegen ift, will 
fommne Vorwände bieten, würde ben Regierungen, welche 
bie Einwirfung der päpftlicen Autorität auf bie Kirchen 
und Bevölkerungen ihrer Länder überhaupt ober in gegebe- 
nen Fällen zu hemmen und zu erfchweren wänfchen, fcharfe 
Waffen in die Hand geben. 

Und welche Demütbigungen ftehen Papft und Cardi⸗ 
nälen bevor, welches Joch wird ihnen auferlegt werben, 
wenn fie einmal anf Frankreichs Erbe ganz in der Gewalt 
jener Männer an ber Seine find, welche jett bereits fich 
rühmen, beim nächſten Conclave über eine Anzahl von 
Stimmen zu verfügen. Als Spanien, von den Abfichten. 
Piemonts auf Umbrien und die Marken in Kenntniß ge 
jet, in Baris fich bereit erflärte, ein Truppencorps zum 
Schutze des päpftlichen Gebiets nach Mittelitalien zu fen- 
den, und zugleich bie franzöfiiche Regierung einlud, ihre 
Beſatzung in gleicher Abficht zu veritärken, da warb in 
Paris eine abihlägige Antwort ertheilt, „weil England 
dieß nicht wolle.” So weit alfo ift e8 gekommen, daß das 
franzöfiiche Vol, welches im Jahre 1849 die Wiederein⸗ 


2 


fegung des Papftes mit dem Blute feiner Krieger erlauft 
bat, zehn, zwölf Jahre fpäter den Papft preisgeben muß, 
weil England es fo will. 

Sollte die Kurie eine Zeit lang In Deutfchland ver- 
wellen, fo werben bie römtfchen Prälaten, ohne Zweifel mit 
angenehmer Ueberrafchung, ſich da Überzeugen, daß unfer 
Volt, um religiös nnd Tatholifch zu fein und zu bleiben, 
ber Krücke der Polizei nicht bevarf, daß bei uns ber reli- 
giöſe Sinn des Volles der Kirche befferen Schuß gewwährt, 
al8 es die Carceri unfrer Bifchöfe thun könnten, die, Gott 
fei Dank, nicht exiftiren. Ste werben finden, daß bie Kirche 
in Deutfchlanp fich ganz gut ohne das Sant’ Uffizio zu 
behelfen weiß, daß unfere Biſchöfe, obgleich, oder weil fie 
feine phyſiſchen Zwangsmittel anwenden, von dem Volke 
geehrt werben wie Fürſten, daß man ihnen Ehrenpforten 
errichtet, daß ihre Ankunft in einem Orte ein Yelttag für 
die Einwohnerſchaft if. Sie werden wahrnehmen, wie bei 
uns bie Kirche auf ber breiten, ftarfen und gefunden Bafis 
eines wohlgeörbnieten Pfarreien: und Seelforgerfoftens und 
religiöfen Bollsunterrichts ruht. Sie werden erfennen, 
bag wir Katholiken den jahrelangen Kampf für vie Erls⸗ 
fung der Kirche aus den Banden der Bureaufratie aufrichtig 
und ohne Rückhalt geführt Haben, daß wir uns nicht bei- 
kommen laffen, dem Staliäner zu verfagen, wa® wir für 
uns in Anfpruch genommen, daß wir alfo weit entfernt 


663 


find, die Bewaffnung ber Kirche mit dem Arm der Polizei 
und mit ber bureautratifchen Gewalt irgenbivo für einen 
Vorzug zu halten. Im ganzen katholiſchen Deutjchland ift 
man, durch die Erfahrung belehrt, mit Fénélon's Aus» 
fpruch einverftanden, daß die geiftliche Gewalt forgfältig 
von ber weltlichen zu trennen fei, weil ihre Vermiſchung 
ververblich jet. Sie werben ferner finden, daß ber ganze 
beutfche Klerus bereit ift, ven Tag zu fegnen, an welchem 
er vernimmt, daß die freie, fouveraine Stellung des Papftes 
gefichert fei, ohne daß Geiftliche fernerhin Todesurtheile 
fällen, Geiftlihe als Finanzbeamte und Polizeidirektoren 
fungiren oder Lotteriegefchäfte beforgen. Und enblich wer» 
den fie entbeden, daß alle deutſchen Katholiken einmütbig 
einftehen für die Unabhängigkeit des päpftlicden Stuhls und 
den legitimen Befiß des Papſtes, daß fie aber gerade nicht 
Bewunderer einer noch fehr jungen Staatsorbnung find, 
welche zulett doch nichts anderes iſt, als das Prodult Nas 
poleonifcher Staatsmechanit im Bunde mit einer geiftlichen 
Adminiſtration. Und ſolche Erfahrungen werben gute Früchte 
tragen, wenn bie Stunde der Heimkehr fchlägt, wenn bie 
Reftitution erfolgt. Diefe wird erfolgen, mag das italtänie 
ſche Königreich fich befefligen, oder mag e8, was allerdings 
wahrfcheinlicher ift, wieder zerfallen. Die Zeit wird kom⸗ 
men, wo das ttaltänifche Volk feinen Frieden mit dem Papſt⸗ 
thume zu machen begehren wird, wo e8 erfennen wird, wie 


664 


wahr einer feiner bervorragenbften Geifter, Tommajeo 
geiprochen bat: „Tür Italien wäre es eine Thorheit, wenn 
es biefen feinen Schild und fein Schwert, das Papſtthum, 
von fich, und einer andern Nation binwerfen wollte.” Und 
doch meint Tommaſeo ſelber,) es Lönne nur gut fein, wenn 
das Papſtthum fich auf kurze Zeit von Italien entfernte, 
baburch ‚würden bie heutigen Italiäner am beiten lernen, 
welchen Schaf fie an. demſelben befüßen. 

Inzwifchen aber werden Pius und die Männer feines 
Nathes „ver Vorzeit Tage, die Jahre der Vergangenheit 
überdenken.“) Sie werben aus ber früheren Gefchichte des 
Papſtthumes, welches fchon fo manches Exil und fo manche 
Reftauration erlebt Hat, auf bie Zukunft fohließen. Das 
Beiſpiel der entfchloffenen, muthigen Päpfte des Mittel- 
alters wird ihnen vorleuchten. Es Handelt fich jegt nicht darum, 
ein Martyrium zu erbulben, bei den Gräbern ver Apoftel 
auszuharren oder in die Katakoniben hinabzufteigen, ſondern 
darum handelt es fidh: den Boden ber Kuechtfchaft zu ver» 
laffen, und auf freiem Boden auszurufen: der Strid if 
entzwei, unb wir find frei. Für das Uebrige forgt Gott, 
forgen die nicht verfiegenden Gaben und lauten Sympathien 
ver katholiſchen Welt, forgen die Parteien in Italien. Wenn 


1) Roma e il mondo p. 349. 
2) Pſalm 76, 6. 


665 


biefe fih in dem zum Schlachtfelde gewordenen Lande zer- 
fleiſcht und erfchöpft Haben werben, wenn das ernüchterte 
Boll, der Soldaten und Apvolatenberrfchaft mühe, ben 
hoben Werth einer geiftigen und moralifchen Autorität wies 
ber begriffen haben wird, dann ift es Zeit, an die Rüd- 
kehr in die ewige Stabt zu denken. Unterbeß werben aber 
bie Dinge verſchwunden fein, mit deren Beibehaltung man 
ſich jeßt quält, und mit befferem Rechte, als Conſalvi in 
der Vorrede zum Motuproprio vom 6. Yult 1816, wird 
man dann fagen lönnen: „Die göttliche Vorſehung, welche 
die menfchlichen Dinge bergeftalt leitet, daß aus dem größ- 
ten Unglüd zahlreiche Vortheile entfpringen, fcheint gewollt 
zu haben, daß die Unterbredung ber päpftlichen 
Regierung zu einer volllommeneren Form der- 
felben ven Weg babnen folle.“ 


Beilage. 
Zwei Vorträge, gehalten in München am 5. und 9. April 186L 


’ TI. 

— — Bird der Kirchenftant fortbeftehen, ober verſchwinden ? 
Wird das Oberhaupt der Kirche zugleich fouverainer Fürſt 
eined Staates bleiben, oder ift die Zeit gekommen, mo bie 
weltliche Gewalt des Papſtes von ber geiftlichen getrennt werden 
wird ? Ein großer Theil feines Länderbeſitzes ıft ihm bereits 
entriffen, man droht und rüftet ſich, auch nach dem lieberrefte, 
nach feiner Hauptſtadt zu greifen. Welches werben, wenn bie 
gelingen follte, die Folgen für die riftlihe Welt fein? Was 
jol aus dem päpftlichen Stuhle werden, wenn ihm ber Boden 
unter den Füßen weggezogen wird? Und wirb er feine hohe 
Aufgabe nody ferner erfüllen können, wenn er, fo zu fagen, in 
bie Luft geftellt, oder in vie Abhängigkeit von einer fremden, 
ihre eigenen Zwede verfolgenden Macht verfest ift? Dieſe 
Fragen erhalten Yedermann in Spannung. Vermag doch kein 
menſchlicher Scharfblid, keine Einbildungskraft alle die Folgen 
zu ermeſſen, welde, durch Jahrhunderte fortwirfend, an bie 
Entſcheidung derſelben fih knüpfen müflen. 

Ueber das gute Recht des Papſtes, das ſich auf die ſtärkſten 
und legitimſten unter Menſchen gültigen Erwerbs - uud Befig- 
Titel ſtützt, kann kein Zweifel beftehen, eben jo wenig über ben 
treulofen Macchiavellismus und die empörende Ungerechtigkeit 
der gegen den römiſchen Stuhl befolgten Boliti. Darüber 
denken wir wohl alle glei. Es mag nur, da dieß, in Italien 
wenigftens, fo allgemein ignorirt wird, eben erwähnt werben, 
daß Pius Wahlfürft ift, daß er nur ein ihm für feine Lebens 
zeit anvertrantes Gut zu verwalten bat, und daß er durch 
einen Eid, den Kirchenſtaat unverfehrt zu erhalten, gebunden ifl. 


667 


Allerdings ift das Papithum weit Älter als der Firchen- 
faat, find vie römiſchen Biſchöfe von jeher und nothmenbig 
Dberhirten der Kirche geweſen, aber erft in fpäteren Zeiten 
Lanbesfürften geworden. Sieben Jahrhunderte lang hat ber 
römische Stuhl beſtanden, ohne auch nur ein Dorf mit fürft- 
fiher Souverainetät zu befiten. Und als dann die großen 
Schenkungen ver fränkischen Könige und ver Kaiſer den Grund 
zum Sirchenftante gelegt. hatten, gingen doch noch Jahrhunderte 
barüber bin, ehe die Päpfte zum ruhigen Befite und zur wirk⸗ 
lihen Regierung des Landes in feinem nachherigen Umfange 
gelangten. In Rom felbft wurde die Gewalt ver Päpſte lange 
beftritten, fie mußten ihre Stabt oft und auf lange verlafien, 
fie wohnten Lieber in Biterbo, Anagni, Orvieto, oder fie jahen 
ſich genöthigt über die Alpen zu geben und, am häufigſten in 
Frankreich, ein Aſyl zu fuhen. Im 14. Jahrhundert kam faft 
70 Jahre lang fein Papft nah Italien. Die Kurie refidirte 
im Avignon. Eigentlich befinden ſich die Päpfte erft ſeit Xeo X., 
feit etwa 350 Jahren im ruhigen Befige des Landes und feiner 
drei Millionen Einwohner. 

Auch das ift wahr, daß die Wahlforn, vortrefflih für 
die Kirche, in politiicher Beziehung ihre bebeutenden Nachteile 
hat. Der viel häufigere Wechſel der Regenten und ihrer Res 
gierungsfufteme,, das früher fo gewöhnliche Beftreben der Ge⸗ 
wählten, ihre Verwandten zu erhöhen und zu bereichern, ver 
Mangel einer mit dem Lande erwachſenen Dynaſtie, weldye 
durch die Anhänglichleit des Volkes eine Bürgſchaft und ein 
Bollwerk der Stetigfeit und der Dauer bilven könnte — Alles 
bieß zeigt, daß die Form eines Wahlreiches, neben manchen 
Bortheilen, ihre Schattenfeiten hat, und die Gejchichte lehrt, 
daß Wahlreiche ftärleren Erjchütterungen ausgeſetzt find, leichter 
zu Grunde gehen als Erbreiche. Doc war in Rom die lektere 
Gefahr bis in die neuefte Zeit abgewenvet durch die allgemein 
anerkannte Unantaftbarkeit des Pontififats, durch die religiöfe 
Ehrfurcht, welche den Stuhl des Apoftelfürftern umgab und 
beichirmte. 

Die Heroen der kirchlichen Wiſſenſchaft haben indeß in 
dieſer Verbindung der höchſten kirchlichen Gewalt und Würde 
mit einem weltlichen Königthume nicht etwa einen Vorzug oder 
eine Vollkommenheit gefehen, ſondern nur etwas durch die Noth 


668 


der Zeiten Gebotenes. An fih, jagt Cardinal Bellarnim, 
würde es wohl beffer fein, wenn bie Päpfte fi blos mit ben 
geiftlichen Dingen, die Könige aber mit den weltlichen befaßten, 
aber wegen ver Bösartigleit ber Zeiten feien durch göttliche 
Vorſehung dem Papfte und anderen Biſchöfen weltliche Fürften- 
thümer gegeben worden. &8 jei in der Kirche gegangen, wie 
bei ven Juden, bei denen erſt zulekt, in der Malkabäerzeit, 
das Königihum mit dem Prieftertbume verbunden worden. So 
habe die Kirche in den erften Zeiten. zur Behauptung ihrer 
Majeſtät der Fürſtenmacht nicht beburft, jetzt aber fcheine fie 
berjelben nothwendig zu bebätfen. ') 

Diefes Bedürfniß befteht unftreitig auch in unjerer Zeit 
eben jo ſtark als früher. Und gleichwohl erheben fi, auch in 
ver katholiſchen Welt, zahlreiche, mitunter ſogar theologiſch ges 
wichtige Stimmen, welche ven Zeitpunkt zur Trennung ber bei- 
den bisher verbundenen Gewalten gelommen wähnen, bie Sä- 
eularifirung des ganzen Kirchenftaates für ein eben fo zeitge- 
mäßes als unvermeibliches Ereigniß ausgeben. Die Urſachen 
dieſer auffallenden Erſcheinung ſind zu ſuchen in der Lage Ita⸗ 
liens, den inneren Zuſtänden des Kirchenſtaates, der Geſinnung 
des italieniſchen Volles und insbeſondere der päpſtlichen Un- 
terthanen. | 

Die päpftliche Regierung hatte den Ruf, eins ver milpeften 
und rädficht8vollften in ganz Europa zu fein. Und gleichwohl 
ift e8 wahr, daß nun fchon feit nahezu vierzig Dahren in der 
Bevölkerung des Kirchenftaates eine tiefe Unzufriedenheit und 
Misftimmung herriht, am ftärkften in ven Stäbten; und in 
einem Lande, wo es feinen unabhängigen Bauernſtand gibt, ift 
bie ſtädtiſche Bevöllerung in noch höherem Grade als ander- 
wärts diejenige, die Alles entjcheive. In dieſem Haupttheile 
der Nation wucherten fort und fort geheime politijche Gefell- 
Ihaften, Verſchwörungen, Infurreltionsverfude; Hunderte lebten 
compromittirt oder verbannt ald Flüchtlinge im Auslande. 

Die Schwäche der päpftlichen Regierung nahm mit jebem 
Jahre zu. Pius IX. verfuchte vergeblih durch Bugeftänbniffe, 


) De Rom. Pontifice, Disputationes, Tom. I p. 1104, ed. 
Ingolstad. 1596. 


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669 


buch Gewährung einer Berfaflung zu verſohnen. Er begann 
feine Regierung mit der vollftändigften Ammeftie, welche vie 
Schuldigen und Betheiligten von vier Aufftänden zurüdrief. 
Damit waren nur die unverföhnlichen Gegner der Regierung 
in’8 Land gerufen ımb in die Lage verfegt, ihr ganz offen ben 
Krieg zu machen. 

Die Kataſtrophen, welche bald und in rajcher Aufeinander- 
folge eintraten, find befannt. Wie früher jchon, jo mußten auch 
feit 1849 zwei fremde Mächte, Defterreih und Frankreich ihre 
Truppen als Garnifonen in’8 Land legen. 

Der päpftliche Stuhl, ver in feiner kirchlichen Stellung 
und in feinem geiftlichen Rechte in der ganzen fatholifchen Welt 
die vollfte Anerkennung, ven bereitwilligften Gehorſam fand, 
wie dieß vielleicht in gleihem Grabe noch nie in früheren 
Zeiten der Fall geweſen, bot nad feiner weltlich » politiichen 
Seite hin den traurigen Anblick ver jchwächlten, bilflofeften 
Regierung von ganz Europa, die nur auf die boppelte Krücke 
fremder Mächte und ihrer Bajonette geftügt fich zu behaupten 
vermochte, 

Und dod konnte Feine Regierung mehr bemüht fein, vor- 
handene Misbräuche ver Verwaltung abzuftellen, VBerbeflerungen 
einzuführen, ven billigen Wünſchen ver Bevölkerung, foweit 
nicht das Princip und Intereffe der Selbfterhaltung ober das 
herrſchende Syſtem einer durch Geiftliche geleiteten Negierung 
in Frage geftellt war, Rechnung zu tragen. Seit zwölf Jahren 
ift die Gefchichte der Herrichaft des jegigen Papftes eine fort- 
laufende Kette von nüglichen und wohlthätigen Reformen. Aber 
alle diefe Verbeſſerungen waren und find nicht im Stande, bie 
tiefe Abneigimg und Mieftimmung der Bevöllerung zu heben. 

Jede Regierung, die fich nicht blos auf die Bajonette 
ihrer Solvaten fügen will, muß, wenn es aud eine Klaſſe 
von Unzufrievenen gibt, doch auf die Mehrzahl ver Benöllerung, 
auf ihre Anhänglichkeit an die Dynaſtie, ihre confervative Ge⸗ 
finnung, mindeſtens auf ihr Intereſſe ver Selbfterhaltung und 
ihre Furcht vor Umwälzungen ſich verlaſſen können, und fo mit 
der Nation verbumben fein. 

Alles dieß aber fehlt im Kirchenftante: eine Dynaſtie gibt 
es nicht; alle Verſuche, eine einheimifche Armee zu bilven, find 

eicheitert, die Abneigung gegen den päpftlichen Militärvienft ift 


670 ‚ar 
allgemein, und frembe Sölolinge erbittern nur. Die auswärtigen 
Diplomaten bemerten in ihren Berichten: die Ohnmacht ber 

päpftlichen Regierung liege vor Allem darin, daß fie ſich anf 

feine Klaſſe der Bevbllerung verlafien könne, daß im Moment 
eined Angriffs Niemand auch nur eine Band für fie erhebe, 
Niemand irgend ein Opfer für ihre Erhaltung bringen würbe. 
Und bazu fommt, daß bie weltliche Herrihaft des päpftlichen 
Stuhles niht nur unter den eigenen Unterthanen, fonvern in 
ganz Italien zahlreiche Gegner hat. Die öffentlihe Meinung 
in Italien ift gegen fi. Man betrachtet fie als Das große 
Hemmniß, weldes der Berwirflihung ber italiäniſchen Ideale ſich 
entgegenftelle, ver Entwidlung einer großen Nationalität, eines 
mächtigen italiänifchen Staates, der feine Stelle unter den euros 
päiſchen Großmächten einnehmen würde Graf Rayneval jagt 
wohl mit Recht: Das Unbehagen und bie Unzufriebenheit ver 
Bevölkerung kommen hauptfächlih daher, daß Italien in ver 
Welt nicht eine ſolche Rolle fpielt, wie fie ſich's geträumt hat. 
Zu allen Zeiten wo dieß Gefühl des nationalen Ehrgeizes er- 
wacht ift, warb die weltliche Macht des Papſtthums ſtets als 
das Hinderniß betrachtet. ') 

Es läßt fi) ferner nicht Läugnen, daß feit hunvert Yahren 
ein Zug ber Säcularifation durch ganz Europa geht. Die 
Verbindung geiftliher Würde mit weltlichen Beamtenthume bat 
jevenfall® bei den europäiſchen Böltern auf feine Sympathien 
mehr zu rechnen. Selbſt die deutſchen geiftlihen Fürſtenthümer, 
in denen doch, anders als im Kirchenſtaate, die Verwaltung 
überwiegend von weltlichen Händen geleitet wurde, find nicht 
blos durch die Ummälzungen, ſondern auch durch die Öffentliche 
Meinung, die in ihnen etwas dem Zeitalter Fremdes, Unnatür⸗ 
liches, eine Ruine der Vergangenheit ſah, untergegangen, und 
1814 bat ſich nicht eine einzige Stimme für ihre Wiederher⸗ 
ſtellung erhoben. Zu unſerer Zeit iſt alſo eine Verbindung 
weltlicher Funktionen und Befugniſſe mit dem geiſtlichen Stande 
nicht mehr ein Element der Stärke, ſondern der Schwäche. 
Nichts erbittert mehr als die Anwendung weltlicher Regierungs⸗ 
mittel oder gar polizeilicher Gewalt⸗ und Strafmittel zur Er⸗ 


% 


1) Allg. Ztg. v. 15. April 1857. 


671 


reihung religiöfer Zwecke und umgelehrt bie Anwendung reli⸗ 
gidjer Mittel zu politiichen Abfichten. 

Diefer Widerwille gegen vie Vermifchung des Geiftlichen 
und des Weltlichen oder gegen bie Handhabung der politifchen 
und polizeilichen Gewalt durch Geiftliche ift nicht Wirkung eines 

eihwächten Religionsgefühles, fondern Folge einer veränberten 
Anfbauung und Lage Ein auffallendes Beijpiel davon find 
die Spanier. Bei dieſem Volle war das, was jett überall 
als unerträglich erjcheint, eine Art von Bedürfniß geworden; 
man wollte auch in weltlichen Dingen nur der Kirche geborchen; 
wenn die Regierung Steuern beburfte, jo mußte fie fich der 
Dazwifchenhmft ver Kirche bebienen: der Abgabe mußte eine 
kirchliche Form gegeben werben, nur dann bezahlte das Bolt 
fie willig. So war bie ſpaniſche Inquiſition eine Art von 
Staats- und Bolizeianftalt, die fih das Boll mm in dieſer 
tirhlichen Form gefallen ließ. Das ift num aber aud dort 
ganz anders geworden. Und fo würde es auch bei uns in 
Deutichland ven ftärkften Widerſpruch erregen, wenn etwa ein 
Prälat Minifter, em Biſchof zugleich Regierungspräfident wäre. 

Ehemals wurde in den Gebieten bes päpftlichen Stuhls 
wenig regiert, Alles war corporativ geglievert und verwaltete 
feine eigenen Angelegenheiten; die Staatsgewalt begnügte ſich 
mit der oberften Yeitung, ohne viel einzugreifen. Das ıft nun 
aber dort ganz anders geworben durch die Napoleoniſch⸗Fran⸗ 
zöftiche Verwaltung, in beren Erbihaft dann Carbinal Con 
ſalvi eintrat. Seitdem wurde bie geiftliche Regierung, — und 
das ift fie, obgleich im Jahre 1848 in ber Stantsvermwaltung 
109 Geiſtliche auf 5059 weltliche Beamte trafen — als eine 
widerwillig getragene Laſt empfunden, vie man je eher je lieber 
abſchütteln mochte. 

Auch die Rechtspflege im Kirchenftante, zum großen Theile 
von geiftlichen Richtern geübt, bat zu vielfachen Klagen Anlaß 
gegeben, und konnte dem Bedenken unterliegen, ob in unferen 
Zeiten der Geiftlihe vermöge feines Standes, feiner Bildung 
und feiner mehr paftoralen als juridiſchen Anſchauungsweiſe 
ſich zum Richter eigne, ob nicht die Verſuchung für ihn allzu 
ſtark fei, ftatt ber objektiven, fireng rechtlichen Beurtheilung 
und Entſcheidung häufig einem milderen, aber am Ende rein 
willkührlichen Verfahren den Vorzug zu geben. 


672 Ä & 


So ift dem die Rage des Kirchenſtaats ſchon feit Jahren, 
auch abgefehen von ven fremden Intriguen, Aufhetzungen und 
Gewalithaten, beflagenswerth und niederichlagend. 

Durch die Abneigung eined großen Theild ber Bevöl⸗ 
ferung wird die Verwaltung nothwendig mistrauifch, fie glaubt 
weniger Freiheit, ſchon im Intereſſe ihrer Selbfterhaltung, ge 
währen zn dürfen, ſie darf feine berathenden Berſammlungen 
zulafien, weil ihre Feinde fich fofort verjelben bemeiftern wär- 
den, fie muß überall hemmend einfchreiten; eben dadurch aber 
verliert fie immermehr den Boden der öffentlichen Meinung ; 
baher ver auffallenvde Contraſt zwifchen früher und jest. Als 
Pins VII. 1809 das Decret der Abjezung, weldhes Napoleon J. 

egen ihn erließ, mit einer Ercommunifation des franzöfifchen 
aifer8 erwieberte, erregte dieß ven Enthuſiasmus ver Benöl- 
ferung; alle die in franzöfifchen Dienften ftanden, gaben fofert 
ihre Aemter auf, kurz das ganze Bolt gab feinen Entſchluß zw 
erfennen, ſich genau nach den Beflimmungen ver Bannbulle zu 
richten. Einige Jahre darauf war die Rückkehr Pius VII. aus feiner 
Gefangenſchaft ein wahrer Triumphzug durch das ganze Yan. 
Wie hat fih das jetzt geändert! 

Der Cardinal Bacca erzählt: Zur Zeit ver Napoleoni- 
ſchen Herrſchaft habe er fich in Folge eines Jahre langen Nadı- 
benfens mit dem Gedanken befreundet, daß das Erlöfchen ver 
weltlichen Herrſchaft des römifchen Stuhles mit manchen nicht 
geringen Bortheilen für vie Kirche verknüpft fein würbe, daß 
dadurch die Eiferfucht und Abneigung gegen ven römijchen Stuhl 
bejeitigt, over doc vermindert werben würde. Pacca meinte, 
Europa gehe einer großen Univerfalmonarchie entgegen, in wel⸗ 
her der Papft unbeſchadet feiner Tirchlihen Stellung wieder, 
wie ehevor im römischen Weltreiche, Untertban fein könnte. Da⸗ 
rin bat er fich freilich fehr getäufcht. An eine Univerfalmon- 
archie in Europa ift glüdlicherweife nicht zu denklen, umb ber 
Papft kann nicht Unterthan werben, er darf feinem Reiche aus» 
Tchließlich angehören; er muß frei und unabhängig, als ber 
gemeinfame Vater Aller, fein hohes Amt verwalten. Wie Cäſar 
von feinem Weibe fagte, auf der Gattin Cäſars dürfe auch 
nicht einmal ber Verdacht einer Untreue laften, jo wäre Bei 
ben: päpftlihen Stuhle ſchon ver blofe Verdacht der Abhängig- 
feit verberblih. Das unberingtefte, rückhaltloſeſte Vertrauen von 


{ 


673 


Seite der Untergebenen ift der Lebensathem ber geiftlichen Ge⸗ 
walt; wenn mm der Schein, die Vermuthung entftünde, daß 
der päpftlihe Stuhl in kirchlichen Dingen unter dem Einfluffe 
und nad den Intereſſen einer politiihen Macht handle, fo 
würde dieß wie ein tödtliches Gift in ber Kirche wirken. Auch 
im dieſer Rüdficht wird eine Aenberung in der Tage des päpft- 
„then Stuhles ein immer mehr dringendes Bedürfniß. So 
lange zwei fremde Mächte, Oeſterreich und Frankreich, ihre Bes 
atungen im Kirchenſtaat hielten, da konnte es doch nod 
nee als ob der Papſt zwiſchen beiden, bie fich wechſelſeitig 
neutralifirten, feine Freiheit genieße. Als aber in Folge des 
legten Krieges die öſtreichiſche Occupation aufhörte und feit- 
dem die franzöfifche Befagung als die einzige Stüte des päpft- 
lichen Stuhles betrachtet werben muß, da ift ein Zuſtand ein- 
getreten, der nur als ein proviforifcher und kurz vorübergehen⸗ 
der erträglich erfcheint. Denn auf dieſe Weile würde ver Be⸗ 
fig des Kirchenſtaates gerade das Gegentheil von dem bewirken, 
was er erreichen ſoll, und wodurch er allein gerechtfertigt wer- 
den kann; ftatt die oberfte Leitung der Kirche felbftftänvig zu 
machen, und ihre Freiheit zu fichern, würde fie als ein Inſtitut, 
das der Krüde auswärtiger Soldaten nicht entbehren Tann, in 
der öffentlichen Meinung allmälig finfen, und ver Papſt würde, 
wie jeder Bittende und frember Hilfe Bebikrftige, von dem 
Beſchützer abhängig fein, oder, was faft eben fo fchlimm: ift, 
abhängig jheinen; denn dieſer Könnte ihn jeverzeit burch bie 
Drohung, feine Truppen zurüdzurufen, drängen oder ein- 
ſchüchtern. 


II. 


In der erſten Vorleſung hatte ich von der ſchwierigen 
Lage des Kirchenſtaats geredet, welche mehr noch in inneren 
Misverhältniſſen, als in den feindſeligen und habgierigen Schrit- 
ten fremder Mächte ihren Grund habe, da die Feinde eben die 
Unzufriedenheit im Bolfe zum Vorwande und zum Stützpunkte 
ihrer Operationen genommen haben und fortwährend nehmen. 
Es drängt ſich mir hiebei der Gedanke Auf, daß der Kirchen⸗ 
ſtaat mit dem germaniſchen Kaiſerthum entſtanden ſei, und daß 
man wohl jagen dürfe, der Untergang des römiſchen Kaiſer⸗ 


v. Döllinger, Papſtthum. 43 


674 


thums deutſcher Nation babe auch dem römischen Staate eine 

unbe geichlagen, an ber er nod immer blut. Der Kaijer 
war Schirmvogt bes römischen Stuhls, ihm eigentlich lag es 
ob, das Schwert zu führen, und wenn die Päpfte es felber 
thaten, fo war es ein Fehler over ein Alt der äußerften Noth⸗ 
wehr. Und werm aud das Kaiſerthum ſchon längft nur noch 
einen Schatten der alten Idee und Beitunmung vdarftellte, fo 
war e8 doch bis zuletzt Träger und Centrum ver ganzen älte- 
ren europäifchen Staatsordnung, und deckte mit feiner Majeftät 
aud den päpftlichen, als -ein Glied dem Geſammt⸗Imperium 
eingefügten Kirchenſtaat. Iſt hiemit ein äußerer Halt gefallen, 
fo flieht der Staat innerlihd an den Misverhältnifien, in wel⸗ 
hen eine durch Geiftliche geführte Verwaltung nothwendig zum 
modernen Staatsweien ſteht. Man kann fi doch des Gedan⸗ 
tens nur ſchwer entichlagen, daß weltliche Hände beffer geeignet 
fein möchten, dieſes Staats- und Polizeimejen unjrer Zage mit 
feinen jo mannigfach gefteigerten materiellen Bedürfniſſen und 
Sorgen, feiner polizeilihen und abminiftrativen Allgewalt, ſei⸗ 
nee Sorge für Lotto, Theater, Spielhäujer und Wirthehäufer, 
für Tagblätter und Literatur, für Paßweſen und Fabriken, zu 
handhaben. Wohl wird häufig behauptet: ver Papſt als geift- 
liher Monarch müſſe die Berwaltung auch durch geiftliche De- 
amte führen laſſen. Aber dieſe Nothwendigkeit will doch nicht 
recht einleuchten. Wenigftens bieten bie geiftlihen Fürſten⸗ 
thbümer Deutſchlands, auf welche Bellarmin zım Rechtfertigung 
der weltlichen Papftgewalt fich berief, bier feine Parallele dar. 
Die Türftbifhöfe und geiftlichen Churfürjten trugen fein Be⸗ 
denken, ihr Land durch weltliche Dinifter, Kanzler, Räthe, Be» 
amten und Richter verwalten zu Laflen. 

Die Regierung Franz Ludwigs von Erthal, Fürftbiichofs 
von Würzburg und Bamberg, war eine mufterhafte, vom gan- 
zen Lande gefegnete; ih babe in meiner Jugend — mein Groß⸗ 
vater ftand felbft im feinen Dienften — auch von Greifen mit 
Degeifterung die Berwaltung des Landes preiſen hören; fie 
warb aber von weltlihen Beamten geführt. 

Pius jelbft hatte das Bedürfniß einer in diefem Sinne 
porzunehmenden Umgeftaltung wohl erkannt, fein vielbeflagter Mi⸗ 
nifter Roffi trat mit dem Plane, den auch fchon die Großmächte 
in der Dentichrift des Jahres 1831 empfohlen hatten, die Ber» 








675 


waltung an; man weiß, wie der Dold eines Mazzinianers 
bie Hoffnungen, bie an biefen ausgezeihneten Mann ſich 
Inüpften, durchſchnitt. Und nach feiner Wiedereinſetzung glaubte 
Pius fi) genöthigt, keine Zugeſtändniſſe zu machen, welde, 
wie der engliſche Gefchäftsträger Lyons fagt, von den zahl 
reihen Gegznern der Regierung nur als Waffen zur Bekäm⸗ 
pfung derſelben gebraucht werben würben. 

Was foll nun aber werden? Das ift doch die Trage, 
bie jeber ſich vorlegt, jeber zu beantworten jucht, ober beant⸗ 
wortet hören möchte. In fo verwidelten Verhältniſſen und in 
einer jo unnatürlich gejpannten Lage Europa’s, wie bie gegen- 
wärtige ift, bleiben natürlich beftimmte Borausjagungen aus⸗ 
ee ; nur von Möglichkeiten und Wahrſcheinlichkeiten läßt 

reden. 

Die erſte Möglichkeit wäre, daß ein neu ausbrechender 
Krieg, und ein Sieg der öſtreichiſchen Waffen zur Reſtauration 
des öſtreichiſchen Uebergewichts in Italien und ber päpftlichen 
Herrſchaft Über das ganze Gebiet des Kirchenſtaats führte. 
Ob eine folhe Wendung der Dinge von Bielen gehofft wird, 
weiß ich nicht, das aber weiß ich, daß fein verftändiger Freund 
des päpftlihen Stuhles fie wünſchen wird. Eine permanente 
Decupation der Länder des Kirchenftaats durch öſtreichiſche 
Truppen, die dann nothwendig werben würbe, könnte bie Lage 
des Papftes nur verjchlimmern, feine weltliche Regierung nur 
noch unhaltbarer machen. Und neue Empörungen und politi- 
Ice Gonvulfionen mazziniftifcher Richtung würden nicht aus⸗ 

leiben. 

Eine zweite Möglichfeit wäre die Verpflanzung des päpft- 
lihen Stuhles nad) Frantreih. Das war bekanntlich der Plan 
des erſten Napoleon, der an der Stanbhaftigfeit Pius VII. 
fheiterte. Der Kaijer bat darüber keinen Zweifel gelafien; er 
bat jpäter auf St. Helena mit Wohlgefallen von dieſer jeiner 
Abſicht und von den glänzenden Nejultaten, die bie Folge der 
Verwirklihung gewejen fein würden, geiprochen. Daß der Neffe 
die Erbſchaft der Ideen und Bläne des Oheims angetreten hat, 
ift befannt. Die Durchführung dieſes Entwurfes oder die 
Erfüllung dieſer Hoffnung würde allervings unabjehbares Un⸗ 
heil ftiften. Ein franzöftfirtes Papſtthum würde eine furcht⸗ 
bare Quelle von Verwirrung und Zwietracht werden und eben 

45* 





— 


676 


erft bat eines unferer gelefenften Tagblätter die Erwartung 
ausgeſprochen,) daß es darüber zu einer Spaltung in der ka⸗ 
tholifchen Kirche fommen werde. 

Ich geſtehe, daß ich weder die eine noch die andere Be⸗ 
ſorgniß bege: nicht die der kirchlichen Spaltung; es find num 
400 Jahre, daß aud nicht einmal der Verſuch einer Spaltung 
gemacht worben if. Spaltung und Katbolizität find fo gan 
entgegengefegte Dinge, daß nur eine ganz außerordentliche Ver⸗ 
widlung und ein Streit um Brincipien, um Ideen, wieder ein⸗ 
mal eine ſolche herbeiführen könnte, Ich bin überzeugt, daß 
fein Stoff, feine Dispofition zu einer ſolchen Krankheit gegen» 
wärtig im ganzen Umfange der katholischen Kirche vorhanden 
ft. Die allgemeine Gefinnung aller Religiöſen in allen katho⸗ 
liſchen Nationen würbe jeden verarfigen Verſuch ‚mit Abſcheu 
von fich weilen, und die Irreligiöſen würden es höchitens zu 
einer zweiten Auflage ver Ronge'ſchen Walpurgisnacht von 1846 
bringen. 

Es wird aber auch zu Feiner Wieverholung ber Zuſtände 
des 14. Jahrhunderts kommen; wir werben fein zweites Avig⸗ 
non mit franzöfiichen Päpften und Kardinälen erleben. Der 
Episcopat, der Klerus, die glänbigen Katholiten in Frankreich, 
alle würben fich gegen eine päpftliche Kurie, die in der Gewalt 
des Kaiſers und ein willenlojes Werkzeug feiner Politik wäre, 
auflehnen; jämmtliche Tatholiiche Staaten und Bölker würben 
ihr gewichtigeß Nein in die Wagjchale werfen. 

Bon den drei Parteien, in welche die Franzoſen, wenn es 
fih um eine derartige Frage handelt, jest zerfallen, den reli- 
giös Gefinnten, ven Radikalen und den Buonapartiften, wird 
nur die leßtere, numeriſch die ſchwächſte, einer ſolchen Maßregel, 
falls ihr Gebieter fie in's Werk fegen wollte, günftig fein; vie 
beiden andern Parteien dagegen, d. b. vie große Mehrheit ver 
Nation, würden, wenn auch aus ganz verichiedenen Urjachen, 
dem Unternehmen durchaus abgeneigt fein und entgegenarbeiten. 
Die Katholiken namlih, weil fie in dem Berfuche, das Papſt⸗ 
thum zu einem Werkzeuge politifcher Intereſſen zu machen, eine 
Ernievrigung desſelben erbliden würden, die um jeben Preis 


») Ag. Ztg. 2. April, 61. 


- — . — vr -r 


. 677 


abgewenvet werben müſſe; bie irreligids Geſinnten aber, weil 
fie die höchſte geiftliche Gewalt nicht in folder Nähe, nicht im 
eigenen Lande haben mögen, weil fie ben mächtigen Einfluß 
ſcheuen, ven diejelbe auf den gefammten Klerus und ven gläu- 
bigen Theil der Nation üben würde. 

Dritte Möglichkeit; Der franzöfiihe Kaiſer Legt bie 
Frage der weltlichen Herrichaft des heil. Stuhles einem Con⸗ 
greſſe der katholiſchen Mächte zur Entſcheidung vor, offenbar 
in der jegigen Lage das Gerechteſte, Berftändigfte und das 
einzige Mittel, wodurch der Kaiſer den aus dem Schooße ver 
eignen Nation fich erhebenden Vorwurf von fi abmenben 
tönnte, daß er fi zum Werkzeuge des engliichen Haſſes gegen 
Rom erniedrigt, und dadurch die franzöfiiche Nation in eine 
politifch ebenfo faliche, als ſittlich unwürdige tung gebracht 
habe. Dieſe Mächte würden dann, nebſt Frankreich, Oeſterreich, 
Spanien, Portugal, Belgien, hoffentlich auch Bayern ſein; 
Piemont hat zwar offen erklärt, daß es kein Völkerrecht mehr 
anerfenne, müßte aber body unter ben gegenwärtigen Verhält⸗ 
niffen, da e8 allein Italien zu vertreten im Stande ift, zuge⸗ 
laſſen werden. Was nun ein jolcher Congreß beichliegen würde, 
läßt fi mit einiger Wahrjcheinlichleit vorausjagen. 

Er würde mit Mehrheit der Stimmen darauf bringen, 
daß dem päpftliden Stuhle ver noch übrige Belig erhalten 
und mindeſtens ein Theil des Entriffenen zurüdgegeben werde. 
Er würbe aber auch zugleich als einziges Mittel, die Bevölke— 
rung zu verjöhnen, municipale Selbftregierung, Theilnahme ver 
Laien, Dertretung an den Finanzen und ber Geſetzgebung bes 
gehren, kurz, jene Einrichtungen burchgeführt —98 wollen, 
welche gegenwärtig, mit Ausnahme von Rußland und ver Türkei, 
in ganz Europa beftehen, welde im Weſentlichen ſchon vie fünf 
Großmächte im Jahre 1831 verlangt haben, und ohne deren 
Bewilligung gar nicht abzufehen ift, wie im Kirchenftaate eine 
Berjöhnung zwilchen Boll und Regierung und ein bauerhafter 
georbneter Zuftand anders als mit permanenter Occupation fremder 
Truppen zu erreichen ſei. 

Bierte Möglichkeit. Der Papft wird gendthigt, Rom 
ir verlafien, und auf einige Zeit in einem andern katholischen 

anbe zu weilen. Rom und der Reit des Kirchenſtaates wür⸗ 
ben jofort dem neuen piemontefijchen Reiche einverleibt. Selbft- 





678 


verftänblich wärben nun alle jene Einrichtungen eingeführt, 
welche die päpftliche Regierung nicht gewähren zu dürfen glaubt ; 
die Säcularifation würde vollſtändig Man würde, wie mit 
einem Schwamme, über die ganze jekige Orbnung der Dinge 
dahinfahren, ver Klerus würde, wie fonft in ganz Europa, mit 
Befeitigung feiner, ven übrigen Klaſſen fo läftigen und mis⸗ 
älligen Privilegien, wie jeder andere Bürger ımter das gemteine 
echt geftellt, und damit eine Hauptquelle der Abneigung des 
Vollkes gegen die Geiftlichen verftopft. Wenn dann die Keime 
des Zerfalls, welde das neue italiänische Reich im fich trägt, 
fih entwideln, eine Ruckkehr des päpftlichen Stuhles nady Rom 
und eine Wieberaufrichtung des ganzen Kirchenſtaates ober 
eines Theiles eintritt, fo finvet der Papft die „vollbrachten 
Thatſachen“ vor, er tritt ein in eine ganz veränderte Stellung, 
er wird das Haupt einer in ihren Gliedern ganz ober über» 
wiegend weltlichen Verwaltung, deren abermalige Umgeftaltung 
oder Zurüdichraubung auf frühere abgeftorbene Zuflände man 
dann eben fo unflug als ſchwierig over unmöglich finden würte. 
Fünfte Möglichkeit. Der Kirchenftaat geht unmwieber- 
bringlich für den päpftlichen Stuhl verloren. Auch diefer Even⸗ 
tualität müſſen wir in's Antlitz bliden. Es ift denn doch 
denkbar, daß eben dieß im Rathe ver Borjehung beichloffen fei. 
Die Kirche hat wohl die Verheikung, daß die Pforten der Uns 
terwelt nichts wider fie vermögen werben, aber fie hat feine 
Verheißung, daß der Nachfolger Petri auch ftetS der Monarch 
eines weltlichen Reiches bleiben werde. Iſt Italien oder Europa 
beftimmt, ver Schauplat neuer Revolutionen zu werben, jo iſt 
bie Lage des Oberhauptes der Kirche umnftreitig eine beffere, 
würbevollere, wenn er nicht angelchmievet ift am bie ſchwere. 
hülfloſe Laft eines weltlichen Reiches, welches er doch nicht gegen 
bie einbringenven Wogen der Ummälzungen, der immer fi er⸗ 
neuernden Empörungen zu ſchützen und zu behaupten vermöchte. 
Bildet fih aber in Italien ein dauerhafter und georpneter Zu⸗ 
ftand, fo wird ja wohl die äffentlihe Meinung, oder richtiger 
das Öffentliche Gewiſſen des katholiſchen Europa ſtark und 
mädtig genug fein, um einen Zuftand zu fchaffen und zu be= 
feftigen, durch welchen vie Freiheit des päpftlichen Stuhles und 
bie ſouveräne Würde und Unantaftbarkeit des Oberhauptes ber 
Kiche geſchützt und ficher geftellt wäre. 


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Bleibt doch in Deutſchland ein Heiner, ohnmächtiger, von 
ftärteren Nachbarn rings umgebener ſtädtiſcher Freiſtaat, wie 
Frankfurt, frei und felbftftändig. Und follte nicht auch in dem 

eorbneten, vom Revolutiondfieber wieder genejenen Italien ver 
apft mit feinem, Heineren ober größeren Gebiete und feiner 
Hauptftabt ſich unangefochten zu behaupten vermögen! Wird 
niht Rom jelbft, dieſes durch und durch päpftlidhe und kirch⸗ 
liche Rom, welches ohne den Stuhl Petri und die Gräber ber 
Apoftel längft zu einem Provinzftäntchen oder Marktfleden herab⸗ 
gefunten wäre, lieber eine Weltftabt fein wollen, die Metropole 
eines geiftlichen Reiches von 200 Millionen, als der Sig eines 
Königreih8 von 20 Millionen? Immer freilich die Berföhnung 
des Volkes mit der päpftlichen Herrſchaft vorausgefegt, denn 
wer kann denn bie Thatſache verfennen, daß feit 1831 dieſe 
Herrihaft über 3 Millionen Menſchen eine Quelle von Schwäche, 
von Abhängigkeit, von Beingftigung und Sorge für den päpft- 
lichen Stuhl gewefen ift, daß dieſe Aufgabe, eine unzufrievene, 
nad den Einrichtungen anderer Länder lüſterne Bevölkerung 
nieberzubalten, ſich wie ein ſchweres Bleigewicht an die Ferſe 
des Apoftel-Nachfolgers geheftet hat? Und wer will behaupten, 
es fei göttlicher Wille, daß dieſer unnatürliche, beklagenswerthe 
Zuftand fi) auf unbeftimmte Zeit fo fortichleppe, daß ver 
Wechſel von Aufruhr, politifchen Prozeſſen, Einterferungen, Ber- 
bannungen und fremder Occupation in's Unbeſtimmte fich fort» 
—* hen Graf Rayneval einen ſolchen Zuftand in Ausficht ge 
ellt bat. 

Wir können es uns nicht verbergen: bie Tage ift im höchſten 
Grade tragifh. Der Bapft ift durch die heiligften Ver⸗ 
pflihtungen gebunden, nichts preißzugeben von dem, was ihm 
zur Bewahrung anvertraut ift; er muß fortwährend gegen bie 
Wegnahme feines Gebietes proteftiren. Die päpftliche Aegie- 
rung weiß unter den Weltlihen nur wenige Männer zu finden, 
welche die erforberlihe Bildung für höhere Aemter bejäßen und 
auf deren Treue fie rechnen könnte. Sie glaubt fi, wie ich 
bereit8 bemerkte, ſchon durch die Pflicht der Selbfterhaltung, 
durch das Hecht der Nothwehr darauf angewiejen, das bisherige 
Syſtem ohne tiefer greifende Umgeftaltungen ver geiftlichen Ver⸗ 
waltung fortzuführen. Und doch ift, wie die Dinge jest liegen, 
nicht zu hoffen, daß das Bolt fi mit dieſer Form klerikaler 


680 


Berwaltung aufrihtig verfähnen, auf die im übrigen Italien 
beftehenven Rechte und Einrichtungen verzichten werde. Die 
Schwierigteit der Lage wird noch erhöht durch die peinfichen 
Eolifionen, in melde ſich die Bilchöfe und mehr oder weniger 
der ganze Klerus in Italien verwidelt fehen. 

Vergeſſen wir jedoch nicht, daß die Geihichte bier vor 
Allen ein Oottesgeriht ift, und daß jedes menſchliche Wollen 
und Dafürbalten fi diejem Gerichte unterwerfen muß. Wir 
tönnen nur fagen: Laisses passer la justice de Dieu. Das ıft 
das fchöne Vorrecht Gottes, daß er, wo die Menichen es böje 
meinen, ihr Böfes zum Guten wendet. Wohl erinnert ums 
die Stellung des Papſtes zwiſchen ven beiden verbündeten 
Mächten, die die Würfel über ihn geworfen haben, an deu Lear 
des Shakeſpeariſchen Trauerfpieles und an feine beiden Töchter 
Ooneril und Regan, und eine Cordelia ift nirgends zu finden. 
Doch Lear wird nit fierben, Goneril und Regan werden 
&nten, was fie gejäet haben, bie Kirche aber wird zuletzt ſagen: 
Mein Berluft ift ein Gewinn. 

Der will denn die nächſte Zukunft beſtimmen? Wiffen 
wir dem, was uns felbft in Deutichland bevorſteht? Ob wir 
nicht felber in Mitteleuropa einer großen Umwälzung entgegen- 
gehen? Ob nicht die hinter Piemont lauernde mazziniftifche 
Partei Italien in die Krämpfe und Zudungen einer jocialen 
und antichriftlichen Revolution fchleudert? Wer kann fagen, 
wie viel zujammenbrecdhen wird in Stalien und anderwärts? 
Eines aber ift gewiß: unter allen Trümmern wird Ein In- 
ftitut aufrecht bleiben, aus allen Fluthen der Ummwälzung wird 
es ſtets wieder unverjehrt emportauchen, denn es ift unverwällt- 
lich und unfterblid — der Stuhl Petri. Tragen Sie midh, 
woher ich dieſe Zuverficht ſchöpfe, fo könnte ich zur Antwort 
auf die Bibel verweilen: Du bift der Fels u. f. w. Ih will 
jevody eine andere aus der Natur der Sache felbft geichöpfte 
Antwort geben: Der päpftlihe Stuhl wird nicht untergehen, 
weil er keiner menſchlichen Gewalt erreichbar ift; weil Nie 
mand auf Erden flarf und mächtig genug ift, ihn zu Grunde 
zu rihten. Wenn alle Gewalten von Europa ſich verbinden 
wörben, ihn zu unterbräden, fie vermöcdten es doch nid. 
Alles, was irbiihe Macht vermag, ift nım, ihn zur Wanderung 
zu nöthigen, ihn auf längere ober kürzere Zeit von feinem Sie 





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Rom entfernt zu halten. Und endlich wirb diefer Stuhl auch 
darum nicht untergehen, weil er ſchlechterdings unentbehrlich und 
unerjegbar iſt, denn er bilvet den zuſammenhaltenden Schluß⸗ 
ftein des ganzen Gebäudes ber Fire. On ne detrait que ce 
qu’on remplace. Daß aber das Bapftthbum durch irgend etwas 
anderes erjegt werben könne, hat wohl im Ernſte noch Niemand 
behauptet. Es ift ver Schlußftein, der dad ganze Gebäude ver 
Kiche zufammenbält, ver die Kirche zu dem macht, was fie ift 
und fen fol: zur Weltficdhe, zu ver einzigen Gewoſſenſchaft, 
welche jemald mit ver Erfüllung ver ihr von Gott gegebenen 
Beftimmung, die ganze Menjchheit zu umfaffen und für jeves 
Bolt Raum zu haben, Ernft gemacht hat. 

Würde diefer Alles haltenvde und tragende Schlußftein hin- 
weggenonmmen, dann würde fofort auch Alles auseinanverfallen, 
die Kirche würde fich fpalten nah Monardien und Nationali- 
täten, der chriftlichen Religion wäre ihr hoher und von ihrem 
Stifter ihr verliehener Schmud und ihr in ver ganzen ®e- 
ſchichte einziges Vorrecht entrifien, das Vorrecht und die Kraft, 
bie Nationen zu einem höheren Ganzen zu vereinigen, ohne 
bod) die Nationalitäten zu beſchädigen. In ber ganzen Welt 
wollen alle Glaubenden nicht etwa einer franzöfifchen oder 
fpanifchen, einer bayriichen oder öftreichiichen Kirche angehören, 
fie wollen überhaupt nicht einer Kirche angehören, ſondern Der 
Kirche, der Einen, Tatholifchen Kirche, d. h. mit andern Wor⸗ 
ten: Alle wollen unter dem Papſte ftehen, wollen in der Ges 
meinihaft mit ihm fich fühlen und ertennen als Glieder ber 
katholiſchen Kirche. 

Das Papſtthum wird aljo fortbeftehen, weil Gott e8 will, 
wie jeder Katholit glaubt, weil 200 Millionen Menſchen in 
allen Theilen der Welt es wollen, wie jever Nenner ber 
Weltlage fagen muß. Es gibt Feinde, viele Feinde der 
weltlichen Gewalt des Papſtthums, -aber es gibt innerhalb ver 
Katholischen Welt feine Feinde der geiftlichen Gewalt des Papſtes, 
oder nur jolche, welche zugleich Feinde der chriftlichen Religion 
überhaupt find. Ich ſcheue mich nicht zu behaupten, daß felbft 
außerhalb der Fatholifchen Kirche, in der proteftantiichen Welt, 
fomweit fie wirklich chriftlich iſt, die denkenden Gläubigen, bes 
ſonders des Laienſtandes, die päpftliche Gewalt nidt an ſich 
berwerfen. ragt man fie: Iſt es nicht etwas Schönes und 


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Gutes, etwas von Gott Gewolltes, daß die verſchiedenen chriſt⸗ 
Iihen Völler und Länder zu einer einzigen Kirche, zu einer 
roßen meltumfafienden Gemeinſchaft des Olaubens und ber 
iebe vereinigt feien, daß die gemeinfchaftlichen Angelegenheiten 
des Ganzen zulegt von Einer Hand geleitet werden, fo ante 
wortet jeder: Ja. Fragt man weiter: Soll nım biejer Mittel- 
punft der Firchlichen Einheit, viefer Träger ver oberfien 
kirchlichen Gewalt, etwa ein weltlicher Monarch fein, jo ant⸗ 
wortet wieder jedermann: Nein, das ift unmöglich, tem Kaijer 
und fein König und kein Präfident einer Republik, ein Papa, 
das heißt: ein geiftliher Bater muß es fein. Sobald mm 
aber bemerkt wird: ber wirkliche, lebendige, konkrete Papſt ift 
bereit8 da, er wohnt in Rom, und nennt fi für jekt Pins, 
und die größere Hälfte der geſammten Chriftenbeit gehercht 
ihm willig und frendig; wollt ihr Den? da erhebt ſich zormi- 
niger Proteft, vielftimmiger Ruf: Nein, Den durchaus nicht. — 
Warum denn nit? Weil er nicht lehrt, wie wir lehren. Wie 
oder was fol er denn lehren? Er fol, ruft man aus einer 
Ede Deutihlands, lehren, wie es der deutichen Nation, biefem 
Bolt von Denkern und Forfchern, genehm if. Er fol alfe 
lehren, wie man in Wittenberg von 1520 bis 1546 gelehrt 
bat. Dort und damals ift die ächte Chriftuslehre in ihrer 
lauterften Reinheit an ven Tag gelommen. Sofort aber er- 
fhallt aus einer andern Ede Deutſchlands der Gegenruf: Das 
ift eig überwundener Standpunkt; erft in der letzten Zeit bat 
es das beutihe Bolt fo herrlich weit gebracht, fteht e8 auf ber 
vollen Höhe der Intelligenz und theologifcher Einſicht. Wir 
haben in drei Jahrhunderten viel zugelernt und noch mehr weg» 
gelernt. Der Papft fol alſo lehren, wie man jest, im Jahre 
1861, an den Hauptfigen deutſcher Wiffenfchaft, in Berlin 
etwa oder Leipzig oder Göttingen, denkt und lehrt. Dann laffen 
wir und ihn gefallen. — Keineswegs, wird von Welten ber 
gerufen; nicht Wittenberg und nicht Berlin, jondern Genf ift 
bie Geburtsftätte des ächten Chriftenthbums ; nur wenn der Bapft 
fih zu Calvin befehrt, wenn er lehrt, wie der franzöfiiche Re⸗ 
formator gelehrt hat, kann er uns etwas gelten. Er möge fich 
wohl hüten, dieß zu thun, ruft man von jenſeits des Canal, 
von England herüber: Nicht Wittenberg und nicht Genf bat 
das Achte Chriftenthum gefunden. Nur der angelſächſiſchen Race 


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ift das Kleinod vom Himmel befchieven. Die wahre Kirche ift 
bie, deren Mutter die Königin Eliſabeth ift, die engliſch-biſchöf⸗ 
liche Staatslirche. Dieſe Fire hält allein die richtige Mitte 
zwifchen ven beiven Extremen des kontinentalen Proteftantismus 
und des Katholicismus. Möge der Bapft anglikaniſch werben, 
dann laffen wir mit und reden. Die gehen alle in der Irre, 
und find Schafe ohne Hirten, wird von Norben her zugerufen: 
die wahre Kirche, der Liebling Gottes unter den Kirchen ift 
nur die, welche von dem rechten Gotterlornen Hirten, von dem 
Czar in Petersburg und feiner heiligen birigirenden Synode 
auf die Weide bes göttlichen Wortes geführt wird; Rußland 
ift, wie ihm fein Kaiſer Nikolaus oft vorgejagt hat, das heilige 
Rußland und das ruffifche Volt ift das auserwählte Volt Got- 
tes jeßiger Zeit. Möge der Papſt viefe Thatſache anerkennen 
und danach handeln, dann werben wir ihm gerne ben erften 
Rang unter den fünf orthoporen Patriarchen überlaffen. End⸗ 
lich aber verlangt auch noch eine neue, beſonders in Deutſch⸗ 
land und in England ſtark vertretene Anficht gehört zu werben, 
e3 find die Männer der Zuhmftslirche: Ihr alle, jagen fie, 
gebehrvet euch, als ob die wahre Kirche ſchon irgendwo wirk⸗ 
lich exiftire — das ift aber eine ungeheure Täuſchung. Alle 
beſtehenden kirchlichen Genoſſenſchaften find nur Bruchftüde, 
oder fie find mm Steine und Baumaterialien, aus denen Gott 
in näherer ober entfernterer Zufunft erft die rechte, allen Be⸗ 
dürfniſſen entjprechenve Kirche aufrichten wird. Bis dahin gibt 
es nur proviforiiche Kirchen, und nur eine prowiforifche Lehre, 
und der Bapft würde am beften thun, wenn er fich für biele 
noch ungeborne, im mütterlichen Schooße einer Tünftigen Zeit 
verborgen liegende Kirche bereit hielte, und einftweilen jeber jonft 
in der Kirche geltenden Lehre ein Fragezeichen beiſetzte. 

So diefe — und nun auf der andern Seite die 200 Mil« 
fionen: Europäer, Afiaten, Afrifaner, Amerikaner, viele Welt» 
ficche, zu deren Gemeinfchaft won jevem bedeutenden Volle ver 
ganzen Erde minveftens ein Bruchtheil gehört. Einmüthig ſa⸗ 
gen diefe: Unſer Chriſtenthum darf und ſoll feinen nationalen 

eigeſchmack haben, es foll Fein fpezifiich veutiches, aber auch 
fein italiänifches, Fein franzöſiſches, englifches oder ruſſiſches 
Chriſtenthum fein; es fol nicht gleich jenen feurigen künſtlich 
gebrannten Getränken den Gaumen dieſes oder jenes Volkes 


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figeln; unſere Lehre und religiöſe Uebung ſoll fein und iſt rei⸗ 
ned klares Waſſer, farblos und geruchlos, das allgemeine ge⸗ 
finde Getränke für jedermann, heute wie geſtern, morgen, wie 
vor taufend Yahren. Der Bapft kann und darf nichts ande 
res lehren, ald was biefe 200 Millionen glauben und längft 
eglaubt haben. Und dieſe Millionen wollen, mäfjen einen 
Bapfı haben und werben ſich ihn nicht nehmen laffen, werden 
ihn nit fallen laffen. Sie beweifen jetzt ſchon, daß fie zu 
jedem Opfer für feine Erhaltung, feine Freiheit bereit find. 
Deutiches, irländiſches, franzöſiſches Blut iſt gefloflen zu feiner 
Vertheidigung, für eine gerechte und edle Sade. Wir werben 
auch in den nächſten Zeiten, vor Allen der Klerus in Europa 
wie in Amerika, willig und freudig und reichlich ımfere Bei- 
träge entrichten, um unferm Oberhaupte und gemeinfchaftlichen 
Bater feine Tage zu ‚erleichtern, ihm die Mittel zur freien und 
Mäftigen Handhabung feines erhabenen Amtes barzureichen. 
Aber wir wollen und auch nicht anklammern an etwas Ber- 
gängliches und Zufähliges, wir wollen nicht begehren, daß einem 
Volle etwas aufgenöthiget werde, was wir felbft nicht tragen 
würden, nicht einftehen wollen wir für eine Regierungsmethode, 
bie im Grunde erft 45 Jahre alt, veren Mängel der Papſt 
felbit erfannt hat, und die feit dieſer Zeit nur Aufruhr und 
tiefe Misitimmung in ver Mehrzahl ver Bevöllerung erzeugt 
bat. Wer fi durchaus auf Diejen Stab fügen will, ver läuft 
Gefahr, wenn der Stab nun dennoch morſch fein follte, zu 
Boden zu fallen. 

Die griechifhe Mythe fagt: als ein neuer Gott, Apollo, 
habe geboren werben follen, da fei vie Inſel Delos aus dem 
Meere emporgeftiegen, um dem Gott als Gebimtsftätte zu die- 
nen. Wir können zuverfidhtlich erwarten, daß, was auch kom⸗ 
men möge, dem Stuble Betri fein Delos nicht fehlen werke, 
und follte es erft aus dem Meere emporfteigen. 


Drua von Dr. 6. Rolf & Schba in huden.