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— — — — — —— -— DT HTW m — - - - :
Kirche und Kirchen,
Papſtthum und Kirhenftant,
—— — —
Hiſtoriſch⸗politiſche Betrachtungen
von
Joh. Joſ. Ign. v. Döllinger.
70 Li 4
Münden 1861.
Literarifhsartiftifhe Anftalt
ber I. ©. Cotta'ſchen Buchhandlung.
Sorrede
—— — —
Dieſes Buch iſt veranlaßt durch zwei Vorträge unter
vieren, welche im April dieſes Jahres gehalten wurden.
Wie ich dazu gekommen, die ſchwierigſte, verwickeltſte Frage
unferer Zeit vor einer ſehr gemiſchten Zuhdrerſchaft zu
befprechen, und in einer von ber berlämmlichen ſtark ab»
weichenden Weife zu beiprechen, barüber bin ich eine Er-
Härung ſchuldig. Ich Hatte zuerft, als die Anfforderung,
einige Vorträge zu halten, an mich erging, mir nur vorge-
nommen, über bie religiöfen Zuſtände ber Gegenwart im
Allgemeinen und im weiteften, bie ganze Menfchheit um⸗
fafjenden Ausblid zu reden. Es traf fich aber, baß gerade
aus den Kreiſen, von welchen die Anregung zu den Vor⸗
trägen ausging, mehrfach Anfragen an mich geftellt wurden,
wie man fich die Lage des päpftlichen Stubles, den theils
eingetretenen, theils drohenden Verluft feiner weltlichen Herr»
fchaft zu erflären habe. Was foll man — fo wurde ich
wiederholt gefragt — jenen Außerkirchlichen eriwiebern, welche
mit triumphivendem Hohne auf die zahlreichen biſchöflichen
Kundgebungen binweijen, in denen der Sirchenftaat für we⸗
1*
IV
fentlih und unentbehrlich zum Beſtand der Kirche erklärt
wird, während doch die Ereigniffe feit dreißig Jahren mit
fteigender Klarheit ven Zerfall desfelben zu verkündigen
fcheinen.
Ich Hatte eben in Blättern, Zeitfchriften, Büchern
mehrfach die Hoffnung ausgefprochen gefunden, daß mit dem
Untergange ber weltlichen Herrſchaft der Päpfte auch die
Kirche ſelbſt dem Schickſale der Auflöfung nicht entgehen
werde. Zu gleicher Zeit war mir in Chateaubriand's Me⸗
moiren die Aeußerung des Cardinals Bernetti, Staatsſekre⸗
taͤrs unter Leo XIL., aufgefallen: Wenn er lange lebe, habe
er Ausficht, noch den Ball der weltlichen Macht des Papſt⸗
thums zu ſehen.') Und eben Hatte ich auch in dem Berichte
eines Gorrefpondenten aus Paris, deſſen Name mir als der
eines ſehr gut unterrichteten und glaubwürtigen Mannes
genannt wurde, gelefen: Der aus Rom zurüdgelehrte Erz
biſchof von Rennes habe erzählt, daß Pius zu ihm gejagt
babe: „Sch mache mir Feine Illuſionen; die weltliche Ge⸗
walt muß fallen. Goyon wird mich preisgeben, ich werde
dann meine noch übrigen Truppen entlaffen, ben König,
wenn er einzieht, mit dem Bann belegen, und mit Ruhe |
meinen Tod erwarten."?)
3) Mömoires d’outretombe. VIII. 186. Ed. de Berlin.
2) Eo das katholiſche in London erſcheinende Wochenblatt: Weekly
Register, March 2, 1861, p. 4.
V
Ich ſelber glaubte bereits im April zu erkennen, was
nun im Oltober noch deutlicher ſich zeigt: daß die Gegner
der weltlichen Papftberrichaft entjchloffen, einig, übermächtig
feien, und daß nirgends eine Schugmacht vorhanden ſei,
welche mit dem Willen auch die Kraft befäße, die Kataſtrophe
abzuwehren. Ich bielt es demnach fir wahrfcheintich, daß
eine Unterbredhung bes weltlichen Beſitzſtandes in Baͤlde
eintreten werde — eine Unterbrechung, welche, gleich andern
porausgegangenen, auch wieder aufhören, und eine Wieber-
einfeßung zur Folge haben werde. Ich beichloß aljo, vie
burch die Vorträge gebotene Gelegenheit zu benüßen, das
Bublicum auf die kommenden Dinge, bie bereits ihren Schat-
ten in bie Gegenwart hereinwarfen, vorzubereiten, und fo
dem Aergerniffe, den Zweifeln und Anftößen zu wehren,
weiche unvermeidlich fich ergeben mußten, wenn der Kirchen-
ftaat in andre Hände überginge, obgleich die biſchöflichen
Erlaffe eben erft fo energifch verfichert hatten, daß er zur
Integrität der Kirche gehöre. Ich wollte alfo fagen: An
und für fih kann die Kirche befteben, und bat 7 Jahr⸗
hunderte beftanden ohne den Länderbeſitz der Päpfte; fpäter
aber ift viefer Beſitz durch die Weltlage nothwendig ge⸗
worden, und Bat, ohngeachtet großer Veränderungen und
Wechjelfälle, feine Beſtimmung, der Unabhängigkeit und
Freiheit der Päpſte zur Grundlage zu dienen, in ben meiften
Fällen erfüllt. So lange die jeßige Lage und Geftaltung
VI
von Europa bleibt, können wir kein anderes Mittel, dem
päpftlichen Stuhle feine Freiheit, und bamit das allgemeine
Vertrauen zu fichern, entveden. Uber Gottes Einfiht und
Macht reicht weiter als die unfrige, und wir bilrfen une
. nicht herausnehmen, der göttlichen Weisheit und Allmacht
Sränzpfähle fteden zu wollen, ihr zuzurufen: So und nicht
anders! Wenn dennoch das drohende Ereigniß eintritt, der
Papft feines Länderbefiges beraubt wird, fo wird von drei.
Eventualitäten ficher eine fich verwirklichen: entweder ber
Verluſt des Kirchenftaates ift blos ein zeitweiliger, und das ˖
Land kehrt ganz oder zum Theil nach einigen Zwifchenfällen
zu feinem rechtmäßigen Souverain zurüd. Ober die Vor⸗
jehung führt auf uns unbelannten Wegen und durch nicht
errathbare Combinationen eine Stellung des päpftlichen
Stuhles herbei, durch welche der Zwed, nämlich die Selbſt⸗
ftänbigfeit und ungehinderte Bewegung dieſes Stuhles, ohne
das bisherige Mittel erreicht wird. Oder endlich: Wir
gehen in Europa großen Kataftrophen, einem Zujammen-
brechen des ganzen Gebäudes der gegenwärtigen geſellſchaft⸗
lichen Ordnung entgegen, Ereigniffen, von denen ber Unter»
gang bes Kirchenftaate® dann nur ver Vorläufer, fo zu
fagen bie erfte Hiobsbotfchaft ift.
Die Öründe, warum ich von biefen drei Möglichkeiten
bie erfte für die wahrfcheinlichere Halte, habe ich in biejem
Buche ausgeführt. Weber vie zweite Möglichkeit iſt nichte
vu
Näheres zu fagen, fie iſt eben ein unbelanntes und folglich
unbeſchreibbares — x, es gilt nur, fie feitzubalten gegen
gewiffe allzu zuverfichtliche Behauptungen, welche das Ge⸗
heimniß der Zukunft zu wiſſen vorgeben, und, in bie götte
liche Domäne eingreifend, die Zukunft jchlechthin und unbe⸗
bingt den Gefegen ver jüngften Vergangenheit unterwerfen
wollen. Daß auch die dritte Möglichkeit in Ausficht ge
nommen werben müfje, werben wohl nur Wenige von benen,
die Die Zeichen der Zeit prüfen beobachten, in Abrede
ſtellen. Hat doch einer der fcharfjinnigften Gefchichtichreiber
und Staatdömänner, Niebuhr, bereits am 5. Oftober 1830
gefchrieben: „Wenn Gott nicht wunderbar hilft, jo fteht uns
eine Zerftörung bevor, wie die römifche Welt fie um bie
Mitte des 3. Jahrhunderts erfahren hat: Vernichtung des
Wohlſtandes, ver Freiheit, der Bildung und ber Wiſſen⸗
ſchaft.“ Und feitbem find wir auf der fchiefen Ebene um
ein Bedeutendes weiter gerüdt. Die Mächte von Europa
haben vie beiden Grundſäulen ihres Gebäubes, das Legiti-
mitätSprinzip und das Öffentliche internationale Recht umge⸗
ftürzt oder umftürzen laffen. Jene Monarchen, welche fich
der Revolution al® ihre Werkzeuge zu leibeigen ergeben
baden, find die handelnden Perſonen des welthiftoriichen
Drama's geworben, bie Uebrigen verhalten fich als ruhige
Zufchauer und, in ihrer Hoffnung, lachende Erben, wie
Preußen und Rußland, oder Beifall und Hülfe fpendenb wie
vn
England, oder als paffive Kranke, wie Defterreich und bie
am Zehrfleber fiechende Türkei. Die Revolution aber tft
ftebend geworben, ift nun ein chronifches, bald da bald
bort auebrechendes, bald mehrere Glieder zugleich ergreifen-
bes Leiden. Die Bentarchie ift aufgelöst, die heilige Alltanz,
immerbin eine, wenn auch mangelhafte und misbraucdhte
Form europäifcher Staatsordnung, iſt begraben; in Europa
gilt nur noch das Necht des Stärlern. Iſt e8 ein Umbil⸗
bungsproceß oder ein Zerfegungsproceß, in welchem die euros
päiſche Gefellfchaft begriffen iſt? Ich glaube noch Immer
das erjtere; aber ich muß, wie gejagt, bie Möglichkeit der
andern Alternative zugeben. Tritt diefe ein, dann wirb es,
wenn die Mächte der Zerftörung ihr Werk vollbracht, bie
Sache ver Kirche fein, fofort bei dem aus den Ruinen fich
erhebenden Neubau gefellichaftlicher Ordnung als binvenbe,
civilifirende ‘Macht und als bie Zrägerin ber fittlichen und
religiöfen Weberlieferungen eingreifend mitzumwirfen. Und
hiemit ift dann auch dem Papſtthume, mit over ohne Ges
biet, fein Amt angewielen, feine Sendung gegeben.
Dieß alfo waren die Gedanken, von denen ich ausging,
und es begreift ſich, daß dabei meine Aeußerungen über bie
nächſten Geſchicke ver weltlichen Bapftmacht ziemlich zwei⸗
felhaft klingen mußten, daß ich nicht wohl mit der Zuverſicht, die
anderen, vielleicht fchärfer blidenden Männern gegeben war,
vor meine Zuhörer Hintreten und fagen fonnte: Verlaßt euch
IX
daranf: der Kirchenftaat, dieſes Land von Rapicofani bis
Geperano, von Ravenna bis Gteitaneckhia, foll und muß
und wird unveränberlich den Bäpften bleiben; eher wird
Himmel und Erbe vergehen, ehe der Kirchenſtaat vergeht.
Das konnte idy nicht, weil Ich dieſe Zuverficht damals nicht
hatte, wie ich fie denn auch jetzt micht im geringften habe,
ſondern nur die, daß dem päpftlichen Stuhle die Bedin⸗
gungen zur Erfüllung feines Berufes auf die Dauer nicht
werden entzogen werben. Und demnach war die Summe
meiner Worte die: Möge Niemand an der Kirche irre wer-
den, wenn bie weltliche Fürftengewalt des Papſtthums, fet
es zeitweilig, fei es für Immer, verſchwindet. Sie tft nicht
Wefen, fontern Beigabe, nicht Zwed, fonvdern Mittel, fie
bat erft fpät begonnen, fie war früher etwa® ganz Anveres,
als fie heute ift, fie erfcheint ung jett mit Recht als unent-
behrlich, und fo lange bie gegenwärtige Orbnung Europa'e
bauert, muß fie-um jeden Preis erhalten, ober, wenn ges
waltfam unterbrochen, wieberbergeftellt werden. Es läßt
fi aber andy ein politifcher Zuftand in Europa denken, in
weichem fie entbehrlich, und dann nur noch eine hemmende
Loft wäre. Nebenbei wollte ich auch Bapft Pius IX. und
feine Regierung gegen zahlreiche Anſchuldigungen vertheis
digen, und darauf hinweifen, daß die allerdings vorhande⸗
nen inneren Gebrechen und WMisverbältniffe im Lande,
burch welche der Staat in einen fo befremblichen Zuftand
x
von Schwäche und Hüfflofigleit verſetzt worden, nicht ihm
zur Laſt fielen, daß er vielmehr vor und nach 1848 ven
beften Willen, zu reformiren, gezeigt habe, und daß wirklich
Vieles durch ihn und unter ihm beffer geworden ſei.
Die Berichte in den Tagblättern, zu Haufe aus ber
Erinnerung aufgefchrieben, gaben nur ein ungenaues Bild
von einem Vortrage, ver nicht in berfömmlicher Weiſe ven
Knoten zerhauen wollte, fondern mit „wenn“ unb „aber“
und mit Hinweiſung auf einige, meift außer Berechnung
gelaffene Entſcheidungemomente, von einer unfichern Zu⸗
kunft und mehrfachen Möglichkeiten redete. Das war uns
vermeidlich. Jede nicht ganz wörtliche Reproduction mußte,
auch bei dem beiten Willen bes Referirenden, fchiefe Auf-
- faffungen erzeugen. Ich ließ daher, gleich nachbem eines
ber verbreitetften Blätter über ven erſten Vortrag obne alle
abfichtliche Entftellung, aber mit einigen den Sinn und bie
Tragweite meiner Worte alterirenden Auslaffungen berichtet
hatte, der Redaktion den Abdrud meines Manujcripts vor»
ſchlagen; dieß wurde jeboch abgelehnt. In audern Berich⸗
ten ber Zagesorgane konnte ich häufig meine Gedanken
nicht wieber erfennen, und hatte man mir Weußerungen in
ben Mund gelegt, die mir ganz fremb waren. Und bier
will ich nur gefteben, daß ich bei Haltung ber Vorträge an
die Befprechung verfelben in der Tagespreſſe nicht gedacht,
vielmehr erwartet hatte, fie würben, wie andere ähnliche,
— —
hochſtens mit zwei Worten in futuram oblivionem er⸗-
wähnt werben. Weber die Polemik, die fich in eignen Schrif-
ten und Sonrnalartilein fofort in Deutfchland, Frankreich,
England, Statten, felbft in Amerika, daran knüpfte, ſchweige
ih. Bieles habe ich nicht gelefen; die Verfaffer hatten fich
zum Theil nicht einmal bie Frage vorgelegt, ob denn ber
Bericht, den ihnen der Zufall zugeführt, und ven fie auf
gerathewohl zu Grunde gelegt hatten, nur irgend genau
fi. Doch muß ich einer Darftellung in einer der gelejen«
Ren englifchen Zeitfchriften erwähnen, weil ich ba in eine
Geſellſchaft gebracht werbe, in bie ich nicht gehöre. Das
Zuliyeft des Edinburgh Review Kat nämlich einen, dem
Bernehmen nad von H. Cartwright verfaßten Artilel ges
bracht, überfchrieben: Church Reformation in Italy. Der
Berfaffer zergliedert zuaft Roſmini's Schrift: le cinque
piaghe dells chiess, fpricht dann von ben verwandten,
ber jetigen Wenbung der Dinge in Italien günftigen Ge⸗
finuungen ver Rofminianer, der Dominikaner zu S. Marco
in Florenz, der Kapuziner, von einer Schrift des Oratoria⸗
ners Sapecelatro In Neapel, in ber ein ber weltlichen
Barfikerrichaft ungnfliger Standpunkt eingenommen werde.
Hierauf beruft er fich auf mich, die Tendenz meiner Aeuße⸗
rungen miöverftehenn, und in der irrigen Meinung, ich hätte
bereits eine Schrift mit einer Apologie meiner Orthobogie
veröffentlicht. Darauf werben Baffaglia’s und Toftt’s
XII
Aeußerungen und Bemühungen näher beſchrieben. Einen
ſcharf polemiſchen, gegen mich gerichteten Artikel des Dublin
Review kenne ich nur aus den Auszügen in andern eng»
lifchen Blättern, ſehe aber fchon aus der Entſchiedenheit,
mit ber ſich der Verfaſſer gegen „liberale“ Inftitutionen er»
Härt, daß ich auch nach dem Erfcheinen dieſes Buches
auf eine Verftändigung mit ihm nicht rechnen darf.
Damit übrigens jeder felbft urtheilen köͤnne, und um
ein gegebenes Verſprechen zu erfüllen, babe ich bie beiden
Vorträge als Beilage abdrucken laſſen, fowte ich fie vorher
Schriftlich entworfen hatte, nur mit Weglaffung der Einlei«
tung, bie fih in allgemeinen, bie Kirchenſtaatsfrage nicht
berüßrenben, Zeitbetrachtungen erging; und natürlich mit
Uebergehung mander, im miünbliden Bortrage aus dem
Stegreife eingeflochtenen, näheren Ausführungen, bie felbft«
verſtaͤndlich an dem Sinne des Hier Abgedruckten nichts Änberten.
Die Aufregung, welche durch meine Vorträge, oder
vielmehr durch die Berichte der Tagespreſſe über biefelben
hervorgerufen worven, hatte da® Gute, daß babet in einer
bis dahin vielfach nicht geahnten Weife an ben Tag kam,
in welch’ weiten Umkreiſen, wie tief und feſt bie Anhäng-
lichkeit bes Volkes an den Stuhl Petri gewurzelt fe. Das
für konnte ih Alles das gerne hinnehmen, was fich bei
biefer Gelegenheit an Angtiffen und Bitterkeiten über mich
ergoß. Aber warum — fo wird man fragen, und fo bin
XI
ih unzählige Male gefragt worden — nicht durch fofortigen
Drud der, doch in der Hauptfache vorher aufgefchriebenen
Borträge die Misverftändnifje abfchneiden, warum fünf Mo⸗
nate zumwarten? Dafür Hatte ich zwei Gründe Erſtens
handelte es fich nicht blos um Misverftänpniffe; vielmehr
batte gar Manches, was ich allerdings gefagt, in vielen
Kreifen, vor Allem bei unjern Optimiften unangenehme Em⸗
pfindungen erregt. Ich wäre alfo fofort mit meinen nadt
Dingeftellten Behauptungen in einen aufreizenden Zeitungs
und Flugſchriftenhader verwidelt worden, und das war feine
lockende Ausficht. Mein zweiter Grund war: ich erwartete,
daß die weitere Entwidiung der Dinge in Italien, die uns
aufhaltfam fortfchreitende Logik der Thatfachen die Ges
müther für gewiſſe Wahrheiten empfänglicher machen würbe,
Ich Hoffte, man würbe allmälig in ber Schule ber That⸗
fachen lernen, baß es nicht genüge, immer nur mit ben
Ziffern: Revolution, Geheimbünde, Mazzinismus, Atheis-
mus zu rechnen, vie Dinge nur nach dem im „Juden bon
Verona“ dargebotenen Maßſtabe zu meflen, daß vielmehr
noch andere Faktoren binzugenommen werben müßten, 5. B.
die Befchaffenbeit des italiänifchen Klerus und fein Ver⸗
bältniß zu den Laien. Ich wollte daher einige Donate ver-
ftreichen laffen, che ich vor das Publicum träte. Ob ich
bierin richtig gerechnet babe, wird bie Aufnahme biefes
Buches zeigen.
IN _
Diejenigen, welche es tadelnswerth finden, daß ich Zu-
ftände und Thatjachen, vie man gerne ignorirt, ober nur
flüchtigen Fußes barüber Hinwegellenb berührt, näher ein-
gehend beiprochen und dieß noch bazu gerade In biefem
Zeitpunfte gethan babe, begreife ich volllommen. Habe ich
doch felbft, ohngeachtet des Dranges, den ich empfand, mich
über die Frage bes Kirchenſtaats auszufprechen, zwei (Jahre
lang durch ſolche Bedenken mich abhalten laffen, und bes
burfte e8 der oben erzählten Vorgänge, um mich zum öffent-
lichen Mitfprechen in dieſer Sache — ich darf fait fagen —
zu nöthigen. Sch Bitte aber biefe Männer, folgende Puntte
zu erwägen. (rftens: wenn ein Autor Zuſtände, welche
ohnehin in der Zeitpreffe vielfach beiprochen werven, offen
darlegt, wenn er von ben Wunden, welche nicht an ber
Kirche felbft, fondern nur an einem mit der Kirche in nächfte
Berührung gelommenen und bie Kirche in bie Mitleiven-
ſchaft hineinziehenden Inſtitut Maffen, die ohnehin fehr durch⸗
fihtige Hülle wegzieht, fo thut er dieß — das darf man
ihm billiger Weife zutrauen, dem Beiſpiele älterer Freunde
und großer Männer der Kirche folgend, nır um bie Mög
Itchfeit und Nothwenbigkeit der Heilung Far zu machen, um,
fo viel an ihm ift, den Vorwurf zu entfräften, als ob bie
Vertheidiger der Kirche nur bie Splitter im fremden und
nicht die Ballen Im eignen Auge fehen wollten, und in eng⸗
herziger Befangenheit jede ihrer Sache ungünftige ober un⸗
XV
günjtig fcheinende Thatfache zu befchönigen oder zu ver⸗
tnfchen und abzuläugnen bejtrebt feien. Er thut es end⸗
fich, damit man erkenne, daß, wo die Ohnmacht ber Men⸗
fchen, vie Heilung zu beivirfen, fichtbar wird, Gott ein-
greife, ver nun auf feiner Tenne bie Spreu vom Weizen
fondern und jene mit der Feuersgluth der Kataftrophen,
welche nur feine Gerichte und Arzneimittel find, verzehren
will. Zweitens: Wenn ich ſchon als Hiftorifer die Wirkun-
gem nicht varflellen durfte, ohne auf die Urfachen derſelben
zurüdzugeben, fo mußte ich zugleich, wie jeder religidfe For⸗
icher und Beobachter menfchlicher Dinge, einen Beitrag zur
Theodicee zu liefern fuchen. Wer über fo Hohe, das Wohl
und Wehe ver Kirche nahe berührende Intereffen zu fchreiben
unternimmt, der Tann nicht umbin, bie Weisheit und Ges
rechtigfeit Gottes in der Leitung ber hierauf bezäglichen irdiſchen
Ereigniffe zu erforfchen und zu zeigen. Das Verhängniß, das
den Kirchenftaat getroffen, muß doch vor allem unter dem
Geſichtspunkt einer göttlichen Veranftaltung zum Beften ber
Kirche aufgefaßt werden. So gefaßt, ftellt es fich als eine
Prüfung dar, die fo lange dauern wirb, bis ber Ywed er.
reicht, das Wohl der Kirche von dieſer Seite ficher geftellt ift.
Es ſchien mir Mar, daß, wie überhaupt eine nee Ord⸗
nung ber Dinge in Europa im Plan der Vorfehung liege,
fo auch der Krankheitsproceß, in welchem fich ver Kirchen-
ſtaat unverkennbar feit einem halben Jahrhunderte befindet,
v. Dößinger, Papfitfum. 2
XVI
der Uebergaugsproceß zu einer neuen Form ſein möchte.
Dieſen Krankheitsproceß zu beſchreiben, keines der Symp⸗
tome zu übergehen oder zu verdecken, wurde hiemit eine
Aufgabe, der ich mich nicht entziehen durfte. Die Krankheit hat
ihren Grunb in dem inneren Wiverfpruche, der Dishar-
monte der Einrichtungen und Zuſtände; denn bie franzöjifch-
mobernen Einrichtungen ftehen dort unvermittelt neben ben
bierarchifch - mittelalterlichen; keines viefer beiden Ele—
mente ift flarf genug, das andere auszuſtoßen, und jedes
bon ihnen würde, wenn es zur Wlleinberrichaft gelangte,
boch wieber eine Krankheitsform varftellen. Doch ich erkenne in
der Gejchichte der letzten Jahre auch bereite Symptome bes
Heilungsprocefjes, wie ſchwach und bunfel und zweibeutig
auch noch die Spuren beffelben erfcheinen mögen. Was
wir ſehen, ift fein boffnungslofes Hinfterben, keine Vers
wefung; es tit eine Läuterung, fo ſchmerzlich, fo verzehrend,
fo Mark und Bein burchbringend, wie Gott fie über feine
auserwählten Perſonen und Suftitutionen zu verhängen
pflegt. An Schladen ift fein Mangel, und es gehört Zeit
Dazu, bi das reine Bold aus dem Schmelzofen berborgebe.
Im Verlaufe diefes Proceffes kann e8 zu einer Unterbrechung
des Beſitzſtandes, zu einer Auflöfung des Staates ober
einem Uebergang beffelben in andre Hänbe kommen; aber
er wird, wenn auch in anderer Form und Regierungsweife,
wieber aufleben. Mit Einem Worte: Sanbilibus labora-
XVII
mus malis, das wollte ich zeigen, das glanbe ich gezeigt
zu baben.
Gegenwärtig und ſchon feit 40 Jahren iſt der Zuftand
des Kirchenſtaates die Achillesferfe der katholiſchen Kirche,
ber ſtehende Vorwurf, den die Gegner in der ganzen Welt,
in Amerifa wie in Europa erheben, der Stein des An⸗
ſtoßes für Unzählige. Nicht als ob die Einwürfe, die von
biefer Thatſache einer vorübergehenden Störung und Die
harmonie im focialen und politifchen Gebiete hergenommen
werben, irgend ein Gewicht in theologifcher Beziehung hätten.
Aber das ift doch nicht zu läugnen, daß fie von unermeß⸗
lichem Einfluffe auf die Stimmung ber ganzen aufers
lirchlichen Welt find.
So oft krankhafte Zuftände in ver Kirche hervorge⸗
treten find, bat ed nur Einen Weg der Hellung gegeben:
den des gewedten, erneuerten, gefunden kirchlichen Bewußt⸗
feins, der erleuchteten öffentlichen Meinung in ver Kirche.
Der befte Wille der kirchlichen Häupter und Führer hat bie
Heilung nicht zu vollbringen vermocht, wenn fie nicht bie
allgemeine Stimmung, die Ueberzeugung der Geiftlichen wie
der Laien für fih hatten. Die Heilung der großen krch⸗
lichen Krankheit des 16. Jahrhunderts, die wahre innere
Reformation der Kirche iſt erft dann möglich geworben,
als man aufhörte, die Uebel zu befchönigen oder abzuleug⸗
nen, zu vertufchen und ſchweigend barüber megzugehen,
2*
XVDI
als eine fo ftarke und übermächtige Sffentliche Meinung in
ber Kirche fich gebildet hatte, daß man fich eben dem über-
wältigenden Einfluffe berfelben nicht mehr entziehen konnte.
Auch Heute ift das, was und Noth thut, vor Allem Wahr-
beit, die ganze Wahrheit, nicht bloß vie Erfenntniß, daß
die weltliche Macht des Papftthums ver Kirche nöthig ſei —
das leuchtet, wenigftend außerhalb Btaliens, jedem ein, und
es ift Alles darüber bereits gejagt — fonbern auch die Er-
tenntniß, unter weldhen Bedingungen dieſe Herr-
Ichaft fernerhin möglich fei. Die Gefchtchte der Päpfte ift
voll von Beifpielen, daß ihre beſten Abfichten unerreicht
blieben, ihre fefteften Entfchläffe fcheiterten, weil man eben
in den unteren Kreifen nicht wollte, weil bie Intereffen einer
feft zuſammenhaltenden Klaſſe wie eine unburchbringliche
Dornenhede wiverftanden. Wie feft war Habrian VI. ent»
fchloffen, mit ver Reformation Ernft zu mäcen, und
gleichwohl that er als Papft fo gut‘ wie nichte, fühlte er
fih im Beſitze der höchſten Gewalt doch gänzlich ohnmächtig
gegenüber dem paffiven Widerſtande aller berer, bie ihm
als Werkzeuge dabei dienen follten. Erſt als bie öffentliche
Meinung auch in Italien, in Mom feleft gewedt, gereinigt
und erftarkt war, als der Ruf nach Reformen von allen
Seiten gebieterifch ertönte, erft dann warb es ben Päpften
möglich, den Wiverftand in ben nieberen Sphären zu über-
winden und allmälig, Schritt für Schritt, geſünderen Zu-
——
ſtaͤnden Bahn zu brechen. Möge denn auch dem neunten
Bins eine ſtarke, gefunbe, einmütbige, öffentliche Meinung
im Tatholifchen Europa entgegenlommen.
Noh muß ich mich Über einen Punkt rechtfertigen:
Es ift mir fehr übel gebeutet worben, daß ich mich auf bie
Berichte von Lord Lyons, die auf Geheiß des englifchen
Parlaments gedruckt worden, berufen habe. Engliſche Bes
richte, hieß es, feien felbftverftännlich parteiifch und unzus
verlaͤſſig. Ich Hatte fie angeführt zum Zeugniß, daß ber
Bapft mit den beftgemeinten Reformen boch feine unzufriebenen
Unterthanen nicht zu befriedigen im Stande fei, unb daß
jedes Zugeftänpniß von biefen fofort in ein Werkzeug zur
Untergrabung ber Regierung verlehrt werde. Nun macht
Graf Montalembert in feinem berühmten zweiten Send⸗
fhreiben an Cavour benfelben Gebrauch von tiefen Be⸗
richten, mit der Bemerkung: M. Lyons, le seul diplomate
honn&te que l’Angleterre aitenvoy6 en Italie. ch unterfchreibe
biefes Lob, möchte aber, ſchon aus Rüdficht auf Lord Nor⸗
manby und Sheil, an welche mein Freund beim Nieber-
fchreiben biefer Worte wohl nicht gedacht Hat, das seul
ſtreichen.
Ueber einen andern Theil dieſes Buches habe ich noch
Einiges zu ſagen. Ich habe eine Rundſchau über alle ge
gemwärtig beſtehenden Kirchen und kirchlichen Genoſſenſchaf⸗
XX
ten geliefert. Die Nothwendigkeit, dieß zu verſuchen, ergab
ſich mir dadurch, daß ich die univerſale Bedeutung bes
Papftthumes als Weltmacht zu zeigen, die wirklichen Leiſt⸗
ungen desſelben Har zu machen hatte Dieß konnte nur
bann vollftänbig gefchehen, wenn bie inneren Zuftände der
Kirchen, welde das Papſtthum verworfen, und tem Ein-
fluffe desfelben fich entzogen Haben, vargeftellt wurben.
Allerdings erweiterte ſich mit nun ber Plan unter ben
Händen, und ich verfuchte, ein möglichft Mares Bild von
. ver Entwidlung zu geben, weiche feit der Reformation und
durch diefelbe fich mit innerer Nothwendigkeit unb in Folge
ber einmal ergriffenen Anfchauungen und Principien in ben
getrennten Kirchen vollzogen hat. Ich babe darum in meiner
Darftellung keinen Zug aufgenommen, der nicht, meiner Ueber⸗
zeugung nach, ale Wirkung, als ein, wenn auch entferntes
Ergebniß jener Principien und Doctrinen fich auswiefe.
Darüber läßt fih nun im Einzelnen ohne Zweifel ftreiten,
und ficher wird, wenn biefes Buch überhaupt jenfeits bes
Kirchengebiets, welchem ich angehöre, beachtet werben follte,
ftarer Wiberfpruch erfolgen. Möge man dann nur bie
Gerechtigkeit mir wiberfahren Taffen, zu glauben, daß jebe
Abficht, zu verlegen, mir babei völlig fremb war, daß ich
nur gefagt Habe, was, wenn man überhaupt tiefer auf den
Grund diefer Dinge eingehen will, gefagt werben muß, daß
ih es mit Inftitutionen zu thun Hatte, welche in Kraft ber
XXI
Dogmen und Principien, aus denen fie erwachſen find, gleich
einem an ein Spalier angenagelten Baume in ber Einen
Richtung, wie unnatürlich fie auch fein möge, bleiben müſſen.
Das erferme ich gerne an, daß jenfeits vie Menfchen häufig
beffer find, ale das Syſtem, an welches fie ſich gebunden
finten ober gebunden wähnen, und daß umgefehrt in ber
Kirche die Individuen burchfchnittlich in Theorie und Praris
tiefer fteben, al8 das Syſtem, in welchen: fie leben.
Und bier wird es wohl am Orte fein, wenn ich mid
in der Kürze über die Erfurter Konferenz unb bie baran
fih Inüpfenden Hoffnungen, fowie überhaupt über bie gegen-
wärtige Stellung der Confeffionen in Deutfchland zu ein-
ander erläre. Ich glaube dieß um fo mehr thun zu follen,
ald Aeußerungen von mir, die ich darüber in Briefen an
einen Freund gethan, bereitd, wenn auch ohne meinen Namen,
gedruckt worven find. Folgende Säte bürften vielleicht dazu
beitragen, einiges Licht Über den Stand der Sache zu ver-
breiten.
1. Die Wiebervereinigung ber katholiſchen und ber
proteftantifchen Eonfeflionen in Deutfchland wärbe, wenn fie
et over in nächſter Zukunft zu Stande käme, in religiöfer,
politifcher und ſocialer Beziehung das heilbringenbfte Ereig-
niß für Deutfchland, für Europa fein.
2. Es ift nicht Die geringfte Wahrfcheinlichleit vorhanden,
daß diefe Vereinigung in der nächften Zeit zu Stande femme.
XXII
3. Sie iſt für jetzt nicht möglich, erſtens weil der
größere, thätigere und einflußreichere Theil der deutſchen
Proteſtanten fie, theils aus politifchen, theils aus religiöfen
Gründen in Feiner Form, nnd unter leiner irgend möglichen
Dedingung will,
4. Ste ift zweitens für jeßt unmöglich, weil Unter
handlungen über ven Mobus und die Bebingungen ver Union
gegenwärtig nicht mehr gepflogen werben können. Denn
dazu würden bevollmächtigte Vertreter von beiten Seiten
erfordert; und folche vermag nur die Fatholifche Kirche ver⸗
möge ihres kirchlichen Organismus zu ftellen, nicht aber bie
proteftantifche Seite. Auf dieſer Seite gibt es jet Feine
Bemeinfchaftlide Grundlage, keinen Ausgangspunkt mehr
(auch nicht die Augsburgifche Confeflion), und jeder Be⸗
fchluß, jeve dogmatiſche Feſtſtellung unterläge prinzipiell dem
Veto jedes Einzelnen fowie ganzer Schulen oder Parteien.
5. Die latholifche Kirche Rönnte ohne die geringſte Schwierige
keit mit der getrennten griechifchen und ber ruffifchen Kirche
in Unterbanblungen bezüglich einer Vereinigung treten, und
dieſe Unterbanblungen würven, wenn nicht bie wiberftreben-
den frembartigen Intereſſen und bie tiefe Unmiffenheit des
Klerus und Volles in jenen Kirchen wären, den gänftigften
Erfolg verfprechen. Denn beide Theile ftehen auf vemfelben
Boden, infoferne fie bie gleiche Anfchauung von der Kirche,
ihrer Autorität und ımunterbrochenen Stetigleit haben.
ZZ
Dagegen fehlt diefe Anfchauung auf proteftantifcher Seite,
und fehlt hiemit die gemeinfchaftliche Grundlage, ohne welche
Unterhandlungen und Verſtändigungsverſuche nicht möglich
ſind. Einzelne kommen hier natürlich nicht in Betracht.
6. Die heilige Schrift als die gemeinſame Grundlage
gebrauchen zu wollen, auf welcher Katholiken und Proteſtan⸗
ten eine Berftänbigung verfuchen könnten, würde rein illu⸗
forifch fein, denn
einmal ift, fo lange es Ehriften gibt, noch nie auf
biefem Wege eine Einigung erreicht worden Als fchlagen-
des Beifpiel fteht der Streit über bie euchariftifchen Ein«
fegungsworte zwifchen Lutheranern und NReformirten ba,
der nach unzähligen Colloquien und in Tauſenden von
Bädern in breifundert Jahren um feinen Schritt welter
gebracht worben ift.
Zweitens daben bie großen Fortſchritte in der Bibel⸗
auslegung, welche feit breißig Jahren unläugbar gemacht
worben find, keineswegs eine größere Glaubens⸗ und Lehr⸗
einheit auf proteftantifcher Seite erzeugt, vielmehr ift das
Gegentheil eingetreten.
7. Gleichwohl find theologiſch Proteftanten und
Katholiken einander näher gekommen, denn jene Hauptiehren,
jene „&rtifel ver ftehenden und fallenden Kirchen, um welcher
willen die Neformatoren die Trennung von ber Tatholifchen
Kirche für nothwendig erflärt haben, find nun durch bie
AXIV
proteftantifche Theologie überwunden und preisgegeben, ober
werden nur nominell, indem man mit ben Worten andere
Begriffe verbindet, beibehalten.
8. Die Augsburgiſche Eonfeffion ift nicht nur
das „Grundbekenntniß der Reformationu, fie ift auch bas
einzige, zu welchem bie chriftusgläubigen Proteftanten ver
großen Mehrzahl nach fich jebt noch befennen. Wäre biefes
fih Belennen ein völlig ernftliches und auf Mare Erkenntniß
und richtiges Verftänpniß des Inhaltes gegränbetes, dann
würde bie Wiebervereinigung ber getrennten Kirchen ver⸗
hältnigmäßig leicht fein. „Aber, wie Heinrich Leo") jüngft
bemerkt hat: Jedermann führt diefe Confeſſion im Munde,
und faft fein Menfch kennt fie; Niemand fucht fie in ihrem
urſprünglichen Sinne zu faffen. Man erflärt fie zum
Editein des Proteftantismus , man bat ihr zu Ehren große
Feſte gefeiert, jährlich wirb fie in jeber proteftantifchen
Schule gepriefen, und faft fein Mienfch weiß, was barinnen
fteht.«
9. Die Augsburgifche Confeſſion erflärt im fiebenten
Artikel: "daß die eine, heilige Kirche allezeit fein und blei⸗
ben müffe, welche ift die Verſammlung aller Gläubigen, bei
welchen das Gvangelium rein geprebigt und bie heiligen
Sakramente laut des Evangelii gereicht werben." Wenn
') Neue Preuß. Big. 26. Septbr.
XXV
bie Sprache nicht erfunden ift, um die Gebanfen dee Menfchen
zu verhüllen, jo beißt dieß doch, daß bie Kirche auch vor
Entftehung ber proteftantifchen Lehre bereit6 die eine, heilige,
mit reiner Prebigt und ächten Sakramenten ausgeftattete
Kirche geweien fei. Kann es neben ber Einen, heiligen
Kirche noch eine zweite und britte geben? Hat bie Kirche,
welche im Jahr 1517 noch die Eine, heilige war, plöglich
dieß zu fein aufgehört, weil ſeitdem neue Gefellfchaften burch
Zrennung von ihr entftanden find, welche fie fofort be
ſchuldigten, falfche Lehre und. unächte Sakramente zu haben,
ohne daß boch in ihr, nach der eigenen Ausſage ver Ge⸗
trennten, feitvem irgend eine wefentliche Veränderung vor-
gegangen wäre? Können bie Urbeber und Unterzeichner ber
Confeſſion dieſen Artikel fo verftanden haben, daß bie Eine,
heilige Kirche aus einer unbeftimmten Zahl getrennter, in
Lehre, Sakramenten, Verfaſſung verfchiedener, ſich wechfel-
feitig wefentlicher Irrthümer beſchuldigender Kirchenkörper
beſtehe? Kann von einer Autorität und von ſymboliſcher
Geltung der Augsburgiſchen Confeſſion ernſtlich die Rede
fein, wenn dieſer wichtige und entſcheidende Artilel im Leben
als nicht vorhanden behandelt, in ver Wiſſenſchaft ignorirt
ober gewaltfam umgedeutet, ja in fein Gegenteil verkehrt wird?
Eine eingehende, logifch Haltbare Beantwortung biefer
ragen dürfte wohl zu ben unentbehrlichiten Präliminarien
jeder confefltonellen Verftändbigung gehören, und, felbit ab«
XXVI
geſehen hievon, im Intereſſe aller nach religiöſer Klarheit
und Gewißheit ringenden Laien liegen.
10. So weit ſich aus ber Literatur urtheilen läßt, iſt
unter den Theologen und Geiſtlichen auf proteſtantiſcher
Seite der Wunſch, daß es zu einer Vereinigung der kirchlich
geſpaltenen Dentſchen kommen möge, theils nicht vorhanden,
theils nur in Geſtalt des Poſtulats, daß die Katholiken ein⸗
fach proteſtantiſch werden ſollten, vorhanden, theils exiftirt
er als bloſe Velleitaͤt mit gänzlicher Unklarheit über Wege
und Mittel. Anders ſcheint es ſich mit den Laien zu ver⸗
halten. Schreiber dieſes iſt wenigſtens noch ſelten im Leben
einem religiös geſinnten proteſtantiſchen Laien begegnet, ver
nicht die Sehnfucht nach einer Bereinigung empfunden, und
meift auch die Anficht gehegt Hätte, daß die Zeit dazu infos
fern gekommen ſei, al® die Fortdauer der Trenung mehr
Schlimmes als Gutes wirke.
11. Gegenwärtig iſt bie proteſtantiſche Theologie in ge
wiffen Sinne ireniſcher als die Theologen. Denn während
die Theologie die ftärkften Bollwerle und doctrinellen Scheide⸗
wänbe niebergelegt bat, melde bie Reformation zur Ber
feftigung der Trennung aufgeworfen hatte, find die Theologen
Dagegen weit entfernt, bie dadurch erreichte Erleichterung der
Wiedervereinigung mit günftigen Augen zu betrachten, häufig
eber beftrebt, die Thatſache zu verbergen, ober neue Differenz
punkte zu fchaffen. Diele unter ihnen mögen bie Anflcht
XXVII
theilen, welche Stahl in Berlin noch kurz vor feinem Tode
ausgefprochen: „Weit entfernt, daß ber Bruch des ſechs⸗
zehnten Jahrhunderts geheilt werden kann, wir müßten ihn,
wäre es nicht fchon gefchehen, erft jet brechen“.) So
wird es jedoch nicht bleiben, vielmehr wirb eine künftige
Generation, vielleicht die ſchon heranwachſende, fich eher ber
jäugften Erklärung Heinrich Leo's zuwenden: „In ber
römifch-fatholifchen Kirche Hat feit Luther’s Zeiten ein Reis
nigungoproceß ftattgefunden, und wenn zu Luther’ Zeit bie
Kirche gewefen wäre, was heutzutage die römifch-Latholifche
Kirche in Deutſchland wirllich if, fo wäre es ihm nie ein⸗
gefallen, feinen Gegenſatz jo energifch geltend zu machen,
daß eine Trennung erfolgt wäre”.”) Die, welche fo denken,
werben dann die rechten Männer und auserlorenen Werk⸗
zeuge für das Gott und ben Menfchen gefällige Werk ver
Berjöhnung der Kirchen und ver wahren Einigung Deutfch-
lands werben.
12. Au dem Tage, an welchem auf beiden Seiten bie
Ueberzeugung lebendig und thatlräftig erwachen wird, daß
Ehriftus wirklich die Einheit feiner Kirche wolle, daß bie
Zerriffenheit der Chriftenheit, die Vielheit der Kirchen ein
2) Anſprache zur Eröffnung ber Berliner Paftoral- Conferenz, in
ber Evang. Kirchen⸗Zig, Juni 1861, ©. 564.
2), N. Preuß. Big. 27. Geptbr.
XXVIII
unnatürlicher, Gott misfälliger Zuſtand ſei, daß jeder, der
dazu hilft, dieſen Zuſtand zu verlängern, dem Herrn bafür
verantwortlich ſei — an biefem Tage werden mit Einem
Schlage vier Fünftheile der herkömmlichen proteftantijchen
Polemik gegen vie katholiſche Kirche als Spreu und Kehricht
in den Winkel geworfen werden; denn vier Fünftheile beruhen
auf Misverftändniffen, Logomachien, willkührlichen Ent-
ftellungen, ober beziehen fich auf perfönliche, alſo zufällige
Dinge, welche da, wo es fich nur noch um Prinzipien und
Dogmen handeln kann, völlig beveutungelos jind.
13. An diefem Tage wird aber auch auf katholifcher
Seite Manches fih ändern. Von da an wird man nicht
mehr bie Perföntichkeiten Luther und ber Neformatoren
überhaupt auf die Kanzeln bringen, Die Geifllichen wer-
ben, eingedenk des Wortes: interficite errores, diligite
homines, ftet6 gegen die Glieder anderer Kirchen nach allen
Negeln der Liebe verfahren, werben alſo überall, wo nicht
Hare Beweife des Gegentheile vorliegen, den „guten Glauben”
(bona fides) vorausfegen.‘) Sie werben nie vergeffen, daß
1) Nach dem Beiſpiele eines ber trefflichften Prälaten unjerer Zeit,
bes Cardinals de Cheverus, ber, als er noch Biſchof von
Bofton in Amerifa war, im Umgange mit Proteftanten, bie er
zum katholiſchen Glauben befehrte, erfannte: que plusieurs
Protestans pouvaient &tre dans la bonne fol ou ignoranoe
invincible qui exouse l’erreur devant Dieu. Il en concolut
XXIX
kein Menſch durch bittere Worte und heftige Ausfälle über⸗
zeugt und geivonnen, jeder vielmehr nur damit zurückge⸗
fioßen wird. Sie werben ferner, gemahnt durch das Wort des
Römerbriefs (14, 13), inböherem Grabe, ald es bisher gejchehen,
befliffen fein, den getrennten Brüdern kein Aergerniß, keinen
Grund zur Anklage der Kirche zugeben. Demnach werben fie im
Voltsunterrichte wie im Tirchlichen Leben die großen Heils-
wabrbeiten ftet® zum Mittelpunfte ‘aller Lehre machen, vie
Rebendinge dagegen in der Lehre wie im Leben nicht ale
Hanptfache behandeln, vielmehr dem Volke das Bewußtfein
ſtets wach erhalten, daß folche Dinge nur Mittel zum Zwecke
find, nur untergeorpnete Bedeutung und fubfibiarifchen Werth
haben.
14. Bis jener Tag uns Deutfchen aufgeht, ift es Auf⸗
gabe für uns Katholifche, die Glaubens-Spaltung nach dem
Ausorud des Cardinals Diepenbrod „im Geifte ver Buße
für gemeinſames Berfchulden zu ertragen”. Wir haben an⸗
zuerfennen, daß Bott auch hier aus den Verirrungen der
Menſchen, aus ven Kämpfen und Leidenfchaften des 16.
Sahrhunderts neben viel Schlimmem viel Gutes Hat her⸗
vorgeben laffen; daß der Drang ver veutfchen Nation, die
unerträglich gewordenen Misbräuche und Aergerniffe in ver
qu’il falloit &tre trös-indulgent pour oeux qui se trompent,
ot tres resorv6 & les condamner. Vie du Cardinal de
Cherverus, 2° ddit. p. 140.
XXX
Kirche abgeſtellt zu ſehen, ein an ſich wohlberechtigter und
den beſſeren Eigenſchaften unſeres Volles, feinem ethiſchen
Unwillen über Verunſtaltung und Entweihung des Heiligen
durch Herabziehen der veligiöfen Dinge zu habgierigen und
beuchlerifchen Zweden, entftammt war. Wir weigern uns
nicht zu geftehen, daß die große Trennung und bie damit
verknüpften Stürme und Wehen ein ernftes über bie katho⸗
liſche Chriftenheit verhängtes, nur allzu fehr von Klerus
und Laien verbientes Strafgericht waren, ein Gericht, wel-
ches läuternd und beilend gewirkt bat. Der große Geilter-
kampf bat bie europäiſche Luft gereinigt, Bat den menſch⸗
lichen Geift auf neue Bahnen getrieben, bat ein reiches
wiffenfchaftliches und geiftige® Leben erzeugt. Die proteſtan⸗
tifche Theologie mit ihrem vaftlofen Forfchungsgeifte iſt ber
Latholifchen wedend und anregend, mahnend und belebenb
zur Seite gegangen; und jeder unter ben hervorragenden
deutfchen Tatholifchen Theologen wird es gerne belennen,
daß er den Schriften proteftantifcher Gelehrten Vieles
verbanle.
15. Auch das haben wir anzuerkennen, daß fich in ver
Kirche der Roſt der Misbräuche, des abergläublichen Mecha⸗
nismus, immer wieder anfekt, daß die Diener der Kirche
zuweilen durch Trägheit und Unverftand, das Volk durch
Unwiſſenheit das Geiftige in der Religion vergröbern und
dadurch erniebrigen, entftellen, zum eignen Schaden anwen⸗
XXXI
den. Der rechte reformatoriſche Geiſt darf alſo in der
Kirche nie entſchwinden, muß vielmehr periodiſch mit neu
verjüũngender Kraft hervorbrechen, und in das Bewußtſein
und den Willen des Klerus eindringen. In biefem Sinne
weigern wir uns nicht, die Berechtigung eines auch vom
Außen ber an uns gerichteten Rufes zur Buße, pas heißt
zur forgfältigen Prüfung unferes kirchlichen Lebens und pas
Roralen Verhaltens und zur Verbeſſerung des fchaphaft
Befundenen zuzugeben.
16. Dabei ift jedoch nie zu vergeflen, daß die Tren⸗
nung nicht wegen ber Miisbräuche in der Kirche erfolgt tft.
Denn die Pflicht und Nothwendigkeit, dieſe Misbräuche ab⸗
zuftellen, ift immer in ber Kirche anerkannt worden, unb
nur die Schwierigleit der Sache und die, mitunter fehr be»
rechtigte Zurcht, daß mit dem Unkraut auch der Walzen
ausgerauft werden möchte, haben bie wirkliche, in der Kirche
umd burch fie volibrachte, Reformation eine Zeit lang ver⸗
zögert. Trennung wegen ber blojen Mishräuche im kirch-
lichen Leben bei gleicher Lehre verwerfen auch die proteftans
tifchen Kirchen als frevelhafl. Um ver Lehre willen ift
alfo Die Zrennung erfolgt, und die allgemeine Unzufrieven«
heit des Volles, die Schwächung der kirchlichen Autorität
durch die vorhandenen Misbräuche hat nur den neuen Lehren
leichteren Eingang verſchafft. Nun find aber einerfeits jene
Gebrechen und Ausartungen bes Tirchlichen Lebens ſeit dem
v. Dillinger, Papſtihum. 3
reformatorifchen Auffchwung in der Kirche teil verſchwun⸗
den, theils bedeuten gemilvert. Und andrerſeits find bie
wichtigiten ver Lehren, um welcher willen man fich getrennt,
und auf deren Wahrheit und Unentbehrlichkeit für das Heil
man dad Recht und die Nothwendigkeit der Trennung ges
baut bat, von der proteftantifchen Wiffenfchaft aufgegeben,
burch die Exegeſe ihrer biblifhen Begründung entfleivet,
ober durch den MWiderfpruch der angeſehenſten proteftan-
tifchen Theologen mindeften® fehr unficher gemacht.
17. Inzwiſchen leben wir auf Hoffnung, tröjten une
ber Ueberzeugung, daß die Gejchichte, oder jener europäifche
Entwidlungsprozeß, der fich zugleich im focialen, politifchen,
firchlichen Gebiete vor unferen Augen vollzieht, der mäch⸗
tige Bundesgenoffe ber Freunde kirchlicher Einigung ift, und
reichen allen Ehriftusgläubigen auf der andern Seite die
Hand zum gemeinfchaftlihen Vertheibigungs - Kampfe gegen
die deftructiven Bewegungen ber Zeit. Denn es ift fo,
wie v. Radowitz gefagt: „Bor unfern Augen fcheiden fich
bie Geifter unter zwei Bahnen, auf deren einer ber Name
Ehrifti des Sohnes Gottes fteht, während unter ber andern
alle fich vereinigen, denen diefer Name eine Thorheit oder
ein Aergerniß ift”.
XXXIII
Zum Schluſſe ſei es mir geſtattet, einige Berichtigungen,
die ſich mir erſt im Laufe des Druckes ergeben haben, hier
nachzutragen. S. 78 wollte ich die merkwürdige Thatſache
anführen, daß Papſt Innocenz XI. die Bedrückungen der
franzöſiſchen Proteſtanten misbilligt und Schritte gethan
babe, ulm größere Schonung für fie zu erlangen. Ich wußte
nicht mehr, wo ich dieß gefunden hatte, unterdeß aber habe
ih meine Quellen wieder entdeckt, nämlich die Histoire de
la revolution de 1688, von Mazure (Paris, 1825, IL,
126) und Macaulay’s befanntes Wert (Tauchnitz edit.
1I., 250). Da das Berhältniß zwifchen vem Könige und
dem Bapfte belanntlich ein ziemlich ſchroffes und feinpfeliges
war, fo mußte Innocenz auf einem Umwege feinen Zweck
zu erreichen juchen: er beauftragte feinen Nuncius d'Adda
in London, ven König Jakob II. von England zu bitten,
daß er doch bei Ludwig XIV. zu Gunſten ver beprüdten
Proteftanten interveniren möge. Jakob wollte das aber
nicht, obgleich er Manches zur Erleichterung ihrer Lage
that. Ferner habe ich ©. 314, durch eine Angabe in Schaff's
Buch über Nordamerika verleitet, die Zahl ber kirchenbe⸗
fuchenden Mitglieder der verfchiedenen proteftantifchen Be⸗
fenntniffe wohl zu gering angegeben, fie muß, wie mir
fcheint, doppelt fo ftark angenommen werben. ©. 606 ift
durch ein Verſehen der Batican ftatt des Quirinals ges
nannt. Endlich erinnere ih, daß ver erfte heil meines
3*
FIN
Buches bereits gebrudt war, als bie Nachricht von bem
ſchmerzlichen Verlufte, den Deutfchland durch Stahl’8 Ton
erlitten bat, eintraf, weshalb in meinem Buche von ihm
al8 einem Lebenden geredet wird.
Münden, ven 12. Oktober 1861.
Inhalts - Verzeichniß.
Borrebe . . ee ee Gehe II fg.
L Der römiſche Stuhl und die Kirche unter ihm.
getrennten Kirchen.
1. Die Kirche und bie Völlker.
Katholicität des Chriſtenthums umb ber Kirche
Reaktionen ber Nationalitäten gegen bie Kathoficität vor dem
Auftreten des Proteflantismus: Perſiſche und Afri-
kaniſche (Donatiftifche) 4, Byzantiniſche 5 fg., sr
ſiſche und Czeſchiſche (Huffitifche) .
Der Broteftantismus in feinen Benpiformen:
Lutheranismus
Calvinismus
Engliſche Staatskirche
Providentielle Bedeutung ber Nationalitäten unb Wechſelver⸗
hältniß zwiſchen ihnen md br Kirchee
Der Katholicismus gegenüber dem Muhammebanismus und
Bubbhaiennus . . . . .
2. Das Bapfitbum.
Die Nothwendigkeit des Papſtthums, begründet in ber Natur
und Architektonik ber Kicche, beionbers ihrer Einheit
und Sichtbarkeit .
Ucberblid ber San bes — bis ei bie &
genwart
Die
26 fg.
31 fe.
XXXVI
Seite
Funktion und Beruf bes Papſtthums in der Gegenwart. 85 fg.
Umfang und Beſchränkung der päpftlihen Gewalt . .. 88 fg.
Broteftation gegen ben weſtphäliſchen Frieden . 49 fg.
Religiontzwang und Religionsfreiheit.
Verſchiedenheit zwiſchen Katholicismus und Proteſtantismus
in Bezug auf Religionszwang . .68 ig.
Intoleranz des Proteſtautismus 68 fg.
Geſchichtlicher Bang ber Dulbung und bes Zwanges:
in ben Nieberlanben . 73 fg.
in England 0. . 75 fg.
in Deutſchland 81 fg.
in Dänemark, Frankreich . BE fg.
Berhältniß der Tatholifchen Kirche zur Religiouofreiheit 86 ig.
Gegenwärtiger Stand ber Dinge © in Dans auf 1 Beton
freiheit . 00.2.8 BR.
8. Die Kirchen umb bie bürgerliche Freiheit.
Stahl’s Behauptung von bem förbernden Einfluß ber prote-
ſtantiſchen Regheſertigunglehre auf die politiſche Frei⸗
heit 98 fe.
Geſchichtlicher Nathweis bes Einfluffes des Beoteflantismus
anf bie bürgerliche Freiheit in den einzelnen Ländern:
in ben fcandinavifchen Staaten 96 fg.
in Deutſchland . . . . « 108 fg.
in ben Nieberlanben . 122 fg.
° "in Schottland . 1286 19.
in England . 129 19.
Geſammtergebniß . 155 fe
4, Die Kirchen ohne Papſtthum: eine Rundſchau.
a. Die Kirche des Patriarchats Eonftantinopel.
Gtatiſtik, Berfaffung und Regierung, bie Patriarden 156 fg.
ZXXVUO
Der Klerus und feine Stellung zur Gtaategewalt
Zukunft der Kirche im türfifchen Reihe .
b. Die Hellenifche Kirche.
Berfaffung, Klerus, Zuhunft .
eo. Die ruflifche Kirche,
Stellung zur byzantiniſchen und katholiſchen Kirche .
Berfaffung und Regierung, Berhältniß ber Kaifer zur
Landeskirche und zur Iutherifchen
Zuſtand bes Klerus .
Kirchliche und patriotiſche Gefimung der Safe, FR
fertuftus
Polizeilicher Charalter bes airchenweſene mb Kite
liemus . . . . . .
Sektenweſen
Abweichung von der bozantiniſchen Birke in Bun
ber Taufe .
4. Die Kirche von England und bie Diffenterkiten.
Allgemeine Charalteriſtik; ariſtokratiſcher Charakter ber
Staatsirche .
Folgen der Reformation für bie aArmeren alaſſen ku
Bezug auf Beſitz, Almoſen, Gottesbienft und Schnul⸗
weſen
Regierung uud Berweltung ber Birke und airchenim
ter
Biderſpruch ‚wilden den 89 Artileln und ber Aturgie
Gegenwärtiger Zuſtand und deſſen Urſachen.
Die einzelnen Parteien und Schulen:
Die Evangelicals 220 fg., bie Anglikaner 228 fg.,
bie ZTraftarianer . .
Gtreitfragen über Taufe ab Cie ab deren Ent
fheibung . . . . .
161 fg.
. 168 fg.
. 167
170
171 fg.
175 fg.
179 fg.
183 fg.
185 fg.
187 fg.
190 fg.
198 fg.
210 fg.
216 fe
219 fg.
225 fg.
238 fg-
XXXVIII
Seite
Zuſtand ber Theologie und Diseiplin und ber
Staatskirche Überhaupt, Ausſicht in bie Zukunft 238 fg.
Die proteſtantiſchen Selten Englands im Allgemeinen 240 fg.
Die einzelnen Selten:
Die Presbpterianer . . 247 fg.
Die Unitarier-Gemeinden 248
Die Methopiften ober Wesleyaner . 249 fg.
Die Eongregationafiften oder Inbepenbenten 255
Die Baptiften 256 fg.
Die Quäler, mährifchen "Brlder und bie
Swedenborgiſche Kirche . 257
Die Irvingianer . . 0. 257 fg.
Die Mominn . . x 258 fg.
e. Die Kirche in Schottland.
Calvimiſcher Charakter der fchottifchen Kirche und ihr
Berhältniß zur englifhen Staatsfirde . 259 fg.
Wirknng des Calvinismus auf bie fchottifche Nation
in religiöfer, fittlicher und focialer Begiehung 261 fg.
Ausfihten der bifchöflichen Kirche und Lage bes Ka⸗
tholiciomus in- Schottland . . . . 276 fg.
f. Die Kirchen in Holland.
Statiftil, Berfaffung, der Ealoinisnme 278 fg.
Tyheologiſche Schulen, Bekenntniß und Eultus . 281 fg.
Schilderungen ber Gegenwart, Ansfiht in die Bu
kunft, Reſultat 287
8. Die proteſtantiſchen Kirchen in Frentreich
Stellung nach außen, zum Staat und zum NKatholi⸗
eismus 288 fg.
Innere Zuflände, theotogifce Eqnlen, bie Diffidenz. 290 fg.
Heußerungen über ben- gegenwärtigen Zuflanb . 297 fg.
(b) j Die proteftantifchen Kirchen in ber Schweiz.
Sertatiſtik, Verhältniß ber Kirche zum Stadt. . . 800 fg.
IX
Zuflanb bes Ealviniemus in Genf umb ber Übrigen
Ein . .
Religiöier Zuſtand ber Ktoeigerifggen Kirge im Bun
anf Bekenntniß, Glauben unb Eultus .
Die Lage der Geiftlichen . .
k. Die proteflantifhen Denominationen in ben Berinig-
ten Staaten von Nordamerika.
Die Religiofität ber Amerikaner im Allgemeinen
Folgen des: Greitvilligteite- Principe und des Mangels
einer Nationallirde . .
Sanptformen bes amerilanifchen Proteſtantiemn⸗
Das Seltenweſen und deſſen Einfluß anf die Theologie
Einige gemeinfchaftlihe Züge ber Selten .
Die einzelnen Selten:
Baptiften 386, Preebyterianer 838, Congregationa⸗
fiften
Unitarier-Gemeinden 884, Univerfafiften 345, Meho⸗
biften 346, die biſchöfliche Kirche 850, deutſche Luther⸗
aner 352, Deutichreformirte Gemeinfchaft .
Stellung ber PBrebiger zu den Gemeinden
Stellung bes Proteflantismus zum Katholicismus
Gegenwärtiger religiöfer Zuftand Norbamerila’s
1. Die lutheriſche Kirche in den ſeandinaviſchen Ländern.
Dänemark: Regierung und Berfaffung ber Kirche
Die Geiftlichleit, Theologie, Gottesbienft .
Schweden: Regierung, ber König nub bie Serie
Theologie . . .
Die lrchlichen Zufänbe in Nerwegen
Mißverhältnig ber Predigerzahl zur Beoäfterung im
proteflantifchen Norden . .
m. Die proteftantifchen Kirchen in Deut
Die Berfönlichleit Luthers
— _
Seite
Berhältniß des Proteſtautismus zum Kathoficiemus in
Deutichland . 887 fg.
Der theologiſche Ratiomafiemus und —* * 889 fg.
Die Union . 401 fg
Theologie und theofogifche Säulen . « 406 fg.
Die evangelifhe Allianz . . 410 fg.
Die einzelnen Hauptmomente bes Tirchlichen Lebens:
1. Kirchenverfaffung . . 415 fe.
2. Theologie, — . 420 fg.
8. Gotteedienſt. . 444 fe.
4, Geelforge und Birhenuät . . 454 fg.
5. Prebigerftanb und fein Berhältuiß zum Be . 459 fg.
6, Religiöfer Zuftanb der Laien 468 fg.
7. Erwartungen einer Kirche ber Zukuuft und eines
taujenbjährigen Reiches 476 fg.
Gegenwärtige Stellung bes Proteflantismne in Da
and zur Tatholifchen Kirche 485 fg.
DO. Der Rirchenſtaat.
*1. Die Papſte und ber Kirchenſtaat bis zur frangäftichen
Revolution.
Das Papſtthum unter ben weſt⸗ unb Meiaiden
Raten . . 493 fg.
Das Papſtthum unter ben Rerofingern . . 495 fg.
Das Papſtthum unter dem Einfluß ber römtichen Abeie-
partien . . . 498 fg.
Deutihe Kaiſer unb bentfihe Bäpfe 499 fg.
Schentungsurtunde Dtto’s III. 508
XLI
Die Bafallenfhhaft der normännifchen Eroberer in Un-
teritalien .
Die Päpfte unb ber Aigen von u Sn vn. sie
Sunocenz IH. . . ..
Guelfen und Ghibellinen
Rubolf von Habsburg .
Die Anjou’s, die franzofiſchen —* bie arrie zu
Avignon, Echisma .
Martin V. und Calliſtus 1.
Nepotiamus
Berfahren ber bourboniſchen Se gegen bas vn
thum und ben Kirchenſtaat .
2. Innere Zuflänbe des Kirchenſtaates vor 1789.
Der Nepotismus ..
Das Cardinalscollegium
Freiheiten der Etäbte . .
Ausbildung ber Regierung bes airchenſiaates buch
Geiſtliche
Stehende Tongregetionen, Praiatur, vertäufliche Stellen
Die weltliche Berwaltung ber Fön: im Bag mit
der geiflihden . . . .
Finanzen, Induſtrie, Hanbel .
Die Gewalt des Souveräns
3. Der Kirchenſtaat von 1814 — 1846.
Pius VII. und Napoleon I.
Wiener Beichlüffe, Syſtem und Berwaltung Sonfatois
Leo XII., Berhältniß feiner Maßregeln zu bem Safe
Eonfalvi’s
Pins VIL. Umfichgreifen ber "geheimen Sefeicaften.
Gregor XVI, Iulirevolution, dad Memorandum ber
Mächte von 1881 . . .
— — — — — — — — —
Drudfehler.
Seite 5 Note 1 lies Cerularius flatt Eerulerius.
» 29 Zeile 11 von oben tilge ihr.
„ 39 „ 9 von oben tilge beruht.
» 39 , 15 von oben I. de Maiftre ftatt del Maiftre.
„» 98 die Note 2 ift am Ende ber 6. Zeile von unten zu jeben.
» 220 Zeile 8 von oben lies Stiftung ftatt Etifung.
„ 276 ,„ 1 von unten nah bat lies fie.
„ 380 , 8 von oben I. geleiftet ſtatt geeiftet.
„ 387 „ 7 von unten I. in flatt in.
„ 893 lette Zeile l’istorie ftatt l’histoire ©. 466.
„ 420 Zeile 3 von oben ergänze Nr. 2.
„ 422 ,„ 7 von oben I. jenigen ftatt enigen.
„ 466 Note 2 Universities flatt Univerties.
» 5834 Rote 1 Saracini flatt Saracinelli,
‚„ 557 Ießte Zeile ift VII ftatt 1711 zu ſetzen.
„ 568 Zeile 3 von unten ohe flatt ehe.
„ 585 Note 8 ed hanno flatt ad hanno,
Der römifche Stuhl und die Kirche
unter ihm. Die getrennten Kirchen.
1. Die Kirche und die Wölher.
In der ganzen Zeit vor Ehriftus gab es nur Volls⸗
und Staats- Religionen. Jedes Volt batte feine eigenen
Gottheiten, feine befonderen Eultusformen. Die Religion
wirkte weſentlich dazu mit, pie Völker in ſcharfer Trennung ge⸗
gen einander zu halten. Wohl mochte ein Volt Götter
und Eulte von dem anbern entlehnen, aber ein religiöfes
Band, das beide Völker umfaßt und einander näher gebradht
hätte, wurde dadurch doch nicht gefchlungen. Erſt bie chrift-
liche Religion, deren Dafein von Anfang an auf einer Durch-
bredung des jüdiſchen national religiöfen Partikularismus
rubte, trat mit dem Anfpruche ver Statholicität unter bie
Menfchen; fie erflärte eine Weltreligion zu fein, bie feinem
Bolle befonders angehöre, die vielmehr ben Beruf und die
Vähigfeit in fich trage, fich über den Erbfreis zu verbreiten,
Völker ber mannigfaltigften Art, der verfchiebenften Bildungs-
fiufen in ihren Schooß aufzunehmen, ihre wahren religiöfen
Bedürfniſſe zu befriedigen, und, ohne nationale oder geogra-
pbifche Gränzen, ein großes Reich Gottes auf Erven, eine
Kirche der Menfchheit aufzubauen.
». Dillinger, Papftihum. 1
Das Nömifche Reich, durch welches bereits bie ftantlichen,
fprachlichen und conventignellen Schranten und Bollwerle der
unterworfenen Nationen burchbrochen und eingeebnet waren,
hatte der chriftlichen Kirche bahnbrechend vorgearbeitet. Nach
breihunbertjährigem Kampfe bes Duldens und Belennens
ber Einen, bes DVerfolgens und Tödtens der Andern, war
dieſes Reich von der Kirche erobert. Gleichzeitig hatte fie
fih, in ven drei Hauptfprachen jener Zeit, ver Griechifchen,
Lateinifchen und Shrifchen eine breifache Literatur erzeugend,
weit über die Römifchen Gränzen hinaus bis tief nach Ber-
fien hinein verbreitet, und war gen Norden zu ben Germa⸗
nifchen Vollern vorgebrungen. “Der Mittelpunkt des kirch⸗
lichen Lebens war Rom, bie Weltftabt, ver „Zufammenfluß
ber Völler, wo Aeghptier, Shrer, Aflaten, Armenier, Hel⸗
lenen, Juden, Gallier, Hifpanier fi fanden und mifchten,
ſich anzogen und abftießen. Neben Rom biente Aleranbrien
das große Emporium des Weltbanvels, ver Sit hellenifcher
und orientalifcher Wiffenfchaft und Literatur, ven losmo⸗
politifchen Charakter des Chriſtenthums zu nähren und zu
entwideln. . |
So war unb blieb die Kirche national farblos. Nie-
manb Tonnte damals ober fpäter je fagen, daß eine Nation
mehr als bie andere ber Kirche das Gepräge ihrer Eigen⸗
thümlichleit aufgebrüdt Habe. Nach dem Falle des Roͤmi⸗
chen Weſtreichs warb die Kirche vie Erzieherin, vie Pflege-
3
mmtter der neuen Staaten. In ihrem Schooße entwickel⸗
ten fich bie herrſchenden Nationalitäten des Abendlandes,
alle purchbrungen von dem Bewußtſein eine große chriftliche
Böllerfamilie, ein Europäifches Gemeinwefen unter bem
lirchlichen Supremat bes päpftlichen Stuhls und ber welt⸗
lichen Spike des neugefchaffenen Römtfch - Germanifchen
Kaiſerthums zu bilden. War Frankreich ftolz, der erfiges
borne Sohn der Kirche zu heißen, fo erkannte e8 eben damit
das Bruberverhältniß an, in welchem es zu ben übrigen
Söhnen der mächtigen Mutter, ven Völlern und Staaten
des Südens, Nordens und Dftens ftehe. Seriege umter den
Brudervölkern durften nur noch vorübergehende Erjcheinun-
gen fein; ein permanenter Kriegszuſtand zwifchen zwei Glie⸗
dern der großen Familie war im Grunde nicht mehr denk⸗
bar. Die Eoncilten waren zugleich Congreſſe ver Nationen.
Ward ein heidnifches Volt chriftlich und begann es fein ge⸗
fettfchaftliches und ftaatliches Leben chriftlich zu geftalten,
fo wurde fein Häuptling oder Herzog vom PBapfte zum Kö⸗
wig erhoben, von ber Sirche feterlich geweiht und gekrönt,
und damit trat das Bolt als ebenbürtiges, vwollberechtigte®
Glied in die chriftfiche Völferfamilie ein. -
Dergeftalt war das Problem gelöft, und der Gedanke
verwirklicht, ven Griechen und Römer für eben fo unfinnig
als unmöglich erflärt hatten: eine Menge von Völkern durch
die Gemeinfchaft Eines Glaubens und Eines Gottesdienſtes
1 *®
—
4
und durch bie Bande einer Alle umfaſſenden lirchlichen
Organifation zu einem großen einheitlich geleiteten Ganzen
zu verfnüpfen. Es war zu erwarten, daß ſtarke Reactionen
einzelner Nationalitäten nicht ausbleiben würben. Jene
lange und blutige Verfolgung, welche in Perfien unter ben
Königen der Saſſaniden⸗Dynaſtie über die Chriſten ver-
hängt wurbe, war eine foldhe Reaction. Man baßte und
fürchtete pie fremde, unperfifche, aus dem Gebiete bes al«
ten Grbfeinds, des NRömer-Neiches eingebrungene Religion,
und wollte ihre Belenner als Menfchen, bie mit dem Per⸗
ſiſchen Nationalcult auch ven Berfiichen Patriotismus weg⸗
geworfen hätten, ausrotten.
Der Donatiftifchen Spaltung mifchte ſich bald ein na-
tionales Element bei. Diefe Losreifung von ber Kirche
und ihrem Mittelpunkte zu Rom, bie fich in Norbafrifa voll⸗
zog, in ber ganzen übrigen chriftlichen Welt aber zurückge⸗
wiefen wurbe, war ein Auflobern bes Norbafrilanifchen
Volksgeiſtes, ber fich eine eigene reine Landeskirche im Ge⸗
genfage gegen bie übrigen, angeblich unvein gewordenen und
abgefallenen Kirchen einrichten wollte. In ähnlicher Weife
warf fih bie Aeghptiſche Nationalität in ben großen chriſto⸗
Iogifhen Kämpfen feit vem fünften Jahrhundert der mono»
phnfitifchen Lehre in die Arme, und brachte es zu einer eignen
national-Toptifchen Kirche, die von ber Tatholifhen Welt
völlig gefchieden blieb, und deren Trümmer, freilich in kläg⸗
6
ticher Verlommenheit, noch heute fortbeftehen. In Armenteit
erzeugten gleiche Urfachen gleiche Wirkungen.
Später, feit dem zwölften Jahrhundert, vollzog ſich
allmälig die Trennung und Ifolirung der Kirche des Byzan⸗
tinifchen Kaiſerreiches. Dort herrfchten zwei Gewalten,
venen bie Verbindung mit der Gefammtlicche und mit Rom,
und bie baburch bebingte Abhängigkeit und Beſchränkung
gleich unbequem war: die faiferliche und bie der Patriarchen
von Konftantinopel ’). Die lehtere ftrehte, ihre geiftliche
Macht über alle Bewohner des Neiches bis zur abfoluten
Alleinherrſchaft zu erweitern. Die Kaifer aber wollten ihrer-
feitS die Kirche und vor Allem den Patriarchen felbft als
ein politifch brauchbares Werkzeug zu freier Verfügung in
igren Händen haben. Unter folchen Zuftänven entwickelte
fh der Byzantinismus, das heißt jener national⸗poli⸗
tifche Geift des Griechifchen Kaiſerreichs, deſſen beide Fak⸗
toren der Abfolutismus der Kaifermacht über Staat nnd
Kirche nnd der Dünkel, die hoffärtige Selbftüberhebung bes
Bolkes, waren. Die Bhzantiner betrachteten ihre Kaiſer
als die Nachfolger ver alten Römifchen Imperatoren. Ieber
?) Die gewöhnliche Anficht, wonach Photius und Cerulerius bie
Urheber ber Trennung waren, ift doch nicht ganz richtig; noch
im zwölften Jahrhundert fand vielfach Gemeinſchaft bes Gottes⸗
bienftes zwiſchen Griechen und Lateinern ftatt; fo im I. 1147,
ale König Ludwig VII. von Frankreich nach Konflantinopellam.
6
war ein neuer Konftautin, berechtigt zu berrfchen über Oft
und Weft, fowelt nur die Grenzen des alten Imperium ſich
erftredten. Die Grundung bes abendlänbifchen Kaiferthums,
bie Ablöfung Staliens, die Selbftftänbigteit der Päpfte,
welche fernerhin weder Unterthanen des Kaifers zu Konſtan⸗
tinopel fein wollten, noch fein konnten — alle dieſe Dinge
waren in ben Augen ber Griechen Auflehnungen, Uſurpa⸗
tionen, Attentate gegen die älumenifche Macht des von Gott
zum Haupt der ganzen Chriftenbeit beftellten Kaiſerthums.
Das Volt aber hatte, wie man ihm fagte, mit ver Sprade
auch die Erbfchaft ver claffiich-griechifchen Literatur und Bil⸗
bung überkommen; vornehm und felbitgefällig blickte es auf
alle Nichtgriechen als Barbaren herab.
In der vollftändigen Beherrſchung der Kirche ihres
Reiches giengen die Kaifer, befonders feit ver Erhebung ber
Kommenen » Dynaftie, noch weiter, als es fpäter die Aufft-
fen Czaren taten. Gerne ließen fie es geſchehen, baß ber
Batriarch faft ſchrankenlos über Biſchöfe und Geiftliche ge⸗
bot; aber fie ernannten ihn und fetten ihn nach Gutbänlen
ab. Jeder Kaifer war ein geborner Theologe‘), er ftanb
über den Kanonen ber Kirche wie über ben Staatsgefeken").
1) So fagt ber Geſchichtoſchreiber Cinnamus p. 521. Die Natur
Sottes erforichen zu wollen, fei Niemanden geftattet, als bem
Doktoren, ben Biſchofen und ben Kaifern.
!) Balsamon ap. Bevereg. Cod. Canon, I, 888.
7
Durch ihre Salbung und kaiſerliche Würde Hatten fie, wie
IJſaal Ungelus (reg. ſeit 1185') exflärte, auch das
Borfteheramt in Sachen ver Tirchlichen Lehre und Disciplin
überfommen. Kurz fie waren, mit Ausnahme der Salra-
menten-Spenbung, im Beſitz glier kirchlichen Amts⸗ und
Regierungsrechte, und das neue Byzantiniſche Staats⸗ und
Hofticchenrecht Hatte das Alles in fchulgerechte Theorie
gebracht. *)
Gegenüber dem regen Leben, ber jugenvlichen Friſche
und erpanfiven Kraft des Dcciventes zeigte der Byzantinis⸗
mus jene altersſchwache Unbeweglichkeit und hochmüthige
Erflarrung, die nichts mehr zu lernen fählg, ebenfo fteril
als ohnmächtig zur Verbeſſerung der verrotteten inneren
3) Kowos ı@y Exxinowy drtotnuovagxns zul ov xal 090-
nualousvos, jagt Demetrine Ehomaterne ap. Leunolav.
jur. gr. rom p. 817.
2) Sinzelne Männer fühlten e8 wohl, welches Unheil durch biejes
kaiſerliche Papſtthum über bie Kirche gekommen fei, aber es
feinen ihrer nur Wenige geweien zu fein. Das Stärkſte,
was mir aufgeftoffen, ift bie Aeußerung bes Erzbifchofes Simeon
von Theſſalonika (ap. Morin. de ordin. p. 138, ed
Amstelod.), ber die Verkehrung ber kirchlichen Ordnung durch
die Anmaßungen und Eingriffe der weltlichen Macht als bie
Urfache des Berfalle des Reiches umb ber Nation darſtellt.
„Darum, jagt er, find wir vor allen Völkern ohnmächtig und
verachtet geworben, Darum höhnen uns unjere Feinde und ber-
zehren unfere Saaten vor unferen Augen unb befiten unſere
Heiligthumer unb geweihten Stätten“ u. f. w.
8
Zuftände war. Wie ein entibronter Herrſcher ober ein
feines Beſitzes beraubter Eigenthümer blidte er auf Rom
und das unrubige. Zreiben der lateinifchen, Halb oder
ganz barbarifchen Welt. Das große Blutbad, welches
im Jahre 1182 die zahlreichen .Lateiner in ber Hauptſtadt
vertilgte, war ein Ausbruch des nationalen Haffes, der dann
unvertilgbar Wurzeln ſchlug, als biefelben Fremden mit
Heeresmacht den Sriechifchen Thron umftürzten und das
Iateinifche Kaifertbum in Conftantinopel aufrichteten. Im
folher Stimmung und Lage wurden dann alle, auch die
geringfügigften Differenzen in ber dogmatiſchen Ausdrucks⸗
weile, im Ritus und im kirchlichen Leben forgfältig hervor⸗
gefucht, wurben cultivirt und erweitert; es war förmlich
eine Trage der Nationalehre geworben, die Lateiner der
Kegerei befchuldigen zu innen, man erfand eigene rituelle
Formen, um die Befleckung, weldhe vie Berührung ber
Lateiner mit fich bringe, recht bandgreiflich auszudrücken,
man ftellte felbft im täglichen Sprachgebraudhe Chriften
(nämlich Bhzantiner) und Lateiner einander gegenüber; in
der Hauptſtadt ſchwätzten felbft Die Weiber, die Tagelöhner
und bie Schullnaben vom Ausgange des heiligen Geiſtes,
denn um biefe abfteufe und nur dem geübteften Theologen
einigermaßen faßliche Frage drehte fich zuletzt bie Contro⸗
verje zwifchen beiden Kirchen. ‘Da waren benn bie jpäteren
Griechifchen Kaifer, durch die Noth Hüger geworben als ihre
9
Vorgänger, nicht mehr im Stande, ben Riß zu heilen.
Sie unterlagen im ungfeichen Kampfe mit einem National-
willen, der, in allem Uebrigen impotent, in biefem einen
Pantte des Antilatinismus fih 36h und unbezwingbar er⸗
wies. Die Union von Florenz, ward wieber zerriffen; bie
Sophienfirche mußte zur Mofchee werben.
Selbft jene verberbliche Spaltung, welche gegen Ende
des vierzehnten Jahrhunderts durch die Wahl eines Franzö⸗
ſiſchen Gegenpapftes die Kirche Über 40 Jahre lang zerrüt-
tete, ging aus rein nationalen Intereffen hervor. Denn
es handelte fich dabei im Grunde nur barum, ben päpftlichen
Stuhl und die Curie im ausfchließlichen Beſitze der Fran⸗
zöfiichen Nation, auf Franzoͤſiſchem Boden und unter dem
überwiegenden Einfluße ver bortigen Regierung zu erhalten.
Und kaum war diefe Wunde geheilt, al8 in ber huffitifchen
Bewegung wiener ein Anlauf zur nationalen Abjonberung
and Bildung einer partitulären Volkskirche genommen wurbe;
Ezechifche Antipathie gegen die Deutjchen batte von Anbe⸗
ginn an den größten Antheil an biefem Verſuch einer firch-
lichen Reugeftaltung, die denn auch auf den Czechiſchen
Bolksitamm befchräntt blieb.
Als mit dem Auftreten Luther's jene gewaltige Be⸗
wegung begann, welche bie ganze, bisher vereinigte abend»
länvifche Ehriftenheit fpaltete, ala nene Kirchen mit einer
von ber alten, völlig abweichenden Lehre und Verfaſſung
10
fih bilveten, da war es im erften Anfange nicht ber Trieb
und das Sonberinterefie der Nationalität, was die Refor⸗
mation und bie Anflehnung gegen Bapft und Kirche erzeugte
und förderte. Das Deutiche Volt hatte eine Neihe vom
Jahrhunderten hindurch ſich tief und mit vollftänpiger
Hingabe in den Geiſt der Tatholifchen Religion verſenkt,
es hatte feine Kirche zu der reichſt ausgeftatteten der
ganzen Welt gemacht; es hatte fich eine ganz dem Deutfchen
Geifte entjproffene und doch rein Tatholifche Literatur ges
fchaffen. Aber im Beginne des fechzehnten Jahrhunderts
Batte ein tiefer Unwille über das damalige Papſtthum und
eine nicht ungerechte Entrüftung über die Mißbräuche In
ber Kirche und bie fittliche Verfuntenheit eines viel zu zahl⸗
reichen, viel zu reichen Klerus weit in Dentſchland um fidh
gegriffen. Das Nationalgefühl des Deutfchen Volles war
fhon feit geraumer Zeit verlegt durch vie Behandlung,
weiche Deutſche Perfonen, Dinge und Intereffen in Rom
erfuhren, und durch vie Rolle, welche Deutjche Könige und
Raifer jeit dem vierzgehnten Jahrhundert dem Römifchen Stuble
gegenüber fpielten. Dieſer Geſinnung bot fich der gewaltigfte
Volksmann, der populärfte Charakter, ven Deutfchland je |
befeffen, der Auguftinermönd von Wittenberg als Führer
und berebter Sprecher dar. Zugleich Hatte er in ber vom
ihm geichaffenen Lehre von der Rechtfertigung einen Hebel
von wunderbarer Stärke gefunben, mitteld deſſen er bie
11
noch immer große Anhänglichfeit des Volles an bie katho⸗
fifche Religion zu zerftören und ihm einen freubig unb be
gierig ergriffeuen Erfah fir das Verlorene zu reichen ver⸗
mochte.
Dabei bat es aber Luther fehr wohl verftanven, das
Deutfche Nationalgefühl und eine, damals in ftärlerem Maße
vorhandne Abneigung gegen bie Italieniſche Nation in ben
Dienft feiner Sache zu ziehen. Das zeigen feine zahlreichen
Aenkerungen über die „Wahlen“ mie er bie Sytaliener zu
sennen pflegt. Es ift Yaum ein Lafter, das er ihmen nicht
nachfagt, und gerne verweilt er bei ihrem angeblichen Hoch⸗
muth und ihrer Verachtung ber Deutfchen,, vie in ihren
Augen nicht einmal Menfchen find.')
Die nun die Trennung vollzogen, das neue Kirchenwe⸗
fen befeftigt war, bie gewaltige Bewegung in Deutſchland
zu einem Stillſtand und Abſchluß gelommen war, ba fand
fich, daß es denn doch nur die Hälfte Deutſchlands wer,
welche der Intherifchen Lehre fich ergeben hatte. Die andere
Hälfte blieb, ober wurbe wieber fatbolifh. Der proteitan-
tifche Theil fpaltete fich wieber, indem ver Calvinismus in
einigen bisher Iutherifchen Gebieten eingeführt wurde. Im
Ganzen und Großen jeboch Blieben die Deutfchen, fe weit
) Man vergl Luther’s Werke, Wald. Ausg. XIV, 278. XIX,
1156. Xxil, 2366. 1, 1429 u. a.
12
pie Losfagung von der alten Kirche reichte, ber Iutberifchen
Lehre zugetban, bie caloinifche war ihnen eine unbeutfche,
ausländiſche und befriebigte nicht ihren religiäfen Sinn,
währenb bie Iutberifche in ven zwei erjten Jahrhunderten
feit ihrer Entftehung als das eigenfte Erzeugniß des Deut⸗
fhen Geiftes in religiöfen Dingen empfunden und umfaßt
wurde, Außer Deutfchland waren es nur bie ſtammver⸗
wandten Scanbinavifchen Staaten, welche bie Intherifche Form
des Proteftantismus bei fich einführten, während anbrerfeits
die calvinifche Form großentheils nur dem von einzelnen
Furften ausgeübten Zwange ihre Exiſtenz und Verbreitung
auf Deutfchem Boden verdankte.
Zu einer lutheriſchen Nationallirde kam es indeß in
Deutfchland nicht. Einmal hatte man grundfäglich die ganze
Kirchengewalt, wie fie in ber Yatholifchen Kirche vom Pri⸗
mat und Epifcopat ausgeübt wurbe, ven weltlichen Fürſten
und (in ben Neichsftäbten) ben ftäbtiihen Behörden zuges
wiefen, fo daß alfo fo viele für ſich ſtehende Kirchen, als
Staaten und Landesgebiete fich Bilden mußten, “Jeder Fürft
oder reichsunmittelbare Edelmann war nun Fapft und Bi
ſchof in feinem Lande oder Ländchen. Er war im Grunde
noch mehr: er konnte auch bie Religion feiner Unterthanen nach
Gutdunken verändern, und die pfäßifchen Kurfürften haben bins»
nen Einem Mienfchenalter viermal die Religion ihres Landes mit
Zwang, mit Abfegungen und Berbannungen geändert. Dann
13
aber war im proteftantifchen Deutfchland unter dem Einflufle
der lutheriſchen Lehre ver lirchliche Trieb fo abgefchwächt,
bag in drei Yahrhunderten nicht einmal ein ernftlicher Ver
fu zur Herftellung eines alle Zutheraner umfaſſenden kirch⸗
lichen Bandes und einer gemeinfchaftlichen kirchlichen Aktion
gemacht wurde.
Dan begnügte fih mit dem Bewußtfeln, im Allein-
befige der reinen Lehre zu fein, worunter vor Allem bie
augerechnete Gerechtigkeit und bie barauf gebaute unbebingte
perfönliche Heilsgewißheit verftanden wurde. Dieſe bieß
„sad Evangelium”. Im Vebrigen tröftete man fich über
bie Hägliche Beichaffenheit, die Zerrifienbeit und territoriale
Knechtſchaft des Kirchenweſens mit ber vorausgeſetzten Herr⸗
lichleit der unſichtbaren Kirche, bie Alles das in reicher
Gülle und idealer Bolllommenheit befike, was ber ficht-
baren abgebe.
Im übrigen Europa hatte bie Iutherifche Lehre ent-
ſchiedenes Mißgeſchick; fie wurbe zurückgewieſen, oder mußte
ber calvinifch- veformirten Lehre weichen. Zwar fielen ihre
die Sachfen in Siebenbürgen zu; nach Ungarn und Polen
bahnten ihr Deutſche Stäptebemohner den Weg. Aber auch
bier brachte fie es boch nur dazu, das DBelenntniß einer
Heinen Minorität zu werben, und überall ſah fie fich von
dem confequenteren und, was die Hauptſache war, noch
tröftlicherem Calvinismus überflügelt und verbrängt. So
14
in den Niederlanden und in Frankreich. Es ift daher rich“
tig, wenn neuerlich gefagt wurde: „bie Lutheriſche Kirche
ift fo durch und durch wefentlich vom Deutfchen Charakter
bedingt und veranlaft, daß fie in einem andern Lande und
unter anders geftalteten Volksverhältnißen gar nie exiſtiren
könnte. Die Schotten z. B. werben nie Lutheraner werben,
fo lange fie Schotten find“). Nah Schaff's Bemerkung
verliert das Lutherthum mehr oder weniger von feinen ur⸗
fprünglichen Zügen und affimilirt fi unvermerlt der refor⸗
mirten GSonfeffion, fobald es durch Emigration auf Franz
ſiſchen, Englifchen, oder Amerilanifchen Boden verpflanzt
wird. Man febe vieß, fügte er bei, recht beutlich in ben
Vereinigten Staaten, wenn man ben anglificirten Theil der
Iutherifchen Denomination mit den ansländifchen Deutfchen
Synoden von Miffurt und Buffalo vergleiche, *)
Calvin tft ebenfo entfchieven der Schöpfer des foge-
nannten reformirten Lehrbegriffes, als Luther der Ur⸗
beber des nach ihm genannten ift. Nur hatte Calvin Zwingli
zum Vorläufer, während Luther an Niemanden anlnüpfte,
Niemanden etwas verbanfte. Calvin vermochte aber in
feinem Vaterlande, Frankreich, bie Erfolge und demnach
auch die hohe Stellung nicht zu erringen, welche dem Deut⸗
1) Allgemeine Kirchenzeitung vom 15. Mai 1855.
?) Germany; its Universities, Theology and Religion. Edin-
burgh 1857, p. 168.
15
ſchen Reformator in ber Helmat zuflel. Die große Mehr⸗
zabl feiner Lanpslente bebarrte babei, in ihm nur ben
Etifter einer Irrlehre und falfchen Kirche zu fehen. Den
übrigen Nationen aber, welche in ihrer Geſammtheit oder
theilweife feinem Syſteme ſich unterwarfen, blieb er doch
immer ein Auslaͤnder, und das Nationalgefähl ließ es nicht
zu, daß die Landeslirche fich fchon durch ihren Namen als
das Wert eines Fremden befannte. Man wollte daher nur
von einer reformirten Kirche wifjen, während ver Deutſche
Broteftaut, in dem Bewußtſein, daß Luther Fleiſch von
feinem Fleiſch und Bein von feinem Bein, daß er ber au«
tochthone Prophet der Germanen fei, fich mit Befriedigung
einen Lutheraner und feine Kirche bie Iutherifche nannte.
Im Ganzen brachte es die calvinifche Kirchenform, ba
fie von Haus aus nicht das Gepräge einer beftimmten Na-
tionalität trug, zu einer größeren Verbreitung, als die lu⸗
therifche. Schottland wurde ber großen Mehrbeit feiner
Bewohner nach calvinifch; in den Nieberlanden und in der
Schweiz war es bie größere Hälfte ver Bevölkerung, welche
den Proteftantismus in biefer Lebrform annahm. Sm
Deutfchland gewann der Calvinismus in ver Pfalz, in Ans
halt, Helfen, Bremen, endlich auch in den Brandenburgifchen
Ländern (feit dem Uebertritte Sigismunds 1614) Cingang.
In Ungarn wurben bie Magyaren, foweit fie von ver alten
Kirche fih abwandten, größtentheils calviniſch. In Frank
16
reich war, bis zur Einverleibung des Elſaſſes, calviniſch und
_ proteftantifch gleichbebentenb. Die Kirchen diefes Belenntnifſes
blieben jeboch nach- Ländern von einander getrennt, in ber
Schweiz felbft nach Eantonen. Nur einmal fand ein Zuſam⸗
menwirlen und eine große Repräfentation aller over ver meiften
auf Grund der caloinifchen Lehre erbauten Genoſſenſchaften ftatt.
Das war auf der Dorbrechter Synode im Jahre 1618, als
es galt, den Ächten Galvinismus in feinen praftifchen und
ben Maſſen erwünfchteften Lehrbeftimmungen gegen vie
Alterationen der Arminianer zu fehirmen und zu bejtätigen.
Dieß war zugleich der Höhepunkt ber calvinifch -Tirchlichen
Entwicklung. Bon da an begann bie innere bogmatifche
und kirchliche Zerſetzung.
Als dritte Hauptform des Proteſtantismus und mit
völlig nationaler Färbung und Abſchließung geſtaltete ſich
bie biſchöfliche Staatskirche in England. Ganz ver⸗
ſchieden vom Lutherthume, im Dogma anfänglich überwie⸗
gend calvinifch, in der Verfaffung ein Gemifch Tatholifcher
und proteftantifch » territorialiftifcher ober cäfaropapiftifcher
Prinzipien und Einrichtungen, in ihrer Liturgie mehr Tathor
liſch, in ihrer Belenntnißfchrift, ven 39 Artikeln, mehr pro⸗
teftantifch, litt fie an inneren Widerfprüchen, glich fie einem
aus fehr heterogenen Stoffen errichteten Gebäude und konnte
fie nur durch die ftarfe Hand des Staates vor bem Aus⸗
einanberfallen bewahrt werben. Der Kampf mit ven calvi-
nifchen nach völliger Herrfchaft ringenden Elementen: wurbe
eine Zeit lang in ihrem Schooße gejtritten, führte aber allınd-
lig zur Ansfcheivung ber Puritaner umb zu bem großen
Dürger- und Religionsfrieg des 17. Jahrhunderts. Zuletzt
gaben fich die folgerichtig proteftantifchen Parteien, Presbp-
terianer, Congregationaliſten, Baptiften, ihre eigne Verfaffung,
ſtellten fich als felbfiftändige Kirchen ver Staatslirche gegen-
über; dieſe aber fchloß fich gegen alle proteftantifchen Ge⸗
noflenfchaften des Eontinents, wie Englands vergeftalt ab,
daß ein orbinirter Intherifcher oder veformirter Prediger in
England nur als Laie galt und gilt, und berfelbe, um in
den Dienft ver anglilanifchen Kirche zu treten, fich einer
nochmaligen bifchöflichen Ordination unterziehen mußte.
Veberfchaute man nım nach Ablauf des Reformations⸗
Jahrhunderts das Ergebniß der großen Beweguug und ven
Stand der nengebilbeten religtöfen Genoffenfchaften, fo zeigte fich
überall das fiegreiche Princip ber nationalen Sonderfirchen.
„Princip“ ift wohl nicht der richtige Ausprud ; denn man führte
feineswegs planmäßig biefen Zuftand herbei, er machte fich
vielmehr von felbit, er war bie ımvermeibliche Yolge bavon,
daß das entgegengefette Princip, das ber Katholicität, ver
Weltkirche, allerdings mit vollem Bewußtfein aufgegeben
worben war. An die weltliche Macht, an die Hürften und
ihre Beamten war in ben proteftantifchen Ländern bie Fülle
ver Kirchengewalt, die Herrfchaft in religtöfen Dingen ge⸗
v. Döllinger, Papfſtthum.
18
tonmen, bie Reformatoren felbft Hatten es fo gewollt‘), und
bamit mußte jede religiöfe Verknüpfung der Völler aufhören.
In Deutfchland gab es fo viele proteftantifche Kirchen als
Territorien; in jedem war ber Lanbeöherr vie höchfte kirch⸗
liche Gewalt. Wollte man von einer deutſchen lutherifchen
Kirche oder von einer enangelifchen Kicche reden, fo entſprach
biefer Bezeichnung in ber Wirklichkeit nur ein ‚Aggregat von
Lonbeslirchen, deren jebe durch die Grenzen ihres Landes
begrenzt war, und bie in feiner Beziehung ein lebendiges
Ganzes, eine organifch verbundene Einheit darſtellten. In
gleicher Weiſe gab und gibt es in ber reformirten Schweiz
nur Gantonslicchen. Es ift aber, wie ein proteftauttifcher
Dieß wirb jeht häufig in Abrede geſtellt; aber man vergleiche
bo nur bie Wittenberger Konfiftorial- Orbnung vom Jahre
1542, in Richter's Sammlung ber Kirchen - Orbnungen S.
371, bie doch felbftrebenb von Luther und Melanchthon ent-
weber verfaßt ober genehmigt iſt. Darüber fagt Profeffor -
Schenkel: „Auf biefe Weife warb mit Einem Federzuge
bie fo wichtige Kirchen» Discipfin in bie alleinige Hand bes
Staatsoberhauptes, und zwar fo ganz ohne allen Vorbehalt ber
firchlichen Rechte, gelegt, ba Angelegenheiten bes Ge.
wiffene von nun an ganz gleich wie weltliche Gegenſtände
behandelt ımb ganz in ber Form weltliher Proceburen abge»
macht werben follten. Die Unterorbnung der Kirche unter ben
Staat war damit vollendet, und einer ſchrankenloſen Gewiflens-
Tyrannei von Seite des Gtaates Thür unb Thor geöffnet.“
Studien und Kritifen, 1850, ©. 459.
19
Theologe richtig bemerkt, unwahr und ſinnverwirrend, von
Einheit zu fprechen, wo biefelbe immer nur etwas Gefuch-
tes, in Gedanken Vorhandenes tft, ımb wo man nichts
aufzeigen Tann, worin fi) die angegebene Einheit als eine
aumerifche barftell. Einheit und Aehnlichkeit ober Ver⸗
wanbtfchaft find verfchiedene Begriffe‘).
Gewiß find die Nationalitäten nicht Erzeugniffe bes
Zufalls, nicht Ausgeburten einer blind waltenden Naturkraft.
Bielmehr hat in dem großen Weltplan ver göttlichen Vor⸗
ſehung jedes Volk eine elgne Aufgabe zu löſen, ‚eine Mile
fion zu erfüllen, vie es allerdings auch verfennen und in
verlehrter Weiſe hinausführen, ober in Trägheit und mo⸗
raliichem Siechthum verkommend unerfüllt laſſen kann, wor
von und Beiſpiele vor Augen liegen. Dieſe Aufgabe ift
bedingt durch den Charakter nes Volkes, durch die Schranfen,
bie Natur und Umgebung ihm fegen, durch feine eigenthüm-
liche Begabung. Die Art, wie dad Bolt fich der Röfung
berjelben unterzieht, wirkt wieder zurüd auf feine Stellung
und feinen Charakter, beſtimmt fein Wohlergehen, ent-
fcheidet über feinen Pla in ber Gefchichte. Denn jedes
Bolt ift ein organiſch verbundenes Glied am großen Leibe
ber Menſchheit, ein edleres und vornehmeres Glied, viel»
leiht beftimmt, Lenter und Erzieher oder Lehrer andrer
Völker zu werben, ober ein geringeres, dienendes Glied.
1) Ledhler, Lehre vom heiligen Amte. 1857. ©. 139.
9%
20
Jede Nationalität aber hat ein urfprüngliches Recht, fich,
innerhalb leicht erfennbarer Schranken, ohne Beeinträch⸗
tigung anderer gleichherechtigten, geltend zu machen und
frei fich zu entfalten. Die Unterbrüdung einer Nationalität
überhaupt oder in ihren einzelnen natürlichen und legitimen
Lebensäußerungen iſt ein Frevel gegen eine von Gott ge-
wollte Ordnung, ver früher ober fpäter fich rächt.
Höher jedoch als die Vollsgenoſſenſchaft fteht jene Ge⸗
meinfchaft, welche vie Vielheit der Völker zu einer gottge-
weihten Einheit zu verfnäpfen, fie in ein brüberliches Ver⸗
haältniß zu einander zu feßen, alfo eine große Völferfamilte
zu fchaffen berufen tft: bie Kirche Chrifti. Es ift der Wille
ihres Stifters, daß fie jeder Volklsthümlichkeit gerecht werde:
Ein Hirt und Eine Heerde. Ste felber darf daͤher in
ihren Anſchauungen, Einrichtungen und Sitten feine na⸗
tionale Farbe tragen; fle darf weder vorwiegend beutfch,
noch italieniſch, weder franzöftfceh noch engliſch fein, ober
einer dieſer Nationen einen Vorzug einräumen, noch
weniger anvern Völkern das Gepräge einer fremben Natio-
nalität aufprüden wollen. Nie wird es ihr beilommen,
ein Volt zum Vortheil eines andern ausbenten ober be=
ſchädigen, in feinen Rechten und Eigenthümlichleiten ver⸗
Tegen zu wollen. Ste nimmt das Volksthümliche, wie fie
e8 findet, und verleiht ihm vie Höhere Weihe. Sie ift
weit entfernt, alle Nationalitäten in ihrem Schooße unter
21
das Joch einer monotonen Gfeichfärmigfeit beugen, bie
Unterſchiede ber Racen, bes gejchichtlichen Lebensganges,
vernichten zn wollen. Als die fefteite und zugleich bie bieg⸗
fomfte und gefchmeidigfte aller Inſtitutionen vermag fie
Alen Alles zu werben, und jede Nation zu erziehen, obne
ihrer Natur Gewalt anzuthun. Die Kirche geht in jebe
Nationalität ein, läutert fie, befeftigt fie bapurch, und übers
windet ſie nur, indem fie dieſelbe fich affimilirt. Ste über-
windet fie, indem fie bie Auswüchſe des Volkscharakters bes
kaͤmpft, die Verwilderung der nationalen Züge abwehrt.
Sie ift wie das Haus des Baters, in welchen es nach bem
Worte Chrifti viele Wohnungen gibt. Der Pole und ber
Sicilianer, ver Irländer und der Maronit, fie haben dem
Nationalcharalter nach nichts mit einander gemein, und doc)
ift jedes dieſer Völker in feiner Weiſe gut katholiſch. Gibt
es indeß DVöller oder Stämme, bie fo tief geſunken, fo
gründlich verborben find, daß bie Kirche mit allen ihren
Mitteln nichts mehr an ihnen auszurichten vermag, fo wer-
den dieſe allmälig ausfterben und andern Plab machen.
Der Gewinn ift aber ein wechjelfeitiger: mit jebem nen
in den Kreis der Kirche eintretenden lebensfräftigen Wolfe
wirb die Kirche nicht blos numerifch, räumlich und äußer⸗
lich, fondern auch innerlich und dynamiſch bereichert. Je⸗
bes einigermaßen begabte Volk fügt allmälig feinen Beitrag
an religiöfen Erfahrungen, an eigenthämlichen Tirchlichen
Sebräuchen und Einrichtungen, an Verftändniß ber chrift-
lichen Lehre und Ausprägung berfelben im Leben und in ver Wif-
fenfchaft zu dem großen Tirchlichen Kapitale, dem Produkte
früherer Zelten und Nationalitäten Hinzu. Jedes tatholifche Volt
fann von dem andern lernen, kann nachahmenswerthe Ein-
richtungen fremder Nationen fich aneignen. Das iſt, und
meift mit fichtbarem Segen, oft ſchon und auch in jüngfter Zeit
geichehen, und wird künftig bei dem rafch zunehmenden
Vöolkerverkehr und ver fteigenden wechfelfeitigen Kenntniß
in noch höherem Grabe gejchehen als bisher. Auch. längft
untergegangene Bevöllerungen üben in viefem Sinne einen
fortdauernd wohlthätigen Einfluß aus. Noch jett empfindet
bie Kirche dankbar die Nachwirkungen ver altafrikanijchen,
der ägyptiſchen Kirche ber erften Jahrhunderte.
Hienach läßt fi der Gang, welchen vie Gefchichte
des Chriftenthums von Anbeginn bis auf den heutigen Tag
gewandelt ift, ermeffen.
Mit dem erften Hervortreten ber chriftlichen Kirche aus
bem mütterlichen Schooße ber jüdiſchen entwidelt ſich auch
fofort als Grundgeſetz des Tirchlichen Lebens das Princip
ver Katholicität, der Weltreligion, ver Weltlirche, vie für
alle Völfer Luft und Ram, Gefek und Freiheit hat, alle
beruft, alle, die dem Rufe folgen, in fich aufnimmt. Diefes
Princip ift aber ein wahrhaft übermenfchliches, es kann fich
unter den Menfchen nur durch Saftitute, denen eine höhere Kraft
und ein bleibenber Segen einwohnt, befaupten. Es wirb immer
wieder bie gewaltigfien Gegenftrebungen beruntürlichen Menſch⸗
heit hervorrufen. Die centrifugalen Kräfte umb Xenbenzen
erwachen in einzelnen Nationen; fie reißen ſich loe, fie. rich
ten fich Tirchlich nach eigenem Bauriß und Gutbünfen ein,
und erleben nun ihre beſondre Gefchichte, welche ihrerfeits
bedingt ift burch die That ver anfänglichen Trennung, durch
ven Charakter ver Nation, und durch die einmal angenommene
Lehre. Die ſtirche aber wandelt ihre Bahn, bie Mehrzahl
bleibt ihr treu, neue Glieder erfegen bie abgefallenen, unb
fie nähert fi), wenn auch langſam, doch fiheren Schrittes,
wenn auch mit großen Verluften, doch immer wieder anfegend
und fortichreitend, ihrem Ziele: ver abfoluten Katholicität.
Es ift noch in weiter Ferne, dieſes Ziel, fie wird es erft dann er⸗
reicht Haben, wenn fie in jevem heile ver Erde ihre Stätte hat,
wenn das Wort Malach.1, 11 vollftänbig erfüllt fein wird. *)
So einzig ift die Stellung der Tatholifchen Kirche in
Vergangenheit ımb Gegenwart, daß Feine andere Religion
oder religiöfe Genofjenfchaft ihr auch nur von Ferne ver⸗
gliden werben kann. Wohl gibt es außer ber latholiſchen
noch zwei Religionen, bie, weil fie bie Gränzen eines Bolles
ober Staates weit überfchritten haben, auf den Namen
) „Bom Sonnenaufgang bis zum Untergang if mein Name
groß nuter den Völlern unb aller Orten wird ein reines
Speifeopfer meinem Ramen dargebracht.“
24
Weitreligion Anfprnch machen Binnen. Das find bie Mu⸗
bammebanifche unb bie Buddhaiftiſche.) Der Islam jeboch,
Abgefehen davon, daß er eigentlich nirgende bie organtfche
Einheit und Glieberung einer Kirche aufzuweiſen vermag,
tft Durch und durch gefpalten. Den Sunniten fteben bie
Schiiten, vem Sunmitiſchen Hauptreich, dem Türkifchen, ſteht
das Schiitifche Hauptreich, das Perfifche, feinplich entgegen.
Der Buddhaismus, befchränkt auf pas Öftliche Aften, ift ei⸗
gentlich nur eine Religion von Geiftlichen, kennt nur Brüber-
fohaften, keine Gemeinde, Tein organifches Verhältniß zwi⸗
ſchen Geiftlihen und Laien, keine kirchliche Gewalt, feine
Eeremonien ber Aufnahme.
) Man bezeichnet jett gewöhnlich die Bubbhaifttiche als bie zahl⸗
reichfte aller Religionen, und fpricht, indem man ganz China
ale Buddhaiſtiſch rechnet, von 500 Millionen. Das iſt aber
unrihtig. Die Bubbhaiftifche Religion iſt in China eigentlich
nur gebufbet; einen Chineſen zu fragen, ob er Bubddhaiſtiſch
ſei ober nit, wäre, wie Waßiliew (in ben Abhandlungen
ber Petersburger Akademie XI. 356) fagt, lächerlich. Die
brei Religionen, bie des Confucins, der Taoße und bes Buddha
befteben dort nicht nur neben einander, fonbern fo daß fle im
einander verfließen, und ber Chineſe gelegentlich fih an allen
breien betheiligt Es Läßt ſich daher nur fagen, daß es in
China viele Buddhaiſtiſche Bruderſchaften gibt, und daß ei
großer Theil des Volles regelmäßig ober von Zeit zu Zeit
einige Buddhaiſtiſche Gebräuche beobachtet. Dadurch wirb es
beun aber unerläßlich, wenn man bie Religionen ber Menſch⸗
beit in Zahlen ihrer Bekenner mit einander vergleichen will,
von ber Bubbhatfifchen ganz Umgang zu nehmen.
m 0
— — — — — | — — — — — —
So iſt denn bie latholiſche Religion, welche mehr Be⸗
teımer zählt, als alle übrigen chriſtlichen Genoſſenſchaften
zufammen genommen, nemlich gegen 200 Millionen , vie eiu⸗
zige Weltreligion im wahren Sinne und wie e8 früher nur
eine einzige Weltfirche gegeben Hat, fo ift es auch jet
noch und wirb wohl immerbar fo bleiben.
2. Bas Papfithum.
Daß eine Vollerkirche fih ohne einen Primat, eine
oberfte einheitliche Spite nicht zu behaupten vermöchte,
leuchtet wohl jedem ein, und pie Gefchichte hat es beiwiefen.
Jedes Lebendige Ganze forbert einen Mittel» und Ei⸗
nigungspunft, ein Oberhaupt, welches die Theile zufammen-
Bält. In ber Natur und Architeltonit ver Kirche tft es
begränbet, daß biefer Mittelpunkt eine beftimmte Perjän-
lichkeit, der gewählte Träger eines der Sache ober bem
Bebürfniffe ver Kirche entiprechendeun Amtes fein muß.
Wer erklärt: ich erfenne ven Papft nicht an, ich oder
bie Kirche, ber ich angehöre, will für fich ftehen, ver PBapft
ift für uns ein Fremder, feine Kirche tft nicht die unfrige —
ber erflärt eben damit: wir fagen ung los von der allgemeinen
Kirche, wir wollen kein Glied mehr an biefem Leibe fein.
Oper wenn theologifch behauptet wird: es ſoll und darf
überhaupt feinen Primat in der Kirche geben, pas Papft«
Gum ift ein dem Willen Chrifti widerſprechendes Inftitut,
96.
ift Urfurpation, fo Heißt das nur. mit anderen Worten:
die Eine allgemeine, bie Vielheit der Nationen umfaſſenbe
Kirche ſoll nicht eriftiren, ſoll vielmehr auseinanderfallen;
ber normale Zuſtand tft, daß es fo viele verfchlebene Kir⸗
chen gebe, als es Nationen oder Staaten gibt. Run kann
aber ber Zuſtand einer in eine Menge von Volls⸗ ober
Staatsfirchen zerfplitterten Kirche auch nicht einen Schatten
von höherer Berechtigung, von biblifcher Begründung für
fi in Anfpruch nehmen. Dean bat auch nicht einmal ben
Verſuch gemacht, ihn theologifch als einen gottgewollten
zu eriweifen.
Es liegt in der Natur der Dinge, daß eine Staats⸗
firche in ihrer Iſolirung keine Ehrfurcht, eine Pietät mehr
einflößt, daß fie als etwas blos Conventionelles erfcheint,
von dem man, fobalb nur ver ſtaatliche Zwang wegfällt
oder erlahmt, fich mit Leichtigleit und ohne Gewiſſensbe⸗
denken trennt. So wirkt denn das einmal fanktionirte
Princip und Gefeg der kirchlichen Zerfplitterung fort, neue
Kicchengenoffenfchaften entftehen, das Sektenweſen fteht in
DBlüthe, bie Theologen aber ziehen fi, an dem Artilel des
Slaubensbelenntniffes von der Einen allgemeinen Kirche
verzweifelnd, auf eine Abftraction, ein Gedankending, bie
fogenannte unfichtbare Kirche zurück. Da müffen danu
wohlklingende Phraſen von einer „geheimen, heiligen Ge⸗
meinfchaft, einem ſtillen Geifterbunde” ben Abgrund ber
— — — —
27
Kirchenlofigkeit verdecken.) Je zerriffener und troftlofer die
wirkliche Geſtalt der Kirche tft, deſto poetifcher und ſchwung⸗
N) Solcher Bhrafen bebient fih Iufins Müller in bem merkwilr⸗
digen Anflag: die unſichtbare Kirche, in ber deutſchen Zeit
ſchrift für chriſtl. Wiffenfchaft, 1850, ©. 14 fi. Es fält ihm
natärlich Leicht, das Unhaltbare und Verkehrte in ben neueſten
Bemühnngen der lutheriſchen Theologen, eine fichtbare auf bie
Belenner der reinen Iutheriichen Lehre eingefchränkte Kirche zu
gevinnen, aufzumweifen, zu zeigen, baß bie Reformation mit
Gewalt aus der fihtbaren Kirche Hinansgeführt, und zur Auf-
ſtellung des Begriffs ber unfichtbaren Kirche gebrängt babe.
Wenn er nun aber biefen Begriff begründen foll, fo werben
bem Lefer feierliche, aber hohle Rebensarten geboten. Es ifl
„en ſtiller Geifterbund, der unabhängig von Raum unb Zeit,
feiner ſelbſt gewiß auch ohne alle Bürgſchaft änßerlicher Ein-
richtungen — als die fernen und doch nahen, als Die zerftren-
ten unb doch gefammelten, als die unbelannten unb doch be⸗
kannten — buch die Mannigfaltigleit ber Tirchlichen Bekennt⸗
niffe und Berfaffungen binburchgebt, und überall, wo er
ift, das Bewußtſein mit ſich führt, daß biefer Bund Überhaupt
der höchſte ſei, der auf Erben gefchloffen werben kaun u. f. w.
Alſo der „fille Geiſterbund“ ift wirklich anf Erben geſchloſſen,
bat Bemwußtfein von fih u. f. fe Wann, wo iſt er benn ge-
fchlofien worden? An welchem Zeichen Tann man die Genoffen
des Bundes, und köonnen dieſe ſich umter einander erfennen?
Nüchtern und proſaiſch ansgebrüdt würde die Sache etwa lau⸗
ten: es läßt fih annehmen, daß es im jeber ber verſchiebdenen
chriſtlichen Gewofienfchaften einzelne wohlmeinende, Fromme,
ernfllih um ihr Heil bemühte Seelen gebe, und von biefen
hoffen wir, baß fie bei Gott Gnade finden werden. Da nun
aber kein vernünftiger Menſch in dieſem Gebanfen einen Er-
.
U’
veicher läßt fich reben von ber Eintracht unb Liebe in jenen
geheimnißvollen unfindbaren Regionen, wo bie unfichtbare
fat finden wirb für bas Weltinfiitut ber Einen allgemeinen
Kirche mit ihrer fehlen Lehre und ihren Heilmitteln, fo wirb
ein Bund ber Geifter fingirt, und wie ber Stein, ben Rhea
ihren: Gemahl flatt bes Kindes reichte, mit ben Winbeln ber
Rhetorik umwickelt. Bei Jean Paul wirb einem ſchwediſchen
Pfarrer im Winter der Rath gegeben, im Zimmer auf- und
abgehend etwas Orangenzucker zu beißen, um bas ſchöne Welſch⸗
land mit feinen Gärten auf bie Zunge und vor alle Sinne
zu belonmen. H. Müller räth ebenfo feinen Glaubensgenofien,
ben „ſtillen Geifterbund“ in ben Mund zu nehmen, unb fidh
babei bie Kirche zu denken. Daß bie fichtbare Kirche auch
ihre unfichtbare Seite habe, daß gerabe das Beſte und Hei⸗
ligſte an ihr unfichibar fei, das verſteht fich freilich; aber es
ift etwas ganz anderes, Seele und Leib ber Einen Kirche ane-
einanber zu reifen, und als zwei Kirchen einander gegenüber
zu ftellen, nur um fich in ben „ftillen Geiſterbund“ zurückziehen
zu können, wenn man mit ber Einen allgemeinen Kirche zer⸗
fallen if, und bie unliebfame Entdeckung macht, baf ber ab⸗
geriffene Zweig eben nicht mehr zum Baume gehört und Mangel
an Lebensfäften Leibe. Der Tcharfjinuige Richard Rothe bat
e8 (Anfänge ber chriſtl. Kirche, ©. 100) offen herausgeſagt:
„Eine unfichtbare Kirche iſt eine contradictio in adjecto.
Mau kann für fie fohlechterbings keinen Inhalt auffinden, bem
nicht einer von ben beiden Uebelſtänden brüdte: entweber, daß
zu feiner Bezeichnung der fragliche Ausdruck ganz umpaffenb,
ober daß er in ſich ſelbſt kein reeller if. Die Vorſtellung ift
erſt gebilbet worben, weil man faltiſch ben Begriff ber Kirche
in feiner vollendeten Entwicklung als Begriff ber katholiſchen
Kirche aufgegeben hatte.” Daß bie ganze Theorie von ber une
29
Kirche zu Haufe fein foll. Zwar hat dieſer „ftille Geifter-
bund⸗ weder Hand noch Fuß, er fpricht nicht und Hört
nicht, e8 gibt da weder Lehre, noch Zucht, noch Verwaltung
firdlicher Onabenmittel, alle viefe Dinge find freilich auch
entbehrlich, da die Gelfter, deren keiner etwas bon bem
andern weiß, ohnehin nicht aufeinander wirken können, wes
der im Guten noch im Böfen.
Bekanntlich hat man, um fich ber Unterorbnung unter bie
päpftliche Autorität zu entfchlagen, ſchon in ber Reformations-
zeit und neuerlich wieder die Phrafe gewählt: Wir, die wir
uns getrennt haben, ertennen nur Chriftus alsihr Haupt unfrer
Kirchen an. Damit wollte man offenbar fagen, ober man hat
wenigftens in unabweisbarer Conſequenz gefagt: es foll und
darf kein irbifches Amt, Leinen Dienft ber oberften Kirchenlei⸗
tung geben, ober: Niemand iſt berechtigt, Die gemeinfchaftlichen
Angelegenheiten vieler zufammengehörigen und ein Ganzes
bildenden Theilkirchen zu leiten. Für bie Leitung einzelner
fitbaren Kirche eine für bie Genoffenihaft, welche bamit Ernft
machen will, felbimörberiiche ſei, wirb jekt mehr unb mehr
anerlannt. Go heißt es in ben Götting. Gel. Anzeigen, 1843,
©. 224: „Mit ber Theorie von ber unfihtbaren Kirche if
etwas wahrhaft Sectiveriiches in ben Proteflantismus einge
Drungen, was fi) wie natürlih ale jelbfizerfiörenb aus
gewiefen bat, unb nur dem Umſtande, daß fle nicht zur vollen
und allgemeinen Anerlennung gelangt if, haben wir es zu
verbanfen, baß ber Selbfizerftörung Grenzen gelebt find 1
50
Bemeinden over Lokallirchen, allenfalls auch für die Leitung
einzeluer Tirchlichen Abtheilungen ſoll es Aemter und trbifche
Träger verjelben geben, aber für die Leitung der Geſammt⸗
firhe darf kein Amt und Tein Träger deſſelben exiſtiren.
Diefer Plak muß ſtets Ieer bleiben. Ein paſſendes Sym⸗
bol diefer Theorie, wonach das Haupt ver Kirche nur im
Himmel fein, der Kirche nicht allzunahe kommen unb baburch
unbequem werben barf, möchte etwa jener ftattliche Leere
Seffel fein, der in ver prachtvollen altgothifchen Kathedrale
zu Glasgow zur unausfprechlichen Ernüchterung des Beichauers
unter einem großartigen Baldachin jet gerade an der Stelle
fteht, wo ehemals der Hochaltar fich befand. So Hatten
die Manichäer in ihrem Verfammlungsfaale ven ftetö Teer
ſtehenden Lehrſtuhl, Bema, für ihren unfichtbaren Herrn
und Meijter Hingeftelit, und die Gläubigen warfen fich vor
ibm zur Erbe nieber.
Sagt alfo eine Genoffenfhaft: nur Chriſtus ift uns
das Haupt der Kirche, fo heißt pas mit andern Worten:
bie Trennung und Iſolirung der Kirche ift Princip, ift ver
normale Zuftand. Wenn man im gewöhnlichen Reben fagt:
ich überlaffe das Gott, ber mag dafür forgen, fo heißt das
befanntlich: ich kümmere mich nicht um biefe Sache, fie gebt
mich nichts an. Wenn man, wie z. B. neueftens wieder
bie Kirche des Königreichs Griechenland, fagt: Niemand ſoll
Haupt unſrer Kirche fein, als Chriſtus allein, fo läuft
3
bieß aulegt auf vie Marime Hinaus: wir forgen nar für
ums, und kümmern uns nicht um andere Slirchen, Chriftus
mag zujehen, was er mit ihnen anfangen wil. So birgt fich
Binter ber Masle einer fromm⸗klingenden Nebensart am
Ende ver orbinärfte nationale Egoismus.
Es ift eine abjchäßige Bahn, auf ber fich die Kirchen⸗
genoffenfchaften in dieſer Beziehung bewegt haben. Erſt
hieß es bei ven Byzantinern: nur Patriarchen, deren jeber
ein Stück ber Kirche regiert, erkennen wir an, aber feinen
Papft, lein Hanpt ber Patriarchen. Dann kam’ die Engli-
ſche Kirche und fagte: weder Papft noch Patriarchen, blos
Biſchofe. Ihrerſeits erflärten die Proteftanten des Conti
nents: auch keine Bifchöfe, blos Pfarrer und über ihnen
ben Lanbesfürften. Später kamen bie neuen proteftantifchen
Selten in England ımb anberwärts mit ber Erklärung:
Pfarrer können wir nicht brauchen, nur Ranzelprebiger. End⸗
lich erſchienen die „Breunbe” (Duäler) und mehrere andere
nee Genofjenfchaften und Hatten bie Entdeckung gemacht:
auch die Prediger find vom Uebel; jeber fei fein eigener
Prophet, Lehrer und Priefter. Einen Schritt noch welter
Hinab zu tun, ift bis jet noch nicht gelungen; doch foll
man in den Vereinigten Staaten bereits baran ftubieren.
Treten wir indeß ber in ihrer Art fo einzigen, leiner
andern vergleichbaren Inſtitution des Papſtthums etwas näher
und werfen wir zuerft einen Blic auf ihre Gefchichte. Gleich
32
allem Lebendigen, gleich der Kirche felbft, beven Krone un
Schlußſtein es iſt, hat das Papfitfum eine geſchichtliche Ente
wicklung volf bermannigfaltigften und überrafchenpften Wechſel
durchlaufen. Im dieſer feiner Geſchichte aber iſt das Geſetz,
‚ba8 dem Leben ber Kirche überhaupt zu Grunde Iiegt, nicht
zu verfennen, das Geſetz der ftetigen Entwidlung, bes Wachs
ſens von nen heraus. Das Papfitfum mußte alle Ge⸗
ſchicke und Wendungen ber Kirche mit erleben, in jeben
Bildungsproceß mit eingehen. Seine Geburt beginnt mit
zwei mächtigen, inhaltsſchweren und weittragenden Worten
bes Herrn. Der, an ben dieſe Worte gerichtet find, ver⸗
wirklicht fie in feiner Perſon und Thaätigkeit und verpflanzt
das Inftitut in den Mittelpunkt der eben werbenven Kirche,
nad Rom. Hier wächft es in der Stille, occulto velut arbor
aevo, nur in einzelnen Zügen tritt e& in ber Alteften Zeit
hervor, aber immer beutlicher und beftimmter werben bie
Umriffe der Gewalt und firchlicden Thätigleit des Roͤmi⸗
fchen Biſchofs. Die Päpfte find fchon in ber Zeit des
Nömifchen Neiches die Wächter der ganzen Kirche, welche
nach allen Seiten bin mahnen und warnen, verfügen un
richten, binden und entbinden. Man beklagt fich nicht fel«
ten über den Gebrauch, ven fie in einzelnen Zällen von
ihrer Gewalt machen; man wiberfteht, weil man den Papft
für getäufcht hält, man appellirt an den beffer zu Unter-
richtenven, aber man taftet ihre Befugniß nicht an. Ueber»
Haupt aber war das Eingreifen in bie kirchlichen Angeles
genheiten weniger nöthig, brauchten bie Zügel kirchlicher
Leitung weniger firaff angezogen zu werben, fo lange bie ge⸗
fommte Kirche mit wenigen Ausnahmen fich innerhalb
ber Grenzen des Römifchen Reiches befand, und durch bie
karten Bande biefer Staatsorbnung ſo zufanunengefaßt
md getragen wurde, daß es für eine Reaktion ver ohne⸗
hin durch bie Römer-Herrichaft gebrachenen und nieberges
haltenen Nationalitäten im Ganzen genommen weder Ber»
anlafjung noch Ausſicht auf beſonderen Erfolg gab.
Aus dem Chaos der Böllerwanberung und ben Ruinen
des NRömerreihe erhebt ſich allmälig eine neue Staaten»
Ordnung, deren Mittelpunlt ver päpftlihe Stuhl wird.
Damit ergibt ſich unvermeiblich eine neue, von ber früheren
fehr verfchtebene Stellung deſſelben. Das neue chriftliche Kai⸗
fertgum des Occidents wirb durch bie Päpfte geſchaffen und
erhalten. Der Papft wir mehr und mehr durch die Lage
der Dinge, durch ben Willen der Völker und Fürften, durch
die Gewalt ber öffentlihen Meinung dazu gebrängt, als
oberfier Moderator an die Spike des Europäifchen Ges
meinweſens zu treten, das chriftliche Völkerrecht zu ver⸗
fünben und zu beichirmen, internationale Streitigleiten zu
Ichlichten, zwiſchen Bürften und Völkern zu vermitteln,
Frieden unter den Friegführennen Staaten zu fliften. Die
Surie wird ein großes geiftlich-weltliches Tribural Kurz:
v. Döllinger, Payſttihum.
54
die ganze Abendlaͤndiſche Ehriftenbeit bildet in gewiſſem Sinne
ein Reich, an deflen Spike Bapft und Kaiſer ſtehen, jener
jedoch mit fortwährenn ftelgenven, weit überw iegendem An⸗
fehen. Das Streben ver Hohenftauflichen Kaiſer, Stalien
und mit Italien auch ven päpftlichen Stuhl zu unterjochen,
führt zu einem langen Kampfe, aus welchen beide Gewal-
ten, die Taiferliche und bie päpftliche gefchwächt und ver⸗
wunbet bervorgehen, denn auch die Lage des Papſt⸗
thums war feitben in politiſcher Beziehung fchwieriger
und ungünftiger geworben. Das Papſtthum ſah fich
genöthigt, fih mehr und mehr auf Frankreich zu flüßen,
es gieng, als die hochjliegenden Plane Bonifacius VIII.
jerronnen waren, völlig in franzdfifche Hände, auf franzd-
fiiden Boden über, und bamit war ſchon eine Geg enftrebung
der andern Nationen unvermeidlich gegeben, pie hohe Stel-
lung über den Bölkern und Fürften konnte mit Erfolg nicht
länger behauptet werben. Xiefer noch ſank tie Autorität
des päpftlichen Stuhles durch das Franzöfifch » Italienifche
Schisma. Dann kamen bie reformatorifchen, großentbeils
gegen den Drud der Curie gerichteten Beftrebungen ber
Eoncilien im 15. Jahrhundert; fpäter wurben die Päpfte
in die Irrgänge ber Stalienifchen Politik verwidelt. Die
frühere focialspolitifche, univerfale Machtftellung führte,
wenn fie geltend gemacht werben follte, zu Bebrängniffen
und Niederlagen. Ste zerbrach vollends in ben Stürmen
35
des Reformationszeitalters. Von da an erbielt ganz Eur
topa eine neue Geſtalt. Mächtige, innerlich fich feft zur.
ſanmenſchließende Stantölörper, ein eignes Intezeffe, eine
beftimmte Politik verfolgend, traten in. den VBorbergrund:;
Ein neues. Bleichgewichtefuften bildete fich unter ſchweren
Kämpfen aus, und ber päpftlicde Stuhl Ionnte in biefem
Gewirre blos politiicher Intereffen und ver bald verbün⸗
deten, bald feinblich ſich abſtoßenden proteflantifchen und
katholiſchen Staaten nicht länger der Regulator des Euros
päifchen Gemeinweſens, ver Mittelpuntt ber allgemeinen
Politik fein. Die Paͤpſte zogen fich alfo immer mehr auf
das rein kirchliche Gebiet zuräd. Sie Tonnten ven ueuen
Principien gegenüber, welche durch den Proteftantisnns im
das Europäifche Staats⸗ und Völkerrecht eingebrungen
waren (Zerritorialfuften und ähnliches), fich nur ablehnend
verhalten. So ift ed bis auf die neuefte Zeit geblieben.
Auf kirchlichem Gebiet ift der päpftliche Stuhl gegenwärtig
fo kräftig und ftark, fo ficher und frei walten, als er es
nur jemals war. Die Gefahren und Bebrängniffe Itegen
für ihn in ben weltlichen Dingen, in ber Lage Stalteng,
dem Beſitze des Kirchenſtaats.
Was ift nunin der Gegenwart bie eigentliche Funktion,
der Beruf des Papſtthumes und warum ift ber ganze Bes
ftand der Kirche auch jet noch und in Zukunft fo unauf-
3%
dB
loelich an die Eriftenz und freie Handhabung der paͤpft⸗
Uchen Autorität gefnäpft?
Die Tatholifche Kirche iſt der reichfte und mannigfal-
tigfte Organismus. Ihre Aufgabe tft Leine geringere als
bie Lehrerin und Bilbnerin ber Boller zu fein. So fehr
ſie fih Hierin gehemmt fehen mag, fo befchränft das Gebiet
fein mag, bad man ihr in dieſem ober jenem Staate übrig
gelafien hat: bie Aufgabe bleibt Immer biefelbe unb bie
Kicche bebarf dazu und befigt eine Fälle von Kräften, eine
Dienge von verfchtebenartigen aber boch auf das gleiche Ziel
gerichteten Einrichtungen, deren fie noch dazu immer neue
erzeugt. Alle dieſe Kräfte, dieſe Inſtitutionen, dieſe geift-
lichen Körperſchaften und Vereine erfordern eine oberſte,
mit fefter und ſtarker Hand geführte Leitung, damit fie har⸗
monifch in einanbergreifen, bamit fie nicht ausarten, nicht
ihrer Beſtimmung fich entfremben, nicht felbitmörberifch
ihre Kräfte gegen einanber ober gegen bie Einheit und
bas Gedeihen ver Kirche felbft kehren. Nur ver kirchliche
Primat vermag dieſe Aufgabe zu erfüllen, nur pas Papftthum
tft im Stande, jebes Glied in feiner Sphäre zu erhalten,
jede etiva eingetretene Störung wieder auszugleichen. |
Dazu lommt eine andere ebenfo wichtige als fchwierige
Aufgabe, bie dem päpftlichen Stuhl zu Löfen obliegt.
Dem Bapfte nämlich kommt es zu, der Staatsgewalt
und den Fürften gegenüber bie Rechte ber einzelnen Theillirchen
871
zu vertreten unb zu wahren, zu wachen barüber, daß die
Kirche nicht durch Verflechtung mit dem Staate in ihrem
Befen alterirt ober verfämmert, in ihrer Kraft nicht gelähmt -
werbe. Hier wirb neben ber Stimme und Altion ber zu
nächft betheiligten Theilkixche die Dazwiſchenkunft ber ober»
ſten Tirchlichen Autorität unentbehrlich. Indem diefe außer
und über ven Gonflikten fteht, bie etiwa zwifchen ber betref«
fenven Kirche und ber Staatsgewalt eingetreten, vermag nur
fie in ihrer hoben unantaftbaren und ruhigen Stellung mıb
im Befite ber reichften durch Jahrhunderte kirchlicher Re⸗
gierung gewonnenen Erfahrung bie Anſprüche beider Theile
auf das richtige Maaß zurüdzuführen, und ber Schwäche
bes einen Theils, der fonft unter ber Wucht ber mannig«
faltigen, dem mobernen Staate fo reichlich zu Gebote ſteh⸗
enden Zwangs- und Verführungsmittel erliegen müßte, als
Stüte und Rüdhalt zu dienen.
Weiterhin ift es bie fchöne, erhabene aber * auch
ſehr zarte und nur in Kraft einer erleuchteten Weisheit und
umfaffenden Menfchenfenntniß zu erfüllende Miffion des
päpftlihen Stuhles, den Eigenthümlichleiten und beſondern
Anfprüden der einzelnen Nationen in der Kirche gerecht zu
werven, ihre Bedürfniſſe zu verftehen, ihre Begehren auf
das Maaß des Kathoktfchen und in bie durch die Einheit
der Kirche geforverten Schranten zurädzuführen.
Das Alles fegt num eine ftarfe, mit mannigfachen Mit
40
muß. Es geſchieht wohl, daß ſchwere Berwällungen, neue
Situationen, für bie Kirche fich ergeben, für welche die be
ſtehende lirchliche Orduung nicht ausreicht, im welchen eine
fung nur gegeben werben Tann durch Ueberſchreitung ber
fonft geltenden Satungen. Wenn es bie Noth erforbert,
fagt Boffuet,, kann der Bapft Alles‘) — natürlich immer
mit Ausschluß deſſen, was gättlicher Ordnung if.
Das anffallenpfte Beiſpiel einer aufßerorbentlichen Au⸗
werbung ber böchften Kicchengewalt, weil das Wohl ver
Rixche fie gebieterifch erheifchte, war wohl der Schritt, den
Bins VIL beim Abfchluffe des franzöfifchen Concordats im
Sabre 1801 that. Mit Einem Feberzuge (durch vie Bulle
vom 29. November d. J.) entfekte er 37 franzdfifche Bi⸗
fchöfe, welche ihre Demiffion zu geben verweigert hatten,
ihrer Würbe, hob alle bifchöflichen Kirchen mit ihren Kapi⸗
ten und Rechten für immer auf, und errichtete fofort zehn
neue Metropolitanlicchen und fünfzig Bisthümer. Ein fo
beifptellofes Verfahren, eine folche Vernichtung wohlbegrün«
beter Rechte ließ ſich nur rechtfertigen burch bie äußerſte
Noth, durch die Pflicht, eine neue Ordnung in ber tief zer
rütteten franzöfifchen Kirche zu fchaffen. Pins felbft Kat
fpäter gegen Dlänner, denen er fein Vertrauen fchenkte, ges
äußert: Unter allen Greigniffen feines wechfelvollen Lebens
*) Defens. declar. 2,20; Oeurres, t. 88, p. 354.
41
fet jener At, zu welchem er fich gezwungen geſehen, bas
was ihm die größte Ueberwinpung geloftet, den tiefſten
Schmerz ihm bereitet habe. Aber vie Nothwendigkelt ber’
von ihm ergriffenen Maßregel war fo einleuchtenn, daß
außer einigen der dadurch Betroffenen jebermann in ber-
Erche fein Verfahren billigte.
Der Wahn, als ob der päpftliche Stuhl eine despotiſch
willtürfiche Gewalt ſich beilege, und fie da ansübe, wo ihn
Die Furcht nicht zurückhalte, ift fo allgemein verbreitet, be⸗
fonders in Deutfchland und England; es ift jo herkomm⸗
ich, das Schrankenlofe dieſer Macht, und die Schug- und
Rechtloſigkeit, in welcher fich einzelne Kirchen und Perfonen
ir gegenüber befänben, zu betonen, daß ich nicht umbin
tann, mit entfcheidenden Zeugniffen biefem Irrthum entge
genzutreten. Vernehmen wir barüber einen Papft felber,
Pius VIL: „Der Papft,u heißt e8 in einer in feinem
Ramen verfaßten anf Deutfchlanb bezäglichen Staatsfchrift '),
„findet fchon in ber Natur und in ver Einrichtung ber
Tatholifchen Kirche, deren Oberhaupt er ift, gewiſſe Grenzen,
die er nicht überfchreiten darf, ohne fein Gewiſſen zu ver-
rathen und jene höchfte Gewalt zu mißbrauchen, welche Jeſus
Shriftus ihm übertragen bat, um fich berjelben zur Erbau⸗
) Esposizione dei Sentimenti di Sua Bantitä, in ber Schrift:
Die neneften Grundlagen der beutich-Tatholifchen Kirchenver⸗
feffung Stutig. 1821, ©. 884.
42
ung, aber nicht zur Zerftörung feiner Kirche. zu bedienen.
Unverlegbare Grenzen für das Oberhaupt ver Kirche find.
die Dogmen des katholiſchen Glaubens, weldye ber römifche
Biſchof weder direkt noch indirekt verlegen darf, und obſchon
man in der katholiſchen Kirche immer den Glauben für un⸗
wandelbar, die Disciplin aber für wandelbar gehalten hat,
fo haben doch die römiſchen Biſchöfe in der Disciplin ſelbſt
ihrem Benehmen immer heilige Grenzen geſetzt, ſowohl da⸗
durch, daß ſie die Verbindlichkeit anerkannten, in gewiſſen
Theilen derſelben nie irgend eine Neuerung vorzunehmen,
als auch dadurch, daß fie andere Theile nicht Abänderungen
unterwarfen, wenn nicht die wichtigften und unerläßlichften
Gründe es geboten. In Beziehung auf dieſe Grundſätze
haben die römifchen Bifchöfe nie geglaubt, daß fie je irgend
eine Abänderung im jenen Theilen der Disciplin zulaffen
Könnten, welche unmittelbar von eins Chriftus angeorbnet
find, ober in jenen, welche ihrer Ratyr nach mit vem Dogma
zufammenhängen, ober in jenen, welche von ben Irrgläu⸗
bigen angefochten werden, um ihre Neuerungen zu unter
ftägen, ober auch in andern Theilen diefer Art, in welchen
bie römifchen Bifchöfe wegen der Folgen, die zum Nachtheile
der Religion unb ber katholiſchen Grundfäge daraus her⸗
vorgegangen wären, feine Veränderungen zulafien zu koönnen
fich verpflichtet glaubten, welche Vortheile man ihnen auch immer
anbieten oder mit welchen Uebeln man fie auch bebroben mochte.
43
„Was ſodann bie andern Theile ver Kirchendisciplin bes
trifft, welche in den berührten Klaſſen nicht begriffen find,
fo fanden bie römifchen Bifchöfe keinen Anſtand, manchmal
Abänderungen in einigen berjelben vorzunehmen; aber immer
geleitet von ben Grundſätzen, auf welchen jene wohlgeord⸗
nete Gefellfchaft beruht, haben fie zu biefen Abänderungen
nur dann ihre Einwilligung gegeben, wenn die Nothwendig⸗
keit oder der Nutzen ver Kirche ed erforberte.u
Ich laſſe noch einen Mann reden, der gewiſſermaſſen
im Ramen einer ganzen Landeskirche, unb zwar bes jüngften
Gliedes der allgemeinen Kirche fpricht, ven erften Prälaten
der Amerilanifchen Kirche, ven gegenwärtigen Erzbifchof von
Baltimore, 3. Patrik Kenrid. Die Gewalt des Papftesu,
fagt er, "wird hauptſächlich ausgeübt in Behauptung ber
ſchon beftehenvden allgemeinen Gefeke, in Regulirung ver
wechfelfeitigen Beziehungen des Stlerus, und in Mildernng
ber Strenge der Disciplin, fo oft örtliche ober perfänliche
Urfachen e8 erheifchen. Die Gläubigen find Binlänglich ges
fchütt gegen ven Mißbrauch ver Gewalt durch die Freiheit
ihres eigenen Gewiſſens, welches nicht verbunden ift, ver
Autorität Gehorſam zu leiften, wenn fie offenbar mißbraucht
wird. Der Bapjt wendet ſich nur an das Gewiffen. Seine
Satzungen und Cenfuren find mer infoweit mächtig, als es
anerkannt wirb, daß fie unter einer göttlichen Sanktion er-
Ioffen feien. Keine Heere ober Staatsbeamte werben dazu
44
verwendet, ihnen Nachbeud zu geben, und in dem falle eines
offenbaren Mißbranchs der Autorität verliert er den einzi⸗
gen Einfluß, durch ven fie wirkſam werben Tönen.“ ')
Das Werk des Erzbiichofs ift überhaupt auch für Eu⸗
ropa eine bemerkenswerthe Erſcheimung, es zeigt, wie bie
zwei Millionen Ratboliten, welche in ben Amerilaniſchen
Sreiftanten leben, ihr Verhältnig zum Bapfte umb zur Ne
publit auffaffen. „Der Gehorfam, fagt Kenrid, welchen
wir dem Papſte fchulden, betrifft bie Angelegenheiten bes
Seelenheils, und hat nichts zu fchaffen mit ver Treue und
Unterwerfung (allegiance) welche der bürgerlichen Regie
zung gebührt. Die Kirche tft inbifferent gegen bie ver»
ſchiedenen Formen ftaatlicher Ordnung. Die Anerfennung
bes Primatd des Römifchen Biſchofs kann auch nicht mit
ber entfernteften Gefahr fir unfere republikaniſchen Inftie
tutionen verfnäpft fein; würbe vielmehr dazu dienen, fie zu
ſtaͤrken und dauerhaft zu machen, indem fie ven Geunf
bürgerlicher Freiheit purch moralifche Bande ermäßigen, und
fo den Uebeln der Zügellofigfeit und Anarchie vorbeugen
würde.‘ ®)
Bor mir liegt eben die neuefte Schrift eines fehr an⸗
gefehenen Mannes, der in Holland an ver Spike einer bes
'!) The Primacy of the Apostolic See vindioated. Philadel-
phia 1845, p. 858.
t) Kenrick’s Primacy p. 475.
45
[2
deutenven Partei fteht, Groen van PBrinfterer. Er er-
Märt fi gegen Stahl, welcher behauptet Hatte: bie welt⸗
liche Herrichaft des Bapftes, und die Verfolgung ber Häre
tler durch bie weltliche Gewalt feien keine Dogmen ober
Glanbensartikel, bezüglich welcher Rom feinen Anfpruch auf
Unfehlbarkeit geltend gemacht babe. Groen will vieß nicht
zugeben : Erft müfle Rom im Prinzip die Unabhängigkeit
und Heiligfeit der weltlichen Gewalt anerkennen, fich nicht
mebr das Recht beilegen, einen häretifchen König abzuſetzen
oder des Succeffionsrechtes zu berauben u. |. w. ed mülfe
anertennen, daß die Bulle Bonifacius VIII. mit ihrer Be»
hauptung von ben beiben in ver Gewalt ber Kirche befind⸗
lichen Schwertern, dem geiſtlichen und weltlichen, nicht
mehr das autbentifche Refume ber von Rom angeftrebten
Dmmnipotenz ſei; es müſſe enblich feine Proteftation gegen
den Weftpbälifchen Frieden zurücdnehmen. Mit allem viefem
werbe aber, fügt er bei, Rom feine eigne Verdammung
ausiprechen. ')
Ih Habe nur darum Hrn. Groen van Prinfterer
aus einer ganzen Schaar von Gleichgefinnten ausgewählt,
weil feine Aeußerungen die neueften find, bie ich gerabe zu
finden weiß, und weil in ber That Hunderte unferer Literaten
das, was er nicht weiß ober ignorirt, eben auch nicht wiffen.
!) Le parti antirevolutionnaire et confessionel. Amsterd. 186).
46
Alſo erftens: Rom fol vie Unabhängigfeit ber welt⸗
lichen Macht anerkennen, und auf das Necht der Abfegung
eines nicht⸗katholiſchen Meonarchen verzichten. Das ift längſt
gefchehen. Der Earbinal Antonelli, Präfelt ver Propaganda
(unter welcher vie Iriſchen Prälaten ſtanden) bat barüber
am 23. Juni 1791 ein Schreiben an bie Erzbifchöfe und
Biſchöfe von Irland erlaffen, worin e8 heißt: „Man muß
ſehr forgfältig unterfcheiden zwijchen ben wahren Rechten
bes apoftolifhen Stuhle, und dem was ihm von Neuerern
jegiger Zeit in feinplicher Abficht imputirt wird. Der Ro⸗
miſche Stuhl Hat nie gelehrt, daß man ven Anverögläubigen
Treue und Glauben nicht halten folle; ober daß ein den
von ber katholiſchen Gemeinfchaft getrennten Königen ge
leifteter Eid verlegt werben pürfe, ober daß es dem Papſte
erlaubt fei, ihre weltlihen Rechte und Beſitzun—
gen anzutaften‘. Diefes Schreiben tft oft genug ge=
brudt worben, und ich wüßte nicht, was noch Deutlicheres
gefagt werben follte.')
Bor einigen Jahren richteten die Bifchöfe der vereinig-
ten Staaten von Rorbamerila auf ihrem fünften Concilium
zu Baltimore eine. Abrefje an ven Papft, worin fie, Klage
3) 3. 8. im Ami de la religion t. XVII, in bem Werte
des Erzb. Affre von Paris: Essai sur la suprematie
temp. du Pape. 1829, p. 508. Und fonft noch.
47
führend über ihre zahlreichen Geguer im Lande, äußerten:
„Sie fuchen ihre Tatholifchen Mitbrüber, bie ihr Blut für bie
Freiheit des Landes vergoffen, dem Argwohn und Haſſe
der Regierung preiözugeben, uub behaupten fäljchlich, wir
flänben unter ber Herrfchaft des Papftes in bürgerlichen
und politiihen Dingen, felen alfo in ver Knechtſchaft eines
fremden Fürften.‘) Man fieht: das tft daffelbe, was tauſend⸗
mol in Deutjchlanb vorgebracht worben, und uoch immer
vorgebracht wird. Der Erzbiſchof von Baltimore, ver dieß
mittheilt, fett bei: Dieſe Abläugnung jeder bürgerlichen
Gewalt des Bapftes, weldhe Viele von uns mit eiblicher
Belräftigung vollzogen haben, wurbe von dem Papfte (Gre-
gor X VL) aufs Befte aufgenommen. Bebarf es noch eines
weiteren DBeweifes, daß vie Autorität, welche wir in ihm
ertennen, eine geiftliche ijt, und in keiner Weiſe und an
der unbebingteften Treue und Ergebenheit gegen die bürger-
liche Regierung hindert!“
Bier und fiebenzig franzöfifche Bifchöfe mit zwei Car⸗
binälen an ber Spige haben am 10, April 1826 in einer
dem Könige überreichten Denkfchrift erlärt, daß fie an ver
alten Lehre ver franzöfifchen Kirche über die Rechte ber
Monarchen und ihre volle und abjolute Unabhängigkeit in
weltlichen Dingen von der direkten ober inbireften Autorität
) Keurick p. 484 führt den Inteinifchen Zert bes Concils an.
48
jeder Ticchlichen Gewalt fefthielten. Der Erzbiichof Affre!)
bat dieſes Dokument wieder abgedruckt.
Kurz vorher, am 26. Januar 1826, hatten die Erzbi⸗
ſchöfe und Bifchöfe von Irland eine ähnliche Erllaäͤrung
ausgeftelit, in welcher fiel jebe direlte ober indirelte Juris⸗
diktion ober Gewalt, welche ber Bapft in weltliden Dingen
in dem britifchen Meiche in Anfpruch nehmen könnte, mit ben
ftärtftien Ausdrücken verwarfen. *) Es verfteht fich, daß biefe
beiden Erklärungen nicht ohne Zuflimmung bes päpftlichen
Stuhles gegeben wurben.
Zweitens: Auf die Worberung beniglich der Bulle
Bonifacius VIII. und die darin aufgeſtellte Theorie von
der geiſtlichen und weltlichen Gewalt iſt kurz zu bemerken,
daß die Zurücknahme oder Abrogation derſelben ſchon einige
Jahre nach ihrer Erlaſſung erfolgt iſt und. zwar durch
Bapft Clemens V.?) Der Erzbifchof Affre von Paris, ver
nachher im Juni 1848 auf den Barriladen in Erfül⸗
fung feines Hirtenamtes eines heldenmuthigen Todes ftarb, hat
(gegen La Mennais) Har eriviefen, daß die Bulle von Clemens
nichtS anderes widerrufen konnte, als eben bie in der Bulle
bes Bonifacius aufgeftellte Behauptung, daß bie Ausübung
!) Affre, essei p. 505.
) Unam sanctam eto. Cie ſteht im lib. VI decretal.
2) Durch bie in bie Deeretalen- Sammlung eingerüdte Bulle
Meruit.
49
ber weltlichen Gewalt ber Eorrection durch bie geiftliche
unterworfen fei.')
Endlich drittens: foll Rom feine Broteftation ge
gen ven Weftphälifchen Frieden zurüdnehmen. Diele
Broteftation iſt in der That ein Lieblingsthema, welches
regelmäßig beiprochen wirb, fo oft e& einen Angriff auf
den päpfilicden Stuhl over bie Tatholifche Kirche in Deutfch-
land gibt. Im Jahre 1846 wurbe mir dieſe Broteftation
als ein fchlagendes Argument in ber bayriichen Kammer
vorgehalten. Und vor nicht langer Zeit hat in ver Pren⸗
ßiſchen Kammer Herr von Gerlach einen Antrag der katho⸗
liſchen Abgeordneten, deſſen Gerechtigkeit er, fo viel ich mich
entfinne, ſelbſt zugeben mußte, mit ver Hinweiſung auf dieſe
Proteftation belämpft.. Es wird daher gerechtfertigt fein,
wenn ich auf den wahren Sachverhalt etwas näher eingebe,
unb weiter aushole. Ich muß nun das parabor klingende
Geſtändniß ablegen: ich freue mich, daß damals doch Ein
Mann in Europa gefunden wurbe, ber gegen jenen Weſt⸗
phälifchen Frieden im Namen Gottes und des chriftlichen
Gewiſſens Proteft einlegte, und daß diefer Mann gerabe
der Träger des höchſten Firchlichen Amtes auf Erben war.
Denn wahrlich nicht deshalb hat der Papſt proteftirt, weil
er etwa überhaupt Teinen gerechten Trieben zwifchen Pro-
1) Affre essai etc. p. 340 ss.
v. Döllinger, Papſtthum. 4
teftanten und Katholilen wollte — die ganze nachherige
Geſchichte hat das Gegentheil bewiefen —, fonbern weil
es galt und für ihn in ver That hohe Pflicht war, gegen
ein tief unfittliches und unchriftliches Princip Verwahrung
einzulegen, welches biefem ganzen Friedensſchluß hinſichtlich
ber religidfen Stipulationen zu Grunde gelegt war. Sch
nteine das XTerritortaliyften, oder das Princip: „Wem
ba8 Land gehört, dem gehört die Religion.“) Leider finb
es beutfche Theologen, beutjche Juriſten geivefen, welche zu⸗
erft die bis dahin in ber chriftlichen Welt unerbörte Lehre
aufbrachten, daß es ein Hecht der Fürſten fet, bie Religion
ihrer Untergebenen nah Gutdünken zu ändern, fie aus
Katholiken zu Proteftanten, aus Lutheranern zu Calviniften
und umgelehrt zu machen. Und wie bereitwillig bie Für⸗
ften von der neuen Doctrin Gebrauch machten, ift befaunt.
In dem mittelalterlichen Staate beftand allerdings auch Re⸗
ligionszwang, aber wie ganz anders war bie frühere An-
ſchauung und Praris im Vergleiche mit ber neuen! ‘Dort
waren Bolt und Fürft Glieder der Tatholifchen Kirche, neben
welcher Teine andere eriflirte. Alle waren einig, baß ber
Staat in feiner engen Verbindung mit ber Kirche keinen
Abfall von derſelben dulden, feine neue Religion einführen
Infien bürfe, daß jeber Verfuch dieſer Art ein Attentat gegen
#) Cujus est regio, illius est religio.
61
bie beſtehende geſellſchaftliche Ordnung ſei. Jede haͤretiſche
Lehre, die im Mittelalter hervorbrach, hatte, klar ausge⸗
ſprochen, oder in nothwendiger Conſequenz, einen revolutio⸗
nären Charakter, das Heißt: fie mußte in dem Maße, als
fie zur Herrfchaft gelangte, eine Aufldfung des beftehenben
Staatsweſens, eine politifche und fociale Umwälzung herbei⸗
führen. Jene guoftifchen Selten, die Katharer und Albis
genfer, welche eigentlich vie harte und unerbittliche Geſetz⸗
gebung des Mittelalters gegen Härefie bervorriefen, unb in
Bintigen Kriegen belämpft werben mußten, waren bie So
cialiften und Communiften jener Zeit. Sie griffen Che,
Familie und Eigenthum an. Hätten fie gefiegt, ein allge»
meiner Umfturz, ein Zurädfinfen in Barbarei und heid⸗
nifche Zuchtlofigfeit wäre die Folge gewefen. Daß auch
die Waldenfer mit ihren Grundfägen über Eid und Strafe
recht der Staatsgewalt fchlechterbings keine Stätte in ver
bamaligen: Europäifchen Welt war, weiß jeber Kenner ber
Geſchichte.
Im Mittelalter waren alſo Recht und Geſetz in reli⸗
giäfen Dingen für Alle gleich. Nicht nur jeder Biſchof,
der Papft felbft, Iehrte man allgemein, mußte, wenn er in
Irrlehre verfiel, abgefegt, und im alle feines Beharrens
gleich jedem Anvern gerichtet werben. ‘Der Stänig wußte,
daß eine Trennung von ber Kirche ihm unfehlbar feine
Krone koſten, daß er fofort aufhören würbe, König eines
. 4*
62
Tatholifchen Volkes zu fein. Nie ift in ven taufend Jahren
por Luther auch nur der Verfuch von einem Monarchen ge=
macht worben, eine anbere Religion, eine neue Lehre in ſei⸗
nem Staate einzuführen, ober ſich In irgend einer Form
bon ber Kirche loszuſagen. Wenn einmal einer, wie Kaifer
Friedrich IL, wirklich ungläubig war, fo ftellte ex Sffentlich
es entfchteven in Abrebe und Tieß fich von Bifchöfen und
Theologen Zeugniffe feiner Orthodoxie ausftellen.
Alles dieß Anberte fihb mit ver Reformation. Die
Reformatoren übertrugen fchon frühe ven weltlichen Für«
fien, der „Obrigleit«, wie fie fagten, die Gewalt über bie
Religion ihres Landes und ihrer Untertbanen. Es ſei Recht
und Pflicht der Obrigfeit, das reine Evangelium und bie
neue Kirche aufzurichten, papiftifches Weſen auszurotten,
und feine fremde Lehre auflommen zu Iaffen. Dieß wurde
den weltfihen Machtbabern bei jeber Gelegenheit einge-
fhärft. Freilich ergab fich Hiemit ein unauflöslicher Wider⸗
ſpruch; denn Luther ftellte es zugleich als heilige Pflicht
jedes Einzelnen, fich in Sachen des Glaubens über jebe
Autorität, vor Allem die der Kirche, dann aber auch bie
ber Fürften wegzufegen, und bloß bem eigenen Gutbänfen
zu folgen. „Obnangefehen aller Menfchen Gebot, fagt er, folle
man feinen Glauben allein richten laſſen; felbft eine Müllers⸗
magb ober ein Kinb von neun Jahren, das nach bem Evan⸗
gelium (d. h. gemäß dem neuen Nechtfertigungsbogma) ur⸗
63
teile, Tönne die Schrift beffer verſtehen, als es Bäpfte,
Eoncilien und alle Gelehrten Tönnten.« "Du mußt felber
beichließen, fagt er anberwärts, es gilt bir bein Lebenu,
a. f. w.') Luther hat es nie verfucht, dieſen Widerſpruch
zu löfen. In ber Praris blieb er dabei, und wurde bieß
nun herrſchende proteftantifche Doctrin, daß die Fürften
das Höchite Nichteramt über Religion, Lehre und Kirche
hätten, und daß es ihr Necht und Beruf fei, jede von ber
ihrigen abweichende Ölaubensmeinung zu unterbräden. Darin
ſtimmten Lutheraner und Reformirte überein. In ber Augs⸗
burgifchen Confeflion Hatte Dielanchthon, der damals gerade
geneigt war, die bifchäfliche Autorität zu erhalten ober
wieberherftelfen zu helfen, es noch zum Amte ver Bifchäfe
gerechnet, bie Lehre zu richten, aber ſchon in der Apologie ’)
find es alle Könige und Fürſten, denen bie Beſchützung und
Handhabung ber reinen Lehre als ein von Gott ihnen über
tragenes Amt zugefchoben wird. Die Lutherifchen Fürften
legten fich denn auch dieſes Recht in der Vorrede zum Con⸗
corbienbuch ausbrüdlich bei, und übten es feitbem im wei⸗
teften Umfange. Auch die calvinifchen Bekenntnißſchriften
geben ber Obrigleit das Recht, Falfcher Lehre zu wehren?)
) Luthers Werte, Wal’ Ausgabe XI, Sermon v. 3.
1622. XI, 1887.
2) Am Ende des Iten Artikels.
3) Die Schweizeriſche Confeſſion im 8Oten, die Engliſche tm
54
und vie wahre zu ſchirmen. Luther felber vechnete ſich das
zum befonbern Ruhme, daß er auf diefem Wege bie welt⸗
lichen Machthaber, welche in ber Tatbelifchen Kirche ihres
guten Mechts beranbt gewefen, in baffelbe eingefegt und fo
ben obrigkeitlichen Stand „Jonberlich herfürgezogen, erleuche
tet und geziert habe. ') Der dänifche Hofprebiger Maſius
weiß es als einen großen Vorzug ber Iutherifchen Religion
8Tten, bie Schottifche Im 24ten, bie Belgifche im B6ten Ar⸗
tikel. Die Ehurbranbenburgifche ftellt bieß gleich an bie Spike
ihres Belenntniffes. In ber Bafeler Eonfeffion heißt es: „hoo
officium gentili magistratui injunctum fuit, quanto magis
christiano magistratui commendatum esse debet, ut vero
Dei vicario.“ Mau berief ſich bafür auf das Beifpiel ber
jübifhen Könige, welche den Götzendienſt abgeichafft hätten.
1) Walch's Ausg. XIV, 520 E. XIX, 2287. Wo ein Dant,
fagt ex, um bie fchänbfiche, verfluchte Welt zur verbienen wäre,
unb ih Dr. Martinus fonft nichts Gutes gelehrt und gethan
hätte, denn baß ich das weltliche Regiment ober Obrigkeit fo
erleuchtet und geziert habe, fo follten fie doch bes einzigen
Gtüds halber mir banken und günftig fein, weil fle allefamımt,
auch meine Argften Feinde, wohl wifien, baf folder Verſtand
bon weltficher Obrigleit unter dem Papſtthum uuter ber Bauk
gelegen“ u. |. w. — An ber Gunft der Fürſten bat es ibm
wahrlich nicht gefehlt. Uebrigens gab er noch einen anbern
Grund an, warum bie Fürften umb Obrigfeiten fir feine
Lehre ganz befonbers dankbar fein follten. Vorher, in ber
katholiſchen Zeit, feien fie ängſtlich geweſen mit Hinrichtungen,
mancher Fürft babe aus religiöfen Bebenfen und unter bem
Einfluße feines Beichtvaters fich gefehent, häufige Tobesurtbeile
“
66
- zu erheben, daß nach ihr ber Fürſt als „höchfter Statthalter
Gottes auf Erben“ die Diener der Kirche beliebig ab- und
einfeßen, über das ganze Gebiet des Firchlichen Ritus und
der Geremonien frei verfügen Tönne.') Diefe Doctrin, bie
fo lange bie herrſchende geweien, hat noch immer ihre Ver⸗
theibiger, 3. B. Peterſen, ber, nachbem er verfichert hat,
daß das Volk der Deutfchen das ganz fpezififche Volt des
neuen Zeftamentes fei, den Lanbeöheren für ben einzigen
Machthaber der gefammten chriftlichen Reichögewalt erllaͤrt,
„in welchem bie evangelifche Kirche ven Stellvertreter Chriſti
verehre.« ?)
So entftand ein Despotismus, deſſen Gleichen bis
babin noch nicht gefehen worben war.) Das neue Shftem,
wie es von Theologen und Zuriften jegt ausgebilvet wurde,
zu unterzeichnen; jebt aber feien fie burch Luther's Lehre voll
kommen beruhigt. &. Colloquis ot meditationes Lutheri,
ed. Rebenstock, I, 147.
’) Interesse principum circa religionem evangelicam. Hafn.
1687, p. 81.
?) Die Ibee der chriftlichen Kirche, 3. Band, S. 224—227.
2) Um nur Ein Beifpiel zu ennähnen: Auf dem Weftphäfiichen
Eriedenscongrefie führte Wolfgang von Gemmingen, ein Abge⸗
sehneter ber Reichsritterfchaft, an: daß bie an Pfalz verpfän-
bete Reichsſtadt Oppenheim feit ber Reformation zehnmal ihren
Religionszufkanb umgeformt gefehen babe. Pfanneri hist.
pacis Westph. 1 ss. 42.
56 .
war Schlimmer als die byzantiniſche Praxis, denn bort hatte
man boch nie ben Verſuch gemacht, vie Religion bes Volles
zu änbern. Die proteftantifchen Fürften aber waren nicht
blos Päpfte in ihrem Lande, fie waren mehr, fie vermoch⸗
ten, was nie einem Papfte eingefallen war. ‘Denn jeber
Bapft wußte, daß feine Macht nur eine erhaltende, bie über-
lieferte Lehre bewahrende ſei, und daß ein Verfuch von ihm,
bie Lehre ver Kirche zu ändern, unfehlbar am allgemeinen
Wiberftanbe fcheitern würde. Den proteftantifchen Fürften
aber wurde gefagt, und fie felber glaubten und erflärten,
daß ihre Macht in religiäfen Dingen eine völlig fehranten-
loſe ſei, daß fie im Gebrauche verfelben ihr Gewiſſen
zur einzigen Richtſchnur zu nehmen hätten. Es verfteht
fih, dag fie immer babel vem "Koangelium« ober ber hei⸗
ligen Schrift unterworfen zu fein verficherten, aber eben
nur ber von ihnen oder dem Hofprebiger ihrer Wahl
ansgelegten Schrift. Die Neformatoren Hatten natürlich
bie Sache fo verftanben, daß die Fürften ſich dabei nach
ben Rathe ber Theologen richten, baß fie insbeſondere durch
bie theologifchen Fakultäten an ihren Landes - Univerfitäten
fih in allen Lehrfragen leiten laſſen follten. Uber biefe
wechfelten ober wurden gewechfelt, und fo oft ver Landes⸗
herr die Religion feines Gebietes zu änbern befchloß, wur⸗
ben eben auch die alten Profeſſoren entfernt, und neue her⸗
beigerufen.
22 —
67
Mit dieſem neuen Syftem ber in ber Perfon der Zür-
fien vereinigten Firchlichen und politiichen Gewalt war eine
umermeßliche, folgenfchtwere Umwandlung der geſammten Lage
bes bentfchen Volles eingeleitet. Der Unterſchied und Ges
genfat; ver beiden Gewalten, welcher im Ganzen und Großen
woblthätig für die Voͤller gewirkt, durch deren Reibungen
und Gegengewicht geiftige Thätigleit und polittfche Freiheit
geweckt und gewahrt worden war, fiel völlig weg. Die
Kirche wurbe ganz in den Staat eingefügt, als ein Rab in
ber großen Staatsmafchine betrachtet. Wer über das Edelſte
and fonft Unantaftbarfte, über die Religion und das Ge
wiffen mit abfoluter Machtvolllommenheit gebot, dem mußte,
wenn er nur zugreifen wollte, allmälig jedes anbere Gebiet
bes Lebens in Staat und Volt anheimfallen. Mit der Ein-
fegung der Eonfiftorien als landesherrlicher, das Kirchliche
regierender Behörden begann demnach vie Entwidlung ber
Bureaufratie, der fürftlichen und ftantlichen Augewalt, ber
verwaltenben Gentrafifation. Sobald die Tirchlichen Dinge
und religiöfen Angelegenheiten in bie Hände einer Behörde
von fürftlichen Beamten gelegt wurde, mußte ein mechanifches
Schreiberweſen und ber ftarre Geift einer blos befehlenden
unb Berorbnungen machenden Berwaltungsmafchine an bie
Stelle einer lebendigen Organiſation und einer mit fittlichen
Hebeln operirenden Autorität treten. Es ging wie es noch
Heutzutage geht: die burenufratifche Verwaltung wurde ein
immer neue Aeſte treibenber, immer mehr Stoff umfchlingen«-
ber Polyp. °)
Demnach war bie unvermeibliche Folge, daß ein brüdenber
Despotismus fich anf einen großen Theil Deutſchlands legte.
Das proteftantifche Volt wurde von feinen fürftlichen Oberbi-
fhöfen und deren Beamten zu einer nie früher dageweſenen
Knechtſchaft Hinabgebrüdt: Gelbftrafen, Kerler, VBerbamung
erfolgte wenn man am Sonntage nicht zur Kirche fam, wenn
man bei ber Communion nicht regelmäßig erjchten, wenn
einige Berfonen zur Privat - Erbauung fi) verfammelten.
Diefem Syſtem der Fürſtenherrſchaft über Religion
und Gewiſſen prüdte nun ver Weftphälifche Friebe das Sie⸗
gel auf. Das Neformationsrecht wurbe nur durch bie Feft-
1) So bemerkt der befaunte Zurift Ley ſer (Medit. ad pandect.
t. VII. p. 292): rüber und no bis in’s 17. Jahrhundert
binein jeien bie Regierungegeſchäfte ber beutihen Fürſten fo
beſchränkt geweſen, daß fie von wenigen Räthen, mitunter
buch eim einziges Kollegium hätten beforgt werben Tönnen.
Seitdem aber buch ben Weftphäliichen Frieden bie Territorial»
Hoheit fo ſehr erweitert worben fei, hätten fih bie Geſchäfte
ber Verwaltung um mehr als das zehnfache vermehrt, und jet
eine Menge von Collegien, Inftanzen und Beamten nöthig ge»
worden. Man erlennt bier ben Einfluß, ben das lichergehem
bes ganzen kirchlichen und religiöfen Gebiets in bie Hände der
Staatsgewalt auf die Verwaltung Üben mußte. Derfelbe Leyſer
erinnert Übrigens t. VI. p. 49: bie proteftantifchen Conſiſto⸗
rien verführen mitunter eher tyrannifch als ber Bapfl.
Rellung des Normaijahrs (1624) beſchränkt. ber aufer-
halb des durch biefes Jahr verbürgten Befigftanbes Tonnte
jeder Katholik durch feinen proteftantifchen Landesherrn, jeber
Broteftant durch feine katholifche Obrigkeit genoͤthigt werben,
entiweber bie Religion zu wechfeln oder auszumandern. Die
Broteftation des Papſtes war aljo bie feierlihe Er⸗
Härung, daß die Theilnahme feines Gefanbten am Con⸗
greffe nicht auch als Zuftimmung zu Sagungen zu betrach⸗
ten fei, welche vorausfichtlich ben erzwungenen Abfall einer
Anzahl von Katbolifen vonder Kirche zur Folge haben
mußten. Es ift wahr, der PBapft ftellte fich in feiner Bulle
auf den excluſiven Standpunkt, wonach er alle Abtretungen
von Tatholiichen Bisthümern und Kirchengätern an proteftan«
tiſche Fürſten und jede weitere Ausbreitung bes Proteftan-
tismus al8 Dinge, bie er nicht billigen könne, gegen bie
er Verwahrung einlegen müſſe, bezeichnete. Das wer un⸗
ter den damaligen Umftänven für ven Oberbirten ver Kirche
unvermeiblid. Er ftand Hier einem Shitem gegenüber,
welches zugleich mit Lãugnung der Kirche und ihrer Auto⸗
rität und in Folge dieſer Läugnung die abſolute Willkür
der weltlichen Macht in kirchlichen Dingen, die ſchranken⸗
loſe Herrſchaft der Fürſten über die Gewiſſen der Men⸗
) Instr. P. O. 5,30: Cum statibus immediatis cum jure
territorii et superioritatis — etiam jus reformandi
exorcitium religionis competat.
60
fhen zum Prinzip, zur veliglöfen Doctrin erhoben hatte.
Mit einem ſolchen Syſtem war im Grunde ein wirklicher
Friede gar nicht möglich, nur ein Waffenftillftand konnte
gefchloffen werben. Jedes Vorbringen dieſes Syſtems in
bisher noch katholiſche Länder mußte als eine um jeben
Preis abzuwehrende Calamität erfcheinen. Erſt mußte das
furchtbare Zerritorial-Syftem in Deutfchland ermäßigt und
einigermaßen durch die Sitte, durch die öffentliche Meinung
und durch bie Erfahrung ver werberblichen Folgen überwun-
ven fein, ehe an ein friebliches Nebeneinanderbeftehen von
Katholiken und Proteftanten zu denken war. In Rom wie
in Deutichland wußte man recht gut, daß in ben rein lu⸗
therifchen Ländern, wie Schweden und Dänemarl, die Todes⸗
ſtrafe auf Ausübung der Tatholifchen Religion gefett, und erſt
vor wenigen Jahren durch Guſtav Adolph an mehreren jungen
Männern vollftredt worden war.) Man wußte, daß in
den fombolifchen Büchern der deutſchen Proteftanten, den
Vürften und Königen gefagt wurbe: Ihr fein Herren und
Gebieter über Religion und Kirche in euren Ländern, und
habt babei feine andere Schranke zu achten, als bie von
, euch oder von den burch euch ausgewählten Theologen inter-
pretirte Bibel. Man wußte endlich, daß die Herrichaft ber
Fürften über bie Religion von ben proteftantiichen Theo»
1) Baas Inventar. ecol. Bueogoth. Linoop., 1642, p. 789.
61
logen und Yuriften für einen Ausflug und wefentlichen Be
ftandtheil der Iandesherrlichen Gewalt erflärt mwurbe, daß
alfo jeder Furſt die Anhänger einer von ber feinigen ver-
ſchiedenen Religion im Grunde als Berfonen anfehen mußte,
bie in permanenter Auflehnung gegen feine rechtmäßige
Gewalt begriffen feien, als halbe Unterthanen, bie gerabe
dem ebleren und vorzüglicderen Theile feiner Regierungs⸗
macht Anertennung unb Gehorfam zu zolfen fich weigerten.')
Diefe Lage der Dinge muß erwogen und in Rechnung ges
bracht werben, wenn es ſich um einen Vertrag banbelt,
durch welchen mit feiner ober fehr ſchwacher Sicherheit für
bie Freiheit des Belenntniffes fo viele Katholiten, fo viele
ehemals Tatholifche Gebiete und Befitzungen an proteftan-
tifche Gewalten abgetreten wurden. Damals konute ber
Dberhirt der Kirche doch wirklich nichts Anderes thun als
Berwahrung einlegen gegen Abtretungen und Ingeftänbniffe,
m Das jun circa sacra unb bie jurisdictio ecclesiastica jet, hieß
es, das Toflbare und vornehmfte Kleinod ber Territorial⸗Su⸗
periorität. Bei Schauroth, Sammlung d. Concl. Corp.
evang. II, 89. &o nannte au Lorb Elarendon, ber
Staatsmann und Gefchichtsfchreiber, bie kirchliche Suprematie
ber Könige von England: the better moiety of their so-
vereignty. Edinburgh Review, t. 19, p. 435. Über frei-
lich if biefe „beſſere Hälfte der Gouverainetät“ bort feit ber
Revolution von 1688 theils bebeutungslos geworben, theils an
den jebesmaligen erfien Minifter und bie Majorität bes PBarla-
ments übergegangen.
62
in Folge. deren eine beträchtliche Anzahl von Seelen ber
Kirche verloren geben mußte. Hätte der Bapft noch bie
frühere, burch die mittelalterlichen Zuftände feit und nach
der BVöllerwanberung für ihn gefchaffene Stellung einge⸗
nommen, ſo würde ſeine Verwerfung des Vertrags aller⸗
dings einer Forderung gleichgekommen ſein, daß der Krieg
wieder ausbrechen, oder doch das ganze Friedenswerk von
vorne wieder angefangen werden ſolle. Das war nun aber
anders geworden. Das Papſtthum ſtand ſeit ber Refor⸗
mation nicht mehr an der Spitze des Europäiſchen Gemein⸗
weſens, war nicht mehr der allgemein anerkannte Friedens⸗
vermittler, der Befchirmer und Ausleger des internatio⸗
nalen Rechte. Die päpftlihe Verwerfung bed Friedens⸗
ſchluſſes Hatte alfo nur ‚die Bedeutung einer vom kirchlichen
Standpunkt aus verhängten Cenſur und Mißbilfigung.
Kein Fürft bat je die Gültigkeit des Weftphältfchen Fries
dens mit Berufung auf das Nömtfche Urtheil in frage ge»
ftellt, und die Theologen haben ſtets gelehrt, daß hier eine
päpftliche Entbindung von der Verpflichtung gar nicht ein⸗
treten Fönne. ')
Allerdings warb auch in Tatholifchen Ländern Zwang
angewandt, um ben’ eingebrungeney Proteſtantismus wieder
) Z. B. Laymann, theoL mor. ib. 2, tr. 3 o. 12. Si
Catholici cum acatholicis publicam foedus ineunt, non
potest per auctoritatem Pontificiam solvi aut relaxari.
'6&
auszuftoßen unb bie Einheit ber Kirche wieder herzuftellem,
und bie katholiſchen Fürſten beriefen fich gerne auf das
vom Proteflantismus erfonnene Reformationsrecht, um ſo
mit der von dem Gegner ſelbſt dargebotenen und als recht«
mäßig anerlanunten Waffe venfelben in ihrem Lande zn über-
winben. Um aber gerecht hierüber zu urtheilen, durfte Fol⸗
genbes zu erwägen fein.
Erſtens: Auf Tatholifcher Seite Hatte man es mit einer
Teorie und Praxis zu tun, beren Urheber unb Anhänger
ſchon feit ber berühmten Proteftation von Speyer im Jahre
1529 ertlärt hatten, daß fie bie latholiſche Religion neben
ber neuen nicht dulden würden, welche thatfächlich überall
damit begonnen, jede Spur ber alten Religion zu vertifgen;
mit einem Syſteme, welches im Grunde durch bie Ueber-
tragung ber Kirchengewalt an bie weltlichen Machthaber
ben Beſtand jeber Religion, auch ber Iutherifchen over cal-
vinifchen, zu einer bloßen Frage ber Gewalt ober fürftlichen
Belieben herabſetzte. Erkannte ber fatholifche Fürft über
fih und feinem Volle die fefte, ſtets gleiche Autorität ber
Kirche, wollte er nur ein Glied, ein gläubiges und ges
horchendes Glied in dem großen Organismus ber Weltlirhe
fein, fo war ber proteftantifche Fürſt nach vermeintlich gött⸗
lichem Auftrage oberfter Richter in religiäfen Dingen für
fi) und fänmtliche Untergebene, und wußte von feiner
Autorität, die höher ftehe, als die feinige. So hatte man
64
in England eine bifchäfliche, aus Tatholifchen und proteflan-
tiichen Elementen unmatirtich gemifchte Kirche, weil es bie
Könige fo gewollt hatten. Dagegen mußten Dänemark,
Schweren und Norwegen lutheriſch werben und bleiben,
weil die Könige diefe Lehre fir Die bequemfte und ihrer
Deachterweiterung günftigfte Hielten. In Holland bagegen
herrſchte der reine Calvinismus, weil diefem bie zahlreichere
und mächtigere Partei zugefallen war, und ſobald man fich
ſtark genug gefühlt, Hatte man bie erft kurz vorher mit den
Katholiken des Landes abgefchloffenen Verträge gebrochen '),
und ihre Religionsfreiheit vernichtet. In ben Deutfchen
Fürſtenthümern Tonnte Niemand wiffen, ob im nächften
Jahre das Land lutheriſch ober caloinifh, oder halbcal⸗
viniſch (nach dem im Brandenburg’fchen eingeführten Muſter)
fein würde. Denn das bieng von ber Perfon des Monar⸗
hen, von deſſen wechjelnden Anfichten, ober von bem Tode
bes einen und der Succeffion eines anbersgläubigen ab.
Zweitens: Die Theorie von ber oberbifchäflichen Ge⸗
1) Namentlih das Unions-Ebikt von Utrecht dom Jahre 1579,
durch welches bie noch Überwiegenb katholiſchen Provinzen und
Städte dem Bunbe beigetreten waren. Ueber vier Jahre baranf
ließ Wilhelm von Oranien ein neues Ebikt entwerfen, welches,
ohne irgend einen Vorwand, das ben Katholilen gegebene Wort
brach, und nur bie Uebung der calvinifchen Religion geftattete.
Bergl. barliber Stoupe la religion des Hollandois, 1672,
p. 12 unb Oeuvres d’Ant. Arnauld, XIV, 509.
65
walt des Kanbesherrn und feiner Verpflichtung, Teine andre
Religion als die feinige zu bulden, war fürmlich Beftand-
theil bes proteftantifchen Shftems, war Glaubensartifel ge-
worden. Wenn ein bisher lutherifcher Fürſt in feinem Lande
das Lutherthum unterbrüdte, und ihm den Calvinismus auf⸗
drang, jo fagten die Iutherifhen Theologen natürlich: Dein
calviniſches Gewiſſen irrt; aber zugleich mußten fie zugeben,
daß, da ber Fürft nun einmal die calvinifche Lehre für pie
biblifche hielt, er allervings berechtigt, ja verpflichtet fei,
fein Land in biefer Richtung zu veformiren. In einer ganz
anderen Lage befand fich die fatholifche Kirche. Hier waren
die beiden Gewalten vollftänbig gefchieben, die Fürften und
Obrigkeiten follten nicht Regenten uud Bifchöfe der Kirche,
fondern nur Befchüger verfelben fein. Die Kirche war be
reits durch fehr verfchiedene Stabien bezüglich der Stellung
zu Anverögläubigen hinpurchgegangen. Unter ven chriftlichen
Raifern war fie wohl im Römifchen Neiche im Ganzen ge-
nommen herrſchende oder begünftigte Corporation, aber das
Berhalten der Kaiſer gegen die außerhalb ber Kirche Befind⸗
lichen, gegen Heiden, Juden, Häretiler, Schtematifer, war fehr
ungleich. Bei der großen Verſchiedenheit der Selten, von
benen Cinige einen geradezu unfittlichen Charakter hatten,
andre dagegen fih durch Sittenftrenge auszeichneten, waren
allgemeine Regeln nicht anwenbbar. Im Ganzen war bei
den Bifchdfen jener Zeit die Anficht vorherefihent, daß Ab⸗
v. Döllinger, Papſtthum.
66
weichung vom Glauben der Kirche, wenn nicht andere Ber⸗
gehen Hinzulämen, nicht von ber Stantögewalt mit fchweren
Strafen geahndet werben folle. „Die Milde ber Kirche,
erflärte Papft Leo ver Große, begnügt ſich mit dem pries
fterlichen Urtbeile, und begehrt Teine blutige Rache.“ Daher
wurde die That zweier Spanifcher Biſchöfe, welche als An⸗
Häger der Briscilftaniften vor dem kaiſerlichen Tribunal aufs
traten, von den angefehenften Männern ver Kirche, einem
Ambrofius und Martinus, als höchft verwerflich bezeichnet.
Im Mittelalter dagegen kamen lange Zeit hindurch Tren⸗
nungen von ber Kirche auf Grund abweichender Lehre gar
nicht vor. Erſt im eilften Jahrhunderte begann jenes
finftere, ſittlich verberbliche Seltenwefen mit gnoftifchen
Lehren, das aus dem Drient berübergelommen war, fich im
Berborgenen auszubreiten. Gegen bie Anhänger biefer
Selten verfuhren nun die Staatsgewalten mit großer
Schärfe, und fein beharrlicher Seftirer warb am Leben ge»
laſſen. Allmälig warb es zur Regel, daß Abfall vom Glau⸗
ben und Verbreitung unkicchlicher Lehre als topeswürbige
Verbrechen galten. Daß neben der Einen Kirche, von wel⸗
her das ganze Staatswefen und Leben durchdrungen var
unb getragen wurbe, noch andere religiöfe Genofjenfchaften
mit eigener Lehre Im Staate beitehen Lönnten, das war ein
Gedanke, den damals Niemand für möglich hielt, Niemand
ausfprad. Wo Selten eriftirten, zogen fie ſich in tiefe
67
Berborgenbeit zurüd. Natürlich lag denn auch ben auf
Härefie bezüglichen Verorpnungen der Goncilien unb ber
Bäpfte die damals allgemein herrſchende Anficht zu Grunde,
Aber vie tarin enthaltenen Forderungen und Beitimmungen
gehörten nicht in das Gebiet des Glaubens, der überliefer-
ten umb unveränberlichen Lehre, fondern in das der wan⸗
delbaren, durch eigenthümliche und vorübergehende Zuftänbe
bedingten Disciplin.
Die Erhebung des Proteftantismms gegen bie Kirche
nahm in Fürzefter Frift die Ratur eines Kampfes auf Xeben
und Tod an. Schon in den Schriften Luthers aus ben
Jahren 1520 und 1521 that fich zwifchen der neuen Lehre
und ber alten Kirche ein Abgrund auf, der nicht mehr
überbrüdt werben konnte. Verwerfung ber ganzen Tirchli«
chen Weberlieferung und jeber Tirchlichen Autorität, Aufs
ftellung eines Dogma über das Verhältniß des Menfchen
zu Gott, von welchem ver Urheber felbft bekannte, daß es
feit den Zeiten ber Apoftel bis auf ihn der ganzen Kirche
unbekannt geblieben fei, biefe Dinge traten gleich unver⸗
hüllt hervor. Die Forderung lautete nicht mehr wie bis
babin: daß die Kirche fich reformiren folle an Haupt und
Gliedern, fondern auflöfen folle fie fich, und das Gericht
der Selbftzerftörung an fich vollziehen. Ihren Primat und
Epifcopat folite fie abjchaffen, ven bie Völker zufammenhal-
tenden Organismus zerreißen; an bie Stelle ihres Cultus
5 ”
68
ber Anbetung und des Opfers follte fie das bloße Predigen
ſetzen, und mit ihrer ganzen Bergangenbeit in Lehre wie
in Salramenten uub Eiurichtungen brechen. An eine Ver⸗
ftändigung, eine nur halb aufrichtige Wiebervereinigung
fonnten da nur Jene noch denken, welche dad Weſen ber
proteftantifchen Lehre, die Tragweite ber Bewegung ver⸗
fannten.
Auch von wechfelfeitiger Duldung, von ben Verfuche
eine® friedlichen Nebeneinanverbeftehbene war noch lange
nicht die Rebe. Ein folcher Gedanke war dem ganzen Zeit-
alter noch völlig fremd. Auf proteftantifcher Seite machte
fhon bie Theorie von der abfoluten Kirchengewalt ber welt»
lichen Mächte ein Syſtem der Dulbuug unmöglich. Hiſto⸗
rifch tft nichts unrichtiger, als die Behauptung, bie Refor⸗
mation ſei eine Bewegung für Gewiſſensfreiheit geweſen.
Gerade das Gegentheil iſt wahr. Für ſich ſelbſt freilich
haben Lutheraner und Calviniſten, ebenſo, wie alle Men⸗
ſchen zu allen Zeiten, Gewiſſensfreiheit begehrt, aber An⸗
dern ſie zu gewähren, fiel ihnen, wo fie die Stärkeren
waren, nicht ein. Boͤllige Unterdrückung und Ausrottung
der Tatholifchen Kirche betrachteten alle Reformatoren als
fih von felbit verftehend. Gleich im Beginne riefen fie
die Fürften und ftädtifchen Gewalten auf, ven Gottesdienſt
der alten Kirche zwangsweije abzufchaffen. In England,
Irland, Schottland, in Dänemark und Schweben gieng man
69
bis zur Anwenbung ber XTobedftrafe gegen Ausübung ber
tatholifchen Religion. Gegen die gleichzeitig fich bildenden
Serten verfuhr man mit nicht geringerer Schärfe. Daß
bie Wiebertänfer ihre Lehre mit bem Leben büßen follten,
verlangte felbft der fonft als der mildefte der Reformatoren
gerübmte Melanchthon.!) Derfelbe Mann begehrte, vaß
anch gegen Katholiken mit Körperftrafen verfahren werbe,
da es die Pflicht der meltlihen Macht fei, das göttliche
Geſetz zu verkündigen unb zu wahren. :) Auch Calvin for
derte den Herzog von Somerfet als Regenten von England
anf, er folle Alle, weiche der neuen proteftantifchen @eftals
tung des Rirchenwejens widerfirebten, namentlich die Ka⸗
tholiken, mit dem Schwerte vertilgen. ’) Könige und Staats⸗
männer, Zheologen und Bhilojophen, alle waren einig, daß
weder Katholilen noch irgend einer, von der zur Herrichaft
1) Bergl. 3. B. Corpus Ref, ed. Bretschneider, U, 18, 711,
713 und fonf.
2) Corp. Ref. IX, 77.
3) Epistolae, Genev. 1579, p. 40. Es ift bemerfenswerth, baf
auch er als Hauptgrund, warum Todesſtrafen verhängt wer⸗
ben follten, das Attentat gegen bas von Gott eingeſetzte König-
thum hervorhebt, welches in ber Weigerung, ben kirchlichen Au⸗
orbuungen des Konigthums fih zu unterwerfen, liege. Gein
Freunb Beza brang foger darauf, daß Antitrinitarier, auch
wenn fie wiberriefen, dennoch hingerichtet werben ſollten. Crenũ
animadversiones, XI, 90,
70
gelangten abweichenden, Kirche ober Partei Dulbung ges
währt werben dürfe. Zwei oder mehrere Religionen im
Lande zu haben, fagte man, fei gefährlich und ſchwäche bie
Regierung.') Selbft der Kanzler Lord Bacon meinte:
Die Aufßerfte Grenze der Duldung, bis zu welcher eine Re⸗
gierung gehen dürfe, fei erreicht, wenn fie fich mit bloß
äuferlicher Anfchliegung au die herrſchende Religion be»
gnüge, und nicht in das Gewiſſen und bie geheime Ueber⸗
zeugung ber Menfchen eiuzubringen verjuche.‘)
So wußten die Katholiken, Fürften, Klerus und Bolt
von Anfang au mit wölliger Beſtimmtheit, daß fie jelber
unterbrüdt werben würden, fobald nur die Partei ver neuen
Religion fich ftarl genug bazu fühle. Sie führten einen
Kampf ver Selbfterhaltung, indem fie alles aufboten, das
Eindringen des Proteftantismus in ihr Gebiet abzuwehren,
ben bereit6 eingebrungenen iwieber auszuftoßen. Saͤmmt⸗
liche Reformatoren und Theologen der neuen Kirchen ließen
in ihren Schriften nicht den leifeften Zweifel über das
Princip, daß die Tatholifche Religion überall ausgerottet
1) So 3. B. Lorb Burghley, ber Minifter ber Königin Eliſa⸗
beih ; fein Grundſatz war, ber Staat Tönne nie ficher fein, im
welchem zwei Religionen geduldet würben. Denn e6 gebe keine
größere Feindſchaft, ale bie um ber Religion willen u. ſ. w.
Life of Lord Burghley, in Ped’s Desiderata ouriosa p. 33.
?) Certain observations made upon a libel, 1592. Works,
London, 1846, I, 882,
71
werben müſſe, wo man bie Macht dazu babe. Bald ent⸗
ſprach auch in Deutfchland, in den Scanbiuavifchen Län-
dern, in England, in ber Schweiz, kurz überall, wo eines
ber proteftantiichen Belenntniffe herrſchend wurbe, bie Praxis
der Theorie. Und da man zugleich an ber Lehre fefthielt,
dag vie Fürſten und bürgerlichen Behörden die Träger ber
oberften Religionsgewalt feien, fo wurbe man, wie bieß bie
Roryphäen des reformirten Belenniniffes thaten, dahingeführt,
den Fürften, vie der calvintfchen Lehre nicht zuflelen, das
Recht der Regierung abzufprechen, ihre Abfegung für er⸗
laubt ober nothwendig zu erfiären. Man weiß, wie weit
Knor und Andere hierin giengen, welchen Antheil diefe An⸗
füht an dem Untergange Carls I. von Englaub hatte.
Aber auh in Schweden wurde Sigismund feiner Krone
beraubt, weil er katholiſch war.
Bahle meint, die NReformatoren und ihre Anhänger
hätten ſich doch iu großer Verlegenheit befunden, ba fie der
alten Kirche gegenüber immer auf Gewifjensfreiheit ge-
brungen, und den gegen fie gerichteten Zwang für vers
brecherifch erflärt hätten, während fie doch wieber bie Obrig-
leiten ermahnt hätten, jede andere Lehre und Genoſſenſchaft
zu unterbrüden. Das geſchah indeß fo allgemein und war
fo fehr im Geifte ver Zeit, daß ber Einzelne es nicht ein-
mal mehr als einen Wiverjpruch empfand.) Die franzöft-
+) Man barf nur fehen, wie ſich ber befannte Marnig be
12
Shen Proteftanten, fo fehr fie auch eine Minorität bilveten,
und nur durch das Ediet von Nantes eine gefchükte Stel⸗
ung befaßen, wollten doch in den ihnen eingeräumten Sicher
beitöpläßgen Teinem Katholilen geftatten, feine Religion aus⸗
zuüben. So war es im ganzen profeftantifchen Europa.
Vreiheit für uns, Unterbrüdung für jebe andere Partei,
war bie herrſchende Loſung.
Die erften, welche mit der Religionsfreiheit Ernft mach⸗
ten, und die Eonfeffionen wirklich gletchftellten, waren bie
fatholifchen Engländer, welche gegen die Mitte des 17. Jahr⸗
hunderts die Colonie Maryland in Norbamerika unter ver
Führung des Lord Baltimore gründeten. Der Heine Staat
genoß unter Fatholifcher Verwaltung eine kurze Zeit glück⸗
liher Ruhe und allfeitiger Freiheit. Aber fchon nach ein
paar Decennten ftürzten bie zahlreicheren Proteftanten, von
ber Regierung des Diutterlandes gedeckt, bie beftehende Ord⸗
nung, führten bie Kirche von England als herrſchende ein,
und erließen fehwere Strafgefege gegen bie Uebung ber ka⸗
tholifchen Religion. ')
Sainte⸗-Aldegonde gegen ben Vorwurf, ber ihm im
einer Schrift: Antidote on Contrepoison contre les conseils
sanguinaires de M.S A. gemacht wurbe, vertbeibigt in feiner
röponse apologstique, 1598.
1) Der Verlauf ift ausführlih bargeflellt in Macmahon’s
histor. view of the government of Maryland, Baltimore, 1831,
p. 198—250, und in Bancroft’sa histary of the United
73
Längere Zeit galten die Niederlande für das einzige
Land in Europa, wo eine, wenn andy fehr befchräntte, Frei⸗
heit der Eonfeffionen beftehe. Hier war zwar ber Calvinis⸗
mus die Staatskirche, aber ein bedeutender Theil ber Bevöl-
ferung war fatholifch geblieben; baneben gab es Arminianer,
Lutheraner, Mennoniten und andere vom Ausland einge⸗
wanberte Selten. Diefe Tießen die General- Staaten im
Ganzen ungeftört gewähren, jo daß Viele fih um biefer
Freiheit willen in Holland nieberließen. Nur die Katholiken
lagen unter ſchwerem Drucke.)) Seit der Mitte des 17.
States, Boston, 1834. Es ift intereffant, das Urtheil eines
lebenden proteftantifchen Theologen, Th o ma 8 Eoit zu New⸗
zochelle, darüber zu vernehmen. Er fagt in feinem Buche:
Puritanism, or a Churchman’s defence, New-York 1855:
In Maryland, as the Roman Catholics claim, the rights of
conscience were first fully recognised in this country.
This is a fact J never knew disputed by good authority,
and, though a Protestant with all my beart, J accord them
the full praise of it with the frankest sincerity etc
N Das hebt Ihon Sir William Temple um 1670 in
feinen Observations upon the United Provinces. Works,
London 1720, I, 58 hervor. Der Prediger Brun, in
feiner Schrift: La veritable religion des Hollandois, Amsterd.
1675 p. 171 führt es als Beweis ber Frömmigkeit ber
Nieberlänbifchen Regierung rühmend an, ba man ben Katho⸗
liken nicht nur alle ihre Kirchen, Schulen und Anſtalten ge»
nommen, fie von allen Stellen ausgefchlofien, fonbern fie auch
unzählige Male in der Ausübung ihres Gottesdienftes gehemmt
und geftört babe u. |. w.
14
Jahrhunderts erhoben fich bereits einzelne pröteflantifche
Stimmen für Gewährung confeffioneller Freiheit. Im An
fange veffelben war ver Holländer Koornheert, ein Vor⸗
läufer der Arminianer, noch ganz vereinzelt mit feinen An⸗
fichten über Duldung geftanden. Erft feit ver Mitte und
gegen Ende des 17. Jahrhunderts traten einige Vertheidi⸗
ger des Duldungs- Prinzips hervor: Milton, Richard
Barter, Bapyle, Lode. Aber nur Locke erörterte bie
Frage aufrichtig und gründlich, ohne in handgreifliche Wi«
beriprüche zu fallen, oder zu Winkelzügen feine Zuflucht zu
nehmen. ‘Die Uebrigen verlangten, nach dem Borbilde
der Nieverlänver, alle proteftantifchen Parteien und Sel-
ten follten fich wechfelfeitig Freiheit gewähren, bie katholifche
Kicche jedoch als vie gemeinfame Gegnerin zu unterbrüden
und zn veffolgen fortfahren. Als Gründe dafür gaben fie
an, theil daß die Katholiken allein ein im Auslande befinb-
liches Tirchliches Oberhaupt anerlenneten, theils daß fie, wenn
fie einmal wieber die Stärferen würden, ihrerſeits bie Pro⸗
teftanten zu unterbräden verfuchen würden.“) Die biöherige
Erfahrung batte freilich bewiefen, daß biefe Möglichkeit auch
auf proteitantifcher Seite längft zur vollen Wirklichleit ge
worben, denn 200 Jahre lang feit dem Entſtehen des Pros
teftantismus war in einem Lande ober Länbchen, wo bie
1) Bayle, Oeuvres, Il, 412.
75
Proteſtanten bie Uebermacht erlangt Hatten, ben Katholilen
wirkliche Religionsfreibeit gewährt worden. Nur in einigen
Städten und Ortfchaften Deutjchlands beftand in Folge bes
Weſtphaliſchen Friedens gebotene Parität.
Wie tief die Prinzipien des Religionszwanges den Ber
fennern der neueren Lehren im Blute faßen, das zeigt in
augenfälliger Weife das Benehmen des Angelfächfifchen Stam⸗
mes. In England waren nach der Reftauration zwar
bie Hinrichtungen nicht mehr häufig; fie trafen nur noch
latholiſche Geiftliche; aber dafür thaten bie Gefängniffe, bie
fo ungefund waren, daß die Menfchen zu Tauſenden darin
binftarben, ven Dienft des Henkers. Der Duäler William
Benn vechnete, daß in Furzer Zeit gegen 5000 ber Religion
wegen eingelerlerte Perfonen in ven Englifchen Gefängniffen
aufgerieben worben ſeien.) Diefes Schickſal traf ſowohl
bie Katholilen ale bie zahlreichen proteftantifchen Diffenter,
vorzüglich die neuen Selten der Baptiften und Quäler.
Puritaner und Preebyterianer waren abwechfelnd bie
Unterbrüdten und bie Uutervrüder, immer aber theoretifch
überzeugt, daß ed Gewiſſensſache fei, neben dem eigenen
’) Mackintosh history of the English revolution,
p- 158 — 60, Nach ber Berechnung biefes Geſchichtoforſchers
find in England von 1660 bis 1685 gegen 25000 Berjonen
ber Religion wegen eingelertert, nub 15000 Familien zu
Grunde gerichtet worben.
76
Belentniffe Tein andres zu dulden, fobald man die Mittel
zur Uebung des Zwanges befige. Sobald fie, vor ber
Berfolgung des Deutterlandes entweichen, auf dem Boden
von Nordamerika neue Staaten gegründet, fchufen fie eine
Geſetzgebung, die an Härte und Unduldſamkeit ihres glet-
hen fuchte‘). Katholifche Priefter, die fih nur im Lande
fehen Tießen, wurben hingerichtet; Duäfer wurden gehängt,
bie gelindeften Strafen des neuen Coder für fie und andere
Iergläubige waren Brandmarkung, Verbannung, Durchs
bohrung der Zunge mit einem glühenben Eifen. In dem
Lande, welches feit feiner Unabhängigfeits- Erffärung im
9. 1776 die Trennung der ftaatlichen Ordnung von ber
religtöfen am weiteften burchgeführt hat, war im 17. Jahr⸗
Bunbert ein theokratiſches Regiment aufgerichtet, welches
Religion und bürgerliches Leben vermifchte, ale Freiheit
zerftörte, und wozu ſich faum ein zweites Beifptel in ver
Befchichte finden dürfte. Doch reichten allerbings die Zu⸗
ftände in dem lutheriſchen Schweden nahe an dieſe calvi⸗
nifchen in Amerika bin. Denn dort war Staatsgefeß, daß
wer über ein Iahr im Kirchenbann bleibe, des Reichs ver»
1) Die fogenannten blue laws von Neu- England. Eine aus⸗
führliche Analyſe derfelden bat Spalbing, Biſchof von Louis⸗
ville in Norbamerila, gegeben in feinen Miscellanes, com-
prising Reviews, Leotures and Essays. Louisville, 1855,
p. 855 — 880.
77
wiejen werben folle, daß der Gebannte von jedem gefell-
ſchaftlichen Umgang ausgejchloffen fein müffe; ferner war
porgefchrieben, daß wer in theologifchen Materien auch nur
anftößige Redensarten gebrauche, und davon nicht ablaffen
wolle, abgejeßt und aus dem Lande verbannt werben folle').
Es verfteht fich, daß e8 bei einem Zuſtande, wie eine der⸗
artige Geſetzgebung ihn bevingt, in Schweden zu einer theo⸗
logiſchen Literatur und wiſſenſchaftlichen Bildung bes geiſt⸗
lichen Standes gar nicht kam.
Mackin tofh hat treffend hervorgehoben, welch eine un⸗
berechenbare Willkür und ganz deſpotiſche Gewalt der Pros
teftantismnd alfenthalben in bie Hände ver Fürften gelegt
babe, indem er ihmen die oberfte Autorität über die Reli
gion, und bamit Vollmachten übertrug, beren Ausübung
weder durch Gefe noch durch Sitte oder Erfahrung ge
regelt, deren Gränzen überhaupt nicht gezogen waren.?)
Die Sache ſelbſt war aber ſo feſt mit dem proteſtantiſchen
Bewußtſein verwachſen, daß die Theologen, wenn fie zur
Sonformität mit ber Lanbesfirche mahnten, und gegen
Separatiften jchrieben, bie Lobalität gegen ben Lan«
desherrn, die Ehrfurcht vor Gefeg und Obrigkeit als
1) Kirchengeſetz und Ordnung Karls XI. Stodholm, 1687. S. 7. 38.
?) History of the revolution. ed. Paris. J., 230: the execu-
tion of the prerogative of which neither law nor ex-
perience bad defined the limits.
78
gewichtigftes Argument geltend machten. So führte ber
Erzbifchof Tillotjon das Thema aus: Wer nicht gleich
den Apofteln eine unmittelbar göttliche Sendung aufweifen
koͤnne, der frevle durch Verkündigung einer andern ald ber
ftaatlich approbirten Lehre gegen Obrigkeit und Geſetz.)
Seldft in einem katholifchen Lande, in Frankreich, hatte
die Theorie, daß die Religion des Königs auch vie aller
guten Unterthanen fein mäffe, im 17. Jahrhundert vielfach
Eingang gefunden. Ihr vorzüglich ift der Widerruf des
Edicts von Nantes durch Ludwig XIV. und das Unter-
nehmen entjprungen, die Proteftanten durch alle Mittel,
milde und gewaltfame, erlaubte und unerlaubte, Tatholifch zu
machen. Es ift Thatſache, daß die Intendanten und Mas
giftrate den Proteftanten als entſcheidendes Argument den
Willen, das Gebot ded Königs, vorzubalten pflegten, un
ber Vorwurf, den Bahle dem Tatholifchen Clerus machte,
daß er dieß gebuldet und nicht laut dagegen proteftirt habe,
ba doch ein ſolches Verfahren ver Fatholifchen Religion geradezu
1) S. feine Abhandlung ober Rebe: The protestant religion
vindicated from novelty. Works, London, 1751, 11, 247.
Noh in nenerer Zeit bob Danbeny (Appendix to the Guide
to the Church., II, 434) das Berbrechen bes Ungehorſams
gegen bie höchſte Autorität bes Staates hervor, das in jeber
Abſonderung von ber Landeskirche Tiege, Jeder Kenner Eng⸗
liſcher Zuftände weiß, daß dieſes Motiv noch jettt bei gewiflen
Claſſen der Bevölkerung ein fehr wirkfames ift.
19
widerfpreche — biefer Vorwurf ift nicht ungerecht.) Der
franzöfifche Clerus hat hundert Jahre fpäter dieſe Schuld
feineer Vorgänger mit Strömen feines beften Blutes abr
wachen müffen. Bon ben Löniglichen Edikten, welche den
Broteftantismus unterbrüdten, wurde in Büchern und Pas
foralichreiben gerebet, al8 ob es Sacramente wären, wie
berfelbe Bayle bemerkt.) Ein vormals proteftantifcher
Schriftfteller, Brueys, fuchte in einer eignen Schrift über
den Gehorfam, welchen bie Ehriften der weltlichen Gewalt
ſchuldeten, zu zeigen, daß tie Proteftanten im Gewiſſen
verpflichtet feien, ven königlichen Evikten, welche ihnen bie
gottespienftlichen Berfammlungen unterfagten, zu gehorchen.
Statt einer Hirchlichen Verwerfung feiner Schrift ärntete
er Lob und Empfehlung.
Aus dem Webermaß des Uebeld, dem Paroxysmus ber
Krankheit erwuchs allmählig die Geneſung. Ste erforberte
fange Zeit. Mehreres wirkte zufammen, einftweilen einen er⸗
träglicheren Zuftand herbeizuführen. Zuerſt vie innere Er-
fchlaffung ber proteftantifchen Staatslirchen, namentlich
ter mächtigften, ver Englifchen, welche durch die Folgen ihres
Sieges, der Revolution von 1688, jchwer befchänigt wurde.
Mit dem 18. Jahrhundert trat in England ein fo weit
!) Oeuvres, Il, 348,
?) Oeuvres, II, 33.:
80
und tief greifender Verfall ver Religion ein, gelangte eine fo
inbifferentiftifche Gefinnung zur Herrichaft, daß in ven höheren
Klaffen auch nicht einmal jene Gattung von Eifer mehr
fih vorfand, welche zur Verfolgung Andersgläubiger erfor-
berlih if. Es war fo weit gelommen, daß Fremde, wie
Montesgquteu, in England den Eindrud empfingen, e8 gebe
ba feine Religion mehr, und ernite Männer, wie vie Biſchöfe
Gibſon und Butler, die Beſorgniß äußerten, bie ganze
Nation möge in Sittenlofigkeit nnd Unglauben verfinten. ')
Die Secten der Diffenters ließ man gewähren, ba man
ihr Treiben nur noch als Thorheit oder unfchäblichen Fa⸗
natismus betrachtete; die Katholiten waren in England zu
einem Keinen, flillen, faft nicht mehr bemerkten Häufchen
zufammengefchmolzen, und man fcheute fich doch, ben ſchweren
Hammer der Pönalgefege wider einen fo fchwachen, laum
fichtbaren Gegner zu ſchwingen. Anders freilich ftanden
die Dinge in Irland, wo das Intereffe ber proteftantiichen
Partei noch immer erheifchte, daß die Mehrheit ver Nation
im Zuftande des Helotenthums feitgehalten werde. Im
England jedoch Fam zu dem Inpifferentismus, der nur eben
bie Dinge gehen ließ, das dem angelfächfifchen Stamme
eigene Rechts⸗ und Treiheitögefähl hinzu, um ben Sinn
für religiöfe Dulbung mehr und mehr zu weden.
3) Quarterly Review, t. 102 p. 463.
81
Deutfchland blieb währenn des 17. und im Beginne bes
18. Jahrhunderts treulich in den Geleiſen des jechözehnten.
Das Joch der kirchlichen Fürftenberrichaft, des @äfaropapismus,
wie man fagte, faftete mit unverminberter, erftidender Wucht
auf dem proteftantifchen Kirchenweſen; faft alle beffer ge⸗
finnten Männer Hagten barüber, unb wenn man gerabe
vergaß, daß es doch die Reformatoren und Vaͤter ber neuen
Kirche ſelbſt feien, die ihrem Kinde dieſes Angebinde bei
feiner Geburt mit in die Wiege gegeben, fo fagte man
wohl, wie Balentin Andreä: der Satan babe ven Ca⸗
faropapat erfunden.‘) Auch Hinrichtungen ber Religion we⸗
gen kamen noch immer vor.) Die Reaction gegen ben
Bietismus führte zu neuen enblofen religiäfen Bedrückungen
und Duälereien. Niemand follte fich mit Andern zu religiöfen
Zweden verfammeln vürfen?). Bald kam auch die Feindſchaft
—
3) Anton Böhme’s Schriften, II, 986.
n Im Schweden wurde Banier aus Stargard, weil er in ber
Rechtfertigungslehre nicht rein lutheriſch dachte, hingerichtet. Im
Königsberg wurde Joh. Abelgreiff 1636 enthauptet
unb verbrannt, Im Lübel wurde Günther wegen fociniani-
ſcher Anfichten im I. 1687 auf das Gutachten ber Juriſten⸗
facnltät zu Kiel und ber theologifchen Facultät zu Wittenberg
enthauptet. Arnold s Kirchenhiſt. II, 643.
2) Wenn im Anspachiſchen, berichtet Joh. Jal. Moſer in feiner
Lebensgeſchichte, S. 191, nur Einige zuſammen in ihren Häu⸗
ſern ein geiſtliches Lied ſangen, wurden ſie in den Thurm ge⸗
v. Doͤllinger, Papſtihum. 6
ber Behörben gegen bie Anhänger Zinzenborfs Hinzu. Bei
Strafe der Landesverweifung wurde verboten, Herrnhutiſche
Bücher zu verbreiten.) In ben preußifchen Staaten wur⸗
ben bie Lutheraner gemaßregelt, und bie Regierung unter-
fagte veligidfe Gebräuche, die den Neformirten mißfielen.
Man war fo gewöhnt an kirchlichen Despotisnus, an Ein⸗
mifchung ber Behörben in's Privatleben unter religiöfen
Borwänden, daß ſelbſt Weltieute In Schriften dazu auffor-
berten, Weußerungen im gefelligen Umgange, bie nicht ganz
orthodox Iauteten, follten vor Gericht gezogen und ernftlidh
beitraft werven ”).
Darüber kam vie Mitte des vorigen Jahrhunderts
berbei, und Deutichland war im Gruude ber Theologie des
fechszehnten Jahrhunderts innerlich fatt geworden. Die
bogmatifchen Syſteme des Concordienbuchs und des
Heidelberger Catechismus mit ihren inneren Widerſprü⸗
hen und ihren focial» politifchen Gonfequenzen lagen wie
ein brüdender Alp auf dem beutfchen Geiſte. Die
ſteckt. — Ganze Bände find mit den Strafebicten gegen Pieti-
ſten und Conventikel gefüllt.
1) Meüfel’s hiſt. lit. Magazin, 1790, 11, 16.
9 Dieß verlangt 3.8. Bernh. von Rohr, Einleitung zur Staats⸗
Hugheit, Leipjig 1718, ©. 292 bezüglich ber damals oft gehör-
ten Aeußerung, daß man in allen Weligionen fellg wer⸗
den könne.
88
beiden Hauptftügen des alten proteftantifchen Syſtems, bie
Autorität der Univerfitäts- Profefjoren und das Firchliche
Fürftenregiment, waren abgenägt und morſch. Die Pros
fefforen wurden Nationaliften, und auf dem Throne bed
proteftantifchen Hauptftantes faß ein Oberbifchof der Kirchen
feines Landes, der, wie er fagte, mit der Religion niemals
umter einem Dache gewohnt hatte, und deſſen Lieblings⸗
befhäftigung war, die Geiftlichen, pie in feinen Augen nur
ein Haufen von Dummlöpfen, Faullenzern und unnüßen
Brobeifern waren, zu verhöhnen‘). Mit wunderbarer Schnel»
figfeit ergoßen fich die Fluthen des, Nationalismus genanıt-
ten, und als Theologie fich gebehrdenven, Unglaubens über
Deutjchland, und überall waren die Theologen, die Prebiger
bie erften, die fich ihm Bingaben. Friedrich's IL, Wort,
daß in feinen Staaten jeder nach feiner Facon fellg werden
könne, bezeichnete den Umfchwung: durch ben Glaubens⸗
mangel der Fürften und ver Theologen, ber fich bald ven
höheren Ständen überhaupt mittheilte, entwidelte fich eine
Gefinnung, bie zwar bie weltlich «polizeiliche Behandlung
firchliher Dinge ſich wohl gefallen ließ, viefelbe eher noch
befeftigte, die aber Doch der Anwendung von Zwangs⸗
mitteln im religidjen Gebiete ubgeneigt war. Man begehrte
) Für die proteftantifche Kirche und deren Geiftlichkeit, ein Jour⸗
nal 1810, II, 84.
6*
94
und verſchaffte ſich allgemein die Freiheit, ſich nach Gut⸗
dünfen ber Theilnahme am Cultus zu entziehen ober wieder
zuzuwenden. Das führte weiter: es erfchien natürtich und
billig, daß auch die confeffionellen Befchräntungen, vie bür-
gerliche Ungleichheit der Bekenntniſſe wegfalle. Ohnehin
hatte die bisherige Trennung von Lutheranern und Nefor-
mirten feit der Verbreitung der rationaliftiichen Denkweife
alle Bedeutung verloren. Schroffer freilich blieb ver alte
Gegenſatz ber Tatholifchen Kirche umb des Proteſtantismus.
In Dänemark, welches doch in religtöfer Beziehung allen
Strömungen Deutjchlands zu folgen pflegte, konnte noch im
den Iahren 1777 und 1779 verorbnet werden, daß Orbens-
geiftliche bei Todesftrafe das Land nicht betreten bürften. ')
In Frankreich hatte das gemwaltthätige und gehäßige
Verfahren gegen bie Broteftanten und vie Folge davon, die
Auswanderung fo vieler Tauſende, welche dem Wohlſtande
bes Landes eine empfindliche Wunde ſchlug, einen gewaltigen
und nachhaltigen Rüdichlag erzeugt. ‘Die Ausgewanderten,
unter denen viele Männer von wiffenfchaftlicher Bildung
ſich befanden, bemächtigten fich eines großen Theil® ber aus-
wärtigen Prefie und erfüllten ganz Europa mit ihren An«
Hagen. Die Dragonaben, bie verfolgungsfüchtige Thrannei
der franzöfifchen Regierung wurden fprihwörtlid. Dean
1) Reuter’s theolog. Repertorium, 70r Bb. ©. 168.
begann in Frankreich, fich dem Auslande gegenüber befhämt
und gebemüthigt zu fühlen. Der Nimbus des Königthums,
ber ten Franzoſen jede Maßregel Ludwigs XIV. in gün⸗
fligem Lichte erfcheinen ließ, war durch bie Regentſchaft und
burch Ludwigs XV. veräctliche Regierung zerftört. Die
Geſchichte mit Calas gab Anlaß zu populären, warın und
berebt gefchriebenen Erörterungen über bie Borzlige, bie
Bernunftmäßigfeit religiöfer Duldung, unb bie beiftifche
une indifferentiftifche Denkweife, die fich der höhern Stände
auch in dieſem Lande bemächtigte, that das llebrige. Jede Wen-
bung in den Anfichten und Gefinnungen des franzöftichen Volles
pflegt auf die ‘Denkweife, die Zuftände von ganz Europa
beftimmenden Einfluß zu üben. Damals nun wurbe, wie
in Frankreich fo anberwärts, geltend gemacht, daß Verfol⸗
gung und Zwang nur Beuchler mache, daß das Bewußtſein,
für den Glauben zu leiden, und Märtyrer aufweifen zu
können, das Selbftgefühl und Bertrauen, fo wie das An⸗
feben einer Kirchengemeinſchaft nur erhöhe. Man fühlte und
fagte: daß eine Kirche, welche ven Arm der Staatögewalt an⸗
rufe, und ihren Gegnern den Mund mit Zmangsmiitteln
und Strafen verſchließe, ſich ein Zeugniß geiftiger Impo⸗
tenz ausftelle. In ganz Europa wurde mehr und mehr
die Anficht herrfchend, daß die Kirchen blos geiftiger Waffen
zu ihrem Schuße ſich bebienen dürften, daß es Pflicht ver
Staatsgewalten fei, fich jedes Zwanges in religiäfer Bes
‘86
ziehung zu enthalten. Die alten Gefeßgebungen, bie auf
bem entgegengejettten Prinzip rubten, beſtanden allerdings
noch lange fort, beftehen zum heil, wie in Schweden und
Spanien, noch jetzt; aber die Abneigung, fie in ihrer gan⸗
zen excluſiven Härte zu handhaben, Hält fchon feit geran-
mer Zeit den Arm ver Staatsgewalt zurüd, ober läßt ihr
felbft die Aenderung der noch beftebenden Pönalgeſetze als
wänfchenswerth erjcheinen. Auch Tatholifhe Biſchöfe be=
mühen fih mun zu zeigen, daß das Prinzip ver Unterbrüd-
ung und Verfolgung Anbersgläubiger nie Lehre der Kirche
gewefen fet, und vaß wenn bie Katholiken in früheren Zei⸗
ten Verfolgung geübt Hätten, dieß doch nicht als eine
Folge des kirchlichen Dogma anzufehen ſei.)
In der That konnte auch die Tatholifche Kirche in die
neue Richtung der Zeit ohne Schwierigkeit und ohne Be-
denken eingehen, und ver immer ftärfer unb gleichförmiger
fi ausprägenden Sffentlichen Meinung, welche Zwang in
religiöfen Dingen mißbilligte, Rechnung tragen. Sie hatte
nie die Lehre aufgeftellt, daß die Fürften Gebieter über vie
Religton ihrer Vöolker feien. Ihre ganze Doctrin von der
Fürftengewalt und dem Verhältniße zwiſchen Obrigfeiten
und Untertanen befchränfte ſich auf pie apoftolifche Forde⸗
zung bes Gehorſams In erlaubten Dingen. Ste hatte ſtets
I) So Biſchoſ Spalbing in ber introductory Address zu feinen
Mincellanea p. XXX. eq.
87
den mannigfaltigften politifchen Geftaltungen freien Spiel»
ranın gelaffen, fie hatte, ihrer Schranken eingebent, nie zu
beftimmen unternommen, welches das Maaß und die Form
ber öffentlichen Gewalt fein, wie viel an Autonomie dem
Bolfe, wie viel dem Herrſcher und feinen Organen zulont«
men folle. Welche Dinge Gegenftanb der Verwaltung fein,
welche dagegen ber autonomifchen Beftimmung bes Volles
überlaflen, over an ftänbifche Zuftimmung gebunben fein folls
ten, das ging fie nicht an. Nur Freiheit ber Bewegung in
ihrer eigenen geifligen Sphäre Hatte fie ſtets geforbert. So
tonnten nicht nur in ihrem Schooße Staaten mit fehr verſchied⸗
nen Einrichtungen bezüglich ber confeſſionellen Berhältniffe bes
ftehen; die Monarchen konnten auch, ohne deshalb nie Mißbillig⸗
ung ber Kirche zu erfahren, ven Srembgläubigen ihrer Staaten
die ftärfften Zugeftänpniffe machen, wie e8 ſchon bie fran-
zöfiichen Könige durch das Edikt von Nantes ohne Wider
fpruch des franzöfifchen Epiſtopats und des päpftlichen Stuhls
gethan hatten. Man fand es von Seite der Kirche billig
und recht, daß König Jakob II. von England, obgleich Ka⸗
tholik, fich verpflichtete, die Freiheiten und den Beſitzſtand
der anglitanifchen Kirche aufrecht zu erhalten und beim
Parlamente anf allgemeine Neligionsfreibeit zu bringen ?).
) Bol. das Gutachten von Boffuet bei Mazure, histoire de
la revolution de 1688. Paris, 1825, III, 886.
Er Hat freilich fein Berfprechen nicht gehalten, unb bamit
feinen Sturz herbeigeführt. Es war überhaupt zu erwarten,
daß die Kirche in veränderter Lage und bei einemlimfchwung
in den Anfichten der Böller wieber jene Haltung früherer
Zeiten einnehmen würbe, gemäß welcher fie es rubig er-
tragen hatte, daß ausgebildete und felbftftändig geivorbene
Neligionsgefellfchaften neben ihr, gleich viel ob mit gleichen
ober geringeren Rechten, beftanven.
Gegeuwärtig nun herrfcht in ganz Europa ber ent«
ſchiedenſte Widerwille gegen jeben Verſuch, vie Religion ale
politifches Mittel zu gebrauchen, und eben fo allgemein und
entſchieden proteftirt man gegen ftaatlichen over polizeilichen
Zwang in religidfen Dingen. So oft irgendwo in Europa
(mit Ausnahme Rußlands, das auch hierin für privilegtrt
gilt) ein Akt confeffionellen Zwanges fich ereignet, entftebt
allgemeine Aufregung, eine Agitation zum Behuf einer Des
monftration im entgegengefekten Sinne findet gebahnte
Wege, und erreicht, wenn fie gut geleitet und beharrlich
fortgefett wird, faft immer ihren Zweck.
Und doch bat vie Sache noch eine andere Seite, be
ſonders wenn man bie Lage einer Staats⸗ und Vollsfirche
erwägt, welche noch im Beſttze der ganzen Nation ift, fo
daß im Lande noch kirchliche Einheit befteht, und dieſe Ein⸗
heit, dieſer kirchliche Landesfriede nur durch von Außen ber
eindringenbe Verbreiter einer fremden Lehre geftört und
9
zerriſſen werben fol. Stellt man ſich nun auf ven allge
wein chriftlichen Stanbpunkt, und abftrahirt man von ben
Trennungen unter den Ehriften, fo lann man wohl jagen:
Religion und Sittlichlett des Volles find in jebem Staate
unzertrennlich mit einander verbunden, fo baß ein Angriff
auf jene immer auch, und unvermeidlich, eine Beeinträch⸗
tigung der letzteren in fich begreift. Die Aufgabe der
Staatsgewalt aber iſt es, für das öffentliche Wohl, für bie
Erhaltung jener Prinzipien und Anfchauungen, von welchen
bie allgemeine Sittlichleit getragen wird, zu forgen, drohende
Berlegungen verfelben abzuwenden. Damit ergibt fich bie
Berpflichtung, auch die Landesreligion zu fchügen. Dean
darf Hier nicht einmwenben, daß bie chriftliche Kirche ftark
genug fei ober fein müſſe, fich felber zu fchägen, Ungriffe
der Härefie und des Uinglaubens zu überwinden; denn that⸗
fächlich ift fie eben nicht ſtark genug dazu. Sie ift es erftene
nicht, weil ver Angriff auf eine dem natürlichen, gefallenen
Menſchen fo läftige, fo Vieles und Schweres ihm zumu⸗
thende Religion im Bunde mit allen natürlichen Leiden»
fchaften uud ben ftärfften Neigungen bes fich felbft über-
laffenen Menſchen ftebt, und in ver Bruft eines jeben ſchon
einen mächtigen Mitftreiter findet. Zweitens ift bie Reli⸗
gion auch barum dem Kampfe, wenn ihr Gegner völlig
freie Hand Hat, nicht gewachien, weil das Chriſtenthum ein
zufammenbängendes Ganze von Lehren, Vorfchriften, Rath⸗
90
fihlägen und gefegichtlichen Thatſachen bildet, in welchem
eines durch das andere getragen und verbürgt wird. Diefen
Bufammenbang aber vermögen überhaupt nur äußerft wenige
Menfchen zu überfchauen, und noch wenigere ober Riemanb
vermag benfelben fich flet$ gegenwärtig und Mar zu erhalten.
Die Gegner aber richten ihre Angriffe ftetd nur auf ein⸗
zelne, aus dem Ganzen herausgeriffene und ifolirte Be
ftanbtbeile, wodurch der Angriff leicht ftärker ift und plau«
fibler erfcheint, als die Vertbeipigung. Deshalb muß das
Gewicht der Staatsmacht zu Gunften der angegriffenen
Religion in die Wagfchale gelegt werben.
Ferner tft auch das zuzugeben, daß es bis jeht noch
feinem Anwalt ver Freiheit des Angriffs auf die beſtehende
Religion gelungen ift, bie Gränzen genau zu beſtimmen,
innerbafb welchen dieſe Freiheit geitattet werben folle. Con⸗
fequent tft dieſe Freiheit bis jet noch nirgends in der Welt
durchgeführt, auch nicht in England und nicht in Norbamerifa.
Dagegen läßt fich freilich auch erwiedern, bie Vertheidiger
des der Religion zu gewährenden Staats⸗Schutzes und bes
Zwanges, obne welchen zulegt ein folcher Schuß nicht wirk⸗
fan geibt werben kann, feten ihrerſeits auch nicht im Stanbe,
vernünftige Graͤnzen anzugeben, bis zu welchen vie Repreffton
nener Lehren und die Vertheidigung ber Staatslirche gehen
folle. In Zeiten religiöfer Aufregung wirb eine folche Re-
prefiton, wenn ernftlich und durchgreifend gehanbhabt, zur
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furchtbaren Tyrannei, welche die Gemüther empört, und
deren Rüdichlag für die Kirche dann verberblicher wirb, als
es der Zuſtand der Schutzloſigkeit für fie geweſen wäre.
So Täßt fich denn am Ende nur fagen: Seit den gro-
Sen Spaltungen des ſechszehnten Jahrhunderts ift in ben
Enropãiſchen Eulturftaaten ein Zuſtand eingetreten, ift ber
Verkehr und die Mifchung der Volker, die Leichtigkeit der
Mittheilung fo gefteigert, der mwechfelfettige Einfluß ber Na⸗
tionen fo unberechenbar geworden, und übt die Sffentliche
Meinung eine fo unmwiverftehliche Macht, daß die Staats
gewalten im eignen Intereffe, wie in dem ber verfchlevenen
Kirchen, fi in die Nothwendigkeit verfeßt fehen, der Ein-
miſchung in die religiöfen Verwicklungen ſich möglichft zu
enthalten, den Gliedern verſchiedner Bekenntniſſe, fo lange
fie nur wirklich noch chriftlich Heißen Tönnen, bei glei
chen Pflichten auch gleiche bürgerliche Nechte zu gewähren,
und dem geiftigen Kampfe der Kirchen ruhig zuzufeben,
doch mit dem Berufe, für Wahrung des öffentlichen Rech⸗
te8, der bürgerlichen Ordnung und ber vollen Freiheit Aller
Sorge zu tragen. Seit hundert Jahren bat der ganze
Entwidiungsgang Europa's dahin geführt — und darf
man darin wohl bie Hand ber göttlichen Vorfehung erfen-
nen — daß Ratholifen und Proteflanten immer mehr äu⸗
Berlich einanber ‚genäbert, in bäuflgere und engere bürger-
liche und gefellfchaftliche Berührung mit einander gebracht,
92 n/
in bie Nothwenbigleit des gemeinfchaftlichen Wirkens und
fich Verftänbigens verfett worben find. Die alten confeffionel«
len Bollwerke und Scheivewände im bürgerlichen Leben
find mehr und mehr gefallen, oder unhaltbar geworden.
Bir konnen nicht mehr von einander laffen, nicht mehr
in bie alte Entfernung und Scheidung zurädtreten, fo läftig
und fchmerzlich auch oft bie Folgen des jetzigen Zuftandes
ſein mögen. Und manche aus dieſer Miſchung entſprungenen
Verwickelungen und Probleme, wie unldébar fie auch ſchie⸗
nen, haben mit der Zeit denn doch eine Loſung gefunden,
oder laſſen wenigfiens eine Hoffen. Unſere Nachkommen
aber werden einſt erkennen, daß dieſe Verſchlingung und
Miſchung zuletzt doch ihre überwiegenb wohlthaͤtigen Folgen
hatte, daß fie
like an ugly toad and venomous,
Wears yet a precious jewel in its head,
Dabei aber kaun und muß ber Staat, wenn
er fih nicht felbft aufgeben, und fich gebunden ben über-
wältigenben beftructiven Hichtungen und Mächten des Zeit-
alters überliefern will, feinen Charakter als chriſtlicher
Staat wahren und retten. Er darf das den chriſtlichen
Kirchen Gemeinſame nicht darum abſtreifen und preisgeben,
weil er bei beſtehender PBarität ver Eonfefflonen das Ei⸗
genthütnliche ber einzelnen Kirchengenoffenfchaften dieſen über-
laſſen muß, ohne ihnen für ſolche Sonderlehren ober Ins
ſtitute ſtaatsrechtliche Geltung zu gewähren. Denn bie
&riftlich focialen Elemente und Prinzipien, durch welche
Ehe, Bamilte, Kindheit, bie Grundlagen ber bürgerlichen
Ordnung befeftigt und geweiht werben, bie focialen Tugen⸗
den der Nächftenliebe, Arbeitſamkeit, Keufchheit und Mäßig-
keit zu religiöfen Pflichten werden, das Verhältniß zwifchen
der Staatsgewalt und den Untergebenen von einer reli⸗
giöfen Grundlage getragen wird — dieſe ganze chriftliche
Geſellſchaftsordnung und ihre Bürgfchaften in ber Lehre
wie im Leben muß- jeder Staat, der leben will, fich um
jeden Preis erhalten. Und wenn man ihm, wie jetzt häufig
gefchieht, mit Berufung auf die „Freiheit der Wiffenfchaft“
zumutbet, diefe Dinge den Angriffen ver „Wiffenden“ und
ihren zerfeßenden Doctrinen preiszugeben, ſei e8 im Namen
einer materialiftifchen Naturlehre, ober einer kritiſch aufld-
ſenden Geſchichtsbehandlung — fo iſt das gerabe, als wenn
man einem Baume ſagte, er müſſe die Wurzeln zerſtören
laffen , aus benen er bisher Saft und Leben gefogen; er
werbe aber boch forteriftiren.
3. Bie Kirchen und die bürgerliche Freiheit.
Bor einigen Jahren hat ver geh. Juſtizrath und Brof.
Stahl in Berlin in geprudten Vorträgen ') einen ſcharfen
») Der Brotefantismus als politifhes Prinzip.
Berlin 1858. Ich geſtehe, daß ich biefe Schrift. die ich früher
94
Angriff auf den focialen und politifchen Charakter und Eine
fluß der katholiſchen Kirche unternommen. Was er über
das Gapitel der religiöfen Duldung fagt, will ich Teiner
weitern Prüfung unterziehen. Die bisher von mir gegebene
Darſtellung ver gejchichtlichen Eutwicklung dieſer Frage wirb,
mit ber bes H. Stahl verglichen, zur Bildung eines Urs
theild darüber genügen. Hr. Stahl geht aber viel welter.
Nach feiner Theorie gibt der Proteſtantismus burch bie
Rechtfertigung ans dem Glauben dem Menichen einen
höheren Grab innerer (moralifcher) Freihe it, und brängt
dadurch („gewiffermaßen”, fügt ex beſchränkend bei) auch
zu einem höheren Maß äußerer (politifcher) Freiheit.
Er nimmt demnmach ay, daß bie proteftantifch gewordenen
Staaten durch diefe Religionsveränderung zu größerer Freie
beit gelangt feien, als vie fatholifchen. Kine kurze gefchicht»
liche Prüfung dieſer Behauptung darf ich mir nicht erlaffen.
Stahl bezeichnet die Hauptlehre, von ber er fo große
politifche Segnungen ableitet, näher als bie Lehre von ber
zugerechneten Gerechtigkeit, uud er bat ganz Recht,
wenn er in biefem „Artikel ver ſtehenden und fallenden
nicht beachtet, und jet erſt, da ich über ben Gegenſtand ſchrei⸗
ben wollte, zur Hand genommen babe, mit Erſtaunen gelejen
habe. Ich habe wirklich keinen Begriff bavon gehabt, baf ein
Mann von dem Anſehen des H. St. eine berartige Auffafjung
und Behandlung der Geſchichte fich geftatten könne.
96
Kirche“, fo wie derſelbe in ver Soncorbien-Formel und von
ber ganzen alten proteftantifchen Theologie verftanden wir,
das Dogma erlennt, in welchem der Gegenſatz zwiſchen ber
fatholifchen Kirche und dem BProteftantismus nach feiner
älteren Geftalt ſich am fchärfften auspräge. Nur muß ich
ihm doch bemerken, daß er mit biefer feiner Lieblingsichre
und Mutter der politifchen Freiheit gegenwärtig ziemlich
vereinfamt ſteht. Alle, oder faft alte, wiſſenſchaftlichen
Theologen feiner eigenen Confeſſion, fowohl In Deutſchlaud
als answärts, haben ihr entfagt, die Exegeten erlennen
an, daß fie dem Neuen Teftamente fremd ift, baß fie Luther
zur durch eine falſche Ueberfegung in einen ber Briefe
Pauli hineingetragen bat, und die bogmatifchen Theologen
verzichten darauf, fie biblifch oder ſpekulativ zu begründen.
Ich mache mich anheiſchig, ihm gegen einen, ver fich ihrer noch
annimmt, fünfzehn zu nennen, die fie als unbaltbar aufges
geben haben’).
2) Hr. Stahl beruft ih &. 98 anf Barter’s aſcetiſche Schrif⸗
ten, bie er bem Exercitien bes Ignatius weit vorziehe. Er
ſcheint nicht zu willen, daß biefer allerdings ausgezeichnete
Theologe fein ganzes Leben hindnrch ſich's zur eigenen Aufgabe
gemacht bat, bie proteftantifche Rechtfertigungsiehre und bejon-
ders bad Imputationsdogma ale eine unbiblifche und feelen-
verberbfihe Irrlehre zu befämpfen, und zwar fowohl in feinen
praftifch-afcetiichen wie in feinen bogmatifchen Schriften. Bier-
zig Jahre lang hat Barter die Lehre, die in H. Stahls Augen
Schen wir nun, wie es fi mit bem größeren
Maße politiicher Freiheit verhält, welches die Zu»
rechnungslehre ven Böllern gebracht Haben fol. Wir
beginnen mit ven Scanbinavifhen Staaten, als den⸗
jenigen, in denen das Lutherthum fich ohne fremde Störung
am zeinften zu entwideln, und feine ſocial⸗politiſchen Wir-
Zungen obne irgend ein Hemmniß zu entfalten vermocht bat.
Der Engländer, Lord Molesworth, ber ben pros
teftantifhen Norden genau Tennen gelernt hatte, bemerkt
im 9. 1692. „In der Römifchelatholiichen Religion mit
ihrem Kirchenhaupte in Rom ift eiu Prinzip bes Wider⸗
ſtandes gegen unumſchränkte bürgerliche Gewalt; aber im
Norden ift bie Iutherifche Kirche der bürgerlichen Gewalt
solfftäudig unterwürfig und bienftbar, und bie ganze nor⸗
bifche Bevölkerung proteftantifcher Laͤnder hat ihre Freihei⸗
teu verloren, ſeitdem fie ihre Religion mit einer beiferen
vertaufcht haben.” Die Urfache davon fucht er in ber ab»
foluten und alleinigen Abhängigkeit bes proteftantifchen
Elerus von den Monarchen. „Die Iutherifche Geiftlichkeit,
fagt er, bewahrte ihre politiiche Macht als eigne Kammer
oder Stand auf den Lanbtagen, obſchon fie zugleid von
ber Krone als ihrem geiftlichen und weltlichen Obern abhing').
das innerſte Myſterium ber chrifllihen Religion if, in allen
ihren Wendungen und bis in ihre Schlupfwinkel verfolgt und
wiberlegt.
1) Account of Denmark, London, s. a. p. 236.
97
In Dänemark bat bie Iutherifche Lehre fo vollſtändig,
als es nur immer gewünfcht werben konnte, gefiegt; ihr
Einfluß, ihre Kraft ift weber durch Sektenwefen, noch durch
Refte der alten Religion geftört ober gelähmt worden.
Dänemark und. Schweben find noch jett rein lutheriſche
Zönber. Die focialspolitifchen Folgen des Sieges über bie
tatholifche Kirche in Dänemark ſchildert Barthold mit
drei Worten '). „Dünbifche Leibeigenfchaft Taftete wieder auf
dem dänifchen Bauer, und, aller Vertretung beraubt, feufzten
die Bürger unter Zwangslaften und Soldateneinlagen.
Der Norden warb lutheriſch, aber König und Adel
teilten die Herrichaft, und felbft die Kinder der Prebiger
und Küfter blieben leibeigen.”
Der nel benutzte fofort die Reformation, um nicht
nur den größten Theil des Kirchenguts, ſondern auch freies
Bauerngut ſich zuzueignen. Gleichzeitig trieb man (1569)
durch gefchärfte Neligions-Artikel, deren Nicht-Annahme mit
dem Leben geftraft werben follte, die Fremden aus dem
Lande?). Bon 1536 bis 1660 Hatte der reich und über«
mächtig gewordene Adel mit Unterbrüdung ber andern
Gedichte von Rügen und Pommern. IV, 2, 294.
?) Dieß und das folgende nah Allen’s Geſch. bes Königreichs
Dänemark, überf. von Bald, 1846. ©. 287, 296, 304, 309;
bie Kopenhagener Geſellſchaft hat dieſe Geſchichte durch Ber-
leihnng des ansgeſetzten Preiſes als das befte Buch biefer Art
anertannt. Bergl. Berliner Polit. Wochenblatt, 1832, &.224 ff.
» Dölinger, Papfttum. 7
4
98
Stände das Monopol aller Staatsvortheile in feinen Hän-
den. Zu ben Bedürfniſſen des Staats trug er nichts bei,
bie brüdenden Stenern mußten von ben ärmeren Klaſſen
getragen werben. „An nachtbeiligfien für ven Staat wirkte
bie Verarmung und Eruiedrigung des Bauernftandes, eine
Folge der Macht und ftrengen Herrfchaft des Adels.“ „Die
Bewohner der großen geiftlihen Befigungen mußten nım,
fagt Allen, die milde Herrfchaft der Geiftlichleit mit dem
brüdenden Joche des Adels vertaufchen. Die Frohnen wur⸗
den willkürlich gehäuft, die Bauern als Leibeigne behan⸗
beit!).” Der Aderbau fank tief unter die Stufe herab,
auf der er fi im Mittelalter befunden hatte, pie Devdl-
ferung verminderte filh, und das Land war mit wüſten
Höfen überfüllt.” Durch neue adelige Privilegien, burch
bie graufamften gleich nach ver Reformation eingeführten
Jagdgeſetze) und durch Zaufchverträge wurde bie Knech⸗
tung, Beraubung und Herabwürbigung bes ehemals freien
Bauernſtandes vollendet. Aber nicht nur der Bauernfland,
auch die Bürger und die Geiftlichen, bie ganze Nation
wurde von acht bis neunbundert Edelleuten unter die Füße
getreten.?) Chriftians IV. (16588—1648) Verfuch, den Be⸗
) Allen, ©. 810, 11.
) Schon 1537 Angenausſtechen; ja Lebeneftrafe für bas bloße
Halten eines Jagbhunds. Allen, 813.
N Allen, 819.
rückten Grleichterung zu verfchaffen, fcheiterte an bem Wider⸗
fionde des auch dem König weit an Macht überlegenen
Avels. Die Sklaverei der Bauern blieb. Der Känig und
die Bürger waren im Grunde bes Adels Knechte.
Durch die Revolution von 1660 wurbe nun zwar bie
Macht des Adels gebrochen, bafür aber König Friedrich ILL.
und feine Nachfolger zu unumfchränkten Monarchen erklärt.
Dos Königegefe von 1665 beftimmte, daß der König von
Dänemark keinen Eid zu leiften, feine Verpflichtung irgend
einer Art zu übernehmen Gabe, fondern mit abfoluter Macht⸗
volftommenbeit thun könne, was ihm beliebe. Damit aber
erlofch unter den Dänen ver Sinn für die öffentlichen An⸗
gelegenbeiten, ver Gemeingeift und das Zufammenwirken
bes Volles mit ver Regierung.) Der Bauernftand blieb
in verfelben Sklaverei wie früher und ber Adel behielt einen
großen Theil feiner Privilegien. Das Elend der Bauern
wurde fogar 1687 durch nene befpotifche Gefege noch ver-
größert, fo daß „über ein Fünftheil ver Bauerngüter auf
den Kronbeflgungen wüſt lag, und noch ärger ſah es auf
den Privatgütern aus.) Im Jahre 1702 hob zwar Frie-
drich IV. die Leibeigenfchaft auf, aber ein anderer Zwang,
eine Gebundenheit an die Scholle warb bald an bie Stelle
gefet, fo daß das Berhältniß, namentlich durch eine Ver⸗
) Allen, 366.
®) Allen, 389, 431.
7*
100
orbnung von 1764, wenig ober gar nicht von ber früheren
Leibeigenfchaft verfchieven war. Die Wirkung war, daß bie
Devöllerung des Landes im 18. Jahrhundert von Jahr zu
Jahr abnahm, unzählige Bauernhöfe, ja ganze Dörfer ver-
ſchwanden, um Moaierhöfen Plag zu machen.) Schulen
mangelten. Der Vollsunterricht fand noch immer (um
1766) auf der niebrigften Stufe. Erſt 1804 wurde 20,000
leibeignen Familien die perfönliche Freiheit gefchenkt.*)
Die von Friedrich VI. eingeführten Provinzialftände
befchräuften ven Abſolutismus des daniſchen Königthumes
nicht. Ein den Dänen günftiger Beobachter, ver Schotte
Laing, bemerft im Jahre 1839: Dadurch, daß bie Dänen
politiſch völlig paſſiv feien, und in ihren eignen Angelegen⸗
beiten keine Stimme hätten, befänben fie fi), trog mannig«
facher guter Anorbnungen ber Regierung, nahezu in bem
Zuſtande, in welchem fie im Sabre 1660 geweſen; und feien
um zwei Jahrhunderte zurücigeblieben Hinter den Schotten,
Holänvern unb Belgiern, mit denen fie nach Bollsmenge
und Lage am erften verglichen werben Lünnten. ”)
1) Allen, 438. Bon 600 vor 1660 anf Hollanb befinblichen
Grundeigenthumern waren 1766 noch 100 übrig.
2) Wie viel für ben däniſchen Bauernflanb zu thun war, zeigt bie
furchtbare Schilderung feiner Lage aus Wegener’s Chronik
Friedrichs VI. in ber „Begenwart.“ Leipzig, 1858, DBb.
VIII, &. 478.
) Tour in Sweden, London, 1889, p. 12.
101
Im März 1848 bat denn auch Dänemark ‚nach einer
Jahrhundertlangen grunbfäßlichen und grunbgefeßlichen De⸗
fpotie” feine Revolution gehabt, und bie Regierung Yrie-
drichs VIL wird durch Häufig wechjelnde Minifterien in
Berbindung mit einem Reichötage geführt, in welchem tm
fhärfften Eontraft gegen frühere Zuftänbe der Bauernftanb
überwiegt. Dazu kommt eine Preſſe, die an Zügellofigkeit
die franzöfifche von 1793 erreicht.) Ein nenes Inſtitut,
ber Reichörath, zu zwei Drittheilen durch das Volt gewählt,
ft geichaffen worben. Weber das Schidfal bes fehr ges
ſchwächten Königthumes wird die nächfte Zeit entfcheiden.
u Schweden hatte Guſtav Wafa bie Intherifche
Confeffion eingeführt, und durch Beraubung ver überreichen
Kirche ein ftarles Königthum und Neich gegründet. Das
Boll war eigentlihd um feine Religion betrogen worden.
Guſtav hatte nemlich ftets geleugnet, daß er eine neue Lehre
einführe, und noch 50 Jahre fpäter wußte, ber eingeführten
Beränberungen ungeachtet, ein großer Theil des Volles nichts
Anderes, als daß fie katholiſch wären.*) Alimälig wurbe
indeß Schweben ein burch und durch und bewußt Iutherifches
Sand.
Drei Wirkungen traten num ein. Die erfte mag ber
Haffifche Gefchichtsfchreiber Schwebens, Beijer, berichten.
3) Allgemeine Zeitung, 1859, ©. 5932.
2) Seijer’s Geſchichte Schwebens. IL, 218,
102
Nach ven großen Religionskriegen wurbe, fagt er, bie eigne
Theilnahme der Gemeinde an ben Tirchlichen Angelegenheiten
immer mehr in bemfelben Grabe, wie fich die Furſtenmacht
befeftigte, ſuſpendirt. So verlor die Kirche immer mehr
ihren Zufammenbang mit dem Volle, und wurbe bald bios
eine aüßere monarchiſche oder ariftofratifche Form, ein kle ri⸗
kal iſcher Zufat bes militären und civtlen Beamten-
Staates. ')
Die zweite Wirkung, welche zunächit der Beraubung
und Unterjochung ber Kirche durch das Königthum verdankt
wurde, war ein neues Staatsreht. Guftan erklärte pas
Gemeindegut ber Dörfer und Ortfchaften, bald auch Flüffe,
Wafjerwerle und Erzgebiete, endlich fogar alle unbebauten
Gründe für Eigenthum ber Krone; damit war, wie Öeijer
fagt, eine für ven Nechtsbefig der Einzelnen gefährliche
Willkür ben Königen in bie Hanb gegeben.‘) Guſtav ſetzte
fein Raubgefchäft umverbroffen fort, und wie er ſich als
Univerfalerbe alles Kirchenbefiges anſah, fo nahm er auch
Höfe, wo er mochte.) Das gauze Erbe der Kirche konnte
er indeß doch nicht für fich behalten; ber Abel, deſſen Unter-
ſtützung er fehr beburfte, mußte als Miterbe zugelaflen
.. ?) Ueber bie inneren gefellichaftlichen Verhältniſſe unſerer Zeit mit
befonberer Rüdfiht auf Schweben. Gtodholm, 1845, ©. 47T.
) Geijer, DO, 101.
2) Geijer, H, 110.
108
werben, unb z0g am Enbe eben fo großen ober noch größeren
Gewinn aus ver Religionsveränberung ale bas Konigthum.
ALS dritte Folge der Reformation trat jene VBerrüdung
des natürlichen Verhältuiffes ber Stände, jene Disharmonie
in der ftaatlichen Ordnung ein, welche der Geſchichte Schwe-
bens feit 300 Jahren ihren wechfelvollen Charakter gegeben,
eine Reihe von Umwälzungen erzeugt hat, wie fie bis 1789
in feinem europäifchen Stante vorgelommen, und als her-
vortretende nationale Eigenfchaften Rachſucht, Parteiung,
Intrigue, menterifches Wefen, Beftechlichkeit und Leichtfinn
erfcheinen läßt.) Drei ihrer Könige haben bie Schweben,
ber Adel nämlich, ermorbet: Erich XIV., Karl XIL,
und Guſtav III.; zwei find abgefegt worden: Sigismund
und Guſtav IV., und enblich haben fie ihre einheimifche
angejtammte Dynaſtie verftoßen und ihr Land unb ihre
Krone an einen fremden Officier, einen Napoleonifchen Ge⸗
neral, verfchenkt ober verkauft.
Auch bier, wie in Dänemark erwuchs aus ber Refor⸗
mation eine brüdenbe, ränlevolle Adelsherrſchaft. Nur da⸗
durch, daß „die Geſetze und Gewohnheiten bes früheren
rohen Zuftandes fo brav waren, wurde Schweden, wie
Arndt fagt, vor den Zuſtänden Rußlands und Polens bes
wahrt.’) Es fehlte die würbige, nnabhängige Stellung und
Bergl. Arndt &. 29, 81 fi.
N, Shwebilche Geſchichten. Leipzig 1889, &. 30.
104 \
ver geordnete Einfluß ber Kirche, Der Intherifche Elerus
war ftets zu abhängig von ven Machthabern.u Ron jeher,
bemerkt Arnbt, bat man bie Priefter (fo beißen bort noch
bie Geiftlichen) befchulbigt, daß von ihnen felten etwas Be⸗
deutendes ausgegangen ift, und daß fie mehr als bie anbern
Stände dem gebient haben, welcher vie Macht hatte. ’)" Die
Reformation hatte die Geiftlichkeit völlig bem König und
bem bel überliefert; Hatte doch jeder in einem Kirchſpiel
wohnende Edelmann das Recht, den Pfarrer zu wählen‘),
den er dann auch nach befieben befolbete. Die vier Stände
waren auf bem Reichstage vertreten, aber ver Abel, ber
beinah alle öffentlichen Stellen bes Reiches befaß, war ber
eigentliche Reichsftand, purfte von den andern Ständen nicht
überftimmt werben, ver Bauer war (unter bem Adel) blos
ein mittelbarer Unterthan bes Reiches.“) Hatte der nel
ſchon gleich bei der Aenderung ber Religion durch bie Theil»
nahme an ber Kirchenplünberung ungemein an DBefig, an
Nechten, an Macht und Einfluß gewonnen, fo erhöhte
ſich fpäter dieſer Antbeil, als bie Regierung, gezwungen bie
Domänen zu veräußern, fie nur an ben Adel veräußern
burfte. *)
) Arndt &. 47.
?) Geijer III, 400.
5) Geijer IH, 18.
*) Geijer: Ueber bie inneren geſellſch. Berbältnifie. S. 65.
18
Wohl kam es vorübergehend, nach Guftav Mbolfe
Zobe, zu Verfuchen ver Geiſtlichkeit, fich der abelichen Ueber⸗
mocht zu entziehen; man wollte, daß den Prebigerfühnen
der Zutritt zu den öffentlichen Aemtern ermöglicht werde.
Aber der Adel war zu ſtark, und bie Hoffnung zu eignem
Adel, welche Bilchöfen, Superintendenten und Doltoren ber
Theologie gemacht wurbe, reichte bin, um bie höhere Geiſt⸗
Uicteit von der niedern abzufonbern.‘) Daß eine ver-
heiratete Geiftlichleit nicht zu einer feften Torporativen -
Stellung gelangen, over fie nicht behaupten könne, Liegt in
ber Ratur ber Sache. Unter bem Joche der Adelsherrſchaft
war der Bauernftanb verarmt umb berabgelommen, das
Bolt ohmmächtig, elenb und unterbrädt.’) Um fich ber-
felben zu entlebigen, fuchte man in Schweben wie in Däne-
mar, die Königegewalt unumſchränkt zu machen. So er⸗
Härten vie Stänve des Jahres 1680: der König fet an keine
Regierungsform gebunden, und im Jahre 1682: die Stände
bielten es für burchans umgereimt, daß ber König ver-
pflichtet fein folle, bei Statuten und Verordnungen bie
Stände erft zu hören. Bon da an galt ver Schluß: daß
ve Königs Wille Geſetz fei, und Alles wurbe nun,
wie Geijer fagt, zum Vortheil ver Alleinherrfchaft gebeutet.
) Geijer, Berhältniffe m. |. w. ©. 110.
9%) Arndt ©. 80.
106
Die Stande hießen nicht mehr Stände des Reichs, fon-
vera Seiner königlichen Majeftät, und im Sabre
1693 warb das Koͤnigthum für völlig unumfchränkt erffärt.
Der König könne, bieß es, ohne irgend eine Verantwortlich
feit nach reiner Willkür regieren. ')
Das führte zu der verberblichen Regierung Karls XIL,
ber dem Neichstag entbieten ließ, er wolle ihnen feinen
Stiefel ſchicken, ihnen zu präfipiven, bas Land in ungeheures
Elend ftürzte, und an ben Rand bed Untergangs brachte.
Nach feiner Ermorbung wurde fofort die unumfchränfte
Königemacht verbammt, und bie ſogenannte ſchwediſche Frei-
heit, d. h. die Adelsherrſchaft, wieberbergeftellt. Alle Macht
und Verwaltung, die großen Privilegien und Vorrechte —
Alles fiel dem Adel wieder zu. Im den Reichötags- Alten
von 1720—1772 fprach fi) nach Arndt's Bemerkung arifto-
tratifcher Dünkel und Uebermuth gegen vie fogenannten
unteren Stände oft auf das Unverfchämtefte aus.“). Die
Monarchie war ein leerer Schatten, herabgewürdigt umb
ohnmächtig. Zugleich Tämpften zwei Adelsfaltionen grimmig
am bie Herrſchaft: die Hüte und die Mützen, ober bie
franzöfifche und die rnffifche Partei. Endlich machte Guſtav IIL
bie unbintige Revolution von 1772; ver Neicherath warb
entfernt, der König gebot wieber al& Herr. Aber er war bem
) Geijer S. 118—115.
9%) Arndt S. 99.
107
Mel nicht lange gewachſen, die Dfficiere feiner eigenen
Armee verrietben ihn, und er fiel aulekt 1792, als
Opfer einer Übelöverfchwörung.
„Dis jet, fagt Seijer im Fahre 1845, iſt in Schweben
nie eine Repräfentationsveränderung gefchehen, es ſei denn
in unb buch eine Revolution; und der Revolutionen auf
unfere Weife haben wir ſchon gar zu viele gehabt. ‘u Seit
dem Morde Guſtavs war Schweven ein Treibhaus politischer
Iatriguen und Corruption. Finnland gieng an Rußland
verloren durch verrätherifchen Verlauf ver Feftungen. Guſtav
IV. warb entthront, auch feine Nachkommen wurben aus⸗
gefchloffen, und man z0g einen in Schweben umbelannten
Fremden als Gründer einer neuen Dynaſtie ben Waſa's
vor. Der Erwerb des unabhängig bleibenden Norwegen
war kein Erfah für den Berluft Finmlands. Schweden fteßt
num machtlo8 dem übermächtigen norbifchen Koloſſe, deſſen
Kanonen faft ſchon die Hauptftabt Beftreichen, gegenüber, und
mm erwarten, was Rußland über fein Schidfal befchließen
werde.
Der Schotte Laing, ber ſich viel mit dem politiſchen
und moralifchen Zuftande des fchwebifchen Volles beichäftigt,
und bemfelben in der einen und anderen Beziehung eine ber
niedrigften Stellen unter den Nationen Europa's anmwelft,
2) neber bie inner geſellſch. Verhätiniffe n. f. w. ©. 128.
108
iſt, obgleich ſelbſt entſchiedner Proteftant, zu bem Ergebuiffe
gekommen, daß bie Reformation ver Moralität unb ben
focialen Zuftänben des Schwebifchen Volles mehr geſchadet,
als genügt habe, daß das Intherifche Kirchenthum fich im
feinem Cinfluffe auf das Volt völlig kraftlos gezeigt, bie
katholiſche Kirche dagegen zu ihrer Zeit ein wirkfameres
Syſtem moralifcher Zucht gewefen fei.’)
Sm Deutfhland war es „ein natürliches Ergebniß
ber Reformation, daß bie Macht der Fürften und ver Reichs⸗
ftäbte (der Magiftrate nemlich) dadurch wuchs; bie Frei⸗
beit bes (mittelbaren) Adels bagegen, des Bauernftanbes
unb ber Lanbftände dadurch herabkam.“) War der deutſche
Klerus früher (zu feinem Unheil) ver reichfte und mächtigfte
in ber Welt gewefen, fo war ver Umfchlag nun fo voll
ftänbig, daß die proteftantifche Geiftlichkeit, wie K. U.
Menzel fagt, ein vienftbares Werkzeug der Staatsgewalt,
und bald eines ber am wenigften geachteten Glieder ber
Kette warb, mit welcher eine neue Ordnung ber Dinge bie
Nation umfchlang. °)
Eine kurze Betrachtung der Zuftände in einzelnen dent⸗
fhen Ländern wird bie große Veränderung, die in der foctal-
!) Tour in Sweden. p. 125.
2) Leo’& Univerfalgefhichte 111, 208. Bte Aufl.
3) Neuere Geſchichte ber Deutſchen. Bd. V, ©. 5. 6.
109
politifchen Zage ver Nation durch die Reformation bewirkt
wurbe, deutlicher zeigen.
In Mellenburg war vie erfte Wirkung, baß ber
Prälatenftand von ben Lanbtagen verfchwand. Seit dem
3. 15652 erſchienen nur noch zwei Stänve, die Nitter- und
Landſchaft, anf ven Lanbtagen. ‘Der Abel Hatte neben ben
Herzogen feinen Theil am Kirchengute davongetragen, und
aum begann bie Unterjochung und Beraubung des Bauern-
ftandes, veffen Rechte feit der Unterbrüdung ber Kirche
Riemand mehr vertrat. Es galt, die Arbeitskräfte ver
Bauern zum Vortheil des Adels auszubeuten, und fie von
den bäuerlihen Hufen durch das fogenannte Legen zu
verdrängen. Auf dem Landtage zu Güftrow im J. 1607
wurben die Bauern für bloße Eoloniften erflärt, welche ven
Grundherren auf deren Begehr felbft die feit undenklichen
Zeiten in bäuerlichem Beſitz befindlichen Aeder wieder ab-
treten müßten. Im 9. 1621 wurbe die unbefchränfte Ver-
fügung über die Bauerhufe den Grundherren völlig ge⸗
fihert, varanf wurde die perfönliche Freiheit des Bauern⸗
ftandes (namentlich durch die Verordnungen von 1633,
1646 und 1654) völlig vernichtet, und wurben alle Perſo⸗
nen biefes Standes zu Leibeigenen erklärt'). Da bie
Bauern nun fich der Knechtſchaft durch häufiges Entweichen
2) Boll's Geſchichte Melienburge. Neubrandenburg 1855, I,
852 fi. II, 142 ff. 147. 48.
1
|
110
in andere Laͤnder zu entziehen fuchten, ſo wurden fie, weun
fie ergriffen würben, mit Stäupung ober mit aubern »har⸗
ten, fchweren Strafen, nach Befinden auch mit Lebensftrafe“
bevrobt. Im 3. 1660 wurde gerabezu die Zobesftrafe auf
Weggehen aus dem Fürftenthume geſetzt. So war denn,
fagt Boll, die Sklavenkette gefchmievet, welche unfere
Bauern bis vor wenigen Jahrzehnten zu fchleppen hatten.
Ihr 2008 war gefeglich nur infofern günfliger, ald das ber
Neger -SHlaven , ba es verboten war, fie einzeln, wie ein
Städ Vieh, in Öffentlicher Auktion meiftbietenb zu verlans-
fen, unter der Hand geſchah es aber fehr gewöhnlich, daß
man mit beu Leibeignen, wie mit Pferben und Rüben,
Handel trieb.
Noch um bie Mitte des 18. Jahrhunderts wirb bes
merkt, daß die Bauern in Mellenburg von den Evelleuten
wie die geringften Knechte gehalten wurben’). Die Bauern
begannen baber, wenn fie konnten, felbft nad) Rußland aus«
zumanbern. Wieder mußte gegen das Entweichen Leibeige-
ner mit eftungebau oder Zuchthausftrafe gebrobt werben.
„Es wäre, hieß es in ber Verordnung, eine Entvölferung
unfrer ohnehin von Menfchen ſehr entblößten Lande und
die Zugrunbrichtung aller Lanbbegüterten zu beforgen *).“
Erft im J. 1820 wurbe bie Leibeigenfchaft aufgehoben.
) Franke: tes unb neues Mellenburg. I, 102.
r) Boll II, 669.
‘
111
Sa Pommern, weldges bis zum 9. 1687 feine eigenen
Herzoge hatte, dann mit der Mark Brandenburg vereinigt
wurde, hatte der Proteftantismus fchon im 3. 1534 ges
ſiegt; auch Herzog Philipp erwog ben Gewinn, ben ihm
bie neue Lehre in ven Reichthümern des Klerns, einer „Fülle
Innbesherrlicher Rechte und ver oberften Leitung ber neuen
Landeskirche“ darbot:). Das Bürgerthum aber, um mit
ven Geſchichtſchreiber Pommerns zu reden, verzichtete, am
firdliden Ziele (ber Reformation) angelangt, auf vie ir⸗
bifche Freiheit; in Stralfund und Stettin hörte gerabe
jest vie Gemeinevertretung auf. Die niebere fläptifche Be⸗
sölferung wurde „aus bürgerlichen Freiheitsrauſche ſchmerz⸗
lich ernüchtert, und blidte begnügt auf den Himmel“ °),
Das eingezogene SKirchenvermögen wurde auch bier, wie
an fo vielen Orten in Luxus, Schlemmerei und Trinkge⸗
fagen verfchleudert ). Dem Bauernftande in Pommern
widerfuhr, was ihm in Mellenburg zu Theil geworben.
Seit der Reformation wurde mit Nachprud und Erfolg das
Legen der Dörfer betrieben, um Schafweiden ober Vorwerle an
beren Stelle einzurichten. Ober bie Evelleute legten bie Bauern⸗
güter wäfte, zogen fie dann in bie Rittergüter und machten
2) Worte Barthold's, Gejchichte von Pommern, IV, 2, 259.
2) Barthold 297, 299.
3) Arndt, Geſch. ber Leibeigenfchaft in Pommern und Nügen.
1808. ©. 148,
112
fie dadurch fteuerfrei. Der Drud war fo arg, daß felbft
Bauern, die Höfe inne hatten, entliefen ’). Doch brachte
nach Bartholds Bemerkung erſt der Einfluß des Römifchen
Rechtsprinzips von der Sklaverei den vollen Fluch der Leib⸗
eigenichaft über Pommern. In der Bauernorbnung von
1616°) werben fie bereit für rechtsloſe Leibeigne erfiärt.
Flüchtige Bauern mußten die Prediger von der Kanzel ab«
ündigen. Den Bauern, bie vom bel ober andern Bes
figern gelegt wurden, nahm man gewöhnlich Alles über
den Kopf. Der Pommeriſche Juriſt und Edelmann Bal-
tbafar geftand im Jahre 1779, daß, während in Deutfch-
fand bie erften Leibeignen faft frei geworben, in Pommern
bie alten Weifen, Knechtfchaft zu begründen, noch vermehrt
worven ſeien. Um fo länger, bis in biefe® Jahrhundert
berein, wurde Klage geführt über die Veröbung unb Men»
fchenleere des Landes.
Su den Braunfhweigifch-Hannover’fchen Ges
bieten fieht man beutlih, wie bie neue abfolute Kirchenge⸗
walt ber Fürſten, zugleich mit ver Verbrängung bed dent⸗
chen Rechts durch das Römifche, welche in Folge der Res
formation vor fich gieng, bie alten Freiheiten des Volles
untergrub, ver burenukratifchen Regierungsweife, der Will
fürberrfchaft ven Weg bahnte. Die aus der Lanbfchaft ge-
1) Arndt 159, 211. Barthold 865,
?) Bei Dähnert, Urkunden-Sammlung III, 886.
u
nommenen Beifiger wurden aliniällg aus den Höheren Ge—
richten und Verwaltungsbehörden durch vie als fürſtliche
Räthe befoldeten Yuriften verbrängt; wo Herlommen und
heimifches Landrecht entfchleven hatten, trat Romiſches Recht
an die Stelle desſelben.) Die Städte verloren Ihre ver⸗
erbte Selbftändigleit — nur Braunfchweig allein behauptete
fie noch einige Zeit — „und von gelehrten Anhängern bes
Römischen Rechts unterftügt, gebot der Lanbesherr meiſt
mit einer früher nicht gefannten Gewalt.” Bas eingezo-
gene Kirchengut geftattete, wenigftens für einige Zeit, den
enxus einer üppig und ſchwelgeriſch gewordenen Hofhaltung
amd ſtark vermehrten Hofvienerfchaft zu befriedigen. In
den Gerichten wurde das rafche mündliche Verfahren burch
eine breite fchriftliche Verhandlung verbrängt.!) Gegenüber:
dem wmaßlofen Aufwand, ben drückenden Geldforderungen
und Steuern bes Hofes, leifteten die Stände, Nitterfchaft
und Stäpte, noch bis ins 17. Jahrhundert hinein einigen
Wiverftand. Aber das alte wohlthätige Inſtitut der von
den Stänven aus Präluten, Adel und Rathsverwandten ges
wählten Landräthe, welche zwiſchen ven Unterthanen und ben
1) Savemann, Gedichte der Lande Braunſchweig und Rline
burg, 1855, II, 479. Bet allen Klagen ber Lanbftänbe, fagt
Spittier (Geſch. von Hannover, I, 347), war ber vblligſte
Sieg des Römiſchen Rechts emtichieben.
7) Savdemann, II, 515.
». Döllinger, Papfſtthum. 8
114
Regenten vermittelten, und Gtreitfälle auf eine auch für
ben Fürften bindende Weife entſchieden, verfiel ſchon burch
ben mit ber Reformation eingetretenen Ausfall der geiftli-
Shen Mitglieder, und warb allmälig dur Bildung anderer
färftlicher Collegien verdrängt?). In Folge der durch den
Raub des Kirchenguts erzeugten Verſchwendung trat enblich
völlige Zerrüttung der fürftlicden Kammer ein, man griff
zur Müngzverfchlechterung und andern unfittlichen Mitteln,
das Unwefen ver Kipper und Wipper und ber berrfchend
gewordene Luxus, und bie allgemeine Leivenfchaft bes
Schmaufens und Trinkens halfen vollends den Wohlſtand
von Tauſen den vernichten). An die Stelle der Landtagsab⸗
fchiede traten (im Fürſtenthum Calenberg zuerft 1651)
berrichaftliche Refolutionen. Bald darauf wurben die legten
Spuren altftändiicher Freiheit und Selbſtſtändigkeit vernichtet.
„Die Geiftlichkeit, fagt Havemann, war längft (d. h.
feit der Reformation) in Abhängigkeit gefunfen, der Adel
war in ben Hofvienft getreten; die Städte fiechten am
Mangel an Gemeinfinn, an den Nachwehen bes großen
deutfchen Kriegs und an einem faulen Regiment im Innern.
Ueber den fünmerlichen Reften des alten Ränbifchen Lebens ent-
faltete ſich die „freie” fürfliche Macht des modernen Staates“ ?).
1) Hepemann Ill, 112.
) Spittler I, 880.
5, Geſchichte ber Lande Braunfchw. und Lüneburg. II, 172.
115
Ya den Brandenburgifch- PreußifhenLänpern
war bie flänbifche Verfaſſung in ben Zeiten nach der Re
formation anfänglich noch ſtark und ungebrochen. Herzog
Wbrecht von Preußen war ein zu fchwacher Charakter und
Batte, in dem Bewußtſein feines fehr zweifelhaften Beſitz⸗
rechte8 den Stänven gegenüber ein zu zaghaftes Gewiffen,
und Churfürſt Ioachim war durch feine und feiner Buh⸗
lerinnen Verſchwendung ftet8 von den Ständen, die feine
Schulden übernahmen, abhängig‘). Ju derfelben Geldab⸗
haͤngigkeit befand fich fein Sohn Johann Georg (1571 bis
1598). Aber die Lage der Bauern wurde Immer härter, ’)
ſeitdem bie Kirche geftlirzt und ber Adel neben dem Fürſten
die einzige Macht im Lande war. Seit dem 17. Jahrhun⸗
bert ftieg mit der Verarmung des Adels und ber Stäpte
die immer mehr nach unumfchränfter Macht ftrebende Für⸗
ftengewalt. Militärifche Exrecutionen, früher In Deutſchland
völlig unbelaunt, wurden, beſonders wegen nicht vollftändig
eingehender Abgaben, häufiger; bie Berufung ber Stände
unterblieb, der Fürft fchrieb die Steuern eigenmädhtig aus.
Stenzel hat es nicht unbemerkt gelaffen, wie auch in
Breußen die FZürftenberrichaft über das Kirchenwefen bazu
führte, daß auch Angelegenheiten der höhern Polizei und
) Gallus, Geſch der Mark Brandenburg. III. 94.
2) Stengel, Geſch. d. Preuß. Staats. I, 847.
g*
116
Bermaltung, die fon mit den Stänben berathen und bes
fchloffen worden waren, mehr und mehr von den Würften
eigenmächtig entfchieben, und in's Kabinet gezogen wılrben?),
womit die Stände immer mehr an Debeutung verloren,
und die Regierung in fteigender Progrefiion deſpotiſcher
und bureaufratifch mechanifirt wurbe.
‚Seit der Regierung bes Ehurfürften Friedrich Wilhelm
(1640-1688) entwidelte fi) die abfolute Willfürherrichaft
planmäßig. Fin allgemeiner Landtag wurde feit 1656 nicht
wieder berufen. Die ohne bie Bewilligung unb gegen bie
Vroteftation der Stände außgejchriebenen erdrückenden Ab»
gaben ließ der Ehurfürft militärifch erpreſſen, fo daß die
Bauern fchnarenweife ihre Güter verließen, Räuber wurden,
Bauern und Edelleute nach Polen flohen, zwölftaufenn
Banerngüter. wüft lagen, die Steuern von vielen taufend
Hufen Höher waren, ald deren Ertrag. Die Stände im Herzog⸗
thum Preußen, bie fich noch Durch die Verträge mit Polen ges
hätt wähnten, behaupteten, von ber ehemaligen Freiheit
ſei nichts mehr übrig, als nur das Recht ihren Untergang
zu beilogen, und brobten auszuwandern. In ber Mark
waren fie ohnehin zu einem bloßen Erebitinftitut herabge⸗
feht'). Es war eine beifpiellofe Tyrannei, und ſolche Dinge,
ärger al8 bie franzöfifche Verheerung ber Pfalz, wurden
1) Geſch. des Preuß. Staats I, 869.
N &tenzel OL, 422.
417
von einem Fürſten verübt, dem man nachher in feinem
Lande den Namen des Großen zu geben übereingelommen tft.
Preußen war, nah Stenzels Ausbrud, auf dem
Wege, eine afiatiiche Defpotte zu werben, welche alles Edle
und Schöne erftict hätte. Soldaten und bie Leidenſchaft
der Jagd, für deren Befriebigung der Ehurfürft 3000 Leute
befolbete ’), das waren bie Ziwede, denen zu genügen ba
Land ansgefogen, viele Taufende an ben Bettlerftab ge
bracht wurden. Dabei warb die Dienftbarkelt und Leib⸗
eigenfhaft, in welche die Bauern hinabgedrückt worden
waren, fireng aufrecht erhalten.
Friedrich J., ber prunkſüchtige erſte KöniggPreußen®,
ſetzte das Syſtem des Vaters fort: die Stände, wo fie noch
beftanden, waren uur dazu ba, bie Steuern, weun nicht
willig, dann gezwungen, zu votiren und Anleihen zu ver-
bärgen). Friedrich Wilden I, aber (1713—1740) über
traf noch den Großvater. Mit feiner Thronbeſteigung be
gann in Preußen die Herrfchaft eines Keinlichen, Inıtnenhafe
ten, oft granfamen?) Defpoten, eines geiftig befchränften,
harten, von ver Idee feiner fchrankenlofen Allmacht erfüll⸗
Stenzel II, 466.
2) Stenzel II, 196.
3) 1 faut donner une viotime au bourreau, fagten bie Großen
von ihm. ——— Ueber Br. Wilh. den Erſten.
Brauuſchw. 1793, ©. 140. .
18 _
ten, nur nad Geld und Solbaten trachtenden Menichen,
ber feine Richter mit Stodichlägen zwang, ihre Sentenzen
nach feinem Willen zu reformiren, ber Menſchen „ohne
proceſſualiſche Weitläufigleiten” hängen ließ, und feſtſetzte,
daß, wenn ein Deferteur bei einer für Strafgelver allzu
armen Ortfchaft durch⸗ ober vorbeigelommen, bie anges
febenften Einwohner einige Monate karren follten‘). Unter
ihm mußte die lutheriſche Geiftlichfeit den Leidenskelch des
öntglichen Oberbiſchoſthums bis auf die Hefen anstrinken.
Der König, felber reformirt, aber in kirchlichen wie in welt»
lichen Dingen gleich allwiſſend und allmächtig, fchrieb ven
Sutheranern als ihr getftliches Oberhaupt vor, welche Ma⸗
terien auf den Kanzeln erwähnt oder verfchiwiegen, welche
Gebräuche beim Gottesdienſte geübt ober befeitigt werben
ſollten. So verbot er 1729, bei Begräbniifen ber Luthera-
ner ein Cruzifix ober Kreuz der Leiche vorzutragen, welches
belanntlich eine aus dem Papfttyum übrig gebliebene ärger»
fiche Gewohnbeit ſei?).
Sein Sohn, Friedrich IL. vermochte durch fein Genie
und durch bie Außerfe Anftrengung aller Kräfte feine®
Volkes und Landes Preußen zn einem mächtigen Staate
von Europäifcher Bedeutung zu erheben. Die Regierung
I) Förſter's Friebri Wilhelm I. II, 202.
) Stengel II, 474. Man vergleiche bort S. 475 bie De
ſchreibung ber fogenannten „Priefterreuie” in Berlin.
119
war defpotifch und rein willfürlich nach wie vor, aber es
war der aufgellärte, der im franzoͤſiſchen Sinne des Wortes
philoſophiſche Defpotismus, und ber Träger beffelben war
ein gewaltiger Serrfchergeift, ber zuerft ver Bevoͤllerung
feiner Länder eine, nicht ſowohl national» als ſtaatlich⸗preu⸗
Bifche, Sinnesart einzuflößen verftand. ‘Der zahlreichſte
Theil der Nation blieb indeß in feinem gebrüdten, elenden
Zuftande. So fehr entbehrte der größte Theil der Laud⸗
bewohner aller Freiheit der Perſon, des Eigenthums und
ber Bewegung, daß Buchholz viefen Zuften mit dem
einer Weſtindiſchen Kolonie verglich‘). Friedrich verfügte
fogar, daß abgedankte Solpaten nicht nur auf's Neue ihren
alten Grundherren unterthänig fein follten, ſondern auch,
daß dieſes Loos auch ihre im freien Stande gebornen Frauen,
Wittwen und Kinder treffen follte*). ‘Der Breußifche Re⸗
gierung$ » Statiftiler Dieterici fchildert im 3. 1848 ben
Zuftand des Landes, wie er noch im J. 1806 war, und ruft
am Schluße feines Bildes aus: „Wie viel Beſchränkungen
der Freiheit der Einzelnen! Wie vielfach erfchwert, daß
ein Jeder feine Kraft entwickle, fo viel als möglich verdiene,
fäne Lage verbefirel Wie viel perfönliche Abhängigkeit der
nen von den Anvern! Welche Willlür, welche Gewalt
der Bevorrechteten gegeben gegen ben Unterprüdten! Wie
') Gemätde des gefellih. Lebens im Könige. Preußen. Th. J, 6.19
) Verordnung vom 7. April 1777.
dep
jHwere Abgaben, wie viel perjönliche Laften dem Volle aufs
gebürbet |") Doch Eine Freiheit hatte Friedrich gewährt ;
jeber konnte nach feiner Bacon felig werben, jeber auch
lonute, in der Weife des Gebieters, fich als Religionsver-
üchter zu exleunen geben.
gIm Churfürſtenthum Sachfen läßt fich deutlich wahr-
nehmen, wie feit ver Reformation bie fürftliche Herrichaft
über das gefammte Kirchenweſen, das wachfende Vielregie⸗
zen, die Hänfung der Abgaben, die Bebrüdung der Unter:
thanen und die Verbrängung früherer Rechte Hand in Hart
gingen. Der zweimel, unter Auguft und unter Ehriftianl.,
ansgebrochene Kampf zwiſchen Calvinismus und Lutherthum
führte zu einer langen Kette von Gewwaltfchritten, zu Abfeßungen,
"Berbannungen, Kerter, Folter und Hinrichtungen, bie Regierung
griff in die verfchiepenften Lebenskreife ein, um nur den einges
brungenen: Ealvinismus recht gründlich wieder auszurotten,
und bie ftrengfte Beobachtung des burch ein neues Glaubens⸗
buch und burch den barauf abzulegenden Religionseid be⸗
feftigten Lutherthums zu fichern. So wurbe man an ge
waltthaͤtiges Zufabren, an Härte und Schonungslofigkit
in Behandlung ver Unterihanen gewöhnt. Die Städte vr-
foren ihre frühere Selbftflänpigfeit, vie Stände mußen
N Ueber Breufife Zuſtãude Berk, ‚1848, G. 19.
«121
fi die drückendſten Iagdgefege ’) und fogar 1612 die Ein⸗
führung einer geheimen Polizei gefallen laffen ’), und fich
mehr unb mehr darauf befchränfen, Steuern zu bewilfigen
und fürftliche Schulpden zu übernehmen. Schon auf dem
Torgauer Landtag 1555 äußerten die Stänbe: „es fei ihnen
nicht möglich, die neue Traulſteuer zu tragen, fie jollten
denn ganz öde und wüfte werben, verderben und untergehen“.
Über fie dauerte zugleich mit der 1582 beveutend erhöhten
Landfteuer fort’). Die Wirkungen weren berartig, daß
jelbft ein Hofprebiger befaunte: bie Unterthanen feien jo
von allen Mitteln entblößt worben, daß fie kaum das Les
ben mehr. übrig gehabt Hätten; und ein Zeitgenoffe berich⸗
tete: im 3. 1580 hätten bie Leute vor Armuth und Hun⸗
ger die Trebern im Bräuhaus gegeffen‘). Es ſei nicht
zu läugnen, bemerkt Arnold biebei, daß mit der Reforma⸗
tion die Tyhrannei, Schinberei und Ungerechtigfeit auf's
höchſte geftiegen jei°).
Ic enthalte mich, weitere Umfchau in Deutſchland zu
halten, von dem Zuftande in Heffen, Würtemberg und klei⸗
4) Wen nicht zum Sagbperfonal gehörigen Hunden mußte ein
Borberfuß abgelöß werben: Bötticher IL, 67.
N Böttiger 1,14. |
32) Gretſchel Geld. des Sächſ. Volle und Staates. IL, 70.
9) Jenisii Annal. Annaeberg, p. 45.
2) Kicchenhiftorie, I, 792,
122
neren Staaten und Stäätchen zu reden. Es genüge, Sten-
zel’® Aeußerung anzuführen: „Während vie unbefchräntte
fürftfiche Gewalt in vielen andern deutſchen Länbern nicht
weniger willfürlich (als in Preußen) einherfchritt, wurde bort
ber Ertrag des fauren Schweißes der Unterthanen an Maitrefien
und Günftlinge, an Opernfänger, Rammerherrn, Diener
und Yunfer, an Tänzerinnen und andere Gegenftänve ber
fürftlichen Launen und Genüffe, ohne allen höhern Staate-
zwed verwendet“ ?).
Wenden wir uns ben länbern zu, welche ben Proteftan-
tismus in caloinifcher Form angenommen haben, fo ftellen
fih und Niederland und Schottland dar; England
mit feiner feiner andern gleichenden Kirche ift für fich zu
betrachten. Die Schweiz laſſen wir bet Seite, da dort ka⸗
tholifche und proteftantifche Kantone neben einander befteben,
und wohl Niemand behaupten wird, baß bie bürgerliche
Freiheit in lettteren beifer gebieben fet, als in den erfteren.
Die Niederlande, dieſes losgeriſſene Stüd Deutfch-
lands, welches aus dem Kampfe mit Spanien als Republik
hervorging, vermochten kaum zwei Jahrhunderte unter fleten
inneren Kämpfen und Parteiungen fich zu behaupten, und
ſchwankten zwiſchen republifanifchen AJuftänden, wie fie die
ftäbtifche Ariftofratie wollte und vertrat, und zwijchen mo⸗
%) Geſchichte des Preuß. Eiaatet, II, 4
123
narchifcher Regierung durch die Generalftatihalter aus dem
Dranifchen Hauſe. Wäre ber Calvinismus allgemein bort
berrfchend geworden, fo würbe bie Macht ber Oranier bis
zum ftabilen veligiös - politifchen Deipotismns ausgebildet
unb befeftigt worden fein. „Die bollänbifche reformirte
Kirche, fagt Niebuhr, ift von jeber, ſobald fie frei ges
worben war, plump tyrannifch geweſen, und bat nie, weder
durch den Geift, noch durch den guten Sinn ihrer Lehrer,
fonderliche Achtung verdient. Die caloiniftifche Religion
bat allenthalben, in England, in Holland, in Genf ihre
Blutgerüfte eben jo gut aufgerichtet wie die Inquifition,
und auch nicht ein einziges von den Verdienſten ber ka⸗
tholiichen”.*) Die unbebingte Herrichaft des Calvinismus,
und bamit die der Oranter, wurde abgewenbet tbeil® durch
die Bildung neuer Sekten, theils durch das Fortbeftehen
einer febr beträchtlichen katholiſchen Bevölkerung, welche
freilich aller politifchen und kirchlichen Rechte beraubt war,
aber eben dadurch dem Parteigetriebe entrüdt, das Staats⸗
ſchiff in rubigerem Gange zu erhalten beitrug, unb mit
ihrem Gewicht, jo weit fie eines hatte, bie dem Dranifchen
Generalitatthalter und ber caloiniftifchen Prebiger-Herrfchaft
entgegengefettte Partei verftärkte. Die neue, ven Calvinis«
mus belämpfenbe, Arminianifche Lehre führte ven erften po»
Nachgelaſſene Schriften, Hhanburg 1842, ©. 288.
124
litiſch⸗ kirchlichen Kampf herbei. Mit der Hinrichtung Ol⸗
denbarnevelds, der Einkerkerung ber Arminianer und der
Dordrechter Synode war der Sieg bes vereinigten Gal-
binismus und Orangismus errungen. Aber bie Stoaten-
partei, deren Häupter atminianifch gefinnt, oder den: Armi⸗
nianern befreundet waren, kam nad) Morigens Tode wieder
empor. Als Holland ˖ die Provinzialſtaaten für die Souperaine
des Landes erklaͤrte, griff Wilhelm II. zu den Waffen, unb e8
fchten, als ob ihm bie Unterjochung ber Republik durch nee
narchifche Herrfchaft gelingen werde; der Tod vereitelte jedoch
im J. 1650 feine füßnen Entwürfe. Nun gelangte vie
Staatenpartet wieder zu vorübergehender Herrſchaft, und
wollte durch das, ewige Edikt/ der Oranter und ihrer General
ftatthalterfchaft loswerden. Der Barteilampf führte pa und
dort zu bintigem Handgemenge. Der junge Wilhelm IIL
bon Dranien wurde burch bie calvinifchen Prediger und
das von ihnen geleitete Volt wieder emporgehoben, unb
die von ihm -benütte und befchügte Ermorbung der Brüper
be Witt befeftigte feine Herrſchaft. Als er jedoch, König
kon England geivorden, von dert aus bie Niederlande zu
regieren fortfuhr, kam es in Seeland und anberwärts zu
energiſchem Widerſtande ').
Die großen, im Ganzen mit glücklichem Erfolge ge⸗
führten Kriege, vie Seeherrfchaft, die auswärtigen Eroberuns
9) Ban Rampen, Gef, b. Nicherlande, II, 892 fi
126
gen, das Alles Hatte bie Kraft und Aufmerkfamfelt ver
Ration nad aufen gewandt; die Zerliäftung im Innern
war baburd aufgehalten worben. Aber mit bem achtzehn;
ten Jahrhunderte trat auch bereits der Verfall in. Der
Egoismus der Provinzen machte fich gegen das Ganze, der
Ezoismus der Städte. gegen die Provinzen fich geltenh,
Gelpgier und engberziger. Rrämergeift neben beſchränkten
Bortetweienbliebenam Ende die Haupttriebfebern. Bedeutenpe -
Männer traten nicht mehr hervor; aber es gab eine Menge
Deiner Tyranuen. Und dabei wurbe, wie Niebuhr ſagt,
nicht blos der Untergang des Staates, fondern and) der
Berfall der Nation durch ven Unſinn bes Parteibaffes ber
förbert. Gegen Ende des Iahrhunberts rief man felbit bie
Fremden berbei, und fahen die Nieberländer ohne Scham
Brengen, Franzoſen, Eugländer im Herzen ihres Landes.
Die Prengen eroberten 1787 Amfterdam, und nerfchafften
den Drantenmännern den erfehnten Triumph. Die Patrio⸗
ten flüchteten nach Frankreich; und im J. 17% bemächtigten
fi) die Franzoſen des ganzen Landes ohne Schwertitreich. Nun
wurbe das franzöfliche Revolutionsweſen, Aubs und Yale
binertfum mit allem. Zubehör, von dem charalterios ge
worbenen Volle nachgeäfft; Nieberland worb zur Bataviſchen
Republik, warb dann ein franzöfirtes Königreich, Bald darauf
eine franzöfiiche Provinz, und enblich wieder durch fremde
Mächte ein unabhängiges Königreich.
126
Wenn in den Niederlanden bie Freiheit, deren man
genoß, weſentlich dadurch bebingt war, ba der Calvinismus
feine große Herrfchaft bald wieber verlor, und e& zu keiner
Einheit der Religion kam, fo fehen wir in Schottland,
wo der Calvinismus durch Knor in feiner ächteften Geftalt
Kingeführt wurbe, ein Ähnliches Ergebniß. Bis zu Ende
des 16. Jahrhunderts gab ed dort noch kaum georbnete
bürgerliche Zuftände. Das Land war noch der Schauplak
feubaler Gewaltthaten und Privatfehpen, bie Yalob J. erft
gegen Ende feiner Regierung (1624) unterbrädt zu haben
fih rühmte. Dann kam die Zeit ver Kämpfe gegen biſchöf⸗
fiche VBerfaffung und Liturgie, welche Karl I. den Schotten
auforingen . wollte. Mit dem Siege, ben der Schottifche
Calvinismus errang, wurbe jener Zuftand proteftantifcher
Blüthe und Alleinherrfchaft wieder aufgerichtet,. ben bie
Reformation in Schottland nach dem Sinne ihrer Urheber
begründet hatte, als der Reformator Knor erflärte, daß
„Anorbnung und Umgeftaltung der Religion ganz befonbers
” ver bürgerlichen Gewalt zuftehe )“, undauf zweimaliges Dar⸗
bringen des Meßopfers die Tobesftrafe gefett war. Aber hiemit
trat auch eine geiftliche Tyrannei ein, pie mit ſolcher Härte,
mit fo ſchonungsloſem Eingreifen in das Privat- und Fa⸗
) To the Civil Magistrate specially appertains the ordering
and reformation of Religion Westminster Review, t 54,
p. 453.
127
milienleben nur noch in Nordamerika geübt worben ft. Die
Preebpterien dehnten ihre Gewalt fo weit aus, handhabten
bie furdhtbare Waffe der Ercommunication,, bie faft einer
völligen Aechtung und Ausftoßung aus dem gefellfchaftlichen
Berbanbe gleich Tam, mit ſolchem Erfolge, daß kein Menich
ein Gefühl der Sicherheit haben, daß faft jeve Handlung
des Lebens vor das preöbhteriale Forum gezogen werben
tounte. °) Es verfteht ſich, daß ba auch jeber Verſuch, in
irgend einer geiftigen Richtung bie engen Schranfen der
caloinifchen Anfchauungsweife zu durchbrechen, ſchon im
Keime erftidt wurde.
Es ift vielfach behauptet worben, daß bie calviniſche
Kircheuverfaffung vor andern vollsmäßig, populär, ber Frei⸗
heit güuftig fet, weil fie dem Laien-Element in ven Presbh⸗
terien und höher hinauf einen fo bedeutenden Antheil une
Einfluß einräume. Die Erfahrung bat aber bewiejen, daß
keine andere Form lirchlicher Ordnung zu einer fo peinlichen
sub unerträglichen Tyrannei geführt, Teinezu ftärlerer Oppo⸗
fition gereizt bat, weshalb fie denn auch überall Zivietracht
und Erbitterung gefäet, und fich nicht lange zu Balten ver-
mocht hat. Das Inſtitut der Presbpterien als Sittenge-
1) Ein anſchauliches Bild diefer Zuftände hat neuerlich Robert
Chambers in feinen Domestic Annals of Scotland from
the Reformation to the Revolution, Edinburgh 1858, ent-
worfen.
128
richte ift immer nur in Meinen Stäbten und in Dörfern ein⸗
geführt worden, wo jeder vie häuslichen Verhäftniffe ber
übrigen Tennt, jeder mit feinen Nachbarn, mit vielen Andern
In verwandtfchaftlicher Verbindung fteht, jeder feine Motive
ber Feindſchaft, der Barteilichfeit bat. Werben nun Einzelne,
als „Laien⸗Aelteſte⸗ ausgewählt, um über ihre Mitbürger
zu Gericht zu fiken, fo ergeben fich unfehlbar drei Uebel⸗
ftände. Erſtens find dieſe Männer ver ftärfften Verſuchung
ausgefeht, eine fo ganz discretionäre und weitausgreifenbe
Gewalt zu. Privatzweden bes perfönlichen Bortheils ober
zur Befriedigung ihrer Rache, ihres Mißwollens zu mißbrau-
hen. Zweitens bildet ſich in jeder Gemeinde ein Syſtem
bes Spionirene, bes Eindringens in die Heimlichleiten des
Privatlebens; Denunciationen, Klatſchereien, Schadenfreude
und Haß hüllen ſich in ben Schein bes Religionseifers.
Drittens werben die Träger einer feldhen Gewalt unver⸗
meidlich Gegenftand des allgemeinen Widerwillens, des Haſ⸗
ſes und Argwohns; ihre äußere Neligiofität, welche bei
Ihrer Auswahl entfchieven hat, erfcheint als berechnetes
Mittel, als Heuchelei. Der Menfch läßt fich wohl beftim-
men, einem Manne eine gewiffe religiöe-meralifche Antori-
tät einzuräumen, ber das Siegel eines befonderen Rebens«
beruf8 empfangen hat, und eine-abgefonberte, von bem All⸗
tagstreiben der Menge ausgefchierene Stellung im Leben
einnimmt, aber nie wird er ſich denen, die nur feines Glei⸗
'
129
den find, die gleich ihm dem Erwerb und ver Sorge für
bie Ihrigen leben, in religidfen Dingen. willig unterwerfen.
Doß man in dem Jahrhundert des Neligionen» und Kir⸗
dhenmachens ein Inſtitut wie die Preöbpterien mit Laien
Helteften und Sittengericht erfand, das ift eines ber zahl
reichen Beifpiele von Kurzfichtigleit, von Mangel an prakti⸗
ſchem Berftand und Menſchenkenntniß, welche damals von
den Reformatoren gegeben innrben.
Indeß währte dieſer Zuſtand nicht allzulange, denn
von 1660 bis 1688 war bie calvinifche Kirche in Schott-
laud durch die erneuten Bemühungen der Englifchen Re⸗
gierung, die Anglifanifche Kirchenform einzuführen, gendthigt,
mit Aufßerfter Anftrengung ihrer Kräfte für ihre Eriftenz zu
fümpfen. Zwar fiegte wieder mit der Revolution von 1688
der Calvinismus, aber eine Parlamentsakte, welche 1712
Borlabungen vor kirchliche Gerichte bie Unterftükung des
weltlichen Arms verjagte, machte die Wieberberftellung ver
früheren Tyrahnet unmöglich. Zugleich mußten die Cal⸗
viniften eine bifchöfliche Kirche in Schottland neben ſich
dulden. Damit und mit ven Spaltungen und Seceſſionen
von ber herrichenden Kirche, welche nun (feit 1735) immer
häufiger wurben, begann erſt bie Zeit der wirklichen Frei⸗
Beit in Schottland.
England Hatte in feiner Tatholifchen Zeit und unter
der mächtigen Deihülfe der Kirche den Grund zu feinen
». Dölfinger, Papſtthum. ' 9
130
ſtaatlichen Freiheiten gelegt, unb das Gebäude bereits gro⸗
Sentheils aufgeführt. Die Kirche war es, welcher bie Na⸗
tion die Magna Charta von 1215, die allmälige Verſchmel⸗
zung und @leichftellung ber Eroberer und ber Befiegten,
ber Ungelfächfifchen unb ver Normännifchen Race, und bie
DBernichtung der bäuerlichen Knechtſchaft (villenage) ver
dankte, ben hatten bie erften Funken des in Deutfchland
ausgebrochenen religiöfen Brandes auch auf der Britijchen
Infel gezündet, als Heinrich VIIL ven Plan faßte, fich
durch vollftändige Unterjodhung ber Kirche ven Weg zum
unumfchränkten Königthum zu bahnen. Daß ihm dieß ge=
lang, ift befannt. Er und bie folgenden Fürften des Han⸗
je8 Tudor, oder die, welche in ihrem Namen regierten,
fonnten mit der Kirche des Landes nach Gutdünken ver-
fahren, und machten den umfafjenpften Gebrauch von biefer
Macht. Unter Eduard VL warb ber volle Proteftantisnus,
wie er fich auf dem Feſtlande bereits entwidelt hatte, ein-
geführt. Eliſabeth ftellte das Werk ihres Bruders ober
feiner Vormünder und Rathgeber, nachdem es durch Maria
unterbrochen worden, wieder her, doch mit einigen bedeu⸗
tenden Modificationen. Die proteſtantiſche Lehre war ein
der Nation fo fremdartiges Weſen, daß kein Engländer im
16. Jahrhundert auch nur einen einzigen eigenen Gedanken
auf biefem Gebiete entwidelt, oder zu ber vom Continent
eingebrachten Lehre Hinzugefügt bat. Man wußte nichts
131
zu thun, als pie fertige Doctrin, wie fie in Genf und Zü-
rich ausgeprägt worben, der Nation von oben herab aufzu⸗
legen. Mit Gewalt, mit den Waffen fremder Soldner
wurde das Volk gezwungen, der katholiſchen Religion zu
entſagen, und ſich dem Glauben Bullinger's und Calvin's
zu unterwerfen. Selbſt ein jo lobredueriſcher Geſchichtſchrei⸗
ber der Engliſchen Reformation, wie Bifhof Burnet, ge
fteht, Daß alle Bemühungen ver Regierung, ven Widerwillen
des Volkes gegen den Proteſtantismus zu überwinden, vergeb«
fich gewefen, und daß man deshalb von Calais Deutfche
Sätonerfchanren im 93. 1549 babe. herüberlommen laffen,
um diefen Widerftand zu brechen‘). Bei eilf Zmölftbeilen,
fagte damals Paget dem Protector, Herzog von Somerfet,
babe vie neue Religion noch nicht Eingang gefunden ?).
Der Widerſtand des tatholifchen Volkes wurbe nun zwar, ſo⸗
wohl unter Eouard IV. als unter Elifabeth, gebrochen, aber
2) History of the Engl. Reformation. Lomdon 1681, fol. III,
190, 196. In Cornwoll war fhon im 3. 1547 ein Aufftand
gegen ben Protector, ber England proteftantiih machen wolle,
ausgebrodhen; das Bolt verlangte, man folle ihm geftatten,
bei den Entſcheidungen der allgemeinen Kirchenverfammlungen
zu bleiben. Quarterly Review, t. 102 (1867) p. 319. Im
3. 1569 erfolgte im Norden eine neue große Volkserhebung
gegen das Joch des Proteftantismus. Sie ward durch maflen-
hafte Hinrichtungen erbrüdt.
2) Strype’s eccles. memorials, II, Appendix H. H.
g*
132
fchwieriger war e8, ober vielmehr unmöglich, pie Einheit
ber proteftantifchen Kirche herzuftellen, und Trennungen auf
ber Grundlage der Reformation abzuwenden.
Die neue Staatskirche vepräfentirte in ihren Eigen-
thünnlichleiten und heterogenen Beſtandtheilen keine Bartel,
keines ber damals vorhandenen Syſteme, ſondern verbanfte
ihre Eriftenz einerſeits dem Beftreben, dem noch überwie⸗
gend katholiſchen Wolle in ven Aeußerlichkeiten ber priefter
lichen Kleidnug und mancher Gebräuche ven Schein bes
Herlömmlichen und der Katholicität zu laſſen, anbererfeits
den perjönlichen Neigungen ver Königin, welche, mehr aus
Politik als aus bogmatifcher Vorliebe proteftantifh, mög⸗
Gchft viele Elemente der alten Religion, wenigftens in der
Liturgie und Verwaltung ber Sacramente, beibehalten wiſ⸗
fen wollte. Uber die Männer, welche an der Spike ber
neuen Kirche flanden, Parker und Grindal, Iewel,
Nowell u. a., waren alle entfchiebene Calviniſten, jo gut
wie die PBuritaner; fie waren nur zugleich auch gehorfante
Hoftheologen. In der Nation hatten fie Teine rechte Stütze;
ber katholiſch gefinnte, aber in fteter Verminderung be⸗
griffene Theil des Volles ſah in der neuen Hof» unb
Staatskirche nur eben das kleinere Uebel im Vergleiche
mit dem noch brüdenkeren Joche des verhaßten Calvinis-
mus; wogegen alle eifrigeren Proteftanten im Grunde pu⸗
ritanifch gefinnt waren, d. h. folgerichtig meinten, das
133
Aeußere der Kirche folle dem Junern entfprechen; zu einem
caloinifchen Lehrbegriffe gehöre auch eine calninifche Ber-
faſſung und Gottesbienftorpnung. Die Stantsfirche Hatte
baber auch fünfzig Jahre lang eigentlich Teine Theologie
and tbeologifche Literatur, man uährte fi) von ven Pros
ducten der Züricher, Straßburger, Genfer Schulen und
copirte fie. Exft im Jahre 1594, ale Richard Hooker
mit feinem berühmten Werk über bie Kirchenberfaſſung her⸗
vortrat, begaun ber Verſuch, der Staatslirche auch eine
eigne bogmatifche Unterlage zu geben, der denn, im noth⸗
wenbigen Gegenfate gegen ben Calvinismus, ben Bruch
mit der alten Kirche und beren Trabition zu einem mög»
lichſt geringen zu machen fuchte, alfo uotbgedrungen in ka⸗
tholiſche Pfade einlentte.
Aber nun kam noch ein andrer höchft bedentungsvoller
Streitpunkt hinzu. Die Hofreformatoren der Tudore,
Eranmer an ber Spitze, waren nicht bei ber allen Pro⸗
teftanten, Lutheranern wie Ealviniften, gemeinfamen Theorie
ftehen geblieben, baß vie bürgerliche Obrigkeit auch über
die Religion zu entfcheiden, bie kirchlichen Angelegenheiten
zu ordnen, bie Kirche im alle des Bebürfniffes zu refor⸗
miren habe. Sie waren weiter gegangen: nad ihrer
Theorie war der König Stellvertreter Gotte® auf Erben
in dem Sinne, daß er als Hoherpriefter oberfter Kirchen-
tehrer und Quelle jeber zum SKirchenbienft erforberlichen
Ma
Befugniß war.) Die Erzbifchöfe Cranmer und Parker
behaupteten: Fürften könnten eben jo gut Priefter machen,
als die Bifchäfe, und ein vom Könige ernannter Priefter be-
bürfe keiner Ordination. Zwar pflegte man von biefem
öniglichen Hohenpriefterthume die perfönliche Verrichtung
ber Eultushanblungen und der Spenbung der Sacramente
abzulehnen; baranf, hieß es gewöhnlich, mache ber König
oder die Königin Teinen Anfpruch, aber, bemerkt ein leben»
ber Theologe der Anglikanifchen Kirche richtig: offenbar
wollte man nur dieſe eine Ausnahme gelten laffen, und
nahm jebe andere Gattung Firchlicher Autorität für ben
Monarchen in Anſpruch.) Nach dieſen Grunpfägen wurde
nun bie Reformation ber Englifchen Kirche durchgeführt;
die Bifchdfe Tiefen fich für jede Art kirchlicher Thaͤtigkeit
Bollmachten ertheilen, welche die Krone beliebig befchräntte,
over erweiterte, unb bei einem Thronwechſel mußten neue
Vollmachten ausgeftellt werben, ba die übertragenen Ge⸗
walten mit dem Tode des Verleihers als erlofchen gebacht
wurrden.?)
!) The vicar of God, the expositor of catholio verity, the
channel of sacramental graces. So bezeichnet Macanlay,
hist. of England, I, 54, Tauchn. ed., biefe Theorie ganz
richtig.
N) Pretyman: the Church of England and Erastianism
since the Reformation. London 1854, p. 34.
2) Bolflänbig, mit reichen Belegen aus ben Duelle, ift dieſes
— _
Eitfabeth wollte num zwar nicht, wie ihr Vater und Ihr
Bruder, als Trägerin einer Hobepriefterlichen Wurde er⸗
fcheinen, aber fie und ihr Parlament beftätigten das Prin-
cip, daß die ſchrankenloſe Bewalt des Konigthums über bad
gefammte Kirchenweſen für immer in England beſtehen,
umd jede Jurisdiction, jede Befugniß in Lehre, Disciplin,
Reformation der Kirche mit der Krone verbunden fein folle.’)
As nachher Jakob I. im Begriffe den Englifchen Thron
zu befteigen, zum erftenmale ven ganzen Umfang des von
ber Borgängerin ihm hinterlaffenen Erbes, die Größe feiner
Königsprärogative begriff, rief ex entzüdt aus: „Ich alfo
mache, was mir gefällt: Geſetz und Evangelium!“ *)
So wurde die neue proteftantifche Staatskirche auf
Bundert fünfzig Sabre hinaus „vie knechtiſche Dienerin der
Berhättniß dargelegt von David Remis: Notes on the na-
tare and extent of the royal supremacy in the Anglican
Church. London; 1847. ©. beſonders ©. 29 ff.
3) Doch war es nicht eigentlich bie Königin ober ihre Nachfolger,
fondern das Parlament, welches bamals eine förmliche Unfehl-
barkeit für fich in Anfpruch nahm; es fügte nemlich bem Statut über
den Löniglichen Kirchenfupremat die Elaufel bei: kein Alt ober Be⸗
ſchluß des gegenwärtigen Parlaments in religiäfen Dingen bürfe je-
mals ale irrig betrachtet werben. ©. bie Stelle bei Lewis, p. 37.
2) Wörtfich in feinem ſchottiſchen Dinielte: „Do I mak the jud-
ges? Do I mak the bishops ? Then, God’s wauns! I mak
what likes me, law and gospel!“ Hist. Essays, by John
‚Forster, London 1858, I, 227.
156
Monarchie, die beharrliche Feindin ber äffentlichen Frei⸗
beiten.) Das Englifche Bolt fehien feinen Charakter ges
wartbelt zu haben; im 14. und 15. Jahrhundert hatten
fremde Gefchichtsichreiber, Froiſſart und Comines es
als das freiefte und ftolgefte in Europa, welches Unter
brüädung am wenigfien ertrage, geſchildert. Und was war
jetzt aus viefeun Volle geworben? Sein Parlament unter
warf vie heiltgften Intereffen, die innerften Rechte des Ges
wiffens ber Willlür eines Weibes; feine Kirche lag be
mätbig zu den Füßen bes Königthums, prebigte bie abfo-
Iute Macht der Krone, den unbebingten leivenden Gehor⸗
ſam gegen ven Willen bes Könige. Bedenkt man, daß bie
Regierung kein ftehendes Heer im Lande hatte, fo wird vie
Sache noch auffallender. Allein. die Lage der Dinge umb
der Parteien erklärt Alles. Die Regierung konnte fich auf
zwei ober. eigentlich brei Parteien fügen, und mit ihrer
Hilfe erft die Anhänger der alten Religion, dann auch eine
von ben Haltionen, bie ihr hiezu beigeftanven, unterdrücken.
Sie Hatte einmal alle biejenigen für ſich, die bon ber rei⸗
hen Beute des Kirchen⸗ und Kloftergutes einen Antheil da⸗
von getragen hatten, d. 5. ven Hofabel und einen großen
‚Shell des Landadels, der Gentry. Ste hatte ferner, fo lange
ed galt, die Tatholifche Kirche zu zerftören und ihre An⸗
1) Ausbend Macaulay’s, Essays, Paris, 1848, p. 78.
187
Hänger zu unterbrüden, alle proteftantifch Geftnnten zu
Freunden und Gehilfen. Pereinigt wären biefe ſtark ger
zug gewelen, die volle Neformation im Schwelzertfchen
Sime, die Aufrichtaung einer calviniſchen Nationallirche zu
erzwingen, aber burch ben Koder der kirchlichen Würden
und Pfränden gelang es dem Hofe, fie zu Ipalten. Die
Mehrzahl der Theologen ließ ſich neben dem calvinifchen
Dogma die aus der alten Kicche beibehaltenen liturgiichen
umb facramentalen Beſtandtheile gefallen, zum Theil in ber
Hoffnung, daß, wenn nur einmal das Dogma in ven Geis
Kern Wurzel gefaßt hätte, dieſe papiftifchen Reſte von ſelbſt
fallen, ober leicht abgeftreift werben wiärben. Die ächten
Calviniſten fanden zu fpät, daß fie felber zur Errichtung
einer fie nieverbrüdenden abfoluten Staats⸗ und Kirchen-
macht mitgewirkt hatten, daß der Strid, ven fie den Katho⸗
fifen batten um ven Hals legen helfen, num auch ihren Nas
den einfchnäre; Kerler, Folter, Schaffot brachen unter Eli⸗
fabeth ihren Widerſtand. Im Unterhaus faßen, da alle-
Katholilen ansgefchloffen waren, nur Proteflanten, unter
ihnen nicht wenige eifrige Puritaner, und doch, wurden Ges
ſetze votirt, "welche jede Abweichung von Eliſabeth's Kirche,
ſelbſt das bloße Nichtbeſuchen des Gottesdienſtes mit ben
drũckendſten, grauſamſten Strafen belegten. Freilich kam
der Regierung ſehr zu ſtatten, daß die Calviniſten unter
fich ſelbſt uneinig waren, denn während Cart wright mit
158
feinem Anhang das presbhterianifche Syſtem ausbildeie,
wurben bie weiter gehenden Bromniften vie Borläufer des
nachherigen Congregationallsmus. Im ganzen war der Zus
ftand, den der Proteftantismus gefchaffen, folcher Art, daß
nah Macaulah's Aeußerung, wenn bie Verbältniffe dauer
haft geworben, vie Reformation in politifchem Sinne ber
größte Fluch geworden wäre, ver je auf England gefalten.')
Das Englifche Volt war, wie ein andrer Befchichtichreiber
England's fagt, bis zu jenem niebrigften Punkte politiicher
und bürgerliher Degravation gefunten, zu welchem über-
haupt bie moralifche und phhfifche Energie der Angelfächlt-
ſchen Race hinabzubrüden möglich ift”).
Die Königin Hatte ihr Inquiſitionsgericht,“) welches
über Härefie und Rechtgläubigkeit entfchlen, und gemäß
feiner Willkürgewalt mit Gelvftrafen, Kerker und Folter
berfuhr. Durch dieſen ihren Lieblingsgerichtghof verhängte
fie anf einmal Abfegung oder Sufpenfion tiber den britten
Theil des ganzen Klerus wegen Nonconformität, Ste ver-
bot, daß mehrere Perfonen ſich zum Lefen ver heil. Schrift
verfammelten. „Niemanden darf geftattet fein, äußerte fie
in einem Schreiben an den Exrzbifchof von Canterbury, von
1) Essays p. 158,
N) Macgregor: history of the British Empire. London,
1852, I, p. CCLXX.
9) Court of High Commission.
138
der durch meine Geſetze und Vorſchriften gezogenen Linie
Irgenbivie zur Rechten ober zur Linken abzuweichen.“) Ihre
Staatömänner und Yuriften behaupteten, und das Dans
der Gemeinen gab eingefchichtert zu, daß fie fi über alle
Geſetze erheben, alle Rechte und Freiheiten befchränten könne,
daß fie kraft ihres Dispenjationsrechtes jede Parlamentsalte
befeitigen lönne, vaß ihre Prärogative feine Gränzen
habe.) Diefen Doctrinen gemäß regierte fie; aber, wie
iyrannifch auch viele ihrer Maßregeln waren, fie war und
blieb dennoch eine in hohem Grade populäre Hürftin, mau
bengte fich vor ihrer geiftigen Ueberlegenheit; man wußte,
daß unter ihr England in Europa mächtig und gefürchtet
war, daß es an der Spike aller proteftantifchen Staaten
and Intereffen im ganzen Welttheile ſtand, und man er
trug von ihr, was ein fchmwächerer und geiftig befchränfter
Monarch nicht Hätte wagen dürfen.
Ein Umſtand von hoͤchſtem Gewichte bewahrte das
Englifche Bolt vor dem Verſinken in die Zuftände bes proteftan-
tifchen Continentes; es erhielt fich fortwährend im unge
gehemmten Befig und Gebrauch feine® alten Germanifchen
Rechts, nie konnte Nömifches Recht in England einbringen,
nie konnte eine Clafſe Römifcher Juriſten, und in ven An⸗
1) Macgregor, I, cel. XXI.
?) D’Ewes, p. 649.
140
ſchauungen Nömifcher Jurisprudenz erzogener Beamten fidh
bilden. England erhielt keine Gonfiftorien nach Deutſchem
Mufter, wurde ‚nie ein bureaukratiſch adminiſtrirtes uub
bevormundetes Land, das continentale Beamtenthunt wit
feinen ftet® wachfenden Aemtern und Stellen fand bort
feine Heimat, und, obngeachtet ver in Folge der Refor⸗
mation gefchaffenen Ausnahmsgerichte, des Inquiſitionsge⸗
richte und der Sternlammer, bewahrte ſich doch England
im Ganzen und Großen die Germaniſche Unabhängigkeit
ber Rechtöpflege von der Stantögewalt.
Unter ben erſten Stuarts, Jalob I. und Karl L. reifte
bie nach zwei entgegengefeßten Richtungen bin ausgefireute
Saat. In der Staatslirche, obwohl fie noch an ber Dord⸗
rechter Synode Theil nahm, griff die Abneigung gegen ben
Salvinismus immer ftärker um fich, und in demſelben Grave
erftarkte ver Wunſch und das Streben, ſich der alten Kirche
zu nähern; das anticaloinifche Dogma, die firchenpolitiichen
Einrichtungen, die Theorie des auf göttlicher Einſetzung bes
ruheuden Epiflopat® und der apoftolifchen Succefiton, alles
dieß gab der Anglilanifchen Kirche eine mehr katholiſche
Faͤrbung. Die Kirche Englands folite nicht mehr als eine
der verſchiedenen proteflantifchen Genoffenichaften, ſondern
als eim gereinigter und verbefferter Zweig ber katholiſchen
Kirche gelten. Um fo Heftiger entbrannte der Unwille aller
calviniſch Gefinnten über dieſen Arminianismus und Papis-
141
mn In der Staatsfirde. Der Tönigliche Supremat über
bie Kirche, nicht mehr von einer ftarken, verehrten und ge
fürchteten Frau, fonbern ‚von einem pebantifch Tleinlichen,
allgemein verachteten Monarchen wie Salob I., getragen,
der immer fein göttliche® Recht, feine fchranfenlofe Präro»
gative im Munde führte, ſank in ber öffentlichen Meinung,
and man empfand, daß bie Kirche ber abſoluten Gewalt
des Koͤnigthums als ſchuͤtzendes Bollwerk, als fügjames Werk
zeug dienen follte. Erllärte doch Earl I., er ſehe in dem Epiftor
pat eine ftärlere Stüße der monarchifchen Gewalt als felbft in
ber Armee.“) So mußte ver politifche Kampf gegen das Koͤnig⸗
thum zugleich ein Kampf gegen bie Staatskirche werben. Die
Buritaner aus Elifabeth8 Zeit waren nun größtentbeild Pres-
byterianer, fie trachteten bie bifchöfliche Ordnung zu ftürzen,
die Herrſchaft des caloinifchen Dogmen, verbunden mit ſtrenger
Kicchenzucht, zu begründen, den in die Staatskirche eingedrun⸗
genen Arminianismus und Papismus auszurotten und deſſen
Duelle, die Liturgie, abzufchaffen, und endlich die Kirche vom
Konigthum unabhangig zu machen. Ihr Einfluß im Unterhaufe
ward verſtärkt durch die „doctrinellen Puritaner“, d. h.
die calviniſch gefinnten Mitglieder der Staatskirche.) Die
Independenten, welche überhaupt keinen größeren Tirchlichen
) Maocaulay’s, Essays p. 86.
?) ©. darüber Banford, studies and illustrations of the
great rebellion. London, 1858, p. 77.
142
Organismus, ſondern bie Unabhängigkeit ver einzelnen Ges
meinven wollten, fpäter die gefährlichiten Geguer ver Bres-
byterianer, gingen vorerjt mit ihnen zufammen gegen ven
gemeinfchaftlichen Feind, gegen das nach Willtürherrichaft
firebende Königthum und deſſen Werkgeug, die Stantölirche.
Die Wechfelfälle des großen politifch- kirchlichen Kam⸗
pfes find bekannt. Strafford, Erzbifhof Laud, König
Karl, die drei Repräfentanten des Firchlich-polttifchen Ab⸗
ſolutismus, beftiegen pas Blutgerüſfte. Die Kirche fiel mit
dem Königthume. Aber die Hoffnung ber Presbyterianer,
nunmehr, wie in Schottland, mit Unterbrüdung allerandern
Kirchen und Parteien, die ganze Nation unter die Herr⸗
ſchaft des Achten Calvinismus zu beugen, wurbe bald ver⸗
eitelt; ihrem kurzen Triumphe folgte ihre Nieberlage; unter
Cromwells Dictatur kamen die Independenten empor, neben
ihnen aber erhoben fich die Sekten ver Baptiſten und Duä-
fer. Herrfchen, die Andern verfolgen und unterbrüden,
wollten, etwa mit Ausnahme der. Duäfer, alle; aber feine
Partei war für jest ftarf genug. Bon ber Staatskirche aber
Ionnte man nicht einmal fagen, baß fie zu einer Selte
berabgeprüdt worden fei; fie hatte fürmlich zu exiſtiren
aufgehört.
Doc mit der Reftauration lebte fie wieder auf in ber
vollen Glorie einer National» und Parlamentskirche mit
ihrem Töniglichen Oberbifchof, unb vermochte abermals ven
143
Fuß auf den Naden ihrer Feinde zu fegen. So mächtig
war die Reaktion gegen ben unleivlichen ‘Drud, ben ber
Calbinismus in feinen verfchievenen Geftalten zulegt aus“
geübt hatte, daß ver König Karl IL. gezwungen warb, fein
früher gegebenes Derfprechen ber religiäfen Duldung zu-
rüdzunehmen. DieAbfegung von 2000 Prebigern, die Conven⸗
tifelatte, und noch andre, die Hoffnungen ver Nichtbiſchöflichen
vernichtende Gefete folgten fi Schlag auf Schlag. Das
Parlament ſchien in kirchlichen Dingen aufräumen, unb ber
biſchöflichen Kirche nicht nur die alten Vorrechte, ſondern
den ausfchließlichen Befig der ganzen Nation fichern zu
wollen. Im J. 1673 wurbe ver Tefteid, eine eibliche Ver⸗
fiherung ver Zugehörigkeit zur Anglitanifchen Kirche unb
der Unterwerfung unter ben Tirchlichen Supremat bes
Königs, für alle Eivil- und Militärämter feſtgeſetzt. Aber
fon viefe Maßregel war vorzugsweiſe gegen bie Katho⸗
liken gerichtet. ‘Denn, ſeitdem der Thronerbe, Herzog von
Hork, des Königs Bruder, Tatholifch geworben, wurbe bie,
allerdings nicht ungegründete Furcht, daß ber künftige König
feinen Supremat über die Staatslirche dazu benüßen werde,
diefe Kirche Schritt für Schritt wieder katholifch zu machen,
vorberrfchendes Gefühl und politifche Zriebfever für alle
Steatsmänner und eifrigen Proteftanten. Als Partei be-
trachtet, konnten die Katholifen damals feine ernitliche Be⸗
forgniß einflößen:: fie waren in der Maffe ver Bevölkerung
144
nahezu ausgeftorben; ihr Meines Häufchen hatte nur noch
durh die Namen einiger alter und vornehmer Familien
Bedeutung; fie wären wohl alle völlig zufrieven gewefen,
wenn man ihnen in ber Stille einige Duldung gewährt,
in ihren Hausfapellen ihnen gottesbienftliche Freiheit ge⸗
laſſen Hätte. Nicht auf fie fette Jalob II. feine Hoffnungen,
fondern auf die religtöfe Zerriffenbeit Englands, auf bie
unbebingte Hingebung ber Staatslirche an ihren Löniglichen
Oberbifchof, auf die Treue, mit der fie, wie er wähnte,
ihre Lieblingslehre vom leivenden Gehorfam auch thatfäch-
lich und mit ihrem Beiſpiele befräftigen werbe, endlich anf
bie in der Staatskirche felbft vorhandenen Tatholifchen Ele⸗
mente und Neigungen. Denn allerbings hatten bie bebeu-
tendften Theologen feit fünfzig Jahren nach und nach bie
meiften Hauptlehren der Reformation und der eigentlichen
Fundamente des Proteftantismus mit Scharffinn und Ge⸗
lehrfamfeit beftritten, und vie altkirchliche Lehre in vielen
und wichtigen Punkten als die einzig haltbare erhoben.
Die proteftantifche Hauptlehre von der Nechtfertigung war
eben vurh Bull, Hammond, Thorndyke und andere
in ber Kirche, durch Barter außerhalb ver Kirche, fo
gründlich zergliedert, ihre Wiberfprüche und verberblichen
Bolgen waren fo einlenchtend nachgewiefen worben, daß fie
troß ihrer DVerbürgung in ben 39 Artikeln, feitbem nie
wieder in der bifchöflichen Kirche bat zur Geltung fommen
145
fönne, und nicht Ein wiſſenſchaftlich gebilpeter Theologe
fi) ihrer mehr angenommen bat.)
Die Verſchmelzung der politifchen Königsgewalt mit
ber lirchlichen hatte in der Staatskirche bie Lehre von dem
paffiven Gehorſam erzeugt; die Anglilunifchen Biſchöfe
und Theologen behaupteten nemlich, daß nach chriftlichen
Grunpfägen pas Bolt und Die Stände bem Willen des Mo⸗
narchen nie, auch nicht in ven äußerſten Fällen ver Noth⸗
wehr ober bed Umſturzes ber gefellfchaftlichen Ordnung
widerftehen bürften, fondern unbebingt gehorchen, ober,
falls das Gebotene Sünde fei, fich völlig leidend verhalten
mößten. Sie dachten dabei an den Urfprung ihrer Reli⸗
gion und Kirche, die doch im Grunde nur durch den Willen
der Monarchen einem wiberftrebenven Volle aufgezwungen
worben war. Diefe Pflicht des paſſiven Gehorfams fel,
hieß es, die Lehre aller proteftantifchen Kirchen, vorzüglich
aber ver Englifchen im Gegenfat gegen bie katholiſche Kirche,
welche in gewiffen Fällen ein Necht des Widerſtandes zu⸗
laffe, fogar (nach den Principien des Mittelalters) eine
Abfetbarkeit der Fürften in außerorventlichen Yällen bes
haupte.“) Die Lehre wurbe nicht blos in Büchern und
1) Die fogenaunten Evangelicals am Ende des vorigen Jahrhun⸗
berts, wie TZoplady, Benn, Newton, James Her
vey und Aehnliche, find nemlich nicht zu ben wiſſenſchaftlichen
Theologen zu rechnen.
?) In der That if felbft unter Philipp IT. der Satz, ben ein
v. Döllinger, Papfithum. 10
146
Fugſchriften vorgetragen '), fie erſcholl unabläffig von allen
Kanzeln ; es fei dieß, hieß es, eine zur Seligfeit unumgäng-»
lich erforderliche Lehre.) Ste wurde auf alle Maßregeln
unter Karl II. und Jakob II. praktiſch angewendet, und
beide Monarchen wurden fo burch die Kirche, deren Häup⸗
ter fie waren, in ihrem Streben nach abfoluter Herrſchaft
kraͤftig ermuntert und ficher gemacht. Defoe warf es nach⸗
ber den Bifchdfen und Geiftlichen ver herrſchenden Kirche
bitter vor, daß fie dem Könige Ialob fortwährend mit Ver⸗
fiherungen von feiner ſchrankenloſen Gewalt gejchmeichelt,
ihn fo immer weiter geführt und dann ihn geftärzt Hätten.
Denn als Wilhelm Ianvete, fiel ver ganze Anglifanifche
Spaniſcher Prediger zu Madrid behauptet hatte, „baf bie R-
nige eine abfolute Gewalt Über Die Perfonen und base Eigen⸗
thum ihrer Unterthauen hätten“, von ber Smquifition ver⸗
worfen worben. Der PBrebiger mußte auf derſelben Kanzel,
wo ex bieß behauptet hatte, Öffentlich widerrufen unb ertlären:
„bie Könige hätten über ihre Unterthanen feine anbere Gewalt,
als die, welche ihnen göttliches und menfchliches Recht gebe,
keineswegs aber eine Gewalt, welche aus ihrem freien unb ab⸗
foluten Willen besvorgebe.* Dieß berichtet Antonio Perez
in feinen Relationen. Universit6 oath. XXII, 74.
3) Reiches Material Über biefe für England damals höchſt wid.
tige Wngelegenheit enthält bas Wert eines Ungenannten (Abr.
Geller): History of passive obedience sinoo the Refor-
mation. Amsterdam (London) 1689.
?) Edinburgh Review t. 55, p. 82—84. S. bort bie Katmort,
die Jakob U. anf Burnet’s Vorfiellung gab.
147
Nexus, feiner bisherigen Lehre zum Hehne, dem Ufurpator
zu, und nur 400 NRonjurors hatten fo viel Gewiſſen,
ben neuen Eid zu verweigern. ')
Jakob IL. hatte nämlich eines in feiner Berechnung über-
fehen: ven jett tiefgewurzelten proteftantifhen Sinn in ber
großen Mehrheit des Volles. In der Furcht und dem
Widerwillen gegen das, was man fich unter ber katholifchen
Religion, oder mit ihr nothwendig verknüpft dachte, waren
alle Bartelen, Ealviniften wie Anglikaner, einig. Politifcher
und Tirchlicher Defpotismus, Verfolgung, Scheiterhaufen,
Unterwerfung unter ben fremden Stalienifchen Fürften,
oder, wie bie Eifrigeren fagten, unter ben Mömifchen
Antichrift, Abfluß des Engliſchen Goldes nah Rom — alle
diefe Schreckbilder jchwebten der Englifchen Phantafie bei
rem Worte: „katholiſche Kirche” vor. Daß gerade die ka⸗
tholifchen Zeiten in England die Zeiten ber wachſenden
bürgerlichen Freiheiten gewefen, die Reformation dagegen
Nnechtſchaft, Abfolutisemus, Berluft an autonomifcher Bes
rechtigung gebracht habe, das wußte damals unter taufend
Englänbern nicht einer, und bie es etwa wußten, hüteten
fih wohl, e8 zu fagen. Daß aber der Herzog von ort
als ächter Stuart, als Bewunderer Ludwigs XIV., vor
Allem nach Erweiterung der Löniglichen Gewalt, nach ab»
») Wilson’s life of Defoe. I, 160.
10*
148
foluter Macht fireben, und vie katholiſch gemachte Kirche
von England als dienliches Werkzeng zu biefem Zwecke ges
brauchen würde, dieß vorauszuſetzen, hieß ihm nicht Un⸗
recht thun.
So diente die kurze Regierung Jakobs und die vor⸗
ausgegangenen Jahre der Furcht vor feinen Unternehmungen,
einen mächtigen proteftantifchen Aufſchwung, eine, freilich
nur vorübergehende, Annäherung der verfchiepnen Parteien
und kirchlichen Secten bervorzurufen. Selbft bie von Ja⸗
kob augebotene Duldung warb von den letteren (mit Aus⸗
nahme der Quälker) zurückgewieſen; er bot fie ja nur an,
um feinen verhaßten Slaubensgenofjen eine erträgliche Stel
fung im Lande zu fichern. Mit dem Sturze Jakobs und
der Stuart’fchen Dynaſtie, mit der Erhebung Wilhems IIL,
ber Feſtſtellung der proteftantifchen Thronfolge, Hatte bie
Bewegung, die mit der Reformation begonnen, in ber
Hauptfache ihren Lauf vollendet. Die wichtigfte Erwerbung
der legten Zeiten war die Habend-Eorpus-Alte, die Ver⸗
bürgung perfönlicher Sicherheit gegen tyrannifche Willkür,
welche unter Karl II. 1679 burchgieng, wiewohl damit nur
das alte in ver Magna Charta bereits verficherte Recht
erneuert und gegen Umbentungen ber Rronjuriften feftger
ſtellt wurde.) Die „Geburtsrechte” ober Grundrechte der
1) Hallam's constit. History. Lond. 1882, II, 17.
149
Englifchen Nation, wie fie bei Wilhelms Erhebung 1689
ausgeſprochen wurden, enthielten, abgefehen von der Bes
fchräntung der Thronfolge, nur die alten Rechte und Frei⸗
heiten. Zwei Mächte aber, ober eine Macht nad zwei
Seiten bin, war für immer gebrochen: das Königthum als
felbftgebietende Autorität, und ber Lönigliche Supremat über
die Staatslirche. Selbft Wilhelm vermochte, auch burch
die Drohung, dem Throne zu entfagen, ven Widerſtand bes
Barlaments nicht zu überwinden, und feit feinem Tode,
feit dem Einzuge der Haundver'ſchen Dynaſtie in England
bat kein König mehr felber zu regieren vermocht.) Die
Könige dieſes Haufes waren und blieben dem Volle fremb
9) Dagegen ließe fi) einwenden, daß body Georg II. feit feiner
Thronbefteigung, bie zur Auflöfung bes Kabinets unter Lord
North (1761-1782), einen großen Einfluß auf ben Gang
ber Regierung und bie Entfcheibung ber politiichen Fragen ans
gelibt habe, und zwar durch eine außerhalb feines Cabinetes
gebilbete, und biefem entgegenwirfende Partei. Dieß war ein
abusrmer, wunatärlicher Zuſtand, ber große Unzufriedenheit im
ber Nation erregte, wie Burke in feinen Thoughts on the
cause of the present discontents (Works, London 1884, I,
127, ff.) geeigt bat. The power of the crown, heißt es
bier, almost dead and rotten as Prerogative,
has grown up anew, with much more strength, and far
less odium under the name of influence. Er ſchildert Dam dieſes
Berhältniß als ein Syſtem bes Favoritismus, bie Erfindung eines
boppelten Eabinets n. |. w. Es wurde gelibt durch Beſtechung
einer Anzahl Unterhaus-Mitglieber, mozu ein Theil ber Civil⸗
150
und unbeliebt. Und während das Königthum vor ben
Augen der Nation in den Hintergrund trat, und an An⸗
fehen immer mehr verlor, ftieg Macht und Autorität bes
Barlaments, und wurde unter ber faft fechzigjährigen Ver⸗
waltung ber Whigpartei der Schwerpunct ber Gewalt in
das Unterhaus verlegt.
Mit diefer Abſchwächung des monarchifchen Elements
in England mußte denn auch die kirchliche Suprematie ber
Krone allmälig eine andere Bedeutung erlangen, anbere
Wirkungen erzeugen. Die Königin Anna Hatte noch im
Jahre 1707 ihre Suprematie für einen fundamentalen Bes
ftanotheil der Berfaffung der Kirhe von England erklärt '),
und Georg I., ver kurz vorher noch Lutheraner geweſen,
traf bereits im Sabre 1714 fehr ins Einzelne gehende Au
ordnungen über liturgifche Dinge untergeorbneter Art.?)
Über der politifche Vortheil und das Gewicht dieſer Su-
prematie fiel nun dem jebesmaligen Kabinets⸗Miniſter zu,
pas Tirchliche Patronat wurde als ein Mittel, bie mächti⸗
tigeren Familien zu gewinnen, und im Intereſſe der Whig⸗
fifte verwendet wurbe. Die Sache beweift auf ſchlagende Weiſe,
baß an eine legitime perjönlihe Machtäußerung bes Könige
nicht mehr zu denen war.
1) Bei Wilkins Conoilia M. Britannine, IV, 686.
) David Lewis, p. 41.
151
Bartei und ihres Einfluffes auf die Wahlen und bie Kam⸗
mern gebanbhabt, vie Kirche aber, in ver Jalobitiſche und
Toryiftifche Neigungen voriviegenb waren, wurde — unb
dazu leiftete die Tönigliche Suprematie treffliche Dienfte —
von den Whigs auch noch bes ihr übrig gebliebenen Heftes
eiguer Bewegung beraubt, ihre Convocation burfte nicht
mehr zufanmentreten, fie warb immer mehr verieltlicht,
und zur VBerforgungsanftalt für bie Söfue und Bettern
ber einflußreicheren Familien herabgewärbigt.
Sobald die fländifche Verfaffung Englands, nach 1716,
in das neue Stadium ber parlamentarifchen Regierung
eingetreten war, mußte as, was man in England Eraftia-
nismns nennt, bie Beherrſchung, Nieberhaltung und Aus⸗
beutung ver Kirche burch das politifche Laienthum, zur
ſtehenden Obſervanz, gleichfam zur naturgemäßen Orbnung
der Dinge werben. Die Regierung hatte und bat ſeitdem
größere Gewalt über die Kirche und in der Kirche, als tm
Staate‘), fowohl in der Theorie als in ber Praris.
Wenn einmal ein Stantemann ben Supremat in einem für
die Kirche wohlwoltenden Sinne anwenvete, fo war das
eben ein glädlicher Zufall.
Da die Nonconformiften over Diffenter Freunde ber
#) Pretyman, the Church of England and Erastianism,
p. 215.
152
Dannöner’fchen Dynaſtie unb der Whigs waren, fo fläkte
fih die Regierung gerne auf fie, und befeitigte vie Be⸗
fohränfungen, weiche noch unter Anna fie getroffen hatten,
fte erhielten, freilich nur durch eine jährlich erneuerte Iu-
bemmität, Zutritt zu ben öffentlichen Aemtern, waͤhrend bie
Staatskirche weder fich felbft gegen Heterodoxie und Un⸗
glauben in ihrem Schooße zu fchäten, noch irgendwie ag⸗
greflio, wie früher gegen das Diffentertfum vorzugehen
vermochte. Nur gegen die Katholiten blieben die Strafges
fee in Kraft.
Dergeitalt bilvete ſich in England ber eigentbümliche
Buftand, daß in Einem Reiche (feitvem Schottland, kraft
der Union mit England vereinigt, eine Propinz des Briti-
chen Neiches ausmachte) zwei ganz verfchievene und inner
lich feindliche Staatslirchen, eine calvinifch-presbpterianifche
im Rorben und eine bifchäflishe im Süden beſtanden, baß
ferner vie Engliſche Kirche, aller felbftitänpigen Bewegung
beraubt, Hilflo8 und gebunven von ber Staatsgewalt ab«
hängt, während alle bereits gebilbeten ober Lünftig noch
eutſtehenden Selten und religiöfen Geuoſſenſchaften, welches
auch ihre Lehren und Einrichtungen fein mögen, in voll
flänbigfter Freiheit und Autonomie fich felber regieren. Der
Engländer finbet dieß ganz in der Orbnung. Die Suprematie
iR, wie Hallam vie herrfchende Anficht ausfpricht, das
Hunde» Halsband, welches ver Staat einer von ihm do⸗
153
tirten und zum Staateinftitut erhobenen Kirche, ald Preis
für Nahrung und Obdach, anlegt.')
Fragen wir nun, was eigentlich in dieſem faft hun⸗
bertjäßrigen Ringen und erbitterten Parteien- und Kirchen«
Kampfe erftritten worden und als Gewinn anzufchlagen
ſei, fo ergibt fich erftens : vie religiöfe Freiheit, ober rich⸗
tiger bie Freiheit, nicht zur Staatslicche zu gehören, und
eigne felkftftänpige Senoffenichaften zu bilden, tft, nach einem
etwa hundert fiebenzig Jahre lang fortgefekten Kampfe,
und nachdem Tauſende von Englänvdern ihr Leben barüber
verloren hatten, endlich im Widerſpruch mit ven Grund»
fügen des urfprünglichen Proteftantismus erfochten worden.
Zweitens: die bürgerlichen Freiheiten, welche bie Eng⸗
länder in der katholifchen Zeit befeffen, hatte die Reformation
und der Geiſt des proteflantifchen Staatslirchenthums we⸗
fentlich beeinträchtigt, theilweife vernichtet; fie mußten erft
in dem blutigen Kriege, den vie Parteigänger ver Selten
im Bunde mit den politifchen Freiheitsmännern gegen das
auf dieſe Staatskirche fich ſtützende Königthum und bie
von den Konigen gefchirmte Kirche führte, zurück erobert,
und fofort befeftigt und erweitert werben. In fo ferne
ann dieſe Selten alle and den Principien der Reformation
hervorgegangen Waren, und fich proteftantifch nannten, läßt
3) Const. History of England IIl, 444: The supremacy of
tho legislature is like the collar of the watch-dog etc.
154
fich fagen, daß der Proteftantismus in England, nachbem
er in feiner erften Geftalt der gefährlichite Feind und Zer⸗
ftörer bürgerlicher Freiheit gewefen, in feiner fpätern Ge⸗
ftalt, oder durch bie in ihm liegenden Eonfequenzen kirch⸗
licher Zerfplitterung, zur Derftellung ver politifchen Freihei⸗
ten und zu beren Erweiterung mitgewirkt babe. Jede der
proteftantifchen Genoffenfchaften unterbrüdte, wenn fie es
tounte, bie anderen, ober war bereit und entſchloſſen, dieß
zu tbun, jebe wollte der Nation das Joch ihrer Anſchau⸗
ungen und Einrichtungen auflegen; bie Presbhteriauer
Prynne und Edwards bewiefen, ſobald nur ihrer Selte
bie momentane Herrichaft zuzufallen fchien, fofort in eige⸗
nen Schriften, daß die Obrigkeit gegen alle Irrlehren, (das
hieß bei ihnen: gegen alle Nichtealoiniften) das Schwert zu
führen berechtigt und verpflichtet ſei. Zuletzt giugen alle
religtöfen Parteien gefehwächt und zerrüttet aus dem langen
Hader hervor. Die Presbyterianer Iä6ten fich in England
ganz auf, und wurben burch andere Seltenbildungen er⸗
fest. Die Staatslirche war innerlich jo kraftlos geworden,
eine folche Unficherbeit aller Lehre, eine folche LWſung aller
fichliden Bande hatte in ihrem Schooße überhaud genom-
men, daß ſelbſt Bifchäfe den Englifchen Klerus für ben
fehlechteften von ganz Europa erflärten'), und allgemeine
3) ©. die Aeußerungen von Barnet, Laby Mary Wort
ley und Anderen im Quarteriy Review, t. 10%, p. 462.
155
Mißachtung ver Kirche, weit verbreiteter Unglaube, felbft un⸗
ter dem weiblichen Gefchlechte im 18. Jahrhunderte Eng⸗
land ver andern Nationen Tennzeichnete.
Der Ball Yalobs IL und die Berufung einer neuen
Diymaftie bat nicht eigemtlich den Englifchen Volksfreiheiten
Zuwachs gebracht, vie im wefentlichen alle bereitö errungen
waren, aber er bat zwei folgenfchivere Veränderungen nach
ih gezogen: die Herabfekung des Königthums zu einem
machtlofen Schattenbilde, und das Syſtem ber parlamen-
tarifchen Regierung durch die jebesmalige Majorität bes
Unterhaufes, deren Anfichten und Beftrebungen fich je nad
der Beſchränkung und Erweiterung des Wahlrechts ver-
ſchieden geftalten müſſen. Ueber den Werth dieſer beiven
Errungenſchaften muß die Zukunft entfcheiven. Seit der
Parlamentsreform hat England eine abſchüßige Bahn be⸗
‚treten; von der Frage, ob England auf diefer Bahn einzu-
halten, ob e8 der fortgehenden Demofratifirung des Unter-
hauſes und der Verfaffung ſich zu entziehen im Stande
fein werde, hängt die Zukunft des Neiches, gewifiermaßen
die Zukunft der Welt ab.
Im Ganzen bat fich als Ergebniß ver inneren Ge
ſchichte der einzelnen Länder herausgeſtellt, daß bie Nefor-
mation überall, wo eine einheitliche Staatskirche aus ihrem
Proceſſe hervorging, nachtheilig auf bie bürgerliche Freiheit
gewirkt, und daß biefe Staaten im 16. und 17. Jahrhun⸗
— — —
156
derte Rückſchritte auf der politiſchen Bahn gemacht haben;
daß nur da, wo ber Proteſtantiomus in ber Form einer
Staatskirche nicht zur Alleinherrichaft gelangte, wo viel-
mehr ein beträchtliher Theil det Bevölkerung Tatholifch
blieb, ein anderer getrennte kirchliche Genoſſenſchaften bildete,
aus den dadurch erzeugten Neibungen und Befchränfungen
ein größeres Mach ftaatsbürgerlicher Freiheit hervorging.
4. Die Kirchen ohne Papſtihum: eine Bundfchen.
Wil man erkennen, was Alles mit dem päpftlichen
Stuble ftehe und falle, und wie berfelbe mit dem innerften
Weſen der Kirche unablösbar verwachſen fei, fo darf man
nur einen Dlid auf jene Sirchenlörper werfen, bie fich von
Nom lodgefagt, oder überhaupt ihre Verfaſſung jo einge»
richtet haben, daß für einen Primat kein Raum gelaffen
iſt. Ich gehe Bier auf eine Kirchenſchau um jo eher eim,
als es überhaupt in meinem Zwede liegt, die Situation
der Gegenwart in Tirchlicder Beziehung Mar zu machen.
Es iſt dieß auch für die Beurtheilung ver Kirchenftaats-
Frage unerläßlich.
a. Die Kirche des PBatriarhats Eonftantinopel.
Wir beginnen mit der Alteften ber getrennten Kirchen,
der orientaltfchen oder „ortboboren anatoliichen Kirche“,
welche in dem Patriarchen von Gonftantinopel ihr Ober
Haupt erfennt. Sie umfaßte ehemals alle Länder des Grier
157
chiſchen Kaiſerreichs, ift aber feit einiger Zeit in fortwäh-
sender Zerbrödelung durch Tirchliche Auflehnung und Los⸗
reißung einzelner Theile begriffen. Diefe Abfonberungen
haben ihren Grund in dem Gegenfate ver Nationalitäten
and in ben VBerfalle des Türkifchen Reichs, welches fonft,
in den Zeiten ber Macht, die Autorität des Patriarchen im
eigenen Intereſſe aufrecht erhielt. Die Hellenifche Kirche
des Griechiſchen Königreichs bat ſich unabhängig erklärt;
daffelbe hat ver Metropolit zu Carlowig in Defterreich mit
feinen eilf Bifchöfen gethan, und feine Kirche ift nun ein
felbftftändiges Patriarchat. Auch die Kirchen von Cyprus,
Montenegro und am Berge Sinai haben fi unabhängig
gemadt. In den DonaufürftentHämern offenbart fich das
gleiche DBeftreben, eine eigene Rumänijche Kirche zu bilven.
Faft alle Organe der bortigen Preffe verlangen eine feier
liche Unabhängigfeite-Erflärung der mol do⸗wallachiſchen
Kirche, und die Bildung einer moldo⸗wallachiſchen Synode.
Eben iſt auch die Abſonderung der Bulgaren, die ſich der
katholiſchen Kirche angeſchloſfſen, erfolgt. Daß die Joni⸗
ſchen Inſeln noch den Patriarchen als ihr kirchliches Haupt
anerkennen, und nicht mit ver Hellenifchen Kirche fich vers
einigt haben, ift wohl nur dem Englifchen Einfluße oder
Zwang zuzujchreiben ').
7) Auch in Rumelien unb der Herzegowina werben Loßreißungen -
158
Der Batriarch, der noch immer über etwa 9 Millionen
und mehr gebietet, bat in einigen Beziehungen eine mehr
als päpftliche Gewalt; er kann nach Belieben ſämmtliche
Erzbifchöfe, Bifchöfe und Priefter ein- und abfeken, ohne
irgend Iemand dafür verantwortlich zu fein; er Tann fie
alle, mit Ausnahme von vier zur ſtehenden Synobe gehöri«
gen Prälaten, in ihre Diöcefen relegisen. Dabei befigt
er eine ausgedehnte bürgerliche Jurisdiction und Strafges
walt und ein unbefchränktes Necht der Beſteuerung. Diefe
ganze Verwaltung ift num aber fchon feit Jahrhunderten
von einem beifpiellofen Syſtem ver Gelderpreſſung ober
Beftechung, der Simonie durchzogen. Jeder Patriarch ges
langt auf biefem Wege zu feiner Würbe. Nach längſt her⸗
tönmlicher Uebung pflegt ver Batriarch alle zwei ober drei
Sahre zu wechſeln, d. 5. er wird — fo bat es Türkiſche
Willkür und Griechifche Eorruption eingeführt — durch die
Synode wegen fchlechter Verwaltung abgefeßt ober zu res
figniren gezwungen. Die Fälle, in benen ein Patriarch im
Beſitze feiner Würde ftirbt, find äußerſt felten. Denn vie
dabei Gewinnenben forgen bafür, baß ber Handel um das
Batriarchat möglichft oft abgefchloffen werbe‘). Dat er fick
von dem Batriarhat erwartet. Nene Evang. Kirdh.-Ztg. vom
Mefner, 1860, ©. 460.
1) Eichmann: die Reformen bes DOsmanifchen Reiches, Berlin
159
bie Würde feines abgefegten Vorgängers mit fchwerem
Gelde erkauft, fo bringt er biefe Summen zunächft durch
ben Verlauf der Erzbisthimer und Bisthümer herein, bie
Käufer aber machen fi) wieder durch Erpreffungen von
bem niebern Klerus und dem Volle bezahlt. Die gewich⸗
tigfte Rolle bei den Raͤnken und den Bedingungen, unter
welchen das Patriarchat verkauft wird, fpielt ein weitlicher
Beamter, ver Logothet, der zugleich als Firchlicher Würden⸗
träger dem Patriarchen für die Vollzugsgewalt zur Seite
fteht, und zwiſchen ibm und ber Pforte vermittelt. Erft
im vorigen Jahre ift der Patriarch Kyrillos wegen
Simonie, Vergendung der PBatriarchats-Finanzen u. f. w.
entſetzt worben; an feine Stelle wurbe nach einer förm⸗
lichen Wahlſchlacht Joachim, Biſchof von Cyzikus, ges
wählt. Die ver Griechiſchen Rationalität angehörige Geiſt⸗
lichkeit war bisher das Werkzeug, durch welches die Türken
nicht nur die Griechifche, ſondern auch vie Slaviſche Be⸗
völferung bed Reiches regierten, und bat einen beipotifchen
Drad ausgeübt, gegen welchen die Siaven mehr und mehr
fih auflehnen. Die acht Dignitäre der Synode (fie führen
ven Zitel Metropoliten, aber ſechs ihrer Kirchen fin nur
Dörfer) find nächſt dem Patriarchen bie Herrichenden, aber,
1858, ©. 27, 28. Pitzipios: I’Eglise Orientale, Rome
1855, 11, 82 ss. Gelzer’s Monatsblätter, VII, 224.
160
wenn unter fich einig, mächtiger als er. Die weltliche Ge⸗
walt, die den Griechifchen Kirchenfürften übertragen ober
überlaffen wurde, ift eine Duelle zahllofer Gewaltthaten,
und das Mittel zu maßlofer Bereicherung ihrer Familien,
ſowie berer, von denen fie fich abhängig fühlen, geworben.
Die große Siavenpartei arbeitet nun, auf ven „Hat Hu⸗
mayun“ des Türlifchen Monarchen fi flügenn, im Bünd-
niffe mit einem Thelle der Sriechifchen Latenwelt, an Spreng-
ung dieſer Tirchlich »politifchen Feſſeln. Dagegen kaͤmpfen
die Griechiſchen Dligarchen, nämlich die fieben erfteu Brä-
laten der Shnobe, im Verein mit der nationalshellenifchen,
das Slaviſche Uebergewicht fürchtenden Partei, und es wirb
immermehr ein Kampf auf Tod unb Leben, in welchem bie
Gegenfäte ber Nationalitäten, verftärkt durch ben Wider⸗
willen gegen einen an fich ſchon unerträglichen Zuſtand ber
Corruption, an feine Verſoͤhnung mehr zu denken geftatten.
So ift das Patriarchat von Eonftantinopel bereits in das
Stadium einer fortfchreitennen Aufldfung eingetreten. Die
brei übrigen Patriarchate aber, welche nach ber anatoliſch⸗
ſchismatiſchen Theorie zufammen mit dem von Eonftantinos
pel die höchſte und letzte Autorität in Glaubens⸗Sachen
bilden, find faft nur Titularwürbenträger, denn das Patriarchat
Alerandrien hat nur 5000, Antiochien 50,000, und Ierufalem
25,000 Seelen, Der Patriarch von Ierufalem bat regelmäßig
feinen Sommeraufenthalt auf ven Prinzeninfeln bei ber Haupt»
161
ſtadt, die beiden andern reſidiren, doch nur mit Erlaubniß |
des Patriarchen von Conftantinopel und feiner Synode, in
ver Hauptitabt.
Iſt der Zuſtand des Griechifchen Patriarchats. ver
ſchmachvollſte, verborbenfte, zu dem eine altehrwürbige Kirche
Binabgeträdt werben Tonnte, fo hindert bieß freilich ben
jüngften Propheten des zur Weltherrichaft berufenen Slaven⸗
thums nicht, glänzende Hoffnungen an dieſen Stuhl zu
Inüpfen. „Wenn die Türkiſche Herrfchaft vernichtet ift,
fagt Bogodin, wirb ver Eonftantinopolttanifche Patriarchen-
finht in aller feiner Herrlichkeit wieder aufgerichtet werben
fönnen, und bie morgenländtiche Kirche wird ihre weltum⸗
faſſende Bedeutung wieder erlangen Können. Dann wird
auch der abgelebte Weften fich wieder verjüngern laffen —
durch die Slaven nemlich und ihre Kirche, meint Pogodin —
denn alle Zukunft gehört ven Siaven.*')
Allerdings wäre eine Belebung und Selbftreform dieſer
Kirche dringendſtes Bebürfnif, denn Simonie Im weiteften Um⸗
fange, NKäuflichkeit und Beſtechlichleit des hohen und nies
bern Klerus, Anwendung aller denkbaren, religiöfen und
fuperftitiöfen Mittel zum Erpreſſen von Gaben, find Züge
des Byzantiniſchen Rirchenweiens, die von allen Beobach⸗
tern beftätigt werben. Dazu fommt bie tiefe Unwiſſenheit
des Klerus, der zum großen, in manchen Gegenven zum
2) Politiſche Briefe aus Rußland. Leipzig 1860. ©. 17.
s. Doͤllinger, Papſtth um. 11
x
162
[U — — —
größten Theil nicht ſchreiben, ſelbſt nicht lefen Tanı. Der
Berfaffer einer im Jahre 1856 erfchienenen Schrift über
die Zuftände von @efalonia, Las kar ato, ſchildert in Briefen
an den bortigen Erzbifchof, wie es Jedem begegnen Könne,
baß er heute feinen Bedienten wegen fchlechter Aufführung
fortjage, unb ihn morgen als Priefter wieder finde; Leute,
bie man vor wenigen Tagen noch als Bootslente ober Feld⸗
bauer over Gewürzlsämer gekannt, erblide man plöglich au
Altare und auf der Kanzel.')
Hingebung au die Staatögewalt ift fo fehr das Erb⸗
‚ theil aller von ber allgemeinen Weltkirche abgeriffenen
Sonberlicchen, vaß die Griechen fogar ihre Türlifchen Ge⸗
bieter als oberſte Richter in kirchlichen Fragen erfennen.
So unglaublich dieß erfcheint, es ift in ver jüngften Zeit
in der beftimmteften Form und officiell ausgeſprochen wor⸗
ben. Bius IX. hatte in feinem Rundſchreiben an die Prä-
laten bes Orients im Jahre 1848 fie an ben Mangel re-
ligiöfer Einheit erinnert; darauf erwiberte der Patriardh
Anthimos mit feiner Synode: „In ftreitigen ober ſchwieri⸗
gen Fragen benehmen fich die brei Patriarchen mit dem vom
Eonftantinopel, weil diefe Stadt der Raiferfig ifl, und weit
er den Vorſitz auf der Synode Bat. Können fie nicht über»
einlommen, fo wird bie Angelegenheit nem gefeglichen Her⸗
1) Ta uyorngea 75 Keyalorias. 1856. Dice Schrift hat
dem Berfaffer bie Ercommunication zugezogen.
168
kommen gemäß zur Entſcheidung an bie (Tirkiſche) Regie
rung gebracht” '), Der Grieche, ber dieß mittheilt, er⸗
wähnt auch eines Falles, wo dieß wirllich geſchah. Geiſt⸗
liche des Urmenifchen Ritus baberten mit Griechiſchen Prie⸗
ftern über den Gebrauch, Waſſer dem Abendmahlsweine
beizumiſchen; der Streit wurde endlich vor den Türkiſchen
Reis» Effendi gebracht, der dann auch fein Urtheil fällte;
„ver Wein fei ein unreines, vom Koran verbammtes Ge⸗
tränfe; fie follten alſo bloßes Waſſer nehmen.“
Und doch ift unleugbar ver Kirche im Türkifchen Reiche
noch eine glänzende Zukunft aufbewahrt, wenn fie nur ei»
wigermaßen ſich aus ihrer gegenwärtigen Verſunkenheit zu
erheben, und die Größe ihrer Miffion zu begreifen vermag.
Denn die Tage der. Türkifchen Herrfchaft ſind gezählt ; und
nicht nur dad Neich in feiner jchigen Geftalt wird fallen,
fondern die Macht. des Muhammenaniömus in Europa wird
auch untergehen, bie Türken werben zur Auswanderung, zur
Nüdkehr nach Aſien gezwungen werben, ober fie werben
ansfterben; wie denn in ver That ihre Zahl fich fertwäh-
renb vermindert. Schon jebt find die Ehriften dort vier-
mal zahlreicher als die Türken; ſchon jet fürchten dieſe,
daß wenn der Hat Humayuımn wirklich und ehrlich aus⸗
I) Atayydilsıar 10 npayua xai eis nv Aroixıyaıw xata Ta
xza9scıara. Pitzipios| c., I, 140,
11*
164
geführt würde, fie, die Türken, binnen fünf Jahren über
den Bosporus getrieben würben. Sie felber find ſchlecht⸗
hin unverbefferlich und ftationär; ber Haß jever Reform
gehört bei ihnen ebenfo zur Religion, wie ver Haß jedes
Nichtmuhammedaners. Ihre Polygamie, ihre häufigen Ehe⸗
ſcheidungen, die Abſchließung und unnatürliche Lebensweife
ber Frauen, bie verbrecherifchen Mittel, welche gebraucht
werben, um bie Vermehrung ber Bamilie zu hemmen, ber
Mangel einer Ariftokratie fowte eines eigentlichen Mittels
ftandes, ihre gange fociale Stellung, als träge, parafitifche,
nur von Plünderung und Ausſaugung ver Chriften lebenbe
Bevölkerung — dieſe Dinge machen alten Auffchwung ber
Türkiſchen Race unmdglih. Sie felbft tft von dem Ge
danken erfüllt, vaß ihre Zeit zu Ende gehe. Sie finkt fort»
während wie an Zahl, fo an Sittlichleit, Lebensmuth und
Hoffnung‘). Ihre Trägheit nährt ihren Fatalismus, und
1) Tout se meurt autour des populations chretiennes, fagt
Raoul de Malherbe, L’Orient 17181845. Histoire,
Politique, Religion, Moeurs. Paris 1846, II, 157 ss. —
tout p6rit sous la dure loi du fatalisme, tout s’dteint dans
la polygamie, les vices et Ia debauche ; hors d’elles, 1’Orient
n’a d’autro avenir que la ddpopulation et le desert. Da⸗
mit vergl. man bie Mittheilungen eines fo trefflichen Bericht⸗
erftatters wie Naſſau W. Sentor: Journal Kept in Tur-
key and Greece, London 1859, p. 28. 32. 147. 212. Der
Britiſche Eonful Finn äußerte kürzlich: die Muhammedaniſche
165
ihr Fatalismus bient ihrer Abneigung gegen jebe Anftren-
gung zum Vorwand. Der Ehrift verhält ſich dort zum Tür⸗
ten, wie ein lebenbiger Dienfch, der an einen. Leichnam ges
feffelt ift, zu biefem. Indeſſen wächſt Zahl, Wohlſtand,
Intelligenz und Muth der Ehriften fichtlih. Schon jet
äußern Zürlen felber: unvermeidlich wärben alle Aemter
bald mit Ehriften beſetzt werden müſſen; dann werben bie
Minifter eined Tages dem Sultan fagen: er müfle Ehrift
werben und das werbe gefchehen‘). Die Zukunft gehört
dort dem Chriftentbume, und nicht dem Islam, und zwar
bis tief nach Afien Hinein, denn auch das Perfiiche Reich
befindet fi in einem hoffnungsloſen Zuftande innerer Zer⸗
rättung bei fehr dünner und in fteter Abnahme begriffener
Bevdlkerung. Sie wurde noch im Anfange dieſes Jahrh.
auf zwölf Millionen geſchätzt, foll aber jett auf acht Mil.
gefunten fein. Faft alle Perfiichen Städte, mit Ausnahme
von Tabris, Teheran und Schiras, find in Ruinen verfallen.‘
Bevölkerung Syriens ftirbt aus; ich kann faum fagen, daß fie
Tangfam ausfiirbt. (Allg. Zeitung 1861, &. 1144, 11. Mär).
Selbſt in Kleinaſien, weiches die Türken in 850 Jahren aus
einem reichen und blühenden Lande zu einer Wilſte gemacht
haben, zeigt ſich daffelbe Phänomen. Ein Paſcha bafelbft gab
jelber an, daß die Tobesfälle in feinem Paſchalik um 6 Procent
ſtärker feien als die Geburten. Senior p. 188.
) Diary in Turkish and Greek waters, by the Earl ofCar-
lisle. London 1854, p. 78.
2) Allg. Zeitung, 1. März 1857, &. 966.
166
und muß naturgemäß immer mehr Ruſſiſcher Herrſchaft ver
fallen. Und wenn der Muhammebaniemus auch noch in jünge
fter Zeit unter ben Malayen auf Borneo, unter ven Regern bes
Sudan und auf Madagascar große Fortichritte gemacht hat"),
fo ift er doch Im Ganzen in fein Stadium bes Verfalles ein-
getreten, und muß zurüdweichen, wo immer bie überlegene und
nachhaltigere Energie chriftlicher Völter ihm entgegentritt.
Abgeſehen von ber Frage der Wahrheit, trägt ber Islam
ſchon dadurch die Keime des Vergebene in fich, daß er eine
Religion der feften und ſtarren, alle Lebensgebiete umfafs
fenden und jede Fortbildung hemmenden, Satungen iſt,
welche als das Produkt eines einzelnen Volkes und einer
beftimmten nieberen Bildungsſtufe, in der Fortbauer und
Uebertragung auf andere Rationalitäten ſich unzureichend und
fchäblich erweifen, und zulegt an ben inneren burch fie ev»
zeugten Widerfprüchen und den Bebürfniffen des Lebens
zerbrechen mäflen, während das Chriftentbum, als eine Re⸗
ligion der Ideen und ein weder durch Zeit noch durch Na⸗
tionalität bebingtes Welt» Inftitut, jedem wahrhaft menfch-
lichen Bebürfniffe gerecht zu werben vermag, unb nur för«
bernd und anregenb zu ber Fortbildung ber Menfchheit fich
verhält.")
') Edinburgh Review, t. 100 (1854) p. 412.
?) Diefen Gegenſatz beiber Religionen bat neunerlich ein feiner
167
b. Die Hellenifche Kirche.
Die Kirche des Königreichs Griechenland Kat
ifren Zufammenbang mit bem Patriarchen und ber Sy
node zu Gonftantinopel aufgehoben. Auf ben Antrag von
3 in Rauplia verfammelten Biſchoͤfen bat. die Regent⸗
ſchaft im Jahre 1833 die „orthobore orientalifche Kirche
von Hellas" für unabhängig von jeder auswärtigen Be
horde erflärt. Eine permanente Synobe, beftebenn aus
fünf geiftliden jährlich vom Könige zu ernennenben
Mitgliedern, und aus zwei weltlichen Beamten, von benen
ber eine Staatsprokurator if, ſoll die Kirche regieren.
Voraus war man über ein Concordat (den Tomos) üben
eingelommen, nach welchem ber Kirche größere Zreibeit bes
züglich ber Synode und ihrer Zufammenfegung gewährt
worden wäre. Allein bie Negierung ünberte bie Beſtim⸗
mung, und eignete fich das Ernennungsrecht zu, nach Rufe
fiſchem Vorbilde, wie denn die ganze neue Verfaſſung eine
Nachahmung der Ruffiihen war. Indeß ging bie auffal-
Iende Beſtimmung, daß die Mitglieder der Synode immer
une auf ein Jahr von der Staatsgewalt ernannt werben
Beobachter, ber Graf d’Esoayrao de Lauture, Ile
Disert et le Boudan, Paris 1858, p. 185, in Folge feiner
Behrnehmungen unter Muhammedaniſchen Böllern, hervorge⸗
hoben. Der Berfaffer iſt derſelbe, ber, jüngf im chineſiſche
Gefongenichaft gerathen, grauſam vesftumelt wurde.
168
follten, weit über das Ruſſiſche Vorbild hinaus. Doch
bat der Patriarch In Byzanz im Jahre 1860 diefe in ihrer
Art einzige Kirchenverfaffung, blos mit einem Vorbehalt
vor Ehrenleiftungen, anerlannt.
Der Klerus der neuverfaßten Kirche, nur aus ber un⸗
terften Kaffe genommen, Außerft Tärglich befolvet, daher
neberibei häufig ein Handwerk ober Feldarbeit zu treiben
genöthigt, meiſt ohne alle Bilbung, ift ohne Einfluß auf
bie gebildeten Stände, unter denen ein gewiſſer Boltatria-
nismus große Bortfchritte macht.) Un dem mächtigen,
and in ber That beiwunderungswürbigen geiftigen Aufs
ſchwunge, der in jüngfter Zeit unter ben Dellenen einge
treten, bat der Aerus keinen Theil genommen. Anbhäug-
!) W. Senior, Journal kept in Turkey and Greece. Lond.
1869, p. 880. Gelzer's Monmatsblätter, VII, 251. Der
Berfaffer der Aufſätze: „Kreuz unb Halbmonb“, in Gelzer's
Monatsblättern (VII, 226), der erwähnt, daß er auf ben Iu«
feln des Archipelagus, in Kleinaſien unb Syrien eine ganze
Anzahl von Biſchofen und Metropoliten beſucht, uud zum Theil
ihre Gaſtfreundſchaft genoffen habe, erzählt, baß er häufig auf
ben religiöfen Stumpffinn bes Volles, beffen Cultus nur wie
eine ſehr umſtändliche Höflichkeitsbezgengung ohne alle innere
Theilnahme ſichansnehme, hingewieſen habe; es fei ihm
aber dann erwidert worben: was ſollen wir thun ꝰ wie konnen wir
daran denken, in tube zu Mubiren unb Andere zu unterrichten,
während wir für Weib und Kind zu forgen Haben,
und nur mit Mühe bas nöthige Gelb zum Leben erhalten?
169
lichleit an die Landeslirche, Vorliebe für die Eigenthüm-
licpleiten des anatoliihen Dogma und Ritus ift im nicht
geringem Grabe bei den Griechen vorhanden, aber dieſe
Anhänglichkeit ift mehr politifch als veligids. Die kirchli⸗
hen Befonderheiten werben als Bollwerle der Griechifchen
Rationalität betrachtet, als Dinge, welche zu ver großen
Ueberlegenbeit der Hellenen über alle andern Nationen ges
hören.
Auch vie Kirche von Hellas bat eine hoffnungsreiche
Zulunft. Denn in dem Maße, als das Königreich fich er-
weitert, was bei dem raschen Berfalle des Türkiſchen Reiche
in naher Ausficht fteht, wird auch diefe Kirche auf Koften
bes Patriarchenfprengel® von Eonftantinopel fich vergrößern.
Ohne Zweifel würden bie Iontfchen Inſelbewohner fich bei
erfier Gelegenheit auch kirchlich mit Hellas vereinigen.
Da num auch Theffalten, wo bie griechifche Race überwiegt,
den Anfchluß an das Königreich eben fo wünjcht, als bie
Untertanen des Könige Otto dieſes Ereigniß begierig er-
fehnen'), fo würde man dort, ſobald die Einverleibung ex-
folgt wäre, ficher von dem Patriarchate in Stambul ſich
lotreigen, und der Stmobelirche beitreten. Die politifc
kirchlichen Hoffnungen ber Helfenen im Königreiche reichen
indeß noch beveutend weiter, auch nach Kleinafien hinüber.
1) Senior, 85 -
‘
170
c. Die Ruffifhe Kirche.
Die Kirche des großen Europäifch"Mfiatiichen Reiches,
welcher, wenn man die vom Staate ale nicht vorhanden
betrachteten Selten mitrechnet, mehr als fünfzig Millionen
Menſchen angehören, if gleichfalls eine Tochter der Byzan⸗
tintfchen, ‚die fich indeß fchon gegen Ende bes fechzehnten
Jahrhunderts von dem dortigen Patriarchate losgeſagt, im
übrigen aber mit völliger Treue das Kirchenwefen, bie
Lehre und ben Ritus, wie ihr dieß von Bhzanz aus über-
ftefert wurde, beibehalten hat. Der Theorie nach erkennt
fie in Glaubensſachen die höhere Autorität der vier anator
liſchen Patriarchen an, und wenn es ſich um bie Entſchei⸗
bung einer bogmatifchen Frage handelte, würden biefe zu⸗
gezogen oder befragt werben, d. h. eigentlich ver Patriarch
zu Conftantinopel mit feiner Synode, denn bie brei andern,
bie jest keine großen Kirchenkörper mehr repräfentiren, kom⸗
men im Grunde nur nominell, und al® Glieder der höhern
Byzantiniſchen Geiftlichkeit in Betracht. Die katholifche
Kirche gilt wegen ver Lehre vom Ausgang bes heiligen
Geiſtes auch in Rußland für bäretifch, wegen ver Anfprüche
bes päpftlichen Stuble® für fchlematifch. Leber einen brit-
ten Differenzpunct, über ben Mittelzuftand nach dem Tode,
ift die Verfländigung leicht; er wird auch nur bervorge
fucht, wenn es gilt, die Vorwände zur Trennung zu dere
vielfältigen, nnd bie Kluft zu vergrößern.
171
Die Rufſiſche Kirche war feit der Losfagumg vom
Batriarchat zu Eonftantinopel (1587) eine auf fich felbft
befchränfte Landeskirche ohne allen Zuſammenhang mit ber
übrigen chriftlichen Welt geworden. An ihrer Spike ftanb
der zu Kiew refivirende Patriarch oder Metropolit für ganz
Außland, eine dem Zaren beinahe ebenblirtige Macht; denn
die Kirche war noch nnabhängig und damals noch die Ver
treterin der VBollörechte gegen Zarenthum und Bojaren,
fo daß die Gegenvoritellungen der Patriarchen einem Veto
faft gleich Tamen. Peter I., frühe durch feinen Genfer
Erzieher mit proteftantifchen Vorſtellungen genährt, und
entfchloffen, auch den mächtigen Einfinß ver Kirche in feine
Hände zu bringen, fchaffte die Patriarchenwürbe ab, „weil
das Volk fonft mehr auf den Oberhirten als auf den Ober⸗
berrfcher ehe”, und fegte (1721) eine von ihm ernannte,
völlig von ihm abhängige „heilige Synode“ ein, ein per-
manentes Concilium in den Augen ver Biſchöfe, ein Ober»
Eonfiftorium in proteflantiihem Sinne in den Augen ber
Zaren. Us der Klerus um Wiedereinfegung eines Patris
archen bat, erwieberte Peter, unmwillig vie Hand an bie
Bruſt ſchlagend: „Da ift euer Patriarch“.) Von dem
Batriarchen Jeremias zu Eonftantinopel wurde biefer Um⸗
flurz der älteren Kirchenverfaſſung anerkannt: „bie von dem
’) Herrmann’s Geichichte des Aufl. Staats. IV, 350.
172
Raifer Peter errichtete Synode, erklärte er, ift und beißt
unfer Bruder in Ehrifto; fie hat bie Gewalt zu verhandeln
und zu befchließen gleich den vier apoftolifchen beiligen
Batrtarchenftühlen ').
Diefe Synode, mit ihren dem Laienftande (mitunter
ber Armee) entnommenen amovibeln Profurator, ift eine
Art von Staatsrath und kirchlichem Gerichtshof, eine Ver⸗
waltungsmafchine für die Kirche, bie im Staate neben au⸗
dere adminiſtrative Behoͤrden geſtellt iſt. Für ſich ein Leib
ohne Seele, empfängt fie ihr Lebensprincip vom Kaiſer
durch den Profurator, ohne beffen Signatur feine ihrer
Maßregeln gültig ift, keines ihrer Worte Kraft bat. Sie
kann ihre Sefretäre und Unterbeamten, durch deren Hände
alle Gefchäfte gehen, nicht felbft ernennen, fondern fie wer⸗
den ihr vom Zaren gegeben ober genonmen. Sie lebt nur
vom Willen des Kaiſers, ift nur bie Vollſtreckerin feiner
Entſchlüſſe.
So iſt denn dem ganzen Ruſſiſchen Religionsweſen
das Gepräge eines kaiſerlichen Staatskirchenthums aufge⸗
drückt. Das geſammte Kirchenvermögen bat Catharina LI
bereitö mit den Krongütern vereinigt, um wie es hieß, dem
Klerus die Laft der Verwaltung abzunehmen.?) Die Kirche
ı) Muramwijew’s Gejcichte ber Ruſſiſchen Kirche Karleruhe
1857, ©. 252.
?) Dolgoroukow, la verite sur la Russie. Paris 1860 p. 844.
173
trägt dieſe Suprematie wie ein ihr auferlegte® och, aber
fie trägt es willig, fie leiftet unmeigerlich dem Staate bie
Dienfte eines politifchen Inftrument® und wirft zur Be
feftigung ver abfoluten Zarengewalt. Den Bilchöfen,
droht bei der leifeften Unabhängigkeits⸗Regung Verbannung
and Einkerkerung. Und obgleich bie drei Metropoliten
von Petersburg, Kiew und Moskau ſtehende Mitglieder der
dirigirenden Synode find, ift doch der lettere, als er ein-
mal andrer Meinung zu fein ſich herausnahm, als Kaifer
Nikolaus, fofort in feine Diöcefe zurückgeſchickt worden,
womit feine Theilnahme an der Synode wegflel.')
Gleichwohl iſt die proteftantifche Vorftellung, daß ber
Landesfürft zugleich Oberbifchof der Landeskirche fei, ber
Ruſſiſchen Nation wie den Stavifchen Völkern überhaupt
im Grunde ftet8 fremd geblieben. Selbft Heute würde wohl
ein religiöfer Nuffe nicht zugeben, daß der Zar das Haupt
feiner Kirche fei, und daß es zu feinem Amte gehöre, über
Glauben und Lehre, Gottesvienft und Saframente zu vers
fügen. In der That bat auch nie ein Zar fich beigeben
faffen, das zu unternehmen, was in proteftantifchen Ländern
zu den gewöhnlichen und fo zu fagen normalen Vorgängen
gehörte; über den Glauben, ven Gottesdienſt der Kirche zu
verfügen, und ber Kirche Aenderungen aufzubringen.
) Dolgoroukow p. 343.
174
Was indeß der Ruſſiſche Zar bei alter Tirchlichen
Machtfülle von fi ablehnt, Oberbifchof . feiner eigenen
Rirche zu fein, das Kat ex, dem proteftantifchen Syſteme
gemäß, über die lutheriſche Kirche ber Oſtſeeprovinzen in An⸗
fpruch genommen‘). Unb zwar ift biefe oberbifchöfliche Gewalt
in einem ver fich hingebender Kirche felbft feinblichen Sinne
ausgeübt worden, nicht nur durch bie Ausbehnung ber Ge⸗
fetge über die gemifchten Ehen auf die proteftantifchen Pros
vinzen, wonach alte Kinder aus biefen Ehen ber Ruſſiſchen
Kirche gehören, *) fondern auch durch das ben proteftan-
tifchen Geiftlichen gegebene Verbot, Heiden, Juden, Mu⸗
hammedaner zu taufen. ine Autorität in bogmatifchen
und liturgifchen ragen ift dem Kaiſer in jeiner eigenen
Kirche doch nirgends zugefchrieben, wohl aber bat er eine
ſolche über die proteftantifche Kirche. Denn das Edict vom
%.1817 gebietet, daß das General-Eonfiftorium fich in folchen
Materien an den Kaifer zu wenden habe.
) Durch ein Refeript vom 3. 1817 f. Hengftenberg’s Kirchen⸗
zeitung, Bb. 81, ©. 569. 567.
2) Ueber die bereits eingelretenen Kolgen |. Rußlaud und bie
Gegenwart, Leipzig 1851, I, 163, und Hengſtenberg's R.
Zeitung 1. oc. 575. Beide Zeugen behaupten, fchon durch
biefes Geſetz muſſe allmälig das Aufgehen ber dortigen prote-
ftantifchen Kirche in bie Griechiſch⸗Ruſſiſche herbeigeführt
werben
)
175
Bon einem kaiſerlichen Papſithum oder Califat kann
man demnach in Rußland nicht reden; indeß ift boch in ber
Succeſſions⸗Ordnung, welche Kaifer Paul in ver Kathebrale
zu Moskau verlas, und auf dem Altar nieberlegte, ber
Kaifer das „Haupt der Kirche” genannt. Im Geſetzbuch
heißt er blos ver „gottgefalbte Befchüger ver Kirche Gottes,
aub bei feiner Krönung wirb er als „erftgeborner Sohn. ver
Kirche” behandelt. Auch Fürſt Dolgorukow bemerft:
ſelbſt Kaifer Nilolaus habe ſich nie als das Haupt ber
Kirche betrachtet, wohl aber habe er fo gehanvelt, als ob
er es wäre!) Ihatfächlich iſt freilich die Kirche in Ruß
land vollftändiger in der Gewalt des Monarchen, als wohl
irgend eine andere Genoffenfchaft ver chriftlichen Welt.
Sie entbehrt in einem Grabe, für den fich in ber
chriſtlichen Geſchichte Taum ein zweites Beiſpiel finbet,
jeve eigene Bewegung, jede freie organifche Thätig⸗
geit. Keine Eoncilien, keine Gonferenzen ver Geiftlichkeit,
fein Zuſammenwirken des Klerus ımb ber Gemeinden, feine
Mittelpuntte Eirchlicher Wiffenfchaft und Bildung, Tein Aus⸗
tauſch der Anfichten durch literariſche Organe, durch eine
Kirchliche Literatur. Kine folche exiftirt in Rußland nicht,
and foll nicht eriftiven. Daraus folgt nun, daß es auch in
der Kirche keine öffentliche Meinung, keine Gefinnung gibt;
es Läßt fich nicht fagen, daß ber Ruſſiſche Klerus irgend ein
" N) La verite sur la Russie. Paris 1860, p. 341.
176
beftimmtes, Har von ihm erfanntes, oder doch inſtinktartig
empfunbene® Ziel erftrebe, daß ihm ein organijche® Leben
innetwohne. Der Bifchof und feine Beiftlichen find durch
eine breite, unüberfteigbare Kluft von einander getrennt.
Der Bifchof ift meift ein bejahrter Möndy, ver nad) einem
in der Zelle verbrachten Leben fich durch kaiſerlichen Willen
plöglich, der weltlichen Dinge und der Verwaltungsgefchäfte
völlig unkundig, auf einen bifchöflicken Thron erhoben fieht,
der mit befondrer Rädfiht auf Törperliche Eigenſchaften
(ftattlichen Bart, hohe Statur, impofante Erfcheinung) aus⸗
gewählt, zwei Hauptpflichten lennt: Grgebenbeit gegen bie
Perſon, fowie unbebingten Gehorfam gegen ven Willen des
Kaifers, und forgfältige Pflege des Pompes Titurgifcher Ver⸗
sichtungen. Die ernften Sorgen und Gefchäfte katholifcher
Bifchöfe überläßt er theild der Taiferlichen Synode, da bie
Kaifer dem Epiflopat ben größten Theil feiner geiftlichen
Gewalt und Jurisdiction entzogen haben, theil ben burch
ihre Käuflichkeit und Simonie berüchtigten Confiſtorien.
Unter ven Bifchöfen felbft findet Teine bierarchifche Olieder⸗
ung, Teine innere Verbindung und wechjelfeitige Einwirkung
ftatt. Alles dieß haben die Kaiſer verhichtet. Und fo ſteht
bie Verfaſſung der ruffifchen Kirche im grellen Widerſpruch
mit einem body von ihr felbft anerkannten Grunbgefege,
nämlich dem Zdften apoftolifchen Kanon, wonach jede Na⸗
tionallirche einen Biſchof als den erften und als ihr Haupt
177
anerfennen joll; vie Weltgeiftlichen, meift Söhne von Geift-
lichen, (denn ver Klerus bildet dort eine erbliche KMaſſe),
immer ſchon vor der Drbination, alſo meift in früher, un-
reifer Jugend, und zwar gewöhnlich mit einer Prieftertochter
verheirathet, und Väter einer häufig zahlreichen NRachlommen-
fchaft, Tänpfen bei ver Entblößung einer buch bie Kaifer
ihrer Befisungen beraubten Kirche mit Noth und Armuth,
mũſſen oft mit eigner Hand ihr Feld bauen, find natürlich
ganz unwillend, blos zum Lefen und Singen abgerichtet, und
allzuoft dem Nationallafter bed Trunkes ergeben. ‘Dem
Bifchofe gegenüber, der fie häufig wie Sklaven bebanbelt,
völlig ſchutzlos, beugen fie fich vor ihm mit zitternber De-
muth, wie fie denn auch ſchon durch die Unmöglichkeit, von
dem kirchlichen Einfommen mit Yamilie zu leben, zur ge⸗
ſchmeidigſten Fügſamkeit nach oben (Bifchof und Patron)
wie nach unten (Volt) gezwungen find. ')
Die Ruſſiſche Kirche ift ftunnn; Tein gemeinfamer Gefang
der Gemeinde, feine Prebigt; nur zuweilen, beſonders an Kaiſer⸗
feften, nimmt der Pope over Bifchof das Wort, um bem
Volle die Pflicht und hohe Verpienftlichleit des unbedingten
Gehorfams gegen den Zar einzuprägen, und ibm zu fagen,
daß man bie Liebe Gottes nicht beſſer beweifen könne, als
1) ©, hierüber die Schilderung eine® Augenzeugen im Correſpon⸗
dent T. XXI (1826) p. 316.
». Dillinger, Parfttbum. 12
178
durch treue Unterwerfung unter ben Taiferlicden Willen. ')
Dei ſolchem Mangel an aller Belehrung und geiftigen Er⸗
frifchung bleibt der Einzelue — denn auch Gebetbücher und
afcetifche Schriften finden ſich nicht in ben Hänben bes
Volles — völlig auf den eignen engen Gedankenkreis bes
ſchränkt, unb gegen bie überwuchernde Maſſe von Super
ftition, welche eine des Lebenbigen Wortes und ber Lehre fo
fehr entbehrenve, rein ceremonlelle Religion nothwendig er⸗
zeugt, gibt es dort fein Heilmittel,
Gelftige Bilpung und ein Anflug theofogif her Kenntnigfoll
1) Daß es eine Verkehrtheit fei, nach ruffiiher Obſervanz bem
Klerus die Berheiratfung als Zwang aufzulegn, unb keinen
zur Orbination zuzulaſſen, ber im Cölibat leben will, ertennen
nun auch einfichtige Rufſen an. S. darüber Dolgorulow
p. 350. freilich dürfte Die Schwierigkeit nicht burch bloße Frei⸗
gebung zu Idfen fein, wie ber Fürſt meint; denn ein verheiratheter
und ein im freiwilligen Cölibat Iebenber Klerus können nicht
wohl neben einanber beſtehen, ba bie erfteren durch ben Con⸗
traf mit ben letzteren fofort allzutief in ber öffentlichen Meinung
finten, und das Bertranen (und natürlich auch bie Gaben) bes
Boltes nur biefen zufallen würben. Die Gemeinden würben bei
Beſetzung ihrer Pfarrftellen ficher fat immer um eimen Ehe
loſen Bitten, vorausgeſetzt, daß fie überhaupt bitten blxften.
Uebrigens find kürzlich aud von Galizien ber Klagen erhoben
worben über bie nachtheiligen Folgen, welche bie erzwungenen
frühen SHeirathen ber bortigen Griechiichen Geiftlichen haben.
S. Kleine Beiträge zu großen ragen in Oeſterreich. Leipzig
1860, &. 81.
179
in Rußland nur in den Klöftern bei einzelnen Mönchen zu
finden fein. Zugleich aber wird über den Möncheftand im
Ganzen fehr ungünftig geurtheilt; er fei, fagt Dolgorus
fow, mößig und verlommen, und, mit Ausnahme ber
Bureaufratie, bie ſchädlichſte Menſchenllaſſe in Rußland.
Der Weltpriefter aber fteht um fo tiefer in ber focialen
Rangftufe und allgemeinen Achtung, als er aus eignem
Willen wieder Laie werben, ober durch Degrabation wieber
zum Laien gemacht, und dann unter bie Solpaten geftect
werben Tann.')
Indeß ift der Ruſſe feiner Kirche unbebingt ergeben ;
fie ift ihm die fefte Burg feiner Nationalität, in ihr und
durch fie fühlt er fich unüberwindlich; und die Slavoniſche
Liturgie, die fo ganz ber Sitte und Neigung der Nation
entjpricht, gibt dem Klerus eine große Macht über die Ges
müther. Der Ruſſe ift weit entfernt, über ben tief ges
funtenen Zuftand feiner Popen jenen ethifchen Unwillen zu
empfinden, welcher Germanifchen und Romanifchen Völkern
bie fittliche Corruption ihres Klerus auf die Länge uner-
träglich macht.) Die Auffen glauben an ſich und an ihre
N) Ldeouzon le Duc, p. 234 ss.
2) Freilich fagt ber Auffifche Berfaffer ber Schrift: Bom anderen
Ufer, (Hamburg, 1850) ©. 167 von bem Ruffiſchen Bauer:
„Die Geiſtlichen verachtet er als Faulenzer und habſüchtige
Menſchen, bie auf feine Koften Leben; alle Vollezoten und
12*
180
große Zukunft, und biefes Vertrauen Tnüpft fich vor Allem
an ihre Kirche. Die Ausbreitung ihres Reiches und ihrer
Kirche füllt ihnen als das Biel alles nationalen Strebens
zufammen; da ihre Kirche allein fteht in ver Welt, fo Tann
die Regierung, wie es Nikolaus im letzten großen Kriege ger
than bat, jeven Krieg zu einem Religionskrieg ftempeln. Ale
Nichtruffen find nach der officiell dem Volke beigebradhten
Anficht Ungläubige over Irrgläubige. Demmach forderte
ein Aufruf der heiligen birigirenden Synode in Peteröburg
im März; 1855 die NRuffen auf, Gut und Blut in bem
heiligen Religionskriege dem Vaterland jest zum Opfer zu
bringen. Und die Proclamation vom Jahre 1848 hatte
mit den Worten gefchloffen: „Vernehmt es ihr Heiden und
unterwerft euch, denn mit uns iſt Sott.u Rußland ijt dem
Volle das heilige Land, Moskau vie heilige Stabt, fein
Monarch ift ver Heilige Zar. Gott ift ihm ber „Ruf
fiihe Sott.ua In den Slirchengebeten wird bie Erweiterung
ber Herrichaft des Zaren und ber orthodoxen Kirche auf
Erben erfleht, und mancher Ruſſe hofft ven Tag zu erleben,
Saffenhauer haben als Heroen bes Lächerlichen und Berädt-
lichen ftets ben Pfaffen, ben Diakonus, unb ihre Frauen.“ —
Wenn das auch ber Fall fein follte, fo würde bie Thatſache,
baß gleichwohl ber Geiſtliche gelegentlich eine große Macht Über
bas Landvolk ausübt, damit nicht im Wiberfpruche flehen, viel⸗
mehr pfychologifch ſehr erflärbar fein.
181
an welchem das Griechifche Kreuz auf St, Peter in Nom
werte anfgepflanzt werben. Die Regierung handelt nur
im Sinne der Nation, wenn fle bedacht ift, bie übri⸗
gen Bölfer des gleichen Bekenntniſſes, fowohl Griechen
als Süpflaven, für die Aufnahme in den Auffifchen Reichs⸗
umb Kirchenverband einſtweilen vorzubereiten. Vor Allem aber
blickt die Nation fehnfächtig nach Eonftantinopel, der Kaifer-
Statt (Zargrab), wie man bortfie nennt. Der Ruſſe glaubt
ein von Gott ihm zugetheiltes Anrecht auf den Beſitz biefer
Stadt, der Mutter feiner Kirche, und der Sophienlirche zu
haben. Es ift feine Sendung, dieſe zur Moſchee entweihte
Hauptkirche der anatoliſchen Chriſtenheit ihrer Beſtimmung
zurückzugeben.
Ein großes Slavenreich von Archangel bis zur Adria,
und mittel dieſes Neiches eine Weltherrfchaft, welche, wie
bie Frömmeren fagen, zur Verberrlihung und Ausbreitung
der orthodoxen Kirche dienen wird — dieß ift das Ideal,
welches, mehr ober minder bewußt, dem Ruſſen vorfchwebt.
Schon in einer Urkunde der h. Synode zu Moskau v. 9.
1619 wird dem Zar die Weltherrfchaft feierlich zugefichert,
und unabläfjiges Gebet „baß er der einzige Herrfcher werde
auf der ganzen Erbe”, verfprochen.‘) Man weiß, wie von
bortber bei allen ver getrennten anatolifchen Kirche ange
börenden Slaviſchen Bevölkerungen dies Vertranen und bie
) Kopitar in ben Wiener Jahrbb. b. Lit. Wh. 28, ©. 247.
182
Hingebung an ben großen Schirmberen' der Kirche gewedt
und gepflegt wird. Dazu dienen die Kirchenbücher mit ben
obligaten Gebeten für den orthoboren Zar, welche von
Rußland aus den Geiftlichen und Gemeinden umfonft ges
liefert werben; dazu helfen die den Geiftlichen vielfach im
Stillen gewährten Subventionen. „Geber noch fo unbe
deutende Priefter in Albanien, Korfu, Zante und Cepha⸗
lonia erhält eine Heine Jahresrente aus der Kirchenkaſſe zu
Niſchnei⸗Nowgorod“.) Aber auch unter ven Siaven in
Defterreih, den Wallachen in Ungarn und Siebenbürgen
iſt der Ruſſiſche Einfluß thätig. *)
- Den Katfercult bei der Jugend zu pflanzen, bei den
Erwachfenen zu pflegen und zu ftärken, ift, nach ben An⸗
fichten der Regierung und der Synode, Hauptaufgabe des
Ruſſiſchen Klerus. Die Gewalt des Kaiſers, lehrt ber
Katechismus, geht unmittelbar von Gott aus. Die ihm
gebührende Verehrung muß fich durch einfältigfte Unterwür-
figfeit in Worten, Geberden und Handlungen äußern; ber
3) Allg. Zeitung 29. Febr. 1860, S. 988. .
N) De Gerando, la Transylvanie, Paris, 1845, erzählt: ein
Ungarifher Offizier babe auf einen von ihm Tommanbirtem
Trupp Wallachiſcher Golbaten gezeigt unb gejagt: ces hommes
m’aiment, ils m'obeissent aveuglement, mais le Pope s'’est
laisse gagner par des moines Russes : qu’un seul cosaque
paroisse & la frontidre, et ils me passeront sur ls oorpe
pour aller od le prötre les conduira,
183
Gehorfam muß ein in jeder Rüdficht unbegrenzter und lei
dender, ohne alle Prüfung feiner Gebote fein. ')
Der polizeiliche Charakter, ver mechanifche Zwang eines
zur Regierungsmaſchine berabgewürbigten Kirchenweſens
tritt dem Beobachter in Rußland faft überall entgegen.
Selbft für Beichte und Abfolution wird eine durch kaiſer⸗
liche Verordnungen feftgefette Gebühr bezahlt. Jeder Muffe
muß jährlich einmal beichten und communiciren, und fich
darüber durch einen Schein ausweifen. Ohne biefen Beicht-
und Commtmumnion- Schein kann man weber einen Eid noch
ein Zeugniß ablegen; er ift zu Allem nothwendig, und wird
daher häufig erfauft, fo daß ein fürmlicher Handel damit
getrieben wird. Daß bie Priefter augewiefen find, und in
der Negel auch Fein Bedenken tragen, ven Negierungsbes
börden Dinge, welche von politifcher Bedeutung fein Lönn-
ten, aus der Beichte anzuzeigen, wird allgemein behauptet.
Das bürgerliche Geſetzbuch, der Swod, fehreibt vor, daß
man feinen Pla in der Kirche nicht ändern folle und
Achnliches. Die Ehefcheivungen haben die Kaifer ſich vor-
behalten,*) und die Eanonifationen von Heiligen gefchehen
gleichfalls durch kaiſerliche Ukaſe.
Indeß empfindet wohl ver größte Theil des Auffischen
3) ©. Protefl. Kirchenzeitung, 1854, ©. 854.
») Allg. Zeitung, 1868, 12. Dezbr. S. 5607.
134
Klerus den Drud der kaiſerlichen Suprematie nicht als
einen Drud und nicht als eine Deformation der Kirche.
Er ift in dem Anblick dieſes Zuſtandes aufgewachien, er
kennt feinen andern; Bibel und Kirchengeſchichte find für
ihn verfchloffene Bücher, und er fühlt wie der gemeine
Ruſſe, zu deſſen National-Bewußtfein e8 gehört, der feinen
Stolz darin findet, daß der Zar allein Herr und Gebieter
im Reiche fei. „Wenn wir uns mit Rom vereinigten, ex
wiederte ein Ruſſiſcher Priefter vor einiger Zeit einem
Srangofen, fo würbe unfer Kaifer nicht mehr alleiniger
Herr in feinen Staaten fein: er müßte einem fremden
Sonverain Rechnung tragen, das wäre bemüthigenn. Und
wir begreifen nicht, daß ihr Branzofen, die ihr doch eine
tüchtige Doſis Nationalftolz befiket, euren Monarchen ges
ftattet, in Rom bie Beftätigung ihrer Biſchofs⸗Ernennungen
einzuholen. ?)“
Gleich den Individuen werben die Kirchen mit dem
geftraft, womit fie gefündigt haben. Wie hat diefe Kirche
das fchlimme Erbtheil, das fie von dem geiftig verarmten
Byzanz überlommen, einen mechanifchen Ritualismus, forg«
fältig gepflegt, und gegen jeden geiftigen Luftzug veligiöfer
Ween und tieferer Gefühle abgeiperrti Wie hat fie ihren
Klerus zu einer Maſſe roher, gedankenloſer Verrichter herab»
!) Correspondant, Mai 1861, p. 189.
185
finfen laffen, ihr Volk ohne die Seelen-Speife der Lehre
und ber Heilsverkündigung in dem dürren Einerlei religiöfer
Höflichkeitöbezeigungen und unfruchtbarer Ceremonien dar»
ben und verfommen lafjen! Durch die endloſen Belreuzungen,
Proftrationen: und Kniebengungen ift ver Körper in ber
Kirche fo beichäftigt und in ftete Bewegung verſetzt, daß
der Geift darüber kaum zur Befinnung kommen Tann. ')
Darum konnten aber auch nur in Rußland Secten fich bil
den über die Fragen, ob das Kreuz mit zwei ober mit brei
Fingern geſchlagen werben müffe, oder ob man am Mitt«
woch und Freitag, auch wenn ein Felertag auf biefe Tage
falfe, faften müſſe. Rußland ift die rechte Heimath für
eine Selte, welche durch eine Revifion des fehlerhaften
Textes der liturgifchen Bücher, durch eine Abweichung ber
Bilder von dem alten Diufter, das Heil gefährbet wähnt.
Ueberhaupt aber hat die Vermweltlichung ver Kirche
durch den Zaren-Supremat großen Antheil gehabt an ber
Bildung der zahlreichen religiöfen Secten und Separatiften-
Gemeinben, welche in Rußland als ein mit kirchlichen Mit-
teln unheilbares Uebel und als eine drohende Gefahr für
ben Staat erjcheinen, da ed nur gewanbter Führer bebarf,
um ihnen eine politifch-renolutionäre Richtung zu geben.-
©. darüber: Le onzon le Due: La Russie contemporaine,
Paris, 1854, p. 228.
186
Andrerfeits aber bat man von Ruſſiſcher Seite auf dieſes
Sectenwefen als Grund hingewiefen, warum bie Obergewalt
bes Kaiſers über pas geſammte Tirchliche Gebiet unverän-
dert erhalten werden müſſe.)
Bor Allem find es die Raskolniken, Abtrünnigen,
wie die Staatskirche fie nennt, oder die Staromerzen,
Altgläubigen, wie fie felber fich nennen, welche, in ben un⸗
tern Voltsfchichten weit verbreitet, das alte Rußland, wie
e8 vor Peter I war, repräfentiren, und gegen die Reform
der Kirchenbücher durch den Patriarchen Nilon, im Grunde
aber auch gegen die Zarenberrichaft über bie Kirche prote⸗
ftiren. Diefes Sectenwefen breitet ſich mit jedem Jahre
mehr aus; einer jüngft mitgetheilten Angabe zu Folge?) ift
bie Zahl der Sectirer feit 1840 von 9 Millionen auf 13
geftiegen; in ganz Sibirien, dem Ural und ven Koſalen⸗
ftämmen, dann in dem nörblichen Rußland, gehört die Be⸗
pöfferung größtentheils zu ven Starowerzen. Die Regierung
will ſie nicht dulden, fie wiffen fic) aber mit ven Behörden
abzufinden. °) Die von ber Synode nad Sibirien gefchid-
ten Bifchöfe und Popen der Staatskirche werben von dem
Volle fo angefeben, wie bie proteftantifchen Geiftlichen im
1) S. bie Ruffifche Denfjchrift im Rambler, Novb. 1857, p. 813-556.
N Golowine, Autocratie Russe. Leips. 1860.
2) Wie bie Starowerzen einen Tucrativen Einfonnnenszweig für
die Fäufliche Polizei bilden, zeigt Dolgornulow 866.
187
ben ganz Tatholifchen Gegenden Irlands.) Durch einen
Bifchof ihres Ritus, der feinen Sit in einem Galizifchen
Dorfe genommen, haben fie feit 1845, in ſechs große Diözes
fen eingetheilt, ihre eigenen Biſchöfe und orbinirte Prieſter
erhalten. Neben diefen Separatiften ift inbeß noch eine
beträchtliche Zahl von häretifchen Secten aus dem frucht-
baren Schooße ver Staatölirche hervorgegangen. Cine
ver füngften dieſer Secten, die Molokaner, welche
ftreng bibelgläubig, aber nach einer willführlich myſtiſchen
Deutung ber Bibel, zu fein behaupten, ift bereit über ganz
Rußland verbreitet, und zählt eine Million Anhänger. ”)
Zu diejer wachſenden Entfrembung der niederen Klaffen
fommt nun bie vollendete Sleichgältigleit der höheren und
gebilpeten Stänpe?), jo daß e8, wie Sagarin fagt, vielleicht
fein Land in ver Welt gibt, wo man fo viele Voltairianer
zählt, wie in Rußland.
Die Ruſſiſche Kirche behauptet zwar im Glauben und
in der Verwaltung der Sacramente völlig mit ber Kirche
bon Conftantinopel übereinzuſtimmen, in Wirklichkeit ift dieß
jedoch nicht der Fall; vielmehr hat fich in neuerer Zeit ein
ſehr erheblicher Differenzpunft ergeben. Beide nämlich, die
3) Mefiner’s N. Ev. Kirchenzeitung, 1860 ©. 367.
7) N. Pranf. Zeitung 21. Dezbr. 1859.
2) La Russie sera-t- elle catholique? p. 66.
188
Ruſſiſche und die Griechiſche Kirche, pflegen die Taufe durch
breimalige völlige Untertauchung zu vollziehen, während bie
Tatholifche Kirche und bie proteftantifchen Eonfeflionen (mit
Ausnahme der Baptiften) fih mit bloßem Aufgießen des
Waffers auf den Kopf des Täuflings, ober, wie in England
anb anberwärts, mit bloßer Beſprengung begnügen. Die
Form der Taufe durch Aufgießung hatten die Griechen
früher, im J. 1484, auf einer Synode zu Conftantinopel
mit Zuftimmmg der vier Patriarchen für gültig erklärt,
und basfelbe war für Rußland buch eine aus griechifchen
und ruffifchen Bifchöfen gemifchte Synobe im J. 1667 ge⸗
ſchehen; aber im Jahre 1756 ftießen bie Griechen in einer
zu Sonftantinopel von drei Patriarchen unterzeichneten Con⸗
ftitution bie fräberen Entfcheivungen um'), und verfügten,
daß Fünftig alle Profelgten von einer ver weftlichen Kirchen,
ber Fatholifchen ober der proteftantifchen, rgetauft« werben
follten. Diefer Gebrauch tft denn feitbem in allen zum
Batriarchat Sonftantinopel jest oder früher gehörigen Kirchen
geübt worden, wirb auch gegenwärtig in ber Hellenifchen
für unerläßlich erflärt. Die Ruffifche Kirche jeboch, deren
Gebieter bei ihren umfaffenden, auf Hinüberziehen von Ra»
tholiten und Lutheranern berechneten Eutwürfen die Zu-
muthung einer neuen Taufe mit Recht als einen Stein des
') Zum Vorwand wurde bie unrichtige Behauptung genommen,
daß bie Lateiner durch bloße Beiprengung (gertiauos) tanften.
189
Anftoßes für die zu gewinnenden Profelyten betrachteten,
nahm diefen neuen Beſchluß nicht an, fo daß in den Augen
der Griechen nicht nur die ruffifchen Kaiferinnen, ſondern
auch mancher Prieſter und eine bebeutende Anzahl Laien
(3 B. die 150—180000 in ben Oſtſeeprovinzen ortbobor
geworbenen Zutheraner, und die Tauſende, welche jedes Jahr
übertreten und alle blos mit Salbung durch Chriſma auf«
genommen werben), gar nicht getauft find.) Cine jo tiefe
greifende Differenz würbe nun wohl unter andern Umftänden
zur völligen Aufhebung ber Tirchlichen Gemeinfchaft geführt
haben, allein im Türkiſchen Orient wie in Hellas hat man
bie dringendſten Urfachen, mit Rußland unb der Zarenlirche
in gutem Einvernehmen zu bleiben, und zieht daher mit
Auger „Delonomie” vor, zu dem ſchweren Frevel, deſſen ſich
die Ruſſiſche Kirche nach anatoliſchen Grundſätzen ſchuldig
macht, indem ſie ganzen Schaaren von Ungetauften alle
chriſtlichen Rechte und Heilmittel gewährt, ja ihr ganzes
Kirchenwefen durch eine ungetaufte Raiferin (Catharina II.)
regieren ließ, zu fchweigen.
3) Der damalige Patriarch Syrillos von Eonftantinopel approbirte
und veröffentlichte im Jahre 1756 das Buch bes Euftratius
Argentes: Frnkirevars ov “Pavsıouov, welches zeigen fol,
daß bie ganze weſtliche Chriſtenheit nicht getauft ſei. Man
vergl. die ausführliche Erörterung biefer Sache von William
Balmer in feinen Dissertstions on Subjects relating to
the Orthodox or Eastern-Catholio Communion. London
1853 p. 163— 203,
1%
d. Die Kirche von England und die Diffenter-
Selten.
Von einer Nationalkicche Tann man in England nicht
mehr füglich reden, da mindeſtens vie Hälfte der Nation,
eigentlich aber ein weit größerer Theil nicht zu der Angli-
Tanifchen Kirche gehört. Zählenfchon vie Katholiken in Eng⸗
land (Schottland und Irland abgerechnet) anderthalb Mil
lionen, jo find die verfchtenenen Diffenterparteien noch weit
zahlreicher, und dazu kommt dann noch bie mafjenhafte
Bevölferung der Armen, der Fabrilarbeiter, welche größten-
theils Teiner Kirche angehören, und um vie fich auch bie
Anglikaniſche Kirche nicht kümmert — ſchon deshalb nicht
fümmert, weil fie in ihrer engen und fteifen Organifation,
mit ihrem Mangel an paftoraler Elaſticität, ſich dieſen
Maffen gegenüber ohnmächtig fühlt, — und biefe wieber
ihrerfeit8 nicht daran denken, fich zur Kirche zu rechnen
ober eine Leiftung von ihr zu begehren.
Aber Staatskirche ift die Anglifanifche Kirche noch
immer; fie ift bie einzige politifch-bevorrechtete; ihre Bi⸗
ſchöfe figen im Parlamente, freilih nur im Oberhaufe;
während im Unterhaufe, welches ven eigentliden Schwers
punkt der Gewalt und Regierung bildet, bie Kirche nur zu⸗
fällig, durch einzelne kirchlich geſinnte Mitglieder, vertreten
ift. Aber fie ift mit der Staatsgewalt aufs engſte ver⸗
fnüpft. Der König oder die Königin tft ihr Oberhaupt im
191
voliften Sinne; der Staat forgt vor Allem für fie und ihre
Bedürfniſſe. Die höhern Stänve gehören ihr faft ganz
an; es kommt faft nie vor, daß ein Mann aus dieſen
Ständen fi zu einer ber Diffenter-Secten befenne.') Und
in England find die höheren Stände in fo weit religiög,
als nicht leicht Jemand unter ihnen fich offen als Ungläus
biger befennen wird, und bie Mehrzahl am Sonntage dem
Gottesdienſte beiwohnt. Dort find es die Weichen und
Bornehmen, welche zur Kirche gehen, die Armen und Nies
brigen, welche wegbleiben. Auch tft der Klerus der biſchöf⸗
lichen Kirche felbft aus den höheren Ständen hervorge⸗
gangen; durch Verwandtſchaft wie durch Heirath benfelben
innig verbunden; nur felten find Geiftlihe viefer Kirche
den nieberen Vollsklaſſen entfproffen; wer nicht durch Ab⸗
Hunft und Verwandtſchaft zu den privilegirten Ständen ges
bört, dem ift in der Regel die Pforte zum Sirchenamte
verſchloſſen. Denn das Batronat befindet fich zum größten
Theil in den Händen bes Adels und der Gentry, welche
bie Kirche als die Verforgungsanftalt für ihre jüngeren
Söhne, Schwiegerfühne und Vettern betrachten; theils ges
hört es der Krone, den Biſchöfen und ven Univerfitäten,
welche wieber nur die Ihrigen zu bebenfen pflegen. Doch
gibt es neben dem reichen bepfründeten Klerus einen
1) Der berühmte Chemiler Faraday bildet eine feltene Ausnahme.
1%
untergeorbneten armen Klerus, die Hilfs- Gelftlichen (Cu-
rates), weldhe den Dienft für vie zahlreichen SMafien
der Sinekuriſten und Piuraliften, gegen meiſt fehr
geringe Beſoldung verfehen. Bis zu einem „Eurate” ober
Hilfsgeiſtlichen mag es gelegentlich auch der Sohn eines
ben nieberen Ständen angehörigen Vaters bringen. Ueber-
haupt aber gibt es kein anderes chriftliches Land, wo bie
Armen und Niebrigen fo fehr von ven höheren Schulen
und Bildungsanftalten, und baburch natürlich auch von
pen Klerus und dem Staatspienfte ausgejchloffen find, wie
das in England der Fall ift.
Nirgends ift die luft zwifchen ven höheren unb nie
beren Ständen fo groß, findet zwifchen jenen und biefen
fo wenig Berühruug, fo geringe Gemeinfchaft der Gedanken
und Empfindungen ftatt, als in England. Der arifto«
kratiſch geborne und gebilvete Geiſtliche der Staatsfirdhe
gehört den höhern Klaffen, verfteht fie und wird von ihnen
verftanden, denkt und fühlt gleich ihnen; von dem Volke
ift er durch eine Kluft getrennt, die auch der paftorale Eifer
felten zu überbrüden vermag.) Er prebigt nicht, er liest
eine Rebe oder Abhandlung vor; er liest die ſehr in bie
Länge gezogene fonntägliche Liturgie, und er befucht bie
I) Treffende Bemerkungen über biefe: „cause of weakness in the
established church“ bat Lytton Bulwer: England and
the English, Paris 1833, p. 210 ss.
18
Suabenfchule, das Volk aber liebt die VBorlefungen in den
Kirchen nicht fonderlich, findet auch bei dem berrfchenven
Syfteme der gemietheten Sperrfige ober Kirchenftühle nicht
einmal Raum in ben Kirchen. Von dem Inftitut der Beichte,
weiches in ver katholiſchen uund den Griechiſchen und Ruſ⸗
fiiden Kirchen dem Priefter bie unmittelbare Einwirkung
auf pie Einzelnen fichert, ift felbftverftändlich dort nicht bie
Rede. Die Liturgie beflimmt zwar, daß der Kranke, wenn
er fi zur Erleichterung feines Gewiſſens durch eine Beichte
gebrängt fühle, dieß thun dürfe; von dieſer Erlaubniß wird
inbeß natürlich nie Gebrauch gemacht, pa Perfonen, die ihr
ganzes Leben nicht gebeichtet haben, auch auf dem Kranken⸗
bette nicht daran benfen. Der Englifche Geiftliche ift alfo
ein Borlefer, und in ber Regel nicht mehr als dieß. Den
niebern Ständen aber ift vie Geiftlichkeit der Staatsfirche,
ihre Ausbrudsweife, ihre Sitte, fremd, unverftändlich, ab⸗
ftoßend.
Es gibt wohl keine Kirche, die fo fehr ald die Angli«
kaniſche das Erzeugniß und ber Abbrud der Bedürfniſſe
und Wünfche, der Sinnesweife und Willensrichtung , nicht
ſowohl einer beftimmten Nationalität, als vielmehr nur eines
Bruchtheil® der Nation, nämlich der reichen, vornehmen
und gebildeten Stände ift. Sie ift die Religion bes An«
ſtandes, bes guten Tones, der klerikalen Zurüdhaltung ;
Religion und Kirche follen vor Allem, will man, nicht läftig,
d. Dillinger, Papfithum. 13
194
nicht unbefcheiden, nicht zubringlich fein. Was die Staate-
fircde fo fehr empflehlt, ift ihre Anfpruchslofigleit, tft, daß
fie eine höhere Autorität fich beilegt, daß fie keine läftige
Mahnerin des Gewiſſens ift, ſich vielmehr innerhalb ber
Grenzen allgemeiner, felten bie in das Gewiſſen hinein»
reichender Moralität und einiger chriftlicher Hauptlehren
hält, und was fie an pofitiv kirchlichen Sagungen früher
noch befaß, altmälig außer Uebung bat kommen laſſen. Sie
befcheivet fich, nur fo viel Raum im Leben einzunehmen,
als Erwerb und Genuß des Reichthums und Sitte einer
vor Allem auf Behaglichkeit des Lebens (Comfort) gerich-
teten Menfchenclaffe etwa übrig läßt. Bon den zahlreichen
Süden, durch welche früher das Leben des Englänvers in
feinem ganzen Laufe an den chriitlichen Glauben gebunden
war, hat fie vie meiften zerriffen ober zerreißen laffen, und
nur jene beibehalten, welche das geringfte Maß zügelnder
Kraft befigen. Sünde bekennen, Faften, Alles, was in das
Gebiet der Ascefe gehört, rechnet der durchfchnittliche Eng⸗
(änber zum „Aberglauben“, ein Begriff, der für ihn ein
unenblich weiter ift, feine Kirche aber, das rühmt er voll
fommen an ihr, muthet ihm nichts Abergläubifches zu. Auch
ihre infularifche Befchaffenheit, ihre Abfonderung von je⸗
der andern chriftlichen Gemeinfchaft, entfpricht dem natio⸗
nalen Sinne, und iſt ein populärer Zug an ihr. Der
Engländer, befonders in den höheren Ständen, findet es
1%
ganz in ber Orbnung, daß er eine abgefchloffene Kirche für
fi) habe, an der keine andere Nation Antheil nehme, und
zwar eine Sirche, die, während fie einerfeits die ganze Be⸗
quemlichleit, die Zurüdhaltung und Selbftbefchräntung bes
continentalen Proteftantismus barbletet, doch auch andrer-
ſeits mitteld ihres Epiſtopats und ihres mehr liturgiſchen
Charakters vornehmer und würdevoller erfcheint.')
ı) Nationallirchliche Selbſtgefälligkeit it ein Gefühl, das man in Eng-
land beobachtet haben muß, um von ber Stärke unb Eigen⸗
thlimlichleit biefes Zuſtandes fih eine Vorftellung zu machen.
In katholiſchen Ländern kommt die Sache nicht vor, weil ber
Katholil, ausgenommen ba, wo er zerfirent unter Fremdgläu⸗
bigen lebt, fich überhaupt bes Gegenſatzes feiner Kirche zu an⸗
deren wenig ober nicht bewußt wirb, weil er von Iugenb auf
nur immer von der Einen allgemeinen Weltlirche gehört, nur
ihre Luft eingeathmet hat, nur in ihrem Ideenkreiſe fich be⸗
wegt, und weiß, baß feine Nation nur eine unter Vielen, nur
ein Zweig an bem großen Banme ber Kirche ift, ber vor ben
übrigen Völkerzweigen nichts voraus hat. Ganz anders ber
Engländer, der ſchon mit der Muttermild die Borftellung ein-
faugt von einer Englifhen Religion, Englifchen Kirche,
zu ber fih alle andern nur wie Abarten, wie Baftarblirchen,
wie Superftition zum Glauben verhalten, und bamit das an-
genehme Bewußtſein ber Zugehörigkeit zu dem ausermwählten
Volke ber Neuzeit, dem modernen Lieblingsvolke ber Gottheit
in fih aufnimmt. Diefe ganz judaiſtiſche Denkweiſe findet
daher auch fo großes Gefallen an dem jübiihen Sabbath.
Die Eine rechte Kirche, fo denkt ſich ber durchſchnittliche Eng⸗
länder die Sache, ift, wie phyſiſch fo auch moralifch eine In-
13*
1%
Die bifchäflicde Staatslirche Hat ſeit der Revolution
von 1688, beſonders aber feit 1770, ungeheure Verlufte er-
litten. Im Jahre 1676, alfo nur 17 Jahre nad ver
Wieverberftellung, vechnete man, daß Katholiken und Dif-
jenter zufanmen nur ein Zwanzigtheil der Bevöllerung bil⸗
beten. Gegenwärtig ift es wenigftens die Hälfte der Na⸗
tion, bie fich ihr entfrembet bat. Was ſie den böhern
Ständen werth und willlomnen macht, das ftößt die nie-
beren ab. Dieje fehen in dem Geiſtlichen nur ven feinen,
eleganten Mann; er hat keine Senbung für fie, er ift nicht
Briefter, nicht Bote Gottes, und was das ſchlimmſte ift,
er bat feine feſtſtehende Lehre ihnen zu verfünben, denn
bie Kirche, der er dient, hat auch keine; was er lehrt, find
nur Meinungen der Partei oder Schule, der er durch ven
Zufall ver Geburt, der Bilbung oder des Umganges angehört.
ſularkirche. Wo fefter britiicher Boden aufhört, und das Meer
beginnt, ba hört auch ber fichere Lirchliche Boben auf, umb
wogt das umfläte Meer bes Aberglaubens und ber falſchen ober
mangelhaften Kirchen. Xreffenb, unb ganz aus ber Seele feiner
Landsleute heraus, hat das Saturday Review (1859, IL, 10%)
biefe Gefinnung gejchilbert: There is no feeling so pleasant,
as the assuranoe, that you are yourself right and every
body else wrong, that your church and nation are the
very perfeotion of churches and nations, and that by im-
plication you are yourself the most perfect specimen of
both the spiritual and the temporal society.
‘
197
Man begreift, daß ein großer Theil des Volles es
vorzieht, einer ber Selten fi) anzufchließen, bie doch eine
beftimmte Lehrforn haben, und ver Willkür ber Prebiger
feinen oder geringen Raum lafjen.
Geiftliche der Staatskirche bebanpten,') feit der Refor-
mation fet biefe Kirche nie fo recht vie Religion des Volles
gewejen, nie babe fie jenes Vertrauen, mit welchem bas
Bolt der Tatholifchen Kirche vor der Reformation zugethan
geweſen, fich zu gewinnen vermocht. Aber als vie Kirche
bes reichiten Landes ber Welt, und ber reichiten Klafien
dieſes Landes, verfügt fie über gewaltige Gelbmittel, wie
feine andre, und bat fo in ven letzten breißig Jahren durch
Reftauration alter und Erbauung neuer ſchöner Kirchen
das Außerordentliche geleiftet, was dieſes Jahrhundert aufs
zuweijen hat.
Gleichwohl ift auch jetzt noch Feine Ausficht dazu vor»
handen, vaß es ihr gelingen werbe, wieder zu werben und
zu leiften, was ihre katholiſche Vorgängerin war ımb leiftete:
die Kirche auch der niederen Klaſſen, auch der Armen, unb
bie Defiterin ihres Vertrauens und ihrer Aubänglichkeit.
Jeder, der die Wirkungen überfchaut, welche die Religions⸗
Aenderung für diefen Theil der Nation gehabt, und bie
Haltung, welche vie neue Kirche ihr gegenüber einge-
9) Christian Remembrancer, t. 27 (1854)sp. 885.
198
nommen, wirb in biefer Beziehung leinem Zweifel Raum
geben.
Vertirzung, Zurückſetzung, Beraubung ber ärmeren
Aafſen ift allenthalben die Signatur der „Reformation“
genannten Ummälzung. In England hatte die große Be⸗
ranbung ber Kirche, die mafjenhafte Uebertragung des Kir⸗
chenguts in Laienhände viele Tauſende von Armen brodlos,
Tauſende von Befitern zu bilflofen Armen gemadt. Die
Spenden ber Fatholifchen Zeit an Arme hatten mit der Re⸗
formation, der Berheirathung des Klerus, der Bereicherung
des Adels aus dem Kirchengute, ganz aufgehört. An Or⸗
ten, wo fonft jährlich 20 Pfund Sterling den Armen ge
geben wurden, fagt ein Zeitgenoffe, wird jegt keine Hand⸗
voll Mehl mehr gegeben.) Die Kirchen und Klöfter, dann
bie Pfarrer hatten bisher die Sorge für die Armen haupt⸗
fächlich getragen, fie hatten auf ihren Gütern eine dichte
Bevölkerung von Pächtern und Grunpholden gehabt.
Leflie und Rennett?) beichreiben das Verfahren des ka⸗
tholifchen Klerus mit den Armen: man gab ihnen nicht bios
Almoſen, man verjchaffte ihnen auch Arbeit, man brachte
ihre Kinder bei Kaufleuten oder Handwerkern unter; fie fans
den in den Möftern und Pfarrhäufern, wenn fie wanderten,
2) Selden’s Works, III, 1389.
⁊) Divine Right of Tithos. Works, II, 878.
1%
Herberge, und die Pfarrer hielten eigene Armenliften, nach
denen fie die Dürftigften zum Empfange ber Spenben
porriefen.')
Aber durch die plögliche Aufhebung aller Kloſter, durch
die Vergebung von Kirchen» und Kloſtergütern an die Hof-
feute und den Adel wurben nicht nur Unzählige mit einem
Male befitlos, die neuen Erwerber fanden es auch-vortheil«
hafter, große Ländereien, auf denen bisher unter dem Schtem
der Kirche eine ackerbauende Bevölkerung gelebt, in Weide⸗
land zu verwanbeln, und fie bamit zu entnölfern, fo baß
jeßt „vie Schafe die Menfchen verzehrten.””) Es fchlen
1) Case of Impropriations, 1704, p. 16.
2) So heißt es in einer im Jahre 1581 erfchienenen politifchen
Schrift: A compendious or briefe examination of oertayne
ordinary complaints f.5: „Die Schafe find Schuld an allem
Unheil, fie haben den Aderbau aus dem Lande getrieben n. f.
w.* ap. Eden p. 115. Harriſon, Description of Eng-
land, p. 205, rebet von ganzen Stäbten ober Sleden (towns),
bie niebergeriffen und in Schafweiden verwandelt worben feien.
Kalte Habſucht, rohe, erbarmungslofe Unterbrlidung ber Armen,
ſchildern bie Reformatoren und proteflantifchen Biſchöfe und
Theologen aus Eduard's und Eliſabeth's Zeit, Becon,
Sandys und Anbere, als ben herrichenden Zug bes Abels
unb der wohlhabenben Klaffen, und geftehen, daß die Englän-
ber in ber katholiſchen Zeit barmherziger und milbthätiger ge-
weſen feien. Die Urfache davon findet ein anderer proteftan-
tiſcher Theologe in ber Lehre vom Glauben unb ber Rechtfer-
tigung. Stubbes: Motive to good Workes. London,
1596, p. 42.
200
nun (unter Eduard VI.), fagt Burnet,') der allgemeine
Wille und Plan des Adels zu fein, die Landbewohner zu
jener knechtiſchen Erniedrigung und Leibeigenfchaft hinab⸗
zubrüden, in welcher fie ſich anderwärts befanden. So
wurbe denn auch gleich mit ben erften Schritten, welche
Eduards Regierung zur Einführung des Calbinismus in
England that, eine förmliche Sklaverei in England wieber
gefeglich hergeſtellt. Eine fo erbarmungslofe und unchrifte
liche Härte der Gefeßgebung, wie fie nunmehr (feit 1548)
eintrat, war bis dahin unerhört geweifen. Müßig lebende
Perjonen, (und zur Conftatirung des Müßigganges genügte
fon ein breitägige® Nichtarbeiten), wandernde Bettler
follten auf der Bruft gebranpmarlt, zu Sklaven gemacht,
blos mit Waffer und Brod genährt, in Ketten gefchmiebet
zur Zwangsarbeit gebraucht, bei Entweichungsverfuchen mit
bem Tode beftraft werben.) So fehuf man erft eine hilf⸗
lofe Bettlerbevölferung — denn England war damals noch
fein Induſtrieland — und dann behandelte man fie ärger
als das Laftvieh.
Unter Elifabetb wurben biefe Geſetze erneuert; jelbft
1) History of the Reformation. Fol. ed. II, 114.
?) Sir Fred. M, Eden: State of the Poor. London, 1797,
I, 100. 101. Pashley, Pauperism and Poorlaws.
London, 1852, 180. Dieſer nennt «6: a statute, oharao-
terised by a barbarous and ruthless severity, wholly un-
worthy of the legislation of any ohristian people.
201
Kuaben von 14 ober 15 Jahren follten, wenn fie um Al⸗
mofen gebeten, gebranpmarlt werden.) War einer über 18
Jahre alt, fo Ionnte er, das zweitemal ergriffen, mit bem
Tode beftraft werben.) Erſt im Jahre 1597 ward fett
ber Brandmarkung Auspeitſchung Bis aufs Blug ober Ber-
urtheilung zu ven Galeeren verfügt. Zugleich aber warb
unter Eliſabeth zuerft ver Zwang ber Armentare eingeführt,
woburch bie freie chriftliche Mildthätigkeit zu einer gefetli-
hen Berpflichtung erniebrigt, an die Stelle der willigen
Gabe die erziwungene brüdende Steuer gefegt wurde.) Da⸗
zu find denn in neuerer Zeit bie Armen- ober Arbeitöhäufer
gekommen, beren Einrichtung durch die Trennung von Dann
md Weib, von Kindern und Eltern eine völlig unchriftliche,
die, felbft nach Englifchem Urtbeil, in ihrer gegenwärtigen
Beichaffenbeit, eine Schmach für das Land find‘); da fih
?) Stowe, Chronicles of England, Lond. 1630, ad an. 1564,
1568, 1572.
2) Eden, p. 128.
3) Bergl. hierüber die Bemerkungen bes Edinburgh Review, t.
90, 507. „Das Armengeſetz, heißt es bier, vergiftet felbft bie
Duelle ber chriftfichen Nächftenliebe, inbem es fie auf ber einen
Seite zu einem unabweisbaren Ausſpruche, auf ber andern
zu einer unentfliebbaren Tare macht u S. f.“ Schon beim Be
ginne des vorigen Jahrh. ftellt Leflie (TI, 873) die ſchwere
Armentaye als eine gerechte Strafe dafür dar, daß man „Gott,
bie Kirche und die Armen in der Reformationszeit durch Weg⸗
nahme ihres Batrimoniums beraubt habe.“
) Pashley, 364.
a
tm ganzen übrigen Europa nichts Aehnliches findet. Hier
wird mit einem Aufwand von 6 Millionen Pfund fo viel
erreicht, daß die Arbeiter lieber in ber härteften Entbehrung
und dem gräulichften Schmutze leben, als daß fie das
Armenhaus aufjuhen. Die Reformation aber iſt ed, bie,
wie man in England wohl erfannt bat, dem Englifchen
Volke als bleibende Folge den gefetlich beſtehenden und
officiell eingerichteten Pauperismus gebracht bat.')
Durch die Abfchaffung aller Tatholifchen Feiertage und
durch die Verwandlung des chriftlichen Sonntags in einen
jünifhen Sabbath wurde den Armen noch ein weiteres
drückendes Joch aufgelegt. Alles, was bie alte Kirche dem
Bolle an erquidenben, aufbeiternden Tirchlichen Weiten durch
Proceffionen, Flurgänge, Wallfahrten, pramatifche Darſtel⸗
lungen, Geremonien gewährt hatte, wurde, wie fich verftebt,
abgeſchafft; nichts blieb als die gelefene Predigt und bie
gelefene Liturgie, und bazu die fehroffe calvinifche Unter⸗
drüdung jeder gemeinfchaftlichen Luſtbarkeit, jedes öffent«
lihen Bergnügene am Sonntage. So änderte fich ber
ganze Charakter des Englifhen Volkes.) Früher in ganz
ı) Dublin Review, XX, 208.
2) MWörtlih fo Lord John Manners in feinem Plea for Na-
tional Holy Days, London, 1843, p.7: The English people,
who of yore were famous over all Europe for their love
of manly sports and their sturdy good humour, have ysar
after year been losing that choerful character, and com
208
Europa belannt als ein Boll voll Träftigen Humors, als
das heitere, Iuftige England, nahm es feit ver Reforma⸗
tion ein büftere®, unzufrievenes, mürrifches Weſen an.')
trariwise been acquiring habits and thoughts of discontent
and morosoness. Gewiß hängt die ungeheure Verbreitung ber
Trunffucht unter ben nieberen Klaffen damit zufammen; macht
man doch au an Imbivibuen überall Nie Erfahrung, daß fie,
wenn fie mit ihrem Loofe unzufrieden find und ihr Leben ver-
büftert if, fi gerne bem Trunke ergeben. Erſt nach ber
Mitte des 16. Jahrhunderts Fam in England das unmäßige
Trinken hinzu, um ben Pauperismus zu vergrößern und un⸗
heilbar zu machen. Im ber katholiſchen Zeit war das Eng⸗
liſche Volt von biefem Laſter fo frei, daß es für das mäßigfte
unter ben norbifchen Nationen galt. Dieß änderte fich völlig
unter Elifabeth, wie zwei Zeitgenoffen, ber Geſchichtsſchreiber
Camden (Annals of Q. Elizabeth, p. 263) unb ber Bi-
hof Godfrey Goodman (the fall of man, Lond. 1616,
p. 866) berichten. Die aus bem Nieberlänbifchen Kriege Heim⸗
gelehrten follen beſonders zur Verbreitung bes Lafters beige.
tragen haben. Unter Jakob 1606 wurden bie erften Strafge-
fee dagegen erlaffen. Gegenwärtig vertrinfen bie arbeitenden
Hafen in Großbritannien jährlih an Branntwein und Bier
fo viel als das ganze Einkommen bes Reiches beträgt, nemlich
(den Aufwand für Tabak hinzugerechnet) mehr ale 53 Mil-
fionen Pfund. (&. Porter: On the self-imposed Taxa-
tion of the Working Classes, im 13. Banb des Journal of
the Btatistical Bociety).
9 Das Englifhe Sprichwort: All work and no play makes
Jack a dull boy, gilt von ben arbeitenden Klaſſen in Eng⸗
land ganz allgemein. Sie find durchaus mit Arbeit überbürdet,
a _
Mufit und Tanz, früher Lieblings⸗Vergnügungen des Volles,
verſchwanden. Der Engländer der nieberen Maffen ift nun un-
mufilalifch, und zubem darf oder kann ernicht tanzen, wenn er
auch möchte. Alle Lebensgenüffe, alle Mittel, fich die purita=
nifhe Monotonie eines Englifchen Sabbaths oder Sonntage
erträglicher zu machen, find ben höhern Ständen vorbehalten.
Den arbeitenden Klaſſen tft michts geblieben ala — das
Trinken. Das Volt kann fich felbft, feitvem die Autorität
und bie alle gleihmäßig im Genuſſe ver Feiertage fchügenbe
Intervention der Kirche gefallen iſt, keine Ruhezeit mehr
gönnen, denn bei der allgemeinen, athemlofen Eoncurrenz
wärben Ruhetage, ja ſchon Rubeftunden die Vorläufer des
Mangels, des Elendes und des Todes fein. Beim An-
blide eines ſolchen Zuſtandes Tonute ſelbſt ein fo feuriger
Proteftant, wie Robert Southey, nicht umbin, unter
fehnfüchtigen Blicken auf katholiſche Länder, wie Spanien,
wo die Religion die unfchuldigen Vergnügungen bed Volles
begänftige und heilige, den Calvinismus feines Landes zu
beflagen, der mit feiner düſteren, freuvelofen Frömmigkeit,
feiner jubaiftifchen Sabbathefeter und feiner Unterbrüdung
aller Feittage vie arbeitende Klaſſe geiftig geknickt und brus
und bie Kirche thut nichts für fie. Mit Recht bezeichnet Lorb
John Manners den herrſchenden Zuſtand als: the „all
work and no play‘ system.
205
talifirt habe.) Die Englifchen Könige hatten dieſes Un-
heil längft erkannt; Karl I. wollte die freiheit des Vol⸗
kes fchügen gegen ven Puritanismus des Parlaments, unter
lag aber, und „pie DHeiligleit des Sabbaths“ wurbe ein
wirkſamer Kriegsruf gegen den andy in feinen beftgemeinten
Maßregeln unglüdlichen König.) Hundert Yahre fpäter
mußte der erfte König des Hanndver'ſchen Haufes fich mit
dem unfruchtbaren Wunfche begnügen: „daß doch die Be
Iufligungen und Spiele, beren fein Voll durch purita-
nifche Bigotterie und übermüthigen Latitubinarianiemus bes
raubt worden fei, ihm wieder gegeben werben möchten.” °)
Etwas Wirkfames in dieſer Richtung zu thun, ift indeß bem
jegigen Schattenfönigthum unmöglich.
Dis zur Reformation gab es in faft jeder Pfarrei
Englands mehrere Kapellen und Gebetftätten, die beſonders
für die ärmeren Klaſſen und das Landvoll doppelt erwünfcht
waren in einem Lande, wo es befanntlich nur wenige eigeut⸗
liche Dörfer gibt, die Lanpbevölferung vielmehr zerftreut in
einzelnen Höfen und „Cottages“ wohnt, bie Pfarrkirche alſo
einem großen Theile der Gemeinde allzuweit entfernt ift.*)
!) Espriella’s Letters, London 1814, I, 147.
2) J. Disraeli: Commentaries on the life of Charles I.
London 1889, II, 29.
3) Lord John Manners, p. 21.
4) &. darüber unter Anberm: Polwhele: Letter to the Bi-
sbop of Exeter, Truro 1833, p. 28.
206
Ale diefe Kapellen und religiäfen Stätten bat ber Pro⸗
teſtantismus zerflört und nur die Pfarrlirchen übrig
gelaffen.
Noch nicht genug: die Kirche iſt das Haus des Armen,
in welchem er fi, wenn fie etwas mehr als ein bloßer
Hörfaal ift, wohl fühlt, auch darum, weil er das bort
finvet, was ihm in feiner meift fo engen und unerquidlichen
Hänslichkeit abgeht: ven Schmud der Bilder und der Sym⸗
bole, den weiten, Raum, vie feierlich ſtimmenden ardhitel-
tonifchen Proportionen, bie zur Andacht erregenve Ruhe
und Stille, die Atmofphäre und pas Beiſpiel des Gebets.
Der Proteftantismus bat nicht nur die übrig gebliebenen
Kirchen jebes Schmuckes beraubt, er bat fie auch gefchloffen.
Während der Woche kann Niemand die Kirche befuchen.
Bor der Reformation waren feine gefchloffenen Kirchen»
Kühle In den Kirchen zugelaffen worden; ber Raum der
Kicche gehörte der ganzen Gemeinde, und Hohe und Niebere
beteten vermifcht mit einander.') Mit dem Proteftantismns
aber hielten auch vie Kirchenftühle ober Logen ihren Ein⸗
zug, die, mit allen Bequemlichleiten verjehen, ben Reichen
und Vornehmen zugleich Die völlige kirchliche Abjonderung
von dem gemeinen Volke verfchafften.
1) Das bemerkt Biſchof Kennett im feinen Parochial Antiqui-
ties, new ed. by Bandinel, Oxford 1818, 11, 282, ausbrüdtid.
207
So bat denn Alles zuſammengewirkt, um bie Armen
und Niederen allmältg aus den Kirchen in England zu vers
brängen, ober fie zur freiwilligen Entfernthaltung zu be⸗
ftimmen: die unerquickliche Form eines faft blos in Bor»
lefungen beftehenben Gottesbienftes, die den Raum weg⸗
nehmenden SKixcchenftühle ber Reichen, die Dürftigkeit ihrer
Keidung neben dem eleganten Anzuge ver Wohlbabenben,
wid die wachfende Muft und Entfremdung zwilchen ven
Ständen.
Den Diffenter » Sekten können fi vie Armen auch
nicht zuwenden, da biefe ganz auf die Zahlungen ihrer Mit⸗
glieder angewiefen find. Die Folge if, daß fie maffenhaft
in völlige religiöfe und ſittliche Verwilderung verfunten find,
daß eine „zahlreiche Nation von Heiden” ſich im Lande ge-
bildet hat,) daß nach dem Geftänpniffe eines Biſchofs ſelbſt
ein noch ſchlimmerer Zuſtand als Heidenthum, ein grim⸗
miger Haß gegen ben chriſtlichen Glauben, in vielen Ge⸗
genden Englands graffirt.) Nach einer ftatiftiichen Be⸗
1) Ausbrud von Puſey in feiner Nebe: Christ, the Source and
Rule of christian Love. Preface, p. 5, 11.
?) Charge of the Bishop of Exeter, p. 56. — Deutfche Beob»
achter bezeugen dasſelbe: „Die Armen (in England) finden
kaum einen anbern Weg, als entweber zu völliger religiöfer
und kirchlicher Berwilberung, ober nach Rom. Leider ift nicht
zu zweifeln, baß bie große Mehrzahl der Armen, welche im
208
rechnung ift e8 nur ein Fünftheil ver Bevölkerung, welches
in Lonbon zur Kirche geht, und zwar eben bie wohlhaben-
bere Kaffe; denn bie Armen in London, fagt einer ber ftäb-
tiſchen Miffionäre, ') halten fich der Maffe nach von jedem
Gottesbienft entfernt. Er fand, daß in der Pfarrei Cler⸗
tenwell, mit 50,000 Seelen, von den Armen nur etwa Einer
unter fünfzig gelegentlich einmal in vie Kirche komme.)
Die Folgen find denn auch nicht ausgeblieben; ein Geiſt⸗
licher der Staatliche, Worsley, behauptet, daß unter
den Armen in ben großen Manufalturftäpten auch ver
legte Reft von Schamgefühl bei beiden Gefchlechtern fat
weitern Sime eben boc die Maſſe des Bolles ber untern
Schichten bilden, ohne alles kirchliche und religidfe Leben dahin
gegangen find.” 8. AU Huber in ber Hengflenberg’idem
Kirchenzeitung, 1858, ©. 845.
ı) Vander Kiste: Notes and Narrations of a six years
Mission, principally among the Dens of London, 1858.
Heathenism is the poor man's religion in the metropolis,
fagt er, p- XIV.
?) Nach dem Eenfus von 1851 bat fi ergeben, baf, wenn man
die Zahl der zum Kirchenbefuch Fähigen zu 58 Proc. ber Be
völferung annimmt, nahezu 6'/, Millionen bie Kirche ber
Staatskirche, 6 Millionen bie ber freien Genoſſenſchaften (Ka⸗
tholiten und Diffentere) und 624 Millionen gar feine Kirche
beſuchen. In den Gtäbten ift die Zahl ber Gtantslicchlichen
Heiner als bie ber Diſſenter. In Wales und Wonmouth ges
hört der Stantslircdhe nicht ein Drittheil ber Bevöllerung au.
209
völfig vertifgt fet, und, was noch bebentfamer ift, er bes
Iennt, daß auch auf dem Lande und in ben Dörfern bei-
der arbeitenden Kaffe Kenfchheit und Enthaltung nahezu
allgemein verſchwunden fei.')
Mit den Kirchen wurden auch die Schulen ben aͤr⸗
meren SHafien entzogen. Im Jahre 1563 erklärte ver
„Speaker“ des Unterhaufes: In Folge der (mit ber Refor⸗
mation eingeriffenen) Raubfucht und Plünberung ver Stif-
tungen, fet die Erziehung ver Jugend vereitelt, ber Nach
wuchs Unterrichteter abgefchnitten. Es ſeien jetzt hundert
Schulen weniger vorhanden, als früher, und von ben über»
gebliebenen feien viele nur fchlecht beſucht. Deßhalb bes
merfe man auch eine fo auffallende Verminderung gelehrter
Männer.) Später wurden zwar allmälig mehrere Ge-
Lehrten-Schulen gegründet, aber auch vie Armen Immer mehr
ans venfelben verbrängt. Eben jo gieng e8 an ben beiben
Untverfitäten. Bon ven zahlreichen Eollegien waren mehrere
in katholiſcher Zeit eigens für arme Studirende geſtiftet;
aber nach ver Reformation wurden auch biefe ariitofratifirt.
Selbft ein ſtaatskirchliches Organ Tarın nicht umhin,
*) Prize-Essay on juvenile Depravity. London, p. 68, 82.
2) Collier's Eocles. History of Great Britain, II, 480. Auch
Hallam, Introduction to the Literature of Europe, II,
89, Paris ed., hebt die Armuth und VBebeutungslofigfeit ber
Engfifchen Literatur in ber Zeit Eliſabeths hervor, und bemerkt,
daß Spanien bamals hierin höher geftanben als England.
v. Döllinger, Papſtthum. 14
210
Angefichts dieſer Thatfachen zu geſtehen, daß bie Nefor-
matton in ihren Ergebniffen unzweifelhaft ein Triumph
der Reichen über vie Armen, und des Geldes über das
Necht der Arbeit war.')
Die Reichsgeſetze aus der Zeit der brei Tudors, Hein⸗
richs, Edwards und Elifabeth’8, welche vie Suprematie über
bie Englifche Kirche für ein unveräußerliches Königerecht
erflären, befteben noch in voller Kraft. Der König ober
bie regierenve Königin ift im Befige ber oberften Tixchlichen
Gewalt, und die der Bifchöfe iſt nur ein Ausfluß der Tönige
lichen. Dabei ift ber Träger der Krone freilich in einer
Beziehung die unfreiefte Perſon feines Reiches, denn, wenn
er in Gemeinfchaft mit dem Nömifchen Stuble träte, Tas
tholifch würbe, ober nur eine Tatholifche Gattin nähe,
träfe ihn fofort Abfegung ober Verluft des Thrones. Nach
dem Statut von 1689 würbe die Nation in biefem Falle
von Eid und Pflicht der Treue gelöft fein.) Zudem muß
er als religiöfes Haupt zweier Kirchen auch abwechjelnd
zwei Religionen befennen, vie fich gegenfeitig bekämpfen,
benn in Schottland iſt der presbhtertantich-calvintfche Bros
1) British Critio, t. 38, p. 419.
?) Bergl. darüber bie Bemerkung von Puſey: Patienoo and
Confdenos the strength of the Church, Oxford 1841, p.
80; er citixt ben Wortlaut bes Statuts: the people are in
such case absolved from their allegianoe,.
211
teftantiemus Staatskirche. Die gegenwärtige Königin pflegt
daher im Winter Englifch -bifchäflih, im Sommer Schot⸗
tiſch⸗ presbyterianiſch zu fein; hat fie im Winter ber Angli⸗
Tanifchen Liturgie beigetwohnt, und das Sakrament aus ber
Hand eines Biſchofs oder bifchäflich ordinirten GBeiftlichen
empfangen, fo hoͤrt fie während ihres Sommeranfenthalts
in Balmoral oder fonft wo in Schottland eine calviniftifche
Predigt, und läßt fi) das Abendmahl von einem Geiftlichen
reihen, der in England nit zur Communion und nicht
anf die Kanzel gelafjen, von einem großen Theil des Klerus
und ver Laien nicht einmal als ein gältig orbinirter Geift-
licher betrachtet wird.
Außer den Miniſtern und dem Parlamente ift es feit
1833 der „Geheime Rath" "), der die Suprematie über
Religion und Kirche ausübt. Er wurde vom Parlament
als oberfter Appellationshof in kirch lichen Streitfragen, fe
es ber Lehre, fei es der Disciplin eingefett, und befteht
ganz ober Überwiegenb and Laien, bie zum Theil nicht ein-
mal Mitglieder ver bifchöflichen Kirche find.
Ein minifterielles Tagblatt, der „Globe“, gab vor
einigen Jahren eine Erklärung über die Natur und Stel-
Iung der nationalen Kirche, die auch ber Biſchof Wilder
force von Orford als den Ausprud der Negierungsanficht
1) Privy Council.
| 14*
212
Öffentlich hervorhob. Die gefetliche Stantsfirche, Heißt es
ba, iſt recht eigentlih ein Gefchöpf dieſer Welt, ift eine
Mofchine, um das geiftliche Element in der wechjelnden
‚Öffentlichen Meinung des Tages zu verkörpern. Ihre Fe
gierung durch den Premierminifter, ihre paſſive Unbeweg⸗
lichkeit, ihr beharrliches Schweigen, die abfolute Nichtigfeit
ihrer Rügen, die Tauſende Ihrer erflärten Anhänger, welche
laut auflachen, fobald ihre Diener die befcheivene Sphäre
von Beamten in einer Nationalanftalt überfchreiten, das
alles find Zeichen und Merkmale einer Knechtfchaft, ber
auch die niebrigfte Jumper⸗Selte fich nicht unterwerfen
möchte, welche aber In unferm Departement des Bffentlt-
chen Gottesbienftes natürlich und angemefjen wird.“
Als um diefelbe Zeit das Verlangen nach einer ge-
wiffen felbftftändigen ſynodalen Thätigkeit unter vem Klerus
der Staatskirche Iaut wurde, gab die „Times“ zu bebenten:
diefe Kirche, ber das Parlament ihre gegenwärtige Form
gegeben, beſitze jedes Attribut, jeden Vortheil und jeven
Nachtbeil eines Compromiſſes. Ihre Artikel und officiellen
Formulare feien fo eingerichtet, Daß Perfonen, deren Mei⸗
nungen fo weit auselnandergiengen ‚ als das unter Bes
Tennern des Ehriftentgums nur möglich fel, boch in ihrem
Schooße Raum fänden. Nicht um Einheit ber Lehre habe
es fich bei der Einrichtung diefer Kirche gehandelt, ſondern
um bie Kirchliche Zufammenfaffung verfchtedener Parteien
213
und Unfichten. Darum befänven fich innerhalb der Kirche
Berfonen, vie nicht blos in einzelnen Dogmen von einander
abwichen, ſondern bezüglich der Slaubensregel felbft, fo
daß bie einen vie Privatauslegung ber Bibel durch ven ben
Einzelnen gegebenen Geift, die andern vie Kirche unb ihre
Veberlteferung zum Grund und zur Nichtfchnur Ihres Glau⸗
bens machten. Daher fchtenen Synoben over Convocations⸗
Berathungen zwar gut und nothwendig für eine freie Kirche,
aber deſtructiv für eine Kirche, pie nur ein unter der Au⸗
torität des Staates gemachtes Compromiß ſei, denn bie
alebald ausbrechenden Kämpfe über die Lehrverſchiedenhei⸗
ten würben biejent ven Untergang bereiten.')
Die Biſchöfe find im Ganzen ohnmächtig in Sachen
ber Lehre und der Disciplin, fie wagen, ſchon aus Furcht
por einem langivierigen und Eoftfpieligen Procefje, gegen
bepfründete Geiftliche nicht Leicht einzufchreiten. Größere
Gewalt Haben fie über die, noch dazu großentheils fehr
armen, Curates. Die Kathepral-Inftitute Haben keine Stel-
lung im Organismus ver Kirche, und beitehen aus Sine⸗
furen. Die zahlreichen geiftlichen Gerichtshöfe haben gleich“
falls eine Menge Sineluren. Bon den 11,728 Pfründen
in England und Wales hat die Krone 1144, Privatper«
fonen haben 6092 zu vergeben nach bloßer Gunft, ohne
N) Zimes, 5. Auguft 1852; ber Artikel ſteht auch im Christ. Re-
membrancer, t. 24, p. 382.
214
durch Bedingungen bezüglich beſtimmter Prüfungen oder
Dienftjahre befchränft zu fein. Die Bifchöfe verfügen, mit
dem weiteften Spielraume für ben dort fprichwörtlich ges
Wworbenen Nepotismus, über 1853 Pfründen. Pluralität
ober Beſitz mehrerer Pfrünven, und bamit natürlich auch
Abwefenheit von ber Pfarrei, kommt, wietwohl Durch neuere
Geſetze in etwas beſchränkt, noch immer häufig vor. Im
Irland Hatten im Sahre 1834 von 1385 ftaatsfirchlichen
Pfarreien 157 gar keinen Gottesbienft und 339 keinen an-
fäffigen Pfarrer.
So ift, nad dem Geſtändniſſe ernjterer und geiviffen-
hafter Männer in der Staatsfirche, diefe Kirche ein durch
und burch verweltlichtes Inftitut. Die Kirchenämter find
feit 150 Jahren von der Staatsgewalt vorzugsweife nach
politifchen Geſichtspunkten vergeben, ganz nach ihrer Iucras
tiven Seite betrachtet und behandelt worden. ‘Die Bes
fegung der Bisthümer und andrer einträglicher Pfründen
erfolgte früher, um dem Minifterium die Unterftügung ein-
flußreicher Familien zu fichern, gegenwärtig werden Män-
ner der Evangelifchen Partei vorgezogen, weil biefe ben
mächtigen Diffenterd und einer großen Anzahl gleichgefinnter
Anglifaner aus den Mittelflaffen genehm find. Die Bes
zeichnung einer Kirchenpfründe (living) ift fehr charalteri-
ftifch; fie wird denn auch ganz als Sache des Privateigen-
tbums, als eine Waare, bie man kaufen, mit der man
215
Handel treiben kann, behandelt. Ohne Einrede von Seite
ber Biſchöfe iſt Die offenfte Simonie in England ein all
tägliches Vorlommniß. Es erregt keinen Anftoß, wenn bie
nächfte, Berleibung einer Pfrände ffentlich ausgeboten wirh,
and es ift ganz gewöhnlih, daß ein Vater für den einen
feiner Söhne ein Officterspatent, für den andern eine nächfte
PBräfentation zu einer Kirchenpfründe kauft.) Unb doch
bat jeber Geiftliche bei feiner Linfegung einen Eid zu
fchwören, daß er feine Pfründe nicht durch Simonie erlangt
babe. Es ift ein mercantiler Gefchäftsgeift, ver über dieſes
Kirchenweſen fich gelagert hat. Prebiger-Stellen an Kirchen
oder Kapellen, vie auf Speculation erbaut tworben, werben
ansgefchrieben, mit ver Bemerkung, daß „freie nnd voll⸗
ftändige Predigt des Evangeliums (d. h. der bequemen cals
viniſchen Nechtfertigungslehre) eriwartet werde.“ Häufig
bieten Geiftliche fich felbft aus, und empfehlen bann ihre
träftige Stimme, ihre Einprud bervorbringende Manier,
ihre rein-proteftantifchen Grundfäge, oder ihre Anhänglich-
keit an die „gemäßigten und weiten“ Anfichten ver Staats⸗
kirche.) Andre verfichern „entſchieden evangelicaliſche Ans
fichten“ zu haben. Beſonders Häufig werben „extreme re⸗
ligidſe Anfichten” in Abrede geftellt; man verfpricht, „nüch⸗
1) British Critie, t. 30, p. 281.
?) Solche Ausbietungen finden fi in großer Menge in ber Ec-
clesiastical Gazette.
216
tern, gemäßigt” zu fein. Wieder Anpre haben „Anglofae
tholifche Principien“, ober ſie ſtimmen mit den Anglilani⸗
ſchen Theologen des 17. Jahrhunderts überein u. ſ. f.
Es gibt wohl fein Hirchliches Blatt ver Welt, wo ſo viel von
„Anfichten” bie Rede ift, und eine folche Auswahl von Mei⸗
nungen und Nichtungen für jenen Geſchmack bargeboten
wird, als das Blatt, in welchem ber Klerus der Staats⸗
firche fo zu jagen zu Markte fit, und fich feilbietet. Im
einem Lande wie England, follte man glauben, werde bem
freien, feiner angebornen Rechte fich fo ſtark beivnften Bri«
ten nichts unerträglicher erjcheinen, als ber Zuſtand fo
vieler Gemeinden, welche fich an ven nächtten Beßten ver-
kaufen laſſen müſſen. „Es gibt Nichts, ſagte neulich bie
Zimes, was Jemanden hindern könnte, auf ven Markt
zu geben, feinem einfältigen, fanatifchen, ausfchweifenpen
ober unfähigen Sohne eine Pfarrpfründe zu laufen, und
ihn damit als den geſetzmäßigen geiftlichen Mittler zwiſchen
dem Allmächtigen und ein ober zweitaufend feiner Gefchöpfe
binzuftellen.”’) Gleichwohl ift bis jetzt, fo viel ich weiß,
noch nicht einmal eine Agitation gegen biefen enormen
Mißbrauch, der nur in ver Türkei feines Gleichen hat,
unternommen worben. - .
Der unauflöslide Wiverfpruch zwifchen ven 39 Ars
1) &. das Weekly Register, 11. Mai 1861.
217
tileln, die im wefentlichen caltoiniftifch finb, und der ſtark
Intholifirenden Liturgie bat feinen Grund In ven Zuſtaͤn⸗
ven bed Weformationszeitalters. Die Artikel follten vie
bogmatifche Feſſel fein, welche ven Klerus an ven Calvinie⸗
mus band, unb wurden nur biefen zur Unterzeichnung vor⸗
gelegt, bie Liturgie aber mit ihren Gebeten und ſakrament⸗
lichen Formeln follte dem noch überwiegend katholiſchen
Bolte, welches man durch Gelpftrafen zwang, bem neuen
Gottesdieuſte beiguwohnen, ben Beweis liefern, daß doch im
Weſen der Religion nichts geänbert fet, und daß im Grunde
die alte Tatholifche Kirche fortbeftehe.')
So unterſcheidet fich denn die Anglikaniſche Kirche
von andern proteftantifchen Kirchen ſchon darin, daß biefe
in ihren ſymboliſchen Büchern doch die Möglichkeit einer
einheitlichen Lehre und eines entiprechenden kirchlichen Les
bens befigen, wie 3.8. die Lutheraner durch ernftliche und
genaue Anſchließung an die Concorbienformel wirklich es zu
einer Lehr⸗ und Lebenseinheit bringen könnten, vorausge⸗
fett freilich, daß fie fich der Theologie entfchlügen. Aber
?) Das wird nun bon proteftantifcher Seite offen zugegeben. ©.
wiilL Goode’s Defense of the thirty-nine Articles.
London 1848, p. 10. Der Christian Remombrancer,
t. 16, p. 472 meint freilich, in biefer Aeußerung Tiege eine
Höhn dreiſte Verachtung ber Kirche, deren Diener Hr. Goode
fl. Die Sache ift aber jebem Hiſtoriker geläufig.
218
bie Englifche Kirche hat die Zwietracht und bie Tirchliche
Berfeßung fchon in ihren Normen und Belenntniffen. Sie
ift eine durch bie Uniformitäts-Akte umfchloffene heterogene
Sammlung theologifcher Propofitionen, welche in einem
logiſch denkenden Kopfe frhlechterbings nicht neben und mit
einander befteben Können, und ibre Wirkung auf den Eug⸗
liſchen Kirchenmann tft, daß er fich in beftänbigen Wider⸗
fprüchen, in einer Unaufrichtigkeit, deren fchmerzliches Ge⸗
fühl er nur durch Sophismen zu befchwichtigen vermag, zu
bewegen genöthigt ift.
Beide Hauptparteien in ber Kirche werfen fich baber
bie Befchulbigung der Heuchelei und ber Unaufrichtigkeit
mit gleichem Rechte zu; denn bie einen Können bie calvini«
fen Artikel nicht mit innerer Ueberzeugung unterzeichnen,
und bie andern laffen ſich die ihnen fo antipathifche Liturgie
nur um ber Pfründe willen gefallen, und müffen ihre For⸗
meln in der gewaltfamften Weife umbenten. Diele em-
pfinden ben Wiberfprud, ver darin liegt, daß man fich durch
Lehrartitel im Gewiffen gebunden erachten folle, während
doch eine Autorität, welche vie Wahrheit diefer Artikel ver⸗
bürgte, weber vorhanden ift, noch von irgend einer Seite
wirfiih anerkannt wird. Denn einer der Artikel erffärt
zwar, bie Kirche habe eine Autorität in Sachen des Glau⸗
bens, aber fein Menſch vermag zu fagen, welches und wo
diefe Kirche fel. Die Engliſche Staatskirche kann es nicht
219
fein, denn biefe hat kein Organ, und feit ver Reformation
nie eined gehabt, es müßte benn ber politifche Supremat,
alfo jegt der Minifter des Tages und deſſen Laien⸗Ge⸗
heimrath fein.
Die gegenwärtige Zerriffenheit der Staatskirche, in
der es weniger eigentliche Schulen als nur Parteien mit
höchft verfchiebnen nnd widerfprechenden Anfichten gibt,
iſt die Folge des Berfahrens bei ver Reformation und bes
fpäteren gejchichtlichen Verlaufs. Der alte Gegenfat zwi
ſchen genuinsproteftantifchen und altlirchlichen ober katho⸗
liſchen Anfchauungen hat fich von Zeit zu Zeit unter ver-
ſchiednen Formen in dem Schooße der Kirche felbft geltend
gemacht. Nach ber Revolution von 1688 kam dann jene
Kaffe von Theologen und Geiftlihen, bie als bie Vor⸗
länfer des Nationalismus anzufehen find, die fogenannten
Ratitudinarier, Hinzu. Der Erzbiſchof Warte äußerte ſchon
(um 1710): Die Englifche Kirche werde nur dadurch vor
dem Untergange beivahrt, daß ihr (durch bie Staatöge-
walt) die Hände gebunden feien, fich felbft zu zerftören.‘)
In der langen Zeit der völligen Erfchlaffung und Gleich⸗
gültigleit, die hierauf eintrat, erlofch auch ber Gegenſatz
der Barteien. Erft gegen Ende des vorigen Jahrhunderts
erhob ſich die ältere „enangelifche” Schule; mit ihr und
durch den Kampf mit dem Methodismus begannen wieber
) Calamy’s Life of Baxter, I, 405. |
—
——
einige Lebens⸗Symptome an ben bisher fo todten Gliedern
bes Engliſchen Kirchenkörpers ſich zu zeigen. Es war eine
Reaction gegen den geiſtloſen Mechanismus und nur wenig
verhüllten Unglauben in der Staatskirche, und eine, aus der
Wiedererweckung ver in dieſer Kirche ausgeſtorbenen Calvi⸗
niſchen Doctrin, hervorgegangene rellgidfe Bewegung. Dieſer
frühern Generation von Evangelicals verdanken pie Engländer
die Aufhebung der Sklaverei und bie Stifung mehrerer nützli⸗
hen Gefellfchaften, bie zum Theil noch in großer finanzieller
Blüthe ftehen. Aber pas jetzige Gefchlecht ver „Evangelifchen“
tft im Bergleiche mit den früheren ein geſunkenes zu nennen.
Wie die Partei jet befchaffen tft, repräfentirt fie innerhalb ver
Staatskirche den continentalen gläubigen Proteftantismus,
doch ohne jeden Lutherifchen Zug, viel mehr mit überwiegendem
Calvinismus. Namentlich hat fie den calsinifchen Zug ber
Herabfegung der Sakramente zu bloßen Zeichen. Ihre
Lieblingslehre und wirkfamftes Werkzeug ift das Dogma
bon der Nechtfertigung durch Imputation, welches in Enge
land wie in Norbamerifa noch immer fehr populär ift, und,
mit einiger Nedefertigfeit verfünpigt, Kapellen umb Kirchen
füllt. Sie ermangeln meiftens der Univerfitätsblldung, von
theologifcher Wiffenfchaft tft nicht Die Rede, ihre Literatur
befteht faft nur ans Predigten und Erbauungsfchriften;
aber fie befchäftigen fich und ihre Zuhörer viel mit apoka⸗
Igptifchen und chiliaflifchen Theorieen und Wahrfagungen
a
über ven nahen Sturz des Menſchen ber Sünde und bes
Thieres ober die Auffindung ber zehn verlorenen Stämme
und dergleichen. Geringer Verſtand, mangelhafte Bilbung
und Unbelanntfchaft mit ver Welt find nach Arnolp’e
Definition vie Kennzeichen eines Evangelical. Die Partei
fteht den Diffenters, den Methodiſten den Eongregatione-
fiften und. Baptiften innerlich näher als ven Hochlirchlichen und
den glůhend von ihnen gehaften Tractarianern, mit benen
fie kirchlich verbunden tft.
Da es au Allem, was Theologie heißen Tönnte, bei
dieſer Bartet gänzlich mangelt, fo iſt ſchwer zu ſagen, wie
die einzelnen Fraktionen, in welche fie zerfällt, ſich von ein-
ander unterfcheiden. Außer ben beiden genannten Punkten
find Berwerfung der ganzen kirchlichen Tradition, Leugnung
ser fihtbaren Kirche als einer göttlichen Anftelt, Behand⸗
Iung der Bibel nach einer jede Theologie unmöglich machen-
ben Theorie buchftäblicher Infpiration, Verwanblung des
Sonntags in einen jüdiſchen Sabbath, wonach den unteren
Bollsklaffen jede Erholung, ven Kindern das Spielen und
Lachen am Sonntage verboten wird — hervorragende Züge.
Das fakramentale Syſtem ift in ihren Augen nur verklei⸗
beter Papismus. Bon ber ausgeprägt calvinifchen Record⸗
Partei fagt Eonybeare‘): Die Neligton mandher Mit
ı) In feiner Schilderung der Englifchen Kirchenparteien, Edinburgh
Review, t. 98, p. 274 ss.
glieder derſelben ſcheine nur in ber Liebe zu ben Juden
und in dem Haſſe gegen bie PBapiften zu beftehen. Im
Sanzen find die Evangelicald Söhne und Enkel ver alten
PBuritaner, nur ohne den firengen Ernſt und ohne bie po⸗
litiſche Sefinnung der Väter, und ohne deren Haß gegen
bie bifchöfliche Kirchenverfaffung, vie freitich bei dem Mangel
aller Autorität nur noch der Schatten einer hierarchiſchen
Ordnung ift. Im Jahre 1660, als es zwiſchen Puritanern
und Episfopalen zur Entfcheivung kam, würben bie beit»
tigen Evangelicals wohl aus der Staatskirche ansgeichieben,
oder ansgeftoßen worven fein. Jetzt iſt es im Grunde nur
bie Liturgie, das „Praher⸗book“, deren Joch fie widerwillig
tragen. „Praher⸗book Geiftliche“ nennen fie böbnifch ihre
Gegner. Die ftaatliche Suprematte laffen fie fich nicht un»
gern gefallen, beſonders feitbem bie Regierung viele Bi6-
thümer mit Männern ihrer Schule beſetzt.)
1) Welche Motive Häufig einen Geiftlichen beftimmen, fich ber
Partei der Evangelicals anzufchließen, unb wie bie Lehrweiſe
diefer Partei auch in den Kreifen ber reichen und faſhionabeln
Welt beliebt wird, ift anſchaulich gefhilbert in ben Tales by
a Barrister, London 1844, 111, 174—183. Der Geiftfiche
findet vor Allem, daß bie Anglofathofiihe Schufe zu vie
Hingebung an bie Kirche verlange, zu wenig für bas Intereffe
und bie perfänliche Geltung bes Individuums forge; ex ber
merkt, daß die Stellung bes „evangeliſchen“ Prebigere hierin
eine weit gänfligere if. Dann bie Lehre, fo ganz geeignet,
Die reiten Anglitaner over Hochkirchlichen
nehmen eine Mittelſtellung zwiſchen den Euangelicals und
den Tractarianern ein. Ste verwerfen in ber Regel die
proteftantifche Nechtfertigungslehre und bie calviniſche Her⸗
abfegung ver Taufe zu einer Ceremonte, fie legen Werth
anf die angebliche apoftolifche Succeffion des Anglikaniſchen
Epiſkopats; fie behaupten die Eriftenz einer mit boctrineller
Auterität begabten Kirche, aber fie verwahren fich gegen
jede Logifche Folgerung, die aus folchen Prämifien gezogen
werben müßte. Die Englifche Staatskirche ift in ihren Au⸗
gen nicht die allein wahre, aber fie ift bie reinfte, bie beßt⸗
verfaßte, die von allen Uebertreibungen am meiften ent
fernte. Sie find im Grunde bie beften Söhne und ächteſten
Repräfentanten dieſer Kirche, find auch mit den beftehen-
den Zufländen am meiften zufrieden, in ihren Anfprüchen
an die Ehriftlichleit ihrer Gemeinden fehr befcheiden, und
barum auch tm Ganzen bei ben tonangebenven höheren
Maffen vorzugsweife beliebt. Daß fie einen fo zahlreichen
Theil des Englifchen Klerus bilden, das ift eben nur er⸗
Härlih bei einer Nation, zu deren Eigenthümlichkeiten
es, felbft nach dem Urtheile von Englänbern gehört, bie
ber eleganten Welt zu munben: „So tröftliche Anfichten von ber
unbeilbaren Gebrechlichleit unfrer Natur, fo füße Berficherungen,
hergeleitet aus ben berubigeuben Lehren der Erwählung und
ber Gnade u. ſ. w.“
- Confequenzen einer Lehre nicht zu fehen.‘) Wie übrigens
biefe Anglifaner früher die fortwährende Profanation bes
Abendmahls in Folge der Zeftalte ganz in der Orbnung
fanven, fo nehmen fie auch Leinen Anftoß an ber Begräbniß⸗
Ziturgie®), und bie Geiſtlichen ver Staatälirche, Evangeli⸗
cals wie Hochkicchliche, find wohl ver einzige Klerus in ber
"Welt, welcher jeben, wie er auch gelebt babe, auch ben
Diffenter, auch den Katholiken, mit ber vorſchriftsmaͤßigen
nfiheren Hoffnung ver Seligkeit" dem Grabe übergibt.?)
Stärker läßt es fich kaum auspräden, daß an ber Zuges
höorigkeit zur Kirche, an ver Theilnahme an ihrem Gottes-
) The peculiar incapacity of the English mind for perceiving
the sequence of doctrine, jagt ber Christ. Remembranger,
t. 86, p. 247.
2) Doch finde ich, ba im Jahre 1852 4000 Geiſtliche dem Erz⸗
Biihofe von Canterbury eine Vorftellung gegen ben obligato-
riſchen Gebrauch bes Burial Service überreidhten. Der Erz-
biſchof Üiberlegte bie Sache mit einer Anzahl von Biſchöfen,
und man fand, baß jeber Berfuch einer Wenberung auf ımüber-
fleigliche Hinderniſſe ftoßen wiürbe. Christian Remembrancer,
t. 24, p. 254.
3) „Jeber Diffenter, ber auf einem Gemeinbelicchhof begraben wer-
den fol, muß unter hochkirchlichem Geremoniell und unter
Leitung bes hochkirchlichen Geiſtlichen begraben werben, b. h.
wie man ſich ausbriüdt, bei feinem Tobe wieber in ben Schoof
ber Engfifhen Kirche zurldieheen. Erſt im April b. I. hat
das Unterhaus ben Antrag bes Sir M. Peto: „Den Dif
—
dienſte, an dem Gebrauche ihrer Gnadenmittel zuletzt doch
nichts gelegen ſei.
Um ſo ſchlimmer ſind die Tractarianer in der
‚öffentlichen Meinung angeſchrieben. Dieſe Schule entſtand
vor dreißig Jahren in Orford, zumächft in ver Abſicht, bie
durch die Unterdrückung von zehn JIriſchen Bisthümern
ſtark bedrohte Staatskirche aus ihrem lethargiſchen Schlum⸗
wer zu wecken, und ihr, indem man die Theologie und kirch⸗
lichen Principien des Karolinifchen Zeitalter (vd. h. ber
Zeit von 16251680) wieder belebte, neue Kraft einzu-
hauchen. Indeß beburfte es nur weniger Jahre, um es zur
Evidenz zu bringen, daß die Wieverherftellung eines längft
vorübergegangenen unb durch bie eigne Gefchichte gerichtes
ten theologischen und kirchlichen Standpunktes ein Ding
der Unmöglichkeit fei, und daß man im 19. Jahrhundert
nicht mehr ausreiche mit den Bruchjtäden eines Syflems,
bie im 17. nur willkürlich, um einer eigenthümlichen Lage
zu entiprechen, ausgewählt worven waren. Freilich glaubte
man, und nicht mit Unrecht, in dem noch immer mit ſtaats⸗
firchlicher Autorität bekleiveten „Prayerbool” ein Denkmal
und eine Bürgfchaft altlirchlicher und antiproteflantifcher
jenters die Beerdigung ihrer Zobten auf ben Gemeinbelicch-
höfen nad) ihrem confeffionellen Ritus zu geftatten, mit einer
Majorität von 81 Stimmen zurückgewieſen. Allg. Zeitung,
1861, 1. Mai, S. 1976,
v. Dillinger, Papſtthum. 15
U 0)
Anſchauungen zu befiken. Aber die Mehrheit in der Staats⸗
firche war eben ſtillſchweigend übereingelonnnen, dieſe Dinge
als tobten Buchftaben auf fich beruhen zu laſſen. Die Ur-
beber der Bewegung, und bie bebeutenpften Männer ber
gleichen Sinnesweiſe traten in die katholiſche Kirche ein.
Biele lenkten, als ihnen die Conſequenzen ihrer Prinzipien
an biefem Ereigniß Mar wurben, ihre Schritte zurüd, und
wurden ans „AUnglolatholifchen“ wieder orbinäre Anglikaner.
Biele find indeß auch ver Bewegung treu geblieben,
und nothwendig durch dieſelbe weiter geführt worben bis an
bie änßerfte Gränze der Staatslirche, ober eigentlich, ben
Prinzipien nach, noch über dieſe hinaus in das katholiſche
Gebiet. Es find jene — man fchäkt ihre Zahl anf etwa
1200 ®eiftlide — deren Organ das Blatt „Union“ if.
Ste lehnen fi im Grunde geiftig ganz an bie Tatholifche
Kirche an, fie erfennen die Nothwendigkeit einer irrthums⸗
(ofen Autorität in der Kirche und finden fie zugleich nur
in der katholiſchen. Ste bleiben vorläufig nur auf Hoffe
nung in ber Staatskirche, kommender Ereigniſſe gewärtig.
Ratholifche Lehre und Sinnesweiſe habe, fchmeicheln fie fich,
bereits fo feften Fuß gefaßt, im Stillen folche Fortfchritte
gemacht, daß die Katholifirung der Englifchen Staatskirche —
die dann freilich aufhören müßte, in bisheriger Weife Staats-
inftitut zu fein, nur noch eine Frage der Zeit ſei.) Die
8. die Erflärung in der Schrift: Church Parties, Lond, 1857, p. 87.
227
Ereigniffe find diefer Anficht nicht günftig; die Geiſtlichen
und Laien haben den Strom ver öffentlichen Meinung in ben
höheren und mittleren Klaſſen gegen fich, und in den untern
ift überhaupt ver Anglifanifche Einfluß zu gering.
Endlich Hat man neuerlich auch eine „breittirch-
liche" Partei oder Schule im Klerus unterfchieven. Die
Bezeichnung „Partei ift Hier kaum angemeffen, da bie
Gemeinten eigentlich nichts Pofitives gemein haben, ihr
Weſen nur durch Negationen, daß fie nicht Evangeli⸗
cals, nicht Anglilaner u. f. w. feten, befchrieben werben
kann. Alle fteben unter dem Einfluffe ver deutſchen Li⸗
teratur und Xheologie, find Gegner eines feften Lehrbe⸗
griffes, und fuchen ſich die Widerſprüche der Anglifanifchen
Kirchenformulare dadurch erträglich zu machen, daß fie dog⸗
matifchen Beftimmungen überhaupt nur einen relativen und
- temporären Werth zugeftehen, und ein nach rationaliftifchen
Prinzipien verflachtes allgemeines Chriftenthum für das als
fein Wefentliche erflären '), die Staatslirche aber als bie
anftändige und den wirklichen Zuftänden am beßten ents
fprecdende Verförperung des Nationalwillend in kirchlichen
Dingen ſich gerne gefallen lafjen.
Für die ernfteren Anglofatholifchen oder Tractarianer
’) The semi-infidelity of the Broad Church school — brüdt
fi} the Union aus, 4. Ian. 1861.
15*
ift das Zoch ber ftaatlihen Suprematie in ber That ein
eiferne® zu nennen. Alle Gewalten find gegen fie. Die
öffentliche Meinung ift ihnen durchaus feindlich. Die
höheren und mittleren Klaſſen find entfchieven proteftautifch,
d. 5. allem Katholiſchen in Lehre, Ritus, Disciplin abge-
neigt. Und fo ift denn bis jeßt jeder Verfuch, ein altkirch⸗
liches Element in die Staatsfirche einzuführen ober wieder
zu beleben, an dem Widerſtande ber Staatsgewalt, ver Bis
ſchöfe, des Volles gefcheitert, jede Streitfrage zu ihrem
Nachtheile entſchieden worden. Sie find unterlegen im
Rampf gegen den theologiſchen Rationalismus in der
Hamppen-Eontroverfe; fie haben in dem Gorham- Streite
bie doppelte Nieberlage erlitten, daß die Frage im Sinne
und zu Gunſten der Calviniften entſchieden wurde‘), unb
daß eine ftaatliche Laienbehörde im Namen der Königin als
oberfte® Tribunal, ja als einziges Organ ber fonft völlig
fiummen Engliſchen Kirche, faft von dem ganzen Klerus,
und natürlich auch von dem Volke, anerkannt worven ift —
ein Ereigniß, zu welchen fich keine Parallele in der ganzen
GSefchichte der Kirche vor 1517 finden dürfte. Zugleich
') Die kirchliche Lehre von ber Wirkung ber Taufe wurbe nem⸗
lich nicht verworfen, aber die calvinifche wurbe (gegen ben Bi-
[hof von Exeter) für zuläffig erflärt, und damit ausgeſprochen,
daß bie Englifche Kirche eigentlich gar Feine Lehre von der Zaufe
babe, jeber alfo fi babei denken und vor bem Bolle barüber
lehren könne, was er wolle.
gab ver erfte Brälat von England, der Erzbifchof von Eanter-
bury, als er von einem Geiftlichen öffentlich über die Sache
befragt wurbe, zur Antwort: er babe in folden Dingen
nicht mehr Gewalt und Anfehen, als jeber andre; wer nur
leſen Lönne, ſei mit ber Bibel in ver Hand eben fo ent-
fheidungsfähig und berechtigt als er. Sp mußten benn
bie Lirchlich Gefinnten, nothgedrungen auf jede Autorität,
jede Kundgebung ihrer Kirche in Fragen ver Lehre verzich⸗
ten. Sie mußten fih, fo Bitter e8 war, mit der Anficht
ber Evangelical® befreunden, daß in England die Kirche
nicht mehr ſei, als ein religiöfer Klub, den die Staatöges
walt in Zucht und Aufficht Hält und bebormundet, biefelbe
Staatögewalt, vie, wie in England die Epislkopallirche, fo
in Schottland und in Ulfter den Presbhterianismus, in
Indien den Braminismus, in Cehlon ven Bupphaismus
ftüßt und bezahlt.“) Im Grunde aber mußten und müfjen
fie, wenn fle nur die kirchlichen Grundjäge wirklich gelten
9) Wie wenig Überhaupt das Britifche Etaatsfirchenthum eine
fefte und fichere Zukunft hat, mag ſchon daraus erhellen, daß
Schottland eine erclufive Staatslirche für etwas weniger als
ein Drittheil ber Bevölkerung, Irland für ein Siebentel, Wa⸗
les für ein Zehntel, England für bie Hälfte bat. Da bie
Englifche und die Irifche Kirche gefetlih zufammengehören, als
bie „vereinigte Kirche von England und Irland“, fo ergiebt ſich,
baß diefe erciufive Staatslirche nur ein Drittheil ber Bevölte-
rung beider Länder bat.
230
laſſen, den kirchlichen Maßſtab anlegen wollen, bie eigne
Kirche für ein von Härefie durch und durch inficirtes, und
BIS ins Innerfte verborbenes Inftitut erflären, deſſen Era.
ſtianismus jeden Verfuh der Heilung faft hoffnungslos
made. Denu bei jevem Schritte ſtellt fich ihnen ver Laien-
Supremat in den Weg. Gerne möchten fie 3. B. das
euchariftifche Opfer im Tatholiichen Sinne und als gottes⸗
dienftliche Gemeindefeier wieder zu feinem Rechte bringen,
aber das Staatsminifterium oder fein Geheimrath bat ent»
ſchieden, daß fein Altar in einer Kirche errichtet werben
bürfe, nur ein Communiontiſch, daß keine Lichter beim
Gottesdienſte brennen dürfen u. bergl.')
Eine neue Niederlage für alle ernfteren kirchlich gefintte
ten Männer des Klerus ift das Geſetz des Jahvs 1858,
welches die Ehe für aufldsbar erklärte, und ein Scheidungs⸗
Gericht errichtete. Die Trage war fchon früher in ver
Anglilanifchen Kirche ftreitig gewefen. Burnet erzählt,
baß fchon 1694 eine Spaltung unter den Engliſchen Bi⸗
fchöfen darüber ausgebrochen fei, da alle Älteren unter
Rarl II. und Ialob DL ernannten Bifchdfe gegen die Auf⸗
Löfung einer Ehe wegen Ehebruchs, die neuen aber, bie
feit der Revolution ernannt worden, ſämmtlich für die
Wiederverheirathung fich ausgeſprochen hätten.) Dießmal
3) Hengſtenberg's Kircdhenzeitung, 1868, 791.
) History of his own time, ed. 1888, p. 601.
gab es nicht einmal zwei Parteien unter ben Biichöfen,
feiner erklärte fich entſchieden für das Princip ber Unauf⸗
tösbarfeit. Der Biſchof Wilberforce von Orforb neigte
ſich zwar dazu bin, begnügte fich aber doch, nur überhaupt die
Entfcheidung ber Frage für die Kirche in Anfpruch zu
uehmen, und über die Härte zu Hagen, bie barin liege, daß
eine, zu beträchtlichen Theilen nicht einmal in ber kirchlichen
Gemeinfchaft ſtehende Körperichaft, wie das Parlament, fich
das Recht beilege, über Gottes Geſetz bezüglich der Ehe zu
entjcheiven. Mit vemfelben Rechte könne es auch fordern,
über Zaufe, Abendmahl und die Glaubensbekenntniſſe jelber
zu entfcheiven. Der Biſchof fcheint vergefien zu haben,
baß eben bieß erſt kürzlich in dem Gorham⸗Falle geſchehen,
daß bier wirklich über Laufe und Glaubensbelenntniß ent»
fchieden worden war. Ob das der Geheimrath oder das
Parlament thut, ift doch wohl gleichgültig, da der Geheim⸗
Rath nur in Folge des Parlamentswillensd eriftirt. Bet
der Trage, ob bie Anglifanifchen Geiftlichen gehalten fein
follten, eine in Folge der Scheidung gefchloffene zweite Ehe
zu trauen, hatte ver Attorney-General erklärt: es jet
die Pflicht der Geiftlichen, al8 Diener ver Nationalficche,
zu thun, was immer der Staat anorpne. Das fand nun
der Biſchof von Oxford ſehr Hart; Hiermit fei bas Bild
einer völlig entwürbigten, vemoralifirten uud religiös ohn⸗
mächtigen Kirche gezeichnet; die bitterften Feinde der Kirche
hätten bisher nichts Stärkeres über ihre ſchmachvolle Skla⸗
verei geſagt.) Impeflen, ‚wenn man von bem in England
verfaffungsmäßig beftehenden Staats -Supremat ausgeht,
läßt fich doch Togifch und juriftifch fein andrer Schluß ziehen,
als ver des Attorneys®eneral. Findet der Klerus,
baß diefe Stellung für ihn fchimpflich fei, fo tft eben an
bie Fabel von dem Hofhunde zu erinnern, ber für bie Des
quemlichleiten feines Lebens und vie Qunftbezeugungen feines
Herrn an ber Kette zu Liegen fich gefallen laffen muß.
Lord Chatham fagte zu feiner Zeit, die Englifche
Kirche babe calvinifche Artifel, einen papiftifchen Gottes⸗
dienft und einen Arminianifchen Klerus. Das Wort ift in
das alfgemeine Bewußtfein übergegangen, obgleich die Be⸗
zeichnung der dogmatifchen Gefinnung des Klerus jetzt nicht
mehr, ober nur infofern noch paßt, als die große Majorität
des Klerus mit den Arminianern die beiden Haupt- nnd
Lieblingslehren der Neformationdzeit, nämlich die Nechtfere
figung durch Imputation und bie calvinifche Präpeftination
berwirft. Aber vie Thatſache, daß es der Staatskirche an je⸗
der auch nur fcheinbaren Einheit ver Lehre und der Ge⸗
finnung gebreche, ift jedem gebildeten Engländer wohl be»
kannt, und wirb fo zu fagen als etwas Natürliches und fich
1) &. oharge of the Bishop of Oxford 1858, im Christian
Remembr. t. 35 p. 258
von felbft Verſtehendes hingenommen. Ste Hat vie
Wirkung, daß felbft dem religiös gefinnten Engländer das
Dogma als etwas verbältnigmäßig Bebeutungslofes und
Untergeordnetes erfcheint, womit man e8 nicht genau zu
nehmen brauche, und bie weitere Folge, daß mau Geiſt⸗
lichen der Staatskirche, da fie fich troß der winerfprechenpften
Aufichten zu venfelden Formularen bekennen, in Sachen ver
Lehre fein Vertrauen ſchenkt.)
Hieraus erflärt ſich auch die Thatfache, daß Im Allge⸗
meinen unter bem Klerus eine gewiffe Furcht vor ver Theo»
logie und eine Abneigung gegen theologifche Studien herrſcht.
Profeſſor Huffey hat in feiner legten Rede zu Oxford kurz
vor feinem Tode beklagt, daß das Studium der Theologie
in England ausfterbe.) In einer theologifchen Zeitſchrift
wurde jüngf behauptet: in Orforb gebe es nicht ſechs Geiſt⸗
liche mehr, vie mit Theologie fich bejchäftigen.?) Das iſt
!) The result is, that the preachers of truth in their own
place and office, are the very last persons in the nation
to be believed; that the pulpit is as little trusted for
sinoerity as that appointed resort of hired advooacy, the
bar. eto. Westminster Review, t. 54, p. 485.
2) Christian Rememhrancer, Octob. 1860, p. 325.
2) Eeclesisstic and Theologian, Deoembr. 1860, p. 547 ss.
Der Artikel if Aberfchrieben: intelleotual declension of the
clergy.
— _
begreiflih. Die meiften ‚bebeutenden tbeologifchen Werte
jängfter Zeit find von Männern gefchrieben worben, welche
bald darauf katholiſch wurden.) Seitvem find es bie Breit»
tirchlichen oder Germaniſirenden Nationaliften, deren theo⸗
logiſche Schriften fait allein größere Beachtung gefunden
haben. Die Evangelicals find ohnehin mit Sterilität ge
ſchlagen, und alle befjeren Köpfe der jüngeren Generation
wenden fi mit Widerwillen und Geringſchätzung von die⸗
fer verlommenen Schule ab, deren Bilpungsftufe durch⸗
ſchnittlich kaum die eines guten deutſchen Schulmeifters
erreicht.) Die Anglikaniſche oder bochlirchliche Schule aber
bat es nie, auch in ihrer Blüthezeit nicht, zu einer ſhſte⸗
matifchen und umfafjenden Theologie gebracht. Nur Au⸗
fäge, nur Bruchftäde finden fich bei ihren Theologen. Es
iſt ſehr charalteriſtiſch, daß die ganze Anglilaniſche Kirche
nicht ein einziges Syſtem oder Handbuch der Dogmatik auf⸗
zuweiſen hat.) Es fehlt eben dieſer Kirche an allen feſten
bogmatifchen Principien, wie ſchon der treffllide Aleran-
) Newman, Wilberforce, Manning, William Bal-
mer, Allies m a.
?) Jowett, Maurice, bie Berfafier ber Essays and Re-
views etc.
3) Pearson’s Exposition of the Creed, welches ben Jüngeren
als Lehrbuch in die Hand gegeben wird, Tann doch auch bem
bürftigften Unforberungen nicht genügen.
ber Kuor beklagt Hat.) Ein theologifches Syſtem, eine
Dogmatik feht voraus, daß man doch wiffe, was bie Kirche
lehre. Das weiß aber in England Niemand, und. kann
Niemand wiffen — felbft nicht der Premierminifter nnd
fein Geheimrath. Wäre 3. B. ein Handbuch ber Anglika⸗
nifchen Theologie vor der Entfcheidung des Gorham-Streites
herausgegeben worden, fo hätte basjelbe nach dieſer Ent
ſcheidung völlig umgegoffen werben müflen, da das Princip,
das dadurch verworfen, und das andre, welches damit feft-
geftellt wurbe, ein den ganzen Organismus ber Lehre bes
herrſchendes ift. Denn bie Frage, die burch biefe berühmte
Enticheivung des Geheimrathes verneint wurde, war, ob
das Dogma von der fatramentlihen Wirkung ver Taufe,
Lehre der Anglilanifchen Kirche fei. Die Anficht der Evans
gelicald, wonach bie Taufe ein bloßer Weiheritus ift, er⸗
hielt biemit Bürgerrecht in der Anglilaniichen Kirche, und
das ift, auch nach ber Anficht der Lutherifchen Theologie,
„eine Häreſie, welche allein für immer jede Bereinigung
(von Zutheranern und Reformirten) unmöglich macht.” ”)
Dean Tann von der Engliſchen Staatslirche fagen,
daß fie, wie ein Indiſches Götzenbild, viele Köpfe (und je
den mit eignen „Anfichten“) aber wenig Hände bat. Ihr
*) Remains. London, 1837, 1V, 283.
2?) Kahnis: die Sache ber lutheriſchen Kirche gegenüber ber
Union. Leipzig, 1854, ©. 17. .
RB 2%
Zuftand ber Unfreiheit, Traft deſſen fie, angebunden an bie
Mäder des Staatswagens, von dieſem willenlos durch did
und dünn fi) nachfchleppen laſſen muß, wirkt um fo ver-
berblicher, als er der Schwäche, der Trägbeit und der Un⸗
schläffigkeit im Klerus willtommene Vorwände zur Beſchö⸗
nigung feines Nichtsthuns darbietet. Ein großer ‘Theil der
Geiftlichen bringt, zufrieden mit feiner fonntäglichen Leſe⸗
Abung, bie Übrige Zeit mit Weib und Kind und mit Bes
fuchen zu.) Und unterbeß exiſtiren Millionen in England,
welche nach ber Fiktion einer allgemeinen Nationalreligion
I) Erf vor einigen Monaten bat eine ſtaatskirchliche Zeitſchriſt bie
Bemerkung gemacht: Perhaps no men in any other pro-
fession under the sun spend so much time with their
wives and children. Ecclesiastico and Theologian, Dechr.
1860, p. 558. &o hat man in England zwei moberne Hã⸗
vefieen, die den Mäglichen Zuſtand ber Kirche haben berbeis
führen helfen, erſtens: the Gentloman-heresy, über welche ber
verflorbene Froude häufig Magte, (d. h. bie Borftellung, daß
ber Geiflihe vor Allem ein *Gentleman“ fein unb als folder
fi zeigen mäfle), und von ber auch Edw. Lytton Bulwer
(England and the English p. 214) fagt: The vulgar notion,
that „olergymen must be gentlemen born‘‘, is both an
upstart and an insular opinion. Zweitens: the „domestio
heresy“, bie darin befleht, daß vor lauter Familienleben bie Ge⸗
meinbe leer ausgeht. Indeß iſt die Verheirathung der Geiftfichen
nach der richtigen Bemerkung eines berühmten Engliſchen Digei-
tare, bie feſte Baſis, anf welcher die Kirche von England ruht,
durch welche fie zufammengehalten wirb. Ohne bieß wärben
237
Mitglieder der Staatskirche find, von denen aber nie ein
Geiftlicher diefer Kirche Notiz nimmt, und von benen Tau
fenbe den Namen des Erldſers nie gehört, nie ausgefprochen
haben.
Die wärmften Anhänger ver Stantslirche beklagen ihren
Mangel an Einfluß auf das Volk, ihre geiftige und mo⸗
ralifche Ohnmacht. Alexander Knox meinte: innerlich fet
die Englifche. Kirche die vortrefflichfte von allen, aber frei
lich auch die praftifch unwirkſamſte.) Wenn die ganze bis
fchöflihe Verfaſſung abgefchafft würde, fagt Hallam, fo
würbe dieß in der Religion des Volles Teinen irgend bes
merfbaren Unterfchiev machen.) Die katholiſche Vorſtel⸗
fung, daß die Kirche die Bewahrerin der geoffenbarten
Heilswahrheit, die göttlich beftellte Lehrerin fei, ift dem
Engländer fremd. Die wahre Kirche, fagt Carlhle nicht
mit Unrecht, befteht jet in den Herausgebern der politi»
fchen Tagesblätter; dieſe find es, die dem Volle täglich
und wöchentlich prebigen, mit einer Autorität, wie fie fonft
nur die Reformatoren oder bie Päpfte hatten, ?)
die fonft fo fehr an Freiheit und Gelbfiregierung gewöhnten
Engländer das Joch der minifteriellen Guprematie nicht fo
zahm und gebufdig ertragen.
') Remains. London, 1832, I, 51.
?) Constitutional History of England. Il, 238,
3) Miscellanies. U, 165.
Die Kirche von England erklärt bie reine Lehre, den
rechten Gebrauch der Sakramente und die Hanbhabung ber
Disciplin für die drei Kennzeichen einer wahren Kirche.
Ste ſelbſt aber hat Feine fefte Lehre, denn ihre Formeln
widerfprechen fich, und, was ber eine Theil ihrer Diener
lehrt, gilt den andern für feelenvergiftende Irrlehre. Sie
ft zudem ftumm und unfähig, ihre wirkliche Gefinnung,
wenn fie auch eine hätte, in irgend einer Form kund zu
geben. Ueber vie rechte Verwaltung der Sakramente bes
fteben in ihrem Schooße ähnliche Widerfprüche, wie über
das Dogma, und was vollends die Disciplin betrifft, hat
fie auch ben letzten Schein einer folchen verloren. Wie
önnte auch von irgend einer Correctiv- Zucht in einer Ge
noffenfchaft ‚Die Mebe fein, welche jeven, wie er auch ges
lebt, welche Sündenkette ſich auch durch fein ganzes Leben
bis zum Tode, ohne jedes Zeichen der Buße, hindurchziehen
mag, am Grabe felig fpricht, ſelbſt alfe jene felig ſpricht,
die auch nicht einmal äußerlich oder nominell zu ihrer Ge
meinfchaft gehören mochten. Wie verberblich diefes von
der Liturgie vorgefchriebene allgemeine Seligiprechen am
Grabe wirkte, welche falfche Sicherheit e8 in ven Gemüthern
erzeuge, das ift von Englänbern mit erjchütternder Schärfe
gefchildert worven.‘) Aber auch bier ift die Kirche eben
) Bergl. z. B. Thorn's fifty Tracts on the State Church.
Tract. XII, p. 3.
a
rath⸗ und hilflos, fchon durch die Furcht, daß jede Aenverung
in der Liturgie von den Evangelicals als Brefche zu durch⸗
greifenderen Veraͤnderungen benütt werden würbe.
Uebrigens ift die ganze Exiſtenz der bifchöflichen Staats⸗
Kirche im Grunde bereits ſchwer bedroht, und ihre Aufe
fung nur noch eine Frage ber Zeit. Sie ift völlig in
der Gewalt des Unterhaufes und des jedesmal aus deſſen
Moajorität hervorgehenden Kabinett; das Unterhaus zählt
aber jett fchon eine bedeutende Anzahl von Diſſenters, vie
alle Feinde der Staatskirche find, und von Katholiken, ber
Juden nicht zu gedenken, in feinem Schooße. In dem
Maße, als durch neue, das Wahlrecht erweiternde, Reform⸗
bills die demokratiſch gefinnten Mittelklaſſen zur Herrichaft
gelangen werden, wird auch durch die combinirte Feind»
fchaft der Selkten-Anhänger und ber an Zahl und Einfluß
mit jevem Jahre wachſenden Religionslofen erft der gegen-
wärtige Beftand der Englijchen Kirche alterirt werben; man
wird fie, etwa in ber Welfe, wie es im Wanbtlande ges
fchehen, noch feiter in die Bande bes Staatöwejens und
des Majoritätöwillens einfchnüären, und damit wirb dann ber
ohnedieß fchlecht gefügte Organismus auseinanbergehen, und
werben bie ernfteren und tieferen Geifter aus einer Kirche
entweichen, in welcher das boppelte Joch ftantlicher Zwingherr⸗
lichkeit und gezwungener Gemeinfchaft mit fremder Lehre
ihrem Gewiſſen und Ehrgefühl nicht länger zu bleiben geſtattet.
Wenn man bie proteftantiihen Selten Eng-
lands als ein Ganzes. nimmt, fo erfcheinen fie blüähenb
un lebensk räftig. Sie haben fich im Laufe von 200 Jahren
einen breiten Boden erftritten, haben ihrer Gegnerin, ber
Staatskirche, Millionen Engländer entzogen, und liefern
einen glänzenden Beweis, welche Kraft ber Aſſociation,
welche Gabe der Organifation dem Angelfächfiichen Stammte
innewohnt. Sie genteßen ber volllommenſten Freiheit, ordnen
ihre Angelegenheiten ganz nach Gutdünken, der Staat übt
auch nicht einmal ein Auffichtsrecht über fie, und mit einem
nicht umberechtigten Gefühle der Verachtung bliden fie auf
die Hilflofigkeit und Knechtſchaft der Staatskirche, welche in
ihrer Berriffenheit, ihrem Mangel aller feften Lehre und
lirchlichen Disciplin, ihrer Unfähigkeit, eine den Bebürfniffen
der Bevölkerung entjprechende Thätigleit zu üben und ben
Kreis derſelben zu erweitern, ven Vergleich mit freien Ge⸗
meinfchaften fcheuen zu müſſen fcheint. Bei fehr vielen,
die ſich von der Staatskirche getrennt, mag ber Wunſch
mitgewirkt haben, einer fo erniebrigten, und an ber Erfüllung
der erſten und einfachiten Pflichten und Aufgaben ver
Kirche gehinverten Inftitution nicht länger anzugehören.
Gewöhnlich ift es aber doch ein anderes Motiv, welches
ı die gewerbtreibenden Mittelllaſſen aus ber Staatskirche
heraus und einer der Diffenter-Selten zuführt. Der prak⸗
tifche Engländer will eine Lehre vernehmen, bie bequem,
241
verftänblich, tröftlich und berubigenb fei, bie feinen Nei-
gungen, feiner vorherrſchenden Richtung und feinem Selbft-
gefühl fchmeichle. Alle dieß findet er in ber calviniſchen
Lehre, wie fie von den Diffenter-Selten aufgefaßt und ges
handhabt wird. Der Menſch wird hier augewiefen, durch
einen Akt der bloßen Imputation frember Gerechtigleit rafch
in den Zuſtand der vollftänbigften Sicherheit und Heilsge⸗
wißheit überzugehen. Er glaubt, fo feit er nur kann, daß er
ein Auserwählter ſei, daß er, in bas Verbienft bes Erlöjers
gehüllt, vor Gott als gerecht gelte, ohne es noch innerlich zu
fein, unb daß ihm biefer Stanb der Gnade und die Krone
des ewigen Heils nie mehr verloren geben könne. Er weiß
nicht anders, als daß Alles darauf anfomme, eine recht
günftige Meinung von dem eigenen Zuftande zu haben.
Dieß ift die „Zuperficht“ '), welche in dem religiöfen Leben
Englands und Amerifa’s eine jo wichtige Rolle fpielt. Pre⸗
1) Assurance. Jonathan Edwarbs, ber berühmtefte unter
den Amerilaniſchen Xheologen, bemerlt: er kenne kaum ein
einziges Beifpiel, baf ein Menſch, der einmal in Folge einer
fo leichten und fo häufig vorlommenben Selbſttäuſchung in ber
falfchen Gewißheit feines Gnadenſtandes fich befeftigt babe, je
enttäufcht worben fe. Denn bei ber natürlichen Neigung ber
Menſchen zu Selbſtſchmeiche lei unb Selbfterhebung fehle bie Vor⸗
fit des Geiftes unb bie Furcht, fih zu täufchen, faft Allen.
Treatise concerning religious affeostions. Works, London
1839, I, 257.
v. Dillinger, Papſtthum. 16
242
biger auf öffentlichen Plägen, wie in ben Kapellen und Kir⸗
chen verlündigen ihren Zuhörern unmittelbare und gewiſſe
Bergebung aller Sünden, und Sicherheit des Held, um
ben Preis einer momentanen Aufregung und Concentration
bes Gefühle. Dieß beißt das „Evangelium in feiner Fülle
und Freiheit“ prebigen.
So dreht fich die innere Geſchichte der Sekten wejent-
lich um die Rechtfertigungslehre, und was bamit zufammen-
hängt, und man mag fagen, baß fie weder ohue biefe Kebre,
noch mit verjelben zu eriftiren und zu gebeihen im Stande
find. Nicht ohne dieſe Lehre, denn wo fie aufgegeben wor»
ben, da war auch der Talisman, ver die Menfchen zur
Sekte hinzog und in berjelben fefthielt, gebrochen, unb der
Berfall der einzelnen Gemeinde, in ber bie Lieblingslehre
nicht mehr vernommen wurbe, ober ber ganzen Denomina-
tion, ließ nicht lange auffich warten.") Aber auch mit biefer
Lehre konnten die Sekten nicht geveihen, benn bie moralifch-
religiöfe Wirkung war ftet8 eine höchſt nachtheilige. Man hat
fih in England gewöhnt, das Gewebe von Vorftellungen,
welches fich regelmäßig aus dem Vortrag der Rechtfertigung®-
Lehre in calvinifcher Form erzeugt, Antinomianiemus
zu nennen; bie angefebenften Theologen, Barter, Wil
1) J. Bogue and Bennett: History of the Dissenters.
III, 318.
——
liams, Bull und andere haben ſchon im 17. Jahrhundert
gezeigt, daß das, was man fo nenne, nichts anderes als
das Achte calviniſche, bis in feine Harften und unabweis-
barften Confequenzen verfolgte Syſtem ſei. Und fo bes
gegnet man in ber Befchichte und Literatur dieſer Kirchen
und Selten ven ftetS fich erneuernven Klagen über bie
Bet des Antinomianiemns'), oder, was boch iu der That
völlig dasſelbe war, des Calvinismus, der bie Gewifſen
verhärte, und fie in eine falfche Sicherheit einwiege.) Die
Genoſſenſchaft der Baptiften war, nach dem ſtarken Aus⸗
drude ihres Prebigerd Fuller, nahe daran, mit ihrem Cal⸗
viniemus ein moralifcher Mifthaufen zu werben.?) _
Will man das Weſen gemachter Religionen recht er-
fennen, jo muß man vie Englifchen und Amerilanijchen
Selten und Diffenters Barteien fludiren. Das Chriften-
thum ift ein Teig, ber in ihren Händen in bie ihnen be«
quemfte Geftalt gefnetet wird. Das erſte Requiſit ift eine
leicht überfehbare, in ein paar Gedanken und Gefühle ſich
’) Bogueo and Bennett. IV, 390.
2) Starle Geftänbniffe barliber bei Robert Hall, dem beden⸗
tendfien unter ben Baptiften- Brebigern: Difference between
Christian Baptism and that of John, p.68. (Auch in feinen
gefammelten Werten, 1839, III, 123.)
2) Morris Life of A. Fuller. Lond. 1816, p. 267. Baptists
would have become a perfect dunghill in society.
16*
244
zufammenbrängende, ven berrfchenben Neigungen und ber
Lebensrichtung ber Mittelllaſſen, ber Handel» und Gewerbtrei«
benden, fich freundlich aflommobirende Lehre. Aber fefte, ge-
nau fich ausdrückende Belenntniffe werben als ein läftige®
Joch angejeben, welchen weber Prediger noch Gemeinden
fich unterziehen mögen. Bon ver eignen Genoffenfchaft
Haben die Diffenter in ver Negel eine geringe Meinung,
das heißt: fie find weit entfernt, fie al® das anzujehen,
was dem Katholilen Die Kirche ift: als eine göttliche, mit
Kraft und Anſehen von Oben ausgerüftete Anſtalt. Sie
wiften ſehr wohl, daß ihre Selte ober kirchliche Ordnung
nur ein fehr fpätes für beſtimmte Zwecke erfunbenes Pro⸗
buft iſt.) Sie behalten fi) das Recht vor, ihre Einrich-
tungen nad Gutdünken zu änbern. Vene objeltive, vor
Irrthum in ber Lehre fichernde Gewißheit, welche bie Kirche
in Anfpruch nimmt, bat für ven praltifchen Engländer
1) What shop do you go to? „Welchen Kramlaben beinchen
Sie? pflegt der Engländer ber Mittelfaffen zu fragen, um zu
erfahren, welcher Kirche ober Diffenter- Gemeinfchaft Jemand
angehöre.” Bon einem Prebiger fagt man: He works that
Chapel, wie man fagt: he works a manufacture. In ber
That find die Kirchen und Kapellen häufig „shops“; fle wer
ben auf Speculation erbaut, und ber Eigenthümer pflegt, wenn
ber von ihm gemiethete Prebiger nicht genug Anziehungskraft
befitt, um bie Kapelle gehörig zu füllen, ihn zu entlafſen, unb
einen andern anzuwerben.
a
der Mittelliaffen einen Werth; ihm kommt Alles auf bie
fubjective, eigne Unfebhlbarkeit an; er braudt ein Syſtem,
das ihm vie leicht zu erwerbende Gewißheit feiner eignen
Auserwählung, Begnadigung und Seligleit gewähre.. Hat
er diefe, fo machen ihm dogmatiſche Bedenken, biblifche
Dunfelheiten feine Sorge. Er bat einen entfchievenen
Wiperwillen gegen religiöje Gebräuche, Symbole, Uebungen,
gegen ben Eult der Anbetung Gottes, gegen das Knieen.
Saft Alles in ver Religion, was nicht Predigt ift, fällt bei
ihm in ven weiten Schlund ver „Superftition“, beten Deich
für ihn unermeßlich ift. Doch Hält er gerne ven „Sabbath“,
d. 5. er arbeitet nicht an dieſem Tage, und hört prebigen,
und figt lieber über Form und Inhalt ber Prebigt zu Ges
richt, als daß er ſich demüthig und anbetenb vor Gott
niederwürfe.
Wie wenig im Ganzen durch die freien oder Diſſenter⸗
Gemeinden für die Millionen von Armen geleiſtet wird, er⸗
gibt ſich aus der Bemerkung, die Dr. Hume vor dem Co⸗
mite des Oberhauſes machte, daß, wenn ein Diſtrikt ver⸗
arme, die Diſſenter⸗Congegration gewöhnlich wegziehe, und
ſich anderswo bilde.) Die Prediger find, ausgenommen
bei ven Methodiſten, völlig abhängig von den Gemeinden,
meift karg befolvet, und in fteter Furcht, auch von ihrem
— — ¶
1) Christian Remembrancer, 1860, I, 97.
Heinen Gehalt noch einen Theil durch Unzufriedenheit ober
größere Sparfamleit der Eongregation zu verlieren. Die
Zuhörer bes Prebigers find feine Richter und feine Ges
bieter; fie entfcheiben, ob feine Vorträge gemäß dem Maß-
ftabe ber Sekte orthodox, evangelifch und erbauenb feien
ober nicht, und davon hängt feine Eriftenz ab. Bor Allem
wollen die Gemeinden ihre Lieblingslehren immer wieber
vernehmen, wollen hören, daß der Menfch zu feinem Seile
nichts zu thun brauche, ald nur das Verdienſt Ehrifti fich
zuzurechnen, und feſt an feine eigne Erwählung und Bes
gnabigung zu glauben‘); daß fie Erwäßlte feien, daß nur
fie im Befige des reinen, unverfümmerten Evangeliums,
ihre Genoffenfchaft die ächtefte und beßte unter pen Kirchen
fei.) Würde der Prebiger fi unvorfichtiger Weile bei-
geben laſſen, bie in feiner Gemeinde herrſchenden Lieblings»
Sünden und Gebrechen, beſonders die der Reicheren, ernſt⸗
[ih zu rügen, fo wäre er verloren. Sobald, fagt Thoma 8
3) Bergl. British Critic. VII, 282. Reinſten Calvinisınus ver⸗
fündet denn auch ber befiebtefte unter ben Engliſchen Prebigern
bes Tages, Spurgeon, ber feinen zahlreihen Zuhörern
gerne vorfagt, wie unfehlbar gewiß er feiner ewigen Geligfeit
fei, fo baß eigentlich nur zwei Dinge für ihn paßten: Oymmen
fingen und fchlafen. &. Spurgeon's Gems, Lond. 1859,
und das Saturday Review darüber, 1859, I, 840,
2) Man vergleiche bie anfchaulihe Schilderung ber Lage eines
Diffenter-Brebigers im Christ. Remembrancer, 1860, Il, 86.
247
Scott, einer der beveutenbften Theologen unter ben Evan⸗
geltcals, ein Prediger in vollem Ernfte fi an die Gewiflen
feiner Zuhörer in eindringenber, praßtifcher Weife zu wen⸗
ben beginnt, bildet fich eine Partei gegen ihn, um ihn zu
cenfuriren, einzufchächtern, ihn zu entmuthigen, ihm zu
widerfteben, ihn auszuftoffen.‘) Doc auch ohne folchen
Anftoß zu geben, mag er nach einigen Jahren fich auf einen
Wink, zu refigniren, gefaßt machen, wenn er fich etiva aus»
geprebigt bat, ober wenn bie Gemeinde müde wirb, immer
denfelben Mann und diefelben Phraſen zu hören, ober auch,
wenn feine Fran ober feine Töchter durch allzuforgfältige
Kleidung das Miffallen des weiblichen Theils ber Congre-
gation erregt haben, oder wenn er bei einer politifchen
Wahl nicht für den Candidaten der Mehrzahl geftimmt Bat.
Die alte Presbyterianiſche Genoffenfchaft, einft Die
ftärkfle und einflußreichfte unter den nichtbifchöflichen Ver⸗
bindungen, iſt im Laufe des vorigen Jahrhunderts in England
zu Grunde gegangen, und bamit ift das ächte Puritanerthunt
ausgeftorben. Der Grund lag hauptſächlich in der Ver⸗
änderung der Lehre. Die angejehenften Theologen der
Partei, Richard Barter und Daniel Williams
hatten die Widerſprüche der calviniſchen Nechtfertigungs-
1) John8cott: Lifeofthe rer. Thomas Scott. Lond. 1836,
p. 136. Die ganze Schilderung ift Ichrreich.
248
Lehre und ihre unabweisbaren ethifchen Conſequenzen fo
Har und ſcharfſinnig dargelegt, daß die meiften Gemeinden
biefer Lehre entſagten, und nach der damals geläufigen Be⸗
zeichnung Arminianif wurden.) Damit war aber das
geiftige, die Genoffenfchaft zufammenbaltende Band gelöft,
und in den leßten Jahren des 17., dem Beginne bes 18.
Jahrhunderts trat bereits die innere Zerfegung ber Pres⸗
byterianer-Gemeinven ein. Mehrere verjelben nahmen ben
damals von einigen Theologen, auch der Staatsfirche, em⸗
pfohlenen Arianismus an, und giengen von da naturgemäß
in furzer Zeit zum Socinianismus über. So find die heu⸗
tigen Unitarier-Gemeinden entitanben, bie jetzt, faft
alle chriftlidhen Hauptlehren verwerfend, obngefähr auf ver
Stufe ftehen, die in Deutjchland die freien Gemeinden ein⸗
nehmen. Bon den 229 Unitarifchen Kapellen, vie im Sabre
1851 beftanven, find 170 urfprünglicy Presbpterianifche ges
wejen. Die calvinijch bleibenden Presbhterianer verfchmolgen
mit den Independenten. Doch gibt e8 gegenwärtig in Eng⸗
land 160 Presbyterianiſche Gemeinden mit calvinijcher Lehre,
bon denen indeß bie meiften Schottifchen Urſprungs find,
oder aus eingewanderten Schotten beftehen, und mit Schot«
tiſchen Selten in Verbindung getreten find.”)
1) Bogue and Bennett, Il, 303 (new edition).
?) Mann’s Census of religious Worship, p. 1. zxvııt.
249
Ein längeres Leben, als den Presbyterianern befchie-
ben war, mögen fich die nun etwa hunvertjährigen Metho⸗
biften oder Wesleyaner verfprehen. Sohn Weslen,
nebft Barter wohl der bebeutendfte Mann, den das Pros
teftantifche England hervorgebracht Bat, wollte im Grunde
feine Kirche neben die Staatslirche ftellen, fonvern nur eine
Hilfsgeſellſchaft errichten, aber unter feinen Nachfolgern,
befonders durch Bunting, welcher der Verbindung erft
ihre feite Organifation gab, tft aus der Gehilfin eine Neben-
bublerin geworben, und, früher nur eine „Connexion“, nennen
fih die Wesleyaner feit etwa 25 Jahren eine Kirche, be=
haupten indeß fortwährend, in ver Lehre mit der Staats⸗
lirche einig zu fein.
Auh in Wesich’s Genoſſenſchaft bildet die Rechtferti⸗
gungslehre den Wendepunkt und zieht ſich wie ein Schick⸗
ſalsfaden durch die Geſchichte der Sekte. Wesley ſelbſt
hatte ſich bezüglich dieſer Lehre in den grellſten Widerſprü⸗
chen und Sprüngen von einem Dogma zum entgegengeſetzten
bewegt. Zehn Jahre lang ſei er, ſagt er, im Grunde ein
Papiſt geweſen, ohne es zu wiſſen, und habe die Rechtfer⸗
tigung durch Glauben und Werke gelehrt, dieſen verderb⸗
lichſten unter den Irrthümern Roms, im Vergleich mit welchem
die anderen Irrlehren dieſer Mutter aller Gräuel unbedeu⸗
tende Kleinigkeiten feien.') Aber fein Eifer für die Lieblingslehre
1) Bouthey’s Life of Wesley, I, 287, 288.
a _
Luthers und Ealvins hielt nicht ange vor. Die Erfahrung eini⸗
ger Iahre überzeugte ihn, fowie feinen Bruder und Gehilfen
Karl Wesley, daß proteftantifche Slaubensgerechtigkeit und
calvinifche Präbeftination ver Ruin alles ernfteren religidfen
Lebens feien. Antinomianiemus, fagt er, fet für das Ges
beihen feines Werkes ein größeres Hinberniß geworben, ale
alle andern zufammengenommen, und babe ben größten
Theil des viele Jahre lang von ihm ausgeftreuten Samens
zerſtört.) „Wir möüffen alle unterfinten (durch ben
Solifivianismus), fehrieb fein Bruder, wenn wir nicht Ja⸗
kobus zu Hülfe rufen”) Im Jahre 1770 gab John
Wesley feiner Gefellfchaft das Signal zur dogmatiſchen
Umfehr, und es zeugt von ber perfönlichen Größe des
Mannes und von feiner wunderbaren Gabe der Geifterbe-
berrihung, daß er, ohne feinem Anfeben Eintrag zu thun,
ein fo öffentliches und unummunbdenes ÜBelenntniß feines
Irrthums in einer chriftlichen Grundlehre ablegen durfte,
daß er wirklich feine ganze Sekte zu beivegen vermochte,
ihre Lehre zu ändern, aus Calviniſten Arminianer zu wer»
) Southey, 1, 318.
t) Fletcher’s Works. London 1836, I, 105.
2) Die Proclamation (minutes) Wesley's fteht bei Bouthey,
11, 866, und vollftänbiger in bem Werke: Life and Times of
Selina Countess of Huntingdon. London 1841, 11, 236,
251
ben.) Hundert anbere Seltenftifter wären an einem ber.
artigen Verſuche gejcheitert. Eine wirkſame Stüge fanb
er dabei an feinem Freunde Fletcher von Madelh, deſſen
Schriften gegen das proteitantifche Syſtem das Bedeu⸗
tendfte find, was die damalige theologijche Literatur Eng⸗
lands aufzuweifen bat. Die Furcht vor calviniftifcher An⸗
ftedung war e8 auch, welche Wesley endlich zu der lange ver-
zögerten und gefcheuten Trennung feiner Gemeinfchaft von
ber Staatslirche bewog.') Allerdings war fein Erfolg nur
ein halber. Ein Bruch trat ein, fein bisheriger Freund
Whitfield mit einer caloiniftifch gefinnten Schaar trennte
fih von Wesley und den diefem treu Gebliebenen, und eine
calviniftiihe Gemeinſchaft von Methodiſten wurde gebilbet,
deren Prophet Wpitfield, deren Kirchenmutter die Gräfin
Duntingdon war, eine begabte, ihres kirchlichen Herr⸗
fcherberufe® bewußte Frau, welche die Prebiger ihrer „Con⸗
nexion“ nach Gutdünken ein» und abſetzte. Dieſe Selte,
die noch im Jahre 1794 an 100,000 Anhänger gezählt
baben joll, war aber ſchon im Jahre 1851 troß ihres reinen
Calvinismus auf 109 Kapellen mit nur 19,159 Mitgliedern
berabgefunfen.?)
In größerem Flore und bis vor Kurzem ununter⸗
I) Correspondence of J. Jebb and A. Knox, ed. by Forster.
Lond. 1836, II, 472.
) Marsden’s History of christ. Churches and Sects. II, 8,
252
brochenen Wachsthum erhielt fi der Hauptſtamm ber
Wesleyaner. Er verdankte dieß feiner feften und wohlbe-
rechneten Organifation. Aber eine im Uebrigen proteftan«
tiiche Senoffenfchaft mit Arminianifchem Dogma und Aufs
gebung der Imputationslehre vermag fich, wie das Beiſpiel
ber Remonftranten in Niederland bewiefen, nicht lange, we⸗
nigſtens nicht als eine ben Volksmaſſen erwünfchte Ges
meinichaft, zu Halten. Die Methopiften find allmälig zu
einer dem proteftantifchen Ipeenkreife angehörigen Auffafe
fung des Belehrungs- uud Nechtfertigungsprocefies wieder
übergegangen, und pflegen pad Weſen der Religion in eine
möglichft ftarte Erregung ver Gefühle, eine eingebilvete Ges
wißheit der Begnadigung und der Seligleit zu jegen. Hiezu
will nun Wesley’ s Lieblingslehre bon einer volllommenen
Heiligung, zu der man es ſchon in dieſem Leben bringen
könne und folle, nicht mehr paſſen. Zugleich ift mit einer
ſolchen Rechtfertigung durch Gefühle den jchäblichiten I⸗
Iufionen und Selbftfchmeicheleien eine weite Pforte geöffnet.
Sie wird noch erweitert durch die Einrichtungen ver Ge⸗
ſellſchaft. Die in Banden und Klaffen eingetheilten Mit⸗
glieder pflegen in ihren Zufammenkünften wechielfeitig ihr
Gewiſſen zu erforfchen, ſie follen einanver ausfragen über
ihre innerften Regungen und „Erfahrungen“, follen öffent-
lich beichten, was denn unausbleibli dazu führt, daß fie
nicht. ihre Sünden, ſondern ihre Tugenden und vermeintlich
253
empfangenen Gnaben-Verficherungen beichten, und während
fie fich die elendeften Sünder nemen, ſtets bie Gewißheit
ihrer Seligfeit zu haben verfichern. Nie find wohl Ein-
richtungen erfunden worben, die ed dem geiftlichen Hoch⸗
muth leichter machen, fich in da8 Gewand ver Demuth zu
hüllen, zuerft fi) und dann Andre zu täufchen.
Dan bat e8 ven Methodiſten nachgerähmt, daß fie eine
befondere Babe hätten, unbußfertige, felbft verhärtete Sün-
ber durch ihre Prebigten zu erfchlittern. Ihre Prebigtmeife
ift vor Allen auf Erbikung ver Einbildungskraft berechnet,
und bie förperlichen Gefühle, die fie erregen, werben dann
für Eingebungen und Wirkungen des Geiftes ausgegeben.
Ste haben, gleich gewiffen Aerzten, für Alle ohne Unterſchied
des Geſchlechts, Alters und Standes nur Eine Mediche.
Ihre einförmige Methode ift: die Menfchen bis zum Wahn-
finn zu ängſtigen und zu erfchüttern, fie erft völlig troftlos
zu machen, wie e8 in ihren Borfchriften heißt, und fie dann
zur abfoluten Gewißheit ihrer Begnadigung hinüberzuleiten,
wozu es nur eines Glaubensaftes bevarf.‘) Der Menfch
wird angewiefen zu fühlen, daß ihn Gott gerechtfertigt habe,
mb fofort ift er es auch. So fehr der Methodismus fonft
von Widerwillen gegen bie Calviniſche Lehre erfüllt ift, in
1) Es if: a distinet and indubitable internal witness, which
tells the believer of his certain acceptance. British Critio
XxVI, 12.
284
dieſem Bunkte trifft ex doch ſehr nahe mit dem Calvinismus
zuſammen.) Die Wirkung aber iſt derartig, daß man in
Gegenden, wo der Methodismus ſehr verbreitet iſt, ſelbſt
eine Veränderung der Phyſiognomieen wahrnimmt; man bes
gegnet da einer Menge harter, roher unb verbüfterter
Sefichter.*)
Die oft bewunderte Stärke der Methodiſtiſchen Kir-
henverfaffung hat doch fortgehende Zrennungen und einen
immer fichtbarer werdenden Verfall nicht abzumwenben ver»
mocht. Die erfte Trennung (dur Kilham) erfolgte 1796;
zwanzig Jahre fpäter gab bie Einführung einer Orgel bie
Veranlaffung zu einer zweiten Abſonderung; 1835 trat
die dritte große Seceifion ein, und warb bie neue Affocia-
tion von Warren gegründet. Indeß warb bie Unzufrieben«
beit über bie ſchrankenloſe Mucht und Willlühr der an ber
Epite befindlichen und ſich ſelbſt ergänzenden Conferenz
immer größer: dieſe Prediger-Oligarchie warb befchulbigt,
fih von einer Clique beberrichen zu laffen, jo daß 1850
heftige innere Kämpfe ausbrachen, und die ganze Geſellſchaft
in einen Zuftand der Verwirrung und des tobenven Auf⸗
ruhrs verjett wurde. Die Reformers wollten die Verfaſ⸗
1) So warb benn auch jüngft (1857) bemertt, daß in Cornwall
- der Methodismus durchaus antinomianiſch (aljo gefleigert cal⸗
vinifch gefärbt ſei. Quarterly Review, t. 102, p. 823.
?) Quarterly Review, IV, D03.
255
fung mehr vemokratifiren, dem Laienelement größeren Ein-
fluß verichaffen. Die Eonferenz widerſtand mit unbeug-
famer Härte, und fo kam es binnen drei bis vier Jahren
zu einer Abfunderung von 100,000 Mitglievern, faft einem
Drittel des Ganzen.
Nächft den Methodiften ift die Sekte der Eongre-
gationaliften ober Indepenbenten die durch Zahl
und Wohlftand der Mitglieder einflußreichfte. Sie Bat in
England 1401 Prebiger und noch einige hundert Gemein-
den ohne Prediger. Sie haben fih im 17. Jahrhundert
von ben Presbhterianern getrennt, um das Princip ber
völligen Unabhängigkeit aller einzelnen Gemeinden und einer
bloßen Affoctation unter ihnen durchzuführen. Brüder waren
fie ftreng calvinifch im Dogma, und wurden baber auch
burch den Uebertritt der Anhänger Whitfields, vie fich ihnen
mehr verwandt fühlten, al8 den Arminianifchen Wesleya⸗
nern, verftärkt'), während in Wales die calvinifchen Mes
thobiften eine felbftftändige, ziemlich zahlreiche Selte bilden.
Die Indepenventen haben im Jahre 1833 ein Glaubens
Bekenntniß veröffentlicht), welches weit und unbeftimmt
genug iſt, um ſehr verfchievene Anfichten zuzulaffen, und
’) Marsden, II, 22.
2) Es ſteht in Mann’s Census of religious Worship, 1858,
p. liv.
26
üiberbieß ausdrücklich auf jede Autorität und bindende Kraft
verzichtet. Es wirb daher auch von Niemanden unterzeichnet.
Bon einer beftimmten Lehre kann demnach bei den Congre-
gationaliften nicht mehr die Rebe fein. Die Prebiger finb
aber deßhalb keineswegs frei, diefe ober jene Doctrin nad
Gutdünken zu prebigen; vielmehr haben fie fi) nach ben
Anfichten und Erwartungen ihrer Gemeinden, beſonders ber
wohlhabenveren und einflußreicheren Mitglieder, zu richten;
fie müffen, um fich in ihrer Stellung zu behaupten, fort .
während der Stimmung der Gemeinde mit feinem Yinger
den Puls zu fühlen wiffen, und ihre Vorträge mit verfelben
iu Einklang fegen.
Auch die Baptiften find im Allgemeinen entſchiedene
Ealviniften in ven Dogmen ver Erwählung und Rechtfer-
tigung, unterjcheiven fich aber von den übrigen Parteien
dieſer Gefinnung durch ihr Princip, die Taufe nur Er-
wachfenen und nur durch völlige Untertauchung zu ertheilen,
da jede andere Form nach ihrer Anficht gar eine Zaufe
if. Sie begannen in England um das Yahr 1608, flan«
den nie in einem Zuſammenhang mit den Mennoniten
Holland und Deutſchlands, und gelangten erft nach 1688
zu einiger Bedeutung. Gegen Enbe bes vorigen Jahr⸗
hunderts war ihr Calvinismus over Antinomianismus fo
ausgebildet, daß bie meiften ihrer Prebiger nur noch von
und zu Erwählten rebeten, und von Sünbern in ihren Ge⸗
257
meinden nichts wiffen wollten.‘) Qelenntnißlofigleit, Uns»
gebunvdenbeit der VBerfaffung und damit natürlich auch voll
ftänpige Abhängigkeit der Prediger von ven Gemeinden ge-
hören zu ihrem Charakter. Von ber Hauptpartei, den Par⸗
titular-Baptiften, haben fich fünf Kleinere Selten, theild aus
Abneigung gegen den Calvinismus, theils um einzelner
Buntte willen, abgezweigt. Die calvinifchen Partikular⸗
Baptiſten beftanpen im Jahre 1851 aus 1947 Gemeinden,
Die Quäker over Freunde, bie, der unmittelbaren
jedem erreichbaren Inſpiration des heiligen Geifte® gewiß,
ohne Sakramente und ohne orbinirte Prediger an den Vor⸗
trägen erwecter Männer und Frauen fich erbauen, find jetzt
eine im Niebergange begriffene Selte, und baben fich feit
Anfang des Jahrhunderts in England beveutend vermindert.
Die Mährifchen Brüder mit ihren 32 Kapellen veges
tiren in England als ein ftilles, kaum bemerktes Häufchen.
Auch die Swedenborgiſche Kirche des Neuen Jeruſalem
kann es, da ihre Lehren nichts beſonders Tröftliches haben,
ohngeachtet ihrer 50 Congregationen (im Jahre 1851) zu
feinem vegeren Leben bringen. Größeres Auffehen haben
die noch fehr jungen Irvingianer erregt. Einverftanden
mit den Plymouth⸗Brüdern, daß fchon glei nach den
1) Das berichtet Olinthus Gregory in ber Biographie bes be-
rühmten Baptiflen-Prebigers Robert Hall. ©. Marsden I, 83.
v. Döllinger, Papftthum. 17
— 8ß—
Apoſteln ein Zerfall ver Kirche eingetreten fei, haben fie es
unternonmen, die längft in Trümmer und Bruchitüde zer-
fplitterte rechte Kirche mittelft einer neuen ihnen zu Theil
gewordenen Ausgießung des heiligen Geiſtes und mit ben
vier wefentlichen Aemtern: des neuen Apoftolats, des Pro⸗
phetenthums, der Evangeliften und Hirten, wieberberzuftellen.
Sie verwerfen den gefammten Proteftantismus mit feiner
Anmaßung eines jebem zuftehenden fouveränen Urtheils in
Slaubensfachen, feinem venolutionären „von Unten ber“, fie
nähern fich in der Rechtfertigungsfehre, den Sakramenten,
bem ‚facrificiellen Charakter des Gottesbienftes, ſtark ber ka⸗
tholifchen Kirche. ‘Die perfönliche, fichtbare Erfcheinung des
Herren, die erfte Auferftehung und der Anbruch des taufend«-
jährigen Reiche wird in nächiter Zulunft erwartet. Aber
die Genoffenfchaft der „apoftolifchen Kirche”, Hat nichts,
was dem Englänber beſonders gefallen könnte, ihre Lehre
tft nicht, gleich der der andern Selten, bequem und tröftlich,
{ihr mangelt- ver Talisman des Imputationsbogmas und ber
wohlfetllen Heilsgewißheit; fie hat zu viel Katholifches, Li-
turgiſches, Sakramentales. Ste bat e8 daher in England
nur zu wenigen und Beinen Gemeinden gebracht, und Bat
feine Ausficht, größere Erfolge dort zu erlangen. Dagegen
bat der von Amerika eingeführte Mormonismus fich mit
feiner chriftlichen Larve binnen wenig Jahren gegen 20,000
Anhänger in England zu gewinnen vermocht.
259
Die Plymouth⸗Brüder ober Darbyiten, wie fie
von ihrem noch lebenven Stifter heißen, leben gleichfam von dem
wirffichen oder vorausgeſetzten Zope aller andern chriftlichen
Kirchen. Denn in Folge einer fchon in ber apoftolifchen
Zeit eingetretenen Apoftafle der erften Kirche gibt ed und
darf es überhaupt, lehren fie, feine Kirche und daher auch
fein geiftliches Amt mehr geben, und ftehen alle Kirchen
unter dem göttlichen Fluche. Niemand barf fich unterfteben, bie
gefallene Kirche wieder aufbauen zu wollen. Aber der Geift
mit feinen Gaben ift bei ven Gläubigen geblieben unb bie
Brüder erbauen fich mittel diefer unter ihnen vorhandenen
GSeiftesgaben. Die Sekte ift ein verjüngtes und modificirtes
Quãkterthum. Sie bewegt ſich hauptſächlich in Negationen:
fie will keine Belenntnißformeln, keine Liturgie, Teine kirch⸗
lihe Gliederung, keinen Sabbath nad Englifcher Weile,
feine Sakramente, nur zwei Symbole oder Zeugniffe: Taufe
und Brovbbrechen. Dafür befchäftigt fie fich gleich den
meiften Englifchen Selten viel mit der Erwartung des
naben taufenvjährigen Reiches. Ste Hat es in England im
Sabre 1851 auf 132 Verfammlungspläße gebracht. ')
e. Die Rirde in Schottland.
In Schottland Hatte Calvins treuefter Sohn, John
Knorx, die calvinifch=presbpterianifche Lehr» und Kirchen-
1) Reuter’s Aepertorium, Bd. 50, ©. 276 ff. und Bd. 51
S, 82 fi.
17*
” — —7
—60
Form nach dem Muſter Genf's fiegreich durch geführt. Das
Volk Hatte ſich ganz in dieſes Syſtem hinein gelebt. Zwar
war ber Presbyterianismus unter Karl II. endlich unter⸗
legen, 400 Prediger hatten weichen müfjen; bie Epiflopal-
Verfaffung fchien zu fiegen. Nur bie Cameronier behaups
teten fich noch in abgelegenen Gegenben. Die Veränderung
war jedoch eine ganz Außerliche. Lehre, kirchliche Sitte
und Obſervanz wurden nicht angetaftet; der Calvinismus blieb
allgemein herrſchende Denkweife. In biefem langen Kampfe
ber Schottifchen Kirche mit der königlichen Gewalt wurde bie
Widerſtandskraft ver Schotten durch die republifanifche, Geift-
liche und Laien zu gemeinfamer Wirkfamfeit verknüpfende,
Kicchenverfaffung verftärkt, uub bie Folge war, daß biefe
Kirche unter allen proteftantiichen Genoſſenſchaften durch
Selbftändigkeit und Freiheit fich auszeichnete, und nie zu ber
Knechtſchaft ver Englifchen Kirche herabfant.
Mit ver Revolution von 1688 und ber Erhebung Wil-
helms, ver felbft Salvinift und Presbpterianer war, trat
ein völliger Umſchwung ein; die „Pfarrer“, fo hießen vie
bifchöflichen Geiftlihen, wurden durch Pobelaufruhr miß-
handelt, geplündert, fortgejagt, und bie „Minifter8” — ver
Schottifche Presbyterianer will weder von Pfarrern, noch
von Prieftern, noch von Geiftlichen etwas wiſſen, ſondern
nur von „Dienern” — festen fich fofort in ben Beſitz ber
Pfarrwohnungen und Kirchen. Die Presbyterianiſche Na⸗
261
tionallicche, nun auch von ber Regierung begünftigt, trat
fofort als die allein im Lande berrfchende Kirche auf, nnd
fonnte den Fuß auf den Naden ihrer Feindin, ber bifchöf«
fihen, ſetzen. Es ift wohl eine ber außerorbentlichiten,
aber bezeichnenpften Zhatfachen in der Gefchichte des Pro-
teftantismus, daß nach der lekten Erhebung ver Hochlänber
zu Gunſten ver Stuarts im Jahre 1745, pas Britifche Parla⸗
ment, welches damals im Unterhaufe unter 528 Mitgliedern 513
Angehörige der bifchöflichen Kirche zählte, eine Reihe von
Strafgefegen gegen dieſe Kirche jenſeits des Tweed erließ,
welche die Geiftlihen verfelben ganz in bie Gewalt ihrer
erbitterten Feinde, der Bresbyterianer, lieferten '), unb eine
Schwere Verfolgung über fie brachten.
Im Ganzen hatte der Calvinismus nach anderthalbhundert-
jähriger Herrſchaft feine günftige Wirkung auf bie focialen Zu⸗
ftände ver Schottifchen Nation geübt. Der Schottifche Patriot
Andrew Fletcher von Salton fdhildert am Schluffe des
17. Jahrhunderts biefe Zuftänne mit pen püfterften Farben. Ein
Fünftheil der Bevölkerung beftand aus herumwandernden Bett»
lern, und Biele von ihnen ftarben Hungers; e8 gab an hundert-
taufend von Raub und Diebftahl lebende Vagabunden im
Lande; und bie Hälfte des ganzen Grunpbefikes war in
den Händen einer trägen, nichtewürbigen, gewaltthätigen
) Stephens: History of the Church of Bootland. London
1848, IV, 827 ss.
262
ränberifchen Menſchenklaſſe). Fletcher wußte bei folcher
Derwilderung kein anderes Heilmittel vorzufchlagen, als:
Einführung ber Sklaverei.
Es ift ſehr bezeichnend, daß das Schottifche Volk,
das bei vielen Veranlofjungen einen glühenden Eifer für
den Salvinismus entwickelte, und von feinen Prebigern leicht
bis zum religiöfen Aufruhr entflammt werben lonnte, Jahrhun⸗
berte lang nichts für feine Kirchen that. Die Reformation, bie
nirgendes eine wildere Zerftörungsiuft erzeugte, als in Schott»
land, hatte von ben fchönen und geräumigen Landkirchen ber
Tatholifchen Zeit nur einige Ruinen übrig gelaffen. Und
nun behalf man fich mit elenden Hütten, mit feuchten, uns
gefunden Spelunfen, bie oft Viehſtällen ähnlicher fahen als
Gotteshäufern, und im ganzen 18. Jahrhundert wurde von
dem Volke, das fich für das religiöfeite in Europa hielt,
nicht eine einzige Kirche gebaut. Viele Pfarreien hatten
gar Feine Kirche; die Leute ließen fich unter freiem Himmel
prebigen.”)
Was in der Gegenwart bei dem Volle, welches Eng-
länvern unter den Europäifchen Nationen das vorzugsweiſe
theologifche Volk zu fein fcheint, gleich auf den erften Blick
1) Tytler’s Memoirs of Lord Kames. Edinburgh 1814,
nl, 227.
?) Cunningham’s Church History of Bootland. Edinburgh
1860, II, 586, 87.
263
befrembet, das tft die allgemeine Leidenfchaft des Trunkes.
„Es ift Thatfache, fagt dad Saturday Review'), daß
Schottland ven Anblid der am meilten puritanifirten, unb
am meiften dem Trunk ergebenen Nation auf dem ganzen
Erdboden darbietet. New⸗York ift obngefähr die unfitt-
lichfle Stabt der Welt, in Genf iſt die Religion nahezu
unbekannt, und in Glasgow find die Söhne der Covenan⸗
ters die dem Trunk ergebenfte Bevöllerung auf der Exrbe.’)“
Bergleiht man die Nieberlänpifche und die Schottifche
Kirche miteinander, fo ift der Eontraft auffallend. Beide
Kirchen Haben in der Hauptjache das gleiche Bekenntniß
and eine auf bie fünf Dorbrechter Artikel gebaute Lehre,
haben bie gleiche Verfaffung, aber wie groß ift doch die
Berichievenbeit! Während der Proteftantismus in Niebers
Land eine fo reiche theologifche Literatur erzeugt hat, ift ber
1) Octob. 8, 1859, p. 421.
2, „Schottland if jetst durch feinen vermehrten Branntweinverbrauch
das Land, das in ganz Europa dem Trunke am meiften ers
geben. Seit 1825 hat bie Branntwein-Confumtion fi bei-
nabe verfünffacht. Im ähnlichem Verhältniſſe haben Verbrechen,
Krankheiten und Tob zugenommen.“ Neue Preuß. Zig., 21.
Gebr. 1854. — Der Schottetaing meint (Observations on
the social and political State of the European People,
Lond., 1850, p. 284): Seine Landsleute bilrften fich ihrer
Moralität nicht rühmen, fo lange fie nad ſtatiſtiſchem Ausweis
in ber ungeheuern Confinution von Branntwein ſelbſt England
überträfen und faft viermal fo viel tränfen, ale Irland.
— —
— _
Schottiſche Ealvinismus, obgleich er durch die Gleichheit
ber Sprache unter vie Einwirkung ver reichhaltigen Engli⸗
fchen Literatur geftellt war, fteril geblieben, und bat fich
in einer an einem fo begabten Volke voppelt befrembenden
theologifchen Geiſtesarmuth und Lethargie mit fehr wenigen
und bürftigen Produkten begnügt. Arge Unwifjenheit in
theologifchen Dingen war von jeher ein Hauptzug der Schot⸗
tifchen Prediger. Burnet hebt das bereits hervor.') Ceit
ber Reformation bat Schottland eigentlich nur zwei beteus
tenbe Theologen gehabt, Robert Leighton und Forbes,
und beide gehörten ber Epiſkopalkirche an, waren felbit Bi⸗
fhöfe. Der theologifche Unterricht wird noch jetzt fehr
nachläjjig betrieben; „vie Studirenden find theils weit ven
größten, theils wenigftens einen ſehr großen Theil bes
Sahres hindurch aus dem eigentlich wiffenfchaftlichen Cur⸗
ſus entlaffen“?), und geben fich unterveß mit dem Unter⸗
richt von Kindern ab. Eigne Gedanken, abweichende Mei-
nungen und Lehren find in Schottland bei Geiftlichen, wie
bei Laien, wenn man bie Zeit des herrſchenden, aber doch
blo8 fleptifch gegen das Dogma fich verhaltennen Modera⸗
tismus abrechnet?), ſtets unerhört gewefen, obgleich der
1) History of his own Time, p. 103.
2) Köflin in der deutſchen Zeitfhrift für chriftl. Wiſſenſchaft.
Bd. I, S. 190,
3) Diefer Zeit und Richtung gehört auch ber einzige Ereget von
2 _
officielle Katechismus es jedem Schottifchen CEhriften zur
Pflicht macht, das, was er in den Predigten gehört habe,
durch die heilige Schrift zu prüfen.) Würbe biefe „Pflicht
wirklich auch nur von einer Kleinen Anzabl geübt, fo wäre .
bie kirchliche Zerriffenbeit natürlich noch viel größer, als
fie es fchon iſt. Der Geift der Nation blieb eingefchnürt
in das caloinifche Syſtem. Nur Fragen ber kirchlichen Ver⸗
faffung, vor Allen bie des Patronats, bewegten die Schotten.
Das Seltenwefen entftand nicht auf ihrem Boden, fondern
wurde mehr von Englanb her bei ihnen eingefchleppt. ‘Die
großen Seceffionen des vorigen Jahrhunderts fanden nicht
um ber Lehre, fonvern um ver Verfaffung und der Stel
lung zur Staatögewalt willen ftatt.
Ein Blick auf das Dogma der Schottifchen Kirche, wie
es in der noch jetzt als Hauptbekenntniß⸗Schrift geltenven
Weftminfter-Eonfeffion feinen Ausdruck gefunden bat, läßt
die Haupturſache ver Schottifchen Abkehr von ber Theologie
ertennen.
Es ift in der That eine feite Glaubensfette, mit der
das Calviniſche Syſtem, wie e8 in dem Weſtminſter⸗Bekennt⸗
einiger Bebentung , ben die Schottifche Kirk hervorgebracht hat,
an: Madnight, ber indeß, mit dem Maßftabe ber Weſt⸗
minfter-Eonfeffion gemefien, ſehr beterobor if.
1) Confession of faith etc. p. 318.
266
niffe fieixt ift, den Geiſt ver Menſchen umfchlingt. Seit»
dem man das Voll gelehrt hat, den Werth einer. Religion
nach dem Grade ihrer Tröftlichleit zu meſſen, iſt es na⸗
tärlich, daß der Calviniſt von der Vortrefflichkeit der ſeini⸗
gen noch fefter überzeugt ift als der Lutheraner, ba das
Problem, noch einen höheren Grad tröftlicher Beruhigung
zu gewähren, bier wirklich gelöft ift. Der Menſch — fo
lehrt dieſes Syſtem — empfängt durch das Anhören von
Predigten den heilbringenden Glauben, daß er einvon Ewig⸗
keit Erwählter fei, und daß Gott ihm ven Gehorfam Eprifti,
al® ob er ihn felbft geleiftet Hätte, zurechne. Diefer Glaube
und biefe unfeblbare Gewißheit feiner Erwählung, feines
Snabenftandes ober feiner Gerechtigleit und feiner künf⸗
tigen Seligkeit, geht ihm nie mehr ganz verloren, obwohl
zeitweilige Verbunkelung und Zweifel eintreten Tann.) Er
weiß nun, daß er unter der Herrſchaft der unmwiberfleh-
lichen Gnade Gottes fteht, und daß Alles, was er thut
oder unterläßt, nach Gottes Willen und durch Gottes Gnade
von ihm getban wird. Sünbigt er, fo bleibt er dennoch
ein Erwählter und unwiderruflich Begnadigter, unb weiß
bieß, auch wenn er, wie David, Mord und Ehebruch bes
gehen folltee Durch ſolche Sünden mag wohl bie Heils
1) ©. The Confession of Faith etc. , of public Authority in
the Church of Scotland. Glasgow 1756, p 98.
267
Gewißheit erjchättert, vermindert, verdunkelt werben, fagt
bie Eonfeflion, aber biefer Same Gottes und das Leben
bes Glaubens geht ven Glaͤubigen doch nie ganz verloren.
Und da fie völlig unfrei und blos paffive Werkzeuge bes
göttlichen Willens find, va nach der Lehre des Belennt⸗
niffes jede, auch bie befte That, eine Beimifchung von Bö⸗
fem bat, fo daß das Gute daran die That Gottes durch
ben Menfchen, das Böfe aber die eigne Zuthat des Men»
fhen ift, fo Tönnen fie fih aud über Sünden, vie nach
menſchlichem Urtheile fchiwere find, wohl berubtgen.')
Bei einem folchen Lehrbegriffe ift es fehr erklärbar,
daß, wie Köftlin bemerit, in ven Prebigten bie Offen-
barung des Gottesfohnes im Fleiſche, die menfchliche Ge⸗
1) Ueber bie praftifhe Wirkung, die dieſes Syſtem berborbringt,
theilt ein Artikel im Quarterly Review, t, 89, p. 807 se.
Puritanism in the Highlands, merkwürdige Thatſachen mit,
Der Berf. bemerkt: It is held, that a person of great faith,
according to his own account, and of extraordinary at-
tainments, as his neighbours believe, in praying and pro-
phesying, and generally of high devotional repute, may
indulge in varions sins, without endangering his everlasting
safety, or, of course, weakening his position as a Man.
(So heißen nemlich bort bie befonbers Erwedten und From⸗
men.) Daß das Beifpiel Davids gerne von bem Bolle als ber
ſonders tröftlih und berubigenb angeführt werbe, ift mir in
Schottland verfichert worden. Der Verf. des eben angeführten
Artikels bemerkt, p. 825, daß auch bie Prebiger häufig ſolche
Anfichten hegten — nach ber Weftminfter-Eonfeffion mit Recht.)
268
Ihichte des Erloͤſers auffallend wenig behandelt wird, und
daß „bie Schottifche Theologie eine eigentliche chriftliche
Ethik überhaupt nicht kennt.” ') Er rügt ferner, daß in bies
fem Syſteme die wefentliche Bebeutung des eigentlichen
enangelifchen Glaubens nicht an’8 Licht trete.
Was Köftlin von ver Schottiichen Kirche bier be⸗
merkt, das zeigte ſich auch anderwärts als bie natürliche
Folge der proteftantifchen Nechtfertigungsiehre. Es war
nicht möglich, eine einigermaßen wiflenfchaftlicde Moral
Theologie mit diefer Lehre in Einklang zu bringen, und fo
gab man, fo lange die Herrichaft des auf die Imputation
gebauten Syſtems dauerte, jede Beichäftigung mit der chrifl«
lichen Moral auf.
So bat ſchon Staüdlin?) bemerkt; in Folge ter lu—
therifchen Lehre vom Glauben habe im ganzen 16. Jahrhundert
(und bis 1634) Niemand in der deutſchen evangelifchen Kirche
daran gebacht, die chriftlide Moral als eine befonbere
Wiffenfchaft zu bearbeiten, oder auch nur in ben dogma⸗
tifchen Syſtemen ihre Lehre mit einiger Ausführlichleit ab»
zubandeln. Der erfte, ber ed unternahm, Calixtus, wich
auch fogleich vom Iutherifchen Dogma ab. Die Gejchicht-
Schreiber der Nieverlänpifchen Kirche, Ypey und Dermout,
1) Deutſche Zeitſchrift, I, 187, 188.
?) Geſchichte ber chriſtl. Moral, Göttingen 1808, ©. 285.
— — —- —-- —
269
conſtatiren dieſelbe Thatſache bezüglich der dortigen calvi⸗
niſchen Theologie. Theologiſche, bibliſche Ethik Hatte we—⸗
der in den Univerſitätsvorträgen, noch in der Literatur eine
Stätte. Jeder fürchtete die unansweichliche Colliſion mit
dem Dogma, jeder beforgte, als „Geſetzeslehrer“ im Verruf
zu kommen.) Daher wurden auch alle fpäteren proteſtan⸗
tifchen Doraltheologen, Männer wie Barter, Hammond,
Taylor, Maftriht, la Blacette, Bernd, Arnold,
entfchievene Gegner der proteftantifchen Lehre von der Rechts
| fertigung. Da aber, wo die Xehre herrfchenn geblieben,
gibt e8 eben auch keine Moraltheologie.
Die Furcht vor den ethifch verberblichen Wirkungen
bes calvinifchen Syſtems und die Wahrnehmung ver that.
fächlich eingetretenen Folgen trug wefentlich dazu bei, daß
um die Mitte des vorigen Jahrhunderts der fogenannte
Mopderatismus, eine vem-deutfchen Nationalismus ent-
fprechende Sinnesweife, unter ber Geiftlichleit Schottlands
um fich griff”), wiewohl auch Hier wieder, wie faft immer
in Schottland, der kirchenrechtliche Gegenfat zwiſchen Pa⸗
tronat und Gemeindewahl am meiften bervortrat. Nach
ihrer theologifchen Richtung waren die meiften, dieſer Rich⸗
tung angehörigen Prediger pelaglanifch, felbft focintanifch
3) Geeschiedenis van de hervormde Kerk in Nederland. Breda
1822, II, 409.
2) Köflin in Herzogs Encyklop. XII, 720.
270
gefinnt, doch wurbe bie berfönnnliche Lehre in der Regel
nicht angegriffen, man fuchte ihr nur durch Beſchraͤnkung
der Prebigten auf moralifche Materien auszumeichen, und
machte fich das Joch der calvinifchen Bekenntnißſchriften Teicht.
Die Führer dieſer Schule galten beim Volle für Unglän-
bige; und beim @ottesbienfte pflegte kaum ein Zehntel ber
Gemeinden zu erfcheinen.’)
Segen viefen lange herrſchenden Moderatismus erhob
fih im gegenwärtigen Jahrhundert die Reaktion der „evan⸗
geliſchen“ Bartei, deren geifliger Führer Th. Chalmers
ward. Sie tft nun in bie Treificche übergegangen. Aber
ber ächte alte Dordrechter Calvinismus wird auch jegt von
ber Mehrzahl ver Geiftlichen in beiden Kirchen, der Staats-
fische und ber Freifieche, nicht mehr vorgetragen. Nur uns
ter den „reformirten“ und den „vereinigten Predbhterianern“
berricht er noch.) Doc Hat, nach den Angaben von
Maurice, die mechanifchsbeterminiftifche Lehre des Ameri⸗
faners Jonathan Edwards, welche jede menfchliche
Freiheit und Selbftbeflimmung vor dem Alles allein wirken⸗
ven göttlichen Willen verfchwinden läßt, in Schottland
großen Einfluß geübt. Diefer Einfluß fteht nach der Ber»
) S. die Schilderung aus Hamilton's Autobiography im
Quarterly Review, t, 98, p. 362.
2) S. bie Zeitſchrift: Union, 7. June 1861, p. 856.
271
fiherung von Maurice im Zufammenbang mit dem in
Schottland fo verbreiteten Materialismus. Daß aber ver
alte calvinifhe Glaube der Schottifchen Kirche unwieder⸗
bringlich verloren jet, ift, feinem Zeugniſſe nach, die An⸗
ficht aller einfichtigeren Männer im Lande.) In folcher
Lage der Dinge ift denn an eine willenfchaftliche Theologie
in Schottland nicht zu denken. Die unverföhnlichften
Widerſprüche würden fogleich an ven Zag treten, und bie
Prediger bei dem dort auf alles Kirchliche fo achtjamen
Boll um alled Anfehen bringen. Nur durch bie gänzliche
Abwefenbeit ver Theologie können die brei presbhterianifchen
Gemeinfchaften ihre Exiftenz friften.
In der Jüdiſchen Strenge der Sabbathefeler fuchen
bie Schottifchen Calviniften ihre Englifchen Glaubensver⸗
wanbten noch zu übertreffen. Selbft ein Heiner Spazier⸗
gang am Sonntag gilt für unerlaubt. Um fo ftärler ift
dagegen die Confumtion gebrannter Getränte an dieſem
Tage. Yun den Kirchen Feine Orgel, Fein Altar, Tein Kreuz,
fein Bild, kein Licht.) Im Gottespienfte kein Symbol,
feine Liturgiiche Handlung. Eine religiöfe Poeſie hat ver
Ealvinismus nirgends, am wenigften in Schottland zu er-
zeugen vermocht. Don geiftlichen Liedern, bie man in ben
!) Kingdom of Christ. London 1842, I, 157—160.
?) Hengftenberg’s Kirchenzeitung, Bb. 49, S. 962.
272
Kirchen fingen könnte, iſt nicht die Rebe; nur ein Pſalm
wird gefungen. Wirb es fchon in England als ein bedenk⸗
liher Mangel empfunden, daß es religtöfe Schriften für
das Bolt kaum gibt, fo tritt diefer Mangel in Schottland
noch flärker hervor. Um fo mehr aber hängt das Boll an
ben Lippen ber Prebiger, von denen e8 allein mit veligiöfen
Gedanken und Gefühlen verforgt wird. Es läßt fi das
vollftändige Uebergewicht der Prebigt in dem von allen li
turgifchen Beſtandtheilen entblößten Gottesbienfte gerne ges
fallen, da dieſe Paffinität des bloßen Hörens und Em-
pfangens ftatt der religiöfen Selbftthätigkeit, auf welche ber
Tatholifche Cultus gerichtet ift, feiner Sinnesweiſe zufagt.
Im dem gleichen Intereffe ver Bequemlichkeit und ver Paſ⸗
fivität find bie langen, gewöhnlich eine halbe Stunde bauern-
den Gebete eingeführt worden, welche bei jevem Gottes
bienfte von dent Geiftlichen vorgetragen werben, und in welche
biefer Alles, was fich ihm gerade barbietet, aufnimmt. So
lange es Chriſten gibt, ift wohl bie völlige geiftige Ab⸗
bängigleit der Laien von dem Geiltlichen, bie religiöfe Be⸗
vormunbung nicht fo weit getrieben worben, wie dieß im
Schottland geſchieht. Statt aus feiner Inbivipualität heran,
feiner perfönlichen Lage und Beſchaffenheit gemäß felber zu
Gott zu reben, Überläßt es der Schotte dem Prebiger, ihm
eine halbe Stunde lang vorzufagen, wie er allenfalls beten
tönnte ober follte. Die Einrichtung ift, wenigftens nach
273
dem Gefühle aller Gebildeten, um fo verfehrter, als ber
Geiftliche bei dem gänzlichen Mangel der Beichte von bem
Seelenzuftande und ven Bedürfniſſen ver Laien in ver Regel
feine nähere Kenntniß hat. Die fehr lebendig und au⸗
ſchaulich gefchriebene Schrift eines berühmten und ernſtre⸗
ligidſen Schottifchen Nechtögelehrten, H. Home Lord Ka⸗
mes’), entwirft eine Schilverung der enblofen Mifbräuche,
der Abfurbitäten und Blafphemien, vie hiebei mit unters
laufen. Die Nothwendigkeit des langen öffentlichen Vor⸗
beten® bewirkt natürlich, daß dieſe Gebete fehr häufig nichts
anderes als, in eine Anrede an Gott eingelleivete, Prebigten
find, oder in leeres Geſchwätz und Kohle Phraſen ausarten,
daß der Prediger feine Heinlichen Leivenfchaften und Vor⸗
urtheile den Zuhörern in Gebetsform aufpringt. Der Herzog
von Argihll Hat in feiner Schukfchrift für den Schotti-
ſchen Presbyterianismus zugegeben, daß e8 ein arges Ge⸗
brechen viefe® Kirchenweſens fei, die ganze Andacht der Ge⸗
meinbe jo ganz und gar ver Willlür eines Prebigers preiß«
zugeben.) Die Yolgen hievon find denn auch nicht ausge⸗
blieben. Die Preebpteriantichen Kirchen verlieren mehr
und mehr die höheren und gebildeten Stände bed Landes.
!) A Letter from a Blacksmith to the Ministers and Elders
of the Church of Scotland. Dublin 1759.
?) Presbytery examined. Lond. 1848, p. 802.
9. Döllinger, Papſtthum. 18
274
Der ganze Abel bis auf zwei Yamilien if allmälig in bie
bifchöfliche Kirche eingetreten, vie nebfl der Tatholifchen in
fortwährendem Wachfen begriffen iſt, und groß ift bie Zahl
derer, die, ven gebilbeten Aaſſen angebörig, zwar nicht ans
der Staatslirche förmlich austreten, wohl aber Site in ben
biſchoflichen Kapellen mietben, um boch flatt ver jebe® eblere
Gefühl verlegennen Declamationen und für Gebet ſich aus⸗
gebenven Phraſen ungebilbeter over halbgebildeter geiftlicher
Sprecher am Sonntage vie wärbevollen Formeln der bis
fchöflichen Liturgie zu bören.')
Serner wirb bie feltne und würbelofe Feier des Abend⸗
mahls al8 ein abftoßenber Uebelftanp empfunden. Sie ift
zu einem theatraliſch fich ausnehmenven Effect» Stüd ges
macht worben, wobet bie lange Vorbereitung burch mehrere
fich ablöfende Prebiger die Hauptſache iſt. Das Gebränge
der ab» und zugehenden Gäfte, bie au langen Tafeln fiten,
während Brod und Wein in verſchiedenen Schüfleln und
Bechern berumgereicht wirb, nnd viele Zuſchauer bie Kirche
füllen, vie dabei ftattfindende Unruhe und Verwirrung
ſchildert Lord Kames mit grellen Farben. Bei ber ge»
ringen Vorftellung, welche Schottifche wie Englifche Calvi⸗
niften fi von dem Inhalte des Abendmahls zu machen
1) ©. hieriber den Artikel im Edinburgh Review: John Knox’s
Liturgy, t. 95, p. 477 as.
—
pflegen, ſoll dieß ſpannende Pathos der in tobender Aufe
regung ſich überbietenden Prediger die Dirftigkeit ver
Handlung ſelbſt erſetzen.
Auch das Begräbniß entſpricht in Schottland jeuer ri⸗
tuellen Armuth und Verfchmähung alles Symboliſchen, vie
ber Herzog von Arghll beklagt. Als Wesleh in Schottlanb
war, fiel ihm ver Gegenſatz zwifchen dem Englifchen und
dem Schottifchen Begräbniffe auf. Wenn pa, fagt ex, ein
Sarg in die Erde verfcharrt werde, ohne ein einziges da⸗
bei geiprochenes Wort, fo erinnere ihn dieß an die Worte
der Schrift von dem Eſelsbegräbniß Iehotakiıne.')
Die Freilirche, beren Zrennung von der Stantslirche
im Sahre 1843 begann, und bie num ein Drittheil ver Be⸗
völferung umfaßt, hat eiue beivunderungswürbige Kraft un
Thaͤtigkeit entwidell. Sie bat in 17 Jahren über 800
Lirchen und eine entfprechenve Zahl von Pfarrhäufern und
Schulen aus freiwilligen Beiträgen gebaut, unb ihren Pre⸗
digern anfehnlihe Gehalte ausgeworfen. ‘Die früheren
Secefjionen haben fich großentheil® unter einander vereinigt,
fo daß jett drei Presbhterianifche Kirchen, die Staatslirche,
die Freie und bie Unirte, neben einander ſtehen. Hiezu
fommen nun aber bie Inbepenbenten, welche bort gegen
100, zum Theil freilich Heine, Gemeinden haben. In Meineren
1) Bouthey’s Life of Wesley, Il, 248.
18*
216
Dimenfionen exiſtiren Baptiiten, Methobiften boppelter
Dualttät, Glaffiten, Unitarier, Quaͤler. Yüngft ift noch
eine neue ziemlich verbreitete Sekte, bie ber Morifonianer,
binzugelonmmen, bie im Gegenſatz gegen ben Calvinismus
die Univerfalität der Erlöfung lehren.) So ift venn Schott-
land eines ber kirchlich zerriffenften Länder in Europa, und
wird hierin nur von Amerika übertroffen.
Die bifchöfliche Kirche Hat demnach in Schottland günftige
Ausfichten. Früher galt fie und ihre Gottesdienſtordnung
als „mobificirter Gößenbienft.” Um fie mit dem Schwerte
auszurotten, hatten bie Schotten den Eovenant aufgerichtet.
Als über die politifche Union Schottlands mit England ver-
handelt wurbe, gieng bie Schottifche Kirche das Parlament
zu Edinburg mit einer Betition an: wenn fle nicht ſchwere
Schuld anf fi) und die Nation laden wollten, fo vürften
fie nie einwilligen, daß die Verfafjung und die Ceremonien
der Kirche von England in England felbft zu geſetzlichem
Beftande gelangten.) Noch viel weniger Tonnte mau nas
türlich den Gedanken einer Dulpung dieſer Kirche auf Schotti«
ſchem Boden ertragen. uf die Nachricht von dem Tode der
Königin Anua im Jahre 1714 warb denn auch fofort pie bifchöf-
liche Kapelle in Glasgow zerftört. Seitdem aber dieſe Kirche
vollftändige Freiheit erlangt, Hat auch in ben legten Jahren
) Union, Decb., 14., 1860, p. 188.
?) Edinburgh Review, t. 26, p. 55.
_ 2 _
burch Errichtung einiger guten Schulen und des Eollegiums von
Glenalmond, durch Erbauung ber Kathedrale von Bertb, Br-
weifeihrer Kraft gegeben. Aber jüngft ift das Parteienweſen,
ber dogmatifche Gegenfak und bie Ziwietracht auch in ihrem
Schooße zum Ausbruch gelommen, und man ift nun, wie eine
Zeitfchrift kürzlich fagte, in dieſer Kirche mit allen Kräften und
Mitteln thätig, das nieberzureißen, was man aufbauen folfte.*)
Lord Clarendon fagte feiner Zeit (1660) von ben
Schotten: ihre ganze Religion beftebe in ver Verabfcheuung
bes Papftthume.”) Daß der „PBapft der Antichrift, der
Menſch der Sünde und das Kind des Verderbens“, und
folglid Alle, die ihm anhängen, verloren ſeien, ift da, wo
der Achte Calvinismus berrichte, ſtets als Glaubensartikel
betrachtet worden, und ſteht in ber Weſtminſterconfeſſiou.
Alle Haffen und Behörden, die Hirchlichen wie bie weltlichen,
haben denn auch jeit dem Siege ver Reformation eifrig zu-
ſammengewirkt, die Tatholifche Religion zu vertilgen. Es
ift indeß nicht gelungen. Noch im Jahre 1700 wurbe je
dem Priefter, der aus der Berbannung rückkehren wärbe,
bie Zobesftrafe angelünbigt; fiebzigjährige Greife ließ man,
weil fie den armen katholiſchen Hochlaͤndern hatten bienen
!) Eoclesiastio, Febr. 1860, p. 50.
2) Die Orforber Herausgeber haben bieß gemilbert in: a great
part of their religion. ©. Edinb. Review, t. 44, p. 88.
278
wollen, in ungefunben Kerkern langſam verſchmachten.)
Die alte Kirche erhielt fich dennoch, fie bat fich in jüngfter
Zeit, namentlich durch Seife Einwanderung, anfehnlich
vermehrt, und ihre Kirchen und Kapellen find von 87 im
Jahre 1848 auf 183 im Jahre 1859 geftiegen.
j f. Die Kirchen in Hollant.
Die reformirte Kirche in ben Nieberlanden umfaßt
etwa die Hälfte ver Bevölkerung. Sie zählte im Jahre
1866 1,668,443 Mitgliever. (Die Gefammtzahl ver Be
vblkerung betrug im Jahre 1859: 3,348,747 Seelen.)
Neben ihr fteht vie Tatholifche Kirche mit 1,164,142 Seelen.
Dazu kommen gegen 600,000 (in zwei Selten gejpaltene)
Lutberaner, 38,000 Mennoniten, 42,000 Separatiften, 5000
-Remonftranten. Zwei Fünftel find alfo katholiſch. Zwei
‚ber eilf Provinzen find faft ganz Tatholifch, drei faft ganz
proteftantifeh. Indeß hat der Calviniemus noch bie Tradi⸗
tion - ehemaliger Herrfchaft. Und obgleich das calvinifche
Dogma, die Dordrechter Orthodoxie, aus dem Bewußtfein
der großen Mehrzahl ganz entſchwunden, hat doch die cal-
viniſche Antipathie gegen bie Katholiken fich erhalten, fo
daß beide Eonfefflonen dort fchroffer getrennt find, feind-
licher fich gegenüber ftehen, als dieß in Deutſchland ver
Fall iſt.
1) Chambers: Domestic Annals of Scotland, Il, 205.
279
Die eue Drganifation der reformirten Kirche im Jahre
1816 Hatte, fchon im Widerſpruche mit den äfteren calvini⸗
ſchen Prineipien durch den König eingeführt, der Staatsge⸗
walt großen, nach der Anficht Vieler, allzugroßen Einfluß
auf die Firchlichen Angelegenheiten eingeräumt.
Allein durch die neue Verfaffung von 1862 iſt der re
formirten Kirche die größte Freiheit und Selbſtſtändigkeit
der Bewegung eingeräumt. Die oberfte Gewalt ruht in
der freigewählten Generalſhnode, und ihre Befchläffe unter-
liegen feinem Lönigfichen Place. Das Einzige faft, was
man bort noch auszufegen findet, tft, daß die Profefforen
ber Theologie ohne Mitwirkung ver Kirche von der Res
gierung ernannt werben.)
Der Calvinismus hat in Holland ben großen Vortheil,
daß er mit den biftorifchen Erinnerungen, auf welche ber
Niederländer vorzüglich ftolz zu fein pflegt, enge verflochten
ft. Der Kampf gegen die Spanifche Herrfchaft war zu⸗
gleich ein Kampf für die proteftantifche Sache, und mit ber
Gründung der Hollänbifchen Nepublit erfolgte auch die
Gründung ber reformirten Kirche.
Holland ift längere Zeit das Haffifche Land des Achten
Calvinismus geweſen. Die Kämpfe zwiſchen Lutherthum
1) Xxpossé historique de l’6tat de l'églias ref. des Pays-bas.
Amsterd. 1865, p. 28.
— _
und Calvinismus in Deutſchland haben auf die innere Ent-
wicklung ber reformirten Kirchen überhaupt geringen over
feinen Einfluß geübt, aber die Ausftoffung des Arminia⸗
nismus, die durch biefen Streit berbeigeführte Fixirung und
Abſchließung der calvinifchen Lehre von Gnade, Erwählung,
Rechtfertigung, dieß ift das wichtigfte Ereigniß in ber
ganzen früheren Gefchichte des reformirten Proteſtantismus;
bie Dorbrechter Synode ift der Glanzpunlt biefer Ge⸗
fchichte, und bie Hollänbifche Kirche ift es, in deren Schooße,
mit deren Kräften dieſe Schlachten gefchlagen, dieſe Beſitz⸗
thümer errungen wurben.')
Aber von diefer Höhe des calviniichen Ruhmes iſt bie
Hollänbifche Kirche Längft berabgeftiegen. In Gngland,
Schottland, Nordamerika gibt es noch Anhänger der fünf
Artikel; in der Heimath derſelben ift das Geſchlecht Dor⸗
drechter Bekenner unter den Geiſtlichen, wenn nicht ausge⸗
ſtorben, doch zu einer kleinen Schaar zuſammengeſchmolzen.
) So auch jüngſt Merle d’Aubignd: Quand estoe que
V’Eglise de Hollande a éto triomphante et glorieuse? Quand
a-t-elle marched & 1a töte de toutes les dglises de la Chre-
tient6? c'est lorsqu'il lui fut donnd de porter dans les murs
de Dordrecht le plus complet, le plus magnifique t6moi-
gnage, qu’il ait jamais dtd permis aux hommes de rendre
& la gräce de Jdsus-Christ. of. Groen de Prinsterer,
le Parti antirdvol. et oonfessionnel. p. 18.
281
Drei oder auch vier Parteien laffen fich unter ben
Geiftlichen untericheiven, und jebe weicht in ihrer Anfigt
vom Chriftenthume weit vom ber andern ab.
Die Gröninger Schule, deren theologiſches Haupt
Hofftede de Groot ift, war noch vor kurzer Zeit bie
zahlreichſte. Sie würde nach beutfcher Bezeichnung ratio⸗
naliftifch zu nennen fein; nur daß der Titel „Rationalift”
in Holland als Schimpfwort gilt.‘) Ihr ift Chriſtus ein
potenzirter Sokrates, der fich weile an beſtehende Vorſtel⸗
kungen anbequemt bat, und Heinen Anfpruch auf abfolute
Wahrheit feiner Lehre machen Tann. Alle chriftlichen Haupt⸗
Lehren Löfen fich fonach in vergängliche Zeitporftellungen
auf. ine Kirche mit fefter, die Geiftlichen bindender Lehre
iſt diefer Partei ein Greuel.‘)
Momentan iſt es inveß die Leidener Schule mit
Profefior Schalten an ver Spike, welche im Klerus das
Uebergewicht Bat, ober zu erlangen verfpricht, unb zu ber
bie meiften jüngeren Theologen zählen. Viele halten ihren
Geiſt für fchäplicher noch, als den der Gröninger Theo⸗
logie, weil ber verhüllte Nationalismus und Pantheismus
der Leidner ſich das Anſehen einer tieferen fpeculativen Be-
gränbung des caloinifchen Syſtems ver unbebingten Prä-
!) Mehner’s Kirchenzeitung, 1861, ©. 163.
2) Ehantepie de la Sauffaye in ber bentfchen Zeitfchrift für
heiftt. Wiffenfchaft, 1866, ©. 200.
*
deftination gebe, während in ber That bie ganze Theologie
biefer Schule zuletzt zn einer Verflüchtigung und Auflöfung
der Berfönlichteit, ver göttlichen wie ber menfchlichen, fährt.
Bon den Theologen zu Utrecht und ihren Sängern
wird Dagegen gerühmt, daß fie, wenn auch nicht calviniſch
orthodox, doch chriftlich confervativer feten, als vie beiden
andern Schulen. Die confeffionelte Partei unter Groen
van Brinfterer, auf den Univerfitäten nicht vertreten,
nennt ſich die hriftlich Hiftorifche, fie vertritt das gute
Hecht des Achten, mit ver Gefchichte des Landes enge ver⸗
wachfenen Calvinismus, begehrt von ber Staatögewalt, fle
ſolle die alten Belenntniß- Schriften zwangsweiſe aufrecht
erhalten, von der Kirchenbebörbe, fie folle keine Abweichung
bei den Predigern dulden, klagt aber zugleih über ihre
Schwäche, über das Scheitern ihrer kürzlich gemachten Ver⸗
fuche, über ven Abfall ihrer Freunde, und befenut ver-
zweifelnd, es jei, für jetzt meinbeftend, unmöglich, gegen bie
unter ben Proteftanten herrſchende Eonfufion ein Heilmittel
zu finden.) Was Groen nicht fehen will, fehen indeß
Andre Kar genug: der dogmatiſche Calviniemus bes 16. umb
17. Jahrhunderts iſt in Holland, wie andertpärts, an ber
Theologie geftorben, und jede Wieberbelebung vesfelben
müßte mit der Unterdrückung ber Theologie beginnen.
) Groen, le Parti antirevol, p. 108, of Pref., p. 1.
283
Der Nieberländifche Klerus Kat ſich denn auch das
Joch der Belenntnißfchriften beften® erleichtert. Die wich
tigfte Erflärung über biefen Gegenftand ift der Beſchluß
der Generalſhnode von 1854: „Da e8 doch unmöglich et,
auch in dem Fürzeften Glaubensbelenntniſſe, alle Meinungen
und Wünfche zu vereinigen, fo gebe die Kirche Abweichungen
von den fumbolifchen Schriften frei; nur folle man das
Weſen: Ehrfurcht vor der heiligen Schrift und Glauben
an ben Seligmacher der Sünder, feſthalten.)“
Damit iſt denn für die Freiheit der Paftoren, nach
Gutdünken zu lehren, trefflich geforgt, vie Freiheit der Ge⸗
meinden dagegen, fich Leinen ungläubigen oder irrgläubigen
Prediger aufbringen zu laffen, iſt völlig illuſoriſch, und in
Faͤllen der letzten Sabre, in welchen die Gemeinde gegen
einen Paſtor Proteft erhoben, hat dieſer jedesmal geflegt.*)
Die Gemeinden werden wie „Heerden“ behandelt, fagt
Chantepie, die Tyrannei ift vollftändig. MWeberbieß tft
kürzlich die bisherige Verpflichtung, über ben Beibelberger
Katechismus zu prebigen, von der Shnode abgeichafft, und
damit das legte confefitonelle Band zerriffen worden.
Gegenwärtig, fagt Molenaar, lehrt und prebigt je
ber, was er will. Gleichwohl redet die jährlich zufammen-
) Berl. proteft. Rirdegeitung, 1854, S. 846.
?) Chantepie de la’ Saussaye: La Crise relig. en Hol-
lande. Leyde, 1860, p. 67.
284
tretende Synode und die jhnobale Commiſſion von der
„Lehre unfrer Kirche”; bie General⸗Synode aber gibt auf
alle Anfragen über bie Lehre der Kirche und das Bekennt⸗
niß abweifende oder ausweichende Antworten.) Die Ein«
heit der Nieberlänbifchen Kirche beiteht nach Groen’&
Yeußerung nur noch darin, daß alle ihre Prediger aus der⸗
jelben Kaffe bezahlt werden, und man follte dieſes Chaos,
meint er, nicht mehr Kirche nennen.)
Die Unzufriedenheit mit der beftehenden Kirche, ihrer
Betenntnißlofigteit, ihrem allgemeinen Abfalle von ven
Lehren der Reformationszeit und ihrem gänzlichen Mangel
an Disciplin Bat feit 1838 unter der Leitung der Prebiger
de Eod und Scholte zur Bildung einer getrennten Kirche
geführt, die in einer Anzahl von Heinen Gemeinden über
das ganze Land zerſtreut iſt. Im Jahre 1863 wurde ihre
Zahl auf 42,000 angegeben. Aber auch unter ihnen iſt bes
reits eine Spaltung über eine calvinifche Hauptlehre (von
dem fteten Bewußtfein des eignen Glaubens als weſentlichem
Zeichen ver Erwählung) ausgebrochen ?), und regen fich noch
andre Zwiftigleiten. Abgeſondert von den „Coccianern”, wie
biefe genannt werben, fowie von ber Staatskirche befteht
1) Beknopte Opgaaf van de verschillende Gevoelens etc.
Gravenhage 1856, p. 88—92.
?) Le Parti antirdvolutionnaire, p. 106.
) Reuter'e Repertorium, Bd. 86, ©. 147.
BR...
noch eine kleinere Kirchengemeinfchaft von etwa breißig Ge⸗
meinden unter bem Kreuze.“
Auch in Holland befteht faft der ganze Gottesbienft in
ber meift fehr langen und Häufig abgelefenen Prebigt; das
Abendmahl wirb, wie in andern calvinifchen Kirchen, nur alle
Bierteljahre gehalten, und ver Religions unterricht ber Jugend
von der Bequemlichkeit der Prebiger ven „Eatechifirmeiftern”,
welche dabei noch ein Handwerk zu treiben pflegen, über»
loffen. Wie in Schottlanp tft auch in ben Nieberlanven,
wenigftens in mehreren Provinzen, das Begräbniß fein re-
figidfer Alt, fo daß Todesfaͤlle dem Geiftlichen nicht einmal
angezeigt werben.) Der Gebrauch, die Plaͤtze in den Kir-
hen zu vermietben, bat auch bier die Ausſchließung ber
Aermeren aus den Kirchen zur Folge, um fo mehr als bie
Zahl der Kirchen auffallend, gering ift. Nottertam 3. B.
bat mit 104,000 Einwohnern nur vier Kirchen. Gibt fich
in dieſen Verbältniffen ein Mangel an religiöfem Sinne
fund, fo tft anbrerfeitS das proteftantifhe Bewußtjein nach
feiner negativen Seite um fo lebendiger und fräftiger.
Schon der Engliſche Biſchof Burnet bemerkte zu feiner
Zeit: „Die Hauptfache, welche die Prebiger in Holland
ihrem Volle einflößten, fei Abſcheu gegen bie Arminianifche
Lehre; daran fei ihnen mehr gelegen, als an ven font wich⸗
) Gsbel'so ref. Kirchenzeitung, 1855, ©. 266.
— ⸗
tigſten Materien.““) Jetzt find bie Arminianer zu einem
Heinen, ſchwachen Häufchen zuſammengeſchmolzen, und bie
große Mehrzahl des Kerus der reformirten Kirche denkt
theils Arminianiſch, theils gebt fie noch weit über ven alten
Arminianismus hinaus. Dafür find jet vie fehr zahlreichen
und nach langer Unterbrüdung rechtlich ben BProteftanten
gleich geftelften Katholiken das Ziel der meiſten Augriffe.
Schon Niebuhr Hat bemerft, daß ein „Techtglänbiger“
Calviniſt in der Ueberzeugung von feiner perfönlichen Er⸗
wählung (und von der Berwerfung Andersgläubiger) der
unverfähnlichfte Gegner ſei. Man bürfe, jagt er im Jahre
1808, gegen einen folchen ‚ven großen Dichter Vondel,
ben einzigen Dichter, der der Nation Ehre, und zwar uns
fterbliche Ehre, mache, nicht nennen, weil er Tatholifch ges
worden fei.?)
Seitdem iſt die Whneigung natürlich noch geftiegen,
befonders Hat bie Organifation ver Tatholifchen Bisthünter
tn Jahre 1858, in ähnlicher Weije wie zwei Jahre vorher
in England, einen von ben Ranzeln forgfältig genäbrten
Sturm bes Unmwillens erregt, das Minifterium mußte wel
hen, Groen und bie Seinigen fchmeichelten fich mit einem
großen proteflantifchen Auffchwung des Landes. Zuletzt warb
') History of his own Time. Fol ed. I, 689.
2) Nachgelaffene Echriften, S. 289. Vergl. die ſtarke Schifberung
des Holländ. Fanatiomus, S. 266,
387
aber doch nichts erreicht, als daß fich fünf Gefellichaften
bibeten, theils um die Katholiken zum Proteftantiemus zu
bekehren, theils um fie im bürgerlichen Leben möglichft zu⸗
rüdzubrängen. Das religidfe Leben ver Proteftanten bat
feinen Gewinn aus der großen Wgitation gezogen und bie
Zertlüftung ihrer Kirche tft nach wie vor gleich groß.
So lauten denn die Urtbeile Über den gegenwärtigen
Stand und die künftigen Ausfichten ber reformirten Kirche
in Holland büfter und troftlo8 genug. Von 1500 Predi⸗
gern, wurde kürzlich öffentlich behauptet, feien 1400 Unis
tarier oder Socinianer.) „Hält der gegenwärtige Zuſtand
an, fagt der Prebiger Chantepie, fo lann bie reformirte
Kirche ihrer Beftimmung (der Hauptdamm gegen die Herr-
ſchaft der Principien der Revolution zu fein), unmöglich ges
nügen, fonbern läßt, felbft in der Auflöfung begriffen, ben
auflöfenden und zerftörenden Kräften freien Lauf.”*) Nicht
minder büfter lautet bie jüngfte Schilderung biefer Zuftänbe,
die mit den Worten fchließt: „Die Todeswaſſer bed Un⸗
glanbens in Nationalismus, PBantheismus und Materia⸗
lomus burchfidern und durchfreſſen wie in Dentichland, fo
auch in Holland die, Familie, Staat und Kirche fchligen-
den Dämme.“’) Rath und Hilfe weiß Niemand, bie Krank⸗
1) Mefiner’s Kicchenzeitnng 1860, S. 541.
7) Deutfche Zeitfhrift 1855, &. 206.
3) In Meßner's Kirchenzeitung 1861, 16. März.
— _
beit Bat ihren Sig mehr noch im Kierus als im Bolle
es fehlt das Band des gemeinfamen Glaubens und ver
feften Lehre, und man kann in diefer Beziehung vie Lage
in drei kurzen Sägen bezeichnen: -
1. Ohne eineNorm ver Lehre in autoritativen Bekenntniß⸗
Schriften kann die Kirche auf die Dauer nicht beftehen.
2. Die alten Belenntniß-Schriften find nicht zu alten,
find allgemein aufgegeben.
3. Neue Belenntniffe zu machen, ift unmöglich.
g. Die proteftantifhen Kirchen in Frankreich.
Die reformirte, ihrem Urſprunge nach calviniſche Kirche
genießt in Fraukreich bedeutende Vortheile. Sie bewegt
fih in Allem, was ihre Lehre und ihr kirchliches Leben be
trifft, mit ver volfftänbigften Freiheit, die fie nur wünfchen
kann; fie hat für fich das Präftigium eines faft ein Jahr⸗
bunbert lang (bi8 auf Ludwig XVI.) erbulveten Drudes
und einer fchweren, mitunter blutigen Verfolgung. Durch
die Revolution von 1789 ift fie weit weniger beſchädigt
worben, als bie Tatholifche Kirche, vie fich dort noch Tange
nicht von den damals gegen fie geführten Keulenfchlägen erholt
bat, vielmehr noch jekt an ben empfangenen Wunden bintet.
Im Vergleiche damit wurde der Proteftantiemus von
ber Revolution fehr fchonend behandelt, mitunter als Bundes
genoſſe begünftigt.
Bei einer verhältnigmäßig fo Heinen, in-ber großen ka⸗
tholiſchen Maffe zerftreuten und überall von ihr umfluthe-
ten &emeinfchaft ift natürlich das Bewußtſein ftets wach
und lebendig, daß bie fpecifiich proteftantiichen Ideen und
der fcharfe Gegenſatz gegen alle® Katholiſche in Lehre und
Uebung das Lebensprincip dieſer Kirche fei, ohne beffen
Fefthalten fie unaufhaltfam von ver großen Kirche aufge»
fogen werben würde. Daß ber franzöfifche Geiſt blatholiſch
fei, fagen auch vie bortigen Proteftanten; „das Gefühl, daß
bem fo fei, beberricht die evangelifche Kirche Frankreiché,
fchreibt ein deutſcher Berichterftatter aus Paris, fie fühlt
fih als eine Ausnahme von der Regel.” ’) Aber um fo
fefter, folite man erwarten, werde alles Proteftantiiche fich
um feine Fahne fammeln, fich zufammenfchließen, und nicht
blos verneinend, fondern auch mit einem pofitiven Belennt-
niffe der katholiſchen Kirche entgegentreten.
Inſoweit nun Taffen fi) allerdings die naturgemäßen
Wirkungen diefer Stellung nicht verlennen, als von irgend
einer Annäherung an katholiſche Lehren, Vorftellungen, Ein-
richtungen und Obſervanzen bei ven franzöſiſchen Proteftanten
nicht die letfefte Spur ſich findet. Nicht ein einziger fran-
zöftfcher Theologe oder PBrebiger ift, fo viel ich weiß, auch
nur in den Verdacht gerathen, ähnlich gefinnt zu fein, wie
1) Sengftenberg’3 Kirchengeitung, 1851, ©. 866
v. Dillinger, Papſtihum. 19
Re
bie zahlreichen Tractarianer ober Anglofatholifcheri in Eng⸗
land. In Frankreich find fie in dieſem Sinne Alle ausge⸗
zeichnet gute und fefte Proteſtanten. Auch laſſen fie fich
durch bie Verſchiedenheit ver Richtungen, durch den mannig-
fach geitalteten Kampf tm Schooße der eignen Communität
nicht hindern, den Tatholifchen Gegner mit vereinten Kräften
zu befehben. Seinem Chriftusgläubigen Proteftanten wird,
wenn er Prebiger if, der Gebanfe kommen, daß ihm ber
gläubige Katholik näher ftehe, als der ungläubige ober ratior
naliſtiſche Kirchengenoſſe.
Gleichwohl iſt die innere Uneinigkeit und Zerfahrenheit
unter den franzöftichen Proteftanten auffallend groß, und
an irgend ein gemeinfchaftliches dogmatiſches Beſitzthum,
eine feftftehende Lehre iſt bier fo wenig als in Holland zu
denken. Dieß Hat zum großen Theil feine Urfachen in ver
früheren Gefchichte dieſer Kirche. Unter allen proteftanti-
chen Genoffenfchaften, calviniſchen wie lutheriſchen — von
der Englifchen Kirche ift Hier abzuſehen — war die fran-
zöfiiche bie erfle, in welcher ver Zerfekungsproceß ber pro
teftantiichen Hauptlehren ſich vollzog. Schon vor 1686,
aljio ehe die große protejtantifche Answanberung begann,
hatten die bedeutenbften Theologen, Männer wie&ameron,
Drelincourt, Meftrezat, Daills, Teftard, Any
rault, Leblanc de Beaulien, Iurieu, La PBlacette,
bie alte Rechtfertigungstehre und bie von ihrer Kirche ans
291
fänglicd angenommenen Dorbrechter Artikel als unbaltbar
aufgegeben, hatten auch In Holland, wo nach dem Wider⸗
ruf des Edilts von Nantes Viele non ihnen ein Aſyl ges
funden, zur Untergrabung bed bortigen Ealviniemus we⸗
fentlich mitgewirtt. So war bie alte calsinifche Tradition
des fTranzöfifchen Broteftantismus fchon feit Ende des 17.
Jahrhunderts unterbrochen, und nie ift eine Wieberbelebung
des urfpränglichen Calvinismus erfolgt. Der neuere fran⸗
zoͤſiſche Pro teſtautismus, wie er fich feit etwa fünfzig Jahren
geftaltet, Hat eine bogmatifche Antnüpfung an bie Hiftorifche
Bergangenheit nie .verfucht, und Adolf Monod, auf bie
Anklage feines Eonfiftoriums in Lyon abgefett, biieb ber
einzige, der bie fortbauernde Gültigleit der alten Confeſfion
von La Nochelle behauptete. Die große Mehrzahl der Geiſt⸗
lichen erflärte fich im Jahre 1849 gegen dieſes Belenntniß,
und wollte und will in der That gar kein Bekenntniß, wie
benn die ganze reformirte Kirche Frankreichs auch feine
Theologie bat. Die Werte ber älteren Theologen find völlig
vergeffen, eine neue tbeologifche Kiteratur hat fich nicht ge-
bildet, und bie theologiichen Schriften des deutſchen Prote⸗
ftantiemus haben nur fehr geringen Einfluß erlangt.
Seit dem Yahre 1819 hatte eine „Erweckung“ ſtattge⸗
funden ; da fie nicht auf franzöfifchem Boden eriwuche, ſon⸗
dern aus England und der Schweiz, zum Theil durch me-
thodiſtiſche Mifftionäre eingeführt wurde, nannte man bie
19*
"
292
Erweckten Methodiſten, wie fle iu der franzoͤſiſchen Schweiz
Momiers hießen. Der durch diefe Erweckung in ber fran-
zöfifch proteftantifchen Kirche eingebrungene Methodismus
wird als eine Haupturfache der Schwäche und bes elenven
Zuftandes dieſer Kirche gefchilbert. Ex fei eine das Dogma
zerftörende Sekte; unter dem Vorwand, daß ein Eirchliches
Glaubensbekenntniß eine Form fei, deren das ächte Ehriften-
thum entbehren folle, babe ex die Belenntniffe abgefchafft,
bie Feſttage befettigt, die Communion zu einem bloßen
Liebesmahl herabgeſetzt, ımb nach einzelnen Bekehrungs⸗
Geſchichten eine Methode der Wiedergeburt zugefchnitten.
Der Methodismus untergrabe alle Bande des politifchen wie
firchlicden Gemeindelebens.) So lauten bie Befchufpigungen,
welche Freunde des franzöftfchen Proteftantiemus gegen bie
bortige „evangelifche Bartei”, wie fie fich gerne nennt, erheben.
Seitdem zerfallen die franzöſiſchen Reformirten in bie
zwei fehr ungleichen Abtheilungen ber Gläubigen oder Er⸗
wedten und ber Ungläubigen ober Inbifferenten. Die Pre
Diger werben an einer der drei theologiſchen Schulen zu
Genf, Straßburg ober Montauban gebildet, von denen pie beiden
erften überwiegend rationaliftifch find, bie (eßtere fo gemifcht
iſt, daß nahezu jeder Profeffor eine befondere Richtung vertritt.
Es ift jedoch ein Alterer und ein jüngerer Rattona-
1) Breffel: Zuſtänbe bes Proteſtantiomus in Frankreich. Tübing.
1848, &. 66 fi.
2% R
lismus in Frankreich zu unterfcheiven. -Der ältere, ale
deſſen Repräfentant etva Athanaſe Coquerel in Paris
gelten ınag, läßt der Heiligen Schrift die Bedeutung einer gött-
lichen Offenbarung, verflacht aber, oder leugnet vie einzelnen
Dogmen, und will es vor Allem zu keiner feften, bindenden
Lehre kommen laffen. Er gibt fich entweber mit beftimmten
Dogmen nicht weiter ab, oder verweift fie ganz in bas
Gebiet inbivinuellen Beliebens. Verneinung jeber Antoyität
tft ihm das Wefen des Proteftantiemus. Der neuere Ra-
tionalismus dagegen tft im Wefentlichen der hiſtoriſch⸗kri⸗
tifehe der beutfchen Schulen, oder der deftructive, wie ber
gläubige Proteftantismus fagt, und hat durch die Vermitt⸗
lung ber Straßburger theologifchen Fakultät in Frankreich
Eingang gewonnen. Diefe Richtung wirb auch durch bie
von Colant und Scherer herausgegebene Zeitjchrift, die
einzige wirklich theologifche Zeitichrift des frangdfiichen Pro⸗
teftantiemus, vertreten. Es wird berichtet, daß überhaupt
die feptifche Richtung unter den jüngeren @eiftlichen immer
mehr Anhänger gewinne‘) Selbſt Grandpierre mußvor ber
Berliner Verſammlung gefteben, daß das rationaliftiiche oder
Iatitubinarijche Element vor dem rechtgläubigen vorherrſche,
und bie meiften Paftoren mit ihren Gemeinden fchliefen.?)
1) Mefner’s Kirchenzeitung, 1860, ©. 48.
?) Berhanbiungen ber Berfammlung evangelifcher Eheiften. Berlin,
1867, &. 128.
294
Ans den Kreifen der Erwedten ift allmälig, beſonders
feit 1848, die Diffivenz hervorgegangen. Diefe Treunung
einer Anzahl von Prebigern und Gemeinden hatte ihren
Grund nichtin dem Verhältniffe der Stantslirche zur Staats⸗
Gewalt. An Freiheit dem Staate gegenüber fehlt es ber
franzöfifchereformirten Kirche burchaus nicht; vielmehr ift
ihre Freiheit noch volfftänbiger, als die der Schottifchen
Staatskirche. Der Grund der Trennung lag in bem dog⸗
matifchen Indifferentismus ober Latitubinarismus der großen
Mehrzahl von Geiſtlichen und Laien. Diefer kam in be
ſonders auffälliger Weife zu Tage, als die PBroteftanten
gleich nach der Februar» Revolution 1848, wie ohne Aus
thun fo auch ohne Einfprache der Regierung, zu einer Sy⸗
node zufammentraten. Dan fand bier, daß eine Genoffen-
fchaft, die auf den Namen einer Kirche Anipruch machen
wolle, doch vor Allem eine gemeinfame Lehre befiten, unb
eine Urkunde, ein Bekenntniß diefer Lehre aufzuzeigen im
Stande fein müffe. Gleichwohl war das Ergebniß der
Berathung, daß die ganze Verfamminng die Unmöglichkeit
erfannte, ein Belenntniß aufzuftellen, und das demüthigende
Geſtändniß ablegen mußte, ihre Kirche babe eigentlich feine
gemeinfchaftliche Lehre mehr.) Die alten Belenntnißfchrife
ten gab man allgemein auf, die Aufftellung einer neuen
— —
) Bergl. die ausführliche Darſtellung tu Dengftenberg'e 8. 8,
1849, €. 98 fi.
BR.
Sormel wurbe mit der Phrafe abgelehnt, daß man bie reis
heit ber Kinder Gottes durch Anfftellung einer andern
Autorität als des Wortes Gottes nicht fchmälern wolle.
Dieß fehlen denn doch mehreren Predigern und Laien,
unter denen ber Graf Gaſparin herborragte, ein uner-
träglicher Zuftand, fie befchloffen aus der Staatskirche aus⸗
zutreten, unb evrichteten eine „freie evangelifche Kirche.”
Dreiunbzwanzig Heine Gemeinben bilden nun bie „Union ber
evangelifchen Kirchen Frankreichs.” '). Dieſe Diffiventen,
zufanımen etwa 3000 ober wenig mehr, reichlich mit Geld⸗
mitteln aus England und ber Schweiz unterflägt, haben
nur den Widerwillen gegen die Staatskirche und eine, fehr
verſchiedne Farben und Geftalten annehmenve, &läubigfeit
mit einanber gemein, unb find infofern baptiftifch gefinnt,
als bie Kinder bei ihnen nach dem Belieben ber Eltern
auch ungetauft gelaffen, und erklaͤrte Baptiften bereitwillig
angenommen werben. Es verhält. fih mit biefer „Union“
ohngefähr wie mit der evangelifchen Allianz. Was fie zu-
fammenhält, wiewohl eine vie Einzelnen umfaffende Orga⸗
nifation im Grunde nicht befteht, ift nicht das Pofitine,
nicht ein gemeinfchaftliches Bekenntniß, fondern nur das
Berneinte. Da aber ber Staat die Koften des reformirten
Kicchenwejens trägt, und bie Geiftlidden der Staatskirche
— — — nn
1) Aufgezählt im Annuaire Protestant. Paris 1858, p. 107.
28 _
befolvet, fo bleibt bie auf fremde Mittel angewieſene Se-
ceſſion fehr ſchwach, zumal den Engliſchen und Schweizer»
fhen Gebern mehr daran gelegen ift, daß ihr Geld zur Er
taufung Tatholifcher Proſelhten, als daß es zur Bildung von
Diffiventengemeinben verwandt werbe.
Es erregte faft Verwunderung, baß Adolf Monot,
nach Vinet der beveutenpfte Dann bes franzöfifchen Pro⸗
teftantiemus‘), ohngeachtet feines Calvinismus in ber eta⸗
blirten Kirche bleiben zu wollen erflärte. Freilich rügte er
zugleich bitter das organtfirte Unweſen tiefer Kirche, in der
man „unter der Firma von Toleranz und Freiſinnigkeit nicht
nur bie Verbindlichkeit, ſondern gar die Eriftenz einer po⸗
fitiven Lehre leugne.“?)
Durch die neue Verfaſſung, welche Napoleon III. der
proteftantifchen Kirche des Reiches gab, erhielten die Res
formirten die gewünfchten Presbpteralräthe und die aus
biefen bervorgebenden Eonfiflorien, zugleich aber einen, von
ben Meiften wohl nicht gewünfchten, Gentralsath als oberite
Behörbe. Wieberum regte fih feitvem, wie früher ſchon,
das Verlangen nach einer Beneralfynope, von ver man fich
große Dinge verſprach. Allein die einflufreicheren Pro»
3) Wenn nemli von Guizot, dem Staatsmanne, abgefehen wirb.
2) S. die Schrift: Pourquoi je demeure dans l'église #tablie,
Paris, 1849.
a
teftanten in Paris bemühen fih vielmehr, die Berufung
einer Synode zu hindern; feien ja doch, jagen fie, pie Con⸗
fiftorien fchon fo uneinig'), auf einer allgemeinen Verſamm⸗
lung werbe bie Zwietracht erft recht entbrennen; man werbe
nur den Katholiken das ärgerliche Schanfpiel proteftantifcher
Bielfinnigleit geben, und in ben Hauptfragen boch feine mit
imponirender Majorität gefaßten Beſchlüfſe erzielen.
Es ift natürlih, daß foldde Verhältniffe ernſter ges
finnten Männern die bitterften lagen auspreffen. Erſt in
jüngfter Zeit hieß es: ver gegenwärtige Zuftand fei ein
unerträglicher geworvden.’) Es exijtire feine Behörde, welche
barüber wachen könne, daß bie Beiftlichen nicht unchriftliche
Lehren vortragen. Dan gefteht: die Genoffenfchaft der Re
formirten in Frankreich in ihrer völligen Bekenntnißloſigkeit,
ihrem Mangel an jeber Art von Dieciplin, fei eigentlich
Beine Kirche, fondern nur „eine vom erften Napoleon ges
gründete Erbauungsanftalt für alatholifche Ehriften.” Die
Kirche fei, fagt ein Organ der noch gläubigen Proteftanten?),
anf dem Wege zum Individualismus, der gänzlichen Zer⸗
brödelung in Meinungen und Anfichten der Einzelnen.
) Link. S. 14.
?) Mefiner’s Kirchenzeitung, 1860, ©. 48. Vergl. Hengftenberg’s
Kirch.-3., 1851, &. 984.
3) Die Esperanoe, vebigirt von Graudbpierre.
298
Jedes Eonfiftorium orbinirt Prediger nach Gutbünfen '), der
zu Orbinirende bat nicht etwa feine Webereinftimmung mit
ber Lehre ber Kirche zu bezeugen — bie Kirche bat feine
Lehre — ſondern er überreicht dem Conſiſtorium ein von
ihm verfaßtes Belenntniß, und wirb, wenn bieß ver Bebörbe
gefältt, orbinirt. Bon den Confiftorien aber hörte Liu,
daß nur der vierte Theil chriftlich fei, weil, wo nur Ein
ungläubiger Pfarrer fet, die Aelteften fi fämmtlih an
ihn anfchlößen.:) Und jedes Eonfiftorium bildet eine eigne
)Y Link: Kirchliche Skizzen aus dem evangelifhen Frankreich.
Göttingen, 1855, ©. 22.
?) Auf der Allianz Berfammlung zu Berlin 1867 bat ber Pre⸗
biger Graudpierre von Paris, bemäht, eine möglihfl gäu-
fige Schilderung zu entwerfen, erflärt: „May bürfe wohl bes
baupten, baf von ben taufend proteftantifchen Paſtoren Frank⸗
reihe, von denen 600 reformirt, 800 lutheriſch, 100 Inde⸗
penbenten feien, wenigfiens 5—600 rechtgläubig ſeien (ba
Wort natürlih im Sinne ber Allianz genommen)” Allein bas
officielle, von ber proteftantifhen Behörde ſelbſt herausgegebene
Annusire vom 9. 1858, liefert fehr abweichende Ungaben.
Hienach giebt es 530 reformirte, 253 lutheriſche und etwa 23
Subepenbentenprebiger, zuſammen alſo 806 Prebiger. Hienach
läßt fich auch beurtheilen, ob bie officielle Statiſtik richtig ſei,
welche nach ber Ietsten Zählung 480,507 Reformirte unb 267,825
Lutheraner, allo 748,882 Proteflanten zufammen angibt. Kolb,
Handbuch der vergl. Statiſtik, 2. Aufl, S. 51, meint, biefe Angabe
fi um mehr als bie Hälfte zu gering, und „if geneigt“,
1,300,000 #eformirte und 700,000 Lutheraner anzunehmen.
Das würde benn durchſchnittlich mehr ale 2000 Geelen anf
— ⸗
Kirche, die andern Kirchen gegenüber in gänzlicher Unabhängig⸗
Zeit, in getrennter Haushaltung lebt.')
So find denn die Staatöbefoldung und die Negation
des Katbolifchen noch die ftärfften Bande, welche bie refors
mirte Kirche in Frankreich zufammenhalten. Diefe Kirche
bat Teine Lehre, fein Bekenntniß, Teine Theologie, feine
Diesciplin, und einen Tahlen blos auf die Predigt und einige
Borlefungen des Küfters nebft einem Pfalm- befchräntten
Gottesdienſt.) Niemand kann von ihr ausgefchloffen wer-
den. Niemand kann die Principien angeben, nach benen
fie regiert wird oder fich felbft regiert. Ein beutfcher Be
obachter diefer Zuftände äußert darüber: „Es iſt leider nur
zu wahr, was die Feinde des Proteſtantismus unfrer Kirche
ohne Unterloß zum Vorwurf machen, daß in ihr nichts als
Zerriffenheit und individuelle Willkühr ihr Wefen treiben,
fein anderes Band dieſe Maffe von „Unzufriepnen” zufammen-
balte, als der Proteft, die Negation."?) Seitvem find noch
einen Prediger geben, während in Frankreich notoriſch eine
Menge von Gemeinden höchſtens 2—300 Mitglieber zählt.
Das Annuaire, befjen Herausgeber bei ber Vollſtändigkeit ihrer
ſtatiſtiſchen Notizen ganz genau über die Zahl ihrer Glaubens.
Genoſſen unterrichtet fein müffen, fchweigt, und beftätigt eben
damit bie Nichtigkeit ber Regierunge-Angaben.
3) Breffel. ©. 86.
9) Kienlen in Herzogs Encyhklopädie, IV, 561.
3) Preſſel. &. 85
300 \
andre Phänomene, bie den fortgehenden Zerſetzungsproccß
andeuten, hinzugekommen. Auch die Darbpitifche Sefte,
welche jedes Firchliche Amt und jeden Neft kirchlicher Ord⸗
nung vollends zerftören, und nichts ald vie Privaterbauung
Einzelner oder Einiger übrig laffen will, hat Eingang unter
ben franzöfiichen Proteftanten gefunden. Im Süden, in
ben Gevennen, erhält, wie ſchon Gelzer geſehen Hat'), ein
zerbroͤckelnder Seltengeift die Oberhand, Dudler, Wet»
leyaner, Infpirirte, fogenannte „Konvertirte” oder ſtrenge
Präpeftinatianer, und andre Selten finden Anhang. In
der Gemeinde Eongenies 3. B., nahe bei Nismes, zählte
man vor ein paar Jahren ſechs Selten. „Faßt man, jagt
ein deutſcher Berichterftatter, die Frage nach der kirchlichen
Zukunft in's Auge, fo ift der Anblid ber franzöſiſch⸗pro⸗
teftantischen Kirche ein folder, daß e8 eben fo ſchwer if,
Klarheit dabei zu gewinnen, als die Hoffnung nicht ſinken
zu lafjen.“ ’)
i. Die proteftantifhen Kirchen in der Schweiz.
In der Schweiz verhält fich die proteltantiiche Be⸗
vöfferung zur Tatholifchen in ähnlicher Weife wie in ven
Niederlanden. Auf etwa 1 Millton Katholiten kommen
1) Broteftantifche Briefe aus Sudfraukreich unb Italien. Züsid,
1852, &. Bl.
) Hengſtenberg's K.⸗Ztg. 1851, ©. 982.
301
nahe an 17, Miltion Broteftanten (im Sabre 1850 1,417,916).
Lutherthum iſt Hier unbelannt; bie ganze proteftantifche
Schweiz ift reformirt, iſt oder war wenigftens calvinifch;
ihre Belenntnißfchriften und Normen ver Lehre waren nebft
ber Helvetifchen Gonfeffton der Heidelberger Katechismus,
bie Dordrechter Befchlüffe und vie Conſenſus⸗Formel, Durch
aus ächt calvintiche Schriften. Bern mit 403,000, Züri -
mit 243,000, Waadtland mit 192,000 Proteftanten ') fommen
bei ver Erwägung ber kirchlichen Verhältniffe am meiften
in Betracht. Durch den Vorzug, der zweiten Hauptform
bed Proteſtantiomus das Dafein gegeben, bie erfte Geftal-
tung und Stätte bereitet zu haben, reiht fich die Schweiz
als Haffifcher Boden und Heimath des Proteftantismus an
Dentichland an; Zürich und Genf find in religiöfer Be⸗
ziehung eben fo bebeutend als Wittenberg geworben. Don
ber Plage der Bürftenherrfchaft, bie man fo häufig als bie
Hauptquelle des kirchlichen Verderbens betrachten möchte,
iſt die S chweizeriſche Kirche natürlich ſtets frei geblieben,
fie Hatte es in politifcher Beziehung nur mit republikani⸗
ſchen, früher meift ariftofratifchen Behörven zu thun. Ohn⸗
geachtet der Gleichheit der Lehre tft nie ein Verſuch ges
macht worden, eine proteftantifche Gefammtlicche ber Schweiz
1) Nach der Zählung von 1850 in Kinsler’s kirchl. Statiſtik
ber ref. Schweiz. Züri 1854, ©. 1.
302
berzuftellen. Geiftlichleit und Voll fählten Leinen Xrieb,
tim Kirchlichen über pie kantonale Gränzichelve hinaudjn⸗
gehen, und bie Regierungen wollten fich ihre Tirdhliche
Souverainetät nicht fchmälern laffen.
Gleichwie anderwärts Hatte auch in der Schweiz bie
Reformation die nene Kirche unter pie Herrichaft der Stante-
gewalt geftellt. Die Regierungen festen ſich an die Stelle
ber Biichöfe. Hatte doch fchon Zwingli das Kirchenregis
ment dem Zürcherifchen Rath übertragen. In Bern war
die ftaatliche Beherrſchung der Kirche confequent durchge⸗
führt; fie wurde als ein Zweig des äffentlichen Dienſtes
behandelt, und die Berner Rathsherren beftimmten Lehre
und Ritus, und entfchteven über theologifche Streit⸗
Fragen nach eignem Gutdünken, wenn fie auch den Rath
der Theologen vorher vernahmen. Bon einer beftimmten
rechtlichen Stellung der Kirche dem Staate gegenüber war
demnach feine Nebe'), und ſchon im Sabre 1837 Hatte
Profeſſor Zyro in Bern den Staat angellagt: er habe
die Kirche vermweltlicht und beinahe vernichtet; bie Geiſt⸗
lichen feten Knechte der Neichen und der Machthaber ges
worben.?)
1) Romang in Geher’s Mon. Blättern V, 90.
2) Die evangelifcheref. Kirche, befonder® im Kanton Bern. 1837.
©. 81, 82.
—
Dieſe Herrſchaft über das Kirchliche erbten die neuen,
ſeit 1830 ans den Stürmen der Revolutionsjahre hervor⸗
gegangenen Regierungen. Häufig unter dem Einfluß des
in der Schweiz fo mächtigen Radicalismus ftehend, verbal
ten fie fih im günfligften Falle gegen bie Kirche gleich»
gültig und behandeln fie als eine Pollzeianſtalt.
Die alte Metropole des Ealvinismus, Genf, würde
Calvin heute kaum wieber erfennen. Sie wird mehr und
mehr eine Tatholifche Stadt. ) „Der Glaube unfrer Väter
zahlt nur noch eine Heine Schaar von Belennern in unfrer
Mitte", Hat jüngft Merle d'Aubigné erklärt. Calvin's
Kirche mit beflimmter Lehre und Verfaſſung eriftirt nicht
mehr, fie ift in ben politifchen Newolutionen von 1841 und
1846 gefallen; die neue wird von einem durch die abfolute Mehr»
beit aller Proteftanten erwählten Laten-Confiftorium regiert;
die Glaubensbekenntniſſe find abgefchafft"); die Kirche „gründet
ihren Glauben auf die Bibel, und gefteht jevem das Recht
freier Unterfuchung zu.“) Bel ver Geiftlichleit „berricht
1) Bon ben 83,845 Einwohnern Genf's find jetzt 42,855 ka⸗
tholiſch, 40,266 proteftantiih. Im Jahre 1850 Hatte es
64,146 Einwohner, von benen 34,212 Proteflanten, 29,764
Katholiken waren.
2) Mefiner’s K.⸗Ztg. 1861, S. 202.
3) Genf’s kirchliche und chriftliche Zuſtände, in der Deutſchen Zeit-
ſchrift. I, 248 fi.
304
bie abfolutefte Verwirrung binfichtlicy der Lehre.” ') Unter
dem Einfluſſe des von England aus einbringenden Metho⸗
dismus hat fich in Genf feit 1816 eine „evangelifche Ge⸗
ſellſchaft“, und aus biefer eine „freie Kirche” gebilvet, vie
fih des Bewußtſeins freut, mitten unter dem allgemeinen
Abfall ein Heines Häuflein von Auserwählten zu fein.
Ernjter waren die Vorgänge im Waadtlande. Hier, wo
die Regierung ſchon feit der Neformation und durch biefe
Im Befige volljtändiger Herrfchaft über die Kirche war,
fand pie Mehrheit der Geiftlichen, ald die Gewalt in demo⸗
Iratifche Hände übergegangen war, pas Joch allzu brüdend,
beſonders als der Staatsrath anf einmal 43 Prebiger ab⸗
fegte. Durch Vinet ermuthigt, traten von etwa 250 Geiſt⸗
lichen 180 aus ber Staatsliche aus. Man erfehte fie
burch Andre; und die Ausgetretenen errichteten eine, vom
Volke vielfach angefeinvete, „freie Kirche”, bie es iudeß in
zwanzig Jahren nur aufetwa 3000 Mitglieber in 40 Heinen
Gemeinden gebracht hat.
Dem Berner Volke ift der Heidelberger Katechismus
mit feiner 80. Frage ftetd fo forgfältig eingeprägt worden,
daß es nach dem Zeugniffe feines Pfarrers Romang „kaum
ein fo entfchieven akatholiſches Volt gibt, wie das Bernifche.“*)
1) Genf's kirchliche und chriftliche Zuftänbe, in ber Deutfchen Beits
ſchrift. 1, 258.
?) Gelzer's M.-Bl. V, 194.
806
Um fo leichter war es denn im Jahre 1847, die Agitation
gegen ven Eatholifchen Sonverbund bis zum Religionskrieg
zu fteigeern. Der Zwed wurde erreicht, der Sonderbund
ift vernichtet, aber den Rückſchlag Hatte man wohl nicht
berechnet. Er traf die eigne Kirche. Romang fchildert
nun die nächften Folgen: Zeller’8 Berufung, bie fteigenbe
Gleichgültigkeit des Volles gegen vie Religion, den Berfal
Des Kirchenbeſuchs, die Ohnmacht einer Geiftlichleit ohne
alle corporative Kraft und Autorität, deren Hauptangele⸗
genheit Verforgung zunächſt der eignen Perfon, dann der
Familie fe, und das Hauptübel: den gänzlichen Mangel
‚einer kirchlichen Autorität, welche früher die Regierung und
nur fie allein befeffen und geübt hatte, vie aber bie jeige
vemofratifche Regierung weber in Anfpruch nehmen konnte
noch wollte.
Anhänger ber calvinifchen Lehre gibt e8 unter ben
Geiſtlichen der deutſchen Schweiz längft nicht mehr; auch
in ber franzöfiichen bilden fie Höchftens ein Feines Hänfchen.
Don ven Belenntnißjchriften und von einer dieſen Schriften
gemäßen Lehre ift eigentlich nicht bie Nebe mehr. Ein
Schweizerifcher Theologe bezeugt es rühmend, daß auch bie
Släubigen wenig mehr nach ber Confeſſion fragten, fich
meift um das Inftitut der Kirche nicht fümmerten.‘) In
1) Süder in Gelzer's Monateblättern, VI, 121.
v. Dillinger, Papſtthum. 20
506
den Santonen Zürich, Glarus, St. Ballen, Aargau, Genf,
Waadt, Thurgau, Uppenzell, Baſelland, Neuenburg gilt
feine einzige altproteftantifche Belenntnißfchrift mehr. Im
Waadtland iſt die Abjchaffung ver Helvetiichen Eonfeffion
im Jahre 1839 ganz confequent erfolgt, da nur etwa 9000
Dürger die Beibehaltung, aber 12,000 bie Befeitigung bes
gehrt Hatten. In Bern, Bünbten und Schaffbaufen wirb
ber Geiftliche verpflichtet, nach den Grundſätzen ober
Grundlehren, welde in der Helvetifchen Confeſſion ent-
Balten find, fich zu richten, womit vie Freiheit zu lehren
nur wenig befchräntt if. In St. Gallen verjpricht man,
nad) ber Bibel im Geifte der reformirten Kirche zu prebigen.
Nur in der Stadt Baſel findet noch wirkliche Verpflichtung
ftatt. Die beiden theologifchen Fakultäten in Zürich und
Bern folgen Überwiegend der glaubenslofen und deſtructiven
Richtung. Nur die Schule zu Bafel befigt und lehrt noch
eine poſitiv chriftliche Theologie, freilich eine „Vermittlungs⸗
tbeologie* nach dem Maßſtabe von de Wette's und Dagen-
bach's Schriften.
Die Lage der Schweizerifchen proteftantifchen Kirche
ift fchlimmer als vie anderer Länder; fie leidet an zwei
ſchweren Krankheiten, am Radicalismus des Volles und an
bem Unglauben, ber geiftigen Haltungslofigteit und Zer⸗
fahrenheit der Prebiger. Bei dem Klerus bat fi unter
dem Einfluffe veutfcher Literatur und Theologie der Zer-
307
ſetzungsproceß der kirchlichen Lehre mit ſeinen Folgen voll⸗
zogen, und jeder Prediger pflegt zu lehren, wie es ihm
oder feiner Gemeinde gefällt. Der ältere Rationalismus
ift nicht mehr im Beſitze der Herrichaft‘); aber auch ber
alte pofitive Proteſtantismus findet fich nur bei den „Ge⸗
meindlein in ber Gemeinde.“) Die Mehrheit der Geiſt⸗
fichen Halt ſich natirlih an das, was ihr in Bern
oder Zürih oder Bafel gelehrt worden if. Im Ean-
ton Bern haben die meiften Geiftlichen und bie Firchlichen
Behörven offen für vie glaubenslofe Fakultät Partei ges
nommen. In den Shnoden und andern BVerfammlungen
befinden ſich die gläubig gefinnten Geiftlichen gewöhnlich in
der Minderheit.) Andrerſeits bat der Radikalismus, ber
feit 30 Jahren in ver Schweiz bald ftoßweife durch Revo⸗
Iutionen, bald ftille und allmälig durch die Verbreitung
feiner auflöfenden Grunpfäge zur Herrichaft gelommen, vor
Allem das Tirchliche Gebiet verwüſtet. Man fühlt bieß an
ver Beröbung der Kirchen, der Entfrembung der Schulen,
der Vernichtung des den Geiftlichen fonft zuftehenden Ein-
—fluffes. Der Unglaube ift fchon fo tief in das Volk einges
drangen, daß die Aelteften einer Berniſchen Stadtgemeinde
1) Bfeiffer: Ueber bie Zukunft ber evangelifchen Kirche in ber
Schweiz, St. Gallen 1854, ©. 21.
2) Daſelbſt S. 23.
3) Hengſtenberg's Kirch.⸗Ztg. 1856, ©. 598, 599,
90°
308
bezeugen: unter zehn Haushaltungen fei kaum eine zu
treffen, die noch an Bott und Chriſtus glaube und noch bie
Schrift brauche.) „Nur eine Kirche mit Tatholifcher Orga-
nifation hätte fich, fagt der Prediger Güder, ohne bie
feltenfte Geiftesausgießung wider bie Angriffe behaupten
Tönnen, mit welchen ber Radikalismus und bie rabilale De⸗
mofratie auf dem ſchon zuvor morjchen Boden in bie
Schranken traten.” *)
In dem Generalberichte der Berner Synode vom Jahre
1854 Heißt es: „Wir bürfen es uns nicht länger verhehlen,
unfern Öffentlichen Gottesdienſten fehlt irgend ein großes
Etwas gegenüber den unabweislichen Bebürfniffen des Ge⸗
Ichlechte8 diefer Tage." Um dieſes fehlende große Etwas
zu erlennen, bevarf es nicht etwa, wie ber Bericht meint,
eines neuen Pfingften; es genügt fchon, das Bild, das ein
andrer Schweizerifcher Prebiger von bem bortigen Gottes-
dienjte entworfen Bat, in's Auge zu fallen. Unfer Eultus,
fagt er, ift der einer bloßen Lebrgefellichaft, unſre Kirchen
find Hörfäle mit nadten Wänden ohne Sanctuarium. Und
diefe ſtets gefchloffenen, nur am Sonntage einige Stunden
geöffneten Kirchen find die uns einzig noch gebliebenen
öffentlichen Erinnerungszeihen an unfre Religion. Die
Predigt tft und im Grunde das Eins und Alles bei un-
1) Scher’s Mon.⸗Bl. IV, 149.
2) Gelzer's Mon.-Bl. IV, ©. 124.
ferem Gottesbienfte; das Mebrige ift möglich abgekürzt, auf
ein paar Geſang⸗ Stropben und Gebetsformeln bejchränkt
worben. Nur auf der Kanzel kann der Geiſtliche vor und
zu ber Gemeinde fprechen; vort befindet er ſich während
bes ganzen Gottespienftes. Die ftets fibenbe ober ſtehende,
nie aber. Inteende Gemeinde bat nur zu Hören, läßt fich
nur vorſprechen.)
Diefes Bild ergänzt ein Anberer desfelben Standes
und Landes: Die Geiftlichen, fagt er, find faft nur Redner
auf ver Kanzel, und nicht Hirten in der Gemeinde. Die
Wochen» Bottesbienfte erlöfchen immer mehr. In vielen
Gegenden kommt nicht ein Achtel, nicht ein Zehntel der Be⸗
völferung mehr zur Kirche.“) Man gefteht, es fet mit ber
Religion und Kirche feit geraumer Zeit fortwährend „bergab“
gegangen. Und doch hatte fchon im Jahre 1837 ein angelehener
Theologe und öffentlicher Lehrer über die Kirche und den
Klerus feine® Landes das Urtheil gefällt: „Die Geiftlichkeit
fheint genau das Bild unfrer proteftantifchen Kirche an
fih zu tragen, das Bild der vorherrſchenden einfeitigen Ver⸗
ftändigleit, welche nur „vernünftelt“, und nur jich kennt,
nur das Seine ſucht u. ſ. w."°)
3) Bögelin: Welche Beränderungen und Berbefferungen jollten in
unjerm Eultus vorgenommen werben? Frauenfeld 1887, S. 34 ff.
2) Gelger’s Monatsblätter, IV, 160.
2) Zyro,,bdie Kirche im. Canton Bern. ©. 10%.
310
— — —
Wenn denmach bie Schweizeriſchen Geiſtlichen ſich bei
Verſammlungen über den Zuſtand ihrer Kirchen ausſprechen,
ſo thun fie dieß in einer die Kirche anklagenden, troſtloſen
Stimmung So geſteht Güder auf ver Pariſer Verſamm⸗
lung der Evangeliſchen Allianz im Jahre 1866: Unfre re⸗
figiöfe Lage iſt ſehr demüthigend, ſehr geeignet uns zur
Buße zu treiben.) Bfarrer Meyer äußert in feinem vor
der Berfanmlung der Prediger⸗Geſellſchaft in St. Gallen
1859 erftatteten Berichte: Der Zug ver Zeit gebt nicht zur
Kirche; ex geht an der Kirche vorbei. Daran iſt aber bie
Kirche mit ihren Widerfprüchen ſchuld. Heute befämpft fie
3. DB. die Baptiften und morgen bietet man ihnen auf der
Allianz die Hand. Tie proteftantijche Kirche ift fo groß,
der proteftantifche Kirchengeiſt fo klein.)
Im Jahre 1849 fchrieb Profeffor Ebrard, der mehrere
Yahre in der Schweiz gewirkt Hatte, über viefes Land: „Iu
ber Schweiz fieht ed um bie kirchlichen Berhältniffe traurig
aus. Läfareopapie des fouveränen Volles, das feine Reli⸗
gion fo nnd fo haben will. Im Waadtlande Unterbrüädung
und Berfolgung der freien Kirche, gänzliche Fäulniß ver
Staats - Prebigtauftalt. In den übrigen Kantonen fehlen,
wie mir jüngft ein chriftlicher Freund aus Zürich fchrieb,
1) Conförence de Chretiens Evang. Paris 1856, p. 800.
») Hengſtenberge Kirhemeitung, 1869, ©. 917.
811
zu einer freien Kirche 5108 zwei Kleinigkeiten, Hirten unb
Schafe; an Hunden und Wölfen ift Ueberfluß.“ ')
Die Lage der Beiftlichen in ber proteftantifcehen Schweiz,
der beutfchen fowohl als der franzöfifchen, ift bei ſolchen
Umftänden nicht beneidenswerth. Zu ber religidfen Gleich
gültigleit und ber materialiſtiſchen Geiftesrichtung kommt
für fie die Plage des Seltenwefens hinzu, welches ihnen
hänfig gerabe bie religiös Gefinuten in ben Gemeinden ent⸗
fremdet. Neutäufer, Neugläubige oder Böhmiſten, Autos
nianer, für die es fein Gefeß und keine Sünbe mehr gibt,
Mormonen, Irvingianer, Darbpiten haben da und bort
Eingang gefunden. Doch ift der Volkscharakter und bie
herrſchende Richtung dem Sektenweſen nicht günftig. Schlim⸗
mer für den Klerus iſt es, daß in einigen Cautonen die
Geiſtlichen auf Ruf und Widerruf angeſtellt ſind, oder ſich
nach einigen Jahren einer neuen Wahl unterwerfen müſſen,
aljo gleich ven Diffenterprebigern ganz von ber Gunft der
einflußreicheren Gemeinbeglieber abhängig find. Dazu kom⸗
men noch Klagen über ihre immer trauriger werbenbe na»
terielle Lage, die derartig ift, daß man in ven Tagblättern
vor einiger Zeit die Frage erörtert bat, ob es denn ange-
meſſen fei, daß Pfarrerstächter in öffentlichen Ansfchreibungen
als Hausmägve gefucht würben.')
) Schaff’s Deutſcher Richenframb. Mercereburg 1849. ©. 272.
N) Broteftantifche Kicchenzeitung, 1856, ©. 188,
512
&k.. Die proteftantifhen Denominationen in den
Bereinigten Staaten von Nordamerika.
Keine Staats⸗ oder Volkskirche und dennoch, vorzüglich
in den öftlihen Staaten, allgemeines Bekenntniß zum
Chriſtenthum — dieß ift das erite, was in religiöfer Be
ziehung an Nordamerika auffält. Niemand würde in bies
fem Lande wagen, ſich offen für einen Ungläubigen zu er
Hären; es gehört in den höheren und mittleren reifen zum
guten Tone, zur anftänbigen Haltung des Lebens, Chriſt
zu fein. Es gibt daher auch ober gab bis in die neuefte
Zeit keine Literatur des Atheismus, Pantheismus, Materia⸗
mus. Ueber das ganze Land ift eine religiöſe Atmofphäre
verbreitet, welcher Niemand fich zu entziehen vermag, bie
fih vor Allem kundgibt in der ftrengen Haltung des Sonn-
tags, in der außerordentlich großen Menge der Kirchen ')
und Bethäufer, in dem fleißigen Beſuche derjelben, in ber
energiichen, wettelfernden Tchätigleit der verfchievenen Res
Nigionsparteien, in ihren Anftvengungen für Mifftonen und
in der Menge ber Firchlichen Blätter. Irreligiofität und
Religionsverachtung wird bort nur von den Deutichen zur
Schau getragen, und trägt wieder zu ber Mißachtung bei,
mit welcher der Angloamerikaner auf die Deutſchen herabblickt.
1) Die freilich, nach Löher’s Bemerkung, faft alle nur ausichen
wie Kapellen zum Hausgebraud.
813
Im Weiten freilich, wohin jekt ver Strom ver Aus⸗
wanderung aus Europa fowohl ald aus den öftlichen Staa»
ten Amerilo’8 in vollen Fluthen fich ergießt, da tft es an⸗
dere. Dort find Gegenden, wo über neun Zehntheile der
Bewohner zu gar keiner Kirche gehören, und, ſelbſt unge⸗
touft, auch ihre Kinder weder taufen noch chriftlich unter-
richten laſſen.) Dort antworten Viele auf vie Frage, zu
welcher Kirche fie gehören: „ich gehöre zur großen Kirche“?),
vd. h. als freier Amerifaner glaube ich fo viel oder jo wenig
als mir beliebt, weiß mit meiner Dibel ganz gut allein
fertig zu werben, und bebarf nicht der Krüde einer reli»
giöfen Gejellichaft, nicht der fektifch gefärbten Augengläfer,
purch welche fie ihre Glieder die Bibel zu lefen nöthigt.
Denn die Bibel läßt in der Regel doch jeder Amerikaner
gelten, und auch im Weften find nur die Deutfchen bie
Propheten des offnen Unglaubene.
Der Name der „großen Kirche” ift aber in ver That
Legion, denn bei einer Bevölkerung von jegt 29 Millionen
‚beläuft fich vie Zahl der wirklichen, durch Theilnahme an
der Communton als SKirchengliever erlennbaren Chriften
höchſtens auf 5 Miillionen.’) Jede der größeren Selten
1) Ranſchenbuſch: Die Nacht des Weſtens. Barmen 1847. S. 45.
2) ] belong to tbe big church.
2) Schaff’s Bericht in den Verhandlungen ber Verſammlung
evang. Chriften in Berlin 1857. ©. 234.
814
zerfällt nämlich in zwei Klaſſen, in bie Mehrheit Derjenigen,
welche fich äußerlich zu ihr Halten oder, wie man bort fagt,
„unter ihrem Einfluffe fteben“, ihre Gottesdienſte regel-
mäßig over boch bie und da befuchen; und in bie Minori⸗
tät der wirklichen, vollen Mitglieder. Zieht man bievon
bie Katholilen mit 2,400,000 Seelen ab, fo bleiben etwa
2,600,000 Broteftanten in obhngefähr 70 Selten und De
nominationen, welche vollen Gebrauch von den durch ihre
Selte dargebotenen Religionsmitteln machen.
Demnach ergeben fich 24 Millionen, welche zum heil
ganz religionslos ſind und bleiben, zum Theil aber die Ber-
fanmlungen einer Selte regelmäßig over gelegentlich bes
ſuchen. Bon dieſen find Viele nicht getauft, Alle enthalten
fi natürlich) des Abendmahls, und dieß um fo leichter, als
in ber ganzen proteftantifchen Welt Amerika's die Ziwinge
lifche Anficht von demſelben vorberrfcht. Man Hat zwar
berechnet, daß auf 1000 Berfonen Ein Prebiger komme,
das wirkliche Verhaͤltniß ftellt fich aber ganz anders, deun
die meiften Prediger haben nur ganz kleine Gemeinden.
So haben von den Gemeinden ber Presbpterianer Alter
Schule 1239 nicht mehr ale 50 Mitglieder, 1907 zwiſchen
50 und 100, und nur 736 über 100. Don ven Eongre
gattonaliften Haben 696 Gemeinden bis 50, 1219 bis 100, und
152 über 100, und bieß felbft in den großen Stäbten.')
) Krauſe's Kirchenzeitung, 1866, ©. 480.
315
Die Folge bavon ift große Armuth der Prebiger und ihrer
Samilien, und bie Klage, daß nirgends ber Geiftliche fe
Ichlecht bezahlt fei als in Norbamerita, kann nicht befrem-
den. Wie groß die Zahl der von jeder Religionsübung
fih ferne Haltenden fe, mag man aus der Thatjache er⸗
mefjen, daß in den fämmtlichen Kirchen von New⸗HYork nur
205,580 Berfonen Blat finden, und 638,131 ausgeichloffen
find.) Die mäßigfte Angabe ift, daß über die Hälfte aller
Erwachſenen in Amerika keiner religiöfen Gemeinſchaft ans
geböre.?)
Dieß find die Folgen des Freiwiliigfeits- Principe. So
rächt fi der Mangel einer Nationalkirche. So wirkt bie
Herrichaft des Sektenweſens, und fo muß fie wirken. Denn
wenn Millionen den Eindrud empfangen, daß fie fich ihre
Religion und Kirche aus einer bunten Dienge von Denoe
minationen frei auszuwählen haben, fo werben wohl Einige
fih durch irgend einen zufälligen Umftand bejtimmen laffen,
eine Wahl zu treffen. Die Mehrzahl aber wird dem pein-
lichen Zuftanbe des rathlofen Schwankens durch indifferente
Neutralität ein Ende machen, und fich mit ver Erwägung
berubigen, daß unter fo vielen vorgeblichen Bräuten feine
die rechtmäßige Gemahlin, Alle am Ende nur Sleböweiber
1) Meßner's Kirchenzeitung, 1861, ©. 288.
?) Marshall’s Notes on the Episcopal Polity. London
1844, p. 501.
316
feien, pie keinen Anfpruch auf die Treue und Huldigung
eines freien Mannes zu machen hätten’)
Der Zuſtand des Chriſtenthums in Amerila ift eine
große, ernfte Warnungstafel, und wird es künftig noch mehr
werben. Der Mangel einer Volkskirche, welche jeden fchon
als Säugling empfängt, ihn durch die Taufe fidh einver-
leibt, ihn erziebt und in eine Atmofphäre des gemeinfamen
Lebens verpflanzt — diefer Mangel ift durch nichts zu er-
fegen. Den Zuftand, den Europa felbft nicht verwirklichen
) So erzählt H. Seymour Tremenbeere in feinen Notes
on public Subjects, made during a Tour in the United
States, London 1852, p. 51, auf das Zeugniß bes proteflan-
tischen Pfarrers Edfon zu Lowell bin: Die jungen Leute,
welche al® Arbeiter aus ben benachbarten Staaten nach Powell
zufammenftrömten, feien gewöhnlich obne alle Kenntniß chrif-
licher Lehre und völlig inbifferent bezüglich der Selte, ber fie etwa
angehören möchten, indem fie meinten, baß ja boch alle Religionen
gleich feien; dabei zwar fonft gut unterrichtet, aber fehr lax in
ihren Begriffen von Moral und Pfliht. Bei ben Kindern,
welche einen Religionsunterricht erhalten hatten, fand Epfon,
baß ihnen gewöhnlich Fein einziger Punkt ale auf Autorität be»
rubenb beigebracht worden war, daß man vielmehr alle
Lehren als Ergebniffe inbivibueller Anfichten behandelt, und
fie fo ziemlich dem eignen Ermefien des Kindes an heimgeſtellt
hatte. Dan fieht, daß die Amerikaner doch einigen Sinn für
Conjequenz haben. Ed ſon fügte inbeß bei, biefer gänzlicdhe
Mangel an aller Autorität ſchon in ber Srziehung der Kinber
werbe jebt allgemein als ein fchweres Unheil empfunden.
317
mochte, bat es nach Amerika verpflanzt, denn Amerika iſt
doch nur der Sammelplag aller Selten und Spaltungen
bes proteftantifchen Europa geworben.
Eine der fchlinmften Folgen dieſes Mangels ift gleich
das Amerilanifche Schulſyſtem, von welchem jeder Religions
Unterricht ansgeichloffen iſt. Die Bibel darf zur Lefe-
Mebung gebraucht, aber kein Wort ver Erklärung vom
Lehrer beigefügt, fein Gebet geſprochen werden.) Wenn
das Sektenweſen feinen andern Fluch über Amerika gebracht
Hätte, als ein ſolches Schulfyften, welches die Jugend des
1) Religidss gefinnte Amerikaner Äußern fi) mit ber fchärfften
Mißbilligung und beftigem Umwillen über biefes religionsloſe
Etaatsſchulweſen. Our ten-times helpless, wretched, aud
ruinous Common School System, nennt e8 das Mercersburg
Review, V, 41. Eine Schrift von Colwell über biefen
Gegenſtand: The Position of Christianity in the United
States, Philadelphia 1854, p. 98, fagt: Dieſe Ausſchließung
bes Chriftentbume von ber öffentlihen Erziehung fei eine felbft-
mörberiihe Einrichtung; ber fchlimmfte Feind ber Menfchheit
hätte nichts erfinnen können, was für bie republifanifchen In⸗
flitutionen des Landes verberblicder wäre u. ſ. w. Bekanntlich
befteht in Holland biefelbe Einrihtung und wirb bort eben fo
bitter Darliber geffagt, wie dieß 3. B. ber Baron v. Lynden
auf der Berfammmlung ber Evangelifghen Allianz in Berlin 1857
that. &o lange aber in beiden Ländern die Urſache, nämlich '
die kirchliche Zeriplitterung bleibt, werben bie Klagen und
wechfeljeitigen Beſchuldigungen ber Parteien wohl wirkungslos
verhallen.
318
Bandes gewöhnt, Willen und Leben einerfeit6 und Religion
andrerſeits als zwei völlig geſchiedene und von einander
unabhängige Gebiete anzufehen, fo müßte bieß ſchon ges
nügen, in ihm eine ber größten Calamitäten der neuen
Welt zu erkennen. Man macht gegenwärtig in Amerika
bie bittere Erfahrung, daß eine von chriftlichem Geiſte ent⸗
blößte Erziehung nicht blos mangelhaft, fonbern pofitiv ver
derblich iſt, daß fie Kräfte mit ver Gewißheit ihres Miß⸗
brauche verleiht, und die Menfchen zu kalt berechnenben
Schurken mad.) Die Sonntage-Schulen, die man bort
eingeführt bat, find Fein Erfat für den Ausfall ver chriſt⸗
(then Pfarrſchule. Möge Europa durch die traurigen Fol⸗
gen, die dieſes Syſtem in Amerika erzeugt bat, und künftig
noch mehr erzeugen wird, fi) von ver Betretung ber glei«
ben Bahn abfchreden laſſen.
Die Trennung von Kirche und Staat hat im Grunde
erft der ungläubige Jefferſon und fein gleichgefinnter Au⸗
-bang burchgefegt, ver Mann, ver fich fchmeichelte, daß ganz
Amerila nod vor Ablauf einer Generation unitarifch wer-
den würde. Kraft dieſer Trennung ift es dem Staate und
feinen Beamten verboten, fich irgendwie in die Angelegen-
beiten ber religiöfen Benofjenfchaften zu mifchen.
1) Bergl. die energiſchen Worte einer Amerikaniſch⸗ theologifchen
Zeitjchrift, der Presbpterianiichen Bibliotheca Sacra, 1851, p. 768.
819
Man ift aber noch weiter gegangen: bie Berfaffung
verfügt, daß zu feinem öffentlichen Amte ein religiöjes Be⸗
kenntniß je geforbert werben '), daß ber Congreß kein &e-
feg machen dürfe bezüglich des geſetzlichen Schuges einer
Religion ?), oder um die freie Ausühnng einer Religion zu
nnterfagen. Die ganze Urkunde ignorirt die Exiftenz bes
Ehriftentgums. Story, der Amerifanifche Bladftone,
meint in feinem Commentar, an ber Pflicht jeber Regierung,
das Chriftentbum unter allen Bürgern und Unterthanen zu
pflegen und zu ermuntern, fei nicht zu zweifeln; aber man
babe durch jene Beftimmungen aller Nebenbuhlerichaft zwi⸗
ſchen den chriftlichen Sekten vorbeugen, und das Aufkommen
einer nationalen Staatslirche, welche ihrer Hierarchie das
ausichließende Patronat der Regierung zuwenden würbe,
verhindern wollen.) Dagegen wird in ben einzelnen Staa⸗
ten, 3. B. in Benfylvanien, der Sabbath und die Bibel
förmlich unter den Schuß der Geſetze geftellt, und Tann
man wegen blasphemifcher Aeußerungen vor Gericht ge-
ftellt werben. In Maffachufetts wırrde fogar von dem Ge-
richtshof entſchieden, daß nach dem Geſetze der Mord eines
„Infidel“ (Ungläubigen) kein Verbrechen fei.*)
) Mercersburg Review, III, 329.
?) Respeoting an establishment of religion.
?) Mercersburg Review, III, 831.
*) Atlantiſche Studien, III, 65.
320
Es find die Firchlichen Barteien und Genoſſenſchaften
Englands, welche fich feit dem 17. Jahrhundert, theils um
dem beimifchen Drude zu entgehen, tbeils, wie bie Epi-
jtopalen, bloß in Folge der Eolontfation dort verbreitet und
“im Boden Wurzel gefchlagen haben. Wie der Angeljächfiche
Bolleftamm ber vorherrfchende ift, fo ift auch Angelfächfi-
ſches Religionsweſen, als das Probuft des langen wechfel-
vollen Kämpfens und Ringens zwifchen Calvinismus und
Epifkopalismus, zwifchen Affociationskirche und Staatskirche,
das überwiegende Element, das feinen Einfluß auf bie Eins
gewanderten andrer Nationalitäten und ihre mitgebrachten
Glaubens⸗ und Kirchenformen erftredt. Nur eine, bie
latholiſche Kirche, verfchließt fich dieſem Einfluffe, in fo weit
ihr Weſen durch denfelben alterirt werden würbe.
Alle Kirchen oder religiöfen Genoſſenſchaften find alfe
an Rechten volllommen gleich; Jeder kann nad) Butbünfen
irgend welcher Sekte oder auch keiner fich anfchließen, ober
eine neue gründen. Wie in Bolitit, im Handel und im
Gewerbe, fo berricht auch auf dem religiöfen Gebiete bie
freiefte Concurrenz, und erzeugt eine energifche Thätigkeit,
eine Elaſticität der Tirchlichen Organismen, freilich auch ein
aufpringliches Hafchen und Jagen nach Profelgten, wogegen
die träge Ruhe und Stagnation ſtaatskirchlicher Körper
ſchaften grell abftiht. In dem praftifhen Geſchick, ihre
Netze zu ſtellen, und die Maſſen einzufangen, ſcheinen die
821
Methodiſten Allen überlegen zu fein. Umfo mehr müffen auch
bie andern ihre Kraft zufammennehmen, mäfjen die Ihrigen
feftzuhalten und neue Belenner zu gewinnen ftreben. Schon
die Ausficht, im Notbfalle unterftügt zu werben, führt bie
fen Kicchengemeinfchaften ganze Schaaren zu. Die Kunit,
für religiöfe Zwede Gelomittel aufzubringen, ift hier forg«
fältig ausgebildet, und in ver Gefchietlichkeit, wie mit jedem
Dinge, fo auch mit der Religion Geld zu machen, über,
treffen die Amerikaner wohl alle Nationen. Man verfteht
es, bie Schaaren, welche, fich felbft überlaffen, wenig oder
nichts beitragen würben, burch Uebung eines den Schein
der Freiwilligkeit nie verlegenden moralifchen Drudes zu
zeichlihen Spenden zu bewegen, und ber Erfolg " ein
außerorventlicher.
Auf alles Ehriftliche ift ein Segen gelegt, der im Ganzen
und Großen nicht zerftört, nicht iu Fluch verkehrt werben
kann. Dieß gilt vor Allem in focialer Beziehung. Auch
in der mangelhafteften Geftalt, uuch mit mannigfachen Irre
thümern verfegt, auch durch menfchliche Verkehrtheit und
Leidenschaft entjtellt und degradirt, wirkt das Chriſtenthum
noch unberechenbar viel Gutes. Tocqueville hat es bes
redt hervorgehoben, wie viel Amerika dem ernftreligiöfen
Sinne und der kirchlichen Zucht verdanke, welche bie Puri⸗
taner aus England mitbracdhten und in dem neuen Vaterlande
einbeimifch machten. Es war bieß das Verdienſt ber brei
». Döllinger, Papfıhum. 21
322
großen puritsnifchen Parteien, ver Presbyterianer, Congre⸗
gationaliften und Baptiften, die bis gegen Enbe bes vori⸗
gen Jahrhunderts Norbamerila geiftig beberrfchten. Seit-
dem find die Methopiften hinzugelommen, und haben, io»
dem fie ſich au den gefuntenften Theil ber menfchlichen Ge⸗
fellfchaft gewenbet, bedeutende Erfolge erreicht. Diefe vier
Hauptformen des Amerikanifchen Proteftantismus, und neben
ihnen bie in ber jüngften Zeit zu größeren Kräften ge»
tommene bifchöfliche Kirche, find demnach bie eigentlichen
Träger derjenigen Religiöfität, welche berzeit noch, beſonders
in den Streifen der eingebornen Amerifaner, vorhält. Jene
Hauptparteien find wohl felbjt in eine größere Zahl von
Selten zerklüftet, doch find dieſen gewiſſe gemeinfchaftliche
Grundzüge und Tendenzen geblieben; das Gewimmel ber
übrigen Selten aber — kürzlich wurde von ben bios in
New⸗York befindlichen eine Lifte, die über 7O Namen ent»
bielt, mitgetheilt‘) — iſt, wenigftens in ben höheren und
mittleren Stänben, von geringem pofitiven Einfluß, wenn
ed auch negativ durch Schwächung des Glaubens an eine
fefte chriftliche Wahrheit, und durch Erzeugung und Nährung
eines fleptifchen Indifferentismus, ſchwer genug in bie
Wagſchale fällt.
Die herrſchende Meinung ift in Amerika den Selten-
1) Darınfläbter K.-Btg., 1867, ©. 1160.
323
weſen nicht ungünſtig. Man betrachtet dasſelbe eher ale
einen Borzug. Der Begriff Kirche, ber Gedanke, ber
Kirche anzugehören oder angehören zu follen, exiftirt für
ben Amerilauer nicht. Er weiß, daß er ſich nur zu einer
Selte hält, nur Glied einer Denomination ift, wie es beren
im Lande noch viele gibt, daß feine Genoſſenſchaft nur in
den Vereinigten Staaten, ober etwa noch in England ober
Schottland, fonft aber in der ganzen Welt nicht exlitire.
In der Kegel kommt ihm bier bie feite Ueberzeugung zu
. Stetten, daß nun einmal die Angelſächſiſche Race das aus⸗
erwählte Gefchlecht der jetigen Zeit, und demnach auch der
von Gott erforne Xräger der wahren Religion fei. Zus
gleih macht er fi von ber chriftlihen Vergangenheit,
wenn er überhaupt daran denkt, gewöhnlich pie Vorftellung,
daß e8 von jeher nur Selten, nur eine bunte Vielheit von
feindlichen Kirchenlörpern gegeben habe, daß alfo eine von
Chriſtus geftiftete Kirche entweder nie eriftirt, oder längft in
Selten ſich aufgelöft Habe. Er meint alfo natürfich, in Er⸗
manglung des ganzen noch unzerbrochenen Gefäßes müfle
man ſich mit Scherben begnügen, und da fei denn fein einzelnes
Stüd viel beſſer oder viel fchlechter als das andere, ſondern
jeves babe doch noch etwas von der urjprünglichen Vaſe
an fih. Oder man vergleicht die Ehriftenheit mit einem
Walde, in welchem viele verfchievenartige Bäume neben
einander Licht und Luft Hätten.
21*
324
Nach der vorherrfchenden Anſicht darf denn auch bie
Regierung kein religiöfes Belenntniß begünftigen und feines
zurüdjeßen, fie muß fich gegen alle kirchlichen Genoſſen⸗
ichaften, fo lange fie nichts ven Landesgeſetzen Widerfprechen-
des (ehren und thun, gleich neutral und gleich inpifferent
verhalten.
In den Augen ber Politiker, Advocaten, Literaten bes
fteht der Vortheil des gegenwärtigen Zuftandes vornehmlich
darin, daß „die Sekten durch ihre gegenfeitige Eiferfucht
einander im Zaum halten”, wie ber New» York Obferver
fagt. Ihnen feheint e8 ein großer Gewinn, daß es in
Amerika feine Nationallirche, Leine religiöfe Autorität gibt.
Die rechte Religionsfreiheit, wozu vor Allem die Freiheit,
ſich aller Religion zu entfchlagen, gehört, ift, wie fie meinen,
durch die Menge ver Selten am beften gejichert.
Indeß es gibt doch auch Bibelleſer in jenem Lanbe,
und ba fällt denn ihr Blick zuweilen auf bie Stellen, in
denen Chriftus jo deutlich und energifch von der Einheit,
von ber fichtbaren, Tirchlichen Einheit feiner Belenner rebet.
Und wirkli wird behauptet‘): man höre felten mehr eine
förmliche Rechtfertigung des Seltenwefens, wie fie wenige
Jahre früher fo gewöhnlich gewejen. Vielmehr fchienen
Schaff's deutſcher Kirchenfreund für bie amerifanifch-beutichen
Kirchen. Mercersburg 1848, S. 141—47.
825
jest die ausgezeichnetften Theologen und Chriſten in ber
Berurtbeilung des Seltenwefens zufammenzuftimmen, un
es als etwas Krankhaftes anzufehen, deſſen Heilung fich
alle angelegen fein laffen. Seiner Innern Natur nach ift
dieſes Sektenweſen ein-Oreuel — fagt vie beßte ver kirchlichen
Zeitjchriften Amerika's. Die ganze Welt weiß, daß das gegenſei⸗
tige Verhältniß unferer Selten weit mehr ein Verhältniß der
‚Rivalität, Oppofition und Eiferjucht, als ein VBerhältni brüder⸗
ficher Liebe und darmonifchen Zuſammenwirkens ift. Wenn es
von ben alten Ehriften hieß: Seht wie fie einander lieben, jo gilt
von ben jegigen Amerifanifchen Ehriften: Seht wie fie ein-
ander haffen.') Das Schlimmfte jedoch ift, „daß auch diejeni⸗
gen, welche diefe Spaltungen verdammen, durch bie Berhältniffe
und turch das Gefet ver Selbfterhaltung gezwungen find, fich
mehr oder weniger mit dem denominationellen und fektirert-
ſchen Geiſte zu identificiren.“
„Alles iſt dort Selte bezeugt ein Deutſcher Be-
obachter, nur als Seltirer kann ein Previger fortlom«
men“, und Vergrößerung ber eignen Selte ift bie große
Angelegenheit, ber jede andre Rückſicht weichen muß.)
Da gibt Iemand 500 Dollars jährlich zur Aufrecht⸗
haltung feiner aus fünf Gliedern und einem Prebiger
) Mercersburg Review, V, 584.
n, Büttner: Die Vereinigten Staaten, I, 346, 247.
326
beftehenden Sekte.) Ein auf Metbopiftifche Weiſe befehrter
berumreifender Neligionslehrer prebigt in den Gemeinden
gegen ihre nicht nach gleichem Zufchnitte bekehrten Geift-
lichen.) Selbft die frieblichen Duäfer, die in England ver
einigt geblieben, haben fich in Amerika gefpalten. Es ifl,
ale ob in dem Lande ver freieften politifchen Bewegung ber
religiöfe Sinn des Menfchen unvermeiblich fich in bie enge
Schnürbruft eines Sektenſyſtems einpreffen laſſen müſſe,
als ob man ven Geiſt des confelfionellen Haders mit ber
Luft dort einathme; Kaum Haben fich deutſche Gemeinden
von proteftantifchen Auswanderern gebildet, fo Tehrt auch
Zank und Streit bei ihnen ein.?)
Selbſt den proteftantifchen Geiftlichen Amerika's bat
fih die Wahrnehmung aufgeprängt, daß ihr Land ber Frei⸗
beit im Grunde ſich doch als das unbulpfamfte von allen
bewährt, und Unduldſamkeit die Spaltungen wie eine
Heufchredenplage vervielfältigt habe.) „Die religiöfe Ges
fchichte unfres Landes, fagt Colton, wird charakterifirt durch
bie beiden Ertreme: ein fletiges Ruhmen religiöfer Freiheit,
und ein beharrliches Streben dieſe Freiheit zu erftiden.“
3) Büttner I, 288.
2) Büttner I, 341.
2) Büttner I, 857.
ı) Colton’s Thoughts on the religious State of the Country,
p. 204, 6.
\
327
Eine folide wiffenfchaftliche Theologie ift in der jetigen
Loge für Amerika eine Unmöglichleit. Geber Theologe ober
zum Anbau ver Theologie Berufene eriftirt nur in einer
beflimmten Sekte, fteht mehr ober weniger unter ber Th⸗
rannet oder doch unter dem Einfluffe feiner Denomination.
Seine Sekte ift eine von befchräntten Menſchen zum mo⸗
mentanen Rothbehelf aus boctrinellen Bruchflüden gezim-
merte Hütte, die ihm zum theologiichen Fluge weder Raum,
noch Licht, noch Luft gewährt. So gefteht denn auch Nevin,
der einzige bort lebende Theologe von Bedeutung: bie
Amerilanifhe Theologie fei mit allen ihren Anfprüchen und
fromm klingenden Phrafen, doch zum größten Theile bloße
Scullnaben-PBedanterei, verglichen mit ver deutſchen.) Der
einzige Mann, der außer Nevin Stoff und Beruf zum
eminenten Theologen in fih trug, war William Ellery
Ehanning, Prediger zu Boſton. Aber fein tiefer Wider»
wille gegen das Galvinifche Syſtem, dieſe „Schmählchrift
gegen feinen bimmlifchen Water“, wie er es nannte, beffen
ververbliche Wirkungen er überall um fich ber ſah, erfüllte
ihn, der feine beffere Theologie zu Tennen Gelegenheit hatte,
mit Haß gegen die ganze Theologie feiner Zeit, und machte
ihn zum Unitarier.?)
1) Mercersburg Review, 11, 165.
2) Bergl. feine Aenßerungen im 2. Banbe bes Memoir of W.
E. Channing. London, 1850, bejonbere p. 134, 185.
828
Ein Wert über die Amerilanifchen Religionsparteien,
das im Jahre 1844, und reichlich vermehrt im Jahre 1848
erſchien, liefert von jever derfelben einen im Schooße der frag-
lichen Selte felbft verfaßten und von ihr eingefanbten Abriß.')
Da zeigt fih denn, daß faft alle, wie eng auch tie Um⸗
zäunung ihres Sonverlebens, wie kümmerlich auch die Bruch»
ftüde igres Chriſtenthums fein mögen, doch verfichern, die Bibel,
bie ganze Bibel, und nichts als die Bibel zur Duelle und Richts
ſchnur ihrer Lehre und Einrichtung zu haben. Jede rühmt, wie
gewiſſenhaft fie fich an das Neue Teitament anfchließe, und
forgfältigft bemüht fei, jedes Stäubchen kirchlicher Tradition
von ihrem Gewande wegzublafen. So Hat es denn bieler
biblifde Purismus, dem die abfolute Klarheit und Durch⸗
fichtigleit der Schrift als erſtes Ariom fefjteht, ver für
jeben feiner Selten» Artitel Kapitel und Vers ver Bibel
zu citiren verfteht, in Amerifa bereits zu mehr als fünfzig
Selten gebracht. Und indem faft jedes Yahr eine oder
ein. paar neue „Kirchen“ entiteben, weiß man immer genan
nachzumweifen, wie biefer oder jener DBibeltert e8 gewiſſen⸗
haften Ehriften unmöglich mache, einer ber bereits eriftiren«
ben fünfzig ober fechzig Kirchen fich anzufchließen, vielmehr
gebieterifch bie Stiftung einer neuen Kirche fordere. Be⸗
) D. Rupp: Original History of the religious Denominations.
‚ Harrisburg 1848, 2. ed.
329
fenntnißfchriften, fomboliiche Bücher, werden entweber ganz
verworfen, da fie neben ver Bibel überflüffig feien und
fih nicht gut mit verfelben vertrügen, wie die Campbell
Baptiften jagen, ober fie müffen, wie bie Congregationa«
liften erliären, felbjt wierer nach ber Bibel gemeffen wer⸗
ben.) Mehrere der neuern Sekten verfichern, gerade zur
Wieverherftellung der urſprünglichen Einheit der Kirche fich
gebildet zu haben, ein Zwed, ver nur durch Erhebung der
Bibel zur alleinigen Richtſchnur erreicht werben könne.
Jede der andern Sefkten-Schweftern, meinen fie, habe zwar
vorgegeben, fi rein an die Bibel halten zu wollen, fei
aber dem Grundſatz doch nicht treu geblieben; fie erſt woll«
ten nun Ernft damit machen. So oft eine neue Bartei
ſich von der alten abzweigt, gefchieht e8 ihrer Beftätigung
nach, weil die alte Sekte ohngeachtet ihres excluſiven Bibel
thums unbiblifchen „Traditionen“, unrichtigen Deutungen
Raum gegeben bat.
Inſoweit alfo findet fich eine gewiffe Lebereinftimmung
unter den Amerikanischen Sekten, als alle von bemfelben
Vorderſatz des alleingeltenden Bibelworts und ber Leug⸗
nung jeber kirchlichen Eontinuität und Autorität ausgehen.
Jede hat das Rojungswort: „Offene Bibel und fouveraines
PBrivaturtheil”, auf ihre Sahne geſchrieben. Die Bibel, dieß
ı) Rupp, p. 224, 281.
330
iſt die allgemeine Theorie, ift völlig Mar für jeben mit
mäßigen Verſtande begabten Menichen, befonbere Stubien
und Vorkenntniffe find zur ficheren Auslegung verjelben
nicht nöthig; liest er fie, fo darf und foll er glauben, daß
der Sinn, den er in ihr findet, der allein wahre fei, und
daß er ihn mit Hülfe des heiligen Geiſtes erfannt babe.
Diefes Recht des Privaturtheils wird als das Palladium
bes Evangeliums, als die einzige Alternative bezeichnet,
wenn man fich nicht einer unfehlbaren Autorität unter
werfen wolle.‘) -In Wirklichkeit aber geftattet feine einzige
diefer Selten, daß der Einzelne nun auch wirklich von bie
ſem Rechte Gebrauch mache. Jede hat ihr Syſtem, jebe
zwingt ben biblifchen Text, ihre Anfichten auszufagen; jede
ftößt, wenigſtens der Theorie nach, denjenigen, ver feinem
eignen Urtheile über den Sinn einer Bibelftelle ven Borzug
vor der berfömmlichen Auslegung feiner Gemeinſchaft geben
wollte, aus ihrem Schooße auß.
Mehrere der Amerilanifchen Selten behaupten, fi
aus Freibeitstrieb von Älteren Denominationen abgefondert
zu haben, ober „um ber Geißel eines menfchlichen Glaubens
Belenntniffes zu entgehen.” In der That aber find biefe
Selten wahre Zwiugburgen des Geiſtes; jede hat ihre eigne,
meift fehr magere und engbrüftige Ueberlieferung und Ob⸗
1,6. z. B. von den Sumberlanb Preobyterianern.
Rupp, p. 512.
— — — — — — __ —
331
fervanz. Die Selte ift ihrer Natur nach jeder wiſſenſchaft⸗
lichen Theologie inftinkttmäßig feind. Sie hat das Gefühl,
furzlebig zu fein, und keine Befchichte, feinen Zuſammen⸗
bang mit dem großen durch die Jahrhunderte fich gleich«
mäßig fortbewegenden Tirchlichen Strome zu haben, fie ift
baber von Widerwillen gegen die ganze Firchliche Bergangens
beit erfüllt.) So fagen z. 9. die Baptiften der feche
BPrincipien: Ein ächtes Glied ihrer Gemeinfchaft kümmere
fich nicht darum, ob auch ihre Lehren in ben verjchiebenen
Zeitaltern ver Kirche dageweſen feien ; ihm genüge, daß Ehriftus
fie verfünbet habe. Die Stammfelte ver Baptiften fett fogar
ihren Ruhm und Vorzug darein, daß fie um vie ältere
Lehre der Kirche fich nicht befümmere. Bezüglich ver kirchlichen
Tradition pflegen fich die Sekten thatfächlich an das Princip zu
halten, daß eine Tradition um fo verwerflicher fei, je Alter
und allgemeiner fie fei, um fo wertbooller aber, je jünger
und blos ber einzelnen Selte eigenthümlich fie fei. ‘Die
furze Vergangenheit des eignen Sektenlebend mit feinen
Erfindungen und Einrichtungen von geftern wird fofort zu
einer Kette, die jeven unter Strafe ver Ausftoffung bindet.
Ein andrer gemeinfchaftlicher Zug der jüngeren Selten
tft Verwerfung ver Rinvertaufe. Einzelne, wie bie Bap-
tiften bes fiebenten Tags, Haben entvedt, daß im Neuen
Zeftament nicht von einer Webertragung des Sabbath
) Rupp, p 88.
332
auf den Sonntag vorlomme, und halten demnach die Be⸗
obachtung des Sonnabend als Sabbath für durchaus noth-
wendig.) Sie und Andre erkennen auch in der Fuß—⸗
waschung ein von Chriftus eingeſetztes Sakrament. Bei
faft allen Amerilanifchen Selten find ferner die Sakramente
nicht Vehikel ober mwerkzeugliche Vermittler der Gnade, auch
nicht Pfänder beffen, was Gott uns gibt, ſondern finfen zu
bloßen Symbolen veffen herab, was im Menfchen vorgeht,
ober fie find bloße Zeichen, die den Menſchen veranlaffen
follen, fich eines Ereigniffes zu erinnern oder ein gewiſſes
Gefühl zu empfinden. Germanismus (vd. h. deutfche Theo⸗
logie) und Papiemus find Übrigens tie beiden von ben
Amerilanifhen Selten beſonders gefürchteten und gehaßten
Mächte.?) |
Segen zwölf Sekten behaupten nicht blos auf ver Baſis
der Bibel, fondern auch auf der Weftminfter-Confeffion zu
fteben, fo daß diefes Bekenntniß, obgleich das voliftänpigfte
und tbeologifch beftimmtefte unter den calviniftifchen, das
3. B. die Augsburgifche Confeffion in Bezug auf Klarheit
und offene Sprache weit übertrifft, dennoch felbft in dem
engen Kreiſe des Amerikanifchen Calvinismus eine foldye
Zahl von Spaltungen nicht zu verhüten vermocht hat.
Noch findet fih in Einem Artikel große Uebereinftim-
) Rupp, p: 121.
?) Mercersburg Review, I, 517.
333
— — — — — —
mung: „Rechtfertigung allein durch den Glauben“ haben
alle „evangeliſchen“ Sekten auf ihr Banner geſchrieben.
So erllären z. B. die Campbelliten: Die Eine große Bes
bingung der Zulaffung zu ihrer Gemeinſchaft fei „vollftän-
diges Vertrauen auf die bloßen Verdienſte Ehrifti zum Be⸗
Buf der Rechtfertigung”, ihre Sekte gründe ſich auf bie
zwei Funpamentallehren ver Reformation: Verwerfung aller
Tradition und Bertrauen auf ven bloßen Glanben.‘) Mit
biefem Solifivianism, wonach die Gerechtigkeit Chrifti dem
Menſchen nur ganz äußerlich in Rechnung geftellt wire, ift
nun ein in bem Seltenleben höchſt wichtiger Sa verknüpft,
auf weichem bie ganze Theorie der „Revivals“" (Erwedungen)
beruht. Der Menſch, der durch bloßen Glauben ober durch
Imputation der Gerechtigkeit Chrifti gerechtfertigt wird, ift
fi diefer Thatfache mit unfehlbarer Gewißheit bewußt, er
bat eine „Erfahrung” von feiner Belehrung oder Begna-
digung, er weiß den Moment feines Ueberganges aus dem
Tod in's Leben genau anzugeben. Demnach Haben vie
Amerilaner die „Bekehrung“ geſchäftsmäßig eingerichtet.
Mehrere Prediger und Laien treten in Verbindung, und
beginnen, eine Berfammlung yon Berfonen, bie fich bekehren
laffen wollen, zu bearbeiten. Männer und Frauen werben
durch anhaltende aufregende Predigten, durch ftürmijche an
das Individuum gerichtete Aureden, durch Liever mit leb-
1) Rupp, p. 225.
334
baften, hüpfenden Melodien, durch Drohungen mit gräßlichen
Schilderungen ver Höllenpein, durch Bitten, Beichwörungen,
leivenfchaftliche Apoftrophen fo erfchttert, daß es bei ihnen
zum „Durchbruch“ kommt. ‘Die geiftige und körperliche Er
fhöpfung, in welche Männer und beſonders Weiber durch
folche Mittel verfett werben, erzeugt eine Balfivität, in ber
fie Ulles fühlen, was man fie fühlen Heißt. Körperliche
Zufälle, die fich einftellen, unmwilltührliche Ausrufungen gel»
ten al® Unterpfänder der Gnade und als fichere Zeichen
des Sieges über den alten Menfchen. Die Abipannung
und Erfchöpfung, welche naturgemäß den ftürmiichen Ge⸗
füplswallungen, ten frampfhaften Körperzudungen zu folgen
pflegt, ift „ver Seelenfriede der Heilsgewißheit.“ Iſt je
mand unter folder Bearbeitung fo weit gebracht, daß er
fih auf die „Angſtbank“ fest, fo ift Die Sache entſchieden,
er bat fich der Gnade ergebeh, er muß fich gleich darauf
vorfchriftsmäßig völlig erleichtert und wunberbar erauidt
fühlen, und er wirb nun als ein Belebrter und als voll
ftändiges Mitglied in die Liften ver Sekte eingetragen. Die
Angftbant ift pas Sakrament bet ven Revivals, das unfehl-
bare Mittel der Wiedergeburt. Da die ganze Mafchinerte
eine folgerichtige Anwendung ber altproteftantifchen Rechtfer⸗
tigungslehre ift, fo haben alle „euangelifchen” Gemeinfchaften,
auch die beutfchen Lutheraner und Reformirten, die Revivals
bei fich eingeführt, und in Amerika fieht man darin bie
wichtigfte und wohltbätigfte religiöfe Erfindung ber neueren
Zeit. Zu ven ftäntifchen Revivals find noch die, beſonders
von Methodiſten veranftalteten, Lagerverfammlungen als ein
Haupthebel Amerikanifcher Religion Hinzugelommen.') Selbft
folche Sekten, welche focinianifch die Trinität und die Gott-
beit Chriſti leugnen, wie die Sampbelliten, bebienen fich der
Revivals mit beftem Erfolge”), und haben es durch biefes
Mittel binnen 36 Jahren zu einer anfehnlichen Verbreitung
gebracht. Freilich findet fild auch, daß bie durch bie Res
vivals zufammengebrachten Gemeinden oft raſch wierer zu-
fammenfchmelzen, und Schaaren folcher plötzlich Wieberge-
bornen kurz nachher ihre Wiedergeburt rein vergefjen haben.
Zwei Umftände haben viefen Revivals mächtigen Vor⸗
ſchub geleiftet, einmal der Charakter des Amerikaners, wels
der unter dem Einfluffe des dortigen Klima's und feines
ganz auf Erwerb gerichteten Trachtens und höchſt eintd«
nigen Lebens von Zeit zu Zeit heftiger Aufregung bebarf,
und fie, wenn nicht im Trunk oder Hazarbfpiel, in der Re⸗
ligion fucht”); und dann ver puritanifch bürftige und kalte
Gottesdienſt, der mit Befeitigung alles Liturgifchen und
!) Camp-meetings.
t) Flavel 8. Mines: A Prosbyterian clergyman looking
for the Church, New-York 1855, p. 81.
3) Otto: Nordweſtliche Bilder, Schwerin 1854, &. 122.
336
Symbolifchen bloß in Predigten, Singen und in langen
von Geiftlichen gepretigten Gebeten befteht. Um fo bejjern
Eingang und gänftigern Erfolg fand eine theatralifche, auch
die ftärfften Nerven überwältigende und buchftäblich ſchla⸗
gende Effecte hervorbringende, Belehrungsmethode.
Faßt man nun den gegenwärtigen Zuftand der einzelnen
Amerikaniſchen Hauptparteien in's Ange, jo findet fich zu⸗
nächft, daß die Baptiften, nebft den Methodiſten bie
jüngſte unter ven größeren Gemeinfchaften'), in etwa fieben
Selten, in welche fie zerfallen find, bie zahfreichite ver pro-
teftantifchen Denominationen in Amerika bilden. Nur bie
Methopiften könnten ihnen allenfalls diefen Vorrang ftreitig
machen. Ihre Kirchen waren von 1000 im Sahre 1792
auf 9584 im Sabre 1852 geftiegen. Sie zählten im Jahre
18566 1,322,469 communicirende Mitglieder. Sie haben
feine Repräfentation, keine Organifation und feine Belennt-
niffe. Nach ihrer Theorie iſt alles- Kirchenthum, find alle
Rirchenbehörben vom Uebel. Jede Gemeinde ift ein völlig
unabhängiger Körper. ‘Die einzelnen baptiftifchen Selten
find freilich durch fehr fcharfe Lehrunterſchiede von einander
getrennt. Ein Amerikanifcher Baptift oder ein fociniani-
1) In New-Pork bildete fih erſt 1762 eine Baptifien-Gemeinbe.
Gorrie: Churohes and Bects of the United States, New-
York 1850, p. 134.
857
fer Sampbellit hat außer der Tanfpraris mit einem cal-
viniſchen Baptiften wenig gemein.
Die Thatfache, daß die Baptiſten eine ſo zahlreiche,
oder geradezu bie zahlreichſte von allen Religionsparteien
in Nordamerika ſind, verdient alle Aufmerkſamkeit. Sie
würden wohl noch zahlreicher fein, wenn nicht Taufe wie Abend⸗
mahl nach ihrer falramentlichen Bebentung in der calviniſch⸗
gefinnten Welt als etwas fo Untergeorbnetes betrachtet würden,
daß die Frage nach ber urfprünglicden Form Btelen als etwas
Gleichgültiges erfcheint, um das man fich nicht fonderlich
zu befümmern babe. Die Baptiften find aber in der That
von proteftantifchem Standpunkte aus unangreifbar; ba fie
für ihre Forderung ber Taufe durch Untertauchen den Haren
Bibeltert haben, und bie Autorität ver Kirche und ihres
Zeugnifjes weder für den einen noch für den andern Theil
befteht.')
2) Nicht einmal eine baptiſtiſche Bibel⸗Ueberſezung kann deshalb
von ben andern Parteien gebraucht werden. Sin Engliſcher
Miffionär der Congregationaliſten ſchreibt aus Calcutta: „Die
Baptiften nehmen ben erften Pla ein, was bie Ueberſetzung
der Bibel in’s Bengalifche betriff. Wir gebrauchen bier am
meiften bie Weberjegung bes (Baptiften) Dates. Da aber bie
hiefige Baptiſten⸗Geſellſchaft, deren Eigenthum biefe Ueberſetzung
iſt, darauf beſteht, Bamzileıw nur durch Worte zu üÜberſetzen,
welche eintauchen, untertauchen bebeuten, fo fühlen alle
unfere Freunde ber Kinbertaufe, fowie andy bie Salcuttabibel-
9. Dillinger, Papftihum. ‚22
—
Bedeutender in geiſtiger Beziehung iſt ber Einfluß
der. Bresbpterianer, die mit den Eongregationaliften
die Erben und Nachlommen ver alten Puritaner ober
„Bilgrim- Väter“, ver Gründer von Nen-England find. Sie
find die Urheber und Pfleger der Amerikanifchen Theologie,
fo weit es eine folhe gibt. Aus der Englifchen Deimath
nahmen fie ven ächteften Ealvinismus mit herüber, und hielten
geraume Zeit feft an einem Syſtem, dem fie fo große Opfer
gebracht Hatten. Ihre Prediger waren umerfchöpflich in
Ausbeutung der Präbeftinations-Theorie, in Schilderungen
der Verdammniß, zu welcher Gott die Mehrzahl der Kleinen
Kinder vorher beſtimmt habe. Fatalismus, Antinomianiemus
trugen auch bier ihre Früchte in der geiftigen und ſittlichen
Berlommenheit der Gemeinden. Edwards fuchte ven Eal-
vinismus noch mittels Lode’fcher Philofopbie zu fügen, aber
Dwight, Lyman, Beecher und Barnes Haben im
neuerer Zeit bie Derrfchaft der caloinifchen Lehre und ber
Beftminfter- Confeffion gebrochen. Darüber erfolgte aber
im Yahre 1838 eine volfftändige Spaltung; Barnes mit
etwa 500 Prebigern und 60,000 Laien wurde von der Ma-
jorität der General» Berfammlung wegen Irrlehre ausge⸗
Sefellichaft, das Bebürfnif einer andern Ueberſetzung.“ Reuter’s
Repertorium, Bb. 58, ©. 70. Man muß alfo, heißt bie
eigentlich, die Bibel faljch überfegen, damit bie zu beichrenben
Heiden bie Blößen bes Euftems nicht merken.
— — — 1 1 — — — —
8809
ſtoſſen. Er und fein Auhang bildete ſofort die presbyteria⸗
niſche Kirche der „neuen Schule.“)
Die Achten Puritaner oder Eongregationaliften,
welche vorzugsweife in Neuengland leben, haben ſich in
Amerika fehr geändert. Der alte organifche Zufammenhang,
in welchem die einzelnen Gemeinden durch fogenannte Eon»
ſociationen over Affoctationen mit einer höhern Inſtanz
ftanden, iſt aufgelöft. Ihre Kirche tft in Folge der unitari⸗
ſchen und univerfalifiiichen Bewegungen demokratiſcher ges
worben; es gibt fein gemeinfchaftliches Symbol mehr, ſon⸗
dern jede Gemeinde Hat ihr eignes Symbol. Der Geift-
Liche ift nur der von der einzelnen Gemeinde berufene und
abhängige Diener ver Gemeinde.) Die Preöbpterianer das
gegen haben ven entgegengefegten Entwicklungsgang einge
ſchlagen; bei ihnen ift ‚vie Unterordnung der Gemeinden
umter die Melteften, Presbyterien und Shuopen befeftigt
und gefteigert worden. Die Folge ift, daß beide Kirchen⸗
förper, die ſich bioher vielfach annäherten, fich jetzt gegen-
feitig mehr abftoßen.
Das ganze Wefen ver puritanifchen Selten und ihrer
Revivals hat unter den Geiftlichen, beſonders ver Presbh⸗
1) Bergl. History of the Division of the Presbyterian Church.
By a committee of the Synod etc. Newyork 1856.
2) Krauſe's Kirch.-Ztg. 1856, ©. 129.
22 *
340
terianifchen Parteien, welche mehr tbeologifch gebildet find,
als die großentheilß ſehr unwiſſenden Baptiften und Metho⸗
biften, eine ftarle Bewegung und eine Abneigung bervorge-
zufen, welche zu zahlreichen Austritten geführt bat. Binnen
wenigen Jahren find bis 1856 300 Presbyterianiſche Geiſt⸗
liche zu der bifchöflichen Kirche übergetreten, welche vie Re⸗
vivals verwirft, und dem Calvinismus widerſtrebt, wenig⸗
ſtens die Freiheit laͤßt, bezüglich ber Gnade nnd Rechtfer⸗
tigung anticalviniſch zu lehren. ')
Einer diefer Geiftlichen, Eolton, früher ver Lobrebner
ber Revivals?), in denen er „eine neue zur Verbreitung
über bie ganze Welt beftimmte Difpenfation” erkannte,
gieng allmälig in Folge ber Erfahrungen, die er dabei
machte, zur entfchiedenften Verwerfung des ganzen Suftituts
über: der Geift werde dadurch gelnechtet, ein faljches Ge⸗
wiffen gebildet und gepflegt, der ganze intellectuelle und
moraliſche Eharalter ver Menſchen verborben.?)
Es wird nun auch immer beftimmter und nachbräd«
licher anf die Wurzel alles Unheils hingewieſen. Was pro⸗
teftantifche Theologen früherer Zeit, Lutheraner ſowohl als
!) Mines: Looking for the Church., p. 11.
?) In feiner Schrift: History and character of American Be-
virals London 1832.
3) Colton’s Thoughts on the religious State ofthe Country.
New-York 1886, p. 178.
341
Reformirte, von den verberblichen Wirkungen ber Rechtfer⸗
tigungelehre, wie fie burch die Reformation geftaltet wor⸗
den, berichten, das wirb nun auch in Amerifa, wo biefe
Lehre noch in hohem Anfehen fteht und von zahlloſen Kan⸗
zein verfündet wird, von Einzelnen beftätigt. Die Schrif-
ten Amerilanifcher Theologen enthalten deßfalls merkwürdige
Geſtaͤndniſſe. Der Prebiger Flavel S. Mines fagt
parüber: Nach langer und forgfältiger Prüfung ver Sache
fet e8 feine Ueberzeugung, daß bie Lehre von ber Rechtfer⸗
tigung durch den Ölauben, fo wie fie geprebigt werbe, in.
dem man fie von ber Heiligung trenne, und fie zu einem
reflectiven, in ein Gefühl (ver Begnapigungsgewißheit) aus-
laufenden Seelenact mache, vorzugsweiſe bie feelenmörberifche
Härefie biefer Zeit ſei.) Der grünplichfte und tieffinnigfte
alfer lebenden Ameritanifchen Theologen, Nevin, behauptet
gleichfalls: Diefe Lehre werde in Amerika zu einer furcht-
baren Täufchung gemacht, und richte unausfprechliches Un»
Beil an.?)
!) Looking for the Church., p. 492.
?) Mercersburg Review, IV, 615. Ginige Jahre fpäter, 1858,
Mercersb. Review, X, 395, bemerkt berfelbe Theologe: in ber
gewöhnlichen puritaniichen Auffaffung werbe bie Lehre von ber
Rechtfertigung buch ben Glauben in eine Fiktion verkehrt,
weiche dem apoftofifchen Symbolum wiberipredge, und ber chrifl-
lichen Religion in ber That eine ganz anbre Geftalt gebe.
—⸗—
Die allgemeine Geringſchätzung der Sakramente und
das calviniſche Dogma von ber Erwählung bat bewirkt, daß
die Presbhterianer und die Eongregationaliften viele Kinder
ungetauft zu laſſen pflegen. Die eltern halten es für
überfläffig, ihre Kinder taufen zu Iaffen, vie Prediger ihrer-
ſeits laffen um ver religiöfen Beſchaffenheit der eltern
willen viele Kinder nicht zur Taufe zu, und da bie Bap-
tiften aller Denominationen ohnehin die Kindertaufe ganz
beriwerfen, fo wachfen viele Tauſende, obgleich zu einer ber
Selten gehörig, ohne Zaufe heran, und Schaaren von Bap⸗
tiften und Presbhterianern fterben ungetauft.')
Die Gefchichte der Secten pflegt fih, wenn fie nicht
in den Zuſtand des bloßen Vegetirens verſunken find, ftoß-
weife und in Sprüngen von einem Extrem zum andern zu
bewegen, und es geichieht unvermeiblich, daß Erzeugniffe
tappender Willführ, ober momentaner Verlegenheit ober in⸗
dividueller Beſchränktheit die Stelle der aus organtfcher
I) Meroersburg Review, VIII, 34, 385. X, 41. Diefelbe Zeit-
ſchrift, ®b. VII, 202, behauptet, baf gegenwärtig bie Taufe
von ber Hälfte ber befennenben Amerilanifchen Chriften beu
Kindern verweigert, bon ber Mehrheit aber geringgeadhtet werde,
fo daß nım in allen Denominationen allgemein barliber ge
klagt werde. Flavel B. Mines p. 60. Die Presbpterie
nifche Zeitfchrift, Princeton Review, 1857, p.86, rechnet nad,
daß im ben letzten zwanzig Jahren in biefer Gemeinſchaft zwei
Drittel der Kinder, nemlich 418,298 ungelauft geblieben feien.
348
Nothwendigkeit hervorgegangenen Inftitutionen vertreten
müffen. So tft e8 denn gekommen, daß bie Amerikaniſchen
Puritaner nach ihren beiden Hauptzweigen, Presbhterinnern
und Eongregationaliften, mit ihrer Weftminfter« Eonfeflion
nicht zufrieben, eine Menge von, zum Theil baroden und
ausfchweifenden Glaubensbelenntniffen in ven einzelnen Ges
meinben oder Synoden eingeführt haben, fo baß nach der
Angabe des Predigers Eolton einige hundert Glaubens⸗
Formeln unter den Presbyterianern fich finden, und man
faum von einer Stadt nach einer andern gehen faun, ohne
dort, ohngeachtet der Gleichheit ver Sekte, ein verſchiednes
Bekenntniß zu finden.) Colton, ver bie einflußreichfien
Aemter in der Presbyterianifchen Kirche bekleidete, erzählt:
er babe felbft gegen fünfzehn Kirchen organifirt, und bei
jeder verfelben eine von ihm entworfene Belenntnißformel
eingeführt, die aber jedesmal nach dem Grab feiner Er-
fenntniß und der momentanen Beſchaffenheit feiner Anfich-
ten anders gelautet babe.
So ringt denn in ben puritanifchen Genoffenichaften
bie änßerfle Larität ber Meinungen mit vereinzelten im
Ganzen erfolglojen Verſuchen, eine feftbindende Orthodoxie
wieder herzuftellen. Zu ven alten Streitigleiten und Gegen»
1) Thoughts on the religious State of the Country. New-
York 1836, p. 63.
- 344
fätzen der Puritaner find num noch neue binzugelonmen.
Es gibt Hopkinfianer und Anhänger des „neuen Lichtes“,
gemäßigte und ftrenge Calviniften, es gibt Deftructioniften
und Reftorationiften, Läugner der Erbſünde wie Taylor
und Bart, Präeriftentianer, welche ben Sündenfall in
ein früheres Daſein verlegen, wie Eduard Beecher.
Verwerfung ber Erbſünde iſt ſogar bie vorherrſchende Theorie
in Neuengland (d. h. in ben ſechs norböftlichen Staaten,
ben älteften ver Unton und ber Heimath des urjprünglichen
Amerikanifchen Proteftantismus) geworben.')
Wie früher in England, fo find auch in Amerika aus
dem Puritanismus in Folge eines dogmatiſchen Zerfegungs-
Proceſſes ohne fremden Einfluß gegen Ende des vorigen Jahr⸗
hunderts Unitarier-Gemeinden erwacfen. Es war bie
ealviniſche rohe und mechanifche Auffaffung ver Satisfactions-
Theorie, bie darin liegende Zerreiffung ber Trinität, und
Entgegenftellung ber göttlichen Perfonen, vie nach biefer
Auffaffung ganz juriſtiſch und proceßualiſch mit einander
handeln, dieſe Entitellung ber chriftlichen Gentrallehre war
«8, welche die Buritanifchen Theologen und Prebiger all
mälig durch eine natürliche Reaction zu Unitariern machte.
Im Staate Maflachufetts, in Boſton beſonders, find jene
Ranzeln, auf venen ehemals vie Orakel des Amerilanifchen
— — — — —
!) Meroersburg Review, VIII, 219,
Salvintemus, die Mather, Davenport, Hooler, Ro
binfon, Rutherford prebigten, in dem Beſtitze von
©eiftlichen, welche bie Trinität läugnen, die göttliche Natur
des Sohnes verwerfen.
Inzwiſchen ift der Unitariemus in Amerila bexeits in
008 Stabium des Auflöfungsproceifes eingetreten. Die
Brebiger der Sekte jagen fich theild ganz vom Chriften-
thume 108 und befennen fih zu pantbeiftiichen Anfichten,
wie der begabtefte unter ihnen, Theodor Parker, im
Jahre 1859 gethan, theils treten fie zur bifchöfltchen Kirche
über.) Gorrie zählt im Jahre 1850 noch 244 Unitarijche
Prediger und gegen 30,000 Mitglieder.“)
Den Unitariern ſehr nahe ſtehen die Univerfaliften,
welche im Jahre 1840 nur 83 Prediger hatten, im Jahre
1865 aber 700 Prediger mit etwa 1100 Congregationen
zählten. Ihre Lehre, daß eine endliche Befeligung aller
Menſchen erfolgen werbe, bat viele von ihnen bald zu einer
rationaliftifchen Verwerfung aller chriftlichen Myſterien ge
führt. Auch dieſe Sekte ift bereits in Verfall gerathen.
Es iſt in der religiöfen Welt wie in ber vegetabilt«
fhen. Jene Gewächle, die fich am leichteften befaamen, am
rafcheften fich verbreiten, am üppigften auffchießen, find
1) Meßner's Kirch.⸗Ztg. 1860, ©. 96.
) Churches aud Beocts, p. 132.
6
nicht gerade bie gefunbeften und dem Gärtner willlommenften
Pflanzen. In Amerifa find es vor Allem bie Methodiſten
und bie Baptiften, bie fich ber leichteften Verbreitung, ver
gewaltigften SFortfchritte rühmen töunen. Sie verbanten
bieß der Geſchicklichkeit, mit ber fie die Religion möglichft
greiffich und mundrecht gemacht haben, fo daß fich Seber
bequem fie aneignen und mit ihr fich abfinden Tann, und
auch die geringfte Fähigkeit Hinreicht, um bie Scheivemünge
biefer Lehre und Praxis in kürzeſter Srift zu erwerben und
dann von ben Kanzeln berab auszufpenven.
Aber auch ihrem Eifer, ihrer unermüblichen Thätigleit
verbanfen bie beiden großen Genoſſenſchaften ihre Erfolge.
Unter allen Selten haben bie Methopiften in Amerika
wohl bie umfafjendfte Thätigkeit entwidelt, und binnen 90
Jahren eine Ausvehnung gewonnen, wie fie nicht häufig in
ber Gefchichte vorkommt. Sie find freilich auch unter fich
geipalten. Die angefehenfte Partei ift die bifchöfliche Me⸗
thodiſtenkirche. Doch auch in dieſer bat bie Sklavereifrage
einen Bruch der nörblichen und ber füblichen Methopiften
und einen langen Proceß über Thellung bes Kircheneigen-
thums herbeigeführt. Die Bezeichnung „biſchöflich“ iſt frei-
lich nicht ernft zu nehmen. Wesley hatte in Amerika ges
than, was er in England nicht thun mochte, er hatte einen
Anglikaniſchen Geiftlichen TH. Coke zum Superiutenbenten
orbinirt, und feitben haben feine Sünger dort Superluten-
347
benten, welche ſich Bifchöfe nennen laffen. Die Laien find
von aller Theilnabme an dieſer Regierung ber Gejell-
ſchaft ausgefchloffen, die Eonferenz Herrfcht allein, vie Ge⸗
meinben dürfen fich ihre Prebiger nicht wählen, fondern fie
werben ihnen gegeben, und zwar nur auf einige Jahre.
Der größte Theil der methobiftifchen Prebiger ift jeder
wiffenfchaftlichen Bildung bar; an wirkliche Bibellenntniß
ift bei ihnen nicht zu benken '), eine Anzahl von Sprüchen
genügt. Viele find vorher Handwerker gewefen, und wer⸗
den, wenn fie Redefertigkeit verrathen, nach Türzefter Ab⸗
richtung zuerft als „Ermahner”, dann als Prebiger vers
wendet. Die häufigen Elaffenverfammlungen und Betftunden
laffen ihnen bann feine Zeit zum Bibelftubium. Nicht ruhige
Belehrung und harmonifche Ausbildung des ganzen Men⸗
fhen zum Chriſten, fondern gewaltfame Spannung und
Aufregung ber Gefühle purch die für den Zweck wohl bes
rechneten Mittel der Sekte wird erzielt und erreicht.) Bei
1) Bel, darüber: Rauſchenbuſch: bie Nacht des Weſtens.
Barmen 1847, ©. 22.
2) „Chriftlide Erkenntniß ift den Methodiſten in ben meiften ihrer
Kreiſe Nebenfache, fie wirb als überflüffig, ja als gefährlich an⸗
gefehen, der religiöfe Unterricht ber Jugend wirb vernadjläffigt ;
wozu follte er auch dienen, ba auf ber Angſibank Alles vor⸗
geht, deſſen bie Seele bebarf, um bes Heils gewiß zu werben.
Ein wirres unbeftimmtes Gefühl ift bas Pfanb ber Erwählung.“
Hengſtenberg's Kirch.-Ztg. 1847, ©. 888.
ihrem Gottesdienfte machen die Methodiſten, wie ber Pre»
biger Rauſchenbuſch berichtet‘), Häufig folcden Lärm,
zum Theil fchon während ber Prebigt, mehr aber nod
während des Gebets, wobei fie. nicht felten Alle burchein-
ander beten ober durcheinander fchreien, daß man ben Pre
biger oder Borbeter gar nicht verftehen kann.
Der ftete Wechfel der Prebiger, bie Neifeprebiger, bie
zum Theil nach ben wilbeften Gaffenmelopien gefungenen
Lieder, die für Wahrheitsſtun und Demuth gleich verberb-
lichen „Mittbeilungen ber Herzenserfahrungen“, bie Bere
wechjlung ganz phufiicher, in Körperaffeltionen wurzelnder
Zuſtände mit religiöfen, das künſtlich und burch eine Art
phyſiſch⸗ moraliſcher Epivemie erzeugte Stöhnen unb darauf
folgende Aufjauchzen — biefer ganze Apparat von Mitteln,
welche die Methobiften erfunden, bie andern Selten, auch
bie deutfchen, fich von ihnen angeeignet haben, foll eigent»
lich das, wozu fonft eine Yahre Lang fortgejegte Uebung
und religiöfe Selbfterziehung erforberlich ift, in ein paar
Stunden verwirklichen, erzeugt einen Taumel, ver augen
blicklich zu fättigen feheint, fpäter aber um jo empfindlicher
barben läßt, denn der gewaltiamen Aufregung und Be
geifterung folgt nicht felten vie oͤdeſte Gleichgältigleit. Viele
der fo Belehrten fallen bald wieber ab, und werben an
1) Die Nacht des Weftens, ©. 48.
— — — — —
349
einer Religion, welche ihnen fo bittere Taäͤuſchungen bereitet,
völlig irre. Gleichwohl geht das falfche Vertrauen auf biefe
Methode fo weit, daß bei ven Methodiſten Häufig vie ganze
religiöfe Kinder⸗Erziehung in ver Erwartung vernachläffigt
wird, ein Revival, eine Lagerverfammlung, ein paar Stun⸗
den auf der Angſtbank wurden mit einem Male vie Ver⸗
fäumniß vieler Iahre erfegen.')
Der Theologie in Amerika entfpricht bie Geftalt und
Beſchaffenheit ver Kirchen, deren Zahl das außerorbentliche
Wachsthum der Bevölferung und der Wettelfer der Selten
feit einigen Decennien ungemein vervielfältigt bat. Den
Europätfchen Maßſtab darf man an biefe Gebäude nicht
anlegen. Das Gefühl ver religidfen Ehrfurcht vor einer ge
weihten Stätte gebt dort leer aus; viele find einem Thea⸗
ter ähnlicher, al® einem Gothifchen Dom. Bon einem Als
tar ift felbftverftänplich nichts zu fehen, das wäre ein Greuel
tn den Augen bes proteftantifchen Amerikaners; ihr gefällt
ein Gebäude, in welchem eine pomphafte, theatralifche Bühne
für den geiftlichen „Nebner” ven Raum einnimmt, ven fonft
ber Altar inne bat, unb in welchem für möglichite Bequem⸗
lichkeit der Zuhsrerſchaft geforgt iſt. Viele Kirchen in ven
Stäbten nehmen fich daher aus wie das elegante Empfang.
Zimmer einer fafhionablen Dame.?)
) Schaff: Amerika, S. 129.
?) Bgl. bie Schilderung im Mercersburg Review, IV, 214.
Rn _
Die biſchöfliche Kirche iſt auch bier wie in England
die Kirche des guten Tons und fagt den Bornehmen um fo
mehr zu, als fie beim Gottesbienfte ven Kirchenraum ganz für
fich Haben, und keine Theilnahme und Nähe der Armen und Ges
ringen zu bejorgen ftebt. Auch vie gebildeten Deutfchen halten
fih, wenn fie überhaupt ein Firchliches Bedürfniß haben, zu
diefer Kirche '), und kümmern fich nicht um vie lutheriſchen
ober reformirten Gemeinden, währenp umgekehrt vie meiften
Englifchen Auswanderer, wenn fie in der Heimath Mitglie⸗
ber der Staatölirche geweſen, in Amerika einer ber puritas
nifchen Selten oder den Methodiſten fich anzufchließen pfles
gen.’) Abweichend von dem Vorbild ihrer Englifchen Mutter
bat fie eine Laien-Repräfentatton eingeführt. Aber die tiefe
Spaltung zwifchen Evangelicald und Arminianiich- Hochkirdh-
lichen, welche, wie im Mutterlande, fo auch in Amerika bie
Biſchofe ſowohl als die Geiftlichen in zwei ganz ungleich
gefinnte Parteien fcheidet, macht jebes Träftige Zufammen-
wirken in biefer Kirche unmöglih. In jeder andern Des
nomination wärbe ein folcher innerer Gegenſatz zur offuen
Trennung und Bildung einer neuen Gemeinſchaft geführt
haben. Sobald bie einen oder die andern mit ihren An⸗
fihten Ernſt machen, muß es auch dazu kommen.
1) Hengſtenberg's Kirch.-Ztg. 1847, ©. 340.
!) Caswall, the Western World revisited. Oxford 1854,
p. 296.
361
In England Hat man vielfach mit Neid und Sehn-
ſucht auf biefe Tochter der Anglitanifchen Staatskirche ge
bit, welcher die Freiheit von dem brüdenben Joche ver
Staats» Suprematie zu Theil geworben fei, und Biſchof
Wilberforce Hat in diefem Sinne vor einigen Jahren
ihre Gefchichte gefchrieben, auf daß die Mutter fich doch an
dem Dewußtfein, einer glüdlicheren Tochter das Dafein ge
geben zu haben, aufrichte. Allein einer der Amerilanifchen
Biſchöfe bemerkt, daß die Laien in allen kirchlichen Ange⸗
legenheiten gemäß ben Geſetzen dieſer Kirche einen über
wiegenden Einfluß hätten, ber noch durch bie Abhängigfeit
ber Geiftlihen von den freiwilligen Beiträgen ber Laien
verftärft werde.) Und dieſes Laienjoch wird, wie er hin⸗
zuſetzt, in der Kirche um fo härter empfunden, als biefe
Laien in der Ausübung ihrer Tirchlichen Funktionen unver
antwortlich find, und von keinem Tribunal, auch nicht we⸗
gen Haͤreſie und Schiema, gerichtet werben Können.
Neben und nach der Angelfächfifchen Race bilden bie Deut-
fhen die wichtigfte Nationalität in Norbamerifa, und bie
') Silliman Ivos: the Triale of a mind. London 1854,
p. 148. Der Berfaffer ift Latholifch geworben. Auch Puſey:
The Councils of the Church, London 1858, p. 24, meint:
Die Einführung ber Laien-Kepräfentation in ber Amerifanifchen
Kirche ſei ein unalüdiiches in ſehr ſchlimmen Zeiten aufgeftelltes
Borbild,
352
zahlreichen Proteſtanten dieſes Volkes haben fich ihr Kirchen-
weien ganz nach Gutdunken eingerichtet. Bor Allem haben
die fehr zahlreichen Dentichen Lutheraner in Amerila
eine Zeit lang große Aufmerkſamkeit und Theilnahme er⸗
regt. Dort nämlich, wo das Lutherthum von ſtaatlicher
Herrſchaft und Bevormundung völlig frei fich geftalten
konnte, follte e8, fo hoffte man, feine kirchenbildende Kraft
thatfächlich erweiſen, und eine einheitliche und freie deuntſch⸗
lutheriſche Kirche zu Stande bringen. Diefe Hoffnung iſt
völlig getäufcht worden. Die große Mehrzahl ver Lutheraner
bat mit ber Sprache auch auf bie Iutherifche Lehre ver
zichtet, ift Zwinglianifch, zum Theil methopiftifch geworben,
und bat ſich von ihren alten Bekenntuißſchriften losgefagt.
Das Amerilaniſche Lutherthum tft mit Einem Worte ein
autochtbones, von ber beutichen Religionsform biefe® Na⸗
mens fehr verfchiennes Gewäds. Aber auch vie Prebiger
und Gemeinben, welche ihr aus Deutichland mitgebrachtes
Lutherthum zu erhalten begehren, haben es zu Teiner Ein-
heit gebracht. @erabe bei dieſen finb die Geiftlichen „ber
penibelften Ueberwachung von Seiten ver felbjt regieren
wollenden Gemeinbegliever überall ausgeſetzt, gehemmt, ge⸗
plagt, gemeiftert, bebrüdt von allen Seiten, babei elenbig-
lich befolbet.') Keine Kirchliche Behörde iſt zu Stanbe ge
1) Hengſtenberg's Kirch -Zig., 1847, &. 300. Vergl. Reuters
Repertor. Bb. 74, &, 93.
—
kommen; die Gemeinden find faſt alle independent. „Gebe
Kirche, fagt ver beutfche Berichterftatter, tft vielfach bis
zur Feindſchaft geipalten, Feine in einem gefunden Zuftanbe,
feine ficher, Har, treu, unbefangen in ihrer Richtung. Der
Einzelne muß mühbevoll fein bornenvolled Arbeitsfeld anf
ſuchen, Niemand tft, ver es ihm anwieſe.“ Wie in jeber
Stabt, wo bie Zahl der beutjchen Proteflanten nur einige
Bunbert erreicht, fofort andy der Dämon Tirchlicder Zwie⸗
tracht in fie fährt, und es zu keiner einheitlichen Gemeinde
bildung kommen läßt, bat Prediger Büttner anfchaulich
geſchildert.)) Viele diefer deutſchen Gemeinden fin nur „zucht»
loſe Rationaliftengemeinven”, welche fich einen Prediger wie
einen Lohndiener miethen und ihn vom Kirchenrath aus⸗
fchließen.?)
Die deutfhereformirte Gemeinfchaft wird von
den ächten Amerikaniſchen Calpiniſten als eine abtrünnige
Kirche betrachtet; fie iſt faſt ganz Arminianiſch, ſagen fie,
und num auch noch, ſeit Nevin und feine Geſinnungsge⸗
noſſen in ihrem Schooß⸗ hervorgetreten, romanifirend.?)
1) Die Vereinigten Staaten von Norbamerila. Hamburg 1844.
Und: Briefe aus und Über Norbamerila. Dresben 1845.
) Schaff. ©. 99.
3) So der Presbyterianer Blaikie in feiner Philosophy of
Sectarianism, London 1854, p. 65. Das Buch iſt Ichrreich
+ fie die Kenntniß des Amerilaniihen Seltemvefens, aber mehr
v. Dillinger, Papflihum. 23
—
Im ganzen Umfange des Amerilaniſchen Proteſtantis⸗
mus wird die knechtiſche Abhängigkeit ber Prediger von ven
Gemeinden als eine ver fchlimmften Wirfungen bes berr-
ſchenden Kirchenweſens empfunden. Das Gefühl diefer Ab⸗
haͤngigkeit ift freilich von Anfang an eben fo ſtark ober
noch ftärker in der Seele des Predigers als in ber der
Zuhdrerſchaft. Das Bewußtſein laſtet auf ihm, daß er
teine höhere Sendung, Fein von einer alten, höheren Ju⸗
ſtitution getragenes und verbärgtes Amt bat. Ex ift nur
ein Delegirter, der feinen Zuhörern nur das prebigen barf,
was diefe zuvor ſchon fich prebigen zu laffen befchloffen
haben.
Schaff Hat in feinem vor der Berliner Allianz-Ber-
fammlung erftatteten Berichte, wo man eine möglichft rofen-
farbige Schilderung der Amerifanifchen Zuftände erwartete,
in Abrede geftellt, daß ver Geiftliche dort gewöhnlich im
einer unwürdigen Abhängigkeit von feiner Gemeinde ftehe.
„Die Amerilaner, fagt er’), erwarten von einem Geift-
Uchen, daß ex feine Pflicht thue, und achten venjenigen am
meiften, ver ohne Menfchenfurcht und Mienfchengefälfigfeit
buch das Licht, welches ber Verf. auf feine eigene Genoſſen⸗
ſchaft, bie Presbyterianifche, fallen Läßt, ale durch bas, was er
über bie andern fagt.
2) Amerika, Berlin 1854, S. 68.
den ganzen Heilsrathſchluß barlegt, und eben fo feharf un
fpeciel das menfchliche Verderben als deſſen troftreiche
Berheigungen hervorhebt.“ Das heißt: die Mienfchen hören
ed in Amerika, wie allenthalben, wo bie Doctrinen ber Re»
formationgzeit noch in Anfehen ftehen, gerne, daß der Pre-
biger fie der fittlichen Berantwortlichleit enthebe, indem er
ihnen die brei zuſammenhängenden Lehren von ber abfos
Inten göttlichen Erwählung, vom totalen Berberben und ver
völfigen fittlihen Ohnmacht, und von der Begnabigung
durch bloße Imputation vorträgt. Dazu bebarf es aber
nicht im Geringften einer befonveren Yurchtiofigleit, viel⸗
mebr würbe er Freiheit von Menſchenfurcht dadurch an
ven Tag legen, baß er bie entgegengejette altkirchliche Lehre
predigte.
Schon bie von jedem Fremden bezeugte Thatſache,
daß e8 in feinem civilifirten Lande fo wenig Menfchen wie
in Amerila gibt, welche eine eigue Meinung und ven Muth
isrer Meinung befigen, ift ber Geifteöfreiheit ver Prebiger
höchft ungünſtig. Es ift dort, wie ein kundiger und ſcharf⸗
blickender Beobachter kürzlich geäußert bat, „auch in allen
nicht politifchen Dingen eine tyranniſch vorwaltende und
uniformirende Majorität zur Geltung gelommen, welche bie
Geiſter jo fchleift und bearbeitet, daß fie wie bie in einem
Bache bewegten Kiefelfteine einander ähnlich werben.“ ')
’) Skizzen aus Norbamerila. Allg. Ztg., 11. Juni 1861, &. 2646.
23 *
— ⸗
Man weiß, wie dieſe Thrannei der allgemeinen Meinung
in der Racenfrage gewirkt hat, und noch wirkt: die geſammte
proteftantiſche Geiſtlichkeit bat ſich ver herrſchenden Ab⸗
neigung gegen jede Gemeinſchaft der Weißen mit den Far⸗
bigen gefügt, und in Neu⸗Orleans z. B. find bie katholi⸗
ſchen Kirchen die einzigen, in denen Farbige und Weiße
mit einanber beten.)
Alle proteftautifchen Theologen, deren Schriften ich ge⸗
jehen, Hagen über die Unfelbftftänbigleit ver Prebiger, ihren
allgemeinen Mangel an fittlichem Muthe, und bas brüdenbe
Joch, das die Gemeinden auf ihnen laften lafſen. Chan⸗
ning, Eolton, Mines kommen öfter barauf zurüd.”)
Sie ſchildern die Prebiger ald bie Opfer einer häufig von
ven Niebrigen und Unwiſſenden geübten Tyrannei, wie fie
in biefem Umfang wohl noch uie bagewefen jei. In der
Regel fteht die Auverficht und Anmaßung, mit ber bie Ge⸗
meinberepräfentanten fich gegen ben Prebiger benehmen,
im umgelehrten Berhältniffe zu bem Grave ihrer Bildung.’)
Feder Gedanke, ver über ihren theologifchen Geſichtskreis
hinausgeht, macht ihnen bie Rechtgläubigkeit bes Prebigers
1) Christian Roemembranoer, 1860, II, 79.
®) 3. 8. Channing’s Works’, V, 817. Colton p. 138,
Mines p. 291.
9) Vergl. bie lebendige Schilberung in Hengſtenberg's Kirch⸗Zig.
XX, 182.
867
verbächtig; fie find freigebig mit Ermahnungen ober Ver⸗
weifen, vie fie ihm von Amtöwegen ertheilen. Bor einigen
Jahren wurbe in Neuengland eine förmliche Prebiger-Bifi-
tation durch felbft gejenbete Laien veranftaltet, welche von
Drt zu Ort reifend, und überall Erfunbigungen über vie
Geiftlichen einziehend, ihnen dann Rath, Warnungen und
Zabel fpenveten. Dieſem Zuftande ber Dinge entfpricht
es denn auch, daß die Gemeinde ihren Previger Häufig nur
auf Zeit und mit dem Vorbehalte der Auflünbigung mwäßlt
und befoldet.') Natürlich gehören unter ſolchen Umftänden
Seiftliche, welche dem Previgtamte freiwillig oder gezwungen
entfagt haben, und nun irgend ein Gewerbe treiben, zu den
alltäglichften Erſcheinungen.
Die orthoporen Kirchen, fagt der reformirte Prediger
Büttner (er verfteht darunter alle calvinifchen, lutheri⸗
fhen und beutfch -reformirten Denominationen) fo fehr fie
ſich gegenfeitig befeinden und auf einanber losziehen, ſobald
e& heißt: „römifch-katholifch”, vergeffen alle gegenjeitigen
Befeinpungen und Zäntereten, und ftehen gegen das Römiſch⸗
Tatholifche wie eine Mauer. Sollte es in ven Vereinigten
Staaten zu-einem Religionskrieg kommen, was nicht uns
wahrfcheinlich ift, denn Zunder genug iſt dazu vorhanden,
fo wird gewiß nicht gefragt werben: Biſt du Presbhterianer
) Atlantiſche Stubien. II, 130.
over Methobift, Baptift oder Lutheraner, Reformirter ober
Congregationaliſt, fonvern einfach: biſt bu Proteftant ober
Ratholit? ')
Schaff Hat die Polemik gegen vie Tatholtfche Kirche
gefchilvert, wie fie von ber gefammten proteftantifchen Preffe
Amerika's getrieben wird *), mit den grob erfonnenen Lügen,
der handgreiflichen VBerläumbung, dem Ignoriven oder Ver⸗
fälfchen ber Geſchichte. Das kann nicht Wunder nehmen,
wenu man bie Breite und Tiefe der Kluft erwägt, welche
alle dieſe Sekten, vor Allem aber bie puritantfchen, von ber
Kirche trennt, und ben Eontraft der Stellung fich vergegen-
wärtigt. Während, fchreibt ein beutfcher PBroteftant aus
Amerika, alle einzelnen proteftantifchen Denominationen burd
ewig neue Zeriplitterung gefchwächt werben unb unter ein
ander meift im bitteren Hader liegen, ſteht vie Latholifche
Kirche da wie ein Mann; ein Organismus von einem
Beifte befeelt, ein Ziel mit feftem, klarem Bewußtſein ver-
folgend, fchreitet fie fort ohne Geräufch, ohne felbft bis nor
Kurzem auf Anklagen und feindfelige Angriffe ein Wort ver
Vertheidigung zu erivivern, aber in eiferner Confequenz bes
harrend und von Jahr zu Jahr neues Terrain geivinnend.’)
1) Lirchliche Viertel⸗Jahresſchrift. Berlin 1845, I, 180,
2) Rirchenfreunb, Septb. 1852.
3) Hengſtenbergs Rirhen-Beitung, 1847, €. 841.
359
Der ganze gegenwärtige Zuſtand Nordamerila's in re⸗
ligiöſer Beziehung iſt geeignet, bei den benfenden Männern
bes Laudes ſtarke Beſorgniſſe zu erweden. „Die große
Mehrheit des beranmwachienden Geſchlechts ift ohne pofltive
Religion, äußerte ver oben erwähnte Prebigerr Edſon;
was fie noch annehmen, finb etwa bie Lehren einer bloß
untürlichen Religion, und ich fürchte fehr, daß wir fichere
und keineswegs langfame Schritte in der Richtung zu völ⸗
liger Weligionslofigleit und fittlichem Verderben thun.* ')
In ber ganzen Tagespreſſe gibt fih ein nichtswürdiger
Radikalismus und feit einiger Zeit auch unverhüllte Irre⸗
Ugiöfität kund.“) Mangel an jebem Gefühl der Ehrfurcht
tft, wie die Amerilanifchen Theologen trauernd eingefleben,
ein vorherrſchender Zug des Nationalcharakters.) Der
ganze Geiſt, in welchem bie religiöfe Preffe gefchrieben
wird, ift eine Schmach für die Sache des Chriftenthums.*)
Die Zahl der Bekennenden, fagt ein Baptiftifcher Brebiger,
N) Tremenheere p. 53.
7) ©. ben Artikel: Bigns of the times, im Mercersburg Re
view, VII, 290 ff.
3) Colton: Genius and Mission of the Protestant Episcopal
Church. London 1853, p. 260.
*) Mercersburg Review, VII, 293. Es ift kaum möglich, ſchlimmere
Dinge Über ben Charakter ber Ticchlichen Preſſe Amerika’s zu
fagen, als es hier gefchieht.
860
mindert fich in allen unferen Selten. Die Kirchen werden
Rationär aus Mangel an Predigern. Das Verhalten ber
befennenven Ehriften ift durchſchnittlich fo befchaffen, daß es
für einen ehrenhaften Dann faft ein Schimpf wäre, wenn
man ihm zumuthete, fich zu befehren unb zu werben, wie
einer von diefen. Wenn die gegenwärtige Abnahme anhält,
wird in zwanzig ober breißig Jahren der Lenchter von feiner
Stelle gerüdt fein. Die Kirche bat keine Belehrungen und
feinen Einfluß auf die Mafjen.‘)
Wenn kürzlich in einer Amerikanifchen Zeitjchrift, dem
„Evangeliſten“, behauptet wurde: auch in den Freiſtaaten
ber Union fei bie jetige Zeit dem römifch-katholifchen Weſen
günftiger als feit Jahrhunderten, fo tft das ficherlich nicht
von der in Nordamerika norherrichenden Gefinnung zu ver⸗
ftehen, viefe tft vielmehr eine ver Fatholifchen Religion ent»
ſchieden feindliche.) Das aber ift natürlich, daß Vielen
bort innerhalb der Sekten-Umzäunungen enge und bange
wird, daß fie, unbefriebigt Durch bie bort pargebotenen ma»
geren und verarmten Nefte des alten chriftlichen Glaubens,
ein ganzes, ein innerlich zufammenhängenbes und harmo⸗
niſches Syſtem des chriftlichen Glaubens und Lebens er-
fehnen, daß fie vor Allem erlöft zu werben begehren von
1) ©. die Schrift bes Amerikaners Heder: Aspirations of Na-
ture. New-York 1857.
*) Krauje's Kirchenzeitung, 1858, ©. 651.
361
ber Qual eines troftlofen Subjectiviomus, eines autoritäte-
bofen, conventionellen Bibeldeutens. Zu welchen Ergeb»
niffen diefe im Wachen begriffene Richtung füuftig noch
führen wird, muß bie Zeit lehren.
l. Die lutheriſche Kirche in den Skandinaviſchen
Ländern.
Die Wittenbergifche Lehre iſt in ben norbifchen Rei⸗
hen im Ganzen mit Gewalt, durch den Willen der Mo⸗
narchen und mit Hilfe des nach dem SKirchengute lüfternen
Adels, gegen bie Neigungen des Volles eingeführt worden.
Das Bolt wurde theils planmäßig um feine Religion bes
trogen, wie in Schweben, theils in tiefer Unwiſſenheit er⸗
Halten, fo daß in Dänemark no am Ende bes 16. Jahr⸗
hunderts von zwanzig Landleuten nicht Einer lefen Konnte.
Im Norwegen hatte Chriſtian III. das Volk gleichzeitig
unter das doppelte Ioch der neuen bäntichen Religion und
des dänifchen Adels gebeugt; aber für wirkliche religiöfe
Bildung des Volles gefchah nichts. Diefer Zuftand währte
bis in's 18. Jahrhundert hinein. Katechetifcher Unterricht
wurbe nicht ertheilt, die Prebigten blieben tem unvorbes
reiteten Volle unverftänblich, „es berrichte im Lande eine
beinahe heidniſche Blinbheit.” ') In einer Bittfchrift, welche
2) So ſchildert der Biſchof Bontoppiban bie gänzliche Bernach⸗
die Norwegifchen Bifchöfe im Jahre 1714 an König Frie⸗
brich IV. richteten, mußten fie das Geſtändniß ablegen:
„Wenn einige wenige Kinder Gottes ausgenommen werben,
ift ımter und und unfern beibnifchen Vorfahren nur biefer
Unterfchieb, daß wir ben chriftliden Namen tragen.” ')
In Dänemark war buch bie Reformation der König
ale Oberbifchof vollftändig Herr ver Kirche geworben. In
dem Konigsgeſetze von 1665 iſt es ohne irgend eine Be⸗
ſchraͤnkung oder Milderung ausgefprochen, daß ber König
als Höchfter Richter und Herrfcher anf Erben über Alles
and Jedes in der Kirche und Religion, wie im Staate,
ſchrankenloſe Macht beſitze.) Nur Eine Bedingung war
ihm durch bie Handfeſte von 1648 vorgefchrieben: er burfte
nicht Die Ausübung einer andern Religion neben ber lutheri⸗
ſchen verftatten. So regierten denn bie Könige bie Kirche
durch ihre Kanzler, fpäter durch das Kanzlei- Collegium,
welches neben Yuftiz, Armenwefen und vergleichen auch bie
firchlichen Angelegenheiten zu verwalten hatte Die nem
ober zehn Biſchöfe des Landes, vie mit den Bifchöfen ber
Tatholifchen Kirche nichts al& den Namen gemein babem,
läfſigung unb Berwilberung des Volles, bis zum Jahre 1714,
in feinen Hirtenbriefen, überſetzt von Schönfelbt. Roſtock 1756,
&. 129, 80.
1) Hengftenberg’s Kirchenzeitung, 1848, &. 586.
2) Engelstoft in Herzog's Enchfiopäble. IIL, 610.
und bei denen in einer futherifchen Kirche natärlich jede
Borftellung von bifchöflider Succeffion und überlieferter
Autorität ferne gehalten werben mußte, waren nichts weiter
als Beamte des Töniglichen Oberbifchofs. Die däniſche
Geſchichte feit der Reformation weiß von feinem Verſuch,
keinem Streben nach Tirchlicher Selbſtſtändigkeit, überhaupt
von Feiner befonderen Lebensregung ber bortigen Kirche zu
berichten. Alles blieb ftumm und unterwürfig, und in dankbarer
Anerkennung diefer dem Iutherifchen Geiſte entfprechenden Füg⸗
ſamkeit unterprüdten vie Gebietenden forgfältig jede Ab⸗
weichung von dem lutherifchen Dogma und dem Lehrtypus der
Wittenbergijchen theologifchen Bakultät. Die einzige Landes»
Univerfität zu Kopenhagen, „kaum noch eine dürftige Ab⸗
richtungsanftalt zum Kirchendienfte”'), forgte für eine am
Hofe genehme Theologie, und die Streitigkeiten und Spal⸗
tungen, welche der Pietismus erzeugte, wurben durch könig⸗
liche Reftripte und Kabinetsbefehle entſchieden und beigelegt.*)
Dur das neue Staatsgrundgefeg vom Jahre 1849,
welches dem Dänifchen Stantswefen eine überwiegend de⸗
1) S. die ausführlide Schilderung in Bruns’ und Häfner’s
Neuem Repertorium, V, 101 fi.
2) „Der maßlofen Ignoranz ber (in Kopenhagen gebildeten) Theo-
fogen, wozu noch ihre fittfiche Berfumpfung hinzukam, entſprach
ber granenvoll gefnechtete Zuftand ber Landbevölkerung und bie
Bhilifterhaftigkeit und Berbummung ber Stäbter nur allzuſehr.“
So ber bänijche Berichterſtatter. Repert. S. 103.
364
mokratiſche Geftalt gegeben hat, ift die Iutherifche Kirche
zur „Dänifchen Bollöfirche” eriärt und der confeflionelle
Charakter des Staates aufgehoben worden, indem volle
Sreibeit des Belenntuiffes und des Gottesdienſtes gewährt
wurde, wozu denn in jüngfter Zeit noch bie Aufhebung des Tauf⸗
zwangs kam. Die alte Abhängigkeit ver Kirche von der Staats⸗
gewalt ift indeß geblieben. ‘Der König, ver einzige Menſch
in ganz Dänemark, ver lutheriſch zu fein verpflichtet ift,
bleibt nach wie vor Oberbifchof; jedoch iſt es nicht mehr
ber König perfönlich, fondern ber conftitutionelle Cultus⸗
Minifter, der die Kirche regiert, und welche Stabilität
burch ſolche Regierungsweiſe verbürgt fei, läßt fich ſchon
aus der Thatſache ermeflen, daß Dänemark feit 1848 fünf
und vierzig Minifter gehabt Kat. Bon einer georbneten
Verfaſſung der dänifchen Kirche kann nicht die Rebe fein;
zur Zeit befindet fich biefe Kirche, wie Biſchof Martenfen
fagt, „in einem ſchwebenden Mittelzuftande, den man nur
Höchft uneigentlih) eine Form ober eine Orbnung nennen
lann.“) Ihre Berfaffung ift vorerft nur „Gegenſtand des
Nachdenken.” Drei Anfichten machen fich bis jet geltend.
Einige wünfchen eine kirchenpolitiſche Stellung der Bifchöfe
nah Art der Engliihen Kirche. Dabei bliebe dann das
Oberbifhofthum des Minifterd ber geiſtlichen Angelegen-
) Die Berfaffungsfrage der Daniſchen Vollelirche. Kiel, 1862. © 7.
5
heiten und bes Reichstags. Andere wünfchen eine Tirchliche
Repräfentation in Synoden von Geiftlichen und Laien, auf
Grund des allgemeinen Stimmrechte. Aber vor den Er⸗
gebniffen des allgemeinen Stimmrechts in Tirchlichen Dingen
fchreden alle Befonnenen zurüd, Die Majorität ftimmt
dafür, daß die Kirche fich vorerft ohne alle Verfaffung mit
ben proviſoriſchen Zuftünden bebelfe, da bie Gegenwart „zu
nnrubig fei und zu wenig Hare Anfhauungen habe.“) Es
muß ſchlimm ftehen, wenn man ben gegenwärtigen Zuftanb
jedem Berfaffungsverfuch vorzieht, einen Zuftand, kraft deſſen
die Kirche abhängig ift von einem Reichstage, deſſen
Mitglieder weder Angehörige der Lutberifchen Gemeinfchaft,
noch überhaupt befennenve Ehriften zu fein brauchen. Daß
„eine Aenderung der kirchlichen Verhältniffe innmer mehr
als eine Nothwendigkeit empfunden werbe”, hat ber Pre⸗
diger Kalkar von Gladſaxe bei Kopenhagen auf ver Ber-
Iiner Verſammlung der Allianz behauptet.) Chriftus, fügt
er entjchulbigend bei, fei in Dänemark nicht fo offen ver⸗
worfen, wie an andern Orten, aber e8 berriche dort wenig
geiftliche® Leben. |
Unter dem Einfluffe des aus Deutfchlann eingebrungenen
Nationalismus war feit bem Ende des vorigen Jahrhunderts
N’ Deutiche Zeitichrift für chrifil. Will. 1859, ©. 88.
9 Verhandlungen u. |. w. ©. 584.
I
nicht nur das Voll in den höheren und mittleren Stänben,
fondern auch bie Geiftlichfeit in Maſſe ungläubig geworden.
Die Pfarr⸗Candidaten erheuchelten noch im Examen Ortho⸗
doxie, und zeigten fich in ber unmittelbar auf die Orbis
nation zu haltenden Previgt unter ben Augen ihrer Bi⸗
ichöfe als entfchiebne Naturaliften.!) Nach Däniſchen Schil⸗
berungen war bie große Mehrheit ber bortigen Geiftlichen
den glaubenslofen neutheologifchen Anfichten eben jo voll⸗
ftänbig verfallen, wie ihre deutſchen Standes» und Belenut-
nißgenofien; man fchwankte nur zwilchen einem frivolen
Unglauben, und einem ſich mehr wiffenfchaftlich gebehrden⸗
den Rationalismus.
Gegenwärtig und ſchon feit geraumer Zeit theilt ſich
die Dänifche Geiftlichkeit im Großen in zwei Parteien, die
rattonaliftifch-ungläubige, deren Lehrer und Führer Profeffor
Staufen war, und bie Anhänger Grundtvig's. Der
beharrlihe Kampf biefes Mannes gegen ven NRationalis-
mus bat ihn zu einer Theorie geführt, welche die beutfchen
Lutheraner ihrerfeits als eine „im innerflen Kern antirefor⸗
matorifche und antilutheriſche“ bezeichnen.) Während ber
Proteſtantismus in Amerika das apoſtoliſche Glaubensbe⸗
kenntniß ganz verwirft oder als werthlos bei Seite ſchiebt,
ı) Bruns’ Repert. V, ©. 106.
2) Rudelbach, in ber Zeitichr. für luth. Theol. 1857, ©. 7.
367
will Grundtvig dasſelbe ald eine eben fo Klare wie fefte
Lehrformel und ein evidentes Zeugniß bed Glaubens ber
älteften Kirche über die der Willführ fubjectiver Deutung
verfallene Bibel geftellt wiffen, in ähnlicher Weife wie
Leffing und Delbrück. Er und feine Partei ift indeß
immer mehr mit dem Lutherthum zerfallen; und bringt auf
gänzliche Aufloͤſung des Staatskirchenwejens und Parochial⸗
Berbandes, damit Jeder fich beliebig an biefen ober jenen
ihm zuſagenden Prebiger anfchließen könne. Die Hauptfache
aber ift, daß die ganze Grundtvig'ſche Schule mit dem deutfchen
Proteftantismus zu brechen geneigt ift, ober theilweife bereits
gebrochen hat. Man will nichts mehr von ber deutſchen
proteſtantiſchen Theologie, nichts von ben beutfchen Bes
lenntnißſchriften wiſſen. Rudelbach hat diefe Richtung
einem fanatifchen Haffe gegen Altes, was deutſch heiße, zu⸗
geichrieben; fie bat aber ohne Zweifel, wie Grunbtoig’s
ganzer Gedankengang feit vielen Jahren beweift, einen ties
feren Grund; fie entquilft einer ven Principien ber Engli⸗
fen Zractarianer nahe verwandten Anſchauung.
Dänemart war feit 300 Iahren in geiftig religiöfer
Beziehung völlig von ber beutfchen Theologie und Literatur
abhängig, was fich dort regte war immer nur ein abges
[hwächter Nachhall der deutſchen Bewegungen und Erzeug-
niffe. Aber der gläubige Proteftantismus, wie er gegen-
wärtig in Deutfchland exriftirt, hat in der That in Düne
_
mark keinen Boden mehr. „Gläubige Predigt, fagt Beterfen,
tommt in Dänemark nur fehr fporabifch vor.“ ')
Ein Däntfcher Geiſtlicher, ber in der Darmfläbter
Allgemeinen Kirchenzeitung eine Schilderung ber Eicchlichen
Zuftände feines Landes niedergelegt bat, ftellt zwar bie
Lage als fehr fchlimm var, erflärt aber dann, feine Meis
nung jet nicht, „daß ber Herr bie Dänifche Kirche ver-
laffen Habe." Manche Laien feten erwedt, und als Beleg
wirb nun angeführt, daß ein von einem fünblichen Wandel
bekehrter Schmied im Lande herumreiſe, daß ein Bauer
eine Gefellfehaft für innere Miſſion geftiftet habe, und daß
auch ein Bäder „für die Freiheit der Kirche und ein reges
Leben arbeite.") Bon ven Thaten der Beiftlichen berichtet
er nichts.
Es wäre in ber That fehwer, ein noch Häglicheres
Bild von einem Kirchenwefen zu entwerfen. Das Boll in
ben Stäpten zieht fi vom Gottesbienfte jo maſſenweiſe
zurüd, daß in Kopenhagen von 150,000 Einwohnern nur
etwa 6000 beftänbige Kirchengeher find, und das Ehriftene
thum einer großen Menge bios noch darin befteht, jährlich
etwa zum Neujahrsfeft in die Kirche zu geben.) In bem
übrigen Städten iſt ver Kirchenbefuch noch fehlechter ale im
) A. 4. O. ©. 106.
?) Jahrgang 1855, ©. 1473 ff.
3) Krauſe's Kirch⸗Zig. 1859, ©. 968.
ET TTTTTTTTT
a
Kopenhagen.) In Altona genügt eine einzige Kirche für
45,000 Einwohner. Die Kirche, geleitet an eine nunmehr
in den Händen einer völlig demokratiſch conftituirten Ver⸗
ſammlung befinbliche Staatsgewalt, ift unfähig, in irgend
einer Lebensfrage fich felber zu helfen. Die Geiſtlichkeit ift
in Parteien geſpalten, fie vermag ſich nirgends an eine
geiftige over moralifche Autorität anzulehnen, und das rath-
loſe Bolt fucht bei Baptiften und Methodiften religidfe
Nahrung, ober verwilbert.
Auch in Schleswig, ſowohl im deutſchredenden als im
däniſchredenden Theile des Landes, ftehen bie Kirchen leer.
Als eine Haupturfache davon wird die Beichaffenheit ver
Dänifcyen Geiftlichleit angegeben. „Däntfche Berflachung,
Dänifcher Unglaube und Dänifche Unfittlichleit werden jet,
fagt der Schleöwiger Prediger Beterfen, vem Lande (durch
bie Däntfchen Geiftlichen und Beamten) eingeimpft. Nicht
ber großartige Drud, der die Dentfche Zunge trifft, ift
das Hauptleiden, fondern die von Dänemark nad Schles-
wig verpflanzte Srreligiofttät, umb im Geleite dieſer bie
Demoralifation. Bei ven Däntfchen Geiftlichen iſt die res
ligtds- fittliche Haltung ‚Ausnahme, nicht Regel“.) Die
1) Ag. Lit. Ztg. 1841, IT, 491,
2) Erlebniffe eines Schleswig'ſchen Predigers. Frankfurt 1856,
©. 881.-
». Döllinger, Papſtthum. 24
870
Dänifche Mißhandlung der Kirche in Schleswig tft übri⸗
gend, wie nun erfannt und bitter geflagt wird, eine Folge
der auch in den Herzogthümern feit der Reformation ein-
geführten Epiffopalgewalt des Landesherrn. Auch bier find
längft fchon alle Tirchlicden Anorbunngen, auch bie das
innerfte Wefen bes Tirchlichen Lebens berüßrenpen, einfeitig
bon dem Landesherrn ausgegangen. Im Jahre 1834 Hatte
man fogar die Verwaltung ber Kirche dort den Oberconfi-
ftorien genommen, und fie ver Schleswig-Holfteinifchen Re
gierung übertragen.’)
Mehr noch als in Dänemark iſt vie lutheriſche Staats⸗
fiche in Schweden von Anbeginn an in theologifcher
Beziehung von Deutfchland völlig abhängig geweſen unb
geblieben. ‘Die Heine Anzahl tbeologifcher Schriften, vie
Schweben befigt, beftebt faft nur aus Ueberfegungen aus
den Deutſchen. Doch hat ber theologiſche Nationalismus
Deutfchlande in Schweren wenig Eingang gefunden;
bie Geiftlichleit Batte am Ende des vorigen unb
im Unfange be gegenwärtigen Jahrhunderts über
haupt aufgehört, ſich mit Theologie zu befchäftigen, und
wenn ein berühmter Schwebifcher Theologe ver jüngften
Zeit, Wiefelgren, äußert: „unfre kirchliche Verfaſſung
und Gefetgebung hat faft nur auf dem Papiere ihre Guül⸗
) Schrader: Die Kirchenverfaflungtfenge. Altona 1849, &. 174.
371
tigkeit; Alles hat der Nation aliomus Lofe gemacht“, — fo nimmt
er wohl das Wort im Sinne eines praftifchen Inbifferentismus.
In England Hatte man vor einiger Zeit ben Blick
anf die Schwebifche , Kirche geworfen, in ver Hoffnung,
dort eine gewiffe Verwandtſchaft und kirch liche Sympathie
mit ven Engliſchen Zuftänden und anglofathoftfchen Stre-
bungen zu finden. Diefe Hoffnung zeigte ſich fofort bei
näherer Prüfung als eine Iüufton. Man erkannte, daß
das Schwediſche Epiflopat ebenfo wenig als das Dänifche
irgend einen Anſpruch auf apoſtoliſche Succeffion babe,
daß die Schwebifchen Bifchöfe weit entfernt feien, ihr Amt
im Sinne der alten Fische aufzufaffen, daß fle vielmehr
Intherifche Superintendenten und nichts weiter feien. “Die
Schwebifche Kirche, fand man, ift einfach eine Iutherifche,
von jeder Fatholifchen Idee gründlich gereinigte Commn⸗
nität, in ber feine Spur von dem, was ein Anglitaner
unter „Kirchengeiſt“ verfteht, zurückgeblieben ift. ')
Dabet wird aber der Schwebifchen Kirche auch das
Zeugniß nicht verfagt, daß fie „die am vollkommenſten or⸗
ganifirte proteftantifche Communttät in Europa fel“,') daß
fie in der Liebe für ihren Luther vielleicht felbft die Alt⸗
Eutheraner in Deutſchland übertreffe. ’)
!) Christian Remembrancer. XIII, 425.
®) Chr. Rem. XIII, 488.
2) Hubers Janus. Berlin, 1845 I. 232.
24*
372
Andrerſeits freilich behauptet der Prebiger Zrottet,
das Vaterland Guſtav Adolf ſei ohne Zweifel dad am
wentgften proteftantifche unter allen Landern, in denen bie
Reformation Eingang gefunden habe. Er fett nämlich als
Anhänger Vinets, von der Geſchichte der Reformation und
den durch diefelbe begründeten Zuftänden ganz abſehend,
das Weſen des Proteftantismus in die Freiheit des religt-
Öfen Lebens und die Ungebunbenheit der Tirchlichen Bewe⸗
gung; da muß ihm denn bie Schwebifche Kirche, in welcher
Staatliches und Religiöfes fo arg verwachſen ift, allerbinge
als unproteftantifch erfcheinen.
Der König ift in Schweden „oberfter Auffeher und
irdbifher Herr ber Kirche,” er vereinigt die höchite geiſt⸗
liche und weltliche Macht des Meiches in fi, und läßt
feine Gewalt über die Kirche durch „die Königliche Kanzlei-
Regierung” ausüben, deren Vorſtand ber Minifter ver aus⸗
wärtigen Angelegenheiten tft.') Zugleich mit dem Könige
beherrfcht der Neichötag die Kirche; auch Kirchliche Dinge
werben auf bemjelben verhandelt. So bat fih denn ber ſelt⸗
fame Auftand dort gebildet, daß bie Geiſtlichkeit nach
ihrer ganzen Stellung als. privilegirter Stand und durch
ihre Vertretung auf dem Reichstage großen politiſch en
Einfluß befigt, gleichwohl aber pie Kirche in ſclaviſcher Ab-
— —
) Klippel in Herzogs Encpffopäbie, XIV, 89.
873
bängigfett vom Staate fteht.?) Der König kann fogar zu
Sunften von fcheiveluftigen Ehegatten dem Confiftorium
Scheivebriefe a bfordern, auch für andere Fälle als Ehebrud).
Die Beichäftigung der Pfarrer ift zumeift nur weltlicher
Art; fie find die beften Finanziers und Geichäftsmänner,
‚oft zu Allem tüchtiger, als zur Führung des geiftlichen
Amtes.) Diekirchlichen Befchäfte werden zumelft den Hülfs⸗
prebigern überlaffen. Die Predigten werden vorgelefen,
das Bolt felbit, heißt es, wünfche keine frei vorgetragenen
Predigten; und nach ver Prebigt muß der Geiſtliche von
der Kanzel herab eine Halbe Stunde lang Ausrufer oder
Büttel fein für die trivialften Bekanntmachungen. NIS
neuerlich in einer Verſammlung der Bifchdfe die Abfchafe
fung dieſes anftößigen und läftigen Brauches, ver „Kung-
örelfer” zur Sprache kam, erflärten fich faft alle für vie Bei⸗
bebaltung, auch aus dem Grunde, weil fie ohne biejelben
aur die alten Weiber und Kinder als Zuhörer behalten
würden.*) Die Hausverhöre, die urfprünglich den Prebiger
befähigten, vie religiöfen Kenntniffe feiner Gemeinde im
Einzelnen zu prüfen, find in den meiften Gegenden herabge-
funfen zu einer Gelegenheit für Ausfüllung der Steuer-
1) Trottet, Prediger in Stodholm, in Gelzer's Monatsblättern
XI, 140.
?) Kirchliche Bierteljahreichrift. Berlin 1845, IV, 149.
3) Liebetrut, Hengfienberg’s 8. Zig., Bd. 34, 119.
*%) Liebetrut, 34, 172,
874
rollen und Vollsverzeichniſſe.) Deutiche Beobachter bes
richten von einer faft unglaublichen Unwiſſenheit ber borti«
gen Geiftfichen, bis zu den böchften Stellen hinauf; es fei
unerbört, daß ein von Patron zu einem Paftorat Berufe
ner, wenn er auch noch jo roh und bilbungslos fei, zurück⸗
gewiefen werbe.:) Im Amte bereitet ihm feine Unwiſſen⸗
beit, wenn er nur lefen und fohreiben fann, Leine Schwierig»
teiten, da er allen Unforberungen fchon genügt, weun er,
nebjt der Berrichtung der in Schweben mehr als anderswo
noch beibebhaltenen Firchlichen Formalien und Ceremonien,
ſonntäglich eine abgefchriebene Prebigt vorliejt. Nimmt
man noch Hinzu, daß die in Schweden uoch immer um ſich
greifende Peſt des Branntweintrintens?) auch einen großen
Theil ver Geiftlichen befallen bat, fo erklärt ſich Vieles in
ben bortigen Zuftänden.
Im Ganzen läßt fich indeß doch -fagen, daß gegenwär-
tig ber geiftlihe Stand in feinem proteftantifden Lande
fo bebeutende Privilegien, fo großen und mannigfachen
Einfluß befigt, als in Schweden. Diefem Einfluffe ift denn
auch die Härte des dortigen Verfahrens gegen vie Erwec⸗
ten und „Leſer“, der zäbe Widerſtand gegen alle Reformen
I) Kirchl. Bierteljahresichrift. 1845. IV, 149.
N) Liebetrut, 168.
2) Bgl. darüber Allg. Ztg. 1857, &. 5475.
375
zuzufchreiben. Nach Liebetruts Bemerkung würde ein Schwebe,
der die beſtehenden Webelftände rügte, von allen Seiten,
von Frommen und Unfrommen, als ein Samariter verwor⸗
fen werben, der mehr nach dem Leben als nach der Lehre
frage, als ein blinder Eiferer über Dinge, denen nicht zu
belfen fei.')
Liebetrut und andre Berichterftatter pflegen der Schwe⸗
diſchen Kirche und Geiftlichkeit das Zeugniß Tutherifcher
Nechtgläubigkeit zu geben, aber, fagen fie, es berrfcht eine
todte Orthodoxie. Die Schwerifche Kirche, fagt Liebetrut,
ift eine ‚veriwäftete, erftorbene, unter dem Banne Gottes
befindliche Kirche, in ganzen Provinzen ift alles kirchliche
Leben völlig erloſchen. Ihre Lirchliche Einheit iſt die Eins
heit unb ber Friede des Kirchhofes?). Und nicht anders ber
Schwediſche Prediger Cervin⸗Steenhoff: Es iſt jet
die Zeit der Erniedrigung der Kirche, fie iſt tobt; Alles ift
jet öde, leer und zankfüchtig geworden’)
Schweden ift jet wohl nebſt Rorwegen das einzige
Land in Europa, wo noch die ächte Iutberifche Lehre auf
ben Kanzeln berricht. Die tiefe Unwiffenheit ver Mehrheit
der Geiftlichen bildet kein Hinverniß, denn die herkoͤmmli⸗
Gen Formeln und Stichworte des Syſtems findet und ges .
1) Hengftenberg’s Kirch. Ztg. Bd. 38, ©. 148.
2) Hengſtenberg's Kirch. Ztg Bb. 34, ©. 172. 151.
3) Kliefoth's kirchl. Zeitichrift, 1856, ©. 713 fi.
376
braucht am Ende doch jeder mit Leichtigkeit. Nichte iſt
feichter,, fagt Trottet, als hier ver Ketzzerei verbächtig
"zu werben. Seiner Behauptung nad ift biefer Zuftand
ber Kirche in Schweben mit die Haupturfadhe bes Sitten»
verberbniffes, das in dieſem Lande herrſcht. Ein verberb-
licher Formalismus babe überhand genommen, die religidſe
Gleichgültigkeit Habe nach und nach die Strenge ver alten
Sitten aufgehoben, und bie öffentliche Meinung autorifire
nnd fchäge in vielen Fällen die empörenbfte Unfittlichleit.")
Die „tobte Orthobogie“ ift gegenwärtig eines ber bes
Hebten Schlagworte, und man meint, ihr auch in Deutfch-
land die Schuld an ben fchlimmen kirchlichen Zuſtänden
bes 17. und 18. Jahrh. beilegen zu dürfen. Da möchte
aber doch wohl eine ftarle Illuſion mit unterlaufen. Die
Iutberifche Orthodoxie war in Deutfchland nicht tobt, viel»
mebr, fo lange fie eriftirte, ſehr lebendig, und fie bat zwei
Sahrhunverte lang (1550 — 1750) ven Kampf ver
Neibe nach gegen Calviniomus, dann gegen Arnbt und bie
Arndtianer, bieranf gegen Calixtus und die Helmſtädter
Schule, weiter dann gegen Spener, ben Pietiomus und
bie Haltifche Schule rüſtig und erfolgreich burchgeftritten,
und fich aller Abſchwaͤchungoverſuche glücklich erwehrt, bis
enblich der Rationaliemus ſowohl der Orthodoxie als ihrer
1) Selgers Mon. Blätter Xi., 148.
377
Gegner Meifter geworden ift, und auf ihren Trümmern
feine Hütte erbaut bat. Was mau in Deutfchland :für
eine Wirkung ber „todten“ Orthodoxie ausgeben möchte,
das war vielmehr die natürliche pſfychologiſch und elklefiologifſch
nothwenbige Folge des Intherifchen Syſtems feldft, wie n
biftorifch leicht nachweifen ließe.
BU man in Schweden von einer todten Orthodorxie
reden, fo iſt auch bier zu erinnern, daß dieß dort eben
nichts Neues, fondern der normale Zuſtand feit ver Refor⸗
mation iſt. Die Schwerifche Staatskirche ift bis auf die
Gegenwart im unbeftrittenen Wlleinbefige abfoluter, andh
nicht die leifefte Abweichung vom fymbolgemäßen Luther-
thume duldender Herrfchaft geblieben. Ernſte theologische
Controverſen find eigentlich, etwa mit Ausnahme des litur⸗
gifchen durch die katholiſirenden Beſtrebungen des Königs
Johann veranlaßten Streites, in der Schwediſchen Geſchichte
gar nicht vorgefallen, und zur Abwehr fremder Lehre bedurfte
die Geiftlichkett Feiner theologifchen Kenntuiffe. Als Guſtav
Waſa die Einwohner von Helfingland zum Lutherthum bes:
tehren wollte, fchidte er ihnen nicht, etwa Verteiler Schwe⸗
diſcher Bibeln oder Prediger der neuen Lehre, fondern er
ſchrieb ihnen: wenn fie nicht alsbald [utherifch wärben,
fo laſſe er eine Oeffnung in das Eis des Deelen- Sees
machen und fie alle ertränten.‘) So blieb ed: Schwert,
) Dieß führt die von den Profefforen zu Upſala herausgegebene
378
Sefängniß, Verbannung, in neuerer Zeit Geloftrafen find
bort immer als die erprobten Mittel betrachtet worben,
jevem kirchlichen Zwiſte vorzubengen, oder den ausgebroche⸗
nen beizulegen. Es fchien dieß um fo nothiwenviger, als,
wie der berühmte Atterbom bemerkt, öffentlicher Unter⸗
richt und Bildung des geiftlichen Standes fich ſehr lange
Zeit in einem Zuſtande befand, ber tief unter demjeni⸗
gen der unmittelbar vorausgegangenen papiftifchen Epoche
ſtand.) So griffen denn auch Karl IX. und fein Sohn
Guſtav Adolf zu dem einfachen Mittel, beharrlicden Katho⸗
lifen vie Köpfe abfohlagen zu laffen. Und als gegen Ende
des 17. Jahrhunderts und im Anfange des folgenden meh⸗
rere Schweden, Ulftadius, Peter Schäfer, Ulhagins
und Erit Molin an der Iutheriichen Hanptlehre von ber
Imputotion irre wurben, und von einer Nothiwenbigfeit ber
guten Werke redeten, da wurden Schäfer und Ulhagius
zum Zobe, Ulſtadius zu lebenslänglichem Zuchthaus vers
urtbeilt, in welchem er 30 Sabre blieb, und Molin wurde
verbannt. *) Nach diefen Grundfätzen tft man denn aud
feit 30 Jahren gegen die „Erweckten“ oder „Leſer“ verfahren.
Zeitfehrift Frey in einem durch eine Schrift Wieſelgren's ver
anlaften Artilel über Guſtav Waſa an. Diefer Artikel if
überjebt in den von Bonnetty beransgegebenen Annales deb.
Philosophie Chret. Paris, 1848 XVII, 282.
) Dafeldft, p. 291.
7) Norbifche Eammiungen, 1755 Sb. IE. 44 — bi. Bel
379
Man weiß eigentlich nicht anzugeben, wie ed in Schwes
den zugegangen, daß nun ſchon feit fo langer Zeit das res
ligiöfe Leben fo erftorben, vie geiftliche Thätigleit fo hand⸗
werlömäßig geworben ift. Fremder, Deutſcher Einfluß ift
nicht die Urſache. Als eine Haupturſache fällt zunächft je⸗
dem Beobachter Die große Verweltlichung des geiſtlichen Stan-
des, ver Mangel an Bildung und Vorbereitung — in bie
Augen. Eine kurze Wbrichtung von wenigen Monaten
genügt, um ein Paſtorat zu erlangen; man tritt mit
großer Leichtigkeit aus einem beliebigen Gewerbe ober
weltlichen Amt plögli in ven durch gutes Einkommen
und Anſehen lockenden, geiftliden Stand, man wirb
ſelbſt Biſchof, ohne auch nur einen Anflug von theolegi«
fcher Bildung zu befigen.‘) So ver Dichter Tegner, fo
jeßt ein früherer Profeffor der Botanil. Die Sorge für
Weib und Kinder und pie Menge ver bürgerlichen Gefchäfte
tbut dann das Uebrige. Es fcheint faft raͤthſelhaft, daß
ein Volk, das einen Linné Berzelius, Geljer, Atter-
bom hervorgebracht, das eine reich botirte Kirche und zwei
Hochſchulen hat, eine Kirche, Die doch auch, gleich anvern
Berliner Allg. Kirchenztg, 1849, S. 752. Das Todesurtheil
bes geiftlichen Gerichtes zu Abo wurbe von ber weltlichen Be⸗
hörde in Gefängnißftrafe verwandelt.
3) Bergl die von Liebetrut angeführten Beiſpiele. a. a. O.
Bd. 34, &. 169.
a _
proteftantifchen Kirchen, das Poftulat allgemeiner Bibelfor-
fung zuin' veligiöfen Prinzip erhoben bat, daß ein folches
Bolt in theofogifher Beziehung jo gar nichts geeiftet hat.
Der. frühere Brofeflor der Theologie, nachher Bichof Reu⸗
terbahl, fagt: ‘Der theologifche Unterricht hätte ſchwerlich
ſchlechter orgauifirt fein Lönnen, als in Schweben. Die
Unmwiffenheit oder Gewinnfucht uud der Unverſtand ver
Geiſtlichen fei die Urfache, daß fo Viele in den Gemeinden
pie Kirche enibehren zu können meinten‘) Die Schweben
durften indeß nur nach Dänemark binüberbliden, um as
dem dortigen ganz rationaliftifch gewordenen Klerus bie
Folgen theologifcher Stupien wahrzunehmen. Ste hatten
eben nur die Wahl, ihre utherifche Orthodoxie zu behalten,
und der Theologie zu entfagen, oder auf Koften ber erfte-
zen fich mit der Theologie einzulaffen. Es war natürlich,
daß fie fich in einem Lande, wo die Staatsgewalt mit ſol⸗
her Strenge die alten religiöfen Strafgejete aufrecht erhält,
wp der Klerus fo gefnechtet tft, daß vie weltlichen Behörben
die Kiechenbußen diktiren, und dann der Pfarrer jeven Verbre⸗
her ohne weiters abfoleiren mug — baß fie unter ſolchen
Umftänden auf bie Theologie verzichteten, and gute Luther⸗
aner zu bleiben vorzogen. Symbolmäßige Rechtgläubig-
-1).&, die Auszüge aus feiner Schrift in Heugſtenberg'e 8. Ztg.
Br. 38., ©. 151.
381
teit und wiflenfchaftliche Theologie können nun einmal’ in
Schweden fo wenig als in andern proteftantifchen Ländern
in frieplicder Ehe mit einander leben. Seit fie fi tm
vorigen Jahrhundert miteinander überworfen, bat kein
Sühneverfuch gelingen wollen, und beide Satten haben ein-
ander den Scheibebrief bereits eingehänpigt.
Die „Leſer“, welche feit einigen Decennien faſt die ein-
zige Wellenbewegung in den fonft flagnirenden Gewäſſern
der Schwebifchen Staatölirche hervorgebracht haben, waren
zuerit im Grunde nichts weiter als eifrige Lutheraner; ihr
Wahlſpruch war das „gerecht durch den bloßen Glauben“
und die Knechtſchaft des Willens, und fie fonberten fich,
weil die Geiftlichen ihnen dieſe Lieblingsdogmen nicht rein
und nicht oft genug prebigten.') Als nun das lutheriſche
Staatöfirchenweien die armen Menfchen mit der ganzen
Wucht eines brutalen Polizeivefpotismus zu erbrüden trach⸗
tete, da Tießen fih Hunderte eher an den Bettelftab bringen,
oder wanderten aus und floben in bie Eindven Lapplands.
Hatten die „Leſer“ Schon begonnen, Taufe und Abendmahl
durch einen aus ihrer Mitte verrichten zu laffen, fo erga-
ben fie fih nun Engliichen und Amerikaniſchen Ba ptiften-
Miffiondren, und ließen fich von Neuem taufen. Im Sabre
1853 mußte man endlich die Wirfungslofigfeit-ver Straf-
1) Neue Preuß. Zeitung, 18. Dech, 1866.
BER.
ben, bie bier, wie in Dänemart, Jedem ohne irgend ein Be⸗
fenntniß, fogar ohne daß er auch nur eine Frage mit ja ober
nein zu beantworten brauchte, ertheilt wird. Krankenbeſuche
find gleichfalls nicht Ablich. Der völlige Verfall ver Sir- -
chenzucht wird auch hier beflagt. Der Deutfche bat dort
nur einen Heinen Kreis Erwedter gegenüber ver großen ge
bantenlofen. Maſſe des Volkes gefunden. Auch vort fiehen
die Kirchenftühle, namentlich der höheren Klaffen und Be⸗
amten nicht felten leer). Die Laien Tagen allgemein
über die Prediger, ihren weltlichen Sinn, ihre Unter⸗
laffung aller Seelforge. Diefe aber verweifen auf ihre
Ueberbürbung mit weltlichen Gefchäften,”) die Größe
ihrer Pfarriprengel, ihre Delonomie- und Familien⸗
Sorgen uud bie weite Entfernung der meiften Gemeinde
giieber.
Es führt uns dieß auf einen dem ganzen proteftanti-
fehen Norden gemeinfamen Zug, ic meine das Mißver⸗
hältniß der Prebiger- Zahl zur Bendtlerung, und die ſchon
dadurch bebingte geiſtliche Ohnmacht der Kirche. In Ror-
wegen gibt: es auf eine Beydlkerung von 1,500000 Seelen
nur 485 geiftliche Stellen; burchfchnittlih Tommen 3600
Seelen auf eine Pfarrei, und, ohngeachtet der enormen
Ausdehnung der Pfarrſprengel, find haͤufig noch mehrere,
1) Hengſtenberg's K. Z3. Bb. 62, S. 499..
2) Sarwey a, a. D. II. 780.
385
bis zu fünf, in der Hand Eines Pfarrers vereinigt, bamit
derſelbe mit Frau und Kindern ein reichlicheres Ein⸗
tommen babe. Selbft ver Engliſche Beſucher Foreſter
" äußert fein Erſtaunen über dieſen „Pluralismus im großen
Maßſtabe⸗, und die Vernachläfjigung des Volkes zu Gun-
ften reicher Priefterfamilien?). Es gibt viele Gemeinden von
6000 bis 12000 über große Streden zerftreuten Menſchen
mit einem einzigen, felten zwei Prebigern‘), So hat Hol
ftein für 544,419 faft nur Iutherifche Einwohner nur 192
Prebiger, die noch dazu nicht felten zu zweien ober breien
an ein und berfelben Stiche ſtehen). Im gefammten
Scandinavifchen Länbergebiete ift die proteftantifche Kirche
im Ganzen genommen fchlecht genug vertreten, d. h.
veicht die Zahl ber Gotteshäufer und Prediger bei weitem
niht ans, fo daß Unzählige nicht im Stande find,
die Kirche zu befuchen. Im Berzogthum Schleswig find
feit ber Reformation nicht wenige Pfarreien eingegan.
gen, weil die Pfarrer mit Frau und Kindern bas Einkom⸗
men zu gering fanden. So gibt es denn dort Parocdhien
mit 13000 auf Meilen zerftreuten Menſchen und zwei Pre
bigern. Ebenſo find in Hinterpommern bis 1850 nach und nach
17 Mutter» und 13 Tochtergemeinven mit 30 Kirchen unb
?) Norway, p. 809.
2) Darmſt. Allg. Kirch⸗Ztg. 1866, ©. 1650.
3) Metzuer's R-Big. 1861, ©. 282.
v. Dillinger, Papfttum. 25
a _
einer Bevoͤllerung von 15000 Seelen, welche früher felbit-
ftändige Pfarreien geivefen, durch Eombination eingegangen. ')
Unzählige Menfchen in allen drei fcandinavifchen Länbern
haben in ihrem Leben nie ein Gotteshaus bejucht.*)
In den Ruſſiſchen Länvern, hauptfächlich in ben Oftfeepro-
pinzen, haben bie Zutheraner, deren im J. 1854 1,834,224
waren, 192 Prediger, fo daß dort auf 4,394 Seelen ein Pre
biger fommt.?) So muß das Volk büßen für das Bebürfniß ver
Geiftlichen, Weiber und Kinder zu haben und zu verforgen.
m. Die proteftantifchen Kirchen iu Deutſchland.
Deutfchland ift die Geburtftätte ber Reformation; in
bem Geifte eines deutſchen Mannes, bes größten unter ben
Deutfchen feines Zeitalters, ift die proteftantifche Doctrin
entfprungen. Bor der Weberlegenheit unb fchöpferifchen
Energie dieſes Geiſtes bog damals ver aufftrebenbe, that-
träftige Theil der Nation demuthsvoll und gläubig bie
Knie. In ihn, in dieſer Verbindung von Kraft und Geift,
erfannten fie ihren Meiſter, von feinen Gedanken lebten fie;
er erſchien ihnen als der Heros, in welchem bie Nation
mit allen ihren igenthümlichleiten fich verkörpert habe.
Sie bewunderten ihn, fie gaben ſich ihm Hin, weil fie in
ihm ihr potenzirtes Selbft zu erkennen glaubten, weil es
1) Mofer’s Kirchenblatt, 1856, ©. 188,
2) Darmft. Allg. 8.-Ztg. 1866, G. 1650.
3) Reuters Repert, Bb. 94, ©, 168,
387
ihre innerften Empfindungen waren, denen fie, nur klarer,
berebter, kraftvoller ausgebrüdt, als fie e& vermocht Hätten,
in feinen Schriften begegneten. So ift Luthers Name
für Deutfchland nicht mehr bloß ver eines ausgezeichneten
Mannes, er ift der Kern einer Periode des nationalen
Lebens, das Centrum eines nenen Ideenkreifes, ver kürzefte
Ausprud jener religiäfen und ethifchen Anfchauungsweife,
im welcher der deutfche Geift fich bewegte, deren mächtigem
Einfluſſe auch die, welche fie befämpften, fich nicht ganz
zu entziehen vermocten. Luthers Schriften finb fchon
lange nicht mehr Vollsfchriften, und werben nur noch von Ge⸗
fehrten um BHiftorifcher Zwede willen gelefen, aber bas
Bild feiner Perfönlichkeit ift noch nicht erbleiht. Sein
Name, feine Hervengeftalt wirkt noch mit Zaubermacht in
böbern und nieberen Sreifen, und aus ber Magie biefes
Namens fchäpft die proteftantifche Lehre fortwährend einen
Theil ihrer Lebenskraft. In andern Ländern empfiudet
man eine Abneigung, fich nach dem lirheber des herrfchen-
den Religionsbelenntniffes zu nennen; in Deutfchland und
in Schweven gibt es noch Tauſende, die ftolz darauf find,
Lutheraner zu beißen.
Obgleich das proteftantifche Deutfchlanb bie etwas
Heinere Hälfte der Nation bildet, ift biefe kleinere Hälfte
boch politifch und geiftig bie ftärlere. Politiſch ftärker,
benn bie deutſchen Dynaſtien find vorwiegend proteftantifch,
25 I
388
und, was in Deutfchland noch mehr fagen will, bie Ber-
waltung wirb, auch in Tatholifchen Gebieten, von einer
größtentheild proteftantifchen und confeffionell eiferfüchtigen
Beamtenwelt geführt. Geiftig ftärker, denn bie große Mebr-
zahl der hoͤhern Schulen iſt ganz ober zu größten Xheilen
in proteftantifchen Händen, und bie gefammte Literatur, wie
fie feit Hundert Jahren die Nahrung ver höheren und mitt-
leren Klaſſen bilvet, ift im weiteren Sinne proteftantijch,
das heißt, fie ift hervorgewachſen aus dem großen Brudhe
mit der ganzen chriftlichen Vergangenheit, welchen die Res
formation im Bunde mit dem kirchenfeindlich gewordenen
Humanismus berbeiführte und dritthalb Jahrhunderte hin⸗
burch befeftigte. Sie Hat feit Leffing bie proteftantifche
Anfchauung von ber Entwidlung des Chriſtenthums unb
ber Kirche auch auf die Zeit der Anfänge übertragen, bat
bie apoftolifche Zeit mit demfelben Mafftabe der Motive
und Charaktere gemeffen, den ver Proteftantismus an bie
folgenden Jahrhunderte anzulegen gelehrt hatte. Bon ber
eigentlich längft fchon herrſchenden, wenn auch früher noch
vielfach unklaren und nicht zum vollen Bewußtſein hindurch⸗
gebrungenen Anficht, daß die chriftliche Kirche überhaupt
eine Fehlgeburt fei, umb weit mehr Unheil und Lüge als
Wahrheit und Segen über bie Menfchheit gebracht babe,
ging man aus, bie ganze Gefchichte der chriftlichen Böller
und Staaten war bamit entfeelt und trivialifirt; das wa®
U —
in Folge der Reformation an bie Stelle des alten Kirchen«
banes getreten war, Tonnte noch weniger Ehrfurcht und
Sympathie ver Gebilveten in Aufpruch nehmen. ‘Daß über
haupt ber damalige Zuftand ver proteftantifchen Theologie
und Kirche „viele der ebelften und begabtefien Männer
der Nation dem Chriftenthum entfrembet habe”, das wirb
jetzt ſo ziemlich allgemein auch von den Blänbigen zugeftanben,
So bilpete fich jene Atmofphäre des Unglaubens, der Mif-
achtung alles Ehriftlichen, in ber Heidenthum ober Islam
heiterer, menfchlicher, poetifcher erfchten, als bie büftere Ga⸗
filätfche Lehre von der Entfagung und Helligung.
Gervinus bat es in feiner verben, rüdhaltlofen Weiſe
ausgefprochen: „Wir flehen durchſchnittlich uoch immer auf
den Standpunkt der Gothe und Schiller, der Voß unb
Jean Baul, der Windelmann und Wieland, derforfterund
Lichtenberg, die fich alle „ber Schranken bed Dogmatifchen
Epriftentyums entiebigt haben.“) Seitdem find ſechszehn
Yabre verfloffen, und die Worte find noch heute eben fo
wahr. Der Widerwille gegen das Ehriftentbum, ſobald es
fih im Leben wie in der Wiffenfchaft geltend machen will,
iſt in den Regionen ver Gebildeten allgemein. Dem gläu⸗
bigen Proteftantiemns ftellt ex fich bei jedem Schritte ebenſo
in ven Weg, wie ber Tatholtichen Kirche; nur daß bie Feind»
haft gegen vie lektere aus mehreren Gründen, zunddift
V Die Miffion ber Deutfchlathofiten, Heidelberg 1845.
fon um ihrer fefteren Organifation und zäbheren Wider⸗
Raubekraft willen, energifcher, thätiger, allgemeiner ift, und
jeder Feldzug gegen fie, Alles was fich proteftantifch nennt,
Bofitive und Negative, Schaaren ber verjchiebenartigften
Rampfesgenoffen zu kurzer Eintracht unter Einem Banner
vereint. Die Ereigniffe in Deutfchland und in ber Schweiz
bon 1845 bie 1847 und jängft wieder in Baden und
Wörtemberg haben es bewieſen.
In andern proteftantifchen Ländern führte die innere
Unverträglichleit des prote ftantifchen Syſtems mit der theo⸗
logiſchen Wiffenfchaft gewöhnlich, wie wir gefeben, zum
Zerfall oder Untergang ber legteren. In Deutſchland aber
ift der theologifche Trieb im Bunde mit ber geſammten
geiftigen Strömung ber Nation ftets zu ſtark unb über
mächtig gewefen. Die Lutherifche Nechigläubigleit hat ihn
nicht zu erſticken vermocht, aber fie bat faft zwei Sahrhun-
berte lang die Theologie, freilich nur bie verftämmelte,
die auf Dogmatik und Polemik beſchränkte, und ihrer beiben
Augen, Bibelſtudium und Sirchengefchichte beraubte Theo
logie, als unteriwärfige Dienfimagb gebraudt. Nachdem
ber Pietiamus bereits der Orthoborie fehwere Wunden
geichlagen, raffte ſich enblich vie Theologie auf zum Kampfe
für ihhre Emancipation, in kürzefler Friſt war bie Rieder»
[age ver bisherigen Gebieterin entichieben, und fie überlebte
fie nicht lange.
391
Diefer Einbruch und vollflänpige, faſt ohne eruften
Kampf errungene Sieg des theologifchen. Rationaliomus in
Deutfchland iſt ein Ereigniß, das, an fich höchſt merlwür⸗
big und in der Sefchichte einzig, wohl in feinen Urfachen
noch nicht binlänglich erflärt ift. Die Lutherifche Theologie
war, durch den langen Kampf erft mit ver Helmftäbter,
bann mit ber Spenerfhen Schule und dem Pietismus,
zwar innerlich confeguent fortgebifvet worden. aber dabei
waren zugleich bieinneren Wiberfprüche, an benen bad Syitem
fitt, die logifchen und moraliichen Antinomieen, in denen es
fih feftgefahren Hatte, auch ben blödeſten Augen fichtbar
bervorgetreten. Gegen die Mitte des 18. Jahrh. kam ber
Einfluß der neuen biblifchen und gefchichtlichen Stubien
Hinzu. So fange bie Herefchaft des Lutherifchen Syftems,
gemäß feinem Wbfchluffe in der Eoncorbienformel, fich
behauptete, ward das Bibelftudium, offenbar abjichtlich, ver⸗
nachläffigt. Man ſcheute fich vor dem unvermeiblidhen Con⸗
flitt mit den fombolifchen Büchern. So rägte e8 der Pro-
feffor Heinrih Majus zu Gießen:“) als er fein Lehramt
angetreten, ſei auf den wenigſten Univerfitäten Deutſchlands,
ober eigentlich auffaft gar Yeiner, dieAuslegungber heiligen
Schrift mit Ernft getrieben worden. Spener bezeugt
') Praxis pietatis, sive Synopsis theologise moralis. Gissae
1697. Prof.
392°
basfelbe, und jüngft Haben Tholud und Lücke) wieber
darauf hingewieſen, wie im ganzen 17. Iahrh. vie Exegeſe
außer Sitte und Geſchmack gekommen. Noch im I. 1742
Hagte Bengel in ber Vorrede zu feinem Gnomon: ber
mannigfache Mißbrauch, ja bie bößliche Verachtung ber Hl.
Schrift, tft auf's hochſte geftiegen, und das nicht bios bei
profanen Menfchen, fonbern auch bei denen, die fich ſelbſt
weile, ja geiftlich pünfen.” Sobald nun, zum Teil
buch Bengel felbft und als Nachwirkung ver pietiftiichen Be
wegaäng, das Bibelftubium wieder einen Aufichwung nahın,
war damit auch die Auflöfung der Qutherifchen Lehre ein-
geleitet. Weſentlich trug zu biefer Auflöfung ver Gang
bei, den bie gefchichtliche Betrachtung, und insbefondere
bie Auffaffung der Kirchengefhichte in Deutfchland nahm.
Die Anflcht, daß ber ganze Entwicklungsproceß des Ehriften-
thums nach den Apofteln eine fortgehenve, immer wachſende
Deformation gewefen ſei, bis endlich in der Reformation
eine Wiebererweckung ber völlig ansgenrteten oder zu Grunde
gegangenen Religion finttgefunden habe, war feit dem 16.
Jahrh. die herrſchende. In biefem Sinne wurde alle Ge
ſchichte gelehrt und gefchrieben. Ein Mann, ver wohl bet
ſcharffinnigſte und gründlichſte Theologe in ver exften Veri⸗
) Deutſche Zeitſchrift, 1864, ©. 178.
398;
obe bed Rationalismus genannt zu werben verbient, ſchil⸗
dert dieſen Zuftanb: „Unter ven Proteftanten ift die Kirchen»
geichichte nicht® anders, als ein hiſtoriſcher Beweis für bie
Nothwendigkeit einer Kirchenverbefjerung und von einem in
Lehr und Leben überhand genommenen VBerberben. Nach
ben Broteftanten war die Kirche wenigftens feit dem achten
Jahrhundert ein Schauplag von Unwiſſenheit und Boßheit.
Alle Vorſteher verfelben waren gräuliche Irrlehrer und
fie ſelbſt ein volllommenes Narrenhaus.“ Er bemerkt dann:
„die übertriebne Sorgfalt, mit welcher bisher proteſtantiſcher
Seits Alles geſammelt worden, was nur zu einigem Zeug⸗
niffe für den ehemaligen herrſchend gewordnen Verfall in ver
Kirche brauchbar iſt, die Ungerechtigkeit, mit welcher biefer
Seit! alle ehemaligen Vorfteher und Häupter der Kirche
als Tyrannen und alle Glieder verfelben. als Heiden vor⸗
geftellt werden, und die Nachläffigleit, mit welcher biefer
Sets das neben allem eingeriffenen Verderben in ber
Kiche zu aller Zeit vorhanden gewejene Gute überjehen
wird, dieſe Mängel in der Kirchengefchichte unter ven Pros
tefianten werben von den Widerfachern des Chriſtenthums
"begierig zu ihrem Endzweck benußt.')
Zöllner führt fofort eine Schrift Friedrichs IL an’),
) Töllner’s kurze vermiſchte Aufſätze. Frankf. a. db. Ober,
1769. U, 87 ff.
N) Die Vorrede zu dem Buche Abregs6 de l'istoire ocoldsiasti-
594
worin dieſer Monarch die herfömmliche proteftantifche Vor⸗
ftellung von ver Kirchengefchichte, daß fie ein großes von
Schurken und Heuchlern auf Koften der betrogenen Maſſen
aufgefährtes Drama fei, als bie eigentliche Urſache feiner
Verachtung des Chriftentgums enthüllt.
Diefe Anfchauungsweife ver Gefchichte des Chriften-
thums ging nun völlig in die herrſchende Literatur und
Denkweiſe der Zeit über, und aus ihr entwickelte ſich ber
geiftige Abfall vom Chriſtenthum, ven in Deutfchland bie
Prebiger fowohl als bie gebildeten Klaſſen gleichzeitig und
in lebenbiger Wechſelwirkung vollzogen. Die Theologie ber
Reformatoren und. ihrer Nachfolger Hatte bie Borftellung
ausgebilbet, daß Gott nach dem Tode ver Apoſtel fich bald
von der Kirche zurücgezogen, und feine Stelle bem Satan
überlaffen Habe, ver nun das Amt, welches nach ben eban⸗
gelifchen Verheißungen dem heiligen Geiſt hätte zufallen
follen, übernommen, und ein diaboliſches Millennium er⸗
richtet habe, bis Luther aufgetreten.') Als nun ber Haube
an bie Srethumsleftgfeit ber ſhmboliſchen Bücher in dolge
que de Fleury. Berne (Berlin) 1767. Das Bud if ©
de Prabes; daß die Vorrede vom Könige fei, wußte "wohl
Töllner nidt.
3) Bel. was Semler, Lebensbeſchreibung II, 186, über die
dem Teufel in der proteflantifchen Welt zugetheilte kirchenge
ſchichtliche Action fagt.
895
U 02
ber neuen biblifchen Studien binnen wenigen Jahren erlofch"),
als die Lutheriſche Rechtglänbigkeit feit der Thronbeſteigung
Friedrichs II. immer mehr den Schuß der ftantliden Kir⸗
chengewalt verlor, als die Theologen begannen, bie Blößen
und Wiberfprüche des refornatorifchen Lehrbegriffs ſchonungs⸗
[08 aufzudeden?), da brachen ven Menſchen alle Stützen
ihres religiöfen Bewußtfeins mit einem Male zufammen.
Ihre gefammte Bildung, die Vorftellungen die fie mit ver
Muttermilch fchon eingefogen, alles war barauf berechnet,
daß ihnen Die ganze Gefchichte des Chriſtenthums vor ber
Reformation wie ein Todtenader mit verwitterten und ver-
ſunlenen Leichenfleinen und modernden umberliegenden Ge⸗
beinen erichien, wo nur gefpenfterhafte Schemen wanbelten.
Nun fiel mit dem Glauben an vie göttliche Leitung ber
Kirche aud der Glaube an die göttliche Gründung derſel⸗
ben. Die Wurzel wurde nach dem Stamme, ber Beginn
nach dem Verlaufe beurtheilt und verurtheilt.
') Im I. 1770 exiſtirte „noch nirgend ein Theolog auf proteftan-
tiſchen Univerſttäten, ber eine Schrift, bie nicht bei ben füfte-
matifchen Formeln bleibt, billigen würbe". Sa d’s Lebensbeſchrei⸗
bung, I, 252. Wie hatte ſich das ſchon in 15 Jahren geändert!
2) Es find befonbers Töllner’s Schriften, bie, im dogmatiſchen
Gebiete weit dedentender als bie Semler'ſchen, ben Auflöfunge-
Proceß der proteftantiichen Theologie und bie Geneſis des
Nationaliomus erlennen Taffen.
396
So blieb denn den Männern die doch Amt und Brod vom
Chriſtenthum Hatten, nur übrig ſich auf jenes bürre, von
allem höhern Halt und Gehalt entleerte Aggregat von Vor⸗
ftellungen über Gott, Moral und Unfterblichkeit zurückzuziehen,
welches man Nationalismus genannt bat.
Um fo ficherer und mächtiger war die Wirkung, welche
die Schriften von Semler, Leffing, Reimarus, das Pröfti-
gium des von Friedrich II. gegebenen Beifpiels, nub bie
Kantifche Philoſophie Herb orbrachte. Binnen wenigen Jah
ren war ber ganze Stand ber Deutfchen proteftantifchen
Breviger, die Theologen an ben Hochichulen voran, vom
alten pofitiven Glauben abgefallen, wuchs bie ganze neue
Generation von Geiftlihen im Nationalismus heran, warb
Stein um Stein am Tempel von beffen eignen Prieftern
hbgetragen. Bon den SKanzeln felbft ter Dorfgemeinden
warb das neue „vernünftige“ Chriftenthum gelehrt, mit
einige entlegene Gemeinden blieben im ungeftörten Befike
bes alten Glaubens‘), und in den Stäpten waren bie Pre
biger oft ſchon Rational iſten, ehe noch die Gebilbeten ber
mittleren Stände ber eben um fich greifenden, und durch bie
1) So heißt es in ber neuen Dorpater theol. Zeitſchrift, I, 588:
Im manchen abfeits gelegenen DOrtfcheften Weſtphalent,
der Rheinlanbe und bes weſtlichen Schleewigs gibt es Gemein
ben, bie nie vom rationaliſtiſchen Gifte berügrt worben fab.
397
neu aufblühende deutſche Literatur gepflegten, beiftifchen
Aufflärung verfallen waren. So berichtet ein Mecklenbur⸗
giſcher Prediger aus dem Munde alter Geiftlichen: vie reis
gende Schnelligkeit, womit in biefem Lande ver Spott bes
Unglaubens vie alten Glaubensformen aus Mund und Sitte
zu verwifchen gewußt, habe an das Wunberfame gegrenzt. ')
An Frankreich hatte um dieſelbe Zeit ver leichtfertige Un⸗
glaube vie höheren Stände ergriffen; aber der Klerus blieb
Davon im Ganzen unberührt, und felbjt in ven Stürmen ver
Revolutionwar es nur eine verhältnigmäßig Heinere Anzahl von
Brieftern, welche abtrünnig wurben. Die große Mehrheit
blieb, auch unter den fchwerften Verfolgungen, dem Glauben
tren. Im proteftantifchen Deutſchland Dagegen war es ges
rade bie Theologie, welche das Zerftärungsiwert vollbrachte,
war es ber geiftliche Stand, ber ben Gemeinden in Stabt
unb Land offener ober verhüllter ven Naturalismus beibrachte,
unb jenen Abfall der Maſſen vom Chriſtenthum einleitete,
vor welchem man jest rathlos und händeringend fteht.
Auf die Geftaltung des Verhältniffes von Kirche und
Staat und die Kirchenverfaffung bat der Rationaliemus im
Ganzen Teinen tieferen Einfluß geübt. Hier Hatte die Res
formation bereit8 das Wejentliche vollbracht. Deutſchland,
Wittenberg ift bie wahre Geburtsftätte des fürftlichen Ober-
1) Kheinwalb’s Repert. VIII, 259.
2
bifchofthums und bes Territorialismus. Aus den Händen
ber Theologen empfingen die Fürſten bie oberfte Gewalt
über bie neugeborene Kirche, nicht obgleich, fondern weil
fie Fürften waren. Ihr Recht wie ihre Pflicht war es,
fo wurbe ihnen gefagt, das kirchliche Regiment als die Con⸗
fequenz, als einen Zweig und Ausflug des politifchen Res
giments zu führen. Wenn ein Lebender jagt: „Man laffe
ja ten Namen Epiflopat (des Fürften) zum ewigen An-
benten an bie Schmach der Kirche beftehen, bis fie fich der⸗
felben bewußt werde und Buße thue,u fo ift damit eine
Anficht ausgeiprochen, bie ber ganzen erften und zweiten
Generation des deutſchen Proteftantismus völlig fremb war,
bie auch jegt der Mehrzahl ver Prediger und Confiftorial-
räthe fremb ift, wenn auch viele Laien wie Hommel benten
mögen. ')
Dadurch nun, daß die Fürften und Reichsftände im
Deutfhland zum Beſitze ver proteftantifchen Kirchengewalt
in fchrantenlofer Fülle gelangt waren, entftanben im Deut
schen Weiche fo viele einzelne Kirchen, als es fürftliche und
Iandftänbifche Territorien gab. Der Verſuch, eine einheitliche
Deutfch- Proteftantifche, Lutherifche oder Calviniſch⸗Refor⸗
mirte Kirche zu errichten, wurde nie gemacht; jebermann
) Hommel: Die wahre Geſtalt ber Baheriſchen Lanbesfirdie
1850, ©. 26.
war mit bem gegebenen Zuftanbe zufrieven, baß in jedem
Landchen eine andere ewangelifche Kirche eriftirte, und vaß
diefer Menge von Kirchen jeder Einigungspuntt mit Aus⸗
nahme des Widerfpruche gegen bie katholiſche Kirche man⸗
gelte. Auf ven Reichötagen bildete das Corpus Evangeli-
corum eine gewiffe gemeinfame Vertretung nach außen.
Auch war unter den Zutberanern im Ganzen doch Gleich
beit ver Lebre, wiewohl die einzelnen Kirchen zum Xheil
auch ihre eigenen ſymboliſchen Bücher, und fehr verfchiebene
Liturgien hatten. Thatſächlich gab es alfo nur ein Aggre-
gat von Lanbeslirhen. Vor ber Auflöfung des veutjchen
Reihe war bie Zahl der unabhängigen Einzellirchen noch
weit größer. „Dentfchland, fagt ErnftSalomoCyprian?),
hat allein in feiner Barticnlarevangelifchen Kirche, wenn
man die reichöfreie Nitterfchaft dazu rechnet, mehr als tan⸗
ſend ganz indepenbente Regenten, beren ein jeber in feiner
Gemeinde Alles zu thun vermag, was ver Papft in ber
Römifchen thut. Wer lann fo viele Herren, bie fehr unter
ſchiedne Temperamente, Neigungen, Abfichten, Lockungen zur
Sünde und Unordnung haben, zu einem einträchtigen Schluß
Bringen? Diefer Zuftand, meint Cyprian, erkläre und ent-
1) Borrebe zu Groſch: Nothw. Bertheibigung ber cdengeliſchen
Kirche. 1746. ©. 83.
_ a
ſchuldige die unzähligen Gräuel und Gebrechen im Deutfchen
Kirchenwefen; verantwortlich fei bie Kirche nur für ihre
Lehre, vie glüclicherweife überall gut Lutheriſch fet.
Jetzt find in Deutfchland gegen 38 proteftautiiche Kir⸗
Ken, von benen jede völlig für fich befteht, jede ihre eigne
DOrganifation hat. Indem aber in ven einzelnen Staaten
bie Kirche zu einem “Zweige ber Stanatsverwaltung herab»
gefeßt, der großen Staatsmafchine als ein Rab eingefügt
worben, ift es dahin gelommen, baß zulegt alle Fäden Des
kirchlichen Regiments in der Hand eines einzigen Staatöbe-
amten, meiftens des Eultus-Minifters, zufammenlaufen. So
hängt es 3. B. in Sachfen einzig von dem Ermeſſen bes
Eultusminifters ab, ob und wie weit er dem Öntachten des
Landesconſiſtoriums in Tirchlichen Dingen eine Folge geben
will.) Thatſächlich Liegt im feiner Hand das Schichkſal
der Sächſiſchen Kirche. So verhält es ſich auch in Hanno»
ver: der Minifter handelt in kirchlichen ‘Dingen, obne von
dem Conſiſtorium Beirath ober Gutachten zu verlangen;
bas Eonfiftorium bat nur die Befehle des Minifteriums
auszuführen. °)
Wenn in einigen Ländern noch das Inſtitut ber Gy
1) ©. darüber Lehmann: Zur Frage ber Nangeflaltung ber eb.
luther. Kirche Sachſens. Dresden 1861, ©. 6.
2) Reuter's Repertor. Bd. 64, ©. 277.
401
noden zu dem lanbesfürftlichen Epifcopat und dem Eonfi«:
ftortum Hinzugefügt ward, jo bat dieß dem DVerfaffungsbau
feine fonverliche Würde verliehen; bie Synoden find ganz
überwiegend aus Theologen und Prebigern zufammengefekt,.
das Laienelement iſt nur fparfam darin vertreten, unb fo:
haben fich die organifchen, zwiſchen dem Sirchenzegimente.
und den Synoden vereinbarten Exrlaffe dem Wiperftanbe
ber Laien gegenüber, in Bayern, in Baden, in ver Pfalz,
ohnmächtig eriwiefen.
Die Unton, welche, in Breußen begonnen unb ander
wärts nachgeahmt, feit 1817 die Lutheraner mit den Cal
pinifch-Reformirten Hrchlich verſchmolz, hat dem gefammten
beutichen Proteftantismus eine wefentlich veränderte Ge
ftalt gegeben. Die neue anf diefem Wege gebilvete Kirche,
folite den Namen „evangelifche Kirche“ führen, und bie
Preußiiche Regierung war es befonbers, bie auf die Ein»
führung biefer Bezeichnung drang, weil ver Name „pro-
teftantifch” ein Barteiname fei und nicht gut Hinge, „evan⸗
geliſch“ dagegen einen viel befjeren Klang habe.) ‘Die bie
dahin Iutherifchen oder calviniftifchen Mitglieder ver unit»
ten Kirche Hatten alfo biemit aufgehört, dieß zu fein, und.
waren „Evangeliſche“ geworben. . Dan wollte aber über-
1) Bol. Haupt’s Handbuch über die Neligionsangelegenheiten
im 8. Preußen 1822. 11, 160. Kampz Annalen 1821, S. 341.
v. Döllinger, Papfithum. 26
haupt die Namen „Iutherifg“ und „proteftantifch” wo mög.
ich gänzlich verbrängen, und fo hat nenerlich das Eonfifto-
vinm der Provinz Pommern erklärt: der allgemeine Name
„euangelifch" bedeute nicht mehr, was er 1818 babe be
deuten follen, er fei bereits in flaatörechtliche Dokumente
übergegangen, wie in die Verfaffungsurfunde von 1860,
und bezeichne da nicht bie Union, fonbern fei ein Collectiv-
Name, der den Gegenſatz vom Katholicismus aus
brüden folle Im offiziellen Erlaffen fei daher die Be⸗
zeichnung „evangelifch” nicht aufzugeben.
In Folge der Union gibt es alſo jetzt, theologifch ge-
nommen, brei Kirchen ftatt ver früheren zwei in Deutfchland:
die lutheriſche, die veformirte und bie unirte oder ebange-
liſche. Doch iſt der Achte Ealvinismus, dem bie Dorbrechter
Beichlüffe ale Norm gelten, in Deutfchland nahezu ausge
ftorben, nur noch Eine Gemeinde dieſes Belenntniffes fol
exiſtiren.) Bei den übrigen nicht unirten Gemeinven Heißt
„reformirt” im Grunde num, daß man bie lutheriſche Abend⸗
mahlslehre verwerfe. Andrerſeits aber ift auch die alte
lutheriſche Kirche vom veutfchen Boden verfchtvunden. Deu
nächften Anfpruch auf den Namen lutherifch wilrben eiwe
noch die 31,000 feparirten -Preußifchen Lutheraner haben.
So Wil ſing: Die reformirte Kirche in Dentihland, W-
tona 1858, ©. 128,
19 I
— 2
Aein dieſe werden wieder von ben Lutheranern in Sachſen
und anderwaͤrts nicht als Achte Zünger Luthers anerlaunt,
man wirft ifmen vielmehr gewichtige und anftöffige Abweich⸗
ungen vom Lutherthume vor. Hinwieberum Tonnen aber
auch bie vormals lutheriſchen Laudeskirchen, welche ver Union
nicht beigetreten find, kaum mehr Iutberifch Heißen. ‚Denn
einmal tt allgemein die Abenpmahlsgemeinfchgft mit den
Neformirten oder Unirten eingeführt, worin gerabe das un⸗
terfcheidende und entfcheivende Merkmal einer kirchlichen
Union liegt, und dann find aud) in biefen Kirchen Gebräuche
und Einrichtungen, durch welche fich fonft der Lutheranismus
vom Calvinismus entfernte, aufgegeben worben, vor Allen
bie Privatbeichte. . Wenn daher Stahl jüngft fiber bie
immer näher drohende Auflöfung der lutheriſchen Kirche in
bie Unton gelingt Bat,') fo darf wohl vielmehr gejagt wer-
ben, daß in Deutſchland bie Iutherifche Kirche nur noch in
dem Wunfche und der Sehnfucht einiger Theologen, Paſto⸗
ren und Iuriften, keineswegs aber noch als Mealität, als
eoncretes Kircheninſtitut befteht. Zwiſchen den unirten und
ben nichtunirten Kirchen handelt es fih nur um ein Mehr
ober Weniger.
Die Union war der perſönliche Alt des Königs non
Preußen, der dabei von dem dynaſtiſchen Intereſſe geleitet
3) Die Iutherifche Kirche und bie Union. Borr. S. VIH.
26*
—
wurde, das preußifche Fürftenhaus, welches ſeit 1613 dem
Lutherthum entſagt und den Calvinismus angenommen hatte,
mit ber überwiegend lutheriſchen Bevöllerung des Landes
kirchlich wieder zu verbinden... Eine Agenve, zum Theil des
Könige eigened Werk, follte als vornehmftes Bindemittel
dienen. ‚Sie ftieß auf größere Schwierigkeiten, als bie
Union felbft, weil man bie Einführung liturgiſcher Elemente
in den Gottespienft für eine bebenkliche Annäherung an bie
tatholifche Kirche Hielt. Im Ganzen wurde indeß die Unten
mit wunderbarer Leichtigfeit und Bereitwilligleit von den
Brebigern und ben Gemeinden angenommen; man war all»
gemein einverftanden, baß bie trennenven Lehren keine ſon⸗
berliche Bebeutung mehr hätten, und füglich auf ſich bes
ruhen Föunten. Nicht an den Dogmen, fondern am Beicht⸗
gelbe, fürchtete Schleiermacher kurze Zeit, Könnte das Fries
denswerk fcheitern. Man erwog auch, daß eine vereinigte
Kirche der katholiſchen gegenüber um fo flärler und ehr»
furchtgebietender auftreten werbe.
Im ganzen proteſtantiſchen Deutfchland war die Ge
finnung ber Prediger wie der Laien ber Union günftig. Sie
warb baher auch rajch in Raffau, in Nheinbayern, in Ba
den, Anhalt, Würtemberg, ohne auf ven geringften Wiberftanb
zu ftoffen, eingeführt, und wenn bieß in Sachſen, Hannover,
Medienburg, Bayern nicht gefchah, fo war nur bie fehr
geringe Zahl der Reformirten in biefen Ländern die Urſache.
406
Der König von Preußen äußerte, nur eine rituelle
Bereinigung, nicht eine Verſchmelzung der Glaubenslehren
fei e8, was er mit der Union gewollt babe; beibes ließ fich
aber ebeu nicht trenıen. Mehrere Prebiger und Dorfe
gemeinben, bie bieß fühlten, und in ber Union die Vernich⸗
tung ihres Intherifchen Belenntniffes erkannten, wollten fich
‚getrennt erhalten. Aber die Regierung befchloß, fie „al®
gefährliche Seltirer" nach Vorfhrift des allgemeinen Land⸗
rechts zu behandeln,)) d. 5. mit Zwang, Abſetzung, Ges
fängnig, mit militärifchen Exekutionen gegen fie zu verfahren.
In Berlin waren die Bifhdfe Eylert und Neander
ganz einverftanden. Der jetige General» Superintendent
Hahn zog an ver Spitze des gegen bie Gemeinden aus-
gefandten Militärs einher. Der Minifter Altenftein erlärte
gemäß der Theorie vom befchräntten Untertbanenverftanbe:
es jet Pflicht der Regierung, vie Verblendeten gegen bie
Folgen ihrer unüberlegten Handlungen zu fehlten.) So
wurben Zaufenbe zur Auswanberung nach Amerila gedrängt.
Nirgends im proteftantifchen Deutfchland erhob fich eine
Stimme für die mit raffinirter Härte, mit dem ganzen
Apparat bureaukratiſcher Zwangsmittel Gequälten; die ges
fanmte Liberale Preffe Hatfchte Beifall.
9%) Eilers: Meine Wanderung durch's Leben. IV, 204.
) A. a. O. IV, 288.
Die Zutheraner hatten richtig erkannt, daß bie Union
anvermeidlich zu zwei Ergebriffen führen müſſe, zur Auf⸗
fung des Lutherthums und zum Förderung eines dogma⸗
tifchen Imbifferentismus, alſo des Unglaubens. Sobalb
Friebrich Wilhelm IV. bie eingekerkerten Prebiger freigelaffen
Batte, ſtifteten fie auf einer Synode zu Breslau im Jahre
1841 eine. feparicte Iutherifche Kirche, an deren Spige ber
Zuriſt Hufſchke trat und die bald von ber Regierung eine
Anerkennung und Duldung ala Seltenlirche erlangte.
Indeß begann die Theologie fih aus dem Sumpfe
des. geiftlos-unglänbigen Rationalismus wieder emporzuars
beiten. Die Thronbefteigung Friedrich Wilhelm's IV., ver
als ein warmer Freund feiner Kirche ihr fofort ven Eräf-
tigſten Schuß. verhieß unb gewährte, verlieh einer bereits
erwachten und durch tüchtige Lehrer ber Hochichulen ges
nährten pofitiven Nichtung neuen Aufſchwung. Die gläu«
bigen Theologen und Prediger fahen ſich bald faft allent-
halben von den Regierungen bevorzugt; bie nachwachſende
Generation der Stubirenden wanbte ſich ihnen zu; bie Ka⸗
taftropbe des Fahres 1848, welche ven geſammten Stand ber
proteftantifchen Geiftlichen in Norddeutſchland mit Schreden
erfüllte, und ihnen bie drohende Herrfchaft einer durch
bie eigne Schuld der Geiftliden religionslos gewordenen
Maſſe in ver Perfpeltive zeigte, entfchieb bie Geflunung
ber eltern wie ver Jüngern. In Preußen war bie Herr
(haft des Hege’fchen Pantheionus, bei ber Minifier
Wienftein bie Schulen und Katheder übergeben Hatte, ges
brochen. Allmaͤlig wurden Im ganzen proteftautiſchen Dentfch-
land bie theologiſchen Lehrämter mit gläublgen Profefieren
befeßt. Nur Iena und Gießen blieben in ben Hänben ber
Rationaliſten. Alsbald trat aber eine doppelte, von fehr ver⸗
ſchiedenen Vorausfegungen ausgehende und zu jehr abwei⸗
enden Ergebniffen führende Richtung der neuen gläubig
gewordenen Theologie hervor. Es bildete fich, Hauptfächlic
auf der von Schleiermader und Neanber gelegten
Grundlage, eine Unions⸗ ober Vermittlungs⸗Theologie, ver⸗
treten burh Nitzſch, Iulins Müller, Dorner, Rüde,
Rothe und Anpre. Neben ihr aber erhob ſich eine luthe⸗
riſche Theologie, gepflegt vorzüglich In Erlangen, Dorpat,
Leipzig, Roſtock. Sie follte und wollte wohl zuerſt bloße
Nepriftinationstheologie fein, nur die Doctrin der Concor⸗
bienformel aus ver Sprache bed 16. in die des 19. Jahr⸗
bunberts übertragen. Das erwies fich ſehr bald als zeine
Unmöglichkeit für wiflenfchaftlich gebildete und exegetiſch ge
fhulte Männes. Dean überließ das unerquidliche Gefchäft
einigen Paftoren, an beren Spike Rudelbach fich ftellte,
umb benen nun ber Ruhm blieb, ale „Altlutheraner” bie
einzig ächte Iutherifche Theologie zu cnltiviren, fo baß, ven
Luther wieder käme, er nur bie Mitarbeiter ver „Zeitfehrift
für futherifche Theologie” als feine wahren Söhne und
D
®
Geifiederben erkeunen würbe. Auf den Univerfitäten wollte
tan, faft ohne Ausnahme, von biefem Lutherthume michte
wiſſen, e8 bildete fich bier die Nichtung der Neulutheraner,
vertreten durch Männer wie Kahnis, Delitzſch, Klie
foth, Stahl und Andre, mit denen noch Harnad, Vilmar,
Betr, Münchmeher genannt werben. Diefe Theologen
verfihern, an ber Intherifchen Rechtfertigungslehre feſtzu⸗
Bolten, wollen aber nicht durch die proteflantifchen Haupt⸗
und Rieblingsbogmen von der Unfichtbarkeit ver Kirche und
ben allgemeinen Prieftertfume gebunben fein. Indem fie
bie göttliche Stiftung des Kirchenamtes dem Begriff einer
‚bloßen Webertragung durch die Gemeinde entgegenfehen,
werben fie folgerecht zu der Annahme auch einer göttlich
‚georpneten Mebertragung, d. h. bes Sacraments ber Or⸗
dination gefäßrt. Ste flellen daher über Amt und Orb
nation, über Sacramente und Opfer Anfichten auf, welche
ihnen von allen Seiten ven Vorwurf des Katholifirene zu⸗
gezogen haben. „Ste find ſchon, heißt es, ganz nahe an
die Thore Noms gerückt. Nur noch eine kurze Strede und
fie find in der ewigen Stabt.“') Diefer deutſch⸗lutheriſche
Puſehismus müffe, eben fo wie der Anglicanifche, ber Union
art ven Papiften entgegenführen, meint Rudelbach's und
Guerile's Beitfcheift.”)
) Lehmann ©. 2, 6.
®, Jahrg. 1858, ©, 168,
409
Bon den mit ber Union unzufriebenen Prebigern ift
in Preußen nur eine Heine Zahl aus ber Staatslirche aus⸗
getreten, bie große Mehrheit der der Union Abgeneigten
iſt im Kirchenverbande geblieben, theils weil fie nicht auf
ihre Gemeinven rechnen konnten, theils weil fie dem feſten
von der Willkühr der Gemeinde unabhängigen Einkommen
nicht entſagen mochten. Aber ſie möchten das Joch der
Union abwerfen, ſich ver Gemeinſchaft mit dem Calvinis⸗
mus in Dogma und Cultus möglichſt entziehen. Sie wollen
ihre Stellung in der Unionskirche nicht aufgeben, weil fie
die Staatskirche ift, deren Rechte und Vortheile man nicht
durch Abfonderung von ihr aufopfern bürfe, weil man im
Schooße verjelben die Union wirkſamer belämpfen Tönne,
als außerhalb verjelben.‘) Die Unloniften halten ihnen
entgegen: wenn man bie Union aufhöbe, jo würde man
mindeftens fünf Kirchen haben. &9 würde die unpreußifchefte
That fein, die gefcheben könne, und es feien bie Feinde
Preußens, welche auf die Aufhebung ver Union hinarbeiten.”)
Die Berorbnungen Friedrich Wilhelm's IV. fuchten
die Intherifche oder confeffionelle Partei, an deren Spike
1) S. bie Erflärung bei Lenz: Denlſchrift Über bie neneften
firhlicden Bewegungen in Pommern. Berlin 1858, ©. 43.
N) So ber Öeneralfuperintendent Hoffmann; Berhanblungen ber
Berl. kirchl. Conferenz 1857, ©. 677. J
«0
Stahl unb Hengftenberg fkauben, bald burd Zuge
ftänbniffe zu befriedigen, bald bieder durch erneuerte Pros
Hoamirung ber Unionsprinzipien in gewiffe Schranlen zu-
rückzuweiſen. Endlich warb bie Englifche enangelifche Allianz
im Sabre 1857 zur Verſtärkung der Unionsſache nad
Berlin gerufen. Baptiften, Methobiften, Preöbhteriauer,
‚Congregationaliften, calsintiche Anglicaner, und anbere
Selten, zumächft durch den gemeinfchaftlichen Haß gegen
die Tatholtiche Kirche zu einer Verbrüderung mit Vorbe⸗
halt ihrer Differenzen getrieben, kündigten an, daß fie
nach Berlin fämen, um Zeugniß abzulegen wiber bie neuen
Pharifäer nnd Sabbucher, und bie Häupter ber unirten
Lutheraner ſahen wohl, daß unter den erfteren fie gemeint
feien.') Dagegen begeugten Hoffmann, Nitzſch, Shen
kel, Deppe, Krummacher, Sad, Kapff, Plitt, Led⸗
derhoſe und eine zahlreiche Schaar beuticher Geiftesver-
wanbter: biefe englifchen, fchottifchen, amerilanifchen „Des
nominationen“ felen Fleiſch von ihrem Fleiſch und Bein
von ihrem Bein, und willlommene Streitgenofjen im Kampfe
gegen exclufives Lutherthum und gegen „Rom“. Man folle
boch bebenlen, riefen fie den Confefjionellen zu, daß bie
Alltanz ans lauter gut proteftantifchen Denominationen be
ftehe, die ſich alle zu der Kernlehre von ber Gerechtigfeit
1) Stahl's Rebe, in Hengfienberg’s 8. Big. 1867, ©. 668.
al’
durch Amputation befeuuten; nur durch eine ſolche Allianz
ſei es möglich, auf proteſtantiſcher Seite die weſentliche
Einheit der Kirche Chriſti anſchaulich darzuſtellen.“)
Als die große Schauftellung vorüber war, fragten bie
Lutheraner höhniſch, was denn num Vleibendes erreicht ſei?
Dean habe vor den herbeigerufenen Ausländern bie dentſchen
Kicchengenoffen, mit benen man biöker in einem Haufe
aufammengeiwohnt, blos weit fle Lutheraner bleiben wollten,
mit Verbächtigungen und Anfchulbigungen beingefucht, man
babe Irrlehrer, dadurch daß man mit Ihnen fraternificte,
in ihrem Irrthum befefligt.‘) In der That war ber Ei
folg diefer in Berlin ſichtbar gewordenen „@emeinfchaft der
Heiligen“ der, daß bie allgemeine Verwirrung vermehrt,
der Zweifel und bie Unficherheit ver Laien verftärkt. und
das Bolt in der Vorftellung bekräftigt wurde, wie Theolo⸗
gen und Prebiger hätten felber keine fefte Lehre, und es
könne am Ende auf die Lehre nicht viel anlommen. Hatte
bie Union dafür geforgt, daß im Grunde das Volt nicht
mehr wnfte, was denn vom Abenpmahle zu glauben ſei,
fo Yam nun noch die Allianz Hinzu, um auch bie Taufe
in bie Reihe ber Artikel, von denen man nichts Sicheres
wife, zu ftellen. 1W
1) Liebetrut: bie evang. Allianz. Berlin 1867, &. 27.
2) Wangemann's Preuß. Kirchengeich. III, 780.
412
Der Hanptbeförberer der Berliner Allianz. Berjammt-
lung war v. Bunfen, ber, wie Geheimrath Eilers ber
zeugt,') von ver Idee beherrſcht wurde, alle nicht Tatholi-
fchen Confeſſionen und Selten zu einer großen evangelifchen
Union gegen die katholiſche Kirche zu vereinigen. Nach
dem Tode Friedrich Wilhelm's III. batte man in der Ber⸗
liner höhern Beamtenwelt, wo nach dem Ausdrucke des⸗
ſelben Staatsmannes*) der Haß gegen bie katholiſche Kirche
das Intereffe für die evangelifche anregte, bie Berufung
Bunfen’8 zum Dlinifter ber geiftlichen Angelegenheiten er⸗
wartet und gewünſcht. Jetzt war die Demonftration ber
Allianz in ber veutfchen Metropole des Proteſtantismus
in diefen Kreiſen aus dem gleichen Beweggrunde willkom⸗
men. Diefelben Männer, vie anf dem SKirchentage zu
Dremen 1852 ven Kampf gegen „Rom“ für die erfte und
dringenpfte Angelegenheit erklärt Hatten?) bildeten auch bem
1) Wanderung durch'e Leben IV, 48,
Ua O. IV, 41.
3) „Segen Hengftenberg’s Nede Über das Verhältniß zur katho⸗
liſchen Kirche befonbers ber Miffionen, trat eine Wolle von Rebnern
anf. Nah Zander’s Rebe, bie bamit ſchloß: Laffet uns ben Feinh
fucdhen, wo er wirklich if, nämlich im Herzen Roms — heißt eb:
Jetzt waren die Schleufen gezogen, unb nun gingen bie Waffer hoch.
„Babel nn fallen, Rom ift eine Ausgeburt ber Hölle, das infernafe
Syſtem bes Bapfittums forbert Haß, uub das Evangelium barf, fo
418
dentſchen Kern der Berliner Allianz Berfammiung. Zwar
309 fich ber Haß gegen die fatholifche Kirche unb die Freude
über jeden wirklichen ober vermeintlichen Schaben, den fie
erlitten, als Grundton durch die Verhandlungen ber Ver⸗
ſammlung; von nachhaltiger Bedeutung war diefelbe aber
doch nur für die Geftaltung des proteftantifchen Kirchen
weiens. Als ein gegen die Släubigen und Eonfefltonellen
geführter Schlag wurbe fie von biefen auch aufgefaßt.
Seit der Krankheit und dem Aädtritte des Königs
Friedrich Wilhelm IV. von der Regierung, der unmittelbav
auf die Alllanz-Berfammlung folgte, ift ein gewiſſer Still
ftand eingetreten. Die lutheriſch Gefinnten jchätteln von
Zeit zu Zeit umwillig die kirchlichen Ketten, welche bie
Union ihnen angelegt bat, aber von Austritten aus ver
Staatskirche ift uicht mehr die Rebe. Einzelne fuchen eine
Stellung in andern Iutherifch gebliebenen Lünvern zu er⸗
langen. Die Mehrzahl aber fühlt fih um fo fchwächer,
als fie doch eben nur eine Partei von Theologen und Paſto⸗
xen ift, und das Volt nicht Hinter fi Hat. Trauernd ges
ſtand Türzlich einer ver weltlichen Führer des Lutherthums,
Goſchel: die Intherifche Kirche fei in Deutſchland eigent«.
Iange Rom noch Rom ift, Feine Gemeinfhaft mit ihm haben.” —
Das waren Grundaccorbe, bie angeichlagen wurden.“ Go berichtete
bie Reue Braskiihe Zeitung, 19. Sept. 1852.
DC
lich im Abſterben Begriffen; felbft ihren Namen babe fie
fchon großentheils verioren, in manchen Ländern fei fie bes
reits zur Ruine getvorden, und bie Urfache ihres Todes
fet die herrſchende Gleichgültigkeit. Zwar ſei eine Reaktion
gegen bie das Lutherthum abſorbirende Union erwacht, aber
dieſer mangle es völlig an Energie, fie Träne‘ an NRäd«
fichten aller Art.) Im ganz Deutſchland Hit, wie ein Wär
tembergifcher Theologe ſagt,“) die Intherifche Kirche beine
Bolke bis auf den Ramen faſt verſchwunden, und bei bem
Bebilbeten und ven Theologen bis auf die Wurzel abge-
than. Sogar in Würtemberg ift „Lpiberaner“ ein ganz
übellautender Selten und Schimpfname geworben.
. Gehen wir nun. zur Betrachtung ber einzefnen kirch⸗
lichen Zuftände tm proteftantifchen Deutſchland über, fo iſt
nor Allem berporzubeben, daß, beſonders feit 1846, ein ſehr
reges Leben und ein Drang des Eirchlichen Geftaltens unb
Berbefferns unter den Geiftlichen und einigen ihnen befreun⸗
beten Laien erwacht ift. Zahlreiche Beratbungen, auf Con⸗
ferenzen und Kirchentagen, provinziellen und allgemeinen,
find angeftellt worben; durch die „Innere Miſſion“ ift eime
bebentenbe Anzahl päbagogifcher und ethiſch und phyſtſch
heilender Anftalten gegründet worden. Aber alle großen
i) Zeitſchrift für inth. Theolog. 1860, &. 810.
:) In Scchaff's Kirchenfrennb 1857, ©. 67.
415
und eigentlich Fixchlichen Probleme harren noch einer Wſung;
bei den meiften iſt noch kaum ein Verfuch gemacht, ift noch
nicht einmal eine Verflänbigung über das Wie ver Löfung
zu Stande gelommen.
1. .
Die erfte Angelegenheit, die ver Lirchen verfaſſung,
ver Beibehaltung oder Befeitigung der fürftliden Epiſco⸗
palgewalt, iſt ſchon gleich geeignet, bie Geiſter zu fpalten,
und bie. Freunde der Kirche zu entmuthigen. In ben mei»
fien Ländern glaubt man jegt in dem Cäſaropapat eine
Sanpturfache des Firchlichen Verfalis zu erkennen. „Was
unfere Kirche brüdt, heißt es bezüglich Sachſens, ift Be
amtenherrichaft un Verweltlichung ver Kirche in allen ihren
Juſtituten, fo daß Miles bureaukratiſch regiert, auch das
Geiftliche im Wege des Gefchäfts abgemacht wirb.")"
Neueftens iſt nun auch befannt geivorben, wie ber
Monarch, der wohl unter aflen Fürften ber Neuzeit ber
wärmfte und zugleich der geiſtvollſte und einfichtigfte Freund
unb Förberer ber proteftantiichen Kirche war, über. fein
eignes Oberbifchoftyum und über die Entividlung einer
Kirche, die ihm eine ſolche Stellung aufprang, gebacht hat.
Die deutfchen Kirchenzuſtaͤnde find in feinen Augen „wider
finnig und unhaltbar.” „Territorialfgften und (andesherr-
1) Hengftenberg’e 8. 3. 1851, ©. 99.
416
liches Epiſtopat,“ jagt Wriebri Wilhelm IV., „find von
ſolcher Beichaffenheit in ſich, daß Eins allein chen voll
kommen ausreichend wäre, bie Kirche zu töbten, wäre fie
ſterblich“ Er erwähnt es dann als eine hochſt charalte⸗
riftifche Thatfache, daß die im Yahre 1808 erfolgte Auf⸗
bebung der Eonfiftorien und bie Ueberiragung ihrer Ge⸗
ſchafte an die Regierungsbehörden, als eine ganz inbifferente
Berwaltungsmaßregel Babe vor fich geben können, ohne daß
bie „Kirche“ eigentlich davon berührt worben wäre. Mit
allen Kräften feiner Seele, fagt ber König, fehne er ſich
nach bem Augenblide, wo er fein oberbifchöfliches Necht weg⸗
werfen‘, e8 an Biichöfe, welchen Namen man ihnen auch
geben wolle, abtreten köune.')
"Allein auf der andern Seite zittert man vor jeber
tiefer gehenden Veränderung bes bisherigen Verhältniſſes,
fo brüdenn und erniebrigend auch dieſe Knechtſchaft ber
Kirche, dieſes Aufgehen im Staatsorganismus jein möge.
„Rehnt, beißt es, der Kirche bie Stüße und den Halt, ben
ihr in ihrer .feit dem Jahre 1848 um Vieles größer ge
worbenen Zerriffenheit der Lanbesherr als ihr Oberhaupt
und Fürſorger verleiht, und ihr follt erfahren, wie fie in
Stüden zerfällt, die Niemand wieber zu vereinigen Kraft
) L. Richter: König Friedrich Wilhelm IV. und bie Ber-
faflung ber evang. Kirde. Berlin 1861 ©. 22, 88.
417
haben wird.)“ Bis jetzt haben noch nirgends die Öläubigen
Neigung gezeigt, mit dem Prinzip ver kirchlichen Selbſt⸗
ftänbigleit Eraft zu machen. Die Mehrzahl warnt und
droht mit verhängnißvollen Folgen. Das einzige Land, in
welchem eine wirklich neue Kirchenverfaflung eben in ber
Einführung begriffen if, Baden, feheint in der That nur
als abſchreckendes Beiſpiel wirken zu follen, wiewohl bie
Urheber im Gegentheil ihre Verfaſſung als „maßgebend für
das ganze evangelifche Deutfchland“ betrachten. ‘Der Ent⸗
wurf ift eine Uebertragung bed politifchen Eonftitutionalis-
mus auf die Kirche, eine Veränverung ſelbſt des Begriffs
und Weſens der Kirche, bie hiemit „aus einer Gemeinjchaft
aller derer, welche allein durch ben Glauben an Chriſtus
gerecht zu werben gebenten, in eine Gemeinſchaft aller derer,
bie an eine fittliche Weltorbnung glauben (mach dem Aus
brude des Regierungs⸗Organs) umgeſetzt wirb.‘*)
Große Hoffnungen wurden mehrere Jahre lang auf
das Inſtitut der Synoden geſetzt. In Preußen, in ganz
Deutichland erwartete man hohe Dinge von folchen Ber-
fammlungen, doch follten fie, das war erfte Vorbebingung,
das Ianbeöherrliche Epifcopat unangetaftet laffen, und ſich
auf eine blos berathende Rolle befchränten, mehr einer Ver⸗
3), Meßner's K. Ztg. 1860, ©. 84.
?) Meßner's 8. tg. Juli 1861.
». Dillinger, Papftihum. 27
418
fammlung kirchlicher Notabeln als einer modern-conftitutig«
nellen Vertretung gleichen. Die erflen Proben waren
nicht einladend. Weber vie kirchliche Eonferenz von Abge⸗
orbneten beutjcher Fürften, welche 1845 in Berlin gehalten
wurde, wird bemerkt: „Der erfte Verfuch blieb auch ber
legte, ohne eine fichtbare Wirkung zu äußern.) Dann kam
die glänzend zufammengefette Generalfynode von 1846; fie
umfchloß die Blüthe der tbeologifchen Intelligenz und bes
religiös gefinnten Beamtenthums. Ste unternahm bie Löſung
ber fehwierigen Bekenntnißfrage, und wollte mit Befeitigung
der reformatoriichen Belenntnißfchriften eine neue Formel
einführen; dieſe, von Nitzſch erfonnen, war aber fo
vag und phrafenhaft, daß ohngefähr alle Parteien fie
annehmen konnten, daß, wie die Lutheraner fagten, ven
Ungläubigen nicht zu viel Glauben, und den Gläubigen nicht
zu viel Unglauben zugemuthet wurbe. Ste ward denn auch,
obgleich von der Synode gut geheißen, bald zum allgemeinen
Spotte, und ſchon wenige Monate nach dem Schluffe ber
Synode wollte kaum jemand noch etwas wiflen von ben
Beichläffen, die auf ihr mit einer fo großen Majorität ge
faßt worden waren.’)
1) Richt er's Gefchichte ber evang. Kirchenverfafſung in Dentid-
land. ©. 258.
?) Hengftenberg in den Altenſtücken d. evang. Oberlirchen⸗
rathe, 1856. Ill, II, ©. 25.
419
Neue Anfäge zu Synoden wurden in Berlin in ven
Sahren 1856 und 1857 gemacht. ‘Der König wünfchte fie,
aber man warnte: durch die Beranftaltung einer Synode
werde vor aller Welt offenbar, was bis jett zum Theil ein
Geheimniß der Behörden und in feiner ganzen Auspehnung
nur wenigen tiefer Eingeweihten belannt fel,') nämlich bie
Schäden und Zerrüttungen im Kirchenweſen. Die Unmög-
fichkeit, daß eine Synode bezüglich des Belenntniſſes irgend
etwas Haltbares erfinne und befchließe, daß fle zwifchen den
Anfprücden ber Union und ver Confeffionellen glücklich hin⸗
durchſteure, die Furcht vor neuen Zerwärfniffen und öffent⸗
lichen Aergerniffen, vorzüglich aber wohl die Beſorgniß vor
der Geftalt, zu welcher das Synodalweſen fich faſt unab-
weisbar entwideln würde, bewirkte, daß man ben Plan
wieber fallen ließ. Eines nämlich wirb von ben conjerva«
tiven Kirchenmännern als das Schredlichfte gefürchtet und
verabfcheut, was der Kirche begegnen könne: bie Herrichaft
der Majoritaten, oder die von Bunſen fo warm empfohlene
kirchliche Demokratie. Soll, fagt Rothe, die Majoritüt
berjenigen, bie fich zu unferer Kirche zählen, über den Glau⸗
ben, die Lehre und den Gottesvienft berfelben becretiren,
jo wird die nach ihrem Sinne eingerichtete Kirche, wenn
—
3) A. a. O.
27°
420
En
fie überhaupt nur eine folche zu Stande bringt, wenig mehr
von einer hriftlicden Kirche an fich haben.‘)
Wenden wir und zur boctrinären, tbeologifchen Seite
ber deutſchen proteftantiichen Kirche, fo erkennen wir bier
auch in der Gegenwart ihre eigentliche Stärle und ihren
Ruhm. Daß es jegt nur noch in Deutfchland eine wirk-
liche proteftantifhe Theologie, eine Wiffenfchaft gebe, if
wohl allgemein anerlannt. Alle anderen Kirchen ber Refor-
mation ziehen ihre theologische Nahrung, foweit fie über-
haupt das Bedürfniß einer folchen empfinden, aus ber beutfchen.
Yulius Müller und Liebner haben Recht, jener, wenn
er die Theologie „mit ihrem raftlofen Forſchungsgeiſte und
ihrer ernften Arbeit in bie Tiefe” als das eigentliche Cha⸗
risma des deutſchen Proteftantismus bezeichnet,”) biefer,
wenn er den Eontraft ausmalt zwifchen der Laſt ver Un-
wiffenheit, die auf der proteftantifchen Kirche Liege, fo, „daß
die Stadt auf dem Berge faft nicht mehr zu fehen, ober
das Auge dafür fait erblinvet ſei,“ und zwifchen ben glän-
zenden Leiftungen ver heutigen ZTheologen.?)
Die proteftantifche Kirche Ift in Deutfchland vor Allen
und von Haufe aus eine Theologenkirche. Xheologen,
Untverfitätsgelehrte, Literaten, haben fie geſchaffen, haben
1) Ethik, III, 1041. Vergl. Hengftenberg’s X. Zeitg., 1856, ©. 633.
2) Fortbildung ber bentich-proteftantifchen Kirchenverfafiung, ©. 4.
3) Zur kirchlichen Prinzipienfrage ber Gegenwart. Dresben 1860,
©. 24 ff.
431
ihr das Gepräge ihres Denkens und Thuns unvertilgbar
aufgedrückt. Theologen find ihre einzige Autorität, und
— durch bie von ihnen berathenen Fürften — ihre Regen
ten gewefen. Ihre Kirchen find daher Schulen oder Hör-
fäle, ihre Ranzeln finb popularifixte Katheder. Mit Theſen
einer alabemifchen ‘Disputation Hat fie begonnen. Das
„Wort, wie ihr Stifter zu jagen pflegte, der im Grunde
nie aus feiner Profeffor-Rolle fiel, ift in der That ihr er
ſtes und letztes und einzige® Wort. Ste lehrt und dann
tritt fie ab. Ste prebigt und fingt, aber ihre Lieber find
nicht Hymnen, fondern großentheild verfifizirte theologifche
Abhandlungen oder gereimte Predigten. Aus dem Connu⸗
bium von Brofefforen und Fürſten ift fie geboren worben,
bie Züge beider eltern find in ihrem Antlig, nicht gerade
in barmonifcher Mifchung, vereint, und wenn man ihr
häufig den Vorwurf macht, daß „des Gebantens Bläſſe ihr
angekränkelt, daß fie verweltlicht, und mehr ein Polizei⸗Inſti⸗
tut als eine Kirche fei”, fo ift damit eben nur gejagt, baß
das Kind Bater und Mutter nicht verläugnen könne. Und
jo vürfte das Urtheil wohl prophetifch fein, das ber reichfte
md tiefjinnigfte Beift unter den lebenden proteftantifchen
Theologen gefällt hat: „Die proteftantifche Kirche in Deutſch⸗
land zog fich eine Theologie groß (ich würde dieß VBerhältniß
umlehren), bie fih im Laufe ber Zeit — und zwar nicht
etwa zufälliger Weife, ſondern nermöge einer Innern Noth-
wen digkeit — mit ihr felbft aufs grünplichfte verfeinbete,
und in eine Richtung eintrat, deren letztes Refultat naturs
gemäß nichts anders fein kann als ihre völlige Auflöſung.“)
Denn die Theologie ift zwar in Deutfchland wieder gläubig
geworben, aber es fehlt fehr viel, daß fie auch rechtgläubig
geworben wäre im Sinne ber Belenntnißfchriften. Auch bie-
enigen Theologen, bie fich vorzugsweiſe treuer Dingebung
an das lutheriſche Syſtem rühmen, find nicht orthobor.
Die Thatfache, fagt Iulius Müller, liegt offen vor, daß
unter allen ven lutheriſchen Theologen, bie neueftend im
Gebiete der Glaubenslehre umfaffendere Arbeiten veröffent-
licht Haben, Hein einziger ift, ber nicht ben Rehrbegriff
der Iutherifch-[yumbolifchen Bücher an dem einen over an«
bern Punkt einer Mopifilation bedürftig erachtete.?)
Und hiebei handelt e8 fi um Beſtimmungen von tief ein-
greifender Bedeutung. Eine lange Reihe von Jahren hin⸗
durch, fagte Ehrenberg auf der Berliner Generaliynobe,
babe er nach einem Manne gefucht, ver in allen Stüden
mit den fombolifhen Büchern einer Eonfeffion in Ueber⸗
einftimmung wäre, habe aber Leinen gefunden.“) Seit einem
Sahrhundert, wird behauptet, hat fein Theologe, weber auf
1) Rothe's theologifhe Ethil III, 1015.
2) Deutſche Zeitichrift, 1855, S. 107.
I), Berkandlungen der ebang. Generalſynode zu Berlin, &. 801.
43
dem Lehrftuhl noch auf der Kanzel, in völliger Ueberein⸗
ſümmung nah Form und Inhalt mit den ſhmboliſchen
Büchern gelehrt.) Und fo prängt denn bie Lage gebieterifch
Dazu, daß in Bezug auf die Bekenntniß⸗Verpflich—⸗
tung ber Geiftlichen ein Weg gefunden werde, Necht und
Dbfervanz mit den wirklich beftebenden Verhältniſſen aus«
augleichen.
So lange bie veutichen Proteftanten fich jeder kirch⸗
lichen Verfügung ihrer fürftlichen Oberbifchöfe zu unter
werfen gewöhnt waren, berubigte man fich dabei, daß bie
Bürften den Eid auf die fymbolifchen Bücher vorgefchrieben
hätten; noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts äußerten
die Juriſten: das fymboltfche Anfehen der unter den Pro«
teftanten in Deutfchland angenommenen Lehrvorſchriften be-
ftehe nur fo lange, als vie proteftirenden Fürſten wollen,
daß es beftehen folle.”) Nach langem Streite varüber, ob
man die ſhmboliſchen Bücher zu beichwören habe, weil,
ober nur in wie fern fie die Schriftlehre enthielten, kam bie
Periobe des Nationalismus, in welcher man es mit Eib und
Bekenntniß leicht nahm, und jeder fich mit der großen Menge
ber Sleichgefinnten und in gleicher Lage Befindlichen tröftete.
Seit 1817 waren die kirchlichen Behörden erfinderifch im Er⸗
1) Monatfchrift für bie unirte evang. Kirche 1847, II, 84.
?) Töllner’s Unterricht von ſymboliſchen Büchern. ©. 30.
—
finnen ausweichender, Privatmeinungen Raum laſſender, das
Anſehen der Bekenntnißſchriften eigentlich entkraftender For⸗
meln. Man verſprach, „im Geifte“ oder „nach den Grund⸗
fätzen“ ober „infofern fle biblifch find,“ ober „mit gewiſſen⸗
after Berüdfichtigung ver Belenntnißfchriften“ zu lehren,
in Baden fogar nur in fo weit, als in der Eonfefllon pas
Prinzip der freien Bibelforfchung behauptet ſei. In Sachien
und Hannover blieb die alte ftrifte und unbebingt lautende
Berpflichtung.
Alle Vorſchläge und Erörterungen der Frage haben
bis jeßt ein unbefriebigendes Nefultat geliefert. Die Kirche
ber Reformation kann nicht wohl ohne eine Verpflichtung
ihrer Geiftlichen auf eine feite Lehrnorm, aber aud nicht
mit einer folchen beſtehen. Auf ber einen Seite heißt es:
Was wäre eine Kirche, in der jeder von den Symbolen ab⸗
weichen kann, anders als ein Babel?) Von ber andern
aber wird mit vollem Rechte gejagt: firenge Bindung an
bie Symbole müßte bei dem gegenwärtigen Stande ber
Theologie zur Heuchelet und zur unerträglichen Gewiſſens⸗
tyrannei führen.) Man muß alfo bie Verpflichtung fehr
weit machen und dem Kleriker eine freie Stellung zu den
Symbolen geben. Nur auf ven Geift derfelben können fie
) Brömel in db. INth. Zeitfchrift, 1855, S. 275.
2 So Rothe, Peterſen, Marheinete.
fich verpflichten laffen, und die Dentung viefes Gelftes und
feiner Tragweite muß doch am Ende ihnen ſelbſt überlaffen
bleiben, da eine lebendige, wirklich anerlannte, autbentifch
in Sachen ber Lehre interpretirende und entfcheid de Aus
torität nicht vorhanden ift.
Bei der Gründung des evangeliſchen Kirchenbundes
zu Wittenberg im Jahre 1848 erflärte eine erkleckliche Zahl
bedeutender Theologen zum erftenmale: „Ste ftänden in
ihrem Glauben auf dem Grunde ver reformatorifchen Be⸗
tenntniffe.” Diefe ſehr dehnbare und im Grunde zu nichts
verpflichtende Phraſe ift feitbem beliebt geworben. Hierauf
wurde im Jahre 1863 auf einer Verſammlung in Berlin
erflärt, die Augsburgifche Eonfeflion folle als Richtſchnur
und Ausbrud bed gemeinfamen Glaubens und Lehrens gels
ten. Das war ver ftärkite Aufſchwung in ber Unterwer⸗
fung unter eine Formel, zu welchem man es bis jeßt ge-
bracht Kat. Sehr ernftlih war die Sache fchon barum
nicht gemeint, weil die Aumefenden doch wußten, daß unter
ihnen und in ganz Deutichlanp Fein einziger Theologe
fel, ver wirklich alfe Artitel der Augsburger Eonfeffion ans
nähme. Wie wenig man fih damit in Glaubensſachen bin⸗
ben wollte, bewiefen bald barauf einzelne Theilnehmer (3.
DB. Schenkel) durch ihre dem Belenntniffe von 1530 fchroff
wiberfprechenden Schriften.
Da, wo bie Union zu Mecht befteht, iſt ohnehin bie
— ⸗—
Autorität der ſymboliſchen Bücher unheilbar gebrochen. Man
bat jüngft auf Kirchentagen und Paftorenverfammlungen
erörtert, daß in Preußen jeber boch wenigſtens den zehnten
Artikel vom Abendmahl nach Belieben in drei verſchiedenen
Auffaffungen nehmen dürfe, entwever im Iutberifchen ober
im calvinifchen oder im untrten Sinne; und Andre meinten,
es ſei nicht abzufehen, warum man ihn nicht auch noch in
einem vierten ober fünften Sinn verftehen dürfte.) Ueber⸗
baupt aber koͤnne, geftand man, nicht in Abrede geftellt
werben, daß in ber Verpflichtung auf das Orbinations
Formular, wie fie in Preußen (auch in Sachfen, Hannover)
geſetzlich flattfinde, Viele zu lügen genöthigt feien, pas laſſe
fidh nicht bemänteln, fondern nur beklagen; doch lönne man
fih dabei beruhigen, daß eine Menge Anbrer ebenfo lügen
ober gelogen haben, und daß man bie Lüge dulden müſſe,
weil die Menge der ihr Anhängenden eine unabjehbare
Verwicklung herbeiführen müßte, wenn man mit ber Ver⸗
pflichtung Ernft machen wollte.‘)
Solite nämlich die Verpflichtung. als eine wirklich
bindende genommen und banach verfahren werben, fo
müßte man ber tbeologifch-wiffenfchaftlicden Bildung des
geiftlihen Standes entfagen, und fich darauf beichränten,
die Candidaten fünftig in Anstalten, welche ven Englifchen
1) Deutſche Zeitfchrift 1854, S. 200.
?) Bruns’ Repertorium. VIII, 134.
\
421
Diffenter-Alabemien gleichen möchten, blos abzurichten. Kein
Theologe kann und wird ſich mehr im Ernfte an die ganze
Lehre der Augsburgifchen Eonfeffion und der Goncorbien-
formel binden. Der Gebrauch, ber daher jegt von biefen
ehemaligen Slanbensnormen gemacht wird, ift hauptſächlich
noch ein polemijcher. Jeder legt den Maßſtab ver ſhmbo⸗
liſchen Bücher an denjenigen an, ben er gerade als heteros
dor in Verruf bringen will, jeber aber geftattet fich feiner-
feits, von dieſer Lehrnorm abzumweichen. Niemand mag fich
doch, wenn er ein Öffentliches Lehramt befleivet, dem ganzen
Strom der neueren Eregefe entgegenftenmen, und wenn
auch 3. B. die Erlanger Theologen ſchwören, keine Bibel⸗
ſtelle anders auszulegen, als es in den ſymboliſchen Büchern
geſchieht, fo zeigt ſchon der „Schriftbeweis“ des Profeſſors
v. Hofmann, der nun von allen Seiten als ein VBerfäl«
fcher der reinen lutherifchen Lehre von der Genugthuung und
Rechtfertigung angeklagt wird — fchon dieſes Werk zeigt,
daß Heutzutage weder große noch Beine Fliegen In ben
Spinnengeweben folder Verpflichtungen hängen bfeiben.
Darüber find Alle einverſtanden, daß die Hanptlehre
ſämmtlicher Belenntnißfchriften die von der Rechtfertig—
ung fei, daß in biefem Dogma ver proteftantifche Gegen-
ſatz gegen das katholiſche Syſtem fein Centrum und feinen
prägnanteften Ausbrud habe. In ihr „erkennt bie Nefor-
mation ihren Mittelpunkt, ihr edelſtes Kleinod, ihre eigent-
428
liche Subftanz, fie ift das, womit bie enangelifche, auf’s
Evangelium gegründete Chriſtenheit fteht und fällt.“ *)
Niemand verfteht etwas vom Chriſteuthum, ber
diefe Lehre nicht Mar und lebendig erfaßt Hat und von
ihr ergriffen ift. Diefe Lehre ift aber in ver NRömifchen
Kirche im innigften Kerne ververbt.) Im Einverftänbniffe
biemit fagt Hengſtenberg's Organ: Im jeder Previgt muß
unfer Panier, unſer Sola, wenigſtens Einmal zu ſehen
fein.) Die Rechtfertigungslehre, Heißt es in Erlangen, ift
ber immerwährende Tod, der an ben Gebeinen ber Katho⸗
lien nagt;*) fie ift zugleich die Richtſchnur, nach welcher
die ganze Heilige Schrift ausgelegt, jede dunklere Stelle
ertlärt werben muß.“°)
Wenn man nun einem religiöfen Gliede der beutfchen,
fih doch hanptſächlich um biefer Lehre willen evangeliich
nennenben Kirche fagt: Dieſe Lehre fet jet von der wiflen-
Ichaftlichen Theologie in Deutſchland aufgegeben; es gebe
kaum noch. einen namhaften Theologen, ber für das Dogma
ber Reformatoren und ber ſymboliſchen Bücher (fpeziell
bier der Eoncorbienformel) in rechtem Ernfte und mit An-
nahme ver Maren Conjequenzen einftehen möge, — fo wird
I) Kling in Herzogs Encyllopäbie, XII, 682.
2) So F. W. Krummader im Halliſchen Volleblatte 1858,
S. 203.
3) Evang. 8. 3. Bb. 48, 415, 16.
5) Zeitfchr. für Proteſt. Bb. 26, ©. 119.
8) Ebendaſ. Bd. 29, ©. 184.
429 .
man wohl ein ungläubig-mitleibiges Lächeln erregen. Und
doch ift e8 fo. Schon Tholuds „litterarifcher Anzeiger”
bat zur Umfchau aufgeforbert über die unerbörte Leicht«
fertigteit, mit welcher ber Yuftififations - Artikel heutiges
Tages behandelt werbe,’) fo daß gerade das, was bie Re⸗
formatoren (an Oſiander u. ſ. w.) verworfen, jest für
bie rechtglänbige Lehre ausgegeben werde. Hierauf bat
Schnedenburger nachgewieſen,“) daß bie neueren Tuthe-
rifchen Theologen ſämmtlich die Lehre Luthers und ber
fymbolifchen Bücher verläugnen, fännntli den Hauptartitel
bon der zugerechneten Gerechtigkeit entweder geradezu preiß-
geben ober in das Gegentheil von dem, was bie Nefor-
matoren bamit gewollt, umbeuten. Es laſſe fi, bemerkt
er, vielleicht nur ein einziger tbeologifcher Schriftfteller
ber Gegenwart nennen, welcher die altlutherifche Lehre treu
gegeben habe, Petri.) Seit Schnedenburger’8 Tode iſt denn
3) Jahrg. 1848, ©. 248.
2) Bergleichenbe Darftellung bes Iutherifchen und rveformirten Lehr-
begriffe. Herausgegeben v. Güber 1855. II, 88 — 45.
) Shnedenburger if jeboch, fo richtig er im Ganzen bie
Intherifche Lehre und bie lutheriſchen Theologen beurtheilt, ba-
buch auf einen faljhen Weg gerathen, daß er ben Reformirten
bie entgegengefetste Lehre zufchreibt, inbem er ſich einige Theo⸗
logen dieſer Eonfeffion, welche gerabe von ber herrſchenden
Lehre abgewichen find, herausſucht, und fie als Repräfentanten
ber Tirchlichen Lehre behandelt. ‚
: 480
ber Widerfpruch zwifchen den dogmatifchen und eregetifchen
Ausführungen der Theologen und zwifchen der allgemeinen
Berufung auf das „Belenntniß“, vie „reine Lehre“, den Artikel
ber „ſtehenden und fallenden Kirche’ immer greller geworben.
Bor einigen Jahren hat denn auh Kahnis erklärt: er
fenne in der Richtung der Unionstheologie (Nitzſch, Lange,
Müller u. |. w.) feinen Theologen, welcher auf dem Boden
ber Rechtfertigung durch den Glauben ftehe.') Kahnis hätte
nur um der Gerechtigkeit willen noch bemerken follen, er-
ſtens: daß es mit Iutherifchen Theologen, Martenfen, von
Hofmann, Sartorius und Andern fich ebenfo verhalte,
zweitens: daß er felkft früher fich in gleicher Lage befun⸗
ben babe.')
Damit mir indeß nicht Webertreibung | vorgeworfen
werde, ſo mögen hier die Namen der theils lebenden, theils
doch der neueſten theologiſchen Entwicklung angebörigen
Theologen genannt werden, welche ſich von der proteſtan⸗
tiſchen Rechtfertigungslehre, wie ſie in der Concordienfor⸗
mel und im Heidelberger Katechismus erſcheint, und bis
1760 etwa herrſchend war, losgeſagt haben:
Olshauſen, Schleiermacher und ſeine ganze Schule,
Heydenreich, Brandt, Nitzſch, Ullmann, Neander,
2*
I) Die Lehre vom heiligen Geiſte. Halle 1847. 8. 82.
481
Sartorius, Baͤhr, Schenkel, Martenſen, Nagel«—⸗
bad, J. T. Bed, Kollner, Schöberlein, Geroch,
Hundeshagen, Richard Rothe, J. P. Lange, Eb⸗
rard, von Hofmann, Julius Mäller, Lipfius, Ber
neke, Rennede, Sad, Dorner, Köflin, Baumgar
ten, Düſterdiet, Kurg, Adermann, Krehl, Schmib,
Weizſäcker, Kaldreuter, Krahner, Gef, Stier,
Grüneiſen, Hagenbach, de Wette.) Diefe Lifte könute
bei genauerer Prüfung ficher noch beträchtlich erweitert
werden. Sie umfaßt aber unftreitig die begabteften Mläns-
ner, bie gründlichften Bibelforſcher, die, benen ber neue
Auffhwung der gläubigen Theologie vorzugsweife verdankt
wird. Und noch mandhe andre würden ficher den Genann⸗
ten anzureiden fein, wenn fie es nicht vorgezogen hätten,
fi in diefer Materie blos mit den herkömmlichen Phrafen
I) Aber auch die Theologen, bie als bie Ächteften Lutheraner in
unfern Tagen gelten, entgehen bem Bormwurfe nicht, von ber
lutheriſchen Rechtfertigungslehre abgefallen zu fein; fo Klie
fotb, f. Zeitfch. für luth. Theol. 1850, ©. 84, fo Thoma-
fius, Harleß und jüngft Preger; ſ. Kliefoths kirchl. Zeitſch.
1868, ©. 404. Guerike, dem vor Allen das Lob reinſter
luth. Orthodoxie zu Theil geworden, hat in ſeiner Symbolik
(2. Aufl. 1846, ©. 365) wie ihm in Tholuck's theol. Anzei⸗
ger, 1848 ©. 232 ff. nachgewieſen worden, buch feine Be⸗
ihreibung des rechtfertigenden Glaubens gerabe den Grundge⸗
danken Luthers und der Reformation zerftört.
482
| CC
von®laubenegerechtigkeit u.ſ.w. zu begnügen, und jebe näher ein⸗
gehende Erpofition oder Zerglieverung des Dogma zu vermeiben.
Hertömmlich iſt e8 freilich feit einiger Zeit, fih zum
materialen Brinzip der Reformation zu belennen, biemit
aber eben nur mit Phrafen wie mit Rechenpfennigen zu
fptelen, und entweber gar keine feften Begriffe, ober pie ver-
ſchiedenartigſten Dinge mit den folennen Worten von ber
Glaubensgerechtigkeit zu verfnüpfen. „Was hilft es, fagt ein
Theologe, der enangelifchen Ehriftenheit, wenn fie befennt,
nur durch den Glauben gerecht und felig zu werben, unb
fih jo wenig Eins barüber ift, woran zur Seligleit zu
glauben iſt!“) Ein fchlagendes Beiſpiel ift bier Schen-
tel, ber bei jever Gelegenheit vie reformatorifche Recht⸗
fertigungslehre als ganz unbaltbar verwirft, dann aber
wieder, gerade wie einer aus der Maffe der Previger, von
bem großen Materialprincip des Proteftantismus zu veben
weiß. So bebeutet nah Bunfen die Rechtfertigung allein
aus dem Glauben, aus der jemitischen Sprache in's Japheti⸗
tiſche überſetzt: den Grunbfag der fittlichen Selbſtver⸗
antwortlichleit.”) Und kürzlich Hat Roßmann in feinen
N L8we in der Göttinger Monatfchrift fiir Theol. und Kirche,
1851, ©. 836. Auch Haufe, bie Entwidiung bes Proteſtau⸗
tismus, 1855, S. 19, fpricht fich offen über den Widerſpruch
zwiſchen der jetst verbreiteten Auffaffung ber Rechtfertigung durch
ben Glauben unb ber orthoboren Lehre aus.
2) Sippolytus, I, 889.
. —
„Betrachtungen über das Zeitalter der Reformation” ent⸗
bedt, daß der ganze moberne Staat auf ben evangelifchen
Grundfag von der Rechtfertigung durch den Glauben allein
bafirt ſei.
Das ift nun unftreitig eines ber denfwürbigften und weit«
greifendften Ereigniffe in der neuern Neligionsgefchichte, daß
bie Lehre, bie das eigentliche Fundament des ganzen proteftan«
tifchen Lebrgebäupes bilden foll, wifjenfchaftlich fo völlig zu
Grunde gegangen iſt. Zwar iſt es noch immer ein ſtehender
Borwurf, den ein Theologe dem andern, wenn er ihn ber Irrs
Iehre überführen will, zu machen pflegt, daß er von dem
„Evangelium“, von der reinen Lehre der Glaubensgerechtigkeit
abgewichen ſei. Sobald aber einer genöthigt ift, fich in
wifienfchaftlicher Darftellung über das Dogma zu erklären,
und die allgemeinen Phrafen nicht mehr ausreichen, kommt
regelmäßig eine Lehre zum Vorſchein, welche die Reforma⸗
toren und ihre ächten Nachfolger für papiftiich oder armi-
nianiſch erklärt haben würden. Namentlich ift Die ereges
tifche Theologie in Deutfchland zu mächtig geworben, und
bie bebeutenderen Bibelausleger haben doch auch eine wiſſen⸗
Ihaftliche Reputation zu behaupten, fo daß eine Zurüd-
fhraubung dieſer Theologie zu den Auslegungen bes 16.
und 17. Jahrhunderts einfach nicht mehr möglich ift. Nicht
wenige ber neueren Exegeten find, man fieht es, mit bem
beßten Vorſatze, die SDoctrinen der Weformatoren in ber
v. Dölinger, Papſtthum. 28
— —
Bibel nachzuweiſen, an's Wert gegaugen, aber — es geht
eben nicht. Damit iſt indeß auch der Stab gebrochen über
jede Geltung der Bekenntnißſchriften und über jedes Be⸗
mühen, die alte proteſtantiſche Rechtgläubigkeit, d. h. bie
den ſhmboliſchen Büchern entſprechende Lehre und Auſchau⸗
ung wieber berzuftellen. Selbft die Bezeichnung „evange⸗
liſch“ Hat nım keinen rechten Sinn mehr, benn was man
im Neformationszeitalter mit biefem Worte meinte, das
war eben pie Imputationslehre und ihre Eonfequenzen.
Was ift doch Alles verfucht, gewagt worden, um nur
dieſen „Artikel der flehenven und fallenden Kirche“ zu er»
halten und zu empfehlen. Ihm zu gefallen wurde ver Brief
Jakobi für eine ſtroherne Epiftel erklärt, wurbe in das
Augsburger Bekenntniß vor Kaiſer und Neich die offenbare
Unwahrheit aufgenommen, daß dieſe Lehre fich ſchon bei
Anguftinus finde, und als Melanchthon aus Scham fie aus
den Ausgaben der Eonfeffion weggelaffen Hatte, wurde fie,
wiewohl unter dem nachdrücklichften Widerfpruche der eig-
nen Theologen, doch wieder (1576) in ben Text ber Con⸗
feffton eingerüdt, Dieſer Lehre zu gefallen hat Luther bie
heilige Schrift in mehreren Stellen, beſonders der Pauli»
niſchen Briefe, mit berechneter Untreue überfegt, und bem
Urterte fremde, von dem Reformator erft zur Unterflütung
feines Lieblingsdogmas erfonnene Ausdrücke eingefchoben.
Man bat ferner, um nur viefen, dem kirchlichen Altertfume
»
435
völlig fremben Artikel behaupten zu tönnen, mit ber ges
fommten kirchlichen Tradition gebrochen, und dem bogma-
tiſchen Zeugniſſe ver Kirche aller Jahrhunderte jenen Werth
abgefprochen. „Das, fagt Julius Mäller, muß unbes
fangene hiſtoriſche Forſchung jeßt offen zugeſtehen, was bie
Neformation felbft fi noch verbarg, daß nicht blos bie
firchliche Xheologie des Mittelalters, ſondern auch bie pa-
triftifche Theologie des vierten, fünften, fechsten Jahrhun⸗
bertd in ven meiften Streitfragen zwifchen Katholicismus
und Proteftantismus, mehr auf ber Seite bes erftern als
des letztern fteht.').- |
Wenn Müller meint, vie Reformation babe fich felber
bie wichtige Thatſache verborgen, daß ihre Lehre im Wider⸗
fpruche mit ber ber erſten chriftlicden Jahrhunderte ftehe,
fo ift dieß doch nur theilweife richtig, dem Volke, den Laten
juchte man dieß allerdings forgfältig zu verbergen, aber im
engeren Kreiſe redete man ziemlich offen barüber. Me⸗
lanchthon erklärte in feinen Briefen an Brenz das, was
er die deutfchen Proteftanten in der Augsburger Confeffion
batte behaupten laſſen, jelbft für eine Unwahrheit. Luther
bat fih mehrfah unummwunden barüber ausgefprochen,
wie feine Lehre eine ganz andre fei, al® bie ber älteften
Kirche, und wie fehr er deshalb die Väter als Zeugen ber
2) Deutfche Zeitfehrift 1854, Juli, ©. 214. j
28*
.'.
*
2
alten Kirchenlehre verachte. Sein Bemühen, bie alten Eon-
eilten möglichft berabzufegen umb in den Augen des Volkes
verächtlich zu machen, war offenbar bemfelben Bewußtſein
entfproffen. Desgleichen bat Cal vin es befannt, daß von
ber neuen Rechtfertigungslehre in ber Trabition unb bei
den Vätern nichts zu finden fe. Und wenn die fämmtli-
hen Theologen und Prediger von Roftod in einem Schreis
ben an bie Prebiger ver Stäpte Lübed, Hamburg und Lü-
neburg erfiärten: In den Artikeln vom freien Willen, ver
Gnade und der Rechtfertigung, ftinme bie Lehre des ortho⸗
doren Altertbums völlig mit der der Fatholifchen Theologen
überein,’) fo fieht man, daß die Theologen fich feine Illu⸗
fionen in dieſem Punkte machten. Bor ber Welt freilich
wurde eine ganz andere Sprache gerebet.
Man muß diefe Dinge um jener willen fagen, weldhe
etwa niit Stahl ver Anficht find: Die zugerechnete Gerech⸗
tigkeit fei das Myſterium, welches das Innerſte der chrift-
lichen Neligton und bie Fülle des göttlichen Lichtes fei, und
erft durch die Reformation -fet diefe Fülle des göttlichen
1) Bei Bertram’s Evangel. Lüneburg. Beil. &. 271. Gie
bemerfen, baß nur einige wenige Stellen aus ben letzten Schrif-
ten Auguftiin’s und Profper’s (Über die unwiderſtehliche Wir⸗
fung ber Gnade) von biefem Tatholifchen und altkirchlichen Con⸗
fenfus eine Ausnahme machten
431
Lichtes im Beifte des Menfchen aufgegangen,') welche über
auch mit ihm zugleich der Iutherifchen Kirche den hohen Vor⸗
zug ber Katholicität in der Lehre zueignen möchten, jener
Katholicität, die, wie er fagt, immerbar ald bie gottge⸗
ftiftete Lehre und Ordnung befteht, die das Band ber Ehri«
ftenbeit für alle Orte und durch alle Zeiten fein foll, ent«
) Hengftenberg’s 8. 3. 1858, ©. 824, 325. Die The
logen ber Neuzeit pflegen fonft biefen Ausdruck: „zugerechnete
Gerechtigkeit” (zur Unterjcheibung von "wahrer, innerlih ge
wirkter Gerechtigkeit) zu vermeiden. Man rebet immer mur
von ber Gerechtigkeit bes Glaubens, ber Rechtfertigung durch
ben Glauben. Diefe Bezeichnung iſt aber in proteflantifchen:
Munde um fo ungeeigneter und täufchenber, als es gerabe bie
katholiſche Kirche ift, welche ben Menſchen wirklich und eigent-
lich durch den (in Liebe wirffamen) Glauben vor Gott als
gerecht erfunben werben läßt, wogegen nad) dem altproteitan-
tiihen Syſteme es nicht der Glaube, fonbern die Zurecdhnung
ber Leitungen Chrifti ift, welche ben Menfchen vor Gott ge-
recht erjcheinen läßt, oder ber Proceß ber Rechtfertigung ſich
bamit vollzieht, daß Gott dem Menfchen bas Leiden und bie
Geſetzeserfüllung Chriſti, fo, als ob er felbft dieſen Gehorfam
gel einci hätte, imputirt, umb ber Menſch durch einen Glaubens⸗
4 dieſer Imputation bewußt und gewiß wird. Bei folcher
Auffaſſung läßt fih nur in ſehr umeigentlichem Sinne, nur
mittel® einer gezwungenen Figur fagen: ber Menſch werbe durch
ben Glauben gerechtfertigt, num etwa fo, wie man fagen könnte:
Jemand fei durch die Gabel gefättiget worben. Welchen Dienft
aber bie Imputationslehre dem Einzelnen fowohl als ber Ge—
fhichte der ganzen Gemeinfchaft Teiften folle, das mag man
438
gegen dem menfchlich aufgebrachten Irrthum, ber niemals
allgemein war.')
Ih meine, die Bedeutſamkeit der hier befprochenen
Thatfache könne kaum allzu hoch angefchlagen werben. Hier
ftehen auf ver einen Seite Luther, Melanchthon, Calvin,
alle ihre Jünger, bie proteftantifchen Belenutnißfchriften,
bie gefammte Iutherifhe und calvinifche Theologie des 16.
und 17. Jahrhunderts. Sie alle haben in der Bibel bie
Lehre, die wir ber Kürze wegen bie Imputationslehre nennen,
mit evidenter Klarheit ausgefprochen gefunden. Auf ber
andern Seite fteht die neuere und neueſte Theologie, ſteht
die ganze wiffenfchaftliche Eregeje der Neuzeit, und verwirft
bie Lehre, verwirft die veformatorifche Erklaͤrung der frag-
aus folgenden Worten Bilmar’s entnehmen: Auch im Luther
iſt tro aller unendlichen Gnade, bie ihm widerfahren, Sünbe,
und Sünde wirb nie entſchuldigt. Aber wir fehen an ihm
nicht die Sünde, fonbern die bem Sünder zugerechnete Gerech⸗
tigkeit, buch den Glauben an ben einigen Erxlöfer Jeſum
Chriſtum, hören in Allem, was er geiprochen, bieje zugerech⸗
nete Gerechtigkeit hindurch, und feine ganze irdiſche Eriftenz und
Alles, was an ihm zum Erſcheinung gelommen, iſt nur hieraus
zu beurtbeilen. Nehmen wir bieje zugerechnete Gerechtigkeit
hinweg unb wollen wir fie nicht fehen, fo bleibt gerade in ihm
nichts übrig als ber größte Sünder unb in allen feinen Ge
dauken das verworrenfte Zeug, wie es ber ärsfte Rubellopf
nicht ausbenlen kann. Zeitſchr. für luth. Theol. 1848, ©. 384.
1) Die Intberiide Kirche, 1869, S. 452.
— —
lichen Bibelſtellen als falſch und unhaltbar. Die Schrift
aber iſt, das iſt oberſtes evangeliſches Princip, in allen
Fundamentallehren vollfommen klar und ſich ſelber genügend.
Wie iſt nun dieſer fundamentale Diſſenſus zu erklären?
Und dabei handelt es ſich um eine Lehre, die, wie jedermaun
zugibt, von unermeßlichem Einfluffe auf die ganze Geſtaltung
bes chriftlichen Bewußtfeins und tes Tirchlichen Lebens tft,
um eine 2ehre, welche, jelbft nach der Behauptung ober
dem Geftänpniffe vieler proteftantifcher Theologen, früher
eine Duelle des Verderbens für Unzählige geworben ift,
eine Verwüſtung in den Kirchen angerichtet hat, von ber
man vorher feine Ahnung hatte. So foll der ganze Bau
ber evangelifchen Theologie und Kirche auf zwei Prinzipien,
dem materialen und dem formalen, Imputationslehre und Suffi⸗
cienz der Bibel, ruhen; aber das materiale iſt von der Exe⸗
geſe wie von der Dogmatik aufgegeben, und für das fov⸗
male läßt ſich, ſowohl was die Sufficienz als deren Be⸗
vingung, bie Inſpiration auch ber von Apoſtelſchülern ver⸗
faßten Schriften betrifft, auch nicht einmal der Schein eines
bibliſchen Beweiſes beibringen. Die Zeit wird — muß
kommen, wo man dieſe Thatſache nach ihrem ganzen Ge⸗
wichte in's Auge faffen wird. Zu ſolchem ernten Nach
denken muß ſchon die allgemein gemachte Erfahrung an⸗
treiben, daß die Verbrängung bed Rationalismus von ben
Kanzeln und die Wieberherftellung einer proteftautiich-gläu-
. 48
bigen Prebigt den davon gehegten Erwartungen durchaus
nicht entfprochen bat. Eine Zeit lang, fagt Baumgarten‘),
fonnte man ſich wohl dem Gedanken hingeben, daß der Ra⸗
tionalismus es fei, der die Kirchen leer und oͤde prebige.
Seitvem nun aber burchweg wieber Ehriftus der Gekreuzigte
gepredigt wird, unb im Ganzen und Großen keine bejon-
bere Wirkung fich fund gibt, muß man auch diefe Täufchung
aufgeben, und ſich nicht mehr verhehlen, daß bie Prebigt
unmöglich dem kirchlichen Leben aufzubelfen im Stande fei.
— „Die Ohnmacht der gegenwärtigen Predigt, fährt er
fort, ift noch weit abfchredenver, als es gemeiniglich bes
kannt ift und geftanden wird, denn bie Zeugen ber unterften
Stufe biefer Ohnmacht verjchweigen die volle Wirklichkeit
biefer Thatſache u. f. w.
Delitzſch hat diefed Zeugniß Baumgartend beftätigt:
es ſei freilich wahr, daß die Erfolglofigfeit der Prebigt eine
traurige Erfahrungstbatfacdde der Gegenwart fel.) Und
nun bat man jüngft mancherlei Berathungen über bie Urs
fachen ver fchlimmen Thatſache angeftellt. Die Berliner
Berfammlung der evangelifchen Allianz bejchäftigte fich wiel
mit dem Thema: „Wozu fordert die Wahrnehmung auf, daß
fih troß der Rückkehr der Theologie zum kirchlichen Ber
1) Nachtg eſichte des Sachariae, 1855, II, 124 ff.
N) Erlang. Zeitſchr. für Proteftantiemus, 1868, ©. 306.
41.
kenntniß fo wenig geiftliches Qeben in den Gemeinden zeigt?"
Profefior Krafft, der darüber einen Vortrag gehalten,
bat wohl einige Urfachen des Uebels erkannt; er bat es
deutlich genug gefagt, daß die Lehre der ſymboliſchen Bücher
fchon früher den „Untergang alles geiftlichen Rebens“ bes
wirkt habe, daß man fich alfo nicht wunbern dürfe, wenn
ihre Erneuerung in ber Gegenwart biefelben Früchte trage.')
Noch beftimmter bat der Hofprebiger Beyfchlag aus Karla
rube, der gleich nach ihm über dasſelbe Thema, „vie eigentliche
Tirchliche Nothfrage der Zeit," gerebet, darauf hingewiejen :”)
Das ganze Elend der proteftantifchen Kirche bis heute, ſei
„die einfeitige Ausbildung bes Bekenntniſſes“, vie „tobte
Orthoborie” mit ihrer Lehre von der Rechtfertigung.) Aus
ihr fei naturgemäß der Nationalismus erwachſen; bie Wies
dererweckung biefer Orthodoxie fei zur förmlichen Tirchlichen
Zeitkrankheit geworden, die den großen Haufen der Geiſt⸗
lichen ergreife und dahinreiße.
Natürlich wird diefe Erklärung des Phänomens von Vielen
zurücdgewiefen, aber in der Thatſache felbft find Alle einig;
auch die Prebigerverfammlungen, 3. B. die Berliner 1858,
bie Sächſiſche zu Gnadau 1859, Haben Berathungen da⸗
3) Berbanbfungen ©. 186.
2) Berbanblungen ©. 194.
3) Als justitia forensis von ihm bezeichnet, alſo gerade bie eigent-
lich altproteſtantiſche Lehre, S. 195.
442
rüber gepflogen. Und wenn jüngft auch in einem Pfälzifchen
Kicchenblatte der gläubigen Richtung‘) gelagt wirb: „Ben
man in bie einzelnen Gemeinden Hineinfieht, in welchen oft
ſchon Jahre lang das Evangelium in Einfelt und Lauterkeit
geprebigt wird, wie gleichen fie meift den bornigen Lande,
dem fteinigen Erbreich oder dem bartgetretenen Weg,” dann
liegt hierin doch wohl vie ftärkite Aufforberung, einmal das
fogenannte „Evangelium“ felbft einer Revifion zu unterwerfen.
In folgerichtigem Zufammenhange mit ver Imputati⸗
onslehre ftand bie reformatorifche Auffaffung ber letzten
Dinge des Menfchen. Die ältere Iutherifche und calvi⸗
nifche Lehre nahm an, daß jeber Menſch bei feinem Tode
entweder fofort zur himmlifchen Seligkeit gelange, ober im
bie Hölle verftoßen werde. Die doch unerläßliche Entjün-
bigung und Reinigung wurde mechanifch als ein phyſiſcher
Proceß gedacht, und in ben Tod und die Verweſung bed
Leibes verlegt, fo daß, wie ein Neuerer bemerkt, nur ber
Name noch fehlt, um den Tob geradezu ald das Salrament
der Vollendung den beiden andern beizuorpnen.’) Im Zeit»
alter der Reformation und bis gegen Ende des vorigen
1) Evangelifcher Reichebote, 1859, Neujahrsiwort.
2) Fries in den Jahrbüchern für beutiche Theol. I, 804. Ich
begreife nicht, wie Kliefoth, Liturg. Abhaudlungen, I, 169,
das dem Rationalismus zur La legen kann, was ſchon Lehre
ber Reformatoren war.
443
Jahrhunderts beruhigte ſich das Voll gerne bei biefer An
ſchauung, vie ibm bei ber Leichtigkeit - des allein entſchei⸗
denden Glaubeus⸗ oder Aneignungsaltes bequem und tröft-
lich fchien. Freilich bat auch, wie Brofeffor Neumann
beflagt, vie Aufhebung jeglicher Verbindung zwiichen den
Lebenden und den Todten das proteftautifche Volk bis an
den Rand des Zweifeld am ewigen Leben überhaupt ges
führt‘) Daraus ift dann jenes allgemeine Seligpreifen, je⸗
nes ſchädliche Unweſen der Leichenpredigten entſtanden, welches
an der fittlichen und religidſen Erſchlaffung und dem weit ver⸗
breiteten, leichtfertigen Wahne einer wohlfeilen und unmittel⸗
baren Verſetzung in den Himmel nicht geringen Antheil hat.’)
Die Theologen haben nun dieſes ſchlimme Gebrechen
des alten Syſtems erkannt, und felbft eifrige Lutheraner
mögen doch in dieſem Punkte nicht mehr zur Anfchauung
der Reformatoren zurückkehren. So wird denn feit einiger
Zeit die Nothwendigkeit erkannt, einen Zwifchenzuftand ver
Läuterung anzunehmen, wie 3. B. Kern, Fries, Girgen-
ſohn und viele Andre getban. ‘Die Hiemit zufammenhän«
genve Trage, ob das Gebet für die DVerftorbenen zuläffig
und rathſam fei, muß als unentfchieven auf fich beruhen;
jeder Prediger hat darüber feine eigne Meinung, oder auch
1) Zeitſchrift für Tuth. Theologie, 1852, 282.
2) Bgl. darüber bie Erinnerungen von Maymwahlen, in dem
Borworte zu feiner Schrift: der Tod, Berlin 1854.
444
feine. Was den Laien in biefem Punkte an einem Orte
empfohlen wird, erfährt an einem andern Orte fcharfen
Zabel. Die älteren Iutherifchen Theologen pflegten folge
recht die Fürbitte für die Todten für ganz unnäg zu er
Mären.!) Die Preußifche Agende Hat fie aufgenommen,
aber, indem fie zngleich nach dem Muſter ver anglitanifchen
Liturgie von jedem Verftorbenen verfichert, daß er bereits
unzweifelbaft im Vollgenuß ver Seltgleit ſich befinde, iſt
die Würbitte zu einer nichtsfagenden Formel berabgefekt.
Daneben finven fich unter den Geiftlichen, in Würtemberg
namentlich, nicht wenige Anhänger ber Lehre von der Wie-
derbringung aller Dinge, wie 3. B. ber Brälat Kapff, und
bemerken gar nicht in ihrer Unſchuld, wie damit das ganze
altproteftantifche Syſtem fo aufgelöst wird, daß kein Stein
davon auf dem Anvern bleibt.
3.
Im Gottes dienſte gibt die Xehre, die religiöfe An»
ſchauung der Kirche fich Geftalt. Ob in einer Kirche ein
gejundes und barmonifches Verhältniß zwifchen Lehre und
Leben, zwifchen Klerus und Laien beſtehe, das zeigt ſich an
ber Beichaffenheit des Gottesbienftes, an der Theilnahme
des Bolfes.
3) Kliefoth’s liturg. Abbanblungen I, 811.
Es gibt überhaupt nur drei mögliche chriftliche Cultus⸗
formen. Entweber bilbet die Prebigt den Hauptbeftanbtheil
und Mittelpuntt tes Cultus, fo daß das Uebrige, Geſang
nnd Gebet, nur dienendes Beiwerk ift. Ober der Hauptalt
beftebt in einer vorgelefenen, aus Bibelabfchnitten und Gebet-
formeln zuſammengeſetzten Liturgie. Oper brittens, ber
Cultus ift eine thatfächliche Feier des ganzen Erlöfungs-
werles, ein gemeinfchaftlicder, unter der Theilnahme aller
Anwefenden fich vollziehender Alt des Abenpmahlopfers, das
Selbftopfer ver mit Ehriftus zugleich dem Water fich dar⸗
bringenden Gemeinde, als die volllommenfte Form der An⸗
detung Gottes. Die erfte Form ift unftreitig die dem alten,
ächten Proteftantismus angenehmfte; die zweite bat fich bie
englifche Staatskirche gewählt, fie befriedigt bie höhern
Stände, aber durchaus nicht das Voll; bie dritte ift bie
der alten Kirche und berjenigen Tirchlichen Genoffenfchaften,
welche ihre Eontinuität ohne eine Unterbrechung oder we⸗
fentliche Veränderung bewahrt haben, aljo ver Tatholifchen,
der Sriechifchen und Auffifchen, der monophyſitiſchen in Aſien
und Afrika. Im proteftantifchen Deutfchland Hatte ftets
die Predigt die Alleinherrfchaft. Der Gottesdienſt ift Pres
bigtgottespienft, die Kirche iſt eigentlih und vorzugsweiſe
Hörſaal oder Schule. Es wird auch von Theologen ange-
nommen, daß ohne Prebigt Fein Gottesdienſt gehalten wer-
den könne. Schon der gleichmäßige Gang, in welchem, ohne
—
alle Verabredung und ohne ſichtbare Einwirkung einer Lan⸗
veslirche auf die andre, auch die wenigen zuerſt noch bei⸗
bebaltenen liturgifchen Stüde aus dem Gottespienfte der
Gemeinden in ganz Deutfchland verfchwanden,') zeigt, daß
biefe Entleerung des Gottesdienſtes eine ganz naturgemäße
war, daß fie eben ber proteftantifchen Dent- und Empfin-
dungsweife entiprach.
Die Folge hievon iſt nun: einmal, daß die Gemeinde
für ihre Erbauung faft ganz an bie Subjectivität des Geift-
lichen gewiefen ift, zweitens, daß die nöllige Paffivität bes
Volles beim Gottesbienfte jetzt das charakteriftifche Merkmal
des proteftantifchen Eultus ift. Die Theologen geftehen es
jelbft: zu keiner Zeit habe in ver katholiſchen ein gleich
großer Mangel an Gemeinvethättgleit ftattgefunden, wie in
der proteftantifchen.) Die evangelifche Kirche, fagt ein
Andrer, weife jeden Schein eines Priefteramtes oder Stan
des ab, übertrage aber bie ganze gottesdienſtliche Handlung
dem Einen Prebiger, und räume biefem eine ungleich höhere
) Grüneifen, bie evang. Öottesbienftorbnung u. |. w. Stuttgart
1856, ©. 41. Er zeigt, wie ganz natürlich fchon feit bem
16. Iabrh., es in Würtemberg babin gelommen, baf bie
Gottesdienftorbuung „an Armuth und Einſeitigkeit“ nicht ihres
gleichen habe.
?) Bähr, Begründung einer ottesbienftorbnung. Karlerıche,
1856, $. 154.
447
Bollmacht, ein ausjchließlicheres Vertreten der ganzen Ges
meinde ein, als jemal® die Römifche Kirche dieſem Einen
augeRanben habe.‘) Daher richte ſich der Befuch des Gottes
dienſtes ganz nach der Popularität bes Prebigers und
pflege man zu jagen: „Dem gehe ich nicht in bie. Kirche.”
Ein dritter weift auf den Wiperfpruch Hin, ben das viele
Neben vom geiftlichen Priefterthume und die Paſſivität der
Gemeinde bilde, die nicht einmal ein Amen zu ven Gebeten
babe, und eben nur zu fich reden laffe, und meint, bie oft
gerühmte Einfachheit des proteftantifchen Gottesdienſtes ver⸗
diene vielmehr Armuth und Monotonie zu heißen, und
neben dem Einprud der Dürftigleit empfange man auch
noch den der Mattheit, Trägheit und Schläfrigfeit.”)
So kommt e8 denn, daß die Prediger laut eigenem
Geſtändniß feine Gemeinde mehr haben, fondern nur ein
Bublitum, welches da, wo man wählen Tann, dem Prebiger
nachzugehen pflegt, der ihm durch Stimme, Vortrag, Action,
Gedanken am beften gefällt, und ihn verläßt, wenn er fich
auögeprebigt hat, oder aus der Mobe gekommen ifl. Und
damit erflären auch diefe Männer die kränkende Thatſache
des jäumigen und unfruchtbaren Kirchenbeſuchs und ber fo
1) Nees v. Efenbed, der chriſtl. Gottesbienft, 1854, 5. 161.
2) Schöberlein, über ben Titurgifchen Ausbau u. f. w., 1859,
©. 83.
.
=
RB
+.
2. Pi
448
oft leerſtehenden Kirchen. ‚Die Menſchen, jagt ein Preu-
Biicher Geiftlicher, find fatt gefüttert von Predigten. Und
gar mancher wird des ewigen in die Schule Gehens über-
bräffig.‘')
Unter ſolchen Verhaͤltniſſen ift, als ein denkwürdiges
Symptom des gegenwärtigen Zuſtandes, ein Ringen und
Erperimentiren auf dem Gebiete des Gottespienftes eingetre-
ten, wie e8 nie vorher dageweſen. In 300 Jahren tft nicht
fo viel darüber gejchrieben worven, als in den legten 10 bis
20 Jahren?). Die erfte ſich darbietende Hilfe war und ift
natürlich die Vermehrung der Gefänge Gebete und, wie es
in Preußen ſchon längft gefcheben, die Einführung liturgi«
ſcher Beſtaudtheile.
Aber num zeigt ſich allenthalben, daß das Kirchen be⸗
ſuchende Publikum wirklich nur um ber Predigt willen er»
fheint. Der Gefang- und Gebetsgottespienft wird ver⸗
nachläffigt, nur kurz vor der Prebigt beginnen bie Kirchen
fich zu füllen. So ift es im ganzen Königreich Sachfen.?)
Und da wo die Agende eingeführt ift, verhält es fich nicht
andere. In Nord» und Mittelveutichland, fagt Zittel,
habe ich oft Gelegenheit gehabt, zu beobachten, wie brei
3) Eunz, das geiftliche Amt und ber Paſtorenſtand. &. 60.
2) Bähr, ©. 1.
3) Hengftenberg's 8. 3. 1858, ©, 1114,
449
Viertel der Kirchenbefucher erft nach beenbigter Liturgie in
die Kirche kamen, und unmittelbar nad) dem Schluß ver
Predigt fie wieder verließen‘) Auch ber Generalfuperinten-
dent Hofmann bemerkt es, daß in ven meiften Fällen bie
Gemeinde fich bei der Liturgie theilunahmslos verhalte oder
durch einen Kinderchor vertreten werbe.’)
Man vermißt nun bie Feſtfeier der Tatholifchen Kirche,
in welcher jedes Haupifeft Tymbolifch individualiſirt iſt, und
gleichſam plaftifch fich in das Vollsbewußtſein eingelebt at.
Die proteftantifche Kirche pagegen „legt einen wahren Abfcheu
vor allem ſhmboliſch Bedeutſamen in ihrem Gottesbienfte
an den Tag,” und barum haben, fagt ein Geiftlicher viefer
Kirche, unfre Fefte etwas jo Mionotones, find fich in ihrer
Phyfiognomie jo volllommen ähnlich, daß fle weder von ein⸗
ander noch von den gewöhnlichen Sonntagen zu unterfchel-
ben find.) Soll nun aber eine Aenverung verficht, ein
fumbolifches Element eingeführt werben, fo verhält es fich
biemit wie mit dem Snieen beim Gottesdienfte. Dieß ift
jetzt faft überall gänzlich abgelommen.‘) Die Prebiger und
y Hundeshagen, ber Badiſche Agendenftreit. Frankfurt 1859,
S. 13.
2) Mefiner’s Kir. Ztg. 1860, ©. 105.
3) Zittel, Zuftände u. |. w. ©. 286.
) Schöberlein, Über ben Titurg. Ausbau. Gotha 1859,
S. 329, 330.
v. Töllinger, Papſtthum. 29
450
die Eonfiftorien möchten es gerne wieder einführen, aber das
Bolt wendet ein: Knieen fei katholiſch. Man wünfcht ferner,
daß die Kirchen auch bei ben Proteftanten nicht blos Stätten
ber Predigt, ſondern auch des Gebetes werben möchten.‘)
Denn der traurige Zuftand, in welchem fich fo viele Kir
chen befinden, „fo, daß man ohne Schamröthe feinen Hei⸗
ven bineinführen Tönnte,“*) Hängt, glaubt man, zum guten
Theil mit ihrer Vereinfommung zuſammen. Man braucht
fie alle acht Tage nur einmal, und dann nur zwei Stun
ben. Das Volt felbft mag daher nichts für die Au
ſchmückung feiner Kirchen thun; das „fteinerne Haus, in
welchem der Prebiger am Sonntage redet,“ ift ihm nicht werth
genug dazu. Aber auch hier ift kein Rath zu finden. Man
Tönnte in der Woche nur eben wieber prebigen, unb beffen
bat das Doll, wie allgemein anerkannt wird, ſchon genug.
Sind ja die fonft noch gebräuchlichen Wochengottesbienfte
an vielen Orten erft in den lebten Decennien eingegangen
Auch den andern Weg hat man — zwar noch nicht
eingefhlagen — das würbe ſchon wegen bes zu erwarten⸗
den allgemeinen Widerſtandes nicht gehen — aber bei
empfohlen und theoretiſch begründet: nach dem Gebrauche
ber alten Kirchen bie Abendmahlsfeier zum Hauptalt und
3) Erlang. Zeitfch. Ub. 25. S. 185.
?) Hengftenberg’s 8. 3., 1867 ©. 529.
451
Mittelpunlt des Gottesdienftes zu machen, und bemmach
auch den Charakter des Opfers an biefer Heiligen Handlung
wieder anzuerlennen und hervorzuheben. Das thun jeit
die nambafteften Theologen: Kliefoth, Hengftenberg,
Höfling, Sartorius, Harnad, Lähe, Kahnis, Bad
mann u. ſ. w. Es wird num als ein wejentlicher Unter
ſchied zwifchen Lutherthum und Calvinismus betont, daß
bie Lutheraner in ihren Kirchen einen Alter Hätten, und
damit wenigſtens das Verlangen nach einem Opfer unb
bie Zulaͤſſigkeit vesielben ausbrüdten, während bie Refor⸗
mirten nur einen ordinaͤren Tiſch zu ihrer Abenpmabisfeier
gebrauchen.) Diefe Opfertheorie tft indeß eine fo offenbare
Berläuguung des Achten Proteftanttemus, daß bie Urheber
und Beförberer verfelben vor Allem, wenn fle mit ver Sache
Ernft machen wollen, den Namen „Lutheraner” ablegen
müßten. Es bat denn auch nicht an fcharfen Vorwürfen
über die neue Meßopfertheorie biefer Theologen und über
ihr Katholifiren gefehlt.”)
Man fühlt die dringende Nothwendigkeit, bie fo fehr
verfallene Sonntagsfeier wieder berzuftellen und dem
Vollke als eine heilige Pflicht einzuprägen. Aber auch bier
ftößt man in ben proteftantifchen Prinzipien auf ein unüber-
ſteigliches Hinderniß.
7) Gobel's reform. K. 3. 1855, &. 167.
?) Bol. Studien und Kritiken, 1856, S. 472.
452
— GE
Kraußold,') Liebetrut und Andre haben
gezeigt, daß die Grundſätze der Reformatiou es unmög-
lich gemacht haben, eine Verpflichtung zur Feier des
Sonntags zu begründen. Der Sabbath iſt mit dem mo⸗
ſaiſchen Geſetze gefallen; der Sonntag iſt als gebotene
Feier im neuen Teſtamente nicht zu finden; die Kirche hat
feine höhere Autorität, eine ſolche Feier einzuführen; ihren
Geboten barüber tft man kraft enangelifcher Freiheit fo
wenig Gehorfam ſchuldig, als ihren Auordnungen über Taften,
Beichte und fo fort. Wie foll man nun bem proteftanti-
fchen Volle die Verpflichtung zur Sonntagsfeler begreiflid
machen? Die unzähligen Berathungen, bie man feit 30
Jahren darüber gepflogen, haben natürlich nur dazu geführt,
bie allgemeine Rathloſigkeit zu confiatiren. Bereits wirb
die Forderung geftellt, die Lutherifche Bibelüberſetzung zu
verändern, bamit das Volt, welches in derſelben eine Stelle
über ven Sonntag und befien Verpflichtung fuche und nicht
finden könne, die Prebiger mit feinen Einwürfen nicht zu
fehr in's Gebränge bringe.*)
Die gleiche Verlegenheit zeigt fih den Baptiften gegen-
über, bie jegt eine jo bebeutenbe und ſtets wachſende Fraction
I) Drei Kapitel Über die Sonntagsfeier. Erlangen 1850.
2) Deutiche Zeitichrift, 1865, &. 278.
453
ber proteftantifchen Chriftenheit bilden. Es ift nun von
allen Seiten zugeftanden, daß man ein Gebot Ehrifti ober
der Apoftel für die Kindertaufe nicht aufzuweiſen ver-
möge. Auf dem Kirchentage von Frankfurt 1854 mußte
dieß den anweſenden Baptiften eingeräumt werben, und ber
Vorfitzende erklärte: die Kinvertaufe fei „ein noch nicht
vollſtaͤndig gelöstes Problem." Schon wollen einzelne Theolo-
gen, 3. B. Ebrard, die Sache felbft lieber preisgegeben,
die Kindertaufe abgefchafft wiffen, damit nur das Princip
des allein geltenden Bibelbuchftaben® gerettet werbe, und
man nicht eine Autorität der Kirche anzuertennen genöthigt
fei. Seit Jahren pflegt man auf Eonferenzen und Kirchen-
tagen mit der ‘Doppelfrage (Taufe ber Kinder und Taufe
durch Aufgießung oder Beiprengung) fi) abzumühen, ohne
einen Schritt weiter zu kommen.
Aber noch nicht genug: auch über Ehe und Trauung
werben jeßt Behauptungen aufgeftellt, von welchen boch in
der That nicht anzunehmen ift, daß man auch nur ben
Berfuch einer biblifchen Beweisführung machen werbe. So
bat Türzlich die Iutherifche Paftoralconferenz im Ravensber⸗
giſchen unter Anbern ven Beſchluß gefaßt: „bie Kirche kann
eine wahre Ehe ohne Kirchliche Trauung nicht anerkennen.“)
Zugleich wurde der Entfchluß der Verfammlung erklärt,
) Darmfläbt. 8. Zig. 1859, Nr. 84.
54
Proteſt einzulegen gegen jede Elvilehe innerhalb der Kirche,
unb jeden, ber eine Civilehe eingebe, zu excommuniciren.
Welche Antwort dieſe Baftoren geben wärben, wenn bie
Laien einen Schriftbeweis für ſolche Dinge von ihnen for
berten, läßt fich kaum errathen.
4.
Die völlige Ohnmacht der Geiftlichen Im Verhaͤltniß zu
ben Gemeinden wie zu den einzelnen Gliedern, bie Thatſache,
daß gegenwärtig bie Kanzel ber einzige Ort ſei, von welchem,
und das einzige Mittel, durch welches ber Prediger irgend
eine Wirkſamkeit ausüben Lönne, dieſe Dinge gaben ben
Blick Bieler auf die zwei empfinblichften Lücken bes fird-
lichen Lebens, auf ven Mangel an Seelforge und bei
an Lirchenzucht gelenkt. Ueber die Mögfichfeit und
Dringlichkeit, eine Wieverherftellung beider zu verfuhen
ift viel berathen und gefchrieben worden; faft jebe Predi⸗
gerverſammlung befchäftigt ſich beſonders mit ber Droge
ber Kirchenzucht, von ber auch bie letzten Reſte längft ver⸗
ſchwunden find. Man hat e8 nun wohl erkannt, daß mal
Seelforge nur dann üben könne, wenn bie Seelen ſich de
Beiftlichen öffnen, fich mittheilen, Rath und fpezielle Leitung
fuchen und begehren, alfo nur mittels ber Beichte. DA
Beichtſtuhl, fagt Kliefoth, iſt die georbnete Stätte für bie
2 ,
* 455
Seelforge.') Die Beichte aber ift in ganz Deutſchland ver⸗
ſchwunden, die Prediger verkünden nun allgemeine Abſolu⸗
tion von der Kanzel, ohne daß nur bie Form eines Sün-
denbelenntniffes ftattfände, oder auf ein bloßes lautes Ja
bin. Jeder Verſuch, die Wiederbelebung der Beichte auch
nur anzubahnen, ftößt fofort auf ven entfchloffenen Wider⸗
fland des Volles.) Die Brivatbeichte, hieß es im ber
Broteftatton der Augsburger Proteftanten gegen bie Ver⸗
fügungen des Oberconfiftoriums im Jahre 1866, fei eine
mit der Stellung des enangelifchen Geiftlichen, welcher mit
dem Familienleben verziveigt fet, ganz unverträglicde Inſti⸗
I) Liturgiſche Abhandlungen II, 496.
) Mit welchen Mitteln es bie Prediger dahin gebracht haben,
daß jebe Seelſorge unmöglid; geworben ift, das zeigt folgen-
ber Beriht aus Riga: „Die feelforgerliche Amtspflicht bes
Predigers ift bier wie anberwärts fo gut wie gang in Ver⸗
geflenheit gelommen. Man bat es Tängft verlernt, ben Geifl-
lichen zum Bertrauten feines Geelenzuftandes zu machen. Ieber
benkt babei fofort an Obrenbeichte, Pfaffenränte, Gewiſſens⸗
tyrannei n. f. w. Manche würben in ber leijeften Annäherung
an ben Prebiger, bie fie bei einem anbern wahrnähmen, als⸗
bald einen Abfall vom evangelifhen Glauben zum Katholicig-
mus finden. Kirchliche Vierteljahrsichrift, Berlin 1845, &. 166.
Cunz und anbre haben ſchon bemerkt, daß man in proteflan-
tifchen Gegenden auf bie Frage nad) dem Geeljorger bes Orts
die Antwort erhalte: man fei bier nicht katholiſch, hier gebe es
nur einen Prebiger.
"456 |
tution. Das Volt, ſagen die Erlanger Theologen, hat
nirgends ein Vertrauen zu feinen Geiſtlichen als Beicht⸗
pätern.‘) Es ift alfo nicht mehr möglich, die Beichte im
irgenb einer Form iwieber berzuftellen; felbft die altlutheri-
ſche, wornach man nur vor dem Prebiger ein auswendig
gelerntes ober abgelejenes DBelenntniß allgemeiner Sünb-
baftigleit recitirte — felbft dieſe bequemfte und abgeſchwäch⸗
tefte Form der Beichte, an welcher die gewifienbafteren
Geiſtlichen fchon im 17. Jahrhundert den größten Anftoß
nahmen, fo daß fie das Intherifche Beichtweſen für eine
Peft ihrer Kirche erklärten — fie kann nicht mehr einge
führt werben. Jeder Verfuch fcheitert fchon an ver Haupt-
und Lieblingslehre von dem allgemeinen Priefter-
thume, kraft welcher jeder, als fein eigner Priefter und
Lehrer, Teiner Mittelperfon, feines Zeugniſſes und Amtes
bebarf, vielmehr fich felber mit zweifelsfreier Gewißheit von
feinen Sünden losſpricht. So ift es auch ſtets in allen
calvintfch-reformirten Kirchen gehalten worben, und in Folge
ber Union ift noch viel weniger an eine Wieverherftellung
ber Beichte zu denken. Wozu nützte mir denn auch mein
Prieftertfum, fagt ber proteftantifche Laie, wenn ich mit
erft von bem Paſtor, der nicht einmal meinen Seelenzuftand
tennt, die Verficherung ber Sünbenvergebung ertheilen Lafien
1) Zeitſchr. für Protefl. Ob. 21, ©. 52.
457
follte. Die Enlbehrlichkeit jeder prieſterlichen Vermittelnng,
die „Unmittelbarleit des Bandes zu Chriſtus“ ift ja, wie
uns in den mannigfaltigften Wenbungen gejagt wirb, ber
große Vorzug, den der Proteflant durch vie Imputations⸗
lehre vor dem Katholilen voraus bat.')
Man Bat freilich, um die Möglichleit eines priefter-
lichen, fünbevergebenpen Amtes zu gewiunen, um neben bem
Prediger doch auch ben ver proteftantifchen Welt fo fremb
gewordenen Seelforger wieder zur Anerkennung zu bringen,
von dem allgemeinen Prieftertfpume eine Auficht aufge
ftelit, die genau bie Katbolifche, und das Gegentbeil ber
von Luther gleich im Beginne feines Auftretens verkün⸗
bigten iſt. Das Hat unter andern Hengftenberg gethan.*)
Allein folche Theorien gewinnen feinen Einfluß auf das
Leben.
Eben darum muß aber auch jeber Hoffnung, eine
Kirchenzucht in irgendwelcher Form eingeführt zu fehen,
entfagt werben. ‘Da von ber Beichte und einer burch ben
Beichtſtuhl anszuübenden Zucht nicht die Rebe fein Tann,
fo blieben am Ende nur die Ausfchliefung von ber Eoms
munion und bie Verſagung des kirchlichen Begräbnifjes
übrig.‘ Das erftere Mittel ift aber fchon barum unan⸗
1) Bgl. 3. B. Deutiche Zeitichrift, 1857, ©. 66.
7) Bergl. feine Neußerung in feiner Kirchenzeitung 1862. &. 19
mit bem Catochismus Romanus, 2, 7, 22.
— —
wendbar, weil oßnehln-bie Gleichgültigkeit gegen das Sa⸗
krament bes Altars und bie Vernachlaͤſſigung deſſelben eines
der großen lirchlichen Uebel tft, über welche gellagt wird.
- Bon ben verfchiebenften Seiten ber wird berichtet, baß ber
Abendmahlsbeſuch immer mehr abnehme,') daß felbft bie
Meiften ver kirchlich Gefinnten fih mit Einer jährlichen
Eommunion begnügten.) Hunberttaufende ebangelifcher
Ehriften, fagt Srühbuß,?) Haben ſich felbft ercommunickt,
und mögen grumbfäglic vom Altarsfalramente ganz und
gar nichts wiffen. Unzählige Andre mögen fich gewiſſens⸗
halber an dem unioniſtiſch verwalteten Sakramente nicht bes
theiligen. Es find alſo große Maſſen in der Kirche, gegen
welche durch die Sakramentsſperre, ſonach durch bie ganze
Kirchenzucht nichts auszurichten iſt. Noch fchlimmer fleht
es mit dem kirchlichen Begräbniſſe. Im Norben tft in
ganzen Städten bie Sitte, daß die Geiftlichen die Tobten
zu Grabe geleiten, völlig abgekommen.“) In Hamburg z.
DB. geſchieht die Beerdigung ohne alle Betheillgung des
geiftlichen Amtes.) In Stadt nnd Land, fagt Frühbuß
) 3.8. Baumgarten: ber firdlihe Nothſtand in Medien
Burg. 1861, ©. 41. |
) Hengflenberg’s 8. Ztg, 1858, ©. 1116.
2) Ueber Wieberbelebung ber Kichenzudt. Breslau 1859, ©. 50.
*) Berlin. Kirchenzeitung 1844. Nr. 68.
*) Hengfienberg’s K. 8. 1867, &. 60.
469
wird in der Negel nicht tirchlich bezraben, wer nicht be⸗
zahlen kaun, bie aͤrmeren Leute erbitten ſich aus pecu⸗
niären Rüuckſichten die Erlaubniß zu ſtillen Beerdigungen.
Es hat fich ſogar die Anſchauung gebildet, als ſei das ſtille
Begraͤbniß ohne kirchliche Ceremonie „feierlicher,“ und fo
iſt dasſelbe zu einem Vorrecht der Gebildeten und zum
PBrivtlegium mancher Stände geworben.‘) In Preußen if
noch überbieß erinnert worden, daß wenn bie Kirchenzucht
wieder auflebte, fie, in Gemaͤßheit Ihrer wichtigften Canons
es ihr Erftes fein laffen müßte, pie mehreften jet dociren⸗
ben preußifchen Profefforen der Theologie und drei Vier⸗
theile der Pafloren in den Bann zu thun.?)
5.
Die proteſtantiſche Kirche in Deutſchland hat keinen
Raum für eine Maunigfaltigkeit der Aemter und Berufe.
Jeder, der in ihren Dienſt eintritt, muß Prediger ſein,
muß dieß zu ſeinem Hauptgeſchaͤft machen, und unterliegt
natürlich den Verſuchungen und Nachtheilen, welche ber Be⸗
zuf des fleten Öffentlichen Redens unvermeiblich mit fich
2) Kliefoth’s Kiturg. Abhandlungen, I, 201. In Berlin pflegt
man, wie Frühbuß ©. 68 bemerkt, einigen Cigarrenran-
ern als Begleitern der Leiche ben Vorzug vor dem Paftor zu
geben.
N Frühbuß ©. 61.
460
bringt. „Er mag nun Gaben Haben ober nicht, fagt Kar⸗
ften, ee muß prebigen; was er häufig am enigften vers
fiebt, varnach wird bei ihm der Maßftab feiner Tüchtig-
keit angelegt; was er aber verfteht, das kann ex, in ber
jegigen Stellung des Amtes, der Gemeinde nicht zu Gute
tommen Laffen.’) Und wie Bein ift am Ende bie Zahl der
wirklich guten Prediger! Rechuet man boch, daß kaum ber
zehnte Theil der Geiftlichen zum Prebiger geeignet fe‘)
Dazu kommt die Herrfchaft der conventionellen Redens⸗
arten and bergebrachten Stichworte, der hohlen Phraſen
und tbeologifchen Dunftgeftalten, die ſobald man ſie zu
greifen und feftzubalten verfucht, in dünnen Nebel fi auf
löſen. Diefe Herrſchaft der Phrafe hat in der neuern
beutfchen Homiletik eine faft beifpiellofe Höhe erreicht. Ha⸗
ben wir denn noch immter nicht genug, ruft der Prebiger
Hoher, an der entjeglichen Sprache ver heutigen Theolo⸗
gie, welche gleich einem verwirrenden Dämon Beſitz nimmt
von dem armen Stuventen, ihn in’® Amt begleitet und
feine Prebigt, wenn nicht ganz unverftänpfich, doch uner-
quicklich und reizlos macht?“°)
Schon feit langer Zeit hat man fich in Schriften und
öffentlichen Befprechungen mit ber Candidatennoth be
) Die protefl. Kirche, S. 5A.
2) Sunny, das geifllihe Amt. ©. 61.
2) Zeitjchrift für luth. Theologie, 1866, 205.
461
ſchaͤftigt. Wir find, Magen-bie Egnboaten des Prebigtamtes,
nach beenbigten alabemifchen Studien die befte Zeit .unfres
Lebens (jehr häufig 15 Yahre lang) nom Dienfte der Kirche
ausgeſchloſſen. Wir müſſen Schullehrer oder Hauslehrer
| anf viele Jahre werben, und wenn wir enblich fpät eine
Bredigerftelle erlangen, fo find wir durch jahrelange, bis⸗
weilen. ausſchließende Befchäftigung außerhalb unferes Be-
rufes dieſem jelbft entfrembet.’) Ohne nähere Beziehung
zur Kirche, fo ſchildert Schmieder die Lage, ohne Zus
ſammenhang unter fich, irren fie vereinzelt, heimathlos, oft
ohne allen Beruf, umber, dem Mangel preisgegeben, hoffe
nungslos. Die Kirche überließ fie ihrem Schickſale. Wie
viele Canbibaten find unter biefem Drud im Stillen
verfümmert nnd verborben.) Mau bürfte nur bie Orga⸗
nifation ber proteftantifchen Kirche mit ver Tatholifchen, in
ber jeber junge Mann gleich nad vollenbeter Vorbildung
feine Verwendung im Kirchendienſte findet, vergleichen, um
den Grund des Uebels zu entbeden.
Bekanntlich pflegt jeder Candidat, fo bald er eine für
ben Unterhalt einer Familie nothbürftig ausreichende Stelle
erlangt bat, zu heiraten. Damit wird die Sorge für das
Einkommen, für Weib und Kind, erfte Lebensangelegenheit,
1) Landſchreiber, bie firchliche Situstion. Leipzig 1860, ©. 80.
?) Verhandlungen bes Kirchentags zu Elberfeld. ©. 57.
462
und welche Mohängigkeif‘ und Fugſamkeit damit unverneld-
Lich verknüpft tft, das hat kürzlich Schenkel lebhaft ge
fchilvert.‘) Es gibt, fagt er richtig, eine Art der Dem
raltfation, die „lediglich in den Zufländen Liegt, man muf
„to billig fein, fie nicht ven Perföulichleiten Schuld zu ge
„ben. Die unzulänglichen, begriffswidrigen, unproteftant-
„ſchen Saftituttonen in unfrer deutfch-proteftantifchen Kirche
„üben als folche eine charaktersabfchwächenne Wirkung aus.“
In dieſem Urtheile iſt nur das unrichtig, daß bie fraglichen
Inftitutionen „unpxoteftantifch” feien, fie find dieß fo we
nig, daß fie vielmehr in naturgemäßer Eonfequenz ans ber
Reformation ſich entwidelt haben.
Da hat man große Pfarrfprengel und Gemeinden don
2, 3, 4000 Seelen bilven, hat zwei Pfarreien in eine ver⸗
einigen müffen, bamit bie „Familie“ bequem leben Tönne
Und jet ftelgt die Noth mit jebem Jahre. So hat dab
Schlefifche Eonfiftortum in einem Aufruf des Jahres 1858
geflagt, daß fchon in nächfter Zukunft manche Pfarrämter
kaum noch zu beſetzen fein bürften, daß bie Pfarrer die.
fach unter beftänbigem Kummer um bas tägliche Brod Für
ihre Familien, pie ihnen fo nötige Amtsfreudigkeit und
Geiftesfrifche verldren.) Bon allen Seiten werben büftett
1) Die Erneuerung der beutfchen evangeliſchen Kirche. Gotha 1860
€. 55.
2) Kraufe's Kirhemeitung 1868, ©. 82. Bergl. bie Klage
463
Schilderungen entworfen Yon bem =, Darben ber Pfarrer,
ben gefteigerten Auforderungen des Samilienlebens, und ben
fich gleich bleibenben ober noch fich mindernden Einkünften.
Man pflegt e häufig als einen hohen Vorzug ber Geifl-
lichen evangeliſchen Bekenntniſſes zu preifen, baß fie als
Gatten und Samiltenväter den Lebensverhältniffen ber Laien
fo gleihförmig, in ven gefellfchaftlichen Verkehr verflochten,
feinen abgefonberten Stand, Teine „Kafte” bilven, und fo
eben bamit ber Lehre vom allgemeinen Priefterthum, welche
möglichite Gleichheit ver Laien und ber Prebiger erheifche,
am beßten entjprächen. Indeſſen zieht fi, taufenbflimmig
bezeugt, durch drei Jahrhunderte die Klage, daß der Stand
ber Prebiger allgemein mißachtet, ihr Amt gering geſchaͤtzt
fei, daß e8 ihnen fo felten gelinge, die Neigung und das
Bertrauen des Volles zu gewinnen, und baß bie Ungunft
der Dienfchen ſich in dem bürftigen Einkommen, in ber .
ſchwer gebrüdten Lage ber großen Mehrzahl ver Geiftlichen
peinlich fühlbar mache. Im vorigen Jahrhundert war bie
Verachtung, zu welcher der Prebigerftand hinabgeſunken
war, bie Veranlaffung, daß Sablonsty mit Bewilligung
bes preußifchen Hofs über die Einführung bes Epifcopats
in der Göttinger Monatjchrift, 1849, ©. 825. „Auf ben Hei-
neren Stellen können bie Prediger mit ihren Familien ohne
Sorgen nicht leben, ja eigentlich faum durchlommen u. ſ. w.
464
"in Preußen mit England unterhandelte.) Im Sabre 172
erwähnt ein Prebiger, bie beiten Theologen feiner Zeit
pflegten Luthern die Schuld davon beizumefien, daß bie
Lage der Geiftlichen fo Häglich fe.) - In unferen Tagen
wollte die preußifche Regierung das Anſehen des Standes
durch Verleihung von Orden und Xiteln wieder heben’)
und gerne betrachteten die Geiftlichen fich nur als eine
Partikel des weit verzweigten Beamtenftandes, um bob
an deſſen Ehre und Vorrechten einigen Autheil zu nehmen.
Das Maͤrkiſche Oberconfiftorium beflagte, daß den Predi⸗
gern auch nicht einmal bie Ansficht bleibe, durch eine reiche
Fran in Wohlftand zu kommen, denn ein reiches Mäbchen
werbe ſich nur äußerft felten entfchließen, einen Previger
zum Manne zu nehmen‘)
So ift e8 denn dahin gelommen, daß nach dem Ge⸗
flänpniffe, welches Brebiger Kunte in Berlin vor ber der
fammlung der Allianz ablegte, das von der Kirche ent
frembete Volt auf Prediger, Kirche und Chriſtenthum alb
f) Christian Remembr. 1845, I, 120, Bergl. Henke's Megan
V, 224, wo fich die ſtarke Schilderung finbet, bie er del ber
berrfchenden Verachtung ber Geiſtlichen entwirft.
2) Steined, Nachricht vom bem Lehen bes I. M. Göge, Ham⸗
burg 1792, ©. 19.
3) Hengftenberg’s 8. Ztg. Bd. 30, ©. 20.
) A. a. O. © 2. |
466...
anf eine Staats» und Polizeianftalt hinſieht, nub der Kirche
feinen Spott und feine Verachtung auf's Deutlichite zeigt.*)
Bei uns, heißt es, ift bie Kirche feine Macht .mehr im
Gewiſſen und Bewußtfein des Volles. Man bat fo lange
auf vie Vergeiftigung ver Kirche hingearbeitet, daß fie bei-
nabe Leib und Geift verloren bat. Der Baftor repräfen-
tirt in der Meinung ver Leute Niemanden mehr als fich
feibft.”) In ben meiften Gemeinben, jagt Moll, wird jebe
Gemeinſchaft mit dem Geiftlichen gefürchtet nnd gemieden,
oder das Bebürfniß verfelben gar nicht gefühlt ober ver-
flanden. Vertrauen genießt er nicht; die allgemeine Auf-
forberung, welche der Agende gemäß an vie Verfammelten
gerichtet wird, fich iu geiftiger Bedrängniß an ven Pfarrer
zu wenven, wird faft von Niemand befolgt.) Es befteht,
äußerte Jaſpis auf dem Rirchentage zu Hamburg im Jahre
1858, eine entjegliche Scheidewand zwifchen den Seelfor-
gern und Gemeinden, fo groß, daß bie und ba manche felbft
ernftere Geiftliche Alles verloren geben, nichts mehr wagen.‘)
Ein Jahr früher hatte der Dekan Rind auf dem Kirchen⸗
tage zu Stuttgart die bitteren Worten gefprochen: Durch⸗
1) Verhandlungen ©. 432.
?) Sengflenberg’s 8. 3. 1857, ©. 690.
-?) Die gegenwärtige Noth ber evang. Kirche Preußens. ©. 11. 26.
) Verhandlungen, herausgegeben v. Biernagli. ©. 8.
v. Döllinger, Papftthum. 30
466
gängig müffen wir den geiftlichen Stand ber Neuzeit an
Hagen, er Hat fich ver lebendigen perfönlichen Einwirkung
auf Seelen und Familien felbft auf dem Lande zu fehr
entzogen, fich die Seelforge aus der Hand winben laſſen.)
„Uns Geiftliche, fagte ein angefehener Wiürtembergifcer
Theologe zum Profefior Schaff, betrachtet das Volk jet
als königliche Beamte und fchwarze Bolizeiviener.“”)
So weit geht vie völlige Entnnithigung, das Verzwei⸗
feln an ber Möglichkeit eines fruchtbringenden Wirtene,
daß bie Frage aufgeworfen wird, ob man heutzutage Im
Rirchenbienfte bleiben: bürfe, over ob man denſelben noth⸗
mweubig verlaffen müffe. Der Superintenbent Thym weiß, wie
er fagt, aus Erempeln und ans eigener Erfahrung, wie biefe
Frage faft alle guten Seelen bisweilen nagt und angreift
bie das fchrediiche Verberben unfrer Zeit recht tief einfehen,
aber auch, wie wenig fie mit allen Arbeiten ausrichten.)
„Die Kirche — fagt ein würtembergiſcher Geiflicher
— iſt bis auf den Namen faft in Deutfchland verſchwun⸗
ven beim Wolle und bei ben Gebilveten. Die Theologen
') Verhandlungen, &. 140.
*) Germany, its Univerties, Theology and Religion. Edinb-
1857, p. 116.
3) Iſt die evangelifche Kirche Babel, und ber Austritt au® iht
daher merläßliche Pflicht. Bon Spener, üÜberarbeitet ven
Thym. Greifswalde 1853.
467
freilich ſprechen viel von bes Kirche, d. h. von ſich ſelbſt,
und ihrer Ehre, Macht, Einkünften u. |. w. Die Leute
gehen noch, oder auch wieder „in Die Kirche,“ aber nur
als „Publikum,“ nicht als „Gemeinde,“ und daß fie felber
mit die Kirche bilden und als die lebendigen Steine fich
miterbanen follen zu einer Gemeinfchaft, das iſt allenthal-
ben ein Ungebanfe und Unverjtand geworben. Der Eäfaro-
papismus und noch mehr ber Bureaukratismus Hat im
Bunde mit dem Nationalismus „bie Kirche vollftänpig auf-
gezehrt und aus dem Sinn ber politifchen Gemeinde weg⸗
gewifcht; der Pietismus aber hat dabei den letten Ueberreſt
von Kirchen⸗ d. h. Gemeinfchaftsbegriff in feine „Gemein⸗
fchaften“ zurücdgezogen. An die Stelle objektiven kirchlichen
Glaubensbekenntniſſes tft allenthalben „mein fubjektiver
Standpunkt,” mein ſouveränes Ich und der Geiſt meiner
Zeit mit feinen Zeichen und feinen Feſſeln getreten, bie
man lieber trägt als Ehriftt Joch und reformatorifches Be⸗
kenntniß.“) Nicht minder düfter lautet das Urtheil zweier
fächſiſcher Geiftlichen: „Die Kirche weiß nichts von ber
Noth und von den Seelenzuftänven ihrer Glieder, fie bat
fein Auge, hat feine Hand und Herz für fie; fie hat Feine
Beziehung zu dem täglichen Leben; fie ift ein Sonntage
Inſtitut, welches die ganze Woche über nicht wahrgenom-
) Schaff's Kirchenfreund, 1857, ©. 416.
30*
468
‚men wird. Prebigen und Zaufen und Stolgebühren und
theologifche® Gezaͤnk find faft bie einzigen Zeichen, an denen
man ihr Dafein merkt.“)
6.
Hat man die gegenwärtige Stellung ber proteftanti-
ſchen Geiftlichleit in Deutſchland gefchilnert, fo ift damit
zugleich auch ver religidfe Zuftand der Laien zum
großen Theile gezeichnet. Alles beftätigt die leivige That
fache: die Maffen find unkirchlich; es wäre ſchwäch⸗
lich und thöricht zugleich, fich Darüber in fruchtlofen Klagen
ergehen zu wollen. Man muß den Thatfachen feft ins An⸗
geficht bliden können.) Im weiter Kluft ftehen Theologie
und chriſtliche Exkenntniß des Volles auseinander, bis zur
höchſten Speculation ift jene fortgefchritten, währenp dieſe
noh das ABC buchftabirt.”) Jeder im proteftantifchen
Volle, Hagen die Erlanger Theologen, meint, fich feine
Religion felbft machen zu können, feiner weiß mehr recht,
was er zu glauben, woran er zu halten habe, und bamit
bat das Bolt auch feinen fittlichen Halt verloren.?)
1) Kirchen und Schulblatt von Teuſcher uns Hanſchmenn.
Weimar, 1852, ©. 65.
2), Sächſtſches Kirchenblatt, Vorwort zu 1860.
) Ebendaſelbſt, 1860, Nr. 6.
) Zeitichr. für Proteftantismus, Bd. 20, ©. 371.
469
Wie wird es erſt werden, wenn bie Kenntniß des wirk-
lichen Zuſtandes der Dinge mehr und mehr in vie Kreife
bes eigentlichen Volkes, vorläufig auch nur des gebilbeten
Laienthums eindringt? Es Klingt parabor, ift aber eine
jedem tiefer Blickenden fich aufdringende Wahrheit, daß bie
allgemeine kirchliche Indifferenz der Gebildeten gegenwärtig
bie ficherfte Schutzwehr des proteftantifchen Kirchenbeſtandes
if. Denn wenn einmal in biefen Kreifen ein lebenbiges
Intereſſe für religiöfe Dinge erwacht, wenn fie vie Bibel
felber prüfen zur Hand nehmen, wenn fie nach Inhalt und
Autorität der Belenntnißfchriften fragen, wenn fie zu willen
begebren, wie fich denn bie jetige theologifche Wiſſenſchaft
zur Kanzellehre verhalte, wie ihre Prebiger mit benen ans
drer Städte und Länder zufammenftimnen, dann wird bie
Zeit der Entpedungen, der Enttäufchungen kommen, und
was wird dann aus dem in religiöfen Dingen fo wefent-
lichen Gefühle der unerfchütterlihen Zuverläſſigkeit werben ?
Sie werben dann inne werben, daß Luthers Bibel nicht
blos von groben, finnentftellenden Fehlern wimmelt, jonbern
baß er auch mehrmals abfichtlich im Intereſſe feiner Lehre
bie apoftolifchen Worte entftellt Hat, daß gerabe bie Paull-
nifchen Briefe vorzugsweife von ihm mißhandelt worben
find.) Sie werden erfahren, daß bie große Errungen⸗
N) Der einzige Prebiger, von bem belannt if, daß ex in biefem
**
«
470
ſchaft ver Reformation, die proteflantifche Nechtfertigunge-
lehre von den ungefehenften Theologen als unhaltbar auf
gegeben, non ben Exegeten als unbiblifch gebranpmarkt wird.
Zwar empfiehlt Nitz ſch den Theologen, die Symbole ſtill
zu korrigiren,) aber bie Zeit kann doch nicht ausbleiben,
wo dieſes ftille Korrigiven das Tante Geheimniß auch bed
Bolles wird; es wird doch nicht immer verfchwiegen blei⸗
ben, baß kein einziger namhafter Theologe mehr fi wir
lich an die Belenntnißfchriften bindet.
Der erſte Prälat der fächfifchen Kirche, Liebner, hat
kürzlich mit den düſterſten Farben ven völligen Mangel an
hriftlicher Erkenntuiß geſchildert, „der theilweis in wahrhaft
erftaunenswerthen Maßen gegenwärtig in der deutſchen
evangelifchen Kirche bei ver Maſſe ver Gebildeten und Un⸗
Punkte offen gegen ſeine Gemeinde verfuhr, iſt der nach Ame⸗
rifa ausgewanderte preußiſche Prediger Ehrenfträm; dieſer
bat feine Gemeindeglieder die griechiſche Sprache gelehrt, md
ihnen dann nachgewieſen, mo überall Luther falſch Aberſetzt habe.
(VBang emann's Preuß. Kirchengeſchichte III, 132.) Dagtgen
ermahnt Palmer (omiletik, S. 803) alle Prediger naqh⸗
drũclichſt, dem Volke nie zu ſagen, daß dieſe ober jene Stele
von Luther falfch Aberfet fei, dieß ſei ein Geheimniß, das Fur
aus verichwiegen werben müfle, man folle höchftens nur dieß
zugeben, daß bie Ueberſetzung unklar, undeutlich ſei.
7) Deutſche Zeitſchrift, VEIT, 201.
a1
gebildeten vorhanden fei.”') Ihm erſcheint bie Kirche feines Be⸗
lenntniſſes faſt wie eine manichäiſche Welt: ein Reich des Lich⸗
tes, nämlich die deutſche Theologie und ihre Pfleger, und ein
Reich der Finſterniß, nämlich bie Laienwelt, die letztere, der
größten Maſſe nach, tief verjunfen in negative und pofitine
Unmiffenheit, ftehen einander gegenüber. Bor Allem ift es
bie Reformation, über welche, und ift es Luther, über ben bie
Maſſe der Laien fich die verkehrteften Vorftellungen gebil-
bet hat. Die Laien nämlich, das iſt doch Liebner's Gedanke,
ftellen fich Luther als den Mann ber rettenden That vor,
ber fie nicht nur von dem Joche ver Päpfte, Bilchöfe und
Eoncilien, fondern, wenn auch ohne es zu wollen, zugleich
bon der Vormundſchaft ber proteftantifchen Theologen er»
löſt, und jedem das Necht wieder gegeben hat, nach eignem
Ermeſſen zu glanben und zu leben. Das iſt aber nicht bes
Luther der Theologen.
Die Laien ihrerſeits erwiedern dieſe fehweren Auflagen
mit einer Gegenrechnung. Wenn Liebner es ber proteflan-
tifchen Theologie der Gegenwart als ihren hoben Vorzug
nachrühmt:*) daß fie fich in fleter Einheit und Eontinuität
') Zur kirchlichen Prinzipienfrage der Gegenwart; Zeugniſſe a. b.
Sächſiſchen Kirchenregimente. Dresden 1860, ©. 19.
) A. a. 0.6. 37. So hat auh Stahl Im vorigen Jahre in
einer Rebe über bie kirchliche Gemeindeorbnung von „dem
—W
' 4R
mit der das Schriftgange in fortfchreitender und geſteiger⸗
ter Entwicklung nachbenfenden und befennenden Kirche wifle,
und daher ächt Fatholifch ſei — dann können bie Gebilveten
entgegen fragen: habt ihr uns denn nicht felber gefagt und
bewiefen, daß bie Reformation der tieffte, unbeilbarfte Bruch
tft, ber jemals in die Einheit und Eontinuität der Kirche ges
macht worden ? Iſt es denn nicht eingeftanbene Thatſache,
baß bie Hauptlehre der neuen Kirche bis dahin völlig unbe⸗
kannt geweſen, daß fie nicht bie Fortbildung, fondern die Nes
gation der bisherigen Lehre war? Iſt die Deſtruktion bed
Primats, des Epifcopats, der ganzen KRirchenverfaffung ein
Dieiben in ver kirchlichen Eontinnität? Iſt Zeritörung
gleichbebeutend mit Entwicklung und Fortbildung? Ihr
werft uns bie Nacht unfrer tbeologifchen Unwiſſenheit vor;
aber reicht uns boch endlich einmal den Ariadnefaden, ber
und aus bem Labyrinth des Zweifels, der Ungewißheit
herausführe. Gebt uns doch eine Hare Antwort anf bie
bringenbfle der Fragen: Wem follen wir glauben? bem
einzelnen Prediger, unter deſſen Kanzel der Zufall uns
Glauben ber Kirche, ber buch bie Iahrhunderte derſelbe IR’
gerebet. Wollte Stahl wirklich die Berliner bereben, ihre Bor
fahren hätten im Jahre 1580 basfelbe geglaubt, was bort IM
Jahre 1516 geglaubt wurbe?
43
geftellt bat? Dem Eonfiftorium des Landes? Der theo⸗
logifhen Fakultät der Landes -lniverfität? Dem ober»
bifchöflichen Landesheren? Den ſymboliſchen Büchern, von
denen jeder Theologe ſich emancipirt? Unſerm Privat-
urtheil über Bibelftellen? Wir nehmen eure neueiten Bibel»
commentere als Wegweifer zu Hälfe, und was finden wir?
Zehn verfchievene Erklärungen einer und berjelben Stelle,
jeve von berühmten theologiſchen Namen vertreten. Wie
viele Deweisftellen werben nicht mehr in dem Siune geveutet,
den bie fymbolifchen Bücher ihnen unterlegen? Wir begehren
Drod, und ihr habt nur Steine uns zu reichen. Ihr führt
ſtets die proteftantifche Freiheit im Munde, und es ift ein
ehernes Joch, das ihr und auflegt, eine Geiftestnechtfchaft,
bie ihr uns Laien zumuthet. Wir follen glänbig bie Lehren
eined Prebigerd hinnehmen, der felber durch feine höhere
Autorität gebunden, von Feiner umfafjenderen Lehrgemein⸗
ſchaft getragen if. Sagt es boch einer der Enrigen: eine
Geſammtheit kann nicht mehr tyrannifirt werben, als wenn
der Einzelne amtlich autorifirt wird, biefelbe unter bie un⸗
gemefjenfte Willlühr feiner Privatanfichten zu ftellen.‘)
Wenn Liebner gleichwohl behauptet, feine und feiner
Collegen Theologie trage alle Heilmittel, deren bie Zeit
bebürfe, in ihrem Schooße, aber freilich nur als Geheim⸗
1) Karften, bie proteft. Kirche. S. 29,
MA.
lehre, fo läßt fich allerdings über dieſes Geheimniß feine Mei»
nung bilden; indeſſen fauten bie Urtbeile Andrer über die
Leiftungen der Theologie des Tages fehr verſchieden. So
bat Stahl erft vor einigen Wochen erklärt: die theologiſche
Wiſſenſchaft Deutfchlands ſei meift ein eben fo fehr ben
Glauben wie den Unglauben veriwundendes Schwert.!) So
haben Profeffor Krafft aus Bonn und Hofprebiger Behr
fhlag vor der Berliner PVerfammlung ver evangeliſchen
Allianz die moderne orthobore Theologie mit ihrem Zuräd-
gehen anf bie ſymboliſchen Bücher ale eine Haupturſache
ber religiäfen Ohnmacht des deutfchen Proteftantismus an-
geflagt.”)
Die Dibelgefellfehaften haber fett fünfzig Jahren in
Deutſchland wie allenthalben Millionen von Bibeln auß
geteilt. Auch der Aermſie kann ſich jetzt mit leichter Mühe
eine beutfche Bibel verfchaffen. Die Wirkung ift aber bie,
daß gegenwärtig nach ben Verficherungen der Prebiger fein
Bud weniger gelefen wird, als die Bibel. „Unter hun
dert chriftlichen Haushaltungen findet ſich Taum eine, in ber
bie heilige Schrift noch gelefen würbe.”) Das Volk, fagt
Güder, nährt ein geheimes Mistrauen gegen bie Schrift,
I) Meßner’s K. Ztg., 1861, S. 377.
2) Berbanblungen &. 187, 196.
2) Tholud’s Liter. Anz. 1845. S. 289.
475
e3 weiß nicht ficher, woran es mit ihr iſt.“) Selbſt bie
Beſten unter dem Landvolke, bezeugt ein Andrer, brauchen
fie meift nur zur Lefung der fonn- und feittägigen Peri⸗
topen.)
Gleichwohl Hat nun jüngjt eine ganze tbeologifche Fa⸗
kultät erflärt: Nicht auf die Lehre der Kirche bürften
bie Prediger das Bolt vermeifen; die entfcheivende Grund⸗
frage fe, wie und warum zu glauben fet, und ba verführe
man das Volk zu einen falfchen Wahn, wenn man e8 auf
bie blos menfchliche Autorität der evangelifchen Kirche Hin
etwas zu glauben, eine Auslegung der Schrift anzunehmen.
lehre.“) Hienach darf alfo eigentlich kein Prediger feiner
Gemeinde zumuthen, daß fie feine Lehre einfach annehme,
er muß jeden auf das Selbftftubium ver Bibel verweilen;
nur das Ergebniß dieſes Stubinms, nicht das Zeugniß jei-
ner Kirche darf ihn zur Annahme ver chriftlichen Lehren bes
ſtimmen. Daß hiemit wenigſtens neunzehn Zwanzigtheile
der noch kirchengehenden Bevölkerung für glaubenslos er»
Härt werben, daß, wenn man wirklich dieſe Theorie über
den Glauben von den Kanzeln prebigen würde, bie Kirchen
3) Deutihe Zeitichrift, 1855, ©. 151.
?) Hengflenbergs 8. 3. 1852, ©. 873.
3) Ueber die gegenwärtige Kriſis bes religiöfen Lebens. Denk⸗
ſchrift der Göttinger theol. Facnltät. 1864, ©. 18.
416
bald vollends leer ſtehen würben, barım kümmert vie
Fakultät fi um fo weniger, als ihr hier eine gemichtige
Autorität zur Seite fteht, die enangelifche Allianz nämlic,
beren zweiter Artikel feftftellt, daß es das Recht und bie
Pflicht eines jeden Ehriften fe, nach eigner Veberzeugung
bie Schrift auszulegen. Die Theologen und Prediger, bie
fih ſchaarenweiſe in Berlin der Allianz angefchloffen, Haben
biefen Artikel ohne Beanſtandung hingenommen. In bie
Katechismen ift ſie wohl noch nicht aufgenommen. Wie
viele Laien mag e8 wohl in Deutfchland geben, welche biefer
„Pflicht“ und ihres Umfanges gebenken ?
7.
Es gibt eine kleine Zahl lutheriſcher Theologen von
der ſtrengſten Richtung, welche alles Ernſtes meinen, fo
klaͤglich die Geftalt der lutheriſchen Kirche in Deutſchland
fei, fo trage fie doch, und fie allein, alle Hoffnungen einer
befieren kirchlichen Zukunft in ihrem Schoofe. Etwas gib
fer mag die Zahl derer fein, welche ihre Erivartungen an
die unirte Kirche Mnüpfen, und von einer großartigen Ent
faltung verfelben in nächfter Zeit träumen. Aber nicht Be
nige ber denkenden Theologen erkennen, daß weber Luther
anismus, noch Calvinismus noch der aus beiden gemifchte
Untoniemus Elemente der Dauer und einer lebensvollen
Entwicklung in ſich trage, und erwarten daher eine Kirche
477
ber Zuknunft. Vorerſt nämlich muß doch jeber gläubige
Ehrift zugeben, daß der gegenwärtige Zuſtand Firchlicher
Zeriplitternng unmöglich der normale und fort und fort
‚bleibende fein könne, daß vielmehr „das ver Kirche einge.
borue Weſen ber Einheit einft die gegenwärtige, durch
Möchte der Welt mitbebingte Zertrennung überwinden“
werde.)
Zu dieſer künftigen Einheit ſoll nun auch bie katho⸗
liche Kirche Hinzugenommen werben, daß heißt, fie foll im
Weſentlichen proteftantifch werden, was natürlich erforvert,
baß ihr „fpröber“ Organismus erſt zertrümmert werbe.
Dofür, Hofft man, werben nähere ober entferntere Ereig-
niffe forgen. Das Richtige an dieſer Anficht tft nun aller«
dings dieß, „daß eine Verfchmelzung ver katholiſchen Kirche
mit ber proteftantifchen, fo daß die Eigenthümlichkeiten bei-
ber in bie vereinigte Kirche Übergingen, unmöglich ift. Denn
Katholifches und proteftantifches Weſen verhalten fich nicht
zu einanber wie zwei Seiten einer Sache, bie fich wechfel-
feltig ergänzen, und verbunden ein reicheres und harmo⸗
nifcheres Ganzes bilden, fondern wie Begenfähe verhalten
fie fi; das eine ift die Negation bes andern.
Eine Vereinigung beider Kirchen durch Verſchmelzung
Lönnte alſo nur erreicht werben, indem bie eine aufbörte
3) So bie Gsttinger Theologen in ihrer Erklärung, 1854, S. 66.
418
zu fein was fie ift, mit ihrer (latholiſchen ober proteftanti«
ſchen) Zrabition braͤche.
Die Aufnahme eines einzigen Princips wurde, auf ber
einen ober auf ber andern Seite, chen bazu binreichen.
In dem Angenblide, in welchen ver beutiche Proteftantie-
mus 3. D. anerlenuete, daß es eine Kirche gebe in dem
Sinne einer realen, göttlichen, mit Verheißungen und Ge⸗
walten ansgeftatteten Inftitution, in biefem Momente wäre
berfelbe bereits in ven Progeh ver Katholifirung eingetreten.
Und ebenſo würde die katholiſche Kirche an vem Tage ſich
‚auflöfen, an weichen fie etwa ben zweiten Artifel ver evan-
gelifchen Allianz annähme, und proflamirte: Niemanb barf
fich mehr einer religiöfen Autorität unterordnen, vielmehr
muß jeber feinen Glauben in letter Inftanz auf nichts
anderes als feine eigne Auslegung ber Bibel gründen.
Fichte ift, irre ich nicht, ver erfte, der im Jahre 1806
den Gedanken ausfprach: es müſſe auf bie Petriniſche (la⸗
thofifche), und vie Paulinifche (proteftantifche) Kirche noch
eine dritte al8 die Verflärung und Berſchmelzung beiber,
als „bie Aufhebung ihrer Einfeitigleiten,”“ folgen, die For
banneifche. Schelling bat dann fpäter benfelben Gebanten
in feinen Borlefungen weiter ausgeführt, und er tft feitvem
vielfach mit Beifall wiederholt werben. So hat 3. 9.
Profeffor Piper auf dem Kirchentage zu Stuttgart 1857
die Verfammlung mit der zu erwartenden Sohannesfirche
419
getröftet.) So bat auch Merz pie „Menſchheitslirche bes
fiebenden Johannes,“ unb ven mit dieſer Johanneskirche
beginnenden „vierten Umlauf ber Kirche” in Ausficht ges
ftellt.”)
Gleicher Geiftesrichtung fich hingehend hat Ullmann?)
drei Hanptformen bes Chriſtenthums entbedt, bie in ber
griechifchen, römischen und proteftantifchen Kirche ihren Aus⸗
druck gefunden hätten, und dann auf eine vierte hingewieſen,
in welcher das Ehriftentgum als die Religion der Einheit
des Böttlichen mit dem Meenjchlichen, als die volllommne,
abfolute Religion fich geftalten werbe, als bie „Kirche ber
Zukunft.”
Die Vorftellung ift ohne Zweifel eine gegenwärtig fehr
verbreitete. Zwar ift die Zurüdführung bes Gegenfates
zwiichen Katholicismus und Proteſtantismus auf die Diffe-
renz zwifchen Petrus und Paulus innerlih unwahr, und
wird wohl kaum von irgend einem Theologen als zu⸗
läffig erfannt werben, aber das meinen allerdings auch viele
Theologen, daß eine neue Kirche kommen werde, in welcher
wirklich Ein Hirt und Eine Heerbe fein werde, daß biefe
Kirche eine bon der jetigen Geftalt des Proteſtantismus
fehr verjchiebene fein werde.
1) Berhanblungen, ©. 48.
2) Armuth und Chriſtenthum. ©. 88.
3) Weſen bes Chriſtenthums. Hamburg 1849.
10
Wenn man, wie die Berliner deutſche Zeitfchrift thut,
die proteftantifche Kirche der Gegenwart als „eine bem
Sinn und Leben des Volles fremd geworbene Geftalt und
Ruine aus vorigen Zeiten“ befchreibt,‘) oder wenn man, wie
Schenkel, Lange, Rothe, der Anficht ifl,”) ber Prote⸗
ftantismus habe es noch nie zn einer wirklichen Kirche ge⸗
bracht, fo muß wohl eine Aulunfts- ober Johanneskirche
in Ausficht geftellt werben, man müßte benn, wie Hafe,
ben Untergang des Chriftentfums felbft und die Geburt
und Herrſchaft einer ganz neuen Religion weiffagen wollen.
Denn auch das Aufgehen ver Kirche im Staate, welches
Rothe erwartet, würbe am Ende doch auch zu einer Zu-
kunftskirche eigner Art, zu einem univerfalen Kirchenſtaat
etwa führen.
Wenn es fi nunaber darum handelt, dieſem Schatten
der Zukunftskirche einen Körper zu geben, bann werden
die Speologen zu Phrafeologen, ober fie mahlen ein me
bernes taufenbjährige® Reich, und laſſen eine Schaar von
Wünfchen und Hoffnungen gleich Schmetterlingen ausflie⸗
gen, „an beren Verwirklichung ber einfache Ehrift jo wenig
als der nüchterne Menfch je glauben wird.‘“)
2) Yalrg. 1851, ©. 804.
?) Rothe's theol. Ethik, MW, 1012, Schenkel, das Prinzip
bes Proteſtantismus. S. 11. Lange, Über bie Nengeſtaltung
bes Berhältniffes zwifchen Staat und Kirche, 1848, ©. 89,
3) Nach der richtigen Bemerkung ber Zeitichrift für luth. Theol.
481
In naher Verwandtſchaft mit dieſen Erwartungen einer
neuen Kirche ſteht die weit verbreitete, im ganzen prote⸗
ſtantiſchen Europa ſich kund gebende Sehnſucht nach einer
„neuen Ausgießung des heiligen Geiſtes.“ In England
ſind eigne Gebetsvereine dafür geſtiftet. Auf dem Kirchen⸗
tage zu Berlin, trotz des einmüthigen Bekenntniſſes zur
unveränderten Augsburgiſchen Confeſſion, ertönte der Ruf:
feine Rettung ohne eine neue Ausgiekung des heiligen Gei-
ftes! Auf den Ranzeln, in Schriften wirb ein zweites Pfingft-
feft, ohne welches man nicht länger beftehen koönne, gewünfcht
und daher erwartet. Selbft ein Deligfch meint:‘) Es
bedarf einer Geiftesausgießung von Oben.” Cine folche
Wiederholung des Pfingftereigniffes tft aber weder in ber
Schrift verheißen, noch in dem achtzehnhundertjährigen
Beſtand der Kirche jemals eingetreten, begehrt ober ge-
hofft worben.?)
1857, &. 311. Die Zukunftskirchen, jagt Rudelbach, eben
daſelbſt 1858, S. 190, find eine acabies ber Zeit, fie tragen
alle das Charalteriſtiſche biefer Krankheit an fi, nämlich das
innerliche Berzehrtwerben und den äußerlichen Kitzel.
1) Erlanger Zeitfhrift für Protefl. 1868, S. 305.
?) Alfo wenn das ernft gemeint ift, fagt Hafe bierliber, ftellen
fie ihre letzte Hoffnung auf ein Wunber, wie e8 feit ben Zeiten
ber Apoſtel nicht geſchehen if. Darin ift nur die Verzweiflung
ausgeiprochen, ihre Sache auf dem Wege ber gefchichtlichen
v. Dölinger, Papſtthum. 31
Neben den Hoffnungsreichen, welche einer neuen Kirche
und einem zweiten Pfingfifeft als Geburtötag ber neuen
Kirche entgegenfeben, ſind indeß auch biejenigen zahlreich,
welche, Heinmüthiger ober weniger fchwunghaft in ihren
Hoffnungen, die Nähe des Weltendes und vie Wieberfunft
Jeſu Ehrifti entweder zum Gericht ober zur Eröffnung bes
taufenpjährigen Reiches verfünbigen.
Wenn überhaupt die Erwartungen eine® taufenbjähri«
gen irdiſchen Neiches Ehrifti wieber, und, troß ber augs⸗
burgifchen Confeſſion, gerade unter ven Lutheranern ber-
vorgetreten find,') fo tft e8 im Grunde nur bie Verzweif⸗
lung an jedem Befferwerben, die Wahrnehmung ber ums»
aufhaltfamen kirchlichen Auflöfung,. welche viefem Wahn
wieder Eingang verfchafft. Geiftliche und Theologen, welche
als rathlofe Aerzte am Krankenbette ihrer Kirche ftehen,
find fo zu fagen geborne Chiliaften. Da Heißt es: „Die
Zucht des Glaubens hat keinen Halt mehr weber oben noch
unten — felbft die einfache aber treue Prebigt des Evans
gelium® begegnet maſſenhaftem Widerwillen, oder maflen-
bafter Gleichgiltigkeit."”) Oder man fieht mit Rudelbach
naturgemäßen Entwicklung durchzuführen, auf welchem Chriſtus
feine Kirche durch 18 Jahrhunderte geführt hat. Prot. K. 3.
1856, &. 1161.
?) Neuerlih von Leſſing, Florke, Karſten n. A.
°) Sengſtenberg'e K. 3. 1869. Seite 1181.
·
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4
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— — — —
in dieſer Zeit, „wo eine Burg der lutheriſchen Rechtgläu⸗
bigfeit nach ver andern flürzt, und im eignen Lager (ver
Zutberaner) eine fo tiefe Zerklüftung fich zeigt, dem „großen
Abfall” entgegen, der in dieſer Zeit heranreift.“)
So ſuchen denn Viele Heil und Troft in neuen Deus
tungen ber Apofalypfe, in der Hinweifung auf das bem-
nächft anbrechende taufenbjährige Neich, wo kann Alles,
was bem heutigen Proteftantismms mangfe, in reicher Fülle
im gefchenkt, alles Krumme gerade werbe gemacht werben.
Da hat Auberlen neuerlich entvedt, daß vie ganze ficht-
bare Kirche, auch ber proteftantifche Thetl, zur apofalypti«
ſchen Hure geworben fel, und daß daher nichts übrig bleibe,
als das Millennium abzuwarten,?) und ein Andrer, N &-
gelsbach, ift num entzädt über den von Auberlen an’s
Licht gebrachten „Zroft für Alle, welche einerſeits der Kirche
gern helfen möchten, andrerſeits aber feine Möglichkeit gründ⸗
licher Abhilfe abſehen,“ es gilt ja demnach nichts zu thun, .
fondern blos zu warten.?)
Andre, wie Baumgarten, geben zu, bie jebige
Kirche ſei von Grund aus verkehrt, tröften ſich aber mit
3) Zeitſchrift für Inth. Theologie, 1869, 256.
?) Der Prophet Daniel und bie Offenbarung Johannis, 1864,
©. 294.
3) Henter’s Nepertor. Bb. 92, &. 204, und noch einmal Bd.
103, ©. 86.
31?
484
ber Ausficht auf eine baldige Belehrung bes Judenvolles.
Die ganze bisherige kirchliche Entwicklung ſei, behauptet
Baumgarten, nur eine große Verirrung der zum Staats⸗
kirchenthum entartete Heibenficche; das befehrte Iſrael aber
ſei beftimmt, für alle Wölfer das „erlöfende und heiligenbe
Haupt zu werben,”') und werde einft wieder blutige Opfer
im Tempel zu Verufalem barbringen. Beftimmter noch
verfünbet ein Andrer, daß ein irbifcher von Chriſtus als
Tröfter geweiſſagter Meſſias demnächſt erfcheinen wird,
Wir ftehen, weiß er, im Jahre 5976 der Erldfung, und im
Yahre 6000 erfolgt die erfte Auferftehung und das taufend-
jährige Neich.*)
Endlich Hat auch noch der gegenwärtige Minifter des
Kirchen und Schulwefene in Preußen, v. Bethmann⸗
Hollweg, kurz vor feiner Erhebung feine Verzweiflung
wie feine chiliaftifche Hoffnung ausgefprochen:’) „Den Apo⸗
fteln Petrus und Paulus, deren jeder feine Kirchenzeit ge
habt, muß Johannes folgen. In Staat und Kirche zeigt
fih das Wiberfpiel des behaupteten Fortſchrittes: Auflöfung
) Hengftenberg’s 8. Ztg. 1859, &. 697.
) EChrifianus, das Evangelium bes Reiches, Leipzig 1859.
Der Verfaffer verfihert, die Werke bes Erlanger Theologen v.
Hofmann vorzugeweife benützt zu haben.
2) In Gelzer's Monatsblättern, 1858, 8b. 11 &. 136.
485
in Staat und Kirche, Verfall der organifchen Formen und
Unfähigkeit der Zeit neue zu fchaffen. Gott will vie Hätte
abbrechen. Beide, Staat und Kirche, müſſen in ihrer zeit
lichen Geftalt zerträmmern, damit bas Königreich Jeſn Chrifti
über alle Bölfer aufgerichtet werde, die Braut des Lammes,
die vollendete Gemeinde, das neue Iernfalem vom
Himmel berablomme.“
Kurz vorher hatte ein anbrer preußifcher Staatsmann
feinen proteftantifchen Lefern zugerufen: fie follten ſich ab-
wenden von den falfchen Propheten, welche das Enbe ber
Welt verkündigen, weil fie an's Ende ihrer eignen Weis⸗
beit gekommen find.')
Die Schilderung ver kirchlichen Gegenwart erheifcht,
baß der Stellung, welche der Proteftantismus in Deutfch-
land zur Fatholifchen Kirche einnimmt, noch mit einigen
Worten gebacht werbe. Die Angehörigen beider Confeſſio⸗
nen mifchen und burchbringen fi in ganz Deutjchland
immer mehr, in gleichem Schritte wachfen und mehren fich
bie geiftigen Berührungen; überall ftellen fich proteftantifche
Kirchen und Gemeinden neben katholiſche und umgelehrt.
Selbft im äußerften Norden wie im Süden fann die Zu-
N) Bunfen, Gott in ber Geſchichte. I, 183.
— ⸗
laſſung bes frembden Belenntniſſes nur noch eine Frage
ber Zeit fein. Weber die Stellung, welche den Katholiken
einzunehmen ziemt, werbe ich an anbrem Orte reden. Hier
ift e8 die Haltung, welche die Firchlichen Führer und Spres
her des Proteftantismus ihrer Kirche gegen die Fatholifche
anmweifen, und bie Haltung, in welche fie felber fich verfegen,
bon der zu reben ft.
Man Tann fagen: ber ganzen auf Erwedung eines
religiäfen Lebens und kirchliche Reftauration gerichteten
Dewegung liegen Tatholifche Tendenzen zu Grund. Der
Beobachter empfängt den Einbrud, als ob eine Anzahl von
Männern fi in einem engen, Iuft- und lichtlofen Raume
unbehaglich befände; fie verfuchen bald viefe bald jene
Thüre zu öffnen, um frtfche Luft und Lebenskraft herein
zulaffen, aber bei jedem Anfage, ertönt ein Chorus geiftlis
cher und weltliher Stimmen: Weg mit dem Miasma, ber
dumpfen Grabesiuft aus dem alten mobrigen Gewölbe!
Mit dem Vorwurf, ihr Tatholifirt, haben die Gegner im
Klerus, mit dem Rufe: man will uns Tatbolifch machen,
haben die Maffen feit zwanzig Jahren jede verfuchte Kräf
tigung, Bereicherung, Berichtigung im Dogma, im kirch⸗
lichen Leben, im Gottespienfte zurüdgewiefen. Daß dieſe
abwehrende Haltung dem proteftantifchen Geifte, wie er ſich
aus,feinen Prämiffen naturgemäß entwickelt Kat, entſpreche,
wer wollte das läugnen? „Der ganze Proteftantiemme,
487
ſagt Stahl, befindet fich fortwährend in der Stellung bes
Borgheſiſchen Fechters. Es ift ein beftänbiger Ausfall,
ein äußerftes Anfpannen aller Sehnen und Muskeln gegen
Rom. Die ganze Energie ift darauf gerichtet, römiſch⸗
Tatholifche Lehre und Weife nicht auflommen zu laffen, ver
geringfte Anfak dazu erregt mehr Abfcheu, als vielleicht
große Ueberfchreitung nach der andern Seite‘) u. f. w.
In den Jahren 1848 — 1861 ließen manche Zeichen
auf eine Annäherung beider Eonfeffionen fchließen, e8 fchten als
ob beide, die trennenden Motive und Lehren nicht gerade her⸗
vorlehrend, fich zur gemeinfchaftlichen Beſchirmung und Forts
bildung der fittlichereligiöfen Grundlagen im ftaatlicden und
geiellfchaftliden Leben die Hand reichen könnten und wolls
ten. Auf den Landtagen einzelner Länder hatte ein folches
Zuſammengehen gläubiger Proteftanten und Katholiten fich
günftig erprobt; es hatte fich gezeigt, daß in ben meiften
Meaterien die Alternative nur lautete: Chriftenthum ober
Atheismus, und daß eine confeffionelle Sonderftellung in
ber Mehrzahl der Fragen vermieden werden könne. Da kam
der Kirchentag in Bremen, und es mußte einen tiefen Eins
drud im ganzen fatholifchen Deutfchland machen, als bie
große Majorität einer Berfammlung von Profefforen und
Geiftlichen ſich mit fo tiefer Berbitterung, mit folder Energie
) Die Intbherifche Kirche und die Union. Berlin 1869, ©. 456.
—
des Haſſes gegen bie Kirche ausſprach, welcher ber größere
Theil der deutſchen Nation, die Mehrzahl alter Getauften
angehört. Eine befonvere Veranlaffung von Tatholifcher
Seite war nicht vorbergegangen; bie Gelegenheit zu folchen
Ergüffen fchien wie vom Zaune gebrochen. Und nun faßte
man noch einftimmig ben Beſchluß: der Ausbrud dieſes
eonfefltonellen Hafjes folle in jeder deutſchen Gemeinde zu
einem bleibenden Beſtandtheile bes Gottesdienſtes gemacht,
an jebem Orte folle wieder wie ehemals gefungen werben:
„Und ſteur' des Papſts und Türken Mord!“) Die ras
tionafiftifche Zeit hatte dieſe Worte geändert, die wieder
gläubig geworvenen Theologen und Paftoren erachteten es
als eine dringende Aufgabe, fle wieder dem Wolfe auf bie
Lippen zu legen. Andeutungen über bie wahrſcheinlichen
oder nothwendigen Folgen dieſer Dinge, über ihre Beveu-
tung als pathologiſche Symptome gehören nicht hieher, ftatt
berfelben mögen zum Schluße zwei Aeußerungen von Mäns-
nern bier ftehen, bie beide von ver Höhe ihrer früheren
amtlichen Stellung berab Inftitutionen und Perfonen gründs
lich zu kennen und zu wilrdigen bie befte Gelegenheit. bes
faßen, beide zu den entfchiebenften politifchen Gegnern ber
Yatholifchen Intereffen gehört Haben, beide eifrige Freunde
1) Berhandlungen, S. 152.
_
und Förderer ber evangelifchen Kirche find. Es find dieß
der Bräfident von Gerlach und der geheime Rath Eilers.
Jener fagt: „Wir fehen täglich, wie gering im Vergleich
mit der Macht der Tatholifchen Kirche der Einfluß ift, ben
die enangelifche Kirche auf die Erleuchtung und Heiligung
des Volkes im Großen und Ganzen und auf die Mehrzahl
ihrer Glieder übt. Die Urfache ift nicht weit zu ſuchen.“)
Letzterer, befanntlich einer der einflußreichften Beamten
bes Minifteriums Eichhorn, der feiner Zeit gleichzeitig bie
Leitung von drei ber Belämpfung ber Tatholifchen Kirche
gewinmeten und von ber Regierung fubventionirten Zeit
fhriften in feinen Händen Hatte, gefteht: „Ich Hatte ben
Zuſammenhang des chriftlichen Lebens in der Tatbolifchen
Bevölkerung mit den Einrichtungen und Gebräuchen ber
tatholifchen Kirche kennen gelernt, und mich widerſtre⸗
benden Herzens überzeugen müffen, daß im Allgemei⸗
nen mehr Chriftliches in ver beſtehenden Tatholifchen als
in ber beſtehenden evangelifchen Kirche lebt. Es Hatte fi
mir als eine ausgemachte Thatfache ergeben, daß die evan-
gelifche Geiftlichlett im Allgemeinen in aufopfernver pfarre
amtlicher Wirkſamkeit weit hinter ver katholiſchen zurückſtehe.“)
) Attenftüde aus ber Verwaltung des evangel. Oberkirchenraths,
Berlin 1856. III, 428.
2) Eillers, meine Wanderung durch's Leben. Leipzig 1857, II,
©. 266.
4%
Wenn zwei Männer des Laienſtandes fich in fo billi⸗
gem, verföhnlidem Sinne ausiprechen, follte nicht auch bie
Zeit kommen, vielleicht nahe fein, wo Pretiger und Theo⸗
logen einer milderen Gefinnung Raum geben, wo fie er⸗
fennen werben, baß bie katholifche Kirche In Deutfchland
im Ganzen und Großen nur gethan, was fie nicht laffen
Tounte. Alle Vorwürfe und Anklagen gegen diefe Kirche
laufen zulett doch darin zufammen, daß fle eben vie ihr
unter dem Namen ber Reformation gemachte Zumuthung,
mit ihrer Vergangenheit zu brechen, zurückgewieſen bat, daß
fie ihrer Ueberlieferung treu geblieben ift, auf ihrer Grund⸗
Inge beharrend fich mit innerer Negelmäßigkeit entmwidelt
Bat und auch fernerhin, an der ununterbrocdenen Stetig-
keit des Tirchlichen Lebens und dem Zuſammenhange mit
den andern Thellen der Kirche feſthaltend, ihre Aufgabe zu
erfüllen gebentt.
Der Kirchenftaat.
1. Bie Päpfte und der Kirchenflant bis zur frauzöffchen
Revolntion.
Bis zum Sturze des weitrömifchen Kaiſerthums waren
die Päpfte Untertbanen ver römifchen Raifer. Ste flanden
dann feit dem Ende des 5. Jahrhunderts in demſelben Ver⸗
bältniffe zu den oftgothifchen Königen von Italien, und
einer von ihnen, Johann I, mußte in dem Kerler flerben,
in den ihn König Tcheoberich Hatte werfen laſſen. ALS das
oftgothiiche Reich den Byzantiniſchen Waffen erlegen war,
wurden die Päpſte Untertbanen ber oftrömifchen Sailer.
Zuweilen von dieſen fchwer mishandelt, gewannen fie boch
in der ſchwierigen Stellung zwifchen Conftantinopel, dem
Erarchen und ben nach dem Beſitze Roms lüſternen Longo⸗
barben ftetig an Macht und Einfluß in Btalien. Am Ende
des 6. Jahrhunderts war der Papft bereits der reichite
Lanpbefiter in Italien. Große Patrimonien, in der ganzen
Halbinfel zerftreut, auch auf Sicilien, Sardinien, Corfica,
felbft in Frankreich, von geiftlichen Nectoren verwaltet, fe-
ten den Papſt in den Stand, vie Benölferung Roms zu
ernähren, den Longobarden Friedensgelder zu zahlen.
494
Gregor der Große übte auf feinen zahlreichen Gütern eine
gewiffe Jurisdiction, beauffichtigte die Eaiferlichen Beamten,
und in dem Maße als die oftrömifche Macht erlahmte, als
das Erarchat ven ſtarken Longobarden gegenüber fich faum
zu behaupten vermochte, erhob fich von felbft bie natürliche
Macht des Papftes, fiel ihm auch bie weltliche Herrichaft
in Rom zu, nicht als ein ehrgeizig gefuchter Befig, fondern
als eine Sache der Noth und Pflicht. Selbft als Kriege
herren mußten bie Bäpfte handeln, Schlöffer anlegen, Trup⸗
pen anwerben und beren Offiziere ernennen.
Der Bilderftreit und der dabei grell bervorgetretene
kirchlich⸗ politifche Despotismus der neuen byzantiniſchen
Soldatenkaiſer führte zum Bruche zwifchen Nom und Con⸗
ftentinopel, viefer zum Verluſte der reihen Patrimonien
in Sicilien und Unteritalien, die Kaiſer Leo gewaltfam bem
päpftlichen Stuhle entriß. Bald erlangte dieſer reichlichen
Erſatz. Der Longobarvenlönig Luitprand fchenkte mit einer
diefem Fürften fonft nicht eigenen Großmuth einen Theil
des füblichen Tookana ber Kirche des Heiligen Petrus, und
ber Srantenlönig Pipin übergab in gleicher Weife bie don
ihm eroberten Lanpfchaften Emilia, Flaminia und Penta⸗
polis, d. h. das Küflenland von ver Pomünbung bis nad
Ancona bin, und zſtlich vom Rücken der Apenninen und dem
Reno. Der Papſt ſeinerſeits verlieh, obgleich er und die
Romer die byzantiniſche Oberhoheit damals noch theoretiſch
468
anerkannten, dem Frankenkönige und deſſen Söhnen das
römiſche Patriciat, d. h. die Schirmvogtei über Rom und
den päpftlichen Stuhl.
Obgleich Pipin die Schläffel der Städte des Erarchats
auf den Altar des Hi. Petrus zu Rom hatte legen laffen,
tonnte der Papſt doch noch Feine wirkliche Herrfchaft in
venfelben ausüben; vielmehr machten ſich Sergius und nach
ihm Leo, Exrzbifchöfe der reichbegüterten Kirche von Ravenna,
zu Gebietern des Erarchats. Auch durch Karl’s Siege und
erneuerte Schenkungen gelangte der päpftliche Stuhl nicht
zur eigentlichen Negierungsgewalt über jene Gegenven; bie
fräntifchen Könige bewilligten ber römifchen Kirche die Ein-
ünfte ver Ländereien, bebielten ſich aber vie Oberhoheits⸗
rechte vor.) Karl betätigte wohl die Schenkung feines
Baters, fügte auch in den folgenden Jahren neue Batrimo-
nien und Einkünfte hinzu, übergab dem Papfte tosfanifche
Städte, und wir ſehen fpäter, feit 780, ven Bapft im Befite
per Herrichaft über Ravenna, dabei aber auch eine Ober-
herrlichkeit Karls durch raſche Vollziehung Töniglicher Be⸗
fehle anerklennend.“) Die Stadt Rom gehorchte dem Papſte,
aber dieſer begehrte ſelbſt die militäͤriſche und richterliche
Gewalt in den Händen Karls als Patricius zu ſehen, forgte
!) Vesi Storia di Romagna, 1, 394.
®) Cod. Carol. 67, ap. Cenni Monum. 81, p. 489.
436
felber dafür, daß das römifche Volt dem Könige den Eid
ber Treue und des Gehorfams fchwur.
Erft durch Karls Uebernahme des Kaiſerthums und
die Errichtung oder Herftellung des abenplänbifchen Reiches
warb bie weltliche Stellung des Papftes Marer und fefler.
Der Schatten der byzantinischen Oberhoheit verſchwand
nun. Rom gehörte jetzt zum Neiche, der Papſt und bie
Römer leifteten dem Kaifer ven Eid der Treue. Wie ber
Kaiſer vor Allem Schutzherr der Kirche fein follte, fo ftanb
nun auch der weltliche Beſitz des Papſtthums unter befon-
derem kaiſerlichen Schuge, aber auch unter Taiferlicher
Oberhoheit. Die Gränzen zwifchen dieſer unb der päpft-
lichen Landesheit waren wohl nie genau gezogen. Das
italiänifche Königthum, das Karls Sohn Pipin erhielt, blieb
auf das ehedem longobarbifche Nord» und Mittelitalien
beſchraͤnkt. In Rom und dem römifchen Gebiete blieb die
fatferliche Oberhoheit, vie durch Bevollmächtigte oder Send⸗
“boten (Miffi) ausgeübt wurde. Da fie eine höhere In⸗
ftanz über den vom Papſte ernannten Beamten, bie in ben
Städten feiner Herrihaft Duces hießen, bilveten, unb
biefe beauffichtigten, fo verfügte Kaifer Lothar im Jahre
824, daß diefe Miſſi gemeinfchaftlich von Papft und Kaifer
ernannt werden und jede Nachläffigkeit der päpftlichen Be
amten (Duces und Judices) zuerft an den Papft berichten
follten. Beide Gewalten, bie päpftliche und die kaiſerliche,
— —
umterftäßten fi) wechſelſeitig, ver Papſt ließ das römiſche
Bolt dem Kaiſer Treue ſchwören, und der Kaiſer drohte,
wie Lothar that, jedem mit feiner Ungnade, der nicht in
allen Dingen dem Papfte Gehorſam beweifen würde. Die
Urkunden wurden nach den Negierungsjahren des Kalſers
datirt, die zömifchen Münzen trugen fein Bild. Daß die
Wahl des Papftes, die durch bie geiftlichen und weltlichen
Großen in Rom geſchah, der Beitätigung des Kaiſers un-
terliegen folle, ftanb feft, und war au fich zwedmäßig als
Bürgichaft für die Wreiheit und Regelmäßigkeit des Wahl-
altes. Aber die ferne des Kalfers, die lange Verzögerung,
und das Intereffe der römifchen Parteien, Alles dieß führte
dazu, daß man fich häufig darüber wegſetzte.
Diefer georbnete, dem päpftlicden Stuhle fo günftige
Zuftand war von nicht langer Dauer. Das Carolingifche
Haus und feine Macht ging burch inneren Zwieſpalt, durch
Bruberfrieg und ftete Erbtbeilungen zu Grunde, ohne baß
fofort eine andere ſtarke Dynaftie an beffen Stelle getreten
wäre. Der Glanz des Kaiſerthums erbleichte; in ver Perfon
Ludwigs II. war es fchon auf Italien beſchränkt, und bes
ſaß fchon nicht mehr die Kraft, Rom und bie Halbinſel
gegen bie vom Süden her vorbrängenden Saracenen zu
fügen. Als mit dem Tode des Finverlofen Ludwig das
Erbfaiferthum ein Ende nahm, und die Päpfte durch ihre
Krönung über die Kaiſerwürde ohne Rüdficht auf die Erb-
». Döllinger, Papftihum. 32
498
folge entfchteven, war dieß zwar ein höchft wichtiger Schritt
zue Hebung ber päpftlicden Autorität, für jet aber zog
weber Italien noch der Papft Nuten von obnmächtigen
Schattenkaifern. Der waffenlofe Bapft konnte nicht hindern,
aß feine Stäbte ihm und ber römtfchen Kirche von ita-
lieniſchen Fürften entriffen wurden. Schlimmer noch war
das jetzt durch Teine Träftige Kaiſerhand mehr gezügelte
Treiben der römifchen Adelsparteien, die, ver Wahl fih bes
mächtigend, den Stuhl Petri mit ihren Werkzeugen zu bes
fegen, für ihre Zwede auszubeuten trachteten.
Sp begann mit dem Ausgange bed neunten Jahrhun⸗
derts die trübe, anarchifche Zeit des 'entwürbigten, von ben
mächtigen Laien mißhandelten Papſtthums. Dem römifchen
Klerus fehlte es damals an einer feiten Organifation, je
denfalls zeigt er fich dem Adel gegenüber völlig ohnmächtig.
Raſch wechfelten vie Päpfte; fie wurben von ver einen Fak⸗
tion erhoben, von ber andern geftürzt, eingeferfert, ermor-
det. Die Römer tbhaten, was fie konnten, das Papftthum
zu Grunde zu richten, aber bie moralifche Kraft ver JInſti⸗
tution war unverwäftlih. Bon bem durch bie früheren
Päpfte und Kaiſer gefchaffenen Kirchenftante waren nur
Trümmer noch übrig. Die Städte der Romagna mußten,
als die Einbrüche ver Ungarn begannen, ſich ohnehin felber
helfen.
Zu Rom berrfchte nach einem räntenollen Weide, Ma⸗
499
rozia, ihr Sohn Alberich durch Familienmacht, Reichthum und
Beſitz der Engelöburg, als „Fürft und Senator aller NR»
mer“ mit unumfchräntter Gewalt bis 954. Exarchat und
Pentapolis waren in ber Gewalt Berengar’s, Königs von
Stalten. Alberich muß aber felber gefühlt haben, daß ein
weltliches Fürftenthum in Rom nicht von Dauer fein könne;
er ficherte daher feinem jüngern Sohne und Erben Octavian
die Erwählung zur Papſtwürde. So hatte Rom in ber
Berfon Detavian’s oder Johann's XII. wieder einen geifts
lichen Fürften, die Kirche aber einen nichtswürbigen Papft.
Da erfcheint, vom Bapfte felbft gerufen, ver beutfche
König Otto der Sachfe, wirb ber zweite Wiederheriteller
des abenblänbifchen Kaiſerthums, welches nun an bie beut-
Ihe Nation übergeht, und übt fofort in Nom und bem
Papfte gegenüber vie Kaiferrechte im weiteften Umfange.
Er läßt Johann XII. durch eine Synode abfeßen, Leo VIII.
an beffen Stelle erwählen, und als die Römer noch einmal
durch die Erhebung Benedikts V. fich des päpſtlichen Stuhls
zu bemächtigen trachteten, läßt er auch diefen abjegen und
in's Exil nach Deutfchland führen. Don wahrhaft freier
Papftwahl war in biefer Zeit und bem ganzen folgenben
Sahrhunderte nicht die Rede. In Rom wie außerhalb Roms
beitand nichts, worauf der Papſt fich Hätte ftügen können;
ohne den Kaifer war er ein Spielball in den Händen ber
übermüthigen Adelsfaktionen. Jedenfalls gaben die von ihren
32”
0
Bifchdfen und geiftlicden Kanzlern berathenen Kaiſer ber
Kirche würbigere Päpfte, als die römiſchen Häuptlinge, für
welche außer ber eignen Herrichbegier feine Rüdficht be⸗
ftand, und die mitunter den Unwürdigeren gerade darum
vorzogen, weil er ein um fo gefügigeres Werkzeug zu wer-
den verſprach.
Gleich nach Otto's I. Tode brach das Unweſen ver
Anelsfaktionen wieder los. Zwei Parteien, die Sabinifche
und die Zufeulanifche, rangen um die Gewalt; die Päpfte
wurben wieber bald von ber einen bald von ber andern Partei
erhoben, nach kurzer Zeit verbrängt, und endeten burch Worb
ober im Kerker. Erft ale Otto III. feinen Vetter Bruno,
bierauf ven berühmten @erbert, als Bäpfte einfegte, und fie
mit Waffengewalt ſchirmte, Tonnte das Papſtthum wieder
zu einigem Anſehen und Einfluß auf die Kirchenangelegen⸗
heiten gelangen.
Seit dem frühen Tode Gerberts oder Sylveſters II.
tft e8 das Tufeulanifche Haus, mwahrfcheinlih von jenem
Alberich, dem Beherrſcher Roms, abftammend, welches, im
Beſitze der Herrfchaft in Rom, auch über den päpftlichen
Stuhl verfügt. Ein Papft diefes Haufes, Benedikt VILI,
deffen Regierung, obwohl fie nur zwölf Jahre währte, hoch
in 200 Jahren bie längfte war, zu ber e8 ein Papft brachte,
konnte wohl, durch feine Familienmacht getragen, unb von
Kaifer Heinrich IL kräftig unterftügt, in Rom als Herr
501
gebieten, und in Sachen ver allgemeinen Kirche wieber mit
Kraft und Autorität auftreten. Aber fein Bontificat diente
wieber dazu, die Macht feines Haufes zu befeftligen, und
nach feinem Tode folgten zwei Päpfte besfelben Haufes,
fein Bruder Johann XIX., und fein Neffe Benedilt IX.
AS die Lafter des letztern unerträglich geivorben, und das
Unbeil einer Spaltung noch zu der Schmach und Erniebri-
gung ber Kirche hinzugefügt Hatten, da brachte enblich
Deutſchland gründliche und dauerhafte Hülfe. Heinrich's III.
ftarfer Arm und die beutfchen Päpfte, die er der Reihe
nach ver Kirche gab, reinigten und erhoben den befledten und
entwärbigten römifchen Stuhl. Die dringend gewordene allges
meine Reformation des Merus, welcher bieCongregation von
Clumy bisher vorgearbeitet hatte, konnte nun begonnen werben.
Der größere Theil des Kirchenſtaats war in biefer
ganzen Zeit (db. 5. von 850 bis 1050 over 1060) in Laien⸗
hänve gerathen. Ravenna fammt Geblet und die Städte
ber PBentapolis waren kaiſerlich. In Sabinum und Praͤ⸗
nefte faß ein Zweig des Erefcentifchen Haufes.‘) Das füb-
liche Tuſcien und die Marken Spoleto und Camerino befaß
Hugo der Große, Herzog von Tuſcien, doch flelen fie bald
an den Kaiſer zuräd. Die Einkünfte des vömifchen Stuhle
beftanden aus Gefällen von einigen Lehensträgern.
N) ©. Sfrärer’s Papſt Gregorius VIL V, 597.
\
602
Einiges Licht auf den Stand ver Dinge am Schlaffe
bes zehnten Jahrhunderts wirft bie Schentungsurkunde
Otto's III. vom Jahre 999.') Der Kaifer rügt bier in
3) Ueber die Wechtheit dieſes fo viel (zulett noch von @Wilmans,
Jahrbücher bes deutſchen Reiche, U, 2, ©. 233 — 43) be
firittenen Dokuments, (ap. Ports, Mon. Germ, IV, B. 162).
bege ich feinen Zweifel, und bin alfo mit Muratori, Berg,
Gieſebrecht, Ofrörer, Sregorovius, bie fich gleichfalls für
bie Aechtheit entfehieben haben, gegen Baronins und Pagi
einverſtanden. P. Spivefter felber klagt in bem Lehentdiplom
von Terracina vom Jahre 999 barliber, baf die Päpfte Eigar-
thum ber romiſchen Kirche verfchleubert hätten, cum lucris
operam darent et sub parvissimo censu maximas res eecle
sise perderent. ap, Contatore hist. Terracin. p. 41.
Und.die acht Eomitate werben in einem Schreiben Dito’s an
den Papft als: qui sub lite sunt, erwähnt. (Gerberti
epistolae, p. 70), Er habe fie, fagt ber Kaifer, bem Marl
grafen Hugo von Xufcien, ber zugleich bie Grafichaften Spo⸗
Ieto und Camerino befike, aus Liebe zum Papfte übergeben,
damit das Volk einen Regenten habe und ber Papft durch dem
felben bie ihm gebührenben Dienfte und Leiftungen von beit
Eomitaten empfang. Man flebt, wie bamals ſolche Schen⸗
tungen verftanden wurben. Die Päpfte follten und konnten
bie gefchentten Gebiete nicht unmittelbar regieren, fonbern bie
servitia berfelben (Abgaben in Gelb ober Naturalien und Kriegt⸗
bienft im Fall des Angriffe) genießen. Dabei follte bie far
ferliche Oberhoheit Über bie gefchentten Gebiete fortbefehen.
Die Gründe für die Wechtheit bes Documents, bie Giele
brecht und Gfrörer angeführt haben, laſſen fi) noch ver⸗
mehren.
8
fcharfen Worten die Sorglofigfeit uud Unwiffenheit früherer
Päpfte (wie fie als ohmmächtige Geſchöpfe der Alberiche
und Grefcentier in biefem Jahrhundert der Kirche waren
aufgebrungen worden), welche für Geld (für ganz geringe
Abgaben, wie der Papft jagt), faft das ganze Beſitzthum
der Kirche in und außerhalb ber Stadt verichleubert und
dafür kaiſerliches Beſitzthum ſich angemaft hätten. Daranf
fchenfte ex feinem zur päpftlichen Würbe von ihm erhobenen
Lehrer acht Grafichaften: Peſaro, Fano, Sinigaglia, An-
cona, Soflombrone, Eagli, Aeſi und Ofimo. Im folgenden
Sahrhundert gingen diefe Landſchaften wieder verloren, unb
mußten von neuem erworben werben.
Im Kampfe um das von Kaiſer Heinrich III. dem
Bapfte Leo IX. abgetretene Benevent, gewann ber päpft-
fihe Stuhl, was mehr werth war, als ber Beſitz dieſes
Gebietes: die Vaſallenſchaſt der normaͤnniſchen Eroberer
in Unteritalien. Was Leo IX. mit den Brüdern Hum⸗
phred und Robert begann, führte Gregor VII. mit Robert
fort, vollendete Innocenz II. im Sabre 1139 mit König
Roger. Es war eine Entſchädigung für den bisher nie
erfegten, noch von Nikolaus I. beflagten Berluft der reichen
Patrimonien In Unteritalien und Siceilien, daß bie Päpfte
aun Leihnsherren eines mächtigen Königreichs wurden, und
die Fürſten dieſes Reiches als Vaſallen mit Entrichtung eines
Zinſes ihnen huldigten. In der Folge freilich iſt gerade
504
dieſes Vaſallenreich die Urfache geworben, daß bie Papſte
in jene Abhängigkeit von Frankreich geriethen, welche zu
der Epiſode von Avignon, und dadurch zum großen Schtema
und beffen noch heute unüberfehbaren Folgen führte.
Als in dem langen Inveftiturftreite pie geiftige Macht
des Papſtthumes fich In ihrer ganzen Größe entwickelte,
war die materielle Grundlage ihrer Stellung ſchwach und
unficher. Gregor VII. gebot anfänglich in Rom mit feiter
Hand, nach einigen Jahren trat aber unter dem Bolle
eine tatjerliche Partei hervor, deren wachſende Stärfe Gre
gor zuletzt beiwog, mit den Normannen nach Unteritalien
zu ziehen, die feinen Nachfolger Victor III. aus der Stadt
trieb, und Urban II. eine Zeitlang ein Afyl in Frankreich
zu ſuchen nöthigte. Die Landfchaften des fpäteren Kirchen
ſtaats waren großentheils in den Händen kaiſerlicher Lehen⸗
träger. Ein folder war jener Werner oder Guarnieri,
ber fich von Gottes Gnaden Herzog und Markgraf ber
durch die Mark Ancona vergrößerten Mark von Camerino
oder Fermo fchrieb.')
Urban II., einer der mächtigften Päpfte außerhalb Romb,
war in Rom felbft ganz machtlos, und lebte, feiner Ein-
fünfte beraubt, eine Zeit lang von Almofen. Seine Rad
folger, Pafchalis IT, Gelaſius IL, mußten vor ber licher
N) Perussi Storia d’Anoona. I, 280.
505
macht ber Aneldfamilien mehrfach aus Rom entweichen.
Die zwei mächtigften Häufer in Rom waren jett bie Fran⸗
gipani's und die Familie bes Petrus Leonis; nur wenn
beide entzweit waren, konnten bie Bäpfte, auf eine von
ihnen fich ftügend, fich mit einiger Selbftjtänbigkeit in Rom
behaupten. Eine dieſer Familien ftürzte Durch die Erbes
bung eines Sohnes des BetrusLeonis unter dem Namen An-
nacletS II. die ganze Kirche in einlänger dauerndes Schisma.
Einige Jahre nachher, 1143, erhob fich das römifche Volk,
ſetzte aus feiner Mitte einen vom Bapfte unabhängigen
Senat und ein ftädtifches Oberhaupt mit dem Titel eines
Patricius ein, und Lucius TI. fand bei dem Verſuche, fich
der Stadt zu bemächtigen, einen gewaltſamen Tod.
Kaiſer Friedrich I. zwang die Römer, die damals un⸗
ter dem Einfluffe Arnolds von Breſcia von ber Heritellung
ber alten Republid träumten, dem Papfte Eugen III. alle
Regalien heranszugeben, aber gleichwohl war er von allen
Kaiſern feit Karl dem Großen ber entſchiedenſte Gegner
und Belämpfer eines felbftftändigen Papſtthums und einer
firchenftaatlichen Grundlage für dasſelbe. So Hatten benn
bie Päpfte im ganzen zwölften Jahrhundert eigentlich keinen
feiten Boden in Stalien; nur vorübergehend vermochten fie
fid in Rom zu balten; außerhalb Roms war auch nicht
eine bebeutende Stabt, auf bie fie mit Sicherheit Hät-
ten rechnen können; baber ſehen wir fie fo häufig zu
5 _
längerem Aufenthalte fich nach Frankreich wenden. Nach
Urben II. thaten dieß Paſchalis IL, Gelafius II, Cal-
liſtus II, Innocenz IL, Eugen IIL, Alexander IH. Rad
deffen Tode zogen Rucius III. und Urban LIT. vor, ba Die
Römer ſich nicht unterwerfen wollten, in Verona zu weilen.
Große Ausfichten auf geficherten Befig eines umfaffenpen
Gebiets Hatte den Bäpften die Schenkung der mächtigen Mark⸗
gräfin Mathilde eröffnet. Wäre fie dem ganzen Wortlaute nach
vollzogen worden, fo würden baburch bie Päpfte jofort bie län⸗
berreichften Fürften In Ober und Mittelitallen geworben
fein; Ligurien und Tuſcien, fagen bie Zeitgenoffen, fei in
ber Schenkung begriffen gewefen; aber ba ſich Reichslehen
und Allobialgut unmöglich mehr ausjcheiven ließ, nahın ber
Kaifer, auch unter dem Vorwand der Verwandtſchaft, bie
ganze Erbichaft in Anſpruch. Das mußten vie Päpfte bei
Heinrich V. gefchehen laſſen. Kaifer Lothar aber erfannte
ihr Recht jo weit an, daß er fich zugleich mit dem Herzoge
Heinrid von Bayern 1133 ven Innocenz II. mit dem
Allove der Graͤfin belebnen ließ, worauf dann 1135 der
vom Kaifer zum Markgrafen von Tufcien ernannte Engel
bert wegen des Mathildiniſchen Allode's dem Papfle ben
Treueid leiflete.') Vergeblich war indeß ber Rückfall ver
Güter an den päpftlichen Stuhl nach Heinrich’8 Tode bes
) Chron. Pisan. ap. Murstori VI, 170.
507
. bungen worben. Kaiſer Friedrich I. und fein Sohn Hein-
rich VI. bielten fie fe, bis Innocenz III im rechten
Momente die Rechte ſeines Stuhls mit ber ihm eigenen
thatkräftigen Energie geltend machte, und fo enblich das
fogenannte Batrimonium Betrt, d. 5. das ſüdliche Tuſcien,
aus der Mathildiſchen Verlaſſenſchaft wirklich an bie rö⸗
mifche Kirche kam.
Innocenz IH. (1198— 1216) wurde, nicht fowohl der
Neftsurator, als thatfächlich ber erfte eigentliche Begründer
bes Kirchenftaats, denn vor ihm läßt fich kein Papft nam⸗
haft machen, ber wirklich über ein größeres Gebiet geherrfcht
hätte. rüber hatten die Päpfte wohl Befitungen, von
denen fie Gefälle und Lebenspienfte in Anfpruch nahmen,
aber nicht einen Staat, den fie regierten. Als er im Jahre
1198. fein Amt antrat, war Alles in fremden Hänben; Her⸗
309 von Spoleto war ber ſchwäbiſche Ritter Conrad; in
Sampanien hatte Heinrich VI. die Lehen an feine Kriegs⸗
leute vertheilt; in Ravenna, der Mark und Romandiole
gebot der Senefchall des Reiches, Markwald; Im Erarchat
und der Pentapolis hatten vie Städte fich zu freien muni⸗
cipalen Republiten entwidelt, ſeitdem bie große Communen⸗
Bewegung fich Über ganz Ober- und Mittelitalien verbrei-
tet Batte. Die Städte hatten es wohl verftanben, den Zwiſt
zwifchen Kaiſerthum und Papſtthum zu ihrem Vortheile
auszunugen, fih, wie Macchiavelli fagt, der Kirche ge»
508
gen bie Kaifergewalt und biefer gegen jene zu bebienen,
um Freiheit, Selbftregierung, Wahl und jährlichen Wechſel
ihrer Vorsteher, Conſuln oder Pobefta’s, zu erlangen.
Schon im erften Jahre hatte Innocenz die beventen-
deren Städte ver Marten Eamerino und Fermo und bes
Herzogthums Spoleto, dann Perugia, Montefinfcone, Ra⸗
bicofani und Acguapendente nebft der Grafichaft Benevent
unterworfen. Bald erfannten auch die Städte der Romagna
die Oberhoheit der Kirche an, bie damals fo milde war,
daß die Städte fie kaum bemerkten.‘) Die freiheit und
volle Autonomie der Städte wurde anerlannt. So erklärte
Innocenz 1198 Perugia für ein Eigenthum bes römifchen
Stuhle, beitätigte aber dann die Berfaffung der Stabt, ihre
Regierung durch Conſuln und den freien Gebrauch der Ge
fete, die fich die Bürgerſchaft gegeben hatte.) Die Päpfte
gaben tn biefer Beziehung mehr als bie Katfer. Die Stäpte
botten nur einen geringen jährlichen Tribut zu entrichten
"und im Bedirfnißfalle Reifige zu ftellen, und felbft jenes
war nicht allgemein, denn von Viterbo wirb bemerkt, daß
e8 vor dem 15. Jahrhundert nichts zu zahlen gehabt habe.’)
—
3) Vosi Storia di Romagna, Il, 224.
2) Die Einleitungen zu ben Chroniken von Perugia im Archivio
stor. t. XVI, I, p. XXII. ®gl. Innocentii epistolae, I],
875. 426.
®) Bussi istorla di Viterbo, p. 47.
a
Mm Rom felbft hatte der Papft den zähbeften Widerſtand
zu überwinven; auch er mußte zeitweilig die Stabt ver»
laſſen, bis er es enblich burchjegte, daß die Römer ihm bie
Ernennung des Stabthauptmanne, der nun Senator bieß,
überließen.
In dem ſchweren Kampfe mit bem übermächtigen Fried⸗
rich II. ging den Päpften das Meifte wieber verloren,
und mußte nach feinem Tode und dem Untergange feines
Sohnes Manfred allmälig wieder erworben werben. Als
nachhaltige Wirkung des Zwiſtes zwifchen Kaiſer und Papft
war bie allgemeine durch alle Städte hindurchgehende Par⸗
teiftellung der Guelfen und Ghibellinen geblieben ; die kirch⸗
lich gefinnten Guelfen waren äberall bie demofratifche Par⸗
tei, während die Abelsintereffen in den Taiferlichen Ghibel⸗
linen Geftalt und Macht gewannen. Wo dieſe die Ober-
band behielten, konnte ber päpftlicde Stuhl auch nicht ein-
mal nominell feine Oberhoheit behaupten, aber auch bie
Buelfen wollten fich felbft regieren, felber nach Gutdünken
Krieg führen und Frieden fchließen. Die Päpfte hatten
bet allem Glanz des Anfehens, welches ihnen dad ſiegende
Guelfenthum in einem großen Theil von Italien, auch über
die Gränzen des Kirchenfinate® Hinaus, gewährte, boch
eigentlich Leine unterihänigen Stäbte, und waren oft in
Berlegenheit, wo fie ihren Sig nehmen follten. So fagt
Clemens IV. in einem Schreiben des Jahres 1265: er
510
wolle, nachdem er eine Kirche in Affiffi geweiht, wieber
nach Perugia geben; denn nirgends anderswo könne er
feinen Wohnfi nehmen, da die übrigen Städte des Patri-
moniums in Fehben verwidelt feien, ober nicht Lebensmittel
genug barböten.!) Hatte man eine Stabt zu länger bauern-
dem Aufenthalte gewählt, fo mußte erft ein Vertrag mit
ber Bürgerfchaft abgefchloffen werben, worin ber römifchen
Kurie freie ungehinderte Bewegung innerhalb ihres Ge⸗
ſchaftskreiſes zugefichert, und verfprochen wurbe, baß bie
Stadt nur Männer, die dem römifchen Stuble treu und
ergeben feien, zu Eonfuln und Podeſta's erwählen, und baß
fie den Marſchall des Papftes in der Ausübung feiner Ge⸗
richtöbarkeit Über das Berfonal der Kurie nicht hindern
wolle.')
Da faft alle Hoheitsrechte an die Städte, ober an ein-
zelne Adelöfamilten, zum Theil auch an die Bifchöfe ober
Stifte gelommen waren, fo war bie päpfllicde Autorität
in weltlichen Dingen nicht viel mehr als eine Oberhobeit
ber Würde über eine Anzahl ftäptifcher Republilen und
abelicher oder fürftlicher Signorien.’) Die Herrfchergewalt
1) Bullarium Franciscanum ed. Sbaralea. IV, 29.
2) So ber Bertrag, ber im Jahre 1278 im Namen Nicolaus IH.
mit ber Stadt Biterbo abgeichloffen wurbe, bei Marini degli
Archistri Pontifioj. Rom, 1783, 11, 11.
2) Cantsd, Storia degli Italiani, IV, 11. Leo’ Geſchichte ber
italiänifchen Staaten. IV. 423,
Gil
der Päpfte befchränfte fih auf die Ausübung einer, im
Ganzen fehr enge begränzten Gerichtsbarkeit, auf Verfügung
über die Gelpmittel und Truppen, welche die wohlgefinnten
Städte und Dynaſten lieferten, und auf fchteberichterliche
Alte. Die gewöhnlich angewendeten Mittel des Bannes
und Interdikts wirkten fchon bei ben Guelfiſchen Städten
nicht mehr ſicher, noch weniger bei ven Ghibelliniſchen.
Rom, wo jebt die Savelli's, Orſini's, Colonna's das Ueber⸗
gewicht befaffen, blieb nach wie vor eine unruhige, gegen
jeve Befeftigung päpftlicher Regierung argwöhniſch wach-
fame Stadt, kaiſerlich gefinnt oder ghibellinifch"), theils
ans Oppofition gegen bie Päpfte, theild weil nach der ba»
maligen in ganz Italien herrſchenden Theorie das Volt
und bie Stadt Rom der eigentliche Träger und Inhaber
der kaiſerlichen Würde und Herrfchaft war,“) fo baß bie
9) Populus urbis (Romae) qui naturaliter imperialis existit.
Saba Malaspina ap. Murator. SS. Ital. VIII, 842.
2) Dieß war nicht bios die Ghibelliniſche Anſchauung, wie fie
Dante in ber Schrift de monarchia vertritt, fonbern auch
die Guelfiſche, ſo daß auch Matteo Billani fie lib. 4,
o. 77 unb lib. 5, c. 1, prologo, vorträgt; ba heißt es unter
Anberm: Vautoritk del popolo Romano oreava gli impera-
dori: e questo medesimo popolo, non da sd, ma la chiesa
per lui, in certo sussidio de’fedeli cristiani, concedette
I’ elezione degli imperadori a sette principi della Magna.
Daraus wurde nun weiter geichlofien: Da bie Tofcaner ur-
612
Päpfte nur im Namen und Auftrag des römifchen Volles
bie Kaiferwahl an vie deutfchen Fürften übertragen hätten.
Nubolf von Habsburg Hatte dem Papfte Gregor X.
bei der Zufammenkunft in Laufanne 1274 ven vollen Befig
aller Tirchenftaatlichen Länder, alfo nach ber bamaligen
Bezeichnung das Land von Radicofani bis Eeperano, das
Erarchat Ravenna, Pentapolis, die Mark Ancona, das Her-
zogthum Spoleto, das Land ber. Gräfin Matbilbe, bie Graf
ſchaft Bertinoro, feierlich betätigt und gewährleiftet. Selbft
Eorfila und Sardinien wurden noch inbegriffen‘) Damit
fiel denn auch bie Aufftellung Taiferlicher Grafen oder Reiche-
Bicare weg, welche bisher noch in ver Romagna, ver Ben-
tapolis, der Markt und Spoleto durch Ausübung Iaiferlicher
Gerechtſame die päpftliche Gewalt befchräntt hatten. Wirl⸗
lich ließ Rudolf im Jahre 1278 durch einen eigenen Ab»
georbneten, den er an Papft Nikolaus III. fanbte, die Eibe
widerrufen, und für nichtig erflären, welche fein Kanzler in
Stalien von den Stäbten Bologna, Imola, Faenza, Forli,
Gefena, Ravenna, Rimini und Urbino hatte ſchpoͤren lafien.’)
ſprünglich Latiner, b. 5. Römer felen, jo flänben fie and) nicht
unter Taiferlicher Botmäßigkeit, und natirlich noch weniger bie
Römer ſelbſt. Vergl. Btoria Fiorentina di Pietro Bo
ninsegni, p. 487.
1) Pertz, Mon. Germ. IV, 408. 404.
) Raynald ad a. 1278, 51.
513
Die. Berufung und Erhebung bes Haufes Anjou auf
ben fichlifchen Thron war ber verhängnißvolle Wende⸗
punkt, burch ben bie Geſtalt Ftaliens, der Charalter der
guelfiſchen Partei, vor Allem aber die Stellung des paͤpft⸗
lichen Stubles umgewandelt wurde. Die Guelfen hörten
auf, die nationale, der Fremdherrſchaft feinbliche, und vor»
zugsweiſe kirchliche Partei zu fein; fie wurden Angiovint,
and damit dem franzöfifchen Einfluffe zugänglich, dem frau⸗
zöfifchen Intereffe dienſtbar. Die Päpfte verloren die Führer
fchaft der guelfiſchen Partei, die nun an die Anjou's und
aubre Prinzen bes franzöflichen Königshauſes überging.
So enftand jenes Baſtard⸗Guelfenthum, welches Dante fo
haßte. Damit war bie hohe Bedeutung des Kaiſerthums
für Italien, für die Päpfte und den Kirchenſtaat in ihrer
Wurzel angegriffen, bie Taiferliche Action in der Halbinfel
gelähmt. Franzoſiſche Earbinäle, franzöſiſche Päpfte (Cle⸗
mens IV., Urban IV., am flärkften Martin IV.) tbaten,
was fie konnten, den Einfluß ihrer Nation und ber beiven
Dynaftien, der Capetingifchen und ber Angiovinifchen, in
Stalten zu befeftigen. Martin IV. ernannte Branzofen aus
dem Gefolge Karls von Anjou zu Rektoren der Tirchenftant-
lichen Provinzen, bezwang das Ghibelliniſche Forli mit fran-
zöfifchen Sälonern,') ernannte Karl zum Senator von Rom,
3) Chron. Pipini, ap. Murat. IX, 720.
v. Döllinger, Papſtthum. 33
614
ber num feine Beamten dort einfekte, während bie Päpfte
fih nur felten mehr in Rom bliden ließen, lieber in Biterbo,
Orvieto, Anagni weilten, fo daß, ald Innocenz V. im
Zahre 1276 wieder einmal in ver Peterslicche Gottesdienſt
hielt, dieß feit dreißig Jahren das erftemal war.) Das
Berhältnig der Päpfte, zumal der franzöftichen, zu den Be⸗
pölferungen des Kirchenſtaats wurde gefpannter, gewaltfas
mer. Beſonders da zeitweife bie Herrfchaft über bie Pro»
vinzen mehr in den Händen Karla von Aujon, als in denen
ber Päpfte lag. Gregor X., der weifefte und ebelfte ber
Päpfte jener Zeit, Hatte allentbalben vie Shibellinen zu
verjößnen und mit den Guelfen zu verfchmelzen geftrebt,
aber feine Nachfolger verließen unter Angiovinifchem Ein⸗
fluffe dieſe Bahn. Man trieb pie Ghibellinen zur Ber⸗
zweiflung; Dann und Interbict wurben als Negierungs-
mittel durch bie gewöhnlich geworbene Anwendung abe
genügt. Die Kriege, welche bie Päpfte mittelft fremder
Conbottiert’3 und theuer bezahlter auslänbifcher Miethlinge
führen mußten, vervielfältigten fich, und bei der Unergiebig-
teit des Einkommens aus dem Kirchenſtaat mußten vie Gelb⸗
kraͤfte zu diefen Kriegen durch kirchliche Mittel, durch Er⸗
findung neuer firchlicher Steuern aufgebracht werden. Schon
in den erften Yahren des 14. Jahrhunderts machte daher
1) Annal, Salisburg. ap. Ports Mon. G. Xi, 801.
515
ein ungenannter Staatemann den Vorfchlag: Die Länder
des Bapftes foliten einem mächtigen Könige gegen bie Ver⸗
pflichtung, dem Papſte das Einkommen aus denſelben frei
verabfolgen zu laffen, in Empbhteufe gegeben werben; fo
würde der Papft, der alle& Friedens Urheber und Beſchir⸗
mer fein follte, keine Beranlaffung mehr haben, Kriege zu
führen und Schäße anfzubäufen.‘)
Die franzöjifchen Paͤpſte verftanden ed, das Bontiftlat
auf lange Zeit binaus in den ausichließenden Beſitz ihrer
Rationalität zu dringen, indem fie eine Mehrheit franzöfi-
feher Carbindle ernannten. Für fie war nun Rom und
Statten die Fremde, fie wollten auf heimiſchem Boden leben,
und fo erfolgte die Berpflanzung der Kurie nach Avignon,
wo fie 70 Jahre blieb. Der Kirchenftaat hatte nun faſt
alle Bedeutung verloren; man betrachtete und behanvelte
ihn in Avignon wie eine entfernte Provinz, die man, ohne
genau zuzufehen, durch Statthalter regieren läßt. Der Ein-
fluß des Parifer Hofe war in Avignon fo mächtig, in man⸗
hen Dingen fo überwältigend, als ob der Papft feinen
Zoll breit in Stalien bejeffen hätte.
Eben um den Anfang des 14. Jahrhunderts war ber
") De recuperatione terras sanctae, in ben Gesta Dei per Fran-
eos, Bongars Il, 324,
. 33%
616
Zeitpunkt des Verfalls für die italiänifchen Freiftanten ge
tommen, die, mit wenigen Ausnahmen, in Folge bürgerlicher
Wirren zu Fürſtenthümern wurden. Bor Allen in ber
Romagna und der Marl, wo die Polenta’s in Ravenna,
die Malateſta's in Rimini, die Manfredi's in Faenza, bie
Orbelaffi’8 in Forli, die Montefeltro's in Urbino, die Vara⸗
no's in Camerino, die Gewalt an fich riffen. Der ganze
Kirchenſtaat warb allmälig zeritüdelt. In Nom und ver
Campagna herrſchte Anarchie und wildes Bauftrecht, fo daß,
nah Billani's Worten, vie Fremden und Pilger wie Lam⸗
mer unter Wölfen waren, und Alles zu Raub und Delle
wurde. Da gelang e6 dem von Bildern altrömifcher Herr-
lichleit erfüllten Tribunen Cola Rienzo, ben vergäng-
lichen Schimmer einer georbneten, gefeßliche Freiheit ver⸗
bürgenden Republil auf kurze Zelt zurüczuführen. Wohl
hatte er die Rechte des Papſtes als einzig rechtmäßigen
Dberheren vorbehalten. Uber weder zu regieren noch zu
kaͤmpfen verftand er, umb ging bald, obgleich vom Papſte
zum Senator ernannt, unb nach feinem erften Sturze zu
rückgeſchickt, an Eitelleit und Ungefchid zn Grunde. Das
gegen vermochte der von Avignon gefanbte Cardinal Albor-
noz (1353 — 1368), groß als Feldherr und Staatsmant,
allmälig die Städte und Gebiete des Kirchenftaatd von
ihren Zwingherren zu befreien. Zugleich wurbe er durch
die „Aegidianiſchen Eonftitutionen,“ welche bis in vie ſpaͤ⸗
577
tefte Zeit fortbeftanben, der Geſetzgeber und, Schöpfer bes
Öffentlichen echtes in ver Romagna.
Der Drud und die Wilftühr der franzöfiichen Legaten
erzeugte bald einen allgemeinen Abfall. Durch bie gegen
Gregor XI. erbitterten Florentiner aufgeregt, empörten fich
im Jahre 1376 binnen neun Tagen achtzig Städte und
Flecken des Kirchenftants, und erflärten ſich entweder für
frei, oder riefen die von Wbornoz entfegten Zwingherren
zurüd. Damals empörte ſich auch Perugia, welches Tange
eiferfüchtig feine Freiheit bewahrt Hatte, wiewohl vie guel-
fifch gefinnten Einwohner ſich gerne „bie Leute der Kirche“
nannten. Die Stabt hatte ſich erſt 1370 dem Papſte un-
terworfen. Nach ihrem Abfalle vermochte fie doch mit dem
neuen Bapfte auf ihre eignen Bedingungen Frieden zu
ſchließen.) In Rom wuchs bamald Gras in den Straßen,
und man züblte nur 17000 Einwohner.
Der große Abfall hatte aber einen Krieg entzündet,
ber in der Weife jener Zeit zugleich mit verſchwenderiſcher
Anwenbung kirchlicher Eenfuren und mit auslänpifchen thie⸗
rifch verwilderten Sälönerhanfen geführt wurde. Da brach
mit dem Tode des Türzlich exit aus Avignon nach Rom
gelommenen Gregor XI. jene verhängnißvolle, in ihren
Folgen unüberfehbare, noch heute nachwirtende Kirchenfpal-
!) Mariotti Memories di Perugia, 1806, p. 81.
'b18
tung aus. „Einen Römer, wenigftens einen Staliäner,
wollen wir,“ rief das Voll vor ven Benftern des Conclave.
Wir Branzofen wollen uns bie Beute des Pontififats mit
Allen, was daran hängt, nicht entwinden laſſen, erwieber-
ten im Stillen die franzöfiichen Earbinäle, und wählten
gegen ben Staliäner Urban VI. jenen Cardinal Robert
von Genf, an deſſen Händen noch das Blut ber unglüd«
lichen Einwohner von Ceſena klebte. In Frankreich galt
bie Nationalität mehr ala Recht und Heil ver Kirche; ber
Gegenpapſt warb anerfannt, und bamit ber Fluch ber Spal-
tung über ganz Europa gebracht. Die ganze Ehriftenheit
und ber päpftliche Stuhl in feiner Ohnmacht, ſich und ber
Kicche zu beifen, vor Allem, empfand es nun, was es auf
fi) Batte, daß das Kaiſerthum zn einem Schatten geſchwun⸗
den, die Schirmvogtei über die Kirche und den Stuhl Be
tri ein leerer Zitel geworben war.
Die Zerriffenheit des Kirchenftants war aufs Köchfte
geftiegen, die alten Häuptlinge waren wieber emporgelom-
men, auch Republiten Hatten fich gebildet oder neue Herr-
fher waren an vielen Orten aufgetreten; ba verkaufte
Urban's Nachfolger, ber gelbbebürftige Bonifactue IX.,
ben Zwingberren und ben Nepublifen gegen fofort zu zah⸗
ende Summen unb einen jährlichen Lehenszins pie Hoheite⸗
rechte, in deren Beſitz fie fich geſetzt Hatten.
Als Martin V. nach beenbigter Spaltung zu Con⸗
519
Ranz zum alleinigen Papfte gewählt, im Jahre 1418 im
Stalien erichten, fand er Rom und Benevent in ven Hän⸗
ben der Nenpolitaner, eine Republik in Bologna, die Ro-
magna, bie Marl und Umbrien in ben Bänden ver-
fhiedener Häuptlinge. Manches wurde gewonnen unb wies
der durch neue Empörungen verloren; mehrere Fürſten er-
fannten den Bapft an. Entfcheidend für die Zukunft des
Kirchenſtaates wurde bie Wahl feines Nachfolgers Eugen's IV.
im Sabre 1431. Denn dieſer beichwor das im Conclave
befchleffene Statut, nach welchem der Bapft alle Lebenträger,
Vicarien und Amtleute des Kirchenftaats nicht für fich allein,
fondern auch für das Garbinalscoliegium, welchem im Er⸗
ledigungsfalle die Landesherrichaft zuftehe, in Eid und Pflicht
nehmen ſollte. Da er fich zugleich verpflichtete, den Car»
binälen die Hälfte aller Einnahmen zu überlaffen, fo ergab
fih damit auch eine Theilnahme und Mitwirkung der Car»
binäle bei allen bebeutenderen Hoheitsrechten.) Damit
war ein neues Stantörecht für den Kirchenftaat, und eine
ſehr tief greifende Beſchraͤnkung ber weltlichen Papftmacht
gefchaffen. Doch war die Sache nur von kurzem Bes
ftanbe.
Als der Spanier Alfons Borgia uuter dem Namen
Calliſtus III. im Jahre 1455 den päpftlichen Stuhl beftieg,
’) Cap. Raynald. ad a 1431.
620
befanden fich im Kirchenſtaate noch acht fürſtliche Famllen
im Befiß ihrer Leben: die Manfredi's in Faenza und Imola,
die Ordelaffi's in Forli, Aleſſandro Sforza in Belaro,
Domenico Malateſta in Eefena, Sigismondo Malatefti in
Rimini, Feberigo von Montefeltro in Urbino, die Barano’s
im Eamerino, die Eſte's in Ferrara. Alle übrigen Häupt⸗
Iinge waren früher fchon befeitiget worben.‘) In Rom
and ber Campagna vermochten die Päpfte diefer Zeit, gleich
ihren Vorgängern, nur wenig. Gegenüber ver Willlkühr
und den iwechfelfeitigen Feindſeligkeiten der Barone, bie
noch immer den Zuſtand des Fauftrechtd fortpflanzten, und
ihre Verwandten und Angehörigen unter den Garbinälen
hatten, beſaſſen fie keine gewaffnete Macht; dann auch lie⸗
Ben es die häufig kurzen Pontifilate und bie Unterbrechungen
der Conclaven zu Teinen burchgreifenden und nachhaltigen
Maßregeln kommen.
Die centrifugale Richtung, der Zug zur Zerfplitterung,
zur Aufrichtung vielee Sonverberrfchaften war feit anberts
halb Jahrhunderten fo vorherrfchend In Stalien, daß umn
auch am Ende bes 15. Jahrhunderts die Päpfte davon er-
griffen wurden. Zuerft Sixtus IV., der einen feiner Ne
1) Bergl. Righi Annali di Faenza, 1840, II, 204, sq. Com-
pendio della Storia d’Imola, 1810, 241 sq. Ugolini
Storia dei Conti e Duchi d’Urbino, Firenze 1859, I, 840 &o.
a
poten zum Herrn von Imola und Yorli, ben andern zum
Fürften von Sintgaglia und Monbovio machte. Das Sta-
tut von 1431 bezüglich der Nechte der Earbindle erwies
fich in folchen Fällen ftets als unwirkfam. ‘Darauf gelang
es Alexander VI. und feinem Sohne Eäfar Borgia, alle
Fürſtenthümer im Kirchenſtaate mit einziger Ausnahme bes
Herzogtums Montefelteo zu ftürzen, felbft vie mächtigen
Barone Roms und der Campagna zu verjagen. Alerander
wollte feinen Sohn zum Fürften eines anfehnlichen, wohl
ben größeren Theil des gefammten Batrimontums umfaffen-
ben Staate® machen. Es' gelang nicht. Yulius IL, der
dem Borgia Alles wieder abnahm, fette indeß das begon-
nene Wert der Nüdforverungen fort, nöthigte bie Venetia-
ner, die erworbenen Gebietsheile der Romagna wieber her⸗
auszugeben, ftürzte bie Herrichaft ber Bentivogli in Bologna,
die der Fredduccini in Fermo, und ward, nach Innocenz III.
und Albornoz, ber britte Begründer oder Wiederherſteller
des Kirchenftants. Sogar Parma, Piacenza, Reggio ge
wann ber päpfiliche Greis als erobernder Feldherr. E86
war noch nicht fange Her, daß Heine Häuptlinge mit ein
paar Schlöffern und Stäptchen der weltlichen Macht bes
Papftes getrogt hatten; jetzt flößte fie felbft ben größten
Staaten Scheu ein.
Da eine georonete einheitliche Regierung in den Läns
‘dern des roͤmiſchen Stuhls noch immer nicht beftand, und
622
bie einzelnen heile in Folge ber alten Zerfplitterung ur
ſehr lofe oder gar nicht zufammenhingen, fo wuchfen bie
Häuptlinge und Heinen Thrannen, befonders In der Marl,
immer wieber wie aus dem Boden hervor. Leo X. ver-
trieb fie bis auf zwei oder ließ fie hinrichten. Bor allem
auf die Vergrößerung feines Haufes, des Mebickifchen, bes
bacht, nahm Leo dem Herzog von Urbino, Francefco Maria
della Novere, fein Herzogthum, um es feinem Nepoten
Lorenzo dei Mebici zu geben. Delle Rovere eroberte es
freilich nach Leo's Tode zurüd.
Die nun, feit dem Ausgang des 15. Jahrhunderte,
in ganz Europa der Uebergang aus ben mittelalterlichen
Zuftänden in die neue Zeit fih rafcher ober langſamer
vollzog, begann man auch im Kirchenftaate zwei in ber
Richtung der Zeit gelegene Ziele zu verfolgen: einmal bie
ftaatlihen Bande enger zu knüpfen und das Ganze gleich-
förmiger zu machen, und ſodann, was hiemit zuſammen⸗
Bing, die päpftlicde Herrichaft bis zur fchrankenlofen Macht-
fülle zu erweitern. Es ſchien um fo nothwendiger, als
gerade hier das alte, völlig finnlo® geworbene, Faltionswefen
der Buelfen und Ghibellinen ſich noch immer, ſelbſt unter
ben Lanblenten erhielt, und zu zahlreichen Verbrechen mb
Gewaltthaten Anlaß gab. Leo X. hatte bie Regierung
großentheild Slorentinern, feinen Landeleuten, anvertraut,
welche, zunäcft um Geld zu fchaffen, argen Drud übten;
623
die Städte fandten eine Gefanbtichaft nach der andern,
um lage zu führen. Bergeblih; man war vielmehr in
Rom bemüht, die Freiheiten, welche manche Städte noch
befaßen, zu brechen; bieß vollbrachte Clemens VII. im
Sabre 1532 bei Ancona‘) durch einen plöglichen Ueberfall
und milttärifche Befetzung, Paul III. im Sabre 1540 bei
Berugia, ale die Stabt wegen einer Erhöhung des Salz
preifes fich gegen bie päpftliche Herrſchaft erhob, fich aber
bald unterwerfen mußte, und nun alle ihre Nechte und
Freiheiten verlor.’) In ähnlicher Weife waren früher ſchon
Ravenna, Faenza, Jeſi geitraft worden. Seit der Mitte
bes 16. Jahrhunderts war Alles im Kirchenſtaate vollftän«
big unterworfen; Städte und Barone gehorchten unbebingt.
Doch führte der Nepotismus einzelner Päpfte noch, in grel⸗
lem Widerſpruche mit ber vorherrſchenden Richtung auf
Eonfolivirung des Staates, zu Dismembrationen. So machte
Baul III. feinen Sohn Pier Luigi Tarnefe zum Herzoge
von Barma und Piacenza, und das Land ging unwieder⸗
bringlic für den römischen Stuhl verloren. Paul IV.
beraubte die Familie Colonna des Herzogthums Palliano, um
es feinem Neffen Caraffa zu geben; doch biefen erreichte
fofort nach dem Tode des Oheims das Strafgericht des
1) Relasioni degli Ambasciatori Veneti. VII, 55.
2) Mariotti p. 118— 160.
524
Nachfolgers Pins IV. Damit nahm viefe Gattung bes
Nepotismus, welche bie Verwandten eines Papftes auf
Koſten des Kirchenftantes vergrößerte, ein Ende; nachbem
fie von Sixtus IV. bis Paul IV. gedauert, verbot Pius V.
in der nachbrüdlichiten Weiſe jede Belehnung mit irgend
einer Befigung der römifchen Kirche, unter welchem Titel
und Vorwand es auch fel,’) belegte diejenigen im voraus
mit dem Banne, welche auch nur dazu rathen würden, umb
ließ fein, nachher noch mehrfach beftätigtes und auch auf
temporäre Veräußerungen außgebehntes, Geſetz von allen
Cardinälen unterfchreiben. Bon dieſer Zeit an traten nur
noch zwei bedeutende Ereigniffe in ver äußern Gelchichte
des Kirchenftante® ein: der Heimfall von Fervara beim
Tode des Herzogs Alfons LI. im Jahre 1506, und ber des
Herzogthums Urbino im Jahre 1631.
Im 18. Jahrhundert Tamen Zeiten, in denen bie
Bäpfte die bittere Erfahrung ihrer Schwäde und Schut⸗
tofigleit den Höfen gegenüber machen mußten, Zeiten in
denen der Kirchenftaat, weit entfernt, bie päpftliche Unab⸗
bängigfeit zu fichern, vielmehr als ein Mittel betsachtet und
behandelt wurde, einen Papſt zu Schritten zu zwingen, die
er fonft nicht gethan Haben würde. Die Bourbonifchen
Höfe ahmten das Beifpiel Kaifer Heinrihe V. nad, ber
1) Bulla Admonet nos. 29. Mart. 1567.
625
durch bie Verheerung bes römtichen Gebiets den Papſt
Paſchalis IL. nöthigte, ihm das preißzugeben, wogegen
die Kirche fchon feit dreißig Jahren gelämpft batte: bie
Inveſtitur. Man hatte e8 nicht für möglich gehalten, daß
ein Bapft die Hand zur Zerftörung einer Gefellfchaft bieten
würde, gegen welche keine einzige wirkliche ober bewieſene
Anklage vorlag, mit welcher, von andern Gründen abges
fehen, bie meiften und blühendſten Miffionen unter ven
Heiden zu Grunde geben, die Kirche um viele Tauſende
von Seelen ärmer werben mußte. Aber die Bourbonifchen
Höfe wußten auch das Unmögliche zu erreichen; fie faßten
den römischen Stuhl gerabe beim Kirchenftant, fie nahmen
ihm Avignon und Venaiſſin, Benevent und Pontecorvo,
brobten bereit auch Caſtro und Ronciglioni zu nehmen,!)
und als fie den ftandhaften Clemens XIII. zu Tode ges
quält Hatten, forgten fie durch ihren Anhang unter den
Earbinälen dafür, daß ein Mann, ver fich zum Vollſtrecker
ihres Willens bergab, auf den Stuhl bed Apoftelfürften
gelangte. Und als zwei Päpfte nacheinander, Pins VI. und
Pius VII, ruhig in ihrem Lande ausharrend, ſich von ven
franzöfifhen Machtbabern zu Gefangenen machen, nach
Frankreich fchleppen und einkerkern ließen, da konnte man
Vergleiche anftellen zwifchen fonft und jegt. Ein Alexan⸗
2) Theiner’s Geſchichte Clemens XIV., I, 97.
626.
der IIL, ein Imnocenz IV. wäre binüber nah Sicilien
gegangen, und Hätte bort, den galliſchen Thrannen uner-
reichbar, unter engliihem Schutze die Kirche zu regieren
fortgefohren. Nicht fo bie beiden Pins; beide höchft ges
wiſſenhaft, ftellten fie doch beide den Landesfürſten gewifjer-
maßen Höher als das Kirchenhaupt, fie wollten ihren Staat,
ihr Volk nicht verlaffen, fte zogen vor, gleich jenen roömi⸗
fchen Senatoren den Gallier auf ihren Stühlen zu erwarten,
und — die Welt weiß, wie fie behandelt wurden.
Am Schluffe des 18. Yahrhunderts aber geſchah, was
in taufend Jahren nicht vorgelommen war: Pius VL. mußte
in dem Bertrage von Xolentino im Jahre 1797 nicht nur
Avignon und Benaiffin, fondern auch Die drei Legationen:
Navenna, Ferrara und Romagna an Frankreich abtreten.
Ihm blieb Rom, das Patrimonium, Umbrien, und man
ließ ihn die Rückgabe der Mark Ancona hoffen. Es war
leicht voraus zu fehen, daß man ihm balb auch das Uebrige
nehmen würbe, aber Pius erkannte doch faltiih an, daß
es Fälle gebe, in denen der Papft, obgleich nicht Eigen»
thümer, fondern nur Depofitar des Kirchenftants, eines
Theils deſſelben fich entäußern dürfe, wenn nämlich die
eigentliche Beftimmung des Staates auch ohne bie abge»
tretenen Beſtandtheile noch erreicht werben koͤnne.
627
2. Innere Dufände des Kirchenſtaals vor 1780.
Macchiavelli's Bemerkung, daß ber Kirchenftaat
keiner Vertheidigung gegen äußere Feinde bebürfe, da er
durch die Religion gefchügt fei, wurde fpäter noch oft wies
derbolt; man fah einen großen Vorzug barin, daß das
Sand feines ftehenden Heeres, keiner koſtſpieligen Befeſti⸗
gungen bebürfe, und bie Einwohner doch im Gefühle un⸗
getrübter Sicherheit leben und inbuftriellen Unternehmungen
gefahrlos fih widmen könnten.) Seit Paul IV. ven Kö⸗
nig Philipp von Spanten förmlich zu einem Sriege, ben
diefer nur mit dem größten Widerwillen führte, gezwungen
batte, wırde fein Theil des Kirchenftants mehr feinplich
überzogen, bis Urban VILL, eben auch wie Paul IV. durch
feine Nepoten verleitet, den verftanblojen Krieg von Eajtro
berbeizerrte, der, mit einem unebrenbaften Frieden endend,
durch erhöhte Auflagen, durch Häufung ver Schulden, durch
Berarmung des Landes, durch die verhaßte Anwenbung ber
geiftfichen Waffen zugleich mit ven weltlichen, eine lange
fortwirtende Salamität für das Papſtthum wie für das Land
wurbe.’)
]) Relas. Venet. VIl, 407.
N Start drückt fi Über diefe Folgen ber Kardinal Sacchetti
in einem Schreiben an Alexander VIL aus, das Bfter gedruckt
528
Man bat die Periove bed großen und des Heinen
Nepotismus unterſchieden. In jener wollten bie Päpfte
für ihre Familien große Fürſtenthümer gründen; in ber
fegteren, die mit Gregor XIIL begann, mit der Bulle
Innocenz XII. und dem Tode Alexanders VIII. (1691)
endete, war das Streben darauf gerichtet, ihre Familien
burch reichliche Ausftattung und Nangerhöhung zur Gleich
beit mit den erſten adelichen Häufern bes Landes zu erhe-
ben. So die Buoncompagni’8 durch Öregor XIIL, die Pe⸗
retti's durch Sixtus V., die Aldobrandini's durch Cle⸗
mens VIII. die Borgheſe's durch Paul V., die Ludovifi's
buch Gregor XV. Die Bereicherung der Barberini's durch
Urban VIII. übertraf Alles, was bis dahin noch geſchehen
war. Zugleich wurde häufig ein Verwandter als „Sarbinal
Padrone“ mit der oberften Leitung ber Regierung betraut.
Geraume Zeit hindurch meinte man, ein Carbinalnepot
birfe an dem päpftlicden Hofe nicht fehlen. Wenn dann
ber Nachfolger die Nepoten ver letten Regierung zur Re
chenſchaft zog, verfolgte, fo warb zugleih das Andenken
bes vorigen Papftes entehrt, der Autorität des Pontififate
eine Wunde gefchlagen. Die Päpfte des 18. und 19. Jahr⸗
hunderts haben fich von viefen Gebrechen unb argen Mis-
if, zieht bei Massimo d’Aseglio: La Politique et le
droit chretien, Paris 1860, p. 165.
529
bräuchen im Ganzen frei erhalten. Nur Pius VI. mit
feinen Brafcht’8 bildete eine Ausnahme Der Nepotismus
der Päpfte, kann man fagen, tft erlofchen, und lebt nur noch
in der Gefchichte. Anders verhält es fich mit dem Nepo-
tismus der Sarbinäle und Prälaten.
Wäre das Statut Eugen’8 IV. in Kraft geblieben, fo
hätte das Collegium ver Cardinaͤle eine wohlthätige Schrante
in Sachen ver Landesregierung gebildet. Der Nepotismus
hätte nicht fo fchäblich werden können, das Günftlingsmwefen,
das Treiben eines Camillo Aftalli, Mafcambrunt,
Don Mario, Eofcia wäre verhindert worden, ober hätte
boch minder ververblih gewirkt. Das Land und feine Ins
tereffen hätte an ven Carbinälen berechtigte Fürſprecher und
Vertreter gehabt. Allein jenes Statut war bald zum tobten
Buchſtaben geworben. Die Päpfte fühlten fi und han-
delten als völlig abfolute Gebieter. Selbft als Paul IV.
den Cardinälen die Beraubung ver Colonna’8 zu Gunften
feines Neffen, und den Krieg gegen den Kaiſer und Spanien
ankünbigte, hörten fie ihn mit nievergefchlagenen Augen an,
ohne ein Wort der Gegenrede zu wagen. Seitbem- verhielt
fih das Collegium völlig pafjiv. Als Corporation diente
es hauptſächlich, um Allocutionen über wichtige Ereigniffe
zu vernehmen, Zeuge zu fein bei der Veröffentlichung von
Berträgen und beveutenden Verfügungen, vie Papftwahl
vorzunehmen und bie böchfte Gewalt während der Sedis⸗
d. Dölinger, Papſtthum. 34
0
bacanzen zu repräfentiren. Der neugewählte Papft trat
alsbald in den Vollgenuß einer Sonverainetät ein, deren
Schranfenlofigleit in ganz Europa nicht ihres gleichen hatte.
Paruta ſchildert im Jahre 1595 dieſes Verhältnig zwi-
ſchen Papft und Carbindlen; feit Pius IL, fagt er, fei die
Autorität der Carbinäle fo binabgebrüdt worben, und hät»
ten die Päpfte Alles an fich gezogen. Jetzt würben dem
Collegium einzelne Angelegenheiten nur noch in Form einer
Promulgation, und nicht um deſſen Rath zu erholen, mit
getbeilt. Und wenn in feltnen Fällen ver Papft einmal
ihren Rath begehre, ober vielmehr zu begehren fcheine, fo
befchränte man fich darauf, das vom Papſte Vorgefchlagene
zu loben.')
Noch im Anfange des 16. Jahrhunderts, unter Julius IL.
beſonders, genofjen vie Städte große Freiheiten; es war,
fagt Guicciardini, dem Papfte darum zu thun, dem
Volke Neigung zu den Männern der Kirche beizubringen, fo
bag man in Bologna bei der Eitesleiftung ben Uebergang
an die päpflliche Wegierung als eine Verſetzung aus dem
bisherigen Zuſtand der Knechtſchaft (unter den Bentivo⸗
glio’8) in den ber Freiheit fchilvderte, wo bie Bürger, in
friedlichem Genuſſe des Vaterlandes, Theil nähmen an der
Regierung wie an ben Einkünften.”) Und ver Zeitgenoffe
!) Relaz, Ven. X, 413.
8) Lib. 7, oc. 1. Lib. 9, o. 5.
531
Sulius’ IL, Macchiavelli, fchilvert e8 als das Eigen-
thümliche des SKirchenftantes, daß ver Beſitzer ihn nicht zu
vertbeidigen brauche, und feine Untertbanen nicht vegiere,
die denn auch nicht regiert zu werben begehrten, und nicht
baran bächten, fich lo8zureißen.')
Erft im Laufe des 16. Jahrhunderts bildete fich eigent«
lich die Negierung des Kirchenſtaates durch Geiftliche aus,
und wurde die Verwaltung zugleih in Rom centralifirt.
Bor 1550 kamen Laien als Häupter der Verwaltung, we⸗
nigften® in der Romagna, häufig vor. Aber merfwürtiger
Weiſe zogen bie Stäpte felbft Prälaten den weltlichen Go⸗
vernatoren vor, und begehrten fie ausdrücklich. Fermo er-
hielt fi bis 1676 in dem Nechte, einen Verwandten des
Papfted zum Governatore zu haben; bann trat eine eigne
Kongregation von Prälaten, blos für dieſes Gebiet, an
deſſen Stelle. Bologna behielt manche Vorrechte, barunter
das eined eigenen Wejidenten in Rom, leiftete auch bis⸗
weilen beharrlichen und wirkſamen Widerſtand. Im Ganzen
aber gab es doch, wenigftens feit Ende des 16. Jahrhun⸗
derts, feine individuelle oder corporative Selbitftändigkeit
mehr, weder ber Städte noch der adelichen Vafallen. Bon
ber Stabt Rom fagt der Carbinal de Luca, fie ftelle noch
ein in feiner Art magiftratifches Schattenbild eined Mus
2) 1. Principe. o. 11.
34°
582
nietpiums vor.) Doc, ließ man zu, baß einige ber grö-
Beren Städte fich ziemlich felbftftänpig regierten. Auch bie
Grundherren konnten in ihrem Gebiete fich frei bewegen.®)
Sirtus V., den man als den vornehmften Begründer
bes modernen päpftlichen Regierungsſyftems betrachtet, bil⸗
dete das Inſtitut der ftehenden Con gregationen aus, wohl
berechnet für jene Zeit, wo es galt, vem Nepotismus und
Bavoritismus einen Damm, eine Einrichtung entgegenzu-
ftellen, welche Stabilität und Gleichförmigleit in die Be
handlung ver Gefchäfte brachte, und die fchlimmften Aus-
wüchfe ver Willkühr befchräntte. Im Zufammenbang bie-
mit gelangte nun auch die Prälatur als bie eigentliche
höhere Beamtenllaffe des Kirchenftants zur Entwidelung.
Man fett den Anfang derfelben in die Zeit Gregor's XIII.
In älteren Zeiten nannte man bie geiftlichen Beamten:
Eurialen. Im engeren Sinne wurbe die „Prälatur” als
das Noviziat, die Vorbebingung und Pflanzfchule für bie
höheren Aemter betrachtet; man mußte (feit Alexander VIL)
ein Einlommen von 1500 Scudi nachweifen, womit alfo
1) Dottor volgare, lib 15, c. 84
2) Auch die venet. Relation von 1615 (Cod. ital. 868) be
merkt: in Rom beftänben noch bie Formen municipaler SchhR-
verwaltung, aber das feien alle® Dinge, che servono piuttosto
per apparenzs, che per assistenza di governo; bie Berathun-
gen hingen völlig von bem Willen bes Papſtes ab.
633
alfe Unbemittelten von dem Stande und ver ihm eröffneten
Laufbahn ausgefchloffen waren. Ä
Eine bevenkliche Laft für das Land wurde bie große
Menge von römischen Beamten, deren Stellen die Päpfte,
wenn fie fih in finanziellen Verlegenheiten befanden, ges
Schaffen Hatten, nur um fie zu verfaufen. Ihre Gefchäfte
waren unbebeutend, zum Theil waren ed auch bios Titel
ohne jedes wirkliche Amt. Der Käufer zahlte entweber eine
jährlide Summe, over eine einmalige Averfalfumme, und
konnte feine Stelle auch wieder verkaufen. Angewiejen war
er nicht auf ein fire Gehalt, fondern auf Sporteln und
Erträgniffe des Amtes. Schon im Jahre 1470 gab es
650 folcher käuflicher Stellen; darauf ſchuf Sirtus IV.
ganze Collegien, um deren Stellen zu verlaufen, unb ba
bie folgenden Päpfte, vor allen Leo X., dieſem Beiſpiele
nachahmten, fo gab es unter Paul IV. bereits 3500 fol
her Stellen. Man berubigte fich hiebei damit, daß man
doch der Nothwenpigkeit, das Volt mit neuen Auflagen zu
belaften, überhoben fe. Es war eigentlich ein verſtecktes
Anleihefgitem in der Form von XLeibrenten. Die Folgen
bievon machten fich vorzugsweife im firchlichen Gebiete fühl
bar, denn hauptſächlich auf die Zaren im Bereiche ber
Denefizien und Difpenfationen waren bie Käufer anges
wiefen. Aber auch in der Verwaltung bes Sirchenftaate
empfand man die Wirkungen, da auch die Regierungsftellen
DM
mitunter verkauft wurben,') und ba vie Eloße Eriftenz einer
zablreichen Kaffe von eingelauften und ihre Stelle wie
eine Waare, einen Hanbelsartifel behandelnden Beamten am
Ende dem fiscalifchen Geift in der gefammten Verwaltung
das Uebergemwicht verfchaffen mußte.) Es war eines der
Berbienfte, welche ber treffliche Innocenz XII. ſich erwarb,
daß er im Yahre 1693 dieſe Käuflichkeit ver Stellen, durch
Nüderftattung des Kaufpreiſes an die Inhaber, abichaffte.”)
Aber freilich konnte er die folgen der über zwei Jahrhun⸗
derte beftandenen Einrichtung, die bis in die jüngfte Zeit
nachgewirkt haben, nicht mit vertilgen.
Da die Geiftlihen Bier einen fo mannigfach bevor-
zugten und privilegirten Stand bildeten, wie das in keinem
andern Lande der Welt ver Fall fein Eonnte, fo waren denn
1) So erwähnt 3. B. Saracinelli, Notizie storiche della
eitt& d’Ancona, p. 335, baß bie Regierung von Ancona an
Benebetto Accolti am bie jährliche Eumme von 20,000
Ecudi verfauft warb.
N) Murstori Annali, a. 1693, XVI., 237, ed. Milan.
2) Per la qual cosa si viene a riempire la corte d’uomini
mercenarii e mercanti, — — non avendo detti mercens-
rii d’offici involto l’animo che in cose meccaniche e basse
— — si che tolta l’economia esteriore ogni altra eosa ai
reduce a deterioramento. So ber venetianiihe Botſchafter
Grimani ımter Clemens IX. Tesori della corte Rom.
p. 426.
BE. ZEE
auch die beiden Klaſſen wie durch eine breite und tiefe
Kluft von einander gefchteden, und die Laien gegen die
ihnen fo überlegenen, fo von allen Seiten gefchirmten
und unverletlichen Geiftlichen von einer Eiferfucht erfüllt,
die oft in entſchiedne Abneigung überging. Einerfeitd wird
ſchon im 16. Jahrhundert mehrfach erwähnt, daß im Volle
Misftimmung berrfche Über pas Regiment der Geiftlichen,')
andrerſeits fiel e& dem berühmten Staatsmann und Hiftoe
riter Baolo Baruta, einem ernft religiöfen Manne, im
Jahre 1595 auf, daß man in Rom bie Erhaltung ber Vor⸗
rechte und Immmnitäten ber Geiftlichen als die erite und
wichtigfte Angelegenheit behandle. Er babe, berichtet er,
bäufig nicht ohne Verwunderung und Aergerniß bemerlt, daß
ſelbſt ungeiftlich lebende Prälaten hoch geachtet und belohnt
würden, wenn fie nur bie Vorrechte des geiftlichen Stan⸗
des gegen die Lalen vertheibigten, fowie man es auch mit«
unter einem Prälaten zum Vorwurf rechne, daß er zu fehr
bie Laien begünſtige. Es fehe aus, ald ob Geißliche und
Laien nicht zu der einen und felben Heerde gehörten, nicht
innerhalb der Einen Kirche fich befänden.*) |
Man bemerkte ferner, daß, feitvem feine Päpfte mehr
aus geiftlichen Orden erhoben wurden, (nah Sirtus V.
1) Governo dei preti, feitbem flebenber Ausorud.
!) Relasioni Venete, X. 375,
_ 536
ft. 1590, war Benebilt XIII. 1724 wieber ber erite Monch
auf dem päpftlichen Stuble) und feitvem tie Repotenre-
sierung Gebrauch geworben, die Ordensgeiſtlichen felten
“ mehr bervorgezogen ober gebraucht wurden. Alles war in
den Hänben ber Weltgeiftlichen, beſonders derer, die das
leifteten, was bie Orbensgeiftlichen nicht konnten: ben Res
poten zu bienen, ober bie durch ihre juriftifchen Studien
fich beffer zu eignen fchienen.‘)
Auffallend war ber Contraft, ven vie geiſtliche unb
bie weltliche Verwaltung der Päpfte darbot. Die erftere
trug durchaus das Sepräge würbevoller, auf feſten Regeln
und alten Ueberlieferungen ruhender Stabilität; pie Re⸗
gierung des Landes dagegen war bem häufigen Wechfel ver
Berfonen, ver Maßregeln, ver Syſteme preisgegeben.‘) Die
) Grimani, ber biefe VBerhältniffe ſchilbert, behauptet: nelle
concorrense un pretuccio ignorante 6 vizioso otterrä il
premio sopra il religioso dotto e dabbene, unb beſchreibt
dann bie nachtheiligen Folgen, unter anbern auch bie, daß es
fehr an brauchbaren Männern für die Aemter bes Kirchenflaats
fehle. Diit dem Aufhören bes Nepotenweſens (feit Innocenz XII.)
mußten dieſe Zufänbe fich beffern.
*) Die Relation (Cod. ital, 358) della qualitk e abusi della
Corte di Roma f. 127 bemerkt: Die fleten Beränberungen in
ber Berwaltung fielen Jedem, ber nah Rom komme, fo auf,
baß Manche meinten, bie Urſache müffe in ber Luft, im Mima
ber Stabt Tiegen. Die Thatjache ſelbſt wird allgemein bemerkt.
637
Pontifikate waren, im Vergleich mit ben Regterungen welt
licher Fürſten, kurz: burchfchnittlich bauerte die Regierung
eines Papftes neun Jahre.,) Selten gefchah es, daß ber
neue Papft in weltlichen Dingen das Syſtem bed Vor⸗
gängers beibebielt; unter dem lebhaften Eindrud ber Un⸗
zufrievenheit, bie gewiffe Uebelſtaͤnde ver bisherigen Ver⸗
waltung erregt hatten, trat er die feinige an, und war alfo
um fo geneigter, feiner Herrichaft gleich burch entgegen-
gefegte Maßregeln ein günſtiges Vorurtheil zu erwecken.
So hat man bemerkt, daß bezüglich des Anbau’ der römi⸗
fhen Campagna jever Papit ein andres Syſtem befolgte,
was denn freilich die Folge hatte, daß in ber Hauptfache
nichts zu Stande gebracht wurbe.
Bor Allem waren es die Perfonen, die jeder neue
Papft wechjelte, was denn dazu führte, daß gerade bie ein,
flußreichften Aemter nicht lange in benfelben Händen blieben,
So heißt es in einer Inftruction für die fpanifchen Gefanbten
in Rom aus bem 17. Jahrhundert, beigebrudt ber Schrift:
La monarchia di Spagna erescente e calante, 1669, p. 7.
Questa corte (ber römiſche Hof) & variabilissima, e cosi
bisogna, come il buon piloto, mutar le vele conforme al
vento che soffia &c. Bergl. au) Cantü Storia degli Ita-
liani, V, 660.
1) So folgten fih 3. B. in Frankreich in zwei Jahrhunderten
(von 1589 — 1789) fünf Könige, in Deutſchland neun Kaifer,
in Epanien fieben Könige, in Rom aber 23 Päpfte.
538
und die Staats- und Gefchäftsmänner nicht hinreichende
Beit Hatten, fich vie rechte Kenntniß und Erfahrung zu
erwerben, ober bie erworbene praltifch zu verwertben. Pa⸗
ruta bebt den großen Nachtheil Hervor, ven biefe Sitte
mit jich führe. Die neuen Päpfte feien gewöhnlich burch
Güte over Gelehrſamkeit amegezeichnete, aber in den
Staatsgefchäften unerfahrene Männer?) bebürften alfo um
fo mehr alter und erfahrner Minifter und eines feften,
beharrlichen Rathes. Statt deſſen babe der Neugewählte
nicht® Eiligeres zu thun, als die vornehmften Aemter feinen
Nepoten oder Günſtlingen und Landsleuten zu verleihen.?)
Clemens IX. war der erfte, der von dem Gebrauche, zum
Verdruſſe feiner Landsleute, der Biftojefen, abwich, und,
außer in einigen wenigen hohen Stellen, alle Beamten fei-
nes Vorgängers beftätigte.’)
) Es if in ber That merfwllrbig, daß bie fpätere Praris im
biefem Punkte jo ganz von ber des Mittelalters, in ber Zeit
wo bie Papftwahl von äußern Einfläffen frei war, abgewichen
if. Im eilften, zwölften, breizehnten Jahrhundert werben häufig
jene Männer zu Päpften gewählt, welche fchon unter einem
ober zwei Päpften das widhtigfte Amt ber römifchen Kirche
beffeibet hatten. So Gregor VII, Urban II, Gelafius 11,
Lucius II., Alerander III, Gregor VII, Gregor IX., Aleran-
ber IV. Jetzt iſt ber Carbinal-Etaate-Eefretär ber eigentlidhe
Regent, und man betrachtet es als Regel, daß er nie zur pärf-
fihen Würde gelange.
?) Relazioni Venete. X, 420.
2) Grimani relaz. in den Tesori, p. 417.
539
Die Finanzverwaltung der Püpfte feit dem Beginne
des 16. Jahrhunderts erfcheint, wenn man fich an bie Ziffern
and die angemwantten Mittel hält, in ungünftigem Lichte.
Trotz ber vervielfältigten Auflagen, vie um fo drückender
waren, als der Wohlftand der Bevölkerung Teineswegs im
Steigen begriffen war,’) wuchs bie Staatsfchuld fortwährend,
da tie Püpfte mitteld der Errichtung von Monti, fo wie
durch den Aemterverfauf die Einnahmen immer wieder vers
äußerten. Man bemerkte, daß feit Sirtus V. die Päpfte
ihren Nachfolgern nur Schulden Hinterließen.) Hatten fie
unter Clemens VIII. 12,242,620 Scudi over 17,751,799
Rthlr. betragen, fo daß fie drei Viertel der ganzen Staats⸗
Einnahmen zur Verzinfung erforverten; fo hinterließ Innos
cenz X. 1655 bereit8 48,000,000 Seudi Schulden. Das
Motiv aber zu fo ſchweren Belaftungen des Staates war,
abgejehen von den zwei unnützen italiänifchen Kriegen und
den Verjchleuderungen der Nepoten und ihrer Günftlinge,
ein für die Päpſte rühmliches. Ste durften fich der Ver⸗
1) Bon Clemens IX. bemalt Muratori, XVI, 92: er habe
fortwährend auf Mittel gefonnen, fein Boll von ben vielen,
durch feine Borgänger auferlegten Abgaben zu erleichtern, unb
eine Congregation deshalb eingeſetzt. Das war aber ſchon we⸗
gen ber Etaateſchuld nicht möglich.
?) Grimani relasione, in ben Tesori della Corte Romana,
1672, p. 429.
— —
pflichtung, die katholiſchen Mächte in den religidſen Kämpfen
bed 16. und 17. Jahrhunderts, beſonders aber in ben Tür⸗
kenkriegen mit Gelpbeiträgen over mit Truppen und Schiffen
zu unterftügen, nicht entziehen. Sie Hatten bie Aufgabe,
in Italien gemeinfchaftlich mit den Venezianern die Vor⸗
mauer der Chriftenheit gegen ven Erbfeind im Orient zu
fein, von ihren Vorfahren überlommen. Frankreich, bes
ſonders aber Polen, Ungarn, ver Kaijerhof, am häufigften
die Venezianer, begehrten und empfingen große Summen.
Alle Berfolgten und Beraubten in den füpöftlichen Ländern
wandten ſich immer zuerft an fie, und fanden in der Regel
großmäthige Hilfe.) Die Laften, welche die Benöfferung
trug, waren alſo Opfer, welde für das allgemeine Wohl
ber Ehriftenheit gebracht wurden, aber es waren zwei Uebel«
ftände dabei. Einmal gelangte das Land zu feinem auf
Induftrie gegründeten Wohlſtande, die Städte blieben, mit
wenigen Ausnahmen, Hein und arm; und da man Alle ans
1) Auch Ranke, die römiichen Päpfte, I, 422, fagt: „Die Päpfe
wünſchen das Land zu verwalten wie eine große Domäne,
beren Rente alsdann zum Theil wohl ihrem Haufe zu Etattem
käme, hauptfächlih aber für die Bedürfniſſe ber Kirche ver»
wenbet würde.“ Was er von ber Sorge für bie eigne Familie
fagt, gilt doch nur von den Päpften vor 1691, umb aud
ba nicht von Allen, namentlich nicht von Clemens IX., einem
Papfte, den man vortrefflich nennen müßte, wenn ex nicht allzu
Inbolent und energielos geweſen wäre.
541
dem Auslanbe bezog’) warb das Land trotz feiner treffli⸗
hen Naturgaben immer ärmer. Sobanı war bie Finanz⸗
Berwaltung natürlich geheim, von Öffentlicher Rechenſchaft
war nicht die Rede; ein Teſoriere durfte nur Cardinal
werben, fo war er, vermöge ſeines Standesvorrechts, jeber
Berantwortlichkeit überhoben. Das Volk fühlte nur den
Drud der wachfenden Abgaben, und wurbe immer unzu⸗
frievener mit dem „Priefter-Regiment.” Diefe Abneigung
muß fchon zu Baruta’s Zeit, um 1595, arg geweſen fein.’)
Das Vebel warb aber im folgenden Jahrhundert noch grö-
er, und wenn auch die Behauptung des Cardinals Sac⸗
chetti eine Mebertreibung ift, daß im Jahre 1664 vie Be⸗
völferung nahezu um bie Hälfte vermindert geweſen ſei, fo
—
N) Die hebt eine venezianiſche Relation v. J. 1615 (im Cod.
Ital. 358, f. 45, der Münchner Bibliothek) beſonders hervor:
Quasi tutte le cose, che si usano, sono portate da paesi
forastieri &c.
?) Relas. Ven. X, 896. Bon ber gravezza quasi insopportabile
dell’ imposizion rebet bereits Tiepolo um 1570, f.
Ranke I, 421. Im Jahre 1664 klagt der Cardinal Sac⸗
chetti wieder Über il numero innumerabile delle gabelle
u. ſ. w. Durch Pallavicini erfährt man, daß das Boll
dem Nepotenwefen und ber Ausflattung und Bereicherung ber
päpftlichen Familien die Schuld bes Abgabendruds zuſchrieb:
Populus, qui prae multis vectigalibus humeris sibi ferre
videbatur recentiores pontificias domos tot opibus onustas
&o. In ber vita ms. Alexandri VII,
BR.
ift es doch richtig, daß Viele auswanberten, um ben Zaften
fich zu entziehen.
Im Iahre 1670 war die Schuld auf 52 Millionen
Scudi geftiegen, und verfchlang nun auch vie fonft für vie
Bepürfniffe des päpftlichen Hofs verbehaltenen Renten der
Datarie. Unter Clemens XII. betrug das Deficit 120,000
Seudi. Beſſer ftand es bei dem Tode Benerilt8 XIV.
im Sabre 1758; das Deflcit war um mehr als die Hälfte
gefunlen, aber die Berzinfung der Staateſchuld verjchlang
die Hälfte der Einnahmen. Ale darauf die Etürme ber
frangdfifchen Revolution auch über den Kirchenftaat losbra⸗
chen, erfolgte unter der römischen Republik, welche nach der
GSefangennahme Bius VI. ein paar Jahre lang eine füm-
merliche Eriftenz friftete, der Staats» Bankerott, der das
von Pius VI. gejchaffene Papiergeld befeitigte.')
Im 17. und 18. Jahrhundert wird der Zufland tes
Landes gemwöhnli in büfteren Farben gefchilvert. Die
fremden Gefandten meinen: wenn ein weltlidher Monarch
den Sirchenftaat regierte, Lönnte verfelbe zu einem hoben
Flor des Wohlftandes, jelbft des Reichthums, emporgebracht
iwerben,!) da im Boden wie in der Bevölkerung alle Bes
dingungen dazu vorhanden feien. Sehr verfchieen find bie
1) Coppi Annali d'Italia. Ill, 219.
?) So bie venet. Relation von 1615.
548
Urſachen, welche zur Erflärung bes allgemeinen Verfalis
angeführt werden. Bor Allem natürlich bie ftete Zerrüttung
ber Finanzen, die freilich wieder nicht blos durch das Un⸗
weien der Nepoten und Günftlinge motivirt war, ſon⸗
bern tiefer liegende Gründe Hatte Zu dem durch ben
Mangel einer einheimifchen Inbuftrie verurfachten Geldab⸗
fluß fam nun noch, daß auch tie Zinfen der ungeheuren
Staatsſchuld großentheils in's Ausland floffen, da die Haupt⸗
gläubiger Genuefen und Florentiner waren. Nach der Des
merkung des Bräfidenten de Broffes') kamen nicht eins
mal die firchliden Zahlungen aus dem Auslande baar nad
Nom, fondern in Wechfeln an bie Banquiers, bie fofort
die fremden Staatsgläubiger damit befriedigten.
Die Gefege über den Handel waren jo unbegreiflich
verkehrt, daß der Verbacht geäußert wurde, fie möchten ger
fliffentlich auf die Unterbrüdung alles Kunftfleißes und
Handels berechnet fein. In gleicher Richtung wirkten bie
widerfinnigen Zölle im Innern des Landes.
Hieran ſchloßen ſich die wilfführlichen Mafregeln bezüg⸗
lich des Getreidhandels (das Inftitut ver Annona) und bie
Einführung von Moncopolen der wichtigften Lebensbedürf⸗
niffe, Dinge, Über welche lange und viel geflagt wurbe. Es
1) Le President de Brosses en Italie, lettres &o. Paris
1858, II, 452 499. Die Briefe find von 1789 und 1740.
644
fehlte eben an aller Vertretung der Vollsinterefjen. Die
einzelne Stadt mochte wohl ihre Wünfche und lagen in
Rom anbringen, aber an irgend etwas einer Provinzialver-
tretung Analoges ift im Kirchenftaate nie gedacht worden,
noch weniger an eine Vertretung bes ganzen Lanbes.')
Der Präfident de Broffes fand um das Jahr 1740,
bie Verwaltung des Kirchenftaates fei die mangelhaftefte in
Europa, aber auch zugleich die milvefte. Dadurch, daß
biefe Milde In Nachläffigleit und Schwäche entarte, babe
fie zur Verarmung des Landes beigetragen, und unter ber
Hand bejahrter und hinfälliger Souveräne Alles verkom⸗
men laffen. Er meint ferner: ber Papft würbe der reichite
Fürſt in Europa fein, wenn er fo viel von feinen Unter-
tbanen erhöbe als ein andrer Souverän, und feine Finanzen
erträglich verwaltet würden.) In Italien urteilte man,
was die fehlerhafte Beſchaffenheit der päpftlichen Verwal⸗
tung betraf, ebenfo. In einem paneghrifch gehaltenen Leben
Bius VI. geſteht Becattint: mit Ausnahme ber Türkei
fei ver Kirchenſtaat das am fchlechteften verwaltete Land.
Die beillofe Annona ober Getreidegeſetzgebung, das quäle
1) Gegenwärtiger Zuftanb bes päpftlichen Staats. Helmftabt 1792,
©. 217. gl. die Riflessioni bes Cardinals Buoncom-
pagni vom Jahre 1780, theilweife überſezt in Le Bret’s
Magazin, IX, 452 — 527,
2) Lettres familidres. II, 452. 465.
645
rifche und bemoralifirende Victualientribunal; der Mangel
an Manufalturen, bie Aufmunterung des Schleihhandels
durch die hohe Beftenerung ver Einfuhr, bie Bereicherung
der Staatspächter zum größten Schaden des Aerars, bie
Menge ver Mordthaten, das waren ohngefähr die That⸗
fachen, auf pie man zur Eharakterifirung der Zuftänbe im
Kirchenſtaate Hinwies,') und man wird in der That bei
Betrachtung dieſer Dinge flart an einen Ausipruch des
alten Kanzler Elarendon erinnert.) Die Milde ver
päpftlihen Regierung bat Übrigens noch neuerlich ein mit
ber ttaliänifchen Gefchichte vertrauter Engländer bezeugt.’)
Den Fremben, die in's Land kamen, und fich um deſſen
Regierungsweiſe bekümmerten, flel meiftens zuerſt die Ab-
wefenbeit jeber Schranke, die Omnipotenz bed Souverains
anf. So fagt Grosley, der um das Yahr 1760 ven
Kirchenſtaat befuchte:*) Die päpftliche Regierung fei die ab-
folutefte von allen Europätfchen. Bon allen ven Befchrän-
) Cantü St. degli Ital. VI, 126.
?) He observes, that of all mankind none form so bad an
estimate of human aflairs asohurchmen. Hallam’s oonstit.
History of England. III, 330.
2) Whatever objection there may be to the papal sway, it
sannot in fairness be rcgarded as otherwise than mild.
Dennistoun’s Memoirs of the Dukes of Urbino. 1851.
UI, 238.
%) Observations sur l'Italie, Paris 1774, 11, 329.
v. Döllinger, Papſtihum. 35
—4
kungen, welche in den monarchiſchen Staaten beſtünden:
Staatsgrundgeſetze, Kroönungseid, Verordnungen der Vor⸗
gänger, Reiche oder Provinzialftände, mächtige Corpora⸗
tionen, finde ſich im Kirchenſtaate eine einzige Man
ftannte über ein Imftitut, wie das des Uditore Santiffimo,
welcher im Namen des Papftes willlührlich in jedes Gebiet
ber NRechtöpflege eingreifen, Proceſſe und Perfonen ihrem
ordentlichen Nichter entziehen konnte. Bei näherer Prüfung
fand man inbeß, daß dieſe abfolute Gewalt doch fehr er-
mäßigt war durch Gebräuche, über die ſich ein Papft nie,
oder faft nie, binwegfegte, durch manche zu nehmende Rück⸗
fichten, durch fchon lange zum Princip gewordene möglichfte
Schonung ber Berfonen, fo daß der, ohnehin im Ganzen
mit Milde gehanphabte, Abfolutiemus mehr zum Schein
und in ber Theorie als im praftifchen Leben eriftirte.
3. Der Kirchenſtaat von 1S14— 1846.
AS Napoleon I. den Papft Pius VII. des Kirchen»
ſtaates beranbte, da that er e8 nicht zuerſt und hauptſäch⸗
lich, weil es ihm um den Beſitz dieſes Landes zu thun war,
ſondern weil er dem Papfte die Unabhängigkeit nicht gönnte,
bie ihm fein Staat verbürgte, weil er ihn leiten, zu feinem
Werkzeuge in der Unterjochung und Beherrſchung der Völker
machen wollte. Er bat das belannt. „Ich verzweifelte nicht,
547
fagte er, durch ein Mittel oder das andere bie Leitung
dieſes Papftes an mich 315 bringen, und alsdann welch ein
Einfluß!“) Er wollte den römifchen Hof in Paris an-
fieveln, ihn zu einer franzöfiichen und kaiſerlichen Inftitu-
tion machen, fich dadurch feines Einfluffes auf alle Tatho-
lifchen Nationen bemächtigen, über vie Seelen wie über bie
Leiber herrſchen.) Es ift ihm nicht gelungen; auch ber
gefangene Bapft, nah des Eroberers eignem Ausbrud
„fanft wie ein Lamm und ein Engel von Güte," ließ fich
nicht leiten, nicht gebrauchen. Die momentane Schwäche,
welche der gequälte, umgarnte, überliftete Pius durch Un-
terzeichnung des Goncorbats von Fontainebleau im Jahre
1813 mit impliciter Verzichtung auf feine weltliche Gewalt
gezeigt Hatte, warb rafch wieder gut gemacht, und nach
wenigen Monaten konnte er, ftanphafter Dulder und num
friepfertiger Sieger, durch vie Provinzen feines ihm wieder⸗
gegebenen Landes unter den aufrichtigen Freudensbezeu⸗
gungen bed ganzen Volkes, auch der fo lange getrennt ge-
wefenen Romagnolen, nach feiner Hauptftabt ziehen. Es
war Ein großer Triumphzug. |
1) Memorial de St. Helene V, 826.
?) B’en servir comme un moyen social pour röprimer l’anar-
chie, consolider sa domination en Europe, accroitre la
consideration de la France et l’influence de Paris, objet
de toutes ses pensdes. Memorial de Ste Helöne, 1. o.
35 *
548
Der ganze Kirchenfinat, wie er ihn nie befefien, war
ihm durch die Wiener Beichläfig übergeben, unb in ber
Berfon Conſalvi's befaß er einen Staatsmann von fel«-
tener Begabung, der tum bie fchiwierige Aufgabe, die tra-
bittonelle päpftlicde Verwaltungsweiſe ftatt der bisherigen
franzöfifchen theilweiſe berzuftellen, Idfen Half.
Daß die Form der fung den Staat und das Papft-
thum in neue, unlößbare ober bis auf bie Gegenwart noch
nngelöste Schwierigleiten vertwidelte, pas follte man freilich
erſt ſpaͤter erfahren.
In der Vorrede zu dem Motuproprio vom 6. Juli
1816, welches die Verwaltung des Kirchenſtaats beſtimmte,
erklaͤrte Conſalvi: Früher babe im Staate ein Aggre⸗
gat von mancherlei Gebräuchen, Geſetzen und Privilegien
beſtanden; da ſei es nun ein Vortheil und eine göttliche
Fügung, daß durch bie Unterbrechung der päpftlichen Re⸗
gierung und während biefer Awifchenherrfchaft alle dieſe
Ungfeichheiten aufgehoben, Einheit und Gleichförmigkeit ein-
geführt worben fei. Denn eine Regierung ſei um jo voll»
kommener, je mebr fie fich dem Syſtem ver Einheit nähere.
Das bevachte diefer Staatsmann nicht, baß eine ab⸗
folute Regierung nur dadurch erträglich werde, nur dann
nicht unter der Laft der ungeheuren Berantwortlichleit er»
liege, wenn fie ein mannigfach geglievertes, durch Sitte und
Herlommen gefchüßtes Leben, untergeorpnete, aber in ihrer
549
Sphäre frei fich bewegende Kreife duldet und anerkennt.
Seine geprief ene Einheit und Gleichfoͤrmigkeit war deſtructiv,
und auch er follte die Erfahrung machen, daß es weit leich⸗
ter fei zu zeritören als aufzubauen, als etwas Lebenskräf⸗
tige8 in den öffentlichen Verhältniffen zu fchaffen.
Es wurde alfo Feine einzige der alten municipalen und
provinzialen Einrichtungen hergeftellt; der Sonfaloniere und
die Anziant’8 der Communen erbielten Teine Selbſtſtändig⸗
feit; auch Rom und Bologna erhielten nım den Schatten
municipaler Verwaltung. Die lokalen Gefete und Statuten,
welche ſehr verjchiebenartige, und in der Nechtöpflege aller-
dings unbequeme Berechtigungen gewährten, fo wie fämmt-
liche Privilegien der Communen und Eremtionen ober Vor⸗
rechte blieben aufgehoben. So trat Conſalvi bereitwillig
bie Erbfehaft an, welche die fremde, im napoleonifchen
Regimente incarnirte, Revolution ihm binterlaffen Batte;
er dankte ihr, daß fie feiner Verwaltung fo energifch und
ſchonungslos vorgearbeitet, den Boden für ihn eingeebnet
hatte; darin jeboch wich er von dem franzöfiichen Syſteme
ab, daß er die Gewalt wieder in geiftliche Hände legte.
Der Kirchenſtaat follte ein abfoluter Beamtenſtaat nach
franzöfifchem Mufter fein, aber die höheren Beamten follten
ber Brälatur angehören. Dieſe Form eines geiftlichen,
omnipotenten, bureaufratifch verwaltennen Beamtenftaate®
war im Grunde etwas Neues, unendlich weit verfchteven
Re
von ben Älteren Zuftänden, vor Allem von denen bed Mit-
telalterd. Demnach wurde das ganze Sand in 17 Dele⸗
gationen (oder Legationen, wenn fie einen Carbinal zum
Vorfteher Hatten) eingetheilt. Die Delegaten entiprechen
ben franzöfifchen Präfekten, müſſen Prälaten fein, entſchei⸗
ben über Alles, und haben eine blos berathenbe, von Rom
aus ernannte Verſammlung zur Seite. Zugleich fteht ihnen
bie Ernennung der Magiftrate zu, welche bie Verwaltung
ber Commune führen, und in denen auch Geiftliche, den
Laien vorgehenbe Mitglieder figen. Unter den Delegaten
ftehen die ernannten Governatoren, mit niederer Gerichts⸗
barkeit. In Rom wurden dann bie alten oberften Behörs
ben wieder hergeſtellt, bie Congregazione della Conſulta,
del buon Governo, economica, dell’ Acque, degli Studii,
dann die mit den verſchiedenartigſten Attributen ausge⸗
ſtattete Camera Apoſtolica, eingetheilt in 21 Unterbehör⸗
den oder Geſchäftskreiſe, mit dem Cardinal Camerlengo
und dem Teſoriere oder Schatzminiſter. Hiezu kamen 15
verſchiedene Gerichtshöfe. An der Spitze ber Regierung,
der geiſtlichen ſowohl als der weltlichen, ſtand der Cardi⸗
nal⸗Staatsſekretar. Die Pflanzſchule, aus ver die Regie⸗
rung ihre Beamten nahm, war jene Klaffe römifcher Aba⸗
te's, welche, mit fehr unzureichenden juriftifchen und ohne
alle ftaatswirthfchaftlichen Studien, mehr abgerichtet al® ge
bildet, befjer vertraut mit ben kirchlichen Geremonien als
551
mit ben DBerwidelungen und Intereſſen des bürgerlichen
Lebens, ihr Vertrauen auf das Patronat eines Cardinals
oder Monſignore fegend, in Rom felbft nur fehr geringes
Anfehen genoffen, in den Provinzen der Mehrzahl nach
mindeftens nicht beliebt waren. Bon allen europälfchen
Berwaltungsiuftemen war pas Nömifche unftreitig das com⸗
plicirtefte, fo zwar, baß in einzelnen Fällen erft weitläufige
und zeitraubende Eorrefponbenzen vorausgehben mußten, um
nur zu beftimmen, ob eine Sache zu dem Reſſort der einen
ober andern Behörbe gehöre. Bon einigen Behörben wirb
indeß bemerkt, daß fie nur noch dem Namen nach und um
der Titel willen befteben.
Uebrigens erprobten fich einzelne Einrichtungen Con»
ſalvi's als fehr zwedmäßig und wohlthätig, namentlich
bie den Delegaten an die Seite gejeßten Congregaziont
governative, bie den franzöfifchen Präfecturräthen nach»
gebildet waren. Allgemein wurde auch anerkannt, daß das
Tribunal der Sacra Ruota ein trefflicher Gerichtshof mit
einem muſterhaften Proceßverfahren fet.
In den deutfchen geiftlichen Staaten war geiftliche und
weltliche Berwaltung getrennt, im Kirchenſtaate find fie
mit einander vermifht. Man Hat dieß fiir eine Nothwen⸗
bigfeit erklärt, man bat behauptet: Die voppeljeitige Stel-
lung des Dberhauptes müſſe fi in ben unteren Sreifen
662 -
wiederholen.) Dieß ift aber fo wenig richtig, als bie Be⸗
bauptung richtig wäre: Darum weil ein König zugleich das
Haupt der Wehrkraft oder oberſter Kriegsherr und das
Haupt der Verwaltung in feinem Lande iſt, müſſe ſich biefe
Vermiſchung der militärifhen und ber bürgerlichen Gewal⸗
ten auch in den untern Kreiſen wiederholen. Belanntlich
findet in jedem georpneten Staate vielmehr die völlige
Auseinanberhaltung beider Gebiete ohne die mindefte Schwie⸗
rigleit ftatt, Und fo könnte auch im Kirchenftante das
Geiſtliche und das Politiſche, Kirche und bürgerliche Ver⸗
waltung, trog ber Einheit des Hauptes, in den Gliedern
fehr wohl gefchieden fein.
Das Finanzweſen fand Confalvi in einer fchon alten,
theild von früheren Iahrhunderten fortgeerbten, dann aber
burch bie Plünderungen ber Franzoſen und bie hohen Be⸗
bürfniffe der napoleonifchen Herrſchaft gefteigerten Zerrüt-
tung, fo daß fchon das Deficit von 1816 1,200,000 Scudi
oder 1,740,000 Rthlr. betrug; gleichwohl Hatte fich die Ein⸗
nahme in Folge der franzöfifchen Verwaltung nahezu ver»
breifacht. Natürlich mußten die von den Franzoſen ein-
geführten Abgaben in ter Hauptſache beibehalten werben.
Das gefammte franzöfifche Recht in allen Zweigen,
fowie die Proceßordnung, hatte Thon vor des Papfte® Aue
ı) Ranke, in feiner biftorifch-politifchen Zeitfchrift 1, 682.
563
kunft fein Delegat Rivarola abgefchafft; nun waren auch
noch alle prowinziellen Statuten und ftäbtifchen Sonder⸗
rechte aufgehoben. Einftweilen follten das kanoniſche Recht
und bie päpftlichen Eonftitutionen älterer Zeit, eine faft un«
überjebbare, verwirrende Maſſe von zum Theil widerſpre⸗
enden Berfügungen, die Stelle vertreten. Peinliche Ver⸗
wirrung in allen Kreifen der Nechtöpflege war bie nächſte
Folge. Sie wurde vergrößert durch die Concurrenz ber
bifchöflichen Berichte, da dieſe jede, einen Geiftlichen be⸗
rührende Sache vor ihr Forum zogen. Auch die alten
Zribunale der Fabbrica di San Pietro für religidfe Ver⸗
mächtniffe und der Eherici bi Camera für Domänenjachen
wurben bergeftellt. ‘Doch wurben neue Gefeblicher ver-
beißen. Im Ganzen war die Gewalt ber Geiftlichkeit in
ber weltlichen Regierung bedeutend größer geworben, al& fie
es früher gewefen war. So manche Schranke war gefallen.
Zudem befand fi das ganze Unterrichtswefen, und eine
fehr gefchärfte, von den höheren Klaſſen widerwillig getra-
gene Eenfur in ihren Händen.
Gleichwohl erfchten Eonfaloi der zahlreichen und mäch-
tigen Partei der Zelantt, zu der wohl die Mehrzahl ver
Carbinäle gehörte, als ein gefährlicher Neuerer, und ber
Cardinal Matte, Decan des Eollegiums und Principe bi
Belletri, ließ die Edicte des Staatsfelretärs in Velletri
Durch feine eignen Sbirren abreißen.
—
Italien wear, gleich Polen, auf dem Wiener Congreß
als „geographiicher Begriff“ behandelt worden. Die Ras
tionen, ihre Wünfche, ihre Bebürfniffe waren bort über
haupt nicht in Rechnung gebracht worben. Defterreich
berrfchte, nicht allein in feinem Antbeil, fein Einfluß, fein
Machtwort galt auch in den übrigen ttaliänifchen Staaten;
nicht6 follte in viefen dem Volle an Rechten und Inſtitn⸗
tionen gewährt werben, was nicht mit ben Intereſſen ber
öfterreichifchen Beamtenherrfchaft, wie man fie damals in
Wien veritand, verträglich erſchien. Die Yolge war, daß
binnen wenigen Yahren Italien fich mit einem Nee gebei-
mer Gefellichaften bedeckte. Das dfterreichliche Joch abe
zufchütteln, ward ber Lieblingswunfch der höheren Klaſſen.
Die Franzofen hatten in Spanien doch eine Partei für fich
zu gewinnen vwermocht, bie Afranceſados; aber Defterreich
brachte e8 in Italien nicht einmal dazu; mochten anch bie
Landbewohner im Lombarbifch-Venetianifchen fich der ges
ordneten Verwaltung und Sicherheit erfreuen; in den Stäbten
war Alles antiöftreichifch, Alles für nationale Unabhängige
keit. Bald war auch die ftubirende Jugend an ben Untver-
fitäten in den Wirbel ber geheimen aber mächtigen Bewe⸗
gung bineingezogen. Die Literatur mit dem ganzen un⸗
widerftehlihen Gewichte ihres Einfluſſes kam Hinzu. Jedes
Verbot eines Buches bewirkte ftärleren Abfag, und man
Ind einen Autor um fo begieriger und vertrauensvoller,
655
wenn er ein politifch Verfolgter war. Die geheimen Ges
jellichaften, vie Carbonari's, Adelfi's, die Guelfen, die ſu⸗
blimen Meifter, bie zum Theil fchon früher mit antinapo⸗
feonifcher Zenbenz beftanden, machten ihre Exiſtenz von Zeit
zu Zeit burch einen politifchen ober mit politiichem Vor⸗
wand beichönigten Meuchelmorb bemerklich. Als nun 1820
“und 1821 der Ausbruch in Neapel und Piemont erfolgte,
gährte ed auch im Slirchenftaate gewaltig. Conſalvi, von
zwei entgegengejegten Parteien, von den auf politifche Umwäl⸗
zung Sinnenven und von den Zelanti, gehaßt, follte geftürzt,
„bie fpanifche Cortes⸗Conſtitution oder eine ihr ähnliche
follte proflamirt werden. Die Flamme warb noch zeitig
erftidt durch die raſche Beſiegung des Aufruhrs in Neapel
und Biemont.
Mit dem Tode Pius VII., mit der Erhebung Leo's XII
ſchloß fich die Wirkſamkeit Conſalvi's, des viel angefeindes
ten Mannes'). Unter dem neuen burch die Zelanti gewähl-
ten Bapfte Leo XII. kam fofort das entgegengefehte Sy⸗
ftem zur Geltung Man hatte ihn gewählt theils wegen
feiner Gefinnung, theild aber auch weil er, kränklich und
1) Das römijche Urtheil Über ihn fiehe bei Coppi Annali, VII,
334. Er fei corteggiatore degli stranieri potenti ed im-
perioso sui sudditi pontificj gewejen, wirb ihm vorgeworfen,
_ bi
binfällig, einem baldigen Tode entgegenzugehen fchlen”).
Er nahm fich einen achtzigjährigen, wenig thätigen Mini-
fter, den Earbinal della Somaglia, und fo waren in ber
fchwierigften, gefahrvoliften Zeit die, Geſchicke eines Landes,
in welchem noch fo viel zu ordnen, zu fchaffen war, in bie
Hände zweier lebensmüben, dem Grabe zuwankenden Greife
gelegt. Man hatte den Papft gleich am erften Tage zur
Ernennung einer Cardinals⸗Congregation für Staatsfachen
gebrängt, und biefe gebachte ziemlich felbftftändig zu regie⸗
ren; allein Leo trat dem alsbald durch vie Erklärung, daß
fie nur gelegentlich und zu bloßen Confultationen berufen
werben würbe, entgegen.
Der kranke, ſchwache Bapft arbeitete gleichwohl uner-
müblih. Im Ganzen war die Richtung feiner Maaßre⸗
geln der Eonfalvifchen entgegengefegt, ven Wünfchen ber
Zelanti entiprechend. Die Provinzialrätbe, eine ber beften
Inſtitutionen Conſalvi's, wurden wieber aufgehoben; nicht
nur wurde bie Inquiſition bergeftellt, fonvern e8 warb auch
ein weit ausgedehntes Spionirwefen zur Ueberwachung ber
) Dieß fagt ber franzöfiiche Geſchäftoträger in feiner Depeche bei
Artaund Hist. de Leon XII, I, 180, unb Chateanbriaud
felöft in feinen Me&moires, VIII, 215, dd. de Berlin. Della
Benga warb freifih erſt gewählt, nachdem Oeſtreich bem
Card. Severoli die Erclufive gegeben hatte,
667
Deamten und ver Bollsmoral eingeführt‘). Die alten
Einrichtungen und Zuftänve follten möglichft hergeftellt wer-
den, darauf, glaubte Leo, beruhe das Heil. Daher warb
das gefammte Studienweſen ver Geiftlichkeit noch vollftändiger
übergeben; die Podenimpfung warb wieder aufgehoben, wo⸗
von eine größere Sterblichkeit die nächſte Folge war. Selbft
die lateiniſche Sprache wurde in dem Gerichtönerfahren
einiger Tribunale wied erbergeftellt. Leo’8 Verwaltung wurbe
bie unpopulärfte, die feit einem Jahrhundert bagewefen.
Man gab ihm dieß auch Öffentlich durch Unterlaffen ver
fonft gebräuchlichen Beifallerufe zu erfennen.
ia Und doch war Leo von dem beften Willen befeelt; er
fühlte die Unhaltbarleit der neuen Zuftände und Einrich-
tungen, aber er täufchte fich in der Wahl der Mittel, in
dem Streben, Erflorbenes wieder zu beleben. Ex erkannte
wohl, daß das ganze Beamtenwefen an ſchweren Gebrechen
leide, und daß hierin eine große Gefahr für die beſtehende
Ordnung liege. Es war jchon längft bemerkt worden, daß
ein geiftlicher Beamten» Organismus, eben darum weil bie
Glieder veffelben Priefter und mit fo großen Standesvor⸗
— — — —
1) Coppi Annali, VII, 337. Ich bemerke bier, daß Coppi,
den ich noch oft anzuführen habe, ein angeſehener römiſcher
Geiſtlicher iſt, der auch in Staatsſachen confultirt wurde, wie
er ſelbſt 1711, 146, berichtet.
BR ZU
rechten begabt feien, allzufehr der feiten Disciplin ermangle,
daß es feine Geſetze, kein Mittel gebe, fie in Schranfen zu
halten, daß nur die Hoffnung des Vorrüdens bei ihnen
wire.
„Rom, fagt der franzöfifche Geſandte in einer Depefche
d. J. 1823 '), ift eine Republik, in welcher jever Herr in
feinem Dicafterium ift. Conſalvi hatte das zu änbern ge=
fucht, aber alle diefe Heinen Autoritäten haben fich auf das
erfte Gerücht von feinem Falle fofort wieder bergeftellt.“
Sodann fehlt in einer Verwaltung, in welcher die Geiftlt-
chen alle höheren Aemter und Ebrenftellen, vie Laien da⸗
gegen bie große Menge der niederen und gering befoldeten
Dienfte inne haben, jener moralifche Hebel, ohne welchen
bie modernen Beamtenftaaten nicht wohl exiftiren können:
das Gefühl der Stanbesehre und der Einfluß des Eorpo-
rationsgeiftes, Dinge, burch welche auch die Schaar der⸗
jenigen Ungeftellten, welche fich nicht durch die höheren
fittlichereligiäfen Motive leiten laffen, doch im Ganzen auf
ber Bahn der Amtstreue und forgfältiger Pflichterfüllung
erhalten wird. So betrachtet denn dort ber weltliche Beamte
— und ber Italiäner iſt an fich fchon fehr geneigt dazu — feine
Stelle als eine Verforgung, fie ift ihm eine Pfründe, bie ex für
N) Bei Artaud, hist do Leon XI. l, 184.
569
fih und die Seinigen beftens benützt und ausbeutet. Leo
fuchte nun bier Hüffe zu fchaffen durch die Errichtung einer
„Songregazione di VBigilanza,“") welche alle Befchwerben ge-
gen Beamte, deren er, jagt er, nur allzuviele zu feinem
großen Schmerze gegrünbet befunden habe, aunnehmen und
unterfuchen folle. Die Wirkung war nur, daß, wie Coppi
bemerkt, das Spionirwefen mit feinen verberblichen Folgen
vermehrt wurbe ’).
Die neue Wahl im Jahre 1829 glich ziemlich ber
vorigen. Der fromme und reine Eaftiglioni ober
Bius VIIL war ein tränklicher, zitternder Greis, ber nur
noch wenige Monate zu leben hatte. Doch unterbrüdte er
fofort die Congregazione di Wigtlanza und das Späher-
weien, das fein Vorgänger organifirt hatte Er ärntete
Lob dafür, daß er nur wenig gethan, nachdem Leo zuniel
1) Bisogna far per la famiglia, ift der Wahlipruch nnirer Laien-
Beamten, fagte mir ein bornehmer Mann in Bologna; bamit
entfchulbigen fie jede Beflechlichleit unb Beruntreuung. Dort
vernahm ih auch noch ein anderes Sprichwort, welches ben
obenerwähnten Mangel an abminiftrativer Difciplin charalteris
firt: Da noi, luna met& comanda e l’altra non ubbidisce.
Natürlich in einem Staate, wo ber Geiſtliche, wie früher
in einigen Ländern und jetzt noch z. B. in Ungarn ber Abel,
fih als einen Privilegirten, ber als folcher ſchon zur rvegieren-
ben Kaffe gehöre, betrachtet.
N) Coppi VII, 374.
560
gethan habe. Die Geheimbünde hatten inziwifchen um Kir⸗
chenftaate drohend um fich gegriffen, in der Romagna waren
zahlreiche politifche Ermorbimgen vorgelommen, ber Car⸗
dinal Rivarola, deshalb dahin gefandt, Hatte auf einmal
508 Berfonen, barunter 30 Evelleute, 156 Grunbbefiker
oder Kaufleute, 74 Angeftelite, 38 Militäre, verurtheilt,
doch war kein Todesurtheil vollzogen worven. Über man
zertrat Einen Kopf ber Hydra, um alsbald beren neue an
feiner Stelle entfteben zu ſehen.
Man Hat in dieſem Unweſen ber geheimen Gejell-
fchaften, das nun faft fchon feit 50 Jahren die größte Lanb-
plage Italiens ift, eine den Staliänern, befonbers des Sü-
dens, eigentbümliche Krankheit gefehen. Allein einmal
bilden fih in einem Lande, in welchem bei gänzlicder Un⸗
terbrüdung der Preffe eine argmwöhnifche Polizei über ein
mit feiner Lage unzufrievenes Volt berricht, eben jo na⸗
turgemäß geheime Gefellichaften, als fich im menfchlichen
Organismus in Folge gewaltfam zurüdgebrängter Eran-
theme innere organifche Krankheiten bilden. Zweitens ift
das Treiben ver Geheimbünde nur das natürliche Erzeug-
niß jenes Triebe nach focialer Thätigfeit, welchen ein bes
gabtes und lebhaftes Volt dort, wo bie erften Lebensbe⸗
bürfniffe leicht und mühelos errungen werben, empfinbet.
Da dem Italiüner die normale Befriedigung biefes Trie-
bes durch feine Ausſchließung von ber Theilnahme an ben
561
Öffentlichen Angelegenheiten und durch Abfchneiden jeder
Diseuffion mitteld ber Cenfur unterfagt wurbe, fo fuchte
er fich ſchadlos zu Halten durch die Rolle und perfönliche
Bedeutung, welche ihm bie Mitgliedſchaft in einer Ge-
beimloge gewährte. Freilich wurden dieſe Verbindungen,
in welche auch moraliich verfommene Individuen wetteifernd
fich eindrängten, Häufig zu Kloaken ber ärgften Eorruption
und zu einem Fluche für das Land. Diefes Geheimbünd⸗
lerwefen machte nun wieber die Gegenwart unerträglich und
die Zukunft hoffnungslos, und nöthigte die Regierungen,
rohe Gewalt an die Stelle georbneter Verwaltung zu
fegen. In ber Bebrängniß hatten die päpftlichen Behörden
zu einem fehr bevenklichen Gegenmittel gegriffen; fie hatten
pie freiwillige, gleichfalls ungefeglicheAffociation der Sanfes
diften aufgemuntert, die ihnen bald über den Kopf wuchs
und, vorzugsweife aus den ärmften und niedrigſten Klaſſen
fih ergänzend, in einigen Gegenden thatfächlich fich der
Regierung bemächtigte.
Als Nachfolger des Ende 1830 geftorbenen Pius warb
der Camalbulenfermönd Mauro Capellari, ber erft 1826
Carbinal geworben, und den Staatsgefchäften bisher ferne
geftanden war, erwählt. Gregor XVI., Mönch und Ge⸗
Iehrter , Schriftfteller, der bi® zu feinem Ende mit Vor⸗
liebe der Literatur zugewendet blieb, verftand die Kirchlichen
Dinge fehr gut, die weltlichen um fo weniger. So erhielt
». Dillinger, Papfithum. 36
I __
ber Kirchenſtaat eine Reihe von Päpften, pie alle in kirch⸗
lichen ‘Dingen tadellos, ſelbſt vortrefflih waren, aber ale
Lanbesfürften nur eben ven guten Willen befaßen.
Eben hatte die Parifer Yuli- Revolutiou das Signal
zu Volldaufftänden gegeben, und in wenigen Wochen ftaub
ein großer Theil des Kirchenſtaats nebft Modena und Parma
in Slammen. Der Ausbruch war bier noch währen be
Eonclave’8 erfolgt. Man gewann bad Voll durch Herab-
ſetzung der Zölle auf Salz und Mehl, verließ ſich darauf,
baß Frankreich ven Oeftreichern eine Intervention nicht ges
ftatten würbe, und ein raſch verfammelter Congreß gewähl«
ter Bollövertreter erflärte ven Papft feiner weltlichen Herr⸗
ſchaft entjegt. Rom blieb treu; auswärts aber gaben bie
päpftlichen Beamten in den meiften Fällen Alles mit einer
Eile und Zaghaftigleit preis, welche bewies, auf wie ges
brechlicher Bafis ein an allen volldmäßigen Inftitutionen
ermangelnber Staat ruhe. Die ganze Revolution verlief
wie ein Kinderſpiel, und ver unblutige Einmarfch ber Oeſt⸗
reicher ftellte mit leichter Mühe vie alte Regierung, unter
der Bedingung allgemeiner Amneſtie mit Ausnahme von
38 Führern, wieder ber.
Eine Eonferenz der Mächte, an ver auch Preußen,
Rußland, England theilnahmen, überreichte dem Papfte am
31. Mai 1831 jenes berühmte Memorandum, um welches
ſeitdem ein großer Theil ver Gefchichte des Kirchenftante
663
fih gebrebt Hat. Es empfahl erften®: die Berbeflerungen
möchten nicht nur in den abgefallenen, ſondern auch in
ben treu gebliebenen Provinzen und in der Hauptitabt ein-
geführt werben; zweitens: ‚überall follten vie Laien zu ben
Juſtiz⸗ und Verwaltungsämtern Autritt erhalten. Ferner
wurde Selbftverwaltung der Gemeinden burch gewählte
Käthe und Wieberberftellung der Provinzialräthe, enplich
eine „innere Garantie gegen bie Beränberungen, welche ein
Wahlreich mit fich bringe,“ begehrt").
Coppi, der dem empfangenen Auftrage gemäß Vor»
ſchläge über Reformen entworfen hatte, berichtet, daß Gre⸗
gor und bie Mehrzahl der Carbinäle jebe tiefer eingreie
fende Veränderung abgewiefen hätten: die alten monarchi«-
ſchen und Firchlichen Principten müßten bewahrt, ber Volks⸗
oder Lalenpartei dürfe nichts zugeſtanden werben ?); „denn
wenn man freiwillig etwas gewähre, fo babe man fein
Recht mehr, es nachher wieder zurüdzunehmen.” Zwei
Dinge beſonders ſeien durchaus nicht zu bewilligen: Keine
Wahlen von Communals und Provinztalräthen, und Tein
Stantsrath von Laien neben dem Carbvinals» Collegium.
Der Card. Staats - Sekretär Bernetti, ber zuerit
') ®gl. Mdmoires de Guizot 1859. 11, 432. Coppi VIII,’
143.
) Coppi VIII. 148.
36*
—6ö
von einer „neuen, mit dem jetzigen Pontifikate beginnenden
Aera“ geredet hatte, richtete an den franzoͤſiſchen Gefandten
ein Schriftſtück, in welchem in allgemein gehaltenen Aus-
brüden Bieles, was gefcheben folle, angekündigt war, ohne
daß man fih zu beflimmten Einrichtungen over Wenderun-
gen verpflichtet hätte. Doch warb eine „neue Einrichtung
der ganzen Bffentlichen Verwaltung, eine beffere, Teinem
Verdachte mehr Raum gebende Finanzverwaltung und bie
Einführung confervativer Suftitutionen” zugeſagt). Man
bat e8 nachher im In⸗ und Auslande der Regierung bit-
ter vorgeivorfen, daß im Grunde unter dem damaligen
Pontifilate, das noch über 15 Jahre währte, von bem Als
len nichts erfüllt worden fei.
Einftweilen fuchte man fich durch Anwerbung von 5000
Schweizern zu helfen, da auf bie einheimifchen Truppen
fein Verlag war, aber ver englifche Bevollmächtigte, Se y⸗
mour, erflärte nun: Die Finanzlage der römifchen Re⸗
gterung geftatte ihr nicht, ſo viele Fremde in Sold zu neh⸗
men, als zur Nieberhaltung einer ganzen unzufriedenen Be⸗
völferung erforberlich feien, und ba feine Regierung feine
Hoffnung mehr habe, noch etwas Gutes dort zu wirken,
fo fei er angewiefen, Rom zu verlaffen.’)
1) Gualterio, Documemti TI, 94,
?) Qualterio, Documenti, I, 102.
Und doch, es ift feine Frage, erfannte Gregor klar bie
Nothwendigleit purchgreifender Reformen. J. Bernardi
bat Türzlich geäußert, er babe zu feiner VBerwunberung im
Sahre 1843 folgende Worte aus dem Munde bes Papſtes
vernommen: „Die bürgerlihe Verwaltung der römifchen
Staaten bedarf einer großen Reform. Ich war zu alt,
als man mich zum Papft wählte, ich glaubte nicht fo lange
zu leben, und hatte nicht den Muth fie zu unternehmen.
Denn wer fie beginnt, der muß fie auch burchführen.
Jetzt bleiben mir nur noch fehr wenige Jahre oder vielleicht
Tage zu leben. Nach mir wird man einen jungen Papft
wählen, ihm wird es zufallen, dieſe That zu vollbringen,
ohne welche man nicht forteriftiren Tann ').“
Aber freilich vermag in biefen Dingen auch ber ent-
fchloffenfte Wille eines Papftes, wenn er nur wenige Gleich⸗
gefinnte in feiner Nähe und In dem verfchievenen Dienſtes⸗
kategorien bat, auf die Dauer nicht viel. Bisher ift es unfäg-
lich ſchwer gewefen, gewiffe Reformen im Kirchenftaate durch»
zufegen, da ein Papft mit dem reinften Willen an dem
ftillen, beharrlichen, gemeinfchaftlichen Widerflande Derer,
I) Rivista contemporanea, 1860, febbr. p. 97. Daſſelbe wurbe
mir emige Zeit früher, ehe dieß im ber Riviſta gedruckt erjchien,
von einem berühmten vömiichen Gelehrten erzählt. Ich hege
alfo Leinen Zweifel an der Wahrheit ber Thatſache.
56 _
bie bei der Erhaltung des Herlömmlichen ihre Rechnung
finden, fcheitert, und die rechten Männer zur Durchführung
ber Reformen fich nicht barbieten. So find ehemals Ha-
brian VL und @lemens VIL., ohngeachtet ihres guten Wil⸗
tens, in den kirchlichen Zuftänden zu beffern, doch zu nichts
gelommen. Sie, und viele andre nach ihnen, haben ſich in
ihrer Aktion geläbmt gefunden. Es war, als ob bie Yor-
mel, mit der ehemald bie Aragonefen einen misliebigen
öniglichen Befehl zu entlräften verftanden,‘) auch bier
gelte.
Gleichwohl gewährten die Neformverfügungen Gre-
gor's, welche im Juli, Oktober und November 1831 er⸗
fohienen, mehr als man nach der Weigerung bes Papftes,
beftimmte Berpflichtungen einzugeben, erwarten Tonnte.
Namentlich in Bezug auf Verbefferung der Nechtöpflege,
wie denn das monftröfe Inftitut des Uditore Santiffimo,
befien bloße Eriftenz ſchon von Staatsmännern und Ju⸗
riften al8 eine Schmach für den päpftlichen Stuhl betrach⸗
tet wurde, wirklich 1831 abgeſchafft wurbe.‘)
Sreilih wurde bie Bevölkerung, die noch ganz anbre
Dinge erwartet und begehrt hatte, durch dieſe Edilte durch⸗
aus nicht befriedigt, und ber Graf Bellegrino Roffi,
1) Be obedezca, pero no se cumpla — man gebordye, aber
man bollziehe nicht.
2) Berg. darüber Guisot, Memoires, I, 486 — 442.
967
nachher Miniſter Pius’ IX., ſchrieb damals an Guizot:
Man möge fich ja Teiner Täufchung hingeben. Die Revo⸗
Iution, in dem Sinne einer gründlichen Unverträglichleit
zwiſchen dem gegenwärtigen Syſteme ber römifchen Re⸗
gierung und ber Bevölkerung, fei bis in's Innerfte bes
Landes gebrungen. Nur wenn eine ganz durchgreifende
Veränderung in ber Rechtspflege eintrete, und eine Reform
ber ganzen Geſetzgebung wenigſtens vorbereitet werde, könnte
das Volk mit dem paäpſtlichen Regimente verſöhnt werden.“)
Kaum waren bie Deftreicher abgezogen, als der Auf⸗
ruhr von Neuem ausbrach. Die gemäßigte Partei ließ zu
Nom Ausführung des Memorandums begehren, ſah fich
aber, wie e8 in NRevolutionen immer geht, jehr fchnell von
ben Rapicalen überwältigt, und die geängftete Bevölkerung
begrüßte mit Freudengeſchrei die wiebereinziehenden Oeft⸗
reicher. Bald kamen auch die Franzoſen und befehten Ans
cona, um ben Deutfchen das Feld nicht allein zu laffen.
Die kurz vorher erlaffenen Edikte wurden nun in Rom
wiberrufen oder unausgeführt gelaffen. Natürlich herrfchte
wieder allgemeines Misbehagen. Bon da an verichlimmerte
fih die Lage mit jebem Jahre. Die aus ben unterften
Klaſſen gebildeten „päpftlichen Volontärs“ übten argen Ter⸗
rorismus, und politifche Mordthaten, durch Die renolutionäre
) Quizot lc. p. 449.
b68
Partei begonnen, wurden haͤufiger, die Regierung warb une
vermeidlich immer argmwöhnifcher und quälerifcher; man ver-
ließ fich auf ven vierfachen Arm der Deftreicher, der Frau⸗
ofen, der Schweizer und ber eignen Truppen ober ber
Sanfebiften und der Volontärsd. Spionage, doppelt ver⸗
haft und gefährlich bei einer Priefterregierung, da das Bol
fofort Misbrauch religidfer Mittel vabei argwöhnt, warb
in großem Maßſtabe getrieben. Die Gegner der Regie-
rung batten ſich indeß, hauptfählih durch Mazzini's
Einfluß, in Liberale und Radicale („junges Italien“) ge⸗
Ipalten. Die letteren, vie eigentlichen Umflurgmänner,
wollten alle Regierungen, fowie die Kirche, vernichten, ganz
Stalten in eine Republif nach dem Muſter von 1793 ver-
wandeln. Doch waren fie in Meittelitalien noch ohne Ein-
fluß, und hatten nach 15 Jahren wohl eine Anzahl Stu
denten verführt, aber auf das eigentliche Volt, ihrem eignen
Geftänpniffe gemäß, Teinen Einprud hervorgebradht.')
Im Jahre 1838 verließen die Franzoſen Ancona, die
Deftreicher die Legationen. Die Schweizertruppen wurben
altmälig fehr erhöht. Die Zabl von 17000 Mann, vie ich
angegeben finde, ift wohl übertrieben, over gilt für das ges
1) Im Archivio triennale delle oose d’Italia, Capolago 1850,
I, 191, jchreibt ein Mazzinianer: Noi dovevamo oonfessare
ebe, in quindioi anni, non eravamo riusciti che a propa-
. garo nella gioventü studiosa la passione politica, ma nel
vero popolo mai.
569
fammte Militär. Jedenfalls aber waren bie fremden Söld⸗
ner eine ſchwere Laft für den, an dem jährlichen Deficit von
einer Million Seudi und darüber krankenden Staatsſchatz.
Gregor XVI., alt und kränklich, war unzugänglich
geworben, feine Umgebung fuchte Unangenehmes von ihm
ferne zu halten; für die Verwicklungen der Staatsverwal-
tung mangelte ihm das Verſtändniß. So war denn Alles
in der Hanb bes Staatsfelretärs Lambrufchini und ber
Monfignori als Legaten und Delegaten in ven Provinzen.
Deftändige Militärcommiffionen, welche die wegen politifcher
Ausfchreitungen Angellagten nach willkührlichem Verfahren
richteten, erbielten mit Hülfe der Schweizerregimenter bie
öffentlihe Orpnung und nährten, verbunden mit ven Ges
waltthätigkeiten der Sanfebiften, die allgemeine Misftim-
mung. Die Regierung ſcheint nicht geahnt zu haben, welche
tiefe Erbitterung das Bewußtfein erzeugte, daß man mit
ſchweren Abgaben die ausländischen Söldner bezahlen müffe,
bie Dazu verwendet würben, das Wolf niederzubalten, und
ber Staatögewalt die Verweigerung aller Vollewunſchez zu
ermoͤglichen.)
Ueberhaupt hatte damals der Geiſt der Unzufriedenheit
und der Wunſch, ſich der päpftlichen Herrſchaft zu entziehen,
) Der Italiäner bat ein energifches, damals oft vernommenes
Spridwort: pagare il boja che ci frusti.
570
zwei Daupturfachen. Die eine lag in jenem Haſſe gegen
bie Öftreichifche Herrfchaft und bie auf der ganzen Halbinfel
laftende Wiener Politik, welcher ſich der Nation bemächtigt
hatte. Dean glaubte, vie päpftliche Regierung fei ganz
diefem Einfluffe hingegeben; Tonnte fie fich doch nur durch
öftreichifche Waffen behaupten. Die andre Urfacdhe lag in
ben inneren Zuftänden, die nun, fo wie fie von 1824 Bis
1846 und zum Theil wieder nach der Reflauration, ſeit
1850, waren und find, näher betrachtet werben müſſen.
Bemerken wir vorerft, daß der Kirchenftaat, wie Italien
überhaupt, an einem großen Liebel leidet; dieß iſt der Man
gel an Ständen. Es gibt vort keinen felbftftändigen Bau⸗
ernfland und feinen Landadel. Dort tft nur ein Stabt-
bürgerftand mit einem großentheild trägen, berabgelommenen,
bemoralifirten Batriziatapel. Leo XII. erkannte dieſes Uebel,
und meinte, den Abel durch Herftelluing gewiffer Rechte des⸗
felben wieder heben zu können; aber ver Verſuch fcheiterte
ſchon an der dort Alles überjchattenden focialen Stellung
der Geifilichkeit und ihren Prärogativen. Neben ihr konnte
en felbftftänpiger Adel nicht auflommen.
Und doch wäre das Voll im Kirchenftaate bei ben Bor-
zügen, die beſonders der gemeine Italiener befigt, nicht
eben ſchwer zu regieren. Ein Dentfcher fchrieb 1867 aus
der Campagna von Rom:’) Unter all’ diefen Taufenben, bie
') Allg. Zeitung, 5. Im. ©. 75.
671
mir vorübergingen, unter allen den Proceffionen, denen ich
mich bei der Rückkehr nach vollenbetem Feſt anſchloß — —
bemerkte ich nie einen Zug von Rohheit. In der That
bürfte die Sittenreinheit des bortigen Landvolkes, nament-
ih im Punkte der Nüchternheit und ber geichlechtlichen
Berhältniffe, ven Neid mancher ſich beifer dünkenden Na⸗
tionen erregen. Beſtünde uur dort nicht jene traurige Ein-
richtung, die der Fluch Irlands ift, daß der Grundherr ven
Eolonen zu jeder Zeit beliebig fortfchiden kann‘). Indeß
war das Landvolk der päpftlichen Regierung keineswegs fo ab»
geneigt, wie die Städter.) Dan Hagte nur über vie Schwäche
oder Sorglofigkeit der Regierung, welche dem Landbewohner
feinen hinreichenden Schuß gegen das Räuberunweſen ges
währe, und über die drückenden und hoben Sporteln, welche
an bie geiftlichen Behörden, namentlich vie bifchöflichen
Kanzleien bezahlt werden müffen. Anders verhält es ſich
mit der ftäntifchen Bevölkerung, welche im Allgemeinen dem
„Prieſter⸗Regimente“ abgeneigt war, und eine Menge von
lagen und Befchwerden zu führen hatte. Vor Allem ſchmerzte
ſchon die Ausfchliegung der Laien von den höheren Aemtern,
y Selfferig, Briefe aus Stalin. II, 57.
2) Freilich behauptet ber Carb. Maffimo in feinem Berichte
ans Imola dv. J. 1845, baß bort nur noch una parte ben
piccola della classe agricola, non ancor guasta del tutto
nelle campagne, ber Regierung ergeben ſei. Documenti sul
Gov. pontif. 1., 66.
572
bie burchaus den Prälaten vorbehalten find. Die Stellen
find zwifchen ven Geiftlihen unb ven Laien fo vertbeilt,
daß jene allein vie Regierenden, dieſe aber nur die Werk⸗
zeuge find, mittels welcher regiert wird. Das Staates
felretatiat, bie Sagra Eonfulta, die Camera Apoftolica, das
Buon Governo, die Eongregazione economica, vie Polizei,
ber Zeforo, das Kriegsminiſterium, vie Legationen und
Delegationen, bie Leitung ver Juſtiz und bes Unterrichts
— Alles war in den Händen von Carvinälen und Prälaten.
Geber weltliche Beamte wußte aljo, daß feine Laufbahn eine
nothwendig beſchraäͤnkte ſei, daß er auch nach einer langen
Reihe von Jahren und treu geleiteten Dienften doch nicht
mehr vorrüden, daß felbft der minder befähigte Geift-
liche ihm werbe vorgezogen werben. Da nun im Kirchen
ftaate die menfchliche Natur nicht anders geartet ift, als im
ber übrigen Welt, fo war die ganze Laienbeamtenwelt inner»
lich unzufrieden und gerne bereit, einer andern Wegierung
fich anzufchließen, wie bie jüngften Ereigniffe gezeigt haben.
Aber auch über die Art ver Auftellung wurbe geflagt. Jenes
Syſtem langer vorbereitender Stubien und wieberholter
lorgfältiger Prüfungen, durch welches andere Staaten Bürg⸗
haften für gerechte Vertheilung ver öffentlichen Aemter
darbieten, war dort unbefannt. Der Laie mußte irgend einer
religiöfen Aggregation angehören, mußte ver Schägling eines
Brälaten, oder Cardinals, oder eines Moönchsordens fein, um
573
auch nur zu einer unterften Stelle zu gelangen. So waren
die weltlichen Beamten die gezwungenen und häufig bie ftet6
bebürftigen Elienten ver Prälaten. Die Folge von Allem
war, daß bie vornehmeren und gebildeteren Stände fich
größtentbeild, und zwar gerabe die unabhängigen, ſich ſelbft
achtenden Charaktere unter ihnen, vom Staatsdienſte ab⸗
wanbten, und eben bamit, zur Unthätigfeit und Inhalts
fofigleit des Lebens verurtheilt, unvermeidlich die Maſſe der
Unzufriednen und gelegentlich bie ber Conſpirirenden ver.
mebrten.
In dem Briefe eines dentſchen Edelmanns an mid,
der als feinfinniger und gründlicher Beobachter fremder
Bollözuftände einen europäifchen Auf befitt, und längere
Zeit im SKicchenftaate lebte, heißt es: „ES ift die tiefe
Berborbenheit der mittleren und höheren Stände und der
daraus bervorgegangenen Beamtenwelt, welche bie päpftliche
Regierung fo herunterbringt. Die Unzuverläffigleit und
Benalität verfelben ift nur mit dem ruflifchen Beamten⸗
thum zu vergleichen. Unter ven 5000 Beamten find etwa’
2 — 300 Geiftlihe. Sie find moralifch die befferen, faft
nie beftechlich gegen Gelb, aber weicdhlih, ohne Energie,
träg; dagegen find alle Laienbeamte faft ohne Ausnahme
beftechlich, unzuverläffig.“
Hiezu kam das Gefühl, daß bei dem Mangel feiter
Ordnungen Freiheit, Vermögen, Ehre der Einzelnen ver
674
Willkühr der Herrfchenven preißgegeben fel; denn bie vor⸗
bandenen Gefeße boten feine Sicherheit, und konnten von
den oberften Autoritäten auch in einzelnen Fällen befeitigt
werden. Bedurften doch die Sbirren zur Verletzung
des Domicil8 bei Tag und Nacht nicht einmal einer bes
fonderen Vollmacht.) ALS die drei Hauptwunden ver Yuftiz«
verhältniffe im Kirchenftante bezeichneten die Unzufriebenen
die Civil⸗Gerichtsbarkleit ver Bifchöfe, den privilegirten Ges
richtsſtand der Geiftlichen, fowie die ungleiche Beitrafung
berfelben, und das Inquifitionstribunal.”) Die Bifchöfe,
die dort ihre eigenen @efängniffe haben, richteten und
ftroften in allen ragen, welche geiftlihe Berfonen und
geiftliches Eigentbum betrafen, in geichlechtlichen Verhält⸗
niffen, in Fällen der Blasphemie und ber Uebertretung ber
Faſten⸗ und Feiertaggeſetze.')
Der Cardinal und Biſchof von Sinigaglia verordnete
im Jahre 1844, junge Männer und Mädchen dürften ein⸗
ander keine Geſchenke geben, und bie Väter dieß nicht dul⸗
1) Aguirre, l’Itslie apr&s Villafranca. 1859, p. 110. Der
Berfaffer it oder war Bewohner des Kirchenflante. Er ges
hört zu denen, welche bie weltliche Herrſchaft des Papftes er-
halten wiffen wollen, und an die Heilbarkeit ber beftehenden
Gehrechen der Verwaltung glauben. Aber das Bilb, bas er
von ber bisherigen Regierungsweiſe entwirft, iſt ein ſehr
büfteres.
?) Montanelli, Memorie sull’ Italia. II, 79.
?) Cause di stupro e di illegitima pregnansa.
575
den, im Webertretungsfalle foliten Väter und Söhne ober
Töchter mit Gefängnig von 15 Tagen büßen.‘) Die Bis
ſchoͤe der Provinzialſynode von Fermo bedrohten im Jahre
1850 die Wirthe mit Strafen, welche an Faſttagen ihren
Bäften auf deren Verlangen Fleiſch reichen würden, wenn
diefe nicht zwei Zeugniffe, eine® vom Arzte und eines vom
Pfarrer, vorlegten.?)
Eine eigne neue Strafe war erfonnen worben, von
der 229 PBerfonen in der Romagna auf einmal betroffen
wurden: Das Precetto politico erfter Klaſſe. Der damit
Belegte durfte feinen Geburtsort nicht verlaffen, mußte zu
einer beftimmten Stunde bes Abends zu Haufe fein, unb
e8 vor Sonnenaufgang nicht verlaffen, alle 14 Tage ſich
dem Polizei⸗Inſpektor vorftellen, jeven Monat beichten, und
dieß der Bolizei mit einem, von einem approbirten Beicht-
vater ausgeftellten, Zeugniffe beweifen, und alle Sabre breit
Tage lang geiftliche Exercitien in einem vom Bifchofe ihm
zu beflimmenven Kofter machen. Verſäumung einer biefer
Berpflichtungen wurbe mit brei Sahren öffentlicher Zwangs⸗
arbeit beftraft. In Stalten meinten Viele: Es dürfte wohl
wenige Länder in Europa geben, wo man eine folche Vers
mifchung von Polizei und Religion gebulbig ertrüge.
1) Das Docıment abgebeudt bei: Gennarelli, i lutti dello
stato Romano. Firenze 1860, p. 160.
®) Documenti sul Governo pontificio, II, 299.
576
Griffen nun ſchon die Biſchöfe und die Präfatenpoltzei
tief in das häusliche und Familienleben ein, fo kam nod
bie Gerichtsbarkeit der Inquiſition Hinzu. Diefe war ohn⸗
geachtet der Milde, die man ihr nachrühmte,") doch ver
haßt und gefürchtet, weil fie von dem Grunbfag ausgeht,
baß Jeder, der um eines in ihr Forum einſchlagendes Ver⸗
gehen wille, ftrafbar ſei, wenn er es nicht anzeige, ber
Denuncirende aber durch das Geheimniß gefchigt ift, und
ber Angeklagte die Namen des Anklägers und der Zeugen
nie erfährt.*) | |
Im Jahre 1841 erließ der Inquifitor zu Pefaro, Fra
Filippo Bertolotti, ein Edikt, worin er unter Anbrohung
mancher Strafen, nanelligh der Ercommanilation, Jeder⸗
mann aufforderte, jebes zu feiner Kenntniß gelommene lirch⸗
) Wenn ich nicht irre, find ſeit dem Tode Pins V. (1572) keine
Hinrichtungen durch die Inquiſition, oder überhaupt wegen re⸗
ligiöſer Vergehen, im Kirchenſtaate mehr vorgekommen.
?) Bol. Über die Erbitterung ber Bewohner gegen bie Inquiſttion
die Briefe des Cavalie Tommafjo Poggi von Ceſena an
ben franzöftichen Gefanbten in Rom, Sainte-Aulaire, bei
Gualterio Documenti, I, 274. Unter andern heißt es ba:
„So bilden benn bie Innerften Gebeimniffe ber Gewifſen und
der Familien bei uns ben Gegenftanb gebäffiger Proceburen und
finftrer Sentenzen. So wenig denkt man in Rom baran, fi
mit der Bevöllerung unb mit ber Öffentlichen Meinung zu ver-
ſöhnen.“
677
liche Vergehen, 3. B. wenn Jemand an Fafttagen ohne
beſondere Erlaubniß Fleiſch⸗ ober Milchſpeiſen gegefien,
anzuzeigen.“) Verwundert fragten bie im Kirchenftante
wohnenden Fremden: ob denn das Sant’ Uffizio wirklich
Bedienten und Mägven es zur Gewifjensfache machen wolle,
ihre Herrichaft, die etwa an einem Faſttage Fleiſch gekocht,
zu denunziren und in einen Prozeß zu vertideln.
Der Geiftliche, wenn er mit der doppelten Macht, ber
gerichtlichen und ber abminiftrativen ausgerüftet ift, vermag
fi nur äußerft ſchwer ver Verjuchung zu erwehren, fein
individuelles Dafürbalten, fein fubjectives Urtheil über bie
Perjonen, fein Mitleid, feine Neigung Einfluß gewinnen
zu laffen auf feine amtlichen Handlungen. Er tft als PBriefter
bor Allem Diener und Herold der Gnade, der Vergebung,
bed Strafnachlaffes; er vergißt daher allzuleicht, daß in
menfchlichen Verhältniifen das Geſetz „taub und unerbittlich“
ift, daß jebe Bengung bes Nechtes zu Gunften des einen
fi in eine Beſchädigung eines ober vieler Anbrer ober ber
ganzen Gejellichaft verwandelt; er gewöhnt fich allmälig,
feine Willkühr, anfänglich immer in ver beften Meinung,
über dad Gefeg zu ftellen; ift doch der Staliäner an fich
Ihon wenig geneigt, die unparteiifche, leidenfchaftslofe Con⸗
fequenz des Gefeges zu begreifen und zu üben. Die ein-
1) Documenti, I, 308.
v. Dölinger, Papftthum. 37
578
mal betretene abfchäffige Bahn führt dann unaufbaltjam
weiter. Und nun bie fubalternen weltlichen @erichtsbeamten,
gewöhnfih nach Gunſt und geiftliher Empfehlung ange
ftellt, gering befoldet, mit Weib und Kind, und mit bem
von den geiftlichen Oberen gegebenen Beiſpiele ver willtühr-
lichen Rechtsbehandlung vor Augen. So ergibt fi denn
jene Beftechlichleit und Juſtizwillkühr, welche Cantu als
Züge der Rechtspflege unter Gregor X VL. angibt.")
Noch bebenklicher if die Haubhabung der Bolizeige-
walt durch Geiftliche; bier ift die Anlegung eines dem chrift-
lichen Urtbeile fremben Maßſtabes fchwer zu vermeiden. Die
Bolizet ift in einem abfolut regierten Staate im Grunde all
mächtig, und fie macht in ver Berührung, im Kampfe mit dem
täglichen Leben, in einer Zeit politifcher Aufregung und häu⸗
figer Verſchwörungen von dieſer Allmacht einen quäferifchen
Gebrauch, fie läßt Dinge ungeftraft, die, evangeliſch beur-
teilt, ſchwere Sünden find, fie ftraft andre, in denen ver
Chriſt nichts Sundliches entvedt. IR es zu vermunbern,
wenn das Volk in dem Widerfpruche zwifchen dem priefter-
lien Charakter unb ver polizeilichen Amtstbätigleit fich
nicht zurechtzufinben vermag?
') La giustizia era corruttibile non solo, ma esposta agli
arbitrij de’ superiori, e alle interminabili restituzioni in
intero. Storia degli Italiani, VI, 684,
579
In einem fchlimmen Eontrafte mit der fonft ale Charak⸗
terzug der päpftlichen Regierung mit Recht gepriefenen
Milde ftand die Willlühr der Einkerkerung, und die Ans
füllung ver Gefängnifie, da Niemand, wie in andern Län⸗
dern gefchieht, zur Bürgſchaft zugelaffen wurde. Carbinal
Morichini hob in feinem Finanzberichte den fchlechten Zu⸗
ftand der Gefängniffe, die nothwenbige Demoralifation ber
darin angehäuften Perfonen hervor.) Aber die finanzielle
Bebrängniß machte es auch bier unmöglich, burchgreifenbe
Reformen eintreten zu laſſen. In den traurigen Zeiten feit
1848 erzeugte das Syſtem bes maflenbaften Einkerkerns
in den ungefunden Gefängniffen noch größere Erbitterung.
Der Sovernatore von Faenza, Luigi Maraviglia, ftellte
im Jahre 1853 vor: man babe eine große Anzahl von
Perſonen ohne Verbör, ohne Proceß, vielleicht felbft ohne
Berdacht, blos zur Vorficht in die Gefängniffe gebracht,
wo fie nun fchon Jahre lang fich befänden. Mehr ale 450
Proceſſe ſeien ſchon feit vier oder fünf Jahren anhängig.
Auf ſolche Weife könne keine Liebe zum Fürften beim Wolfe
gepflanzt werben.’) Es verfteht fich, daß folche Dinge ohne
Wiffen des Papftes vorfielen, ber, wenn er Kenntniß da⸗
1) Documenti sul gov. pontif. f. I, 578.
?) Documenti, I, 42.
87?
650
von gehabt Hätte, bei feiner Herzensgüte und Gerechtigleits-
Itebe ſicher dagegen eingefchritten wäre.
Es if feit 30 Jahren Unglüd über Unglüd über bie
päpftlihe Regierung im Kirchenftaate gekommen, aber zu
dem Traurigften gehörte doch dieß, bag man es für noth⸗
wenbig hielt, Geiftlichen vie Verurtheilung und Beftrafung
politifcher Vergehen zu übertragen. Wenn man, wie e6
häufig geſchah, Befinnungen und Meinungen, die nach bem
eignen Geftänpniffe der Negierenden vie allgemein herr⸗
ſchenden waren, als fubfintäre Beweiſe gebrauchte, um dar»
auf die Verurtheilung eines nicht hinreichend überführten
Menſchen zu den ſchwerſten Strafen zu begrünven, baum
mußte freilich die luft zwifchen dem Volle und dem Kle⸗
rus immer Ereiter werben.')
Eine weitere Beſchwerde veranlafte bie exceptionelle
und bevorredhtete Stellung des ſehr zahlreichen Klerus. Der
Cardinal de Luca conflatirt das Prinzip, daß vie Verfü-
gungen und Gefeße des Papftes als weltlichen Fürſten für
die Geiftlichen nicht verbindend feien, wenn nicht ausbrüd-
lich gejagt fei, oder aus dem Inhalt präfumirt werden mäffe,
daß er zugleich als Kirchenoberhaupt das Geſetz gegeben
babe.?) Die Geiftlichleit Hat alfo ihr privilegirtes Forum,
1) Vergl. die im 2. Bde. ber Documenti sul Gorerno ponti-
Acio abgebrudten Proceßakten und Sentenzen. passim.
®) Dottor volgare, lib. 15, c. 1.
581
fo daß, wenn ein Geiftlicher und. ein Laie fich an einem
Verbrechen betheiligen, fie von verſchiedenen Berichtähöfen
gerichtet werben. Aber auch die Beftrafungen find verfchies
den. Die priefterlichen Schuldigen haben das Vorrecht,
immer milder gejtraft zu werben als bie Laien.) Das
umgelehrte Verbältnig würde das gerechtere fein, meinte
Maffimo v’Apeglio.
Ein höchft bebenklicher Fall dieſer Art, ver von ben
englifchen Blättern und Zeitfchriften mit frohlockender Schaden⸗
freude begrüßt und ausgebeutet wurde, und in ganz Europa
peinliches Aufjeben erregte, fam im Jahre 1852 zum Vor⸗
fein. In dem Proceffe zu London, welchen der zum Pros
teftantismus übergetretene römifche Dominikanermönch Achilli
veranlaßte, ergab fich, daß dieſer Mann wegen wieberholter
ſchändlicher Verbrechen, die in deutſchen Landen infamirende
Zuchthausſtrafe zur Folge gehabt hätten, vor ben geiftlichen
Tribunalen geſtanden, aber mit einer Gelindigkeit, die in
jedem andern Lande unmöglich gewejen wäre, bebanbelt
worben war, daß trog der Verurtheilungen der Provinzial
1) Die Geſetzesbeſtimmung lautet: Ove pero possa aver luogo
la pena stabilita pei laici, si aocorda loro (ai cherici) nei
delitti coommuni un grado di minorasione di pena. linb:
Be la pena stabilita della logge d l’opera o la galera, tras-
mettono il oondannato al luogo ove trasmetterebbe il Tri-
bunale Eoolesiastico.
BR 8—
bes Ordens ihn noch als feinen Gehilfen unb Begleiter
bei der Bifitation mitgenommen, daß man ihn dann zum
Projeflor im Collegium der Minerva zu Rom gemacht, und
als Prediger nach Capua geſchickt hatte”)
Eine Zwifchenbemerkung fei mir bier geftattet: man bat
oft mit Verwunberung auf ben völligen Umfchlag ber eng»
liſchen Politit bezüglich des Kirchenftaates hingewieſen. Eng⸗
land war es, welches energifch zur Rückgabe desſelben an
Pins VII. mitwirkte. Lange Zeit betrachtete bie römifche
Regierung die engltiche als eine durchweg wohlwollende und
befreundete Macht. Gregor XVI. erllärte dem Lord Nor»
ı) Ee war noch dazu bie katholiſche unter bem Batronat bes Car-
dinals Wiſeman erſcheinende Zeitfchrift, ba8 Dublin Review,
June 1850, welches biefe Thatfachen zuerft an's Licht brachte.
Dann lam infolge bes von Achilli gegn Newman einge-
feiteten berühmten Proceffes noch weit mehr durch bie Zeugen⸗
ausſagen zu Tage; bie Sache bildete Wochen lang ben Banpt-
inhalt aller englifchen Zeitungen; Newman's Proceßloſten wur-
ben buch eine allgemeine Eubfeription in ben katholiſchen
Ländern gebedt. Die Procefacten, von Finlaſon beran®
gegeben, erlebten binnen Kurzer Zeit mehrere Auflagen. Welche
Scälüffe man proteftantifcherfeits daraus zog, welche Vorwürfe
man bem römifchen Stuhl machte, bavon gibt unter unzähligen
andern ber Artikel im Christian Remembrancer, ®b XXIV,,
p. 401 —424 einen Begriff. Weber in England noch in Rom
wurbe auf fo fchneidenbe, in ben Times u. f. w. natärfich
noch gefchärfte Vorwürfe eine Antwort verfucht.
PYy —;
583
manby im Yahre 1844: er wünfche fehnlih, daß England
in birelte biplomatifche Verbindungen mit dem vömtjchen
Stuhle treten, und einen Gefandten nach Rom fenben möge.
Im April 1847 fagte der päpftlicde Nuncius Fornari in
Paris demfelben Lord Normanby, es ſei fchon lange ver be⸗
harrliche Wunſch der römifchen Regierung, daß Englaud
doch derſelben eine thätigere moraliſche Unterſtützung ge⸗
währen, und dadurch die Sache der ſocialen Verbeſſerungen
in Italien fördern möge.) Lord Balmerfton, damals Mi⸗
nifter des Auswärtigen, ſandte denn auch Lord Minto mit
der Weiſung nach Rom, dem Bapfte die entfchiedenfte Unter-
ſtützung Englands bei der Durchführung des Memorandums
ber Mächte von 1831 zuzufagen. Damals dachten bie eng⸗
liſchen Staatemänuer noch nicht daran, den Fall der welt«
lihen Herrichaft des Papftes zu beförvern. Das bat fih num
freilich Alles geändert”), fett 1851 ift die englifche Negierung
bie offene Gegnerin des Kirchenftaate und wirft das ganze
Gewicht ihres Einfluffes in die piemontefifche Wagſchale.
Eie fteht dabei unter dem Drude der öffentlichen Meinung
in England, welchem dort jedes Kabinet unterliegt. Auch
1) Bl. das Blaubuch: Correspondence respecting the affairs of
Italy, 1846 —47. London 1849, p. 86. 38,
2) Man vergl. ben Bericht Lorb Minto’s Über feine Unterredung
mit bem Papfte, Ian. 1848. Correspondence, Part II., 1848
p- 4.
584
ein Torh⸗Miniſterium würde biefer herrſchenden Stimmung
in feiner italiäniſchen Polttit Rechnung zu tragen genöthigt
fein. Diefe öffentlihe Meinung aber iſt durch bie Be
richte der im Kirchenſtaate reſidirenden Englänber in ben
Zagblättern, fowie durch das von dem Schaklanzler Glad⸗
ftone in's Englifche überjegte Wert Farinie’') gebilbet umb
beftimmt worben, fo daß gegenwärtig der Wille ber ganzen
Nation und die Politit ihrer Regierung dem Fortbeflande
des Kirchenſtaats auf's Feinpfeligfte entgegentritt. Bei einem
Theile des Volles, aber nur bei einem heile, ift es aller
dings der proteftantifche Haß gegen ben päpftlidden Stuhl,
welcher mitwirkt, gejchärft durch den Zorn über bie zwei
Maßregeln Rom’s: die Errichtung ber engliihen Bisthüzer
und bie Verwerfung ber confeffionelf gemijchten Regierunge-
Collegien in Iceland. Die Bolitit des Kabinets wirb z1-
gleich durch den Wunfch beftimmt, ein mächtiges Italien =
Stande kommen zu fehen, welche auf eigenen Füßen za
ftehen vermöge, und im Gegenfate gegen Frankreichs br»
hende Uebermacht englifcher Leitung fich anvertraue.
Auch die Lage und ſociale Stellung bes Klerus erheifchte td
) Lo Stato Romano dall’a, 1815 all’a. 1850. 4 Voll. $a:i-
ni's Werk wirb in Rom ſelbſt als in ben Thatſachen ges
und glaubwärbig bezeichnet. Coppi hat ansgebehnten Be
brauch bavon gemacht.
685
greifende Reformen. Daß er im Ganzen fittlich tadellos
fei, wird allgemein zugeftanden’); aber die Bedingungen zum
Eintritt in den Priefterftand waren ſehr niebrig geftellt,
man konnte ohngeachtet der vollftändigften Unwiſſenheit uub
Geiftesrohheit fo leicht Priefter werben, und babe gab es
fo viele Pfründen, welche werner Beichäftigung noch anſtän⸗
diges Auskommen gewährten. Die folge war, daß bie
Schaar der müßigen, den Tag im Kaffeehauſe und auf
den Strafen verbringenven, auf ungeiftliden Erwerb anges
wiefenen Geiftlichen übergroß, und das Anfehen des ganzen
Standes beim Volke dadurch ſehr geſunken if’). Auf dem
Lande befand ſich der wichtige Stand ber Pfarrer in kläg⸗
licher Armuth,’) und ließ, vielleicht eben darum, und aus
Zrägbeit das Volt ohne Unterricht.) Die höheren Stände
wänfchten, daß der Druck der Cenſur befeitiget oder erleich⸗
) Farini I, 164. Vergl. Appendice al libro d’Äzeglio,
1846. p. 57. Aguirre p. 112.
) Die in Rom gemefen, wiflen, was man bort preti di piazza
nennt. So etwas findet fih nur noch in Rußland.
?) I curati che sono generalmente poverissimi, ad hanno il
peso de’ poveri, fagt Card. Morichini in feinem Bericht,
p. 575.
*) Appendice al libro d’Azeglio, p.56. Der Berf., ein Roma-
guole, meint: il clero pontificio & il piü ignorante di tutto
il olero cattolico salvo poche ecoesioni. In andern Xheilen
Italiens ift es freilich nicht beſſer, da bie Biſchöfe mit einer
__ 56
tert würde. Man bat es, fagten bie Gebilveten im Kirchen⸗
ftaate, dahin gebracht, daß es in dieſem fchönften, begabteften
Theile Italiens eigentlich feine Literatur mehr gibt, daß
außer einigen archäologifchen und lokalgeſchichtlichen Ar⸗
beiten faft nichts von irgend einer wiflenfchaftlihen ober
literarifchen Bedeutung ericheint. In der That hatte Leo
XI. die durch Dominikaner⸗Mönche ohnehin ſchon mit
größter Aengftlichleit gehanphabte Präventiv- Cenjur noch
gefchärft durch die Beftimmung, daß eine Schrift, bie
durch irgend eine Aeußerung das Misfallen einer fremben
Regierung erregen, oder auch nur zu bedenklichen Streitig-
feiten Anlaß geben könnte, nur mit Erlaubniß bes Staats»
ſekretariats veröffentlicht werben bürfte”) So fühlte man
ſich nach den verſchiedenſten Richtungen hin beengt, gehemmt.
Die Bewohner von Forli wünſchen einen landwirth⸗
ſchaftlichen Verein zu errichten; fie erhalten endlich nadh
langem Zögern bie Erlaubniß dazu von ber Congre⸗
gazione degli Studi, aber unter der Bedingung, daß alle
Mitglieder erft vom Negierungspräfiventen approbirt wer-
Leichtigkeit, wovon man in Deutihland keine Vorftellung Hat,
bie Orbination gewähren. Man vergl. was ber angeichene,
Pädagoge, Prof. Domenico Berti, in ber Rirvista Italiana,
1850, I., 128 — 124, über die unglaubliche Unwiſſenheit vieler
Geiſtlichen in Piemont jagt.
3) Coppi IX., 76.
\
687
den, daß fie nicht zufammentommen, blos um fich über land⸗
wirtbichaftliche Gegenftände zu befprechen, daß vielmehr bei
jeder Zuſammenkunft eine Abhandlung vorgelefen werbe, bie
vorher von der Cenfur approbirt worben.) Natürlich gab
man das ganze Unternehmen fogleih wieber auf. Schwer
litt das Anſehen ver Regierung und das Vertrauen
bes Volles durch ven zerrütteten Zuftand der Staatsfinanzen.
Anleihen zu den ungünftigften Bebingungen, einmal bei
Rothſchild foger nur zu 62'/,. Procent des Nennwerthes,
ein jährliches Deficht von über 2 Mill. Gulden, und große
Zerrättung und Unorbnung im Haushalt. Es gab kaum
ein Land in Europa, wo eine fo bobenlofe Willkühr im
Vinanzgebiete herrſchte. Namentlich wurde der Teſoriere
Toſti als Mufter eines fohlechten Finanzminifters betrach⸗
tet. Als Galli im Jahre 1848 dieſes Miniſterium an⸗
trat, erflärte erin einem offiziellen Berichte: für das Vergangene
tönne er nicht die geringfte Verantwortlichleit übernehmen,
da viele Rechnungen nicht feftgeftellt feien, eine Menge von
Belegen mangelten, vie Ausgabenverzeichniffe zum Theil
nicht aufgefunden werben könnten, und bie vorhandenen,
im Allgemeinen mit Aenderungen, Zuſätzen und Abzügen,
bie jede Beglaubigung derſelben unmöglich machten, über-
laden jeten.*)
I) Documenti, I, 540.
N) Aguirre p. 141.
688
Zudem wurde in ganz Italien ver päpftlichen Berwal⸗
tung der Vorwurf gemacht, daß fie durch bie Lotterie, bei
welcher Geiftlihe zu funkttoniren Tein Bebenten tragen,
ein Lafter, zu welchem ber gemeine Staliäner an fich fchon
binneigt, die Spielwuth, nähre und ermuntere. Alexau⸗
ber VII. und Benebift XIII. hatten ehemals das Lotto⸗
fpiel unter Ercommumnication verboten. Cardinal Morichint
erlärte in feinem Berichte" über den Stand der Finanzen:
es fet dringend rathſam, die Einnahme aus bem Lotto
„ber öffentlichen Moral aufzuopfern.“) Der Papft hätte
es mit Freuden gethan, aber das Defizit und bie nenen
Kataſtrophen, welche das Land trafen, machten e8 unmöge
lich.)
Sp war denn bie Stimmung in ben Provinzen büfter,
verbittert. Die Stäpte richteten ſtarke Petitionen an das
Carbinalscollegium. Es hieß: die Verwendung der Groß⸗
mädte für uns ift vergeblich geweien; von ihren Vorſchlä⸗
gen ift nichts verwirklicht, oder das Gegebene iwieber zurück⸗
genommen. Dem Volke ift nicht einmal geftattet, feine
1) Man vergl. was Azeglio, Raccolta degli scritti politici,
1850, p. 67, Tommasco, Roma e il mondo, 1851, p. 243 usb
faſt Alle, bie über bie dortigen Zuftänbe gefchrieben, Darüber fagen.
?) Documenti sul governo pontif. I, 577.
589
Wünſche der Regierung vorzulegen.) Gegen zweitauſend
Berfonen find verurtbeilt, leben in ven Gefängniffen, oder
als Geächtete im Auslande. Und in welchen Gefängnifien?
in ungefunben Kerken, wo Schuldige mit Unfchulbigen, po»
litiſch Verdaͤchtige mit Werbrechern gegen Eigenthum und
Leben vermengt find.) Unfrer Gefeßgebung fehlt Einheit
und Harmonie; Niemand Tann wiffen, welches ältere ober
neuere Gejek, Motuproprio ober Edikt in einem gegebenen
Falle gegen oder für ihn zur Anmwenbung kommen wirb.?)
In unfrer Strafgefeßgebung ift Alles vag, ungewiß und
wiberfprechend. Eine gefetlofe Polizei treibt ihre Willkühr
aufs Aeußerfte, und mifcht ſich in Alles.) Anftellung und
Defdrverung im Staatsbienfte hängt völlig von ber Gunſt
oder Ungunft einiger Mächtiger ab; wiſſenſchaftliche Bil⸗
bung, Erfahrung und Verbienft hat wenig bamit zu
fchaffen.‘) Man verweigert und Eifenbabnen; ber Han-
bel erliegt unter dem brüdenden Prohibitiv⸗Syſteme.
Wir werben ausgefogen durch Monopole und Steuerver-
>
1) Gualterio, documenti. p. 184,
2) Appendice al libro d’Azeglio p. 51.
2) Aguirre p. 134.
*) Un capo di polizia appunto perchd non vi & un codice,
pud far tutto &c. Appendice p. 47.
6) Was hier gemilbert ausgebrüdt ift, ſchildern bie Staliäner, ber
Berf. des Appendice p. 79, Uguirre, Azeglio und Andre
mit den büfterflen Farben.
0
pachtungen, welche die unentbehrlichften Lebensbebärfniffe
vertheuern, einige Berfonen auf Koften des Staates und
des Vollkes bereichern, einen Theil des Volles bemoralifiren,
und bie Regierung mit dem Haffe von vielen Tauſenden
belaſten.) Durch unfer unvernänftiges Mauthweſen ift
unfer Land der klaſſiſche Boden des Schmuggels und
Schleichhandels geworben. ine Induſtrie bat bei unfern
Zuftänden und Geſetzen fich nicht zu entwideln vermodht,?)
und bei dem baburch verurfachten enormen Misverbältniffe
zwilchen Ausfuhr und Einfuhr,’) geben wir einer völligen
Verarmung entgegen. Man rechnet uns freilich vor, baf
wir weniger Abgaben zahlen, ald andre Böller, aber e6
wird dabei nicht angefchlagen, daß wir weit ärmer find ale
bie Andern, und baß drückende Communalabgaben und Laften
daneben beftehen.
Die Militärcommiffionen und ihr Verfahren in ver
Romagna 1843 und 1844 fteigerten die Erbitterung. Eine
Schaar von Infurgenten bemächtigte ſich ohne Widerſtand
der Stabt Rimint, entwich aber dann nad Toſcana. In
!) Appendice p. 68.
2) L’industris rimaste in culla fra noi nel meszo del pro-
gresso di tutta IVuropa — fagt Carb. Moridini im ſei⸗
nem Berichte p. 877.
2) Einfuhr: 92,000,000 Franten. Ausfuhr: nur 81,000,000.
Zeller histoire de l’Italie. 1853. p. 558.
691
einem 1845 erſchienenen Manifefte an vie Fürſten und
Bölter Europa's begehrte man 1. Amneftie; 2. Verleihung
von Civil⸗ und Criminalgeſetzbüchern, welde nach denen |
andrer gebilveter Nationen abgefaßt wären mit Deffentlich-
teit ver Verhandlungen, Geſchworenen, Aufhebung ber Con⸗
fiscation und ber Todesſtrafe für politifche Vergeben; 3. Ent -
bindung der Laien von ber Gerichtsbarkeit ver Inquiſition
und ber geiftlichen Gerichtshöfe; weiter: freie Wahlen ber
Muntcipalräthe, Errichtung eines Staatsrathes in Nom,
Verleihung aller bürgerlichen, milttärifchen und richterlichen
Aemter an Weltlihe, Milderung der Cenſur, Entlafjung
ber fremden Truppen, Leitung bes Unterrichtsweſens durch
Weltliche, Einführung einer Bürgerwache. Farini foll ber
Berfaffer des Manifeftes geweſen fein, bem aber fpäter
felbft manche der Forberungen unbillig ober zu weit aus⸗
greifend ſchienen. \
Die päpftliche Regierung erflärte in einer offiziellen
Gegenſchrift:) Ste weife alle dieſe Forderungen zurüd.
Die Ausfchliegung der Laien von ben höhern Aemtern, hieß
es, ſei dadurch gemilvert, daß man Prälat werben könne,
obne Priefter zu fein, blo8 durch Anlegung des Gewandes
und Beobachtung bes Cödlibats.“) Die Inquifition, welche
) Sie fieht bei Margotti, le vittorie della chiesa, Milano
1857, p. 490 — 507.
*) Kaum mochte fi Jemand durch die Hinweiſung auf jenen
boch ſehr gelinde verfahre, auf vie Geiftlichen beſchränken
und die Laien davon befreien zu iollen, wäre ungerecht.
Univerfitäten und Literatur befänben fi im blühenden Zu-
ſtande (wovon freifih ganz Europa das Gegentheil bes
bauptete.) Und fo ergab ſich denn als Anficht des Staats⸗
Sekretariatd: daß die Behauptung, im Kirchenftante bes
ſtünden Gebrechen und feten Reformen nothwendig, blos bie
böswillige Erfindung einiger unruhiger Köpfe fei.
In ganz Stalten berrfchte vie entgegengefeßte Ueber⸗
zeugung. Die Männer, beren Worte bei ber Nation am
meiften Gewicht Hatten, ſprachen e8 alle aus, baß bie
Dinge im Kicchenftaat nicht fo bleiben könnten. Große
Senfation machte die Schrift von Maffimo D’Azeglio.
Selbft Ceſare Balbo, der eifrige Guelfe und Biftorifche
Verehrer des Papſtthums,“) freute ſich, daß die Schriften
von Azeglio und Baleotti, welche die Fehler und Misbräuche
Theil der Prälatur befriedigt fühlen, weldher von bem Priefter
nur das Gewand und ben Edlibat hat, alfo aus Laien beftcht,
bie nur als Briefter masfirt find, Es tft begreiflich, daß ſolche
Bwitterweien, bie, wie man meint, ihre Ampbibienflellung mur
aus Ehrgeiz oder Geldgier eingenommen haben, nicht hoch im
ber Öffentlichen Meinung fiehen, und baß bie Verheiratheten,
benen biefe halben Geiftlichen im Amte vorgezogen werben, ihre
Zurüdfegung nur um fo Bitterer empfinben.
') Jo son gran papalino al solito, fagt er von fich im Jahre
1848. Ricottj, vita di Balbo, 1856, p. 265.
698
in ber Regierung bed Kirchenſtaats aufgebedt Hätten,
erjchienen feien, und meinte, die Schrift von Azeglio ſei
nicht ohne Einfluß auf das Eonclave, ans welchen Pius IX.
hervorging, und auf dieſen felbft geblieben.’)
Der Marcheſe Gino Eapponi, fo Hoch geehrt in
Italien wie nur irgend einer, ſprach die Anficht aus:?) im
Kirchenftaate werde nie Friede werben, wenn bie Regierung
nicht aus der Hand ver Geiftlichen in pie der Laien über»
gehe, und erinnerte daran, wie im Mittelalter die päpfts
liche Souverainetät auf der Macht der Idee und bem
Präftigium des Namens beruht Habe, aber allfeitig burch
bie Widerftand leiſtenden Zurisdictionen bed Volles und bes
Adels befchräntt geweſen fe. Die jetige Regterungsweife,
dieſes Hriefterliche, in Alles fich einmijchenve, Zaren erhes
bende, mit Shirren regierenve Abminiftrationswefen, ſei eine
Neuerung der legten Zeiten. Der PBapft möge daher feine
Herrſchaft zu dem, was fie ehemals gewefen, zurädführen,
allmälig eine andre Gattung von Miniftern, andre Inſti⸗
tutionen und Geſetze bewilligen, ſonſt werde die Tiara, mit
Blut befleckt, zuletzt in den Koth fallen.
Die Schwierigkeiten, die mislungenen Verſuche, die
Demüthigungen und Niederlagen der Regierung vermehrten
N) Lettere di politica e letteratura. 1855, p. 356.
2) In ber Gazzetta Italiana, anonym. ©. barüber Montanelli,
Memorie, ], 84.
9. Döllinger, Papſtthum. 38
BER
fih mit jevem Tage. Die Misverhäftniffe, pie unlösbaren
Berwidelungen, bie Eollifionen, in welche bie regierenden
Praͤlaten und Geiſtlichen zwiſchen ihrem priefterlichen Stande
und den Anforderungen ihres Amtes geriethen, nahmen
fein Ende, erwuchſen wie Polhpen eine aus ber andern.
Alle Werkzeuge zerbrachen der Regierung in den Hänben.
Das päpftliche Militär war fo verachtet, daß bie Leute fich
nicht anmwerben laſſen woliten; hatte man mit hohem Hand»
geld Einige zufammengebracht, fo liefen fie bald wieber
auseinander, oder man mußte bie Deitreicher anrufen, vie
päpftlichen Soldaten gegen den Hohn und bie Injurien des
Volkes zu befhügen.
Aus Ferrara wurde im Jahre 1845 der Regierung
berichtet: Die ganze Benöllerung ber Romagna fei regie
rungsfeindlich gefinnt.‘) Aus Imola berichtete der Legat
Cardinal Maffimo am 12. Auguft 1845: Der Stolz ver
Bevölkerung mache ihr das Priefterregiment ımerträglich;
vom Batrizier bis zum niebrigften Ladenjungen hinab felen
alle verſchworen, jeden von ben Behörden DBerfolgten zu
befhägen und der Strafe zu entziehen. Viele Beamte und
Geiftliche feien geneigt, fih mit den Neuerern zu verflän-
1) 1 pochissimi amici del Governo non hanno voce in queste
provincie, perchd appunto sono pochı e l’Universale d ne-
mioo, Documenti, I, 70.
595
digen; man müffe bie ganze jeßige Generation von 18 Jahren
an aufwärts verloren geben, denn fie fei grunbfägtich feind⸗
lich gegen die Regierung, und man werbe fich immer mit
ihr im Kriegszuftande befinden.) Der Gopernatore von
Rom, Marini, meinte in feiner Antwort: Nach vielen,
auch von anderwärts ber, eingelaufenen Berichten verhalte
es fich freilich jo; zugleich aber berührte er eine Haupt»
quelle des Uebels: Die gezwungene Thatenlofigkeit, ven
Mangel an befriedigenber Thätigfeit, welchen das Regierungs-
foftem mit fich brachte.*)
Manche Prälaten, wie der Cardinal Maffimo, wa⸗
ren geneigt, die Grundurſache ber traurigen Zuftinde un
der Abneigung gegen bie päpftliche Regierung in ber durch
vie franzöfifche Occupation ausgeftreuten Saat der Inpiffe-
ren; und bes Unglaubens zu finden.?) Allein die Laien, wie
Aguirre, Tommaſeo, Azeglio erwiederten: Gerabe bie
großen Gebrechen und Misbräuche in der Civilverwaltung
jeten e8, welche das Volk auch in feinem Glauben irre
machten, fein Vertrauen auf bie päpftliche Reitung ber Kirche
) Documenti, I, 66. Nebenbei geftcht ber Cardinal hier auch
bie mangelhafte Beichaffenheit ber Rechtspflege ein: si rende
formolaria ed inefficace.
?) L’oaio e il niun sfogo che hanno gli amor proprii eccitati
dall’ esempio degli esteri. 1. c. p. 67.
’) Documenti sul gov. pontif. I, 66.
98%
58 _
erjhätterten; in ganz Italien bahne die ungünftige Mei⸗
nung, bie man von den Zuſtänden und ber geiftliden Re⸗
gierung des Kirchenſtaats hege, religiöfer Srriehre ven Weg.")
4. Pins IX., 18316 — 1861.
Aus einem nur breitägigen Eonclave, dem Türzeften
feit faft 300 Yahren, ging Pius IX. hervor. Man hatte
bie Ankunft der frempen Carbinäle abfichtlich nicht erwartet.
Es galt befonders, äftreichifchen Einfluß und öftreichifche
Excluſive abzuwehren. Cardinal Maftai, erft 50 Sabre
alt, von Gregor felbft zu feinem Nachfolger gewünfcht,")
bien der rechte Dann. As Nuncius in Chile Hatte er
bie Welt außerhalb des SKirchenftantes gefehen; er hatte
Vergleiche angeftellt zwifchen ven Zuſtänden anbrer Staaten
und dem feinigen. Im Geifte jeined Vorgängers, oder
eigentlich Lambruſchini's, fortzuregieren, war einfach unmög-
lich geworden; Pius hatte aber auch nicht Die geringite
Neigung dazu. Er fab mehr Unheil als er verbeſſern Tonute,
aber er brachte ven reinften Willen, die unbebingtefte Hin⸗
gebung an feinen Beruf mit auf ven Thron, und als fel-
1) Aguirrep. 174. Tommaseo, Roma e il mondo p. 73.
d’Azeglio, la Politique et le droit chretien p. 115.
®) Das fagt Silvio Pellico, Epistolario, 1856, p. 324.
697
nen Beruf erlannte.er, ein Reformator in der Landesver⸗
waltung, ein Verſohner der Hegierten mit den Regierenpen
zu fein. In dem guten Glauben, daß Liebe nırr @egenliebe,
Wohlthat nur Dankbarkeit erzeugen könne, beganı Pius
feine Regierung mit der umfaffenpften Ammeftie Damit
fagte er ſich aufs beflimmtefte von ver bisherigen Bolitit
nnd Negierungsweife los, aber freilich äffnete er auch da⸗
mit, wie Fürft Metternich fagte, den profeffionellen Brand⸗
ftiftern die Pforten feines Hauſes, geftattete er den radicalen
Verſchwörern, vie bisher vom Auslande her gewühlt hatten,
den Sit ihres Treibens mitten in fein Land zu verlegen.
In der Reinheit, dem fittlichen Adel feiner Sefinnung, zau⸗
berte Pius, der fich darüber wohl nicht verbfenbete, dennoch
nit. Er bielt es für feine Pflicht, die Amneftie zu ge⸗
währen, nicht nur als einen politifchen Alt der Verfähnung,
fondern auch um geſchehenes Unrecht wieder gut zu machen.
Der preußifche Geſandte, Herr v. Uſe dom, führt die eignen
Worte des Papftes an: „Die Amneſtie zu geben, war nicht
nur eine politifche Nothwendigkeit, e8 war meine Pflicht.
Der Haß, der ſich gegen das Papſtthum durch das alte
Syſtem feftgefegt, mußte verföhnt, mit einem Worte, das
Alte durch das Neue nachgeholt und wieder gut gemacht
werden."')
Auch die VBerfprechen von 1831 eudlich zn erfüllen,
V Politiſche Briefe und Charalteriſtilen 1849, ©. 254.
glaubte Pins fich verpflichtet. Am 23. Upril 1848 erflärte
er in einer Anrede an die Carbinäle: Schon feit ven legten
Jahren Bine’ VII. hätten die größeren Mächte von Europa
dem päpftlichen Stuhle Borftellungen gemacht, ex möge doch
in der bürgerlichen Verwaltung Einrichtungen treffen, welche
den Wünfchen ber Laien mehr entfprächen. Zugleich ftügt er
fih ganz auf das Memorandum ber Mächte von 1831,
welches die Einführung von Provinzialräthen und bie Zu⸗
laffung ber Laien zu ben abminiftrativen und richterlichen
Aemtern für Lebensfragen ver päpftlichen Regierung
ertlärt Habe. Sein Vorgänger habe darauf Einiges ver-
fügt, Unberes verſprochen; allein feine Anorbnungen hätten
weder den Winfchen der Mächte entfprochen, noch hätten
fie genügt, das öffentliche Wohl und bie Ruhe tes Staates
zu fichern.')
. Demnach wurden Commiffionen zur Bräfung ber gan⸗
zen Verwaltung, zur Verbefferung ber Gefetgebung, zur
genaueren Eintheilung der Verwaltungszweige eingefekt;
die Wahl Gizzi's zum Staatefelretär fanb allgemeine
Billigung; der Bau der Eifenbahnen, unter Öregor zurüd-
gewiejen, wurde genehmigt. Die Regierung duldete, daß
ba, wo vor wenigen Monaten noch jedes Wort über öffent
liche Angelegenheiten erſtickt worben war, eine politifche
Preffe ſich bilvete, daß die Bedürfniſſe und Zuftänbe bes
1) Dosamenti, I, 405.
699
Baubes und ganz Italiens beſprochen wurben. Ein Eenfur-
Edikt verbefferte durch Einfegung von Cenſurcollegien ben
bisherigen Zuftand, ver Alle ver Wilſkühr einzelner Mönche
überlaffen hatte, und gab bie Erörterung wiffenichaftlicher
Dinge, der zeitgenöfftfchen Gefchichte, ver Fragen über Ader-
bau und Imbuftrie frei.')
Die größte Freude erregte ein Decret vom 19. April
1847, welches die Einberufung ver Notabeln aus ben Pro⸗
vinzen zu einer Staats⸗Conſulta ankündigte. Ein Miniſter⸗
rath warb gebildet, Rom erhielt eine Communalvertretung ;
mehrere andre reformirende Dekrete erfchienen, die Staats⸗
Eonfulta trat zufgmmen und machte gemäßigte Vorſchläge.
In wenigen Wochen fchon war Pius das Tool aller
Staliäner; alle Stimmen rebeten biefelbe Sprache. Sein
Name war ein Talisman; nicht was er wirklich that, fon«
bern was er thun follte, was man von ihm beffte, machte
ihn zum nationalen Heros der Btalläner. Er fellte als
Priefterlönig die Ketten der Nation brechen, follte die übri⸗
gen Regierungen burch fein bloßes Beifpiel nöthigen. Das
mals, fagt Montanelli, war das Präftigtum des Papftes
bie einzige ſchützende Vormauer zwiſchen uns und ben öftrels
chiſchen Waffen.?)
1) Coppi IX, 78.
?) Memorie sull’ Italia. 11, 180.
m _
Laien und Geiftliche wetteiferten, dem reformirenben
Fapfte ihre Hulvigungen darzubringen. Pins, ſchrieb Graf
Balbo,') regiert erft ſechs Monate, und ift in dieſer Spanne
Zeit der thatkräftigfte Reformator dieſes tbatenreichen Jahr⸗
hunderts geworben. Die große Mehrzahl der Geiflichen
im Kirchenftaate erkannte e8 wohl, daß nur auf diefem Wege
der Haß der ftäptifchen Benölferung gegen den ganzen Stand
gehoben werben könne. Man hoffte, die Zeiten feien für
immer vorbei, in benen Zribumale, ganz aus Geiſtlichen ge⸗
bübet, die politifcher Vergehen Angeklagten zum Tode oder
zur Galeere verurtheilten, ohne ihnen die Mittel der Ber-
tbeivigung zu gewähren.?)
Es war nur die Gefinnung aller gebilveten und reli-
giöfen Staliäner, die Graf Eefare Balbo damald aus⸗
ſprach, als er die fchönen Worte an Pius richtete:
Tu non ci maledici! Tu sei figlio
Di nostra etä, e Fintendi e la secondi:
Perdura e avanza! a te bramando mirano
Ormai due mondi.
Tu prineipe, tu padre, tu pontifice,
1) Lettere, p. 366.
®) Bol. den Brief von Poggi an Sainte-Aulaire be
Gualterio, dooumenti, p. 973.
601
Ogni via giä t’apristi, ogni speranza;
Ora dal volgo di color che dubbiano
Ti scerni e avanza.')
Und nicht nur in Itallen, in der ganzen fatholifchen
Welt war allgemeine Freude, war Pius amor et delicise
generis humani. Der Klerus tin allen Ländern, bie reli⸗
giöfen Katholiken, jedermann war erfreut, daß enblich bie
Derjöhnung des römifchen Stuhles mit den Freiheitsineen
der mobernen Völker verkündet und befiegelt fei, daß jene
Makel getilgt werben folle, mit welcher bie Gebrechen und
. Die Unpopularität der Firchenftaatlichen Klerofratie den gans
zen Briefteritand zu belaften fchienen.?)
Es ift bekannt, wie gleichzeitig mit den Anfängen
Bius’ IX. der Ruf nach nationaler Unabhängigkeit, nad
einem freien Stalten fich von einem Ende der Halbinfel
bis zum andern erhob. Wir wollen Eine Nation fein, hieß
es, wollen die Kraft und Würbe einer Nation befigen, wollen
unfer Gewicht mit in die Wagfchale ver Weltgeſchicke legen.
1) „Du fluchſt ums nicht, du biſt ein Sohn unfrer Zeit, bu ver⸗
ſtehſt ſie und förderſt fie. Harre aus und fchreite vor; zwei
Welten ſchauen jett ſehnſüchtig auf Did. — Du Fürft und
Bater unb Hoherpriefter haſt jede Bahn Dir fchon geöffnet und
jede Hoffnung: von ber gemeinen Schaar ber Zweifler ſcheideſt
Du Di nım und fhreiteft furchtlos vor.“
?) Man erinnere fih an den Beifall, den namentlich bie franzd-
ſijchen Biföfe dem reformirenden Bapfte zollten.
m — [[— —e— —— — ——
wollen nicht den fremden Intereſſen transalpinifcher Mächte
verfnechtet fein. Die Bewegung ging nicht mehr von ben
Logen ber geheimen Gefellfegaften ans; fie beherrſchte in
ganz Italien die gebilvete Befellfchaft, vie höheren unb
mittleren Stände. Alles begehrte nationale Selbftftändig-
feit, Sturz ber öftreichifchen Herrfchaft in Oberitaften, ber
Öftreichiichen Präponderanz in ber ganzen Halbinfel, politi-
fche Freiheit.
Auch Nom, auch die Umgebung bes Papftes entzog
ſich damals nicht der allgemeinen ttaliänifchen Begeiſterung
fie die Befrelung von ber Fremdherrſchaft, und bie Aufs
richtung eines italiänifchen Königreichs, und es wirb be»
richtet, Pins habe verſprochen: Wenn ber Steg Karl Alberts
Waffen günftig fei, fo fei er Hereit, ihn mit eigner Hand
zum Könige von Oberitalten zu krönen.) Ein von Rof-
mini ausgearbeiteter Plan einer italiänifchen Conföderation
fand die Billigung bed Papftes. Eine Tagſatzung aller
ttaliänifchen Staaten follte in Rom über Krieg und Frieben,
Zölle, Hanbelsverträge nnd einige andre gemeinfchaftliche
Ungelegenbeiten beratben und entfcheiven, Nom alfo bas
Frankfurt des ttaliänifchen Staatenbundes werben.
Auf Rom aber laftete bereits das Unweſen der Mubbs
) Gioberti, Rinnovamento oivile d'Italis. ], 210.Coppi
X, 868,
608
(bed Eircolo Romans) und der Bürgerwehren, die fich bald
hier, wie überall, unentfchloffen, ohnmächtig oder bdowillig
erwiefen, wenn es Aufrechthaltung ber Orbnung und Schut
ber Regierung galt; rabicale Demagogen erbisten, fanati⸗
firten das Volt durch endlofe Straßendemonftrationen; in
Rom konnte vie Regierung ſchon nicht mehr auf Gehorſam
rechnen.) Unter ver Madle von Huldigungen und Dank⸗
bezeugungen follte der Bapft zu einem Werkzeug ber Maz⸗
äiniften erniedrigt, zum Kriege gegen Deftreich gezwungen
werben. Bius follte nicht blos Theil nehmen an biefen
Kriege, er follte als erfter und vornehmfter Herold vefjelben
an bie Spike treten.) Die Minifterien, größtentheils aus
Laien gebildet, wechfelten rafch. Anfangs 1848, als bereite
in Sicilien und Frankreich pie Nevolutionen ausgebrochen
waren, erjchien das Statuto fondamentale, eine Eonftitution,
in deren Eingang Pius erklärte: er wolle feine Völker nicht
geringer fehägen, nicht weniger Vertrauen ihnen beweifen,
als die Nachbarſtaaten, die ihre Völker reif erachtet Hätten
zu einer nicht blos berathenden fondern auch befchließenden
Bertretung. In alter Zeit hätten die Communen das Recht
der Selbftregierung gehabt. Er wolle dieſe Prärogative
zwei Kammern anvertrauen, beren eine von ihm ernannt,
bie andre gewählt werben folle. In den Punkten, über
') Ranalli, del riordinamento d'Italia. 1859, 298.
!) Ranalli, del riordinamento d’Italia 1859, 298.
=
604
welche dieſes Statut nicht verfüge, und in den die Religion
und Moral berührenden Dingen behalte er ſich und ſeinen
Nachfolgern die volle Ausübung der fonverainen Gewalt vor.!)
Das Statuto unterfchieb fich wefentlich von einer ge-
wöhnlichen mobern conftitutionelfen Verfaſſung. Denn das
Cardinals⸗Collegium follte al® ganz unabhängige, gewiſſer⸗
maßen an der Sonverainetät participirenbe Körperfchaft neben
und über den beiden Kammern ftehen. Im Grunde gab
es alfo drei beliberirende Verſammlungen. Es war natür-
lich, vielleicht unvermeiblich, daß Pius das Statuto bewil⸗
ligte. Jetzt, nachdem der Erfolg gerichtet bat, ift es frei-
Tich nicht ſchwer zu erfennen, daß das Volk für den rich
tigen Gebrauch der durch das Statuto gewährten politi-
fchen Freiheiten zu wenig vorbereitet und erzogen war, daß
vor Allem mehr bürgerliche Freiheit gegenüber ver Beamten»
Willkühr und dem beratorifchen Gebahren der Polizei, mehr
Uebung und Erfahrung In municipaler und provinzialer Selbſt⸗
verwaltung Noth that. Es fehlten die Borbebingungen für
ein normales Berfafiungsieben. Bor Allem Hätte hiezu ge
hört eine Ausſcheidung der geiftlichen und weltlichen Ge⸗
walten und Attribute. Wenn z. B. der Carbinal- Bicar,
der den Papit in deſſen Eigenfchaft ale Biſchof von Nom
erſetzt, auch die Sittenpolizgei bat, wenn er neben feiner
) Coppi X., 188.
605 .
bifchöflichen Autorität auch noch eine Eiviljurisbiction aus-
übt mit einem eignen Tribunal und eignen Agenten, fo ift
nicht abzufehen, wie bei folchen Einrichtungen auch noch
eine NRepräfentativ-Berfaffung beftehen folle. Wie fehr man
auch die Repräfentation des Volles und ihre Nechte be»
ſchraͤnken, die Macht der Regierung verftärlen möge, un
fehlbar wird die bloße Eriftenz einer aus freien Wahlen
bervorgegangenen Berfammlung bem Laien» Elemente das
Mebergewicht über das klerikale im Staate verfchaffen, wäh-
rend in ber Verwaltung das umgelehrte Verhältniß ftatt-
findet, der weltliche, amopible, von den höheren Stellen aus“
gefchlofiene Beamte durchaus von feinen Herilalen Obern
abhängig if. An eine friebliche Löfung dieſer Antinomie
tft nicht zu venlten. Ohnehin würbe jede gewählte Ver⸗
fammiung, wie entichieven man auch das gejammte kirch⸗
liche Gebiet ihrer Competenz entziehen möge, Mittel fuchen
und finden, die Aufhebung der Inquifition, der Civilgerichts⸗
barkeit der Bifchöfe und der gerichtlichen Privilegien bes
Klerus zu erreichen. Gleichwohl war es eine Kommiffion
von Prälaten, welche mit Ausſchluß aller Laien das Statuto
entwarf, war es das Collegium der Carbinäle, welches nach
Bine’ eigner VBerfiherung basfelbe einmüthig billigte.')
3) L’intero sagro Collegio vi ha convenuto di buon grado
ed unanimamente, waren bie Worte bed Papſtes an das
Municipio Romano. Farini, IL, 5.
. 606
Hat man damals diefe unausbleiblichen Folgen nicht ge
ſehen, oder war man wirklich darauf gefaßt, eine allmälige
Umwandlung, die nachher wieder für fchlechthin verwerflich
ertlärt wurbe, geichehen zu laffen? Ich weiß es nicht.
Bold nachher wurde die Cenſur auf theologiſche und bie
Religion betreffende Schriften beſchränkt. Inzwiſchen aber
war Rom der Sammelplat von Mazziniften und Umfturz-
männern geworben; auch hatten bie Bewegungen von 1831,
1843, 1845 ein unter der Aſche glimmendes euer im
Lande zurüdgelafien.”) Das Widerſtreben des Papſftes
gegen die Theilnahme am öfterreichifchen Kriege warb be»
nätt, ihm jede Gewalt zu entwinven, ihm ein revolutionäre®
Minifterium unter Mamiani aufzubringen. Da ergriff
des Papſtes neuer Minifter Pellegrino Rojfi, früher
franzöfifcher Geſandter, die Zügel der Regierung mit träf-
tiger Hand, und e8 fehlen, als ob ihm bie Herftellung eines
georbneten Zuſtandes und bie Bewältigung ber fchon weit
vorgeſchrittenen Revolution gelingen würbe, als Die Häupter
ber Umfturzpartei, Sterbini, Cicernacchio und andere die
Ermordung bes Mannes befchloffen und ausführten, welcher
ber gefährlichite Gegner des Unitariomus, ber einen und
untheilbaren italiäniſchen Mepublit war. Es folgte ver
Sturm auf den Vatican, vie Flucht des Papftes nach Gaeta.
1) Ranalli Istorie Ital. I, 86.
607
Auch dießmal fiel die päpftliche Gewalt im ganzen Lande
troß der Verehrung, die Pius IX. perfönlich genoß, mit
größter Leichtigkeit. Die völlige Urtheilslofigkeit einer Be⸗
bölferung, von welcher mindeſtens 99 Hunderttheile nie, weber
vor noch nach ber Revolution, ein Buch oder eine Zeitung
zur Hand nahmen, erleichterte ven Triumvirn und ihrem
Anhange ihr Werk.
In den 69 Tagen ber durch bie Saribalpiften und
Mazziniften gefchaffenen Republik mußten die Bewohner
des Kirchenftants den Taumelkelch der Revolution bis auf
bie Hefe austrinten. Die Raubvdgel hatten ſich ſchnell um
ven Leichnam des Staates verfammelt, und das Volk wurde
nun unter dem Namen einer bemolratifchen Republit von
einer, aus Anarchiften aller Länder beftehenden, babgierigen
Faktion terrorifirt und gebranpfchagt. An demokratiſchen Ad⸗
vocaten und hohlen Schwägern war Ueberfluß, an allem
Andern Mangel.
As die Franzoſen erfhienen, um ben Papft wieber
zurüdzuführen, meldete General Dudinot über den Geift
der Benölferung: man liebe Pins IX. zwar perfönlich,
aber man fürchte jebe Flerifaltfche Regierung.') Indeß über-
gab er in ber eroberten Stabt die Gewalt den von Pius
I) Daß bie ungeheure Mehrheit ber Bevölkerung in Rom ben
Bapft zurückkehren zu ſehen wünſchte, bemerkt als Augenzeuge
Helfferich in feinen Briefen ans Stalien, II, 56,
a _
gefandten GKommiffären, ven Carbinälen della Genga,
Banicelli und Altieri (1. Auguft 1849). ft am
4, April 1850 hielt Pius feinen Einzug in Rom.
In ber Allocution am 20. April 1849 hatte Pins er-
-Härt, er babe nie daran gebacht, die Natur und den Cha⸗
rakter feiner Regierung zu Ändern, hatte alfo das Statuto
mit feiner Repräfentatioverfaffung als völlig verträglich
mit dem Charakter ber päpftlihen Herrſchaft bezeichnet.
Allein nun kamen Iene zur Herrichaft, welche das Heil des
Staates in der ſchleunigen Wiederherſtellung alles beffen,
was gefallen war, erblidten. Auch die Inquifition erflanb
wieder. Man behauptet, eine Mittelpartei, auf welche ver
Bapft fich auch jetzt noch, wie im Jahre 1847, Hätte ftügen
tönnen, fei nicht mehr vorhanden geweien; bie ganze Um⸗
gebung bes Papftes. babe die Beſeitigung der Schöpfungen
und Zugeftänpniffe von 1847 und 1848 begehrt. Carbinal
Antonelli regierte in diefem Sinne als Staatsjelretär und
wurbe ber eigentliche Lenker des Staatswefens, bie fünf
Minifter waren nur die erften Verwaltungsbeamten. Graf
Balbo war nach Gaeta geſchickt worden, um ben Papf und
feinen Deinifter im Namen ber piemontefiichen Regierung
zu bewegen, baß er doch an dem Statuto feflhalten möge;
er hatte aber nicht8 erreicht.) Pius war überzeugt worben,
—
9) Ricotti, vita di Balbo. p. 278.
609
daß die unverbeſſerlichen Radicalen als Feinde aller ftaat-
lichen Ordnung und pofitiven Religion jede Conceflion zu
ihren Zweden ausbeuten würben. ine durch wenige und
unvermeibliche Ausnahmen befchränkte Amneftie wurde ge⸗
geben. Durch die Einſetzung der Staatsconfulta erhielten
die Laien das Recht, in inneren Angelegenheiten ihre bes
ratbende Stimme abzugeben, aber die Entjcheivung und
faft alle höheren Aemter kamen wieder ganz in die Hände
ber Prälaten. Doch wurde den Municipien eine gewiſſe
Selbftftänbigfeit zugefagt; bie Gemeinderäthe follten Yon
einem aus ber fechsfachen Zahl ver NRäthe beftehenben
Wahllörper erwählt werben, nur bie erften zu ernennen
bebielt ver Papft fich vor.
Zehn Jahre (1849— 1859) tft die Regierung bed
Kirchenſtaats, geftügt auf vie öſtreichiſche Beſatzung in ber
Romagna und die franzöfifche in Nom und Civitavecchia,
ihren, im Ganzen ruhigen und gleichmäßigen Gang gewan⸗
beit. Selten wohl hat eine Regierung unter fo entmuthi⸗
genden Umftänden, umgeben von erbitierten ober jelbftjäch-
tig lauernven Feinden, ohne irgend eine feite Stüte, ohne
einen einzigen zuverläffigen Freund, ihr mühevolles Tag⸗
wert begonnen und fortgeführt.
Die Denkſchrift des franzöfiichen Gefandten, Grafen
Rayneval, vom Jahre 1856 hat die Verwaltung bes
Kirchenftants unter dem jebigen Papfte und dem Carbinal
9. Dillinger, Papftthum. 39
610
Antonelli gegen bie Vorwürfe der Staliäner und gegen eine
weitverbreitete Meinung in Frankreich und England in ben
meiften Punkten in Schug genommen; er beftätigt es, daß
im Bolle fortwährend Unzufrievenheit und Abneigung bor-
berrfche, aber er fucht die Urſache hievon nicht in ben Feh⸗
lern des Regierungsfyftens, fonbern in ben Fehlern des
Bollscharakters und in der bamaligen Lage und Stimmung
Staltens überhaupt. Der gleichzeitige englifche Geſchäfts⸗
träger in Rom, Lyons, hat in feinen Berichten vielfach
auf Rahneval's Denkichrift Bezug genommen; er behanptet
zwar, fie ſei im Einverftänbniffe mit der päpftlichen Re
gterung und nach deren Angaben verfaßt, um in Paris auf
die Entjchlüffe des Kabinets zu Gunften ver Fortbaner des
franzöftiihen Schutzes einzuwirken und um zu zeigen, baß
der Papft nicht zu Veränderungen in ber Verwaltungsweiſe
gebrängt werben bürfe. Er beftreitet Rahneval's Dar-
ftellung vielfach. Indeß ftimmen beide, Lyons und Rahne⸗
val, in einigen Hauptpunften liberein. Beide verfichern,
baß bie jehige Negierung keine Schuld trage an ber all»
gemeinen Misftimmung und dem Verlangen des Bolls
nad einem Herrichaftswechfe. Es gibt, wie Lyous be
richtet, nur zwei Gattungen von Menſchen im Lande: ent
ſchiedene, principielle und unverföhnliche Feinde der Re
glerung, deren Lofung ift: Tein Priefterregiment! Diele
önnen burch keine Reformen im Einzelnen gewonnen wer-
611
ben, fie würben vielmehr jedes Zugeftänpnig nur als Waffe
gegen bie Regierung benützen. Nicht Reform, fondern Um⸗
fturz ber Regierung ift ihr Ziel. Die Uebrigen find indiffe⸗
rent, lau, unzuverläfftg, und im Moment der Gefahr würbe
bie Regierung keine Stüge an ihnen finden. Sie würben
feinen Finger aufheben, um dem angegriffenen Herrſcher
beizuftehen. Diefe Borausfegung des englifchen Geſandten
iſt im Jahre 1859 nur zu fehr in Erfüllung gegangen.
Selbft die niedere Klaffe der päpftlichen Beamten if, nach
Lyons, notoriſch der päpftlichen Herrſchaft abgeneigt,') da-
bei träge und beftechlich.
Zwei Dinge dürfen nicht überfehen werben, damit man
bie Zuftänbe bes Kirchenſtaats gerecht würbige. Das eine
ift die Erwägung, daß bie Megierenden doch wefentlic zu
bem Vollke gehören, und die Tugenven wie bie Fehler bes
Volkes befigen. Den Mangel an Energie und Thatkraft
kann man vernünftiger Weife einer Regierung nicht vor-
werfen, wenn fie hierin nur einen Zug ber Nation über-
haupt veflectirt. Zweitens: wo einmal das richtige Vers
bältniß zwifchen Volt und Regierung getrübt, das wechſel⸗
feitige Vertrauen gewichen ift, da pflegt die unzufriedene
Bevöllerung Alles, auch die Nachtheile und Gebrechen,
welche fie felber verfchuldet hat, welche in ihrem Charakter
') Dispatches from Mr. Lyons respecting the condition and
administration of the Papal States. London 1860. p. 53
39*
02
legen, ihre Begehnungd- und Unterlaffungsfünden ven Herr⸗
fhenden zur Laft zu legen. In welch hohem Grabe dieß
im Sirchenftaate ver Fall ift, bat Graf Rayneval bemerklich
gemacht. Die Bewohner des Kirchenftaats gleichen einiger-
maßen bierin ven Merilanern, bie, wie mir ein von bort
gelommener fcharfiinniger Beobachter fagte, wenn fie einen
zerriffenen Rod anbaben, bie Regierung deshalb anlagen.
Im Kirchenftante freifich tft die Sinnesweiſe auch wieber
die natürfiche Folge eines allzu vormunbfchaftlichen, jebe
Discuffion ver öffentlichen Intereffen und jebe Theilnahme
an benjelben hemmenden Regiments. Dazu kommt das
leidige Mistrauen: fie träumen, fagt ber franzöfifche
Botichafter, von nichts als von Unreblichleiten und Er⸗
preffungen. Site Hagen, daß der Staat fich nicht mit ber
Ausführung großer Unternehmungen befaffe, bie fie vielmehr
jelbft angreifen follten.')
AS das erfte, drückendſte Problem gilt das Verhältniß
ber geiftliden zu den weltlichen Beamten, oder bie Frage
ber Aemter-Säculartfation. Viele halten- fie für die ſchwie⸗
rigfte, ober für geradezu unlösbar. Es handelt ſich babei
nicht blos um die Tchatfache, daß faft alle höheren Aemter
in ben Hänben von Geiftlichen, und den Weltlichen in ber
’) Allg. Ztg. 1867, ©. 1666.
613
Regel unerreichbar find. Die Regierung fagt:") Unter dem
Bapfte als geiftlichem Souverän muß bie Leitung der Ver⸗
waltung eine durch Beiftliche geübte fein; zudem haben wir
nur eine fehr Heine Zahl von brauchbaren Laien zur Aus»
wahl, auch begehren vie Städte felbft (3. B. Türzlich erft
Orvieto und Camerino), Geiftliche al8 Governatoren. Die
Laien und bie Gefandten der fremden Mächte erwiebern:
die Verwaltung muß fäcularifirt werben, damit Laien von
Talent, Ehrgefühl und Ambition eine Laufbahn und eine
Hoffnung bes Vorrückens zu höhern Aemtern eröffnet werde,
bie e8 ihnen ver Mühe werth erſcheinen Laffe, fich ernft«
fih auf den Staatsdienſt vorzubereiten und in benfelben
einzutreten. So lange dieß nicht gefchieht, werben fich ge⸗
rade bie tüchtigeren Laien ferne halten, und werben Laien
und Geiftliche zwei feindlich geſchiedene Klaſſen bilden, wer⸗
ben jene ſtets unzufrieden fein, confpiriven, eine Veraͤnde⸗
zung ber Regierung erjehnen. Zubem würbe, wie bie
Stellung jetzt ift, ein Laie von Bildung und unabhängiger
Sinnesiweife ſich in allen Fällen genöthigt fehen, feine
Meinung ver feines geiftlichen Obern aufzuopfern, und bazu
verfteben fich nur Wenige und nicht bie Tüchtigften und
Verläffigften. Hiezu kommt noch, daß ber Gelftliche, wie
1) So Earbinal Antonelli in ber Unterrebung mit Lyon:
Dispatches, p. 17.
BEER. BE
ein feiner franzdfifcher Beobachter fagt,') gleichfam als
Schildwache am Eingange jeder Earridre fleht, denu er hat
bie Zeugniffe über Neligiofität und Erfüllung der Firchlichen
Verpflichtungen auezuftellen, ohne welche Niemand zum
Öffentlichen Dienfte zugelaffen wird.
Wir wollen, erflärte daher kürzlich ein Italläner, mit
ber begehrten Säcularifatton im Kirchenſtaate nicht die Aus⸗
fohließung der Geiftlichen aus den Staatsämtern, fonbern
nur das Anfhören einer Kaften-Regierung, vie Einführung
bes Prinzips der Gleichheit in die weltliche Hierarchie,
bie Thellnahme bes Landes an der Verwaltung feiner Au-
gelegenheiten.”) Graf Rayneval flimmt ber Anfchauung
ber Regierung bei, indem er erinnert: das Doll beweife
dem Latenbeamten keine Ehrerbietung und vergebe ihm viel
weniger bie Superiorität?) feines Ranges ober feiner Stel⸗
lung als einem Geiftlichen, fo daß Laien viel heftigeren per-
fönlihen Angriffen ausgefett ſeien als Geiſtliche. Über er
bemerkt auch gleich darauf, daß der Nuf nach völliger Säcu-
lariſation ver Verwaltung bei dem Volle Beifall finde.
Man fleht: die Lage tft diefe, daß das eigentliche Voll
1) 9. v. Mep-Noblat in feinen Varia, Morale, Politigue
Literature. Paris 1861, p. 488.
?) Rivista oontemp. VIII, 470.
3) Denlſchrift, Allg. Zig, 1857, 17. Apr.
615
gewöhnlich ben geiftlicden Beamten als gewiffenhafter und
minder babjüchtig dem weltlichen Beamten vorzieht, felbft
dann, wenn es, im Allgemeinen mit bem Geifte der Ver⸗
woltung unzufrieden, ſich unwillig über das „Prieſter⸗Re⸗
giment“ äußert. Die höheren Stände dagegen, das heißt,
alle Diejenigen, welche für fich oder ihre Verwandten auf
bie Carridre des Staatsbienftes Anfpruch zu haben glauben,
find unzufrieden, fühlen fich zurüdgefeßt und fordern Ueber⸗
gabe aller Aemter und Stellen an bie Weltliden. Als
Prinzip aufgeſtellt, hieße dieß freilich die Einleitung zur
demnaächſtigen Säkularifation des Papftes jelbft treffen.
Und anbrerjeits ift Har, daß, wenn bie Dinge fo bleiben
wie fie jett find, eine Verföhnung ver beiven Stände, und
folglich ein ruhiges und gebeihliches Beſtehen des Kirchen⸗
ftante® kaum gehofft werden darf. Das Misverhältniß liegt
aber nicht fowohl in ven Zahlen, als vielmehr in ber großen
Ungleichheit der foctalen Stellung, welche die Kleriker durch»
weg zu ben Herrfchenden, die Laien zu Dienenden macht,
welche in jedem amtlichen oder privatperfönlichen Conflikt
zwifchen einem Laien und einem Kleriker alle Vortheile in
die Hände des letteren legt, und das Unterliegen des er»
. fteren vorhinein wahrfcheinlich macht. In andern Lan⸗
bern eben wir ©eiftliche und Laien in ber gleichen Dienſtes⸗
fategorie ganz gut und frieblich neben einander beftehen und
harmonisch zuſammenwirken, 3. B. an Univerfitäten und
616
Gymnaſien, auch in Negterungsbehörben. Das wäre alſo
auch im Kirchenſtaate erreichbar, aber bie Bedingung wäre:
Sleichheit der Rechte und der Pflichten, freie Eoncurrenz,
amtliche Geltung der perfönlichen Fähigkeiten und Leiftungen,
nicht des Standes,
Eine andere Schwierigkeit liegt in dem Mangel ftrenger
Gefeglichkeit. Aus allen Berichten gewinnt man bie Ueber-
zengung, baß eine® ber größten Gebrechen in den Zufländen
des Kirchenftaates in dieſem Mangel zu fuchen if. Man
fennt dort nicht die ruhige, feite, für Regierende und Unter-
gebene gleichmäßig bindende Herrichaft und unantaftbare
Heiligkeit des Geſetzes. Zuviel liegt in der Gewalt, hängt
ab don ber Willkühr ber einzelnen Beamten. Lyons bes
merkt: man fcheine zu glauben, daß bie Regierung in ihrem
Berhalten gegen ihre Untertbanen ganz nach Gutdunken,
nah dem jedesmaligen Ergebniß der Umftänve verfahren
könne und folle.’) Es findet fich, daß ein Governatore er-
Härt: Wegen mangelnder Beweiſe könne der Angeflagte nicht
überführt werben, gleichwohl aber folle er mit adhttägigen
Sefängnig bei Waffer und Brod beftraft werben.) Ober
ber Staatsfelretär Carb. Bernetti verfügt bezüglich eines
Mannes, dem gleichfalls nichts nachgewiefen werben konnte:
’) Dispatches, p. 61. Bgl. Aguirre p. 124.
) Documenti sul gor. pontif. II, 580.
617
bei der erften Webertretung folle ihn nicht nur bie geſetz⸗
liche Strafe, fonbern noch nebftvem fünfjährige Zwangs⸗
arbeit treffen‘) Der Graf Rayneval Bat biefen Zus
ftand ver Wilführ, dieſe Ungebunvenbeit der Regierenden
unb der Verwaltenden, vie bei jever Gelegenheit bereit find,
den Buchitaben des Gefetes zu umgeben, mit den Worten
bezeichnet: Pinterprötation de la loi Yemporte sur la loi
elle-m&me. Das Schlimme dabei ift, daß ein gefunbes
Staatsleben ſich bei einer folchen Verfahrungsweiſe kaum
entwideln kann, da das Beifpiel ver Regierenven e8 unmög»
lich macht, daß das Volk, welches unter dem fteten Ein⸗
brud arbiträrer Behandlung lebt, die erforberliche Achtung
und Scheu vor der objectiven Macht des Geſetzes hege,
und da zuletzt fich die Vorftellung geltend macht, pie Men⸗
ſchen feien in biefem Lande überhaupt nicht dem Gefeke,
jondern einer Anzahl von Einzelwillen unterworfen, die felbft
nur durch ihre Leidenſchaften und Stanvesintereffen bes
wegt würden.)
Das freilich iſt Mar, daß das conftitutionelle Syſtem,
wie es gewöhnlich verſtanden ober ausgedehnt wird, für
den Kirchenſtaat nicht anwendbar fe. Es darf nicht vor⸗
Iommen, daß eine Triegsfuftige Faktion, etwa durch Ver⸗
1) Doeumenti II, 595.
) Marsusi de Aguirre p. 166.
618
"weigerung bes Budgets, ven Bapft, ven Oberhirten ber
Völker, zu einem Kriege gegen eine chriftlide Macht zu
zwingen verfuche, wie man Pius zum Kriege gegen Oeſter⸗
reich nöthigen wollte. Weberhaupt muß ber Papft im Des
fige wirklicher, nicht blos nomineller Souverainetät fein,
um in feiner Tirchlichen Stellung und Thätigleit als voll»
kommen frei zu erfcheinen; ob er unter dem Zwange einer
fremden Macht, oder unter dem einer übermüthigen und
bespotilchen Kammermajorität fteht, pas läuft am Enbe auf
eines hinaus. Aber Souverainetät und eine Herikaliich-
büreaufratifche Allgewalt und Alles bevormundende, in Alles
ſich einmifchende Verwaltung, das find zwei himmelweit ver
ſchiedene Dinge. Dieautokratifche Souveralnetät des Papftes
Tönnte beftehen, wenn auch dem Volle ein Antheil an ber
Geſetzgebung, ven Corporationen autonomifche Bewegung,
wenn eine gemäßigte Preßfreibeit und eine. Scheidung von
Religion und Polizei geftattet würde. rüber war es ge
rade Defterreich und waren es die von Defterreich geleiteten
übrigen italiäntfchen Regierungen geweſen, welche unter dem
Vorgeben, pas Prinzip von Vollswahlen jet mit ihrer Staatee
ordnung unvereinbar, fich der Einführung der Wahlen zu
ben Provinziale und Muntcipalräthen wiverfegt Hatten.')
1) Galeotti della sovranitä dei Papi. 1846. p. 339. Bel.
bie Bemerkung des H dv. Edftein, Allg. Zeitung, April
1860, ©. 1808.
619
Nah dem Motuproprio von 1850 follen fie ftattfinden, und
bie franzöfifchen Vertheidiger des päpftlichen Stubles, Er.
Montalembert und de Eorcelle, haben ſich darauf be-
rufen. Die Staliäner eriwiedern: das Wahlfyſtem für bie
Municipal» und Brovinciafräthe befteht wohl in der Theorie,
allein der Card. Antonelli bat durch ein Eircular nom 29
April 1854 verorbnet, daß die Wahlcollegien nicht_zufan-
menberufen werben follen.) Die Negierung kann nach der
Demerlung des englifchen Diplomaten zu ihrer Rechtferti⸗
gung anführen, daß fie nach dem Geſetze der Selbfterhal-
tung trachten muß, ihre Feinde, welche freilich an vielen
Orten die fonft am beflen geeigneten Männer find, von
diefen Körperfchaften auszufchließen.”) In der That iſt Die
Zahl derjenigen allzugroß, in deren Augen, wie ber britifche
Diplomat jagt, ver Maßſtab des Werthes für eine Reform⸗
Moßregel nur die Brauchbarteit derſelben als eines Mit-
tel, um das och des Heiligen Stuhles abzuwerfen, ift.
Es würde ihnen leid thun, wenn die Regierung etwas
thäte, wa® ben Umfang oder die Stärle der Unzufrieden⸗
heit zu vermindern geeignet wäre.?)
Nun trägt aber dieſe allzu Häufig vorklommende That⸗
ſache, daß Gefetze verfündet werden, die dann unvollitredt
1) $arini in ber Rivista oontempor. 1867, IX., 19.
?) Lyons Dispatches, p. 19.
3) Lyons Dispatches p. 20.
620
bleiben, wiederum zu der Misachtung bei, in welche bie
päpftlihe Negierung ihren eignen Unterthanen gegenüber
gefallen tft, und erhöht das Gefühl, daß man unter einer
reinen Wilfführberrichaft febe.')
Der Bapft hat es Tlängft erfannt, daß ein begabte,
höchſt bewegliches Boll, wie das DBtaliänifche, die Unter⸗
brüdung aller öffentlichen Discuffion, die Ausfchließung von
aller öffentlichen Wirkſamkeit nicht erträgt, daß fein Thä⸗
tigleitötrieb der Betten und Canaͤle bebarf, in vie er fi
ergieße, um gebänbigt unb befruchtenb babinzufließen.
Aber neben öffentlichen Berathungen eine firenge, alle Dis⸗
cuffionen verhindernde Präventiv-Genfur und gewiffe Ein-
richtungen und Privilegien feitzubalten, welche in der ganzen
übrigen Welt längſt verfchwunden find, dieß ift boch auf
bie Dauer nicht möglich, und darum mag es allerdings fich
fo verhalten, wie vielfach behauptet wird, daß Diejenigen,
die an dem alten Syſteme feftbalten, jebe Einführung von
gewählten und berathenden Eollegien zu verhindern ftreben,
felbft gegen ven Willen ober zum Bedauern des Papites.”)
1) Dieß hebt ber anonyme italiänifche Berfaffer bes Artilels:
M&moires du Comte Aldini, in ber Rivista contemp. YIIE,
469 hervor.
2) Der Berfaffer bes Artikels in ber Rivista contemp. 1856,
v1, 470, behauptet aus ficherer Quelle zu wiffen, daß Pius
ſelbſt die jetzige Regierungspraris beklage.
621
Ste wiflen, daß der Kamin nicht verftopft bleiben barf,
wenn ınan ein Feuer auf dem Herde anziubet.
Im Jahre 1856 erließ der Inquiſitor Airaldi in
Ancona ein langes Edikt, worin wieder unter Androhung
ber ſchwerſten Cenſuren die Denunctation jedes Tirchlichen
ober religiöfen Vergebene, welches Jemand an Anderen
wahrgenommen habe, Allen zur ftrengften Pflicht gemacht
wird, fo daß eine Magd 3. B. in ven Bann verfiele und
ftraffältig würde, wenn fie verfäumte, der Inquifition ans
auzeigen, baß jemand im Haufe an einem Freitage ober
Sonnabend Fleifch gegeffen babe. Alle Zeitungen,') das
Siecle voran, bemächtigten fich fofort dieſes Aktenftüds;
es wurde in feinem ganzen Umfange abgeprudt. Welche
Eommentare in Frankreich, England, Italien darüber ges
macht, welche Schlüffe über ven Charakter der päpftlichen
Regierung und bie Hoffnung auf Reformen daraus gezogen
wurden, braucht nicht gefagt zu werben. ‘Den zahllofen
Feinden des päpftlicden Stuhls ‚hätte kaum etwas Willlom-
meneres bargeboten werben können. Man boffte noch, von
Rom aus werde irgend etwas gefchehen, um ben Einbrud
der Thatjache zu verwifchen, und ein Journal brachte bie
Nachricht, Airaldi ſei entſetzt worden; fofort aber wiberfprach
1) Zuerft hatte e8 die Correspondence italienne lithographide,
19. Oltober 1856 gebracht.
622
die in Rom erjcheinende Tirchliche Zeitfchrift dieſer Nachricht:
Airaldi, hieß es, Habe nur das Seinige gethan.')
Es fcheint in der That, als ob man in den maßge-
benden römifchen Kreifen von der ungeheuren Macht des
Journalismus und ber dadurch gebifpeten, ober in demſelben
fich reflektirenden, öffentlichen Meinung keine, ober eine vou
ber Wirklichkeit noch weit entfernte Vorftellung habe. Je⸗
ber, der die europälichen Zuftände und Machtverhältnifie
fennt, wird doch fügen müffen, daß drei Ereigniſſe, wie
der Fall mit Achilli, das Edikt des Airaldi (unb frübere
ähnliche) und die Angelegenheit Mortara, in der Wagfchale,
in ber die Frage des Sirchenftants gewogen wirb, ftärfer
in's Gewicht fallen, als eine gewonnene ober verlorene
Schlacht. Es iſt Hier nicht die Rede davon, wie biefe
Ereigniffe an fich zu beurtbeilen feien, fondern in welcher
Weife fie die zulegt doch unwiderſtehliche öffentliche Mei⸗
nung in Europa zu beftimmen beitragen. Gegenwärtig
wohnt jedermann in Europa in gläfernem Haufe, und es
genügt nicht, blos mit den Megierungen zu verhandeln, benn
biefe hängen alle in ihren Entfchlüffen von ver Hinter ihnen
ftehenden Meinung ver Völler ab. Wie ungünftig aber in
Stalien, in England, in dem größeren Theile von Franl⸗
reih und Deutichland u. |. w. die öffentliche Stimme
) Die Civiltä cattolica im fasc. vom 20. Dez. 1856.
623
der Fortbaner der weltlichen PBapftberrichaft ift, das kann
jeder ſehen, ver feine Augen gebrauchen will.
So kann es denn nicht fonderlich befremben daß, wo
immer eine Mitwirkung ber Laien nöthig ift, Alles mis⸗
Imgt und bie Negierung nirgent® in ver Bevölkerung eine
Stüße finbet, wie die fremden Diplomaten dieß einftimmig
berichten. Mit großem Aufwand, mit unfäglicher Mühe
hat man nach 1850 wieber eine Keine päpftliche Armee von
Eingebornen gebildet, aber bie Ereigniffe von 1859 haben
auch dieſes Werkzeug zerbrochen, dieſe Hoffnung zerftört;
es bat fich ergeben, daß dieſe Truppen völlig unzuverläflig
find. Und nun muß man mit fremden Sälonern ſich bes
beifen.
Die Prälaten und “Delegaten berichten fortwährend
über ben ſyſtematiſch⸗feindſeligen Geift der Bevölkerung,
ihren bartnädigen Widerwillen gegen ben Kintritt in’
päpftliche Militär, ihre Weigerung, irgend ein Communal⸗
Amt, welches mit ber Regierung in Berührung bringe, und
pie Verfügungen verfelben zu handhaben nöthige, zu über-
nehnten. Aus Ferrara fchrieb der Delegat Folicaldi im
Jahre 1849: bie Liberalen fagten, Tieber noch öftreichifch
ale paͤpſtlich, nur um ihren Haß gegen die päpftliche Re⸗
gierung auszudrücken.) Aus Bologna mußte ber Prälat
!) Documenti, I, 57.
624
Bebini melden, baß er nicht eine einzige Perfon auffinven
könne, welche das Amt eines Cenſors übernehmen wolle.
So war e& aud in Ravenna, Ferrara. In Faenza wolle
Niemand ein Amt annehmen. Ans Ceſena meldete ber
Delegat Laſagna 1858: in dieſem Lande gebe es nur ie
nige der Regierung geneigte Perfonen.')
Gleichwohl ift die Verwaltung Pins’ IX. weife, wohl
wollend, milde, fparfam, nützlichen Anftalten und Berbefle
rungen zugewandt. Alles was von Pins IX. perfönlid
ausgeht, ift eines Hauptes ver Kirche würdig, ebelfinniz
liberal im guten Sinne bed Wortes. Kein Fürft Tann fir
feinen Hof und feine perfönlicden Bebürfniffe geringere
Aufwand machen, ale Pius. Dächten und handelten alle
wie er, fo wäre ber Kirchenftant wirklich der Diufterfladt
Beide Geſandte, ver Branzöfifche und ber Englifche bemer
ten, daß die finanzielle Verwaltung fich gebeffert habe, ir
Werth des Bodens im Steigen, ver Aderbau blühend, dei
überhaupt viele Zeichen bes Fortſchrittes im Lande wahr
nehmbar feten.”)
Was nur immer von einem liebevollen, einzig im Er
weifen von Wohlthaten feine Erholung fuchenden Monat
chen erwartet werben Tann, das leiftet Pins im veichlicher
1) Documenti, I, 210.
?) Lyons Dispatches, p. 54.
625
Maße. Pertransüt benefaciendo, dieſes Wort, von einem
viel Höheren gebraucht, ift, auf ihn angewendet, doch nur
einfache Wahrheit. Man erlennt an ihm recht bentlich,
wie das Papſtthum (auch als weltlicher Staat), was bie
Berfönlichkeit des Fürften betrifft, bei zweckmäßigen Wahlen
bie trefflichſte aller menfchlichen Suftitutionen fein könnte.
Hier if ein Dann, noch im Mräftigften Mannesalter, nach
einer unbefledt burchlebten Jugend, nach einer geiviffen«
haften bifchöflichen Amtsführnng, zur höchften Würbe und
fürftlichen Gewalt erhoben. Er weiß nichts, von koſt⸗
fpieligen Liebbabereien, er hat leine andre Leidenſchaft, als
bie, Gutes zu thun, feinen andern Ehrgeiz, als den, von
feinem Volle geliebt zu werben. Sein Tagwerk ift getheilt
zwifchen Gebet und Wegentenarbeit, feine Erholung ein
Bang in den Garten, der Befuch einer Kirche, eines Ge⸗
fängniffes, einer milden Stiftung. Ohne perfönliche Be⸗
bürfniffe, frei von irbifchen Banden, Hat er Teine Nepoten,
feine Sünftlinge zu verjorgen; allen gewährt er gleichen
Anſpruch, gleichen Zutritt zu ihm. Für ihn find bie Rechte
und Gewalten feined Amtes nur um der Pflichten willen
da. Seine nüchterne und fparfame Hofhaltung läßt ihm
zeichliche Mittel, nach allen Seiten hin Noih und Leiden
zu mildern. Auch er läßt, wie faft alle Päpfte, Bauwerke
ausführen, aber nicht prunkende Paläfte, ſondern Werke des
öffentlichen Nutzens. Schwer verlegt, mishanbelt, mit Un⸗
v. Dölinger, Papſtthum. 40
624
Bedini melden, daß er nicht eine einzige Perfon auffinden
könne, welche das Amt eines Cenſors übernehmen wolle.
So war ed auch in Navenna, Ferrara. In Faenza wollte
Niemand ein Amt annehmen. Aus Gejena melbete ver
Delegat Lafagna 1858: in diefem Lande gebe ed nur we
nige ber Regierung geneigte Perjonen.‘)
Gleichwohl ift die Verwaltung Pius’ IX. weife, wohl
wollend, milde, fparfam, nüglichen Unftalten und Verbeſſe⸗
rungen zugewandt. Alles was von Pins IX. perjönlid
ausgeht, ift eines Hauptes ber Kirche würbig, ebelfinnig,
“ Mberal im guten Sinne des Wortes. Kein Fürſt kaun für
feinen Hof und feine perfönlichen Bebürfniffe geringeren
Aufwand machen, als Pius. Dächten und bandelten alle
wie er, fo wäre ver Kirchenftant wirklich der Diufterftaat.
Beide Geſandte, der Franzöfiiche und ver Englifche bemer⸗
fen, daß die finanzielle Verwaltung fich gebeffert habe, ver
Werth des Bodens im Steigen, ber Aderbau blühend, va
überhaupt viele Zeichen des Fortſchrittes im Lande wahr-
nehmbar feten.”)
Was nur immer von einem liebevollen, einzig im Er-
weifen von Wohltbaten feine Erholung fuchenden Mongar⸗
chen erwartet werben Tann, das leiftet Pins ins reichlichen
1) Documenti, I, 210.
?) Lyons Dispatches, p. 54.
625
Maße. Pertrausüt benefaciendo, vieſes Wort, von einent
viel Höheren gebraucht, tft, auf ihn angewenbet, doch nur
einfache Wahrheit. Mamn erkennt an ihr recht dentlich,
wie das Papftthum (auch als weltlicher Staat), was bie
Berjönlichleit des Zürften betrifft, bei zweckmäßigen Wahlen
bie trefflichſte aller menfchlichen Suftitntionen fein könnte.
Hter if ein Mann, noch im kräftigſten Mannesalter, nach
einer unbefledt burchlebten Jugend, nach einer gewiſſen⸗
haften bifchöflichen Amtsführung, zur höchften Würde und
fürftlihen Gewalt erhoben. Er weiß nichts, von koſt⸗
fpteligen Liebhabereien, ex bat keine andre Leivenfchaft, al8
bie, Gutes zu thun, Teinen andern Ehrgeiz, als ben, von
feinem Volle geliebt zu werben. Sein Tagwerk ift getheilt
zwifchen Gebet und Wegentenarbeit, feine Erholung ein
Gang in den Garten, der Befuch einer Kirche, eines Ges
fängniffes, einer milden Stiftung. Ohne perfönliche Be⸗
dürfniffe, frei von irbifchen Banden, hat er Teine Nepoten,
feine Sünftlinge zu verforgen; allen gewährt er gleichen
Anfpruch, gleichen Zutritt zu ihm. Für ihu find bie Nechte
und Gewalten feines Amtes nur um der Pflichten willen
da. Seine nüchterne und fparjame Hofhaltung läßt ibm
reichliche Mittel, nach allen Seiten hin Noth und Leiden
zu mildern. Auch er läßt, wie faft alle Päpfte, Bauwerke
ansführen, aber nicht prunkende Paläfte, fondern Werke des
öffentlichen Nutzens. Schwer verlegt, mishandelt, mit Un«
». Döfinger, Papſtihum. 40
628
fie ift ein permanenter Krlegszuſtand, fie Fönnte nur durch
Waffengewalt' fich ‚behaupten, das heißt, fie muß früher ober
fpäter fterben. Alle Freunde der Kirche und bes päpftlichen
Stuhles find Berufen, dieſer Auffoffung entgegenzutreten.
Nur an das, was nach Tätholifcher Lehre göttlichen Rechtes
, alfo für alle Zeiten weſentlich und unabänderlich, ift ber
Bapft gebunden.
Gtädlicher Weife ift pie Souverainetät der Päpfte fehr
elaftiicher Natur; fie bat fchon fehr verfchiedene Formen
burchlebt. Bergleicht man ven Gebrauch, welchen bie Bäpfte
von ihrer Souverainetät im 13. ober 15. Jahrhundert
machten, mit ber Regierungsform, welche Conſalvi ein-
führte, ſo kann es kaum einen größeren Eontraft geben. Es
läßt fi daher nicht bloß denken, fondern es ift ſehr wahr-
fcheinlich, daß fie auch jet wiener, wenn auch erft nach einer
gewaltfamen Unterbrechung, diejenige Form annehmen wird,
welche dem Charakter des Jahrhunderts und ven Bebürf-
niffen Italiens entipricht. Geſchieht dieß, dann bat bie
päpftliche Staatsgewalt vor allen andern Regierungen große
Vortheile voraus, und dann werben bie Bevölkerungen wil-
ig unter bie päpftlihe Botmäßigleit zurückkehren. Was
hindert und denn, einen Zuſtand zu denken, in welchem bie
Wahlen zur Papftwirbe nicht mehr auf abgelebte Greiſe,
ſondern auf kraftvolle, noch In ihren beften Lebensjahren ſtehende
Männer fielen, das Volk durch freie Smftitutionen und
Theilnagme an der Orbnung und Verwaltung der ‚eigenen
Angelegenheiten mit feiner Regierung ausgefühnt, die Höheren
Stände durch Eröffnung eine angemefjenen Wirkungs⸗
freifes in Öffentlichen Dingen befriedigt wären. Im
ſolchem Zuftande des Kirchenflants befäße eine öffentliche
und raſche Rechtöpflege das Vertrauen bes Volles, hätte
fi unter den Beamten ein fittlicher Sorporationdgeift, ein
Standesgefühl ver Chre und ber amtlichen Integrität ent»
widelt, wäre bie feindliche Kluft zwifchen Merus und Laien
durch Gleichſtellung in Rechten und Pflichten ausgefüllt,
würde die Polizei nicht mehr mit religiöfen Mitteln unter»
ſtützt, und ſchleppte die Religion nicht mehr anf polizeilichen
Krüden fih fort. Der Bapft ımb fein Gebiet würden
unter dem Schutze der katholiſchen Mächte ftehen, berfelben
Mächte, welche auch die Neutralität Belgiens unb ber
Schweiz gewährleiftet, fogar die Integrität des elenden, in fich
zufammenfallenden o8manifchen Reiches unter die Bürg⸗
ſchaft des europätfchen Rechtes geftellt Haben. Gedeckt durch
biefen Schild, Beherrſcher eines bernhigten, zufriedenen
Volkes, hätte er feine Hände völlig frei. Die Schranken
des materiellen und geifligen Verkehrs, welche bisher bie
einzelnen italiänifchen Länter und Ländchen in uunatürlicher
Abfonderung von einander erhalten, wären gefallen; vers
möge ber internationalen Beziehungen und einer gewiſſen
Freizügigkeit, wie fie in Deutſchland bie Univerſitäts⸗Pro⸗
fefioren genießen, würben bie ehrgeizigeren Köpfe feines
Landes im. übrigen Italien zur Earridre der ftaatsmänni⸗
ſchen and militärifchen Stellen zugelaffen. Der Pupft aber
hätte weder innere noch äußere Feinde zu fürchten, feine
Unterthanen wären frei von der verhaßten Eonfcription, das
Staatsbudget frei von ber Laft eines Arniee- Aufwandes;
für die Bewahrung ver öffentlichen Sicherheit genügten
einige Genbarmerie-s Brigaden. Für Ausführung gemein»
näßiger Unternehmungen würden die Geldmittel nicht fehlen.
Es ift dieß Fein leeres Phantafiegebilve. Sehen wir
ab von Webelftänden und Gebrechen, von welchen jedes ein-
zein, den guten Willen und tie richtige Einficht der maß-
gebenden Berfönlichkeiten vorausgeſetzt, beilbar iſt, und denken
wir uns in Italien einen ruhigen, geordneten Zuſtand, ſo
konnte die Regierung des Kirchenſtaates eine Muſterregierung
fein, ein Vorbild für alle andern Staaten und Verwal
tungen. Daß fie ein folches Mufter fein follte, hat nicht nur
Z ommafeo ansgeſprochen, auch der Biſchof von Orleans,
defien Wert der Papft felbft für das beite von allen zur
Bertheivigung ber päpftlichen Staatsgewalt erfchienenen er»
Hört bat, auch er bat es als eine gerechte Forderung be
zeichnet, daß bie Länder der Kirche blühenver, beffer ver-
waltet fein follten, als andere Länder, daß das Boll zu-
friebener fein ſollte als jedes andre.) Auch Düpanloup
') 51 la perfection doit so rencontrer sur la terre quelque
631
ertennt an, daß piejenigen, welde „unter dem Bor.
wanbe per Dogmen behaupten, der Bapft dürfe
feine Regierung nit in Harmonie fegen mit den
Bedürfniſſen der neueren Zeit und den legiti—
men Wünfchen der Völker, biemit die Zerſtdrung
der päpfliden Gewalt für unvermeiblih er.
klären“. Erwägt man das hohe autoritative Zeugniß, wel-
ches diefem Buche von Rom aus zu heil geworben, fo
liegt in dieſen Worten eine hoffnungsreide und ermuthi⸗
gende Verbeißung.
Man verweilt jet in Italten gerne bei einer bie welt»
liche Papſtherrſchaft drückenden Schwierigleit, die man für
unauflöslih ausgibt. Es iſt die des freien Religionsbe⸗
kenntniſſes.) Man jagt: Neligionsfreiheit in dem boppel-
ten Sinne der Freiheit von aller Religion und der Frei
beit, auch ein anderes Bekenntniß als das herrſchende oder
das der Moajorität zu wählen nnd zu üben, tft jebt ein
Poftulat, welchem kein Staat in Europa fich mehr entziehen
ann. Sie tft im übrigen Italien eingeführt, ver Papft
aber wirb fie nie zugeftehen.
part, ce doit Stre dans les 6tats de l’Eglise. — J’admets
oetto exigenoe comme un hommage involontaire qui nous
honore, et avec lequel nous devons compter, La Souverali-
net6 pontificale. 1860, p. 570.
) Montanelli, l’impero, il Papato o la democrasia in Italia,
1859, p. 29.
B__
Ich ‚halte dieſe angebliche Schwierigkeit für geringfügig,
ich meine, fie jet eigentlich thatſächlich jchon gelöst, oder doch
in ber Löfung begriffen. Das Leben, die concrete Wirt
lichkeit mit ihren unabweisbaren Anforderungen pflegt öfter
Knoten zu zerhauen, bie in ber Theorie unauflösbar ſchei⸗
nen. Wan bat bereits im Sirchenftaate, wie an fo vielen
andern Drten Verfuche gemacht, durch Gelb und Weber
rebung BProfelyten für den Proteftantiemus zu gewinnen.
Sie find bisher erfolglos geblieben.') Geſetzt aber, es hätten
wirklich mehrere Uebertritte ftattgefunden, hätte es denn in
der Macht der vortigen Behörden geftanden, gegen bie Ueber-
getretenen erufte Strafmittel anzumwenven, überhaupt einen
bleibenden Zwang auszuüben? Wir willen poch alle, in
welch’ hohem Grade Heutzutage die Kunft ausgebilvet iſt,
blos auf dem Wege ber Diplomatie oder ber Agitation, ber
Öffentlichen Angriffe in Preſſe und Parlamentsreden, auf
eine mistlebige Regierung einen Drud auszuüben, ber
einer bewaffneten Intervention ziemlich gleichlommt, und
auf die Länge unwiberftehlich wirkt. Bekanntlich ift ber
Tall mit dem Judenknaben Mortara für alle Feinde der
Kirche und des römifchen Stuhles eines ber wilfflommenften
Ereigniffe gewefen, und fie haben ihn trefflich auszubeuten
1) ©. barüber: Oäddo, l’indipendenza, il Cattolieismo « !’Ktalia.
1859, p. 34.
BB
verſtanden. Sollte ſich nun ereignen, daß ein proteſtantiſch
gewordener Raliaͤner der Inquiſition denuncirt und von
dieſer eingekerkert würde, was wäre bie Folge? Ein Schrei
des Unwillens würde ſich von Norwegen bis Sicilien er⸗
heben, die Zeitungen, die Volksverſammlungen, die Par⸗
lamente und Kammern wilden ſich der Sache bemächtigen;
die gewaltige Agitation, die wir bei der Florentiner Ge⸗
ſchichte mit den Madiai erlebt haben, würde von neuem
und in weit größeren Dimenſionen in Scene geſetzt wer«
ben, und bie Mächte, die wir nicht zu nennen brauchen,
würden mit Vergnügen den Vorwand ergreifen, um ben
Papft auch des Reſtes feiner weltlichen Gewalt zu bes
tauben. Und wo find die Hände, tie fich in ſolchem Falle
zum Schute des Papftes erheben würden? Es ift jegt viel
von ber Einführung bes Proteflantismus in Italien bie
Rede. Würde es Ernft bamit, erlangte der Proteitantis«
mus eine geiftige Machtftellung, einen Einfluß auf die Ideen
und Gefühle in der Halbinfel, fo würde dadurch allerdings
Die Stellung des päpftlicden Stuhles in unberechenbarer
Weiſe erfchwert, die Verjöhnung des Papſtes mit dem ita⸗
liänifohen Vollsgeiſte vielleicht unmöglich gemacht werben.
Es wird aber nicht Ernſt damit werden. Selbft in dem
Jahrhundert, wo die proteftantijchen Ideen die größte Macht
und Anziehungsfraft befaßen, wo fie im Norven wirklich
populär geworben waren, und bad Bewußtſein und Leben
——
bes Bolles beherrſchten — ſelbſt damals war ver Proteftan-
tiomus in Italien nur die Sache einiger Gelehrten und Geiſt⸗
lichen; das Bolt wurde nirgends ernſtlich davon beräßtt,
Das eigentlich protefantifche Beifteserzeugniß Italiens, das
Eontingent, welches Italien zur religiöfen Bewegung des
16. Jahrhunderts lieferte, war der Socinianismus. Heutzu⸗
tage, da die Vorftellungen, welche vor 300 Sahren in ihrer
jugendlichen Friſche die Menfchen fo mächtig anzogen, ihre
zündende Kraft großentheils verloren haben, iſt nicht zu er-
warten, baß fie unter dem italiäniichen Volle bedeutende
Eroberungen machen werben, mag auch piemontefifcher Re
gierungseinfluß "und englifches Geld fie empfehlen. Der
Staliäner, fagte mir der Mann, anf den ganz Toscana
ſtolz ift, in Florenz vor einigen Sahren, wird nie gläubiger
Ealvinift oder Lutheraner werben; Alles, was man buch
diefe englifchen und deutfchen Beftrebungen erreichen Tann
und. wird, ift dieß, daß eine Anzahl von Perfonen, aller
Religion entfremdet, in Unglauben verfintt. Bei uns wirb
ber Proteftantiemus Immer nur als zerftärende Macht wir
fen, nur fociale Verwirrung und Zwietracht ftiften.”)
So hat denn auch der englifche Prediger S. W. King,
der im Yahre 1858 Italien befuchte, eingeftanden, daß bie
*) Im demſelben Sinne äußert ſich Ginria: Silvio Pellico e
il suo tempo. 1854, p. 81.
—
Bemühungen ver mit engliſchem Gelde reichlich unterſtützten
Waldenſer und zahlreicher andrer Prebiger des Proteftan-
tismus in Italien Im Großen vergeblich felen, daß in Pie
mont, wo bie größten Anftrengungen ftattgefunden, ber
Proteftantismus keine Fortfchritte mache, und daß jenfeits
der walbenfifchen Thäler nicht 1000 Broteftanten im gan«
zen Königreiche ſeien.) Es fiel ihm auf, daß die Gegner
der Kirche zwar fehr geläufig Bibelſtellen gegen vie Tatho-
liſche Religion zu citiven wüßten, aber außerdem nicht den
geringften Glauben an die Bibel und an dieſe Ausfprüche
zeigten. Sehr begreiflich für ven Kenner italiänifcher Zu-
ftände. Yüngft haben fogar auf der Verſammlung der pro«
teftantifchen Allianz zu Genf bie befolveten Agenten ver
Allianz, die Herren Bert, Balette, Mazarella für noth-
wendig gefunden, die hohen Erwartungen von ben glän-
zenden Erfolgen „des Evangellums in Italien“ auf ein
fehr befcheivenes Maß zurüdzuführen, und vor ihrem das
durch ernüchterten Publikum nahezu eingeftanden, daß voch
eigentlich noch fehr wenig erreicht fei.
A — — —
2) The Italian Valleys of the Pennine Alps. London 1868.
Bergl. Giac. Oddo, l'indipendenza, il Cattolicismo e l'Ita-
lia, 1859, p. 40, der dem Gedanken, in Stalien könne ber
Proteftantiemns zu einer Macht errᷣachfen, für ganz grundlos
und thöricht hält. Ebenfo Maſſimo b’Azeglio.
— — —
636
Die franzoͤſiſche Regiexung hat wieder und wieder ber
paͤpſtlichen umfaſſende Reformen empfohlen und im Einzel⸗
nen vorgeſchlagen. Auch Deſtreich exklaärte fich noch im
Jahre 1859 bereit, die Unterhandlungen wegen der Refor⸗
men in ber papſtlichen Regierung, welche 1857 mit Frank⸗
zeich gepflogen worden, und welche dieſes hatte fallen laſſen,
wieder aufzunehmen,') oder neue Vorjtellungen in Rom
machen zu laffen. SeinerfeitS bat das römifche Kabine
biefe Reformen nie eigentlich abgelehnt, vielmehr erklärte
es noch im Jahre 1860: „ver Beil. Stuhl betraddtet bie
Frage der Reformen ald dem Brincip nach gelöst, aber er
befteht Darauf, pie Veröffentlichung berjenigen, in bie er eiu⸗
willigte, zu verfchieben, bi er wierer im Beſitz der au
Sardinien annexirten Provinzen fein wird.“:) Früher fchen
batte ver Papft erflärt, er fei bereit, die von den Mächten
borgefchlagenen Reformen einzuführen, aber unter ver (eben
fo gerechten al8 unvermeiblichen) Bedingung, daß man ibm
bie Integrität des Kirchenftantes garantire. Dieß wurde
in Paris verweigert, nad bamit war ber Maßſtab für bie
Aufrichtigleit der von dorther geftellten Reformforderungen
gegeben. Hienach wird auch eine andre Thatſache, vie
) Malmesbury, Correspondence, p. 155.
*) Bericht des Herzogs v. Grammont, 14. April 1860. Kg.
Ztg. 1861, ©. 718.
637
durch Lord John Ruſſell's Erklärung im Parlamente
fund geworben Ift, Niemanven befremven: bie Höfe von
Wien und Madrid trugen in Paris daranf an, daß bie
Angelegenheit des Kixchenftaats von den fatholifchen Maͤch⸗
ten gemeinfchaftlich berathen und behandelt werben folle;
tm Paris aber lehnte man dieß unter dem Vorwande ab,
daß an ben Verfügungen bes Wiener Friedens über ben
Kicchenftant auch Eugland, Preußen und Schweben theil⸗
genommen hätten,’) eine Yeußerung, die faft wie Hohn
Hang, angeſichts ber Ereignifie in den legten Jahren, wo
Alles zwilchen Turin und Paris abgemacht, und ficherltch
weber Preußen noch Schweden befragt worben waren. Gleich⸗
wohl ſah fich gerade in der Zeit, wo biefe Dinge befannt
wurben, ber Papft gendtbigt, in Paris das Anſuchen zu
Rellen: man möge „bie Zurückziehung der Oceupations⸗
truppen nicht befchlennigen.“’) Beim Anblidle einer fo trans
rigen Sage fonnte man fi wirklich verfucht fühlen, bie
Krifis, auch in der Form einer Kataftrophe, der Fortdauer
eines folchen chronifchen, mit fo tiefer Demüthigung ver⸗
knüpften Leidens vorzuziehen.
Für jest läßt ſich aus der jüngften Vergangenheit mit
Wahrfcheinlichkeit auf die nächfte Zukunft fchließen. Die
— — — ——
) Weekly Register. London, June 22, 1861.
2) Allg. Ztg, 1861, 25. Juni, ©. 2872.
638
Romagna, weldhe 1846 die Annexion an Zofcana begehrt
hatte, wolle, fo hieß es 1859, gleich nach dem Abzuge ber
Öftreichifchen Beſatzung, piemontefifch werden, und 121 Des
putirte, zur Hälfte aus Epelleuten beſtehend, votirten ein-
ftimmig die Annegion an Piemont. Der franzdiiihe Kaifer
aber fehrieb dem Bapfte:”) vie Legationen würben nur durch
eine verlängerte militärische Occupation im Gehorſame des
Papſtes erhalten werben können, wodurch ein Zuftand ber
Erbitterung, des Misbehagens und der Furcht danernd be»
gründet werben würde. Der PBapit möge alfo ver Rube
von Europa bad Opfer diefer Provinzen bringen. Daffelbe
Motiv kann und wird wieder geltend gemacht werben, ſo⸗
bald ver Moment gelommen fein wird, dem Papfte auch
den Berziht auf den Reſt feines Landes zuzumuthen.
„Die Zhatfachen, fügte Napoleon III. in einem andern
Briefe an den Bapft, haben eine unerbittliche Logik.”
Kurz darauf erfchien in Baris die befannte Flugfchrift:
„Der Bapft und ter Congreß,“ von ver Lord John Ruſſell
fagte: fie habe dem Papſte mehr al8 vie Hälfte feiner
Staaten entriffen. Sie fehlug vor: dem Haupte der Kirche
Rom und einen Garten zu laffen. Gleichzeitig aber hieß
es in Italien, fagte Cavour im Barlament zu Turin
(13. April 1860): Nom gerade wollen wir, Rom muß bie
Hauptftadt unfered Reiches werben.
) Der Brief fieht im Moniteur, 11. Jannar 1860.
U 0]
Das Berfahren war beijpiellos: der Bapft wurde auf⸗
gefordert, feine Truppen zu entwaffnen, währenn man in
fein Land eindringend, feine Untertanen zu ven Waffen
rief. Ohne Kriegderllärung, nach vollgogener Invaſion ſei⸗
ned Gebiets, legte man ihm ein Ultimatum vor, erprüdte
man mit zehufach flärkerer Macht feine Heine Soldaten
fchaar, erließ man wüthende, Blut und Ausrottung athmende
Preflamationen gegen bie "päpftlichen Borken,» und Cavour
erflärte im Parlament (11. Oltober 1860): nbiefe denl⸗
würdigen Ereigniſſe find die nothwendige Folge unfrer Po-
litik feit zwölf Jahren gewefen.«
Welche Bürgichaften Lönnte biefe Regierung barbieten?
würbe fie nicht felbft nachher bie Leichtgläubigleit derer ver-
böhnen, welche ihren Verheißungen Glauben beimäßen? Sie
wird ihrem Sharalter getreu bleiben. Sie yereinigt vie
ſchamloſe Tyrannei eines Konvents, die freche Sophiſtik einer
Anpolatenwirtbfchaft, und die fchonungslofe Brutalität des
Säbelregiments. Weit eher Könnte Pius auf türkiſchem Bo⸗
den, in Unterbanblungen mit dem Sultan fich ficher fühlen,
als in der Nähe des piemontefifhen Raubthieres, in ver
Gewalt eines Ricaſoli oder Ratazzi, oder überhaupt jener
Advocaten und Literaten, bie, eine Geißel bes Landes, mit
ihrer wohlfeilen pomphaften Rhetorik und ihrem hohlen
Phrafengellingel wohl noch einige Zeit obenauf Schwimmen
werben. Möge Pins dem Beifpiele ver großen Päpfte des
640
12. Jahrhunderts folgen. Ste haben, der gelftigen Macht bes
Papſtthums vertrauend, jenfeitS ver Alpen bie Freiheit und
Unabhängigkeit gefucht und gefunden, bie ihnen in Italien
verweigert ward. Deutfchland, Belgien, Spanien, bie jonifchen
Inſeln, die Tatholifche Schweiz: er kann wählen, er wird
allenthalben eine freubig ihm huldigende DBenökferung und
volle Freiheit der Bewegung finden.
Wenn Piemont unter Frankreichs Eonnivenz auch Rom
noch und den Reſt des Kirchenftantes an fich reift, fo wirb
ber vechtmäßige Beſitz des Papftes wohl unterbrochen, aber
nicht aufgehoben. Das Bapftthum Hat ſchon manchen Thron
errichten und wieber zerbrechen gefehen. Sicher wirb ber
Stuhl Petrt das Königreich Italien und noch manche andre
Neiche überbanern. Er kann gebulbig zuwarten: petions,
quia aeternus. Die Stärfe des Papftes, ſchrieb Lord
Cowley, ver britifche Gefandbte in Paris, am 19. Januar
1869 an ven Grafen von Malmesbury, Liegt in feiner
Schwäche, und wehl mögen wir fragen: Was könnt ihr mit
einem Manne anfangen, ber, ſobald Drud auf ihn an
geäbt wird, ausruft: Thut mit mir, was ihr wollt; treibt
mich aus Rom, aber bedenket, daß ich Papft bin und bleibe,
th mag auf dem Throne bes HI. Petrus ober auf einem
nackten Felſen figen.“")
') Official Correspondence on the Italian question, by the
Earl of Malmesbury. London %59, p. 29.
641
Segen wir noch bei, daß Rom, wie fchon ver Marchefe
Gino Eapponi gefagt, bes Papftes weit mehr bebarf, als
ber Papſt Rom's bebarf, daß mit der dauernden Entfer-
nung bes Bapftes von Rom ver Verfall dieſer Stapt un⸗
vermeiblich beginnen würde. In Rom gibt es, wie Cer-
nufcht, einer der römischen Revolutionäre von 1849, ber
unterdeß andern Sinnes geworben, fagt, über ben Katakom⸗
ben, inmitten der Baftlifen, neben dem Vatican keinen
Platz für die Volfstribunen, noch weniger für einen König.
Mag Rom e8 erfahren, ob es fich beſſer befinvet ald Wohn⸗
fig Victor Emanuels, als Titularhauptftabt eines Neiches,
in welchem bie centrifugale Richtung und Bewegung viel
ftärker ift als die centripetale, und ob ihm biefer Vorzug
Erfat gewährt für den Rang undd ie Bedeutung, bie ihm
als Metropole der ganzen katholiſchen Ehriftenheit, als erfte
religiöfe Weltftant zulommt. Wir werben erleben, was
da® 14. Jahrhundert bereits gefehen hat. Roͤmiſche Ge⸗
fandte werben den Papft auffuchen und dringend bitten, in
feine getreue Stadt zurückzukehren.
Man kann die Augen nicht vor der Thatfache ver-
fchließen, daß ver Bapft und die ganze Kurie gegenwärtig
von der franzöfifchen Regierung abhängig iſt. Die bloße
Drohung, die franzöfifche Befatung zurüdzurnfen, ven Papft
und den Reſt des Kirchenftaates feinem Schidjale zu über-
lafjen, würde Rom beftimmen, Allee, was nur nicht geradezu
v. Dillinger, Papfifem. 41
642
Sünde ift, dem Drohenden zu bewilligen. Unb mit
Hecht, denn es würde fich dabei um bie Pflicht ber Selbſi⸗
erbaltung handeln. Zugleich leuchtet aber ein, daß ein fol
ches Berhältnig für alle andern Regierungen und Nationen
in hohem Grade bebenllich erfcheint. Nur das unbebingte
Vertrauen, welches jevermann auf bie hohe Gewiſſenhaftig⸗
keit und reine Berufstreue des gegenwärtigen Papftes fett,
und ber glüdlihe Umftand, daß gerade jetzt keine kirchliche
Berwidlung vorliegt, welche von dem Pariſer Hofe zu ſelbſt⸗
füchtigen Zweden ausgebeutet werden könnte — nur biefe
Dinge erklären, daß man fich im Allgemeinen in ber fa-
tholiſchen Welt bei einem an fich fo bevenklichen Zuſtande
beruhigt. Da aber dieſe Verhältniffe ſich plöglic) ändern
lönnen, und in näherer ober entfernterer Zeit ändern wer⸗
ben, jo dürfte doch Niemand im Ernfte die längere Fort⸗
bauer des gegenwärtigen Zuſtandes wünfchen. Sein Ka⸗
tholit wird biefen Zuſtand, wenn er permanent werben
folite over Tönnte, erträglich finden. Die franzöfifche Be⸗
fagung aber ift zunächit nicht dort, um Angriffe Piemonts
abzuwehren, denn dazu genügte auch ein kräftiges, von Paris
nach Zurin telegraphirtes Machtwort, fonbern um ben Papfl
gegen feine eigenen Unterthanen, oder gegen einen Einfall
Garibaldiſcher Freifchaaren zu befchügen.
Im Princip ift die Erhaltung des verftünmelten Kir⸗
chenſtaats von der franzdfiichen Regierung bereits aufgege-
ae,
ben. Sie hatte fich für die Gonfüberation als bie Form
ber politifchen Exiſtenz der Halbinſel erllärt; bamit war
eine Bürgfchaft für die Fortoaner ver weltlidden Herrichaft
des Papftes gegeben. Aber am 25. Juni diefes Jahres hat
Frankreich das neue Königreich Italien anerkannt, und wer
nige Tage darauf hat die piemontefijche Regierung Öffentlich
erklärt: man folle ſich durch den Schein nicht beirren lafjen;
Piemont werde zur gehörigen Zeit, mit Zuftimmung
Frankreichs, in Rom einziehen, Rom zur Reſidenz des Kö⸗
nigs machen, und ben Reſt bes Kirchenſtaats dem Reiche
einverleiben.
Für jetzt iſt es das Intereſſe der franzöſiſchen Regie⸗
rung, den Papſt ſo geſchwächt zu ſehen, daß er des fran⸗
zöſiſchen Schutzes nicht entbehren, daß man jedem Begehren
durch die Drohung, den Papft feinen italiäniſchen Feinden
preiszugeben, Nachdruck verleihen kann. Hätte die Zurück⸗
ziehung der franzäfifchen Beſatzung die Wirkung, daß Bapft
und Kurie in Frankreich ihren ig nähmen, fo würben
die Franzoſen Rom und bie Reſte des Kirchenſtaats Lieber
heute als morgen ben Piemontefen überlaffen. Daß ber
Papft von Piemont abhängig werde, das liegt wohl nicht
in den Abfichten des Kaiſers. Aber könnte bie Uebertragung
der Kurie nach Frankreich erreicht werben, fo wäre dieß
ber größte Triumph des Cäſarismus. Der Neffe, ver Erbe
und Vollitreder ber Ideen und Pläne des Oheims, hätte
41?
644
dann mit „friedlichen“ Mitteln und mit Bermeidung direkter
Gewalt vollbracht, was der erite Rapoleon nicht einmal mit
Gefangenſch aft zu erzwingen vermocht hatte.
Gegenwärtig gibt es in Europa keine Macht, welche
dem Papſte auch nur zur Erhaltung des noch übrig ges
bliebenen Gebietes aufrichtigen und wirkſamen Beiftand leiften
möchte oder könnte.
Drei mächtige Racen, drei. große VBöltercomplere ringen
gegenwärtig um vie Weltberrfchaft, und find alle drei im
mächtigen Geburtswehen neuer Geftaltungen begriffen: vie
romanifche Welt unter Frankreichs Hegemonie, die ſlaviſche
mit ruſſiſchem Primat, und bie germanifche mit Englands
Präponderanz. In der lekteren find durch England und
Preußen die proteftantifchen nterefien vorwiegend. Die
Bolge ift, daß England fich geradezu gegen die Fortbauer
des Rirchenftantes feinbfelig erweilt, und feit zwei Jahren
thätig zu deſſen Zerflörung mitwirkt, während in Preußen
bie Majorität fich durch ein boppeltes Interefje beftimmen
läßt, einmal durch das confeffionelle, welchem vie Schwächung
und Demüthigung des römifchen Stuhles willlommen ift,
und dann durch das politifche, welches das Prinzip ver An⸗
nerionen und ber gemachten Blebifcite mit Erfolg gerät
fehen will, damit man es von bort nach Deutſchland im
portiren köͤnne. Um foldden Preis ift man bort gerne be-
reit, das gemeinfchaftliche Intereffe aller Monarchen preis
.
—*—
zugeben, uud ruhig zuzuſehen, wie ber Untergang bes Legi⸗
timitätsprinzips und des ganzen Öffentlichen Rechtes von
Europa fich volßieht. Die ſlaviſche Welt fteht theils
unter Rußlands Einfluß, theils Hält fie ſich abſeits und
orbnet jede Frage dem großen Intereffe der Nationalität
unter, iſt alfo am fich frhon geneigt, mit der Italiänifchen
Nationalität gegen die Sonderftellung des Kirchenftaate zu
fompathificen. Das katholiſche Deutſchland, bei ver Schwächung
Defterreich® jedes politifchen Mittelpunktes und jeber Wirt
famleit über die deutſchen Gränzen hinaus ermangelnd, ift
in diefer Frage machtlos, und muß fich für jetzt auf Adreſſen
und harmloſe Geſinnungs⸗Kundgebungen befhränfen. Demmach
bleiben, va Spanien von Paris aus bevormundet wird, als ent»
ſcheidende Faktoren Italien und Frankreich. Beide verfügen,
menschlich zu reden, zwar in letzter Inftanz, aber dennoch
nicht enpgültig, über die Geſchicke der weltlichen Papſtherr⸗
Schaft. Frankreich bat im Jahre 1849, als Republik, ven
durch die Revolution beraubten und vertriebenen Papft mit
Waffenmacht zurüdgeführt. Damals war die große Mehr⸗
beit der Nation der Sache des Papftes günflig. Seine
liberale, zu jeber billigen Forderung des Volles die Hand
bietende Regierung, fein veformatorifches Streben hatte ihm
den Beifall von ganz Europa gewonnen, ihn zum popu⸗
färften Fürften gemacht. Als aber beiver Wiedereinſetzung durch
die franzöfifchen Waffen auch eine vollftändige Reſtauration
“
648
der ganzen geiftlichen Verwaltung erfolgte, als das Statute
und mit ihm jede Selbftregierung und Bollsvertretung fiel, alb
Dinge wiederhergeftellt wurben, die man ſchon für immer
Befeitigt wähnte, da wenbete fi) der Sinn ber Franzoſen
Die gelefenften Tagesblätter haben nun zehn Jahre Zeit
und freiheit gehabt, bie pänftliche Negierung und bie Zu⸗
fläinde im Kirchenftante mit den büfterften Farben zu ſchil⸗
dern, und das bortige Herikale Regiment als ein umheilber
verrottete® barzuftellen. Sie haben das viele Gute, ie
dort gefchehen Hit und gefchieht, forgfältg verfchwiegen ode
entftellt, jeden Misbrauch vergrößert. So ift es gel
men, daß vie bifchöflichen Hirtenbriefe und vie bereim
Schriften ver erften Männer ver Nation in dieſen It
Sohren Teinen der Erhaltung bes Kirchenſtaats günftiga
Aufſchwung der nationalen Sefinnung bervorzubringen ur
mochten, und wenn der Kaifer feine Truppen zurücziet
wird bie baburch verurfachte' Bewegung vorausſichtlich u
Frankreich nicht fehr ſtark fein, und keinen für die Megierm
beprohlichen Charakter annehmen.')
Auch ein in ber Regel fehr gut unterrichteter Correſponde
ber N. Preußiſchen Zeitung, 26. Septbr. 1861, fagt: „D*
katholiſchen Bevdlkerungen (in Frankreich) begreifen dark
aus nicht, daß umb im wiefern ber Chef ber Kirche auch
Monarch fein müſſe, und das franzöfifche Epiffopat bat nö
dieß ſelber zuzuſchreiben, teil es fi; — nothgebrumgen ode
. a
647
Die Gefinnung des Volles foll auch in den dem Bapfte
noch verbliebenen Gebietstheilen der Einverleibung in das
neue italifche Neich geneigt ſein.) Es verhält fich jet wohl
ruhig in Folge der von Turin her empfangenen Welfungen;
fobald aber vie beiven Regierungen, bie Pariſer und bie
Zuriner, einig find, und den Zeitpunkt für gefonnnen er-
achten, dürfte eine Erhebung ver Einwohner und ein Ple-
bifett auch dort den piemontefifchen Griffen ven Schein
verleihen, als ob fie nur Vollſtreckung des Vollkswilleus
ſeien.
So iſt es denn zuletzt doch bie italiäniſche Nation, die
Nation, zu der eben auch der Papft und bie Prälaten ber
Kurie ſelbft gehören, welche bie Geſchicke des Papſtihums
nicht, wir haben biefe Hiftorifche Frage hier nicht in's Auge zu
fafien — für den Berluft ber ber Kirche vom Staate geraubten
Güter (fie waren feine weltliche Macht) durch einen Staats⸗
gehalt abfinden Tief. Man zähle zu allem biefem ben über-
wiegenden Einfluß der antireligidfen Blätter, unb man wird
ſich der Ueberzeugung nicht erwehren können, baß bie weltliche
Macht des Papfles von einem Berbicte ber öffentlichen Meinung
in Frankreich nichte Gutes zu erwarten haben würbe, es fei
denn, baß ber Kaifer felber das Loſungswort zu einem gün⸗
figen Botum gäbe.“
N) Allg. Zeitung 26. Mai 1861, Beil. Nene Preuß. Ztg., 8. Aug
1861: „Die ganze Bevolkerung jener Gegend (Gubiaco) be-
herrſcht der eine Gedanke, möglichſt balb bie Piemontefen ein-
jieben zu fehen.“
648
in ihrem Schooße trägt. Lind das ift gerade das Tragifche
an ber jebigen Lage, daß bier Staliäner gegen Stalläner
ftehen. Dadurch iſt fie von jeber früheren fo völlig ver-
ſchieden, daß die active Mehrheit der Nation entjchloffen
icheint, dieſe Regierung nicht länger in ver Mitte der Halb-
infel zu dulden. Ste ift, heißt es, mit ihren der Vergangen-
beit angebörigen Zufländen, mit ihren dem übrigen Italien
fo fremb und antipathiſch gewordenen Einrichtungen, und
in ihrer Abhängigkeit von ausländiihem Schuge und er⸗
betenen Befaungen ein entftellender Auswuche, ein athem-
beklemmender Kropf am Leibe Italiens, und eine ftets
drohende Gefahr.
Wenn in anderen Zeiten vie Päpfte bedroht ober an-
gegriffen wurden, ftanben die Staliäner auf ihrer Seite,
ober verhielten ſich doch paffiv. Jetzt aber prebiget faft bie
ganze Literatur, bie periobijche mit Ausnahme ber Armonia
in Turin und der Eiviltd in Rom, die Lieblingslebre des
Tages: der Papft müſſe zum Wohl Italtens feiner welt-
lichen Herrichaft entlleidet werden, entweber unter dem Bor«
wand, daß Staliend Größe und Einheit biefes Opfer er-
heifche, ober indem man bie Gebrechen ber päpftlichen Ber.
waltung für unheilbar ausgibt. Man will ein mächtiges
Stalten, das Beifpiel des einheitlichen mächtigen Fraukreichs
wirkt verlodend in einem Lande, wo bie höheren Stänbe
fih feit längerer Zeit mit franzöfifcher Literatur näbren.
649
Zu diefer Machtſtellung, heißt es, Tann Italien nur durch
bie Abforbirung jenes feiner Natur nach neutralen Staates
gelangen, durch welchen es in zwei abgefonberte Theile ge
ſchieden iſt.) Ueberdieß wirb bie Unmöglichkeit, daß bie
römijche Prieſterherrſchaft fich felbft reformire und ven Be⸗
bürfniffen unb Ideen ber Neuzeit fich anbequeme, jett gerne
als unbeftreitbare Thatfache vorausgeſezt. Cavour bat
biefe Parole ausgetheilt. Als in biefem Frühjahre Bope
Henneffey im britifhen Parlamente berebt zu Gunften
ber päpftlichen Rechte gefprochen, forberte ihn Layard auf,
er möge einen einzigen geiftig bebentenben Dann in Italien
nennen, ber in ber Frage des Kirchenſtaats auf ber Seite
ber päpftlihen Regierung ftehe. Henneſſey wußte nur Einen
zu nennen, und biefer war — der Jeſuit Secchi. In ber
That haben fich felbft zwei geiftig hervorragende Männer
im Klerus dafür ausgeſprochen, daß ber Kirchenſtaat, wenig⸗
ſtens in ſeiner jetzigen Geſtalt, aufhören ober umgewandelt
werben möge, nämlich Paſſaglia und Tofti.”)
) Bgl. die Deuffchrift des Gr. Rayneval, Allg. Ztg. 1857,
15. April.
*) Der Brief bes letztern aus Montecaffino vom 15. Juni if im
Edinburgh Review, Juli 1861 p. 277 abgebrudt. Er Bittet
barin ben Papft, bie politiſche Laft bes Kirchenftaates abzu⸗
werfen: perohò oggi i popoli non si lasciano piü portare
addosso, come una volts, ma vogliono andare co’ piedi
loro eto. Toſti's Schrift: 8. Benedetto al Parlamento nazio-
—
Dennoch wird Die Zeit kommen, in ber bie italiänifche
Nation fich wieder mit dem Papfitfume und beffen Macht
ftellung in ihrer Mitte verföhnen wird. Jener unfelige,
verhaßte Drud, welchen Oeſtreich auf die ganze Halbinfel
ausgeibt Kat, tft am Ende boch bisher die Haupturfache
gewefen, warum der hohe politifche Werth bes päpftlichen
Stuhles als des moraliſchen Bollwerks für ganz Stalien in
den Augen ver Nation fo fehr verbunfelt worden iſt. Un⸗
terlag doch die römifche Regierung felbft dieſem Drude, ja
fie verftärkte und befeftigte venfelben noch durch die Herbei-
ziehung öſtreichiſcher Dccupationstruppen, und burch bie
politiſche Hälflofigkeit, welche fie nöthigte, fick in weltlichen
und ftaatlichen Dingen dem Willen des Wiener Cabinets
zu fügen‘) |
Seit 1500 Jahren bildet ber päpftliche Stuhl ben
Angelpuntt, um den bie Geſchicke Italiens ſich bewegen.
Das großartigfte, mächtigfte Inftitut der Halbinfel ift dieſer
Stuhl; auf dem Befſitz veffelben beruht das europälfche
Gewicht, die weltbiftorifche Bedeutung Italiens. Jeder
nale, Napoli 1861, eine Bitte für dieBerjhonung von Monte
caſſino ſtellt fi ganz auf den Etandpunkt der italiänifchen Reiche»
einheit, und gibt implicit Neapel ımb den Kirchenſtaat preis.
1) Che & egli (il Papa) in realtk se non un suddito delP
Austria? jagt Torelli im Iahre 1846 in feinen Pensieri
sull’ Italia, p. 83. Das war bis 1859 bie allgemeine Auficht
in Italien.
661
benlende Stalläner muß ertemmen, daß, wenn ber päpftliche
Stuhl für Italien verloren ginge, vie Sonne von feinem
Firmamente gewichen wäre. Nur dann würde bie Ent«
zweiung zwifchen der Nation und dem Sange ber Italiäni«
fchen Geſchichte einerfeits und dem Papſtthume anbrerjeits
eine gründliche fein, wem ganz Stalten das wärbe, wozu
es Einige jet machen möchten: ein reiner Militärftaat,
umb folglich ein auf fteten Krieg und Eroberung berechnetes
Gemeinwefen. Dieß wiberftrebt aber fo fehr ber Natur
und den Neigungen des beutigen Staliäners, daß ber mili⸗
tärifche Aufſchwung ber Gegenwart, ber noch dazu einen
großen Theil des Volles völlig unberührt gelafien hat, ficher
bald vorübergeben wird.
Es ift eine bemerkenswerthe Aeußerung Siſsmonds,
daß die Schmach, mit welcher Alexander VI. während ſei⸗
ner Regierung bie römifche Kirche bedeckt, jene religidſe
Ehrfurcht vernichtet habe, welche ganz Italien befchirmte,
und es wie eine leichter zu ergreifende Beute ven Fremden
überliefert babe. So war es feit Leo I., feit 1400 Sahren:
jede Schwächung und Erniedrigung bes Papftthumes ift
zugleich eine Nieberlage für Italien geworben, an ber Größe
und Majeftät des Stubles Petri hat immer Italien Theil
genommen, und wenn ber Staliäner feine Waffen gegen
diefen Stuhl kehrt, wenn er mit dem an biefem Stuble
begangenen Raube reich zu werben, mit bem dem Papſte
entriffenen Bürftengewande feine Bloße zu bedecken hofft,
fo wird er damit „felo de fe,“ und er wird endlich erkennen,
daß er felbftmörberifch gegen den eignen Leib, und deſſen
edelſtes Organ gewüthet hat. Das haben nenerlih alle
gründlichen Kenner ver italiäniſchen Gefchichte geſehen:
Balbo, Troya, Eantda, Galeotti, Gino Capponi
haben nicht anders gerebet. Auch Ferrari würbe es zit-,
geben, wenn ihn nicht etwa fein troftiofer unchriftlider
Fatalismus abhält.
Wohl ift es der in Stalien gerade vorherrichenven
Bartei nicht nur um bie Einverleibung des ganzen Kirchen⸗
ftants in ihr neues Einheitoreich zu thun, fie möchte fi
auch der geiftigen Macht des Papftthumes zu ihren poli-
tiſchen Zwecken bemächtigen, zu Zweden, bie für jet noch
unberechenbar find; der Papft foll nicht ein Weltpapft, ſon⸗
bern ber Papft ber Italiäner fein, ver ihren Willen tue,
ihr Reich befeftige; und gewiß würbe man nicht wenig bes
troffen fein, wenn ver Papft über vie Alpen zu gehen An⸗
falten machte. Es Lönnte der Verfuch eines Schisma ges
macht, ein Anlauf zur Aufftelung eines Gegenpapfte® ge
nommen werben ; das würde aber ein ganz gefahrlofe®
Experiment werben, und würde ſchließlich für bie Staliäner
nur bie Lection abgeben, daß alle, bie eine Inftitution, wie
das Papſtthum, zu eigenfüchtigen Zweden ausnügen wollen,
zulegt nur Schaden und Schande bavontragen.
a
Jahrhunderte lang trag man ſich In Italien mit der
Hoffnung und Weiffagung, daß einft ein Papa Angelico
fommen werde, der Orbnung aus der Zerrättung, Friebe
aus der Zwietracht, Frömmigkeit aus dem religidfen Zer-
falle fchaffen, ver Reftaurator und Beglüder Italiens wer-
ben würbe.‘) Was der im Untersberge fchlafende Barba-
roſſa für die Deutſchen, das iſt der Papa Angelico für bie
Stalläner. Es fpricht fich in dieſer Sage das Gefühl aus,
daß Staltens Gefchide durch das Papſtthum beflimmt wer:
den, baß beide auf einander angewiefen felen, daß es bie
Beſtimmung bes päpftlicden Stubles fe, als der ſchützende
Genius der Nation in ihrer Mitte und über ihr zu walten.
Mag auch für jekt die Einficht bei den Vtaliänern
verbunfelt fein, vaß das Papfttbum ein hohes, von Gott
ihnen verliehenes Pfand und Depofitum ift, und baß fie
als Nation verantwortlich find für den Gebrauch ober Mis-
brauch, den fie davon machen; fie wird ihnen wieber aufe
gehen. Die bebeutendften Männer ihrer Nation in der
') So heißt e8 in Cambi Storie Fiorentine, III, 60, baß im
Sabre 1514 ein Mönch Theodor das Volt verführt habe mit
ber Berfiherung: avergli un angelo rivelato, come egli
sarebbe quel Papa Angelico, che i popoli italiani aspetta-
vano. Auch Savonarola wurde beſchuldigt: feine ehrgeizige
Abſicht fei geweſen: farsi Papa Angelico. Bgl. Scritti vari
de) P. Vince. Marchese. Firenze 1855, p. 29.
666
über die ganze italiänifche Nationalität berufen ericheinen
Ünnte, |
08 die Regierung in Zurin dem Papfte anbieten
kann, was fie früher unter Cavour durch Paſſaglia hat an-
bieten laffen, auch jetzt wieber unter Ricafoli ange
boten bat ober anzubieten gefonnen if, das if fein
Geheimniß.“) Es handelt fich theils um Die Lage des Papftes
und ber Earbinäle, theild um bie Freiheit ber Kirche in
Stalien. In leterer Beziehung hat Cavour am 26. Mär
1861 im Parlamente ertlärt: Italien werbe bie Kirche vom
Staate emancipiren, und ihre Freiheit auf ven umfaflend-
Ken Grundlagen ficher ſtellen. Hinfichtlich des Papftes und
ber Rurie erklärt man fich bereit, ihm und ben Garbindien
als Fürften und Geheimräthen ver Kirche alle Rechte und
Privilegien perjönlicder Souverainetät und Linverleglichkeit
einzuräumen. Dan würde wohl auch, heißt e8, eine Aus
Rattung mit einem von Staatsabgaben freien Grundbeſit
nicht verweigern, denn baß ber Papſt nicht piemontefifdher
Staatspenſionar werben könne, fieht man boch auch in Zurin.
Indeß würden diefe beiden Dinge, Souverainetät und freier
Grundbeſitz, mit einander verbunden, einfach wieder einen
Kirchenſtaat oder den Anfang deſſelben bilden. Man würde
alfo den Papft nur des Seinigen beranben, um ihn mit
') ©. barüiber das Edinburgh Review 1861, July, p. 260 19.
687
frembem Gute auszuftatten, doch auch abgefehen Hievon —
welche Bürgfchaften könnte die Turiner oder bie künftige
römifche Regierung dem Papfte und der ganzen Tatholifchen
Welt parbieten? Wer würde für die Garanten einftehen?
wer die Öarantien verbürgen?
Eine Regierung, die fich ihres Treubruches rühmt, bie
fein Völferrecht, Teine Verträge, keine Legitimität des Be⸗
fies, nichts ale die brutale Gewalt und das Recht bes
Stärferen ober bie Autorität ber vollbrachten Thatſachen
anerkennt, die in einem Dekrete das Andenken eines Mör-
ders für gebeiligt erflärt, eine Regierung, für bie es Teine
rechtlichen, keine fittlichen, Teine religiöfen Bande gibt, die
follte aufrichtig der Kirche Freiheit, dem Papſte Unantafte
barkeit und Selbftftänpigkeit gewähren? Man dürfte nur
bie Brofferio’8 und Gallenga's in Turin fragen, fie, welche
die Kirche wie einen Klo betrachten, aus welchem fie nach
Gutdünken, gleich jenem horaziſchen Bildhauer, eine Bank
ober ein Nol ſchnitzen können — fie würben wohl ſagen,
welches 2008 fie ihre zugebacht haben. Ihre Kicchenfreiheit
würbe mit der Befreiung ber Kirche von ber Laft bes ir-
bifchen Befiges beginnen. Mit ver Bettlerin Könnte man
dann verfahren, wie Laune, Haß und angeborner Despoten-
trieb e8 eingeben wird. Die Behandlung ver geiftlichen
Corporationen, die Unterbrüdung und Beraubung ber Klö⸗
fter, die Vertreibung und Mishanblung der Biſchöfe — das
v. Dillinger, Papſtihum. 42
668
find dort die vielverheißenden Exfilingsfrüchte ber neuen
Hera lirchlicher Freiheit.
Daß der päpftliche Stuhl in einem Reiche, wie das
Piemontefifche, wahrhaft frei fei, tft rein unmöglich. Selbft
wenn bie gegenwärtigen und künftigen Staatomänner dieſes
Meiches den ernften Willen hätten, feine Freiheit nicht an⸗
zutaften, würden bie Umftände ftärker fein, als fie. Die
ZTagespreffe würde unabläffig ſchüren und beten, würbe ben
Papft und feine Umgebung heute als geheime Verſchwörer,
morgen als Bollsaufwiegler venunciren ; man würde in rafcher
Progreffion den ganzen Apparat polizeilicher und politiſcher
Zwangsmittel gegen ihn aufbieten. Den Mächten gegenüber,
bie dort walten und noch einige Zeit walten werben, wäre
jeder Bertrag, jene Zuficherung wie ein papierner Hemm⸗
ſchuh, mit dem man einen fortrollenden Wagen aufhalten wolite.
Wie würden dort die emporgelommenen Abvolaten und Jonr-
naliften beim erften Anlaffe mit dem Beſen brutaler Ges
walt über die Spinnengewebe ver Stipulationen bahinfahren!
An fonoren Phraſen zur Befchönigung jeber Rechtsver⸗
letzung und Gewaltthat würden bie italienifchen Bardre's
ihre Vorgänger im Pariſer Convent noch überbieten, und
wie man dort nach dem Sage: il faut avilir et puis détruiro,
mit dem Konigthume verfahren, fo find bie Epigonen bes
Eonvents in der Halbinfel bereits gerüftet, daſſelbe Verdict
in gleicher Reihenfolge an dem Papſtthume zu voliftreden.
659
Nach den Angaben öffentlicher Blätter gäbe ed in Nom
gegenwärtig neun Earbinäle, welche zu einem Ablonımen mit
Piemont rathen. Es ift Taum zu glauben, fie müßten denn
eine Binde vor den Augen haben. Ober meinen fie, vie
Zeiten felen bereits gelommen, wo ber Meazzinifche Wolf
ſanft und friedlich neben dem kirchlichen Lamme lagern werde?
Kommt es wirklich dahin, daß ber Papſt nur zu wählen
Bat zwifchen dem Unterthan und ven Verbannten, fo wirb
er, wir hoffen es mit aller Zuverficht, das letztere wählen.
Doch — der Papft ift in der ganzen Tatholifchen Welt zu
Haufe‘) Nur unter Belennern eined andern Glaubens wäre
er in der Fremde. Wo er auch ſich hinwenden möge, er
wird überall Kinder finden, überall al8 ein Vater verehrt
werden. Du biſt unfer und wir find dein — mit biejem
Gruße wird man ihn empfangen.
Möge man fih in Rom erinnern, welchen Jubelrauſch
feiner Zeit die Erjcheinung des aus der franzöfifchen Haft
heimgekehrten fiebenten Pius in Italien wedte. Es wird
auch diegmal feine guten Folgen Haben, wenn dem religiöfen
Theile der Nation recht handgreiflich Kar gemacht wirb:
Unfere Unitarier find es, fie, die uns das dreifache Joch
1) Betrarca an Urban V. im I. 1366: Ubicungque ille (Pon-
tifex) sibi moram eligit, illic sponsa, illio sedes propria
sua est. Ap. Raynald, ad a, 1366, 22.
42*
660
der Conſeription, unerfchwinglicher Steuern und fremder
Beamten aufgebürbet haben, bie nun auch den Papft aus
unferer Mitte hinweg über bie Alpen in's Exil getrieben
haben. Freilich es wird bei einer folchen temporären Scheidung
zwiſchen Mann und Weib, zwifchen dem Papfte und Rom,
nicht ohne mannigfaltige Störungen bes kirchlichen Ge⸗
Tchäftsganges abgehen; das PBerfongl der Kurie, ber vielen
kirchlichen Eongregationen ift zu zahlreich, um fich in Maſſe in
ein frembes Land verpflanzen zu laffen. In früheren Jahr⸗
hunderten war bie Mafchinerie ver Tirchlichen Verwaltung
viel einfacher, und wenn ber Papft, was damals fo Häufig
geſchah, feinen Aufenthalt in einer andern Stabt nahm
oder über bie Alpen ging, folgte ihm das ganze Perfonal
der Kurie, und fand Raum in einer einzigen franzöfifchen
Abtei. Das ift nun ganz ander® geworben. Auch könnten
einzelne Mächte wähnen, der bebrängten, aus ihrem ange-
ftammten Boden herausgeriffenen Kurie fei leichter etwas
abzugewinnen. Es wird alfo, wenn bie Nothiwendigleit, Rom
zu verlaffen, eintritt, an Schwierigkeiten und peinlichen Si⸗
tuationen nicht mangeln. Es muß eben das Kleinere von
zwei Uebeln gewählt werben, und ba Tann fein Zweifel
barüber beftehen, daß bie zeitweilige Verlegung bes päpft-
lichen Siges das geringere Uebel ift im Vergleiche mit einer
prigzipiellen Entfagung, bie nie wieder zurüdgenommen wer⸗
den könnte.
661
Eine Verlegung bes päpftlicden Stuhles nah Frauf-
reich würde unter ben gegenwärtigen Verhältniſſen fo viel
fein, als eine förmliche Herausforberung bes Schiöma,
würde mindeſtens Allen, denen au Beſchränkung ber päpft
lichen Rechte oder an ber Loderung der Beziehungen zwi⸗
fhen der Kurie und den Einzellirchen gelegen ift, will
fommne Vorwände bieten, würde ben Regierungen, welche
bie Einwirfung der päpftlicen Autorität auf bie Kirchen
und Bevölkerungen ihrer Länder überhaupt ober in gegebe-
nen Fällen zu hemmen und zu erfchweren wänfchen, fcharfe
Waffen in die Hand geben.
Und welche Demütbigungen ftehen Papft und Cardi⸗
nälen bevor, welches Joch wird ihnen auferlegt werben,
wenn fie einmal anf Frankreichs Erbe ganz in der Gewalt
jener Männer an ber Seine find, welche jett bereits fich
rühmen, beim nächſten Conclave über eine Anzahl von
Stimmen zu verfügen. Als Spanien, von den Abfichten.
Piemonts auf Umbrien und die Marken in Kenntniß ge
jet, in Baris fich bereit erflärte, ein Truppencorps zum
Schutze des päpftlichen Gebiets nach Mittelitalien zu fen-
den, und zugleich bie franzöfiiche Regierung einlud, ihre
Beſatzung in gleicher Abficht zu veritärken, da warb in
Paris eine abihlägige Antwort ertheilt, „weil England
dieß nicht wolle.” So weit alfo ift e8 gekommen, daß das
franzöfiiche Vol, welches im Jahre 1849 die Wiederein⸗
2
fegung des Papftes mit dem Blute feiner Krieger erlauft
bat, zehn, zwölf Jahre fpäter den Papft preisgeben muß,
weil England es fo will.
Sollte die Kurie eine Zeit lang In Deutfchland ver-
wellen, fo werben bie römtfchen Prälaten, ohne Zweifel mit
angenehmer Ueberrafchung, ſich da Überzeugen, daß unfer
Volt, um religiös nnd Tatholifch zu fein und zu bleiben,
ber Krücke der Polizei nicht bevarf, daß bei uns ber reli-
giöſe Sinn des Volles der Kirche befferen Schuß gewwährt,
al8 es die Carceri unfrer Bifchöfe thun könnten, die, Gott
fei Dank, nicht exiftiren. Ste werben finden, daß bie Kirche
in Deutfchlanp fich ganz gut ohne das Sant’ Uffizio zu
behelfen weiß, daß unfere Biſchöfe, obgleich, oder weil fie
feine phyſiſchen Zwangsmittel anwenden, von dem Volke
geehrt werben wie Fürſten, daß man ihnen Ehrenpforten
errichtet, daß ihre Ankunft in einem Orte ein Yelttag für
die Einwohnerſchaft if. Sie werden wahrnehmen, wie bei
uns bie Kirche auf ber breiten, ftarfen und gefunden Bafis
eines wohlgeörbnieten Pfarreien: und Seelforgerfoftens und
religiöfen Bollsunterrichts ruht. Sie werden erfennen,
bag wir Katholiken den jahrelangen Kampf für vie Erls⸗
fung der Kirche aus den Banden der Bureaufratie aufrichtig
und ohne Rückhalt geführt Haben, daß wir uns nicht bei-
kommen laffen, dem Staliäner zu verfagen, wa® wir für
uns in Anfpruch genommen, daß wir alfo weit entfernt
663
find, die Bewaffnung ber Kirche mit dem Arm der Polizei
und mit ber bureautratifchen Gewalt irgenbivo für einen
Vorzug zu halten. Im ganzen katholiſchen Deutjchland ift
man, durch die Erfahrung belehrt, mit Fénélon's Aus»
fpruch einverftanden, daß die geiftliche Gewalt forgfältig
von ber weltlichen zu trennen fei, weil ihre Vermiſchung
ververblich jet. Sie werben ferner finden, daß ber ganze
beutfche Klerus bereit ift, ven Tag zu fegnen, an welchem
er vernimmt, daß die freie, fouveraine Stellung des Papftes
gefichert fei, ohne daß Geiftliche fernerhin Todesurtheile
fällen, Geiftlihe als Finanzbeamte und Polizeidirektoren
fungiren oder Lotteriegefchäfte beforgen. Und enblich wer»
den fie entbeden, daß alle deutſchen Katholiken einmütbig
einftehen für die Unabhängigkeit des päpftlicden Stuhls und
den legitimen Befiß des Papſtes, daß fie aber gerade nicht
Bewunderer einer noch fehr jungen Staatsorbnung find,
welche zulett doch nichts anderes iſt, als das Prodult Nas
poleonifcher Staatsmechanit im Bunde mit einer geiftlichen
Adminiſtration. Und ſolche Erfahrungen werben gute Früchte
tragen, wenn bie Stunde der Heimkehr fchlägt, wenn bie
Reftitution erfolgt. Diefe wird erfolgen, mag das italtänie
ſche Königreich fich befefligen, oder mag e8, was allerdings
wahrfcheinlicher ift, wieder zerfallen. Die Zeit wird kom⸗
men, wo das ttaltänifche Volk feinen Frieden mit dem Papſt⸗
thume zu machen begehren wird, wo e8 erfennen wird, wie
664
wahr einer feiner bervorragenbften Geifter, Tommajeo
geiprochen bat: „Tür Italien wäre es eine Thorheit, wenn
es biefen feinen Schild und fein Schwert, das Papſtthum,
von fich, und einer andern Nation binwerfen wollte.” Und
doch meint Tommaſeo ſelber,) es Lönne nur gut fein, wenn
das Papſtthum fich auf kurze Zeit von Italien entfernte,
baburch ‚würden bie heutigen Italiäner am beiten lernen,
welchen Schaf fie an. demſelben befüßen.
Inzwifchen aber werden Pius und die Männer feines
Nathes „ver Vorzeit Tage, die Jahre der Vergangenheit
überdenken.“) Sie werben aus ber früheren Gefchichte des
Papſtthumes, welches fchon fo manches Exil und fo manche
Reftauration erlebt Hat, auf bie Zukunft fohließen. Das
Beiſpiel der entfchloffenen, muthigen Päpfte des Mittel-
alters wird ihnen vorleuchten. Es Handelt fich jegt nicht darum,
ein Martyrium zu erbulben, bei den Gräbern ver Apoftel
auszuharren oder in die Katakoniben hinabzufteigen, ſondern
darum handelt es fidh: den Boden ber Kuechtfchaft zu ver»
laffen, und auf freiem Boden auszurufen: der Strid if
entzwei, unb wir find frei. Für das Uebrige forgt Gott,
forgen die nicht verfiegenden Gaben und lauten Sympathien
ver katholiſchen Welt, forgen die Parteien in Italien. Wenn
1) Roma e il mondo p. 349.
2) Pſalm 76, 6.
665
biefe fih in dem zum Schlachtfelde gewordenen Lande zer-
fleiſcht und erfchöpft Haben werben, wenn das ernüchterte
Boll, der Soldaten und Apvolatenberrfchaft mühe, ben
hoben Werth einer geiftigen und moralifchen Autorität wies
ber begriffen haben wird, dann ift es Zeit, an die Rüd-
kehr in die ewige Stabt zu denken. Unterbeß werben aber
bie Dinge verſchwunden fein, mit deren Beibehaltung man
ſich jeßt quält, und mit befferem Rechte, als Conſalvi in
der Vorrede zum Motuproprio vom 6. Yult 1816, wird
man dann fagen lönnen: „Die göttliche Vorſehung, welche
die menfchlichen Dinge bergeftalt leitet, daß aus dem größ-
ten Unglüd zahlreiche Vortheile entfpringen, fcheint gewollt
zu haben, daß die Unterbredung ber päpftlichen
Regierung zu einer volllommeneren Form der-
felben ven Weg babnen folle.“
Beilage.
Zwei Vorträge, gehalten in München am 5. und 9. April 186L
’ TI.
— — Bird der Kirchenftant fortbeftehen, ober verſchwinden ?
Wird das Oberhaupt der Kirche zugleich fouverainer Fürſt
eined Staates bleiben, oder ift die Zeit gekommen, mo bie
weltliche Gewalt des Papſtes von ber geiftlichen getrennt werden
wird ? Ein großer Theil feines Länderbeſitzes ıft ihm bereits
entriffen, man droht und rüftet ſich, auch nach dem lieberrefte,
nach feiner Hauptſtadt zu greifen. Welches werben, wenn bie
gelingen follte, die Folgen für die riftlihe Welt fein? Was
jol aus dem päpftlichen Stuhle werden, wenn ihm ber Boden
unter den Füßen weggezogen wird? Und wirb er feine hohe
Aufgabe nody ferner erfüllen können, wenn er, fo zu fagen, in
bie Luft geftellt, oder in vie Abhängigkeit von einer fremden,
ihre eigenen Zwede verfolgenden Macht verfest ift? Dieſe
Fragen erhalten Yedermann in Spannung. Vermag doch kein
menſchlicher Scharfblid, keine Einbildungskraft alle die Folgen
zu ermeſſen, welde, durch Jahrhunderte fortwirfend, an bie
Entſcheidung derſelben fih knüpfen müflen.
Ueber das gute Recht des Papſtes, das ſich auf die ſtärkſten
und legitimſten unter Menſchen gültigen Erwerbs - uud Befig-
Titel ſtützt, kann kein Zweifel beftehen, eben jo wenig über ben
treulofen Macchiavellismus und die empörende Ungerechtigkeit
der gegen den römiſchen Stuhl befolgten Boliti. Darüber
denken wir wohl alle glei. Es mag nur, da dieß, in Italien
wenigftens, fo allgemein ignorirt wird, eben erwähnt werben,
daß Pius Wahlfürft ift, daß er nur ein ihm für feine Lebens
zeit anvertrantes Gut zu verwalten bat, und daß er durch
einen Eid, den Kirchenſtaat unverfehrt zu erhalten, gebunden ifl.
667
Allerdings ift das Papithum weit Älter als der Firchen-
faat, find vie römiſchen Biſchöfe von jeher und nothmenbig
Dberhirten der Kirche geweſen, aber erft in fpäteren Zeiten
Lanbesfürften geworden. Sieben Jahrhunderte lang hat ber
römische Stuhl beſtanden, ohne auch nur ein Dorf mit fürft-
fiher Souverainetät zu befiten. Und als dann die großen
Schenkungen ver fränkischen Könige und ver Kaiſer den Grund
zum Sirchenftante gelegt. hatten, gingen doch noch Jahrhunderte
barüber bin, ehe die Päpfte zum ruhigen Befite und zur wirk⸗
lihen Regierung des Landes in feinem nachherigen Umfange
gelangten. In Rom felbft wurde die Gewalt ver Päpſte lange
beftritten, fie mußten ihre Stabt oft und auf lange verlafien,
fie wohnten Lieber in Biterbo, Anagni, Orvieto, oder fie jahen
ſich genöthigt über die Alpen zu geben und, am häufigſten in
Frankreich, ein Aſyl zu fuhen. Im 14. Jahrhundert kam faft
70 Jahre lang fein Papft nah Italien. Die Kurie refidirte
im Avignon. Eigentlich befinden ſich die Päpfte erft ſeit Xeo X.,
feit etwa 350 Jahren im ruhigen Befige des Landes und feiner
drei Millionen Einwohner.
Auch das ift wahr, daß die Wahlforn, vortrefflih für
die Kirche, in politiicher Beziehung ihre bebeutenden Nachteile
hat. Der viel häufigere Wechſel der Regenten und ihrer Res
gierungsfufteme,, das früher fo gewöhnliche Beftreben der Ge⸗
wählten, ihre Verwandten zu erhöhen und zu bereichern, ver
Mangel einer mit dem Lande erwachſenen Dynaſtie, weldye
durch die Anhänglichleit des Volkes eine Bürgſchaft und ein
Bollwerk der Stetigfeit und der Dauer bilven könnte — Alles
bieß zeigt, daß die Form eines Wahlreiches, neben manchen
Bortheilen, ihre Schattenfeiten hat, und die Gejchichte lehrt,
daß Wahlreiche ftärleren Erjchütterungen ausgeſetzt find, leichter
zu Grunde gehen als Erbreiche. Doc war in Rom die lektere
Gefahr bis in die neuefte Zeit abgewenvet durch die allgemein
anerkannte Unantaftbarkeit des Pontififats, durch die religiöfe
Ehrfurcht, welche den Stuhl des Apoftelfürftern umgab und
beichirmte.
Die Heroen der kirchlichen Wiſſenſchaft haben indeß in
dieſer Verbindung der höchſten kirchlichen Gewalt und Würde
mit einem weltlichen Königthume nicht etwa einen Vorzug oder
eine Vollkommenheit gefehen, ſondern nur etwas durch die Noth
668
der Zeiten Gebotenes. An fih, jagt Cardinal Bellarnim,
würde es wohl beffer fein, wenn bie Päpfte fi blos mit ben
geiftlichen Dingen, die Könige aber mit den weltlichen befaßten,
aber wegen ver Bösartigleit ber Zeiten feien durch göttliche
Vorſehung dem Papfte und anderen Biſchöfen weltliche Fürften-
thümer gegeben worden. &8 jei in der Kirche gegangen, wie
bei ven Juden, bei denen erſt zulekt, in der Malkabäerzeit,
das Königihum mit dem Prieftertbume verbunden worden. So
habe die Kirche in den erften Zeiten. zur Behauptung ihrer
Majeſtät der Fürſtenmacht nicht beburft, jetzt aber fcheine fie
berjelben nothwendig zu bebätfen. ')
Diefes Bedürfniß befteht unftreitig auch in unjerer Zeit
eben jo ſtark als früher. Und gleichwohl erheben fi, auch in
ver katholiſchen Welt, zahlreiche, mitunter ſogar theologiſch ges
wichtige Stimmen, welche ven Zeitpunkt zur Trennung ber bei-
den bisher verbundenen Gewalten gelommen wähnen, bie Sä-
eularifirung des ganzen Kirchenftaates für ein eben fo zeitge-
mäßes als unvermeibliches Ereigniß ausgeben. Die Urſachen
dieſer auffallenden Erſcheinung ſind zu ſuchen in der Lage Ita⸗
liens, den inneren Zuſtänden des Kirchenſtaates, der Geſinnung
des italieniſchen Volles und insbeſondere der päpſtlichen Un-
terthanen. |
Die päpftliche Regierung hatte den Ruf, eins ver milpeften
und rädficht8vollften in ganz Europa zu fein. Und gleichwohl
ift e8 wahr, daß nun fchon feit nahezu vierzig Dahren in der
Bevölkerung des Kirchenftaates eine tiefe Unzufriedenheit und
Misftimmung herriht, am ftärkften in ven Stäbten; und in
einem Lande, wo es feinen unabhängigen Bauernſtand gibt, ift
bie ſtädtiſche Bevöllerung in noch höherem Grade als ander-
wärts diejenige, die Alles entjcheive. In dieſem Haupttheile
der Nation wucherten fort und fort geheime politijche Gefell-
Ihaften, Verſchwörungen, Infurreltionsverfude; Hunderte lebten
compromittirt oder verbannt ald Flüchtlinge im Auslande.
Die Schwäche der päpftlichen Regierung nahm mit jebem
Jahre zu. Pius IX. verfuchte vergeblih durch Bugeftänbniffe,
) De Rom. Pontifice, Disputationes, Tom. I p. 1104, ed.
Ingolstad. 1596.
cr u. nu. wu — m -- — --
- Ey vw — — — — -.
669
buch Gewährung einer Berfaflung zu verſohnen. Er begann
feine Regierung mit der vollftändigften Ammeftie, welche vie
Schuldigen und Betheiligten von vier Aufftänden zurüdrief.
Damit waren nur die unverföhnlichen Gegner der Regierung
in’8 Land gerufen ımb in die Lage verfegt, ihr ganz offen ben
Krieg zu machen.
Die Kataſtrophen, welche bald und in rajcher Aufeinander-
folge eintraten, find befannt. Wie früher jchon, jo mußten auch
feit 1849 zwei fremde Mächte, Defterreih und Frankreich ihre
Truppen als Garnifonen in’8 Land legen.
Der päpftliche Stuhl, ver in feiner kirchlichen Stellung
und in feinem geiftlichen Rechte in der ganzen fatholifchen Welt
die vollfte Anerkennung, ven bereitwilligften Gehorſam fand,
wie dieß vielleicht in gleihem Grabe noch nie in früheren
Zeiten der Fall geweſen, bot nad feiner weltlich » politiichen
Seite hin den traurigen Anblick ver jchwächlten, bilflofeften
Regierung von ganz Europa, die nur auf die boppelte Krücke
fremder Mächte und ihrer Bajonette geftügt fich zu behaupten
vermochte,
Und dod konnte Feine Regierung mehr bemüht fein, vor-
handene Misbräuche ver Verwaltung abzuftellen, VBerbeflerungen
einzuführen, ven billigen Wünſchen ver Bevölkerung, foweit
nicht das Princip und Intereffe der Selbfterhaltung ober das
herrſchende Syſtem einer durch Geiftliche geleiteten Negierung
in Frage geftellt war, Rechnung zu tragen. Seit zwölf Jahren
ift die Gefchichte der Herrichaft des jegigen Papftes eine fort-
laufende Kette von nüglichen und wohlthätigen Reformen. Aber
alle diefe Verbeſſerungen waren und find nicht im Stande, bie
tiefe Abneigimg und Mieftimmung der Bevöllerung zu heben.
Jede Regierung, die fich nicht blos auf die Bajonette
ihrer Solvaten fügen will, muß, wenn es aud eine Klaſſe
von Unzufrievenen gibt, doch auf die Mehrzahl ver Benöllerung,
auf ihre Anhänglichkeit an die Dynaſtie, ihre confervative Ge⸗
finnung, mindeſtens auf ihr Intereſſe ver Selbfterhaltung und
ihre Furcht vor Umwälzungen ſich verlaſſen können, und fo mit
der Nation verbumben fein.
Alles dieß aber fehlt im Kirchenftante: eine Dynaſtie gibt
es nicht; alle Verſuche, eine einheimifche Armee zu bilven, find
eicheitert, die Abneigung gegen den päpftlichen Militärvienft ift
670 ‚ar
allgemein, und frembe Sölolinge erbittern nur. Die auswärtigen
Diplomaten bemerten in ihren Berichten: die Ohnmacht ber
päpftlichen Regierung liege vor Allem darin, daß fie ſich anf
feine Klaſſe der Bevbllerung verlafien könne, daß im Moment
eined Angriffs Niemand auch nur eine Band für fie erhebe,
Niemand irgend ein Opfer für ihre Erhaltung bringen würbe.
Und bazu fommt, daß bie weltliche Herrihaft des päpftlichen
Stuhles niht nur unter den eigenen Unterthanen, fonvern in
ganz Italien zahlreiche Gegner hat. Die öffentlihe Meinung
in Italien ift gegen fi. Man betrachtet fie als Das große
Hemmniß, weldes der Berwirflihung ber italiäniſchen Ideale ſich
entgegenftelle, ver Entwidlung einer großen Nationalität, eines
mächtigen italiänifchen Staates, der feine Stelle unter den euros
päiſchen Großmächten einnehmen würde Graf Rayneval jagt
wohl mit Recht: Das Unbehagen und bie Unzufriebenheit ver
Bevölkerung kommen hauptfächlih daher, daß Italien in ver
Welt nicht eine ſolche Rolle fpielt, wie fie ſich's geträumt hat.
Zu allen Zeiten wo dieß Gefühl des nationalen Ehrgeizes er-
wacht ift, warb die weltliche Macht des Papſtthums ſtets als
das Hinderniß betrachtet. ')
Es läßt fi) ferner nicht Läugnen, daß feit hunvert Yahren
ein Zug ber Säcularifation durch ganz Europa geht. Die
Verbindung geiftliher Würde mit weltlichen Beamtenthume bat
jevenfall® bei den europäiſchen Böltern auf feine Sympathien
mehr zu rechnen. Selbſt die deutſchen geiftlihen Fürſtenthümer,
in denen doch, anders als im Kirchenſtaate, die Verwaltung
überwiegend von weltlichen Händen geleitet wurde, find nicht
blos durch die Ummälzungen, ſondern auch durch die Öffentliche
Meinung, die in ihnen etwas dem Zeitalter Fremdes, Unnatür⸗
liches, eine Ruine der Vergangenheit ſah, untergegangen, und
1814 bat ſich nicht eine einzige Stimme für ihre Wiederher⸗
ſtellung erhoben. Zu unſerer Zeit iſt alſo eine Verbindung
weltlicher Funktionen und Befugniſſe mit dem geiſtlichen Stande
nicht mehr ein Element der Stärke, ſondern der Schwäche.
Nichts erbittert mehr als die Anwendung weltlicher Regierungs⸗
mittel oder gar polizeilicher Gewalt⸗ und Strafmittel zur Er⸗
%
1) Allg. Ztg. v. 15. April 1857.
671
reihung religiöfer Zwecke und umgelehrt bie Anwendung reli⸗
gidjer Mittel zu politiichen Abfichten.
Diefer Widerwille gegen vie Vermifchung des Geiftlichen
und des Weltlichen oder gegen bie Handhabung der politifchen
und polizeilichen Gewalt durch Geiftliche ift nicht Wirkung eines
eihwächten Religionsgefühles, fondern Folge einer veränberten
Anfbauung und Lage Ein auffallendes Beijpiel davon find
die Spanier. Bei dieſem Volle war das, was jett überall
als unerträglich erjcheint, eine Art von Bedürfniß geworden;
man wollte auch in weltlichen Dingen nur der Kirche geborchen;
wenn die Regierung Steuern beburfte, jo mußte fie fich der
Dazwifchenhmft ver Kirche bebienen: der Abgabe mußte eine
kirchliche Form gegeben werben, nur dann bezahlte das Bolt
fie willig. So war bie ſpaniſche Inquiſition eine Art von
Staats- und Bolizeianftalt, die fih das Boll mm in dieſer
tirhlichen Form gefallen ließ. Das ift num aber aud dort
ganz anders geworden. Und fo würde es auch bei uns in
Deutichland ven ftärkften Widerſpruch erregen, wenn etwa ein
Prälat Minifter, em Biſchof zugleich Regierungspräfident wäre.
Ehemals wurde in den Gebieten bes päpftlichen Stuhls
wenig regiert, Alles war corporativ geglievert und verwaltete
feine eigenen Angelegenheiten; die Staatsgewalt begnügte ſich
mit der oberften Yeitung, ohne viel einzugreifen. Das ıft nun
aber dort ganz anders geworben durch die Napoleoniſch⸗Fran⸗
zöftiche Verwaltung, in beren Erbihaft dann Carbinal Con
ſalvi eintrat. Seitdem wurde bie geiftliche Regierung, — und
das ift fie, obgleich im Jahre 1848 in ber Stantsvermwaltung
109 Geiſtliche auf 5059 weltliche Beamte trafen — als eine
widerwillig getragene Laſt empfunden, vie man je eher je lieber
abſchütteln mochte.
Auch die Rechtspflege im Kirchenftante, zum großen Theile
von geiftlichen Richtern geübt, bat zu vielfachen Klagen Anlaß
gegeben, und konnte dem Bedenken unterliegen, ob in unferen
Zeiten der Geiftlihe vermöge feines Standes, feiner Bildung
und feiner mehr paftoralen als juridiſchen Anſchauungsweiſe
ſich zum Richter eigne, ob nicht die Verſuchung für ihn allzu
ſtark fei, ftatt ber objektiven, fireng rechtlichen Beurtheilung
und Entſcheidung häufig einem milderen, aber am Ende rein
willkührlichen Verfahren den Vorzug zu geben.
672 Ä &
So ift dem die Rage des Kirchenſtaats ſchon feit Jahren,
auch abgefehen von ven fremden Intriguen, Aufhetzungen und
Gewalithaten, beflagenswerth und niederichlagend.
Durch die Abneigung eined großen Theild ber Bevöl⸗
ferung wird die Verwaltung nothwendig mistrauifch, fie glaubt
weniger Freiheit, ſchon im Intereſſe ihrer Selbfterhaltung, ge
währen zn dürfen, ſie darf feine berathenden Berſammlungen
zulafien, weil ihre Feinde fich fofort verjelben bemeiftern wär-
den, fie muß überall hemmend einfchreiten; eben dadurch aber
verliert fie immermehr den Boden der öffentlichen Meinung ;
baher ver auffallenvde Contraſt zwifchen früher und jest. Als
Pins VII. 1809 das Decret der Abjezung, weldhes Napoleon J.
egen ihn erließ, mit einer Ercommunifation des franzöfifchen
aifer8 erwieberte, erregte dieß ven Enthuſiasmus ver Benöl-
ferung; alle die in franzöfifchen Dienften ftanden, gaben fofert
ihre Aemter auf, kurz das ganze Bolt gab feinen Entſchluß zw
erfennen, ſich genau nach den Beflimmungen ver Bannbulle zu
richten. Einige Jahre darauf war die Rückkehr Pius VII. aus feiner
Gefangenſchaft ein wahrer Triumphzug durch das ganze Yan.
Wie hat fih das jetzt geändert!
Der Cardinal Bacca erzählt: Zur Zeit ver Napoleoni-
ſchen Herrſchaft habe er fich in Folge eines Jahre langen Nadı-
benfens mit dem Gedanken befreundet, daß das Erlöfchen ver
weltlichen Herrſchaft des römifchen Stuhles mit manchen nicht
geringen Bortheilen für vie Kirche verknüpft fein würbe, daß
dadurch die Eiferfucht und Abneigung gegen ven römijchen Stuhl
bejeitigt, over doc vermindert werben würde. Pacca meinte,
Europa gehe einer großen Univerfalmonarchie entgegen, in wel⸗
her der Papft unbeſchadet feiner Tirchlihen Stellung wieder,
wie ehevor im römischen Weltreiche, Untertban fein könnte. Da⸗
rin bat er fich freilich fehr getäufcht. An eine Univerfalmon-
archie in Europa ift glüdlicherweife nicht zu denklen, umb ber
Papft kann nicht Unterthan werben, er darf feinem Reiche aus»
Tchließlich angehören; er muß frei und unabhängig, als ber
gemeinfame Vater Aller, fein hohes Amt verwalten. Wie Cäſar
von feinem Weibe fagte, auf der Gattin Cäſars dürfe auch
nicht einmal ber Verdacht einer Untreue laften, jo wäre Bei
ben: päpftlihen Stuhle ſchon ver blofe Verdacht der Abhängig-
feit verberblih. Das unberingtefte, rückhaltloſeſte Vertrauen von
{
673
Seite der Untergebenen ift der Lebensathem ber geiftlichen Ge⸗
walt; wenn mm der Schein, die Vermuthung entftünde, daß
der päpftlihe Stuhl in kirchlichen Dingen unter dem Einfluffe
und nad den Intereſſen einer politiihen Macht handle, fo
würde dieß wie ein tödtliches Gift in ber Kirche wirken. Auch
im dieſer Rüdficht wird eine Aenberung in der Tage des päpft-
„then Stuhles ein immer mehr dringendes Bedürfniß. So
lange zwei fremde Mächte, Oeſterreich und Frankreich, ihre Bes
atungen im Kirchenſtaat hielten, da konnte es doch nod
nee als ob der Papſt zwiſchen beiden, bie fich wechſelſeitig
neutralifirten, feine Freiheit genieße. Als aber in Folge des
legten Krieges die öſtreichiſche Occupation aufhörte und feit-
dem die franzöfifche Befagung als die einzige Stüte des päpft-
lichen Stuhles betrachtet werben muß, da ift ein Zuſtand ein-
getreten, der nur als ein proviforifcher und kurz vorübergehen⸗
der erträglich erfcheint. Denn auf dieſe Weile würde ver Be⸗
fig des Kirchenſtaates gerade das Gegentheil von dem bewirken,
was er erreichen ſoll, und wodurch er allein gerechtfertigt wer-
den kann; ftatt die oberfte Leitung der Kirche felbftftänvig zu
machen, und ihre Freiheit zu fichern, würde fie als ein Inſtitut,
das der Krüde auswärtiger Soldaten nicht entbehren Tann, in
der öffentlichen Meinung allmälig finfen, und ver Papſt würde,
wie jeder Bittende und frember Hilfe Bebikrftige, von dem
Beſchützer abhängig fein, oder, was faft eben fo fchlimm: ift,
abhängig jheinen; denn dieſer Könnte ihn jeverzeit burch bie
Drohung, feine Truppen zurüdzurufen, drängen oder ein-
ſchüchtern.
II.
In der erſten Vorleſung hatte ich von der ſchwierigen
Lage des Kirchenſtaats geredet, welche mehr noch in inneren
Misverhältniſſen, als in den feindſeligen und habgierigen Schrit-
ten fremder Mächte ihren Grund habe, da die Feinde eben die
Unzufriedenheit im Bolfe zum Vorwande und zum Stützpunkte
ihrer Operationen genommen haben und fortwährend nehmen.
Es drängt ſich mir hiebei der Gedanke Auf, daß der Kirchen⸗
ſtaat mit dem germaniſchen Kaiſerthum entſtanden ſei, und daß
man wohl jagen dürfe, der Untergang des römiſchen Kaiſer⸗
v. Döllinger, Papſtthum. 43
674
thums deutſcher Nation babe auch dem römischen Staate eine
unbe geichlagen, an ber er nod immer blut. Der Kaijer
war Schirmvogt bes römischen Stuhls, ihm eigentlich lag es
ob, das Schwert zu führen, und wenn die Päpfte es felber
thaten, fo war es ein Fehler over ein Alt der äußerften Noth⸗
wehr. Und werm aud das Kaiſerthum ſchon längft nur noch
einen Schatten der alten Idee und Beitunmung vdarftellte, fo
war e8 doch bis zuletzt Träger und Centrum ver ganzen älte-
ren europäifchen Staatsordnung, und deckte mit feiner Majeftät
aud den päpftlichen, als -ein Glied dem Geſammt⸗Imperium
eingefügten Kirchenſtaat. Iſt hiemit ein äußerer Halt gefallen,
fo flieht der Staat innerlihd an den Misverhältnifien, in wel⸗
hen eine durch Geiftliche geführte Verwaltung nothwendig zum
modernen Staatsweien ſteht. Man kann fi doch des Gedan⸗
tens nur ſchwer entichlagen, daß weltliche Hände beffer geeignet
fein möchten, dieſes Staats- und Polizeimejen unjrer Zage mit
feinen jo mannigfach gefteigerten materiellen Bedürfniſſen und
Sorgen, feiner polizeilihen und abminiftrativen Allgewalt, ſei⸗
nee Sorge für Lotto, Theater, Spielhäujer und Wirthehäufer,
für Tagblätter und Literatur, für Paßweſen und Fabriken, zu
handhaben. Wohl wird häufig behauptet: ver Papſt als geift-
liher Monarch müſſe die Berwaltung auch durch geiftliche De-
amte führen laſſen. Aber dieſe Nothwendigkeit will doch nicht
recht einleuchten. Wenigftens bieten bie geiftlihen Fürſten⸗
thbümer Deutſchlands, auf welche Bellarmin zım Rechtfertigung
der weltlichen Papftgewalt fich berief, bier feine Parallele dar.
Die Türftbifhöfe und geiftlichen Churfürjten trugen fein Be⸗
denken, ihr Land durch weltliche Dinifter, Kanzler, Räthe, Be»
amten und Richter verwalten zu Laflen.
Die Regierung Franz Ludwigs von Erthal, Fürftbiichofs
von Würzburg und Bamberg, war eine mufterhafte, vom gan-
zen Lande gefegnete; ih babe in meiner Jugend — mein Groß⸗
vater ftand felbft im feinen Dienften — auch von Greifen mit
Degeifterung die Berwaltung des Landes preiſen hören; fie
warb aber von weltlihen Beamten geführt.
Pius jelbft hatte das Bedürfniß einer in diefem Sinne
porzunehmenden Umgeftaltung wohl erkannt, fein vielbeflagter Mi⸗
nifter Roffi trat mit dem Plane, den auch fchon die Großmächte
in der Dentichrift des Jahres 1831 empfohlen hatten, die Ber»
675
waltung an; man weiß, wie der Dold eines Mazzinianers
bie Hoffnungen, bie an biefen ausgezeihneten Mann ſich
Inüpften, durchſchnitt. Und nach feiner Wiedereinſetzung glaubte
Pius fi) genöthigt, keine Zugeſtändniſſe zu machen, welde,
wie der engliſche Gefchäftsträger Lyons fagt, von den zahl
reihen Gegznern der Regierung nur als Waffen zur Bekäm⸗
pfung derſelben gebraucht werben würben.
Was foll nun aber werden? Das ift doch die Trage,
bie jeber ſich vorlegt, jeber zu beantworten jucht, ober beant⸗
wortet hören möchte. In fo verwidelten Verhältniſſen und in
einer jo unnatürlich gejpannten Lage Europa’s, wie bie gegen-
wärtige ift, bleiben natürlich beftimmte Borausjagungen aus⸗
ee ; nur von Möglichkeiten und Wahrſcheinlichkeiten läßt
reden.
Die erſte Möglichkeit wäre, daß ein neu ausbrechender
Krieg, und ein Sieg der öſtreichiſchen Waffen zur Reſtauration
des öſtreichiſchen Uebergewichts in Italien und ber päpftlichen
Herrſchaft Über das ganze Gebiet des Kirchenſtaats führte.
Ob eine folhe Wendung der Dinge von Bielen gehofft wird,
weiß ich nicht, das aber weiß ich, daß fein verftändiger Freund
des päpftlihen Stuhles fie wünſchen wird. Eine permanente
Decupation der Länder des Kirchenftaats durch öſtreichiſche
Truppen, die dann nothwendig werben würbe, könnte bie Lage
des Papftes nur verjchlimmern, feine weltliche Regierung nur
noch unhaltbarer machen. Und neue Empörungen und politi-
Ice Gonvulfionen mazziniftifcher Richtung würden nicht aus⸗
leiben.
Eine zweite Möglichfeit wäre die Verpflanzung des päpft-
lihen Stuhles nad) Frantreih. Das war bekanntlich der Plan
des erſten Napoleon, der an der Stanbhaftigfeit Pius VII.
fheiterte. Der Kaijer bat darüber keinen Zweifel gelafien; er
bat jpäter auf St. Helena mit Wohlgefallen von dieſer jeiner
Abſicht und von den glänzenden Nejultaten, die bie Folge der
Verwirklihung gewejen fein würden, geiprochen. Daß der Neffe
die Erbſchaft der Ideen und Bläne des Oheims angetreten hat,
ift befannt. Die Durchführung dieſes Entwurfes oder die
Erfüllung dieſer Hoffnung würde allervings unabjehbares Un⸗
heil ftiften. Ein franzöftfirtes Papſtthum würde eine furcht⸗
bare Quelle von Verwirrung und Zwietracht werden und eben
45*
—
676
erft bat eines unferer gelefenften Tagblätter die Erwartung
ausgeſprochen,) daß es darüber zu einer Spaltung in der ka⸗
tholifchen Kirche fommen werde.
Ich geſtehe, daß ich weder die eine noch die andere Be⸗
ſorgniß bege: nicht die der kirchlichen Spaltung; es find num
400 Jahre, daß aud nicht einmal der Verſuch einer Spaltung
gemacht worben if. Spaltung und Katbolizität find fo gan
entgegengefegte Dinge, daß nur eine ganz außerordentliche Ver⸗
widlung und ein Streit um Brincipien, um Ideen, wieder ein⸗
mal eine ſolche herbeiführen könnte, Ich bin überzeugt, daß
fein Stoff, feine Dispofition zu einer ſolchen Krankheit gegen»
wärtig im ganzen Umfange der katholischen Kirche vorhanden
ft. Die allgemeine Gefinnung aller Religiöſen in allen katho⸗
liſchen Nationen würbe jeden verarfigen Verſuch ‚mit Abſcheu
von fich weilen, und die Irreligiöſen würden es höchitens zu
einer zweiten Auflage ver Ronge'ſchen Walpurgisnacht von 1846
bringen.
Es wird aber auch zu Feiner Wieverholung ber Zuſtände
des 14. Jahrhunderts kommen; wir werben fein zweites Avig⸗
non mit franzöfiichen Päpften und Kardinälen erleben. Der
Episcopat, der Klerus, die glänbigen Katholiten in Frankreich,
alle würben fich gegen eine päpftliche Kurie, die in der Gewalt
des Kaiſers und ein willenlojes Werkzeug feiner Politik wäre,
auflehnen; jämmtliche Tatholiiche Staaten und Bölker würben
ihr gewichtigeß Nein in die Wagjchale werfen.
Bon den drei Parteien, in welche die Franzoſen, wenn es
fih um eine derartige Frage handelt, jest zerfallen, den reli-
giös Gefinnten, ven Radikalen und den Buonapartiften, wird
nur die leßtere, numeriſch die ſchwächſte, einer ſolchen Maßregel,
falls ihr Gebieter fie in's Werk fegen wollte, günftig fein; vie
beiden andern Parteien dagegen, d. b. vie große Mehrheit ver
Nation, würden, wenn auch aus ganz verichiedenen Urjachen,
dem Unternehmen durchaus abgeneigt fein und entgegenarbeiten.
Die Katholiken namlih, weil fie in dem Berfuche, das Papſt⸗
thum zu einem Werkzeuge politifcher Intereſſen zu machen, eine
Ernievrigung desſelben erbliden würden, die um jeben Preis
») Ag. Ztg. 2. April, 61.
- — . — vr -r
. 677
abgewenvet werben müſſe; bie irreligids Geſinnten aber, weil
fie die höchſte geiftliche Gewalt nicht in folder Nähe, nicht im
eigenen Lande haben mögen, weil fie ben mächtigen Einfluß
ſcheuen, ven diejelbe auf den gefammten Klerus und ven gläu-
bigen Theil der Nation üben würde.
Dritte Möglichkeit; Der franzöfiihe Kaiſer Legt bie
Frage der weltlichen Herrichaft des heil. Stuhles einem Con⸗
greſſe der katholiſchen Mächte zur Entſcheidung vor, offenbar
in der jegigen Lage das Gerechteſte, Berftändigfte und das
einzige Mittel, wodurch der Kaiſer den aus dem Schooße ver
eignen Nation fich erhebenden Vorwurf von fi abmenben
tönnte, daß er fi zum Werkzeuge des engliichen Haſſes gegen
Rom erniedrigt, und dadurch die franzöfiiche Nation in eine
politifch ebenfo faliche, als ſittlich unwürdige tung gebracht
habe. Dieſe Mächte würden dann, nebſt Frankreich, Oeſterreich,
Spanien, Portugal, Belgien, hoffentlich auch Bayern ſein;
Piemont hat zwar offen erklärt, daß es kein Völkerrecht mehr
anerfenne, müßte aber body unter ben gegenwärtigen Verhält⸗
niffen, da e8 allein Italien zu vertreten im Stande ift, zuge⸗
laſſen werden. Was nun ein jolcher Congreß beichliegen würde,
läßt fi mit einiger Wahrjcheinlichleit vorausjagen.
Er würde mit Mehrheit der Stimmen darauf bringen,
daß dem päpftliden Stuhle ver noch übrige Belig erhalten
und mindeſtens ein Theil des Entriffenen zurüdgegeben werde.
Er würbe aber auch zugleich als einziges Mittel, die Bevölke—
rung zu verjöhnen, municipale Selbftregierung, Theilnahme ver
Laien, Dertretung an den Finanzen und ber Geſetzgebung bes
gehren, kurz, jene Einrichtungen burchgeführt —98 wollen,
welche gegenwärtig, mit Ausnahme von Rußland und ver Türkei,
in ganz Europa beftehen, welde im Weſentlichen ſchon vie fünf
Großmächte im Jahre 1831 verlangt haben, und ohne deren
Bewilligung gar nicht abzufehen ift, wie im Kirchenftaate eine
Berjöhnung zwilchen Boll und Regierung und ein bauerhafter
georbneter Zuftand anders als mit permanenter Occupation fremder
Truppen zu erreichen ſei.
Bierte Möglichkeit. Der Papft wird gendthigt, Rom
ir verlafien, und auf einige Zeit in einem andern katholischen
anbe zu weilen. Rom und der Reit des Kirchenſtaates wür⸗
ben jofort dem neuen piemontefijchen Reiche einverleibt. Selbft-
678
verftänblich wärben nun alle jene Einrichtungen eingeführt,
welche die päpftliche Regierung nicht gewähren zu dürfen glaubt ;
die Säcularifation würde vollſtändig Man würde, wie mit
einem Schwamme, über die ganze jekige Orbnung der Dinge
dahinfahren, ver Klerus würde, wie fonft in ganz Europa, mit
Befeitigung feiner, ven übrigen Klaſſen fo läftigen und mis⸗
älligen Privilegien, wie jeder andere Bürger ımter das gemteine
echt geftellt, und damit eine Hauptquelle der Abneigung des
Vollkes gegen die Geiftlichen verftopft. Wenn dann die Keime
des Zerfalls, welde das neue italiänische Reich im fich trägt,
fih entwideln, eine Ruckkehr des päpftlichen Stuhles nady Rom
und eine Wieberaufrichtung des ganzen Kirchenſtaates ober
eines Theiles eintritt, fo finvet der Papft die „vollbrachten
Thatſachen“ vor, er tritt ein in eine ganz veränderte Stellung,
er wird das Haupt einer in ihren Gliedern ganz ober über»
wiegend weltlichen Verwaltung, deren abermalige Umgeftaltung
oder Zurüdichraubung auf frühere abgeftorbene Zuflände man
dann eben fo unflug als ſchwierig over unmöglich finden würte.
Fünfte Möglichkeit. Der Kirchenftaat geht unmwieber-
bringlich für den päpftlichen Stuhl verloren. Auch diefer Even⸗
tualität müſſen wir in's Antlitz bliden. Es ift denn doch
denkbar, daß eben dieß im Rathe ver Borjehung beichloffen fei.
Die Kirche hat wohl die Verheikung, daß die Pforten der Uns
terwelt nichts wider fie vermögen werben, aber fie hat feine
Verheißung, daß der Nachfolger Petri auch ftetS der Monarch
eines weltlichen Reiches bleiben werde. Iſt Italien oder Europa
beftimmt, ver Schauplat neuer Revolutionen zu werben, jo iſt
bie Lage des Oberhauptes der Kirche umnftreitig eine beffere,
würbevollere, wenn er nicht angelchmievet ift am bie ſchwere.
hülfloſe Laft eines weltlichen Reiches, welches er doch nicht gegen
bie einbringenven Wogen der Ummälzungen, der immer fi er⸗
neuernden Empörungen zu ſchützen und zu behaupten vermöchte.
Bildet fih aber in Italien ein dauerhafter und georpneter Zu⸗
ftand, fo wird ja wohl die äffentlihe Meinung, oder richtiger
das Öffentliche Gewiſſen des katholiſchen Europa ſtark und
mädtig genug fein, um einen Zuftand zu fchaffen und zu be=
feftigen, durch welchen vie Freiheit des päpftlichen Stuhles und
bie ſouveräne Würde und Unantaftbarkeit des Oberhauptes ber
Kiche geſchützt und ficher geftellt wäre.
679
Bleibt doch in Deutſchland ein Heiner, ohnmächtiger, von
ftärteren Nachbarn rings umgebener ſtädtiſcher Freiſtaat, wie
Frankfurt, frei und felbftftändig. Und follte nicht auch in dem
eorbneten, vom Revolutiondfieber wieder genejenen Italien ver
apft mit feinem, Heineren ober größeren Gebiete und feiner
Hauptftabt ſich unangefochten zu behaupten vermögen! Wird
niht Rom jelbft, dieſes durch und durch päpftlidhe und kirch⸗
liche Rom, welches ohne den Stuhl Petri und die Gräber ber
Apoftel längft zu einem Provinzftäntchen oder Marktfleden herab⸗
gefunten wäre, lieber eine Weltftabt fein wollen, die Metropole
eines geiftlichen Reiches von 200 Millionen, als der Sig eines
Königreih8 von 20 Millionen? Immer freilich die Berföhnung
des Volkes mit der päpftlichen Herrſchaft vorausgefegt, denn
wer kann denn bie Thatſache verfennen, daß feit 1831 dieſe
Herrihaft über 3 Millionen Menſchen eine Quelle von Schwäche,
von Abhängigkeit, von Beingftigung und Sorge für den päpft-
lichen Stuhl gewefen ift, daß dieſe Aufgabe, eine unzufrievene,
nad den Einrichtungen anderer Länder lüſterne Bevölkerung
nieberzubalten, ſich wie ein ſchweres Bleigewicht an die Ferſe
des Apoftel-Nachfolgers geheftet hat? Und wer will behaupten,
es fei göttlicher Wille, daß dieſer unnatürliche, beklagenswerthe
Zuftand fi) auf unbeftimmte Zeit fo fortichleppe, daß ver
Wechſel von Aufruhr, politifchen Prozeſſen, Einterferungen, Ber-
bannungen und fremder Occupation in's Unbeſtimmte fich fort»
—* hen Graf Rayneval einen ſolchen Zuftand in Ausficht ge
ellt bat.
Wir können es uns nicht verbergen: bie Tage ift im höchſten
Grade tragifh. Der Bapft ift durch die heiligften Ver⸗
pflihtungen gebunden, nichts preißzugeben von dem, was ihm
zur Bewahrung anvertraut ift; er muß fortwährend gegen bie
Wegnahme feines Gebietes proteftiren. Die päpftliche Aegie-
rung weiß unter den Weltlihen nur wenige Männer zu finden,
welche die erforberlihe Bildung für höhere Aemter bejäßen und
auf deren Treue fie rechnen könnte. Sie glaubt fi, wie ich
bereit8 bemerkte, ſchon durch die Pflicht der Selbfterhaltung,
durch das Hecht der Nothwehr darauf angewiejen, das bisherige
Syſtem ohne tiefer greifende Umgeftaltungen ver geiftlichen Ver⸗
waltung fortzuführen. Und doch ift, wie die Dinge jest liegen,
nicht zu hoffen, daß das Bolt fi mit dieſer Form klerikaler
680
Berwaltung aufrihtig verfähnen, auf die im übrigen Italien
beftehenven Rechte und Einrichtungen verzichten werde. Die
Schwierigteit der Lage wird noch erhöht durch die peinfichen
Eolifionen, in melde ſich die Bilchöfe und mehr oder weniger
der ganze Klerus in Italien verwidelt fehen.
Vergeſſen wir jedoch nicht, daß die Geihichte bier vor
Allen ein Oottesgeriht ift, und daß jedes menſchliche Wollen
und Dafürbalten fi diejem Gerichte unterwerfen muß. Wir
tönnen nur fagen: Laisses passer la justice de Dieu. Das ıft
das fchöne Vorrecht Gottes, daß er, wo die Menichen es böje
meinen, ihr Böfes zum Guten wendet. Wohl erinnert ums
die Stellung des Papſtes zwiſchen ven beiden verbündeten
Mächten, die die Würfel über ihn geworfen haben, an deu Lear
des Shakeſpeariſchen Trauerfpieles und an feine beiden Töchter
Ooneril und Regan, und eine Cordelia ift nirgends zu finden.
Doch Lear wird nit fierben, Goneril und Regan werden
&nten, was fie gejäet haben, bie Kirche aber wird zuletzt ſagen:
Mein Berluft ift ein Gewinn.
Der will denn die nächſte Zukunft beſtimmen? Wiffen
wir dem, was uns felbft in Deutichland bevorſteht? Ob wir
nicht felber in Mitteleuropa einer großen Umwälzung entgegen-
gehen? Ob nicht die hinter Piemont lauernde mazziniftifche
Partei Italien in die Krämpfe und Zudungen einer jocialen
und antichriftlichen Revolution fchleudert? Wer kann fagen,
wie viel zujammenbrecdhen wird in Stalien und anderwärts?
Eines aber ift gewiß: unter allen Trümmern wird Ein In-
ftitut aufrecht bleiben, aus allen Fluthen der Ummwälzung wird
es ſtets wieder unverjehrt emportauchen, denn es ift unverwällt-
lich und unfterblid — der Stuhl Petri. Tragen Sie midh,
woher ich dieſe Zuverficht ſchöpfe, fo könnte ich zur Antwort
auf die Bibel verweilen: Du bift der Fels u. f. w. Ih will
jevody eine andere aus der Natur der Sache felbft geichöpfte
Antwort geben: Der päpftlihe Stuhl wird nicht untergehen,
weil er keiner menſchlichen Gewalt erreichbar ift; weil Nie
mand auf Erden flarf und mächtig genug ift, ihn zu Grunde
zu rihten. Wenn alle Gewalten von Europa ſich verbinden
wörben, ihn zu unterbräden, fie vermöcdten es doch nid.
Alles, was irbiihe Macht vermag, ift nım, ihn zur Wanderung
zu nöthigen, ihn auf längere ober kürzere Zeit von feinem Sie
681
Rom entfernt zu halten. Und endlich wirb diefer Stuhl auch
darum nicht untergehen, weil er ſchlechterdings unentbehrlich und
unerjegbar iſt, denn er bilvet den zuſammenhaltenden Schluß⸗
ftein des ganzen Gebäudes ber Fire. On ne detrait que ce
qu’on remplace. Daß aber das Bapftthbum durch irgend etwas
anderes erjegt werben könne, hat wohl im Ernſte noch Niemand
behauptet. Es ift ver Schlußftein, der dad ganze Gebäude ver
Kiche zufammenbält, ver die Kirche zu dem macht, was fie ift
und fen fol: zur Weltficdhe, zu ver einzigen Gewoſſenſchaft,
welche jemald mit ver Erfüllung ver ihr von Gott gegebenen
Beftimmung, die ganze Menjchheit zu umfaffen und für jeves
Bolt Raum zu haben, Ernft gemacht hat.
Würde diefer Alles haltenvde und tragende Schlußftein hin-
weggenonmmen, dann würde fofort auch Alles auseinanverfallen,
die Kirche würde fich fpalten nah Monardien und Nationali-
täten, der chriftlichen Religion wäre ihr hoher und von ihrem
Stifter ihr verliehener Schmud und ihr in ver ganzen ®e-
ſchichte einziges Vorrecht entrifien, das Vorrecht und die Kraft,
bie Nationen zu einem höheren Ganzen zu vereinigen, ohne
bod) die Nationalitäten zu beſchädigen. In ber ganzen Welt
wollen alle Glaubenden nicht etwa einer franzöfifchen oder
fpanifchen, einer bayriichen oder öftreichiichen Kirche angehören,
fie wollen überhaupt nicht einer Kirche angehören, ſondern Der
Kirche, der Einen, Tatholifchen Kirche, d. h. mit andern Wor⸗
ten: Alle wollen unter dem Papſte ftehen, wollen in der Ges
meinihaft mit ihm fich fühlen und ertennen als Glieder ber
katholiſchen Kirche.
Das Papſtthum wird aljo fortbeftehen, weil Gott e8 will,
wie jeder Katholit glaubt, weil 200 Millionen Menſchen in
allen Theilen der Welt es wollen, wie jever Nenner ber
Weltlage fagen muß. Es gibt Feinde, viele Feinde der
weltlichen Gewalt des Papſtthums, -aber es gibt innerhalb ver
Katholischen Welt feine Feinde der geiftlichen Gewalt des Papſtes,
oder nur jolche, welche zugleich Feinde der chriftlichen Religion
überhaupt find. Ich ſcheue mich nicht zu behaupten, daß felbft
außerhalb der Fatholifchen Kirche, in der proteftantiichen Welt,
fomweit fie wirklich chriftlich iſt, die denkenden Gläubigen, bes
ſonders des Laienſtandes, die päpftliche Gewalt nidt an ſich
berwerfen. ragt man fie: Iſt es nicht etwas Schönes und
682
Gutes, etwas von Gott Gewolltes, daß die verſchiedenen chriſt⸗
Iihen Völler und Länder zu einer einzigen Kirche, zu einer
roßen meltumfafienden Gemeinſchaft des Olaubens und ber
iebe vereinigt feien, daß die gemeinfchaftlichen Angelegenheiten
des Ganzen zulegt von Einer Hand geleitet werden, fo ante
wortet jeder: Ja. Fragt man weiter: Soll nım biejer Mittel-
punft der Firchlichen Einheit, viefer Träger ver oberfien
kirchlichen Gewalt, etwa ein weltlicher Monarch fein, jo ant⸗
wortet wieder jedermann: Nein, das ift unmöglich, tem Kaijer
und fein König und kein Präfident einer Republik, ein Papa,
das heißt: ein geiftliher Bater muß es fein. Sobald mm
aber bemerkt wird: ber wirkliche, lebendige, konkrete Papſt ift
bereit8 da, er wohnt in Rom, und nennt fi für jekt Pins,
und die größere Hälfte der geſammten Chriftenbeit gehercht
ihm willig und frendig; wollt ihr Den? da erhebt ſich zormi-
niger Proteft, vielftimmiger Ruf: Nein, Den durchaus nicht. —
Warum denn nit? Weil er nicht lehrt, wie wir lehren. Wie
oder was fol er denn lehren? Er fol, ruft man aus einer
Ede Deutihlands, lehren, wie es der deutichen Nation, biefem
Bolt von Denkern und Forfchern, genehm if. Er fol alfe
lehren, wie man in Wittenberg von 1520 bis 1546 gelehrt
bat. Dort und damals ift die ächte Chriftuslehre in ihrer
lauterften Reinheit an ven Tag gelommen. Sofort aber er-
fhallt aus einer andern Ede Deutſchlands der Gegenruf: Das
ift eig überwundener Standpunkt; erft in der letzten Zeit bat
es das beutihe Bolt fo herrlich weit gebracht, fteht e8 auf ber
vollen Höhe der Intelligenz und theologifcher Einſicht. Wir
haben in drei Jahrhunderten viel zugelernt und noch mehr weg»
gelernt. Der Papft fol alſo lehren, wie man jest, im Jahre
1861, an den Hauptfigen deutſcher Wiffenfchaft, in Berlin
etwa oder Leipzig oder Göttingen, denkt und lehrt. Dann laffen
wir und ihn gefallen. — Keineswegs, wird von Welten ber
gerufen; nicht Wittenberg und nicht Berlin, jondern Genf ift
bie Geburtsftätte des ächten Chriftenthbums ; nur wenn der Bapft
fih zu Calvin befehrt, wenn er lehrt, wie der franzöfiiche Re⸗
formator gelehrt hat, kann er uns etwas gelten. Er möge fich
wohl hüten, dieß zu thun, ruft man von jenſeits des Canal,
von England herüber: Nicht Wittenberg und nicht Genf bat
das Achte Chriftenthum gefunden. Nur der angelſächſiſchen Race
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ift das Kleinod vom Himmel befchieven. Die wahre Kirche ift
bie, deren Mutter die Königin Eliſabeth ift, die engliſch-biſchöf⸗
liche Staatslirche. Dieſe Fire hält allein die richtige Mitte
zwifchen ven beiven Extremen des kontinentalen Proteftantismus
und des Katholicismus. Möge der Bapft anglikaniſch werben,
dann laffen wir mit und reden. Die gehen alle in der Irre,
und find Schafe ohne Hirten, wird von Norben her zugerufen:
die wahre Kirche, der Liebling Gottes unter den Kirchen ift
nur die, welche von dem rechten Gotterlornen Hirten, von dem
Czar in Petersburg und feiner heiligen birigirenden Synode
auf die Weide bes göttlichen Wortes geführt wird; Rußland
ift, wie ihm fein Kaiſer Nikolaus oft vorgejagt hat, das heilige
Rußland und das ruffifche Volt ift das auserwählte Volt Got-
tes jeßiger Zeit. Möge der Papſt viefe Thatſache anerkennen
und danach handeln, dann werben wir ihm gerne ben erften
Rang unter den fünf orthoporen Patriarchen überlaffen. End⸗
lich aber verlangt auch noch eine neue, beſonders in Deutſch⸗
land und in England ſtark vertretene Anficht gehört zu werben,
e3 find die Männer der Zuhmftslirche: Ihr alle, jagen fie,
gebehrvet euch, als ob die wahre Kirche ſchon irgendwo wirk⸗
lich exiftire — das ift aber eine ungeheure Täuſchung. Alle
beſtehenden kirchlichen Genoſſenſchaften find nur Bruchftüde,
oder fie find mm Steine und Baumaterialien, aus denen Gott
in näherer ober entfernterer Zufunft erft die rechte, allen Be⸗
dürfniſſen entjprechenve Kirche aufrichten wird. Bis dahin gibt
es nur proviforiiche Kirchen, und nur eine prowiforifche Lehre,
und der Bapft würde am beften thun, wenn er fich für biele
noch ungeborne, im mütterlichen Schooße einer Tünftigen Zeit
verborgen liegende Kirche bereit hielte, und einftweilen jeber jonft
in der Kirche geltenden Lehre ein Fragezeichen beiſetzte.
So diefe — und nun auf der andern Seite die 200 Mil«
fionen: Europäer, Afiaten, Afrifaner, Amerikaner, viele Welt»
ficche, zu deren Gemeinfchaft won jevem bedeutenden Volle ver
ganzen Erde minveftens ein Bruchtheil gehört. Einmüthig ſa⸗
gen diefe: Unſer Chriſtenthum darf und ſoll feinen nationalen
eigeſchmack haben, es foll Fein fpezifiich veutiches, aber auch
fein italiänifches, Fein franzöſiſches, englifches oder ruſſiſches
Chriſtenthum fein; es fol nicht gleich jenen feurigen künſtlich
gebrannten Getränken den Gaumen dieſes oder jenes Volkes
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figeln; unſere Lehre und religiöſe Uebung ſoll fein und iſt rei⸗
ned klares Waſſer, farblos und geruchlos, das allgemeine ge⸗
finde Getränke für jedermann, heute wie geſtern, morgen, wie
vor taufend Yahren. Der Bapft kann und darf nichts ande
res lehren, ald was biefe 200 Millionen glauben und längft
eglaubt haben. Und dieſe Millionen wollen, mäfjen einen
Bapfı haben und werben ſich ihn nicht nehmen laffen, werden
ihn nit fallen laffen. Sie beweifen jetzt ſchon, daß fie zu
jedem Opfer für feine Erhaltung, feine Freiheit bereit find.
Deutiches, irländiſches, franzöſiſches Blut iſt gefloflen zu feiner
Vertheidigung, für eine gerechte und edle Sade. Wir werben
auch in den nächſten Zeiten, vor Allen der Klerus in Europa
wie in Amerika, willig und freudig und reichlich ımfere Bei-
träge entrichten, um unferm Oberhaupte und gemeinfchaftlichen
Bater feine Tage zu ‚erleichtern, ihm die Mittel zur freien und
Mäftigen Handhabung feines erhabenen Amtes barzureichen.
Aber wir wollen und auch nicht anklammern an etwas Ber-
gängliches und Zufähliges, wir wollen nicht begehren, daß einem
Volle etwas aufgenöthiget werde, was wir felbft nicht tragen
würden, nicht einftehen wollen wir für eine Regierungsmethode,
bie im Grunde erft 45 Jahre alt, veren Mängel der Papſt
felbit erfannt hat, und die feit dieſer Zeit nur Aufruhr und
tiefe Misitimmung in ver Mehrzahl ver Bevöllerung erzeugt
bat. Wer fi durchaus auf Diejen Stab fügen will, ver läuft
Gefahr, wenn der Stab nun dennoch morſch fein follte, zu
Boden zu fallen.
Die griechifhe Mythe fagt: als ein neuer Gott, Apollo,
habe geboren werben follen, da fei vie Inſel Delos aus dem
Meere emporgeftiegen, um dem Gott als Gebimtsftätte zu die-
nen. Wir können zuverfidhtlich erwarten, daß, was auch kom⸗
men möge, dem Stuble Betri fein Delos nicht fehlen werke,
und follte es erft aus dem Meere emporfteigen.
Drua von Dr. 6. Rolf & Schba in huden.