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Full text of "Das klassische Ideal: Reden und Aufsätze / Ernst und August Horneffer"

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l  ERNST  UND  AUGUST  HORNEFFER 

DAS 

,  KLASSISCHE  IDEAL 

REDEN  UND  AUFSÄTZE 


VERLAG  JULIUS  ZEITLER  •  LEIPZIG  •  1906 


DEM  ANDENKEN 
EINES  ZU  FRÜH 
GESTORBENEN 


VORREDE. 

'  Dies  Buch  ist  kein  geschichtliches.  Es  will  der  Gegenwart 
dienen.  Es  geht  von  der  Überzeugung  aus,  daß  eine  Erneuerung 
der  deutschen  Bildung  sich  vollzieht,  und  will  hinweisen 
auf  das  klassische  Ideal  als  das  Mittel  und  die  Losung  dieser 
Erneuerung.  Den  reinsten  Ausdruck  hat  das  klassische  Ideal 
im  griechischen  und  römischen  Altertum  gefunden;  darum 
kehren  zu  ihm  die  nachfolgenden  Darlegungen  am  häufigsten 
zurück.  Es  war  ein  Irrtum  zu  meinen,  daß  das  Altertum 
wohl  künstlerisch,  aber  nicht  moralisch  und  religiös  zum  Vor- 
bild dienen  könne.  Der  Irrtum  hatte  zur  Folge,  daß  man  sich 
auch  in  der  Kunst  vom  Altertum  abwandte  und  es  heute  für 
abgetan  hält.  Nur  eine  verirrte  Zeit  konnte  dahin  kommen. 
Wir  glauben  im  Gegenteil,  daß  die  Wirkung  des  griechischen 
Geistes  eine  noch  tiefere  v/erden  wird  als  früher;  wir  wünschen, 
daß  das  Altertum  auch  in  Religion  und  Moral  vorbildlich 
werden  und  so  die  deutsche  Kultur  zu  einer  Einheitlichkeit 
führen  möge,  die   ihr  bis  jetzt  gefehlt  hat. 

Das  Buch  zerfällt  in  zwei  selbständige  Teile,  einen  vorwiegend 
ästhetischen  und  einen  ethisch-religiösen.  Um  der  Überzeugung 
Ausdruck  zu  geben,  daß  dieselben  allgem-einen  Grundsätze 
auf  beiden  Gebieten  bestimmend  sein  müssen,  damit  eine  echte 
und  dauernde  Bildung  zustande  kommt,  haben  wir  die  Teile 
in  einem  Bande  vereinigt.  Wir  bitten  aber  ausdrücklich,  jeden 
Verfasser  nur  für  seine  eigenen  Arbeiten  verantwortlich  zu 
machen.  Verfasser  des  ersten  Teils  ist  August  Horneffer,  des 
zweiten  Ernst  Horneffer. 


INHALT. 


ERSTER  TEIL  von   August  Horneffer.  Seite 

L  Vorbilder ii 

IL  Die  deutsche  Musik 28 

III.  Die  deutsche  Prosa 47 

IV.  Die  Kunst  des  Vortrags 70 

V.   Cicero  und  die  Gegenwart 94 

VI.   Zur  antiken  Lyrik 130 

VIL   Krankheiten    des   Willens.     Versuch   über    das  moderne 

Problem 149 

ZWEITER  TEIL  von   Ernst  Horneffer. 

I.   Der  Stil  des  Lebens 201 

II.  Die  künftige  Religion. 

1.  Nietzsche  und  die  Staatsphilosophen  als  Erzieher.    .  219 

2.  Kirchliche  oder  persönliche  Religion 265 

3.  Der   Mensch    als    Schöpfer,    die    Religion   des    neuen 
Heidentums 314 


ERSTER  TEIL. 


Horneffer,  Das  klassische  Ideal. 


I. 


VORBILDER. 


Unsere  Zeit  bemüht  sich  ernstlicher  um  die  Kunst,  als  es  in 
Deutschland  seit  langem  der  Fall  war.  Darum  muß  sie  als 
eine  ihrer  wichtigsten  Aufgaben  ansehen,  ihr  Verhältnis  zu 
früheren  Kunstepochen  richtig  zu  gestalten.  Die  Vergangenheit 
ist  das  große  Hilfsmittel  der  Kultur.  Sie  liegt  heute  bereit  da. 
Das  Studium  der  Geschichte  und  aller  ihrer  Abzweigungen  ist 
hoch  entwickelt.  Wir  können  frühere  Lebens-  und  Kulturformen 
neu  durchleben,  wir  können  Vergleiche  anstellen,  Grundsätze 
bilden  und  verwerten.  Aber  die  Vergangenheit  ist  auch  die 
große  Gefahr  für  die  Kultur.  Das  zeigt  sich  heute  nicht  minder, 
und  Nietzsche  hat  uns  am  besten  darüber  aufgeklärt  in  seiner 
Betrachtung  über  den  Nutzen  und  Nachteil  der  Historie  für  das 
Leben.  Seitdem  sie  geschrieben  ist,  hat  sich  freilich  vieles  ver- 
ändert. Er  kannte  noch  nichts  von  den  starken  Gegenkräften, 
die  sich  aufgemacht  haben  und  die  Herrschaft  der  Historie  zu 
beseitigen  sich  anschicken.  Aber  trotzdem  bleibt  das,  was  er 
sagt,  auch  für  uns  noch  zu  Recht  bestehen.  Nach  wie  vor  sind 
die  Gelehrten  auch  in  der  Kunst  und  in  der  Philosophie  mächtig; 
nur  daß  ihnen  jetzt  diejenigen,  die  von  der  Gegenwart  allein 
leben  wollen,  den  Rang  streitig  machen.  Und  diese  sind  vielleicht 
noch  weiter  vom  rechten  Wege  entfernt  als  jene. 

II  I* 


Erster  Teil. 

Weshalb  braucht  ein  Künstler  die  Vergangenheit?  Weil  er 
Vorbilder  braucht,  die  die  Gegenwart  nicht  geben  kann.  Die 
Vergangenheit  soll  erziehen.  Wie  kann  sie  es?  Was  ist  und 
was  leistet  überhaupt  Erziehung  zur  Kunst?  Man  kann  doch 
einwenden  und  hört  es  heute  von  vielen  Seiten  tun,  daß  Kunst 
nicht  anerzogen  werden  kann;  sie  muß  da  sein;  man  erzieht 
höchstens  Künstelei,  Klassizismus  u.  dgl.  Aber  das  Problem  ist 
kein  anderes  als  das  allgemeine  pädagogische.  Jede  Erziehung 
hat  das  Ziel,  zu  unterstützen,  zu  stärken,  Richtung  zu  geben, 
zu  beschleunigen.  Vorausgesetzt  ist  immer  ein  Schatz  von  Natur 
und  Begabung  bei  dem  zu  Erziehenden.  Ohne  ihn  wäre  die 
Mühe  umsonst.  Die  Furcht  aber,  die  so  vielfach  vor  der  Ver- 
gangenheit gehegt  wird,  ist  nicht  begründeter  als  die  des  Zög- 
lings vor  dem  Lehrer.  Wenn  die  Zeit  schwach  ist  und  den  Antrieb 
zur  Kultur  nicht  aus  eignem  Wollen  schöpft,  wird  sie  der  Ver- 
gangenheit unterliegen  und  entweder  zur  Tatlosigkeit  oder  auf 
Irrwege  geführt  werden.  Ohne  Zweifel  findet  sich  beides  heut- 
zutage. Aber  ebenso  sicher  ist,  daß  viele  der  Gegenwart  unter- 
liegen, daß  sie  nicht  imstande  sind,  über  deren  Beschränkung 
sich  hinauszuheben,  weil  ihnen  die  Unterstützung  durch  die  Ver- 
gangenheit fehlt.  Die  Vergangenheit  lehrt  hervorzusuchen,  was  in 
der  Gegenwart  und  in  dem  einzelnen  an  höherem  Streben  lebt,  sie 
befestigt  Neigungen,  die  der  Zeittendenz  zuwiderlaufen.  Es  ist 
klar,  daß  ihre  Gefahr  um  so  geringer  wird,  je  größere  ursprüng- 
liche Kraft  der  Lernende  zur  Verfügung  hat.  Niemand  aber  kann 
verkennen,  daß  heute  viel  Kraft,  teils  latent,  teils  offen,  vor- 
handen ist,  reichlich  genug,  um  die  Schäden,  die  das  Lernen  der 
Vergangenheit  bringen  kann,  auszugleichen  und  dessen  unge- 
heure Vorteile  sich  zunutze  zu  machen. 

Alles  Lernen,  so  unentbehrlich  es  für  menschliche  Entwick- 
lung ist,  hat  eine  Schwierigkeit  und  einen  Übelstand:  es  veranlaßt 
zur  Nachahmung  des  Vorbilds,  und  verführt  dadurch  nicht  selten 
zur  Unnatur  und  Unehrlichkeit,  die  mit  der  Kultur  unverträg- 
lich sind.  Das  Nachahmen  ist  nicht  an  sich  verwerflich,  vielmehr 
in  der  Ordnung  und  die  Quelle  alles  menschlichen  Fortschritts. 
Das  Kind  käme  nicht  in  ein  paar  Jahren  über  zahllose  Kultur- 
stufen hinweg,  wenn  es  nicht  mechanisch  nachahmte,  was  es 

12 


Vorbilder. 

von  den  Eltern  hört  und  sieht.  Das  Verständnis  kommt  erst 
allmählich  hinzu  und  mit  ihm  gewinnt  das  Lernen  an  Schwierig- 
keit. Eine  Beeinflussung  von  außen  hat  jetzt  mit  dem  selb- 
ständigen Fühlen  und  Handeln  des  Lernenden  zu  kämpfen.  Er 
will  sich  natürlich  und  von  innen  heraus  entwickeln,  muß  sich 
also  gegen  Dinge,  die  über  und  wider  seine  Entwicklung  gehen, 
zur  Wehre  setzen.  Daher  der  Widerstand,  den  jedes  Geschöpf 
seinem  Erzieher  bereitet  und  desto  heftiger,  je  kräftiger  und 
wertvoller  es  ist;  die  schwächeren  Naturen  biegen  sich  leichter, 
haben  oft  einen  stärkeren  Nachahmungstrieb  und  freuen  sich, 
wenn  ihnen  von  außen  Halt  und  Richtung  gegeben  wird.  Ebenso 
ist  es  mit  der  Erziehung  einer  ganzen  Zeit.  Der  Zweck:  abzu- 
kürzen, zu  verhüten,  daß  die  Wege  des  Lernens  und  Probierens, 
welche  die  Vergangenheit  gemacht  hat,  noch  einmal  gegangen 
werden  müssen,  kämpft  mit  der  Schwierigkeit,  fremde  Erfah- 
rungen als  eigne  ansehen  zu  lernen,  sie  sich  zu  eigen  zu  machen. 
Diese  Aneignung  wird  im  ersten  Stadium  Kennen  und  Wissen 
sein,  muß  sich  aber  in  Können  und  Handeln  umsetzen;  denn  das 
Wissen  hat  an  sich  keinen  Wert  und  verleiht  auch  keine  Kraft, 
es  zehrt  sogar,  wie  Goethe  schon  sah,  an  der  Kraft.  Die  Aufgabe 
ist,  zu  erwerben  was  man  ererbt,  das  Gelernte  mit  dem  Eignen, 
Gewollten  und  Gelebten  zu  eins  zu  machen,  sich  in  dem  Vorbild 
wiederzuerkennen,  und  hieraus  muß  sich  allmählich  eine  neue 
Selbständigkeit  entwickeln.  Geschieht  dies  nicht,  unterliegt 
eine  Zeit  der  Vergangenheit,  so  ist  die  mangelnde  Kraft  be- 
wiesen. Das  Epigonentum  ist  eine  Erscheinung,  die  sich  nicht 
machen  und  nicht  wegschaffen  läßt.  Sind  wir  Epigonen,  so 
hilft  uns  kein  Suchen  nach  Originalität  und  kein  Verleugnen 
der  Vergangenheit  davor.  Aber  mir  scheint,  die  heutige  Zeit  ist 
es  nicht,  wenigstens  nicht  ihrer  Grundströmung  nach,  so  schwierig 
und  kompliziert  auch  ihr  Verhältnis  zur  Vergangenheit  ist.  Je 
größer,  geschlossener  und  reifer  die  Vergangenheit,  desto  schwerer 
wird  ein  unreifes,  in  der  Entwicklung  begriffenes  Volk  wie  die 
Deutschen  mit  ihr  fertig  werden.  Die  Griechen  z,  B.  hatten  es 
leichter  oder  doch  einfacher,  da  die  fremden  Einflüsse  von  künst- 
lerisch untergeordneter  Seite  zu  ihnen  kamen  und  die  Richtung 
der  griechischen  Kultur  nicht  bestimmen  konnten.     So  nähert 

13 


Erster  Teil. 

sich  der  Gang  ihrer  Kultur  einer  einheitlichen  Linie.  Aber  weil 
sie  alles  aus  sich  herausziehen  mußten,  kamen  sie  auch  schneller 
zu  Ende.  Es  fehlten  ihnen  Bereicherungen  und  Befruchtungen 
durch  fremde  Kulturen,  die  erneuernd,  freilich  auch  zeitweise 
ablenkend  und  retardierend  wirkten.  Die  neuere  Zeit  ist  voll 
solcher  Einflüsse  und  dadurch  ungleich  reicher  und,  wie  ich 
meine,  dauerhafter,  aber  auch  komplizierter  und  unharmonischer. 
Wir  haben  keine  Möglichkeit  dies  zu  ändern,  auch  wenn  wir 
es  wollten,  und  zu  antiker  Gradlinigkeit  zurückzukehren,  etwa 
indem  wir  vor  der  Übermacht  der  Vergangenheit  davonlaufen 
statt  sie  zu  überwinden.  Der  einzige  Weg  zur  Zukunft  geht 
durch  die  Vergangenheit.  Das  einzige  Mittel  aber,  auf  ihm  vor- 
wärts zu  kommen,  ist,  tiefe  und  feste  Wurzeln  in  die  Gegenwart 
zu  schlagen.  Es  ist  ein  verhängnisvoller  Irrtum,  wenn  man 
meint  zur  Kultur  und  Kunst  zu  kommen,  indem  man  sich  los- 
löst und  die  tiefen  Probleme  und  mannigfachen  Schwierigkeiten 
abwirft,  deren  Schauplatz  und  Kampfplatz  die  moderne  Seele 
ist.  Ja  die  Erziehung  durch  die  Gegenwart  ist  Grundlage  der 
höheren  durch  die  Vergangenheit.  Man  muß  auf  seinen  Füßen 
stehen  und  Glied  seiner  Zeit  sein,  um  der  Früchte  reiferer  Epochen 
teilhaftig  werden  zu  können.  Die  Romantik,  oder  wie  man 
sonst  jene  Richtung  nennen  mag,  die  in  einer  blauen  Ferne  vor 
uns  oder  hinter  uns  nach  Schönheit  sucht,  wird  niemals  das 
leisten,  was  die  Kunst  leisten  soll:  hindurch  und  hinüber  führen, 
aber  nicht  herum  und  vorbei.  Sie  ist  von  vornherein  dadurch 
verurteilt,  daß  sie  es  nicht  aufnimmt  mit  den  schwersten  Rätseln 
und  Wehen  ihrer  Zeit.  Sie  speist  sich  aus  Quellen,  deren  Wasser 
erborgt  ist,  und  sieht  nicht,  daß  alle  Schönheit  unfruchtbar  ist, 
die  nicht  aus  uns  geboren  und  von  unserer  Zeit  gepflegt  und 
genährt  wird.  Man  kommt  um  keinen  Schritt  weiter,  wenn 
man  sich  und  seine  Zeit  häßlich  findet;  denn  man  kann  sich  doch 
nicht  aus  der  Realität  retten  und  erreicht  nicht  mehr  als  der 
Vogel  Strauß,  der  den  Kopf  in  den  Sand  steckt,  um  seinen  Ver- 
folgern zu  entgehen.  Es  liegt  etwas  Negatives  und  nicht  selten 
Verläumderisches  in  den  Produktionen  der  Romantiker,  welcher 
Art  sie  auch  sein  mögen,  während  doch  die  Kunst  ihrem  Wesen 
nach  positiv  ist  und  verherrlichen  soll.     Schönheit  und  Feinheit 

14 


Vorbilder. 

der  Form  aber,  so  dankbar  man  auch  gerade  in  Deutschland 

für  sie  sein  muß,  hat  wenig  Wert,  wenn  sie  an  einen  erborgten 
Gehalt  sich  anlehnt  und  selber  erborgt  ist;  denn  es  ist  leicht, 
Mäßigung  und  Übersicht  zu  bewahren,  wo  man  gar  nicht  oder 
nur  mit  einem  Bruchstück  seiner  Seele  beteiligt  ist,  aber  es  ist 
schwer,  schön  zu  sein,  wenn  man  sich  ganz  einsetzt,  wie  es  jeder 
wahre  Künstler  tut.  Auf  ebenso  falschem  Wege  sind  jene  mit 
den  Romantikern  verwandten  Einsiedler,  die  sich  absondern  und 
auf  Verständnis  und  Publikum  verzichten.  Sie  vergessen,  daß 
das  Publikum  unentbehrlich  ist,  wenn  auch  nur  als  korrigierendes 
und  moderierendes  Element,  damit  ein  Künstler  gedeihen  kann. 
Der  Künstler  darf  nicht  exklusiv  sein,  er  muß  seine  Wirkung 
und  die  Gegenwirkung  der  Empfänger  fühlen,  wenn  er  nicht  ins 
Extrem  geraten  will.  Gewiß  fehlt  ein  deutsches  Kunstpublikum; 
aber  daraus  folgt  nicht  es  zu  entbehren,  sondern  es  zu  schaffen. 
Der  Naturalismus  ist  die  andere  Hauptform  unseres  viel- 
gestaltigen Strebens  und  Irrens.  Er  will  der  Vorbilder  entraten 
und  glaubt  alles  aus  sich  selbst  schaffen  zu  können,  kann  aber 
ebenfalls  nie  zur  Kunst  kommen.  Er  bleibt  freiwillig  vor  ihrer 
Tür  stehen  ohne  einzutreten,  wie  oft  genug  dargelegt  worden 
ist.  Er  hat  die  Ehrlichkeit  vor  den  Romantikern  voraus,  muß 
aber  durch  seine  Unbildung  und  Barbarei  hinter  ihnen  zurück- 
stehen. In  Zusammenhang  mit  ihm  steht  die  von  Zeit  zu  Zeit 
wieder  Luft  schöpfende  Richtung,  die  sich  für  originales  Deutsch- 
tum (oder  auch  Germanentum)  begeistert.  Der  Einwand  gegen 
sie  ist  schon  öfter  gemacht  worden:  es  ist  ein  Unding  und  weder 
möglich  noch  wünschenswert  im  Sinne  der  Kultur,  mit  autoch- 
thonen  Faseleien  der  Kunst  zu  Hilfe  zu  kommen.  Wir  sind 
deutsch,  und  sind  wir  es  nicht,  so  hat  die  Mahnung,  deutsche 
Art  zu  wahren  und  zu  zeigen,  nur  den  Erfolg,  uns  in  die  Romantik 
und  Affektation  hineinzutreiben.  Man  unterschätzt  die  Kraft, 
die  heute  vorhanden  ist,  wenn  man  fremdländische  Einflüsse 
scheut.  Man  frage  sich  nur,  was  es  in  Deutschland  Gutes  gäbe, 
in  der  Dichtkunst,  der  bildenden  Kunst  und  in  der  Musik, 
ohne  das  Schülerverhältnis  zum  Ausland,  besonders  zu  Griechen- 
land und  zu  den  romanischen  Völkern.  Dies  Schülerverhältnis 
soll  nicht  aufhören,  sondern  es  soll  noch  stärker  werden. 

15 


Erster  Teil. 

Welche  Vergangenheit  wird  erzieherisch  wirken?  Nicht  jede 
natüriich,  sondern  die,  welche  vollkommener  ist  als  unsere  Zeit. 
Der  Erzieher  muß  zwei  Eigenschaften  haben,  erstens  muß  er 
seinem  Zögling  verwandt  sein,  dem  gleichen  Ziele  zustreben, 
und  zweitens  muß  er  weiter  sein  als  dieser.  Die  natürlichen 
Erzieher  sind  die  Eltern.  Es  ist  falsch,  alle  möglichen  Zeiten 
und  Völker  aufzusuchen  und  zu  glauben,  daß  Bildungselemente 
desto  wertvoller  seien,  je  besonderer  fremdartiger  und  in  desto 
jüngerer  Zeit  sie  entdeckt  sind.  Es  mag  Früchte  tragen,  sich 
mit  vielen  Kulturen  und  deren  Schicksalen  bekannt  zu  machen, 
aber  nicht  für  die  Erziehung  zur  Kunst.  Das  Fremdartige  ist 
schwer  zu  assimilieren  und  das  Primitive  kann  nichts  helfen. 
Eine  vergangene  Zeit  oder  ein  Mensch  einer  früheren  Epoche  wird 
dann  vorbildlich  wirken,  wenn  in  ihr  oder  in  ihm  die  Schwierig- 
keiten überwunden  und  gelöst  erscheinen,  denen  die  Gegenwart 
unterliegt.  Sie  müssen  auch  dort  vorhanden  und  ein  Kampf 
muß  sichtbar  sein;  aber  der  Kampf  hat  zum  Siege  geführt.  Die 
gesunden  ausheilenden  Eigenschaften  waren  stärker  als  die 
kranken  zerstörenden. 

Sehen  wir  uns  nach  Epochen  der  Vergangenheit  um,  die  reife 
und  uns  verwandte  Kunst  und  Kultur  ihr  eigen  nannten,  so  finden 
wir  im  höchsten  Sinne  nur  das  griechische  Altertum.  Man  hat 
heute  den  Glauben  an  die  erziehende  Kraft  der  Griechen  viel- 
fach verloren,  man  ist  des  Altertums  müde,  weil  man  verlernt 
oder  nie  gelernt  hat,  es  richtig  zu  benutzen.  Daran  mögen  die 
Philologen  einen  großen  Teil  der  Schuld  tragen.  Sie,  die  Träger 
und  Vermittler  des  Altertums  sein  sollten,  haben  es  uns,  durch  den 
Schulbetrieb  und  den  Wissenschaftsbetrieb,  am  meisten  und  gründ- 
lichsten verleidet.  Aber  man  lasse  sich  nicht  irre  machen:  das 
Altertum  lebt  und  ist  stärker  als  je;  es  hat  seine  erziehende  Kraft 
hundertfältig  bewiesen  und  wird  sie  auch  an  uns  beweisen.  Was 
in  Europa  seit  dem  Mittelalter  in  der  Kunst  versucht  worden 
ist,  verdankt  den  besten  Teil  seiner  Erziehung  dem  Altertum. 
Hiervon  ist  selbst  die  Musik  nicht  ganz  auszunehmen.  Die  Be- 
mühungen der  deutschen  Poesie  und  bildenden  Kunst  seit 
150  Jahren  sind  vom  Altertum  geleitet  worden,  wenn  auch  viel- 
fach nur  indirekt  und  unter  dem  steten  Widerstand  von  mehreren 

16 


Vorbilder. 

Seiten  aus.  Man  wehrte  sich,  wenn  man  gegen  das  Altertum 
focht,  entweder  gegen  die  falsche  (lähmende  oder  irreleitende) 
Benutzung  desselben,  das  war  ein  berechtigter  Kampf;  oder  man 
wehrte  sich  gegen  das  Ausländische  und  pries  einheimische  Vor- 
bilder, das  war  Unverstand;  oder  man  wollte  von  Vorbildern 
überhaupt  nichts  wissen,  das  war  Barbarei.  Der  Kampf  dauert 
heute  noch  fort.  Wir  wollen  ihn  mit  frischer  Kraft  aufnehmen! 
Die  Hauptfrage  ist  meiner  Meinung  nach  die,  worin  man 
das  Vorbildliche  sucht.  Man  hat  fast  immer  den  Irrtum  be- 
gangen, es  im  Gehalt  zu  suchen,  während  es  allein  auf  formalen 
Dingen  beruht.  Das,  was  gelernt  werden  muß,  ja  was  allein 
gelernt  werden  kann,  ist  die  Form.  Hieran  müssen  wir  fest- 
halten. Daß  ein  Künstler  sich  Stoffe  aus  der  Vergangenheit 
sucht  und  darum  Geschichts-  und  Sagenstudien  macht,  mag  gut 
und  nützlich  sein;  mit  dem  vorbildlichen  Wert  der  Vergangenheit 
hat  es  nichts  zu  tun.  Das  Vorbildliche  liegt  nicht  in  den  Stoffen, 
sondern  in  der  Form.  Es  gibt  keine  tiefgehendere  Frage  in  der 
Kunst  als  die  nach  der  Form.  In  Deutschland  sind  freilich 
wenige  und  waren  immer  wenige,  die  dies  zugeben.  Es  fehlt 
das  Interesse  und  der  Sinn  für  die  Probleme  der  Form.  Man 
begreift  nicht,  wie  etwas  Äußerliches  so  ernst  genommen  werden 
kann,  und  unter  tüchtigen  Männern  ist  die  Ansicht  verbreitet, 
daß  ein  starkes  Hervorheben  des  formalen  Elements  Degeneration 
verrate.  Das  ist  gleich  falsch  für  die  Kultur  im  allgemeinen 
wie  für  die  Kunst  im  besonderen  und  verrät  einen  durchaus 
unklaren  Begriff  von  Kultur  und  Kunst,  sowie  eine  mangelhafte 
Einsicht  in  die  Geschichte.  Man  darf  ihnen  die  Frage  vorlegen, 
was  sie  von  dem  Forminteresse  der  Griechen  halten?  Jeder 
weiß,  wie  groß  es  von  Anfang  der  griechischen  Kultur  an  war. 
Bereits  Homer  zeigt  die  größte  Liebe  für  das  Technische  und 
die  höchste  Delikatesse  in  der  Form  und  seine  Epen,  die  man 
für  Naturpoesie  halten  konnte,  sind  kunstreicher  als  die  künst- 
lichsten Produkte  deutscher  Dichtung.  Noch  weiter  gehen  die 
Lyriker  und  Tragiker;  es  ist  ein  fortlaufender  Kultus  des  For- 
malen. Und  doch  wird  niemand  diese  Poesie,  welche  die  große 
griechische  Zeit  hervorbrachte  und  verherrlichte,  degeneriert 
nennen  wollen.      Man  kann  auch  das  Mittelalter  anführen  und 

17 


Erster  Teil. 

die  Verächter  der  Form  fragen,  ob  sie  in  der  gotischen  Archi- 
tektur keinen  Formenthusiasmus  finden?  Man  baute  Dome 
mit  endlosem  Zierat,  und  es  war  Höhe,  nicht  Tiefstand  oder 
Rückgang  menschhcher  Kraft  und  Kunst,  daß  der  Stifter  sein 
Geld  hingab  für  nutzlose  Formenpracht  und  der  Baumeister  sich 
nicht  genug  tun  konnte  in  nutzloser  Formenschönheit.  Das 
mangelnde  Verständnis  und  mangelnde  Gefühl  dagegen  für  die 
Form  zeigt  einen  Tiefstand  der  Kultur,  der  in  Deutschland  leider 
fast  allgemein  ist,  so  viel  einzelne  Männer  von  jeher  dagegen 
gekämpft  haben.  Man  schätzt  und  liebt  die  Kunstwerke  nur, 
indem  man  sie  vergewaltigt,  das  stoffliche  Element  herausnimmt 
und  das  formale  übersieht.  Und  die  Künstler  sind  nicht  imstande 
oder  nicht  willens,  dem  zu  steuern.  Welch  anderes  Bild  zeigt 
eine  Kulturepoche  wie  das  Altertum!  Jeder  Künstler  fand  die 
natürliche  und  unerbittliche  Forderung  vor,  die  Formen,  die 
Regeln,  die  Gesetze,  welche  die  Tradition  und  der  Lehrer  ihm 
gaben,  mit  allem  Fleiß  und  Geist  erfüllen  und  handhaben  zu 
lernen,  um  Meisterschaft  und  Ehre  zu  gewinnen.  Keiner  kam 
auf  den  Gedanken,  stofflich  wirken  zu  wollen,  weil  das  Publikum 
Kunstwirkung,  nicht  Stoffwirkung  verlangte.  Und  gerade  darum 
war  man  im  wahren  Sinne  original  und  autonom.  Autonomie 
des  Künstlers  hieß  damals:  viel  lernen  und  schwere  Gesetze  in 
Freiheit  befolgen  und  beherrschen,  heute  heißt  Autonomie:  sich 
willkürlich  und  anarchisch  geberden.  Dem  Publikum  geht 
natürlich  das  Verständnis  für  die  künstlerischen  Erfordernisse 
noch  mehr  ab  als  dem  Künstler.  Es  schätzt  an  ihm  nur  die 
Eigenschaften,  die  mit  der  Kunst  nichts  zu  tun  haben.  Seine 
Kunst  läßt  man  bestenfalls  gelten,  ignoriert  sie  oder  befehdet 
sie  auch.  So  geht  man  mit  gegenwärtigen  und  ebenso  mit  ver- 
gangenen Kunstwerken  um.  Manchmal  ist  der  Gesichtspunkt, 
aus  dem  die  Erzeugnisse  großer  Kunstepochen  der  Vergangenheit 
beurteilt  und  geschätzt  werden,  ein  solcher,  daß  man  an  den 
praktischen  Geist  jener  Erben  griechischen  und  römischen  Bodens 
gemahnt  wird,  die  den  Bildsäulen  die  Extremitäten  abschlugen 
und  den  Rumpf  als  Mauersteine  verwendeten.  Dies  Verfahren 
ist  für  den  gegenwärtigen  Künstler,  auf  den  es  uns  ja  ankommt, 
betrüblicher  als  für  den  vergangenen.     Denn  den  Kunstwerken, 

i8 


Vorbilder. 

die  den  Unbilden  der  Zeit  widerstanden  haben  und  auf  uns  ge- 
kommen sind,  tut  es  keinen  Schaden  mehr,  wenn  man  sie  falsch 
versteht  und  falsch  benutzt.  Wie  eine  Landschaft  frisch  und 
unberührt  bleibt,  so  viele  unwürdige  Augen  auch  auf  ihren 
Schönheiten  geruht  haben,  so  ist  das  Altertum  jung  und  ewig 
neu  geblieben,  trotzdem  die  Jahrhunderte  an  ihm  ihre  Liebe, 
Bewunderung  und  Nachahmung  geübt,  es  geliebkost  und  gemiß- 
handelt und  schließlich  den  Kindern  als  Spielwerk  und  Abc-Buch 
in  die  Hände  gegeben  haben,  damit  sie  ja,  wenn  sie  erwachsen 
sind,  es  beiseite  werfen.  Der  gegenwärtige  Künstler  aber,  der  wirk- 
lich Künstler  sein  möchte,  leidet  darunter,  daß  ihm  das  Publikum 
keine  Stütze,  kein  Ansporn  ist,  sondern  ihn  zwingt,  im  Gegensatz 
zu  ihm  sich  zu  entwickeln,  wobei  er  die  Überzeugung  nicht  los 
wird,  daß  er  in  dem  entscheidenden  Punkte  seines  Strebens  un- 
verstanden bleibt.      Man  denke  nur  an  Goethe. 

Andererseits  wird  niemand  leugnen,  daß  es  falsch  und  be- 
denklich ist,  die  Form  einseitig  und  zu  Ungunsten  des  Gehaltes 
zu  pflegen.  Die  künstlerische  Technik  darf  nicht  vergessen, 
daß  sie  Mittel  ist,  nicht  Zweck,  in  demselben  Sinne  wie  der  Stoff 
Mittel  ist,  nicht  Zweck.  Das  Kunstwerk  als  Ganzes  ist  Zweck. 
Aber  selbst  wo  die  Form  überwuchert,  kann  man  nicht  unter 
allen  Umständen  von  sinkender,  degenerierter  Kunst  reden.  Die 
Frage,  ob  eine  Kunstepoche  eine  steigende  oder  eine  fallende 
ist,  entscheidet  sich  meiner  Meinung  nach  daran,  ob  genug 
Kraft  da  ist,  der  Kunstmittel  Herr  zu  werden,  d.  h.  sie  als  Mittel 
zu  erkennen  und  zu  benutzen.  Jede  erwachende  Kunstblüte 
wird  ein  großes,  ja  mitunter  ein  übermäßiges  Forminteresse 
haben,  denn  jedesmal  will  etwas  Neues  ans  Licht,  und  um  dies 
Neue  aussprechen  zu  können,  werden  neue  Ausdrucksmittel  ge- 
sucht. Hierbei  kommen  Fehlgriffe  vor,  und  nicht  selten  geht 
das  Bewußtsein  verloren,  daß  es  nur  Mittel  sind,  die  man  sucht; 
man  nimmt  ,,die  Studie"  als  Endpunkt  der  Kunst,  wie  es  heute 
zuweilen  geschieht,  oder  man  verfällt  in  Torheiten  und  Ge- 
schmacklosigkeiten, von  denen  die  Kunstgeschichte,  aber  auch 
das  heutige  Kunstleben  nicht  wenig  Beispiele  zeigt.  Ebenso 
hat  jede  entartende  Kunst  die  Neigung,  das  Technische  zu  über- 
treiben und  entweder  raffiniert  oder  flach  zu  werden,  weil  der 

19 


Erster  Teil. 

Gehalt  nicht  mehr  stark  genug  ist,  die  Form  zu  tragen.  Es  sind 
große  Kunstmittel  da,  die  große  Kraft  zu  ihrer  Handhabung  er- 
fordern. Diese  fängt  an  zu  fehlen;  da  aber  Gewohnheit  und 
überkommene  Verehrung  gerade  schwache  Naturen  in  einer  fest- 
getretenen Bahn  halten,  so  bedient  man  sich  der  Formen  weiter, 
bildet  sie  noch  mehr  aus,  bewegt  sich  freier,  wie  man  es  nennt, 
weil  man  nicht  nach  innerer  Nötigung  formt,  sondern  willkürlich 
wie  der  Bäcker  den  Honigkuchen  in  diese  oder  jene  Form  bringt, 
und  merkt  am  Ende  nicht,  wie  unpassend  und  hohl  sich  solche 
formvollendete  Kunstwerke  ausnehmen.  Ist  man  klüger,  so 
schneidet  man  sich  die  großen  Formen  nach  seiner  Figur  zurecht 
und  sucht  dem  Stückwerk  ein  neues  selbständiges  Leben  ein- 
zuhauchen; ist  man  ehrlicher,  so  legt  man  sie  beiseite,  und  das 
Chaos  beginnt  von  neuem. 

Wann  aber  werden  wir  von  klassischer  Kunst  reden?  Wo- 
durch kennzeichnen  sich  Höhepunkte  der  Kunstentwicklung? 
Die  Definitionen  des  Klassischen,  die  man  hier  und  da  gegeben 
hat,  will  ich  nicht  wiederholen,  sondern  nur  versuchen,  ein  er- 
klärendes Moment  anzuführen,  das  in  Zusammenhang  mit  dem 
eben  Gesagten  steht  und  uns  Deutschen  die  Lage  unserer  Kunst 
vielleicht  erklären  hilft.  Die  beiden  Elemente,  die  das  Kunst- 
werk ausmachen,  sind  Gehalt  und  Form,  wie  jedermann  weiß. 
Der  Gehalt  betrifft  die  ethische  Seite  des  Kunstwerks  und  hängt 
von  dem  schaffenden  Individuum  und  seiner  Zeit  ab.  Das  Kunst- 
werk redet  von  der  Seele  des  Künstlers;  es  offenbart  uns  ein  Gefühl 
oder  ein  Verlangen  oder  eine  sinnliche  Erfahrung,  eine  geistige 
Regung,  eine  Idee,  oder  wie  man  immer  das,  was  wir  Gehalt 
nennen,  umschreiben  mag.  Und  da  der  Künstler  einer  be- 
stimmten Zeit  angehört,  die  ihn  hervorbringt  und  umgibt  und 
deren  Seele  er  in  sich  hat,  so  redet  er  zugleich  als  Mundstück 
seiner  Zeit.  Es  mag  hier  das  Verhältnis  von  Individuum  und 
Milieu  unerörtert  bleiben,  welches  von  beiden  das  Bestimmende 
und  welches  das  Bestimmte,  welches  Erzeugnis  und  welches 
Schöpfer  ist;  womit  auch  die  Frage  der  Objektivität  oder  Sub- 
jektivität des  Kunstwerks  zusammenhängt,  die  Goethe  und 
Schiller  so  sehr  beschäftigte.  Es  steht  fest,  daß  beides,  Subjekt 
und  Objekt,  Individuum  und  Allgemeinheit  wirkend  ist.  —  Das 

20 


Vorbilder. 

zweite  Element  ist  das  ästhetische  und  hängt  von  der  Tradition 
ab.  Der  Künstler  braucht  zu  dem  Was  ein  Wie,  er  braucht 
eine  Form,  in  die  er  seine  Seele  und  die  seiner  Zeit  hineingießen 
kann.  Diese  Form  ist  bis  zu  einem  hohen  Grade  unabhängig 
vom  Gehalt  und  ist  bleibend,  während  der  Gehalt  wechselnd  ist. 
Der  Wein  im  Kruge  wird  ausgetrunken  und  muß  immer  erneuert 
werden,  der  Krug  bleibt  derselbe.  Als  künstlerische  Formen 
im  weitesten  Sinne  kann  man  die  musikalischen  Töne,  die  Farben 
und  Linien,  die  Sprache  bezeichnen.  Es  sind  die  allgemeinsten 
dauerndsten  Mittel  der  Kunst.  Gewöhnlich  brauchen  wir  den 
Ausdruck  im  prägnanten  Sinne  und  verstehen  darunter  bestimmte, 
auf  der  Tradition  beruhende  Kunstformen,  z.  B.  die  Suite,  das 
Sonett,  die  Radierung,  die  aber  ebenso  wie  jene  allgemeinen  durch 
Regeln  umschrieben  sind  und  einen  erlernbaren,  für  jeden  zur 
Benutzung  daliegenden  Bestand  bilden.  Natürlich  sind  diese 
Formen  auch  wandelbar,  sie  erwachsen  und  verwelken,  sie  sind 
abhängig  von  äußeren  Umständen,  vom  Material,  vom  äußeren 
Zweck  der  Kunst,  von  technischen  Erfindungen  usw.  Aber 
gegenüber  dem  einmaligen  Gehalt,  mit  dem  sie  erfüllt  werden, 
sind  sie  das  Dauernde.  —  Stehen  in  einem  Kunstwerk  Gehalt 
und  Form  im  richtigen  Verhältnis  zueinander,  so  nennen  wir  es 
klassisch.  Nicht  nur  darauf  kommt  es  an,  daß  beide  gleich  ent- 
wickelt und  gleich  stark  sind,  sondern  auch  darauf,  daß  eins  das 
andere  stützt  und  fördert  und  nicht  hemmt  und  stört.  Beide 
müssen  zueinander  passen,  ineinander  sich  fügen,  durcheinander 
verständlich,  wirkungsvoll,  schön  werden.  Für  sich  allein  sind 
sie  niemals  schön,  sind  sie  überhaupt  nicht  Kunst,  erst  ihre  Ver- 
einigung, wenn  sie  glücklich  und  günstig  ist,  bringt  die  Schönheit 
hervor.  Nehmen  wir  als  vornehmstes  Beispiel  klassischer  Kunst 
das  griechische  Altertum.  Es  kann  uns  am  besten  belehren, 
wenigstens  so  weit  es  uns  direkt,  als  Original  zugänglich  ist.  Denn 
Kopien,  auf  die  wir  leider  vielfach  angewiesen  sind,  versagen 
gerade  in  dem  wichtigsten  Punkte.  Sie  sind  blaß  und  abstrakt 
oder  erzählen  vom  Kopisten.  Uns  aber  muß  es  darauf  ankommen, 
den  Schöpfer  zu  hören,  wenn  wir  erfahren  wollen,  wie  Gehalt 
und  Form  sich  zueinander  verhalten.  Studiert  man  die  griechi- 
schen Originale,    so  entdeckt  man  mit  immer  neuem   Staunen 

21 


Erster  Teil. 

eine  Einheit  und  Ganzheit  der  künstlerischen  Gebilde,  von  der 
spätere  künstlerische  Epochen  nur  einen  schwachen  Nachhall 
geben.  Individuum  und  Tradition  wird  zu  eins,  der  Gehalt 
macht  die  Form  lebendig  und  sinnvoll,  und  wird  von  ihr  gehoben, 
gereinigt  und  verewigt.  Welch  eine  Höhe  und  Macht  der  Formen 
war  nötig,  um  dies  zu  ermöglichen,  und  welch  eine  Beschrän- 
kung und  Mäßigung  der  schaffenden  Naturen  und  ihrer  Zeit! 
Und  es  waren  keine  schwachen  Naturen,  sondern  starke  leiden- 
schaftliche Temperamente,  die  sich  so  zu  mäßigen  und  zu  be- 
schränken wußten;  und  die  Zeit,  die  in  ihnen  zu  Worte  kam, 
war  nicht  gering,  sondern  voll  unbändigen  Lebens;  und  doch 
entäußerten  sie  sich  so  weit,  daß  sie  Stoffe  aus  längst  vergangenen 
Zeiten  bevorzugten,  Stoffe,  die  auf  der  Tradition  ruhten  und 
gleichsam  zur  Form,  zum  Gefäß  wurden.  Gleich  die  ersten  Werke, 
die  wir  besitzen,  die  homerischen  Epen,  lösen  die  Probleme  der 
Kunst  in  vollkommener  Freiheit  und  Schönheit.  Sie  zeigen  uns 
das  scheinbar  Unversöhnliche  miteinander  verbunden:  Naivetät 
und  Konvention,  produktive  Kraft  und  Mangel  an  Erfindung, 
Realität  und  Stilisierung.  Der  Bau  im  ganzen,  so  wie  er  ursprüng- 
lich angelegt  ist,  erfüllt  die  Forderungen,  die  an  ein  Kunstwerk 
und  im  besonderen  an  ein  Epos  zu  stellen  sind,  in  so  hoher  Weise, 
daß  selbst  die  späteren  Zutaten  und  Änderungen  ihm  nichts 
anhaben  konnten;  wobei  freilich  hinzukommt,  daß  die  ein- 
schiebenden Rhapsoden  meist  von  großer  künstlerischer  Einsicht 
waren  und  die  Höhe  des  künstlerischen  Niveaus  jener  Zeit  deut- 
lich ins  Licht  setzen.  Die  Ilias  und  noch  klarer  die  Odyssee  sind 
trotz  aller  Unebenheiten  ganze  Kunstwerke  im  großen  und  ebenso 
im  kleinen.  Die  Detailarbeit  ist  bewundernswert,  die  jeden  Vers 
mit  gleicher  Sorgfalt,  jede  Nebensache  mit  gleicher  Liebe  be- 
handelt. Das  Problem  des  Erzählens,  an  dem  so  viele  Heutige 
scheitern,  ist  auf  das  glücklichste  gelöst.  Nie  verliert  Homer  die 
Übersicht;  nie  schweigt  er,  nie  schildert  er  an  unrechter  Stelle; 
nie  wird  er  geschwätzig,  nie  ist  er  wortarm.  Situation  und  Cha- 
rakter, Handlung  und  Beschreibung  hat  er  gleich  fest  in  der 
Hand.  Und  Homer  ist  nicht  unpersönlich,  nicht  verkörperte  Tra- 
dition, wie  man  uns  glauben  machen  will,  sondern  er  ist  original, 
man    hat    das    sichere    Gefühl    schöpferischer    Unmittelbarkeit. 

22 


Vorbilder. 

Daß  diese  sehr  objektiv  ist,  spricht  nicht  gegen  sie.  Was  ist  denn 
künstlerische  Objektivität  anders  als  das  Resultat  einer  großen 
und  umfassenden  produktiven  Kraft!  Der  Schaffende  scheint 
zu  verschwinden,  weil  er  sein  Subjekt  nicht  in  Gegensatz  zu 
den  Objekten  stellt,  sondern  sich  mit  ihnen  eins  fühlt.  Er  ist 
selber  klingende  Natur.  —  Es  ist  von  Wichtigkeit,  daß  wir  bei 
unserer  Schätzung  Homers  uns  in  Übereinstimmung  mit  dem 
Altertum  befinden  und  nicht  wie  bei  einigen  Werken  der  Skulptur 
etwas  als  höchste  Offenbarung  griechischer  Kunst  zu  nehmen 
verführt  sind,  von  dem  man  im  Altertum  gar  kein  Aufhebens 
machte.  Homer  galt  als  der  Künstler  an  sich,  er  wurde  die 
Grundlage  der  gesamten  griechischen  Bildung,  jeder  schöpfte 
aus  ihm,  jeder  trug  ihn  auf  der  Zunge,  und  erst  das  sinkende 
Altertum  lehnte  sich  hie  und  da  gegen  ihn  auf.  Daß  wir  Homer 
haben^  ist  vielleicht  die  bedeutendste  Kulturhilfe,  die  uns  über- 
haupt die  Vergangenheit  bieten  konnte. 

Man  kann  die  gegenwärtige  Epoche  als  typisches  Beispiel 
einer  nichtklassischen  Kunst  nehmen.  Sie  ist  unharmonisch  und 
zwieträchtig  bis  in  ihre  tiefsten  Wurzeln.  Und  weil  sie  zugleich 
sehr  reich  an  Kräften  ist,  so  entsteht  ein  Durcheinander  und 
Gegeneinander,  das  in  der  Geschichte  kaum  seinesgleichen  hat. 
Die  Kräfte  reiben  sich  gegenseitig  auf  und  suchen  sich  Boden 
und  Nahrung  zu  entziehen,  statt  sich  zu  unterstützen  und  mit- 
einander zu  wirken.  Die  Mittel  und  die  Ziele  gehen  ins  Grenzen- 
lose auseinander;  jedes  Mittel  möchte  Ziel  sein  und  jedes  Ziel 
läßt  sich  als  Mittel  mißbrauchen.  Die  beiden  Elemente,  Form 
und  Gehalt,  kämpfen  um  die  moderne  Seele,  statt  ihr  gemeinsam 
zu  dienen  und  sie  zur  Vereinheitlichung,  Schönheit  und  wahren 
Stärke  zu  führen.  Wenn  wir  Deutschen  nach  dem  klassischen 
Ideal  streben,  so  ist  das  große  Hindernis  unsere  vielfältige  schwer 
organisierbare  Natur.  Wir  bringen  es  mit  größerer  Mühe  zur 
formalen  Beherrschung  und  kühlen  Vollendung  als  glücklichere 
leichtere  Völker;  darum  ist  für  uns  die  Bildung  durch  solche 
besonders  nötig.  Aber  freilich  müssen  wir  immer  festhalten, 
daß  wir  ein  Recht  auf  das  klassische  Ideal  nur  dann  haben,  wenn 
es  aus  uns,  aus  der  Gegenwart  heraus  geboren  wird.     Das  Ab- 


23 


Erster  Teil. 

sehen  von  uns  selber,  das  Übertönen  unserer  Disharmonien  kann 
uns  den  Weg  nicht  bereiten,  sondern  nur  erschweren. 

Darum  können  uns  ebensowenig  wie  die  Romantiker  auch 
jene  Bescheidenen  helfen,  die  in  einem  kleinen  Kreise  sich  halten 
und  ihren  kleinen  Bedürfnissen  wirklich  gerecht  werden,  ohne 
aber  für  die  großen  Dinge,   die  heute  auf  dem   Spiele  stehen, 
Sinn  zu  haben.     Sie  bringen  es  mitunter  fertig,  ihre  Werke  zu 
organisieren,  manchmal  auch,  ihrem  Leben  Stil  zu  geben,  und 
sind  ein  schöner,   freundlicher  Anblick,   bei  dem  das  unruhige 
Auge  des  diskorden  modernen    Menschen  gern  verweilt.     Aber 
sie  sind  zu  leicht  fertig  mit  sich,  mit  der  Zeit  und  mit  den  Dingen; 
ihre  Zufriedenheit  ist  Genügsamkeit,  ihre  Genügsamkeit  ist  Ärm- 
lichkeit.     Sie  vergessen  bei  ihrer  schnellen  Verurteilung  großer 
moderner  Naturen,   die  nicht  zum  Ziel   gekommen  sind,  z.  B. 
Nietzsches,  daß  es  leicht  ist,  eine  kleine  gerade  Natur  zu    organi- 
sieren,  aber  schwer,    eine   große    vaste    zu    organisieren,    und 
daß  es  von  größerem  Wert    im   Sinne   der   Kultur   sein  kann, 
wenn  ein  Held   unterliegt,   als  wenn  ein  kleiner   Mann  davon- 
kommt.    Unsere  Hoffnung  hängt  an  den  Großen,  die  schwer  zu 
tragen  haben  und  um  ihr  Bestes  ringen  müssen,  nicht  an  den 
Kleinen,  die  mit  ihrem  geringen  Gepäck  leicht  von  der  Stelle 
kommen.     Am  höchsten  ist  derjenige  gestiegen,  der  die  größte 
Natur  als  Werkzeug  und  als  Material  hat  und  trotzdem  mit  ihr 
fertig  wird.     Diesem  Ziel  ist  unter  den  Deutschen  Goethe  am 
nächsten  gekommen.     Er  ist  deshalb  der  Grundstein  deutscher 
Kultur,  kein  Gipfel,  sondern  ein  Anfang,  aber  ein  Anfang,  dessen 
Fortsetzung    Gutes   verspricht.      Goethe    ist    ein    merkwürdiges 
Geschiebe   von    Kräften   und   Gegenkräften,    von    Handeln   und 
Betrachten  ,  Streben  und  Passivität.     Man  entdeckt  immer  neue 
Seiten  an  ihm  und,  wie  man  den   Standort  wechselt,   gewinnt 
seine  unbegrenzte  Natur  ein  stets  verändertes  Aussehen.     Die 
Tiefe  und  Umfänglichkeit  seines  Wesens  war  es,  die  es  ihm  so 
schwer  machte,  zum  Abschließen  und  zur  Reife  zu  gelangen. 
Und  doch  hatte  kein  Deutscher  eine  solche  Kraft  und  Liebe  zum 
Abschließen.     Wie  hat  er  nach  Beschränkung  gestrebt  und  wie- 
viel Reife  und   Übersicht  lag  von   Kindheit  an  in  ihm!      Aber 
immer  wieder  wurde   ihm  die   Beschränkung  zu  einem  neuen 

24 


Vorbilder. 

Antrieb,  die  Gegenkräfte  ließen  ihn  nicht  ruhen,  er  blieb  diskord 
bis  zum  letzten  Tage  seines  Lebens  und  hätte  sich  ins  Unendliche 
weiter  entwickelt,  wenn  nicht  der  Tod  dem  Kampf  ein  Ziel  gesetzt 
hätte.  Das  Problem  des  Lernens  hat  keiner  so  tief  genommen 
wie  er.  Er  wurde  sein  Leben  lang  nicht  müde  zu  lernen,  und 
immer  war  es  sein  ganzes  Wesen,  das  er  dabei  einsetzte.  Er 
wußte,  daß  man  größer  und  reicher  wird  durch  das  Lernen  und 
hätte  nie  jene  Schwachen  begriffen,  die  meinen,  ihre  Originalität 
vor  erziehenden  Einflüssen  bewahren  zu  müssen.  Gewiß  litt 
seine  Originalität  zeitweise,  er  lehnte  sich  hier  an  und  lehnte 
sich  da  an,  aber  er  sagte  ganz  richtig:  man  kann  einer  Sache 
nur  dadurch  Herr  werden,  daß  man  ihr  eine  Zeitlang  dient. 
Sein  sicherer  Instinkt  ließ  ihn  keinen  Moment  vor  dem  Nachahmen 
zurückschrecken;  er  fühlte,  daß  er  nur  durch  die  Tat  etwas  Frem- 
des sich  zu  eigen  machen  konnte,  und  vertraute  auf  seine  un- 
besiegliche  Natur,  die  ihn  immer  wieder  zu  sich  selber  zurück- 
führte. Er  rang  nach  Vereinheitlichung,  weil  er  sah,  daß  sie 
die  notwendige  Vorbedingung  der  Künstlerschaft  ist,  und  suchte 
eine  Tradition,  eine  feste  vererbbare  Form  zu  schaffen,  auf  der 
die  deutsche  Kunst  fortbauen  könnte.  Hierin  ihm  zu  folgen 
soll  unsere  vornehmste  Aufgabe  sein.  Es  gilt  anzuknüpfen  an 
Goethe  und  diejenigen,  welche  in  seinem  Sinne  gestrebt  haben, 
nicht  immer  von  neuem  anzufangen.  Sich  zu  binden,  zu  be- 
schränken und  zu  organisieren  ist  für  die  Deutschen,  die  Kraft  in 
sich  fühlen,  noch  auf  lange  Zeit  die  Losung.  Den  Schwachen  mag 
man  gestatten,  Freiheit  und  Fessellosigkeit  zu  predigen.  Aber  selbst 
diese,  die  auf  Grund  einer  geringen  oder  krankhaften  Individualität 
zu  wirklichen  Künstlern  werden  wollen,  können,  meine  ich,  dies 
Ziel  eher  erreichen,  wenn  die  Tradition  mächtig  und  die  Form 
hoch  entwickelt  ist,  als  in  Zeiten  wie  die  heutige.  Eine  gewisse 
äußere  Leichtigkeit  und  Geschicklichkeit  hat  von  jeher  den 
Musen  zahlreiche  Bewerber  zugeführt,  aber  wenige  von  ihnen 
haben  Gnade  vor  den  Augen  der  Unsterblichen  gefunden.  Es 
waren  solche,  die  sich  im  ganzen  zu  bilden  und  ihre  Natur  auf- 
zubauen wußten.  Dies  aber  ist  fast  nur  möglich,  wenn  die  Bil- 
dungselemente in  Fülle  vorhanden  sind  und  dem  Strebenden  von 
allen  Seiten,  der  Kunst  und  des  Lebens  Förderung  zuteil  wird; 


Horneffer,  Das  klassische  Ideal. 


25 


Erster  Teil. 

findet  er  Widerstand  oder  wird  er  durch  eine  unreife  Zeit  gebildet, 
so  bleibt  er  Handwerker  oder  gerät  auf  Irrwege  und  künstelt. 
Schlimmer  ist,  daß  die  tiefen  und  originalen  Naturen  unter  dem 
Mangel  einer  Tradition  leiden  und  oft  zugrunde  gehen.  Sie 
sind  meist  schwerfällig,  formales  Geschick  geht  ihnen,  wenn  sie 
Deutsche  sind,  fast  immer  ab,  weil  in  Deutschland  stets  zu  wenig 
Wert  auf  die  Form  gelegt  wurde.  So  suchen  sie  nach  einer 
ihnen  gemäßen  Form,  finden  sie  nicht,  müssen  sie  sich  selber 
schaffen  und  verbringen  Leben  und  Kraft,  ohne  sie  zu  bewältigen. 
Wie  groß  ist  die  Zahl  solcher,  deren  Schöpfungen  in  keinem  Ver- 
hältnis zu  der  Kraft  ihrer  Natur  stehen!  Was  sie  selber  freilich 
oft  nicht  merken  und  nicht  zugeben,  da  sie  sich  nach  dem  Maß 
ihrer  Kraft,  nach  ihrem  großen  Wollen  einschätzen;  aber  die 
Welt  schätzt  nur  Leistungen  und  tut  ganz  recht,  geringeren 
Naturen,  die  mit  sich  und  ihrer  Form  ins  Reine  kamen,  mehr 
Anerkennung  und  Ruhm  zu  schenken  als  ihnen.  Und  wenn 
auch  die  Zeitgenossen  von  dem  Gehalt  gepackt  werden  und  sich 
voll  Freude  und  Dankbarkeit  in  einem  Suchenden  wieder- 
erkennen, —  die  nächsten  Generationen  schon  begreifen  ihn  nicht 
mehr,  weil  er  nicht  vermocht  hat,  sich  und  sein  Werk  zu  wirk- 
licher ewiger  Kunst  zu  erheben.  Auch  die  größte  Idee  dauert 
nur,  wenn  sie  künstlerisch  gestaltet  wird;  deshalb  sucht  eine  Idee, 
die  sich  durchsetzen  und  behaupten  will,  die  Kunst  als  Bundes- 
genossin zu  gewinnen,  was  man  z.  B.  an  religiösen  Ideen  aller 
Zeiten  verfolgen  kann.  Ein  Kunstwerk  erliegt  nur  schwer  und 
langsam  der  Zeit,  es  zeigt  jeder  Generation  ein  neues  Gesicht 
und  bietet  immer  neue  Angriffspunkte.  Wer  aber  nur  ungefähr 
herausstolpert,  was  er  zu  sagen  hat,  ohne  sich  um  das  Wie  Sorge 
zu  machen,  pufft  es  in  die  Luft  und  erzielt  höchstens  eine  augen- 
blickliche Wirkung.  Die  mächtigste  Menschenstimme,  die  nicht 
gebildet  ist  zu  tragen  und  auszuhalten,  erliegt  im  großen  Raum. 
Es  ist  ungeheuer  kostspielig,  daß  uns  auf  diese  Weise  gerade 
die  Besten  verloren  gehen,  während  Geringere  sich  durchsetzen. 
Im  Altertum  war  dies  unmöglich;  jede  Natur,  die  nicht  ein  un- 
heilbares formales  Manko  hatte,  gelangte  zur  vollkommenen 
Reife,  und  was  sie  von  sich  gab,  war  wirklich  das  Höchste  und 
Beste,  das  sie  zu  geben  hatte.    Heute  bleibt  fast  stets  das  Ver- 

26 


Vorbilder. 

mögen  hinter  dem  Wollen  zurück.  Die  künstlerische  Erkenntnis 
mag  noch  so  groß  sein,  das  Können  entspricht  ihr  in  keiner 
Weise.  Goethe  ist  darum  so  weit  gekommen,  weil  er  sein  Leben 
lang  nicht  ruhte,  dies  Mißverhältnis  auszugleichen.  Dabei  kam 
ihm  seine  angeborene  formale  Begabung  zugute,  aber  das  beste 
tat  sein  unermüdliches  Streben,  sich  zu  binden  und  sich  Zügel 
anzulegen.  Wir  sollten  stark  genug  sein,  ihm  zu  folgen  und 
das  Bekenntnis,  das  er  in  seinem  Gedicht  ,, Natur  und  Kunst" 
abgelegt  hat,  zu  dem  unsrigen  zu  machen  suchen: 

Natur  und  Kunst,  sie  scheinen  sich  zu  fliehen 
Und  haben  sich,  eh'  man  es  denkt,  gefunden. 
Der  Widerwille  ist  auch  mir  verschwunden 
Und  beide  scheinen  gleich  mich  anzuziehen. 

Es  gilt  wohl  nur  ein  redliches  Bemühen, 
Und  wenn  wir  erst  in  abgemess'nen  Stunden 
Mit  Geist  und  Fleiß  uns  an  die  Kunst  gebunden, 
Mag  frei  Natur  im  Herzen  wieder  glühen. 

So  ist's  mit  aller  Bildung  auch  beschaffen: 
Vergebens  werden  ungebundne  Geister 
Nach  der  Vollendung  reiner  Höhe  streben. 

Wer  Großes  will,  muß  sich  zusammenraffen. 
In  der  Beschränkung  zeigt  sich  erst  der  Meister 
Und  das  Gesetz  nur  kann  uns  Freiheit  geben. 


27 


IL 


DIE  DEUTSCHE  MUSIK. 


Nicht  nur  ein  Franzose,  sondern  auch  ein  Deutscher  ist  mit- 
unter geneigt  zu  zweifeln,  ob  die  Deutschen  überhaupt  einer 
klassischen  Kunst  fähig  sind.  Man  sieht  überall  Anstrengungen 
und  Anfänge,  aber  immer  werden  sie  wieder  abgebrochen  oder 
abgelenkt;  es  geht  allenthalben  vorwärts,  aber  selten  aufwärts, 
es  wird  anders,  aber  selten  besser.  Gründe  dafür  sind  mancherlei 
gesucht  und  gefunden  worden,  innere  und  äußere,  in  dem  Cha- 
rakter und  in  den  Schicksalen  der  Deutschen.  Mir  scheint 
aber,  man  hat  bei  solchen  Erklärungen  eins  nicht  genügend 
oder  gar  nicht  in  Rechnung  gezogen,  das  ist  die  deutsche  Musik. 
Nur  wenige  wissen  von  ihrer  Geschichte  und  beachten,  welch 
ein  wichtiger,  ja  zentraler  Faktor  sie  ist.  Sie  muß  jedem  Zwei- 
felnden das  Vertrauen  geben,  daß  die  Deutschen  imstande  sind, 
eine  Kunst  voll  und  reif  auszubilden,  wenn  sie  auch  den  Beweis 
schuldig  bleibt,  daß  sie  die  gewonnene  Höhe  festhalten  können. 
Die  Deutschen  sind  am  ehrlichsten  und  aufrichtigsten  in  ihrer 
Musik  und  geben  in  ihr  am  reinsten  ihr  Wesen  zu  erkennen;  zu- 
gleich aber  ist  es  gerade  sie,  die  zu  einer  so  hohen  rein  ästhe- 
tischen Vollendung  sich  aufschwingen  konnte,  daß  man  mit  Fug 
und  Recht  von  klassischen  Musikern  der  Deutschen  reden  kann, 
während  man  ohne  Fug  und  Recht  von  klassischen  Dichtern 

28 


Die  deutsche  Musik. 


redet.  Die  Musik  und  in  früherer  Zeit  die  Baukunst  verraten 
die  Richtung  der  künstlerischen  Seele  des  Deutschen.  Auf  die 
Verwandtschaft  beider  Künste  ist  oft  hingewiesen  worden:  bei 
ihnen  sind  Form  und  Gehalt  so  verbunden,  daß  man  den  letzteren 
zuweilen  gar  nicht  entdeckt  und  deshalb  geleugnet  hat;  beide 
arbeiten  mit  Symbolen,  sind  begrifflich  schwer  zu  fassen  und 
scheinen  der  Prägnanz  und  Deutlichkeit  zu  ermangeln.  Die 
Dichtkunst,  die  in  erster  Linie  Begriffe  und  andere  Zweige  der 
bildenden  Kunst,  die  in  erster  Linie  sinnliche  Bilder  benutzen, 
fallen  den  Deutschen  viel  schwerer;  sie  suchen  an  ihnen  die 
Seiten  hervorzukehren,  die  sich  dem  Symbolischen  (dem  Musi- 
kalischen oder  Dekorativen)  nähern;  wie  denn  z.  B.  die  Lyrik  der 
bei  weitem  entwickeltste  Zweig  der  deutschen  Poesie  ist.  Die 
meisten  Arten  der  Kunst  fristen  bei  uns  ein  nur  geduldetes  Leben, 
sie  erscheinen  als  Eindringlinge,  die  äußere  Zwecke  nötig  haben, 
um  ihr  Dasein  zu  rechtfertigen.  Die  Musik  bedarf  keiner  Recht- 
fertigung, sie  ist  von  selber  da  und  wird  von  dem  tiefsten  Volks- 
empfinden getragen.  Dies  gilt  sowohl  von  der  Vokalmusik,  von 
dem  Lied,  das  der  feste  Urbestand  der  deutschen  Kunstbetätigung 
ist,  als  auch  von  der  Instrumentalmusik,  die  als  Tanz  und  Marsch 
dem  Deutschen  von  jeher  vertraut  und  unentbehrlich  war. 

Man  gestatte  mir,  mit  wenigen  Strichen  den  Weg  zu  bezeich- 
nen, den  die  deutsche  Musik  in  den  letzten  vier  Jahrhunderten 
genommen  hat.  Die  Entwicklung  ist  eine  ununterbrochene  und 
sehr  reiche.     Sie  kann  uns  viel  lehren. 

Als  Hauptmoment  ist  die  Einwirkung  der  Kirche  zu  betonen, 
der  die  abendländische  Musik  ebensoviel  oder  noch  mehr  verdankt 
als  die  bildende  Kunst.  Sie  gab  ihr  eine  Aufgabe  und  eine  Form. 
Seit  Regelung  des  römischen  Kultus  durch  Gregor  hatte  die  Musik 
einen  festen  Platz  im  Gottesdienst  und  wurde  ein  wichtiges  Glied, 
ja  in  gewissem  Sinne  der  Mittelpunkt  des  kirchlichen  Einflusses 
auf  das  abendländische  Leben.  Die  Messe  war  die  Form,  welche 
die  musikalische  Entwicklung  trug  und  geleitete;  später  kam  noch 
die  Motette  hinzu.  Die  gelehrten  Mönche  des  Mittelalters  waren 
fast  sämtlich  Musiker,  praktische  und  theoretische;  sie  bemühten 
sich,  wie  um  antike  Philosophie,  so  auch  um  griechische  Musik, 
aber  mit  noch  geringerem  Erfolge,  hatten  dagegen  das  Verdienst 


29 


Erster  Teil. 

der  beiden  großen  Entdeckungen,  die  Himmel  und  Erde  in  der 
Musik  verwandelten  und  die  Zukunft  in  eine  unendliche  Bahn 
wiesen.  Diese  Entdeckungen  hießen  Mehrstimmigkeit  und  Men- 
suralmusik. Es  kam  dann  die  glückliche  Zeit  des  Versuchens, 
die  jeder  großen  Entdeckung  folgt.  Man  wollte  die  Tragweite 
und  den  Wert  der  neuen  Kunstmittel  feststellen.  Man  verwen- 
dete sie  auf  alle  mögliche,  passende  und  unpassende  Weise, 
spannte  sie  aufs  äußerste  an,  theoretisierte  und  tüftelte,  und  da 
man  dies  alles  mit  Hingabe  und  Aufrichtigkeit  trieb,  wurde  es 
ein  Fundament,  auf  dem  die  erste  große  Blütezeit  der  mehr- 
stimmigen Musik  sich  erhob.  Sie  hat  ihre  Heimat  in  den  Nieder- 
landen. Ganz  mit  Unrecht  ist  diese  altniederländische  Musik 
gescholten  und  vernachlässigt  worden;  die  technischen  Aus- 
artungen muß  man  gerecht  beurteilen  und  einer  aufstrebenden 
Zeit  zugute  halten;  bewundernswert  bleibt  die  künstlerische  Kraft, 
die  mit  und  trotz  ihnen  sich  offenbart.  Es  waltet  derselbe  Geist 
in  diesen  Musikern  wie  in  den  altniederländischen  Malern,  was 
sich  im  einzelnen  dartun  ließe.  Wie  kann  man  glauben,  daß  die 
Engel  des  Genter  Altars  schlechte  und  absurde  Musik  machen! 
Vielmehr  exekutieren  sie  eine  kunstreiche  dreistimmige  Messe, 
die  ebenso  herb  und  subtil  ist  wie  sie  selber.  Bedenkt  man,  was 
uns  die  Namen  van  Eyck,  van  der  Goes,  van  der  Weyden  usw. 
bedeuten,  so  kann  man  ermessen,  welch  hohe  künstlerische  Ge- 
nüsse aus  den  zierlichen  und  seltsamen  Notenhandschriften  sich 
gewinnen  ließen,  von  denen  kaum  einer  unter  uns  die  wenigen 
zugänglich  gemachten  Proben  kennt. 

Die  Niederländer  wurden  die  Lehrer  des  musikalischen  Europa. 
Jedes  Land  nahm  ihre  hochentwickelte  Form  und  Technik  auf 
und  füllte  sie  mit  seinem  eigentümlichen  Gehalt.  So  kam  es,  daß 
in  Italien  etwas  anderes  entstand  als  in  Deutschland.  In  beiden 
Völkern  lebte  ein  starkes  Musikempfinden,  so  verschieden  gerichtet 
wie  ihr  Naturell.  Deutschland  war  weiter  als  Italien  und  hatte 
bereits  eine  ansehnliche  künstlerische  Höhe  selbständig  erreicht; 
doch  war  noch  lange  Zeit  nötig,  bis  seine  Schwerfälligkeit  mit 
einheimischen  und  fremden  Einflüssen  fertig  wurde  und  die 
führende  Stellung  in  der  europäischen  Musik  den  Deutschen 
zuerkannt  werden  konnte.     Die  italienische   Musik  schoß  unter 

30 


Die  deutsche  Musik. 


niederländischem  Einfluß  schnell  empor  und  war  bald  ihren 
Lehrern  über  den  Kopf  gewachsen.  Im  i6.  Jahrhundert,  als 
die  niederländische  Musik  zum  Gemeingut  geworden  war,  kam 
diese  erste  neuere  Musikepoche,  die  man  die  polyphone  nennt, 
auf  ihren  Gipfel,  etwas  später  als  die  bildende  Kunst.  Die  Blüte 
war  voll  und  schön  und  erfüllte  alles,  was  die  Anstrengungen  der 
Vorfahren  hatten  hoffen  lassen.  Aus  dem  mühsam  erarbeiteten 
Können  entfaltete  sich  die  hohe  Kunst,  die  durch  drei  Männer, 
zwei  Niederländer  und  einen  Italiener  repräsentiert  wird.  Josquin 
haftet  noch  ein  Rest  von  Mühe  und  Schwere  an,  der  vielleicht 
auch  durch  sein  strenges  nordisches  Naturell  bedingt  ist.  Palestrina 
ließ  die  südliche  Sonne  in  das  ernste  Bild  hineinscheinen;  sein 
Ernst  ist  leuchtender,  als  die  Schwerblütigkeit  den  Germanen  zu 
gestatten  pflegt,  Lassus  war  der  expansive  Nordländer,  der  ins 
Volle,  Gewaltige  strebte  und  neue  ungekannte  Kräfte  ahnen  ließ, 
denen  die  kontrapunktische  Kammermusik  nicht  gewachsen  war. 
Diese  drei  großen  Künstler  erfüllten  und  erschöpften  zugleich 
die  Kunst  des  vokalen  Satzes.  Sie  waren  die  Erben  eines  könig- 
lichen Vermögens,  das  sie  noch  zu  vermehren  und  königlich  zu 
verwalten  und  zu  benutzen  wußten.  Gleich  nach  ihnen  aber 
kamen  die  Verschwender,  die  es  vertaten,  zerrissen  und  in  alle 
Winde  verstreuten.  Es  waren  hinreißende  Naturen,  die  so  ver- 
fuhren, keine  traurigen  Epigonen;  sie  zerstörten,  aber  sie  brachten 
auch  neue  Schönheiten.  Man  hatte  wieder  neue  Kunstmittel 
entdeckt  und  sah,  daß  sich  mit  ihnen  Wirkungen  erzielen  und 
Seelenregungen  ausdrücken  ließen,  gegen  die  alles  Bisherige  eng 
und  arm  erschien.  Man  probierte  wieder,  verirrte  sich,  machte 
ungeheure  Aufschwünge,  die  ohne  Unterstützung  und  Nach- 
eiferung, deshalb  ohne  dauernde  Folgen  blieben,  man  rechnete 
und  theoretisierte,  und  da  man  alles  dies  ebenso  wie  vor  zwei 
Jahrhunderten  mit  Hingabe  und  aufrichtigem  Ernst  trieb,  so 
brach  eines  Tages  eine  neue  Blüte  auf,  die  deutsche  Blüte,  die 
durch  Bach  und  Händel,  Mozart  und  Beethoven  bezeichnet  wird. 
Die  Entdeckungen  hießen  der  Akkord,  die  Mehrchörigkeit,  der 
Sologesang,  die  Instrumente  Orgel  und  Klavier.  Der  Ursprung 
dieser  Entdeckungen  war  Italien,  das  die  Zügel  der  Entwicklung 
ergriffen  hatte;   die  Zeit  war  das  ausgehende   i6.   und  das  be- 


31 


Erster  Teil. 

ginnende  17.  Jahrhundert;  der  gelehrigste  und  erfolgreichste 
Schüler  Italiens  wurde  Deutschland,  dem  es  vorbehalten  blieb, 
im  18.  Jahrhundert  die  Früchte  des  italienischen  Strebens  zur 
Reife  zu  bringen. 

Für  die  deutsche  Musik  war  es  entscheidend  gewesen,  daß 
Luther  ihr  Freund  und  Kenner  war,  so  daß  die  große  Schätzung 
fortdauerte,  welche  die  Musik  in  der  Kirche  bisher  genossen  hatte. 
Die  Reformation,  die  auf  die  bildende  Kunst  und  im  Grunde  auch 
auf  die  Poesie  in  Deutschland  verheerend  wirkte,  ging  ohne 
Schaden  über  die  Musik  hin;  die  Musiker  blieben  ein  Zubehör 
der  Geistlichkeit  und  behielten  ihr  festes  Amt  beim  Gottesdienst. 
Ja  die  mächtige  Bewegung  der  deutschen  Seele  schlug  sogar  zum 
Heile  der  Musik  aus  und  gab  ihr  ein  neues  Verhältnis  zum  Volke, 
das  unter  dem  Einfluß  der  kunstvollen  niederländischen  Musik 
loser  geworden  war.  Ebenso  überdauerte  die  deutsche  Musik 
hundert  Jahre  später  den  dreißigjährigen  Krieg  ohne  schwere 
Verluste.  Solange  er  wütete,  lag  natürlich  auch  das  musikalische 
Leben  darnieder;  kein  Hof  und  keine  Gemeinde  hatte  Geld,  die 
Musiker  zu  besolden,  und  Interesse,  ihre  Kompositionen  anzu- 
hören. Als  aber  Ruhe  und  Sicherheit  wiederkehrte,  fuhr  man 
genau  an  der  Stelle  fort,  wo  man  unterbrochen  worden  war. 
Die  Musik  war  fest  gewurzelt  und  hing  so  eng  mit  der  Erhebung 
und  Erholung  des  deutschen  Geistes  zusammen,  daß  sie  nur  durch 
seine   Vernichtung  hätte  ausgerottet  werden  können. 

Es  war  gerade  damals  die  Zeit  des  emsigsten  Bemühens  um 
die  italienische  Musik.  Giovanni  Gabrieli,  der  prunkvolle  Vene- 
tianer,  zog  die  einen  an,  die  neuentstandene  Oper  die  andern. 
Man  war  jenseits  der  Alpen  unter  Einwirkung  der  oben  genannten 
neuen  Kunstmittel  erheblich  lockerer  geworden  als  zur  Zeit 
Palestrinas.  Noch  überwog  die  Solidität  und  die  Künstlerschaft; 
aber  man  kam  doch  schon  den  Geheimnissen  der  Wirkung  auf 
die  Spur,  die  durch  das  Beiwerk  der  Kunst  erzeugt  wird.  Der 
Dilettantismus,  der  sofort  zur  Stelle  ist,  wenn  sinnliche  Reiz- 
mittel, namentlich  die  der  Bühne,  in  den  Vordergrund  treten, 
begann  sich  in  die  Musik  einzudrängen.  Eitelkeit  und  Gewinn- 
sucht taten  das  übrige.  Die  Deutschen  lauschten  den  verführe- 
rischen Klängen,  zogen  über  die  Alpen  und  brachten  heim,  soviel 

32 


Die  deutsche  Musik. 


sie  nur  konnten.  So  trieben  sie  es  mehrere  Generationen  hindurch, 
bis  weit  ins  i8.  Jahrhundert  hinein.  Sie  hielten  sich  mehr  an 
das  SoHde,  und  auch  das  Lockere  bekam  unter  ihren  Händen  ein 
braveres,  freilich  auch  ungeschickteres  Aussehen.  Lange  Zeit 
hindurch  blieb  die  Schwerfälligkeit  ein  kaum  überwindliches 
Hindernis;  Musiker  und  Publikum  fühlten  gar  sehr  den  Abstand 
zwischen  Lehrern  und  Schülern.  Überall  zog  man  den  deutschen 
Kapellmeistern  und  Sängern  die  italienischen  vor,  die  in  Scharen 
nach  Norden  kamen.  Aber  unsere  trefflichen  Vorfahren  ließen 
nicht  nach.  Mit  einer  Selbstverleugnung,  die  Ehrfurcht  erwecken 
muß,  sang  man  immer  wieder  den  wälschen  Gesangsmeistern 
nach,  was  sie  vorsangen,  bis  man  sich  ihre  Kunst  zu  eigen  gemacht 
hatte.  Man  lernte  so  gründlich  und  unentwegt,  wie  man  in  den 
anderen  Künsten  niemals  gelernt  hat;  und  man  kam  gerade  darum 
zu  einer  wahrhaft  originalen  deutschen  Kunst,  weil  man  sich 
ohne  Vorbehalt  der  fremden  überlegenen  hingab.  Freilich  trieben 
auch  schlechte  Regungen  zum  Lernen,  und  die  Begleiterschei- 
nungen, die  deutsche  Abhängigkeit  vom  Ausland  zu  haben  pflegt, 
traten  auch  hier  auf;  die  Musiker  sahen  auf  deutsches  Wesen 
herab,  wenn  sie  von  der  pflichtmäßigen  italienischen  Reise  zurück- 
kamen, schrieben  ihren  Vornamen  und  die  Titel  ihrer  Werke 
italienisch  und  hätten  sich  am  liebsten  selber  für  Italiener  aus- 
gegeben. Aber  sollte  nicht  auch  diese  schlechte  Eigenschaft  des 
Deutschen  manchmal  eine  verkappte  gute  sein?  Das  schmerzliche 
Gefühl  der  eignen  Barbarei,  die  quälende  Gewißheit,  ewig  unge- 
schlacht und  sich  selber  lächerlich  zu  sein,  bringt  vielleicht  öfter 
als  man  denkt  die  sklavische  Verehrung  des  Ausländischen 
hervor.  Dies  Gefühl  aber  und  diese  Gewißheit  sind  doch  der 
Boden,  auf  dem  eine  deutsche  Kultur  allein  erwachsen  kann. 

Die  Musik  stand  im  17.  Jahrhundert,  wie  ersichtlich  ist,  in 
hohem  Ansehen.  Die  Musiker  waren  geehrt  und  geliebt,  bei 
Hoch  und  Niedrig,  bei  der  Geistlichkeit  und  der  Weltlichkeit; 
sie  verdienten  in  der  Regel  auch  die  bevorzugte  Stellung,  die  sie 
namentlich  an  den  Höfen  einnahmen.  Sie  stammten  häufig  aus 
guten  Familien,  erwarben  sich  eine  große  wissenschaftliche  Bil- 
dung neben  der  technischen  Fachbildung,  machten  weite  Reisen 
und  waren  gar  kühne,  großartige,  mitunter  auch  abenteuerliche 


33 


Erster  Teil. 

Gesellen.  Das  vornehmste  Beispiel  dieser  Gattung  ist  Heinrich 
Schütz,  der  gleich  hoch  an  Charakter  wie  an  Genie  stand  und 
in  einem  langen  ehrenvollen  Leben  mehr  für  die  deutsche 
Musik  geleistet  hat,  als  sich  ein  gebildeter  Musiker  von  heute 
träumen  läßt.  Doch  gab  es  auch  bescheidenere  und  engere 
Existenzen.  Man  kann  jenen  glänzenden  weltmännischen  Mu- 
sikern des  17.  und  18.  Jahrhunderts,  die  Kapellmeister  und  später 
meist  Opernkomponisten  waren,  die  schlichten  Organisten, 
Kammermusiker  und  Kantoren  entgegenstellen,  deren  Rang  und 
Ansehen  viel  geringer,  deren  Tüchtigkeit  und  Bedeutung  keines- 
wegs geringer  war.  Sie  traten  nicht  aus  dem  einfachen  bürger- 
lichen Leben  heraus  wie  jene,  sondern  trieben  ihr  musikalisches 
Gewerbe  ebenso  ehrbar  und  unauffällig,  wie  früher  die  deutschen 
Kupferstecher,  Maler  und  Erzgießer  das  ihrige.  Sie  kamen  selten 
nach  Italien  und  mußten  sich  begnügen,  aus  zweiter  Hand  zu 
empfangen.  Handwerker  in  der  großen  Weise,  der  Deutschland 
so  viel  verdankt,  saßen  sie  auf  ihrer  Orgelbank,  mühten  sich  mit 
den  dickköpfigen  Chorknaben  und  komponierten.  Das  musi- 
kalische Leben  war  so  reich,  daß  auch  die  kleinste  Stadt  ihre 
Kapelle  und  ihren  Organisten  hatte,  der  immer  auch  zugleich 
Komponist  war.  Man  lebte  damals  nicht  wie  heute  von  den 
Kompositionen  weniger  Musiker,  die  von  Hand  zu  Hand  gingen, 
sondern  jeder  sorgte  für  sich  selbst.  Und  da  die  Herren  Patroni 
sehr  häufig,  mindestens  an  jedem  höheren  Festtag  eine  neue 
Komposition  ihres  Kantors  oder  Kapellmeisters  hören  wollten, 
so  hieß  es  fleißig  zu  sein,  um  jedesmal  rechtzeitig  etwas  fertig  zu 
stellen.  Die  Unzahl  von  Kompositionen,  die  auf  diese  Weise 
entstanden,  war  natürlich  nicht  immer  von  hohem  Wert  und  oft 
rein  schematisch  gearbeitet;  aber  es  entwickelte  sich  eine  große 
Leichtigkeit  und  Freiheit  des  Schaffens,  ein  Reichtum  an  Er- 
findung im  Kleinen  und  an  Ausdruck,  eine  souveräne  Beherr- 
schung der  Kunstmittel  und  ein  ununterbrochenes  Arbeiten  an 
ihrer  Vertiefung  und  Weiterbildung,  kurz  alles  das,  was  einen 
Sebastian  Bach  ermöglichte.  Die  Orgel  war  recht  ein  Feld  für 
deutschen  Handwerkerfleiß  und  geradezu  geschaffen  für  Naturen, 
die  nach  außen  sich  bescheiden  mußten  und  nach  innen  sich  aus- 
breiten und  als  Herren  fühlen  durften.     Man  hatte  aus  einem 

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Die  deutsche  Musik. 


kleinen  diatonischen  Instrument,  das  bequem  in  der  Hand  zu 
tragen  war,  allmählich  das  umfassendste  Mittel  musikalischen 
Ausdrucks  gemacht.  Ihre  Vorbilder  fanden  die  deutschen  Orgel- 
komponisten ebenfalls  im  Ausland;  aber  noch  eifriger  als  in  den 
anderen  Zweigen  bildeten  sie  fort,  was  sie  namentlich  von  Fresco- 
baldi  und  Sweelingk  gelernt  hatten.  Die  Orgel  gab  dem  Virtuosen 
große  Aufgaben,  und  da  der  Deutsche  mit  den  Fingern  geschickter 
ist  als  mit  der  Kehle,  brachte  er  es  im  Orgelspiel  und  etwas  später 
auf  dem  verwandten  Klavier  weiter  als  mit  dem  Gesang;  auch 
verlangte  die  Orgel  keinen  Apparat  von  Mitwirkenden,  wie  ihn  der 
Kapellmeister  und  der  Sänger  zum  Vortrag  der  Vokalwerke  nötig 
hatte,  und  schließlich  war  sie  jener  komplizierten  Seelenverfassung 
und  merkwürdigen  Geistesrichtung,  die  in  Bach  ihren  größten 
Fürsprecher  fand,  ganz  besonders  genehm.  Die  Oper  wurde  der 
Brennpunkt  der  entgegengesetzten  Richtung  und  riß,  unterstützt 
durch  kirchliche  Gesangswerke,  die  ihrem  Wesen  nach  kaum 
etwas  anderes  waren  als  Opern,  fast  das  ganze  Interesse  der  musi- 
kalischen Welt  an  sich.  Die  stillen  Kantoren  mußten  viel  Zähig- 
keit und  Sicherheit  haben,  um  sich  und  ihre  Musik  dagegen 
aufrecht  zu  erhalten.  Die  Oper  behielt  lange  einen  fremdartigen 
Charakter  und  verführte  gerade  dadurch,  sowie  durch  das  Gepränge, 
das  sie  entfaltete,  das  große  und  das  vornehme  Publikum.  Man 
versuchte  in  Hamburg  eine  deutsche  Oper  zu  begründen,  konnte 
aber  auf  die  Dauer  gegen  die  italienische  und  französische  nicht 
aufkommen.  Erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  i8.  Jahrhunderts 
gelang  es  Mozart,  die  Oper  bei  uns  wirklich  heimisch  zu  machen 
und  ihr  die  natürliche,  wenn  auch  immer  noch  bedenkenerregende 
Stellung  zu  geben,  die  sie  seitdem  behauptet  hat. 

Schneller  kam  die  Kantorenmusik  zur  Blüte.  Sie  hatte  ihr 
Zentrum  in  Mitteldeutschland,  wo  die  Einflüsse  von  Süden  und 
Norden  zusammentrafen  und  am  intensivsten  verarbeitet  wurden. 
Man  hatte  wenig  Geld  in  den  thüringischen  Staaten  und  konnte 
in  der  Oper  mit  Dresden,  München  und  anderen  Höfen  nicht 
wetteifern;  der  musikalische  Sinn  aber  war  hochentwickelt  und 
selbständiger  als  irgendwo  anders.  Bach  stammte,  wie  bekannt, 
aus  einer  Familie,  in  der  seit  langem  die  Organisten-  und  Kan- 
torenstellen sich  forterbten.      Mehrere  Vorfahren  waren  bedeu- 


35 


Erster  Teil. 

tende  Musiker  gewesen;  er  sah  und  hörte  von  Kindheit  an  nichts 
als  Musik  und  ergriff  natürhch  auch  das  musikahsche  Handwerk. 
Er  lernte  Orgelspielen,  Singen,  Violinespielen,  wie  andere  Kinder 
das  Laufen  und  Sprechen,  er  wurde  nacheinander  Organist, 
Violinist,  Kapellmeister  und  mit  38  Jahren  Kantor  in  Leipzig, 
wo  er  gleichmäßig  und  still  bis  zu  seinem  Tode  lebte.  Seine  Zeit 
rechnete  ihn  unter  die  ersten  Orgelvirtuosen,  aber  als  Komponist 
brachte  er  es  zu  keiner  Berühmtheit.  Man  fand  wohl,  daß  er 
sehr  gut  setze,  aber  jeder  hatte  mit  sich  selbst  zu  tun  und  dachte, 
daß  er  auch  seine  Sache  gelernt  habe  und  nicht  weniger  seine 
Pflicht  tue  als  der  Leipziger  Orgelspieler,  der  so  unvergleichlich 
zu  improvisieren  wußte.  Bach  selber,  glaube  ich,  wenn  man  ihn 
gefragt  hätte,  würde  sich  keinen  höheren  Rang  als  seinen  Freun- 
den und  Kollegen  zugewiesen  haben;  höchstens  hätte  er  seine 
größere  technische  Vollkommenheit  gelten  lassen,  aber  gewiß 
nicht  begriffen,  wie  ihn  die  Folgezeit  den  größten  aller  deutschen 
Musiker  nennen  konnte.  Man  kann  Bachs  Kunst  nur  verstehen, 
wenn  man  ihn  zunächst  als  einen  Meister  nimmt,  der  sein  Hand- 
werk von  Grund  aus  gelernt  hat,  es  recht  und  schlecht  ausübt  und 
seinen  Lehrlingen  so  viel  übermittelt,  als  sie  nur  annehmen  wollen. 
Wenn  Bach  ans  Komponieren  ging,  tat  er  es  in  der  Absicht,  ein 
bestimmtes  Musikstück  zu  einem  bestimmten  Zweck  herzustellen, 
nicht  um  eine  unbestimmte  Empfindung  irgendwie  loszuwerden. 
Das  Primäre  ist  die  Form:  er  will  etwa  ein  Übungsstück  für 
Klavier  in  D  dur  in  Gestalt  eines  Präludiums  und  einer  Fuge 
schreiben  oder  eine  Kantate  über  einen  bestimmten  Choral  für 
Sopran-  und  Tenorsolo,  vierstimmigen  Chor  und  bestimmte  In- 
strumente setzen,  wobei  ihm  eine  vorgeschriebene  musikalische 
Ausdrucksweise  zu  Gebote  steht.  Das  Sekundäre  ist  der  Gehalt: 
unwillkürlich  fließt  eine  Empfindung,  die  durch  dies  oder  jenes, 
bei  Vokalwerken  durch  den  Text  angeregt  ist,  in  die  Form  hinein. 
Manchmal  ist  die  Empfindung  gering  und  kaum  zu  entdecken 
in  dem  Reichtum  formaler  Gestaltung,  so  namentlich  bei  früheren 
Werken  Bachs.  Erst  allmählich  wird  er  freier  und,  wie  wir  sagen, 
gehaltvoller;  die  Formen  locken  gleichsam  seine  Seele  heraus, 
so  daß  sie  immer  offener  ihre  Schönheit  und  Kraft  und  Wunder- 
lichkeit vor  uns  ausbreitet.     So  kommt  es,  daß  der  Gehalt  bei 

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Die  deutsche  Musik. 


Bach  mit  der  Form  untrennbar  verwachsen  ist  und  sich  auf 
keine  Weise  von  ihr  abstrahieren  läßt.  Seine  Seele  schwingt  in 
musikalischen  Rhythmen  und  Intervallen,  seine  Kunst  ist  seelen- 
voll gemachte  Form.  In  schlechten  Zeiten  der  Kunst  ist  es  anders. 
Das  Primäre  ist  der  Gehalt:  eine  Seelenregung  (Gefühl  oder  Ge- 
danke) entsteht  im  Künstler  und  verlangt  nach  Aussprache,  aber 
diese  Seelenregung  entsteht  nicht  in  einer  künstlerischen  Form, 
nicht  als  künstlerisches  Gebilde;  der  Künstler  sucht  erst  hinterher 
eine  Form,  um  sie  auszusprechen.  Er  wählt,  vergreift  sich 
vielleicht  und  kann,  auch  wenn  er  richtig  wählt,  niemals  das 
notwendige  Verhältnis  zwischen  Form  und  Gehalt  herstellen, 
das  dem  klassischen  Kunstwerk  eigen  ist.  Nur  bei  einem  unvoll- 
kommenen Stande  der  Kunst  hat  der  Kritiker  recht,  wenn  er 
sagt,  der  Künstler  habe  dies  und  jenes  zum  Ausdruck  bringen 
wollen,  und  wenn  Goethe  selber  etwa  sagt,  er  habe  im  Egmont 
das  Dämonische  darstellen  wollen,  so  ist  das  hoffentlich  ein  Irrtum. 
Man  muß  wünschen,  daß  er  gar  nichts  als  gewisse  Begeben- 
heiten hat  darstellen,  daß  er  ein  Drama  über  einen  bestimmten 
Stoff  hat  schreiben  wollen,  in  dem  dann  vielleicht  das  Dämonische 
zum  Ausdruck  gekommen  ist.  Mindestens  sollte  man  Bach  mit 
derartigen  Zumutungen  verschonen;  er  hat  keine  Titanenkämpfe 
oder  Engelreigen  oder  moralische  und  religiöse  Gefühle  kompo- 
nieren wollen,  sondern  Tokkaten,  Konzerte,  Kantaten  usw.  Wie 
viel  höher  der  Künstler  Bach  steht  als  der  Künstler  Goethe,  liegt 
ja  freilich  auf  der  Hand.  Nicht  daß  dies  Goethes  Schuld  wäre  und 
es  ihm  an  künstlerischen  Qualitäten  mangelte:  er  hatte  sie  im 
höchsten  Maße;  er  hatte  spezielle,  z.  B.  ein  angeborenes  Erzähler- 
und Verstalent,  und  er  hatte  die  grundlegende  schöpferische 
Fähigkeit,  d.  h.  sein  Erleben  verdichtete  und  gestaltete  sich  von 
selbst  zu  künstlerischen  Gebilden.  Aber  diese  Eigenschaften 
konnten  nicht  rein  zur  Erscheinung  kommen,  sich  nicht  auf 
natürliche  Weise  miteinander  verbinden,  weil  die  unmittelbare 
Sicherheit  der  Form  fehlte;  wogegen  Bachs  künstlerische  Per- 
sönlichkeit ohne  Mühe  und  Zwang  auf  dem  festen  Grunde 
formaler  Meisterschaft  sich  entfaltete.  Die  Mittel,  wie  er  sie 
übernahm  und  fortbildete,  versagten  ihm  niemals  den  Dienst; 
sie  gewährten  ihm  die    Möglichkeit,  bis  an  die  Grenzen  seiner 


37 


Erster  Teil. 

Natur  zu  gehen,  so  wie  später  Beethovens  Formen  standhielten 
und  stark  genug  waren,  auch  die  unmäßigsten  Ergießungen  in 
feste  Kunstwerke  zu  bannen.  FreiHch  sind  sie  bei  Beethoven 
nahe  daran  zu  zerspringen,  und  die  Nachfolger  haben  sich  mit 
logischem  Instinkt  an  die  Zerstörung  dessen  gemacht,  was  er  zum 
Wanken  brachte.  Schon  Bach,  das  muß  gesagt  werden,  neigt 
sich  dem  Extrem  zu.  Bei  ihm  liegt  die  Gefahr  nicht  im  Gewalt- 
samen wie  bei  Beethoven,  nicht  im  Barocken  wie  bei  Schumann, 
sondern  in  der  Wollust  der  Nuance,  wenn  man  mir  den  Ausdruck 
gestattet.  Er  liebt  ein  bodenloses  Versinken  in  die  überreiche, 
überzarte  Welt  seiner  ungeheuer  verästelten  Natur;  deshalb  neigt 
er  zum  Raffinement,  einem  gefährlichen  Gegner  klassischer  Kunst. 
Vielleicht  ist  er  niemals  wirklich  raffiniert,  sondern  nur  delikat, 
aber  er  streift  nicht  selten  die  Grenze.  Manchmal  findet  jedoch 
seine  Delikatesse  auch  wieder  die  naivsten  Töne,  wie  sie  nur  aus 
einer  geraden,  starken  Seele  kommen  können,  und  man  darf  nie 
aus  dem  Auge  verlieren,  daß  die  künstlerische  Erscheinung  Bachs 
im  ganzen  eine  vollkommen  intakte  war.  Er  ist  das  höchste  Ge- 
bilde deutscher  Kunst  und  viel  zu  gut  dazu,  als  Leckerspeise  für 
überreizte  moderne  Gaumen  zu  dienen.  Man  muß  gegen  den 
Bachkultus  der  Gegenwart  protestieren,  soweit  er  durch  krank- 
hafte und  unkünstlerische  Empfindungen  veranlaßt  ist,  seien 
diese  nun  christlicher  Art  oder  richten  sie  sich  z.  B.  auf  das 
fremdartige  und  scheinbar  Raffinierte  seiner  künstlerischen 
Ausdrucksweise. 

Händel  ist  die  ergänzende  Natur  zu  Bach,  in  allem  entgegen- 
gesetzt gerichtet,  aber  wie  er  die  Frucht  der  langen  Bemühungen 
des  deutschen  Kunstfleißes.  Man  schätzt  ihn  heute  gering,  nur 
zum  Teil  mit  Grund,  wie  mir  scheint;  den  nervösen  Bachschwär- 
mern fehlt  in  der  Regel  der  Sinn  gerade  für  die  großen  Eigen- 
schaften Händeis.  Man  kann  Händel  einen  Abkömmling  der 
oben  beschriebenen  weltmännischen  Musiker  nennen.  Er  war 
Opernkomponist,  hatte  ein  reiches,  wechselvolles  Leben,  war 
mehrere  Jahre  in  Italien  und  lebte  dann  dauernd  in  England,  wo 
er  in  hochgeachteter  Stellung  als  weltberühmter  Komponist  starb. 
Die  engen  Verhältnisse,  in  denen  Bach  lebte,  wären  für  ihn  Qual 
und  Tod  gewesen;   er  strebte  ins  Weite  und  brauchte,  um  zu 

38 


Die  deutsche  Musik. 


gedeihen,  eine  an  Anregungen  und  Erfolgen  reiche  Existenz. 
Man  kann  nicht  sagen,  daß  seine  Abhängigkeit  vom  Ausland  viel 
größer  gewesen  wäre  als  die  Bachs.  Bach  war  in  Berührung  mit 
Italien  und  Frankreich  und  ohne  jede  autochthone  Beschränktheit 
und  Dünkelhaftigkeit.  Er  ließ  mit  Freude  auf  sich  wirken,  was 
zu  ihm  drang,  da  er  nicht  selbst  an  der  Quelle  studieren  konnte. 
Händel  schrieb  zwar  italienische  Opern  und  Kantaten,  hielt  sich 
in  ihnen  wie  in  seinen  Instrumentalwerken  direkt  an  italienische 
Vorbilder,  bewahrte  aber  durchaus  seinen  deutschen  Charakter. 
Seine  Natur  war  bei  großer  Stärke  und  Konsequenz  von  einer 
Beweglichkeit,  die  Bach  abging,  jeder  Lage  und  Anforderung 
sofort  gewachsen,  als  Künstler  leicht  und  frei  sich  gebend, 
sprudelnd  von  Erfindung,  unaufhaltsam  in  der  Durchführung, 
ein  Dramatiker,  kein  Lyriker  wie  Bach.  Seine  dramatische  Rich- 
tung geht  auf  das  Sinnenfällige;  er  liebt  die  schöne  Linie,  ist 
festlich  und  rauschend.  Es  fehlt  ihm  alle  Neigung,  durch  Er- 
schrecken und  Betäuben  zu  wirken  wie  Wagner  etwa;  seine  Tragik 
ist  nicht  lastend  und  durch  festbannende  Ausführlichkeit  quälend. 
Sein  frischer,  ins  Helle  strebender  Geist  weht  über  Tiefen  des 
Schmerzes  hin,  ohne  sie  kennen  und  ermessen  zu  wollen.  Er 
hat  Kraft  und  Reichtum  der  Charakteristik,  vermeidet  aber  auch 
dabei  jede  nicht  unbedingt  gebotene  Nuancierung  und  Vertiefung. 
Er  ist  oberflächlich,  sagt  man;  ich  glaube,  er  ist  lucid.  Seine 
kristallene  Klarheit  zu  beurteilen  sind  wir  vielleicht  nicht  im- 
stande. Daß  er  oft  nicht  auf  seiner  Höhe  ist,  muß  man  zugeben; 
seine  Natur  hatte  wohl  bei  aller  Großheit  irgendwo  einen  Bruch, 
ähnlich  wie  Mozarts  Natur.  Es  scheint,  daß  diese  Art  Mensch 
in  Deutschland  nicht  gelingt.  Ihnen  fehlt  etwas,  das  luciden 
Naturen  des  Südens,  wie  Sophokles  oder  Raffael  nicht  fehlt;  ihre 
Klassizität  versagt  an  irgendeinem  Punkte,  den  festzustellen  ich 
hier  nicht  versuchen  will.  Vielleicht  gibt  man  dies  bei  Mozart 
nicht  zu;  mir  scheint  aber,  was  ihn  uns  zugänglicher  und  liebens- 
würdiger macht  als  Händel,  ist  einerseits  seine  uns  näherliegende 
Form,  andererseits  seine  Biegsamkeit  und  Nachgiebigkeit.  Er 
nimmt  vieles  auf  und  macht  es  zu  Musik,  was  ihm  im  Grunde 
fremd  ist,  während  der  männlichere  Händel  den  ausschließenden 
Konsequenzen  seiner  Natur  keinen  Fuß  breit  weicht.  —  Es  gibt 


39 


Erster  Teil. 

noch  einen  anderen  rein  künstlerischen  Grund,  der  Händel  hinter 
Bach  zurückstellt.  Händel  beherrscht  wie  Bach  die  Technik  voll- 
kommen und  ist  in  allen  Zweigen  der  damaligen  Musik  Meister; 
aber  er  ist  mehr  Virtuose  als  Handwerker.  Er  benutzt  die  Mittel, 
weil  er  wirken  will,  nicht  weil  er  sie  liebt;  er  versenkt  sich  nicht 
in  sie  mit  der  Verehrung,  die  Bach  den  Formen  widmet.  Bach 
hat  fast  sämtliche  musikalischen  Formen  weitergebildet  und  allen 
technischen  Fragen  die  größte  Aufmerksamkeit  geschenkt;  man 
denke  an  die  Temperierung  des  Klaviers  oder  an  die  Erfindung 
einer  neuen  Violenart.  Händel  hat  nichts  Wesentliches  zur  Ver- 
vollkommnung der  Formen  und  anderen  Kunstmittel  getan;  auch 
sein  Oratorium  ist  formal  nichts  Epochemachendes.  Bach  war 
der  größte  Lehrer  seiner  Zeit  und  hinterließ  fast  die  ganze  jüngere 
Generation  als  seine  Schüler.  Von  Händel  ist  keine  Schule  aus- 
gegangen; er  hatte  weniger  Interesse  für  das,  was  nach  ihm  kam. 
Wie  es  aber  auch  mit  der  Bedeutung  beider  Männer  stehen 
mag,  sie  gehören  zueinander  und  schließen  eine  große  musikalische 
Entwicklung  ab,  in  derselben  Weise  wie  Josquin,  Palestrina  und 
Orlandus  Lassus  die  vorangegangene  Epoche  krönten.  Die  wich- 
tigste Form,  die  durch  sie  zur  Blüte  kam,  ist  das  kirchliche  Gesang- 
werk, dessen  Stil  durch  ein  Zusammenwirken  der  Motette  und 
der  Oper  gebildet  worden  war;  eine  zweite  Form  ist  das  instru- 
mentale Konzert,  das  mit  einigen  geringeren  Formen  zusammen 
die  Instrumentalmusik  zu  einem  ersten  Höhepunkt  führte.  Es 
lag  in  beiden  Naturen,  wie  wir  sahen,  neben  der  großen  konstruk- 
tiven Fähigkeit  und  Neigung  etwas  Destruktives,  das  vorwärts, 
aber  auch  abwärts  wies.  Sie  ließen  es  jedoch  nicht  mächtig  wer- 
den; die  Kraft  und  Sicherheit  ihrer  organisierenden  und  erhalten- 
den Instinkte  blieb  ausschlaggebend.  Ihre  Nachfolger  gingen 
einen  Schritt  weiter.  Auch  sie  sind  noch  keine  Revolutionäre, 
die  von  Freiheit  reden  und  Zerstörung  wollen,  aber  ihr  Naturell 
drängt  sie  unmerklich  von  der  Beschränktheit  und  Gehaltenheit 
ab  und  nähert  sie  dem  Unbegrenzten  und  damit  der  Desorgani- 
sierung. Sie  sind  den  großen  Neuerern  des  17.  Jahrhunderts  zu 
vergleichen;  sie  schauen  vorwärts,  nicht  rückwärts,  und  sind  im 
Begriff,  das  alte  sichere  Land  preiszugeben,  um  ungewisser  Ent- 
deckungen und  Eroberungen  willen.  , 

40 


Die  deutsche  Musik. 


Mozart  und  Beethoven,  wenn  ich  ihre  Vorläufer  Gluck  und 
Haydn  hier  beiseite  lassen  darf,  sind  das  zweite  große  Paar  unserer 
musikalischen  Blütezeit.  Sie  haben  hinreißender  und  verführe- 
rischer vielleicht,  eindringlicher  auf  jeden  Fall  als  Bach  und  Händel 
die  deutsche  Seele  in  Musik  gesetzt.  Bekanntlich  gingen  sie 
nicht  von  diesen  aus,  wenn  sie  auch  indirekt  von  ihnen  abhängen. 
Die  Musik  trieb  damals  so  viele  Schößlinge  nebeneinander,  daß 
auch  die  größten  zusammenfassenden  Naturen  nicht  alles  um- 
spannen konnten,  sondern  je  nach  dem  Ausgangspunkt  auf  ver- 
schiedene Wege  und  zu  verschiedenen  Zielen  kamen.  Mozart 
fand  die  italienische  Oper,  die  Scarlatti  in  die  Bahn  des  bei  canto 
geleitet  hatte,  zu  virtuosischer  Oberflächlichkeit  ausgeartet  vor 
und  sah  die  französische  Oper  und  ihren  Fürsprecher  Gluck  nach 
der  entgegengesetzten  Richtung  gehen,  die  auch  zur  Einseitigkeit 
führen  mußte.  Er  brachte  beide  zu  einer  Einheit,  die  den  höchsten 
Punkt  darstellt,  den  die  Oper  als  künstlerisches  Gebilde  bis  dahin 
(und  auch  bis  heute,  wie  mir  scheint)  erreicht  hatte.  Dadurch 
schloß  er  eine  zweihundertjährige  Entwicklung  ab.  Zugleich 
aber  barg  seine  Oper  Elemente  in  sich,  die  ihre  feste  schöne  Form 
zersetzen  und  einer  neuen  Entwicklung  zum  Anstoß  dienen 
mußten.  In  dieser  Entwicklung  stehen  wir  noch  heute,  ohne 
daß  ein  Ende  abzusehen  wäre.  Die  psychologische  Vertiefung 
der  Oper  war  das  Zersetzende.  Mozart  fand  Anfänge  charak- 
terisierender Musik  vor,  wurde  aber  der  erste,  der  sie  methodisch 
verwertete.  Die  Handlung,  die  Charaktere  und  die  Situationen 
durch  die  Musik  zu  erklären  und  psychologisch  auszuschöpfen 
war  sein  Ziel.  Damit  aber  ließ  sich  die  Gestaltung  der  Oper  als 
eine  Aneinanderfädelung  von  in  sich  geschlossenen  Gesangs- 
nummern nicht  in  Einklang  bringen.  Der  Konflikt,  der  ent- 
stand, blieb  bei  ihm  noch  latent;  er  liebte  zu  sehr  die  gerundete 
Form  und  war  zu  fein  und  gründlich  gebildet,  als  daß  er  dem  neuen 
Prinzip  ohne  weiteres  das  Kunstwerk  hätte  opfern  wollen.  Aber 
seine  Erben  kannten  diese  Bedenken  nicht  mehr.  Wir  sind  heute 
nicht  gewöhnt,  Mozart  als  Charakteristiker  zu  nehmen,  sehen 
in  ihm  vielmehr  den  reinen  Musiker,  dessen  Natur  der  psycho- 
logischen Vielseitigkeit  und  Verinnerlichung  widerstrebt.  Das 
liegt  aber  daran,  daß  wir  auf  seiner  Bahn  beständig  fortgeschritten 


Horneffer,  Das  klassische  Ideal. 


41 


Erster  Teil. 

sind.  Weil  wir  ihn  überboten  haben,  erscheint  uns,  was  seine 
Stärke  ist,  eher  als  seine  Schwäche,  während  wir  Einfachheit  und 
leichte  Formenbeherrschung,  da  sie  uns  fremd  und  abhanden 
gekommen  sind,  als  sein  eigentliches  Wesen  empfinden.  Deshalb 
treten  für  uns  diese  Eigenschaften  in  den  Vordergrund.  Sie 
gehörten  aber  nicht  Mozart  besonders  an,  waren  vielmehr  seinem 
ganzen  Kreise  eigentümlich,  über  dessen  Geschmack  er  durch 
seine  Bestrebungen  sich  erhob.  Man  frage  nur  seine  Zeitgenossen 
über  Figaros  Hochzeit  und  Don  Juan.  Da  war  niemand,  der  von 
Tändelei  und  dankbaren  Arien  sprach,  sondern  man  war  erstaunt,  ja 
zum  Teil  unwillig  über  den  Charakteristiker,  der  die  Kunstmittel 
auf  so  neue  kühne  Weise  benutzte,  dramatisches  Feuer  nament- 
lich in  die  Ensemblesätze  brachte  und  das  Orchester  durch  Ver- 
stärkung und  ausgiebige  Verwendung  zu  einem  so  wichtigen  Faktor 
machte,  wie  er  in  der  Oper  noch  nie  gewesen  war.  Überdies  muß 
man  im  Auge  behalten,  daß  Mozart  nicht  zum  vollen  Ausleben 
gekommen  ist.  Als  er  seinen  Vorbildern  über  den  Kopf  gewachsen 
war  und  immer  selbstgewisser  seinen  eignen  Weg  ging,  hatte  er 
nur  noch  zehn  Jahre  zum  Leben  übrig.  Er  nutzte  sie  aus,  so  gut 
er  konnte;  aber  wer  will  sagen,  wie  weit  er  gekommen  wäre, 
wenn  er  noch  30  Jahre  länger  Zeit  gehabt  hätte,  seine  Natur  zu 
erweitern  und  zu  vertiefen  und  seine  beste  Kraft  in  den  Dienst 
des  Dramas  zu  stellen? 

Beethoven,  auf  Haydn  und  Mozart  gestützt,  brachte  eine 
andere  Entwicklung  zum  Höhepunkt  und  zu  einem  scheinbaren 
Abschluß:  die  selbständige  Instrumentalmusik.  Er  vereinigte 
alles,  was  Italien  und  Deutschland  auf  den  Gebieten  der  Kammer- 
und  Orchestermusik  geleistet  hatte.  Das  Klavier  hatte  durch 
Änderung  der  Anschlagsmechanik  und  durch  Vergrößerung  einen 
neuen  Charakter  bekommen;  die  Streichinstrumente  waren  in 
den  letzten  hundert  Jahren  erstaunlich  fortgeschritten;  für  das 
Orchester  wuchsen  Interesse  und  Verständnis.  Die  Deutschen 
hatten  für  Instrumentalmusik,  absolute  Musik,  wie  man  sie  auch 
nennt,  eine  besondere  Vorliebe  bekommen;  sie  fühlten  ganz  richtig, 
daß  die  intensivste  Musik  die  ist,  der  kein  begriffliches  Moment 
zu  Hilfe  kommt;  auch  fanden  sie  bei  den  Instrumenten  reiche 
Gelegenheit,   ihrer  Neigung  zum  Erfinden,   Probieren  und  Ver- 

42 


Die  deutsche  Musik. 


bessern  nachzuhängen;  der  Instrumentenbau  wurde  zu  einem 
bestimmenden  Teil  der  musikalischen  Entwicklung.  Dazu  kam, 
daß  die  Instrumentalmusik  große  Freiheit  und  unbegrenzten 
Reichtum  in  der  Form  ermöglichte;  es  gab  keine  Schranke  als  die 
Leistungsfähigkeit  des  Instruments  und  des  Spielers,  die  beständig 
vergrößert  wurden;  wogegen  die  Vokalmusik  immer  den  Text 
einerseits  und  die  menschliche  Stimme  in  ihrem  beschränkten, 
nie  zu  erweiternden  Umfang  andererseits  zu  berücksichtigen  hatte. 
Es  war  die  kompliziertere  umfänglichere  Seele,  die  sich  instru- 
mental aussprechen  wollte,  und  es  war  die  Form  der  Sonate,  in 
der  sie  das  vollkommenste  Ausdrucksmittel  fand.  Die  Sonate  war 
vermutlich  aus  dem  Konzert  erwachsen,  wurde  durch  Haydn  und 
Mozart  fertig  ausgebildet  und  von  Beethoven  in  aller  ihrer  Tiefe 
ausgeschöpft  und,  wie  es  scheint,  auch  verbraucht.  Nach  ihm 
hat  sie  zwar  noch  vielen  guten  Kompositionen  zum  Dasein  ver- 
helfen, ist  aber  nicht  mehr  weiterentwickelt  worden.  Die  moder- 
nen Symphonien  oder  gar  die  symphonischen  Dichtungen  kann 
ich  als  Fortbildungen  nicht  gelten  lassen.  —  Die  Sonate  ist,  wie 
ich  meine,  die  größte  formale  Leistung  der  deutschen  Musik. 
Sie  steht  noch  höher  als  die  Fuge,  weil  sie  reichhaltiger  und  um- 
fänglicher ist.  Das  Prinzip  ist  ein  uraltes:  Verarbeitung  eines 
Themas  durch  Imitation,  Umformung  und  Kontrapungierung. 
So  waren  im  Grunde  schon  die  altniederländischen  Kompositionen 
gebildet;  doch  machte  jede  Zeit  etwas  anderes  aus  dem  Prinzip, 
das  seiner  Natur  nach  unerschöpfliche  Variationen  zuließ.  Bald 
war  man  strenger,  bald  loser;  bald  legte  man  das  Gewicht  auf  das 
Thema,  bald  auf  seine  Behandlung,  und  beides,  Thema  und  Be- 
handlung, konnte  auf  das  mannigfachste  gestaltet  werden.  Die 
Fuge  war  eine  besonders  strenge  Form  und  stellte  an  Fähigkeit 
und  Übung  des  Musikers  die  höchsten  Anforderungen;  die 
Sonate  war  freier  und  ließ  dem  Naturell  mehr  Raum.  Ein 
genauerer  Vergleich  beider  Formen,  der  viel  Licht  bringen  könnte, 
würde  uns  hier  zu  weit  führen.  Was  die  Fuge  leisten  konnte,  zeigt 
etwa  das  Kyrie  in  Bachs  Hmoll- Messe;  wie  hoch  die  Sonate 
getrieben  werden  konnte,  kann  man  am  ersten  Satz  der  neunten 
Symphonie  sehen.  Dort  das  ernste  geschlossene,  hier  das  reich- 
haltige, die  mannigfachsten  Bildungen  zulassende  Bauwerk.    Die 


43 


erster  Teil. 

Sonate  bedeutete  für  Beethoven  viel  mehr  als  für  Haydn  und 
Mozart,  und  auch  mehr  als  die  Fuge  für  Bach  oder  Händel.  Er 
verdankt  ihr,  daß  er  ein  großer  Künstler  geworden  ist  und  kein 
wüster  Geselle,  der  zwischen  Himmelsstürmerei,  Gefühlsüber- 
schwang und  Hoffnungslosigkeit  sein  resultatloses  Leben  ver- 
zehrt. Es  ist  wundervoll  zu  sehen,  wie  der  unbändige  Strom  in 
dem  Bett  dieser  Form  gehalten  wird,  die  ihm  Richtung  und  ge- 
sammelte Kraft  gibt;  ohne  sie  würde  er  über  das  Feld  sich  ergießen, 
sich  verlieren,  sich  aufreiben.  Man  sieht  bei  Beethoven,  was 
Formen  bewirken  können;  sie  heben  alles  in  die  Höhe  reiner  Kunst 
und  streifen  doch  kein  Atom  von  dem  Blütenstäube  der  verletz- 
lichsten Natur  ab.  Die  Sonate  —  ich  darf  die  anderen  Formen 
übergehen  —  ließ  ihm  das  Maß  der  Freiheit,  das  er  zur  Entfaltung 
seiner  Kraft  nötig  hatte.  Sie  ermöglichte  ihm,  von  einem  festen 
Punkte  aus  einen  weiten  Umkreis  zu  durchstreifen,  ohne  sich  zu 
verirren;  sie  holte  die  Schätze  aus  den  verborgensten  Winkeln 
seiner  scheuen  Seele  hervor;  sie  ließ  ihn  das  Problem  lösen,  das 
niemand  für  lösbar  gehalten  hätte:  das  Streben  ins  Unbegrenzte 
künstlerisch,  d.  h.  in  freiwilliger  Begrenzung,  auszudrücken.  — 
Das  Zersetzende  der  Beethovenschen  Musik  lag  außer  in  dem 
Gehalt,  der  zur  Revolution  aufzufordern  schien,  im  instrumentalen 
Stil.  Soviel  Beethoven  zu  seiner  Vervollkommnung  beitrug,  brachte 
er  ihn  doch  nicht  entfernt  auf  die  überhaupt  erreichbare  Höhe, 
sondern  wurde  wie  Mozart  nur  der  Anfang  einer  neuen  Ent- 
wicklung. Deren  Ziel  ist  vielleicht  nie  zu  verwirklichen,  und  ist 
in  jedem  Fall  ein  unkünstlerisches.  Seine  erste  Etappe  ist,  die 
Individualität  jedes  Instrum.ents  kennen  zu  lernen  und  zur  Cha- 
rakteristik schrankenlos  zu  verwenden. 

Mit  Mozart  und  Beethoven  ging  die  klassische  deutsche  Musik 
zu  Grabe.  Ob  sie  wieder  auferstehen  wird,  kann  heute  niemand 
sagen.  Wir  stehen,  rein  musikalisch  betrachtet,  unter  dem  zwie- 
fachen Zeichen  des  ererbten  Besitzes:  der  erhalten  und  gestützt 
wird,  der  vertan  und  ruiniert  wird.  Einige  kleinere  Formen, 
darunter  der  moderne  Tanz  und  das  Sanglied,  wurden  noch  ge- 
bildet. Beide  gingen  aus  der  sogenannten  Liedform  hervor,  die 
ebenso  alt  ist  wie  das  Prinzip  der  Fuge  und  Sonate,  aber  nicht 
wie  jene  eine  konstruktive  Kraft  im  großen  Sinne  besitzt.  Ersterer 

44 


Die  deutsche  Musik. 


brachte  mancherlei  Gutes  hervor,  konnte  aber  seiner  Natur  nach 
keine  große  Bedeutung  gewinnen  und  hatte  die  Neigung,  in  eine 
zu  tiefe  Sphäre  herabzusinken.  Letzteres  suchte  die  Arie  und 
das  Sanglied  des  i8.  Jahrhunderts  zu  vereinigen,  ließ  aber  die 
Form,  die  das  da-capo-Prinzip  der  Arie  und  Strophe  und  Vers  dem 
Sanglied  gegeben  hatten,  fahren,  ohne  einen  Ersatz  zu  finden. 
Das  Lied  von  Schubert  an  bis  heute  schwebt  als  Kunstform  in  der 
Luft,  soweit  es  nicht  strophisch  gebaut  ist.  Die  Musik  wird  weder 
durch  den  Text  gebunden,  was  bei  strophischer  Lyrik  das  Natür- 
liche v/äre,  noch  durch  ein  musikalisches  Prinzip,  sowie  man 
die  Liedform  verläßt.  So  kam  das  Sanglied  auf  dasselbe  hinaus 
wie  die  Oper:  auf  einen  Ruin  der  Musik  als  Kunst.  Sie  gibt  sich 
selber  preis,  mißachtet  die  Gesetze,  die  sie  selbständig  gebildet  und 
entwickelt  hatte,  und  wird  eine  Magd  außermusikalischer  Ten- 
denzen. Dies  war  bekanntlich  das  ungewollte  Ziel  der  Wagner- 
schen  Oper.  Wagner,  über  den  ich  nur  sage,  was  in  unserem 
Zusammenhang  nötig  ist,  hat  das  große  Verdienst,  die  deutsche 
Musik  aus  einem  kleinlichen  Epigonentum  herausgerissen  zu 
haben,  in  das  sie  zu  versinken  drohte.  Er  brachte  eine  scheinbare 
Erneuerung  der  deutschen  Musik,  wollte  ihr  eine  neue  Aufgabe 
und  eine  neue  Form  geben,  die,  wie  er  träumte,  nicht  nur  die 
gesamte  Musik,  sondern  auch  die  anderen  Künste  in  sich  auf- 
nehmen sollte.  Er  erfüllte  aber  keine  dieser  Verheißungen,  und 
erschwerte,  als  sich  die  Welt  aus  seinem.  Bann  zu  befreien  anfing, 
die  Würdigung  seiner  wahren  Leistungen,  die  in  einer  Beschleu- 
nigung und  Vertiefung  der  musikalischen  Entwicklung  bestehen. 
Diese  Entwicklung  hat  er  nicht  geschaffen,  sondern  fand  sie  vor, 
erhob  sie  aber  zu  einer  ungeahnten  Ausdehnung  und  Macht. 
Seine  Drama  ist  keine  Form,  sondern,  als  m.usikalisches  Gebilde, 
die  Auflösung  jeglicher  Form;  seine  Technik  hat  die  Ausdrucks- 
mittel ungeheuer  bereichert;  sein  Gehalt  ist,  wie  Nietzsche  sah,  die 
moderne  Seele,  womit  denn  freilich  die  Tendenz  zum  Klassischen 
schwer  vereinbar  ist.  Seine  Stellung  zur  Musik  als  Handwerk 
und  als  Kunst  ließe  sich  der  Stellung  Bachs  als  eine  genau  anti- 
podische gegenüberstellen. 

Was  seit  Wagner  musiziert  wird,  klingt  einem  als  ein  arges 
Durcheinander  ins  Ohr,  aus  dem  man  hin  und  wieder  ein  paar 


45 


Erster  Teil. 

verheißungsvolle  Töne,  als  Grundton  aber  leider  einen  Kultus 
der  Wüstheit  heraushört.  Man  will  bis  ans  Ende  des  einmal 
eingeschlagenen  Weges  gehen.  Darin  zeigt  sich  Konsequenz  und 
ein  viel  tieferes  Verhältnis  zur  Musik,  als  der  häufige  Geschmacks- 
wechsel, den  wir  in  den  literarischen  Moden  erleben,  zur  Poesie 
verrät.  Die  große  Gefahr,  der  diese  Konsequenz  uns  aussetzt, 
ist  jedoch,  daß  die  deutsche  Musik  im  Sande  der  Virtuosität  und 
im  Meere  der  Gestaltlosigkeit  ein  Ende  nimmt.  Anzeichen  gibt 
es  dafür.  Andererseits  hat  aber  die  Musik  bei  uns  viel  größere 
Hilfskräfte  zur  Verfügung  als  die  anderen  Künste,  namentlich 
dadurch,  daß  die  Vorbilder  ihr  unmittelbar  vor  Augen  stehen. 
Es  bedarf  nur  einer  Sammlung  des  unzv/eifelhaft  noch  immer 
vorhandenen  konstruktiven  Künstlersinnes.  Vielleicht  kommt 
von  außen  ein  Anstoß;  vielleicht  muß  Deutschland  noch  einmal 
in  die  Schule  gehen  und  sich  von  seinen  eigenen  Schülern,  die  es 
jetzt  im  Norden  und  Süden,  im  Osten  und  Westen  hat,  einen  Aus- 
weg aus  der  Sackgasse  zeigen  lassen,  in  die  es  sich  verrannt  hat. 
Doch  wer  will  sagen,  was  die  Zukunft  uns  bringt! 


46 


III. 


DIE  DEUTSCHE  PROSA. 


Die  Musik  ist  eins  der  hellsten  Kapitel  der  deutschen  Kunst- 
geschichte, die  Prosa  eins  der  dunkelsten.  Dort  ist  durch 
unermüdliches  Streben  etwas  erreicht  worden,  auf  das  wir  mit 
Freude  und  Stolz  zurückschauen  dürfen;  hier  sieht  man  nur  ein- 
zelne Versuche,  die  mit  Mühe  gegen  Torheit  und  Gleichgültig- 
keit ankämpfen,  so  daß  kaum  die  ersten  Schritte  getan  sind. 
Es  ist  merkwürdig,  wie  unabhängig  die  verschiedenen  Zweige 
der  Kunst  voneinander  sind.  Man  sollte  meinen,  echtes  künst- 
lerisches Gefühl  müßte,  wenn  es  überhaupt  vorhanden  ist,  sich 
in  allen  Betätigungen  eines  Menschen  verraten,  da  es  doch  nur 
von  einer  künstlerischen,  d.  h.  organisierten  Natur  ausgehen 
kann.  Offenbar  ist  es  nicht  so;  offenbar  kann  man  teilweise 
Künstler  und  teilweise  Barbar  sein.  Man  kann  in  der  Musik 
oder  auch  in  der  bildenden  Kunst  feines  Verständnis  für  alle 
ästhetischen  Erfordernisse  besitzen  und,  wenn  man  schreibt, 
redet  oder  liest,  nicht  nur  eines  entwickelten  Geschmacks  er- 
mangeln, was  bei  einseitiger  Ausbildung  erklärlich  wäre,  sondern 
den  Sinn  für  künstlerische  Wertung  überhaupt  vermissen  lassen. 
Es  scheint,  man  hat  bei  uns  noch  nicht  entdeckt,  daß  Schreiben 
und  Reden  ein  Teil  der  Kunst  ist.  Und  doch  gehört  es  zu  ihren 
primitivsten  Zweigen;   es  ist    geknüpft    an    die    ursprünglichste 

47 


Erster  Teil. 

und  allgemeinste  geistige  Verrichtung  des  Menschen,  das  Spre- 
chen. Wie  die  Schmückung  des  Körpers  und  der  Gerätschaften 
doch  wohl  der  Anfang  der  bildenden  Kunst  ist,  so  die  geschmückte 
Rede  die  Grundlage  oder  wenigstens  eine  Grundlage  der  Poesie; 
die  andere  wird  man  auf  lyrisch-musikalischem  Gebiet  suchen. 
Bei  den  Griechen  sieht  man  die  Redekunst  von  Anfang  an  blühen 
und  gedeihen,  jeden  Höherstrebenden  sich  um  sie  bemühen,  jeden 
im  Klaren  sowohl  über  ihren  Wert  wie  über  ihre  Ziele.  Das 
Schreiben,  zunächst  ein  Mittel,  der  Rede  weitere  und  dauerndere 
Wirksamkeit  zu  geben,  wurde  allmählich  ihr  gefährlicher  Kon- 
kurrent. Das  Altertum  ließ  beide  friedlich  und  zu  gegenseitigem 
Nutzen  nebeneinander  wirken;  die  neuere  Zeit  aber  entzog  der 
Redekunst  fast  allen  Boden,  ohne  jedoch,  wenigstens  in  Deutsch- 
land, der  Kunst  des  Schreibens  zu  geben,  was  sie  jener  nahm. 
In  Frankreich  verlernte  man  das  Reden  nie  ganz  und  bildete 
das  Schreiben  zu  hoher  Vollkommenheit  aus;  in  Deutschland 
aber  blieb  das  Reden,  trotzdem  die  Kanzel  Gelegenheit  gab  es 
zu  üben,  eine  fremde  Kunst,  der  nur  Vereinzelte  sich  zu  nähern 
suchten,  und  der  Prosa  erging  es  wenig  besser,  obgleich  un- 
zählige Schriftsteller  unzählige  Prosaschriften  zu  Markte  brachten 
und  noch  bringen. 

Seit  einiger  Zeit  ist  das  Interesse  für  sprachliche  und  stilisti- 
sche Fragen  allgemeiner  geworden.  Nicht  nur  den  Dichtern, 
die  sich  der  Prosa  bedienen,  sondern  auch  anderen  Schriftstellern, 
gelehrten  und  ungelehrten,  kommen  Gedanken  über  die  Form 
prosaischer  Schriften,  über  die  Vorbedingungen  eines  würdigen 
Stils,  über  Natur  und  Bedeutung  der  sprachlichen  Ausdrucks- 
mittel. Das  ist  erfreulich,  kann  aber  nur  Segen  bringen,  wenn 
sich  zu  den  Gedanken  das  persönliche  Streben  nach  ihrer  Ver- 
wirklichung gesellt.  Mit  Theorien  ist  wenig  getan;  wir  sind 
mit  Betrachtungen  über  Dinge,  die  vorwiegend  theoretisch  sind  — 
ausschließlich  sind  es  hoffentlich  keine  — ,  derart  überladen, 
daß  man  Grund  hat,  wo  es  auf  die  Praxis  ankommt,  die  Theorie 
soviel  wie  möglich  ruhen  zu  lassen.  Ein  Buch  über  die  Gesetze 
der  Sprache  und  des  Stils  hat  vom  Gesichtspunkt  der  Kultur  aus 
weniger  Wert,  als  eine  gut  geschriebene  Seite  über  einen  be- 
liebigen Gegenstand.     Denn   Kultur  ist  doch  Können,   ist  doch 

48 


Die  deutsche  Prosa. 


Umsetzen  des  geistigen  Erwerbs  in  die  Tat,  nicht  endloses  Ver- 
mehren von  Kenntnissen  und  Erkenntnissen.  Nur  soweit  es 
für  die  Praxis  unbedingt  nötig  ist,  sollte  man  daher  über  das 
Schreiben  theoretisieren.  Die  kleinen  Beobachtungen,  die  ich 
hier  mitzuteilen  versuche,  haben  lediglich  praktischen,  keinen 
theoretischen  oder  historischen  Zweck.  Sie  wollen  Verständigung 
mit  denen  suchen,  die  in  derselben  Lage  sind  wie  ich:  nach  Stil 
strebend  und  über  den  Weg  zu  ihm  Klarheit  suchend. 

Es  gibt  zwei  Arten  von  Schriftstellern  (die  Redner  lasse  ich 
jetzt  außer  Betracht):  solche,  die  sich  mit  der  Form  Mühe  geben, 
und  solche,  die  sich  keine  Mühe  geben.  Die  letzteren  tun  dies 
mit  oder  ohne  Prinzip.  Im  zweiten  Falle  ist  über  sie  kein  Wort 
nötig,  man  soll  sie  in  ihrer  Unschuld  gewähren  lassen.  Tun  sie 
es  mit  Prinzip,  so  pflegen  sie  der  irrtümlichen  Meinung  zu  sein, 
daß  man  genau  so  schreiben  müsse,  wie  man  spricht,  damit  man 
natürlich  bleibe.  Der  Ausdruck  müsse  von  selber  kommen  und 
ebenso,  wie  er  sich  einstelle,  aufs  Papier  gebracht  werden;  wer 
lange  überlege  und  wähle,  verliere  die  Sicherheit  und  Ursprüng- 
lichkeit im  Ausdruck.  Jedes  Schriftstück  habe  das  Ziel,  den 
Eindruck  einer  im  Moment  entstehenden  Auslassung  zu  machen, 
so  daß  selbst  mißglückte  Wendungen,  Unklarheiten  und  übereilte 
Gedanken  nicht  immer  zu  tilgen  seien;  denn  sie  vermehren  den 
Eindruck  des  Improvisierten  und  erhöhen  den  Reiz  des  Nieder- 
geschriebenen. Hierhin  gehören  die  Causeurs,  die  sich  besonders 
unter  Kritikern  und  Romanschreibern  finden,  aber  nicht  die  ge- 
bildeten unter  ihnen,  sondern  die  groben.  Ein  feiner  Causeur, 
wie  Heine  etwa,  berechnet  die  Effekte  seines  scheinbar  nachlässigen 
Stils  aufs  genaueste,  weiß  aber  die  Spuren  der  abwägenden  Sorg- 
falt zu  verwischen.  Heines  Leichtigkeit  und  Grazie,  in  Prosa 
wie  in  Versen,  beruht  weniger  auf  Improvisation  als  der  um- 
ständliche Ernst  mancher  Periodenbauer.  Man  verwechselt 
wieder  einmal  Natürlichkeit  und  Naturalismus.  Wie  es  nun 
einmal  mit  der  deutschen  Prosa  steht,  ist  Natürlichkeit  nur 
durch  höchste  Kunst  als  Resultat  langer  Übung  erreichbar. 
Außerdem  soll  der  Schriftsteller  keineswegs  danach  streben, 
überall  als  Improvisator  zu  erscheinen;  er  soll  etwas  Fertiges 
hinstellen,  das  nur  in  ganz  seltenen  Fällen  vielleicht  den  Ein- 


49 


Erster  Teil. 

druck  des  Unvorbereiteten,  Unfertigen  machen  darf.  Die  Mühe, 
die  er  aufgewendet  hat,  darf  niemals  sichtbar  sein;  tilgt  er  aber 
Unvollkommenheiten  nicht,  um  unmittelbarer  zu  wirken,  so 
kann  er  höchstens  von  Barbaren  Lob  ernten.  Etwas  anderes 
ist  es,  wenn  jemand,  um  die  Lebhaftigkeit  der  Darstellung  zu 
erhöhen,  sich  den  Anschein  gibt,  als  ob  sein  Gedanke  und  dessen 
sprachliche  Fassung  während  des  Schreibens  erst  entstünde  und 
sich  entwickelte,  so  daß  er  etwa  Fragen  stellt,  auf  die  er  zunächst 
keine  oder  falsche  und  ungenügende  Antworten  gibt  und  erst 
allmählich,  durch  allerhand  Einwände  und  Weiterbildungen  zu 
dem  scheinbar  unbeabsichtigten  Resultat  gelangt.  Nietzsche 
meinte  freilich,  man  solle  seine  Gedanken,  nicht  das  Denken  der 
Gedanken  mitteilen,  was  als  allgemeine  Regel  auch  gewiß  richtig 
ist;  aber  Ausnahmen  sind  gestattet  und  langweiligen  Schrift- 
stellern sogar  zu  empfehlen. 

Nun  ist  den  Naturalisten  des  Stils  wie  anderen  Naturalisten 
eines  zuzugestehen:  das  Streben  nach  Aufrichtigkeit.  Wer  ein- 
fach empfindet,  schaut  und  denkt,  und  ebenso  einfach  eine  Be- 
gebenheit schildern,  einen  Gedanken  oder  eine  Empfindung  aus- 
sprechen will,  findet  in  der  deutschen  Schriftsprache  große 
Schwierigkeiten.  Sie  rühren,  wie  schon  öfter  betont  worden  ist, 
zum  großen  Teil  daher,  daß  die  Deutschen  nicht  die  Sprache 
sprechen,  die  sie  schreiben,  daß  ihnen  das  Schriftdeutsch  nicht 
die  Muttersprache,  sondern  eine  fremde  Sprache  ist,  in  die  sie 
erst  übersetzen  müssen,  was  sie  sagen  wollen.  Man  spricht  in 
Süddeutschland  Dialekte  und  in  Norddeutschland  allerhand  Jar- 
gons, die  von  der  Schriftsprache  noch  weiter  entfernt  sind  als 
der  Schlafrock  vom  Frack.  Wer  aber  den  Frack  anzieht,  um 
Dinge  auszusprechen,  die  im  Schlafrock  entstanden  sind,  setzt 
unvermeidlich  eine  feierliche  oder  eine  unglückliche  Miene  auf; 
er  wird  unaufrichtig  oder  fängt  an  zu  stammeln  oder  benimmt 
sich  so,  wie  es  für  das  Hauskleid,  aber  nicht  für  das  Staatskleid 
paßt.  Daher  der  Protest  der  von  Zeit  zu  Zeit  auftauchenden 
Dialektdichter  und  Schriftsteller  im  Straßenjargon;  ihr  kräftiges 
Naturell  will  den  unmittelbaren  Erfahrungen  treu  bleiben  und 
das  Künstlerische,  das  aus  jedem  Stoff,  also  auch  aus  dem 
nächstliegenden  zu  gewinnen  ist,  herausholen.     Sie  fühlen  aber, 

50 


Die  deutsche  Prosa. 


daß  durch  eine  Übersetzung  das  Beste  verloren  geht,  und  wollen 
lieber  Barbaren  als  affektiert  sein.  Wäre  die  Schriftsprache  ein 
ebenso  natürlicher  Erwerb  ihrer  Seele  wie  die  Erfahrungen,  die 
sie  ausdrücken  wollen,  so  könnte  weder  von  Dialektdichtungen, 
noch  von  rohen  hochdeutschen  Produkten  die  Rede  sein;  denn 
die  Erfahrungen  würden  sich  von  Haus  aus  in  der  Schriftsprache 
kristallisieren  und  durch  die  Aufzeichnung  nichts  von  ihrer 
Ursprünglichkeit  einbüßen.  Sie  hätten  nur  Vorteil  vom  Nieder- 
schreiben, nämlich  den,  in  die  Sphäre  der  Kunst  gehoben  zu 
werden,  von  der  sie  nun  ein  für  allemal  ausgeschlossen  sind. 
Was  die  Dialekte  von  der  Schriftsprache  unterscheidet  und  ihre 
Verderblichkeit  für  den  hochdeutschen  Stil  ausmacht,  sind  nicht 
so  sehr  die  Satzkonstruktionen,  die  ja  nur  im  Alemannischen 
bedeutend  abweichen,  als  namentlich  der  Klang  und  Gang  der 
Sprache,  der  für  den  Schriftsteller  das  Wesentlichste  ist.  Auf  die 
paar  Phrasen  und  Worte,  die  man  beim  Sprechen,  aber  nicht  in 
der  Schriftsprache  braucht,  kommt  gar  nichts  an.  Der  Sprechende 
wird  sich  immer  etwas  gehen  lassen;  das  ist  natürlich  und  in 
der  Ordnung,  war  auch  im  Altertum  nicht  anders  und  ist  in 
Frankreich  nicht  anders.  Wer  schreibt,  nimmt  sich  mehr  zu- 
sammen und  hebt  sich  über  die  gewöhnliche  Sprechweise  hinaus. 
Aber  welch  ein  Unterschied  im  Verhältnis  zur  Volkssprache  dort 
und  hier!  Wie  nahe  stehen  Cicero  oder  Voltaire  dem  mündlichen 
Ausdruck ,  wie  fern  ein  deutscher  Romanschreiber  oder  gar 
Gelehrter! 

Es  gibt  aber  Leute,  die  uns  Deutsche  deshalb  preisen  und  es 
für  keinen  Schaden,  vielmehr  für  einen  Gewinn  halten,  daß  der 
Schreibende  ein  künstlich  angeeignetes  Material  unter  den  Händen 
hat;  denn  dadurch  sei  er  gezwungen,  auf  sich  Acht  zu  geben, 
seinen  Stoff  gut  zu  beherrschen  und  dem  Ausdruck  eine  Sorgfalt 
zu  widmen,  die  er  doch  sonst  nicht  nötig  hätte.  Leider  kann  man 
nicht  leugnen,  daß  dies  vielfach  zutrifft:  die  Schriftsteller  würden 
sich  keine  Mühe  geben,  wenn  ihnen  die  Sprache  nicht  Schwierig- 
keiten machte.  Das  beweist  aber,  glaube  ich,  ein  ähnliches  Ver- 
hältnis zur  Kunst,  wie  es  ein  Hund  zur  Reinlichkeit  hat,  den 
man  ins  Wasser  wirft.  Schopenhauer  beklagt  in  demselben  Sinne 
den  Rückgang  des  Lateinschreibens :   es  habe  das  Interesse  für 


51 


Erster  Teil. 

Stil  überhaupt  aufrecht  erhalten.  Traurig,  daß  er  nicht  ganz 
unrecht  hat,  daß  in  der  Tat  die  eigene  Sprache  nur  ernst  genommen 
wird,  weil  man  eine  andere  ernst  nehmen  muß.  Aber  es  geschieht 
auch  dann  nicht  einmal;  denn  wer  schreibt  ein  grausigeres  Deutsch 
als  unsere  Lateiner?  Ich  meine,  man  soll  das  Interesse  direkt 
auf  die  deutsche  Schriftsprache  richten,  von  Kindheit  an  einen 
möglichst  großen  und  sicheren  Fonds  von  Sprachfähigkeit  sam- 
meln und  nicht  wie  die  Kinder  verachten,  v/as  einem  vertraut 
ist.  Es  spukt  in  deutschen  Köpfen  eine  seltsame  Anschauung 
von  der  Kunst.  Man  möchte  ihr  einen  recht  fernen  Platz  von 
der  Alltäglichkeit  geben;  man  empfiehlt,  sich  nur  selten  mit  ihr 
abzugeben,  weil  man  dadurch  ein  besserer,  ehrlicherer  Künstler 
werde;  man  findet  es  aus  dem  Grunde  opportun,  Fresken  oben  an 
der  Decke  anzubringen,  weil  die  Mühe,  sie  zu  beschauen,  ihre 
Wirkung  vertiefe.  Wie  weit  dies  für  den  Liebhaber  richtig  ist, 
will  ich  nicht  untersuchen;  er  mag  recht  tun  und  ist  in  der 
Regel  auch  gezwungen,  die  Kunst  auf  den  Sonntag  zu  verlegen. 
Daß  es  für  den  Künstler  falsch  ist,  bedarf  keines  Bev/eises.  Wer 
nicht  Tag  und  Nacht  mit  seiner  Kunst  lebt,  bleibt  Dilettant. 
Gegen  die  künstlerische  Tätigkeit  als  eine  berufsmäßige  zu  eifern, 
scheint  mir  ganz  verfehlt.  Es  mag  als  seltene  Ausnahme  vorkom- 
men, daß  jemand  ein  wirklicher  Schauspieler  ist,  wenn  er  zum 
erstenmal  die  Bühne  betritt;  aber  auch  ihm  ist  dann  seine  Kunst 
nicht  vom  Himmel  gefallen,  sondern  er  hat  sie  unbewußt  geübt; 
sein  Leben  ist,  ohne  daß  er  es  merkte,  seine  Bühne  gewesen. 
Und  ähnlich  steht  es  mit  anderen  Kunstfächern. 

Niemand  wird  leugnen,  daß  die  Kenntnis  fremder  Sprachen 
großen  Wert  für  den  Stil  in  der  Muttersprache  hat.  Sie  dienen 
der  Klärung,  Vertiefung  und  Bereicherung  des  Begriffsschatzes, 
wie  Schopenhauer  sah,  da  keine  Sprache  einen  eigenen  Ausdruck 
für  jeden  Begriff  hat  und  die  Beziehungen  der  Begriffe  unter- 
einander verschieden  empfunden  und  ausgedrückt  werden. 
Außerdem  verfeinern  die  griechische  und  die  lateinische  Sprache 
durch  ihre  logische  Exaktheit  und  ihren  Reichtum  an  grammati- 
schen Formen  das  Sprachgefühl.  Schließlich  muß  ein  deutscher 
Prosaiker  fremde,  antike  oder  wenigstens  französische,  Autoren 
in  der  Ursprache  lesen,  um  seinen  Geschmack  und  sein  Urteil 

52 


Die  deutsche  Prosa. 


zu  bilden.  Zu  vermeiden  aber  ist,  was  in  Deutschland  nicht 
immer  vermieden  wird,  daß  man  über  den  fremden  Sprachen 
die  eigene  versäumt.  Der  normale  Gymnasiast  beherrscht  wohl 
die  lateinische,  aber  oft  nicht  die  deutsche  Grammatik;  Stileigen- 
tümlichkeiten fremder  Sprachen  v/erden  der  eigenen  aufgezwun- 
gen. Wir  alle  haben  die  verheerenden  Wirkungen  des  soge- 
nannten Übersetzungsdeutsch  am  eigenen  Leibe  erfahren.  Der 
Knabe  wird  in  einer  Zeit,  v/o  alles  darauf  ankäme,  ihn  in  der 
Muttersprache  heimisch  und  sicher  zu  machen,  durch  ein  Gewirr 
fremdländischer  Stile  geführt,  das  ihn  in  die  vollkommenste 
Unsicherheit  bringen  muß.  Er,  der  noch  nicht  imstande  ist, 
das  Einfachste  und  ihm  am  nächsten  Liegende  klar  und  an- 
gemessen auszudrücken,  soll  die  verschiedensten  Autoren,  pro- 
saische und  poetische,  in  seine  Sprache  übersetzen,  die  er  nicht 
beherrscht,  soll  etwas  Unverstandenes  oder  wenigstens  Fremd- 
artiges mit  fremden  unbeherrschten  Mitteln  reproduzieren.  Der 
Lehrer,  der  zuweilen  nicht  weniger  steuerlos  ist  als  der  Schüler, 
pflegt  ihm  die  unlösliche  Aufgabe  entweder  dadurch  zu  erleichtern, 
daß  er  ihn  zur  Nachbildung  der  fremden  Stile,  d.  h.  zur  Ver- 
gewaltigung des  deutschen  Stils  veranlaßt,  oder  dadurch,  daß  er 
Anleitung  zum  wirklichen  Übersetzen  gibt,  worunter  die  Wieder- 
gabe in  gutem  Deutsch  zu  verstehen  ist.  Letzteres  ist  richtig 
gedacht,  aber  unmöglich  durchzuführen,  weil  es  eine  Geschick- 
lichkeit und  geistige  Reife  voraussetzt,  die  kein  Knabe  haben 
kann.  So  wird  denn  beides,  der  Autor  und  die  deutsche  Sprache, 
gemißhandelt  und  ein  unzulänglicher  und  falscher  Begriff  von 
beiden  gepflanzt.  Die  Folgen  für  den  deutschen  Stil  sind  traurige; 
das  natürliche  Sprachgefühl  hat  sich  nicht  entwickeln  können, 
sondern  ist  erstickt  und  irre  geleitet;  der  Glaube  an  Schwulst 
und  Geziertheit  als  die  Kennzeichen  des  guten  Stils  ist  an  seine 
Stelle  getreten.  Daß  dazu  gerade  die  antiken  Schriftsteller 
helfen  müssen,  die  das  Muster  von  Einfachheit  und  Natürlichkeit 
sind,  ist  wunderlich  genug.  Aber  der  Schüler  kommt  gar  nicht 
zum  Verständnis  der  Originale;  er  denkt  nicht  in  der  fremden 
Sprache,  sondern  in  der  Übersetzung,  die  stets  unnatürlich 
klingt. 

Hier   liegt   eine   Wurzel   der   perversen   Vorstellung,    daß   es 


53 


Erster  Teil. 

vornehm  sei,  sich  ungewöhnlich  und  geschraubt  auszudrücken. 
Diese  Meinung  ist  weiter  verbreitet  als  man  ahnt;  sie  wird  durch 
die  allgemeine  Unbildung  in  Dingen  des  Stils  genährt.  Der 
Gymnasiast  und  die  höhere  Tochter,  sowie  ein  großer  Teil  derer, 
die  eins  von  beiden  waren,  sind  einig  in  der  Bewunderung  des 
unnatürlichen  oder,  wie  man  es  nennt,  des  schönen  Stils.  Man 
denkt  sich  unter  einem  guten  Schriftsteller  einen  solchen,  der 
alles  recht  hochtrabend  darstellt,  blumige  Phrasen  anwendet  und 
lange  Perioden  bildet.  Einfach  sagen,  was  man  zu  sagen  hat, 
gilt  nichts.  Daß  Voltaire  oder  Merimee  große  Schriftsteller  sein 
sollen,  scheint  unbegreiflich;  denn  bei  ihnen  geht  alles  natürlich 
und  prosaisch  zu;  sie  spreizen  sich  nicht,  zieren  sich  nicht, 
scheinen  im  Gegenteil  einen  Abscheu  vor  dem  Auffälligen,  dem 
Besonderen,  kurz  dem  Vornehmen  zu  haben.  Wo  ist  nur  die 
Schönheit  und  die  Vornehmheit  bei  ihnen,  die  man  bei  gewissen 
deutschen  Autoren  doch  mit  Händen  greifen  kann?  Auf  diese 
Frage  wird  man  die  Antwort  schuldig  bleiben  müssen.  Denn 
wie  will  man  durch  Gründe  nachweisen,  daß  ein  großtuerisches 
und  affektiertes  Betragen  nicht  vornehm  ist? 

Der  Geschmack  an  der  Periode  weist  deutlich  auf  die  Alten 
zurück.  Man  findet  ihn  heute  etwas  seltener  als  früher,  was 
ohne  Zweifel  erfreulich  ist.  Nicht,  daß  die  Periode  an  sich  zu 
verwerfen  wäre,  auch  dann  nicht,  wie  ich  meine,  wenn  sie  den 
Leser  nötigt,  stehen  zu  bleiben  und  einen  Satz  zweimal  zu  lesen, 
um  ihn  logisch  und  ästhetisch  zu  verstehen.  Aber  die  Periode 
muß  natürlich  sein  und  natürlich  wirken;  der  Schriftsteller  muß 
sie  schaffen,  nicht  künstlich  zurechtmachen.  Bei  den  Alten 
sind  die  Perioden  der  Ausdruck  vollendeter  Herrschaft  über 
Sprache  und  Gedanken;  sie  bauen  mit  künstlerischer  Freiheit 
Satzgefüge,  die  ihre  ästhetische  Rechtfertigung  haben.  Bei  den 
deutschen  Schriftstellern  ist  leider  das  Umgekehrte  die  Regel; 
sie  machen  Perioden,  wenn  sie  ihre  Gedanken  und  deren  Aus- 
druck nicht  beherrschen,  wenn  Simplizität  ihnen  unmöglich  ist, 
oder  auch  wenn  ihr  schlechter  Geschmack  die  Simplizität  ver- 
schmäht. Ja  wenn  es  architektonisch  gedachte  Gestaltungen 
wären,  die  doch  dem  Sinn  des  Deutschen  entsprechen  müßten! 
Aber    es    sind    oft    nichts    als    zusammengekehrte    Worthaufen. 

54 


Die  deutsche  Prosa. 


Gewöhnlich  kommt  eine  Periode  so  zustande:  der  Autor  schreibt 
einen  leidlich  durchsichtigen,  aber  unzulänglichen  Satz  hin  und 
schachtelt  dann  allerhand  hinein,  um  die  Mängel  auszugleichen: 
hier  einen  Nebensatz,  dort  ein  paar  Epitheta,  dort  eine  Parenthese. 
Er  fragt  nicht,  wie  dies  im  ganzen  wirkt,  ob  sich  alles  natürlich 
zusammenschließt,  oder  ob  es  nur  äußerlich  aneinander  geleimt 
ist.  Ein  Satz  aber  muß  vorsichtig  behandelt  werden;  wie  er 
geboren  ist,  soll  er  in  der  Hauptsache  bleiben;  ist  er  mißlungen, 
so  möge  man  ihn  wegstreichen  und  durch  einen  anderen  ersetzen. 
Denn  ein  mißgestaltetes  oder  verkrüppeltes  Wesen  ist  noch  nie 
dadurch  schöner  geworden,  daß  man  ihm  mit  einem  künstlichen 
Fuß  oder  einem  Glasauge  oder  einer  Perücke  nachgeholfen  hat. 
Die  Prophylaxe  ist  auch  beim  Schreiben  der  beste  Arzt.  Man 
sorge  für  sorgfältige  gesunde  Ausbildung,  so  wird  man  schlechten 
und  kranken  Produkten  vorbeugen. 

Die  deutsche  Sprache  ist  ein  wunderbares  Material,  aber 
schwer  zu  handhaben  und  noch  unfertig.  Sie  hat  viel  Ausdrucks- 
fähigkeit, viel  Klang,  wie  wir  an  der  Lyrik  sehen,  die  mit  den 
einfachsten  rhythmischen  Mitteln  große  unmittelbare  Wirkungen 
erzielt.  Ihr  fehlt  die  trockene  Prägnanz  der  romanischen 
Sprachen;  sie  paßt  zu  dem  langsamen,  vielfältigen  Charakter 
des  Deutschen.  Man  sollte  aber  ihre  natürliche  Schwerfällig- 
keit nicht  noch  durch  die  Satzbildung  erhöhen,  sondern,  wie  es 
namentlich  Nietzsches  Streben  war,  möglichste  Klarheit  und 
Schärfe  anstreben,  auf  die  Gefahr  hin,  einigen  korrekten  Um- 
ständlichkeiten entsagen  zu  müssen.  Der  Periode  geht  am  besten 
jeder  aus  dem  Wege,  der  auch  nur  ein  wenig  Neigung  zur  Un- 
klarheit und  Weitschweifigkeit  hat  und  nicht  leicht  mit  sich  zu 
Ende  kommt.  Ein  deutscher  Nebensatz,  das  bedenke  man,  ist  in 
der  Regel  schwerfälliger  als  ein  französischer  oder  lateinischer; 
er  gefährdet  den  ruhigen,  geraden  Gang  des  Gedankens,  hält 
auf,  unterbricht,  während  die  kleinen  Sätzchen  oder  gar  die  In- 
finitiv- und  Partizipialkonstruktionen  des  Griechischen  und 
Lateinischen  ohne  weiteres  mit  unterfließen.  Die  deutschen  Worte 
sind  lang  und  konsonantenreich,  sie  haben  etwas  Haftendes  und 
Zögerndes  an  sich,  das  man  nicht  durch  unnötige  Häufung  noch 
steigern  sollte.     Mehrere  Adjektiva  zu  einem  Substantiv  stellen, 


55 


trster  Teil. 

mehrere  Substantiva  oder  mehrere  Verba  hintereinander  setzen, 
ist  nicht  ratsam,  da  eins  das  andere  beeinträchtigt  und  Begriffs- 
und Bilderklumpen  entstehen,  die  den  Leser  ungebührlich  be- 
schweren. Manchmal  freilich  ist  dergleichen  nicht  zu  vermeiden, 
weil  es  den  deutschen  Worten  an  Bestimmtheit  fehlt.  Wir  haben 
zu  wenig  eindeutige  erschöpfende  Ausdrücke,  an  denen  andere 
Sprachen  so  reich  sind.  Will  man  mit  vollkommener  Klarheit 
etwas  aussprechen,  so  muß  man  einen  Köcher  voll  Wortpfeilen 
verschießen,  von  denen  jeder  ungefähr,  keiner  ganz  trifft.  An 
bildlichen  Wendungen,  die  die  Dinge  veranschaulichen  und  um- 
schreiben, sind  wir  überreich,  aber  an  direkten  Ausdrücken, 
die  sie  nennen,  arm.  Man  legt  den  Finger  auf  einen  Punkt, 
um  ihn  zu  bezeichnen;  wir  ziehen  einen  Kreis  herum,  und  lassen 
ihn  den  Leser  innerhalb  des  Kreises  suchen.  Ich  fürchte,  die 
Bildlichkeit  der  Wendungen  nimmt  noch  zu.  Man  kann  be- 
obachten, wie  einfache  Stammworte  mehr  und  mehr  durch  Um- 
schreibungen, die  freilich  volltönender  sind,  ersetzt  werden. 
Sollte  auch  hier  die  Meinung  zu  gründe  liegen,  daß  Phrasen 
und  Wülste  den  Stil  vornehmer  machen?  Man  will  die  Dinge 
nicht  bei  ihren  kurzen  Namen  nennen,  sondern  durch  schöne 
Worte  aufputzen,  vielleicht,  wie  Schopenhauer  meint,  um  die 
Hohlheit  und  Unwichtigkeit  dessen,  was  man  sagt,  zu  verdecken, 
vielleicht,  wie  Nietzsche  meinen  würde,  um  die  häßliche  Wirk- 
lichkeit zu  idealisieren. 

Schopenhauer  weist  noch  auf  einen  anderen  Fehler:  daß  der 
Deutsche  ungern  nacheinander  sagt,  was  er  zu  sagen  hat,  sondern 
alles  auf  einmal  herausbringen  möchte.  Dieser  Unart  verdankt 
ebenfalls  ein  Teil  der  Perioden  seine  Entstehung.  Da  der  Leser 
immer  nur  einen  Gedanken  auffassen  kann,  wird  er  die  anderen 
überhören,  wenn  man  mehrere  sich  kreuzende  in  einen  Satz 
zwängt,  oder  er  wird  ermüden  bei  der  Arbeit,  sie  auseinander 
häkeln  zu  müssen,  um  jedem  gerecht  zu  werden.  Der  Autor 
kann  ohne  Furcht,  langweilig  zu  werden  oder  der  Logik  zu  nahe 
zu  treten,  die  Gedanken  aufeinander  folgen  lassen,  auch  wenn 
sie  nicht  alle  gleich  wichtig  sind  und  einer  vom  andern  abhängt. 
Er  kann  auch  die  Seitengedanken,  die  die  Entwicklung  nicht 
fördern,  sondern  zur  Erklärung,  Begründung  oder  Erweiterung 

56 


Die  deutsche  Prosa. 


der  Hauptgedanken  dienen,  grammatisch  gleichordnen;  der 
Leser  wird  sie  ohne  Mühe  im  richtigen  Verhältnis  zueinander 
und  zu  den  führenden  Gedanken  empfinden.  Straffheit  des  Stils 
und  Straffheit  der  Gedanken  ist  sehr  wohl  vereinbar  mit  einer 
gelassenen  Ausführung  und  ungezwungenen  Satzbildung,  was 
am  besten  die  antiken  Schriftsteller  beweisen.  Freilich  ist  hierbei 
eins  erforderlich,  was  die  Alten  besaßen  und  wir  Modernen 
häufig  nicht  besitzen:  der  sichere  Blick  für  das  Wesentliche  und 
die  unbedingte  Rücksichtslosigkeit  im  Abstoßen  des  Überflüssigen, 
Ablenkenden.  Man  darf  nicht  alles  geben  wollen,  was  man  hat, 
sondern  muß  auswählen.  Das  gilt  für  den  Erzähler  ebenso  wie 
für  den  Denker  und  Beschreiber.  Ein  paar  Worte  charakteri- 
sieren oft  besser  als  die  genaueste  Ausführung;  denn  auf  die  An- 
regung und  Lenkung  der  Phantasie  und  Denkfähigkeit  des  Lesers 
kommt  doch  alles  an.  Man  soll  ihn  mitschaffen  lassen,  nicht 
jede  Einzelheit  eines  Bildes,  jedes  Beispiel,  jede  Nuance  eines 
Gedankens  ihm  vorwegnehmen.  Solche  überladenen  Darstel- 
lungen haben  nicht  nur  etwas  Schleppendes;  sie  gefährden  auch 
die  Einheitlichkeit  des  Dargestellten.  Der  Leser  wird  verwirrt, 
wenn  man  ihn  zwingt,  eine  Masse  von  kleinen  Zügen  in  ein  Bild 
aufzunehmen  und  sie  miteinander  zu  verknüpfen,  oder  wenn 
man  ihm  jeden  Ausblick  zeigen  will,  den  ein  Gedanke  gewährt: 
auf  seine  Herkunft  und  seine  Folge,  seine  Ergänzungen  und 
Begrenzungen,  seine  Feinde  und  Freunde.  Die  Alten  gaben 
ruhige,  eindrucksvolle  Bilder  und  verzichteten  auf  Nuancen  und 
Seitenblicke,  die  es  stören  konnten.  Sie  liebten  nicht  das  Hin- 
und  Herhüpfen,  das  uns  zur  zweiten  Natur  geworden  ist,  gewiß 
nicht,  weil  wir  reicher,  sondern  weil  wir  unsicherer  und  un- 
ruhiger sind. 

Hiermit  hängt  das  Zitieren  zusammen,  das  nachgerade  zu 
einer  Krankheit  geworden  ist.  Wir  können  kaum  noch  einen 
Gedanken  direkt  sagen,  ohne  Beziehung  auf  irgend  jemand, 
der  denselben  oder  einen  ähnlichen  oder  den  entgegengesetzten 
ausgesprochen  hat.  Der  Autor  läßt  seinen  Blick  nach  allen  Rich- 
tungen umherschweifen,  während  er  spricht,  statt  ihn  fest  auf 
seine  Sache  zu  richten,  und  zwingt  den  Leser,  ein  Gleiches  zu 
tun.    Dessen  Interesse  ist  notwendig  geteilt  zwischen  dem  Reden- 


Horneffer,  Das  klassische  Ideal. 


57 


Erster  Teil. 

den  und  demjenigen,  auf  den  sich  jener  beruft.  Er  will  beide 
verstehen,  einen  durch  den  anderen  kontrollieren,  ihr  Verhältnis 
richtig  abschätzen  und  vergißt  darüber  die  Beurteilung  der  Sache 
selber,  um  die  es  sich  handelt.  Auch  Bilder  und  Wendungen 
werden  bevorzugt,  die  irgend  wann  schon  gebraucht  sind.  Sogar 
die  Büchertitel  sind  oft  Zitate,  z.  B.  Nietzsches  ,, Götzendämme- 
rung". Brocken  aus  allen  Sprachen  werden  hineingemischt. 
Dichterworte  schwirren  durch  die  Luft,  bald  direkt  zitiert,  bald 
nur  angedeutet,  bald  im  eigentlichen  Sinne  gebraucht,  bald  auf 
den  Kopf  gestellt.  Das  nennt  man  heute  den  geistreichen  Stil. 
Er  ist  so  beliebt,  daß  er  dem  oben  beschriebenen  schönen 
Stil  den  Rang  abzulaufen  droht.  Wie  mag  er  entstanden  sein? 
Gewiß  hat  die  Gelehrsamkeit,  die  bei  allem,  was  sie  sagt,  die  ganze 
Vergangenheit  übersieht  und  den  neuen  Ausspruch  in  die  historische 
Reihe  einordnen  will,  großen  Anteil  daran,  auch  die  Abneigung 
sich  mit  fremden  Federn  zu  schmücken,  auch  die  Neigung  mit 
seinen  Kenntnissen  zu  prahlen;  aber  die  Ausartung  des  Zitaten- 
wesens haben  wohl  nicht  die  Gelehrten,  sondern  die  Journalisten 
verschuldet,  die  sich  interessant  machen  wollen.  Bei  Schopenhauer 
wirken  die  Zitate  oft  vorzüglich,  sie  klären  und  vertiefen  wie 
Gleichnisse,  die  er  ebenfalls  mit  so  viel  Glück  gebraucht.  Auch 
hat  der  Autor  Kraft  genug,  den  Leser  nicht  loszulassen;  die  Auf- 
merksamkeit ist  im  Moment  wieder  bei  der  Sache  und  hat  nichts 
von  ihrer  Intensität  eingebüßt.  Mit  den  letzten  Werken  Nietzsches 
steht  es  schon  bedenklicher;  er  agaciert  und  irritiert  den  Leser 
gern  durch  überraschende  Seitensprünge,  Anspielungen  und 
rapide  Wendungen  des  Ausdrucks  und  des  Gedankens.  Doch  ist 
sein  Stil  von  so  überlegener  Kunst,  daß  er,  wenn  auch  nicht  vor- 
bildlich, doch  aufs  höchste  zu  bewundern  ist.  Aber  man  ahmt  ihn 
allenthalben  nach  und  hält  sich,  wie  es  zu  geschehen  pflegt,  an  seine 
Schwächen,  nicht  an  seine  Stärken.  Jeder  beliebige  glaubt  ein 
Recht  auf  dieselben  und  auf  noch  größere  Kühnheiten  zu  haben,  als 
Nietzsche  sich  erlaubte.  Leute,  die  auf  Anstand  halten  sollten, 
geberden  sich  wie  Betrunkene  oder  wie  journalistische  Harlekins, 
denen  man  im  Ernst  nicht  gram  sein  kann.  Denn  es  ist  ja  das  Ge- 
werbe des  Journalisten,  zu  unterhalten  und  zu  fesseln,  durch  welche 
Bagatelle  es  auch  sei;  da  kann  er  in  den  Mitteln  nicht  wählerisch 

58 


Die  deutsche  Prosa. 


sein  und  muß  nach  allem  greifen,  was  seinem  Geschreibsel  einen 
angenehm  prickelnden  Geschmack  von  Geist  und  Überlegenheit 
verleihen  kann.  Aber  was  soll  man  sagen,  wenn  wirkliche 
Schriftsteller  darauf  auszugehen  scheinen,  die  Nerven  des  Lesers 
zu  reizen.  Flimmern  vor  seinen  Augen,  Unruhe  in  seinen  Gliedern 
zu  erregen!  Muß  wirklich  alles,  was  dem  Autor  einfällt,  in 
seinem  Elaborat  vorkommen?  Muß  das  Thema  unter  bunt- 
scheckigem Beiwerk  und  gehäuften  Anspielungen  begraben 
werden.?  Und  wäre  es  noch  ein  Barockstil  von  der  respektablen 
Art,  wie  er  früher  zuweilen  geschrieben  wurde!  Aber  das  ist  er 
nicht.  Er  ist  einfach  Unverständnis  oder  ist  verwerfliche  Zucht- 
losigkeit.  Diese  Geistreichen  lieben  in  der  Regel  die  Periode 
nicht,  vielmehr  das  Gegenteil.  Sie  gefallen  sich  in  kurzen, 
achtlos  hingeworfenen  Sätzen,  in  Satztrümmern,  in  einzelnen 
Worten,  ja  in  Gedankenstrichen,  Punkten  und  Ausrufungszeichen. 
Die  Grammatik  wird  mit  derselben  Geringschätzung  behandelt 
wie  der  Gedankengang.  Das  Traurige  aber  an  dem  allen  ist 
nicht  nur,  daß  begabte  Männer  durch  ein  falsches  Ideal  verleitet 
schlechte  Schriften  produzieren,  sondern  daß  durch  dies  Treiben 
dem  deutschen  Stil  überhaupt  Verderb  und  Ruin  droht,  ehe  er 
sich  noch  hat  entfalten  können. 

Man  muß  sich  einmal  die  Frage  vorlegen:  was  will  der  Schrei- 
bende? Zu  welchem  Zweck  schreibt  er?  Offenbar  um  etwas 
mitzuteilen,  sei  es  eine  Begebenheit  oder  eine  Situation,  einen 
Gedanken  oder  ein  Gefühl.  Der  Lesende  soll  etwas  erfahren, 
muß  also  vor  allen  Dingen  verstehen,  was  der  Schreibende  sagt. 
Der  Vorgang  ist  ein  wesentlich  intellektualer.  V^ill  der  Autor 
Gefühle  in  dem  Leser  erwecken,  so  kann  er  dies  auch  nur  durch 
das  Medium  des  Intellekts  tun,  nicht  direkt.  Der  Redner  und 
der  Schauspieler  sind  besser  daran  als  er;  sie  wirken  nicht  bloß 
durch  den  Inhalt  ihres  Vortrags,  sondern  auch  unmittelbar  durch 
Klang  und  Modulierung  des  Organs,  durch  Geberden  und  Gesten, 
also  durch  Hilfsmittel,  die  dem  Schriftsteller  versagt  sind.  Freilich 
ist  das  Schriftstück  ursprünglich  dazu  bestimmt,  laut  gelesen 
zu  werden.  Aber  erstens  stehen  dem  Vorleser  jene  Mittel  in 
viel  geringerem  Grade  zu  Gebote,  denn  Vorlesen  ist  abgeschwächtes 
Vortragen;  zweitens  ist  das  Lautlesen  heute  fast  ganz  abgeschafft. 


59 


Erster  Teil. 

Der  Schriftsteller  wirkt  nur  noch  durch  tote  Buchstaben,  die 
vom  Auge  und  vom  kombinierenden  Verstand  aufgefaßt  und  in 
Begriffe,  Bilder  und  schließlich  in  Gefühle  umgesetzt  werden. 
Nietzsche  hat  den  Verfall  des  Rezitierens,  das  im  Altertum  die 
Regel  war,  sehr  beklagt  und  den  Mangel  an  Stilgefühl  haupt- 
sächlich daher  geleitet,  daß  nur  noch  für  das  Auge,  nicht  mehr 
für  das  Ohr  geschrieben  würde.  Man  wird  ihm  nicht  ganz 
Unrecht  geben  können  und  wird  der  Kunst  des  Vorlesens  und 
Vorlesenhörens  allen  möglichen  Vorschub  leisten.  Doch  ist  im 
ganzen  wohl  nicht  viel  zu  ändern.  Wir  müssen  uns  mit  der 
Tatsache  abfinden,  daß  der  heutige  Leser  mit  den  Augen  und 
den  geistigen  Ohren  liest,  und  darauf  vertrauen,  daß  der  innere 
Gehörsinn  ebenfalls  ästhetisch  ausgebildet  werden  kann.  In  der 
Tat  urteilen  wir  heute  schon  viel  sicherer  über  den  künstlerischen 
Wert  eines  Prosawerkes,  vielleicht  auch  eines  lyrischen,  eines 
dramatischen  oder  musikalischen  Erzeugnisses,  wenn  wir  es 
für  uns  lesen,  als  wenn  wir  es  vortragen  hören.  Gewohnheit  ist 
eben  doch  eine  große  künstlerische  Bildnerin.  Mir  scheint,  die 
Anforderungen  an  den  guten  Schriftsteller  sind  höhere,  wenn 
er  nicht  auf  die  Unterstützung  des  Vortragenden  rechnen  kann. 
Er  muß  noch  fester  die  erste  und  oberste  Pflicht,  die  sein  Hand- 
werk ihm  auferlegt,  im  Auge  behalten:  absolute  Deutlichkeit 
und  Verständlichkeit.  Der  Leser  hat  zwar  die  Möglichkeit,  einer 
unklaren  Stelle  mehr  Aufmerksamkeit  zu  widmen  und  das  Tempo 
der  Lektüre  beliebig  zu  variieren,  während  der  Hörer  ohne 
Aufenthalt  vorwärts  geführt  wird;  aber  der  Leser  wandelt  doch 
nur  unter  Schatten,  die  er  sich  selber  zu  plastischen  Gestalten 
beleben  soll.  Er  muß  den  Vortrag  mitdenken,  muß  den  Ton, 
das  Tempo,  die  Schwere  jedes  Satzes,  jedes  Trennungszeichens 
richtig  empfinden,  um  das  Gelesene  zu  verstehen.  Er  braucht 
daher  eine  energischere  Unterstützung  durch  den  Autor,  als  wenn 
ein  Vortragender  vermittelnd  zwischen  beide  tritt. 

Der  Autor  will  etwas  mitteilen,  sagten  wir.  Tut  er  dies  in  an- 
gemessener Weise,  so  ist  er  Künstler.  Der  ästhetische  Wert  einer 
prosaischen  Aufzeichnung  liegt  in  der  sachlichen  Vollkommenheit 
des  Ausdrucks.  Wer  sich  so  ausdrückt,  daß  er  erstens  alles,  was 
er  sagen  will,  klar  und  restlos  sagt  und  sich  nicht  mit  Stammeln 

60 


Die  deutsche  Prosa. 


und  Andeuten  begnügt,  wer  zweitens  das  zeitliche,  logische  und 
Wertverhältnis  der  einzelnen  Teile  seiner  Äußerung  zueinander 
richtig  darstellt  und  aufzeigt,  hat  Anspruch  auf  den  Titel  eines 
guten  Schriftstellers.  Hierbei  ist  von  selbst  eingeschlossen,  was 
man  gewöhnlich  für  die  ästhetische  Beurteilung  allein  in  Rech- 
nung bringt,  ob  der  Autor  die  beste,  für  den  Leser  zugänglichste 
Form  gewählt  oder  es  ihm  schwer  gemacht  hat,  also  ob  er  die  be- 
zeichnendsten Ausdrücke  gefunden  und  die  vollkommensten  Sätze 
gebildet  hat.  Ja,  wenn  man  den  Begriff  der  sachlichen  Vollendung 
tief  genug  nimmt,  sind  auch  jene  rein  formalen  Mittel  eingeschlos- 
sen, über  deren  Wert  die  Alten  so  gut  Bescheid  wußten :  die  Auf- 
merksamkeit auf  klangliche  Wirkungen,  die  Wahl  der  Worte 
in  Rücksicht  auf  ihre  Dynamik,  auf  Abstufung  der  Vokale,  auf 
Hiatus  usw.;  ferner  die  Einheitlichkeit  in  Ton  und  Tempo  durch 
harmonische  Bildung  der  Sätze,  durch  geschickte  Nacheinander- 
ordnung  usw.;  schließlich  die  Belebung  durch  Fragen,  Antithesen 
und  andere  rhetorische  Figuren.  Sie  alle  dienen,  richtig  benutzt, 
der  Sache,  die  der  Autor  mitteilt.  Wie  weit  der  gute  Schrift- 
steller im  Gebrauch  derartiger  Mittel  geht,  hängt  von  Geschmack 
und  Neigung  seiner  Zeit  und  seiner  selbst  ab.  Hat  er  ein  Publikum 
wie  das  griechische  im  dritten  und  vierten  Jahrhundert  vor  sich, 
so  muß  er  den  höchsten  Ansprüchen  an  die  Kunst  der  Darstel- 
lung genügen,  um  den  Namen  eines  guten  Schriftstellers  zu 
verdienen,  wobei  es  wenig  ausmachte,  ob  sein  Thema  ein  künstle- 
risches oder  wissenschaftliches  oder  praktisches  war.  Schreibt 
er  heute,  so  muß  er  sich  klar  darüber  sein,  daß  seinen  Lesern 
ein  auch  nur  mäßiger  Grad  formaler  Kunst  überflüssig  er- 
scheint und  Zweifel  an  seinem  Ernst  und  seiner  Gründlichkeit 
rege  macht.  Die  Meinung  geht  dahin,  daß  wohl  ein  Roman- 
schreiber ein  wenig  Acht  auf  seinen  Stil  zu  geben  habe,  daß  für 
einen  anderen  Schriftsteller  aber,  der  etwa  eine  fachmännische 
Arbeit  veröffentliche,  eine  gute  Darstellung  belanglos  oder  gar 
hinderlich  sei.  Denn  wozu  ?  Ein  Fachmann  ist  doch  kein  Vir- 
tuose! Nein,  gewiß  nicht;  aber  man  irrt  sich,  wenn  man  meint, 
es  sei  eine  klare  und  erfreuliche  Darstellung  ohne  formale  Qua- 
litäten denkbar. 

Erinnern  wir  uns,  um  uns  das  Muster  eines  guten  Prosaikers 


6i 


Erster  Teil. 

vor  Augen  zu  führen,  etwa  an  Julius  Caesar;  ich  meine  jenen 
Caesar,  den  man,  da  er  für  Tertia  geschrieben  hat,  als  Sekun- 
daner und  Primaner  bereits  unter  sich  sieht.  Caesars  Kommen- 
tare haben,  wie  jedermann  weiß,  einen  rein  sachlichen  Zweck. 
Es  sind  kurze  Notierungen  seiner  Taten  und  Erlebnisse,  nieder- 
geschrieben einmal  aus  politischen  Gründen,  zweitens  in  der  aus- 
gesprochenen Absicht,  die  Einzelheiten  nur  eben  festzuhalten 
und  einer  späteren  ausführlicheren  Beschreibung  seiner  Kriege 
die  Unterlage  zu  geben.  Die  Bedingungen  also  für  ein  formal 
reizvolles  Buch  sind  so  ungünstig  wie  möglich.  Und  doch  ist 
ein  ästhetisches  Meisterwerk  entstanden;  warum?  Weil  der 
künstlerische  Takt,  den  der  Schriftsteller  und  seine  Zeit  besaßen, 
von  selber  dazu  führte,  einen  vollkommen  beherrschten  Stoff 
auf  angemessene  Weise  zur  Darstellung  zu  bringen.  So  erreicht 
Caesar  bei  aller  Knappheit  eine  Anschaulichkeit  der  Schilderung, 
die  man  an  blühenden  Berichten  neuerer  Historiker  nicht  selten 
vermißt.  Er  weiß  das  Wesentliche  und  Unwesentliche  gegen- 
einander abzuwägen,  Licht  und  Schatten  zu  verteilen,  die  ein- 
zelnen Figuren  seiner  Bilder  richtig  zu  gruppieren;  weshalb 
modernen  Erzählern  zu  empfehlen  wäre,  ihn  unablässig  zu  stu- 
dieren. Er  beherrscht  die  Kunst,  das  Interesse  wach  zu  halten, 
durch  Abwechslung  und  Steigerung,  durch  rasche  Fortführung 
und  geschickte  Zögerungen.  Und  er  bleibt  bei  alledem  natürlich 
und  sachlich.  Ebenso  könnte  man  die  Meisterschaft  im  sprach- 
lichen Ausdruck  nachweisen.  Jeder  Satz  ist  kristallen  im  Bau, 
sicher  im  Ton,  bei  aller  Kürze  ohne  Manier.  Man  sucht  ver- 
gebens nach  Härten,  über  die  man  bei  neueren  Prosaikern  zu 
stolpern  gewohnt  ist;  man  findet  nichts,  was  herausfällt,  was  zu 
lang  oder  zu  kurz  ist.  Man  hat  den  reinsten  Genuß  und  verliert 
doch  keinen  Augenblick  das  Bewußtsein,  Kriegsnotizen  zu  lesen, 
die  sich  so  anspruchslos  geben,  wie  es  für  Notizen  sich  gehört.  — 
Einen  modernen  Autor  zum  Vergleich  heranzuziehen,  wird  nicht 
nötig  sein.  Jeder  von  uns  mag  seine  eignen  Schriften  einer 
Musterung  unterziehen,  um  über  ihre  Vorzüge  oder  Schwächen  im 
Verhältnis  zu  dem  Tertianerschriftsteller  ins  klare  zu  kommen. 
So  nötig  und  förderlich  aber  das  Studium  großer  Stilisten 
des  Altertums  und  Frankreichs  (gewiß  auch  Englands)  ist,  eine 

62 


Die  deutsche  Prosa. 


genaue  Kenntnis  der  deutschen  Prosa  wird  dadurch  nicht  ent- 
behrlich. Denn  fremdländischen  Werken  lassen  sich  wohl  die 
allgemeinen  Gesetze  des  Stils  entnehmen;  aber  sie  können  nicht 
über  Einzelheiten  der  Schreibweise  in  einer  anderen  Sprache, 
über  Satzbildung,  Wortschatz  usw.  belehren.  Der  Schriftsteller 
muß  sein  Material  kennen  lernen  und  in  die  Tradition  als  Glied 
eintreten.  Es  kann  nur  zu  dilettantischer  Unnatur  führen,  wenn 
man  die  bisherige  Entwicklung  der  deutschen  Prosa  verleugnen 
und  gleichsam  neu  anfangen  wollte.  Man  kann  auch  nicht 
einzelne  Stadien  einer  Entwicklung  überspringen;  nur  natür- 
liches Vorwärtsgehen  kann  uns  wirklich  vorwärts  bringen.  Es 
gilt  deshalb,  die  Tradition  fest  und  stetig  zu  machen,  nicht  sie 
abzubrechen.  Je  sicherer  sie  ist  und  je  tiefer  sie  geht,  desto  weiter 
kann  der  einzelne,  auf  sie  sich  stützend,  kommen,  während  heute 
nur  hervorragende  Begabung  für  Prosa  mit  Hilfe  glücklicher 
Bildungsumstände  die  Hindernisse  bewältigen  kann.  Es  nützt 
uns  nicht  viel,  daß  in  anderthalb  Jahrhunderten  vier,  fünf  Deut- 
sche zu  einem  leidlichen  Stil  gelangt  sind,  wenn  das  Niveau 
der  deutschen  Schriftsteller  hinter  den  geringsten  Ansprüchen 
zurückbleibt,  die  man  an  die  Ausdrucksweise  stellen  muß.  Ge- 
rade diejenigen,  die  durch  ihren  Stoff  und  ihre  Persönlichkeit 
wenig  einnehmen  können,  sollten  anständig  und  gefällig  schreiben 
lernen,  sowie  man  in  der  Gesellschaft  von  einseitigen  oder 
hohlen  Menschen  besonders  gute  äußere  Formen  erwartet,  die 
das  innere    Manko  ausgleichen  können. 

Ich  bin  deshalb  der  Meinung,  daß  allen,  die  auf  ihre  Bildung 
bedacht  sind,  Gelegenheit  geboten  werden  müßte,  Schreibunter- 
richt zu  nehmen.  Es  wird  heute  so  vieles  gelernt,  was  nur  die 
Kenntnisse  und  die  Einbildung  vermehrt;  warum  nicht  lieber 
etwas,  das  der  Zucht  des  Geistes  zugute  kommt,  das  ihm  Herr- 
schaft über  sich  selbst  und  Sicherheit  nach  außen  und  innen  gibt! 
Eine  geistige  Schulung,  die  der  leiblichen  des  Soldaten  entspricht, 
fehlt  uns  vollständig.  Daß  sie  nötig  ist,  kann  niemandem  zweifel- 
haft sein,  der  einen  klaren  Begriff  von  Kultur  hat.  Das  Schreiben- 
lernen wäre  aber  ein  wichtiges  Moment  dieser  Schulung  und 
würde  ähnliche  Früchte  tragen,  wie  das  Studium  der  Redekunst 
im  Altertum  getragen  hat.     Man  wird  mir  nicht  einwenden  wollen, 


63 


Erster  Teil. 

daß  auf  unseren  Gymnasien,  Realgymnasien  und  anderen  Schulen 
die  Kunst  deutsch  zu  schreiben  hinreichend  gelehrt  würde. 
Erstens  ist  das  Prinzip,  das  dort  für  die  Stilübungen  meist  be- 
stimmend ist,  ein  falsches,  worauf  Nietzsche  schon  vor  30  Jahren 
hingewiesen  hat.  Es  handelt  sich  nicht  darum,  die  Schüler 
,, anzuregen"  und  unreife  Gedanken  über  Gegenstände  aus  ihnen 
heraus  zu  locken,  die  in  der  Regel  weit  über  ihren  Horizont  hinaus 
gehen;  wodurch  nur  der  allgemeine  literarische  Dünkel  größer 
wird,  der  unserem  Zeitalter  eigen  ist.  Sondern  es  handelt  sich 
darum,  daß  die  Schüler  lernen,  einfache  gegebene  Dinge,  die 
sie  vollständig  beherrschen,  richtig  und  anständig  auszudrücken. 
Man  tut,  als  wolle  man  Journalisten  ausbilden  und  nicht  Men- 
schen, die  gute  Manieren  haben,  weil  sie  in  geistiger  Zucht 
gewesen  sind,  und  Bescheidenheit  haben,  weil  sie  von  den  Schwie- 
rigkeiten der  Kunst  des  Schreibens  einen  Begriff  bekommen 
haben.  Auch  wenn  aber  die  Stilanleitung  auf  den  Schulen  eine 
bessere  werden  sollte,  kann  sie  doch  nur  den  Boden  bereiten 
für  den  Unterricht  im  reiferen  Lebensalter.  Sie  ist  Elementar- 
unterricht, der  unentbehrlich,  aber  nicht  ausreichend  ist.  Erst 
der  Erwachsene  ist  imstande,  sich  wirkliche  Bildung  anzueignen, 
formale  wie  materiale,  geistige  wie  leibliche.  Ich  meine,  es 
müßten  an  jeder  Universität  und  anderen  Hochschule  Schreib- 
übungen (und  dazu  auch  rhetorische  Übungen)  abgehalten 
werden.  Dieselben  sollen  nicht  ästhetische  Ergüsse  der  Lernenden 
zutage  fördern,  sondern  jeden  geschickt  machen,  an  seiner  Stelle 
als  Kulturmensch  zu  leben  und  zu  wirken.  Demnach  würde 
das  Ziel  sein,  das  der  Schüler  anzustreben  hätte:  eine  künstle- 
rische Persönlichkeit  in  seinen  schriftlichen  Mitteilungen  auf 
natürliche  Weise  zur  Erscheinung  zu  bringen,  mögen  diese  Mit- 
teilungen ihrem  Stoff  nach  sein,  welche  sie  wollen.  Man  sieht 
leicht  ein,  daß  dies  nicht  durch  Theorie  oder  durch  das  bloße 
Studium  guter  Schriftsteller  erreicht  werden  kann,  sondern  daß 
ein  wirklicher  Unterricht  wünschenswert  ist.  Die  Regeln  kennen 
ist  wenig;  sie  anwenden  ist  alles.  Darum  ist  sowohl  Übung  wie 
Unterstützung  durch  einen  Lehrer  nötig.  Er  sieht  Fehler  des  ein- 
zelnen und  zerstört  rechtzeitig  Irrtümer,  die  beim  Selbststudium 
so  leicht  sich  festsetzen.  Sein  Verdienst  wird  wie  bei  jedem  höheren 

64 


Die  deutsche  Prosa. 


Unterricht  in  der  Hauptsache  ein  negatives  sein;  denn  das  Po- 
sitive muß  der  Lernende  geben.  Außerdem  kennzeichnet  sich 
ja  der  gute  Stil  wie  das  gute  Betragen  mehr  dadurch,  was  man 
vermeidet  als  was  man  tut,  weshalb  Bücher  über  das  Schreiben 
und  Reden  oft  so  viel  Theoretisches  und  so  wenig  Besonderes 
zu  sagen  wissen,  das  für  die  Praxis  wertvoll  und  dem  Lernenden 
gerade  in  schwierigen  Fällen  hilfreich  wäre. 

Die  Unterrichtswege,  die  bei  solchen  Übungen  etwa  einzu- 
schlagen sind,  und  die  Unterrichtsmittel,  die  für  sie  etwa  zur 
Verfügung  stehen,  will  ich  ein  andermal  zu  beschreiben  versuchen. 
Die  Schwierigkeit  liegt,  wie  jeder  sieht,  nicht  in  ihnen,  sondern 
in  dem  Mangel  an  Lehrern.  Wir  haben  zwar  Sprachgelehrte 
und  Literarhistoriker,  aber  Sprech-  und  Schreiblehrer  zu  ent- 
decken wird  schwer  halten.  Vielleicht  richtet  man  zunächst 
einmal  einige  Aufmerksamkeit  auf  die  Verbreitung  dieser  Art 
Mensch  und  sucht  ihre  Wachstumsbedingungen  zu  erleichtern, 
die  äußerlich  und  innerlich  recht  ungünstige  sind.  Weshalb 
äußerlich,  ist  ohnehin  klar;  innerlich  aber  deshalb,  weil  sie  sich 
ihr  Bildungsmaterial  mit  großer  Mühe  zusammensuchen  und 
einen  ungewöhnlich  sicheren  Takt  haben  müssen,  um  nicht  alle 
die  Fehler  zu  begehen,  denen  Weg-  und  Richtungsuchende  zu 
erliegen  pflegen.  Wir  sehen  ja,  auf  wie  falschen  Wegen  manche 
heutigen  Schriftsteller  gehen,  die  es  sehr  ernst  nehmen,  wie  sie 
geistreich  sein  wollen  statt  wahr  und  anständig,  wie  sie  an 
Äußerlichkeiten  hängen  bleiben,  statt  auf  die  Sache  selber  zu 
kommen.  Hierfür  erlaube  man  mir  noch  einige  Beispiele  anzu- 
führen. Mir  scheint,  daß  man  die  Forderungen  des  Stils  hier 
und  da  ganz  verkehrt  auffaßt  und  ihre  Verwirklichung  auf  falschem 
Wege  sucht. 

Die  Sprache  ist  das  Material  des  Schriftstellers,  das  er  be- 
herrschen muß,  um  mit  ihm  frei  schalten  zu  können.  Er  muß 
ihr  daher  Sorgfalt  und  Studium  widmen,  wie  jeder  Künstler 
seinem  Material  zu  widmen  hat.  Aber  er  darf  darüber  nicht 
zum  Sprachphilologen  und  zum  Schulmeister  werden.  Gewiß 
soll  man  korrekt  schreiben  und  die  sprachlichen  und  gramma- 
tischen Gesetze  respektieren,  aber  man  soll  nicht  meinen,  durch 
Korrektheit  eine  deutsche  Prosa  erzeugen  oder  auch  nur  etwas 


65 


Erster  Teil. 

Wesentliches  für  sie  tun  zu  können.  Ich  kenne  Leute,  die  un- 
geheuer korrekt  und  doch  jedem  Sprachgefühl  hohnsprechend, 
also  im  eigentlichen  Sinne  falsch  schreiben.  Überdies,  wo  ist 
der  Kanon?  Die  deutsche  Grammatik  und  der  deutsche  Wort- 
schatz sind  nicht  fest  und  fertig,  sondern  in  beständigem  Flusse 
begriffen.  Das  mag  man  beklagen  und  die  Lateiner  oder  Fran- 
zosen um  ihre  im  ganzen  unveränderliche  Sprache  beneiden, 
aber  ändern  wird  man  nichts  daran.  Machtsprüche,  die  Sprache 
solle  so  bleiben,  wie  sie  jetzt  ist,  oder  wie  sie  Goethe  fixiert  hat, 
haben  wohl  kaum  Erfolg.  So  will  man  denn  wenigstens  die 
Fortentwicklung  zugunsten  der  Logik  und  des  grammatischen 
Formenreichtums  beeinflussen.  Man  ist  ungehalten,  daß  Nach- 
lässigkeiten, Mißverständnisse  und  andere  wenig  einsichtige 
Mächte  sich  mit  einem  so  herrlichen,  fein  erdachten  Dinge  wie 
die  Sprache  zu  tun  machen.  Aber  es  war  nie  anders,  wie  die 
Geschichte  der  deutschen  Sprache  auf  den  ersten  Blick  zeigt. 
Von  jeher  sind  Formen  und  Wendungen  ungebräuchlich  geworden, 
falsche  Analogien  gebildet  worden  und  wichtige  Wortendungen 
durch  Nachlässigkeit  verloren  gegangen,  nicht  erst,  wie  Schopen- 
hauer zu  meinen  scheint,  in  seinem  geschmähten  Zeitalter. 
Goethes  Sprache  ist  doch  nur  eine  Stufe  der  Entwicklung,  nichts 
Gegebenes  und  Endgültiges.  Manche  seiner  Spracheigentüm- 
lichkeiten sind  heute  schon  veraltet;  sie  erhalten  zu  wollen  scheint 
mir  nichts  anderes  als  eine  schulmeisterliche  Schrulle  zu  sein, 
die  man  einem  großen  Manne  gern  nachsieht,  ohne  sie  jedoch 
mitzumachen.  Je  mehr  das  Verständnis  für  die  Sprache  wächst 
und  allgemeiner  wird,  desto  geringer  mag  ja  der  Einfluß  der 
Dummheit  und  des  Zufalls  auf  ihre  Weiterentwicklung  werden. 
Wir  wollen  es  wünschen,  und  jeder  mag  an  seinem  Teile  mit- 
wirken, daß  Sprachfehler  unterbleiben  oder  sich  nicht  durchsetzen. 
Ähnlich  steht  es  mit  der  Bildung  neuer  Worte,  wofür  die 
Deutschen  eine  besondere  Vorliebe  haben.  Es  ist  ohne  Zweifel 
anmaßend  und  lächerlich,  daß  jeder  sich  das  Recht  nimmt, 
Worte  zu  erfinden  oder  neu  zusammenzusetzen,  während  er 
viele  vorhandene  nicht  kennt  und  sie  voll  auszunutzen  nicht 
imstande  ist.  Nur  wenn  er  etwas  so  Neues  zu  sagen  hat,  daß 
der  Wortschatz  nicht  ausreicht,  darf  er  Neubildungen  versuchen 

66 


Die  deutsche  Prosa. 


und  wird  dies  instinktiv  als  ein  wirklicher  Sprachschöpfer  tun. 
Andererseits  ist  man,  fürchte  ich,  im  Irrtum,  wenn  man  meint, 
die  Worte,  die  sich  darbieten,  daraufhin  prüfen  zu  müssen,  wann, 
von  wem  und  ob  sie  logisch  und  wohllautend  gebildet  sind. 
Nietzsche  ereiferte  sich  z.  B.  über  das  Wort  ,, selbstverständlich". 
Nachdem  es  sich  aber  eingebürgert  hat,  kann  ich  nur  Pedanterie 
darin  sehen,  wenn  jemand  es  grundsätzlich  vermeidet.  Daß 
Journalisten  viele  moderne  und  häßliche  Worte  auf  dem  Ge- 
wissen haben,  ist  wohl  richtig.  Das  einzig  wirksame  Mittel 
aber,  dem  zu  steuern,  scheint  mir  zu  sein,  daß  man  für  eine  bessere 
allgemeine  Stilbildung  sorgt.  Warum  lassen  sich  auch  höher 
gebildete  Kreise  vom  Pöbel  ins  Schlepptau  nehmen  und  wenden 
selber  ihr  Interesse,  wenn  sie  es  überhaupt  für  den  Stil  haben, 
Nebensachen  zu,  statt  Verständnis  für  die  wichtigen  Fragen  zu 
bekunden!  Zu  den  wichtigen  Fragen  aber  gehört  es,  wie  die  Dinge 
liegen,  nicht,  ob  man  irgend  ein  Wort  brauchen  oder  vermeiden 
soll,  auch  nicht,  ob  man  Lücken  in  der  Schriftsprache  durch  neue 
oder  aus  den  Dialekten  herübergenommene  Worte  ausfüllen 
oder  die  Sprache  möglichst  rein  erhalten  soll.  Über  Verfeinerung 
und  Bereicherung  des  Materials  nachzudenken,  und  am  besten 
nur  auf  Grund  eines  sachgemäßen  Studiums  nachzudenken,  hat 
allein  der  ein  Recht,  der  das  Vorhandene  zu  verwerten  weiß.  Auch 
ist  es  kein  Geheimnis,  daß  man  mit  einem  reichen  Material  ein 
Stümper   und   mit   einem   geringen   ein    Künstler   sein    kann. 

Dann  kommt  der  Purist  mit  seinen  Forderungen,  von  deren 
Erfüllung  alles  Heil  abhängen  soll.  Es  kann  aber  jemand,  der 
allen  Fremdworten  aus  dem  Wege  geht,  trotzdem  einen  elenden 
Stil  schreiben.  Gewiß  ist  es  nicht  gut,  deutsche  Ausdrücke  zugunsten 
fremder  zu  vergessen,  wenn  die  letzteren  nur  den  Vorzug  haben, 
großartiger  zu  klingen.  Unsere  Sprache  ist  aber  immer  noch  arm 
an  Ausdrücken,  die  höheren  Bedürfnissen  dienen;  unsere  Vor- 
eltern haben  für  sie  zu  wenig  und  für  fremde  Sprachen  zu 
viel  getan.  Wir  sind  jetzt  auf  einem  besseren  Wege  und  man 
wird  das  Streben  begrüßen,  ausländische  Worte  allmählich  ent- 
behrlich zu  machen,  indem  man  sie  durch  deutsche  ersetzt.  Das 
wird  unter  Umständen  sogar  die  Kraft  des  Ausdrucks  günstig  beein- 
flussen.   Schädlich  aber  werden  die  Übertreibungen  des  Purismus; 


67 


Erster  Teil. 

sie  gehen  heute  mitunter  bis  zur  Tollheit.  Schopenhauer  weist 
mit  Recht  auf  die  üblen  Folgen  hin,  die  das  Verdeutschen  der 
technischen  Ausdrücke  für  die  Klarheit  und  Einfachheit  haben 
kann.  Die  deutsche  Sprache  neigt  an  sich  zur  Unklarheit  und 
macht  Schwierigkeiten,  wenn  man  unzweideutige  Begriffe  in 
ihr  ausdrücken  will.  Tilgt  man  nun  noch,  ohne  Vorsicht  und 
Maß,  die  seit  langem  geprägten,  oft  allgemein  europäischen 
Kunstausdrücke  und  setzt  neugebildete  deutsche  Worte  unserer 
Sprachreiniger  an  ihre  Stelle,  so  entsteht  ein  Dunstmeer,  in  dem 
der  Leser  rettungslos  umhertappt.  Man  hüte  sich  vor  dem 
schlüpfrigen  wenn  auch  verlockenden  Gebiet  der  Wortbildnerei 
und  strebe  im  Gegenteil  danach,  seine  Sache  mit  den  bekanntesten 
Worten  in  ihrer  üblichen  Bedeutung  vorzutragen,  mögen  diese 
Worte  nun  stammen,  woher  sie  wollen.  Man  wird  erstaunen, 
wie  klar,  wie  vollständig,  wie  original  man  sich  trotzdem  oder 
vielmehr  infolgedessen  ausdrücken  kann.  Manches  mag  ja 
unscheinbar  klingen  und  Ungebildeten  alltäglich  vorkommen, 
auch  wenn  es  durchaus  nicht  alltäglich  ist.  Besser  aber,  seines 
guten  Geschmacks  wegen  übersehen,  als  seines  Ungeschmacks 
wegen  gerühmt  zu  werden. 

Und  schließlich  will  man  gar  unserer  Prosa  von  der  Seite 
der  Orthographie  und  Interpunktion  her  zu  Hilfe  kommen. 
Man  streitet,  verhandelt  und  denkt  über  diese  Fragen  nach, 
als  ob  es  Kernfragen  wären.  Welch  schiefe  Bildung,  welch 
Unverständnis  für  das,  was  not  tut,  verrät  sich  darin!  Eine  ge- 
wisse relative  Bedeutung  mögen  ja  auch  diese  Dinge  haben, 
aber  man  kann  doch  mit  dergleichen  Lappalien  nicht  den  Anfang 
machen  wollen.  Man  spricht  von  der  Logik  und  Konsequenz, 
die  unserer  Orthographie  und  Interpunktion  fehlten  und  die  man 
ihnen  verschaffen  müßte,  sieht  aber  nicht,  daß,  wenn  sie  von 
Logik  strotzen,  der  Stil  trotzdem  von  Barbarei  strotzen  kann; 
wofür  wir  doch  Beispiele  haben,  die  abschreckend  wirken  sollten, 
aber  auf  Dilettanten  besondere  Anziehung  auszuüben  scheinen. 
Wie  gleichgültig  ist  es  im  Grunde,  ob  man  ein  Wort  so  oder  so 
schreibt,  wenn  man  es  richtig  anwendet!  Wie  nebensächlich, 
ob  man  diese  oder  jene  Interpunktionszeichen  bevorzugt,  wenn 
man  seine  Sätze  richtig  bildet!    Für  die  Interpunktion  im  ganzen 

68 


Die  deutsche  Prosa. 


läßt  sich  ja  dies  und  jenes  anführen.     Sie  kann  die  Klarheit  des 
Inhalts  heben    und  ist  ja  eingeführt  worden,  um  dem  Leser  die 
Übersicht  über  die  Beziehungen  der  Sätze  und  Satzteile  zuein- 
ander zu  erleichtern.      Man  soll  aber  nicht  zu  weit  gehen  und 
verlangen,  daß  das  Verhältnis  der  Sätze  bis  zur  feinsten  Nuance 
in  der   Interpunktion  zum   Ausdruck  komme.     Gewiß    hat  ein 
Komma  an  der  einen  Stelle  eine  wesentlich  andere  Bedeutung 
als  an  einer  anderen;  es  verbindet  hier,  trennt  dort,  ist  dort  nach- 
drücklich,  hier  ganz  leicht.     Ebenso  variiert  die   Schwere  des 
Punktes  erheblich.    Aber  will  man  noch  mehr  Zeichen  einführen, 
oder  soll  das  Lieblingszeichen  der  geistreichen  Schriftsteller,  der 
Gedankenstrich,   für  die  Lücken  einstehen?     Das   Streben  geht 
heute    dahin,    dem    Empfangenden    oder    Reproduzierenden    so 
wenig  Freiheit  wie  möglich  zu  lassen.    Dem  Schauspieler  möchte 
man   Vorschriften   für   jedes  Wort,   für  jeden   Schritt  machen; 
ebenso  nehmen  in  der    Musik  die  Vortragsbezeichnungen  über- 
hand.     Ich   glaube,    der   Verfasser   setzt  zu  wenig  Verständnis 
voraus,  oder  aber  er  will  die  Mängel  seiner  Schöpfung  verdecken 
und  nachträglich  gut  machen,  indem  er  durch  äußere  Hinweise 
dem  Verständnis  nachhilft.     Ist  seine   Schöpfung  gelungen,   in 
sich  fertig  und  ist  sie  außerdem  das  Produkt  einer  geraden,  richtig 
empfindenden  Seele,  so  braucht  er  sich  um  den  Vortrag  nicht 
viel  Sorge  zu  machen.  Die  Alten  lasen  ganz  ohne  Interpunktion; 
sie  hatten  sie  nicht  nötig,  weil  sie  natürlich  schrieben  und  ihre 
Leser   natürlich   dachten  und   fühlten.     Wenn   der  Leser  nicht 
lesen   kann   und   der   Autor   hinkt,   Gliederverrenkungen  macht 
oder  das  Versteckspielen  liebt,    so  sind  allerdings  wegweisende 
Zeichen  unentbehrlich.      Man  wird  aber  auch  hier  am  besten 
tun,  sich  an  das  Überlieferte  und  Eingebürgerte  zu  halten.    Die 
übliche  Interpunktion  ist  für  jeden  Schriftsteller  ausreichend  und, 
wie  ich  meine,  sehr  fein  und  logisch  erdacht.     Sollte  jedoch  einer 
den  Drang  in  sich  fühlen,  die  Interpunktion  für  seinen  Gebrauch 
zurechtzustutzen    und     etwa    mit    Gedankenstrichen    Aufwand 
treiben,  und  sollte  ein  anderer  durch  Einschränkung  oder  Ver- 
zichtleistung auf  Interpunktion  seinem  Herzen  Luft  machen  wollen, 
so  mag  er  in  Gottes  Namen  tun,  was  ihm  Freude  macht.    Nur  soll 
er  nicht  meinen,  der  deutschen  Prosa  einen  Dienst  damit  zu  leisten. 


69 


IV. 


DIE    KUNST   DES  VORTRAGS. 


I. 

Die  bildenden  Künste  sind  im  Vorteil  vor  den  redenden,  weil  sie 
einer  Vermittlung  zwischen  Schöpf  er  und  Genießenden  nicht 
bedürfen.  Die  Tätigkeit  des  Schaffenden  macht  das  Werk  ohne 
weiteres  zugänglich;  sobald  sie  beendet  ist,  steht  es  da,  ganz  und 
sicher  für  alle  Zeiten.  Die  Erzeugnisse  der  Musik  und  Poesie 
werden  nur  durch  einen  besonderen  Akt  und  nur  auf  Augenblicke 
lebendig.  Wenn  der  Schöpfer  sie  aus  der  Hand  gibt,  sind  sie  noch 
nicht  fertig;  erst  dem  Vortragenden  verdanken  sie  Existenz  und 
Wirkung.  In  primitiven  Zeiten  fiel  in  der  Regel  der  Akt  des 
Schaffens  mit  dem  des  Vortragens  zusammen;  der  Sänger  fand 
Musik  und  Dichtung,  während  er  sang.  Stoff  und  Kunstmittel 
hatte  er  im  Gedächtnis,  der  Augenblick  schuf  aus  ihnen  das  Lied. 
Und  er  nahm  es  wieder  hinweg;  es  konnte  nicht  wiedererzeugt 
werden;  bei  einem  neuen  Vortrag  wurde  aus  demselben  Thema 
ein  anderes  Lied.  Doch  die  Übung  bringt  Stetigkeit  hervor,  das 
Gedächtnis  gewinnt  den  Vorrang  vor  der  momentanen  schöpfe- 
rischen Kraft,  weil  es  gleichmäßiger  und  zuverlässiger  ist,  und 
der  Sänger  lernt  wählen  und  festhalten,  was  den  Beifall  seiner 
Zuhörer,  und  ausscheiden,  was  ihr  Mißfallen  erregt.    Die  Kunst 

70 


Die  Kunst  des  Vortrags. 


des  Improvisierens  wird  geringer,  wenn  die  Tradition  sicherer  wird, 
und  verschwindet  fast  ganz,  wenn  schriftliche  Aufzeichnung  der 
künstlerischen  Erzeugnisse  an  die  Stelle  mündlicher  Überlieferung 
tritt.  Bei  uns  gibt  es  in  der  Musik  noch  eine  Art  Improvisations- 
kunst. Sie  wurde  zu  den  Zeiten  der  großen  Musiker  fleißig  geübt 
und  unter  die  unentbehrlichen  Stücke  der  musikalischen  Bildung 
gerechnet.  Mit  dem  Verfall  der  kontrapunktischen  Technik  aber 
verfiel  auch  sie.  Das  sogenannte  Phantasieren  ist  übrig  geblieben, 
ein  Herumturnen  auf  dem  Klavier  oder  einem  anderen  Instrument, 
das  als  Übung  des  Spielers  nützlich,  als  Ergießung  des  Kompo- 
nisten selten  wertvoll,  meist  bedenklich  ist  und  im  ganzen  wenig 
mit  der  Musik  als  Kunst  zu  tun  und  gar  keinen  Einfluß  auf  sie 
hat.  In  der  Redekunst  ist  das  Improvisieren  ebenfalls  noch  im 
Gebrauch  und  wird  zu  allen  Zeiten  wichtig  und  notwendig  bleiben, 
wo  rednerische  Kämpfe  auszufechten  sind.  Der  Lehrende,  der 
Festredner  und  der  Kanzelredner  können  in  Ruhe  vorbereiten, 
was  sie  sagen  wollen;  wer  aber  einem  Gegner  antworten  und  über 
Gegenstände  reden  soll,  die  ihm  kurz  vor  dem  Auftreten  erst 
bekannt  werden,  braucht  Fähigkeit  und  Übung  in  der  Impro- 
visationskunst. Abgesehen  von  diesen  Fällen  ist  heute  die  Kunst, 
aus  dem  Stegreif  zu  schaffen,  erloschen.  Das  Produzieren  und 
das  Vortragen  sind  zwei  getrennte  Tätigkeiten  geworden.  Diese 
Trennung  ist  an  und  für  sich  nötig  bei  Kunstwerken,  die  nicht 
von  einer,  sondern  von  mehreren  Personen  vorgeführt  werden. 
Der  Sänger,  der  Redner,  der  Instrumentalvirtuose  können  in  ihrer 
Person  den  Schöpfer  und  den  Ausübenden  vereinigen ;  beim  Drama 
aber,  beim  Chortanz,  beim  mehrstimmigen  Gesang  oder  Orchester- 
spiel sind  eine  Anzahl  Menschen  beteiligt,  die  ein  fremdes  Werk 
vortragen,  das  sie  selber  in  der  Regel  nicht  hervorbringen  könn- 
ten und  oft  nicht  einmal  übersehen  und  abschätzen  können.  Um 
dies  möglich  zu  machen,  muß  das  Werk  zunächst  geschaffen 
und  dann  einstudiert  und  vorgetragen  werden.  Eine  seltene  Aus- 
nahme bildet  jener  orientalische  und  altchristliche  Brauch,  ein- 
fache Sakralgesänge  so  vorzuführen,  daß  der  Dirigent  durch 
Handbewegungen  Rhythmus  und  Tonhöhen  angibt  und  der  Chor 
dieselben  aus  dem  Stegreif  nachbildet.  Doch  wird  es  sich  auch 
hier  um  bekannte  Weisen  gehandelt  haben. 


71 


Erster  Teil. 

Menschen  also  und  menschliche  Fähigkeiten  sind  die  unent- 
behrlichen Hilfsmittel,  um  ein  poetisches  und  musikalisches  Er- 
zeugnis lebendig  zu  machen.  Man  kann  sie  das  Material  des  Dich- 
ters und  Musikers  in  dem  Sinne  nennen,  wie  Steine  oder  Leinwand 
die  Mittel  sind,  mit  deren  Hilfe  der  bildende  Künstler  sein  Werk 
herstellt.  Das  Material  des  bildenden  Künstlers  ist  berechenbar 
und  beständig,  das  der  redenden  Künstler  variabel  und  unbe- 
rechenbar. Sie  haben  es  nicht  völlig  in  der  Gewalt;  die  aus- 
führenden Individuen  bewahren  eine  gewisse  Selbständigkeit 
ihnen  gegenüber.  Doch  könnte  man  die  großen  Werke  bildender 
Kunst  zum  Vergleich  heranziehen,  bei  denen  ebenfalls  eine  Anzahl 
Individuen  einem  nicht  von  ihnen  ausgegangenen  Plane  dienstbar 
gemacht  werden  und  also  ihre  Persönlichkeit  neben  der  des 
Meisters  zur  Geltung  bringen.  Auch  bei  handwerksmäßiger  Aus- 
führung von  Modellen  oder  Zeichnungen  ist  des  Handwerkers 
Individualität  nicht  völlig  auszuschalten,  wenn  sie  sich  auch  nur 
in  größerer  oder  geringerer  Geschicklichkeit  äußert. 

Die  Werke  des  Musikers  und  Dichters  sind  unzählige  Male 
vorhanden,  die  des  bildenden  Künstlers  nur  einmal.  Man  kann 
auch  ein  Gemälde  reproduzieren,  aber  die  Vervielfältigungen  sind 
dem  Original  nicht  gleichwertig.  Kopien,  Kupferstiche  usw. 
ändern  stets  ihre  Vorlage;  mechanische  Nachbildungen  können, 
auch  wenn  alle  technischen  Hilfsmittel  in  höchster  Vollkommen- 
heit gedacht  werden,  nur  für  einige  Gattungen  gleichen  Rang  mit 
dem  Original  beanspruchen.  Und  sollte  es  selbst  gelingen,  eine 
Statue,  ein  Bauwerk  in  mehreren  gleichen  Exemplaren  herzu- 
stellen, so  sind  es  doch  immer  nur  eine  beschränkte  Anzahl,  nicht 
beliebig  viele.  Bei  einem  musikalischen  oder  dichterischen  Werk 
gibt  es  dagegen  überhaupt  kein  Original;  auch  seine  erste  Auf- 
führung durch  den  Schöpfer  oder  unter  seiner  Mitwirkung  ist 
nicht  Original  gegenüber  späteren,  die  etwa  als  Kopien  zu  bezeich- 
nen wären.  Der  Schöpfer  verwendet  unvollkommene  Individuen 
zur  Vorführung,  die  ihre  Eigenschaften  in  das  Werk  hineintragen, 
und  ist,  auch  wenn  er  es  selber  vorträgt,  von  allerhand  Zufällig- 
keiten abhängig.  Eine  andere  Aufführung  kann  sich  seinen 
Absichten  mehr  nähern  als  die  erste  und  einen  absoluten  Maßstab 
gibt  es  überhaupt  nicht.     Wohl  wird  der  Vortrag  vom  Künstler 

72 


Die  Kunst  des  Vortrags. 


mitgeschaffen  und  ist  nicht  der  Willkür  des  Vortragenden  preis- 
gegeben, aber  diesen  Vortragenden  selber  schafft  er  nicht  mit; 
seine  Macht  reicht  nicht  so  weit,  seinen  Willen  ganz  durchzu- 
führen oder  auch  nur  bis  ins  einzelne  deutlich  auszusprechen. 
Der  Vortragende  also  steht  zwischen  Urheber  und  Empfänger 
dichterischer  oder  musikalischer  Werke.  Seine  Aufgabe  ist  eine 
wichtige  und  dazu  eine  sehr  eigentümliche.  Er  muß  Künstler 
sein,  denn  er  soll  ein  Kunstwerk  vorführen  und  es  dem  Genießen- 
den unmittelbar  verständlich  und  eindrücklich  machen.  Und 
doch  darf  er  die  Hauptfähigkeit  des  Künstlers,  die  schöpferische, 
nicht  besitzen  oder  während  seiner  Tätigkeit  mindestens  nicht 
anwenden,  da  er  einem  fremden  Willen  zu  gehorchen  und  etwas 
Angelerntes  wiederzugeben  hat.  Man  sollte  daher  glauben,  das 
reproduktive  Talent  fände  sich  selten.  Das  ist  aber  keineswegs 
der  Fall.  Begabung  zur  Vortragskunst  ist  sehr  häufig,  wenn  auch 
oft  nicht  in  dem  Grade,  der  zur  Ausübung  des  Schauspieler-  oder 
Virtuosenberufs  erforderlich  ist,  und  wenn  auch  in  vielen  Fällen 
andre  Eigenschaften  mit  dieser  Begabung  verbunden  sind,  die 
ihrer  gedeihlichen  Entwicklung  im  Wege  stehen.  Die  Haupt- 
tugend des  reproduktiven  Künstlers  ist  wohl  eine  ursprüngliche 
menschliche  Fähigkeit,  die  bei  ihm  einseitig  ausgebildet  und 
anders  gerichtet  ist.  Es  ist  die  Angleichung,  die  zunächst  mit 
künstlerischen  Absichten  nichts  gemein  hat,  vielmehr  der  Er- 
haltung und  dem  Fortkommen  schwächerer  Individuen  dient. 
Ein  Wesen,  das  sich  nicht  selbst  bestimmen  und  für  sich  selbst 
eintreten  kanrr,  wird  nach  solchen  suchen,  denen  es  sich  unter- 
ordnen kann;  es  wird,  nach  Art  gewisser  Tiere,  in  fremde  Ge- 
stalten Lebens-  und  Empfindungsarten  eingehen.  Die  schau- 
spielerische Fähigkeit  ist  daher  seltener  in  herrschenden  Klassen 
als  in  dienenden,  bei  Männern  seltener  als  bei  Frauen.  Anderer- 
seits gehört  der  Vortragende  in  jene  abseits  stehende  Menschen- 
klasse, die  sich  im  Gegensatz  zum  normalen  Menschen  fühlt  und 
von  jeher  einen  Ausschuß  menschlichen  Seins  und  Wollens 
gebildet  hat.  Der  Zauberer,  der  Gelehrte,  der  Priester  sind  ur- 
sprünglich Typen  derselben  Menschenklasse,  doch  erscheinen  sie 
verehrungswürdig  oder  furchtbar,  während  jenem  etwas  Lächer- 
liches oder  Verächtliches  anhaftet.     Der  Künstler  hat  von  allem 


Horneffer,  Das  klassische  Ideal. 


73 


Erster  Teil. 

etwas,  bald  neigt  er  sich  mehr  auf  die  eine,  bald  auf  die  andere 
Seite  und  zieht  jedesmal  seinen  Gehilfen,  den  nachbildenden 
Künstler,  mit  sich  hinauf  oder  hinab.  Die  Achtung,  die  der 
Künstler  genießt,  ist  eine  wechselnde,  die  des  Vortragenden 
richtet  sich  danach,  ist  aber  fast  stets  eine  geringere  als  die  des 
Schaffenden.  Hohe  Ehrungen  sind  ihnen  zuteil  geworden  und 
tiefe  Erniedrigungen  haben  sie  erfahren.  Der  Schauspieler  und 
Virtuose  unserer  Tage  kann  seine  Abstammung  von  den  jocula- 
tores,  dem  fahrenden  Volk  des  Mittelalters  nicht  verleugnen; 
bei  den  ehrbaren  Leuten  ist  das  Gefühl  davon  noch  nicht  ganz 
erstorben,  wie  aus  manchen  Anzeichen  erkennbar  ist.  Neben 
aller  Hochschätzung,  die  sie  heute  genießen,  und  aller  Beliebtheit, 
die  sie  stets  besessen  haben,  findet  sich  noch  immer  der  Nachhall 
jener  Anschauung,  daß  ihr  Gewerbe  unehrlich  und  die  es  treiben 
vogelfrei  seien.  Doch  müßte  über  alle  diese  Dinge  ausführlicher 
gesprochen  werden,  als  es  hier  möglich  ist.  Die  Psychologie  des 
Schauspielers  ist  ein  ungemein  lohnendes  und  interessantes  Gebiet, 
was  unter  anderen  Nietzsche  betont  und  auch  dargetan  hat. 

Die  beiden  Hauptfragen  für  uns  sind  der  Unterschied  des 
reproduktiven  vom  produktiven  Künstler  und  die  Stellung  beider 
zueinander.  Der  Vortragende  empfindet  nach  und  bildet  nach, 
was  der  Schaffende  ihm  vorlegt;  aber  auch  dieser  schafft  nicht 
ohne  Vorlage,  sondern  ahmt  nach,  was  die  Natur  oder  seelische 
Vorgänge  ihm  darbieten.  Ein  Objektives  ist  gegeben;  der  Künstler 
nimmt  es  auf  und  trägt  seine  Individualität  hinein.  Ebenso  ver- 
fährt der  Vortragende;  Beobachtung  und  Erinnerung  einerseits, 
persönliche  Qualitäten  andererseits  sind  für  beide  das  Rüstzeug 
ihrer  Tätigkeit.  Wodurch  also  unterscheiden  sie  sich?  Durch 
die  Vorlage,  wie  mir  scheint.  Der  Schaffende  hat  Rohstoff  unter 
den  Händen  und  verwandelt  ihn  in  einen  Organismus.  Stücke 
und  Einzelheiten  fügt  er  künstlerisch  zusammen  und  macht  sie 
auf  eine  neue  Art  lebendig.  Der  Vortragende  findet  das  Kunst- 
werk fertig  vor;  er  hat  es  als  solches  darzustellen  und  zu  beleben. 
Würde  aber  nicht  damit  der  Vokalmusiker  in  die  Reihe  der  Vor- 
tragenden gestellt?  und  ebenso  der  Arrangeur,  der  Übersetzer, 
der  Kupferstecher,  Kopist  usw.?  Auch  ihnen  dienen  fertige 
Kunstwerke  zur  Vorlage.    Aber  sie  stehen  doch  anders  zu  ihr; 

74 


Die  Kunst  des  Vortrags. 


sie  übertragen  das  Kunstwerk  in  eine  andere  Sphäre;  sie  wenden 
künstlerische  Mittel  an,  die  nicht  in  der  Absicht  des  Schaffenden 
lagen,  also  ihnen  allein  angehören;  während  der  Vortragende  das 
natürliche  Instrument  des  Schaffenden  ist.     Überdies  muß  man 
bedenken,   daß  bei  der  Vokalmusik  in  den  meisten  Fällen  die 
künstlerische  Form  der  Vorlage  zerstört  und  diese  nur  als  Roh- 
stoff verwendet  wird.    Die  neuere  Kunstmusik  hat  das  Verhältnis 
zwischen  Poesie  und    Musik,  wie  es  zu  andern  Zeiten  bestand, 
nahezu  aufgehoben.     Verse  und  Reime  werden  bei  der  Kompo- 
sition ignoriert,  der  grammatische  und  gedankliche  Zusammen- 
hang zerrissen.   Schwere  und  Leichtigkeit  der  Silben  nach  musi- 
kalischen Rücksichten  verändert.     Im  Rezitativ  ist  man  acht- 
samer, in  ariosen  Partien  macht  man,  was  man  will.     Das  dich- 
terische Kunstwerk,  das  als  Vorlage  dient,  gibt  nur  Stoff,  Stim- 
mung, Gelegenheit  und  Anstoß;  das  musikalische  wird  ein  voll- 
kommen anderes.     An  diesem  Verhältnis  ändert  auch  der  Fall 
nichts,  daß  der  Komponist  seinen  Text  selber  dichtet;   Richard 
Wagners  Bestrebungen,  von  wie  richtigem  Standpunkt  sie  auch 
ausgingen,  haben  keine  Lösung  der  Schwierigkeit  gebracht.     Die 
sogenannte   Programmusik   steht   ihrem   dichterischen   Vorwurf 
noch    ferner.       Denn    wenn   über    ein    lyrisches    Gedicht    oder 
ein  Drama  oder  gar  über  ein  Gemälde  musiziert  wird,  ist  doch 
die  künstlerische  Gestaltung  desselben  für  das  Musikstück  völlig 
belanglos.     Von  den  Fällen,  wo  natürliche  Laute  durch  Instru- 
mente nachgeahmt  werden.  Wind,  Regen,  Tiergeschrei,  Geschütz- 
feuer usw.,  sehe  ich  hier  ab.     Sie  gehören  in  ein  anderes  Gebiet, 
haben   außerdem   in   Zeiten    guter    Kunst   ganz   geringe,    meist 
scherzhafte  Bedeutung. 

Der  Kritiker  nimmt  eine  besondere  Stellung  ein.  Wenn  er 
seine  Aufgabe  hoch  genug  nimmt,  ist  auch  er  Künstler  und  muß 
in  diesem  Zusammenhang  erwähnt  werden.  Er  reproduziert  Kunst- 
werke durch  Erklärung  und  Beschreibung,  urteilt,  rückt  an 
ihnen,  wendet  also  schriftstellerische  Mittel  an,  die  ihrem  Zweck 
nach  außerhalb  der  Kunst  stehen,  aber  durch  die  Art  ihrer  Ver- 
wendung in  die  Sphäre  der  Kunst  gehoben  werden  können. 
Oscar  Wilde  hat  fein  und  paradox  über  Begriff  und  Tätigkeit  des 
Kritikers  gesprochen. 


75 


Erster  Teil. 

Eine  weitere  Stufe  nach  der  Aufgabe  des  Vortragenden  hin 
bilden  die  oben  erwähnten  Fälle,  wo  ein  Kunstwerk  auf  ein  anderes 
Gebiet  übertragen,  also  verwandelt  wird,  aber  bei  der  Verwandlung 
erhalten  bleibt,  z.  B.  wenn  ein  Musiker  ein  Klavierstück  für 
Orchester  umschreibt,  oder  der  Radierer  aus  einem  Gemälde  ein 
graphisches  Kunstwerk  macht.  Er  steht  um  so  höher,  je  selb- 
ständiger er  zu  Werke  gehen  muß,  je  weiter  sich  seine  Tätigkeit 
von  der  des  Kopisten  entfernt.  Der  Nachbildner  mit  mechanischen 
Mitteln  hat  mit  der  Kunst  fast  nichts  zu  tun. 

Dem  Vortragenden,  um  uns  nun  auf  ihn  zu  beschränken,  ist 
mit  den  letztgenannten  Typen  gemeinsam,  daß  er  ein  wirkliches 
Kunstwerk  hervorbringt,  aber  mit  Hilfe  eines  fremden,  schon 
bestehenden,  dem  er  Gehalt  und  in  allen  wesentlichen  Punkten 
auch  die  Form  entlehnt.  Das  Schwierige  und  sogar  Wider- 
spruchsvolle seiner  Aufgabe  ist  die  Verleugnung  und  zugleich  die 
Beteiligung  seiner  Persönlichkeit.  Je  kräftiger  seine  Persönlich- 
keit ist,  um  so  lebendiger  und  wirksamer  wird  sein  Vortrag  sein, 
aber  um  so  freier  und  ungenauer  wird  er  auch  sein,  um  so  mehr 
wird  er  hinzutun  und  hinwegnehmen.  Vollkommene  Treue  ist 
unvereinbar  mit  lebensvoller  Gestaltung.  Will  der  Vortragende 
Künstler  bleiben,  so  darf  er  nicht  völlig  von  sich  absehen.  Er 
kann  es  überdies  nicht.  Auch  bei  der  größten  Biegsamkeit  seines 
Naturells  behält  er  einen  Rest  von  Unveränderlichkeit,  der  dem 
Eingehen  in  fremde  Formen  widerstrebt.  Man  kann  beobachten, 
wie  sich  die  Vortragenden  von  zwei  Seiten  aus  dem  unerreichbaren 
Ideal  ihrer  Kunst  zu  nähern  suchen;  die  einen  haben  ein  mecha- 
nisches Nachahmungstalent  und  durchdringen  es  mit  seelischem 
Gehalt,  die  anderen  haben  individuelle  Qualitäten  und  schöpfe- 
rische Neigungen,  beugen  sie  aber  unter  fremde  Formen  und 
Gesetze.  Je  nachdem  sie  sich  auf  die  Seite  des  Persönlichen  oder 
des  Unpersönlichen  neigen,  lassen  sich  demnach  die  Vortragenden 
in  zwei  Klassen  teilen;  natürlich  schließt  weder  das  eine  noch  das 
andere  ohne  weiteres  einen  Tadel  oder  ein  Lob  ein.  Die  Persön- 
lichen sind  die  Einseitigeren;  sie  können  nur  Autoren  und  Cha- 
raktere wiedergeben,  die  mit  ihnen  eine  gewisse  Verwandtschaft 
haben.  Wo  ihre  Persönlichkeit  nicht  stark  mitklingt,  versagen 
sie.      Sie  pflegen   Schwierigkeit  mit  der  Aneignung  der  künst- 

76 


Die  Kunst  des  Vortrags. 


lerischen  Technik  zu  haben,  wollen  alles  mit  ihrer  Seele,  nicht  mit 
Gewohnheit,  Übung  und  technischen  Kniffen  machen  und  neigen 
deshalb  zum  Dilettantismus.  Sind  sie  Bühnenkünstler,  so  rui- 
nieren sie  sich  in  der  Regel  schnell,  weil  sie  mit  ihrer  Kraft  nicht 
haushalten.  Doch  sind  sie  oft  hinreißender  als  die  eigentlichen 
Mimen,  die  rein  berufsmäßig  spielen.  Ist  ihre  Einseitigkeit  so 
groß,  daß  sie  nur  wenige  Vorlagen  mit  sich  identifizieren  können, 
so  sind  sie  ungeeignet  zum  Beruf  des  Vortragenden.  Diesen  Fall 
findet  man  bei  manchen  produktiven  Künstlern,  die  ihre  eignen 
und  fremde  sehr  verwandte  Sachen  ausgezeichnet,  alle  andern 
aber  schlecht  vortragen.  Auch  gibt  es  eine  große  Zahl  begabter 
junger  Leute  beiderlei  Geschlechts,  die  sich  für  das  Theater 
geschaffen  glauben,  weil  sie  den  starken  Drang  haben,  sich  selber 
und  ihren  inneren  Reichtum  der  Welt  vorzuführen.  Sie  miß- 
brauchen aber  die  Bühne  und  sich  selbst,  wenn  sie  ihre  Seele  nackt 
und  unkünstlerisch  darauf  ausstellen.  Goethes  Wilhelm  Meister 
ist  über  diese  Dinge  nachzulesen. 

Die  Unpersönlichen  sind  vielseitiger,  oft  allseitig.  Sind  sie 
Schauspieler,  so  pflegt  der  Ursprung  ihrer  Bühnenneigung  in 
einer  angeborenen  Nachahmungsgabe  zu  liegen,  die  sie  instinktiv 
ausbilden;  sie  kopieren,  was  sie  sehen,  rein  äußerlich  wie  die  Affen, 
ohne  Interesse  für  Sinn  und  Bedeutung  des  Kopierten.  Sie 
kommen  technisch  in  der  Regel  v/eiter  als  die  Persönlichen  und 
wissen,  wenn  sie  geschickt  genug  sind,  auch  den  Geist  ihrer  Rollen 
bis  zu  einem  hohen  Grade  wiederzugeben.  Meist  sind  sie  auf 
den  Brettern  groß  geworden  und  können  sich  kein  Leben  und  kein 
Glück  vorstellen,  das  nicht  mit  Theaterlampen,  schönen  Kostümen 
und  Ovationen  zusammenhängt.  Das  Talent  zum  Karikieren, 
also  zum  Komischen,  findet  sich  ebenfalls  häufiger  bei  ihnen  als 
bei  den  Darstellern  mit  ausgeprägter  Individualität.  Vom  Tech- 
nischen pflegen  auch  die  vielseitigen  Sänger  und  Virtuosen  aus- 
zugehen. Sie  widmen  sich  diesen  Berufen  nicht,  weil  sie  Ver- 
ständnis und  Begeisterung  für  einzelne  Komponisten  oder  Werke 
besitzen,  sondern  weil  sie  geschickte  Finger,  einen  langen  Atem, 
eine  laute  Stimme  haben.  Oft  sind  sie  unmusikalisch  und  bringen 
es  trotzdem  erstaunlich  weit.  Sie  kopieren,  wenn  sie  kein  Ver- 
hältnis zu  den  Werken  selbst  finden,  den  Vortrag  anderer  Virtuo- 


77 


Erster  Teil. 

sen,  deren  technische  Eigentümlichkeiten  sowohl  wie  deren 
Persönlichkeit,  wodurch  manchmal  wunderliche  Dinge,  manchmal 
gar  nicht  üble  Leistungen  entstehen.  Man  hört  öfter  behaupten, 
sie  gäben,  weil  sie  in  ihren  Vorlagen  völlig  aufgingen,  die  Werke 
reiner  wieder  als  die  Obengenannten;  das  ist  aber  nur  selten  und 
in  beschränktem  Grade  richtig.  Denn  absolut  reine  Wiedergabe 
existiert  überhaupt  nicht. 

Wir  kommen  damit  zur  zweiten  Frage,  die  die  Stellung  zum 
Schaffenden  betrifft.  Wie  weit  geht  die  Selbständigkeit  des  Vor- 
tragenden gegenüber  seiner  Vorlage?  Er  empfängt  die  Anwei- 
sungen des  Autors,  direkt  oder  indirekt,  und  hat  sich  soweit  an 
sie  zu  halten,  als  nicht  zwingende  Gründe  zur  Abweichung  vor- 
liegen. Der  Autor  bestimmt  den  Vortrag  im  ganzen.  Von  Hause 
aus  ist  er  ja  selber  der  Vortragende  oder  der  Hauptteilnehmer  an 
der  Aufführung;  er  kann  also  auch,  was  er  schafft,  selber  aus- 
führen. Sappho  dichtete  nicht  nur,  sondern  vermochte  ihre 
Sachen  auch  zu  singen  und  zu  spielen;  ebenso  Aischylos.  Doch 
ergibt  sich  leicht,  daß  dem  Schaffenden  die  natürlichen  Fähig- 
keiten zum  Vortrag  abgehen,  und  allmählich  entwickelt  sich  der 
heutige  Zustand,  wo  der  Dichter  und  Komponist  nur  wenig  von 
dem  ausführen  kann,  was  er  seinen  Dienern  vorschreibt.  Das 
ist  unbedenklich,  solange  es  sich  um  zufällige  Naturgaben,  Organ, 
Gestalt  usw.  handelt,  aber  bedenklich,  wenn  ihm  das  technische 
Können  oder  gar  die  geistige  Beherrschung  der  Vortragsmittel 
fehlt.  Der  Dichter  muß  wissen,  wie  der  menschliche  Atem  be- 
schaffen ist,  wie  er  seine  Sätze  zu  bilden  hat,  damit  der  Vortragende 
richtig  betonen,  absetzen  und  sein  Organ  entfalten  kann.  Der 
Dramatiker  muß  die  Bühne  vor  Augen  haben  und  die  Situationen, 
die  Dekorationen  und  die  handelnden  Figuren  der  Möglichkeit  und 
der  günstigen  Wirkung  entsprechend  verwenden  können.  Der 
Vokal-  und  Instrumentalkomponist  muß  Umfang,  Charakter, 
Stärken  und  Schwächen  der  menschlichen  Stimme  in  ihren  ver- 
schiedenen Lagen  und  sämtliche  Instrumente,  die  er  benutzt, 
kennen.  Ist  das  nicht  der  Fall,  weiß  der  Autor  nicht  genau,  wie 
das,  was  er  hinschreibt,  beim  Vortrag  sich  ausnehmen  wird, 
so  bringt  er  sich  um  die  Wirkung,  fordert  Eigenmächtigkeit 
und  Gutdünken  der  Vortragenden  heraus  und  darf  sich  nicht 

78 


Die  Kunst  des  Vortrags. 


wundern,  daß  er  ihre  Verachtung  und  ihren  Spott  erntet.  Man 
weiß,  daß  die  reproduktiven  Künstler  zur  Selbstüberschätzung 
neigen.  Ohne  sie  ist  das  Werk  nichts,  sie  machen  es  lebendig, 
stehen  für  seinen  Erfolg  und  Mißerfolg  ein  und  fühlen  sich  daher 
dem  Schaffenden  gegenüber  leicht  als  Patron  und  Gönner.  Auch 
denken  wenige  Schauspieler,  wenn  sie  sich  vor  klatschenden 
Zuschauern  verbeugen,  daran,  daß  sie  den  Beifall  mindestens  zur 
Hälfte  dem  Dichter  verdanken,  der  vielleicht  längst  tot  ist  oder 
der  bei  den  Proben  sich  lästig  gemacht  hat.  Sie  vergessen  gern, 
daß  sie  von  ihm  leben  und  ohne  ihn  überflüssig  und  unmöglich 
wären.  So  kehrt  sich  manchmal  das  natürliche  Verhältnis  um; 
der  Darsteller  wird  Zweck.  Für  ihn  arbeitet  der  Dichter  ebenso, 
wie  der  Theaterschneider  sich  für  ihn  bemüht.  Beispiele  eines 
solchen  Zustandes  bietet  namentlich  die  italienische  Oper  des 
i8.  Jahrhunderts,  wo  der  Komponist  gehorsamer  Diener  des 
Kastraten  und  der  Primadonna  war.  Doch  finden  sich  auch  heute 
Spuren  davon,  wenn  sie  auch  seltener  und  weniger  sichtbar  sind. 
Wagner  hat  großen  Anteil  daran,  daß  der  Darsteller  auf  der  Opern- 
bühne bescheidener  geworden  ist.  Meistenteils  ist  in  Deutschland 
der  Instrumental-  und  auch  der  Opernkomponist  Herr  seiner 
Kunstmittel;  er  lebt  dem  Vortragenden  so  nahe,  wie  es  nötig  ist. 
Weniger  gilt  dies  für  den  Dichter,  der  sich  nur  zu  oft  bedenkliche 
Blößen  gibt,  weil  er  nicht  genug  Zusammenhang  mit  den  Vor- 
tragenden hat.  Er  unterschätzt  in  dilettantischem  Unverstand 
die  Wichtigkeit  des  Vortrags. 

Andererseits  tut  der  Schaffende  Unrecht,  die  freie  Bewegung 
des  Ausführenden  einzuschränken.  Er  muß  ihm  soviel  Raum 
geben,  als  mit  seinen  dichterischen  Absichten  irgend  vereinbar  ist. 
Denn  es  ist  nun  einmal  nicht  anders:  er  überläßt  das  Werk 
Individuen,  die  bei  seiner  Vorführung  ihre  persönlichen  Tugenden 
entfalten  und  ihre  Schwächen  verdecken  wollen  und  sollen.  Was 
er  ihnen  daher  an  berechtigter  Selbständigkeit  entzieht,  das  ent- 
zieht er  seinem  Werk  an  Leben  und  Kraft.  Bekanntlich  ging 
man  in  früheren  Zeiten  freier  mit  den  Vorlagen  um  als  heute;  die 
Gewissenhaftigkeit,  ein  Erzeugnis  unserer  historischen  Bildung 
und  vielleicht  auch  unserer  geringen  schöpferischen  Kraft,  war 
noch  nicht  entdeckt.     Man  kopierte  und  übersetzte  ohne  Streben 


79 


Erster  Teil. 

nach  Treue,  und  Darsteller  und  Leiter  einer  Aufführung  zweifelten 
nicht  an  ihrem  guten  Recht,  das  Werk  ihren  Mitteln  und  Absich- 
ten anzupassen.  Man  änderte,  strich  weg  und  fügte  hinzu,  man 
änderte  auch  wohl  den  Namen  des  Verfassers  und  setzte  den  eignen 
an  seine  Stelle.  Man  machte  aus  einem  geistlichen  Lied  ein 
weltliches  und  der  Kandwerksbursch  dichtete  ein  Lied  für  sein 
Gewerbe  um.  Das  Lokale  hatte  eine  viel  größere  Bedeutung  als 
heute;  das  Publikum  wollte  seine  örtlichen  Zustände  und  beson- 
deren Verhältnisse  berücksichtigt  sehen.  Der  Rhapsode  sang  das 
Epos  in  Athen  anders  als  in  Theben;  die  lustige  Person  schöpfte 
ihre  Spaße  aus  lokalen  und  persönlichen  Anlässen.  Auch  der 
Spieler  und  Sänger  war  dem  Komponisten  gegenüber  selbstän- 
diger. Er  legte,  um  seine  Virtuosität  zu  zeigen,  Koloraturen  und 
Kadenzen  ein,  die  in  der  Partitur  nicht  enthalten  waren,  und 
suchte  bei  einer  anderen  Vorführung  oder  wenn  sein  Stück 
da  capo  verlangt  wurde,  nach  neuen  Verzierungen,  die  er  im  Ge- 
dächtnis hatte  oder  improvisierte.  Dies  alles  kann  den  Werken 
natürlich  nur  dann  zum  Vorteil  gereichen,  wenn  die  reproduktiven 
Künstler  Bildung  und  Verständnis  besitzen,  wenn  sie  Einsicht  in 
die  Ökonomie  der  Werke  haben  und  selber  produktiv  sind.  Ist 
dies  der  Fall  und  zielen  die  Freiheiten  darauf,  das  Werk  leben- 
diger und  wirkungsvoller  zu  machen,  so  sind  sie  berechtigt. 
Macht  man  es  für  besondere  Anlässe  zurecht  und  stehen  etwa 
ungenügende  Mittel  zur  Verfügung,  so  ist  auch  eine  solche  Auf- 
führung mindestens  entschuldbar,  falls  eine  künstlerische  Wir- 
kung erstrebt  wird  und  zustande  kommt.  Vom  Übel  ist  nur,  wenn 
Geldgier  und  Dummheit  den  Rotstift  führen  und  ändern,  wodurch 
aus  Freiheiten  Unverschämtheiten  werden.  Im  allgemeinen  muß 
man  sagen,  daß  der  ausführende  Künstler  früher  höher  und  dem 
schaffenden  näher  stand  als  heute;  daher  denn  die  Kunst  in  den 
zahlreicheren  Fällen  nicht  darunter  litt,  daß  der  Vortragende  eher 
dem  Schüler  glich,  der  vom  Meister  eine  Zeichnung  zur  Aus- 
führung eines  Fresko  erhält,  als  dem  Steinmetzen,  an  den  Hand- 
werksarbeiten vergeben  werden.  Ebenso  kommt  es  der  heutigen 
Kunst  nur  selten  zugute,  daß  man  historische  Rücksichten  hoch 
und  gar  über  die  künstlerischen  stellt.  Man  will  treu  und  authen- 
tisch sein  und  fragt:  wie  hat  der  Dichter  dies  gemeint,  wie  hat 

80 


Die  Kunst  des  Vortrags. 


der  Sänger  zur  Zeit  des  Komponisten  dies  gesungen?  Statt  vor 
allem  andern  zu  fragen:  wie  können  wir  als  heutige  und  lebendige 
Menschen  uns  das  Werk  gegenwärtig  und  zu  eigen  machen? 
Es  ist  Philologie,  nicht  Kunst,  wenn  man  Echtheit  der  Kostüme 
verlangt  und  jeden  Meister  in  seinem  Stil  vortragen  möchte.  Eine 
unproduktive  Zeit  verfährt  so;  sie  will  frühere  Epochen  hervor- 
zaubern und  in  ihnen  untergehen.  Die  produktive  benutzt  die 
Vergangenheit  zur  Reinigung  und  Stärkung,  nicht  zur  Knechtung 
und  Verleugnung  ihres  Strebens. 

Ebenso  wie  ein  Werk  den  größten  Vorteil  davon  hat,  wenn 
der  Künstler  es  für  einen  bestimmten  Zweck  arbeitet,  der  attische 
Tragiker  für  die  Dionysien,  der  Kirchenkomponist  für  das  Weih- 
nachts-  oder  Osterfest,  so  unterstützt  ihn  auch  die  Rücksicht  auf 
Ort  und  Verhältnisse,  auf  Personal  und  Instrumente.  Wie  traurig 
ist  der  Bildhauer  daran,  der  nicht  weiß,  wo  seine  Statue  stehen 
wird!  Wie  unsinnig  ist  gar  der  Auftrag  an  den  Baumeister,  ein 
Haus  zu  entwerfen,  während  er  Ort,  Zweck  und  Mittel  dazu  nicht 
kennt!  Nicht  viel  vernünftiger  erschienen  ursprünglich  der  Dich- 
ter und  der  Komponist,  die  ein  Werk  ohne  Rücksicht  auf  die 
Bedingungen  der  Aufführung,  rein  aufs  Geratewohl  machten. 
Weil  heute  an  vielen  Orten  ungefähr  gleiche  Bedingungen  vor- 
handen sind,  ist  es  nicht  mehr  von  so  großem  Einfluß,  ob  ein  Werk 
nach  einem  Auftrag  und  auf  einen  Zweck  hin  verfaßt  wird  oder 
nicht.  Aber  fördern  wird  es  den  Schaffenden  auch  heute  noch 
wesentlich,  wenn  er  für  eine  bestimmte  Bühne,  für  einen  be- 
stimmten Sänger  oder  Spieler  schreiben  kann.  Man  erinnere 
sich,  was  Haydn  seinem  Orchester,  Shakespeare  seinem  Theater, 
Chopin  seinem  Klavierspiel  verdankten.  Wer  freilich  ein  Werk 
auf  seltene  oder  zufällige  Eigenschaften  der  Vortragenden,  etwa 
auf  den  riesenhaften  Wuchs  eines  Darstellers  basiert  oder  wer  so 
schwierige  Hornstücke  schreibt,  daß  nur  ein  Wunder  von  einem 
Hornisten  sie  spielen  kann,  der  ist  ungeschickt  und  beschränkt 
mutwillig  sein  Werk  auf  einen  geringen  Wirkungskreis. 


8i 


Erster  Teil. 


2. 


Ich  versuche  die  Vortragskunst,  wie  sie  heute  in  Deutschland 
geübt  wird,  kurz  zu  charakterisieren.  Obwohl  man  unsere  Zeit 
als  die  des  Virtuosentums  bezeichnen  kann,  ist  doch  die  künst- 
lerische Virtuosität  nur  auf  einigen  Gebieten  groß  und  dort  wie- 
derum so  einseitig  gerichtet,  daß  sie  viel  von  ihrem  Wert  verliert. 
Es  fehlt  überall  an  künstlerischer  Einsicht.  Reden  wir  zunächst 
vom  poetischen  und  dann  vom  musikalischen  Vortrag.  Bei 
beiden  ist  ein  Unterschied  zu  machen  zwischen  Bühnendarstellung 
und  einfachem  Vortrag.  Der  letztere  setzt  nur  ein  körperliches 
Organ,  oft  mit  Zuhilfenahme  eines  Instruments,  in  Tätigkeit; 
bei  der  ersteren  ist  der  ganze  Körper  Instrument. 

Die  Schauspielkunst  war  von  Hause  aus  mit  der  Tanz- 
kunst verknüpft  und  oft  identisch.  Die  Wiedergabe  von  indivi- 
duellen Seelenzuständen  dagegen  durch  Geberden,  Mienenspiel 
und  unrhythmische  Bewegungen  ist  erst  allmählich  in  Aufnahme 
gekommen.  Der  heutige  Schauspieler  will  in  erster  Linie  einen 
natürlichen  Menschen  darstellen.  Er  bemüht  sich,  sein  Kostüm, 
sein  Gesicht,  jede  seiner  körperlichen  Äußerungen  individuell  zu 
gestalten  und  zum  Bilde  einer  bestimmten  einheitlichen  Figur 
zusammenzufügen.  Durch  die  großen  Schauspieler  der  neueren 
Zeit  ist  dies  Ziel  bis  zu  einem  hohen  Grade  erreicht  worden;  sie 
wandeln  als  Persönlichkeiten  von  erstaunlicher  Lebenswahrheit 
auf  der  Szene.  Ein  Grieche,  wenn  er  sie  sehen  könnte,  würde 
staunen  über  diese  Höhe  charakterisierender  Kunst,  würde  aber 
die  Verwandtschaft  dieser  mit  antiker  Schauspielkunst  durchaus 
in  Abrede  stellen  und  die  Aufführung  griechischer  Dramen  auf 
diese  Art  eine  Mißhandlung  nennen.  Mir  scheint  aber,  dies 
Urteil  würde  nicht  nur  für  antike  Dramen,  sondern  auch  für  den 
größeren  Teil  der  neueren  Theaterstücke  richtig  sein.  Nur  wo 
der  Dichter  die  Charaktere  in  ihren  direkten  Äußerungen  hat 
vorführen  und  menschliche  Zustände  als  lebende  Bilder  hat 
zeichnen  wollen,  ist  eine  Darstellung  seines  Stücks  am  Platze, 
die  alle  Lebensäußerungen  des  Menschen  ihrer  natürlichen  Be- 
deutung und  ihrer  natürlichen  Gestalt  gemäß  zu  verkörpern  sucht. 
Man  muß  doch  zugeben,  daß  der  dramatische  Dichter  in  der 

82 


Die  Kunst  des  Vortrags. 


Regel  eine  Lebensäußerung  weit  über  Gebühr  bevorzugt,  das  ist 
die  Sprache.  In  einem  Stück  wird  vor  allem  gesprochen,  und 
durch  Gespräche  wird  der  Charakter  der  Personen  und  die  Hand- 
lung des  Stücks  dargelegt.  Wenn  die  Personen  so  wenig  sprächen, 
im  Vergleich  zu  dem,  was  sie  tun,  als  es  im  Leben  der  Fall  ist, 
so  würde  das  Drama  einer  Pantomime  ähnlicher  sehen  als  einem 
gesprochenen  Theaterstück.  Auf  die  Pantomime  steuert  in  der 
Tat  die  Schauspielkunst  los.  Der  Darsteller  nimmt  heute  sein 
Auftreten  im  ganzen  und,  wenn  er  spricht,  den  charakteristischen 
Ton,  Rhythmus  usw.  seiner  Äußerungen  viel  wichtiger  als  den 
dichterischen  Gehalt  und  die  dichterische  Form  dessen,  was  er 
sagt.  Er  bringt  mimische  Nuancen  an,  wo  er  kann;  er  sucht  die 
Aufmerksamkeit  der  Zuschauer  zu  fesseln,  auch  während  er 
stumm  ist,  durch  pantomimische  Kunst,  durch  Bewegungen  und 
Aktionen,  die  seinem  Charakter  entsprechen,  aber  für  das  Stück 
weder  förderlich,  noch  von  ihm  aus  geboten  sind.  Ich  sehe  dabei 
von  den  Auswüchsen  naturalistischer  Bühnenkunst  noch  ganz 
ab;  die  Bevorzugung  des  mimischen  Details  und  die  Vernach- 
lässigung der  gesprochenen  Dichtung  ist,  wenigstens  in  Deutsch- 
land, eine  allgemeine.  Das  Mimische  hat  doch  allein  Berechti- 
gung, insofern  es  die  Rede  unterstützt;  es  soll  nie  führen,  sondern 
nur  begleiten.  Auch  an  solchen  Stellen,  wo  auf  der  Bühne  starke 
und  wichtige  Handlungen  vor  sich  gehen,  bleibt  meines  Erachtens 
das,  was  die  beteiligten  Personen  sagen,  das  Wesentliche.  Die 
Schlußszene  des  Othello  z.  B.  ist  ein  Gespräch,  und  die  Aktionen, 
die  darin  vorkommen,  müssen,  so  bedeutend  sie  sind,  innerhalb 
des  Gesprächs  belassen  und  gleichsam  wie  Interpunktionszeichen 
markiert  werden.  Wenn  man  sie  in  den  Mittelpunkt  rückt  und 
der  Held  durch  weit  ausgeführte  pantomimische  Aktionen  das 
Interesse  fesselt,  statt  durch  Worte,  verschiebt  er  Sinn  und  Absicht 
des  Kunstwerks.  Ich  leugne  nicht,  daß  diese  Mord-  und  Selbst- 
mordszene ergreifender  wird  durch  Betonung  der  Vorgänge  und 
ihres  psychologischen  Gehalts,  glaube  aber,  daß  die  Aufführungen 
unserer  großen  dramatischen  Dichtungen,  wenn  man  auf  dieser 
Bahn  fortschreitet,  ihren  künstlerischen  Gehalt  immer  weniger 
erschöpfen  und  zu  vollkommenen  Karikaturen  herabsinken  wer- 
den.    Hier  und   da  werden  Stimmen   laut,   die   auf  die  Gefahr 


83 


Erster  Teil. 

aufmerksam   machen,   aber   durchgedrungen  ist   bis   jetzt    noch 
keine. 

Am  merkbarsten  ist  der  Verfall,  wo  es  sich  um  Stücke  handelt, 
die  in  Versen  geschrieben  sind.  Der  deutsche  Schauspieler  spricht 
keine  Verse,  er  weiß  auch  nicht  mehr,  was  Verse  sind;  macht  man 
ihn  auf  seinen  Fehler  aufmerksam,  so  versteht  er  kaum,  was 
man  will.  Er  verwertet  die  Dichtung  als  Text,  als  Programm  einer 
Pantomime;  ihre  rhythmische  Gestaltung  beachtet  er  nicht  und 
zerstört  sie,  wo  sie  ihm  hinderlich  ist.  Der  Dichter  aber  hat  doch 
die  Verse  gebildet,  damit  sie  vorgetragen  werden;  und  vortragen 
heißt  künstlerische  Einheiten  als  solche  darstellen,  ihre  Schönheit 
und  Eigenheit  so  klar  als  möglich  aufzeigen.  Der  Vers  hat,  um 
nur  einiges  hervorzuheben,  ein  rhythmisches  Gerippe,  das  man 
nicht  zerbrechen  darf;  er  bekommt  durch  die  Wortfolge  einen 
bestimmten  Gang,  eine  Linie,  die  fällt  oder  steigt,  gerade  oder 
gekrümmt  ist  und  auf  keinen  Fall  zerrissen  werden  darf,  sei  es 
durch  falsche  oder  zu  starke  Betonung,  durch  Willkür  oder  Un- 
gleichheit im  Tempo.  Wechselt  das  Versmaß,  wie  in  der  Goethe- 
schen  Iphigenie,  so  muß  der  Wechsel  dem  Hörer  deutlich  gemacht 
werden.  Sind  die  Verse  mit  Endreim  versehen,  so  dürfen  die 
Reime  nicht  ignoriert,  sondern  müssen  zum  Bewußtsein  gebracht 
werden.  Treten  Gruppen  von  Versen  zusammen,  so  muß  ihre 
Zusammengehörigkeit  markiert  werden.  Aber  auch  Prosastücke 
sind  keineswegs  dem  Gutdünken  des  Sprechers  überlassen;  auch 
für  den  prosaischen  Vortrag  gibt  es  bestimmte  Gesetze,  die  er 
zu  beobachten  und  seinen  schauspielerischen  Aktionen  über- 
zuordnen hat.  In  diesen  Punkten  fehlt  es  bei  uns  so  sehr  an 
Verständnis  und  Urteil,  daß  man  Mühe  hat,  ohne  praktische 
Beispiele  deutlich  zu  machen,  um  was  es  sich  handelt. 

Das  Rezitieren  außerhalb  des  Theaters,  in  Frankreich  eine 
hochstehende  und  viel  geübte  Kunst,  kann  sich  bei  uns  nur  eines 
kümmerlichen  Scheinlebens  erfreuen.  Man  ist  allen  Ernstes  der 
Meinung,  daß  zum  Vortrag  von  Gedichten  genüge,  ihren  Inhalt 
zu  verstehen;  ein  hübsches  Organ  soll  dann  das  übrige  tun.  Von 
technischer  Ausbildung  im  Sprechen  und  Förderung  des  prosodi- 
schen  Verständnisses  hört  man  nichts.  Balladen,  Lieder,  betrach- 
tende Gedichte  und  was  für  Gattungen  die  Poesie  noch  sonst  hat, 

84 


Die  Kunst  des  Vortrags. 


jede  fordert  einen  anderen  Vortrag;  die  Balladen  einen  lebhaften 
wechselvollen,  der  dem  dramatischen  Vortrag  ähnlich  ist,  ohne 
daß  er  aber  Gesten  zu  Hilfe  nehmen  dürfte;  betrachtende  und 
berichtende  Gedichte  aller  Art  einen  ruhigen,  der  Prosa  ange- 
näherten; rein  lyrische  Gedichte  einen  musikalischen,  das  klang- 
liche Element  bevorzugenden  usw.  Für  alle  gilt  in  gleicher  Weise, 
daß  der  seelische  Ausdruck  das  künstlerische  Gewebe  nicht  zer- 
reißen und  daß  einzelne  Momente  nicht  über  das  Ganze  domi- 
nieren dürfen.  Dichtungen  in  Versen  wurden  von  Hause  aus 
gesungen,  nicht  gesprochen;  der  Vortrag  bewegte  sich  also  In 
festen  Maßen  und  war  in  hohem  Grade  stilisiert.  Die  Lieder 
hatten  wohl  überall  musikalisch  wertvolle  Melodien,  die  für  die 
einzelnen  Strophen  gleich  waren,  so  daß  der  Wechsel  in  Stimmung 
und  Inhalt  nur  in  beschränktem  Maße  zum  Ausdruck  gebracht 
werden  konnte.  Die  übrigen  Gedichte  wurden  meist  rezitatorisch 
vorgetragen,  wobei  gewisse  Phrasen  und  Kadenzen  sich  regel- 
mäßig wiederholten.  Instrumentalbegleitung  war  üblich.  Alles 
dies  zeigt,  wie  sehr  der  Ausdruck  zurückstand  hinter  der  künst- 
lerischen Stilisierung.  Wenn  wir  nun  heute  auch  die  Musik 
weglassen  und  durch  den  Sprechton  von  selbst  zu  einer  stärkeren 
Hervorhebung  des  Sinns  und  des  Affekts  geführt  werden,  so  bleibt 
doch  immer  noch  die  Rücksicht  auf  den  Vers,  den  Reim,  die 
Strophe  bestehen.  Solange  Verse  geschrieben  werden  und  auch 
solange  die  Prosa  künstlerisch  gestaltet  wird,  sind  die  Forderun- 
gen des  Rhythmus  und  die  der  rhythmischen  Betonung  für  den 
Vortrag  maßgebend.  Kein  Temperament,  kein  Affekt  kann  für 
ihre  Vernachlässigung  entschädigen. 

Mit  dem  musikalischen  Vortrag  steht  es  besser  als  mit  dem 
poetischen.  Eine  entwickelte  Kunst  schafft  sich  eine  gemäße 
Vortragsweise,  denn  ohne  eine  solche  könnte  sie  nicht  existieren. 
Wenn  Sänger  und  Spieler  fehlen,  sterben  auch  die  Komponisten 
aus.  Die  deutsche  Musik  zeigt  an  mehreren  Punkten,  wie  großen 
Einfluß  die  Vortragstechnik  und  die  Vortragsmittel  auf  die  Rich- 
tung des  musikalischen  Schaffens  haben;  sie  zeigt  auch  das  Um- 
gekehrte, daß  Kompositionen  reproduktive  Künstler  erzeugen, 
die  jene  vortragen  können,  wie  z.  B.  Wagner  ein  neues  Sänger- 
geschlecht ins  Leben  gerufen  hat.     Auch  in  der  deutschen  Poesie 


85 


Erster  Teil. 

findet  man  Spuren  der  gegenseitigen  Einwirkung,  freilich  mehr 
nach  der  negativen  als  nach  der  positiven  Seite;  so  sehen  wir  z.  B. 
dramatische  wie  auch  lyrische  Versuche  wirkungslos  und  ver- 
einzelt bleiben,  weil  man  sie  nicht  vortragen  kann  oder  nur  ein 
kleiner  Kreis  sich  findet,  der  ihnen  auf  kurze  Zeit  Leben  verschafft. 
Das  mangelhafte  Verständnis  der  Deutschen  für  französische 
Poesie  wird  denselben  Grund  haben. 

Die  deutsche  Musik  ist  vorwiegend  instrumental;  deshalb 
steht  auch  der  Spieler  hoch  über  dem  Sänger.  Die  Vokalmusik 
hat  außerdem  eine  Richtung  eingeschlagen,  die  der  Gesangskunst 
ungünstig  ist.  Um  die  Kompositionen  der  letzten  loo  Jahre  vor- 
zutragen, sind  virtuosische  Qualitäten  des  Sängers  kaum  noch 
erforderlich.  Dagegen  werden  andere  Tugenden  immer  wichtiger: 
Leidenschaft,  deutliche  Aussprache,  Kraft  und  Ausdauer  des 
Organs.  So  ist  denn  auch  die  Kunst  des  Singens  auf  einen 
geringen  Stand  herabgesunken,  und  da  die  deutsche  Musik  be- 
stimmenden Einfluß  in  Europa  hat,  verlernen  auch  andere  Na- 
tionen die  alte  große  Kunst.  Früher  bildete  man  seine  Stimme  fünf, 
sechs  Jahre  lang  aus  und  wartete  mit  dem  Auftreten,  bis  man  sie 
zum  gefügigen  Werkzeug  gemacht,  ihre  Mängel  ausgeglichen 
und  ihre  Stärken  und  Schönheiten  auf  das  Vollkommenste  ent- 
wickelt hatte.  Heute  treibt  man  keine  Stimmbildung  oder  läßt 
sein  Material  durch  unfähige  Lehrer  ruinieren.  Der  Prozentsatz 
derer,  die  sich  schnell  absingen  oder  schon  während  der  Vor- 
bereitung ihre  Stimme  einbüßen,  ist  sehr  groß,  trotzdem  es  Lehr- 
prinzipien und  Lehrmethoden  genug  gibt,  und  unsere  Dilettanten 
über  die  physiologischen  Bedingungen  guten  Singens  besser 
Bescheid  wissen  als  Farinelli  und  Faustina.  Es  fehlt  am  Können. 
Die  Ausnahmen,  deren  Vorhandensein  ich  gern  zugebe,  machen 
die  Not  nur  deutlicher  und  empfindlicher.  Man  würde  nun  über 
die  technischen  Mängel  vielleicht  hinwegsehen,  würde  sich  am 
Ende  auch  den  Klang  ungebildeter  oder  verbildeter  Stimmen, 
der  selten  schön  ist,  gefallen  lassen,  wenn  der  Vortrag  unserer 
Sänger  künstlerisch  vollendet  wäre  und  durch  gute  Wiedergabe 
der  musikalischen  Schönheiten  des  Kunstwerks  jene  Mängel  ver- 
gessen machte.  Aber  dies  ist  nicht  allzu  häufig  der  Fall.  Man 
nimmt  aus  der  Oper  oder  dem  Gesangskonzert  nicht  oft  reine 

86 


Die  Kunst  des  Vortrags. 


ästhetische  Eindrücke  mit  nach  Hause.  Das  Übel  ist,  daß  die  mo- 
dernen Kompositionen  sie  an  und  für  sich  nicht  hervorrufen  und 
der  Vortragende  nichts  anderes  tun  kann,  als  dem  Komponisten 
folgen.  Wie  will  er  ein  Lied,  das  keine  künstlerische  Einheit  ist, 
einheitlich  vortragen?  Und  ist  er  einmal  an  programmatisches 
Stückwerk  gewöhnt  und  weiß,  durch  welche  Mittel  er  die  größten 
Wirkungen  erzielen  kann,  so  darf  man  sich  nicht  wundern,  daß 
er  gute  Kunstwerke  ebenfalls  auf  unkünstlerische  Art  vorträgt, 
daß  er  die  Linien  der  Melodie  zerreißt  und  den  Affekt  bis  zur 
Tollheit  steigert.  Außerdem  hat  sich  die  Aufgabe  des  Sängers  im 
Lauf  der  Zeit  nicht  nur  insofern  geändert,  als  er  keine  Virtuosität 
mehr  zu  zeigen  hat;  er  ist  auch  nicht  mehr  der  ausschließliche 
Träger  der  Melodie.  Der  Instrumentalpart  ist  immer  wichtiger  ge- 
worden; er  beschränkte  sich  früher  auf  Begleitung  und  Ausführung 
von  Vor-,  Zwischen-  und  Nachspielen;  heute  bildet  er  einen  gleich- 
wertigen Faktor,  ähnlich  wie  in  der  Sonate  für  Violine  und  Klavier 
oder  in  den  meisten  Konzerten  für  ein  Instrument  und  Orchester. 
Vom  künstlerischen  Standpunkt  aus  ist  dagegen  nichts  einzu- 
wenden, solange  der  Gesangspart  in  das  musikalische  Bild  ein- 
gewoben ist,  eben  wie  es  in  Violinsonaten,  in  Konzerten  oder  auch 
in  älteren  Kirchenkompositionen  der  Fall  ist,  die  keinen  Unter- 
schied zwischen  instrumentalen  und  vokalen  Stimmen  machen. 
Bedenklich  ist  es  dagegen,  wenn  der  Gesangspart  außerhalb  des 
Bildes  steht  und  für  den  Gang  der  Musik  keine  Bedeutung  hat. 
So  findet  man  es  häufig  bei  Wagner:  die  Musik  liegt  im  Orchester; 
der  Sänger  singt  Töne  hinein,  die  ebensogut  fehlen  könnten;  nur 
der  Text  und  vielleicht  der  Klang  der  Stimme  hat  Einfluß  und  Wert 
für  den  musikalischen  Verlauf.  Es  ist  klar,  daß  hierunter  die 
künstlerische  Fähigkeit  des  Sängers  leidet.  Er  verlernt  den 
fließenden  Gesang  und  richtet  sich  in  der  Schattierung  durch 
dynamische  und  Temponuancen  nur  noch  nach  seinem  Text, 
nicht  mehr  nach  musikalischen  Forderungen.  Wendet  er  auch 
diese  schlechte  Manier  bei  allen  Kompositionen  gleichmäßig  an, 
so  vernichtet  er  notwendig  die  künstlerische  Wirkung  eines  Liedes, 
einer  Opernszene.  Eine  Phrase  wird  etwa  von  der  Klarinette 
gebracht,  die  Streicher  nehmen  sie  auf,  der  Sänger  soll  sie  wieder- 
holen oder  fortsetzen.    Die  ersteren  werden  ihre  Schuldigkeit  tun, 


87 


Erster  Teil. 

der  Sänger  aber  wird  täppisch  zufahren,  aus  dem  Rahmen  treten 
und  das  Bild  zerstören.  Wie  oft  kann  man  dergleichen  erleben! 
Auch  Ensemblepartien  mißglücken  öfter  als  billig  ist,  sowohl 
wenn  es  Frage  und  Antwort  gilt,  als  wenn  mehrstimmige  Sätze 
gesungen  werden  sollen.  Die  Kunst,  sich  einzuordnen  und  mit 
dem  Ganzen  zu  fühlen  und  zu  gehen,  erstirbt.  Natürlich  gibt  es 
immer  noch  Sänger,  die  solche  Dinge  können,  aber  man  müßte 
erwarten,  daß  niemand  auf  das  Podium  und  die  Bühne  träte,  der 
hierin  Schüler  oder  Pfuscher  wäre.  Wie  übel  würde  es  einem 
Orchesterspieler  ergehen,  der  seine  Sache  so  wenig  verstände! 

Der  Konzertsänger  pflegt  dem  Opernsänger  überlegen  zu  sein; 
er  beherrscht  seine  Lieder  eher  und  sündigt  in  der  Regel  nur  durch 
Übertreibung  im  Ausdruck.  Zu  ihr  aber  wird  er,  wie  gesagt, 
durch  die  modernen  Komponisten  verführt,  die  ihm  eine  unkünst- 
lerische Aufgabe  stellen  und  die  überdies  zu  arm  an  Musik  sind, 
um  einen  schmucklosen  Vortrag  aushalten  zu  können.  Man  hat 
immer  Ursache,  eine  Verarmung  an  Kunst  festzustellen,  wenn 
den  Erzeugnissen  nicht  durch  die  einfachste  Wiedergabe  genug 
geschieht,  sondern  besondere  Erklärungen  und  Anstrengungen 
des  Schaffenden  nötig  sind,  um  dem  Vortragenden  eine  neue  und 
wunderbare  Vortragsweise  einzuprägen.  Ein  zweistimmiges 
Crucifixus  von  Josquin  wird  man  verstehen,  auch  wenn  es  auf 
der  Drehorgel  gespielt  wird;  es  ist  ungemischter  musikalischer 
Wein.  Eine  moderne  Komposition  aber  ist  abhängig  von  einem 
seelenvollen  Vortrag,  von  Zutaten,  die  den  Gaumen  reizen  und 
täuschen,  und  macht  erst,  wenn  alles  beieinander  ist,  seine  Wir- 
kung. Auch  Kompositionen,  die  vor  Wagner  und  unabhängig 
von  ihm  entstanden  sind,  leiden  schon  an  dieser  Betonung  des 
unkünstlerischen  Beiwerks.  Musik  scheint  ein  seltener  Artikel 
zu  werden. 

Hiermit  hängt  es  gewiß  zusammen,  daß  die  Manier,  Lieder 
mit  Gesten  zu  singen,  Anklang  findet  und  daß  der  Opernsänger 
immer  mehr  zum  Schauspieler  wird.  Für  den  singenden  Dar- 
steller gilt  in  noch  höherem  Grade  als  für  den  redenden,  was  ich 
oben  von  der  Schauspielkunst  sagte.  Nicht  was  er  tut,  nicht 
sein  Mienen-  und  Geberdenspiel,  sondern  sein  Gesang  ist  das 
Wesentliche.     Mit  seinen  Partnern  und  dem  Orchester  ein  musi- 

88 


Die  Kunst  des  Vortrags. 


kaiisches  Werk  zu  Gehör  bringen,  ist  seine  Aufgabe;  soweit 
seine  Gesten  ihn  dabei  fördern,  sind  sie  berechtigt,  nicht  weiter. 
Je  weniger  er  sie  nötig  hat,  um  seine  dramatische  Figur  einleuch- 
tend und  glaubhaft  zu  machen,  um  so  besser  ist  es  für  ihn;  denn 
um  so  größere  Sorgfalt  kann  er  auf  seinen  Gesang  verwenden, 
der  wiederum  seine  Figur  heben  und  unterstützen  wird.  Psy- 
chische Erregungen  (Schmerz,  Überraschung,  Wut  usw.)  sollte 
er  also  zunächst  mit  der  Kehle  auszudrücken  versuchen  und  nur, 
wo  das  nicht  geht,  zu  mimischen  Hilfsmitteln  greifen.  Sein  Spiel 
muß  stilisierter  sein  als  das  des  Schauspielers,  so  wie  der  Vortrag 
des  Liedersängers  stilisierter  ist  als  der  des  Rezitators.  Die  Musik 
duldet  keinen  Naturalismus;  sie  tritt  jedesmal  ab,  sobald  er  sich 
zeigt,  wenn  auch  die  Darsteller  oft  genug  nichts  davon  merken 
und  glauben,  die  Musik  leide  keinen  Schaden,  wenn  sie  schau- 
spielerischen Effekten  vom  übelsten  Naturalismus  nachgehen. 
Auch  das  Publikum  sieht  nicht,  wie  eins  das  andere  aufhebt. 
Wagner  urteilte  hierüber  ganz  richtig;  seine  Praxis  zeigt  sogar, 
daß  auch  stilisierte  Schauspielkunst  sich  kaum  mit  guter  Musik 
verträgt.  Er  wollte,  daß  das  Bühnenbild  dem  musikalischen  Bild 
konform  sei,  wonach  man  bis  dahin  nicht  gestrebt  hatte,  mußte 
aber,  um  dies  Ziel  zu  erreichen,  die  Musik  so  naturalistisch  wie 
möglich  und  die  Darstellung  so  ideal  wie  möglich  machen.  Man 
frage  sich,  was  aus  der  Musik  wird,  wenn  sie  sich  alltäglichen 
Bildern  und  naturalistischem  Spiel  anbequemen  will.  Es  scheint, 
daß  einige  unserer  Komponisten  dies  ausprobieren  möchten.  Doch 
muß  die  Musik  noch  viel  tiefer  heruntergebracht  werden,  ehe 
sie  dazu  geeignet  wird. 

Unter  allen  reproduktiven  Künstlern  ist  heute  der  Orchester- 
spieler die  verehrungswürdigste  Figur.  Er  hat  eine  unscheinbare, 
aber  sehr  schwierige  Aufgabe,  die  große  männliche  und  künst- 
lerische Tugenden  verlangt;  und  er  wird  dieser  Aufgabe  in  voll- 
kommener Weise  gerecht.  In  ihm  lebt  noch  der  Geist,  der  die 
deutsche  Musik  groß  gemacht  hat;  er  ist  deshalb  ein  Damm  gegen 
die  Fluten  modernen  Dilettanten-  und  Virtuosentums  und  hat  bis 
jetzt  tapfer  standgehalten,  so  viel  Mühe  sich  auch  die  destruk- 
tiven Elemente  geben,  dies  kostbare  künstlerische  Instrument 
zu  ruinieren  und  zu  Verblasen.    Er  ist  ja  ein  Dienender  und  verliert 


Horneffer,  Das  klassische  Ideal. 


89 


Erster  Teil. 

dies  Bewußtsein  nicht,  wehrt  sich  also  gegen  keinen  Auftrag,  auch 
gegen  keine  unwürdige  Zumutung,  die  der  moderne  Komponist 
oder  Kapellmeister  an  ihn  stellt.  Er  freut  sich  vielleicht  gar, 
auch  zu  Leistungen  imstande  zu  sein  und  benutzt  zu  werden, 
die  mit  seinem  Handwerk  kaum  etwas  zu  tun  haben,  und  ist,  wie 
Paganini  auf  seine  Verbeugungen,  stolz  auf  die  Kunststückchen 
und  Kindereien,  die  man  ihn  ausführen  läßt.  Aber  im  Grunde 
bleibt  er  der  Kunst  getreu,  er  läßt  sich  durch  nichts  davon  über- 
zeugen, daß  geistreicher  Tand  gute  Musik  sei,  und  ist  durch  seine 
Praxis  die  beste  Kritik  des  virtuosen  Solospielers  und  Kapell- 
meisters. Das  technische  Können  unserer  Spieler  ist  tadellos 
und  ihre  Übung  im  Zusammenspielen  hat  einen  bewunderungs- 
würdigen Grad  erreicht.  Nicht  nur  die  ersten  Orchester  großer 
Städte,  sondern  auch  kleine  und  geringe  Kapellen  bieten  in  der 
Regel  Leistungen  von  guter  musikalischer  Solidität,  gegen  die 
der  Bühnen-  oder  Konzertgesang  manchmal  in  fast  grotesker 
Weise  absticht.  Auch  den  Wert  der  Militärkapellen  als  Pflanz- 
stätten darf  man  nicht  zu  gering  anschlagen. 

Mit  den  Orchesterspielern  verwandt  und  oft  aus  ihrem  Kreise 
herausgewachsen  sind  die  guten  Solospieler,  die  sich  deren  Be- 
scheidenheit und  Aufopferungsfähigkeit  erhalten  haben.  Sie 
bleiben  Mitglieder  eines  Orchesters  oder  suchen  auf  andere  Weise 
den  Zusammenhang  mit  dem  Handwerk  zu  bewahren  und  haben 
bisher  verhindert,  daß  der  große  Stil  der  deutschen  Kammermusik 
in  Vergessenheit  geraten  ist.  Ohne  die  Mithilfe  eines  Publikums,  in 
dem  aufrichtige  Begeisterung  für  die  Musik  als  Kunst  lebt,  wäre 
dies,  wie  sich  von  selbst  versteht,  nicht  möglich  gewesen.  Man 
würdigt  die  Tatsache  nicht  genug,  daß  es  unter  dem  sehr  großen, 
sehr  gemischten  musikalischen  Publikum  eine  beträchtliche  Zahl 
Menschen  gibt,  die  in  Konzerte  gehen,  wo  ihnen  keine  Virtuosität, 
keine  Pikanterien,  nur  gute  Kammer-  oder  Orchestermusik  vor- 
gesetzt wird.  Wie  leicht  wird  es  durch  dies  Entgegenkommen  den 
Komponisten  gemacht,  wie  offen  steht  ihnen  der  Weg  zur  Kunst! 
Aber  sie  benutzen  ihn  selten  und  arbeiten  vielmehr  daran,  Publi- 
kum und  Vortragende  herabzuziehen.  Bei  diesem  Bemühen 
pflegen  sie  von  dem  geistreichen  Kapellmeister  unterstützt  zu  wer- 
den, der  einen  mit  Nuancen  überladenen  Barockvortrag  anstrebt. 

90 


Die  Kunst  des  Vortrags. 


Das  Konzertleben  der  Gegenwart  ist  eine  merkwürdige  Er- 
scheinung. Man  fragt  sich  mitunter,  ob  sein  Hasten  und  Lärmen 
wirklich  der  Kunst  zugute  kommt,  ob  nicht  Emotionssucht, 
Eitelkeit  und  Geldgier,  da  sie  die  treibenden  Kräfte  sind,  auch 
den  Hauptgewinn  davontragen.  Wohl  kann  die  Konkurrenz  dem 
Wachstum  oder  der  Erhaltung  einer  Kunst  wertvolle  Dienste 
leisten,  da  sie  für  eine  strenge  Auslese  sorgt;  aber  dazu  ist  nötig, 
daß  die  Auslese  nach  künstlerischen  und  nicht  nach  anderen 
Gesichtspunkten  erfolgt.  Entfernt  man  sich  einmal  von  dem 
ruhelosen  Treiben  des  musikalischen  Marktes,  was  jedem  Musiker 
nicht  dringend  genug  empfohlen  werden  kann,  und  schaut  ihm 
aus  der  Perspektive  zu,  so  gewahrt  man  zunächst  etwas  sehr 
Erfreuliches,  nämlich  einen  hohen  Stand  der  Vortragstechnik. 
Talent  und  großer  Fleiß  sind  die  Erfordernisse,  um  als  Virtuose 
sein  Glück  zu  machen.  Die  Ansprüche  an  das  Können  sind  viel- 
leicht noch  im  Wachsen;  jedenfalls  ist  nur  Ware  von  tadelloser 
Arbeit  konkurrenzfähig;  Schleuderware  hat  nur  unter  ganz 
besonderen  Umständen  Aussicht  auf  Erfolg.  Die  zahlreichen 
singenden  Pfuscher  nehme  ich  hier  aus.  Sucht  man  nach  fer- 
neren Kennzeichen  der  bevorzugten  Virtuosen,  so  findet  man 
wohl  künstlerische  Eigenschaften  im  höheren  Sinne,  diese  aber 
in  der  Regel  nicht  nach  dem  Gesichtspunkt  der  Vortrefflichkeit, 
sondern  der  Auffälligkeit  abgewogen.  Das  Publikum  wird  unter 
den  Bewerbern  um  seine  Gunst  stets  diejenigen  auswählen,  welche 
seinem  künstlerischen  Geschmack  am  meisten  zusagen.  Ist  der 
Geschmack  ein  hoher  und  gereinigter,  so  kann  man  nichts  mehr 
wünschen,  als  daß  die  Konkurrenz  eine  möglichst  heftige  ist, 
da  dann  das  Allerbeste  sich  durchsetzen  wird.  Geht  aber  die  Nei- 
gung des  Publikums,  wie  es  heute  im  ganzen  der  Fall  ist,  auf 
das  Ungewohnte,  das  Extreme,  das  Aufregende,  so  wird  ein 
Vortragsideal  aufkommen  und  allmählich  herrschend  werden, 
das  guter  Kunst  entgegengesetzt  ist.  Man  wird  beständig  nach 
neuen  Effekten  suchen  und  vor  allem  andern  danach  streben, 
zu  überraschen,  anders  vorzutragen  als  die  übrigen.  Schließlich 
beherrscht  dann  den  Virtuosen  das  Sehnen,  etwas  noch  nie  Da- 
gewesenes zu  finden,  einen  Effekt,  der  alles  Bisherige  in  den 
Schatten  stellt  und  das  Publikum  einfach  umwirft.     Ein  großer 


91 


6* 


Erster  Teil. 

Teil  des  heutigen  Publikums  braucht  nur  noch  ein  paar  Schritte 
weiter  abwärts  zu  tun,  um  bei  der  Kuriosität,  beim  Panoptikum 
anzulangen  und  Virtuosen  zu  bevorzugen,  die  m.it  den  Füßen 
oder  in  der  Hypnose  spielen.  Der  gute  reproduktive,  ebenso  wie 
der  gute  produktive  Künstler  strebt  aber  bekanntlich  danach, 
seine  Effekte  nur  aus  dem  Allbekannten  zu  nehmen,  nur  nach 
künstlerischen  Rücksichten  zu  bestimmen  und  nur,  so  weit  sie 
sich  von  selber  aus  der  Vorlage  ergeben,  zu  benutzen.  Auch 
nicht  die  Effektlosigkeit  erstrebt  er;  er  will  nicht  etwa  eintönig 
und  leblos  sein,  was  ja  auch  nur  ein  unkünstlerisches  Extrem 
wäre.  Vielmehr  ist  er  natürlich  und  seine  Besonderheit,  durch 
die  er  Anteil  und  Aufmerksamkeit  erregt,  kommt  aus  der  unge- 
wollten Einzigartigkeit  seiner  Natur;  diese  aber  besteht  nicht 
in  einer  extremen  Wunderlichkeit,  sondern  in  der  Schönheit  und 
Höhe.  Ich  muß  wiederholen,  was  ich  oben  schon  angedeutet 
habe.  Der  Ausdruck  darf  nie  dominieren.  Alle  Vortragsnuancen 
sind  nur  berechtigt,  soweit  sie  durch  das  Kunstwerk  geboten  sind 
oder  wenigstens  innerhalb  des  künstlerischen  Bildes  bleiben.  Je 
weniger  der  Vortragende  sie  nötig  hat,  je  mehr  er  Einzeleffekte 
verschmähen  darf,  um  so  höher  steht  sein  Vortrag.  Der  klassische 
Vortrag  kennzeichnet  sich  dadurch,  daß  er  auf  die  einfachste 
Weise,  bei  vollkommener  Gebundenheit  und  Einheitlichkeit, 
alles  das  gibt,  was  der  nichtklassische  durch  Übertreibungen  im 
Ausdruck,  durch  schroffe  Gegensätze,  reiche  Abwechslung,  durch 
Überladung  mit  dynamischen  und  Temponuancen  geben  möchte 
aber  nicht  geben  kann.  Es  gibt  Kompositionen,  die  mit  Rücksicht 
auf  einen  extremen  Vortrag  geschrieben  sind  und  durch  ihn 
gewinnen;  sie  mag  man  daher  in  solcher  Weise  vortragen.  Aber 
bessere  Komponisten  verlieren  durch  ihn  und  haben  Anspruch 
auf  etwas  mehr  Respekt,  als  ihnen  manchmal  zuteil  wird.  Wie 
oft  wird  Bach  z.  B.  gemißhandelt!  Man  zerrt  hervor  und  treibt 
heraus,  was  er  wohlweislich  im  Hintergrunde  gelassen  hat;  jede 
Schönheit  wird  dem  Hörer  ins  Ohr  geschrien,  als  ob  er  taub  sei; 
das  musikalische  Bild  wird  zugunsten  von  Stimmung  und  Affekt 
ruiniert  und  eine  interessante  Karikatur  aus  dem  großen,  schlich- 
ten Meister  gemacht.  Ein  Fehler  ist  es  aber,  wie  mir  scheint, 
wenn  man  hiergegen  historische  und  nicht  vor  allem  künstlerische 

92 


Die  Kunst  des  Vortrags. 


Gründe  ins  Feld  führt.  Gewiß  hat  Bach  nicht  wie  ein  Hysteriker 
gespielt  und  konnte  auf  seinem  Kielflügel  feinere  dynamische 
Nuancen,  cresc.  und  decresc,  überhaupt  nicht  hervorbringen; 
aber  daß  wir  seine  Kompositionen  klassisch  spielen  sollen,  ist  in 
erster  Linie  eine  Forderung  des  künstlerischen  Geschmacks  und 
nicht  der  historischen  Gerechtigkeit. 


93 


V. 


CICERO  UND  DIE  GEGENWART. 


Rom,  9.  Januar. 

Sie  wissen,  verehrter  Freund,  daß  mehr  als  ein  Wunsch  mich 
nach  Italien  geführt  hat.  Der  lebhafteste  unter  ihnen  war,  daß 
es  mir  gelingen  möchte,  der  römischen  Literatur  näher  zu  kommen. 
Sie  erinnern  sich  unseres  letzten  Zusammentreffens  und  des 
Gespräches,  das  wir  über  die  lateinischen  Schriftsteller  hatten. 
Ich  bekannte  Ihnen,  daß  ich  sie  von  jeher  geliebt  hätte,  aber 
meine  Neigung  nicht  recht  verteidigen  und  begründen  könnte. 
Sie  äußerten  sich  scharf  über  den  Unwert  der  römischen  Kunst 
überhaupt,  über  ihren  Mangel  an  Kraft  und  Originalität,  über 
den  unbegreiflichen  Geschmack  unserer  Vorfahren,  die  Virgil 
und  Ovid  neben  Homer,  die  römischen  Lyriker,  Dramatiker, 
Prosaiker  neben  oder  wohl  gar  über  die  griechischen  stellten. 
Ich  wußte  Ihnen  nur  entgegenzusetzen,  daß  mir  der  Geschmack 
unserer  Zeit  auch  nicht  gerade  vertrauenswürdig  erschiene  und 
ich  mich  lieber  auf  das  Urteil  früherer  Jahrhunderte  als  auf  das 
unserer  Zeitgenossen  verlassen  würde.  Doch  gab  ich  Ihnen  zu, 
daß  die  hohe  Schätzung  römischer  Autoren  auch  mir  ein  Rätsel 
sei,  dessen  Auflösung  ich  nur  von  dem  italienischen  Lokal  er- 
hoffte.   Wir  einigten  uns  dahin,  daß  es  mit  Cicero  am  schlimm- 

94 


Cicero  und  die  Gegenwart. 


sten  stände;  während  zugunsten  der  übrigen  sich  doch  manches 
anführen  ließe,  sei  er,  wie  Sie  sich  ausdrückten,  absolut  nicht 
zu  retten:  ein  lächerlicher  Schwätzer,  ein  Phrasenmacher.  Ich 
schämte  mich,  auch  ihn  bisweilen  gern  gelesen  zu  haben,  hoffte, 
daß  der  südliche  Himmel  mich  zur  Vernunft  bringen  würde, 
und  versprach,  Ihnen  über  den  Erfolg  meines  römischen  Aufent- 
haltes zu  berichten. 

Seitdem  ist  mancher  Tag  verflossen  und  jeder  hat  mir  künst- 
lerische Erlebnisse  gebracht.  Doch  erlassen  Sie  mir  deren  Schil- 
derung, die  nur  wiederholen  würde,  was  hundert  andere  besser 
gesagt  haben.  Mir  kommt  es  immer  anmaßend  und  dumm  vor, 
wenn  die  heutigen  Reisenden  sich  den  Anschein  geben,  als  ob 
sie  die  ersten  wären,  die  an  diesen  Stätten  lernen  und  glücklich 
sind,  oder  wenigstens  die  ersten  seit  Goethe,  dessen  Spuren  sie 
deshalb  folgen  und  dessen  Reise  sie  kommentieren  müßten.  Ich 
will  Ihnen  nur  erzählen,  daß  es  mir  mit  den  römischen  Schrift- 
stellern sehr  gut,  wenn  auch  ganz  anders  gegangen  ist,  als  wir 
beide  erwartet  hatten.  Einer  nach  dem  andern  ist  mir  lebendig 
geworden  und  am  lebendigsten  M.  Tullius  Cicero.  Noch  bin  ich 
mit  keinem  ganz  im  Reinen,  habe  auch  keinen  ganz  durchgelesen; 
aber  ein  paar  Sätze,  ein  paar  Verse  sagen  mir  hier  mehr  als  im 
Norden  ein  ganzes  Buch.  Doch  lassen  wir  die  andern!  Lassen 
wir  den  delikaten  Horaz,  den  leidenschaftlichen  Properz,  den 
liebenswürdigen  Ovid,  und  reden  wir  von  Cicero.  Catull  führte 
mich  zu  ihm,  der  freie,  reine  Catull,  den  man  heute  noch  am 
günstigsten  beurteilt.     Sie  kennen  ja  sein  Verschen  auf  Cicero: 

Disertissime    Romuli    nepotum, 
quot  sunt  quotque  fuere    Marce  Tulli 
quotque  post  aliis  erunt  in  annis, 
gratias  tibi  maximas  Catullus 
agit  pessimus  omnium  poeta, 
tanto  pessimus  omnium  poeta 
quanto  tu  optimus  omnium  patronus. 

Wie  reizend  ist  das  gesagt!  Mit  wieviel  Grazie,  feinem  Humor 
und  überlegenem  Sinn  !  Wie  hoch  stellt  es  den  Dichter  sowohl 
als  auch  den  Mann,  dem  er  die  scherzhafte  Verbeugung  macht! 


95 


Erster  Teil. 

Als  ich  es  las,  dachte  ich  sofort,  wir  müßten  Cicero  Unrecht  tun; 
denn  Catull  macht  doch  auf  einen  elenden  Advokaten  kein  Ge- 
dicht, zumal  kein  so  aufrichtiges,  in  dem  Bewunderung  und 
Ironie  einander  die  Hand  reichen.  Ich  nahm  also  Ciceros  Reden 
vor,  las  die  eine  und  die  andere  mit  wachsendem  Entzücken, 
zuerst  Gerichtsreden,  dann  Staatsreden,  frühe  und  späte,  be- 
kannte und  unbekannte.  Ich  gab  mir  Mühe  sie  schlecht  zu  finden, 
ich  hielt  Cäsar  und  Tacitus  dagegen,  aber  meine  Freude  nahm 
nicht  ab.  Wie  einen  köstlichen  Trank  schlürfe  ich  die  hohe 
Schönheit  und  finde  in  Cicero  denselben  Geist,  dieselbe  Welt, 
dieselbe  Kunst  wie  in  den  andern.  Ja,  ganz  offen  gesagt,  er  hat 
mir  das  Verständnis  für  die  andern  erst  eröffnet  und  den  Schleier 
von  den  römischen  Herrlichkeiten  weggezogen.  Ich  nenne  ihn 
ein  Prunkportal,  durch  das  man  in  das  alte  Rom  hineinschreitet. 
Vielleicht  gibt  es  noch  andere  Wege  hinein;  aber  er  ist  die  Haupt- 
pforte, und  wenn  man  den  rechten  Eindruck  von  einem  Bauwerk 
gewinnen  will,  soll  man  nicht  Seitentore  benutzen,  sondern  von 
vorn  kommen.  Wie  glücklich  sind  wir,  daß  es  für  uns  stehen 
geblieben  und  seine  Pracht  und  sein  Schmuck  unversehrt  ge- 
blieben ist,  während  im  Innern  die  Vernichtung  so  arg  gehaust 
hat!  Ein  Weltreich  wie  das  römische  brauchte  eine  solche 
Triumphpforte,  so  reich  an  Formen,  so  festlich  in  ihrem  Schmuck. 
Sie  deutet  alles  an,  was  man  drinnen  findet;  sie  verrät  die  Gier 
nach  Macht,  die  Härte  und  Barbarei,  die  Hohlheit  und  Vergäng- 
lichkeit; aber  sie  verrät  auch,  daß  ein  unvergängliches  Kleinod 
drinnen  verwahrt  wird,  das  Kleinod  Hellas,  mit  dem  Rom  sich 
schmückte  wie  eine  stolze  Frau  mit  Perlen  und  Edelsteinen. 
Es  verwendete  wie  alle  großen  Gewalten  die  Kunst  als  Dekora- 
tion. Es  war  der  Meinung,  daß  sie  keine  schönere  Aufgabe 
hätte  als  seinen  Reichtum  in  Szene  zu  setzen,  den  Glanz  seiner 
Siegesfeste  zu  erhöhen. 

Keine  würdige  Verwendung,  sagen  Sie?  Aber  hat  sich  die 
Kunst  je  schlecht  dabei  befunden?  Doch  nur  dann,  wenn  die 
Gewalten  unechte  Perlen  bevorzugten,  weil  sie  nicht  reich  genug 
waren,  mit  echten  sich  schmücken  zu  können  oder  nicht  groß 
genug  waren,  sie  von  echten  unterscheiden  zu  können.  Rom 
besaß  das  Kostbarste  und  wußte  oder  lernte  doch  es  zu  schätzen. 

96 


Cicero  und  die  Gegenwart. 


Keine  Macht,  von  der  wir  wissen,  ist  in  schönerem  Schmuck  zu 
strahlenderen  Festen  gegangen.  Cicero  aber  und  die  anderen 
römischen  Künstler  sind  die  größten  Dekorateure,  von  denen 
wir  wissen.  Sie  verfügten  über  die  reichsten  und  feinsten  Mittel 
und  ihr  Geschmack  war  den  Mitteln  gleichwertig.  Sie  sind 
Dolmetscher  und  haben  doch  Originalität.  Ich  finde  es  von 
Tag  zu  Tag  ungerechter,  daß  man  Cicero  künstlerische  Unselb- 
ständigkeit vorwirft,  denn  er  hat  ebenso  wie  die  andern  alles, 
was  er  übernahm,  zu  seinem  wirklichen  Eigentum  gemacht. 
Er  blieb  Römer  in  seinem  Wesen  und  seiner  Kunst,  obwohl  er 
von  den  Griechen  lebte  und  sich  nährte.  Denken  Sie  auch  an 
Catulls  Übersetzung  der  sapphischen  Ode.  Ist  sie  nicht  ein  neues 
Gedicht  geworden?  Ausdrücke  und  Begriffe  entlehnt  er,  aber 
Empfindung  und  Geist  sind  sein  eigen,  und  auf  diese,  nicht  auf 
jene  kommt  es  doch  an.  Meiner  Meinung  nach  verlieren  die 
römischen  Erzeugnisse  nichts  dadurch,  daß  sie  griechische  Vor- 
lagen haben,  denn  sie  sind  eigne  Organismen  geworden,  bestehen 
durch  sich  selbst  und  leben  ihr  Leben  unabhängig  von  Mutter 
und  Amme. 

Also  Dekoration,  nichts  als  Dekoration,  höre  ich  Sie  sagen. 
Aber  darf  man  einen  Dekorateur  verachten?  Ist  er  notwendig 
etwas  Überflüssiges  und  auch  nur  Oberflächliches?  Ich  denke 
doch,  der  Wert  einer  Dekoration  bemißt  sich  danach,  ob  sie  gut 
oder  schlecht,  nicht  ob  sie  Dekoration  ist.  Der  eine  wählt  auf- 
fallende Farben,  groteske  Formen  und  schmückt  die  Fassade 
für  einen  Tag  mit  Holz  und  Pappe;  der  andere  nimmt  das  edelste 
Material  und  baut  mit  hohem  Kunstsinn.  Auch  seine  Dekora- 
tion kann  reich  und  prunkend  sein;  ob  sie  es  ist,  hängt  wesentlich 
vom  Zweck  des  Ganzen  und  von  der  Natur  des  Auftraggebers 
und  des  Ausführenden  ab.  Daß  man  aber  überhaupt  keine 
Prachtfassade  machen,  sondern  sich  mit  einer  glatten  Wand  und 
einer  Öffnung  zum  Hineinschlüpfen  begnügen  soll,  werden  Sie 
nicht  verlangen.  Bisher  haben  Kulturmenschen  den  Schmuck 
niemals  entbehren  wollen;  sobald  Fundament,  Pfeiler,  Dach  und 
anderes  Notwendige  da  war,  kam  die  Freude  am  Leben  und  an 
sich  selber  und  wollte  die  Notdurft  mit  Schmuck  und  Schönheit 
umkleiden.      Wenn   man    über   Ciceros    Reden   ein    Kunsturteil 


97 


Erster  Teil. 

fällen  will,  muß  man  fragen,  mit  welchem  Geschmack  sie  geschaf- 
fen sind,  auf  welcher  Höhe  der  künstlerischen  Tradition  einer- 
seits und  der  künstlerischen  Persönlichkeit  andererseits  sie  stehen. 
Ich  mache  Schritt  für  Schritt  die  Gründe  meines  Wohlgefallens 
an  ihm  ausfindig  und  begreife  immer  weniger,  wie  wir  Barbaren 
ihn  schelten  können.  Jedes  seiner  Worte  ist  künstlerisch  gerecht- 
fertigt; von  Wortschwall,  der  wüst  und  ungeordnet  hervorspru- 
delte, von  Phrasen,  die  ins  Blaue  hinein  geredet  würden,  finde 
ich  keine  Spur.  Alles  ist  zwar  reich  bemessen,  aber  die  Lieder 
Pindars  und  der  griechischen  Tragiker  sind  auch  nicht  karg 
mit  Worten,  setzen  mehrere  volltönende  Ausdrücke,  wo  es  ein 
einfacher  täte,  und  sparen  die  Superlative  nicht.  Wie  fein  ist 
bei  Cicero  alles  berechnet,  wie  ebenmäßig  geht  es  dahin!  0  dieser 
Advokat  verstand  sich  auf  Musik!  Auf  Melodie  und  Rhythmus 
der  Sprache!  Er  hatte  freilich  ein  herrliches  Material  unter 
den  Händen;  aber,  wenn  ich  mich  recht  erinnere,  hat  er  die 
lateinische  Kunstprosa  erst  geschaffen,  mindestens  sie  zur  Voll- 
endung gebracht. 

Die  Freiheit  der  Wortstellung  im  Lateinischen  ist  doch  etwas 
Wunderbares.  Der  Redner  kann  den  Satz  durchaus  nach  ästhe- 
tischen Rücksichten  bauen,  kann  fast  jedes  Wort  dahin  setzen, 
wo  es  am  schönsten  klingt.  Bewundern  Sie  den  Gebrauch,  den 
Cicero  von  dieser  Freiheit  macht!  Und  auch  das  Publikum 
muß  man  bewundern,  das  für  solche  Dinge  Ohren  hatte.  Wie 
märchenhaft  klingt  es  uns,  wenn  wir  in  Ciceros  Dialog  über 
den  Redner  lesen,  daß  ein  Schauspieler  ausgezischt  wurde, 
weil  er  eine  Silbe  mit  falscher  Quantität  ausgesprochen  hatte! 
Überhaupt  gibt  diese  theoretische  Schrift  einen  Begriff  von  der 
Höhe  der  antiken  Rhetorik.  Die  rhetorischen  Figuren  lernte 
man  in  der  Schule  wie  wir  die  grammatischen  Regeln.  Die  Satz- 
gliederung wird  ebenso  wichtig  genommen  wie  die  Versgliede- 
rung in  der  Poesie.  Cicero  spricht  von  den  Versfüßen,  die  der 
Redner  meiden  und  die  er  bevorzugen  solle,  namentlich  am 
Anfang  und  Ende  der  Sätze  und  Abschnitte;  er  erwähnt  die  be- 
zeichnende Theorie  des  Theophrast,  daß  der  Dithyramb  mit 
seinen  freien  Rhythmen  ohne  Strophenbildung  der  Vater  der 
Rede  sei,  und  betont  wieder  und  wieder,  daß  man  die  Wortfolge 

98 


Cicero  und  die  Gegenwart. 


nach  rhythmischen  Gesichtspunkten  regeln  müsse,  damit  die 
Rede  nicht  schweife  und  irre.  Aber  Sie  wissen  ja  dies  alles  besser 
als  ich.  Denken  Sie  an  das  zweite  Buch  des  Werkes,  wo  er  Vor- 
schriften über  den  Bau  der  Rede  im  ganzen,  über  Materialsamm- 
lung und  Verarbeitung  gibt,  immer  aus  der  Praxis  heraus  und 
für  die  Praxis  bestimmt.  Seine  theoretische  Einsicht  ist  eine 
vollkommene  (gleichviel  ob  er  die  meisten  Untersuchungen  von 
sich  aus  anstellt  oder  sie  Aristoteles  und  anderen  Rhetorikern 
entlehnt)  und  ebenso  vollkommen  ist  die  Handhabung  und  An- 
wendung des  ganzen  Systems  in  seinen  eignen  Reden.  Man  könnte 
aus  ihnen  die  Rhetorik  ohne  Schwierigkeit  entwickeln  und  doch 
haben  sie  nichts  Gekünsteltes  oder  Schematisches,  wie  sonst 
Musterbeispiele  pflegen.  Er  hat  die  jahrhundertelange  Tradition 
und  seine  eigne  theoretische  Neigung  bewältigt  als   Künstler. 

Was  mich  am  meisten  erfreut,  ist  der  Fluß  seines  Stils.  Seine 
Rede  steigt  und  fällt,  zögert  und  eilt,  bricht  aber  niemals  ab. 
Auch  wo  ein  Einschnitt  ist,  wird  der  Faden  nicht  zerrissen,  es 
ist  ein  Gebilde  vom  ersten  bis  zum  letzten  Wort.  Sehen  Sie 
dagegen  unsere  heutige  Schreibweise!  Wir  bringen  bestenfalls 
ein  paar  gute  Sätze  zustande,  aber  kein  Ganzes.  Es  ist  alles 
Stückwerk,  was  wir  machen,  namentlich  wenn  wir,  wie  z.  B.  ich, 
von  Nietzsche  ausgehen.  Mit  seinem  Sentenzenstil  hat  er  uns 
ganz  verdorben;  er  hat  uns  gelehrt  sprunghaft  zu  denken,  Zwi- 
schenglieder auszulassen,  und  sprunghaft  zu  schreiben,  die  for- 
male Einheit  preiszugeben.  Da  steht  dann  ein  voller  Satz  neben 
einem  mageren,  das  Tempo  wechselt  unvermittelt  und  ohne 
Anlaß,  der  Leser  bekommt  Ohrfeigen  und  Stöße,  die  manchmal 
geistreich  sein  mögen,  aber  ermüden  und  auf  alle  Fälle  unschick- 
lich sind.  Welch  ein  hoher,  reiner  Geschmack  dagegen  bei  Cicero, 
der  keinen  Einfall  bringt,  der  nicht  ins  Ganze  eingeordnet  und 
aus  dem  Ganzen  geboren  wäre!  Man  vermißt  deshalb  auch  die 
Einzelgedanken  nicht,  an  deren  Überwucherung  wir  kranken, 
wenn  wir  uns  mit  allerhand  unpassenden,  ablenkenden  Details 
aufputzen.  Alle  seine  lumina,  sachlicher  und  formaler  Schmuck 
der  Rede,  sind  dem  Totaleindruck  angepaßt.  Ich  wollte,  man 
läse  nordwärts  der  Alpen  recht  viel  Cicero  und  versuchte  ihm 
etwas  von  seiner  Kunst  abzulauschen,  statt  auf  ihn  zu  schmähen! 


99 


Erster  Teil. 

Rom,  24.  Januar. 

Das  Mißfallen,  das  Sie  mir  über  meinen  Cicerokult  zu  er- 
kennen geben,  betrübt  mich  sehr.  Sie  prophezeien,  meine  Ge- 
schmacksverirrung werde  von  kurzer  Dauer  sein,  und  wollen 
dazu  beitragen,  mich  möglichst  schnell  zu  heilen.  Ich  bin  Ihnen 
für  die  freundliche  Absicht  dankbar  und  wehre  mich  durchaus 
nicht,  doch  muß  ich  Ihnen  gestehen,  daß  Ihre  Einwände  mich 
nicht  überzeugt  haben.  Sie  sagen,  die  antike  Rhetorik  sei  eine 
unnatürliche  Erscheinung,  eine  Erfindung,  die  der  Sophisten 
würdig  war  und  die  vor  Ciceros  Zeiten  bereits  in  Theorien  und 
Spielereien  verkommen  war.  Ist  das  wirklich  so?  Ist  nicht 
Cicero  selber  der  lebendige  Gegenbeweis?  Bedenken  Sie,  wie 
energisch  Cicero  den  Satz  des  Aristoteles  und  Plato  verficht, 
daß  es  beim  Reden  auf  die  Sache  ankomme,  daß  man  genau 
wissen  müsse,  was  und  in  welcher  Reihenfolge  man  es  sagen 
wolle,  ehe  man  sich  um  die  Form  und  den  oratorischen  Schmuck 
bemühen  dürfe.  Er  wird  nicht  müde,  auf  die  Notwendigkeit 
einer  gründlichen,  umfassenden  sachlichen  Bildung  hinzuweisen. 
Formales  Können,  Beherrschung  der  rhetorischen  Technik  mache 
noch  keinen  Redner.  Freilich,  daß  er  nötig  hat,  dies  mehrfach 
zu  betonen,  beweist,  wie  jene  Zeit  davon  durchdrungen  war, 
daß  überhaupt  technische  Schulung  erforderlich  sei,  und  beweist 
außerdem,  was  ich  nicht  bestreite,  daß  die  Rhetorik  ausgeartet 
war  und  den  Anspruch  machte,  alles  zu  leisten.  Die  schema- 
tischen Spitzfindigkeiten  der  Stoiker  verachtet  aber  doch  Cicero! 
Wie  kurz  und  von  oben  herab  behandelt  er  z.  B.  die  ganze  Lehre 
von  den  lumina! 

Mir  scheint,  die  Redekunst  konnte  damals  schon  deshalb 
nicht  zu  bloßer  Künstelei  und  Theorie  herabsinken,  weil  sie  noch 
praktischen  Wert  und  praktische  Ziele  hatte.  Die  Reden  vor 
Gericht,  vor  dem  Senat  und  vor  dem  Volke  dienten  bestimmten 
Zwecken,  die  erreicht  werden  sollten.  Cicero  will  etwas,  wenn 
er  spricht,  und  stellt  alle  Kunst  in  den  Dienst  dieses  Willens. 
Das  Reden  ist  bei  ihm  wie  bei  den  andern  ein  Mittel,  eine  Waffe, 
eine  Macht.  Wie  kann  man  jemanden  einen  reinen  Virtuosen 
nennen,  der  sachlich  wirkt!     Der  praktische  Redner,  ob  er  nun 

100 


Cicero  und  die  Gegenwart, 


Anwalt  oder  Staatsmann  war,  nahm  sich  aus  dem  Wust  von 
Theoremen  das  Gute  und  Lebenskräftige  heraus  und  führte  dem 
erstarrenden  Organismus  beständig  neues  Leben  zu. 

Wenn   Sie  aber  meinen,   daß   Ciceros  Reden  trotzdem  eher 
ins  Theater  gehören  als  an  ernste  Orte,  so  müssen  Sie,  glaube 
ich,  den  südlichen  Nationen,  nicht  ihm,  diesen  Vorwurf  machen. 
Der  Römer,  und  erst  recht  der  Grieche,  ging  in  die  Versammlung 
beinahe  wie  ins  Theater.     Er  verlangte  vom  Redner  erstens,  daß 
er    ihn    mehr  überredete  als  überzeugte  (commovere  und  con- 
ciliare wichtiger  als  docere),   und  zweitens,   daß  er  ihn  erfreute 
(delectare).     Es  trug  also  zum  Erfolg  seiner  Sache  bei,  wenn  der 
Redner  schön  sprach  und  mehr  auf  Gemütswirkung  als  auf  Ver- 
standeswirkung bedacht  war.     Daher  die  pathetischen  Suaden, 
daher  die  Rücksicht  auf    Mitleid,   Abscheu,   Angst  und  andere 
Stimmungen  der  Zuhörer.     Der  Angeklagte  brachte,  wie  man 
sich  doch  schon  aus  Piatos  Apologie  erinnert,  seine  Familie  mit 
vor  Gericht,  um  das  Herz  der  Richter  mild  zu  stimmen,  wenn 
die   Gründe  versagten.      Außerdem  hatte   man   Freude  an   rein 
künstlerischen    Zutaten;    man    wollte    eine    schöne    Gestalt    und 
schöne  Gesten  auf  der  Tribüne  sehen  und  ein  klangvolles,  gut 
ausgebildetes  Organ  hören.     Ich  glaube,  man  hörte  auch  Reden 
gern,  deren   Inhalt  man  nicht  billigte.     Wenigstens  hatte  man 
Geduld    und    blieb  aufmerksam,  auch   wenn  ein  Gegner  sprach. 
Heute  hört  man  allerdings  nur  zu,  wenn  einem  nach  dem  Munde 
geredet  wird;   bei  feindlichen  Rednern  langweilt  man  sich  oder 
macht  Lärm  und  läßt  sie  nicht  zu  Ende  kommen.     Es  war  aber 
darum  den  Leuten  jener  Zeit  nicht  weniger  Ernst  als  uns.    Denken 
Sie    doch  nur    daran,    wie    oft   es  sich   um  Fragen  von  größter 
Wichtigkeit  handelte,  wie  oft  über  Leben  und  Tod,  Herrschaft, 
Knechtschaft,   Verbannung  und   dergleichen  verhandelt  wurde; 
von  Scherz  und  Spiel  war  wahrhaftig  nicht  die  Rede.      Denken 
Sie   an   die   Parteikämpfe   in   den   griechischen    Städten.      Alles 
stand  auf  dem  Spiele,  und  doch  hatte  man  Muße,  lange,  wohl- 
gefügte Reden  herüber  und  hinüber  anzuhören;   und  dies  nicht 
erst  in  den  späteren  gesunkenen  Zeiten,  es  war  von  jeher  so.    Die 
trojanischen  Helden  schon  begegnen  einander  in  schönen  ach- 
tungsvollen Reden,  ehe  sie  aufeinander  loshauen,  und  der  Grieche, 

lOI 


Erster  Teil. 

der  diese  Schilderungen  las,  fand  doch  nichts  Unnatürliches 
darin.  Es  sind  eben  Völker,  die  es  lieben,  gut  zu  reden  und  gut 
reden  zu  hören.  Homer  zeigt  dies  so  deutlich  wie  irgend  ein 
später  Autor.     Odysseus  als  Heros  sagt  schon  genug. 

Ich  will  Ihnen  gern  zugeben,  daß  bei  dieser  Naturanlage  die 
Gefahr  immer  nahe  liegt,  in  Spielereien  zu  verfallen,  wie  wir  sie 
an  den  Rhetoren  kennen.  Auch  leugne  ich  nicht,  daß  bei  Cicero 
manches  eine  solche  Entartung  begünstigt;  so  die  angeborene 
Fähigkeit  zum  Ausdruck,  die  Lust  zur  Amplifikation  ohne  das 
Gegengewicht  einer  starken  Persönlichkeit;  aber  so  ungeheuer 
mächtig  die  Technik  bei  ihm  ist,  ich  finde  doch,  er  hat  sie 
bewältigt.  Er  ist  sachlich,  selbst  einfach.  Lesen  Sie  aufmerk- 
sam eine  Stelle,  wo  er  berichtet.  Wie  klar  erzählt  er!  Wort  für 
Wort  trifft,  keins  ist  zuviel.  Die  Satzbildung  kann  in  historischen 
Partien  nicht  einfacher,  die  Darstellung  nicht  präziser  sein. 
Freilich  ist  nicht  alles  wahr,  was  er  sagt;  er  färbt,  verschleiert, 
verschweigt,  soviel  ihm  gut  dünkt.  Aber  unabsichtlich  wird 
keine  Unklarheit  stehen  bleiben.  Ist  es  an  pathetischen  Stellen 
wirklich  anders?  Ich  bewundere  gerade  die  Sicherheit,  die  er 
auch  hier  in  der  Wahl  der  Effektmittel  und  ihrer  durchaus  künst- 
lerischen Handhabung  zeigt.  Ich  finde  ihn  nicht  schwatzhaft 
wie  Sie,  denn  er  verweilt  nie  länger  bei  einem  Gegenstand,  als 
seinem  Zweck  entspricht.  Er  hat  seine  Zuhörer  nie  gelangweilt, 
sondern  sie  von  Anfang  bis  zu  Ende  in  Spannung  erhalten,  so 
wie  er  mich  in  Spannung  erhält.  Die  Formenfreude,  die  ihm 
eigen  ist,  die  Lebenswonne,  die  ihn  erfüllt,  das  stolze  Bewußtsein 
römischer  Größe  und  Herrlichkeit,  das  ihn  schwellt,  rauben  ihm 
nirgends  die  Besonnenheit,  die  er  als  Redner  nötig  hat;  und  auch 
wo  er  mit  übertreibenden  Worten  Kleinigkeiten  aufbauscht  oder 
einen  Stimmungsdunst  erzeugt,  tut  er  es  mit  künstlerischem 
Takt  und  sachlicher  Beherrschung. 

Schließlich  hören  Sie  noch  dies.  Wer  den  Gehalt  seiner  Reden 
in  ihrem  Stoff  und  zufälligen  Anlaß  sucht,  kann  meiner  Meinung 
nach  den  Redner  nicht  richtig  beurteilen.  Der  Gehalt  und  der 
Wert  liegen  anderswo.  Es  gibt  zwei  Arten  von  Künstlern  und 
überhaupt  von  Wirkenden;  die  einen  gehen  von  bestimmten 
Absichten,  die  sie  verwirklichen,  Ideen,  die  sie  verkörpern  wollen, 

I02 


Cicero  und  die  Gegenwart. 


aus  und  suchen  nach  Darstellungs-  und  Verwirklichungsmitteln, 
nach  dem  Weg,  dem  Wie;  die  andern  haben  von  der  Natur  einen 
unbestimmten  Tatendrang,  eine  Kraft  überhaupt  darzustellen 
und  in  Szene  zu  setzen  mitbekommen  und  suchen  nach  Aufgaben, 
nach  Anlässen  zur  Betätigung,  also  nach  dem  Was.  Wer  all- 
gemeine Entgegensetzungen  liebt,  mag  die  ersten  männlich,  die 
zweiten  weiblich  nennen;  jene  gleichen  dem  Samen,  der  ein  Erd- 
reich sucht,  diese  dem  Erdreich,  dessen  Kräfte  erst  die  Befruch- 
tung auslöst.  Der  Wert  der  ersten  liegt  in  dem,  was  sie  tun, 
der  zweiten  darin,  wie  sie  tun.  Ich  glaube,  man  hält  in  Deutsch- 
land die  letzteren  für  degeneriert;  Sie,  verehrter  Freund,  hoffent- 
lich nicht;  denn  es  gibt  keine  beschränktere  Anschauung.  Klar 
ist,  daß  Cicero  zu  der  zweiten  Gattung  gehört.  Er  will  sich  aus- 
geben und  ausleben  als  Redner  und  benutzt  die  Gelegenheiten, 
die  ihm  sein  juristischer  und  staatsmännischer  Beruf  bietet.  Der 
Ernst,  den  Cicero  stets  hat  und  deshalb  auch  vom  Beurteiler 
verlangen  kann,  liegt  nicht  im  Anlaß  der  Rede,  sondern  in  dem 
Aufwand  von  Persönlichkeit  und  Kunst,  den  er  macht,  so  wie 
einem  Gemälde,  das  ein  Künstler  schafft,  nicht  sein  Stoff,  sondern 
sein  Schöpfer  den  Wert  gibt.  Der  reale  Inhalt  in  Ciceros  Reden 
bedeutet  wenig  gegenüber  dem  eigentlichen  Inhalt,  und  dieser 
ist  der  Rhythmus  seiner  Natur.  Bei  andern  äußert  sich  derselbe 
in  Musik  oder  in  dekorativen  Linien  oder  sonstwie,  bei  Cicero 
in  schönen  Tiraden.  Er  sucht  nach  Stoffen,  in  denen  sein 
Fonds  von  tönenden  Rhythmen  Wort  werden  kann,  und  hat 
ein  wunderbares  Geschick  sie  zu  finden.  Ob  sie  gering  sind,  was 
geht  es  uns  an!  Sie  werden  interessant,  groß,  ewig  unter  seiner 
Hand.  Ob  Dejotarus  ein  edler  Mann  war  und  was  für  Händel 
Milo  mit  Clodius  hatte,  ist  uns  gleichgültig,  so  gleichgültig,  wie 
die  Gefühle,  die  eine  Frau  auf  Lesbos  vor  25  Jahrhunderten  hatte, 
wenn  sie  eine  andere  aus  der  Ferne  sah,  oder  die  Besprechung, 
die  dieselbe  Frau  auf  Lesbos  einmal  mit  Aphrodite  hatte.  Der 
Lyriker  wirkt  mit  einem  dünnen  vergänglichen  Stoff  in  alle 
Ewigkeit;  ebenso  kann  es  jeder  andere  Künstler  und  überhaupt 
jeder  Mensch.  Cicero  benutzte  doch  selbst  Catilina  und  M.  An- 
tonius nur  als  Material  zur  Inszenesetzung  seiner  Natur.  Hierbei 
lief   ihm  freilich  ein  kleiner  Irrtum  unter,  den  er  mit  manchen 


103 


Erster  Teil. 

anderen  Männern  gemein  hat.  Er  hatte  recht,  diese  Personen 
und  die  Ereignisse,  die  sich  an  sie  knüpften,  als  Anlaß  seiner 
Kunstbetätigung  zu  gebrauchen  und  schöne  Reden  aus  ihnen 
zu  machen,  aber  unrecht,  seine  reale  Wirksamkeit  als  Staats- 
mann mit  diesen  Objekten  zu  dekorieren.  Der  Staatsmann  Cicero 
ist  gleichgültig,  weil  der  Wert  seiner  Persönlichkeit  in  ihm  nicht 
zur  Erscheinung  kam.  Er  konnte  auch  ihn  als  Thema  verwerten 
und  dadurch  bedeutend  machen,  wie  er  es  etwa  in  der  Rede  für 
Sestius  tut,  aber  er  durfte  nicht  meinen,  daß  z.  B.  an  der  cati- 
linarischen  Verschwörung  das  eigentlich  Interessante  der  Konsul 
Cicero  sei.  Der  Redner  Cicero  war  es,  nicht  der  Konsul.  Der 
Mann  wird  komisch  durch  diesen  Irrtum;  ich  finde  es  in  der 
Ordnung,  daß  Sie  über  ihn  lachen,  und  lache  mit.  Aber  kann 
das  meiner  Bewunderung  für  den  Künstler  Eintrag  tun? 


Rom,  23.  Februar. 

Meine  Argumente  haben  keinen  Eindruck  auf  Sie  gemacht, 
verehrter  Freund.  Vielleicht  liegt  das  zum  Teil  daran,  daß  ich 
zu  wenig  von  Ciceros  Ausdrucksfähigkeit  habe.  Sie  mißverstehen 
mich,  wenn  Sie  meinen,  ich  nennte  Cicero  in  dem  Sinne  einfach 
wie  Cäsar.  Alles  Gute,  was  Sie  über  den  Schriftsteller  Cäsar 
sagen,  billige  ich  vollkommen,  nur  kann  ich  den  Schluß  nicht 
zugeben,  daß  man  Cicero  verachten  müsse,  wenn  man  Cäsar 
lobt.  Können  sie  nicht  nebeneinander  bestehen?  Wie  schief 
und  einseitig  ist  Ihre  Entgegenstellung:  Cäsar  ist  einfach,  Cicero 
schwülstig,  Cäsar  ehrlich,  Cicero  gesinnungslos,  Cäsar  tief, 
Cicero  oberflächlich!  Wen  nennen  Sie  einfach?  Doch  den,  der 
nicht  mehr  Worte  macht,  als  er  braucht,  der  sein  Ziel  auf  dem 
geraden  Wege  erreicht.  Ich  meine  aber,  dies  gilt  für  Cicero  wie 
für  Cäsar.  Das  Ziel  ist  bei  beiden  ein  verschiedenes,  und  die  Per- 
sönlichkeiten, die  es  sich  stellen,  sind  verschiedene.  Cäsar  gehört 
zu  den  großen  Naturen,  die  den  Schmuck  verschmähen  dürfen, 
die  befehlen,   wo   sie  zu  überreden  scheinen.      Solche  Naturen 

104 


Cicero  und  die  Gegenwart. 


werden  nie  pathetisch,  höchstens  haben  sie  das  Pathos  des  Pe- 
sante;  an  ihren  Fassaden  bewundert  man  nicht  Pracht  und 
Reichtum,  sondern  sie  wirken  durch  wenige  große  Linien,  rein 
architektonisch.  Aber  wer  dazu  nicht  imstande  ist,  darf  noch 
nicht  überladen  und  pomphaft  im  schlechten  Sinne  genannt  wer- 
den. Cicero  ist  nicht  Asianismus,  obwohl  ihm  allerdings  das 
Lapidarische,  das  Befehlende  versagt  ist,  versagt  nicht  durch 
seinen  Geschmack,  sondern  seine  Natur.  Er  ist  nicht  stark  genug; 
er  muß  seine  Lunge  anstrengen,  sich  viel  bewegen  und  einen  großen 
Apparat  in  Tätigkeit  setzen,  um  dasselbe  zu  erreichen,  was  der 
großen  Persönlichkeit  von  selbst  in  den  Schoß  fällt.  Hierdurch 
erklärt  sich  auch,  daß  er  unbedeutende  Stoffe  wählt,  was  Sie 
so  sehr  tadeln.  Er  hatte  den  Takt,  zu  begreifen,  daß  die  kleine 
Natur  sich  nicht  an  zu  große  Dinge  heranwagen  darf;  denn  die- 
selben verlangen  eine  große  Vortragsweise,  d.  h.  eine  gedämpfte, 
jede  Amplifikation  vermeidende.  Geringe  Stoffe  dagegen  haben 
Verstärkung  und  Aufputz  nötig.  Es  ist  wie  mit  den  musikalischen 
Virtuosen;  nur  ganz  wenige  versuchen  sich  mit  Glück  an  den 
größten  Kompositionen  und  treffen  die  schmucklose  zurück- 
haltende Vortragsweise,  die  doch  nicht  langweilig  werden  darf. 
Vortragende  von  schwächerer  Persönlichkeit  bevorzugen,  wenn 
sie  klug  sind,  unbedeutendere  Kompositionen,  da  dieselben  ihnen 
Raum  und  Anlaß  zur  Entfaltung  ihres  dekorativen  Talents  geben. 
So  hebt  Cicero  durch  den  Einfluß  seines  Talents  die  Stoffe  und 
Sie  müssen  zugeben,  daß  er  einem  jeden  ein  Relief  von  Glanz 
und  Schönheit  zu  geben  wußte,  daß  er  Wasser  selbst  aus  dem 
Felsen  schlug  und  durch  die  absurdesten  und  fragwürdigsten 
Geschichten  uns  in  Spannung  versetzt.  Er  verewigt  seine  Stoffe, 
ich  bleibe  dabei.  So  wie  die  Mücke  durch  den  erkaltenden  Bern- 
stein, der  sie  umschließt,  zwar  getötet,  aber  auch  unvergänglich 
wird,  so  verewigt  Cicero  uninteressante,  zeitlich  bedingte  Kleinig- 
keiten. 

Also  ein  Virtuose,  ein  Schauspieler,  kein  echter  und  auf- 
richtiger Mensch!  Folgt  das  in  der  Tat  daraus?  Sie  erinnern 
an  Mommsen,  der  Cicero  mit  Recht  einen  Mann  ohne  Einsicht, 
Ansicht  und  Absicht  nenne.  Ich  widerspreche  durchaus,  trotz 
Mommsen,  dessen  Urteil  über  Cicero  mir  nicht  mehr  deutlich 


Horneffer,  Das  klassische  Ideal. 


105 


Erster  Teil. 

in  der  Erinnerung  ist;  ich  werde  ihn  wieder  lesen.  Das  Verhältnis 
eines  Künstlers  zur  Aufrichtigkeit  und  Gesinnungstreue  ist  ein 
heikles  Kapitel,  das  man  nur  vor  Leuten  ohne  Vorurteile  ab- 
handeln sollte.  Nur  moralische  Menschen  sind  der  Meinung 
(und  sollen  es  sein),  daß  Ansichten,  die  in  einem  Kunstwerk 
ausgesprochen,  Leidenschaften,  die  in  demselben  dargestellt  wer- 
den, dem  Urheber  zugerechnet  werden  müssen.  Sie  identifizieren 
den  Künstler  mit  seinem  Stoff.  Fast  jeder  aber  tut  dies  beim 
Redner.  Wenn  es  nicht  seine  Sache  ist,  die  er  dort  mit  Leiden- 
schaft vertritt,  seine  innersten  heiligsten  Gefühle  sind,  die  er  voll 
Ergriffenheit  mitteilt,  was  sei  er  dann  anderes  als  ein  Betrüger 
und  Komödiant!  Ich  zweifle  aber  gar  nicht,  daß  jeder  Redner 
so  gut  wie  jeder  Künstler  in  der  Tat  ein  wenig  Betrüger  und 
Komödiant  ist,  der  eine  weniger,  der  andere  mehr.  Jeder  ist 
außerdem  noch  ehrlich,  er  muß  es  sein,  aber  er  benutzt  die  Ehr- 
lichkeit, möchte  ich  sagen,  als  künstlerisches  Mittel,  sowie  er 
die  Unehrlichkeit  und  alles  andere,  was  er  hat  und  ist,  für  sein 
Werk  benutzt.  Er  muß  Herr  seiner  sämtlichen  Eigenschaften 
bleiben,  sie  immer,  wenn  er  sie  braucht,  zur  Verfügung  haben 
und  sie  setzen  und  schieben  können  wie  Schachfiguren.  Wenn 
er  sich  von  irgendeiner  gefangen  nehmen  läßt,  ist  er  als  Künstler 
verloren  (wenn  auch  als  moralischer  Mensch  vielleicht  gestiegen) . 
Es  mag  ihm  zeitweise  geschehen  und  vielleicht  wünscht  er,  daß 
es  immer  so  wäre;  denn  er  trägt  oft  schwer  an  seinem  Beruf, 
der  ihn  zur  Unehrlichkeit  nötigt,  er  haßt  den  kühlen  Kunsttrieb 
in  sich,  der  all  sein  Leben,  Lieben,  Leiden  sich  Untertan  macht, 
für  sich  arbeiten  läßt  und  das  Eingebrachte  hübsch  geordnet  in 
Schaukästen  stellt.  Entgehen  aber  wird  er,  falls  er  wirklich 
Künstler  ist,  der  Unehrlichkeit,  Lüge,  Heuchelei,  Untreue  nicht. 
Cicero,  um  zu  ihm  zurückzukehren,  war  eine  leichte,  glücklich 
veranlagte  Natur  und  hat  gewiß  keine  moralischen  Skrupel  dieser 
Art  gehabt.  Daß  er  aber  in  Ihrem  Sinne  gewissen-  und  gesin- 
nungslos gewesen  wäre,  scheint  mir  keineswegs  richtig.  Seine 
besten  Reden  verraten  deutlich  den  starken  Anteil  des  Redners 
an  der  Sache.  Ich  bin  überzeugt,  daß  er  fast  alles  glaubt,  was  er 
vorbringt,  und  fast  nie  gefühllos  bleibt,  wo  er  Gefühle  äußert. 
Er  empfiehlt  dies  auch  in  seiner  theoretischen  Schrift;  der  Redner 

io6 


Cicero  und  die  Gegenwart. 


solle  alle  Stimmungen,  die  er  ausdrückt  und  seinen  Zuhörern 
mitteilt,  selber  haben;  das  erhöhe  die  Wirkung,  da  eine  Über- 
tragung der  Erregung  stattfände.  Natürlich  kann  ein  solcher 
Rat  nur  nützlich  werden  für  sensible  Naturen,  die  sich  leicht  für 
dies  und  jenes  begeistern  können  und  deren  Flamme  schnell 
wieder  verraucht.  So  war  Cicero,  und  darum  nennen  Sie  ihn 
oberflächlich.  Mag  sein;  gegen  die  stetige  Leidenschaft  Cäsars 
gehalten,  ist  er  es  wohl.  Doch  ist  ein  so  beweglicher  Mensch 
nicht  auch  etwas  Schönes?  Ich  freue  mich  an  seiner  Lust,  bald 
dies,  bald  jenes  in   Szene  zu  setzen  und  zu  illuminieren. 

Übrigens,  was  Sie  von  der  ,, tiefen  Leidenschaft  aller  echten 
Künstler"  sagen,  bedarf  doch  gar  sehr  der  Einschränkung.  Er- 
wägen Sie,  wie  viel  verschiedene  Leidenschaften  z.  B.  ein  Dra- 
matiker im  Laufe  seines  Lebens  darstellt,  und  unter  diesen  ist 
mehr  als  eine  so  gewaltig,  daß  sie  ein  ganzes  Menschenleben 
bestimmt,  erfüllt,  ja  zugrunde  richtet.  Glauben  Sie  wirklich, 
daß  der  Künstler  diese  alle  mit  ebensolcher  Kraft  und  Tiefe 
durchlebt  und  besitzt  wie  der  einfache  reale  Mensch,  der  an  einer 
von  ihnen  übergenug  hat?  Wenn  es  so  wäre,  käme  er  recht 
schnell  ans  Ende  seiner  Kraft  und  Kunst  und  behielte  weder 
Zeit  noch  Lust,  seine  Leidenschaften  zu  beobachten  und  künst- 
lerisch zurechtzustutzen.  Der  beste  Beweis  sind  ja  die  allzu 
ehrlichen,  allzu  tiefen  Naturen,  die  sich  einbilden  Künstler  zu 
sein  und  vergeblich  abmühen  es  zu  werden.  Die  Versuche,  ihre 
großen  Leidenschaften  in  Kunstwerke  zu  bannen,  können  nicht 
gelingen  und  was  sie  produzieren,  ist  entweder  oberflächlich, 
weil  es  gar  nichts  von  der  Leidenschaft  des  Autors  enthält,  oder 
formlos,  weil  es  sie  unbearbeitet  und  unbewältigt  enthält.  Der 
Künstler  muß  viele  Seelen  in  sich  vereinigen,  viele  Leidenschaften 
in  sich  erklingen  lassen  können,  leise,  laut,  wie  er  es  bedarf; 
er  muß  auch  aus  fremden  Naturen  heraus  leben,  sich  freuen  und 
leiden  können.  So  empfindet  Cicero  mit  seinen  Klienten  ganz 
ehrlich,  wenn  ihm  deren  Sache  im  Grunde  auch  fern  liegt.  Er 
würde  in  die  Sache  des  Gegners  sich  ebensogut  einleben  können. 
Es  ist  dasselbe  wie  mit  dem  Dichter,  der  aus  Kreons  und 
Antigenes,  aus  Klytämnestras  und  Elektras  Seele  denkt  und 
spricht.    Das  höchste  Interesse  bei  allem,  was  der  Künstler  er- 


107 


Erster  Teil. 

lebt,  —  davon  gehe  ich  nicht  ab  —  muß  immer  sein :  wie  ist  es 
in  Szene  zu  setzen?  Wie  ist  aus  dem  Erlebnis  ein  künstlerisches 
Gebilde  zu  machen? 

Nehmen  Sie  selbst  den  ehrlichsten  Redner,  der  lediglich  seine 
Sache  ausspricht.  Auch  er  braucht  so  viel  Schauspielerei,  wie 
das  Auftreten  selber  mit  sich  bringt.  Er  muß  zu  einer  bestimmten 
Zeit  reden,  wo  seine  Stimmung  vielleicht  nicht  zu  der  Rede  paßt, 
muß  konträre  und  ablenkende  Gefühle  unterdrücken,  muß  über- 
legen, mit  welchen  Worten,  in  welcher  Folge  und  Ausdehnung 
er  am  wirkungsvollsten  spricht.  Dazu  kommt,  daß  er  dies  und 
jenes  verschweigen  muß,  was  er  sagen  möchte,  aber  seinem 
Publikum  aus  Klugheit  vorenthalten  muß;  er  muß  die  Gefühle 
der  Anwesenden  und  vielleicht  auch  der  Abwesenden  in  Rücksicht 
ziehen  und  danach  seine  Rede  modeln,  kurz,  er  muß  seine  Sache 
den  Umständen  anpassen  und  sie  für  den  Vortrag  zurechtmachen. 
Der  Unterschied  zwischen  dem,  was  in  den  Gedanken  des  Redners 
lebt,  und  dem,  was  er  in  einer  heutigen  Rede  vor  einem  bestimmten 
Publikum  sagt,  ist  manchmal  ein  so  großer,  daß  der  natürliche 
Mensch  kaum  eine  Ähnlichkeit  entdecken  würde.  Denken  Sie 
etwa  an  die  Reden,  die  Bismarck  im  Laufe  seines  Lebens  gehalten 
hat.  Was  ist  ihnen  gemeinsam  außer  der  Grundrichtung  der 
Persönlichkeit?  Und  wenn  man  die  Reden  kennte,  die  er  seinem 
Souverän,  seinen  Kollegen,  ausländischen  Personen  usw.  über 
dieselben  Angelegenheiten  hielt,  über  die  er  in  den  Kammern 
sprach,  so  würde  man  über  das  Maß  von  Schauspielerei  erstaunen, 
das  ein  so  grundehrlicher  Mann  aufwendete,  um  seine  Absichten 
durchzusetzen.  Er  wußte  eben  wie  Cicero,  daß  die  Redekunst 
die  buva|Luc  ist,  -rrepi  eKacTiov  toO  Oewpr[(Sa\.  t6  evbex6)aevov  Tri9av6v, 
und  daß  dies  TTiGavov  in  jedem  Falle  ein  verschiedenes  sein 
kann.  Nun  dürfen  Sie  aber  nicht  sagen,  ich  stellte  Cicero  Bis- 
marck gleich ,  ebensowenig  wie  ich  ihn  Demosthenes  an  die 
Seite  stelle.  Diese  beiden  haben  eine  Gewalt,  Konsequenz, 
Charaktergröße,  die  der  biegsame  Römer  nicht  hat;  aber  eine 
Konsequenz  der  Persönlichkeit  finde  ich  doch  auch  bei  ihm. 
Sie  leugnen  dies  und  sagen  in  Ihrem  Brief,  er  habe  die  Liebe  zur 
guten  alten  Zeit,  die  in  seinen  Reden  neben  seiner  Eitelkeit  der 
einzige  rote  Faden  sei,  von  Demosthenes  einfach  übernommen, 

io8 


Cicero  und  die  Gegenwart. 


v/eil  sich  darüber  gut  schwatzen  läßt.  Ich  kann  Ihnen  nicht 
zustimmen.  Die  Begeisterung  für  die  Tugend  der  Vorfahren  ist 
vielleicht  übertrieben  und,  wenn  Sie  wollen,  komisch  bei  ihm, 
aber  ohne  Zweifel  ehrlich,  sowie  eine  Reihe  anderer  ethischer 
und  politischer  Grundsätze,  die  er  immer  wieder  verficht.  Ob 
dieselben  Wert  haben,  ob  wir  sie  ernst  nehmen  sollen,  lasse  ich 
dahingestellt.  Genug,  daß  sie  ihm  ernst  waren.  Auch  haben 
Sie  gewiß  recht,  daß  er  wohl  wußte,  welchen  Glanz  das  Eintreten 
für  edle  und  ehrwürdige  Dinge  ihrem  Anwalt  verleiht.  Es  gibt 
kein  dankbareres  Thema  für  schöne  Reden,  als  die  Größe  der 
Vergangenheit.  Ob  aber  Demosthenes  dies  nicht  auch  gewußt 
hat?  Und,  nichts  für  ungut,  hat  nicht  auch  Demosthenes  etwas 
Komisches  an  sich?  Er  redet  und  redet  und  seine  feinen  Athener 
hören  zu,  freuen  sich  an  dem  Redner,  tun  aber  nichts.  Man 
möchte  ihm  zurufen,  abzustehen  und  einzusehen,  daß  sein  Mühen 
zwecklos  und  sein  Wollen  eine  Unmöglichkeit  ist.  Wenn  jemand 
auf  spielende  Kinder  einredet,  sie  müßten  gegen  den  Feind  ziehen, 
so  ist  er  bei  aller  Vortrefflichkeit  und  guten  Absicht  doch  ein  Tor. 
Trotzdem  bleibt  er  der  größte  Redner,  den  wir  kennen,  ich  denke 
nicht  daran,  ihm  dies  zu  bestreiten.  Wie  können  Sie  glauben, 
daß  ich  Cicero  ihm  vorzöge!  Meinen  Plan,  seine  und  andere 
griechische  Reden  durch  eine  freie  Übertragung  den  Deutschen 
zugänglicher  zu  machen,  hat  Cicero  nicht  im  mindesten  erschüt- 
tert. Ob  man  Cicero  übersetzen  kann,  scheint  mir  vor  der  Hand 
noch    fraglich.    Ich  möchte  mich  nicht  daran  wagen. 

Über  Ciceros  Oberflächlichkeit  hätte  ich  noch  ein  Wort  zu 
sagen.  Sollten  Sie  nicht  den  Fehler  so  vieler  Nordländer  machen 
und  Oberflächlichkeit  mit  Durchsichtigkeit  verwechseln?  Cicero 
sagt  alles,  behält  nichts  zurück,  und  sagt  alles  auf  die  deutlichste 
Weise.  Er  vermeidet  dunkle  inkommensurable  Gegenstände  und 
Einfälle,  bringt  nur  Melodien,  die  natürlich  zu  Ende  gehen  und 
die  im  Forte  sich  verwenden  lassen.  Er  ist  laut,  wenn  Sie  wollen. 
Was  nicht  zu  tönender  Schönheit  gemacht  werden  kann,  was 
den  Eindruck  des  Festlichen  stören  könnte,  läßt  er  fallen.  Er 
hat  nie  Geheimnisse,  die  nur  durch  Winke  und  Gestammel  an- 
gedeutet werden  können,  er  läßt  nirgends  einen  Rest  unaus- 
gesprochener Persönlichkeit,  die  einiges  zu  geben,  anderes  zurück- 


zog 


Erster  Teil. 

zubehalten  scheint.  Man  hat  z.  B.  bei  Cäsar,  auch  bei  Tacitus 
und  anderen  das  Gefühl,  daß  sie  mehr  wissen,  als  sie  sagen,  bei 
Cicero,  daß  er  sich  ganz  aufdeckt  und  ausleert.  Wenn  das  Ober- 
flächlichkeit ist,  sind  alle  durchsichtigen  Geister  oberflächlich, 
auch  Horaz,  auch  Catull,  auch  Homer 


Rom,  2.  März. 

Mommsen  hat  mich  bestärkt,  nicht  erschüttert.  Ich  ver- 
sichere Sie,  er  ist  kein  großer  Historiker,  obwohl  Sie  ihn  so 
nennen  und  ich  ihn  früher  dafür  hielt.  Ein  solcher  könnte  einen 
Mann  wie  Cicero  nicht  auf  so  barbarische  Weise  mißhandeln. 
Was  mich  am  meisten  überrascht  hat,  ist  der  Eindruck  des  Ver- 
alteten, des  Toten,  den  seine  Beurteilung  macht.  Der  Mann, 
der  2000  Jahre  alt  ist,  erscheint  jung  neben  ihm.  Und  er  meinte 
Cicero  den  Garaus  machen  zu  können!  Er,  der  nach  wenigen 
Jahrzehnten  schon  altmodisch  geworden  ist!  Ich  muß  mir  Mühe 
geben,  ihn  nicht  rein  historisch  zu  nehmen  und  mit  dem  in- 
direkten Interesse  zu  lesen  wie  einen  gleichgültigen  Gelehrten. 
An  Cicero  denkt  man,  wenn  man  durch  die  Trümmer  des  alten 
Rom  geht,  sieht  ihn  auf  dem  Forum  stehen  und  hört  seine  wunder- 
vollen Sätze  dahinrauschen.  Mommsen  wird  mir  nur  bei  anti- 
quarischen Details  lebendig  oder  wenn  ich  Reisende  sehe,  die 
dumpfe  Stubenluft  aus  dem  Norden  mitbringen.  Hätte  er  nur 
mehr  von  der  Kunst  Ciceros  besessen,  die  er  so  verachtet  und  so 
verkennt!  Dann  wäre  all  das  Gute,  das  er  hat,  seine  trefflichen 
Ideen,  seine  energische  Natur,  weniger  vergänglich  gewesen! 
Er  hätte  ein  großes  Werk  geschrieben  statt  eines  vielleicht  ge- 
lehrten, vorzüglichen,  aber  schnell  überlebten.  Es  ist  gut  und 
nötig,  daß  der  Geschichtsschreiber  seine  Persönlichkeit  und  seine 
Zeit  wiederspiegelt  und  in  seinem  Werk  zur  Geltung  bringt;  aber 
es  ist  traurig,  wenn  die  Persönlichkeit  ihrer  Zeit  Untertan  und 
die  Zeit  eine  armselige  ist.     Die  vergangene  Generation,  das  ist 

HO 


Cicero  und  die  Gegenwart. 


der  eigentliche  Inhalt  seiner  Geschichte;  die  Generation,  die  wir 
fast  schon  vergessen  haben,  obwohl  viele  unserer  Zeitgenossen 
dem  Geiste  nach  zu  ihr  gehören.  Es  waren  kleine  brave  selbst- 
zufriedene Leute,  nicht  exzentrisch,  nicht  romantisch,  nur  mittel- 
mäßig; sie  wagten  sich  an  die  größten  Dinge  heran  und  sprachen 
viel  von  Kraft  und  Größe.  Darunter  waren  tüchtige  Gelehrte, 
freundliche  Dichter,  liebe  Historienmaler,  verschollene  Musiker, 
lauter  ,, Kapazitäten",  deren  Person  sich  einem  absolut  nicht 
einprägen  will.  Jeden  Abend  gingen  sie  mit  der  Befriedigung  zu 
Bett:  wie  haben  wir  es  herrlich  weit  gebracht!  wie  gut  haben 
es  einmal  unsere  Nachkommen,  da  wir  ihnen  keine  Schwierig- 
keiten mehr  zu  lösen,  keine  Aufgaben  zu  erfüllen  übrig  lassen! 
Wir  Heutigen  leiden  zwar  auch  an  Selbstüberschätzung,  aber  es 
verbindet  sich  mit  ihr  doch  Kraft  und  Unbefriedigung,  sie  weist 
in  die  Zukunft.  Es  ist  Luft  in  das  dumpfe  kleinbürgerliche 
Zimmer  gekommen.  Nietzsche,  Dühring,  Böcklin,  Wagner,  Hugo 
Wolf,  Stefan  George  und  andere  Größere  und  Geringere,  sie 
haben  das  Gemeinsame,  daß  ihr  Schwerpunkt  zwar  auch  nicht 
in  ihnen  selbst,  aber  doch  vor  ihnen,  nicht  hinter  ihnen  liegt.  Sie 
wissen  und  können  unendlich  viel  mehr  als  jene  kleinen  Praktiker 
und  großen  Theoretiker  mit  ihrer  Harmlosigkeit,  Liebenswürdig- 
keit und  Selbstzufriedenheit.  Welch  ein  Irrtum  aber,  daß  Momm- 
sens  und  David  Straußens  Generation  von  Cicero  nichts  hören 
mag!  Sie  sollten  in  seinem  Geist  den  ihrigen  wiedererkennen. 
Auch  Cicero  hatte  eine  behagliche  Selbstzufriedenheit  und  das 
unerschütterliche  Bewußtsein,  den  Gipfel  der  Menschheit  zu 
repräsentieren.  Freilich,  welch  ein  Unterschied!  Er  der  Enkel 
des  griechischen  und  römischen  Wesens,  das  Resultat  unge- 
heurer Kulturarbeit,  darum  fruchtbar  und  ewig  fortwirkend; 
sie  die  Erben  einer  kaum  begonnenen  Kultur,  am  Vormittag 
ausruhend,  darum  steril  durch  und  durch.  Nur  ihre  fleißige 
Sammelarbeit  kommt  uns  zugute.  Was  sie  an  Saft  haben,  lohnt 
nicht  die  Mühe  des  Auspressens.  Vor  allem  fehlt  ihnen  der  Be- 
griff der  Form,  daher  auch  die  Mißachtung  Ciceros.  Bei  Momm- 
sen  kommt  dieser  Grundmangel  auf  die  naivste  Weise  zum  Vor- 
schein; so  z.  B.  wenn  er  vom  Stilisten  Cicero  redet  im  Gegensatz 
zum  Schriftsteller,  den  ersteren  lobt,  den  anderen  beseitigt.    Was 

III 


Erster  Teil. 

mag  ein  Stilist  für  ein  Wesen  sein?  Jemand,  der  gutes  Latein 
in  ,,wohlkadenzierten  Perioden"  schreibt,  sollte  doch  kaum  ,, durch- 
aus Pfuscher"  zu  nennen  sein,  und  ein  Historiker  Roms  sollte 
die  kindliche  Vorstellung  überwunden  haben,  daß  gute  Perioden 
sich  von  der  schriftstellerischen  Persönlichkeit  und  der  Stil  von 
der  Persönlichkeit  überhaupt  trennen  lasse.  Ist  z.  B.  Mommsen 
auch  ein  Stilist?  Sagen  Sie  es  mir,  und  sagen  Sie  mir  auch,  ob 
Sie  ihn  ,, gehaltvoller"  finden  als  sein  armes  Opfer.  Meiner  Mei- 
nung nach  ist  Cicero  reich  an  Inhalt.  In  seinen  Reden  wird 
jedesmal  ein  großer,  vorzüglich  bewältigter  Stoff  vorgetragen. 
Das  ganze  römische  Leben  seiner  Zeit  geht  an  den  Augen  des 
Lesers  vorüber,  Krieg  Frieden,  Hauptstadt  Provinzen,  Gauner 
ehrliche  Leute,  Charaktere  Schicksale,  häusliches  öffentliches. 
Reise-  Beamtenleben,  alles  scharf  charakterisiert,  leuchtend 
dargestellt.  Das  kleinliche  Gestrüpp  einer  sich  vordrängenden 
Reflexion  fehlt,  man  wird  nicht  wie  bei  Mommsen  durch  be- 
ständiges Heranziehen  moderner  Begriffe  und  Verhältnisse  zwi- 
schen zwei  Stühle  gesetzt.  Mit  Mommsen  ist  es  wie  mit  den 
Ergänzungen  antiker  Statuen,  die  eine  spätere  Zeit  vorgenommen 
hat.  Der  Torso  ist  schöner  und  auch  vollständiger  als  das  mit 
Ungeschmack  oder  doch  zeitlich  bedingtem  Geschmack  ergänzte 
V\^erk.  Wer  kein  philologisches  Interesse  hat,  sollte  daher  rö- 
mische Geschichte  bei  Cicero  studieren,  nicht  bei  Mommsen. 
Daß  Cicero  färbt  und  lügt,  tut  wenig  zur  Sache.  Farbe  gehört 
ins  Bild.  Im  ganzen  ist  er  wahr,  da  er  es  nicht  anders  sein  kann. 
Wie  vermöchte  er  seine  Zeit  zu  verleugnen!  Er  gehört  ja  selber 
in  sein  Bild  hinein.  Ein  moderner  Historiker  ist,  wo  er  urteilt 
und  interpretiert,  viel  unwahrer,  was  am  besten  Mommsen 
durch  das  Zerrbild  beweist,  das  er  von  Cicero  entwirft.  Es  cha- 
rakterisiert richtiger  und  gründlicher  den  Beurteiler  und  seine 
Zeit  als  sein  Objekt.  Der  Unterschied  aber,  daß  Cicero  bewußt  lüge 
und  ein  Historiker  unbewußt,  ist  in  der  Praxis  ein  geringer, 
zumal  es  bei  beiden  auf  das  künstlerische  Moment  der  Lüge 
ankommt. 

Wie  ratlos  Mommsen  dem  Autor  Cicero  gegenüber  ist,  zeigt 
auch  die  Bevorzugung  der  theoretischen  Schriften.  Wenn  man  von 
Cicero  spricht,  kann  man  doch  nur  den  Redner  und  Briefschreiber 

112 


Cicero  und  die  Gegenwart. 


meinen,  nicht  den  Verfasser  von  Dialogen.  Auch  diese  gehören 
ihm  wirklich  an,  sie  sind  der  Abglanz  der  gleichen  Schönheit, 
wie  denn  ein  Mann  von  so  reifer  Kultur  in  keinem  Wort  sich 
verleugnen  kann.  Aber  zur  Vollendung  konnte  er  es  hier  nicht 
bringen,  weil  er  kein  Philosoph  war.  Demosthenes  erdrückt  ihn 
nicht,  aber  Plato  und  Aristoteles  lassen  ihn  nicht  bestehen.  Nicht 
das  Triviale  vieler  Gedankengänge  möchte  ich  vor  allem  geltend 
machen.  Oft  scheinen  sie  uns  nur  trivial,  weil  die  besprochenen 
Probleme  uns  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen  sind,  wie  doch 
auch  die  Werke  jener  griechischen  Philosophen  recht  häufig  auf 
umständliche  Weise  Fragen  diskutieren,  über  die  man  heute  kein 
Wort  mehr  verlieren  würde.  Daß  uns  umgekehrt  Ciceros  Rhetorik 
nicht  flach  erscheint,  wird  den  entsprechenden  Grund  haben. 
Der  Stoff,  der  darin  abgehandelt  wird,  ist  uns  neu.  Dazu  kommt 
allerdings,  daß  der  Autor  über  die  Redekunst  besser  Bescheid 
weiß,  als  über  andere  Dinge.  Eine  große  Praxis  stand  ihm  zu 
Gebote;  aus  ihr  stammt  die  Fülle  feiner  Beobachtungen  und 
treffender  Ratschläge. 

Aber  Mommsen  ist  ja  der  Meinung,  daß  es  zwar  vernünftig 
sei,  theoretische  Schriften  zu  veröffentlichen,  nicht  aber  Ge- 
richtsreden! Die  Plaidoyerliteratur,  wie  er  nach  seiner  Art 
sich  ausdrückt,  bedeute  Unnatur  und  Verfall.  Wenn  Sie  einen 
Moment  überlegen,  werden  Sie  mir  zugeben,  daß  mit  dem- 
selben Rechte  die  Erhaltung  und  Verbreitung  von  Gelegenheits- 
gedichten verurteilt  werden  kann.  Wenn  z.  B.  König  Hiero  in 
Delphi  einen  Wagensieg  errang  und  einem  Dichter  aus  Theben 
den  Auftrag  gab,  ein  Gedicht  auf  dies  Ereignis  zu  machen,  so 
gehört  dasselbe  auch  nicht  in  die  Literatur,  sondern  hat  mit  dem 
festlichen  Vortrag  seinen  Zweck  erfüllt.  Der  Dichter  aber  dachte 
nicht  so;  er  nahm  die  gut  laufenden  Pferde,  ganz  wie  Cicero  seine 
Prozesse,  als  willkommenen  Anlaß,  sich  selber  in  einem  Kunst- 
werk vorzuführen,  und  hielt  das  Kunstwerk  für  würdig,  ewig  zu 
leben  und  seinen  zufälligen  Anlaß  mit  zu  verewigen. 


"3 


Erster  Teil. 

Rom,  19.  März. 

Ihre  Sendung  hat  mir  viel  Freude  gemacht.  Zwar  ist  Ihnen 
meine  formahstische  Anschauung,  wie  Sie  durchaus  irrtümlich 
sagen,  zuwider,  auch  klagen  Sie  mich  fälschlich  der  Inkonsequenz 
an;  aber  trotzdem  gönnen  Sie  mir  einige  Anerkennung.  Sie 
geben  zu,  daß  Mommsen  zu  weit  gehe,  und  schicken  mir  das 
treffliche  Büchlein  von  Zielinski  über  Ciceros  Wandel  durch  die 
Jahrhunderte.  Die  Schrift  ist  sehr  lehrreich  und  versöhnt  einen 
Liebhaber  antiker  Kunst  wieder  mit  den  Philologen,  denen  man 
keineswegs  wegen  ihrer  Leistungen,  aber  wegen  ihrer  Stellung 
zum  Altertum  oft  genug  gram  wird.  Denn  wenn  es  schon  schlimm 
ist,  daß  heute  außer  ihnen  kaum  jemand  um  das  Altertum  sich 
bekümmert  (während  ihre  Arbeit  doch  nur  Sinn  hat,  wenn  Leute 
da  sind,  die  sie  benutzen),  so  wird  es  verzweifelt,  wenn  man 
genötigt  ist,  das  Altertum  gegen  diese  Philologen  selber  zu  ver- 
teidigen. Ob  Zielinskis  Urteile  überall  richtig  sind,  kann  ich 
und  will  ich  nicht  untersuchen,  nur  die  Tatsachen,  die  er  anführt, 
interessieren  mich.  Es  ist  doch  erstaunlich,  wie  wenig  man  noch 
von  der  Wirkung  des  Altertums  auf  die  neuere  Zeit  weiß,  so 
hoch  man  sie  im  allgemeinen  auch  anschlägt;  man  weiß  nicht 
genug,  welche  Personen  besonders  und  nach  welcher  Richtung 
jede  einzelne  gewirkt  hat.  Wie  wenige  haben  sich  klar  gemacht, 
daß  Cicero  mehr  sachlichen  als  formalen  Einfluß  ausgeübt  hat! 
Kaum  einer  seiner  berühmten  Verehrer,  die  Zielinski  erwähnt, 
hebt  den  ,,  Stilisten"  hervor,  es  ist  immer  vom  Stoff  und  von 
der  Persönlichkeit  des  Autors  die  Rede.  Freilich  haben  Sie  recht, 
daß  oft  nicht  er  selber,  sondern  die  hinter  ihm  stehenden  Griechen 
gemeint  sind.  Aber  wenn  er  schon  ein  Vermittler  ist:  in  so  hohem 
Sinne  es  zu  sein,  ist  nichts  Geringes.  Unsere  Philologen  wollen 
auch  Vermittler  der  Griechen  sein;  aber  wird  ihnen  jemand  deren 
Verdienste  zuschreiben  oder  deren  Geist  in  ihnen  finden? 

Sie  sagen  selber,  daß  Mommsens  Urteil  sich  nicht  gut  aus- 
nimmt, wenn  man  den  Triumphzug  Ciceros  durch  zwei  Jahr- 
tausende dagegen  hält.  Man  muß  Respekt  haben  vor  solcher 
Wirkung,  gleichviel  ob  man  sie  für  berechtigt  hält  oder  nicht. 
Kann  aber  eine  Wirkung  unberechtigt  sein  ?      Können  so  ver- 

114 


Cicero  und  die  Gegenwart. 


schiedenartige  Menschen  und  Zeiten  ohne  zureichenden  Grund 
für  eine  Person  eintreten?  Wenn  jemandem  Wasser  als  Nahrung 
gereicht  wird,  so  wehrt  er  sich,  und  wenn  nicht,  so  zeigt  er  recht 
bald  die  Folgen  der  gehaltlosen  Kost.  Glauben  Sie  nicht,  daß  die 
Leerheit  und  Nichtswürdigkeit  Ciceros,  wenn  man  ihn  um  Nah- 
rung ansprach,  ebenso  sicher  hätte  an  den  Tag  kommen  müssen? 
Daß  Mommsen  und  seine  Generation  keine  Kraft  aus  ihm  zieht 
und  ihn  deshalb  mit  Recht  abweist,  will  ich  nicht  bestreiten. 
Vielleicht  ist  dies  aber  für  dieselben  kein  gutes  und  für  Cicero 
kein  schlechtes  Zeichen.  Den  Wert  eines  Klaviers  sehen  manche 
nicht  ein;   verliert  es  ihn  dadurch? 

Mommsen  hätte  die  römische  Kunst  und  als  ihren  Haupt- 
vertreter Cicero  in  Parallele  stellen  sollen  zur  politischen  Tat 
jener  Zeit,  also  zu  Cäsar.  Ich  glaube  nicht,  daß  die  künstlerische 
Leistung,  nach  ihrer  Wirkung  bemessen,  geringer  war  als  die 
staatsmännische.  Wir  leben  in  demselben  Sinne  von  Cicero  und 
seinen  Gefährten,  namentlich  Virgil  und  Ovid,  vielleicht  auch 
Terenz,  wie  wir  von  Cäsar  leben.  Man  mag  bedauern,  daß  die 
Kunst  des  späten  Altertums  mehr  gewirkt  hat  als  die  der  eigentlich 
fruchtbaren,  frühgriechischen  Zeit;  aber  die  Tatsache  steht  fest, 
Sie  können  sie  nicht  wegbringen.  Die  Renaissance  verstand 
unter  dem  Altertum  in  erster  Linie  das  römische,  sie  lernte 
römische  Architektur,  Plastik  usw.  Bis  auf  den  heutigen  Tag 
bezeichnet  der  Ausdruck  ,, Antike"  etwas  Römisches  und  Spät- 
griechisches. Goethe  dachte,  wenn  er  von  alter  bildender  Kunst 
sprach,  an  Laokoon,  den  Heraklestorso,  den  Apoll  von  Belvedere, 
an  Vitruv,  somit  an  späte  Epochen,  die  nur  ein  Nachhall  der 
früheren  sind.  Ist  dies  in  der  Tat  so  unverständlich?  Haben  wir 
das  Recht,  die  Überschätzung  der  Laokoongruppe,  der  Ovidschen, 
der  Anakreontischen  Verse,  oder  auch  die  Überschätzung  der 
Erzeugnisse  der  Spätrenaissance  zu  belächeln?  Ich  meine,  was 
die  Nachwelt  von  ihnen  wollte,  zog  sie  auch  aus  ihnen.  Das 
Irrige  der  künstlerischen  Wertung  ist  gleichgültig;  der  Nutzen 
war  nicht  irrtümlich  und  war  in  den  Werken  begründet.  Was 
aber  suchte  und  fand  man?  Diese  Späten  haben  die  ganze 
Schönheit,  die  von  ihren  Vorfahren  erkämpft  und  erreicht  wor- 
den war,  in  sich  aufgesogen.    Ein  aufgehäufter  Schatz  von  Kunst 


115 


Erster  Teil. 

steht  ihnen  zu  Gebote,  und  sie  verstehen  diesen  Reichtum  zu 
benutzen;  ihre  Bedürfnisse  sind  sehr  verfeinert,  sie  lernen  unter 
schönen  Dingen  das  Schönste  zu  wählen.  Das  Niveau  der  Künst- 
ler ist  in  solchen  Zeiten  bewunderungswürdig  hoch.  Jeder  Hand- 
werker, jeder  Kopist  hat  Teil  an  dem  allgemeinen  Reichtum  und 
spiegelt  die  Schönheit  der  Vergangenheit  wieder.  Es  ist  Süßigkeit 
in  all  diesen  Werken;  sie  überreden  und  schmeicheln,  während 
erwerbende  Epochen  herb  und  schwer  zugänglich  sind.  Zur 
Liebenswürdigkeit  haben  sie  keine  Zeit.  Wir  Deutschen  kennen 
nur  die  herbe  Schönheit;  wo  man  als  Reicher  zu  leben  versuchte 
und  anmutig  sein  wollte,  wurde  man  jedesmal  platt  oder  geziert. 
Vielleicht  macht  Wieland  eine  Ausnahme  und  sicher  die  Nachläufer 
unserer  klassischen  Musik.  Brahms  hat  oft  wirkliche  Reife  und 
die  rührende  Schönheit,  die  aus  dem  Glück  über  ein  vollendetes 
Tagewerk  entspringt.  Sind  Sie  nicht  im  Irrtum,  solche  Leute 
degeneriert  zu  nennen?  Cicero  mindestens  stellt  eine  erstaunlich 
gesunde  Art  von  Degeneration  dar.  Er  ist  vollkommen  auf  seiner 
Höhe;  er  erreicht  alles,  was  seine  Natur  ihm  vergönnt,  und  weiß 
nichts  von  Schwäche  und  Leistungsunfähigkeit.  Wir  sind  daran 
gewöhnt,  daß  feine  Menschen  krank  und  künstlerische  Eigen- 
schaften mit  Abnormitäten  verbunden  sind.  Muß  es  aber  so  sein? 
Menschen  wie  Cicero  lehren,  daß  es  möglich  ist,  eine  schier  er- 
drückende Fülle  von  Kultur  sich  zu  assimilieren  und  doch  nicht 
unproduktiv,  müde,  krank  zu  werden,  sondern  seine  spezifische 
Begabung  auszuleben  und  seine  Schaffensfreude  auf  natürliche 
Weise  zu  befriedigen.  Ja,  er  ist  nicht  einmal  extrem  in  seinem 
Schaffen  und  seinem  Geschmack,  wie  neuere  Individuen  von 
reifer  Kultur  zu  sein  pflegen.  Er  will  sich  hervortun  und  verlangt 
einen  Platz  neben  den  großen  Vorgängern,  aber  er  wählt  nicht 
wie  die  Neueren  den  Weg,  durch  Besonderheiten,  durch  Manier, 
durch  Barock  sich  hervorzutun,  was  nicht  schwer  ist,  sondern 
er  ringt  mit  seinen  Vorgängern  um  dasselbe  Ziel  der  klassischen 
Schönheit;  er  erstrebt  und  erreicht  die  reine  Vollendung  als 
künstlerischer  Mensch.     Dies  letztere  ist  näher  zu  erläutern. 

Sie  verteidigen  Mommsen  damit,  daß  er  zwar  mit  seinem 
ästhetischen  Urteil  vielleicht  Unrecht  habe,  doch  aber  das  Haupt- 
gewicht auf  die  menschlichen  und  staatsmännischen  Eigenschaften 

Ii6 


Cicero  und  die  Gegenwart. 


Ciceros  lege;  und  daß  diese  minderwertig  seien,  stände  außer 
Zweifel.  Darauf  wäre  einmal  zu  erwidern,  daß  es  bedenklich  ist, 
wenn  ein  Historiker  die  künstlerischen  Dinge  leichter  nimmt  als 
moralische  und  politische;  zweitens  erlaube  ich  mir,  zwar  nicht 
über  den  Staatsmann  und  den  Philosophen,  jedoch  über  den 
Menschen  Cicero  etwas  anderer  Meinung  zu  sein.  Wenn  ich  ledig- 
lich nach  dem  Eindruck  urteile,  den  ich  aus  den  Schriften  über  den 
Verfasser  gewinne,  stellt  sich  mir  Ciceros  Natur  etwa  folgender- 
maßen dar.  Er  war  ein  kleiner  Mensch,  wie  ich  schon  sagte, 
nicht  genial  in  unserem  Sinne.  Er  verstand  die  Kunst,  bis  an 
sein  Lebensende  fleißig  zu  lernen,  war  aufmerksam  auf  alles, 
unermüdlich  und  unbeirrbar,  ein  wenig  Pedant,  ein  wenig  Muster- 
mensch, geriet  nie  auf  Abwege,  blieb  immer  gesittet,  willig  und 
emsig.  Es  fehlte  ihm  an  Leichtsinn.  Er  liebte  die  Tugend  auf 
engherzige  V/eise  und  hatte  sogar  eine  wenig  Verwandtschaft  mit 
dem  Kleinbürger,  der  sich  gegen  alles  Ungewöhnliche  auflehnt. 
Seine  zuchtlosen  und  sittenlosen  Zeitgenossen  hatten  mehr 
Temperament  und  Kraft  als  er;  sie  waren  genialer.  Aber  sie 
kamen  zu  nichts  (ganz  wenige  ausgenommen,  die  eben  nicht 
durchaus  zuchtlos  waren);  sie  verstanden  nicht  sich  festzuhalten 
und  sich  zu  bilden.  Cicero  hatte  sein  Ziel  fest  im  Auge.  Dies 
Ziel  war:  so  hoch  zu  kommen  als  möglich,  angesehen,  berühmt 
und  den  großen  Vorbildern  der  Vergangenheit  gleich  zu  werden. 
Er  war  ehrgeizig  und  eitel;  er  liebte  den  Weihrauch,  ohne  viel 
zu  fragen  woher  er  kam.  Seine  Selbstgefälligkeit  entstammte 
einer  glücklichen  Naturanlage  und  war  keine  Hemmung  und 
Gefahr  für  seine  Entwicklung;  sie  förderte  ihn  sogar.  Cicero  ist 
einer  jener  interessanten  Menschen,  die  nicht  umhin  können, 
sich  vollkommen  zu  finden.  Denn  alles,  was  sie  sehen  und  be- 
greifen, vermögen  sie  sich  anzueignen;  sie  bewältigen  es.  So 
bewältigte  Cicero  die  Gesamtbildung,  die  seiner  Zeit  zugänglich 
war.  Schwierigkeiten  und  Widerstände,  denen  er  nicht  gewachsen 
war,  sah  er  gar  nicht;  sein  Horizont  schloß  genau  dort  ab,  wo 
seine  Kraft  zu  Ende  war;  er  wurde  das,  was  ihm  versagt  war, 
die  einfache  Größe,  nie  gewahr.  Einsicht  und  Können  deckten 
sich.  Solch  Typus  ist  unerträglich,  wenn  sein  Können  besonders 
gering     ist.       Er     hat    dann     eine     bornierte     Aufgeblasenheit. 


117 


Erster  Teil. 

Andernfalls  ist  diese  Begrenzung  eine  Kraftquelle.  Das  Glücks- 
gefühl, unter  dem  solch  ein  Mensch  schafft,  teilt  sich  seinen 
Schöpfungen  mit  und  macht  sie  sicher  rein  rund.  Auch  dem 
entgegengesetzten  Typus  begegnet  man  zuweilen;  seine  Eigentüm- 
lichkeit ist,  immer  seine  Ohnmacht  zu  fühlen,  an  seine  Gren- 
zen zu  stoßen,  mit  seinen  Leistungen  unzufrieden  zu  sein,  weil 
er  das  Höhere  sieht,  das  ihm  für  jetzt  oder  für  immer  unerreichbar 
ist.  Auch  er  kann  durch  die  Eigenschaft  gefördert  und  zum 
Vorwärtsstreben  angetrieben  werden;  häufiger  lähmt  sie  die 
Tatenlust  und  macht  hoffnungslos. 

Also  Cicero  fehlte  es  an  Bescheidenheit  und,  wie  ich  oben 
sagte,  an  einer  gewissen  Großzügigkeit.  Wo  wir  moralisch  zu 
sein  lieben  und  erstreben,  versagt  er,  und  wo  wir  der  Unmoral 
das  Wort  reden  möchten,  ist  er  moralisch.  Unter  unseren  heu- 
tigen Verhältnissen  könnte  ein  solcher  Mann  nimmermehr  ein 
Künstler  werden.  Er  scheint  dem  Begriff  des  Künstlers  zu  wider- 
sprechen und  widerspricht  jedenfalls  der  modernen  deutschen 
Auffassung  von  Kunst.  Dies  auch  der  tiefste  Grund,  weshalb 
man  ihm  bei  uns  nicht  gerecht  wird,  während  man  z.  B.  in  Frank- 
reich über  die  Hochschätzung  einer  solchen  Veranlagung  keinen 
Augenblick  im  Zweifel  ist,  da  dort  ähnliche  Typen  Hohes  erreicht 
haben.  Drei  Momente,  die  uns  fremd  sind,  ebneten  ihm  den  Weg 
zur  Kunst:  die  große  Tradition,  das  klare  Bild  von  Vollkommenheit 
das  er  in  sich  trug,  die  konsequente  Arbeit  an  sich,  durch  die  er 
es  zur  Erscheinung  brachte.  Die  beiden  letzteren  sind  ihm  selber 
zuzurechnen.  Dieser  kurzsichtige,  kurzwollende  Mann  brachte 
es  nicht  nur  fertig,  Kunstwerke  zu  schaffen,  sondern  auch  sich 
selber  zu  einem  Kunstwerk  zu  gestalten.  Er  ist  ein  Form  ge- 
wordenes Individuum,  ein  vollendeter  Spieler  auf  dem  Instru- 
ment seiner  Seele.  Vielleicht  ein  gar  zu  virtuosischer  Spieler; 
aber  ist  ein  solcher  nicht  mehr  wert  als  unsere  elenden  Stümper 
und  Stammler?  Vielleicht  sind  es  auch  nicht  viele  Stücke,  die 
er  spielen  kann,  sein  Instrument  ist  nicht  groß  und  nicht  aus- 
giebig; aber  ist  es  nicht  besser,  weniges  gut  zu  machen,  als  vieles 
halb  und  schlecht? 

Durch  alles  dies  kann  Cicero  meiner  Meinung  nach  für  unsere 
heutige   Zeit    sehr    wertvoll    und    fruchtbar   werden.      Zielinski 

ii8 


Cicero  und  die  Gegenwart. 


erzählt,  was  Cicero  früheren  Epochen  war,  wie  man  eins  nach 
dem  andern  an  ihm  entdeckte  und  von  ihm  zu  lernen  suchte. 
Ich  tue  hinzu,  was  wir  von  ihm  lernen  können,  wie  wir  ihn 
nehmen  sollten.  Cicero  als  organisierter  Mensch,  als  beseelte 
Form,  als  fleischgewordene  Bildung,  die  deshalb  nicht  epigonen- 
haft ist,  weil  sie  Natur  geworden  ist,  so  empfehle  ich  ihn  unseren 
Zeitgenossen.  Und  gerade  ihn  vor  manchen  andern!  Sie  wun- 
dern sich,  verehrter  Freund,  daß  ich  mich  auf  Cicero  versteife, 
da  man  von  anderen  Alten  dasselbe  besser  lernen  könnte.  Mir 
scheint  aber  Cicero  ein  besonders  lehrreiches  Beispiel  zu 
sein,  weil  er  unseren  Vorurteilen  so  sehr  zuwiderläuft.  Aus 
den  Griechen  der  älteren  Zeit,  von  Homer  bis  etwa  400,  nimmt 
man  sich  gar  zu  gern  das  heraus,  was  wir  selber  auch  haben,  und 
bestärkt  sich  in  den  Irrtümern,  statt  sie  los  zu  werden,  Aischylos 
schmeckt  man  wie  einen  modernen  Autor  und  übersieht  die  Kluft 
künstlerischer  Anschauung  und  Absicht,  die  ihn  von  uns  Bar- 
baren trennt.  Bei  Cicero  ist  das  bedeutend  schwerer;  er  läßt 
sich  nur  fassen,  wenn  man  ihn  mit  Fingern  der  Kunst  angreift. 
,, Jeder  Unbefangene",  wie  Mommsen  so  hübsch  sagt,  wird  mit 
Cicero  bald  im  Reinen  sein.  Ganz  recht;  wessen  Sinne  nicht 
unter  Einfluß  von  Kultur  und  Kunst  ihren  Urzustand  verändert 
haben,  wird  die  Fragen  gar  nicht  zu  Gesicht  bekommen,  um 
die  es  sich  bei  Cicero  und  dem  ,,Ciceronianismus**  handelt.  Er 
wird  nur  Phrasen  hören  und  Torheit  sehen.  Und  so  ist  es  in 
der  Ordnung. 

Deshalb  ist  der  Vorwurf  der  Inkonsequenz,  den  Sie  mir 
machen,  unbegründet.  Kraft,  Einheitlichkeit,  moralische  und 
religiöse  Befestigung  scheinen  mir  nach  wie  vor  die  Bedingungen 
einer  gründlichen  Besserung  unserer  künstlerischen  Verhältnisse 
zu  sein.  Die  älteren  Griechen  sind  die  größten  Muster  dafür  und 
deshalb  unentbehrlich  für  uns.  Sie  wissen,  wie  viel  ich  ihnen 
für  mich  selber  verdanke.  Aber  man  muß  heute  nach  zwei 
Fronten  kämpfen.  Sowie  man  sich  gegen  Virtuosentum,  Leerheit, 
Künstelei  richtet,  denken  die  Unmäßigen  und  die  Braven,  man 
rede  ihrer  Barbarei  das  Wort.  Wer  heute  auf  Aischylos  oder 
Pindar  weist,  sollte  immer  zugleich  auf  Cicero  und  Horaz  weisen. 
Dann  erst  sind  Mißverständnisse  ausgeschlossen  und  das  Gleich- 


119 


Erster  Teil. 

gewicht  hergestellt.  Ich  meine  also  keineswegs,  daß  wir  Cicero 
gleich  werden  sollen.  Wir  könnten  es  auch  nicht;  die  Befürchtung 
ist  grundlos,  Verehrtester!  Aber  es  ist  von  größtem  Nutzen,  sich 
einen  solchen  Mann  recht  deutlich  vor  Augen  zu  stellen,  gerade 
weil  er  uns  fremd  und  konträr  ist.  Ist  es  nicht  eine  Haupt- 
leistung der  Geschichte,  daß  sie  uns  mit  anders  gearteten  Dingen 
bekannt  macht  und  unserer  Einseitigkeit  steuert? 


Rom,  15.  April. 

Meine  Meinung  über  Ciceros  Briefe  will  ich  Ihnen  nicht 
vorenthalten,  obwohl  es  nicht  schwer  ist,  sie  zu  erraten.  Was 
ich  über  die  Persönlichkeit  schrieb,  ist  ja  noch  mehr  aus  den 
Briefen  als  aus  den  Reden  geschöpft  und  bestimmt  den  Wert  der 
ersteren  vollkommen.  Wohl  sind  alle  Lebensäußerungen  soviel 
wert  wie  der,  der  sie  tut;  am  einleuchtendsten  aber  ist  dies  bei 
solchen,  die  vorwiegend  oder  ausschließlich  subjektive  Bedeutung 
haben.  Der  Brief  gehört  zu  den  subjektivsten  künstlerischen 
Erzeugnissen.  Was  ist  ein  Brief?  Was  macht  ihn  gut  oder 
schlecht?  Warum  sind  fremde  Briefe  lesenswert  und  eine  Brief- 
literatur kein  Unding?  Es  fehlt,  glaube  ich,  an  Untersuchungen 
über  diese  Fragen,  wenigstens  bei  uns  in  Deutschland.  Ich  will 
Ihnen  die  Gedanken  mitteilen,  die  mir  bei  der  Lektüre  von 
Ciceros  Briefen  über  Ästhetik  des  Briefes  gekommen  sind. 

Wenn  man  Kunstformen  bestimmen  und  voneinander  sondern 
will,  sollte  man  den  Brief  nicht  vergessen,  so  wenig  wie  die  Rede. 
Denn  beides  sind  Kunstformen.  Man  muß  freilich  den  Begriff 
weiter  ziehen  als  es  üblich  ist  oder  doch  bis  vor  kurzer  Zeit 
üblich  war.  Neuerdings  beginnt  man  einzusehen,  daß  es  ein 
Gewinn  für  die  Kunst  ist,  wenn  man  Erzeugnisse  in  sie  hinein- 
bezieht, die  aus  einfachen  Lebensbedürfnissen  entspringen  und  im 
praktischen  Leben  unmittelbar  Verwendung  finden.  Die  Trennung 
von  Kunst  und  Leben  ist  für  beide  schädlich,  macht  das  eine  häß- 

120 


Cicero  und  die  Gegenwart. 


lieh  und  die  andere  unnatürlich.  Der  Aufschwung  des  Kunst- 
gewerbes in  der  letzten  Zeit  hat  solche  Betrachtungen  aufgeregt 
und  man  ist  heute  ziemlich  einig  über  den  unbegrenzten  Vorteil, 
den  alle  Zweige  der  bildenden  Kunst  von  einer  möglichst  engen 
Verbindung  mit  praktischem  Bedürfnis  und  Zweck  haben  können. 
Daß  es  in  der  Poesie  ebenso  ist,  erscheint  dagegen  noch  als  eine 
Paradoxie,  obgleich  es  nicht  weniger  richtig  ist.  Dramen,  Ge- 
dichte, Romane  halten  viele  für  die  einzigen  Arten  der  Dichtkunst. 
Ich  meine  aber,  jede  Äußerung  in  Worten  gehört  zu  ihr,  sofern 
sie  die  einfachsten  Kunstgesetze  erfüllt.  Wir  wollen  über  Be- 
zeichnungen nicht  streiten;  wollen  Sie  mündliche  oder  schriftliche 
Äußerungen  ohne  bestimmte  Form  nicht  als  Teile  der  Dichtkunst, 
sondern  nur  als  ihre  Unterlage,  als  ihren  Vorhof  gelten  lassen, 
so  bin  ich  auch  damit  einverstanden;  aber  diese  Unterlage  ist 
ungeheuer  wichtig  als  Stütze  für  den  Oberbau  jener  eigentlichen 
Kunstgebilde.  So  wie  Gefäße,  Kleidungs-  und  Schmuckstücke 
sich  zur  bildenden  Kunst  verhalten,  so  verhält  sich  ein  Bericht, 
ein  mündlicher  oder  schriftlicher  Austausch  zur  Dichtkunst. 
Man  hat  alle  Ursache,  diese  einfachen  Dinge  zu  pflegen  und  zu 
heben,  so  wie  es  die  Alten  getan;  dann  wird  es  mit  unseren 
Dichtungen,  namentlich  denen  in  Prosa,  ebenfalls  besser  werden. 
Ich  kann  nicht  eindringlich  genug  empfehlen,  jede  Gelegenheit 
zur  Übung  in  Rede,  Abhandlung,  Brief  zu  ergreifen,  und  begrüße 
es  mit  Freude,  daß  ein  tieferes  Interesse  für  diese  Grundlagen  der 
Poesie  sich  zu  regen  anfängt  und  die  Ansprüche  wachsen,  die 
man  an  sie  stellt.  Die  Unterschiede  von  Rede,  Abhandlung,  Brief 
gegenüber  Roman,  Gedicht,  Drama  sind  erstens  formal,  wie  ich 
schon  sagte,  und  zweitens  stofflich.  Alle  zusammen  haben  ur- 
sprünglich den  gleichen  Zweck:  etwas  Reales  mitzuteilen.  Homer 
und  Aischylos  wollen  Historiker  sein,  keine  Erfinder;  auch  die 
Lyrik  steht  auf  realem  Boden.  Doch  entfernt  sich  erstens  der 
Inhalt  von  den  nächstliegenden  Dingen,  von  der  Notdurft  des 
Lebens,  und  zweitens  wird  die  Mitteilung  stilisiert.  Warum  man 
beides  tut,  geht  uns  hier  nichts  an;  der  Erfolg  ist,  daß  für  die 
Dichtungen  in  höherem  Sinne  nur  gewisse  Stoffe  in  gewisser 
stofflicher  Verarbeitung  benutzt,  die  anderen  ausgeschlossen 
werden,  und  daß  feste  Formen  sich  bilden.     Beides  fehlt  in  der 


Horneffer    Das  klassische  Ideal.        T2I 


Erster  Teil. 

Regel  bei  Rede,  Abhandlung,  Brief.  Doch  ist  ihre  Entfernung 
von  den  strengen  Kunstgebilden  in  den  verschiedenen  Zeiten  eine 
verschiedene.  Das  Altertum  hat  für  die  Rede,  d.  h.  größere  münd- 
liche Äußerungen,  fast  ebenso  zahlreiche  Gesetze  aufgestellt, 
wie  etwa  für  das  Drama.  Darum  sind  antike  Reden  Kunstwerke 
fast  in  dem  gleichen  Sinne.  Doch  bleibt  die  Form  etwas  lockerer. 
Die  Vorschriften  über  den  Aufbau  und  die  Bildung  im  einzelnen, 
so  eingehend  sie  sind,  lassen  doch  einen  größeren  Spielraum. 
Außerdem  ist  das  Stoffgebiet  ein  sehr  mannigfaltiges  und  nicht 
abgegrenztes.  Eine  Theorie  des  Briefschreibens  gab  es,  soviel 
ich  weiß,  nicht,  obwohl  viel  Briefe  geschrieben  und  veröffentlicht 
wurden.  Hat  die  Altertumsforschung  etwas  für  die  Beurteilung 
der  alten  Brief literatur  getan?  Bitte  schreiben  Sie  mir,  was  Sie 
darüber  wissen;  meine  philologischen  Kenntnisse  sind  zu  gering. 
Auch  habe  ich  außer  Ciceros  Briefen  nur  die  platonischen  gelesen, 
und  diese  erklären  nicht  viel,  so  wertvoll  sie  auch  sind. 

Die  Hauptsache  beim  Brief  ist  wohl,  daß  er  an  eine  bestimmte 
Person  sich  richtet.  Dadurch  erhält  er  die  Unmittelbarkeit,  die 
ihm  eigen  ist,  und  unterscheidet  sich  von  den  meisten  anderen 
schriftlichen  Äußerungen.  Es  besteht  eine  direkte  Wechselwirkung; 
der  Schreiber  richtet  Inhalt,  Ton  usw.  seines  Briefes  nach  dem 
Empfänger;  er  gibt  sich  ihm  wie  im  mündlichen  Verkehr.  Er 
redet  also  nicht  wie  der  Verfasser  einer  Abhandlung  ins  Unbe- 
kannte, ins  Blaue  hinein,  für  gleichgültige  Menschen,  die  sich 
aus  seinem  Schriftstück  heraussuchen  und  aneignen  mögen  was 
sie  können;  sondern  er  weiß  genau,  zu  wem  er  spricht,  und  hat 
die  Möglichkeit,  sich  persönlich  verständlich  zu  machen,  sich 
anzupassen  und  das  Bestimmte,  das  er  im  Auge  hat,  zu  erreichen. 
Auch  bei  Briefen,  die  an  mehrere  Personen  gerichtet  sind,  ist  es 
kaum  anders.  Die  Personen  sind  dem  Schreiber  bekannt  und 
werden  von  ihm  als  ein  Individuum  zusammengefaßt.  Er  wendet 
sich  an  das,  was  sie  gemeinsam  haben.  So  etwa,  wenn  jemand 
an  eine  Körperschaft,  eine  Gemeinde  schreibt.  Hier  tritt  die 
Verwandtschaft  mit  der  Rede  hervor.  Auch  diese  berücksichtigt 
in  der  Regel  ein  bestimmtes  Publikum,  dessen  Anschauung  und 
Stimmung  der  Redner  kennt.  Dies  Publikum  wird  selten  von 
einem   einzelnen  gebildet  (Cicero   vor   Cäsar),    gewöhnlich   von 

122 


Cicero  und  die  Gegenwart. 


Versammlungen,  deren  Zusammensetzung  und  Zweck  dem 
Redner  bekannt  sind  (Gericht,  Parlament),  und  auch  wenn  er  vor 
einer  bunten  zufälligen  Menge  spricht,  weiß  oder  fühlt  der  Redner, 
welche  Mittel  er  anzuwenden  hat,  um  gerade  diese,  heute  aus 
einem  solchen  Anlaß  vereinigte  Zuhörerschaft  zu  fesseln  und  zu 
überzeugen;  er  spricht  vorsichtiger,  begeisterter,  ernster,  heiterer, 
je  nach  der  Stimmung,  die  er  findet. 

Das  zweite  ist,  daß  der  Brief  Schreiber  in  der  Regel  auf  eine 
Antwort  rechnet  oder  eine  solche  gibt.  Wer  eine  Abhandlung 
schreibt,  ein  Gedicht  macht,  verlangt  keine  Gegenäußerung,  er 
will  nur  sich  ausdrücken.  Der  Unterschied  ist  ein  großer.  Der 
Brief  fragt  oft  nur,  befriedigt  nicht  ganz,  nimmt  Bezug  auf  einen 
früheren  Brief  des  Empfängers,  entlehnt  ihm  Inhalt  und  Ton. 
Wiederum  ist  die  Rede  verwandt.  Der  Verteidiger  vor  Gericht 
entgegnet  dem  Ankläger,  der  Versammlungsredner  spricht  mit 
Rücksicht  auf  die  Einwände  und  Erwiderungen,  die  er  erwartet 
oder  die  ihm  geworden  sind. 

Die  Folge  beider  Eigentümlichkeiten  ist  eine  große  Lebendig- 
keit und  Bestimmtheit  des  Briefes  (und  der  Rede)  einerseits  und 
eine  Einseitigkeit  und  Kurzlebigkeit  andererseits.  Schreibe  ich 
für  die  Öffentlichkeit,  so  denke  ich  fast  nur  an  mich  und  an  meine 
Sache,  denn  das  undefinierbare  Lesepublikum,  dem  ich  mein 
Produkt  überliefern  will,  kann  mich  nicht  anregen,  nicht  beein- 
flussen. Es  hat  beinahe  etwas  Widersinniges,  zu  sprechen,  ohne 
zu  wissen,  mit  wem  man  spricht.  Jedenfalls  erhält  meine  Äuße- 
rung etwas  Starres,  schwer  Zugängliches,  oder  auch  Unsicheres. 
Sie  verfehlt  leicht  ihre  Wirkung.  Viele  Deutschen  unterschätzen 
die  Bedeutung  des  Wiederhalls  für  den  Schriftsteller  und  über- 
haupt den  Künstler.  Die  Alten  waren  anders,  sie  erhielten  sich 
bis  zuletzt  das  Gefühl  für  den  großen  Wert,  den  ein  bestimmtes 
und  bekanntes  Publikum,  an  das  man  sich  richtet,  für  den  Autor 
hat.  Die  Schattenseiten  (Einseitigkeit,  Kurzlebigkeit)  sind  um  so 
geringer,  je  bedeutender  das  persönliche  Moment  bei  dem  Er- 
zeugnis ist.  Ein  Gelegenheitsgedicht  z.  B.  wird  nicht  im  geringsten 
einseitig  und  vergänglich  durch  die  genauste  Rücksicht  auf  seinen 
Adressaten  (Goethe  an  Lilli);  auch  die  direkte  Antwort  eines 
großen  Redners  auf  eine  Gegenrede  wird  es  nicht  (Bismarck  an 


123 


Erster  Teil. 

die  Parlamentsredner).  Ich  sprach  schon  von  der  Verewigung 
kleiner  Anlässe  durch  die  künstlerische  Persönlichkeit,  die  sie 
benutzt.  Dies  wird  gerade  bei  derartigen,  wesentlich  subjektiven 
Erzeugnissen  der  Fall  sein.  Auf  der  anderen  Seite  stehen  solche, 
bei  denen  das  Sachliche  fast  ausschließlich  interessiert,  z.  B. 
wissenschaftliche  Berichte,  die  Beschreibung  eines  Insekts,  die 
Untersuchung  eines  logischen  Problems,  Die  Persönlich- 
keit des  Verfassers  tritt  zurück,  man  wünscht  nur  zwei  ihrer 
Eigenschaften  zu  sehen:  Klarheit  und  Anstand.  Was  er  außer- 
dem ist,  geht  uns  nichts  an.  Je  mehr  die  Persönlichkeit  in  den 
Vordergrund  tritt,  desto  geringer  wird  das  sachliche  Interesse. 
Man  kann  drei  Haupttypen  unterscheiden,  zwischen  denen  sich 
sämtliche  Kunsterzeugnisse  bewegen,  erstens  die  wissenschaftliche 
und  die  Handwerksarbeit,  wo  das  Subjektive  fast  ganz  verschwin- 
det, zweitens  das  Kunstwerk  höchsten  Ranges,  wo  Subjektives 
und  Objektives  (Sache  und  Persönlichkeit)  sich  die  Wage  halten, 
drittens  die  Wiedergabe  von  individuellen  Zuständen  und  Stim- 
mungen, wo  fast  alles  auf  die  Persönlichkeit,  auf  das  Wie  an- 
kommt. Man  wird  verlangen,  daß  das  Verhältnis  von  Was  und 
Wie  jedesmal  das  richtige,  von  selber  sich  ergebende  ist.  So  wie 
Wasser  und  ein  Gegenstand,  den  man  hineintut,  sich  ihrer  natür- 
lichen Schwere  gemäß  miteinander  einrichten,  oder  wie  die  Be- 
ziehung zweier  Menschen  zueinander  sich  unweigerlich  so  gestal- 
tet, wie  es  ihre  Gewichtsverhältnisse  vorschreiben,  so  muß  bei 
einem  Kunstwerk  das  Objektive  oben  schwimmen,  sich  verteilen 
oder  untersinken,  das  Subjektive  herrschen,  stützen  oder  dienen, 
je  nach  dem  Gewichts-  und  Kraftverhältnis  der  Sache  zu  der 
Persönlichkeit  des  Autors.  Manche  Kunstformen  begünstigen 
das  eine,  manche  das  andere.  Der  Brief  neigt  augenscheinlich 
zur  Bevorzugung  des  subjektiven  Moments.  Je  objektiver  er  ist, 
desto  mehr  nähert  er  sich  der  Abhandlung.  Ein  Schriftstück, 
das  mit  den  Worten  ,,Sehr  geehrter  Herr"  anfängt  und  mit  einer 
Unterschrift  schließt,  sich  im  übrigen  aber  von  der  Abhandlung 
in  nichts  unterscheidet,  ist  kaum  noch  ein  Brief  zu  nennen.  Die 
Abhandlung  hat  ein  bestimmtes  Thema,  dessen  Bearbeitung  ihre 
Einheitlichkeit  verbürgt;  der  Brief  hält  sich  entweder  nicht  an  einen 
einzelnen  Gegenstand  oder  behandelt  ihn  anders,  nämlich  mit  Rück- 

124 


Cicero  und  die  Gegenwart, 


sieht  auf  den  Schreiber  und  Empfänger.  Er  erschöpft  ihn  nicht, 
ordnet  nicht  so  sehr  nach  logischen  Grundsätzen  als  nach  persön- 
licher Neigung,  die  durch  das  Verhältnis  des  Schreibers  und  Emp- 
fängers zu  dem  Gegenstand  bestimmt  wird.  Was  z.  B.  in  der 
Abhandlung  Hauptpunkt  werden  müßte  (etwa  bei  Wiedergabe 
künstlerischer  Eindrücke) ,  wird  im  Brief  kaum  berührt,  weil  Schrei- 
ber und  Empfänger  darüber  einig  sind,  usw.  Der  Brief  kann  mehrere 
lose  oder  gar  nicht  zusammenhängende  Gegenstände  behandeln; 
es  ist  falsch  dies  zu  schelten  und  den  künstlerischen  Wert  von  der 
sachlichen  Einheitlichkeit  abhängig  zu  machen;  für  die  Abhand- 
lung gilt  dies,  nicht  für  den  Brief.  Man  muß  bei  der  Ableitung 
formaler  Gesetze  stets  nach  dem  Zweck  fragen.  Derselbe  ist 
maßgebend  für  die  Gestaltung.  Zweck  der  Abhandlung  ist  Be- 
lehrung, Zweck  des  Briefes  ist  Verkehr,  d.  h.  Vermittlung  von 
persönlichen  Zuständen.  So  erhalten  objektive  Nachrichten,  die 
ein  Brief  enthält,  nur  Wert  durch  die  Beziehung,  die  sie  zum 
Schreiber  und  Empfänger  haben.  Wir  lesen  Bismarcks  Briefe 
an  seine  Frau  verständigerweise  nicht  deshalb,  weil  sie  historisch 
wichtige  Details  bringen,  sondern  weil  sie  das  Verhältnis  Bis- 
marcks zu  den  Ereignissen  (objektiv  bedeutenden  oder  unbedeu- 
tenden) aus  dem  Moment  heraus  wiedergeben  und  zugleich  seine 
Beziehungen  zur  Empfängerin  in  Augenblicksbildern  darlegen. 
Was  einen  Brief  zusammenhält  und  zu  einem  künstlerischen 
Ganzen  macht,  ist  also  nicht  die  Einheitlichkeit  des  Themas, 
sondern  etwas  Subjektives:  Persönlichkeit,  Stimmung,  Verhältnis 
des  Schreibers  und  Empfängers.  Die  Grundforderungen,  die  man 
mit  Recht  an  jedes  künstlerische  Gebilde  stellt,  einen  Anfang, 
Steigerungen,  Höhepunkte  und  einen  Abschluß  zu  haben,  erfüllt 
auch  der  Brief;  aber  anders  erfüllt  er  sie,  als  etwa  die  Abhandlung. 
Doch  will  ich  Sie  nicht  länger  mit  allgemeinen  Erörterungen 
langweilen,  die  überdies  arg  unmethodisch  sind.  Nur  über  die 
Veröffentlichung  von  Briefen  noch  ein  Wort.  Es  ist  klar,  wann 
sie  berechtigt  ist.  Nicht  dann,  wenn  die  Briefe  interessante 
Stoffe  auf  unpersönliche  Art  behandeln,  sondern  wenn  eine 
interessante  Persönlichkeit  in  ihnen  sich  spiegelt.  Durchaus 
nicht  alle  Briefe  bedeutender  Menschen  sind  wertvoll  und  durch- 
aus nicht  alle  Briefe  von  Personen,  die  wenig  geleistet  haben,  sind 


125 


Erster  Teil. 

von  geringem  Wert.  Derjenige  wird  gute  Briefe  schreiben,  der 
seine  Persönlichkeit  in  sie  hineinzulegen  weiß,  ebenso  wie  der- 
jenige ein  guter  Gesellschafter  ist,  der  sich  im  Verkehr  rein  und 
ganz  zu  geben  versteht.  Nietzsche  z.  B.  schreibt  nicht  häufig 
gute  Briefe;  nur  wenige  Saiten  seines  Instruments  erklingen  in 
der  Regel  in  ihnen,  vieles  und  gerade  das  Beste  schweigt.  Ähnlich 
ist  es  bei  Schopenhauer.  Ich  will  nicht  sagen,  daß  man  deren 
Briefe  nicht  trotzdem  gern  läse,  aber  die  kleinsten  Billette  Goethes 
oder  Ciceros  haben  höheren  Kunstwert.  Hierbei  wirkt  noch 
folgendes  mit.  Der  Brief  sowie  die  mündliche  Unterhaltung  sind 
Kinder  des  Moments.  Sie  entstehen  und  nähren  sich  durch  Ge- 
schenke, die  der  Zufall  dem  Augenblick  macht.  Nur  Menschen, 
die  stark  mit  der  Gegenwart  leben  und  immer  ganz  bei  der  Sache 
sind,  auch  wenn  es  sich  um  Kleinigkeiten  handelt,  werden  daher 
gute  Briefe  schreiben  und  gute  Gespräche  führen  können.  Wer 
dagegen  sich  zurückhält  und  mit  Gedanken  beschäftigt  ist,  die 
ihm  den  einfachen  Anteil  an  den  Dingen  nehmen,  ist  für  münd- 
liche und  schriftliche  Geselligkeit  ungeeignet.  Er  kann  vielleicht 
Vorträge  halten,  Aufsätze  schreiben,  auch  Kunstwerke  gestalten, 
obgleich  diese  Art  Mensch  in  der  Regel  philosophisch,  die  erstere 
künstlerisch  veranlagt  ist;  aber  er  kann  nicht  dem  Augenblick 
geben,  was  ihm  gebührt.  Seine  Briefe  und  Gespräche  sind  ent- 
weder langweilig  weil  unpersönlich,  oder  es  sind  keine  Briefe  und 
Gespräche. 

Cicero  gehört  zu  den  besten  Briefschreibern  die  ich  kenne, 
nicht  wegen  der  trefflichen  und  ausführlichen  Berichte,  die  seine 
Briefe  hier  und  da  enthalten,  sondern  wegen  alles  dessen,  was  sie 
trotz  dieser  Berichte  sind.  Mommsen  hat  glücklich  wieder  die 
Wahrheit  auf  den  Kopf  gestellt,  wenn  er  die  zeitungsartigen 
Briefe  gelten  läßt  und  die  rein  persönlichen  Verlautbarungen,  die 
Cicero  z.  B.  aus  der  Verbannung  nach  Rom  schickt,  schlecht  und 
leer  findet.  Cicero  hat  durch  seine  Briefe  so  gut  wie  durch  seine 
Reden  gezeigt,  was  er  kann  und  ist.  Ja  die  Briefe  sind  eine  noch 
schärfere  Probe  seiner  Echtheit.  Denn  hier  steht  er  nicht  auf 
dem  Kothurn,  nichts  Begeisterndes,  Herz  und  Lunge  Schwellendes 
unterstützt  ihn;  er  hat  zu  beweisen,  was  seine  künstlerische 
Menschlichkeit  wert  ist.     Bewundern  Sie,  wie  richtig  er  Wesen 

126 


Cicero  und  die  Gegenwart. 


und  Zweck  des  Briefes  einsieht.  Er  denkt  nicht  daran,  Redner 
und  Theoretiker  in  seinen  Briefen  zu  sein.  Pose  und  Steifheit 
fehlen.  Er  ist  bei  sich  zu  Hause,  bequem  und  Hebenswürdig; 
er  scherzt  und  klagt,  wie  es  ihm  gerade  zu  Mute  ist,  wählt  Aus- 
drücke und  Wendungen  der  Umgangssprache  und  zeigt  sich  als 
feingebildeter  Weltmann.  Ich  würde  gern  ein  paar  Briefe  über- 
setzen, um  einen  Begriff  von  seiner  Art  zu  geben;  aber  ich  fürchte, 
gerade  das,  worauf  es  ankommt,  geht  durch  die  Übersetzung  ver- 
loren. Bei  Ciceros  Schreibart  ist  alles  wichtig  und  einzig;  jeder 
Vokal  gehört  ins  Bild.  Einen  kleinen  Versuch  will  ich  Ihnen 
jedoch  mitteilen;  sagen  Sie  mir,  ob  irgendetwas  von  dem  Reiz 
des  Originals  erhalten  geblieben  ist.  Ich  wähle  einen  Brief  an 
seine  Frau  und  Kinder  aus  der  Verbannung  im  Jahre  58  (ad  fam. 
XIV  3).  Er  zeigt  unseren  Freund  auf  dem  tiefsten  Stande  seiner 
seelischen  Kraft,  ist  nichts  weniger  als  gefaßt  und  eines  Philo- 
sophen würdig. 

,,Aristocritus  [ein  Sklave]  hat  mir  Eure  drei  Briefe  gebracht, 
die  ich  durch  viele  Tränen  fast  zerstört  habe.  Ich  verzehre  mich 
in  Gram,  liebe  Terentia,  und  mein  Elend  quält  mich  nicht  mehr 
als  Deines  und  Eures.  Aber  ich  bin  noch  elender  als  Du  Arme; 
denn  das  Unglück  tragen  wir  beide,  die  Schuld  trage  ich  allein. 
Ich  hätte  durch  die  Stelle  als  Legat  die  Gefahr  abwenden  oder 
mit  Klugheit  und  Gewalt  widerstreben  oder  tapfer  fallen  sollen, 
das  war  meine  Pflicht!  So  ist  es  elender,  schmachvoller,  un- 
würdiger als  alles.  Darum  verzehrt  mich  noch  mehr  Scham 
als  Schmerz.  Ja  ich  schäme  mich,  meiner  guten  Gattin,  meinen 
geliebten  Kindern  nicht  Mannheit  und  Ausdauer  gezeigt  zu 
haben.  Tag  und  Nacht  steht  mir  Euer  Gram  und  Eure  Trübsal 
vor  Augen  und  dazu  Deine  schwache  Gesundheit.  Hoffnung 
aber  ist  kaum  zu  sehen.  Feinde  sind  viele,  Neider  fast  alle. 
Mich  verbannen  war  schwer,  mich  fern  halten  ist  leicht.  Doch 
solange  Ihr  hofft,  will  ich  das  Meine  tun,  damit  nicht  alles 
durch  meine  Schuld  verloren  scheint.  Du  sorgst  Dich  um  meine 
Sicherheit;  die  ist  jetzt  das  Geringste.  Meine  Feinde  selber 
wollen  ja,  daß  ich  so  elend  weiter  lebe.  Doch  will  ich  tun,  was 
Du  wünschest. 

Den  Freunden,  denen  Du  wolltest,  habe  ich  gedankt  und  die 


127 


Erster  Teil. 

Briefe  an  Dexippus  [ein  Sklave]  gegeben,  habe  auch  geschrieben, 
daß  ich  durch  Dich  von  ihren  Bemühungen  wüßte.  Unser  Piso 
ist  wunderbar  in  seinem  Eifer,  ich  sehe  es  wohl,  und  alle  loben 
ihn.  Die  Götter  geben,  daß  ich  vereint  mit  Dir  und  unseren 
Kindern  solchen  Schwiegersohn  genießen  darf! 

Jetzt  kommt  es  auf  die  neuen  Volkstribunen  und  deren  erste 
Tage  an;  wenn  die  vorübergehen,  ist  es  aus.  Ich  habe  deshalb 
Aristocritus  gleich  an  Dich  gesandt,  damit  Du  mir  sofort  über 
Einleitung  und  Plan  der  ganzen  Angelegenheit  schreiben  kannst. 
Dexippus  habe  ich  freilich  ebenfalls  aufgetragen,  sofort  zurück- 
zukommen, und  habe  an  meinen  Bruder  geschrieben,  er  solle 
oft  Nachricht  schicken.  Ich  bin  nämlich  darum  gegenwärtig 
in  Dyrrhachium,  damit  ich  recht  schnell  erfahre,  was  vorgeht, 
bin  auch  sicher  hier;  die  Bürgerschaft  habe  ich  immer  geschützt. 
Wenn  meine  Feinde  in  Aussicht  sind,  gehe  ich  nach  Epirus. 
Du  schreibst,  wenn  ich  wollte,  würdest  Du  kommen.  Da 
dort  soviel  von  Dir  abhängt,  bleibe  lieber  da.  Wenn  Ihr  durch- 
setzt, was  Ihr  vorhabt,  komme  ich  ja  zu  Euch,  wenn  nicht 

doch  wozu  den  Satz  endigen!  Aus  Deinem  ersten  oder  vielmehr 
zweiten  Brief  konnte  ich  entnehmen,  was  ich  tun  soll;  schreibe 
nur  bitte  alles  recht  genau,  obwohl  ich  ja  die  Sache  selber, 
keinen  Brief  darüber  erwarten  müßte.  Sorge  für  Deine  Ge- 
sundheit und  sei  überzeugt,  daß  Du  mein  Liebstes  bist  und  immer 
gewesen  bist.  Leb'  wohl,  liebe  Terentia!  Ich  sehe  Dich  so 
deutlich  vor  mir  und  darüber  weine  ich  mich  krank.  Leb' 
wohl!" 

Das  ist  ein  Beispiel  für  die  ,, gräßliche  Gedankenöde",  die 
nach  Mommsen  ,, jeden  Leser  von  Herz  und  Verstand"  empören 
muß.  Empört  Sie  dieselbe  auch?  Ich  gestehe,  daß  ich  sie 
hier  so  wenig  wie  in  den  Reden  fühle,  daß  ich  nicht 
einmal  einsehe,  welchen  Wert  Gedanken,  sichtbare  herauszu- 
klaubende Gedanken,  in  einem  solchen  Brief  hätten.  Sie  könnten 
doch  nur  stören,  so  wie  sie  in  Goethes  Briefen  mit  rein  persön- 
lichem Inhalt  stören  würden,  wenn  er  so  töricht  wäre,  welche 
hineinzustecken.  Ich  will  noch  einen  Brief  hersetzen,  aber 
lateinisch,  weil  er  die  Übersetzung  kaum  vertragen  würde.  Es 
ist  ein  Billett  aus  einer  ganz  anderen  Stimmung,  gerichtet  an 

128 


Cicero  und  die  Gegenwart. 


seinen  Freigelassenen  und  Freund  Tiro,  zu  dem  er  ein  so  reizendes 
Verhältnis  hatte.  Cicero  kehrte,  wie  Sie  wissen,  im  Herbst  50  aus 
seiner  Provinz  Cilicien  zurück.  Tiro  wurde  unterwegs  krank, 
mußte  zurückbleiben  und  erhielt  von  dem  vorausreisenden  Cicero 
mehrere  besorgte  und  beruhigende  Billette,  unter  denen  ich  am 
meisten  das  folgende  liebe  (ad  fam.  XVI  6): 

,,Tertiam  ad  te  hanc  epistulam  scripsi  eodem  die,  magis  in- 
stituti  mei  tenendi  causa,  quia  nactus  eram  cui  darem,  quam  quo 
haberem,  quod  scriberem.  Igitur  illa:  quantum  me  diligis, 
tantum  adhibe  in  te  diligentiae;  ad  tua  innumeralia  in  me  officia 
adde  hoc,  quod  mihi  erit  gratissimum  omnium.  Cum  valetudinis 
rationem,  ut  spero,  habueris,  habeto  etiam  navigationis.  In 
Italiam  euntibus  omnibus  ad  me  litteras  dabis,  ut  ego  euntem 
Patras  neminem  praetermitto.  Cura,  cura  te,  mi  Tiro:  quoniam 
non  contigit,  ut  simul  navigares,  nihil  est,  quod  festines,  nee 
quicquam  eures,  nisi  ut  valeas.  Etiam  atque  etiam  vale.  VII. 
Idus  Nov.  Actio  vesperi." 

Ist  das  nicht  den  besten  Erzeugnissen  der  neueren  Briefliteratur 
gleichwertig?  Reife  und  Sicherheit  des  Geschmacks  paart  sich 
mit  anmutiger  Nachlässigkeit.  Im  Rahmen  der  einfachsten  Mit- 
teilung wird  der  ganze  Mensch  sichtbar,  nicht  aufdringlich,  nicht 
irgendwie  drapiert,  sondern  natürlich,  frei,  schön.  —  Lesen  Sie 
Ciceros  Briefe,  verehrter  Freund !  Lesen  Sie  sie  wieder  und  wie- 
der! Sie  werden  immer  mehr  in  ihnen  entdecken  und  werden 
schließlich  aufhören  zu  widersprechen,  wenn  ich  sage,  daß 
Cicero  eine  Blüte  menschlicher  Kultur  ist,  keine  stark  duftende, 
vielleicht  auch  keine,  die  Früchte  ansetzt,  aber  doch  eine  seltene, 
kostbare. 


12g 


VI. 


ZUR  ANTIKEN  LYRIK. 


Bei  den  Griechen  ist  die  Lyrik  ein  früh  gepflegter  und  hoch  ent- 
wickelter Kunstzweig.  Leider  ist  wenig  von  ihr  erhalten  und 
das  Wenige  wird  in  Deutschland  nicht  mehr  gelesen.  Das  starke 
in  die  Kunst  getauchte  Leben,  das  Griechenlands  Geheimnis  und 
ewig  wirkender  Zauber  ist,  kommt  in  der  Lyrik  rein  zur  Erschei- 
nung. Das  Gelegenheitsgedicht  im  Goetheschen  Sinne  ist  ge- 
funden; Trinklieder,  Liebeslieder,  Spottgedichte  werden  ebensogut 
getroffen  wie  Gesänge  im  hohen  Ton  und  didaktische  Gedichte. 
Die  Beziehungen  zum  Epos,  zum  Drama,  zur  Prosa  sind  voll- 
kommen durchsichtig  und  geben  der  Ästhetik  ein  wertvolles 
Material  zur  vergleichenden  Charakteristik  der  poetischen  Gat- 
tungen. Griechenland  hat  wie  auf  fast  allen  anderen  Gebieten 
der  Kultur,  so  auch  in  der  Lyrik  den  ganzen  Kreis  dessen  durch- 
laufen, was  spätere  Zeiten  erstrebt  haben.  Als  eine  Einheit,  eine 
Art  Extrakt  bietet  uns  dies  Volk  dasselbe  dar,  was  wir  zerstreut 
und  widerspruchsvoll  aus  uns  zu  entwickeln  suchen.  Die  neuere 
Zeit  hat  die  Kultur  erweitert,  aber  auch  verdünnt,  bereichert, 
aber  auch  verwirrt. 

Die  Römer  leben  im  Anblick,  im  Genuß  und  in  der  Aneignung 
des  Hellenischen.  Das  macht  ihren  Kulturwert  aus.  Ihre  Lyrik 
ist  der  Gegenwart  etwas  vertrauter  als  die  griechische.    Es  gibt 

130 


Zur  antiken  Lyrik. 


einige,  wenn  auch  nicht  viele  Menschen,  die  hin  und  wieder  einen 
lateinischen  Lyriker  in  die  Kand  nehmen.  Von  denen,  die  es 
pflichtgemäß  als  Schüler  und  des  Berufs  v/egen  als  Lehrer  und 
Sprachforscher  tun,  sehe  ich  ab. 

Für  die  erklärende  Arbeit  der  Philologen  kann  man  nicht 
dankbar  genug  sein.  Doch  erstreckt  sie  sich  zuweilen  weiter 
als  man  wünschen  möchte,  und  bleibt  hinter  dem  zurück,  was 
man  erwarten  dürfte.  Wie  wäre  es,  wenn  mehr  Leute  von 
künstlerischer  Bildung  als  bisher  daran  gingen,  rein  künstlerische 
Erzeugnisse  zu  edieren  und  zu  kommentieren,  die  als  solche  selbst 
in  Einzelheiten  nur  vom  künstlerischen  Gesichtspunkt  aus  ver- 
ständlich werden?  In  berühmten  Ausgaben  findet  man  mitunter 
Erklärungen  und  Urteile,  die  nur  in  der  Unbildung  ihres  Autors 
Erklärung  finden. 

Die  fragmentarischen  Anmerkungen,  die  ich  hier  über  drei 
antike  Lyriker  machen  will,  sollen  nur  dazu  beitragen,  den  Kreis 
ihrer  Verehrer  unter  den  Kunstfreunden  zu  erweitern. 


SAPPHO. 


Sappho  lebte  im  7.  Jahrhundert  vor  Chr.,  ist  also  über  hundert 
Jahre  älter  als  Aischylos.  Sie  hat  neun  Bücher  Liebes-  und 
Hochzeitslieder  gedichtet  und  komponiert.  Sie  war  eine  ange- 
sehene Bürgerin  der  lesbischen  Stadt  Mytilene  und  Leiterin  einer 
Schule,  in  der  junge  Mädchen  das  Dichten  und  Komponieren 
erlernten.  Nur  zwei  vollständige  Gedichte  und  ein  paar  Frag- 
mente sind  uns  von  ihr  erhalten  geblieben.  Beide  sind  in  der 
nach  ihr  benannten  und  vielleicht  von  ihr  zuerst  angewendeten 
sapphischen  Strophe  verfaßt.  Das  eine  hat  7,  das  andere  4  vier- 
zeilige  Strophen.  Beides  sind  erotische  Gedichte.  Das  längere 
enthält  ein  Gebet  an  Aphrodite  um  Beistand  in  einer  Liebes- 
angelegenheit. Schon  früher  habe  sie  ihr  geholfen  und  spröde 
Mädchen,  die  sie  liebte,  ihr  geneigt  gemacht;  dasselbe  möge  sie 


Erster  Teil. 

jetzt  wieder  tun.  Das  zweite  hat  ebenfalls  die  Leidenschaft  zu 
einem  Mädchen  als  Gegenstand,  ist  aber  direkt  an  dasselbe  ge- 
richtet. Es  schildert  die  Fassungslosigkeit,  in  die  die  Liebende 
gerät,  wenn  sie  die  Geliebte  erblickt. 

Sie  zeigen,  künstlerisch  betrachtet,  einen  hohen  Grad  von 
Vollkommenheit  und  können  als  Muster  der  sogenannten  indivi- 
duellen, der  Stimmungslyrik  dienen.  Ohne  weiteres  ist  sicher,  daß 
eine  lange  Entwicklung  diesen  Produkten  vorausgeht,  eine 
Entwicklung,  die  sowohl  auf  Klangschönheit,  wie  auf  Sicher- 
heit in  Versmaß  und  Rhythmus,  wie  auf  Einheitlichkeit  der 
Darstellung,  wie  endlich  auf  die  schärfste  gedankliche  und 
sprachliche  Präzisierung  von  Gefühlen  hinzielte.  Schon  bei 
Homer  ist  dies  alles  in  gewissem  Sinne  vorhanden;  doch  treten 
beim  Epos  wie  billig  die  Gefühle  zurück.  Homer  deutet  nur  mit 
einem  oder  wenig  Worten  die  Gefühle  wie  auch  den  Charakter 
seiner  Personen  an  und  rückt  immer  die  Ereignisse  in  den  Vorder- 
grund. Die  Lyrik  hatte  die  Aufgabe  auszubilden,  was  er  mit 
großem  Takt  und  feiner  Kenntnis  menschlicher  Gemütszustände 
begründet  hatte.  So  entwickelte  das  Drama  die  Charakterzeich- 
nung und  andere  Gattungen  griechischer  Poesie  anderes,  was  bei 
Homer  im  Keim  vorhanden  ist.  Ich  kann  denen  nicht  zustimmen, 
die  deshalb  das  Drama  oder  einen  anderen  Zweig  der  Dichtkunst 
als  Vollendung  und  Höhepunkt  gegenüber  Homer  bezeichnen. 
Homer  ist  nicht  nur  Vater  und  Anreger,  sondern  selber  Höhepunkt. 
Die  griechische  Poesie  formte  sich  um  und  betonte  Verschiedenes 
nacheinander,  aber  höher  als  Homer  ist  sie  nicht  gekommen. 

Die  Lyrik,  wie  Sappho,  ihr  Stammes-  und  Zeitgenosse  Alkaios 
und  der  Jonier  Anakreon  sie  vertreten,  bringt,  wie  gesagt,  Gemüts- 
zustände zum  Ausdruck,  vorzugsweise  solche  des  Dichters.  Auf 
welche  Weise  tut  sie  dies?  Halten  wir  uns  an  Sappho,  so  finden 
wir  sie  zur  Aphrodite  um  Beistand  flehen.  Wie  würde  ein 
Dichter  von  geringerer  Künstlerschaft  dabei  verfahren?  Er  würde 
wie  Sappho  einsehen,  daß  die  einfache  Bitte  in  zwei,  drei  Worten 
ausgesprochen  werden  kann  und  kein  Gedicht  füllt.  Er  würde 
sie  daher  in  verschiedenen  Wendungen  wiederholen,  sie  steigern, 
eindringlicher  machen  oder  dgl.;  außerdem  würde  er  die  Stärke 
seines  Gefühls  durch   Ausrufe,    Klagen  usw.   deutlich   machen; 

132 


Zur  antiken  Lyrik. 


alles  in  allem,  er  würde  in  dem  Verlangen,  möglichst  stark  und 
eindrucksvoll  zu  reden,  unklar,  mindestens  unplastisch  reden. 
Was  tut  Sappho?  Sie  erzählt  einen  Vorgang;  sie  berichtet  mit 
homerischer  Anschaulichkeit  über  die  Art,  wie  Aphrodite  sich 
der  Betenden  annehmen  wird.  Die  erste  Strophe  enthält  Anrede 
und  Bitte,  dann  folgt  fünf  Strophen  hindurch  eine  rein  objektive 
Darstellung,  die  siebente  faßt  zusammen  und  schließt.  Die  Er- 
zählung ist  so  eingekleidet,  daß  die  Göttin  von  der  Betenden  an 
ihre  frühere  Hilfeleistung  erinnert  wird.  Dabei  beschreibt  sie, 
wie  es  damals  gewesen:  Aphrodite  hört  von  fern  die  Stimme, 
verläßt  das  goldene  olympische  Haus,  schirrt  den  Wagen  an,  wird 
von  Sperlingen  herabgeführt,  kommt  an,  fragt  teilnehmend,  er- 
bietet sich  ihrer  Dienerin  Peitho  die  Angelegenheit  zu  übergeben, 
versichert,  dieselbe  würde  das  Herz  der  Spröden  ihr  zuwenden. 
Dies  alles  wird  so  kurz  und  doch  so  klar  und  erschöpfend  gesagt, 
daß  man  Mühe  hätte,  auf  einem  doppelt  so  großen  Raum  als 
ihn  das  Gedicht  einnimmt,  den  Inhalt  vollständig  wiederzugeben. 
Das  Wunderbare  ist  nun  aber,  daß  der  Zweck  des  Gedichts,  den 
Gemütszustand  der  Dichterin  zu  schildern,  durchaus  erreicht  ist. 
Er  wird  nicht  nur  geschildert,  sondern  mit  eindringlicher  Kraft 
dem  Hörer  des  Gedichts  gleichsam  aufgezwungen.  Die  Glut  der 
Empfindung  ist  voll  zum  Ausdruck  gekommen;  das  Subjektive 
des  Gegenstandes  hat  dadurch,  daß  es  ins  Objektive  gewendet  ist, 
nichts  verloren,  sondern  nur  etwas  Unschätzbares  gewonnen, 
nämlich  die  Möglichkeit,  einem  vollendeten  Gedicht  als  Unterlage 
zu  dienen.  Unter  allen  lyrischen  Produkten  alter  und  neuer  Zeit 
kenne  ich  nichts  Vortrefflicheres  als  diese  einfache  Ode  der  Sappho. 
Das  zweite  Gedicht  ist  vielleicht  noch  lehrreicher.  Sappho 
will  die  vernichtende  Stärke  ihrer  Leidenschaft  dem  Hörer,  zu- 
nächst der  Geliebten  selber,  mitteilen.  Um  dies  zu  erreichen, 
greift  sie  wiederum  nicht  zu  wilden  Ausrufen,  zu  Seufzern  und 
Gejammer,  sondern  sie  beschreibt  Stück  für  Stück  die  Wirkung, 
die  der  Anblick  ihrer  Geliebten  auf  sie  hat.  Wer  es  ertrage,  diesem 
Mädchen  nahe  zu  sein,  müsse  ein  göttliches  Wesen  sein;  sie  ver- 
möge es  nicht.  Wenn  sie  das  Mädchen  nur  einen  Augenblick 
sehe,  versage  ihre  Stimme,  die  Zunge  sei  gelähmt,  ein  Feuer 
laufe  unter   ihrer   Haut,   ihre   Augen  sehen  nichts,   ihre  Ohren 


133 


Erster  Teil. 

brausen,  der  Schweiß  rinne  ihr  herab,  sie  zittere,  werde  grüner 
als  Gras,  sei  beinahe  tot  und  gleiche  einer  Irren.  Diese  einfache 
Beschreibung  wirkt  gewaltig  und  drückt  das  Gefühl  mit  über- 
zeugender Wucht  aus.  Der  künstlerische  Sinn  der  Griechen,  der 
immer  auf  das  Sinnliche,  auf  Anschauung  und  Greifbarkeit  ge- 
richtet ist  und  unsinnliche,  deshalb  unkünstlerische  Dinge,  wie 
Begriff  und  Gefühl,  sinnlich  zu  fassen  und  darzustellen  sucht, 
zeigt  sich  hier  aufs  Glänzendste.  Wir  Deutschen  leiden  umgekehrt 
daran,  sogar  das  Sinnlichste  unsinnlich  machen  und  auffassen 
zu  wollen. 

Über  den  Gehalt  der  beiden  Gedichte  wäre  noch  einiges  zu 
sagen.  Leidenschaften  künstlerisch  zu  bewältigen  ist  an  sich 
eine  schwere  Aufgabe;  viel  leichter,  näherliegend  und  normaler 
ist  es,  äußere  Gegenstände  und  Ereignisse  künstlerisch  darzu- 
stellen als  Vorgänge  in  der  eignen  Brust.  Hierzu  kommt  bei 
Sappho  noch  die  Schwierigkeit,  daß  es  sich  um  eine  unnatürliche 
Leidenschaft  handelt.  Normale  Gefühle,  zu  denen  auch  die  Liebe 
zum  andern  Geschlecht  gehört,  werden  in  der  Regel  durch  die 
anderen  Regungen  des  Menschen  unterstützt;  sie  wachsen  und 
gedeihen,  da  sie  ein  passendes,  vorbereitetes  Erdreich  finden. 
Die  Widerstände,  denen  sie  begegnen,  kommen  nur  ausnahms- 
weise von  innen,  sonst  von  außen;  sie  werden  daher  bei  starken 
Naturen  oder  wenigstens  starken  Gefühlen  eher  fördernd  als 
hemmend  wirken  und  ihnen  jedenfalls  nicht  die  natürliche  Basis 
entziehen,  die  sie  schön  und  künstlerisch  verwendbar  macht. 
Anders  bei  perversen  Gefühlen.  Wie  erstaunlich,  daß  es  einer 
so  frühen,  in  der  frischesten  Bewegung  erstarkten  Epoche  gelingt, 
die  Homosexualität  soweit  zu  verfeinern,  daß  sie  zum  künst- 
lerischen Vorwurf  gemacht  werden  kann!  Bei  Sappho  tritt  sie 
mit  der  Sicherheit  und  unschuldigen  Offenheit  eines  Naturtriebes 
ans  Tageslicht.  Sie  weiß  nichts  von  den  inneren  Konflikten,  die 
sie  manchmal  intensiver  machen  kann,  sie  aber  stets  unharmo- 
nischer und  häßlicher  machen  wird.  Die  allgemeineren  Fragen 
lasse  ich  hier  außer  Betracht;  ich  zeige  nur  auf  das  künstlerische 
Phänomen  hin,  das  Sappho  bietet.  Man  sage  nicht,  daß  bei  ihr 
von  Freundschaft  die  Rede  sei;  mit  grimmigen  Schmerzen  des 
Verlangens  kämpft  die  Dichterin  und  wendet  sich,  wie  jeder  andere 

134 


Zur  antiken  Lyrik. 


Liebhaber,  an  Aphrodite  um  Hilfe.  Sie  ist  der  Berechtigung,  der 
Reinheit  ihres  Verlangens  vollkommen  sicher.  Sie  erhöht  und 
verarbeitet  dasselbe  sogar  in  dem  Grade,  daß  sie  reife  Früchte 
der  Kunst  aus  ihm  zu  ziehen  vermag. 


PINDAR. 


Die  Chorlyrik  der  Griechen  gehört  fast  ausschließlich  der 
älteren  Zeit  an.  Pindar,  der  in  dem  Zeitalter  der  Perserkriege 
lebte,  steht  schon  am  Ende  ihrer  Entwicklung.  Die  Form  wurde 
durch  Stesichoros  um  600  geregelt.  Es  sind  komplizierte  poetische 
Gebilde,  die  in  Strophe,  Antistrophe  und  Epode  zerfallen.  Die 
verschiedensten  Versmaße  werden  kunstvoll  miteinander  ver- 
einigt und  im  Gegensatz  zum  epischen  und  tragischen  Vers  das 
Hauptgewicht  auf  Mannigfaltigkeit  des  Rhythmus  gelegt.  Unge- 
heuer fein  entwickelt  sich  dadurch  das  rhythmische  Gefühl,  etwa 
ebenso  fein  wie  das  polyphone  durch  die  neuere  Musik.  Wir  sind 
ungebildet  in  bezug  auf  Rhythmik,  wir  begnügen  uns  in  unseren 
Dichtungen  wie  auch  in  einem  gewissen  Grade  in  unserer  Musik 
mit  einfachen,  gleichmäßig  wiederkehrenden  Zeitverhältnissen. 
Daher  versagt  unser  Geschmack  und  unser  künstlerisches  Urteil 
gegenüber  den  Erzeugnissen  der  griechischen  Chorlyrik.  Der 
Grieche  empfand  ein  vielleicht  150  Silben  umfassendes  System, 
das  nicht  etwa  periodisch  gegliedert  ist,  als  eine  Einheit;  er  über- 
schaute es  mit  einem  Blick  und  wußte  seine  Schönheit  und  Origi- 
nalität instinktiv  zu  beurteilen,  so  gut  wie  er  die  formale  Kom- 
position einer  Statue  beurteilte.  Wir  können  wohl  nachrechnen, 
wie  das  System  aufgebaut  ist,  haben  auch  Wohlgefallen  daran, 
wenn  wir  es  vortragen  hören,  aber  von  einer  sicheren  Empfindung 
für  die  künstlerische  Notwendigkeit  gerade  dieser  Bildung  im 
Gegensatz  zu  einer  nur  wenig  veränderten  ist  keine  Rede.  Wenn 
der  musikalisch  Gebildete  unserer  Tage  ein  gutes  Musikstück 
hört,   so  empfängt  er  den  Eindruck  eines  lebendigen   Körpers, 

135 


Erster  Teil. 

dessen  Glieder  zusammengewachsen  sind  und  von  einem  einheit- 
lichen Willen  bewegt  werden.  Eine  Veränderung,  die  nicht 
bedeutend  zu  sein  braucht,  zerstört  diesen  Eindruck,  nimmt  dem 
Kunstwerk  Sinn  und  Leben.  Eine  einzige  andere  Note  in  der 
Melodie,  ein  anderer  Akkord,  kann  die  Wirkung  aufheben,  min- 
destens stören,  so  wie  ein  falscher  Buchstabe  unter  Umständen 
einen  ganzen  Satz  sinnlos  macht.  Ebenso  empfand  der  antike 
Hörer,  wenn  ein  Chorlied  von  Pindar,  Simonides  usw.  vorgetragen 
wurde.     Er  genoß  Rhythmik  als  ausgebildete   Kunst. 

Musik  und  Tanz,  erstere  stets,  letzterer  meist  mitwirkend, 
bildeten  wichtige  Hilfsmittel,  den  künstlerischen  Eindruck  zu 
vervollständigen,  doch  waren  sie  augenscheinlich  der  rhyth- 
mischen Komposition  untergeordnet.  Diese  war  das  Zentrum; 
Musik  und  Tanz  machten  sie  klarer  und  ausdrucksvoller.  So 
erscheint  es  mir  wenigstens;  ein  sicheres  Urteil  ist  nicht  möglich, 
da  wir  zu  wenig  von  antiker  Musik  und  Tanzkunst  wissen. 
Gewiß  war  auch  das  melodiöse  Empfinden  hoch  entwickelt;  aber 
daß  es  sich  in  moderner  Weise  vom  rhythmischen,  und  sogar 
dem  poetisch  rhythmischen,  emanzipiert  hätte,  will  mir  nicht 
einleuchten. 

Die  Chorlyrik  hatte,  wie  es  in  ihrem  Wesen  liegt,  meist  öffent- 
lichen und  religiösen  Charakter.  Anlässe  kamen  nicht  durch  die 
Dichter,  sondern  wurden  von  außen  gegeben.  Von  Pindar  sind 
uns  fast  nur  Epinikien  erhalten,  d.  h.  Lobgedichte  auf  die  Sieger 
in  den  öffentlichen  Wettspielen,  die  auf  Bestellung  und  gegen 
Bezahlung  angefertigt  wurden.  Das  Thema  war  gegeben,  und 
der  Dichter  mochte  sehen,  wie  er  ein  Gedicht  darüber  zustande 
brachte.  Es  ist  nichts  Leichtes,  jemanden  auf  geschmackvolle 
und  originelle  Art  zu  loben,  zumal  wegen  einer  Leistung,  die  in 
jedem  Jahre  sehr  oft  und  immer  in  der  gleichen  Weise  vollführt 
wird.  Das  Besondere  mußte  sorgfältig  hervorgesucht  und  der 
knappe  Stoff  künstlich  erweitert  werden.  Da  auch  dieser  Dichter 
wußte,  daß  Dichten  Darstellen  sei,  so  kam  es  darauf  an,  Dar- 
stellungsobjekte zu  finden;  und  da  er  ein  Grieche  war,  so  ergab 
sich  von  selbst,  woher  er  dieselben  nahm:  aus  dem  Mythos.  Die 
Schwierigkeit  war,  das  Thema  mit  den  mythischen  Erzählungen 
zu  verknüpfen.     Pindar  versucht  dies  auf  verschiedene  Weise, 

136 


Zur  antiken  Lyrik. 


z.  B.  so,  daß  er  auf  die  mythischen  Vorfahren  des  Siegers  zu 
sprechen  kommt  und  die  Geschichte  seines  Heimatsortes  und 
dessen  Merkwürdigkeiten  erzählt.  Doch  kann  man  nicht 
sagen,  daß  er  es  mit  dem  Zusammenhang  allzu  genau  nimmt. 
Offenbar  war  niemand  peinlich  in  diesem  Punkte,  und  jeder  sah 
die  Schwierigkeit  der  Aufgabe,  die  sich  steigert,  je  größer  die  Zahl 
solcher  Lieder  wird.  Pindar  hat  etwas  Unerschöpfliches  in  seiner 
Art.  Man  glaubt  ohne  weiteres,  daß  er  hunderte  machen  konnte, 
und  jedes  anders,  jedes  schön  und  reizvoll. 

Wie  stellt  Pindar  dar?  In  einer  Weise,  die  den  künstlerischen 
Takt  der  Griechen  wiederum  in  helles  Licht  stellt.  Man  erinnert 
sich  an  den  Reigen,  den  die  Phäakenjünglinge  vor  Odysseus  auf- 
führen. Der  Sänger  begleitet  den  Tanz  mit  dem  Vortrag  eines 
Liedes,  dessen  Inhalt  jener  bekannte  Liebeshandel  zwischen 
Ares  und  Aphrodite  ist.  Homer  erzählt  die  Geschichte,  wie  er 
alles  andere  erzählt;  er  behält  den  epischen  Ton  bei.  Der  Lyriker 
aber  muß  anders  verfahren,  wenn  sein  Lied  zum  Reigen  stimmen, 
ihn  wirklich  begleiten  und  unterstützen  will.  Dies  aus  zwei 
Gründen.  Erstens  darf  die  Erzählung  nicht  durch  ihren  Stoff, 
durch  die  geschilderten  und  ins  Detail  ausgemalten  Vorgänge 
zu  stark  das  Interesse  in  Anspruch  nehmen  und  von  dem  ge- 
schauten Tanz  ablenken;  zweitens  muß  die  rhythmische  Gestaltung 
mit  der  Bewegung  der  Tanzenden  übereinkommen.  Der  erste 
Grund  berührt  eine  der  tiefsten  Fragen  der  Ästhetik,  nämlich 
die  Zusammenwirkung  verschiedener  Kunstarten.  Wir  Neueren 
sind  hauptsächlich  durch  die  Oper  auf  diese  Frage  aufmerksam 
geworden.  Können  Dichtung  und  Musik  nebeneinander  be- 
stehen? Achtet  man  in  der  Oper  auf  Text,  Schauspiel  und  Musik 
zu  gleicher  Zeit  oder  abwechselnd?  Sollen  Operntexte  von  hohem 
stofflichen  und  künstlerischen  Wert  sein,  oder  hindern  sie  in 
diesem  Falle  die  reine  musikalische  Wirkung?  Ich  glaube,  daß 
man  aus  der  Praxis  der  Griechen  die  Antwort  auf  diese  Fragen 
entnehmen  kann,  soweit  wenigstens,  als  die  Antwort  überhaupt 
möglich  ist.  Ein  ungelöster  Rest  wird  wohl  immer  bleiben.  Der 
Gesang  vereinigt  von  Natur  beides,  Dichtung  und  Musik.  Wäh- 
rend das  Instrument  sich  ausschließlich  musikalisch  betätigt  und 
nur  Töne  von  sich  gibt,  keine  begrifflichen  Vorstellungen  erweckt, 


Horneffer,  Das  klassische  Ideal. 


137 


Erster  Teil. 

bringt  der  Sänger  außer  Tönen  auch  einen  Text,  d.  h.  etwas  nicht 
unmittelbar    sinnlich,    sondern    erst    durch    logische   Prozeduren 
Verständliches  zu  Gehör.     Er  verlangt  sehr  viel  und  im  Grunde 
doch  wohl  etwas  Unmögliches  von  dem  Hörer,  der  sich  nicht 
zerteilen  kann  und  als  Empfänger  eines  künstlerischen  Eindrucks 
seine  Einheitlichkeit  ganz  besonders  zu  wahren  hat.     Auf  ver- 
schiedene Weise  hat  man  versucht,  aus  der  Schwierigkeit  heraus- 
zukommen.    Bald  wurde  der  Text  in  den  Hintergrund  gedrängt 
und  fast  nur  lautlich  genommen  (ein  großer  Teil  der  Kirchenmusik, 
manche  Opernarien),  bald  dominierte  er  und  machte  die  Musik 
zur  Dienerin  (das  Rezitativ  in  seinen  verschiedenen  Formen). 
Wagner  hatte  die  richtige  Idee,  man  müsse  von  beiden  Seiten 
aus  gleichmäßig  vorgehen  und  Text  und  Musik  einander  annähern, 
in  der  Weise,  daß  man  die  Dichtung  musikalisch  und  die  Musik 
poetisch  behandle.    Dann  würden  sie  sich  treffen  und  eine  Einheit 
bilden,   meinte  er.     Weshalb  die  praktischen  Versuche,   die  er 
machte,  so  lehrreich  und  in  mehrfacher  Hinsicht  wertvoll  sie 
sind,  doch  mißlangen,  kann  hier  nicht  erörtert  werden.     Sicher 
ist,  daß  beides  litt  und  sowohl  Poesie  wie    Musik    vergewaltigt 
wurde.     Die  Kunst  als  Kunst  hat  selten  bei  so  reichen   Mitteln 
einen   solchen   Tiefstand   gehabt  wie   in  Wagners   Opern.      Ein 
Moment,  das  meiner  Meinung  nach  den  Ausschlag  gibt  und  bei 
den  Alten  auch  den  Ausschlag  gab,  ließ  Wagner  unberücksichtigt, 
das  ist  der  Rhythmus.    Der  Rhythmus  bildet  die  Brücke  zwischen 
den  beiden  Künsten  Poesie  und    Musik.     Er  gehört  beiden  an; 
er  ist,  was  so  sehr  wichtig  ist,  eins  der  wenigen  unmittelbar  sinn- 
lichen Mittel  der  Poesie  und  hat  in  der  Musik  die  Bedeutung  des 
Festigenden,  Formgebenden.    Die  Griechen  mit  ihrer  instinktiven 
ästhetischen  Einsicht  kamen  ganz  von  selbst  dazu,  den  Rhyth- 
mus als  Bindeglied  zu  gebrauchen,  ja  ihn  in  den  Mittelpunkt  zu 
stellen,  wo  es  galt,  Poesie  und  Musik  miteinander  in  Wirksamkeit 
treten   zu   lassen.      In    Schöpfungen,   wie   sie   etwa  Pindar   uns 
hinterlassen  hat,  ist  weder  die    Musik  noch  die  Poesie  Haupt- 
sache, obgleich  beide  mit  größter  Sorgfalt  zu  hoher  Vollendung 
gebracht  sind,  sondern,  wie  schon  oben  gesagt,  der  Rhythmus  ist 
Hauptsache.     Und  unter  seinem  Schutze  gleichsam  konnte  ein 
friedliches  Einvernehmen  hergestellt  werden  und 'konnte,  erfolg- 

138 


Zur  antiken  Lyrik. 


reicher  als  bei  Wagner,  sogar  die  Dichtung  musikalischen  und 
die  Komposition  poetischen  Gesetzen  sich  fügen  oder  doch  sich 
anzupassen  suchen. 

Auf  diese  Weise,  glaube  ich,  muß  man  Pindars  Darstellung 
erklären.  Die  Art,  wie  er  einen  Vorgang  erzählt,  wie  er  philo- 
sophische Betrachtungen  anstellt,  ethische  Maximen  ausspricht, 
weicht  ungeheuer  von  der  Art  des  Epikers,  des  philosophischen 
Dichters,  des  gnomischen  Elegikers  ab.  Bei  diesen  allen  ist  zwar 
die  Musik  wohl  nicht  ganz  ohne  Anteil,  aber  sie  räumt  der  Dich- 
tung die  erste  Stelle  ein.  Schon  die  Gestaltung  des  Rhythmus 
spricht  dies  deutlich  aus.  Der  Tanz  fehlt  ganz.  Selbst  in  der 
Einzellyrik  Anakreons  oder  Sapphos  bleibt  die  Musik  meiner 
Meinung  nach  in  der  zweiten  Stelle.  Die  Dichtung  folgt  ihren 
Gesetzen  und  nimmt  keine  Rücksicht  auf  einen  selbständigen, 
gleich  starken  Bundesgenossen.  Ich  finde  schon  in  dem  herr- 
lichen Parthenion  von  Alkman,  dem  ältesten  uns  bekannten 
Chorlyriker,  dieselbe  Tendenz,  die  bei  Pindar  zum  Siege  kommt. 
Natürlich  bildete  sie  der  Einzelne  seinem  Naturell  entsprechend 
aus  und  die  Unterschiede  zwischen  Pindars  und  seines  einfacheren 
helleren  Zeitgenossen  Bakchylides  Darstellungsweise  sind  er- 
heblich; aber  die  Grundlage  ist,  soweit  ich  wenigstens  sehe, 
die  gleiche. 

Von  Pindar  weiß  der  gebildete  Deutsche  unserer  Tage  nur, 
daß  seine  Sachen  sehr  erhaben  und  sehr  schwer  zu  übersetzen 
sind.  Beides  ist  richtig,  erschöpft  aber  seine  Bedeutung  wohl  nicht 
ganz.  Leider  vernachlässigt  man  auch  die  Chorlyrik  in  den 
griechischen  Tagödien;  man  vergißt  über  dem  Drama,  das  nur 
ein  Bestandteil  der  alten  Tragödie  ist,  die  großen  lyrischen  Ge- 
sänge, die  es  einschließen  und  gliedern  und  die  bekanntlich 
Ursprung  und  Ausgangspunkt  der  Tragödie  sind.  Ob  sie  eng 
oder  lose  mit  dem  Drama  zusammenhängen,  ist  eine  andere  Frage; 
ich  meine  nur,  wer  einen  Agamemnon,  eine  Elektra  usw.  richtig 
schätzen  und  ganz  genießen  will,  muß  die  Chöre  ebenso  wichtig 
nehmen  wie  die  Handlung.  Sonst  ist  er  nur  halb  eingedrungen. 
Diese  Chöre  sind  in  derselben  Weise  gebildet  und  von  der  gleichen 
ästhetischen  Anschauung  getragen  wie  die  Lieder  Pindars.  Was 
von    seiner    Darstellungsweise    und    deren    Absicht    gilt,    kann 


139 


Erster  Teil. 

man    ohne  weiteres  auf  Aischylos,  Sophokles,  Euripides  über- 
tragen. 

Das  Hauptkennzeichen  ist  Mangel  an  Einfachheit.  Pindar 
ist  nicht  einfach,  wenn  er  darstellt;  er  unterbricht  sich,  er  belädt 
die  Schilderung  mit  Zutaten,  die  der  Epiker  grundsätzlich  ver- 
meidet, er  zeigt  auf  das  Deutlichste,  daß  ihn  nicht  der  Vorgang 
an  sich  interessiert,  sondern  etwas  anderes.  Dies  scheint  auf  den 
ersten  Blick  die  Empfindung  der  handelnden  oder  leidenden 
Personen  zu  sein.  Aber  es  ist  wohl  mehr  die  Empfindung  über- 
haupt. Die  starken  Beiworte,  das  Verweilen  bei  erregenden 
Geschehnissen  soll  den  Hörer  in  eine  erhöhte  Stimmung  bringen, 
die  ihn  für  rhythmische  Eindrücke  empfänglich  macht.  Es  ist 
ein  mächtiger  Gefühlsstrom,  der  das  Dargestellte  wie  einen  Kahn 
trägt,  führt,  wohl  auch  in  seinen  Wellen  begräbt.  Immer  sind 
es  Bilder,  die  er  erweckt,  nicht  abstrakte  Ideen  natürlich;  dazu 
ist  er  viel  zu  sehr  Grieche.  Aber  er  wählt  solche  Bilder  und  bringt 
eine  solche  Fülle  einander  drängender  und  ablösender  Bilder, 
daß  der  Hörer  nicht  plastisch,  sondern  musikalisch  angeregt  wird. 
Er  sieht  nicht  wie  bei  Homer  deutliche  Gestalten  und  Situationen 
vor  dem  geistigen  Auge,  erfährt  auch  nicht  wie  bei  Sappho  sehr 
eindringlich  die  Gefühle  bestimmter  Personen;  er  wird  in  eine 
plastisch  unklare  und  wirre,  aber  rhythmisch  sichere  und  ge- 
ordnete Welt  geführt.  Pindar  ist  Ausschweifung,  Übermaß, 
wenn  man  ihn  rein  poetisch  nimmt;  aber  man  tut  ihm  Unrecht, 
ihn  so  zu  nehmen.  Freilich,  er  geht  immer  auf  Stelzen,  er  um- 
schreibt fast  jeden  Begriff  durch  eine  kühne  Metapher,  er  wählt, 
wo  er  nur  kann,  uneigentliche  Ausdrücke  und  sucht  diese  in 
möglichst  fernliegenden  Gebieten  auf.  Wenn  er  einem  Herrscher 
die  Mahnung  zuruft,  aufrichtig  zu  sein,  so  sagt  er:  schmiede 
deine  Zunge  auf  einem  nicht  trügenden  Ambos.  Er  nennt  den 
Anker  den  Zügel  des  Schiffes,  und  den  Ruhm  das  schönste  Heil- 
mittel der  Tapferkeit.  Er  bildet  lange,  überladene  Perioden  und 
mehr  als  eine  Stelle  bietet  dem  Erklärer  große  Schwierigkeiten. 
Bei  alledem  verliert  doch  der  Hörer  nicht  den  festen  Boden,  wie 
es  ihm  bei  dunklen  Produkten  deutscher  Stümper  so  oft  geschieht. 
Das  Dunkle  in  der  Ausdrucksweise  Pindars  sowie  der  tragischen 
Chöre  hat  künstlerische  Gründe  und  ist  vollständig  gerechtfertigt. 

140 


Zur  antiken  Lyrik. 


Man  braucht  nur  den  Ton  und  Stil  zu  prüfen,  den  die  Tragiker 
im  Dialog  haben.  Er  ist  ein  ganz  anderer,  viel  einfacher  und 
immer  auf  Anschauung  gerichtet.  Wie  plastisch  berichtet  etwa 
ein  Bote  von  den  Ereignissen  hinter  der  Szene!  Und  kurz  darauf 
singt  der  Chor,  schildert  vielleicht  ein  änliches  Ereignis  aus  der 
Vorzeit,  umkleidet  aber  seine  Darstellung  mit  einem  verhüllenden 
Mantel  von  farbenreichen  Gleichnissen,  von  philosophischen  Be- 
trachtungen, von  Attributen  und  Partizipien.  Ich  glaube,  der 
Hörer  hat  oft  dem  Text  der  Lieder  nicht  bis  ins  einzelne  folgen 
können,  sondern  sich  begnügt,  im  allgemeinen  zu  verstehen, 
um  was  es  sich  handelte.  Es  ist  nicht  denkbar,  daß  er  bei  einma- 
ligem Hören  alles  entwirren  und  in  die  richtige  logische  Beziehung 
setzen  konnte.  Oder  wir  müßten  einem  beliebigen  athenischen 
oder  syrakusischen  Bürger  eine  Auffassungsgabe  zutrauen,  wie 
sie  heute  niemand  mehr  hat. 

So  ist  Pindar.  Keine  Frage,  daß  er  und  seine  Verwandten 
für  uns  Deutsche  etwas  gefährlich  sind.  Wir  neigen  an  und 
für  sich  zu  Unklarheit  und  Überschwang  in  Worten,  Bildern, 
Gedanken,  Gefühlen  und  übersehen  leicht  den  Unterschied  in 
Kunst  und  Absicht,  der  zwischen  der  griechischen  Chorlyrik 
und  Produkten  wie  etwa  Goethes  hymnenartigen  Jugendgedichten 
in  freiem  Versmaß  besteht.  Dieselben  stehen  bekanntlich  unter 
Pindars  Einfluß  und  sind  gewiß  das  Hervorragendste,  was  wir 
in  dieser  Art  besitzen.  Niemand  wird  den  einzigen  Wert  so 
großartiger  Versuche  anzweifeln  wollen.  Aber  mit  den  geschlos- 
senen, formal  sicheren  und  aufs  feinste  ausgestatteten  griechischen 
Gesängen  halten  sie  den  Vergleich  in  künstlerischer  Hinsicht 
nicht  aus,  was  Goethe  selber  am  bereitwilligsten  zugeben  würde. 
Die  deutsche  Literatur  hat  nicht  wenig  Erzeugnisse  in  einem 
ähnlichen  Stil.  Zu  den  besten  gehört  Heines  Nordsee,  Neuer- 
dings hat  Nietzsche  in  seinem  Zarathustra  Versuche  in  einer 
verwandten  Richtung  gemacht.  Er  nimmt  ein  Moment  zu  Hilfe, 
das  den  Deutschen  und  ihm  zumal  nahe  liegt  und  das  in  der 
Tat  für  diese  Art  Lyrik  gut  verwertet  werden  kann;  ich  meine 
die  religiöse  Rhetorik,  die  Kanzelberedsamkeit.  Auch  Pindar 
ist  durchaus  rhetorisch  und  erregt  hohe  volle  Stimmungen  wie 
der  Kanzelredner.      Andächtig  zu  machen   ist   sein  Ziel;    durch 


141 


Erster  Teil. 

welchen  Stoff,  ist  von  geringerem  Belang.  Diese  Beredsamkeit 
mit  philosophischen  Absichten  zu  verbinden,  ist,  wie  mir  scheint, 
Nietzsche  gut  gelungen.  Aber  an  der  künstlerischen  Form  fehlt 
es  völlig. 


HORAZ. 


Was  andere  römische  Lyriker  auch  vor  Horaz  voraus  haben 
mögen,  es  wird  doch  wohl  dabei  bleiben,  daß  er  am  höchsten 
zu  stellen  ist.  Keiner  ist  als  Künstler  so  weit  gekommen,  keiner 
stellt  uns  mit  so  viel  Reife  und  griechischem  Sinn  eine  ganz 
geschlossene  Persönlichkeit  vor  Augen.  Er  gehört  der  Zeit  nach 
in  die  erste  Hälfte  der  Alleinherrschaft  des  Augustus.  Seine 
Dichtungen  zerfallen  der  Hauptsache  nach  in  strophisch  gebildete 
Lieder  verschiedenen  Maßes  und  in  losere,  der  Prosa  näher- 
stehende Gedichte  im  Hexameter.  Didaktisch  hat  sich  Horaz 
mit  großem  Glück  versucht.  Seine  ars  poetica  ist  ein  vorzüg- 
liches Beispiel  für  die  Art,  wie  die  Alten  zu  theoretisieren  ver- 
standen. In  der  Form  eines  Briefes  wird  ungezwungen  eine  Fülle 
von  ästhetischen  Fragen  erörtert  und  von  ästhetischen  Gesetzen 
aufgestellt.  Alles  ist  von  einer  reichen  Praxis  und  einer  sicheren 
Beobachtung  aus  gesagt,  ist  also  derart,  daß  es  unmittelbar  ver- 
wertet werden  kann;  auch  wendet  sich  der  Briefschreiber  nicht 
an  Ästhetiker  sondern,  wie  es  sich  gehört,  an  Künstler.  Wir 
werden  auf  eine  freie  Höhe  von  Kunst-  und  Lebensweisheit 
geführt,  mit  schmucklosen  Worten  über  Dinge  aufgeklärt,  die 
kein  neuerer  Ästhetiker  sagt,  und  empfangen  den  lebendigen 
Eindruck  eines  aus  dem  Vollen  schöpfenden  Zeitalters. 

Man  stützte  sich  damals  hauptsächlich  auf  alexandrinische 
Lyriker  und  ahmte  sie  nach,  die  ihrerseits  von  den  frühgriechi- 
schen zehrten.  Horaz  ging  über  die  Alexandriner  hinweg  direkt 
zu  den  Alten,  so  wie  Cicero  als  Redner  auf  die  beste  Quelle, 
nämlich  Demosthenes,  zurückging.     Die  Form  meistert  er  un- 

142 


Zur  antiken  Lyrik. 


vergleichlich;  nicht  bloß  in  der  Verskunst,  sondern  in  der  Er- 
füllung höherer  formaler  Anforderungen,  die  schwieriger  sind 
und  heute  oft  ganz  übersehen  werden,  kann  wohl  weder  Catull 
noch  Properz  mit  ihm  wetteifern;  die  hauptsächlichsten  sind 
Einheitlichkeit  und  Anmut  im  Goetheschen  Sinne.  Seine  Ge- 
schicklichkeit geht  so  weit  wie  die  Ciceros  und  führt  ihn  wie 
diesen  immer  bis  an  den  Punkt,  wo  der  künstlerische  Ernst  sich 
in  Spielerei  verwandelt.  Doch  verfallen  beide  nie  wirklich  in 
diesen  Fehler.  Sich  auszudrücken  wurde  ihnen  sehr  leicht,  sie 
hatten  nicht  so  viel  zu  sagen,  als  sie  in  Worte  hätten  kleiden 
mögen;  darin  liegt  ihre  Stärke  und  ihre  Gefahr.  Trotzdem  glaube 
ich  nicht,  daß  Horaz  schnell  gedichtet  und  immer  gleich  die 
beste  Form  gefunden  hat.  Es  fließt  ihm  nicht  so  vom  Munde 
wie  z.  B.  wohl  dem  charmanten  Ovid.  Er  arbeitet  mit  abwägender 
Sorgfalt,  feilt  und  bessert  und  ist  hierin  wie  in  mehreren  anderen 
Punkten  mit  Heine  zu  vergleichen.  Ihn  aber  mit  Heine  zu  iden- 
tifizieren, was  hier  und  da  geschieht,  geht  wiederum  durchaus 
nicht  an.  Der  fundamentale  Unterschied  zwischen  beiden  ist, 
daß  Horaz  Ehrfurcht  vor  der  Kunst  und  Verständnis  für  ihre 
rigorosesten  Gesetze  und  zweitens  einen  antiken  Lebens-  und 
Kunstgeschmack  hatte;    beides   fehlt   dem   Neueren. 

Horaz  steht  den  Griechen  vielleicht  noch  näher  als  Cicero, 
auch  suchen  und  finden  sie  etwas  Verschiedenes  bei  diesen 
ihren  Lehrern.  Cicero  fühlte  sich  als  Römer,  er  war  stolz  auf 
die  Tugenden  und  die  Größe  seines  Volkes  und  sah  die  Griechen 
in  politischen  Dingen  nicht  nur  sondern  auch  in  manchen  Zweigen 
der  Kunst  und  Wissenschaft  tief  unter  sich.  Ihm  entging  es, 
daß  die  echten  Römertugenden  zu  seiner  Zeit  bereits  im  Aussterben 
waren  und  daß  man  die  Graeculi  nicht  mit  den  Hellenen  der 
älteren  Epochen  zusammenwerfen  dürfe.  Horaz  stellte  sich 
ganz  auf  die  Seite  der  Griechen  und  trat  in  schroffen  Gegensatz 
zu  dem  spezifisch  römischen  Wesen.  Dessen  aggressive  Grund- 
triebe: Herrschsucht,  Härte,  Habsucht  verstand  er  nicht  und 
haßte  sie.  Er  spricht  seine  Abneigung  in  zahlreichen  Gedichten 
aus  und  kommt  immer  wieder  auf  die  verwunderte  Frage:  wozu 
nur  dies  ganze  wilde  Treiben!  wie  kann  es  nur  glücklich  machen? 
Die  Stammesgemeinschaft  und  die  politische  Gemeinschaft  waren 


143 


Erster  Teil. 

für  Cicero  und  überhaupt  für  den  normalen  antiken  Menschen 
der  Brennpunkt  des  Denkens  und  Sorgens,  die  Quelle  des  Glücks 
und  des  Unglücks.  Man  hatte  also  in  erster  Linie  äußere,  ma- 
terielle Interessen,  um  einen  modernen  Ausdruck  zu  brauchen. 
Alles  Ideelle,  so  energisch  es  verfolgt  und  so  hingebend  es  gepflegt 
wurde,  bezog  man  auf  den  Staat,  auf  das  Gemeinwohl;  der  per- 
sönliche Ehrgeiz,  innerhalb  des  Ganzen  etwas  zu  bedeuten  und 
womöglich  der  Erste  zu  sein,  erfüllte  fast  jede  hervorragende 
antike  Persönlichkeit,  die  wir  kennen.  Das  sind  bekannte  Dinge. 
Horaz  jedoch  folgt  den  spätgriechischen  Stimmen,  die  alles 
dies  verwerfen,  die  Ruhe,  stille  Freude  und  Sorglosigkeit  pre- 
digen und  deshalb  Enthaltung  von  Politik  und  öffentlicher  Wirk- 
samkeit empfehlen.  Man  kehre  sich  ab  von  allem  Aufregenden, 
allem  Kampf  und  Zank,  allem  äußeren  Ehrgeiz,  allem  Aus- 
schweifenden, Wüsten,  Gemeinen!  Diese  Lebensanschauung 
hat  Horaz  am  schönsten  und  reinsten  zum  Ausdruck  gebracht 
und  seine  Vorgänger,  soweit  sie  wenigstens  uns  noch  zugänglich 
sind,  weit  überholt.  Auch  für  die  alexandrinische  Gedicht- 
sammlung gilt  dies,  wie  mir  scheint,  die  unter  dem  Namen 
Anakreontica  bekannt  ist.  Sehr  geschickt,  auch  recht  frisch 
zum  Teil  sind  diese  Sächelchen,  aber  sie  fallen  mitunter  doch 
ins  Tändelnde,  was  bei  Horaz  ausgeschlossen  ist.  Sonst  wissen 
wir  von  hellenistischer  Poesie  und  von  den  griechischen  Philo- 
sophen der  schönen  Lebensfreude  und  sorglosen  Genügsamkeit 
fast  nur  aus  zweiter  Hand. 

Viel  wichtiger  als  bei  anderen  römischen  Dichtern  ist  bei 
Horaz  seine  Lebensanschauung  und  praktische  Philosophie. 
Er  dichtete  aus  der  Tiefe  natürlicher  Weisheit  heraus  und  geht 
auch  in  dem  kleinsten  Gedicht  bis  an  die  Grenzen,  die  mensch- 
licher Erkenntnis  in  praktischen  Dingen  gestellt  sind.  Man 
muß  ihn  einen  philosophischen  Dichter  nennen,  dies  Wort  im 
guten  Sinne  verstanden.  Denn  er  hat  viel  zu  viel  Takt,  um  die 
Philosophie  anders  als  künstlerisch  zur  Geltung  zu  bringen. 
Außerdem  hat  er  eine  solche  Anspruchslosigkeit  und  Leichtigkeit, 
daß  der  unsorgfältige  Leser  nichts  von  Weisheit  spüren,  den 
Dichter  im  Gegenteil  gefällig  aber  oberflächlich  nennen  wird. 

Züge  des  Niederganges  sind  nicht  zu  verkennen.    Horaz  ver- 

144 


Zur  antiken  Lyrik. 


herrlicht  eine  Existenz,  deren  Hauptmoment  Unabhängigkeit 
von  Pflichten  und  praktischen  Aufgaben  ist.  Man  soll  sich 
selbst  genug  sein,  seine  Bedürfnisse  einschränken,  um  sie  ohne 
Anstrengung  befriedigen  zu  können;  man  soll  die  eigentlich 
aktiven  Triebe  nicht  haben.  Wie  unfrei  ist  der  Reiche,  wie 
unfrei  der  Staatsmann!  Wie  wertlos  der  Besitz,  der  ja  doch 
nicht  richtig  genossen  wird,  wie  belanglos  der  weltliche  Glanz, 
der  nur  Mühe  und  Sorgen  einträgt!  Nur  in  einer  Welt,  die  ihr 
Ziel  erreicht  hat  und  ihrem  Ende  sich  nähert,  ist  solche  Gering- 
schätzung der  für  die  Kultur  unentbehrlichen  äußeren  Bestre- 
bungen und  Taten  denkbar.  So  ist  denn  die  Voraussetzung 
der  horazischen  Dichtung,  wie  man  schon  oft  gesagt  hat,  die 
faule  Ruhe  und  müde  Sicherheit,  die  Oktavians  Alleinherrschaft 
dem  römischen  Staate  brachte.  Die  Zeit  der  äußeren  Eroberungen, 
die  ein  so  großes  Leben  entfalteten,  war  vorüber  und  ebenso 
waren  die  inneren  Kämpfe  vorüber,  die  alle  Gemüter  in  Span- 
nung erhielten.  Was  gab  es  denn  nun  noch  zu  tun?  Man  ver- 
langte nach  neuen  Emotionen  und  suchte  sie  sich,  wenn  sie  nicht 
von  selbst  kamen,  auf  unnatürliche  Weise  zu  verschaffen,  oder 
man  genoß,  wenn  man  wie  Horaz  geartet  war,  eine  friedliche 
Abendruhe.  Es  ist  ein  Greis,  der  aus  Horaz  spricht,  ein  milder, 
kluger  Greis.  Er  lächelt  über  die  Torheiten  der  Menschen  und 
zieht  sie  ans  Licht,  er  schaut  die  Natur  und  was  ihm  sonst  er- 
freulich ist,  mit  heiteren  Augen  an,  er  hat  feine  Sinne  für  die 
kleinen  unscheinbaren  Freuden  des  Lebens,  er  denkt  über  die 
Vergänglichkeit  und  Nichtigkeit  des  Irdischen  nach.  Manchmal 
wird  er  melancholisch  und  auch,  wo  er  es  nicht  ist,  überkommt  den 
Leser  zuweilen  ein  frostiges  Gefühl.  Aber  meistenteils  ist  er  froh 
und  weckt  auch  Heiterkeit.  Das  macht  die  erquickende  Frische, 
die  sich  mit  seiner  Heiterkeit  verknüpft,  die  harmlose  Lust  am 
Leben  und  seinen  Genüssen,  namentlich  Liebe  und  Wein,  die 
etwas  Ansteckendes  hat.  Freundliche  Situationen  zeigt  er  uns, 
macht  uns  mit  Genossen  und  Freunden  bekannt  und  führt  uns 
eine  reiche  Zahl  von  lockeren  Schönen  vor.  Tiefes  Liebesweh 
ist  nicht  seine  Sache  und  große  Treue  auch  nicht.  Die  Triumvirn 
Amors,  wie  die  römischen  Elegien  Goethes  die  drei  bedeutendsten 
lateinischen  Lyriker  nennen,  unterscheiden  sich  recht  merklich 


145 


Erster  Teil. 

in  diesem  Punkt.  Während  die  beiden  anderen  eine  bei  den 
Künstlern  nicht  häufige  Stetigkeit  haben  und  über  die  Untreue 
und  Flatterhaftigkeit  ihrer  Angebeteten  sich  beschweren,  ist 
Horaz  ohne  ernstliche  Leidenschaft  geblieben.  Er  nimmt,  was 
Schönheit  und  Gefälligkeit  ihm  entgegenbringen,  freut  sich 
an  jedem  Mädchen  und  sucht  Gelegenheit  zu  einem  guten  Ge- 
dicht über  es. 

Andererseits  hat  Horaz  jedoch  nicht  ohne  Berührung  mit 
der  Politik  und  was  aus  ihr  sich  ergibt,  gelebt.  Man  wird  mir 
sogar  einwenden,  daß  die  kriegerischen  und  überhaupt  aktiven 
Töne  seiner  Leier,  die  er  zuweilen  erklingen  läßt,  ebenso  wichtig 
zu  nehmen  seien  wie  die  epikureischen.  Aber  wenn  man  genau 
z.  B.  die  sogenannten  Römeroden  liest,  fühlt  man  doch,  daß 
ganz  echt  und  rein  horazisch  nur  die  Mahnung  zur  Einfachheit 
und  Mäßigung  ist.  Das  übrige  muß  man  seinen  Vorbildern, 
namentlich  dem  begeisternden  Alkaios,  und  den  Wünschen  seiner 
Patrone  Augustus  und  Maecenas  zurechnen.  Gewiß  ist  Horaz 
mit  Cicero  einig  in  dem  Lob  alter  Zucht  und  Sitte.  Aber  während 
dieser  überzeugt  ist,  daß  die  gute  alte  Zeit  zurückkehren  und 
das  moderne  Unwesen  vertreiben  wird,  nimmt  Horaz  die  Dinge 
viel  leichter  und  gleichmütiger;  er  hat  offenbar  weniger  Glauben 
und  weniger  Interesse.  Nur  wo  seine  Liebe  zur  Schönheit 
verletzt  wird,  sehnt  er  Regeneration  herbei.  Der  Abscheu 
gegen  die  Maßlosigkeit  im  Guten  wie  im  Schlimmen  ist  daher 
sein  natürliches,  eigentliches  Element.  Seine  Zeit  stellte  ihm 
scheußliche  Bilder  von  Zügellosigkeit  genug  vor  Augen.  Die 
römische  Degeneration  hatte  sogar  vorwiegend  diesen  Charakter 
und  mußte  eine  zart  organisierte  Natur  wie  Horaz  aufs  heftigste 
abstoßen.  Genüsse  und  Lüste,  die  ins  Häßliche  gehen,  sind 
ihm  ein  Greuel.  In  seiner  philosophischen  Art  betont  er  auch 
hier  vor  allem  die  Torheit  solcher  Ausschweifenden.  Zu  einem 
wirklichen,  ungetrübten  Glück,  meint  er,  könnten  sie  es  auf  diese 
Weise  ja  niemals  bringen.  Warum  werden  sie  nicht  genügsam 
und  mäßig!  Warum  berauben  sie  sich  der  einfachen  Genüsse, 
deren  Süßigkeit  viel  höher  und  reiner  ist!  Horaz  will  seine 
Römer  lehren  auf  schöne,  nicht  auf  gemeine  Art  alt  zu  sein  und 
zu  sterben.    Er  will  lehren,  still  in  warmer  Sonne  zu  sitzen,  dem 

146 


Zur  antiken  Lyrik. 


Getriebe  aus  der  Ferne  zuzuschauen  und  keine  Sorge  und  Schwere 
aufkommen  zu  lassen. 

Verweilen  wir  noch  bei  einzelnen  Zügen  seiner  Dichtungen. 
Horaz  ist  nicht  reich.  Er  wählt  oft  dieselben  Themata  und  kommt 
auf  dieselben  Gedanken,  dieselben  Bilder,  dieselben  Situationen 
zurück.  Da  gibt  es  ein  fröhliches  Gelage,  da  treten  vergleichs- 
weise die  Parther  und  Scythen  auf,  das  stürmische  Meer  wird 
mannigfach  verwendet,  die  Großstadt  und  der  vornehme  Badeort 
wird  in  Gegensatz  zum  Landleben  gestellt,  viel  Mythologisches, 
wie  es  die  Alten  stets  bei  der  Hand  haben,  wird  hineingewoben.  — 
Horaz  ist  nicht  gedrungen  und  wortkarg  wie  etwa  Catull,  aber  er 
hat  einen  etwas  kurzen  Atem  und  macht  kleine,  schnelle  Schritte. 
Darin  bildet  er  den  denkbar  größten  Gegensatz  zu  Pindar  und 
dessen  majestätischem  Gang  und  langausgehaltenen  Tönen.  Die 
schöne  Ode,  in  der  er  Pindar  besingt  und  trefflich  charakterisiert, 
zeigt,  wie  richtig  er  sich  selbst  beurteilte.  Er  kannte  seine 
Stärken  und  seine  Grenzen  und  verstand  alles  aus  sich  zu  machen, 
was  seine  Natur  nur  irgend  gestattete.  —  Mit  besonderem  Ge- 
schick benutzte  er  die  Anknüpfungspunkte,  die  eine  Adresse 
dem  Dichter  bieten  kann.  Er  hat  sehr  viel  Gedichte  an  einzelne 
Personen  gerichtet:  an  Freunde,  an  geliebte  Mädchen,  an  Gönner, 
an  fingierte  Personen.  Er  will  einen  bestimmten  Anlaß,  eine 
natürliche  Rechtfertigung  seines  Gedichtes  haben,  wie  sie  jeder 
echte  Lyriker  erstrebt,  und  sucht  dieselbe,  wenn  er  sie  nicht 
anderswo  finden  kann,  in  der  Beziehung  auf  eine  Person,  der  er 
sich  mitteilt.  So  sind  denn  ein  großer  Teil  seiner  sämtlichen 
Erzeugnisse  rhythmische  Gegenstücke  zum  Briefe;  sie  sind  eine 
Art  Briefe.  Die  Empfindungen,  die  den  Schreiber  mit  dem  Emp- 
fänger verbinden,  sind  nicht  immer  stark  und  der  Inhalt  des 
Gedichtes  ergibt  sich  selten  aus  dem  Empfänger.  Manchmal 
ist  der  Zusammenhang  zwischen  Thema  und  persönlicher  Be- 
ziehung ganz  lose  und  äußerlich;  aber  Horaz  hatte  seine  Gründe, 
die  Adresse  trotzdem  festzuhalten.  Der  Charakter  des  Gedichts 
als  einer  gelegentlichen  lebendigen  Äußerung  tritt  besser  hervor. 
Einen  Teil  seiner  Dichtungen  bezeichnet  er  direkt  als  Briefe. 
Sie  sind  in  reiferem  Alter  geschrieben  und  folgen  in  Versmaß, 
Stil  und  Absicht  den  früher  herausgegebenen  Satiren.    Vielleicht 


147 


Erster  Teil. 

offenbart  sich  erst  hier,  wo  er  ganz  ungezwungen  und  aus  den 
kleinen  Anlässen  des  Lebens  heraus  sich  äußert,  am  reinsten  die 
Höhe  seines  Geistes  und  seiner  Kunst.  Es  ist  etwas,  wenn  solche 
Menschen  sich  gehen  lassen! 

Horaz  stand  in  der  ersten  Hälfte  des  i8.  Jahrhunderts  im 
Vordergrund  des  literarischen  Interesses  und  wurde  so  eifrig 
nachgeahmt  wie  die  anakreontischen  Lieder.  Da  aber  den  Nach- 
ahmern alles  das  fehlte,  was  ihn  erzeugte,  bildete  und  groß 
machte,  so  gereichen  ihre  ,,horazischen  Lieder"  der  deutschen 
Literatur  nicht  zur  Zierde.  Wie  schlecht  es  jemandem  bekam, 
daß  er  Horaz  übersetzte,  ohne  auf  den  Philologen  Lessing  zu 
rechnen,  ist  bekannt. 


148 


VII. 
KRANKHEITEN  DES  WILLENS. 

Versuch   über   das   moderne   Problem. 


So  mannigfach  die  Anzeichen  sind,  daß  eine  kräftige,  selbst- 
sichere Generation  im  Heranwachsen  ist,  so  wenig  läßt  sich 
doch  verkennen,  daß  hemmende  und  zerstörende  Mächte  aller 
Art  einen  immer  weiteren  Boden  sich  erobern.  Man  mag  sich 
heute  wenden,  nach  welcher  Seite  man  will,  überall  trifft  man 
Spuren  ruinierten  oder  geschwächten  Lebens,  und  sucht  man 
nach  dem  Grunde  dieser  Erscheinung,  so  stößt  man,  wenn  man 
sorgfältig  genug  beobachtet,  überall  auf  gewisse  Krankheits- 
formen. Zwei  Symptome  treten  am  häufigsten  auf,  Mangel  an 
Willenskraft  und  Mangel  an  Instinkt.  Auf  allen  Gebieten,  in  der 
Kunst,  Wissenschaft  und  Philosophie  ebenso  wie  im  praktischen 
Leben  machen  sie  sich  bemerkbar  und  setzen  sich  oft  gerade 
bei  den  schönsten  und  hoffnungsvollsten  Naturen  fest,  so  wie 
Ungeziefer  und  Diebe  die  besten  Früchte  sich  aussuchen.  Es 
wäre  an  der  Zeit,  sich  einmal  klar  zu  machen,  was  hier  eigentlich 
vorgeht,  ob  es  sich  um  einen  notwendigen  Prozeß  handelt,  dem 
man  ruhig  zusehen  muß,  oder  ob  Umstände  die  Schuld  tragen, 
die  vielleicht  zu  beseitigen  sind,  gegen  die  es  vielleicht  Schutz- 
und  Gegenmaßregeln  gibt.  Gewiß  sind  zu  allen  Zeiten  Willens- 
schwäche und  Instinktunsicherheit  vorhanden  gewesen  und  haben 

149 


Erster  Teil. 

großen  Schaden  angerichtet;  aber  wohl  niemals  ist  so  deutlich 
erkennbar  gewesen  und  erkannt  worden,  daß  gewisse  Einflüsse 
unter  Umständen  den  Prozentsatz  der  untüchtigen  und  den  Hem- 
mungen erliegenden  Elemente  unnatürlich  erhöhen. 

Will  man  gründlich  zu  Werke  gehen,  so  muß  man  sich  tief 
ins  philosophische  Feld  hineinbegeben  und  eine  Untersuchung 
über  die  Grundlagen  der  menschlichen  Entwicklung  im  ganzen 
anstellen,  wobei  besonders  die  pathologischen  Voraussetzungen 
und  lebenzerstörenden  Abirrungen  zu  berücksichtigen  wären. 
Man  muß  den  Begriff  Wille  und  den  Begriff  Krankheit  definieren 
und  muß  feststellen,  daß  die  Frage,  ob  Willenskraft  und  Leistungs- 
fähigkeit wünschenswert  und  der  Willensschwäche  und  Beschau- 
lichkeit vorzuziehen  sei,  durch  theoretische  Erwägungen  nicht 
entschieden  wird.  Man  müßte  ferner  fragen,  ob  mit  wachsender 
Kultur  die  ersteren  notwendig  sich  verringern,  ob  Einfachheit  und 
Kultur  notwendig  Gegensätze  sind  und  wie  man  sich  mit  dem 
Problem  abzufinden  habe,  das  die  Steigerung  der  Kulturaufgaben 
und  -Ziele  einerseits  und  die  nicht  abzuleugnende  Tendenz  zum 
Nachlassen  der  Willenskraft  andererseits  stellt.  Dazu  kämen 
weitere  anthropologische  und  psychiatrische  Fragen,  die  hier 
sämtlich  übergangen  werden  müssen.  Ich  bin  nicht  imstande  sie 
zu  beantworten  und  ein  kurzer  Aufsatz  ist  für  ihre  Besprechung 
nicht  hinreichend.  Wir  bleiben  daher  unphilosophisch,  ver- 
meiden Facherörterungen  und  Fachausdrücke  und  begnügen  uns 
mit  einer  einfachen  Beschreibung  unseres  gegenwärtigen  Lebens, 
wie  es  sich  ausnimmt,  wenn  man  seine  Haupterscheinungen  vom 
Gesichtspunkt  der  Willensschwäche  und  Instinktunsicherheit 
aus  prüft.  Wenn  es  mir  gelingt,  Klarheit  über  diesen  oder 
jenen  Fall  zu  schaffen  und  gar  eine  geringe  Aussicht  auf  Bes- 
serung und  Heilung  zu  eröffnen,  so  haben  meine  Betrachtungen 
ihren  Zweck  erfüllt. 


I. 

Ich  sehe  schöne  Greise,  die  im  Herbst  ihrer  Kultur  stehen. 
Sie  sind  alt  geworden  nicht  bloß  durch   Jahre,  was  leicht  ist. 


150 


Krankheiten  des  Willens. 


sondern  durch  Resultate  des  Lebens,  was  schwer  und  nur  von 
wenigen  Menschen  und  Epochen  erreicht  worden  ist.  Sie  sind 
müde  und  haben  das  Recht  dazu;  ihre  Existenz  erfüllt  sich  in 
der  Kunst  des  schönen  Nichtstuns.  Die  Kultur  gewinnt  durch 
sie,  obwohl  sie  nicht  mitarbeiten;  ihre  epikurische  Vollkommen- 
heit, ihre  Einheitlichkeit  und  Sicherheit  ist  durch  sich  selbst 
wertvoll.  In  Deutschland  findet  man  selten  solche  Menschen; 
denn  die  Deutschen  sind  kein  altes  Volk,  zumal  nicht  an  geistiger 
Bildung.  Reife  äußere  Bildung  mag  häufiger  sein,  z.  B.  bei  dem 
Geburtsadel.  Auch  sie  ist  von  hohem  Kulturwert  und  eine  fast 
notwendige  Vorbedingung  der  inneren,  so  ungern  man  das  heute 
auch  zugibt.  Man  schätzt  gute  Verkehrsformen  gering  und 
findet  es,  namentlich  in  Süddeutschland,  besonders  rühmenswert, 
wenn  jemand  das  Kunststück  fertig  bringt,  innere  Kultur  mit 
rohen  Manieren  und  Lebensgewohnheiten  zu  vereinigen.  Die 
geringen  Erfolge  bei  uns  aber  auf  dem  Gebiete  der  Kultur  über- 
haupt sind  vorzugsweise  dieser  falschen  Auffassung  zuzuschreiben. 
Mir  scheint,  der  tüchtige  Barbar,  der  auf  die  Kultur  eindringt, 
kann  und  soll  von  den  äußeren  Feinheiten  der  Spätlinge  ebenso 
lernen,   wie   von   den   geistigen   Erzeugnissen   überreifer   Zeiten. 

Ich  sehe  junge  Greise,  die  vor  der  Zeit  alt  und  müde  geworden 
sind,  sei  es  durch  Krankheit,  sei  es  durch  fehlerhafte  Bildung  ihrer 
Natur.  Sie  sind  nicht  schön,  nicht  aus  einem  Gusse  und,  wenn 
nicht  einzelne  Kräfte  und  Anlagen  ihres  Wesens  intakt  geblieben 
sind,  in  der  Regel  auch  wertlos.  Die  Lähmung  des  handelnden 
Menschen  ist  bei  ihnen  entweder  eine  vollkommene,  —  dann 
können  sie  nur  Wert  haben,  insofern  sie  bruchstückweise  oder 
nach  Art  der  Treibhauspflanzen  Kulturresultate  aufweisen;  oder 
sie  sind  nur  teilweise  gelähmt,  die  Kraft  des  Willens  ist  verringert 
und  entlädt  sich  auf  anormale  Weise.  Diese  zweite  Art  Mensch 
ist  bei  uns  sehr  häufig  und  in  so  viel  verschiedenen  Typen  vor- 
handen, daß  ich  nicht  annähernd  alle  beschreiben  kann,  selbst 
wenn  sie  mir  alle  bekannt  wären. 

Meist  unterscheiden  sie  sich  auf  den  ersten  Blick  von  den 
natürlichen  Greisen  dadurch,  daß  sie  wollen,  immerfort  wollen, 
große  und  hohe  Ziele  haben  und  mit  Vorliebe  von  ihnen  reden, 
wähend  jene  dem  Wollen  abgesagt  haben.     Die  Kraft  aber,  ihre 


151 


Erster  Teil. 

Absichten  zu  verwirklichen,  ja  auch  nur  sich  ihnen  zu  nähern, 
fehlt.  Sie  kämpfen  mit  sich,  oft  heftig  und  schmerzlich,  aber  es 
ist  ein  hoffnungsloser  und  siegloser  Kampf.  Immer  bleibt  die 
Schwäche  in  der  Übermacht  und  verhindert  die  Tat,  das  erlösende 
Zeichen  der  Gesundheit  des  Willens.  Es  braucht  sich  nicht  um 
goße  Taten  zu  handeln;  der  tragische  Konflikt  pflegt  bis  in  die 
kleinsten  Dinge  des  Lebens  hinunter  zu  gehen.  Sie  sind  selten 
heiter  und  glücklich,  wie  sich  leicht  abnehmen  läßt;  denn  dazu 
ist  ein  Gleichmaß  der  Natur  erforderlich,  das  sie  kaum  besitzen 
können.  Vielmehr  neigen  sie  zu  einer  ungünstigen  Beurteilung 
des  Lebens  und  der  Welt  und  sind  je  nach  ihrem  Temperament 
auf  lärmende  oder  stille,  auf  heroische  oder  larmoyante  Weise 
unglücklich.  Ihr  Verhältnis  zu  sich  selber  ist  ein  verschiedenes. 
Einige  wissen,  wie  es  mit  ihnen  steht,  und  finden  sich  darein, 
andere  sind  Idealisten  in  dem  Sinne,  wie  Nietzsche  einmal  de- 
finiert hat:  der  Idealist  ist  ein  Wesen,  das  Gründe  hat,  über  sich 
unklar  zu  sein  und  klug  genug  ist,  sich  auch  über  diese  Gründe 
noch  unklar  zu  sein.  Sie  wollen  die  Wahrheit  über  sich  nicht 
wissen,  in  dem  richtigen  Gefühl,  daß  sie  nicht  angenehm  wäre; 
nach  angenehmen,  nach  erhebenden  und  ihr  Selbstgefühl  stär- 
kenden Erfahrungen  aber  haben  sie  ein  unbedingtes  Bedürfnis. 
Sie  wissen  mit  erfinderischer  Feinheit  vor  sich  selber  und  vor 
anderen  ihr  Wesen  zu  verschleiern  und  ins  Gute,  Tüchtige  um- 
zudeuten und  verwenden  den  Rest  ihrer  Kraft,  statt  auf  Leistungen, 
darauf,  diese  Täuschung  zu  erhalten.  So  sind  sie  überzeugt 
von  ihrem  Wert  und  ihrer  Vortrefflichkeit,  während  sie  vielleicht 
das  unwürdigste  Schmarotzerdasein  führen.  Sie  vermeiden 
überhaupt,  sich  über  die  Motive  des  menschlichen  Handelns  zu 
unterrichten,  lieben  die  Moral  und  Religion,  nicht  die  Physio- 
logie und  Psychologie,  und  sind  entrüstet,  wenn  man  gegen 
ideale  Regungen  skeptisch  ist.  Die  Lebenslügen  sind  ihnen  not- 
wendig und  müssen  auf  alle  Fälle  dann  erhalten,  ja  befestigt 
werden,  wenn  sie  Leistungen  hervorrufen  oder  möglich  machen. 
Denn  daß  jemand  sich  nützlich  macht,  ist  wichtiger,  als  daß  er 
richtige  Meinungen  hat.  Man  kann  sagen  und  hat  es  schon 
gesagt,  daß  das  Verhältnis  eines  Menschen  zur  Wahrheit  sich 
nach  dem   Maße  seiner  Kraft  bestimmt.     Inwiefern  der  Starke 


Krankheiten  des  Willens. 


vor  der  Wahrheit  an  sich  keinen  Respekt  hat,  im  Gegensatz  zum 
Schwachen,  der  sichere  und  konstante  Größen  wünscht,  lese 
man  bei  Nietzsche  nach.  Im  übrigen  Hebt  der  Starke  die  Wahr- 
heit und  erträgt  es,  alle  Dinge,  ihn  selbst  eingeschlossen,  in  ihrer 
einfachen  Nacktheit  zu  sehen,  weil  er  alle  Häßlichkeiten  und 
Schwächen  auszugleichen  und  künstlerisch  zu  würdigen  imstande 
ist.  —  Auch  die  Gegentypen  zum  Idealisten,  der  Cyniker  und 
der  Zerknirschte,  finden  sich  häufig  unter  den  Willensschwachen. 
Sie  sehen  klar  und  werden  beredt,  wenn  sie  es  erzählen,  was  für 
Lumpen  sie  sind.  Sie  wollen  sich  erniedrigen  und  setzen  ihre 
letzten  Kräfte  dabei  ein;  wohl  deshalb,  weil  ein  Gefühl  von  Kraft 
oder  doch  von  Erleichterung  dadurch  erzeugt  wird.  Der  ehrliche, 
tief  reuige  Büßer,  der  doch  keine  Kraft  hat  und  oft  auch  keinen 
Versuch  macht  sich  zu  ändern,  ist  eine  bekannte  Figur.  Er 
glaubt  durch  das  Bekenntnis  und  die  Selbsterniedrigung  gerecht- 
fertigt zu  sein.  Es  ist  hierbei  gleich,  ob  es  sich  um  positive  oder 
negative  Sünden  handelt.  Auch  der  Verbrecher  ist  in  vielen 
Fällen  ein  Willenskranker,  insofern  ihm  die  Kraft  fehlt,  über 
einzelne  Triebe  Herr  zu  bleiben  oder  zu  werden  und  sie  in  eine 
förderliche  Bahn  zu  bringen. 

Hiermit  ist  das  Hauptsymptom  der  Willensschwäche  be- 
zeichnet: mangelnde  Selbstbeherrschung  und  als  deren  Folge 
extreme  Lebensführung  und  Lebensanschauung.  Der  Schwache 
ist  zügellos  in  jedem  Sinne,  er  hat  nicht  Halt  und  nicht  Maß. 
Die  Zügellosigkeit  äußert  sich  nicht  immer  direkt,  sondern  manch- 
mal als  entgegengesetztes  Extrem,  als  unnatürliche  Selbst- 
beschränkung und  Selbstknechtung.  Auf  theoretischem  Gebiet 
entspricht  die  Unentschiedenheit  und  Allseitigkeit  des  Geschmacks 
einerseits  und  die  Enge  und  Ärmlichkeit  desselben  andererseits. 
Mitunter  findet  man  beide  Extreme  bei  einer  und  derselben  Per- 
son, wodurch  dann  die  seltsamsten  Widersprüche  entstehen. 
Widersprüche,  Disharmonie  in  den  Eigenschaften  und  Äuße- 
rungen sind  selber  oft  das  Zeichen  mangelnder  Willenskraft; 
immer  aber  verringern  sie  die  Leistungsfähigkeit  im  ganzen, 
vielleicht  zugunsten  einer  Sonderbegabung.  Der  Starke  ist,  so- 
weit er  stark  ist,  einheitlich;  er  ist  außerdem  nach  keiner  Rich- 
tung hin  extrem,  da  er  sich  in  der  Gewalt  und  weder  nötig  hat, 

Horneffer,  Das  klassische  Ideal.        mQ  lO 


Erster  Teil. 

die  Zügel  fallen  zu  lassen,  noch  sie  allzustraff  anzuziehen.  Wir 
verfolgen  nun,  wie  sich  das  Symptom  im  einzelnen  darstellt, 
beschränken  uns  dabei  auf  die  häufigsten  Formen,  wählen  der 
Deutlichkeit  halber  krasse  Fälle  und  haben  nie  bestimmte  Per- 
sonen, sondern  immer  nur  Typen  im  Sinne. 

Zunächst  käme  das  Verhalten  zur  eignen  Person  in  Betracht. 
Dem  Schwachen  fehlt  es  an  Selbstzucht;  er  ist  ausschweifend  und 
will  es  oft  sein.  Er  erstrebt  die  Leidenschaft  und  die  Wüstheit  an 
sich  und  treibt  zuweilen  einen  förmlichen  Kultus  mit  ihnen. 
Namentlich  treffen  wir  dies  bei  Künstlern  und  bei  solchen,  die 
es  sein  möchten.  Sie  erregen  heftige  Gefühle  nach  Möglichkeit 
in  sich  und  züchten  sie  mit  allen  Mitteln  groß.  Sie  greifen  zu 
Reizmitteln,  etwa  zum  Alkohol,  suchen  sich  von  festigenden, 
mäßigenden  Einflüssen  frei  zu  machen,  untergraben,  was  viel- 
leicht noch  von  Halt  (von  Philistrosität,  nennt  man  es)  in  ihnen 
ist,  und  betonen  und  pflegen  nur  immer,  was  von  Zügellosigkeit 
(man  nennt  es  Stärke  oder  Genie)  in  ihnen  ist.  So  reden  sie 
sich  z.  B.  in  die  Begeisterung  für  gewisse  Dinge,  in  den  Haß 
gegen  andere,  in  eine  erotische  Leidenschaft  hinein.  Diese  Ver- 
irrung  ist  beim  Künstler  eine  naheliegende,  fast  unvermeidliche; 
denn  er  lebt  ja  von  der  Emotion,  sein  Handwerk  zwingt  ihn, 
oft  und  intensiv  in  erhöhten  Lebenszuständen  zu  verweilen.  Es 
ist  natürlich,  daß  sich  daraus  eine  Neigung  zum  Exzentrischen 
ergibt.  Will  er  aber  Künstler  in  einem  hohen  Sinne  bleiben, 
d.  h.  auf  dem  Fundament  eines  natürlichen  Gleichgewichts  bauen, 
so  muß  er  die  kompensierenden  Kräfte  in  sich  nicht  zu  töten, 
sondern  zu  entwickeln  und  zu  stärken  suchen,  etwa  in  der  be- 
wunderungswürdigen Art  Goethes.  Dazu  ist  freilich  nötig,  daß 
er  sie  von  Hause  aus  besitzt,  daß  seine  Natur  nicht  ein  Haufe 
herrenloser  Triebe  ist,  sondern  ein  beherrschendes  Willenszentrum 
hat.  Dies  pflegt  in  derartigen  Fällen  zu  fehlen  und  die  Furcht 
vor  Zügelung  verrät  oft,  daß  es  auch  mit  der  Leidenschaft  nicht 
gar  so  viel  ist;  denn  wirkliches  großes  Feuer  braucht  nicht  ge- 
schürt zu  werden,  mangelndes  oder  zeitweise  aussetzendes  Lebens- 
gefühl aber  verlangt  nach  Steigerung  durch  allerhand  natürliche 
oder  unnatürliche  Reizungen.  —  Auf  der  anderen  Seite  steht  die 
Abtötung  der  Leidenschaft,  die  Sehnsucht  und  Bemühung,  das 


Krankheiten  des  Willens. 


Feuer  erlöschen  zu  machen.  Auch  sie  ist  ein  Symptom  der 
Willenserkrankung,  entweder  so,  daß  ein  Freigeben  der  Leiden- 
schaften die  Natur  zerstören  würde,  oder  so,  daß  die  Ebbe  der 
Lebenskraft  Ruhe  und  Schlaf  als  normalen  Zustand  begehren 
lehrt.  Über  diesen  Punkt  ist  vielfach  auf  das  vortrefflichste  ge- 
sprochen worden,  so  daß  die  kurze  Hinweisung  genügt. 

Zweitens  äußert  sich  das  Symptom  in  dem  Grade  von  Logik 
im  Handeln.  Man  findet  Menschen,  und  gerade  unter  den 
Freunden  der  Leidenschaft,  die  von  Minute  zu  Minute  leben, 
ohne  einen  Schatten  von  Konsequenz  und  Berechenbarkeit. 
Ein  Impuls  verdrängt  den  andern,  jedem  wird  blind  gefolgt; 
der  Mensch  ist  die  Beute  jeder  Laune,  jedes  noch  so  absurden 
oder  schädlichen  Verlangens.  Manchmal  sind  solche  Menschen 
tätig  in  dem  Sinne,  daß  sie  laufen  und  außer  Atem  kommen,  aber 
nicht  in  dem  Sinne,  daß  sie  etwas  zustande  bringen.  Sie  wundern 
sich  dann  und  klagen  über  den  Mangel  an  Zeit  und  die  Über- 
lastung mit  Arbeit,  merken  aber  nicht,  daß  ihnen  weiter  nichts 
fehlt  als  die  Regelung  ihrer  Vielgeschäftigkeit  durch  einen  starken 
Willen.  Sie  drehen  sich  im  Kreise  herum  und  kommen  niemals 
zur  Ruhe  und  Befriedigung;  immer  wieder  taucht  etwas  Neues 
vor  ihnen  auf,  das  getan  werden  muß,  bevor  noch  das  Alte  fertig 
ist,  und  dies  Alte  scheint  falsch  angefangen  und  wird  zum  zehnten- 
mal anders  gewendet  und  versucht.  Der  zweite  Moment  macht 
zunichte,  was  der  erste  erreicht;  sie  wollen  die  Frucht  ernten, 
nachdem  sie  sie  eben  erst  gesät  oder  bevor  sie  sie  gesät  haben, 
verlangen  Trauben  im  Frühling  und  Blüten  im  Winter.  Ähnlich 
ist  ihre  Art  zu  genießen.  Ihr  künstlerischer  Geschmack  wechselt 
wie  das  Wetter.  Stetigkeit  ist  ihnen  ein  ebenso  unverständlicher 
Begriff  wie  Tiefe.  Sie  sind  knisterndes  Strohfeuer,  manchmal 
amüsant,  manchmal  lästig,  immer  von  geringer  oder  gar  keiner 
Leistungsfähigkeit.  —  Auf  der  anderen  Seite  ist  ein  Übermaß 
und  geflissentliches  Betonen  der  Konsequenz  im  Handeln  und 
Denken  nicht  minder  verräterisch.  Wessen  Natur  im  ganzen 
stetig  und  logisch  ist,  der  hat  nicht  nötig,  die  Konsequenz  als 
Maßstab  zu  brauchen  und  als  Ideal  zu  erstreben.  Der  Schwache 
fühlt,  daß  er  sich  Inkonsequenzen  nicht  erlauben  darf.  Manch- 
mal hält  er  sich  dadurch,  manchmal  aber  wird  er  schrullig  und 


155 


Erster  Teil. 

albern  und  rennt  aus  Konsequenz  ins  Wasser,  statt  über  eine 
nahe  Brücke  zu  gehen. 

Drittens  wäre   zu  schildern,   wie   der  Willensschwache   sein 
Verhältnis  zu  anderen  Menschen  gestaltet.     Auch  hier  sehen  wir 
Zügellosigkeit  in  der  sogenannten  Nächstenliebe  einerseits  und 
der  Abwehr  jeder  Verbindung  andererseits.    Es  gibt  Nächstenliebe 
des  Starken  und  des  Schwachen,  —  diese  Ausdrücke  niemals  als 
Bezeichnungen   realer   oder   auch   nur   möglicher   Personen   ge- 
nommen, sondern  als  Zusammenfassungen,  etwa  wie  Reiche  und 
Arme,  Dicke  und  Dünne  — ;  der  Erfolg  unterscheidet  sie.     Die 
erste  macht  den  Beschenkten  und  Geber  reich,  die  zweite  verarmt 
beide.    Wo  die  Nächstenliebe  überhand  nimmt,  kann  man  stets 
auf  Mangel  an  Willenskraft  schließen.     Der  Schwache  hat  das 
Bedürfnis,  sich  für  fremde  Interessen  und  Ziele  zu  verbrauchen, 
statt  mit  sich  Haus  zu  halten  und  das  Minimum  von  Kraft,  das 
er  etwa  noch  zur  Verfügung  hat,  zur  Stärkung  seiner  Person  zu 
verwenden,  wodurch  er  vielleicht  in  den  Stand  gesetzt  würde,  als 
Geber  sich  selber  zu  bewahren  und  wertvollere  Gaben  spenden 
zu  können.     Das  Treibende  ist  zuweilen  wohl  ein  ungezügeltes 
Mitleid,  eine  krankhafte  Empfindlichkeit  für  fremde  Zustände, 
damit  verbunden  aber  stets  der  Drang  nach  Beschäftigung  um 
jeden  Preis,  nach  Steigerung  des  Lebensgefühls  durch  nützliche 
oder  nützlich  scheinende  Äußerungen  ihrer  Natur.     Diese  Hilf- 
reichen sind  nicht  imstande,  sich  selber  eine  Tätigkeit  zu  setzen, 
so     gut    sie   das    Planen   und  Vorsätze    fassen    verstehen,    und 
stürzen  sich  deshalb  in  fremde  Angelegenheiten  hinein,  die  in 
einem  sicheren  Kreise  sich  halten  und  auch  ihnen  Festigkeit  zu 
geben  versprechen.      Hierin  liegt  ein  richtiger   Instinkt.      Man 
kann  nichts   Besseres  wünschen,   als  daß   die    Menschen  nach 
einem   Schwerpunkt  außer   sich   suchen,   wenn   sie  selber  kein 
Zentrum  haben.     Doch  wird  in  allen  Fällen,  wo  die  Willens- 
schwäche schon  zu  weit  vorgeschritten  ist,  dies  Bestreben,  durch 
Dienen  nützlich  und  stark  zu  werden,  durch  die  Hilfreichen  selber 
vereitelt.     Einmal  nämlich  erhebt  sich  infolge  der  Tätigkeit  nur 
allzuschnell   das  Gefühl   des   eignen  Wollens   und   Wesens   und 
bereitet  dem  Helfen  und  Zusammengehen  ein  vorzeitiges  Ende. 
Der    helfende    Nächste    will   dem     andern  seine   Persönlichkeit 

156 


Krankheiten  des  Willens. 


aufdrängen  und  ihn  nötigen,  auf  seine  Weise  zu  handeln 
und  glückhch  zu  sein,  d.  h.  im  Grunde  auf  beides  zu  verzichten. 
Zweitens  wirkt  diese  Unterstützung  des  schwachen  Willens  nur 
eine  Zeitlang;  die  Erschlaffung  tritt  wieder  ein,  sowie  die  fremde 
Angelegenheit  den  Reiz  des  Ungewohnten  verloren  hat;  sie  wird 
vernachlässigt  und  verdorben  wie  die  eigne.  Der  Willensschwache 
übernimmt  mit  Vorliebe  Dinge,  denen  er  nicht  gewachsen  ist.  Im 
Moment  ist  sein  Kraftgefühl  groß  und  spiegelt  ihm  das  zu  Tuende 
als  leicht  zu  tun  und  durch  den  Entschluß  schon  halb  getan  vor. 
Kommt  ihm  dann  das  Mißverhältnis  zum  Bewußtsein,  so  ist  er 
ebenso  flink,  die  Aufgabe  im  Stich  zu  lassen,  wie  er  eifrig  war, 
sie  in  seine  Hände  zu  bekommen.  Natürlich  nennt  er  nicht  Er- 
kenntnis der  Unfähigkeit  als  Grund  seines  Rücktritts,  sondern 
sucht  nach  einem  ihn  ehrenden  Vorwand.  Im  Zusammenhange 
mit  der  Selbstentäußerung  und  Sorge  für  andere  steht  die  Eigen- 
tümlichkeit vieler  Hilfreichen,  daß  sie  an  sich  selber  keine  Freude 
und  kein  Genüge  finden.  Sie  suchen  beständig  nach  einer  von 
außen  her  erwarteten  Befriedigung  und  kleiden  ihre  Sehnsucht 
auf  die  mannigfachste  Weise  ein.  Bald  sind  es  Personen,  bald 
Sachen,  bald  konkrete,  erreichbare  Gegenstände,  von  deren  Besitz 
sie  erhoffen,  was  ihnen  doch  niemals  zuteil  werden  kann,  bald 
vage  Abstrakta  z.  B.  das  Glück,  der  Friede  mit  Gott  oder  dgl. 
Man  hat  gesagt,  hierin  drücke  sich  eine  allgemeine  menschliche 
Eigenschaft  aus,  und  hat  sie  etwa  als  Erlösungsbedürfnis  bezeich- 
net. Jeder  strebe  nach  Erlösung  seines  Ichs  und  habe  sie  nötig. 
Wie  weit  das  zutrifft,  kann  hier  nicht  untersucht  werden;  man 
müßte  weit  und  tief  greifen,  um  Ursprung  und  Wert  der  Erlösungs- 
idee, die  heute  wie  früher  eine  ungeheuer  mächtige  ist,  überschauen 
und  beurteilen  zu  können.  Gewiß  ist,  daß  niemand,  der  nur  ein 
wenig  Gesundheit  sein  eigen  nennt,  sie  als  beherrschende,  das 
Leben  erfüllende  Idee  empfinden  und  verherrlichen  kann.  Der 
Starke  hat  keine  Sehnsucht  nach  fremden  Herrlichkeiten  und 
unbekannten  Hilfskräften;  er  will  seine  Natur  vollendet,  nicht 
aufgehoben,  sein  elendes  Dasein  erfüllt,  nicht  ausgelöscht  sehen. 
Hiermit  ist  nicht  gesagt,  daß  sich  die  Erfüllung  an  gewissen 
Punkten  nicht  durch  das  Einmünden  in  ein  Höheres  vollzöge; 
sofern  man  dies  Erlösung  nennt,  wird  man  Recht  tun,  die  Er- 


157 


Erster  Teil. 

lösungsidee  als  eine  notwendige  zu  bezeichnen.  Auf  sexuellem 
Gebiet  findet  etwas  Ähnliches  statt :  durch  ein  fremdes  Wesen 
wird  eine  Auslösung  und  Befreiung  hervorgerufen,  die  dem  Einzel- 
wesen durch  sich  selbst  nicht  erreichbar  ist.  Der  Willenskranke 
ist  dafür  in  erhöhtem  Maße  empfänglich  und  sucht  nach  sexueller 
Auslösung,  oft  ohne  sie  zu  finden,  als  ein  unsteter  Wanderer. 
Zweifellos  können  durch  sexuelle,  aber  auch  andere  äußere  Er- 
fahrungen aus  schwachen,  sich  selbst  zerstörenden  Individuen 
tätige,  normal  arbeitende  Lebenselemente  werden ;  es  wäre  töricht 
dies  deshalb  leugnen  zu  wollen,  weil  gefühlvolle  Herzen  es  über- 
trieben und  ins  Platte  gezogen  haben.  Es  wird  sich  dabei  um 
Fälle  handeln,  wo  eine  disharmonische  Naturanlage  die  vor- 
handenen Kräfte  fesselt  oder  die  Willensschwäche  durch  eine 
andere  heilbare  Krankheit  hervorgerufen  ist.  Die  fremde  Natur 
gibt  dann  die  Auflösung  der  Dissonanzen,  weil  sie  konsonanter 
ist  oder  eine  Art  Ergänzung  bildet  oder  ein  für  sie  selber  nicht 
bezeichnendes  Verhältnis  zu  dem  Beeinflußten  gewinnt.  Ähnlich 
können  Ereignisse  irgendwelcher  Art  einwirken.  So  kommt  es 
vor,  daß  eine  Aufgabe,  die  jemandem  von  außen  gestellt  wird, 
Kräfte  entfesselt,  von  denen  ihr  Besitzer  nichts  wußte,  und  nutzlos 
verpuffte  oder  sich  selber  aufzehrende  Kräfte  ins  Wohltätige  und 
Wertvolle  wendet.  Sie  schafft  dann  eine  verbindende  und  lei- 
tende Zentralstelle,  die  bis  dahin  fehlte.  —  Auf  der  anderen  Seite 
wiederum  sind  Willenskranke  an  der  Geringschätzung  und  grund- 
sätzlichen Zurückweisung  äußerer  Einflüsse  kenntlich.  Sie 
wollen  allein  stehen  und  bemühen  sich,  Verbindungen  mit  anderen 
Menschen  in  keinem  Sinne  einzugehen,  die  natürlichen  aber, 
die  nun  einmal  jeder  hat,  so  lose  als  möglich  zu  gestalten  oder 
ganz  abzubrechen.  Das  ist  Armut,  falls  nicht  an  die  Stelle  ein- 
zelner Menschen  die  Allgemeinheit  oder  eine  Aufgabe  tritt,  die 
auf  irgendeine  Weise  der  Allgemeinheit  zugute  kommt.  Der 
wirkliche  Einsiedler  ist  ein  Kranker,  nicht  reich  genug  abgeben, 
nicht  stolz  genug  empfangen,  nicht  stark  genug  Pflichten  auf 
sich  nehmen  zu  können.  Grad  und  Art  der  Aufnahme-  und 
Abgabefähigkeit  entscheiden  sowohl  über  den  Reichtum  einer 
Natur  als  auch  über  ihren  Fonds  von   Kraft. 

Im  Zusammenhang  mit   dem   eben  besprochenen  Punkt  ist 

158 


Krankheiten  des  Willens. 


viertens  die  extreme  Toleranz  oder  Intoleranz  des  Willensschwa- 
chen zu  erwähnen.  Der  Starke  ist  tolerant  gegen  alles,  was  nicht 
seine  Sphäre  kreuzt,  was  nicht  ihn  und  sein  Werk  schädigt;  er 
ist  es  ebenso  in  Fragen  der  Kunst  und  Theorie  wie  des  praktischen 
Lebens.  Er  ist  aber  einseitig  und  setzt  durch,  was  er  als  recht 
erkannt  hat,  ist  also  intolerant  in  dem  Sinne,  daß  er  das  Falsche 
nicht  gelten  und  das  Schlechte  nicht  bestehen  läßt,  daß  er  sich 
nicht  klein  und  dünn  macht,  keinen  allseitigen  Geschmack  ent- 
wickelt und  niemals  Vielleicht  denkt  und  sagt,  sobald  er  Ja  oder 
Nein  sagen  kann  und  muß.  Vor  allem  denkt  er  mehr  an  sich  und 
sein  Wollen  als  an  seine  Stellung  zu  fremden  Dingen.  Der 
Schwache  ist  fast  immer  vorwiegend  negativ  und  beschäftigt  sich 
mit  fremden  Angelegenheiten  und  Leistungen,  sei  es  sie  lobend 
und  an  sie  sich  anlehnend,  sei  es  sie  tadelnd  und  verkleinernd.  Er 
ist  Kritiker  aus  Prinzip  und  Vorliebe  und  hat  oft  scharfe  Augen 
für  die  Mängel  anderer;  namentlich  findet  er  gern,  was  er  an  sich 
bedauert  und  verwünscht,  bei  anderen  wieder,  denen  er  sich  dann 
gleich  oder  überlegen  fühlt,  obgleich  diese  neben  den  Passivis 
Aktiva  haben,  die  er  nicht  hat.  Er  ist  von  dem  produktiven 
Kritiker  stets  leicht  zu  unterscheiden,  da  dieser  fördern  und  er- 
ziehen will  und  es  tut,  auch  wo  er  es  nicht  will,  während  jener 
nur  feststellen  oder  hemmen,  verspotten,  verwirren  will.  Bei 
manchen  Willenskranken  ist  die  Intoleranz  ein  Überbleibsel  ihrer 
Kraft,  eine  letzte  Schanze  gewissermaßen,  die  aufs  heftigste 
verteidigt  wird,  eben  weil  sie  die  letzte  ist.  Es  sind  dies  jene 
Barbaren,  welche  die  Kultur  an  sich  gezogen  hat  wie  die  Kerze 
den  Nachtfalter.  Sie  taumeln  ins  Licht  und  verbrennen.  Soweit 
sie  Kultur  haben,  sind  sie  schwach  und  zugleich  tolerant;  soweit 
sie  roh  sind,  sind  sie  stark  und  zugleich  intolerant.  Man  weiß 
nicht,  was  man  wünschen  soll:  sie  blieben  in  der  Dunkelheit  oder 
sie  würden  ganz  kultiviert  und  entarteten.  Sie  fühlen  diese  Halb- 
heit manchmal  selber  und  suchen  sich  durch  extreme  Vorstöße, 
nach  der  einen  oder  nach  der  andern  Seite,  aus  ihr  zu  befreien. 
Da  werden  denn  wüste  Orgien  mit  ausgesuchten  Kulturgenüssen 
gehalten  oder  in  ungerechter  Unduldsamkeit  alle  Kulturgenüsse  und 
Feinheiten  beschimpft  und  weggeworfen.  Man  soll  jedem  Bilder- 
stürmer und  Ketzerrichter  mißtrauen;  denn  er  ist  entweder  durch 


159 


Erster  Teil. 

das,  was  er  verfolgt,  oder  durch  das,  was  er  auf  den  Schild  hebt, 
vergiftet  und  toll  gemacht,  statt  das  eine  von  sich  abzutun  und 
das  andere  sich  zu  assimilieren. 

Nehmen  wir  alles  zusammen,  so  ist  das  Resultat  immer  das- 
selbe, eine  Verringerung  oder  falsche  Richtung  der  Leistungs- 
fähigkeit. Man  kann  hierbei  zwei  Arten  unterscheiden.  Die 
einen  fühlen  sich  schwach,  wie  sie  es  sind;  bei  den  anderen  ist  die 
Verringerung  der  Kraft  verbunden  mit  einer  Vergrößerung  der 
Aktionslust.  Sie  scheinen  sich  und  andern  stark  und  preisen  die 
Kraft  als  solche.  Man  kann  sie  mit  Pferden  vergleichen,  die 
durch  zu  große  Anstrengung  die  gefaßte  Kraft  verloren  haben  und, 
ehe  sie  zusammenbrechen,  wilde  und  mächtige  Sätze  machen. 
Der  Unkundige  hält  für  ein  Zeichen  überströmender  Stärke  und 
Lust,  was  letztes  verzweifeltes  Ringen  der  unterliegenden  Kreatur 
ist.  Manchmal  sieht  solche  scheinbare  Überkraft  der  paraly- 
tischen Euphorie  zum  Verwechseln  ähnlich  und  ist  doch  wohl 
eine  verwandte  Erscheinung.  Das  Aufhören  oder  zeitweilige 
Aussetzen  des  Ermüdungsgefühls  findet  sich  gar  nicht  selten 
dort,  wo  weiter  nichts  als  das  lenkende  und  moderierende  Willens- 
zentrum fehlt  oder  versagt.  Oft  sind  damit  wohl  nervöse  Krank- 
heitserscheinungen verbunden,  aber  nötig  ist  dies  nicht  (wenig- 
stens können  die  Symptome  dem  Laien  unmerkbar  sein).  Eine 
unnatürliche  Verschnellerung  des  Lebenstempos  dagegen  ist 
stets  damit  verknüpft.  Solche  Menschen  können  und  wollen 
nicht  warten,  weil  sie  den  Begriff  der  Ruhe,  im  Sinne  von  Samm- 
lung und  Aufspeicherung  der  Kräfte,  nicht  kennen.  Sie  zehren 
auf,  ohne  zu  ersetzen  und  werden  immer  maßloser  und  unersätt- 
licher bei  ihrem  Beginnen,  je  näher  sie  ihrem  Bankrott  kommen. 
Was  sie  produzieren,  trägt  den  Charakter  der  Überstürzung  und 
Übertreibung  an  sich.  Eine  unentrinnbare  Macht  zwingt  sie, 
jedes  Problem,  das  sie  angreifen,  jede  Wahrheit,  die  sie  finden, 
jede  Tätigkeit,  die  sie  beginnen,  ins  Extrem  und  ins  Absurde 
zu  führen  und  dadurch  vorzügliche  Absichten,  Theorien  und 
Entschlüsse  ins  Schädliche  und  Unmögliche  zu  verkehren.  Das 
übermäßige  Kraftgefühl,  das  sie  haben,  bringt  fast  unvermeidlich 
eine  Überschätzung  ihres  Könnens  hervor.  Sie  bemessen  ihre 
Leistungen  nach  der  Höhe  der  Stimmung,  die  sie  bei  der  Pro- 

i6o 


Krankheiten  des  Willens. 


duktion  hatten,  nach  dem  Wonnegefühl,  mit  dem  sie  schufen 
oder  unter  dem  sie  wirken.  In  den  meisten  Fällen  stimmt  aber 
der  Erfolg  nicht  zu  diesen  Begleitumständen.  Eine  mittelmäßige 
Leistung,  eine  Armseligkeit  ist  oft  alles  was  zutage  kommt.  Die 
mißlungenen  und  die  eingebildeten  Genies  haben  einen  Stich  ins 
Komische;  denn  ein  auffälliges  Mißverhältnis  zwischen  dem 
Glauben  an  sich  und  den  Leistungen,  die  ihn  begründen,  wirkt 
komisch,  gleichviel  ob  tragische  Momente  sich  hinzugesellen  oder 
nicht.  Da  die  Welt  einem  solchen  Manne  natürlich  die  Ver- 
ehrung schuldig  bleibt,  auf  die  er  Anspruch  zu  haben  glaubt, 
so  ist  er  auf  deren  Urteil  erbittert.  Er  verachtet  es,  setzt  erfolg- 
reiche Männer  herab,  baut  auf  die  Nachwelt  oder  verzichtet 
auch  auf  deren  Anerkennung,  indem  er  zu  dem  Schlüsse  kommt, 
daß  seine  Verdienste  zu  hoch  ständen,  als  daß  sie  jemals  gewürdigt 
werden  könnten.  Meist  gesteht  er  freilich  dergleichen  nur  sich 
selber.  In  der  Menschenverachtung  ist,  wie  ich  meine,  fast 
immer  ein  Korn  Schwäche  enthalten,  da  der  Starke,  wo  er  kann, 
zu  achten  sucht  und  sich  gleich-  und  unterordnet;  der  Schwache 
aber  hat,  um  sein  Selbstgefühl  bewahren  zu  können,  nötig,  sich 
wenigstens  als  Verächter  über  die  andern  zu  stellen,  da  er  es  sonst 
nicht  vermag.  Deshalb  wird  Selbstüberschätzung  (zu  der  jeder 
ungewöhnlich  Begabte  neigt)  und  Menschenverachtung  (die  sich 
hinzuzufinden  pflegt)  niemals  ausarten  bei  solchen,  die  reale 
Leistungen  aufweisen  können;  denn  diese  wirken  und  wirken 
zurück.  Sie  regeln  notwendig  die  Beziehungen  zwischen  dem 
Wirkenden  und  der  Welt,  wenn  auch  nicht  immer  sofort.  Der 
mit  Recht  Verkannte  sucht  noch  auf  eine  andere  Weise  sein 
Bedürfnis  nach  Ansehen  und  Weihrauch  zu  befriedigen.  Er 
wählt  sich  ein  dankbareres  und  weniger  kritisches  Publikum. 
Da  der  Weg  zu  beschwerlich  war  und  die  Kräfte  nicht  ausreichten, 
ein  wirklicher  Held  zu  werden,  entschädigt  er  sich  dadurch,  daß 
er  etwa  ein  Held  des  Salons  wird  und  in  kleiner  Münze,  als  geist- 
reiche Scherze,  Anekdoten  u.  dgl.  ausgibt,  was  für  größere,  ganze 
Leistungen  hätte  zusammengehalten  werden  sollen;  oder  er  wird 
ein  Maulheld,  der  tätigen  Leuten  Übles  anhängt  und  hohe  Politik 
im  Redaktionszimmer  oder  in  der  Versammlung  macht;  oder  ein 
Weiberheld,  der  sich  groß  fühlt,  wenn  viele  Weiber  zu  ihm  auf- 


i6i 


Erster  Teil. 

blicken  und  ihm  zu  Willen  sind;  oder  ein  Wirtshausheld,  der 
großen  Mengen  Alkohol  tapfer  standhält.  Der  Wüstling  ist  oft 
nichts  als  ein  mißlungener  großer  Mann.  Er  will  etwas  Besonderes 
sein,  sich  auszeichnen  vor  der  Herde,  zu  der  er  in  der  Tat  nicht 
gehört.  Da  er  durch  nichts  anderes  sich  hervortun  kann,  ver- 
sucht er  es  durch  Wüstheit,  manchmal  auch  durch  wunderliches 
Gebahren,  durch  einen  absurden  Anzug  oder  andere  auffallende 
Torheiten,  die  ihn  natürlich  ebenso  tief  unter  wie  entfernt  von 
dem  braven  Herdentier  stellen.  Namentlich  unter  dem  zweifel- 
haften Volk,  das  um  die  Kunst  herumschwirrt,  kann  man  solche 
unglücklich-lächerlichen  Typen  finden.  Stets  sehen  dieselben 
herab  auf  fleißige  Menschen,  die  mit  Bescheidenheit  ihre  Pflicht 
tun  und  ihr  Leben  in  gleichmäßiger  Arbeit  nutzen.  Auch  haben 
sie  zuweilen  in  der  Tat  vor  diesen  ein  wertvolles  Vermögen  voraus 
(wenn  ich  von  dem  Mut  absehe,  der  dazu  gehört,  sein  Leben  nach 
eignem  Geschmack  zu  leben,  sei  es  auch  als  Landstreicher),  das 
ist  die  Fähigkeit  zu  genießen.  Menschen,  die  ihr  Leben  vertun 
und  um  ihr  Lebenswerk  sich  gebracht  haben,  sind  nicht  selten 
reich  an  subtilen  Seelenregungen.  Sie  haben  Zugang  zu  seltenen 
Genüssen,  zu  Schönheiten  und  Zartheiten  des  Empfindens,  von 
deren  Möglichkeit  tüchtige  Alltagsmenschen  nichts  ahnen.  Die 
Leistungsfähigkeit  der  sensiblen  Nerven  nimmt  nicht  mit  der  der 
motorischen  zugleich  ab,  vielmehr  steigert  sie  sich  oft  (vielleicht 
regelmäßig?).  Die  Gefühle  werden  sowohl  stärker  als  auch 
nuancenreicher.  Man  kann  wahre  Genies  des  Genusses  unter 
den  Willensschwachen  finden;  manche  sind  für  alle  Arten  der 
Genüsse  in  gleicher  Weise  empfänglich,  manche  nur  für  höhere, 
z.  B.  künstlerische,  manche  für  gröbere,  z.  B.  sexuelle.  Sie 
pflegen  diese  Kunst  mit  Aufwendung  ihres  Restes  von  Kraft, 
erregen,  ermüden,  befriedigen  sich  genießend,  während  der  Han- 
delnde sich  beim  Genießen  nicht  einsetzt  und  es  nur  als  Pause 
und  Ausnahme  gelten  läßt.  Insofern  läßt  sich  begreifen,  daß 
große  Hedoniker  ihr  Leben  reicher  und  köstlicher  finden  als  das 
eines  aktiven  Menschen  und  um  keinen  Preis  mit  einem  solchen 
tauschen  würden.  Außerdem  ergibt  sich  wohl,  daß  der 
Künstler  verstehen  muß,  wenigstens  auf  Momente  seine 
Energie  in  die  Passivität,  in  Gefühlszustände,  statt  in  Aktionen 

162 


Krankheiten  des  Willens. 


zu  legen.  Er  muß  also  wohl  zu  seinen  anderen  Eigenschaften 
auch  willenskrank  sein;  sonst  kann  er  den  Genießenden  das 
Material  zur  Befriedigung  des  allgemein  menschlichen  Genuß- 
triebes durch  seine  Kunst  nicht  geben,  auch  kann  er  Gefühls- 
zustände,  namentlich  extreme,  nicht  darstellen.  Die  Ausschweifung 
(extreme  Ausbildung  der  Genußfähigkeit  ist  Ausschweifung) 
gehört  meiner  Meinung  nach  zu  den  wichtigsten,  auch  für  den 
Künstler  wichtigsten  psychologischen  Fragen. 

Hier  müßte  nun  von  der  Kunst  überhaupt  in  ihrer  Beziehung 
zur  Willensstärke  die  Rede  sein,  ein  Thema,  das  ich  nur  berühren 
kann.  Verzichtet  nicht  der  Künstler  und  noch  mehr  der  Emp- 
fänger auf  das  Handeln?  Ist  nicht  Kunst  eine  Abirrung,  eine 
unnatürliche  Befriedigung  des  Aktionsbedürfnisses?  Der  Künst- 
ler setzt  sein  Wollen  nicht  direkt  in  die  Tat  um,  sondern  beschreibt 
oder  verkörpert  es  in  einem  Kunstwerk,  d.  h.  in  einer  stilisierten 
Wiederholung  gewisser  sichtbarer  und  hörbarer  Eindrücke  der 
äußeren  und  fühlbarer  der  inneren  Welt.  Er  stellt  ein  Bild  seines 
Strebens  heraus.  Warum  handelt  er  nicht  direkt?  Geht  sein 
Streben  so  hoch,  daß  es  in  der  Realität  nur  als  Idee  auftreten 
kann?  Aber  darin  liegt  vielleicht  das  Eingeständnis  einer  ein- 
seitig ausgebildeten  Vorstellungs-  und  Genußkraft  und  damit 
auch  einer  verringerten  Willenskraft.  Oder  ist  er  erhaben  über 
das  Handeln  ?  Aber  das  wäre  nur  eine  Umschreibung  der  Schwäche. 
Nun  sagt  man,  das  künstlerische  Schaffen  sei  eine  höhere  Art 
des  Handelns,  nicht  ein  Verzicht  auf  dasselbe.  Hiermit  muß 
man  zweifellos  übereinstimmen  und  hinzufügen,  daß  umgekehrt 
in  jedem  praktischen  Handeln  auch  ein  künstlerisches  Moment 
liegt  und  dasselbe  sich  so  steigern  läßt,  daß  der  Handelnde  eben- 
solchen Anspruch  auf  den  Namen  eines  Künstlers  hat,  wie  dieser 
auf  den  eines  Handelnden.  Das  geben  hochmütige  Künstler 
nicht  gern  zu.  Man  setzt  heute  oft  den  Künstler  an  die  Spitze 
der  menschlichen  Entwicklung,  zeichnet  unter  den  Künstlern 
noch  den  Poeten  und  unter  diesen  den  Dramatiker  aus.  Es 
läuft  darauf  hinaus,  daß  keine  höhere  und  stärkere  Lebensäuße- 
rung eines  Menschen  denkbar  sei  als  die  Abfassung  eines  Theater- 
stücks. Wenn  nun  auch  jeder  Vernünftige  weit  entfernt  sein 
wird,  die  künstlerische   Tätigkeit  im  allgemeinen   und    die  dra- 


163 


Erster  Teil. 

matische  im  besonderen  gering  zu  schätzen,  so  bleibt  doch  einiges 
Bedenkliche  an  einer  solchen  Aufstellung.  Vor  allem  dürfte  die 
Meinung  irrig  sein,  daß  der  Künstler  (und,  wie  einige  hinzufügen, 
der  Philosoph)  schaffe,  der  Mensch  des  praktischen  Lebens  aber 
nicht.  Wenn  das  Kunstwerk  und  das  philosophische  System 
eine  Schöpfung  (d.  h.  eine  Organisierung  chaotischer  Elemente 
oder  eine  Bereicherung  der  vorhandenen  Daseinselemente)  ist, 
so  ist  es  jede  Handlung  ebenso.  In  jeder,  auch  der  kleinsten 
Handlung  wiederholt  sich  der  Schöpfungsakt;  es  wird  etwas  Neues 
geboren.  Nur  der  Wert  des  Entstehenden  kann  in  Frage  kommen. 
Vielleicht  wirkt  aber  der  Künstler  weiter  und  tiefer,  als  es  dem 
Handelnden  jemals  möglich  ist?  Das  scheint  unbestreitbar, 
obgleich  sich  doch  auch  manches  einwenden  läßt.  —  Doch  ziehe 
ich  es  vor,  mich  nicht  weiter  auf  dies  schlüpfrige  Gebiet  zu 
wagen,  sondern  mit  der  Andeutung  der  Schwierigkeiten,  die  mir 
aufgefallen  sind,  mich  zufrieden  zu  geben.  Gewiß  sind  andere 
eher  imstande  als  ich  sie  zu  lösen. 

An  vielen  Künstlern,  sowie  an  anderen  tätigen  Mitgliedern 
einer  Kultur  kann  man  bemerken,  daß  unter  Umständen  gewisse 
Kräfte  einer  Natur  von  den  zentralen  seelischen  Funktionen 
unabhängig  sind,  wenn  man  mir  eine  so  vage  Ausdrucksweise 
nachsehen  will.  Letztere  sind  nicht  mehr  in  Ordnung,  versehen 
ihren  Dienst  mangelhaft  oder  nur  mit  äußerer  Nachhilfe;  aber  die 
ersteren  sind  gesund  und  bringen,  vielleicht  durch  Vererbung 
gesteigert,  bewundernswerte  Leistungen  hervor.  Man  denke,  um 
einen  beliebigen  Typus  herauszugreifen,  an  den  Goetheschen 
Tasso.  Er  ist  ein  nicht  lebensfähiger  Mensch,  weiß  mit  den  ein- 
fachsten Dingen  des  Lebens  nicht  fertig  zu  werden,  verdirbt  sich 
durch  krankhafte  Eigentümlichkeiten  jede  Möglichkeit  einer  ge- 
deihlichen Existenz  und  ist  doch  ein  ganzer  Künstler.  Die  Fähig- 
keiten des  Gesunden,  Übersicht,  Festigkeit  usw.,  die  ihm  sonst 
durchaus  fehlen,  stellen  sich  sofort  ein,  wenn  er  seinem  Gedicht 
sich  gegenüber  befindet.  So  gibt  es  viele,  die  zügellos  oder  schlaff 
in  allem  sind,  nur  in  dem  einzigen  Falle  nicht,  wo  ihr  Beruf, 
der  innere  oder  äußere,  in  Frage  kommt.  Sie  gleichen  einer 
Violine,  auf  der  drei  Saiten  gesprungen  sind  und  nur  die  vierte 
noch    tönt,    diese  aber    mit    solcher   Schönheit    und    Intensität, 

164 


Krankheiten  des  Willens. 


daß  man  die  drei  kaum  vermißt.  So  fördern  sie  wirklich  ihr 
Bestes  zutage,  vorausgesetzt,  daß  erstens  ihre  wertvolle  Fähigkeit 
intakt  geblieben  ist  und  nicht  eine  nebensächliche  Eigenschaft, 
und  daß  zweitens  die  entarteten  Funktionen  den  Menschen  nicht 
zugrunde  richten,  bevor  er  sich  noch  hat  ausleben  können.  In 
gewissem  Sinne  kann  man  sagen,  daß  wir  alle  auf  diese  Art  nur 
teilweise  gesund  sind.  Wir  alle  sind  Spezialisten,  bei  denen  einige 
Fähigkeiten  unnatürlich  entwickelt  sind  und  die  ganze  Kraft 
für  ihre  Erhaltung  und  Steigerung  verbrauchen,  während  andere 
leer  ausgehen  und  absterben.  Daher  die  Hilflosigkeit  und 
Leistungsunfähigkeit  in  Lagen,  die  nicht  genau  unserer  Einseitig- 
keit entsprechen.  Es  ist  wohl  richtig,  daß  eine  solche  Verwand- 
lung der  Menschen  in  Rädchen  und  Partikelchen,  die  ineinander 
passen,  für  die  Kultur  unerläßlich  ist;  aber  man  sollte  nicht  blind 
sein  für  die  Gefahr,  die  eine  Lähmung  und  Entartung  wichtiger 
Lebensfunktionen  für  den  einzelnen  und  unter  Umständen  für 
die  Gesamtheit  mit  sich  bringt.  Freilich  sorgt  die  Natur  dafür, 
daß  zuweit  abirrende  Typen  sich  nicht  fortpflanzen. 


2. 


Die  zweite  Form  der  Erkrankung  ist  der  Mangel  an  Instinkt. 
Auch  sie  ist  Krankheit  des  Willens;  denn  der  Willensstarke  han- 
delt mit  Sicherheit  nach  unmittelbaren  und  unsichtbaren  Maß- 
stäben, nicht  auf  Grund  zweifelnder  Berechnung.  Natürlich  sind 
hier  nur  die  wichtigsten  und  umfassendsten  Handlungen  gemeint, 
die  Richtung  einer  Natur  im  ganzen  und  die  aus  ihr  resultierende 
Gestaltung  des  äußeren  und  inneren  Lebens.  Hier  drängen  sich 
nun  wieder  philosophische  und  psychologische  Fragen  allgemei- 
nerer Art  auf,  die  ich  notdürftig  zu  beantworten  mich  begnügen 
muß.  Zunächst,  was  nennen  wir  denn  Instinkt?  Etwa:  das 
Kennen  und  Ausführen  der  zum  Leben  notwendigen  oder  förder- 
lichen Tätigkeiten  ohne  Vermittlung  der  Vernunft.  Was  ist  Ver- 
nunft?    Etwa:  die  Kraft,  mit  Hilfe  des  Bewußtseins  und  seiner 


165 


Erster  Teil. 

Inhalte  und  Formen  (Erfahrung  und  Denken)  für  die  Erhaltung 
und  Förderung  des  Lebens  zu  wirken.     Ferner,  wie  verhält  sie 
sich  zum  Instinkt?     Darauf  antworten  die  Psychologen:  sie  ist 
von  Hause  aus  sein  Helfer  und  Diener,  dann  zu  einer  selbständigen 
Kraft,    zu   seinem    Rivalen    und    unter    Umständen   zu   seinem 
Tyrannen    und    Zerstörer    geworden.     Hieran   schließt  sich   die 
Frage,    ob  der   menschliche  Instinkt  überhaupt    nachläßt    oder 
sich  steigert,  ob  wachsende  Kultur  sein  Gebiet  einschränkt  oder 
ausdehnt  und  was  von  beidem  für  die  menschliche  Entwicklung 
wünschenswert  ist.   Dies  wird  man  von  dem  einen  philosophischen 
Standpunkt  aus  anders  beantworten  als  von  dem  andern,  und  jede 
Beantwortung  wird  nicht  viel  mehr  enthalten  als  ein  Zeugnis  über 
des  Beantworters  vitale  Veranlagung.     Ich  wäre  geneigt,  mich 
in  aller  Bescheidenheit  so  auszusprechen:  die  Tendenz  zum  Rück- 
gang des  Instinkts  ist  unverkennbar;  er  reicht  für  die  höheren 
Erfordernisse  des  Lebens  nicht  aus  und  unterstützt  die  kompli- 
zierte Natur  nicht  hinlänglich.     Trotzdem  scheint  die  Lebens- 
und Fortentwicklungsfähigkeit  menschlicher  Kultur  davon  abzu- 
hängen, daß  es  gelingt,  diesen  Rückgang  aufzuhalten  und  dem 
Instinkt  beständig  neues  Gebiet  zu  erobern,  indem  alles  vernunft- 
mäßig Erworbene  schrittweise  in  instinktmäßig  Geübtes  umge- 
wandelt wird.    Nur  das,  was  die  Rasse  auf  die  Dauer  nicht  schädigt, 
sondern  sogar  lebenstüchtiger  macht,  wird  sich  einverleiben  und 
zum  Instinkt  machen  lassen.     Eine  Epoche  wie  die  heutige,  die 
große  Unsicherheit  des  Instinkts  einerseits  und  viel  Doktrinen 
und  Lebensexperimente  andererseits  zeigt,  wird  das  Resultat  nicht 
einverleibbarer,    weil    zerstörender    geistiger  Erwerbungen    sein, 
zugleich    aber   auch   der    Schauplatz   neuer   Entdeckungen   und 
Versuche.     Hat  sich  eine  solche  Epoche  neben  dem  hohen  Stand 
der  Erkenntnis  (vornehmlich  der  Selbsterkenntnis)  gewisse  grund- 
legende  Instinkte  und   die  erforderliche   Aktivität  zu  bewahren 
gewußt  oder  versteht  sie,  beides  sich  anzuzüchten  unter  Zuhilfe- 
nahme der  Erkenntnis,  so  sind  die  oft  Verfeindeten,  Instinkt  und 
Vernunft,    einmal    wieder   zu   ihrem   ursprünglichen   Verhältnis 
zurückgekehrt  und  werden  fruchtbare  neue  Entwicklungsformen 
gemeinsam  schaffen.    Hierauf  wird  später  zurückzukommen  sein. 
Man  hat  oft  zwei  Arten  Menschen  unterschieden,  naive  und 

i66 


Krankheiten  des  Willens. 


nicht  naive,  Menschen  des  Temperaments  und  Menschen  der 
Reflexion.  Wenn  man  sich  gegenwärtig  hält,  daß  solche  Ent- 
gegensetzungen nur  relative  Wahrheit  haben,  weil  sie  die  unend- 
liche Mannigfaltigkeit  der  Realität  vergewaltigen,  ist  die  Unter- 
scheidung gut  und  nützlich.  Die  ersteren  haben  jene  unmittelbare 
Sicherheit  des  Handelns,  die  wir  als  Instinkt  bezeichnen.  Ist 
ihre  Natur  im  Gleichgewicht  und  ihr  Temperament  durch  gesunde 
Funktion  des  zentralen  Willens  moderiert,  so  führen  sie  durch, 
was  sie  wollen  und  vermögen  dies,  weil  sie  nur  wollen,  was  sich 
mit  Notwendigkeit  aus  ihrer  Natur  ergibt,  also  was  sie  können. 
Sie  sind  Herren  ihres  Schicksals,  soweit  es  durch  das  Individuum 
gemacht  wird.  Es  fehlt  ihnen  dabei  durchaus  an  Selbstbeurteilung, 
die  sie  nicht  nötig  haben,  während  sie  die  Haupttugend  des  anderen 
Typus  ist,  wofern  er  gelungen  und  lebensfähig  ist.  Bei  ihm  geht 
das  Tun  und  Empfinden  unter  Begleitung  oder  auf  Geheiß  des 
Bewußtseins  von  statten.  Für  die  primitiven  Lebensfunktionen 
zwar,  geschlechtliche,  Ernährungsfunktionen  usw.,  ist  auch  bei 
ihm  der  Instinkt  leitend  (wenn  nicht,  so  haben  wir  es  mit  einem 
Fall  zu  tun,  der  nicht  in  unsere  Betrachtung  gehört);  aber  bei 
schwierigeren  und  komplizierteren  Entschließungen  verläßt  ihn 
der  Instinkt  und  an  seine  Stelle  tritt  bewußte  Vernunft.  Ist 
diese  bei  einem  solchen  Reflektierenden  hoch  und  fein  entwickelt, 
so  werden  theoretische  Erwägungen,  unterstützt  durch  praktische 
Erfahrung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  den  Instinkt  ersetzen. 
Ist  sie  es  aber  nicht,  fehlt  die  vollkommene  Besonnenheit  und 
Selbstbeurteilung,  so  ist  der  Mensch  zwei  Gefahren  ausgesetzt, 
erstens,  daß  er  sich  über  sein  Wollen,  Wissen,  Können  täuscht 
und  in  der  Gestaltung  und  Führung  seines  Lebens  sich  vergreift, 
zweitens,  daß  er  unentschlossen  und  schwankend  ist,  zur  unrechten 
Zeit  bald  handelt,  bald  sich  bedenkt.  In  ihm  spricht  nicht  eine 
innere  Stimme,  ihn  treibt  nicht  ein  sicherer  Zug  zu  dem  einen  hin, 
von  dem  andern  weg,  wie  jenen  ersteren,  oder  wenigstens  tritt 
die  Stimme  nicht  deutlich  und  richtunggebend  hervor;  er  ist  auf 
die  Deutung  ungewisser  Regungen  oder  allein  auf  Überlegungen 
und  Experimente  angewiesen  (immer  für  große  Entschließungen 
und  ideale  Fälle  verstanden).  Den  beiden  Gefahren  sehen  wir 
denn  auch  eine  große  Zahl  oft  wertvoller  Menschen  erliegen;  sie 


167 


Erster  Teil. 

leisten  nichts  oder  wenig  oder  nach  einer  falschen  Richtung  hin, 
ganz  wie  die  früher  beschriebenen  Willensschwachen,  obgleich 
es  ihnen  nicht  eigentlich  an  Kraft  fehlt,  sondern  nur  an  der 
instinktiven  Sicherheit  in  der  Verwertung  ihrer  Kraft.  Manch- 
mal ist  der  negative,  manchmal  der  positive  Instinkt  besser  er- 
halten. Im  ersten  Falle  vermeidet  der  Mensch  falsche  Schritte, 
weist  ungünstige  Einwirkungen  ab,  findet  aber  für  selbständige 
Handlungen  keine  Unterstützung  bei  dem  Instinkt;  man  mag 
hierbei  an  das  Daimonion  des  Sokrates  denken.  Im  zweiten  Fall 
ist  das  Tun  intakt  und  sicher,  aber  die  warnende  Stimme  fehlt; 
Beispiel  ist  der  Tatkräftige,  der  seine  Kräfte  nicht  zu  schonen  und 
zur  rechten  Zeit  Halt  zu  machen  weiß. 

Ich  betrachte  als  einen  Ausfluß  der  Instinktunsicherheit  den 
Dilettantismus,  wofern  er  bei  begabten  und  in  gewissem  Sinne 
tatkräftigen  Naturen  auftritt.  Wer  von  Hause  aus  schwach  und 
unzulänglich  ist,  kann  es  natürlich  weder  im  Leben  noch  in  der 
Kunst  und  Wissenschaft  zu  etwas  bringen;  er  ist  zur  Pfuscherei 
verurteilt.  Aber  wie  kommt  es,  daß  reiche  und  vorzügliche 
Menschen  ihr  Leben  lang  Pfuscher  bleiben,  ihre  Stelle  nicht 
finden,  ihr  Gewerbe  nicht  mit  Kraft  ergreifen,  sondern  herum- 
suchen und  herumprobieren,  ohne  Zweck  und  Glück  für  sich 
und  andere?  Immer  wenn  er  kaum  begonnen,  jagt  ihn  fort  der 
Meister:  heißt  es  in  einem  Lied  vom  Häuschen,  aus  dem  nichts 
wird.  Es  sind  nicht  solche,  die  aus  Schwäche  unstet  sind.  Nein, 
die  Mehrzahl  ist  nicht  schwach;  sie  weiß  nur  nicht,  wohin  ihre 
Natur  will.  Sie  tastet  nach  einer  Bestimmung  ihres  Wesens;  sie 
argwöhnt  bei  jeder  Tätigkeit,  die  sie  angefangen,  es  sei  eine 
falsche,  bei  jeder  Lebenslage,  in  die  sie  sich  begibt  oder  gebracht 
wird,  es  sei  eine  unpassende.  Es  sind  verfehlte  Existenzen,  sagt 
man.  Ich  freue  mich,  bei  Goethe  einen  Ausspruch  zu  finden, 
der  in  eine  ähnliche  Richtung  geht  und  für  unsere  Betrachtungen 
von  großem  Interesse  ist.  Goethe  sagt  in  den  Annalen,  der 
Wilhelm  Meister  sei  entsprungen  ,,aus  einem  dunkeln  Vorgefühl 
der  großen  Wahrheit:  daß  der  Mensch  oft  etwas  versuchen 
möchte,  wozu  ihm  Anlage  von  der  Natur  versagt  ist,  unter- 
nehmen und  ausüben  möchte,  wozu  ihm  Fertigkeit  nicht  werden 
kann;   ein  inneres  Gefühl  warnt  ihn  abzustehen,  er  kann  aber 

i68 


Krankheiten  des  Willens. 


mit  sich  nicht  ins  klare  kommen,  und  wird  auf  falschem  Wege 
zu  falschem  Zwecke  getrieben,  ohne  daß  er  weiß  wie  es  zugeht. 
Hierzu  kann  alles  gerechnet  werden,  was  man  falsche  Tendenz, 
Dilettantismus  usw.  genannt  hat.  Geht  ihm  hierüber  von  Zeit 
zu  Zeit  ein  halbes  Licht  auf,  so  entsteht  ein  Gefühl,  das  an  Ver- 
zweiflung grenzt,  und  doch  läßt  er  sich  wieder  gelegentlich  von 
der  Welle,  nur  halb  widerstrebend,  fortreißen.  Gar  viele  ver- 
geuden hierdurch  den  schönsten  Teil  ihres  Lebens,  und  verfallen 
zuletzt  in  wundersamen  Trübsinn,  Und  doch  ist  es  möglich, 
daß  alle  die  falschen  Schritte  zu  einem  unschätzbaren  Guten 
hinführen:  eine  Ahnung,  die  sich  im  Wilhelm  Meister  immer 
mehr  entfaltet,  aufklärt  und  betätigt,  ja  sich  zuletzt  mit  klaren 
Worten  ausspricht:  Du  kommst  m.ir  vor  wie  Saul,  der  Sohn  Kis, 
der  ausging,  seines  Vaters  Eselinnen  zu  suchen,  und  ein  König- 
reich fand."  Es  ist  möglich,  ja,  aber  nur  dann,  wenn  die 
Unsicherheit  eben  nicht  bis  auf  den  Grund  der  Natur  hinab- 
geht, sondern  nur  oberflächlich  und  zeitweilig  ist.  Der  Dilettant 
findet  kein  Königreich,  oder  anders  ausgedrückt,  er  findet  nicht 
sich  selber.  Da  es  Wilhelm  Meister  und  Goethe  mit  ihm  aus 
allem  Tasten  heraus  findet,  ist  er  kein  Dilettant,  sogar  dessen 
striktes  Gegenteil;  sein  Instinkt  ist  gesund  oder  gesundet  wenig- 
stens mehr  und  mehr;  aber  seine  bewußte  Vernunft  irrt  und  ist 
durch  mitwirkende  Triebe  zugleich  so  mächtig,  daß  sie  die  leise 
Stimme  des  Instinkts  übertönt.  Dies  wird  wohl  die  Regel  bei 
ungewöhnlichen  Naturen  sein,  die  sich  auf  besondere  Weise  ent- 
wickeln. Der  Maßstab,  den  die  Erwägung  sich  bildet,  wird 
hergenommen  von  Erfahrungen  und  deren  Verknüpfung  und 
Anwendung.  Diese  Erfahrung  ist  wohl  ausreichend  für  Ent- 
wicklungen, die  in  einer  oft  erprobten  Bahn  sich  bewegen,  aber 
nicht  für  solche,  die  anders,  vielleicht  absolut  neu  verlaufen. 
An  sich  ist  ja  jede  Natur  eine  Neuheit  und  ein  Unikum,  aber 
die  meisten  sind  es  in  unwesentlichen  Punkten;  deshalb  geht  ihr 
Leben  im  ganzen  den  erwarteten  gleichmäßigen  Weg,  der  leicht 
aufzufinden  und  einzuhalten  ist.  Die  bevorzugte  Natur  ist  in 
ihrer  wichtigsten  Fähigkeit  neu  geartet;  sie  stellt  eine  durch 
Vererbung,  also  ein  von  unserer  Erwägung  vorläufig  unabhän- 
giges  Moment,  gesteigerte  Kraft  dar,  deren  Verwertung  in  der 


Horneffer,  Das  klassische  Ideal. 


169 


Erster  Teil. 

Regel  nicht  erschlossen  werden  kann,  sondern  ausprobiert  werden 
rnuß.  Daher  das  Irren  und  Versuchen,  das  in  der  Entwicklung 
hervorragender  Männer  so  oft  eine  Rolle  spielt,  daher  der  Wechsel 
in  den  Anschauungen  und  Idealen,  das  Leiden  unter  Zweifeln  und 
Verzweiflung.  Kurz,  eine  Blindheit  und  Ungewißheit  ist  diesen 
Naturen  eigen;  die  aber  desto  schneller  und  sicherer  überwunden 
wird,  je  besser  der  Strebende  vom  Instinkt  unterstützt  wird. 
Dessen  Fehlen  oder  geringe  Kraft  hat  in  solchen  Fällen  unvermeid- 
lich den  Ruin  zur  Folge. 

Goethe,  der  ja  immer  seine  Gefahren  beschrieb  und  dadurch 
überwand,  rechnete  also  auch  den  Dilettantismus  unter  dieselben 
und  hatte  doch  wohl  recht  damit.  Die  Unsicherheit  seiner  Natur 
war  eine  sehr  große,  sie  quälte  und  hemmte  ihn  oft  und  bis  zu 
einem  verhältnismäßig  hohen  Alter.  Vielleicht  hat  er  bis  an  sein 
Ende  Stunden  gehabt,  in  denen  es  ihm  nicht  klar  war,  wohin  sich 
eigentlich  der  Schwerpunkt  seiner  Natur  neigte.  Daran  war  nun 
wohl  der  Überreichtum  an  Begabungen  schuld,  deren  jede  ihn  in 
eine  andere  Richtung  zog.  Doch  sind  widersprechende  und  ziemlich 
gleich  starke  Bestrebungen  schon  die  Folge  einer  Unsicherheit 
des  Instinkts.  Denn  eine  Natur,  die  sicher  vom  Instinkt  geleitet 
wird,  bringt  alle  Triebe  in  eine  Richtung,  auch  wenn  es  noch  so 
viele  sind.  Je  weiter  die  Natur  ist,  desto  fester  muß  freilich  der 
Ring  sein,  der  sie  zusammenhält,  und  desto  stärker  das  Zentrum, 
auf  das  alles  hinzielt.  Eine  mächtige  zentripetale  Gewalt  ist 
nötig,  die  der  stets  vorhandenen  zentrifugalen  die  Wage  hält. 
Goethes  Natur  war  dadurch  so  leistungsfähig,  daß  sie  in  bestimm- 
ten Augenblicken,  wenn  auch  nur  für  diese  Augenblicke,  voll- 
kommen einheitlich  war,  daß  alles  Dezentralisierende  und  Des- 
organisierende verschwand  unter  einem  einzigen  großen  Willen. 
Es  ist  wie  eine  Flutwelle,  die  sich  dann  über  alle  seine  verschieden- 
artigen Interessen,  Tätigkeiten,  Vermögen  ergießt,  an  die  er  sich 
hinzugeben  pflegte.  Eine  schöpferische  Gewalt  rafft  sie  alle 
zusammen  zu  einer  befreienden  Tat.  Danach  streben  die  Sonder- 
geister wieder  auseinander  und  quälen  ihn  wie  vorher  durch  das 
Gefühl  des  Unvermögens,  des  Zerflatterns.  Goethe  war  nur  in 
Momenten  Herr  über  sich;  aber  dann  war  er  es  ganz.  Manche 
anderen,  reichen  und  großen  Naturen  sind  es  niemals. 

170 


Krankheiten  des  Willens. 


Man  sollte  vorsichtig  sein  im  Preisen  und  Erstreben  der  Viel- 
seitigkeit. Sie  ist  nur  dann  wünschenswert,  wenn  sie  von  einem 
starken  Willen  kompensiert  wird.  Jeder  sollte  nur  soviel  Kräfte 
in  sich  entwickeln,  nur  soviel  Bildung  sich  erwerben,  als  er  ver- 
tragen, d.  h.  zu  Taten  verarbeiten  kann.  Andernfalls  belastet 
er  sich  unnütz,  lähmt  sich  und  gerät  in  Dilettantismus  und  schließ- 
lich in  ,, wundersamen  Trübsinn".  Man  eifert  gerade  heute  wieder 
gegen  die  Einseitigkeit  und  Unbildung,  wünscht,  daß  die  Gelehrten 
am  Kulturleben  tätigen  Anteil  nehmen,  daß  die  Künstler  und  die 
Menschen  des  praktischen  Lebens  ihre  Jahre  mit  vielem  Lesen 
und  Nachdenken  hinbringen.  Mir  scheint,  man  geht  hier  übers 
Ziel  hinaus  und  trägt  mehr  zur  Verringerung  der  Leistungsfähig- 
keit bei  als  zur  Erweiterung  und  Bildung  der  Persönlichkeiten. 
Außerdem  nährt  man  die  Einbildung  und  Topfguckerei.  Es  ist 
doch  leider  eine  Tatsache,  daß  nicht  einmal  solche,  die  in  einem 
Fach  wirklich  tüchtig  sind  und  also  wissen,  was  Können  und 
Urteil  ist,  mit  Bescheidenheit  über  Dinge  sich  äußern,  die  weit 
von  ihrem  Gebiet  abliegen.  Überdies  kann  ich  nicht  finden,  daß 
man  ein  größeres  Anrecht  auf  den  Namen  eines  Kulturmenschen 
hat,  wenn  man  in  alles  hineingesehen  und  sich  hineingemischt, 
als  wenn  man  einen  festen,  stetigen  Willen  in  sich  entwickelt 
und  durch  ihn  seine  Natur  organisiert  hat.  Wer  jedoch  keine 
Persönlichkeit,  sondern  nur  Instrument,  Teil  von  solchen  sein 
will,  darf  mehr  wissen  und  treiben,  als  er  sich  einverleiben  und 
für  sich  lebendig  machen  kann.  So  mag  ein  Philologe  ganze 
Literaturen  verschlucken,  ohne  daß  er  irgendwelche  Wirkungen 
derselben  auf  seine  Persönlichkeit  erkennen  läßt.  Er  will  nichts 
für  sich  gewinnen,  sondern  will  für  andere  sammeln,  die  dann 
vielleicht  von  einem  Werke  mehr  Vorteil  haben  als  er  von  tau- 
senden. 

Bei  ungewöhnlichen  Naturen  und,  wie  wir  hinzufügen  können, 
in  neuernden  Epochen,  ist  also  die  Gefahr  der  Instinkterkrankung 
und  des  Dilettantismus  besonders  groß.  Sie  müssen  sich,  wie 
gesagt,  ihren  Weg  mühsam  suchen,  und  ihr  Naturell  pflegt  sie 
noch  mehr,  als  es  nötig  und  förderlich  ist,  zur  Selbständigkeit  zu 
ermuntern.  Sie  wollen  auch  da,  wo  sie  es  ohne  Schaden  könnten, 
keine  fertigen  Erkenntnisse   und   andere    Bildungselemente  von 


171 


Erster  Teil. 

der  Überlieferung  annehmen,  sondern  alles  selbst  finden  und  ver- 
suchen. Sie  fangen  die  Kulturentwicklung  gewissermaßen  von 
neuem  an  und  stellen  zunächst  einmal  alles  Gewonnene  in  Frage. 
Was  ihnen  als  fest  und  unverrückbar  bezeichnet  wird,  prüfen 
sie  auf  seine  Haltbarkeit,  indem  sie  daran  rütteln  und  es  zu 
zerbrechen  suchen.  Im  Grunde  glauben  sie  nicht,  daß  die  ge- 
wonnenen Resultate  auch  für  sie  Geltung  haben,  und  fügen  sich 
erst  nach  erbittertem  Kampfe  in  dieselben.  Nun  hat  ein  über- 
liefertes Kulturelement  in  der  Tat  erst  dann  Geltung  für  den 
einzelnen,  wenn  er  es  für  sich  neu  entdeckt  und  anwendbar 
gemacht  hat.  Nur  ein  solches  bildet  ihn.  Es  kommt  also  für 
einen  nach  höchster  und  tiefster  Bildung  Strebenden,  einen  Künst- 
ler, Philosophen,  Herrscher,  Gesetzgeber,  darauf  an,  möglichst 
viele,  ja  wenn  es  geht  alle  Kulturresultate  zu  erleben  und  ge- 
wissermaßen neu  zu  finden.  Wie  nahe  liegt  es  daher^  daß  er 
nicht  zum  Ziele,  d.  h.  zum  vollen  Besitz  und  zur  Mehrung  des 
Ererbten  kommt,  sondern  in  der  Unreife  und  im  Dilettantismus 
stecken  bleibt !  E  r  s  t  e  n  s  ist  es  unmöglich,  alle  Erfahrungen 
zu  machen;  er  muß  auswählen  und  verstehen,  fremde  Erfah- 
rungen, sei  es  als  Kenntnisse  oder  als  Lebensformen,  sich  zunutze 
zu  machen,  als  ob  es  seine  eignen  wären.  Namentlich  gilt  dies 
für  solche  Erfahrungen,  die  ihn  wenig  oder  nichts  angehen;  wer 
sich  für  Dinge  ausgibt,  die  nicht  gerade  ihn  vorwärts  bringen, 
hat  wenig  Aussicht,  auf  einer  so  langen  Bahn  zum  Ende  zu  kom- 
men. Ferner  gilt  es  für  solche  Erfahrungen,  die  vorläufig  als 
besessen  angenommen  werden  müssen,  damit  andere  überhaupt 
gemacht  werden  können;  denn  man  kann  nicht  alles  zu  gleicher 
Zeit  und  muß  überall  ungeprüfte  Resultate  zeitweilig  benutzen, 
bis  man  dazu  gelangt,  auch  sie  zu  prüfen.  Beide  Fähigkeiten 
finden  sich  fast  nur  bei  Naturen,  die  durch  einen  sicheren  Instinkt 
unterstützt  werden.  —  Zweitens  pflegen  bedeutende  Naturen 
trotz  eines  Strebens  nach  Allseitigkeit  eine  übermäßige  Neigung 
zu  Einseitigkeiten  zu  haben.  Sie  sind  nur  gewissen,  immer 
einander  ähnlichen  Erfahrungen  überhaupt  zugänglich  und  gehen 
an  den  entgegengesetzten,  den  komplementären  achtlos  vorüber. 
So  kommen  sie  zu  beinahe  wertlosen  Resultaten  und  werden 
eigensinnig  statt  groß.  —  Drittens  bringt  ihr  Handwerk  das 

172 


Krankheiten  des  Willens. 


geistige  und  leibliche  Wohl  in  Gefahr  und  richtet  sie  leicht 
zugrunde,  ehe  sie  dazu  gelangen,  die  Früchte  ihrer  Saaten  zu 
ernten,  die  Schlüsse  aus  ihren  Prämissen  zu  ziehen.  Wer  schwer 
belehrbar  ist,  oft  wiederholte  Erfahrungen  und  harte  Schläge 
nötig  hat,  um  zu  begreifen  und  sich  zurecht  zu  finden,  wird 
kaum  heil  durchkommen,  oder  wird  doch  zu  spät  klug  werden 
und  wünschen,  das  Leben  neu  anfangen  zu  können,  nachdem 
es  abgelaufen  ist.  Wie  zahlreich  sind  solche  Verspäteten!  Der 
Grund  ist  aber  immer,  daß  der  Instinkt  nicht  sicher  genug  war 
und  die  suchende  Erwägung  zu  wenig  unterstützte.  Auf  das 
Feinste  und  Beste  muß  gerade  der  Erhaltungsinstinkt  arbeiten, 
z.  B.  auch  in  solchen  Fällen,  wo  gefährliche  Experimente,  sei 
es  mit  sich  selber  oder  mit  anderen  Personen  oder  mit  Explosiv- 
stoffen gemacht  werden  sollen.  Der  Instinkt  wird  lehren,  sie 
zu  umgehen  oder  mit  äußerster  Vorsicht  auszuführen  oder  ihren 
gesundheitsschädlichen  Folgen  durch  Gegenmittel  zuvorzukom- 
men. Bei  schwierigen  Expeditionen  gehen  mehr  Entdecker 
zugrunde,  als  man  ahnt,  und  oft  ohne  ihr  Problem  gelöst  zu  haben. 
Glücklichere  Erben  kommen  nach  ihnen,  die  die  Lehren  aus  dem 
unklugen  Wagemut  zu  ziehen  wissen,  die  sicherer  sind  bei  der 
Wahl  ihrer  Ausrüstungsgegenstände  oder  einsehen,  daß  der  Weg 
ein  anderer  sein  oder  daß  man  auf  die  Unternehmung  überhaupt 
verzichten  mioß. 

Schließlich  haben  Naturen  dieser  Art  oft  keine  Fähigkeit  und 
Lust  zur  Methode.  Sie  gehen  nicht  stufenweise  vorwärts, 
sondern  möchten  das  Letzte  und  Höchste  gleich  im  Anfang  haben, 
suchen  es  mit  Gewalt  an  sich  zu  reißen  und  wissen  nicht,  daß  es 
dadurch  nur  um  so  weiter  vor  ihnen  zurückweicht.  Sie  vergessen 
den  Grund  zu  legen  und  wollen  nicht  in  einer  langen  entsagungs- 
reichen Schule  sich  aufbauen.  Sie  sind  stark  im  Entwerfen,  in 
plötzlichen  großen  Antrieben;  aber  Kraft  und  Sicherheit  verlassen 
sie,  wenn  sie  vollenden  sollen,  was  sie  versprochen  und  angepackt 
haben.  Es  fehlt  auch  hier  an  einem  deutlich  redenden  Instinkt, 
der  sie  führte  und  fest  bei  der  einmal  gestellten  und  als  richtig 
erkannten  Aufgabe  hielte.  Sie  zweifeln,  ob  sie  mit  ihrem  Vor- 
haben auf  dem  ihnen  bestimmten  Wege  sind,  und  werden  von 
Impulsen  und  Erwägungen  hin  und  wieder  abgetrieben.     Sie  sind 


173 


Erster  Teil. 

ohne  Methode,  wie  ich  es  nenne.  Diese  Methode  braucht  nicht 
äußerhch  sichtbar  zu  sein,  sondern  kann  mit  Sprüngen  in  der 
Entwicklung  und  scheinbaren  Inkonsequenzen  der  Lebensführung 
verknüpft  sein.  Goethe  ist  ein  großes  Muster  von  Methode. 
Mit  seiner  Selbständigkeit,  die  ihn  nur  Selbsterfahrenes  und 
Selbstdurchlebtes  begreifen  und  benutzen  ließ,  verband  sich  eine 
erstaunliche  Aufnahmelust  und  Aufnahmefähigkeit.  Er  war 
belehrbar  in  jedem  Sinne  und  ging  den  langen  Weg  des  Lernens 
ohne  Abkürzungen  und  ohne  Ungeduld.  Sein  Instinkt  ließ  ihn 
ein  so  reiches  Material  wie  möglich  heranschaffen,  um  eigne 
Resultate  zu  erzielen  und  zu  beschleunigen.  So  gibt  es  wohl 
kaum  eine  menschliche  Erfahrung,  auf  künstlerischem,  wissen- 
schaftlichem und  praktischem  Gebiet,  die  er  nicht  gemacht  und 
verwertet  hätte. 

Die  Unentschlossenheit,  soweit  sie  Instinktunsicherheit  ist, 
gehört  hierher.  Die  innere  Stimme,  die  uns  nicht  nur  bei  mora- 
lischen sondern  allen  Entschließungen  wichtiger  Art  leiten  sollte, 
spricht  bei  dem  Unentschlossenen  nicht  deutlich  oder  gar  nicht. 
Er  sucht  deshalb  nach  anderen  Direktiven  für  sein  Handeln, 
entweder  indem  er  das  Für  und  Wider  theoretisch  abwägt  (womit 
er  in  die  Brüche  kommen  muß,  falls  er  sein  Naturell  nicht  genau 
übersieht  und  als  Hauptfaktor  in  die  Rechnung  aufnimmt),  oder 
indem  er  die  Handlungsweisen  anderer  vergleicht  und  sie  nach- 
ahmt (womit  er  ebenfalls  nur  in  gewissen  Fällen  auskommen  wird) . 
Beide  Male  kommt  der  Entschluß,  wenn  überhaupt,  so  nur  müh- 
sam zustande;  vielleicht  bringt  ihn  äußere  Nötigung  hervor,  die 
der  Unentschlossene,  um  überhaupt  zu  handeln,  oft  aufsucht 
oder  sich  gern  gefallen  läßt.  In  jedem  Falle  fehlt  ihm  die  Festig- 
keit, die  ein  vom  Instinkt  geforderter  oder  befürworteter  Entschluß 
hat.  Gewöhnlich  ist  jener  ein  Kompromiß,  ist  nicht  endgültig, 
sondern  gestattet  ein  Zurück,  ist  mehr  eine  Frage  als  eine  Antwort. 
Fast  immer  folgt  der  Ausführung  eines  solchen  Entschlusses  die 
Reue;  denn  man  könnte  sich  doch  geirrt  haben!  Es  wäre  doch 
gewiß  noch  eine  bessere  Wahl  möglich  gewesen!  So  sucht  denn 
der  Unentschlossene  ungeschehen  zu  machen,  was  möglich  ist, 
bedauert,  beschimpft  und  verleugnet,  was  sich  nicht  mehr  ändern 
läßt.     Das  Unvollkommene  und,  wenn  man  will.  Falsche  jeder 

174 


Krankheiten  des  Willens. 


Tat  nimmt  der  aus  dem  Instinkt  heraus  Handelnde  willig  auf 
sich  und  steht  für  sie  ein;  der  Unentschlossene  aber  sieht,  nach- 
dem er  gehandelt  hat,  nur  noch  das  Falsche  seiner  Tat  und  würde 
doch,  wenn  sie  anders  ausgefallen  wäre,  den  Entschluß  ebenso 
sehr  bereuen.  Wie  verhängnisvoll  auch  in  der  Kunst  ein  solcher 
Mangel  werden  kann,  sieht  man  etwa  an  Schiller.  Dieser  war 
eigentlich  eine  entschiedene  Natur;  aber  beim  künstlerischen 
Produzieren  kam  ein  Schwanken  über  ihn,  das  seinen  Werken 
nur  allzusehr  geschadet  hat.  Es  verstärkte  sich  wohl  gegen  das 
Ende  seines  Lebens  und  ging  daraus  hervor,  daß  seine  künst- 
lerischen Absichten  nicht  mit  voller  Klarheit  und  Unzweideutig- 
keit  vor  ihm  erschienen.  Irgendwo  in  der  Tiefe  seiner  Natur  lag 
alles  bereit,  was  zu  der  Schöpfung  nötig  war,  aber  er  kam  mit 
seinem  Wollen  nicht  hinunter  in  diese  Tiefe;  er  tastete  an  sich 
herum,  änderte,  fragte  sich  und  andere,  wie  er  am  besten  verführe, 
und  wollte  eigentlich  nur  erfahren  und  erhorchen,  was  in  ihm 
selber  schlummerte.  Bald  meinte  er  dann,  die  eine,  bald,  die 
andere  Ausführung  entspräche  seiner  undeutlich  gefühlten  Ab- 
sicht. Dabei  waren  grobe  Irrtümer  über  sein  eigentliches  Wollen 
und  eine  gewisse  Oberflächlichkeit  an  Stellen,  wo  der  Instinkt 
ganz  schwieg  und  nur  die  Erwägung  dichtete,  unvermeidlich. 
Wie  anders  Goethe,  eine  so  vielfach  unentschlossene  Natur! 
Aber  wenn  einmal  seine  Natur  den  Samen  empfangen  und  das 
Kind  ausgetragen  hatte,  gab  es  kein  Zurück  und  kein  Verändern 
mehr.  Es  kam  reif  und  ganz  ans  Tageslicht.  Oft  wurden  freilich 
seine  Pläne  nicht  reif  und  gingen  als  Frühgeburten  verloren; 
aber  ein  künstliches  Beleben  halber  Geburten,  ein  Nachhelfen 
durch  Theorien  und  andere  unzureichende  Mittel,  wie  es  Schiller 
in  seiner  Art  hatte,  kannte  er  nicht. 

Etwas  Ähnliches  ist  es  wohl,  wenn  für  ethische,  psychologische, 
religiöse  Kardinalfragen  die  Entscheidung  der  Vernunft  angerufen 
wird.  Wer  z.  B.  verkennt,  daß  die  sexuellen  Beziehungen  von 
Mann  und  Weib  vitalen  Gesetzen  unterliegen,  die  keine  Deduktion 
und  kein  Versammlungsbeschluß  ändern  kann,  beweist  nichts 
weiter,  als  daß  sein  Instinkt  an  diesem  Punkte  versagt.  So  wollen 
uns  weibliche  Wesen,  die  instinktkrank  sind  oder  deren  Natur 
noch  nicht  zu  Wort  gekommen  ist,  über  die  Weiblichkeit  belehren 


175 


Erster  Teil. 

und  fühlen  nicht,  daß  sie  uns  höchstens  über  ihre  eigene  Lage 
belehren.  Es  gibt  heute  viel  derartige  Verirrungen;  sie  pflegen 
mehr  die  heiteren  als  die  ernsten  Folgen  der  Instinktunsicherheit 
zu  veranschaulichen. 

Wir  kommen  zu  den  Dilettanten  im  eigentlichen  Sinne  des 
Worts.  Goethe,  Schiller  und  Heinrich  Meyer  haben  sich  längere 
Zeit  mit  dem  Plane  eines  gemeinsamen  Werkes  über  den  Dilettan- 
tismus in  den  Künsten  getragen.  Die  Ausführung  unterblieb 
erklärlicherweise,  aber  Schemata  und  einzelne  Gedanken  wurden 
aufgezeichnet,  die  vortrefflich  sind  und  von  jedem  Kunst- 
beflissenen auswendig  gelernt  werden  sollten.  Unser  Problem 
berühren  sie  nicht;  sie  reden  vom  Dilettantismus  der  Kinder, 
der  Weiber,  der  Reichen,  der  Vornehmen,  aber  nicht  der  Willens- 
kranken. Der  Nachahmungstrieb  und  die  natürliche  Produktions- 
lust des  Menschen  werden  als  Grund  für  den  Dilettantismus  an- 
geführt, pathologische  Gründe  nicht  herangezogen.  Überhaupt 
kam  es  weniger  auf  die  Erklärung  der  Erscheinung  an  als  auf 
ihre  Formen,  ihre  Geschichte,  ihre  Vorteile  und  Nachteile  für  die 
Kunst.  Es  werden  solche  Dilettanten  unterschieden,  die  vom 
Technischen  ausgehen  und  in  ihm  verharren  (wie  manche  Zeich- 
ner, Klavierspieler  usw.)  und  solche,  die  vom  Stoff,  vom  Gefühl 
ausgehen  und  nie  zur  Technik  kommen.  Mir  scheinen  die  ersteren 
verhältnismäßig  unschuldig,  wenigstens  wenn  man  heutige  Zu- 
stände im  Auge  hat,  die  letzteren  unbedingt  gefährlicher;  auch 
sind  die  Dilettanten  aus  Instinktschwäche  fast  immer  von  dieser 
Art.  Sie  verkennen  die  ausschlaggebende  Bedeutung  der  beiden 
großen  Dinge:  Übung  und  Tradition.  Die  Form,  als  Resultat 
von  Tradition  und  Übung,  ist  derjenige  Begriff,  den  sie  am  we- 
nigsten verstehen  und  am  meisten  hassen.  Man  möge  das  Ver- 
hältnis eines  Menschen  zu  ihm  als  Merkzeichen  benutzen. 
Natürlich  ist  nicht  erforderlich,  daß  der  Begriff  Form  ihm  bewußt 
ist,  so  wenig  wie  die  Bekanntschaft  und  zur  Schau  getragene 
Freundschaft  mit  demselben  notwendig  ein  Beweis  gegen  den 
Dilettantismus  ist.  Er  muß  angeboren  sein;  die  Sätze,  daß  die 
Form  ewig  und  die  Formlosigkeit  ein  Widersinn  ist,  müssen 
einen  unmittelbaren  Wiederhall  in  ihm  finden.  Die  Dilettanten 
operieren  mit  zwei  anderen  Begriffen,  die  sie  zu  Gegenbegriffen 

176 


Krankheiten  des  Willens. 


gegen  die  Form  ausgebildet  haben;  sie  heißen  Natur  und  Logik 
und  sind,  wenn  man  sie  richtig  nimmt  und  nicht  preßt,  zwei 
vortreffhche  Dinge  und  durchaus  nicht  geeignet,  als  Waffen  gegen 
die  Form  zu  dienen. 

Was  ist  Natur?  Eine  scharfe  Definition  mißglückt  und  macht 
den  Begriff  ebenso  leer  und  fade  wie  etwa  den  Begriff  Schönheit. 
Beide  haben  einen  schwankenden  Sinn  und  sind  zu  Beweisen 
ungeeignet.  Wenn  man  von  jemand  verlangt  natürlich  zu  leben 
oder  zu  dichten  oder  dgl.,  kann  immer  nur  gemeint  sein,  daß  er 
seiner  Natur  oder  höchstens  noch  der  des  Verlangenden  ent- 
sprechend leben  oder  dichten  soll.  Dieser  mag  unter  gewissen 
Umständen  berechtigt  sein,  seine  Natur  als  eine  Art  Kanon 
anzusetzen,  und  außerdem  werden  innerhalb  einer  bestimmten 
Zeit,  eines  Volkes,  die  Naturen  und  ihre  allgemeinen  Bedürfnisse 
nicht  sehr  verschieden  sein,  so  daß  es  einen  ganz  guten  Sinn  hat, 
von  Natürlichkeit  schlechtweg  zu  sprechen.  Sowie  aber  über 
gewisse  allgemeine  Forderungen  hinausgegangen  und  etwa  ver- 
langt wird,  daß  jeder  von  Gemüse  leben  oder  auf  dem  Felde 
arbeiten  oder  rohe  und  infantile  Kunstwerke  schaffen  soll,  weil 
es  so  natürlich  sei,  da  wird  Natur  zum  Unsinn.  Der  Ruf  nach 
Natur  ist  von  jeher  ein  beliebtes  und  stark  wirkendes  Schlagwort 
gewesen,  gerade  weil  sich  nichts  Bestimmtes  dabei  denken  läßt 
und  jeder  etwas  anderes  darunter  versteht  (der  eine  Vielweiberei, 
der  andere  Abschaffung  der  Verse,  der  dritte  Barfußgehen,  der 
vierte  Abschaffung  der  Regierung  usw.).  Sie  soll  ein  Heilmittel 
sein  und,  wenn  man  will,  ist  sie  es  auch;  aber  mit  diesem  Mittel 
kann  man  irgendwelche  Einzelfälle  nur  kurieren,  nachdem  man 
aus  seiner  abstrakten  Allgemeinheit  die  gerade  passenden  Konkreta 
ausgewählt  hat.  Die  Anwendung  ist  alles.  Natur  schlechtweg 
zu  predigen  hat  nicht  mehr  Wert  als  der  Rat,  den  jener  V\^ohl- 
meinende  einem  Kranken  gab,  er  möge  sich  doch  der  Apotheke 
bedienen. 

Noch  weniger  läßt  sich  mit  dem  zweiten  Lieblingsbegriff 
anfangen.  Die  Dilettanten  wünschen,  daß  alles  auf  der  Welt 
logisch  eingerichtet  sei  und  mit  einer  Konsequenz  sich  vollziehe, 
die  sie  durchschauen.  Hiernach  beurteilen  sie  Wert  und  Berech- 
tigung alles   Bestehenden   und   haben  die   Naivität  zu  glauben. 


177 


Erster  Teil. 

man  könne  und  müsse  abschaffen,  was  vor  dieser  Instanz  sich 
zu  rechtfertigen  nicht  imstande  sei.  Junge  Leute  und  solche,  die 
es  bleiben,  leiden  am  meisten  unter  dieser  irrigen  Anschauung. 
Sie  sehen  nicht,  daß  es  viel  mehr  für  die  Berechtigung  einer  Ein- 
richtung spricht,  daß  sie  besteht,  daß  sie  geworden,  gewachsen  und 
erhalten  geblieben  ist,  als  daß  sie  mit  der  Einsicht  eines  Beurteilers 
sich  verträgt.  Ja  ich  meine,  die  Existenzberechtigung  realer  Mächte, 
etwa  geltender  Gesetze  oder  wirkender  Religionen,  wird  durchaus 
nicht  dadurch  in  Frage  gestellt,  daß  die  einen  ungerecht  und  die 
andern  falsch  sind.  Nur  ebenso  reale  Mächte  können  gegen 
sie  ins  Feld  geführt  v/erden,  z.  B.  das  Absterben  der  Verhältnisse, 
die  jene  geschaffen  haben  oder  das  Aufkommen  anderer  Mächte, 
die  jenen  den  Boden  entziehen.  Eine  Pflanze  kann  man  nicht 
durch  Widerlegungen,  sondern  nur  durch  Maßregeln  aus  der  Welt 
schaffen.  Menschliche  Einrichtungen  aber  sind  organische  Ge- 
bilde wie  Pflanzen;  ihre  Entstehung,  Wirksamkeit,  Dauer  unter- 
liegt den  biologischen  Gesetzen.  Die  theoretischen  Verallgemei- 
nerungen sind  für  die  Praxis  doch  immer  nur  in  einem  beschei- 
denen Umfange  verwendbar,  ebenso  wie  die  abstrakten  sittlichen 
und  ästhetischen  Kategorien.  Die  Praxis  richtet  sich  nicht  nach 
ihnen,  sie  haben  sich  vielmehr  nach  der  Praxis  zu  richten,  falls 
sie  nicht  vorziehen,  in  ihrem  Kreise  zu  bleiben,  wie  die  theoretische 
Mathematik  es  tut. 

So  sind  denn  alle  Gebiete,  wo  die  Entfernung  zwischen  den 
Forderungen  der  Logik  und  den  tatsächlichen  Verhältnissen  eine 
große  ist,  Lieblingsgebiete  der  Dilettanten,  z.  B.  die  Sprache. 
Kein  Zweifel,  daß  der  Zweck  der  Sprache  durch  die  bestehenden 
Sprachen  nicht  vollkommen  und  nicht  auf  die  einfachste  und 
konsequenteste  Weise  erreicht  wird.  Sie  haben  Lücken  und 
Unklarheiten  überall,  haben  die  bedauerlichsten  Unregelmäßig- 
keiten in  der  Wort-  und  Satzbildung  sowie  in  der  Flexion.  Kein 
Zweifel,  der  Erfinder  der  Sprache,  der  ja  auch  die  erste  Grammatik 
schrieb,  war  ein  unlogischer  Kopf  und  seiner  Aufgabe  nicht  im 
entferntesten  gewachsen,  ähnlich  wie  der  liebe  Gott,  der  am  Ende 
jener  Erfinder  war,  sich  bei  der  Weltschöpfung  doch  auch  bedenk- 
liche Blößen  gegeben  hat.  Denn  woher  sonst  alle  die  Wider- 
sprüche und   Inkonsequenzen,   deren  Zweck  niemand   begreift! 

178 


Krankheiten  des  Willens 


Es  muß  daher  unsere  Aufgabe  sein,  mit  den  Widersprüchen 
aufzuräumen,  die  Fehler  zu  korrigieren,  kurz  möglichst  viel  und 
gründlich  zu  reformieren!  Das  blinde  Ändern  und  Neumachen 
wollen  ist  für  den  Dilettanten  charakteristisch.  Er  übersieht 
regelmäßig,  sowohl  ob  er  oder  irgend  jemand  die  Macht  dazu  hat, 
als  auch  ob  das  Neue  nicht  dieselben  oder  größere  Mängel  hat 
als  das  Alte.  Die  Welt  soll  von  vorn  anfangen,  meint  er,  da  er 
mit  seinem  Kopf  nicht  hineinpaßt  oder  vielmehr  nicht  hineinzu- 
passen scheint.  Denn  in  Wahrheit  fügt  sich  seine  Individualität, 
wenn  anders  sie  eine  lebensfähige  ist,  sehr  gut  in  das  Ganze, 
trotz  der  Rebellion  eines  vorlauten  Intellekts.  Der  einzelne  ist 
ja  auch  nur  ein  Resultat,  ein  Glied  des  Gesamtwachstums  und 
entwickelt  sich  mit  Notwendigkeit,  ohne  Rücksicht  auf  die  Logik; 
ebenso  wie  die  ganze  reale  Welt  kein  Bauwerk  ist,  das  man  nach 
Prinzipien  aufgebaut  hat  und  beliebig  niederreißen  und  anders 
aufbauen  kann.  Sondern  sie  ist  gewachsen,  und  nur  wenn  eines 
Reformators  Ideen  mit  ebensolcher  Stärke  und  Sicherheit  in  ihm 
wachsen,  werden  sie  für  ihn  und  für  die  Welt  von  Einfluß  sein. 
Er  ist  dann  ein  Werkzeug,  ein  Mundstück  des  Gesamtwachstums 
und  hat  wirklichen  Anspruch  auf  den  Namen  eines  Reformators. 
Unsere  dilettantischen  Weltverbesserer  und  Weltbeglücker 
sind  nichts  weiter  als  eigensinnige  Instinktkranke.  Es  wimmelt 
heute  von  solchen  eingebildeten  Reformatoren.  Auf  allen  Ge- 
bieten findet  man  sie,  und  immer  zeigen  sie  die  gleichen  Symptome. 
Es  gibt  Heilande  für  alles  zusammen  und  Heilande  für  einzelne 
Fächer.  Die  ersteren  wollen  mit  ihrer  Kunst  alle  Not  in  der 
Gesellschaft,  Kunst,  Kultur  usw.  auf  einmal  beseitigen  und  durch 
einen  Zauberschlag  die  Welt  dem  langgesuchten  Glück  zuführen. 
Dabei  haben  sie  nur  eine  einzige,  mitunter  nicht  üble  Erfindung 
in  der  Tasche,  die  dieses  Wunder  bewirken  soll(z.  B.  Bodenreform, 
oder  Volksbildung,  oder  das  allgemeinsame  Kunstwerk,  oder 
Antialkoholismus  oder  dgl.).  Die  anderen  begnügen  sich  für 
ihr  besonderes  Gebiet  eine  Medizin  anzugeben  und  anzupreisen, 
die  in  jedem  Fall  heilbringend  sei  und  gewöhnlich  auch  in  einer 
immer  gleichen  Dosis  verabreicht  wird.  Untereinander  vertragen 
sich  die  Heilande  nicht  eben  gut,  hauptsächlich  aus  Brotneid; 
denn  einer  schließt  ja  den  andern  aus.     Kommt  ein  neuer  auf. 


179 


Erster  Teil. 

so  werden  die  Leute  in  der  Regel  dem  alten  untreu  und  laufen 
ihm  zu.  Sie  wollen  Abwechslung  haben,  sind  auch  durch  jenen 
nicht  befriedigt  worden.  Fühlt  sich  der  neue  stark  genug,  so 
ignoriert  er  den  alten,  wenn  nicht,  bekämpft  er  ihn  oder  paktiert 
mit  ihm,  etwa  so,  daß  er  ihn  als  seinen  Vorläufer  bezeichnet. 
Dementsprechend  macht  es  der  alte.  Sie  bringen  oft  etwas 
wirklich  Wertvolles,  begehen  aber  stets  zwei  Fehler;  erstens 
nehmen  sie  ihren  Spezialfall  als  den  allgemeinen  und  denken, 
was  sich  bei  ihnen  bewahrheitet  und  bewährt  hat,  müsse  für  alle 
Gültigkeit  haben;  zweitens  sehen  sie  die  Schwierigkeiten  und 
Einwände  nicht,  die  ihrer  Idee  entgegenstehen,  sind  also  blind 
und  beschränkt.  Es  ist  nicht  die  Beschränktheit  des  Fachmanns, 
der  ja  auch  nicht  über  sich  hinaussehen  kann  und  sein  Handwerk 
leicht  für  das  wichtigste  der  Welt  hält.  Aber  darin  ist  er  zufrieden 
und  bleibt  bei  dem,  was  er  kann,  während  der  dilettantische 
Reformator  fanatisch  ist  und  mit  bornierter  Heftigkeit  an  das 
herangeht,  was  er  nicht  kann. 

Nun  muß  man,  um  nicht  ungerecht  zu  sein,  immer  wieder 
betonen,  daß  die  Versuchung  zum  Dilettantismus  heute  besonders 
groß  ist  und  gerade  für  hervorragende  Naturen.  Die  Über- 
produktion an  Weltverbesserern  ist  keine  zufällige  Erscheinung, 
sondern  hat  ihren  Grund  darin,  daß  Weltverbesserung  uns  bitter 
not  tut.  Die  Entwicklung  ist  an  einem  toten  Punkt  angekommen, 
der  Instinkt  versagt,  der  Intellekt  oder  einzelne  ungeleitete  Triebe 
suchen  einen  Ausweg  aus  der  dunkeln  Gasse  und  tappen,  wie  es 
nicht  anders  sein  kann,  in  gigantischen  Irrtümern  und  kindlichen 
Torheiten  umher.  Viele  glauben  sich  heute  feig  und  fahnen- 
flüchtig, wenn  sie  sich  auf  ein  Handwerk  beschränken  und  be- 
scheiden im  Geleise  gehen;  sie  sind  vielleicht  in  der  Tat  weiter 
als  andere,  meinen  deshalb,  sie  könnten  und  müßten  allen  Hilfs- 
bedürftigen beistehen,  und  verfallen,  wenn  ihnen  der  Erfolg  eine 
Zeitlang  günstig  ist,  fast  notwendig  in  den  Irrtum,  daß  sie  zum 
Messias  berufen  seien.  Andere  sehen  klar,  daß  sie  unzureichend 
und  der  schwersten  Aufgabe  nicht  gewachsen  sind,  springen  aber 
trotzdem  in  die  Bresche,  nachdem  sie  vergeblich  auf  stärkere 
Verteidiger  gewartet  haben.  Sie  wollen  lieber  unter  Trüm- 
mern   liegen  als    auf    ihnen   leben.     Darf  man    solche  Tapfer- 

i8o 


Krankheiten  des  Willens. 


keit  schelten?  Wieder  andere  freilich  sind  nicht  so  tapfer  und 
denken  nicht  daran,  ihre  Persönlichkeit  einzusetzen,  obwohl  sie 
den  Anspruch  erheben,  Heilande  zu  sein.  Sie  wünschen,  reden 
und  überreden,  handeln  aber  nicht.  So  gibt  es  Utopisten,  die 
ebenso  leben  wie  alle  Welt,  aber  mit  einer  Theorie  hausieren 
gehen,  nach  der  alles  anders  wird.  Durch  Beispiel  und 
Unterweisung  diese  Zukunft  herbeizuführen,  fällt  ihnen 
nicht  ein.  Und  doch  ist  das  einzige  Mittel  solche  Theorien 
zu  beweisen,  sie  auszuprobieren  und  vorzumachen.  Der  Heiland 
soll  bei  sich  selber  anfangen  und  den  gefährlichen  Sprung  in  die 
Praxis  tun;  von  demselben  hängt  alles  ab.  Es  liegt  meiner 
Meinung  nach  immer  Resignation  und  Eingeständnis  des  Un- 
vermögens darin,  wenn  man  Theorie  (ethische,  religiöse,  künst- 
lerische, kurz  praktische  Theorie)  und  persönliche  Verwirklichung 
derselben  trennt,  was  heute  so  vielfach  geschieht  und  nicht  selten 
sogar  erstrebt  und  verehrt  wird.  Wie  leicht  ist  es,  schöne  Theorien 
an  die  Wand  zu  malen!  Und  was  sind  sie  wert,  wenn  der  Urheber 
nicht  mit  seinem  Glück  und  Leben  für  sie  bürgt!  Natürlich  soll 
man  auch  den  entgegengesetzten  Fehler  vermeiden,  der  darin 
besteht,  jede  Idee  sofort  in  die  Praxis  umzusetzen  und  fortwährend 
mit  Reformieren  und  Verändern  seiner  Lebens-  oder  Kunstweise 
beschäftigt  zu  sein.  Man  soll  warten  können  und  bedenken, 
daß  der  Instinkt  bei  uns  verwickelten  Menschen  und  in  unseren 
komplizierten  Verhältnissen  nicht  immer  gleich  bei  der  Hand  ist, 
sondern  oft  erst  nach  langer  Zeit  sein  Ja  oder  Nein  sagt,  das 
über  eine  Idee  entscheidet.  Solange  er  nicht  spricht  und  nur 
ein  oberflächliches  Begehren  oder  rechnendes  Phantasieren  die 
Theorie  stützt,  ist  von  ihrer  Verwirklichung  wenig  Gutes  zu 
hoffen. 

Steigen  wir  noch  eine  Stufe  tiefer,  so  kommen  wir  von  dem 
Dilettanten,  der  in  der  Theorie  ein  Held,  in  der  Praxis  höchstens 
ein  mittelmäßiger  Mensch  ist,  zu  dem  Kritiker,  der  auch  die 
Theorie  fahren  läßt  und  in  der  Negation  sein  Heldentum  zeigt. 
Auch  der  dilettantische  Kritiker  legt  niemals  und  prinzipiell 
nicht  Hand  an,  sondern  sieht  zu  und  weist  die  Mängel  nach, 
die  alles  menschliche  Wollen  und  Tun  nun  einmal  an  sich  hat. 
Das  Gute,  auf  das  der  positive  Kritiker  sein  Augenmerk  richtet, 


i8i 


Erster  Teil. 

sieht  er  jedoch  nicht  und  will  es  nicht  sehen.  Der  Instinktkranke 
ist,  wie  schon  oben  von  dem  Willenskranken  gesagt  wurde, 
negativ,  während  jeder  Gesunde  positiv  ist  und  die  Negationen 
nur  zu  neuen  Positionen  verwendet.  Der  Gesunde  glaubt  lieber, 
als  daß  er  zweifelt;  denn  Glauben  ist  ein  Antrieb  zum  Lernen  und 
Handeln;  der  Zweifel,  wenn  er  ohne  Gegengewicht  und  dauernd 
ist,  macht  untätig  und  löst  auf,  wird  deshalb  von  einer  instinkt- 
sicheren Natur  abgewiesen  oder  unschädlich  gemacht.  Von 
Leuten,  die  sich  zurückgesetzt  fühlen,  wird  das  Kritisieren,  wie 
früher  erwähnt,  als  eine  Entschädigung  ihres  Anerkennungs- 
bedürfnisses geübt.  Es  wird  ein  Sport  oder  auch  ein  Beruf,  alles 
was  ihnen  begegnet,  zu  bemängeln  und  herunter  zu  reißen.  Sind 
es  junge  Leute,  die  auf  diese  Weise  sich  einführen  und  ihre  in 
Aussicht  stehende  Mithilfe  wertvoller  erscheinen  lassen  wollen, 
so  mag  es  noch  hingehen,  aber  ältere  Leute  sollten  versuchen  eine 
so  schlechte  Gewohnheit  abzulegen  und  sollten  überall  da,  wo 
sie  nicht  positiv  sein  können,  sich  bescheiden  und  schweigen. 
Die  Kunst,  den  Mund  zu  halten,  muß  doch  eine  der  schwersten 
menschlichen  Künste  sein.  Ob  sie  zu  allen  Zeiten  so  arg  da- 
niederlag wie  heute?  Ob  sich  die  früheren  Menschen  ebenso 
selten  und  ungern  wie  wir  entschlossen,  einzusehen,  daß  sie  nur 
wenige  Dinge  so  gut  verstehen  und  wissen,  daß  sie  sie  machen 
und  beurteilen  können?  Ob  immer  nur  große  Sicherheit 
und  Bildung  dazu  führten,  daß  man  grundsätzlich  vermied 
andern  ins  Handwerk  zu  pfuschen,  wenn  auch  nur  als  politischer, 
philosophischer  oder  ästhetischer  Kannegießer  ? 


Willensschwäche  und  Instinktunsicherheit  halte  ich  in  manchen 
Fällen  für  heilbar  und  will  versuchen,  ein  Heilmittel  anzugeben, 
das  gewiß  nicht  unfehlbar,  auch  nicht  das  einzig  anwendbare  ist, 
sich  aber  doch  manchmal  bewährt  hat.     Es  ist  kein  von  mir  er- 

182 


Krankheiten  des  Willens. 


fundenes,  sondern  jedem  bekannt.  Auszuscheiden  wären  hier 
vor  allem  die  Fälle,  wo  Willenskrankheit  Folge  oder  Begleit- 
erscheinung körperlicher  oder  seelischer  Störungen  ist.  Nerven- 
und  Gehirnkrankheiten  sowie  chronische  Leiden  anderer  Art 
bringen  immer  eine  Verringerung  der  Leistungsfähigkeit  und  oft 
auch  eine  Schwächung  der  höheren  Instinkte  mit  sich.  Da  sind 
also  zuerst  die  Ursachen  wegzuschaffen,  ehe  an  eine  Kur  der  Wir- 
kungen gedacht  werden  kann.  Daß  es  nur  selten  gelingt,  der- 
artige Krankheiten  zu  heilen,  und  dann  in  der  Regel  nur  durch 
eine  sehr  langwierige,  sehr  mühsame  Kur,  ist  bekannt.  Dasselbe 
gilt  für  Willenskrankheiten.  Die  Schwierigkeit  liegt  oft  darin, 
daß  zur  Durchführung  des  Heilprozesses  gerade  die  Eigenschaften 
erforderlich  sind,  die  dem  Kranken  fehlen,  nämlich  Kraft  und 
Sicherheit  des  Willens.  Man  wird  also  wohl  auf  Besserung  nur 
hoffen  dürfen,  wenn  neben  den  kranken  Teilen  noch  gesunde, 
neben  der  Schwäche  noch  Kraft  vorhanden  ist,  die  aber  gefesselt 
oder  infolge  von  Ungeschicklichkeit  und  Mangel  an  Einsicht 
falsch  gerichtet  ist.  Vollkommene  Schwäche  ist  ein  unkorrigier- 
barer, und,  wie  La  Rochefoucauld  meint,  der  einzige  unkorrigier- 
bare Fehler  einer  Natur.  Wie  zahlreich  sind  die  Fälle,  wo  kranke 
Individuen  mit  Wucht  und  Heftigkeit  auf  die  Selbstzerstörung 
ausgehen  oder  andere  Objekte  zur  Vernichtung  sich  aussuchen! 
Sie  sind  wie  ein  Brand.  Sollte  es  nicht  möglich  sein,  ihn  ein- 
zudämmen und  ins  Wohltätige  zu  wenden,  ihn  dauernder  und 
erwärmend  zu  machen?  Es  ist  selten  ein  nutzbringendes  Er- 
eignis, wenn  Häuser  oder  Feuerwerke  abbrennen.  Wie  viel 
Gutes  ließe  sich  mit  der  dabei  verpuffenden  Kraft  und  vernichteten 
Arbeit  erreichen!  Ferner  sind  Fälle  früher  erwähnt  worden, 
wo  die  Lähmung  nur  teilweise  ist,  wo  die  vorhandene  Kraft  ver- 
zettelt wird,  blind  und  unstet  wirkt.  Bei  ihnen  allen  müßte 
wenigstens  der  Versuch  gemacht  werden,  das  gesund  Gebliebene 
hervorzukehren  und  zur  Herrschaft  zu  bringen,  das  Kranke 
zurückzudrängen  und  unschädlich  zu  machen. 

Das  Heilmittel  ist  die  Aneignung  der  soldatischen  Tugenden, 
der  Straffheit  und  der  Unterordnung.  Daß  es  ein  gefährliches 
und  schwer  einnehmbares  ist,  gebe  ich  zu.  Aber  wo  es  sich  um 
alles  handelt,  muß  man  alles  wagen;  man  darf  vor  entscheidenden 


183 


Erster  Teil. 

Maßregeln  nicht  zurückschrecken  und  nicht  erwarten,  daß  große 
Wirkungen  von  kleinen  angenehmen  Mittelchen  ausgehen.  Ge- 
rade die  Willenskranken  hassen  bekanntlich  den  soldatischen 
Geist,  ähnlich  wie  Kinder  ihren  Arzt,  der  ihnen  wehe  tut  und 
bittere  Arznei  gibt.  Die  Bitterkeit  ist  aber  kein  Beweis  gegen  die 
Nützlichkeit  und  Vortrefflichkeit.  Und  wenn  man  einwendet, 
daß  der  soldatische,  man  kann  auch  sagen  der  preußische  Geist 
seine  schädlichen  Wirkungen  offen  zeigt,  in  gewissen  viel  be- 
sprochenen Zeiterscheinungen,  so  kann  ich  auch  das  nicht  als 
einen  Beweis  gegen  seinen  medizinischen  Wert  gelten  lassen. 
Gifte  fordern  Gegengifte.  Übrigens  wird  von  den  giftigen  Be- 
standteilen des  Geistes  der  Straffheit  und  Unterordnung  noch 
zu  reden  sein.  Ich  fürchte,  man  verwechselt  ihn  mit  anderen 
Geistern,  die  nichts  mit  ihm  zu  tun  haben,  wenn  sie  sich  auch 
oft  in  seine  Nähe  drängen,  nämlich  den  Geistern  der  Unbildung 
und  Unfreiheit. 

Was  ist  Straffheit?  Wie  lernt  sie  der  haltungs-  und  zuchtlose 
Rekrut?  Indem  seine  ganze  Aufmerksamkeit  auf  die  einfachsten 
Verrichtungen  gelenkt  wird,  die  er  bewußt  und  nach  einem 
System  auszuführen,  einzuüben  hat.  Auf  diese  Weise  eignet  er  als 
eine  Kunst  sich  das  an,  was  er  bis  dahin  naturalistisch  prinziplos 
getan  hat.  Er  lernt  gehen  und  stehen,  sprechen  und  schweigen 
usw.,  bringt  dies  alles  in  feste  Formen,  die  er,  ich  wiederhole, 
mit  Bewußtheit  annimmt  und  als  ein  Pensum  lernt  und  me- 
moriert. Nichts  darf  er  tun,  wann  und  wie  er  möchte,  nichts 
wie  es  bequem  wäre,  wie  es  ein  Impuls  ihn  heißt;  die  Impulse 
werden  ignoriert  und  methodisch  unterdrückt.  Strebungen  ver- 
schiedener Art,  die  zu  gleicher  Zeit  sich  bemerklich  machen 
und  unklare,  unsichere,  halbe  oder  gar  keine  Handlungen  er- 
zeugen, werden  auf  keinen  Fall  geduldet.  Immer  nur  eins  wird 
getan  und  das  restlos  und  ganz.  Ebenso  soll  der  Willenskranke 
sein  Durcheinander,  seine  Augenblicksimpulse,  sein  Zuviel  und 
Zuwenig  zügeln,  indem  er  bestimmte  einfache  Aufgaben  sich 
stellt  und  sie  vollkommen  erfüllt.  Er  soll  sich  beschränken  und 
durch  Beschränkung  eine  Basis  zu  gewinnen  suchen,  die  so  klein 
und  unscheinbar  als  möglich  sein  mag,  wenn  sie  nur  fest  und 
unverrückbar  ist.     Vielleicht  muß  er  eine  Zeitlang  ganz  wenig 

184 


Krankheiten  des  Willens. 


handeln,  ja  überhaupt  auf  das  Handeln  verzichten,  um  seinen 
zu  stark  angegriffenen  Fonds  von  Kraft  wiederherzustellen;  er 
muß  den  überspannten  Bogen  abspannen,  um  ihn  neue  Elastizität 
gewinnen  zu  lassen.  Ebenso  muß  er  sich  vor  einer  Überfülle 
von  Eindrücken  hüten,  nur  wenige  aufnehmen,  aber  diese  ganz. 
Es  dürfen  nur  so  viele  sein,  als  er  verarbeiten  kann.  Mangel 
an  Tatkraft  rührt  in  zahllosen  Fällen  daher,  daß  zuviel  geistige 
Nahrung  assimiliert  werden  soll,  während  die  Verdauungskraft 
doch  nur  eine  beschränkte  und  bei  vielen  Willenskranken  noch 
besonders  geringe  ist.  Immer  muß  darauf  geachtet  werden,  daß 
man  fertig  wird  und  nicht  den  kleinsten  Rest  zurückläßt.  So 
wird  man  die  geschwächte  oder  erstorbene  Produktivität  allmäh- 
lich wieder  entwickeln,  immer  vorausgesetzt,  daß  noch  gesun- 
dende, nachwachsende  Kräfte  da  sind.  Die  Hauptsache  bleibt 
durchaus  die  Regelung  und  die  Stetigkeit,  Es  dürfen  nicht 
mehrere  Dinge  auf  einmal  vorgenommen  und  halb  getan  beiseite 
gelegt  werden.  Eins  muß  auf  das  andere  folgen  und  auf  jede 
kleinste  Aufgabe  der  ganze  Wille  konzentriert  werden.  Dies 
alles  ist  nur  durch  Strenge  und  Härte  gegen  sich  erreichbar, 
ebenso  wie  beim  Soldaten.  Mit  Bitten  und  Entschuldigungen, 
mit  Nachgiebigkeit  und  Güte  wird  man  niemanden  zur  Straffheit 
erziehen,  am  wenigsten  sich  selber.  Es  darf  nirgends  ein  Schlupf- 
winkel für  den  schlaffen  Willen  bleiben,  es  darf  auch  keine  For- 
derung durch  Belohnung  versüßt,  kein  Zusammennehmen  durch 
die  Aussicht  auf  desto  freieres  Sichgehenlassen  erkauft  werden. 
Das  wären  alles  nur  Mittel,  geringe  Leistungen  auf  ein  immer 
geringeres  Maß  zurückzuschrauben.  Man  hört  so  oft  von  der 
Selbstzucht;  aber  wenn  man  einmal  mit  den  Konsequenzen 
Ernst  macht,  die  dieser  Begriff  in  sich  schließt,  so  schreit  alle  Welt 
über  Mord  und  Unterdrückung.  Es  gibt  gewiß  viele,  die  nicht 
nötig  haben,  streng  gegen  sich  zu  sein,  weil  ihre  Natur  von  selber 
alles  Verlangte  hergiUt,  aber  von  denen  ist  hier  nicht  die  Rede; 
und  ebenso  gibt  es  solche,  die  durch  Strenge  nur  schwächer  und 
kränker  werden,  so  daß  Selbstzucht  für  sie  in  der  Tat  dem  Selbst- 
mord gleichkommt,  aber  von  diesen  Unheilbaren  ist  hier  auch 
nicht  die  Rede. 

Eine  Vorbedingung  der  Selbstzucht  ist  die  Selbsterkenntnis, 


Horneffer,  Das  klassische  Ideal. 


185 


Erster  Teil. 

diese  alte,  schwere,  oft  unerreichbar  genannte  Forderung.  Wer 
sich  formen  und  führen  will,  muß  sich  kennen,  damit  er  die  Rich- 
tung nicht  verfehlt  und  sein  Streben  nicht  auf  etwas  ihm  Ver- 
sagtes lenkt.  Erinnern  wir  uns  an  das,  was  früher  über  den  In- 
stinkt gesagt  wurde.  Wo  der  grundlegende  erhaltende  Instinkt 
nicht  normal  arbeitet  und  Richtung  und  Grad  der  Lebensäuße- 
rungen nicht  regelt,  übernehmen  die  Vernunft  und  einzelne  intakt 
gebliebene  Triebe  die  Leitung,  bringen  aber  den  Menschen  in 
der  Regel  in  allerhand  Konflikte  oder  richten  ihn  auch  zugrunde, 
da  sie  dieser  Aufgabe  selten  gewachsen  und  nicht  eigentlich  für 
sie  geschaffen  sind.  Ich  nannte  das  instinktive  Handeln  gesund, 
das  bewußte  krank  und  dilettantisch.  Die  Aufgabe  wäre,  den 
Instinkt  wiederherzustellen,  zu  stärken  oder  ganz  neu  zu  schaf- 
fen. Falls  man  sich  überhaupt  an  sie  heranwagt  und  etwas  so 
Großes  nicht  von  vornherein  als  unmöglich  ablehnt,  wird  man 
sich  aber  entschließen  müssen,  zunächst  die  bewußte  Erkenntnis 
zu  entwickeln  und  auszubilden.  Denn  sie  ist  die  notwendige 
Helferin  und  Vermittlerin,  sie  allein  belehrt  über  Wesen,  Grenzen, 
Stärken  der  Natur,  sie  beantwortet  die  Fragen,  die  den  Instinkt- 
kranken quälen,  ihn  unentschlossen  und  untüchtig  machen: 
wer  bin  ich?  wohin  strebe  ich?  wohin  darf  ich  streben?  warum 
stößt  mich  das  Leben  zurück  und  läßt  keine  Früchte  für  mich 
reifen  ?  Die  instinktsichere  Natur  stellt  solche  Fragen  nicht; 
sie  versteht  dieselben  gar  nicht.  Denn  alle  Erkenntnis  (prak- 
tische wie  theoretische)  kommt  nur  dadurch  zustande,  daß  der 
Mensch  Widerstand  findet,  daß  ihm  Dinge  entgegentreten  oder 
entgegenstehen,  auf  die  er  durch  Abweisung  oder  Aufnahme 
reagiert.  So  richtet  sich  die  Erkenntnis  des  natürlichen  Men- 
schen lediglich  nach  außen,  niemals  auf  sich  selbst.  Er  weiß 
über  alles  besser  und  eher  Bescheid  als  über  seine  eigne  Natur, 
weil  sie  ihm  nicht  in  den  Weg  kommt;  er  entdeckt  sie  gar  nicht. 
Erst  der  Instinktkranke  wendet  seinen  Blick  auf  sich  selbst  und 
stellt  als  erste  und  wichtigste  Aufgabe  des  Erkennenden  die 
Selbsterkenntnis  hin.  Mit  vollem  Recht  tut  er  dies.  Man  denke 
etwa  an  den  Verlauf  der  griechischen  Philosophie.  Mit  Sokrates 
erst  tritt  die  Psychologie  (allgemein  verstanden)  und  ihr  oberster 
Satz:   erkenne  dich  selbst,   in  den   Mittelpunkt.     Die  Früheren 

i86 


Krankheiten  des  Willens. 


wußten  wenig  von  solchen  Betrachtungen  und  hätten  die  Philo- 
sophie ihrer  Nachkommen  ebenso  uninteressant  wie  zwecklos 
gefunden;  ebenfalls  mit  Recht.  Denn  der  Gesunde  braucht  die 
Selbstbeobachtung  und  Selbstbeurteilung  nicht,  er  braucht  nur 
die  Erkenntnis  der  äußeren  Objekte,  die  er  sich  Untertan  machen 
will  oder  mit  denen  er  sich  einzurichten  hat.  Er  tut  und  will 
nur,  was  mit  Notwendigkeit  aus  seiner  Natur  fließt,  d.  h.  immer 
das  Rechte;  er  strebt  daher  nie  erfolglos,  ist  nie  unklar  über  sich 
selbst  und  kommt  nie  in  seelische  Konflikte.  Wo  sie  sich  zeigen, 
tritt  jedesmal  auch  das  psychologische  Problem:  wer  bin  ich? 
auf.  Der  Wille  verliert  seine  Unmittelbarkeit  und  leider  in  den 
meisten  Fällen  dadurch  seine  Kraft.  Der  Weg  sie  zu  erhalten 
oder,  wenn  sie  gesunken,  wiederherzustellen,  führt  aber,  wie 
gesagt,  unweigerlich  durch  die  höchste  und  vollkommenste  Selbst- 
erkenntnis hindurch.  Augenschließen  und  wildes  Draufgehen, 
unmethodisches  Probieren  und  Herumirren  bringt  niemanden  um 
die  Klippe  herum:  er  zerstört  sich  oder  macht  sich  wenigstens 
untüchtig.  Also  —  dahin  geht  meine  Meinung  —  von  der  Selbst- 
beurteilung aus,  die  durch  Erfahrungen  und  Schlüsse  gewonnen 
wird  und  natürlich  allgemeine  Erkenntnis  einschließt,  muß  das 
Leben  geregelt  und  die  Natur  organisiert  werden.  Die  Tätig- 
keiten, die  der  Instinkt  leiten  sollte,  muß  die  bewußte  Überlegung 
leiten,  muß  sie  aber  durch  Übung,  d.  h.  lange  fortgesetzte  gleich- 
mäßige Ausführung,  allmählich  zu  instinktiven  Tätigkeiten 
machen,  entweder  so,  daß  sie  geschwächte  Instinkte  stärkt  und 
belebt  (so  wie  die  Atmungstätigkeit  des  Ertrunkenen  wieder- 
belebt wird),  oder  so,  daß  sie  neue  Instinkte  züchtet.  Das  dauert 
lange,  falls  es  überhaupt  gelingt,  und  erfordert  unerbittliche 
Strenge  gegen  sich.  Zunächst  wird  es  ein  künstliches  Handeln 
sein  und  den  Menschen  so  unglücklich  und  verzweifelt  machen 
wie  den  Rekruten  die  neue  Gangart  oder  den  Klavierschüler 
die  unbequeme  Fingerhaltung.  Aber  allmählich  werden  Sicher- 
heit und  Natürlichkeit  hineinkommen;  sie  werden  um  so  größer 
werden,  je  entbehrlicher  die  Mitwirkung  der  Überlegung  wird, 
je  selbstverständlicher  das  Handeln  sich  vollzieht,  je  mehr  es 
unter  der  Schwelle  des  Bewußtseins  bleibt.  —  Diese  Kur  übrigens 
ist  doch  wohl  nichts  anderes  als  eine  Wiederholung  der  gesamten 


187 


Erster  Teil. 

Kulturentwicklung.  Alle  höheren  (nicht  primitiven,  nicht  tieri- 
schen) Instinkte  sind  den  Menschen  auf  die  Weise  angezüchtet 
worden,  daß  bestimmte  Handlungen  und  Unterlassungen  bewußt 
und  methodisch  eingeprägt  wurden.  Jedes  Kind  lernt  auf  diesem 
Wege  Sitte,  Anstand  usw. 

Wir  kommen  zur  zweiten  Tugend,  der  Unterordnung.  Sie 
ist  noch  unbeliebter  als  die  Straffheit,  aber  deren  untrennbare 
Gefährtin.  Zunächst  darf  man  nicht  nur  an  Personen  denken, 
denen  sich  unterzuordnen  ich  für  heilbringend  halte;  man  kann 
auch  Ideen  und  Sachen  dienen.  Und  die  Personen  brauchen 
nicht  fremde  zu  sein;  wer  sich  selber  zu  beherrschen  imstande 
ist,  hat  nicht  nötig,  den  Gehorsam  gegen  andere  zu  lernen, 
wenigstens  nicht  als  Kur  für  einen  entarteten  Willen.  Um  ver- 
ständlich zu  machen,  weshalb  ich  der  Unterordnung  eine  so 
große  Bedeutung  zuerkenne,  scheint  eine  kurze  prinzipielle  Er- 
örterung unentbehrlich.  Ich  lege  derselben  aber  keinen  philo- 
sophischen Wert  bei;  sie  soll   nur  unsere  Frage  klären  helfen. 

Es  lassen  sich  zwei  Lebensanschauungen  unterscheiden,  die 
liberalistische  und  die  absolutistische,  um  kurze  Ausdrücke  zu 
wählen,  die  hoffentlich  nicht  mißverstanden  werden.  Beide  sind 
berechtigt  und  gehen  auf  Grundrichtungen  der  menschlichen 
Natur  zurück.  Die  erstere  hat  die  sogenannte  Freiheit  als  Zen- 
tralbegriff und  bezeichnet  die  Selbständigkeit,  Selbstrichtgebung 
und  Selbstgesetzgebung  jedes  Individuums  als  höchstes  Ziel. 
Wie  weit  es  erreichbar  ist,  lasse  ich  dahingestellt.  Die  besten 
Exemplare  dieses  Typus  sind  jene  tüchtigen,  ihren  Kreis  aus- 
füllenden Demokraten,  die  auf  ihrer  Scholle  sitzen,  niemandem 
Untertan  sind  und  niemanden  sich  Untertan  machen,  Wohlwollen 
und  Gefälligkeit  zeigen  und  überall  da  vortrefflich  und  nach- 
ahmenswert sind,  wo  keine  großen  Aufgaben  zu  erfüllen,  keine 
weitschauenden  Unternehmungen  zu  beginnen  oder  zu  bedenken 
sind.  Die  notwendige  Eigenschaft  eines  solchen  autonomen 
Individuums  ist  nämlich  der  kurze  Blick  und  die  geringe  Kraft. 
Ihr  Wollen  und  ihr  Können  ist  eng,  es  erschöpft  sich  in  den  nächst- 
liegenden Zwecken.  Ihnen  fehlt  Verständnis  und  also  auch 
Sympathie  für  den  entgegengesetzten  Typus,  der  seine  Selb- 
ständigkeit bis  zu  einem  hohen  Grade  aufgibt  und  großen,  weit 

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Krankheiten  des  Willens. 


über  sein  Ich  und  dessen  Erfüllung  hinausgehenden  Aufgaben 
dient.  Der  Liberalist  verachtet  den  Begriff  Gehorsam  und  denkt 
sich  unter  einem  Gehorchenden  einen  Sklaven.  Er  sieht  nicht, 
daß  ein  solcher  unter  Umständen  nicht  nur  für  den  Gesamthaus- 
halt der  Kultur  wertvoller  sein,  sondern  auch  an  sich,  als  Cha- 
rakter und  Begabung,  höher  stehen  kann  als  der  für  sich  Bleibende, 
der  großen  Dingen  mit  behaglicher  Faulheit  und  billigem  Spott 
zusieht,  falls  er  nicht  mit  allen  Mitteln,  die  ein  kleinliches  Dasein 
zu  lehren  pflegt,  sich  gegen  Forderungen  und  Bestrebungen 
wehrt,  die  über  seinen  Horizont  und  gegen  sein  Behagen  gehen. 
Es  ist  ein  kleiner  Typus  Mensch,  manchmal  gesund  und  schätz- 
bar, oft  aber  auch  krank  und  einer  Kur  dringend  bedürftig. 
Seine  Lebensanschauung  wird  nicht  nur  im  praktischen,  nament- 
lich politischen  Leben  mitunter  gefährlich,  sondern  bringt  auch 
in  der  Kunst,  Wissenschaft  und  Philosophie  bisweilen  Unheil. 
Die  Kleinstaaterei  des  Geistes,  wo  jeder  sein  bißchen  Feld  mit 
eignen  Mitteln  und  Künsten  beackern  und  seine  kleinen  Ein- 
künfte für  sich  verzehren  will,  ist  kulturfeindlich  im  höchsten 
Maße.  Der  kleine  Mann  (der  große,  wenn  er  gesund  ist,  wird  es 
nie  tun)  soll  sich  nicht  zu  gut  dünken,  ein  Glied  in  der  Kette, 
eine  Hilfskraft  zu  sein;  er  soll  sein  Königreich  von  drei  Fuß 
Breite  zum  Ganzen  werfen  und  sich  in  Reih  und  Glied  stellen. 
Das  Dienen  und  das  Herrschen,  diese  beiden  vergessenen  oder  ge- 
haßten Dinge,  haben  den  größten  Anteil,  das  eigentliche  Ver- 
dienst an  allen  Resultaten  menschlicher  Kultur.  Beide  ergänzen 
einander  notwendig  und  finden  sich,  wie  ich  sie  verstehe,  stets 
bei  einem  und  demselben  Individuum.  Die  Unterordnung  ist 
die  Eigenschaft  dessen,  der  instinktiv  oder  durch  Überlegung 
einsieht,  daß  es  Ziele  gibt,  die  er  als  einzelner  nicht  erfüllen, 
sondern  nur  als  Mithandelnder  und  Mitwirkender  fördern  kann, 
und  der  solchen  Zielen  sich  mit  seiner  besten  Kraft  darbietet. 
Es  ist  keine  Rede  davon,  daß  er  seine  Individualität  einbüßt. 
Durch  seine  Einzigkeit  wird  er  wertvoll.  Bei  Kulturzielen,  von 
denen  wir  reden,  ist  keine  Uniformierung  zu  fürchten,  denn  es 
handelt  sich  darum,  verschiedenartige,  aber  aufeinander  bezogene 
und  voneinander  abhängige  Glieder  eines  Kunstwerkes  zu  schaffen. 
Die  Fähigkeit  ist  gerade  die,  sich  als  Dienender  nicht  aufzugeben. 


189 


Erster  Teil. 

sondern  sich  auszuleben.  Der  Willenskranke  und  auch  der  Sklave 
hat  diese  Fähigkeit  nicht.  Er  verliert  alles,  Mut,  Kraft,  Selb- 
ständigkeit, wenn  er  sich  beugen  und  etwas  über  sich  dulden 
muß,  dem  er  doch  auf  keine  Weise  entgehen,  noch  es  besiegen 
und  beherrschen  kann.  Er  verliert  auch  seine  Würde  und  be- 
greift nicht,  daß  sich  der  empfindlichste  Stolz  aufs  beste  damit 
verträgt,  daß  man  gehorcht,  einfach,  ohne  Widerrede,  ohne 
Kritik  (wenigstens  praktische,  in  Ungehorsam  sich  äußernde), 
und  ohne  eine  Milderung  des  Befehls  durch  Entschuldigung  oder 
Bitte  zu  verlangen.  So  gehorcht  der  Soldat  dem  Vorgesetzten  und 
ist  doch  gewiß  entfernt  von  knechtischer  Gesinnung.  Die  Haupt- 
sache dabei  ist  das  Sehen  auf  die  Sache,  auf  das  Ziel,  nicht  auf 
sich  selbst,  sein  Belieben  und  Behagen.  Es  ist  Opferung  und 
doch  keine  Aufopferung.  Denn  die  Meinung  geht  nicht  dahin, 
daß  Aufgaben  ergriffen  werden  sollen,  denen  man  nicht  kon- 
form und  nicht  gewachsen  ist,  denen  man  alles  geben  würde, 
ohne  es  zurückzuerhalten.  Wer  sich  unter  falsche  oder  zu  hohe 
Aufgaben  stellt,  büßt  sich  ein,  und  beweist  schon  damit  seine 
Unfähigkeit  zur  Autonomie  und  vermutlich  auch  seine  Unfähig- 
keit zum  Herrschen  überhaupt.  Diese  Tugend  ist  aufs  engste 
mit  der  des  Dienens  verwandt.  Der  Begriff  der  Verantwortung 
ist  das  Bindeglied  zwischen  beiden;  man  kann  ihn  auch  als  Begriff 
der  Pflicht  bezeichnen.  Wer  nicht  einstehen  will  und  nicht  einstehen 
kann  für  sich  sowohl  als  Befehlenden  wie  als  Gehorchenden, 
dürfte  in  beiden  Tugenden  Stümper  sein  und  wird  ihre  Ent- 
artungsformen aufweisen.  Dieselben  heißen  Tyrannei  und 
Sklaverei.  Sie  ergänzen  sich  ebenso  notwendig  und  pflegen  aus 
sich  jenen  merkwürdig  unklaren  und  fast  nichtssagenden  Begriff 
zu  erzeugen,  den  man  fälschlich  Freiheit  nennt.  Ihn  zu  analy- 
sieren würde  hier  zu  weit  führen.  Uns  interessiert  nur  dies,  daß 
Freiheit  von  hemmenden  oder  schädigenden  Gewalten,  oder 
sagen  wir  besser  Unabhängigkeit  von  ihnen,  auf  jeden  Fall  zu 
erstreben  ist,  mögen  diese  Gewalten  nun  außer  uns  oder  in  uns 
sich  befinden;  daß  trotzdem  aber  für  jeden  Menschen  Abhängig- 
keitsverhältnisse bestehen  bleiben.  Sie  sind  eine  natürliche  Not- 
wendigkeit, der  er  sich  weder  durch  Lässigkeit  noch  durch  Aus- 
schweifung, noch  sonst  auf  eine  Weise  entziehen  kann.   Vielleicht 

190 


Krankheiten  des  Willens. 


befinden  sich  der  Herrschende  und  der  Dienende  in  ihm  selber; 
aber  für  wie  viele  gilt  denn  das?  Und  unter  den  Wenigen,  für 
die  es  gilt,  müssen  die  meisten  noch  die  Kunst  sich  selber  zu 
dienen  dadurch  lernen,  daß  sie  anderen  dienen;  und  sie  alle  sind 
nur  in  einer  Hinsicht  autonom,  in  anderen  treten  auch  sie  als 
Gehorchende  in  eine  Gemeinschaft  und  empfangen  Direktiven 
von  außen.  Der  Autonome  wird  sich  strenger  regieren  als  es 
ein  anderer  täte  und  könnte.  Ist  er  nicht  streng,  so  rückt,  ohne 
daß  er  es  merkt,  ein  anderer  Herr  in  die  Stelle  des  herrschenden 
Willens  ein,  ein  Laster  vielleicht  oder  auch  etwas  von  außen  Kom- 
mendes. Die  sogenannten  Freien  unterscheiden  sich  nur  da- 
durch von  den  Dienenden,  daß  unsichtbare  und  meist  unwürdige 
Dinge  sie  beherrschen. 

Daß  die  Künste  des  Herrschens  und  Dienens  heute  in  weiten 
Kreisen  verloren  gegangen  sind,  muß  jeder  zugeben.  Ich  zweifle 
nicht,  daß  die  Willenserkrankung  aufs  engste  damit  zusammen- 
hängt, und  meine,  da  große  Aufgaben  unser  warten,  große 
Aufgaben  in  jedem  Sinne  und  nach  jeder  Richtung  hin,  so  ist 
die  Gesundung  des  Willens  und  das  Neulernen  jener  Künste  nur 
ein  Problem.  Gelingt  das  eine  nicht,  so  muß  man  auch  auf  das 
andere  verzichten.  Um  die  Verwirklichung  unserer  Zukunfts- 
hoffnungen sieht  es  dann  traurig  aus.  Man  höre  auf  mit  dem 
liberalen  Gerede  und  dem  unfruchtbaren  Widerstand  gegen  das 
soldatische  System.  Zwei  Anschuldigungen  sind  es,  die  man 
immer  wieder  gegen  dasselbe  vorbringt.  Entweder  kämpft  man 
gegen  seine  entarteten  Formen,  deren  Vorhandensein  gerade 
beweist,  daß  viele  Zeitgenossen  es  nicht  verstehen  und  Stümper 
im  Befehlen  und  Gehorchen  sind.  Man  weiß  eben  nicht,  um  was 
es  sich  handelt.  Druck  von  oben  und  knechtische  Gesinnung 
von  unten,  Almosen  und  Gnade  spenden  und  empfangen,  das 
sind  nicht  Zeichen,  daß  der  Geist  der  Unterordnung  demorali- 
sierend wirkt,  sondern  daß  man  einen  unmoralischen  Gebrauch 
von  ihm  macht.  Zweitens  wendet  man  sich  gegen  üble  Neben- 
wirkungen, die  in  der  Tat  bestehen  aber  nichts  gegen  die  Sache 
im  ganzen  beweisen.  Jede  harte,  durchgreifende  Maßregel,  die 
ins  Große  wirken  soll,  wird  im  einzelnen  Ungerechtigkeiten 
und  andere  Übelstände  ergeben.    Der  Schnitter  mäht  die  Blumen 


191 


Erster  Teil. 

mit  hinweg,  die  im  Korn  und  am  Wegrand  stehen.  Außerdem 
wird  nicht  immer  die  Vorsicht  beobachtet,  die  bei  Anwendung 
der  DiszipHn  auf  andere  menschhche  Verhältnisse,  gesellschaft- 
liche, wissenschaftliche,  künstlerische  nötig  ist.  Da  entstehen 
dann  Unzuträglichkeiten,  die  zu  beseitigen  man  sich  angelegen 
sein  lassen  muß,  die  aber  ebenfalls  nicht  dem  soldatischen  Geist  als 
solchen  angerechnet  werden  dürfen.  Hierhin  gehört  unter  an- 
derem die  Erstarrung,  entspringend  aus  dem  Verkennen  gewisser 
künstlerischer  Erfordernisse,  die  für  die  Kultur  von  ausschlag- 
gebender Bedeutung  sind.  Feste  Linien  nämlich  sind  zwar  gut 
und  nötig,  erhalten  aber  ihren  Wert  erst  dadurch,  daß  sie  in 
Gegensatz  zu  gebrochenen  treten.  Symmetrie  verlangt  Un- 
gleichartigkeit,  Ähnlichkeiten  verlangen  Kontraste;  sonst  kommt 
kein  großes  Leben  zustande.  So  braucht  der  soldatische  Geist 
Gegenwirkungen.  Es  ist  aber  ein  großer  Irrtum,  wenn  kranke 
Elemente  sich  berechtigt  und  berufen  glauben,  diese  Gegen- 
wirkungen zu  repräsentieren.  Vielmehr  sind  dazu  nur  die  Ge- 
sundesten geeignet,  die  so  viel  Festigkeit  haben,  daß  erst  ein  Nach- 
lassen, eine  Neigung  zur  Gesetzlosigkeit  sie  stark  und  schön 
macht.  Das  Streben  nach  Entfesselung,  nach  Krümmungen 
und  Brechungen  (nach  dem  Barocken,  kann  man  sagen) ,  das 
die  Willenskranken  haben,  hat  nicht  den  geringsten  künstlerischen 
und  Kulturwert.  Für  sie  gibt  es  keinen  anderen  Weg,  sich 
gesund  und  wertvoll  zu  machen,  als  ihr  Rückgrat  zu  stärken, 
ihre  entlaufenen  Pferde  in  ihre  Gewalt  zu  bekommen  oder,  was 
weniger  schwer  und  mühsam  ist,  in  eine  fremde  Gewalt  zu  geben. 
Man  unterscheide  ja  zwischen  solchen,  die  den  soldatischen 
Geist  nicht  lieben,  weil  sie  zu  viel  von  ihm  in  sich  haben  und 
um  sich  sehen,  und  solchen,  die  zu  wenig  von  ihm  haben  und 
ihn  fürchten.  Letztere,  die  uns  ja  hier  allein  beschäftigen,  haben 
kein  Recht,  ihn  als  entbehrlich  oder  schädlich  in  Verruf  zu  brin- 
gen. Man  mache  eine  Schule  durch,  ehe  man  sie  schilt.  Nicht 
selten  treten  übrigens  im  ersten  Jünglingsalter  verwandte  Nei- 
gungen und  Krankheitserscheinungen  auf.  Willensschwäche 
mit  ihren  verschiedenen  Symptomen  und  Instinktunsicherheit 
sind  in  der  Pubertätszeit  auch  bei  sonst  Gesunden  häufig.  Das- 
selbe gilt  vom  weiblichen  Geschlecht.     Deshalb  ist  eine  Schule 

192 


Krankheiten  des  Willens. 


des  Gehorsams,  des  Zurückstehens  hinter  anderen,  der  Beschrän- 
kung und  Festigung  für  dies  Alter  besonders  nötig.  Man  pflegt 
aber  das  Gegenteil  zu  tun,  den  einen  in  die  goldene  Freiheit  zu 
schicken,  die  andere  irre  zu  leiten  oder  ohne  Pflege  zu  lassen. 
Vielleicht  wird  man  besser  verstehen,  was  ich  meine,  und  mir 
eher  Recht  geben,  wenn  ich  ein  Beispiel  anführe.  In  der  Päda- 
gogik —  und  wir  haben  es  mit  einem  pädagogischen  Problem 
größten  Stils  zu  tun  —  ist  das  Vorbild  die  Hauptsache.  Goethe, 
auf  den  ich  auch  jetzt  wieder  kommen  muß,  hat  durch  sein  Leben 
den  Geist  der  Straffheit  und  der  Unterordnung  besser  erklärt 
und  gerechtfertigt,  als  es  eine  Deduktion  tun  könnte.  Ich  er- 
wähnte, daß  seine  Natur  zum  Übermaß,  zur  Dezentralisation, 
zur  Instinktunsicherheit  neigte;  man  sehe  nur  die  Helden  seiner 
bedeutendsten  Dichtungen  an  (Werther,  Weisungen,  Egmont, 
Orest,  Tasso,  Wilhelm  Meister,  Eduard).  Aber  wie  nahm  er 
sich  in  Zucht!  Wie  entwickelte  er  aus  sich  heraus  die  an  sich 
haltende,  kraftvoll  gespannte  Mannheit!  Er  suchte  und  rief 
noch  als  Greis  nach  Charakteren,  die  der  deutschen  Literatur 
nötiger  täten  als  geistvolle  und  zügellose  Romantiker  und  Anti- 
romantiker.  Er  sammelte  sich  von  einer  uferlosen  Jünglings- 
freiheit, indem  er  sich  in  eine  sehr  kleine,  sehr  enge  Gemeinschaft 
hineinstellte  und  sein  Leben  lang  in  ihr  verharrte.  Er  betonte 
durch  seine  Praxis  geflissentlich,  daß  er  als  großer  Mann  nicht 
Anspruch  darauf  mache,  außerhalb  bürgerlicher  und  menschlicher 
Pflichten  zu  stehen.  Er  wußte  beides  auf  vollkommene  Weise 
zu  vereinigen,  ich  meine  vom  Gesichtspunkte  der  ,, Freiheit"  aus 
zu  vereinigen  (leider  hat  er  uns  verschwiegen  oder  nur  kurz  an- 
gedeutet, wie  er  Napoleons  Erstaunen  hierüber  beantwortet  hat); 
und  er  wollte  als  Beamter  und  Hofmann  nichts  weiter  sein  als 
Beamter  und  Hofmann.  Freilich  haben  ihm  viele  dies  nicht  ver- 
ziehen. Noch  heute  hört  man  von  Goethes  sogenannter  Servi- 
lität  erzählen.  Ich  bin  aber  der  Meinung,  wer  diese  ,,Servilität" 
nicht  aus  Goethes  großer  stolzer  Natur  heraus  versteht  und  be- 
wundert, versteht  seine  Natur  überhaupt  nicht  und  wird  deren 
sämtliche  Äußerungen  mißdeuten.  Dafür  gibt  es  denn  auch 
Beispiele  genug.  Man  hilft  sich  gegenüber  den  großen  Männern, 
die  nicht  so  sind,  wie  man  sie  haben  möchte,  auf  zweierlei  Weise. 


193 


Erster  Teil. 

Entweder  hält  man  sich  an  einzelne  „sympathische  Züge"  und 
wünscht  die  anderen  hinweg,  oder  man  fälscht  die  Persönlichkeit 
und  setzt  ein  erdichtetes  Bild  an  ihre  Stelle.  Der  wichtigste 
Anspruch,  den  man  macht,  ist  die  erwähnte  Freiheit.  Man 
denkt  sich  (auch  wo  man  es  leugnen  möchte!)  einen  großen 
Mann  als  einen  Riesen  mit  gewaltiger  Stimme,  der  vor  nichts 
Respekt  hat  und  allen  Formen,  künstlerischen  wie  anderen,  ins 
Gesicht  schlägt.  Es  schwillt  dem  Freien  das  Herz,  wenn  er  hört, 
daß  jemand  etwa  einen  Fürsten  unhöflich  behandelt  oder  Rück- 
sichten gegen  andere  Dinge  vernachlässigt  hat,  die  nicht  durch 
die  Faust,  sondern  etwas  Feineres  geschützt  werden.  Darin  regt 
sich  der  Barbarenhaß  gegen  die  Kultur,  gegen  Bändigung  durch 
Sitte  in  irgendeinem  Sinne,  und  der  Krankenhaß  gegen  die  Selbst- 
beherrschung, gegen  das  freiwillige  Verzichtleisten  auf  univer- 
sale Revolution.  Dergleichen  hat  man  auch  in  Goethe  hinein- 
interpretiert, so  unmöglich  dies  scheint.  Denn  Goethe  war 
schlechterdings  kein  Revolutionär,  höchstens  in  dem  selteneren 
Sinne,  den  das  Wort  Jesu  bezeichnet:  ich  bin  nicht  gekommen, 
das  Gesetz  aufzulösen,  sondern  zu  erfüllen.  Auf  ähnliche 
Weise  ist  Bismarcks  Persönlichkeit  gefälscht  worden.  Man 
hat  einen  groben  Polterer,  einen  ungeberdigen  Kraftmenschen 
aus  ihm  gemacht,  während  er  ein  feiner  Edelmann  mit  tadellos 
höfischen  Formen  war,  ein  Mann,  der  seine  Natur  unbedingt 
im  Zaume  hielt  (trotz  gelegentlicher  Ausbrüche)  und  in  seinem 
ganzen  Wesen,  in  jeder  Handlung  und  Äußerung,  die  wir  von 
ihm  kennen,  die  Anschauung  zur  Geltung  brachte,  daß  feste 
Konvention,  daß  Straffheit  und  Unterordnung  das  Erdreich  sei, 
in  dem  allein  wahre  Kraft  und  Größe  gedeihen  könne. 

Vielleicht  ist  Bismarcks  Persönlichkeit  noch  geeigneter,  unsere 
Zeit  über  diesen  Punkt  aufzuklären,  als  die  Persönlichkeit 
Goethes.  Denn  als  der  letztere  lebte  und  strebte,  waren  die  Formen 
der  Willenserkrankung  andere  als  heute;  darum  mußte  auch 
die  Kur  eine  etwas  andere  sein.  Der  Haupttypus  war  Werther. 
Wie  fern  liegt  uns  dessen  Krankheit!  Wer  unter  uns  geht  an 
Melancholie,  Selbstpeinigung  und  süßer  Schwärmerei  zugrunde? 
Wir  sind  realer  und  viel  weniger  nach  innen  gerichtet  (weshalb 
das  Streben  nach  Selbsterkenntnis  damals  eine  Gefahr  war,  heute 

194 


Krankheiten  des  Willens. 


eine  Hilfe  ist);  hätten  wir  heute  einen  Roman,  der  Goethes 
Werther  an  Treffsicherheit  gleich  käme,  so  wäre  die  Verschieden- 
heit jedem  deutlich.  Man  kommt  ungefähr  auf  das  Rechte, 
wenn  man  die  gemeinsamen  Züge  der  modernen  dichterischen 
Gestalten  zusammennimmt.  Wir  haben  seit  Goethe  eingesehen 
(was  dieser  als  einzelner  empfand),  daß  die  ethische  Grundlage 
für  eine  Kultur  alles  ist.  Fehlt  sie,  so  fehlt  es  auch  in  der  Kunst 
am  Besten.  Wir  müssen  tiefer  anfangen,  fester  gründen,  damit 
etwas  wird,  das  der  nächste  Windstoß  nicht  umwirft.  Sehen  wir 
uns  aber  nach  einer  solchen  festigenden,  ins  Große  wirkenden 
Macht  um,  so  finden  wir  nur  die  soldatische  Disziplin.  Ich 
wenigstens  sehe  außer  ihr  kein  kulturschaffendes  Prinzip  großen 
Stils,  das  heute  lebendig  und  v/irkend  wäre.  Insofern  diese  Dis- 
ziplin von  Preußen  ausgeht  und  dargestellt  wird,  ist  es  eine  Kultur- 
macht, mögen  auch  die  Wirkungen  auf  die  Kultur  noch  nicht 
sichtbar  sein,  mögen  sogar  kulturfeindliche  Strömungen  zeit- 
weilig die  Oberhand  gewinnen;  das  sind  vorübergehende  Er- 
scheinungen. Der  preußische  Offizier  und  Unteroffizier  sind 
Kulturträger,  wenn  auch  die  klugen  Leute,  die  die  deutsche 
Kultur  zu  repräsentieren  glauben,  widersprechen  und  lachen. 
Bismarck  ist  wohl  das  schönste  Erzeugnis  des  preußischen  Geistes. 
Auch  er  scheint  mit  der  Kultur  nichts  gemein  zu  haben,  da  er 
weder  viel  Bücher  las  noch  sonst  ein  besonderes  Interesse  für 
Kunst  und  Wissenschaft  bekundete.  Aber  was  tut  das!  Seine 
Persönlichkeit  und  jede  ihrer  Äußerungen  zeigt  Kultur;  das 
ist  mehr.  Vor  allem:  Bismarck  besaß  als  Handelnder  Sicherheit 
und  Ganzheit.  Er  war  Herr  seiner  selbst,  im  höchsten  Sinne 
verstanden.  Keineswegs  handelte  er  mit  der  unbewußten  Naivität 
eines  Naturkindes.  Er  war  nicht  einfach.  In  ihm  wogte  eine 
Menge  starker  widersprechender  Triebe  und  zwischen  ihnen 
stand  eine  hochentwickelte  gefährliche  Art  von  Intelligenz; 
Bismarck  war  seines  Zeichens  Diplomat,  also  ein  Mann,  der 
Fallen  stellt  und  meidet,  Worte  wägt  und  dreht.  Aber  stärker 
als  dies  alles  war  sein  Wille,  der  imstande  war,  eine  solche  Natur 
zu  vereinfachen  und  zu  großen  Entschließungen  zu  sammeln. 
Der  Wille  machte  sich  den  ganzen  Menschen  dienstbar,  brachte 
ihn  in  eine  Richtung  und  gewann  dadurch  die  unwiderstehliche 


195 


Erster  Teil. 

Gewalt,  die  wir  bewundern.  Immer  waren  es  beschränkte  Auf- 
gaben, die  er  so  angriff  und  durchführte,  niemals  solche,  die 
über  sein  Vermögen  hinausgingen.  Er  war  kein  Mensch  der 
großen  Entwürfe,  dachte  nie  daran  alle  Werte  umzuwerten  oder 
Europa  zu  einigen,  sondern  hielt  sich  an  reale  Aufgaben,  die  er 
vollkommen  beherrschte.  So  füllte  er  den  Kreis  seines  Könnens 
ganz  aus  und  wird  dadurch  groß.  Der  rechnende  Kritiker,  der 
den  Umfang  klein  findet,  ist  hier  so  wenig  maßgebend  wie  vor 
manchen  Kunstwerken,  deren  Größe  unbeträchtlich,  aber  deren 
Verhältnisse  vollkommen  sind.  Das  Auge  des  Betrachters  sieht 
sie  groß  und  hat  recht  damit. 

Wie  sehr  Bismarck  über  sich  selber  stand,  zeigt  die  Mäßigung, 
die  er  überall  zu  bewahren  wußte.  Die  Berauschung  an  Taten, 
jene  alte  Germanenlust,  war  ihm  fremd.  Sofort,  wenn  die  Tat 
da  war,  trat  der  kühle  Staatsmann  wieder  hervor,  urteilte  und 
wog  ab,  schnitt  weg  und  rückte  zurecht,  mit  einer  Nüchternheit, 
als  ob  es  um  fremde  Taten  sich  handle  und  nicht  um  solche,  die 
aus  mächtigem  Ringen  seiner  Natur  geboren  waren.  Er  war 
Herr  seiner  Taten,  Herr  seiner  selbst  und  verstand  eben  darum 
auch  die  Künste  des  Befehlens  und  Gehorchens.  Das  ist  der 
zweite  Punkt.  Bismarck  diente  einem  Herrn,  den  er  in  allem 
übersah,  und  fühlte  sich  dadurch  nicht  im  mindesten  erniedrigt. 
Er  fügte  sich  in  die  Rolle  des  Untergebenen,  er  trat  als  Glied  in 
einen  komplizierten  Mechanismus,  der  zahlreichen  Einflüssen 
ausgesetzt  war,  und  arbeitete  mit  der  redlichen  Beharrlichkeit 
eines  preußischen  Beamten.  Wie  drückend  ihm  diese  Last  mitunter 
wurde,  welche  Kämpfe  sein  Wille  auch  hier  zu  bestehen  hatte, 
dafür  sind  Beweise  genug  bekannt.  Aber  immer  war  der  Soldat 
in  ihm  stärker  als  der  freie  Mann,  der  faul  zur  Seite  stehen  und 
dem  Getriebe  aus  sicherer  Ferne  zuschauen  will.  Und  erst  recht 
nicht  gewann  der  Tyrann  in  ihm  die  Oberhand,  der  Ordnungen 
umstürzen  und  seine  Willkür  zum  Herren  machen  will.  Bis- 
marck war  durch  Natur  und  Selbsterziehung  Herrscher  und  hat 
mit  dieser  Eigenschaft,  wie  sich  denken  läßt,  am  meisten  Anstoß 
erregt.  Wahrhaft  kläglich  ist  die  Komödie,  die  er  sein  Leben 
lang  mit  all  den  Elementen  zu  spielen  hatte,  die  nicht  fühlten, 
was  ihm  und  was  ihnen  gebührte.     Leute,  die  entweder  unbe- 

196 


Krankheiten  des  Willens. 


helligt  bleiben  oder  mitregieren  oder  beraten,  d.  h.  aus  Taten  ein 
Hin-  und  Herzerren  von  Phrasen  machen  wollen,  fand  er  auf 
jedem  seiner  Wege.  Sie  haßten  ihn  und  mußten  ihn  als  ihren 
natürlichen  Feind  hassen;  sie  betrügen  sich  über  ihn  oder  über 
sich  selbst,  wenn  sie  es  nicht  tun.  Bismarck  hat  sich  gemüht 
und  gequält,  wenigstens  verständlich  zu  machen,  um  was  es  sich 
hier  handle;  aber  gelungen  ist  es  ihm  nicht.  Die  Wogen  des 
Dilettantismus  schlugen  wieder  zusammen,  nachdem  er  sich  einen 
Weg   durch  sie  gebahnt  hatte. 

Bismarck  ist  ein  Mann  großen  Stils.  Daß  Nietzsche  dies  nicht 
sah,  ist  schade.  Ihm  lagen  die  in  diesem  Aufsatz  besprochenen 
Dinge  sehr  am  Herzen;  man  kann  fast  alles,  was  ich  vorgebracht 
habe,  bei  Nietzsche  angedeutet  finden.  Aber  es  hat  vielleicht  seine 
guten  Gründe,  daß  er  hier  blind  war  und  blind  sein  wollte.  Diese 
lebendige  Erfüllung  seines  Strebens  und  vernichtende  Kritik 
seines  Erreichens  zu  verkennen,  war  wohl  eine  Lebensfrage  für 
ihn.  Mir  liegt  es  fern,  Nietzsche  und  andere  große  Entwerfende 
heutiger  und  früherer  Zeit  herabsetzen  zu  wollen.  Entwürfe^ 
auch  wenn  sie  Entwürfe  bleiben,  können  ungeheuer  fruchtbar 
werden,  und  die  Persönlichkeiten  selber  können  durch  ihre 
Schwächen  ebenso  lehrreich  werden  wie  durch  ihre  Stärken. 
Aber  sie  sind  keine  Vorbilder  für  ein  willenskrankes  Zeitalter. 
Die  Willenskranken  suchen  sich  aus  ihnen  nur  das  Schädliche 
heraus,  denken  nicht  an  die  Hingabe  solcher  Männer,  die  sich 
ganz  einsetzten,  nicht  an  andere  große  Tugenden,  sondern  an 
das,  was  bei  jenen  krank  ist,  wie  bei  ihnen.  Deshalb  muß  man 
sie  an  Bismarck  verweisen  als  den  einzigen,  der  unter  den  Halben, 
den  Mißlungenen,  den  Unterliegenden  unserer  Epoche  als  ein 
Heiler  und  ein  Sieger  dasteht.  Wir  wollen  ihn  der  Entartung 
als  Schild  entgegenhalten. 


197 


ZWEITER  TEIL. 


I. 


DER  STIL  DES  LEBENS. 


Im  Leben  der  Völker  gibt  es  Zeiten,  wo  in  emsiger  Arbeit  auf  eine 
ferne  Zukunft  hin  gespart  wird.  Fort  und  fort  wird  ge- 
sammelt, Steinchen  auf  Steinchen  wird  aufgeschichtet.  Ohne 
bewußtes  Ziel  werden  alle  Kräfte  aufgeboten.  Es  ist,  als  ob 
diese  Geschlechter  gar  nicht  für  sich  lebten,  als  ob  sie  in  gänz- 
licher Selbstvergessenheit  nur  zu  Nutzen  unbekannter  Enkel 
schüfen.  Dann  aber  kommt  plötzlich  eine  Zeit,  wo  der  Ertrag 
all  dieser  Mühen  geerntet  wird,  wo  der  Mensch  sich  auf  einmal 
auf  einer  Höhe  sieht,  die  seinem  Herzen  einen  lauten  Ruf  des 
Dankes  und  Jubels  entlockt.  Es  ist  alles  über  Nacht  reif  geworden. 
Das  Auge  sieht  nur  vollkommene  Dinge.  Des  Erdenlebens 
letztes  Ziel,  des  Menschen  höchstes  Sehnen  scheint  erreicht  zu 
sein.  Zum  Augenblicke  spricht  der  Mensch  und  darf  es  sprechen: 
verweile  doch,  du  bist  so  schön!  —  Wenn  dann  der  Mensch  sich 
von  dem  ersten  Staunen  erholt  hat,  der  Anblick  der  eigenen 
Werke  ihm  vertraut  geworden  ist,  kommt  eine  dritte  und  letzte 
Zeit,  da  er  die  errungenen  Schätze  voll  ausnützt.  Jahrhunderte- 
lang zehrt  er  von  den  Schöpfungen  weniger  Stunden.  In  alten, 
festen  Geleisen  bewegt  sich  die  Menschheit  sicher  und  ihrem  Ziel 
vertrauend  fort,  ohne  je  von  ihrem  Wege  abzuirren.     Sie  schafft 

Horneffer,  Das  klassische  Ideal.       201  ^3 


Zweiter  Teil. 

nichts  mehr,  sie  macht  keine  Eroberungs-  und  Entdeckungs- 
fahrten. Sie  glaubt  ehrfürchtig  an  geerbte  Werte.  EndUch  aber 
schlägt  die  Stunde,  da  der  Mensch  der  alten  Güter  müde  wird, 
da  eine  heimliche  Sehnsucht  nach  neuen  Wundern  ihn  ergreift. 
Und  nun  beginnt  das  Spiel  von  neuem.  Wieder  wird  gestrebt, 
gesucht,  gesammelt,  bis  der  schöne  Tag  der  Reife  kommt  und 
Früchte  niederwirft,   die  fernen  Zeiten  wieder  Nahrung  geben. 

In  den  allerseltensten  Fällen  erreicht  der  Mensch  die  Voll- 
endung seines  ganzen  Wesens,  den  höchsten  Ausdruck  seiner 
Natur  nach  allen  Seiten  hin  zugleich.  Meist  kann  er  immer 
nur  einen  Teil  seines  Wesens  zur  Blüte  bringen  und  in  die  reinsten 
Formen  kleiden,  während  ein  anderer  Zug  seiner  Natur  brach 
liegt  und  zu  gelegener  Zeit  der  Auferstehung  harrt.  Heute 
lechzt  unsere  Seele  nach  neuen  geistigen  Taten.  Nach  langer 
Verwahrlosung  und  Armut  will  der  Geist  wieder  ein  Fest  feiern. 
Eine  neue  Bildung,  wie  ich  die  Einheit  aller  geistigen  Schöp- 
fungen nennen  möchte,  will  ihren  Einzug  halten  und  über  die 
Geister  Macht  gewinnen.  In  den  feinsten  Seelen  dämmert  die 
Vorahnung  eines  neuen,  noch  unbekannten  Glücks. 

Daß  aber  die  neue  Bildung,  die  wir  erstreben,  stark  und 
dauerhaft  sei,  daß  sie  etwas  wahrhaft  Vollkommenes  sei,  das 
lange  nachklingt,  daß  sie  nicht  wieder  nach  kurzer  Blüte  ge- 
brochen am  Boden  liege,  wie  es  so  oft  geschehen  ist,  dazu  ist 
nötig,  daß  sie  tiefe  Wurzeln  schlage.  Wir  erleben  fast  jährlich 
das  Schauspiel,  daß  die  geistige  Bewegung  Auffassungen,  Rich- 
tungen, Stile  hervortreibt,  die  alsbald  nach  kurzer  Geltung  wieder 
verschwinden.  Mit  der  größten  Begeisterung  wurden  sie  bei 
ihrer  Geburt  begrüßt.  Nun  endlich,  glaubte  man,  sei  das  lang 
ersehnte  Ziel  erreicht,  der  wahre  Ton  des  Herzens  sei  getroffen. 
Nun  endlich  könne  man  in  festem  Vertrauen  auf  die  gefundene 
Form,  an  der  sicheren  Hand  des  neuen  Stils,  Wertvolles  und 
Bleibendes  schaffen.  Aber  schon  wendet  sich  der  Blick  wieder 
enttäuscht  hinweg.  Wie  immer  war  die  neue  Form  nur  ein 
flüchtiger  Einfall,  ohne  Kraft  und  Wahrheit.  Das  Ganze  war 
nicht  aus  der  Tiefe  aufgestiegen,  das  Gewächs  war  wurzellos 
und  so  liegt  alles  nach  kurzem  Scheinleben  welk  danieder. 
So  wechseln  heute  in  rascher  Folge  Stile  auf  Stile.     Der  Stil 

202 


Der  Stil  des  Lebens. 


aber,  das  allgemeine  Gesetz,  welches  den,  der  sich  ihm  unterwirft, 
nicht  knechtet,  sondern  adelt,  ist  nicht  gefunden.  Es  bleibt  die 
Unruhe,  der  Wechsel,  das  Chaos.  Ein  Chaos  aber  kann  niemals 
lange  dauern,  entweder  es  muß  einen  „tanzenden  Stern'*  ge- 
bären, oder  ihm  folgen  die  Auflösung,  die  Wüste,  das  Nichts. 
Die  Kurzlebigkeit  aller  geistigen  Bildungen  übrigens,  der 
ununterbrochene  Wechsel  der  Stile,  worunter  die  Gegenwart 
leidet,  ist  nicht  erst  eine  Erscheinung  von  gestern  und  heute. 
Wenn  man  in  die  Tiefe  blickt,  so  erkennt  man  diese  Tatsache 
als  das  Grundübel  der  gesamten  europäischen  Bildung  seit  An- 
fang der  Neuzeit.  Die  Geschichte  der  geistigen  Kultur  Europas 
seit  den  Tagen  der  Renaissance  bietet  das  Bild  einer  sich  immer 
wiederholenden  Tragödie.  Zunächst  die  Renaissance  selbst. 
Die  Renaissance  war  eine  der  glänzendsten  Zeiten  der  Mensch- 
heitsgeschichte, die  unvergeßlich  in  der  Erinnerung  der  Mensch- 
heit fortleben  wird,  an  der  sich  noch  viele  zukünftige  Geschlechter, 
wenn  sie  der  Verzweiflung  anheim  zu  fallen  fürchten,  aufrichten 
werden.  Und  doch,  wie  furchtbar  war  gerade  das  Schicksal 
der  Renaissance,  dieser  stolzesten  Epoche  der  europäischen  Ge- 
schichte, seit  sie  unter  dem  Zeichen  des  Christentums  steht! 
Alles  war  auf  einmal  entschwunden,  versunken.  Der  ganze 
leuchtende  Frühling  fortgeweht.  Welch  wunderbares  Keimen 
und  Schwellen  war  es  gewesen,  und  nicht  nur  auf  einem 
Felde,  sondern  auf  fast  allen  Gebieten,  auf  denen  sich  der  Mensch 
betätigt.  Das  alles  lag  so  bald  und  so  erbarmungslos  geknickt 
am  Boden.  Die  Renaissance  ist  eine  der  schönsten,  aber  sicher 
auch  eine  der  wehmütigsten  Erinnerungen  der  Menschheit. 
Ein  großer  Anfang  und  viel  verheißendes  Versprechen  fand  keine 
Erfüllung,  sondern  ein  jähes  Ende.  —  Etwas  später  reifte  in 
England  die  dramatische  Poesie  Shakespeares.  Shakespeare  ist 
gewiß  einer  der  größten  Namen  in  der  geistigen  Geschichte  des 
neuern  Europa.  Und  wieder,  kein  lebendiger  Strom  ging  von 
diesem  gewaltigsten  Dichter  aus.  Keine  Überlieferung  baute 
sich  auf  ihm  auf.  Und  doch  war  auch  Shakespeare  ein  Anfang, 
der  hätte  zeugen  müssen.  Seine  Dichtung  war  wie  geschaffen 
zu  einem  weiteren  Ausbau,  der  seine  wilde  Kraft  zur  reinen 
Gestaltung  hätte  führen  müssen.     Aber  so  schroff  und  gänzlich 


203  13' 


Zweiter  Teil. 

brach  die  Entwicklung  ab,  daß  die  Dichtung  Shakespeares  fast 
Gefahr  lief,   überhaupt  vergessen   zu  werden.  —  Die  herrliche 
Kunstblüte    Hollands   war    gleichfalls    nur    von    kurzer    Dauer. 
Sie  entband  keinen  allgemeinen  und  großen  Kunststil,  der  über 
viele  Geschlechter    Macht  gewonnen  hätte.     Diese   Kunst  kam 
und  starb;  eine  sehr  viel  spätere  Zeit  hatte  die  Aufgabe,  dereinst 
wieder  völlig  von  vorne  anzufangen.  —  Kurz  war  auch  die  geistige 
Blüte  Frankreichs.     Hier  bildet  die  Revolution  den  gewaltsamen 
Schnitt,  der  die  alte,  klassische  und  die  neue  Zeit  aufs  schroffste 
trennt,  obschon  die  französische  Literatur  wohl  noch  die  einheit- 
lichste Schöpfung  ist,  die  der  europäische  Geist  aufzuweisen  hat. 
Dafür  aber  ist  sie  auch  national  sehr  bedingt  und  vermag  sich 
nicht  mit  der  nötigen  Kraft  ins  Allgemein-m.enschliche  hinauf- 
zuschwingen. —  Und  nun  gar  erst  unsere  klassische  Dichtung! 
Mit   unnennbarer    Liebe,    aber    auch    mit   unnennbarer    Trauer 
denken  wir  an  die  Tage  von  Weimar.     Wie  plötzlich  war  nach 
Goethes  Tode  der  Strom  der  deutschen  Dichtung  wieder  versiegt! 
Das    große    Versprechen,    das    Deutschland    mit    der    Dichtung 
Goethes  und  Schillers  gegeben  hatte,  hat  es  nicht  gehalten.    Wie 
ein  bitterer  Vorwurf  stehen  Goethe  und  Schiller  vor  uns.     Sie 
klagen  uns  mit  ihren  Gesängen  an,  daß  wir  ihr  Lied  nicht  weiter 
gesungen,   daß  wir  ihr  so  stolz  begonnenes  Werk  treulos  ver- 
lassen und  verraten  haben.     Je  schöner  ihr  Lied,  desto  schwerer 
für  uns  der  Vorwurf.    Denn  wohlverstanden:  diese  Männer  waren 
nicht  des  Glaubens,  daß  sie  die  Vollender  der  deutschen  Dichtung 
seien,  sondern  daß  sie  die  erste  Grundlage  für  die  deutsche  Bil- 
dung schüfen.    Goethe  war  Zeit  seines  Lebens  ein  großer  Sucher; 
er  wollte  den  Stil  für  die  deutsche  Dichtung  erst  finden.     Er 
war  weit  entfernt  zu  glauben,  daß  er  ihn  schon  in  allem  gefunden 
hätte.     Er  war  sich  des  Ungeheuren  der  Aufgabe  wohl  bewußt. 
Mit  vorwurfsvollem  Erstaunen  würden  Goethe  wie  Schiller  die 
Meinung  des  schon  zu  langen  Epigonenzeitalters  hören,  daß  sie 
schon   alles   erreicht   hätten,    daß   alles  Wünschenswerte   durch 
sie  für  die  deutsche  Bildung  schon  geschehen  sei.     Diese  hoff- 
nungslose   Müdigkeit,  dieser  schmähliche  Stillstand  wäre  ihnen 
unbegreiflich. 

So  zeigt  die  europäische  Bildung  schon  seit  Jahrhunderten 

204 


Der  Stil  des  Lebens. 


ein  fortwährendes  Auf  und  Nieder.  Gewaltig  und  staunenswert 
sind  die  Kräfte,  die  der  europäische  Geist  entfaltet.  In  immer 
neuem  Anlauf  erstrebt  er  ein  hohes  Ziel.  Und  wirklich  gelingt 
es  ihm  auch,  einzelne  Höhen  zu  erklimmen,  oft  steile  Gipfel 
zu  ersteigen.  Aber  immer  wieder  muß  er  sie  nach  kurzer  Zeit 
verlassen  und  zurück  in  die  Tiefe  sinken.  Er  erobert  kein  Hoch- 
land. Nicht  geht  eine  schöpferische  Zeit  aus  der  anderen  hervor, 
wird  nicht  von  der  anderen  getragen,  deren  Strom  sie  aufnimmt 
und  weiterleitet.  Der  geistigen  Bildung  des  neueren  Europa  fehlt 
der  einheitliche,  große  Zug,  das  sichere,  stetige  Wachstum.  Sie 
ist  ein  wildes  Gebären,  das  in  gärender  Unruhe  Schöpfung  auf 
Schöpfung  hervortreibt,  ohne  daß  ihr  die  letzte,  höchste  Schöp- 
fung, nach  der  ihre  ganze  Sehnsucht  begehrt,  gelingt.  Deshalb 
droht  auch  Gefahr,  daß  die  geistigen  Kräfte  Europas  nach  und 
nach  erlahmen,  daß  bei  diesem  überreizten  Schöpfungsdrange, 
der  immer  wieder  bis  auf  die  letzten  Quellen  zurückgeht,  schließ- 
lich der  Schöpfungswille  verzweifelnd  erlischt.  Je  näher  dem 
Mittelalter,  desto  kräftiger,  größer  und  reicher  sind  die  geistigen 
Blüten;  je  näher  der  Gegenwart,  desto  schwächer  und  flüchtiger 
werden  sie.  Die  allgemeine  Krankheit  Europas  kommt  immer 
stärker  zum  Ausdruck  und  Ausbruch.  Die  Gegenwart  ist  in  fast 
fieberhafter  Erregung,  wo  eine  Form  immer  die  andere  jagt. 
Alle  konstruktive  Kraft  scheint  erstorben  zu  sein.  Dadurch 
freilich,  daß  das  Leiden  diesen  schlimmen  Grad  erreicht  hat,  ist 
es  auch  möglich  geworden,  daß  man  es  jetzt  erkennt.  Ohne 
Zweifel,  Europa  ist  krank,   im  tiefsten  krank. 

Darum:  v/ollen  wir  noch  einmal  mit  Aufbietung  aller  Kraft 
eine  geistige  Bildung  schaffen,  wollen  wir  noch  einmal  den  kühnen 
Flug  in  die  Höhe  wagen,  so  müssen  wir  zuerst  dieser  Krankheit 
Europas  nachspüren  und  ihre  Heilung  versuchen.  Wir  müssen 
unserer  Bildung  erst  den  gesunden  und  kräftigen  Boden  bereiten, 
den  sie  zum  Gedeihen  notwendig  hat  und  jetzt  entbehrt.  Wir 
müssen  sie  stark  verankern,  daß  sie  nicht  wieder  als  flüchtige 
Augenblicksschöpfung  vom  Meere  der  Vergessenheit  verschlungen 
wird;  sondern  was  wir  bauen,  soll  dastehen  als  ewiges,  uner- 
schütterliches Denkmal  unseres  tiefsten  Wesens.  In  unsere 
Werke  soll  sich   unsere  ganze   Seele  ergießen,   die  von  keinen 


205 


Zweiter  Teil. 

Leiden  entstellt  wird,  sondern  wie  eine  edle  Flamme  klar  und 
lauter  zum  Himmel  lodert.  Nach  langen  vergeblichen  Mühen 
muß  endlich  Europa  sich  selber  finden,  muß  es  ein  entscheidendes 
Wort  sprechen,  das  aller  Unruhe  und  allem  Chaos  ein  Ziel  setzt 
und  für  einen  monumentalen  Geist  den  festen  Grund  legt. 

Wenn  wir  die  Ursache  des  krankhaften  Zustandes  Europas 
erraten  wollen,  müssen  wir  die  europäische  Bildung  der  letzten 
Jahrhunderte  mit  dem  Mittelalter  und  der  griechischen  Bildung 
vergleichen.  Wie  ganz  anders  nehmen  sich  diese  Zeiten  aus! 
Hier  herrscht  nicht  ein  wilder  Taumel  der  Gegensätze  wie  in  der 
heutigen  Kultur;  hier  wogt  die  geistige  Welle  nicht  immer  in 
sinn-  und  zweckloser  Unruhe  auf  und  nieder,  gleichsam  wie 
nur  zum  Spiele,  nur  zum  Verbrauch  der  Kräfte.  Sondern  hier 
fügt  sich  sicher  Quader  auf  Quader  zu  einem  hehren,  unvergäng- 
lichen Bau,  der  aus  einem  Geiste  geboren  ist,  der  so  sinnvoll 
und  planmäßig  dasteht,  daß  er  nicht  wie  eine  künstliche  Men- 
schenschöpfung, sondern  wie  ein  unmittelbares  Werk  der  Natur, 
nicht  als  gemacht,  sondern  als  gewachsen  erscheint.  Eine  wunder- 
bare Kraft  liegt  in  diesen  alten  Kulturen.  Das  Mittelalter  mag 
uns  in  seiner  großen  Eintönigkeit  bei  unserem  Bedürfnis  nach 
Individualisierung  des  Seelenlebens  trotz  aller  Bewunderung,  die 
wir  ihm  zollen,  fremd  und  unzugänglich  bleiben.  Im  Griechen- 
tum aber  treffen  wir  jede  nur  denkbare  Freiheit  an.  Und  doch, 
wie  ist  das  Ganze  bei  aller  reichen  Mannigfaltigkeit  von  einem 
Geiste  durchweht,  von  einem  Grundton  getragen!  Hier  ge- 
schieht nichts  vergeblich.  Ein  einheitlicher  Sinn  belebt  das 
Ganze.  Eine  Tat  nimmt  immer  die  andere  auf  und  führt  sie  fort. 
Alles  webt  sich  zu  einem  wunderbaren  Akkord  zusammen,  der 
geheimnisvoll  über  alle  schrillen  Dissonanzen  hinweg,  die  er 
enthält,  doch  einen  schönen,  reinen  Ton  gibt.  Die  ganze  Kultur 
hat  Stil.  Wie  peinlich  wirkt  dieser  Einheit,  Sicherheit  gegenüber, 
die  unweigerlich  ihr  Ziel  erreicht,  die  verzweiflungsvolle,  nutz- 
lose Hast  der  neuen  Kultur,  die  immer  wieder  zurücksinkend 
und  wieder  beginnend  nie  zum  Ziele  kommt.  Nicht  als  ob  es 
dem  modernen  Europa  an  Kraft  gebräche.  Im  Gegenteil.  Dies 
gerade  ist  das  Tragische,  daß  die  ungeheuren  geistigen  Kräfte 
Europas  —  wie  es  scheint,  recht  im  Gegensatze  zu  den  auf  das 

206 


Der  Stil  des  Lebens. 


praktische  Leben  gerichteten  Bestrebungen  —  nicht  zur  Gestal- 
tung kommen  können,  daß  sie  sich  nicht  in  sichernden  Formen 
bändigen  lassen,  sondern  sich  in  überreiztem  und  planlosem 
Schaffen  verzehren. 

Woher  dieser  Unterschied  zwischen  Einst  und  Jetzt?  Worin 
liegt  das  Geheimnis  der  Stärke  der  alten  Bildungen  und  die 
Schwäche  der  neuen  Bildung?  Die  alten  Kulturen  ruhten  auf 
einem  starken  und  sicheren  religiösen  Untergrunde. 
Die  Menschen  von  damals  als  Menschen  hatten  Stil.  Sie 
standen  fest  und  unerschüttert  auf  starken  Füßen.  Ausgesprochen 
oder  unausgesprochen  gab  ihnen  ein  felsenfester  Glaube  Halt, 
der  sie  nie  verließ,  der  all  ihr  Sein  und  Tun  durchdrang.  Kein 
bohrender  Zweifel  hatte  den  Grund  ihrer  Seele  unterwühlt.  Herz- 
haft und  ohne  Bedenken  hatten  sie  eine  bestimmte  Art  des  Seins 
ergriffen,  der  sie  sich  ganz  überließen,  der  sie  sich  ganz  über- 
lieferten, ohne  jeden  Rückhalt,  mit  der  ganzen  Kraft  ihres 
Wesens.  Die  Menschen  hatten  Charakter.  Und  nur  der  Cha- 
rakter ist  schön,  nur  der  Charakter  schafft  etwas  Schönes.  Die 
geistige  Bildung,  die  Dichtung  und  die  Künste  können  nur  Stil 
haben,  wenn  das  Leben  als  solches  Stil  hat.  Die  Menschen  als 
sittliche  Wesen  müssen  gebildet  sein,  sie  müssen  einen  sittlichen 
Charakter  haben,  der  eindeutig  und  unverkennbar  ist.  Wer 
ein  reiner  und  klarer  Mensch  ist,  gebiert  auch  reine  und  klare 
Werke. 

Ich  sage,  das  Leben  soll  Stil  haben.  Was  bedeutet  Stil?  Stil 
heißt  die  Tatsache,  daß  eine  Mannigfaltigkeit  sich  unter  einen 
Gesichtspunkt  ordnet,  daß  sehr  vielfache  und  verschiedene 
Elemente  von  einem  Gedanken  oder  auch  von  einem  Ge- 
fühle durchdrungen  und  beherrscht  werden.  E  i  n  Sinn  muß 
seine  bindende  Macht  auf  alle  an  sich  zusammenhangslosen 
Teile  eines  Ganzen  ausstrahlen,  so  daß  alle  Einzelheiten  auf  e  i  n 
Ziel  gerichtet  sind,  einem  gemeinsamen  Zwecke  dienen.  Die 
Einheit  im  Vielfachen,  das  unsichtbare  Band,  das  die  Einstellung 
auf  einen  Zielpunkt  um  einen  Kreis  vieler  getrennter  Dinge 
schlingt,  das  ist  Stil.  Auf  dieser  Einheit  trotz  des  Reichtums, 
auf  dieser  Unterwerfung  vieler  Einzelheiten  unter  einen  höchsten 
Sinn,   den   sie   gemeinsam   verwirklichen   sollen,   auf  dieser   Ge- 


207 


Zv/eiter  Teil. 

meinsamkeit  des  Zweckes  und  Zieles,  die  eine  bunte  Fülle  vieler 
Besonderheiten  in  der  Idee  zusammenfaßt,  beruht  die  Ordnung, 
die  Harmonie,  die  allen  Werken,  die  Stil  haben,  innewohnt. 
Auf  dieser  Vereinigung  und  Richtung  vieler  einzelner  Kräfte 
auf  ein  großes  und  letztes  Ziel  hin,  beruht  auch  der  eigentümliche 
Eindruck  der  Stärke  und  Kraft,  den  jedes  Gebilde  von  Stil  er- 
weckt. Tausend  Worte  sprechen  einen  Gedanken  aus,  tausend 
Bilder  lösen  e  i  n  Gefühl  aus,  befreien  eine  Stimmung.  Keine 
Kraft  wird  verzettelt.  Alles  drängt  unerbittlich,  ohne  Seiten- 
blicke, mit  vollem  Nachdruck,  auf  ein  höchstes  Etwas  zu,  das 
als  oberster  Zweck  über  dem  Ganzen  schwebt.  Das  Ganze  bietet 
das  Bild  der  gesättigten,  gedrängten  Kraft. 

Wann  hat  nun  das  Leben  Stil?  Wie  bekommt  es  Stil?  Nicht 
anders  als  jede  andere  Schöpfung.  Das  Leben  des  Menschen 
erhält  Stil,  wenn  es  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  und  Stärke 
auf  einen  tiefsten  Punkt  bezogen  wird,  wenn  ein  herrschender 
Gedanke  das  ganze  Leben  durchzieht,  durchflutet,  mit  sich  reißt,  so 
daß  es  unaufhaltsam  und  unablenkbar  in  einer  Richtung  dahin- 
strömt.  Soll  das  Leben  Stil  haben,  so  muß  ein  höchster  Sinn 
über  dem  Leben  walten.  Jede  kleinste  Regung,  jede  Heiterkeit 
und  jeder  Ernst,  jedes  Verlangen  und  jeder  Abscheu,  jedes  Ruhn 
und  jedes  Tun  muß  sich  diesem  höchsten  Sinne  einfügen,  muß 
zu  diesem  allgemeinen  und  umfassenden  Ziele  hindrängen.  Der 
Mensch  als  Mensch  hat  Stil,  wenn  er  Religion  hat.  Die 
Religion  ist  das  Allgemeinste  des  seelischen  Lebens,  der  tiefste 
Kern  des  menschlichen  Geistes,  die  Sonne,  um  die  all  unser  Emp- 
finden und  Handeln  kreist.  Die  Religion  stellt  sich  dem  Leben 
in  seiner  ganzen  Erscheinung  gegenüber,  faßt  das  ganze  Leben 
unter  einem  Bilde  und  sucht  eine  tiefste  Deutung  dieses  Bildes. 
Sie  enthüllt  den  geheimnisvollen  und  letzten  Untergrund  des 
gesamten  Daseins.  Und  weil  sie  den  Ursprung  und  die  tiefste 
Quelle  des  Lebens  aufdeckt,  so  weiß  sie  auch  dessen  höchste 
Aufgabe  und  obersten  Wert.  Sie  gibt  dem  Leben  das  letzte  Ziel. 
Sie  richtet  einen  höchsten  Zweck  über  dem  Leben  auf  und  ver- 
leiht damit  allem  Begehren  und  allem  Handeln  die  feste  Richtung. 
So  schafft  sie  dem  Leben  die  Einheit;  die  Einheit  aber  wieder 
verleiht  dem  Leben  den  Stil  und  die  Kraft. 

208 


Der  Stil  des  Lebens. 


Die  Sittlichkeit  des  Menschen  nämHch  ist  gänzHch  von  seiner 
Religion  abhängig.  Ohne  Religion,  ohne  Verankerung  in  einer 
religiösen  Betrachtung  der  Welt  ist  Sittlichkeit  überhaupt  nicht 
denkbar.  Nur  wenn  das  wahre  Wesen  des  Seins  enthüllt  ist,  wenn  ein 
höchster  Sinn  des  Lebens  begriffen  ist,  können,  auf  diesen  letzten 
Sinn  und  Zweck  des  Lebens  sich  stützend,  Normen  für  das 
Handeln  aufgestellt  werden.  Ohne  solche  metaphysische  Be- 
gründung, die  das  menschliche  Leben  mit  seinem  letzten  Zweck 
in  den  allgemeinen  Weltzweck  einordnet,  schwebt  die  Sittlichkeit 
in  der  Luft.  Jeder  Versuch,  eine  ,, reine"  Sittlichkeit  auszu- 
bilden, die  solcher  metaphysischen  Stütze  entbehrt,  muß  scheitern; 
wo  man  aber  das  Ziel  erreicht  glaubt,  beruht  dies  auf  Einbildung, 
indem  unbewußt  und  uneingestanden  metaphysische  Auffas- 
sungen den  sittlichen  Normen,  die  man  fordert,  zugrunde  liegen. 
So  gibt  allein  die  Religion,  indem  sie  das  Leben  unter  einem  ein- 
zigen höchsten  Zwecke  begreift  und  im  Hinblick  auf  diesen  einen 
Zweck  und  Sinn  alle  Gesetze  des  Lebens  bestimmt,  dem  Leben 
den  sicheren  Halt,  die  kraftvolle  Ordnung.  Sie  allein  baut 
das  Leben,  gibt  ihm  den  einheitlichen  sinnvollen  Zug,  die  klare 
Gestalt.  Um  so  mehr  aber  wirkt  die  Religion  dies,  als  sie  kein 
kaltes  Wissen  bleibt,  nicht  eine  tote  Erkenntnis  des  letzten  Welt- 
grundes und  der  Bedeutung  und  Aufgabe  des  Menschen  ist,  son- 
dern eine  lebendige  Überzeugung,  die  den  ganzen  Willen  durch- 
dringt und  fortreißt.  Sie  zündet  in  der  Seele  des  Menschen  ein 
Feuer  an,  daß  er  mit  aller  Leidenschaft  das  vorgezeichnete  Ideal 
ergreift.  Auf  diese  Weise  gestaltet  allein  die  Religion  den  Men- 
schen. Sie  allein  schafft  organisierte  Menschen.  Men- 
schen ohne  Religion,  ohne  religiösen  Schwerpunkt,  ohne  den 
beherrschenden  Sinn,  den  allein  die  Religion  in  ihr  Leben  legt, 
sind  notwendig  flatterhafte,  zerstreute  Gebilde,  die  nie  imstande 
sind,  ihre  Kräfte  zusammenzufassen,  sondern  bald  hierhin, 
bald  dorthin  schwanken.  Die  Menschen  hingegen,  die  in  einer 
Religion  wurzeln,  die  eine  feste  Stellung  zum  Dasein  gewonnen 
haben,  die  wissen,  was  sie  sollen  und  was  sie  wollen,  sie  allein 
sind  wahrhafte  Menschen;  deren  Leben  hat  Stil,  harmonischen 
Fluß,  Kraft.  Solche  Menschen  aber  können  auch  gar  nicht 
anders  als  stilvolle  Werke  hervorbringen,   Werke,   die  sinnvoll 


209 


Zweiter  Teil. 


gebaut  und  gegliedert  sind,  die  unter  einem  herrschenden  Ge- 
danken stehen.  Den  Charakter,  den  ihnen  ihre  Religion  verleiht, 
müssen  sie  auch  in  ihre  Werke  hineintragen.  Charakterlose, 
unruhige,  widerspruchsvolle  Schöpfungen  schmerzen  sie,  diese 
wehren  sie  weit  von  sich,  ihr  tiefstes  Wesen  verschmäht  sie. 
Hierbei  bedarf  es  für  sie  gar  keines  klaren  Entschlusses,  keines 
bewußten  Willens  zum  Stil.  Sondern  ganz  unwillkürlich  er- 
zeugen sie  Werke,  die  wie  sie  selbst  Charakter  haben.  Unfehlbar 
und  sicher  steigen  aus  ihrer  schönen  Seele  die  schönen  Werke 
hervor.  Und  ist  es  nicht  ein  einzelner,  der  durch  Religion  zum 
starken  Menschen  gebildet  ist,  zum  Menschen  von  Zucht  und 
Stil,  sondern  genießt  ein  ganzes  Geschlecht  den  unermeßlichen 
Segen  einer  sicheren,  religiösen  Stütze,  die  das  ganze  Leben 
trägt  und  hält,  besitzt  ein  ganzes  Zeitalter  in  einer  Religion  den 
festen  Pol  für  sein  geistiges  Leben,  und  wieder,  ist  es  nicht  nur 
e  i  n  Zeitalter,  e  i  n  Geschlecht,  sondern  eine  ganze  Kette  von 
Geschlechtern,  die  in  ungestörter  Abfolge  einen  eindeutigen 
klaren  religiösen  Glauben  haben,  der  sie  alle  verbindet  und  zu 
einer  großen  gemeinsamen  Wirkung  vereint,  dann  feiert  die 
Menschheit  ihre  höchsten  Triumphe.  Dann  steigt,  indem  von 
Geschlecht  zu  Geschlecht  die  Woge  der  Kraft  immer  mächtiger 
anschwillt,  schließlich  die  Vollkommenheit  selber  nieder  auf 
Erden,  dann  entstehen  Schöpfungen,  wie  die  griechische  Kunst 
und  Dichtung,  oder  wie  eine  Kathedrale  des    Mittelalters. 

In  Europa  haben  zwei  religiöse  Auffassungen,  zwei  Grund- 
religionen, die  alle  unbedeutenderen  und  kleineren  Abarten  von 
Religion  und  religiösen  Bestrebungen  in  sich  begreifen,  nachein- 
ander geherrscht.  Man  muß  sich  von  dem  Irrtum  freimachen, 
als  ob  das  Christentum  die  einzige  europäische  Religion  sei,  die 
von  jeher  und  für  immer  Europa  ihr  Wesen  aufgeprägt  hätte. 
Vor  dem  christlichen  Zeitalter  liegt  bekanntlich  die  glänzende 
griechisch-römische  Welt.  Diese  aber  hat  eine  lebendige  und 
kräftige  Religion,  einen  zuversichtlichen,  unzerstörbaren,  un- 
wandelbaren Glauben  gehabt,  der  das  Leben  mit  der  ganzen 
Fülle  seiner  Äußerungen  und  Wirkungsweisen  durchdrang,  der 
die  Menschen  unbewußt  band  und  stärkte,  daß  sie  nur  voll- 
kräftige,  eindeutige,   klare  Werke   erschufen,   deren  unvermin- 

2IO 


Der  Stil  des  Lebens. 


derter  Glanz  uns  noch  heute  entzückt.  Nur  weil  sie  einen  un- 
erschütterlichen religiösen  Glauben  als  feste  Grundlage  des 
Lebens  besaßen,  gelang  ihnen  auf  allen  Gebieten  das  Höchste. 
Um  die  griechische  Religion  zu  erkennen  —  griechisch  ist  diese 
Religion  zu  nennen,  weil  das  griechische  Volk  geistig  allein 
schöpferisch  im  Altertum  war,  dessen  Auffassungen  die  späteren 
Römer  nur  übernahmen  —  um  die  griechische  Religion  zu  be- 
greifen, ist  es  erforderlich,  daß  man  zwei  Vorurteile  abwirft,  die 
diesem  Verständnis  entgegenstehen.  Man  darf  zunächst  nicht 
glauben,  daß  die  gebundene,  starre  Form  der  Religion,  wie  wir 
sie  vom  Christentum  kennen,  das  bekanntlich  aus  dem  geistig 
gebundenen  Orient  stammt,  die  einzig  mögliche  sei,  daß  die 
Religion  immer  auf  bestimmte  feste  Formeln  muß  gebracht 
werden  können,  die  in  der  Regel  auch  eine  starre  priesterliche 
Organisation  im  Gefolge  haben.  Die  griechische  Religion  lebte 
als  ein  unzerstörbares  Gefühl  in  den  Herzen  der  Menschen,  das 
kaum  bewußt,  aber  darum  nur  um  so  sicherer,  ja  fast  unfehlbar 
das  Handeln  der  Menschen  bestimmte.  Diese  konnten  gar  nicht 
anders  als  nur  auf  eine  Weise  denken  und  leben;  für  ihre  Lebens- 
begriffe und  Lebensweise  bedurfte  es  weder  eines  furchterregenden 
Befehls  noch  eines  sicheren  Beweises.  Daß  man  auch  anders 
zum  Dasein  stehen  könnte,  mit  anderen  Wertschätzungen  das 
Leben  betrachten  und  führen  könnte,  kam  ihnen  kaum  in  den 
Sinn.  Daraus  aber,  daß  in  Griechenland  die  festen  religiösen 
Formeln,  die  starre  Dogmatik  fehlt,  darf  man  nicht  auf  das  Fehlen 
einer  Religion  überhaupt  schließen.  Die  Griechen  besaßen  in 
der  Tat  Religion  und  nur  dadurch  wurden  sie  stark  und  groß 
und  —  schön.  —  Der  zweite  Irrtum,  den  man  ausschalten  muß, 
um  der  griechischen  Religion  näher  zu  kommen,  ist  der,  als  ob 
Religion  immer  und  unter  allen  Umständen  Gottes-  oder  Götter- 
religion sein  müßte.  Dies  ist  nicht  der  Fall.  Es  ist  auch  völlig 
ungöttliche,  widergöttliche  Religion  denkbar.  Bei  der  griechi- 
schen Religion  sind  die  Götter  etwas  ganz  und  gar  Nebensäch- 
liches, Weltglieder,  die  ohne  Schaden  für  das  gesamte  Weltbild 
und  die  Stellung  des  Menschen  im  All  auch  fehlen  könnten. 
Schon  bei  dem  ältesten  Dichter  Homer  sind  die  Götter  jeder 
religiösen  Kraft  beraubt;  schon  hier  ist  der  religiöse  Schwerpunkt 

211 


Zweiter  Teil. 


anderswohin  verlegt.  Zwar  hat  etwas  später  eine  Art  religiöser 
Reformation  im  Gegensatz  zu  Homer  die  Götter  wieder  in  ihr 
altes  Recht  einzusetzen  versucht,  indem  man  das  Wesen  der 
Götter  vertiefte.  Indessen  dieser  Versuch  mißlang.  Die  durch 
Homer  vollzogene  religiöse  Wendung  des  griechischen  Geistes 
blieb  siegreich.  Im  Mittelpunkt  des  religiösen  Empfindens  der 
Griechen  steht  nicht  Gott,  sondern  der  Mensch.  Ausgangspunkt 
der  griechischen  Religion  ist  nicht  das  Sündenbewußtsein,  sondern 
der  Stolz.  Das  religiöse  Rätsel  und  die  religiöse  Aufgabe  liegt 
nicht  in  der  Ewigkeit,  sondern  in  der  Zeitlichkeit.  Es  ist  hier 
nicht  der  Ort,  die  griechische  Religion  zu  beschreiben.  Ich 
komme  in  späteren  Betrachtungen  gelegentlich  auf  sie  zurück. 
Genug  sie  bestand,  und  nur  ihr  verdankt  die  griechische  Kultur 
ihren  einheitlichen  Stil,  ihre  naive  Sicherheit,  ihre  unwidersteh- 
liche Kraft. 

Der  griechische  Geist  wurde  abgelöst  durch  das  Christentum. 
Das  Christentum  stellt  sich  als  den  vollständigen  Gegensatz  gegen 
das  Griechentum  dar,  als  dessen  gerade  Umkehrung.  Was  dort 
verehrt  ward,  wird  hier  gehaßt;  was  dort  verachtet  ward,  wird 
hier  geheiligt.  Nachdem  der  Mensch  lange  vertrauensvoll  einen 
Pfad  gewandert  war,  überkam  ihn  plötzlich  die  Sorge,  daß  es 
ein  Irrweg  sei,  auf  dem  er  achtlos  dahinschreite,  und  so  schlug 
er  reuevoll  den  entgegengesetzten  Weg  ein,  um  sein  Heil  zu 
finden.  Das  Christentum  war  wirklich  eine  Umwertung  der 
griechischen  Werte.  Zwar  war  diese  Wendung  durch  das  ver- 
fallende Griechentum  schon  vorbereitet.  Aber  gegen  das  alte 
Griechentum,  das  den  griechischen  Glanz,  die  griechische  Herr- 
lichkeit geschaffen  hatte,  war  das  Christentum  der  schroffste 
Gegensatz.  Der  Mensch  begann  ein  gänzlich  anderes  Leben, 
ergriff  ein  völlig  neues  Sein.  Aber  wieder  nach  einiger  Zeit  des 
Schwankens  gab  er  seine  ganze  Seele  an  diesen  neuen 
Glauben  hin.  Mit  der  gleichen  Leidenschaft  wie  ehemals  das 
heidnisch-griechische  Ideal,  verfolgte  er  jetzt  das  christliche 
Lebensziel.  Wieder  fühlte  er  festen  Boden  unter  seinen  Füßen, 
das  Auge  erblickte  einen  klaren  Horizont.  Durch  einen  unver- 
äußerlichen, sicheren  Glauben  gestärkt,  konnte  der  Mensch 
von  neuem  das  Leben  gestalten.     Wieder  bekam  sein  Leben  Stil. 

212 


Der  Stil  des  Lebens. 


Die  großen  Werke  des  christlichen  Zeitalters  sind  noch  unver- 
gessen, so  daß  es  überflüssig  ist,  auf  sie  hinzuweisen;  sie  ragen 
noch  unmittelbar  in  die  Gegenwart  hinein.     Ein  Blick  auf  eine 
mittelalterliche  Kirche  lehrt  uns  die  einstige   Macht  des  christ- 
lichen Glaubens  und  den  befruchtenden  Segen  dieses  Glaubens, 
seine  gewaltige  Zeugungskraft.     Hat  der    Mensch  in  einer  Re- 
ligion einen  festen  Halt,  dann  müssen  eben  seine  Werke,  wofern 
er  überhaupt  zu   höheren   Schöpfungen   fähig   ist,   klaren   Sinn 
und  Charakter  haben.     Nichts  anderes  aber  ist,  wie  wir  hörten, 
Stil.  —  Das  menschliche  Wesen  kann  in  die    verschiedensten 
Formen  eingehen,  der  Mensch  kann  seinem  Leben  diese  oder  jene 
Gestalt  geben;  unzählige   Möglichkeiten  der  Entwicklung  liegen 
vor  ihm  ausgebreitet.    Aber  das  Leben  und  Sein,  das  er  ergreift, 
muß  er  mit  ganzer  Seele  ergreifen.     Kein  Zweifel  darf  ihn  an- 
fallen.    Mit  voller  Zuversicht  muß  er  einem  bestimmten  Glauben, 
einer  Religion,  die  ihm  unvermeidlich  dünkt,  huldigen,  und  auf 
Grund  dieser,  im  Hinblick  auf  sie  das  Leben  formen.    Was  der 
Mensch  glaubt,  steht  ihm  frei;  aber  d  a  ß  er  glaubt,  mit  aller 
Macht  und   Liebe  glaubt,     das    ist  für   ihn  Zwang,   wofern  er 
Größe  und  Schönheit  will.    So  sicher  und  wohlgeborgen  ruhten  in 
ihrem  Glauben  der  Grieche  und  der  Christ  des  Mittelalters.  Deshalb 
reden  auch  ihre  Werke  solche  starke  Sprache.    Deshalb  liegt  über 
ihren  Werken  ausnahmslos  diese  selbstgewisse,  gänzlich  zweifels- 
freie Schönheit  ausgegossen.     Deshalb  klingen  die  Werke  dieser 
Zeiten  alle  zu  einem  so  herrlichen  einzig  schönen  Akkord  zusammen. 
Und  jetzt?     Und  heute?     Dort,  wo  wir  das   Mittelalter  auf- 
hören lassen,  von  wo  wir  den  Beginn  der  Neuzeit  rechnen,  an 
dieser    Grenzscheide    der   Zeiten,    begann   das   Christentum,    bis 
dahin  der  feste  Glaube  Europas,  der  Fels  seiner  Seele,  zu  wanken. 
Damals   begann   das  Vertrauen   zu   dem  alten   Lebenssinn   und 
Lebenswert  zu  schwinden.     Und  seitdem  hat  Europa 
keine    frohe    Stunde     mehr    erlebt.      Seitdem    be- 
findet  sich    der    europäische    Geist    in    fortwährendem    Aufruhr. 
Die  alten  Heiligtümer  blickt  er  mit  Mißtrauen  an,  neue  aber  hat 
er  nicht  zu  schaffen  vermocht.     Der  Lebensstil,  den  das  Christen- 
tum dem  europäischen   Menschen  gab,  ist  verloren.     Einen  an- 
deren Stil  aber  konnte  er  nicht  gewinnen,  weil  ihm  die  Religion, 


213 


Zweiter  Teil. 

der  einheitliche  und  beherrschende  Gedanke  für  sein  Leben  ge- 
brach. So  ist  das  Leben  Europas  schon  seit  Jahrhunderten  der 
wildesten  Unruhe  preisgegeben.  Der  europäische  Mensch  kommt 
nicht  mehr  aus  der  Angst  und  Sorge  heraus,  da  das  Rätsel  des 
Daseins  ihn  unablässig  verfolgt.  Er  weiß  seinem  Leben  keinen 
Sinn  zu  geben,  und  das  macht  sein  Leben  so  zerstreut  und  wech- 
selnd, so  kraftlos.  Was  er  auch  für  Kräfte  einsetzt,  was  er  auch 
Großes  und  Erstaunliches  schafft,  plötzlich  fällt  ihn  das  böse 
Gewissen  an',  sein  eigenes  Tun  erweckt  ihm  Schauder,  und  nun 
zertrümmert  er,  Reue  und  Entsetzen  im  Busen,  was  er  soeben 
noch  mit  aller  Hoffnung  und  Liebe  gebaut  hat.  So  kommen 
und  vergehn  die  Bildungen  und  Stile  in  Europa  in  wirrem  und 
jähem  Wechsel.  Nach  jedem  Aufschwünge,  jeder  freudigen 
Erhebung  folgt  der  plötzliche  Bruch,  der  Zusammenbruch.  Man 
kann  es  genau  verfolgen,  immer,  wenn  in  den  letzten  Jahrhunder- 
ten eine  Bildungsform  in  Stücke  ging,  wenn  irgendeine  große 
Hoffnung  der  geistigen  Kultur  Europas  scheiterte,  war  ein 
Wechsel  der  Weltanschauung  an  diesem  Umschwünge,  diesem 
plötzlichen  Untergange  schuld.  Nachdem  der  Mensch  der  Re- 
naissance in  schroffem  Gegensatz  zu  dem  überwundenen  christ- 
lichen Ideal  des  Mittelalters  ein  neues  Leben  gefunden  hatte, 
und  in  aller  Freude  und  Hoffnung  schwelgend  als  Siegeszeichen 
des  neuerrungenen  Lebens  ein  zauberisches  Reich  der  blendendsten 
Schönheit  geschaffen  hatte,  faßte  ihn  plötzlich  ein  Schaudern, 
eine  grausige  Furcht  lähmte  sein  Herz,  ob  er  nicht  mit  dem 
neuen  Leben,  das  er  begonnen,  die  Sünde  der  Sünden  beginge. 
Alle  alten  totgeglaubten  Ideale  wurden  wieder  wach  und  ver- 
störten sein  Gemüt.  In  jenen  furchtbaren,  Schrecken  verbrei- 
tenden Bußpredigten  des  Savonarola  in  Florenz  wurde  diese 
Stimme  des  Gewissens  laut.  Und  dieser  religiöse  Umschwung 
siegte,  und  so  sank  die  ganze  Herrlichkeit  der  Renaissance  in 
Trümmer.  —  Jener  eigentümlich  gewaltsame,  lebenswahre  und 
lebensstarke  Geist,  der  die  ganze  Frühzeit  der  englischen  Kultur 
durchdringt  und  in  Shakespeare  seinen  stärksten  Ausdruck  fand, 
wurde  durch  die  puritanische  Bewegung  hinweggefegt,  unter 
deren  Nachwirkung  die  englische  Bildung  noch  heute  leidet. 
Wieder  tat  der  Geist  Buße.     Wieder  hatte  ein  Wechsel  der  Re- 

214 


Der  Stil  des  Lebens. 


ligion,  des  religiösen  Empfindens  eine  hohe  geistige  Blüte  jählings 
abgebrochen.  —  Für  das  klassische  Zeitalter  Frankreichs  be- 
deutet Rousseau  das  böse  Gewissen,  der  entgegen  der  stolzen, 
selbstgewissen  Bildung  jener  Epoche,  die  keinen  Zweifel  und 
keine  Reue  kannte,  leidenschaftlich  die  unbedingte  Verwerflich- 
keit aller  menschlichen  Kultur  behauptete.  Wieder  faßte  sich 
der  Mensch  erschrocken  vor  die  Stirn  und  wähnte,  daß  er 
schleunigst  abbrechen,  umkehren  müßte.  —  Nachdem  unsere 
großen  Dichter  in  ihrem  neuhumanistischen  Ideal  einen  sittlichen 
Halt,  eine  religiöse  Grundlage  für  ihr  Leben  und  Schaffen  ge- 
funden hatten,  das  als  der  starke  Grundton  durch  alle  ihre  Werke 
hindurchklingt,  allen  ihren  Werken  den  bestimmten  Charakter, 
die  siegessichere  Schönheit  leiht:  die  nächste  Generation  der 
Romantiker  ward  schon  wieder  an  diesem  Ideale  irre,  war  schon 
wieder  vom  Zweifel  angekränkelt  und  trat  büßend  den  Rückzug 
an.  —  So  sehen  wir  den  eigentümlichen  Wechsel  der  Bildungs- 
formen, den  schnellen  und  unvermuteten  Untergang  aller  gei- 
stigen Glanzepochen  der  letzten  Jahrhunderte  immer  geknüpft 
an  einen  Umschwung,  eine  Wendung  auf  dem  Gebiete  der  Welt- 
anschauung, der  Religion,  der  allgemeinen  Stellung  zur  Welt 
und  zum  Leben.  Das  neuere  Europa  hat  keine  Religion;  das  ist 
sein  tiefes  Leiden.  Deshalb  kann  es  zu  keiner  dauerhaften  und 
siegreichen  Kultur  kommen.  Immer  wieder  bricht  der  Boden 
unter  ihr,  ihre  unentbehrliche  Unterlage  zusammen.  Mit  Schmerz 
fühlen  wir  unsere  Gaben  und  Kräfte  ungenützt;  sie  werden  ver- 
zettelt, fast  nutzlos  vertan.  Sie  kommen  nicht  so  zum  Durch- 
bruch, wie  wir  wohl  möchten,  wie  wir  es  unseren  Kräften  zu- 
trauen, wie  wir  es  von  ihnen  unter  besseren  Umständen  hoffen 
und  ahnen.  Dies  ist  aber  ein  bitteres  Leiden.  Und  dieser  Kum- 
mer der  unerlösten  Kraft,  der  nur  halb  gehobenen  Schätze  liegt 
nicht  nur  auf  dem  Leben  und  den  Werken  der  Großen,  die  Europa 
ihr  Wesen  aufgeprägt  haben.  Dieser  Schmerz  des  gehemmten 
Willens,  der  gestauten  Kräfte  beklemmt  die  Seele  jedes  noch  so 
kleinen  und  verborgenen  Einzelnen.  Wo  ist  heute  der  Mann, 
der  freudig  und  beseligt  auf  sein  Werk  schaut?  Alles  Beste 
und  Stärkste  bleibt  eingeschlossen  in  festen  Hüllen,  so  daß  es 
im   Grabe    dieses    Gefängnisses    verkümmern    muß.       Niemand 


215 


Zweiter  Teil. 


vermag  seine  letzte,  geheimste  Kraft  ans  Licht  zu  stellen.     Jeder 
trauert  still  um  sein  verlorenes  Leben. 

Gewiß,  der  europäische  Geist  hat  nach  dem  Sturze  des  Christen- 
tums, nachdem  wenigstens  das  früher  schrankenlose  Zutrauen 
zu  der  Welt-  und  Lebensbetrachtung  des  Christentums  schwan- 
kend geworden  war,  vielfach  den  Versuch  gemacht,  das  erschüt- 
terte Fundament  des  inneren  Lebens  mit  jungen,  selbständigen 
Weltanschauungen  neu  zu  gründen.  Aber  diese  Versuche  waren 
immer  nur  halbe  Taten.  Diese  Gedanken  waren  nicht 
wahrhaft  frei  und  selbständig,  sondern  lehnten  sich  immer 
noch  bewußt  oder  unbewußt  an  das  alte  religiöse  System  an, 
das  als  Ganzes  aufgegeben  war.  Sie  stammten  aus  einer  geteilten 
Seele.  Und  deshalb  besaßen  sie  nicht  die  volle  Kraft,  dem  Leben 
einen  festen  und  dauernden  Halt  zu  geben;  deshalb  schmolzen 
sie  immer  wieder  in  Kürze  hin  und  ließen  die  bitterste  Enttäu- 
schung zurück.  Als  in  der  Renaissance,  der  Geburtsstunde  der 
modernen  europäischen  Kultur,  der  Wissensdrang  erwachte,  und 
bald  zu  Entdeckungen  führte,  die  mit  den  religiösen  Wahrheiten 
im  Widerspruch  standen,  suchten  die  ängstlichen  Geister  in  der 
Annahme  Zuflucht,  daß  es  eine  doppelte  Wahrheit  gäbe, 
daß  etwas  in  der  Theologie  wahr  sein  könnte,  was  in  der  Philo- 
sophie nicht  wahr  wäre  und  umgekehrt.  Dieser  Gedanke  war 
kein  Scherz,  auch  nicht  die  geschickte  Ausflucht  verschlagener 
Männer,  die  dadurch  der  kirchlichen  Verfolgung,  die  sie  zu 
fürchten  hatten,  entgehen  wollten,  sondern,  wie  ein  tüchtiger 
Forscher  mit  Recht  ausführt,  die  ganz  ehrliche  und  naive  Über- 
zeugung hilf-  und  ratloser  Geister,  die  mitten  zwischen  entgegen- 
gesetzten Weltauffassungen  eingeklemmt  waren,  die  schaudernd 
auf  der  gefährlichen  Brücke  von  der  Vergangenheit  in  eine  neue 
Zukunft  standen.  Und  diese  Doppelheit,  dieses  Schauen  nach 
hinten  und  vorn,  dies  Leben  in  der  Vergangenheit  und  in  der 
Zukunft  durchzieht  die  ganze  Welt,  das  ganze  Werk  der  Renais- 
sance. Ich  möchte  aber  weitergehen  und  behaupten,  daß  diese 
Doppelheit,  dies  Schwanken  zwischen  Gegensätzen,  dies  Wollen 
und  doch  nicht  Wollen  mehr  oder  weniger  versteckt  das  euro- 
päische Denken  und  Fühlen  dieganzenjahrhunderte 
hindurchseitder  Renaissance   bisunmittel- 


2l6 


Der  Stil  des  Lebens. 


bar  in  die  Gegenwart  hinein  beherrscht  hat  und  daß 
hierin  die  eigentümHche  Schwäche  der  europäischen  Bildung 
begründet  liegt.  Man  hat  oft  behauptet  und  es  ist  auch  wohl 
nicht  zu  bezweifeln,  daß  Kant  der  größte  Philosoph  der  letzten 
Jahrhunderte  ist.  Aber  Kant  ist  der  klassische 
Philosoph  der  doppelten  Wahrheit.  Die  Zwie- 
spältigkeit des  europäischen  Denkens,  die  in  der  Renaissance 
schon  angelegt  war,  kommt  in  Kant  zum  höchsten  Ausdruck, 
findet  bei  Kant  ihre  tiefste  Rechtfertigung.  Bei  Kant  wird 
immer  ein  und  dasselbe  je  nach  dem  Standort  bald  bejaht  und 
bald  verneint.  Kant  sammelt  alle  die  vielfachen  und  widerspruchs- 
vollen Richtungen  des  europäischen  Denkens  in  einer  tiefsinnigen 
Einheit,  er  verbindet  die  schroffsten  Gegensätze,  über  alle  klaf- 
fenden Abgründe  schlägt  er  Brücken.  Aber  liegt  hierin  die 
zeitliche  Stärke  einer  solchen  Philosophie,  so  liegt  eben  darin 
für  die  Dauer  auch  ihre  Schwäche,  der  Keim  ihres  Todes.  Denn 
immer  wieder  streben  die  unversöhnlichen  Gegensätze  trotz  aller 
Kunst,  trotz  alles  Geistes  und  Tiefsinnes,  die  an  die  Versöhnung 
gewandt  waren,  auseinander,  und  es  bleibt  die  alte  Wirrnis  un- 
gehoben, unverändert  in  den  Gemütern  zurück.  Dies  war  der 
Charakter  der  europäischen  Philosophie  bis  jetzt.  Unfrei  und 
schwankend,  nach  allen  Richtungen  schielend,  konnte  sie  den 
Untergang  des  religiösen  Glaubens  nicht  ausgleichen.  Und  mag 
auch  ein  anderer  Grund  die  letzte  Erklärung  für  die  Schwäche 
der  europäischen  Philosophie  abgeben,  die  Tatsache  dieser 
Schwäche  besteht,  der  Erfolg  liegt  klar  am  Tage.  Für  das 
verlorene  Weltbild  des  Christentums  hat  sie  uns  keinen  genügend 
starken  Ersatz  geboten.  Noch  immer  sind  wir  im  Innern  ver- 
worren und  unklar,  noch  immer  gleicht  unsere  Seele  einem 
wilden  Chaos.  Der  Wirbel  des  Zweifels  durchwühlt  uns.  Uns 
fehlen  nach  wie  vor  die  festen  Umrisse  des  Seins.  Das  Leben 
hat  keinen  einheitlichen  Sinn.  Und  deshalb  können  wir  auch 
unsere  Kräfte  nicht  sammeln  und  nicht  gestalten;  deshalb  können 
wir  kein  vollendetes,  hehres  Reich  der  Schönheit  aufführen. 
Deshalb  zerfließt  uns  imm.er  wieder  alles  Geschaffene  im  Sande. 
Deshalb  sind  auch  unsere  glänzendsten  Taten  immer  von  einem 
Hauch  der  Tragik  angeweht. 

Hörne  ff  er,  Das  klassische  Ideal.      217  ^4 


Zweiter  Teil. 

Ich  komme  zum  Schluß.  Wenn  wir  eine  neue  Bildung  schaffen 
wollen,  wenn  wir  nicht  von  vornherein  alle  Hoffnung  auf  eine 
geistige  Wiedergeburt,  auf  eine  große  und  dauerhafte,  in  sich 
vollendete  geistige  Kultur  begraben  wollen,  so  ist  eins  vor  allem 
nötig:  die  religiöse  Reformation.  Unsere  vor- 
nehmste Aufgabe  muß  sein,  daß  wir  dem  Leben  als  solchem 
einen  neuen  Gehalt  und  eine  neue  Form  geben.  Wir  müssen 
uns  erst  zu  Menschen  erziehen.  Sache  des  Menschen  aber 
ist  es,  daß  er  nicht  immer  nur  dem  Augenblicke  hingegeben 
lebt,  daß  er  bald  dieser,  bald  jener  Mensch  ist,  daß  er  heute 
sucht,  was  er  gestern  geflohen.  Sondern  nur  so  kann  er  seine 
Würde  als  Mensch  behaupten,  daß  er  sein  ganzes  Leben  unter 
einem  Blicke  faßt,  daß  er  das  Leben  mit  seiner  vollen  Kraft 
und  Tiefe  unter  einen  einzigen  mehr  oder  weniger  festen  Willen 
zwingt.  Und  da  der  Mensch  immer  das  Glied  einer  größeren 
Gruppe  ist,  so  ist,  damit  jeder  sein  Höchstes  leiste,  notwendig, 
daß  auch  jede  räumlich  und  zeitlich  ausgedehnte  Gruppe,  jedes 
Volk,  jede  Kultursich  einenzusammenhängenden,  weitgespannten, 
unveränderlichen  Willen  gibt,  der  mit  geheimnisvollem,  un- 
bemerktem Zwange  alles  Sehnen  und  alles  Schaffen  in  eine 
Richtung  lenkt.  Dies  aber  kann  allein  durch  eine  Religion  ge- 
schehen. S  o  kann  der  Mensch  das  Chaos  in  sich  überwinden, 
s  o  wird  der  Mensch  zum  Menschen  erzogen.  Das  also  erschaf- 
fene Leben  aber,  das  schon  im  Keime  den  bildnerischen  Kern 
trägt,  das  schon  in  sich  ein  Kunstwerk  ist,  das  in  allem  seinem 
Wesen  die  hohe  Weihe  des  Stils  zeigt,  dies  Leben  muß  auch 
fort  und  fort  von  Schönheit  perlen.  Immerdar,  immer  gleich 
und  immer  wechselnd,  müssen  aus  seiner  reinen  Tiefe  Wunder 
über  Wunder  aufsteigen.  Das  gestaltete  Leben  gebiert  notwendig 
gestaltete  Werke.  Deshalb  suchen  wir  dies  verlorene  Gut,  die 
Religion,  wiederzugewinnen!  Aus  dem  Verluste  der  Religion 
stammt  alle  Qual,  aus  ihrer  Wiedergeburt  wird  alles  Glück  des 
Geistes  stammen. 


2l8 


IL 

DIE  KÜNFTIGE 
RELIGION. 

1.  NIETZSCHE  UND  DIE  STAATS- 
PHILOSOPHEN ALS  ERZIEHER. 


Manches  Zeitalter  der  Geschichte  hat  schon  seine  religiöse 
Not  gehabt.  Bald  mußte  ein  Glaube,  der  in  seinem  Kern 
und  Wesen  noch  fest  stand,  das  Kleid  wechseln.  Eine  veraltete 
religiöse  Form  zerfiel  und  wurde  durch  eine  andere  ersetzt. 
Bald  wurde  auch  eine  überkommene  Form,  die  sich  tief  eingelebt 
hatte,  mit  ganz  neuem  Sinn  erfüllt.  Ein  neuer  Geist  zog  in  eine 
alte  Behausung  ein,  gab  alten  Einrichtungen  wieder  Kraft  und 
Leben.  Bei  jedem  solchen  Wechsel  und  Umschwung  aber  wurde 
die  Zeit  erschüttert,  schäumte  das  Leben  in  der  Tiefe  auf.  Uns 
wird  heute  eine  sehr  viel  härtere  Aufgabe  zugemutet.  Wir 
sollen  Form  und  Inhalt,  Kleid  und  Wesen  der  alten,  einst  so  tief 
geliebten  und  noch  mit  allen  Schauern  der  Ehrfurcht  umwobenen 
Religion  zugleich  verlieren  und  erneuern.  Das  wird  ein  schweres 
Abschiednehmen.  Um  so  mehr,  als  die  alten  religiösen  Gebilde,  und 
der  Geist,  der  Glaube,  der  sie  erfüllte,  so  seltsam  lange,  fast  zwei 
Jahrtausende  lang  geherrscht  haben,  so  daß  sie  die  Seele  des  Men- 
schen bis  in  ihre  verborgensten  Winkel  eingenommen  haben  und 
noch  fest  in  ihrem  Banne  halten.  Fast  konnte  es  scheinen  —  und 
viele  haben  es  geglaubt  und  glauben  es  noch  —  als  ob  der  Mensch 
mit  diesen  Schöpfungen  sein  religiöses  Ziel  erreicht  hätte,  als 
ob  hiermit  das  Ende  alles  religiösen  Verlangens,  aller  schaffenden 

219  14* 


Zweiter  Teil. 


religiösen  Kraft  gefunden  sei,  als  ob  die  Menschheit  auf  dem 
gewonnenen  Grunde,  in  den  einmal  ergriffenen  Bahnen  sich  ewig 
fortbewegen  würde.  Solche  Mächte  abzuschütteln,  sich  von 
solchen  Mächten  zu  scheiden,  hält  schwer.  Noch  einmal  klingt 
die  ganze  Vergangenheit  zu  uns  herauf,  drängt  sich  an  unser 
Herz,  lockt  uns  und  sucht  uns  festzuhalten,  da  wir  in  eine  neue 
Zukunft  fortstürmen  möchten.  Wir  aber  dürfen  uns  durch 
solche  Lockrufe  nicht  verführen  lassen.  Denn  jetzt  oder  niemals 
werden  wir  ein  höheres  Reich  erklimmen,  ein  stolzeres  Dasein 
erobern.  Auch  im  geistigen  Leben  gibt  es  Entscheidungen,  wo 
alles  an  wenig  Augenblicken  hängt.  Auch  hier  kann 
eine  große,  erlösende  Tat  für  eine  Ewigkeit  verpaßt  werden. 
Die  menschliche  Entwicklung  vollzieht  sich  stoßweise.  Wenn 
nicht  zur  rechten  Stunde  ein  v/ichtiger  Schritt  geschieht,  wenn 
im  entscheidenden  Augenblick  der  Mut  stockt,  können  ungezählte 
Jahrhunderte  verrinnen,  ehe  die  Gelegenheit  wiederkehrt.  Dann 
verharrt  die  Menschheit  für  unabsehbare  Zeit  unbewegt  in  starren, 
kalten,  inhaltsleeren  Gewohnheiten  als  ein  erfrorenes  Leben. 
Wer  weiß,  wann  und  ob  überhaupt  wieder  das  Leben  erwacht, 
ein  neuer  Frühling  das  Eis  schmilzt  und  den  Menschen  zu  junger 
Tat  erweckt?  Heute  ist  solche  entscheidende  Stunde.  Entweder 
der  Mensch  v/idersteht  den  Versuchungen  der  Vergangenheit, 
die  heute  zahllos  ihre  gefährlichen  Fangarme  nach  ihm  ausstreckt, 
er  macht  einen  gewaltsamen  Schnitt  zwischen  ehemals  und 
zukünftig,  er  stellt  sich  frei  zur  Welt  und  bestimmt  neu  den  Weg, 
auf  dem  er  wandeln  will:  dann  tritt  er  in  eine  höhere  Ordnung 
ein,  ein  neuer  Morgen  blüht  ihm  auf,  ein  Tag  ist  zur  Rüste 
gegangen,  ein  anderer  beginnt.  Oder  der  Mensch  verzagt  in 
dieser  Schicksalsstunde,  er  läßt  sich  umgarnen,  er  nimmt  das 
Erstorbene,  Tote,  der  Vergangenheit  vergilbten,  verstaubten 
Rest  als  etwas  Lebendiges,  Frisches,  er  sucht  sich  auch  ferner 
an  ihm  zu  halten,  sich  an  ihm  zu  sättigen,  sich  in  seinem  Schutze 
zu  bergen:  dann  spart  er  den  Sturm,  die  Gegenwart  lernt  nicht 
die  Schauer  des  Todes  und  die  Geburtswehen  eines  neuen  Lebens 
kennen  —  aber  das  Leben  ebbt  auch  matt  und  matter  hin,  der 
Mensch  fristet  in  sinnlosen,  erstorbenen  Formen  ein  hohles 
Scheinleben.     Und  auch   das  nicht  mehr  lange.     Bald  sind  die 

220 


Die  künftige  Religion.     I. 


Kräfte,  die  sich  zur  rechten  Zeit  nicht  erneuerten,  ganz  versiegt. 
Dieser  Menschenkreis  hat  ausgelebt.  Vor  die  Wahl  zwischen 
Tod  und  Leben  gestellt,  hat  er  in  der  verhängnisvollen  Stunde 
der  Entscheidung  den  Tod  gewählt. 

Das  alles  steht  heut  auf  dem  Spiel.  Möchte  doch  der  Mensch 
der  Gegenwart  den  Ernst  der  Lage  begreifen!  Er  hat  die  Jahr- 
tausende in  der  Hand.  Sein  Wort  wird  Befehl  für  ungezählte 
Geschlechter;  in  seiner  Entscheidung  liegt  Fluch  und  Segen  für 
eine  unbegrenzte  Zukunft  beschlossen.  Nach  seinem  Takt  und 
Ton  bewegt  sich  die  Nachwelt  gehorsam  und  von  unwidersteh- 
lichem Zwange  gezogen.  Er  ist  zum  Gesetzgeber  berufen,  zum 
Richter,  dem  sich  die  Nachkommenschaft,  willig  oder  gezwungen, 
jedenfalls  unfehlbar  beugt.  Drum  rüste  er  sich  zu  seiner  schweren 
Aufgabe!  Spreche  er  ein  klares  Wort!  Daß  in  seinem  Busen 
sein  Herz  nicht  bebe!  Denn  Härte  und  Mut  bedarf  der,  auf  dem 
ein   Schicksal  ruht. 

Gar  lange  haben  wir  immer  nur  dumpf  und  trübe  dahingelebt. 
Eine  unverstandene,  geheimnisvolle  Wehmut  erfüllte  den  Geist 
darum,  daß  niemals  Großes  mehr  geschah,  gar  nichts  Erstaunliches 
sich  mehr  den  Blicken  bot.  Die  Sehnsucht  nach  Großem  war 
unsere  Krankheit,  unser  Kummer,  der  uns  lahmlegte,  unser 
stetes,  quälendes  Leid.  Wohlan!  Der  Tag  zu  einer  großen 
Tat  ist  angebrochen.  Ein  stolzes,  kühnes  Werk,  noch  verhüllt 
und  ungeboren,  ruft  nach  den  Tätern.  Auf!  Seien  wir  zu  dieser 
Tat  bereit  und  willig!  Hier  ist  Gelegenheit  Mut  zu  zeigen. 
Und  nicht  nur  Einzelne,  Wenige,  Bevorzugte  sind  hier  berufen. 
Der  Weckruf  ergeht  an  jeden.  Wir  alle  können  das  stolze  Glück 
einer  nie  gekannten  Erhebung  erfahren,  wenn  wir  einen  großen 
Entschluß  fassen.  Die  Stunde  der  Entscheidung  ist  da;  es  fragt 
sich,  wie  sie  die    Menschen  findet. 

Ich  sagte,  die  Form  wie  der  Gehalt  der  überlieferten  Religion 
sind  in  gleichem  Maße  verblaßt  und  abgestorben.  Ich  will  im 
folgenden  ausführen,  wie  ich  mir  denke,  daß  wir  beide  Seiten 
des  religiösen  Lebens  wieder  auffrischen  können,  welches  Lebendige 
und  Wahre  wir  an  Stelle  des  überlieferten  Toten  und  Unwahren 
setzen  müssen.  Und  zwar  spreche  ich  zunächst  von  der  Form 
der  Religion,  ihrer  äußeren  Erscheinung,  Verfassung,  in  welcher 

221 


Zweiter  Teil. 


Weise  das  religiöse  Bedürfnis  sich  in  Zukunft  bei  Schaffenden 
wie  bei  Empfangenden  ausdrücken  und  betätigen  soll. 

Alle  religiösen  Anschauungen  und  Einrichtungen,  die  uns  die 
Vergangenheit  vererbt  hat,  ruhen  auf  dem  Glauben  an  Offenbarung, 
an  irgendeine  einst  auf  wunderbare  Weise  dem  Menschen  ohne  sein 
Zutun  geschenkte  Wahrheit.  Dieser  Glaube  ist  heute  zerstört. 
Wir  glauben  nur  noch  an  erworbene  Wahrheiten.  Auch  die 
letzten,  tiefsten  Einsichten,  die  über  des  Menschen  ganzes  Glück 
entscheiden,  an  denen  sein  ganzes  Sein  und  Leben  hängt,  kann 
der  Mensch  sich  nur  mit  den  Mitteln  seines  eigenen  Geistes  erringen. 
Sie  kommen  nie  von  oben  zu  ihm  herab.  Dadurch  aber  wird 
die  alte  Form  der  Religion  hinfällig.  Denn  sie  ruht  gänzlich  auf 
diesem  Glauben  an  Offenbarung  als  ihrer  Grundlage,  und  niemals 
kann  sie  diese  Grundlage,  ohne  sich  selbst  aufzuheben,  verlassen. 
Deshalb  muß  eine  andere  geistige  Macht,  die  in  völliger  Freiheit 
und  selbständig  die  letzten  Rätsel  ergründet  und  dem  Menschen 
den  Sinn  seines  Daseins  aufschließt,  —  und  dies  ist  ja  Zweck  und 
Aufgabe  der  Religion  —  an  die  Stelle  der  Religion  treten,  die  Rolle 
der  Religion  übernehmen,  nämlich  die  Philosophie.  Zwar  muß 
die  Philosophie,  die  diese  Aufgabe  erfüllen  soll,  durchaus  besonders 
und  eigentümlich  geartet  sein.  Es  kann  nicht  jene  dürre  und 
kalte  Philosophie  sein,  wie  sie  bisher  die  Herrschaft  übte. 
Diese  kann  nie  die  Religion  ersetzen.  Es  muß  eine  kräftige, 
aus  dem  Herzen  quellende,  lebendige  Philosophie  sein,  eine 
Philosophie,  wie  sie  Nietzsche  vorschwebte,  wie  sie  Nietzsche 
zuerst  zu  verkörpern  suchte.  Eine  Philosophie  muß  es  sein, 
die  nicht  nur  das  Seiende  aufhellt,  nicht  nur  das  Siegel  aller 
vorhandenen  Erscheinungen  abhebt,  sondern  mutig  auch  in  die 
unerfahrbare  Zukunft  greift,  die  kühnen  Sinnes  von  dem  Grunde 
der  erfahrbaren,  erkannten  Welt  als  von  ihrem  Trittbrette  aus  den 
Sprung  ins  Dunkle  wagt  und  Gesetze  erläßt  für  des  Menschen 
Begehren  und  Handeln,  Hoffen  und  Wünschen,  eine  Philosophie, 
die  den  Strom  der  ewig  bewegten  Menschheit  bewußt  in  be- 
stimmte, klar  ins  Auge  gefaßte  Bahnen  lenkt,  kurz  eine  Philo- 
sophie der  Werte,  eine  werteschaffende ,  eine  idealeschaffende 
Philosophie. 

Ich  gehe  daran,  diese  Philosophie  genauer  zu  beschreiben. 

222 


Die  künftige  Religion.     I. 


Wir  werfen  zu  diesem  Zwecke  zunächst  einen  kurzen  Rückblick 
auf  die  verschiedenen  Entwicklungsepochen  der  neueren  Philo- 
sophie, die  Nietzsche  voraufgehen. 

Die  Geschichte  der  neueren  Philosophie  ist  dadurch  bestimmt, 
daß  sie  sich  gegen  eine,  von  der  alten  Kultur  überkommene  starre 
dogmatisch  gebundene  Religion,  das  Christentum,  hat  entwickeln 
und  durchsetzen  müssen.  Dies  Verhältnis  zum  Christentum  hat 
drei  verschiedene  Epochen  der  neueren  Philosophie  hervorgerufen, 
die  aufeinander  folgend  einen  stets  steigenden  Grad  der  Freiheit  und 
Unabhängigkeit  der  Philosophie  von  der  Religion  darstellen.  Jetzt 
eben,  glaube  ich,  ist  die  dritte,  letzte  Epoche  angebrochen,  die  die 
völlige  Freiheit  der  Philosophie  bringt  und  dadurch  zugleich  die  Reli- 
gion aufhebt,  indem  die  Philosophie  sich  an  die  Stelle  der  Religion 
setzt  und  deren  Aufgabe  übernimmt.  Die  erste  Epoche  der  neueren 
Philosophie  ist  die  Philosophie  des  Mittelalters,  die  Scholastik. 
Diese  Philosophie  sah  ihre  Aufgabe  lediglich  darin,  die  vermeint- 
lich und  angeblich  geoffenbarte  und  darum  jedem  Zweifel  ent- 
rückte Wahrheit  des  Christentums  mit  Vernunftgründen  zu 
erhärten,  den  religiösen  Glauben  zu  beweisen.  Die  gesamte 
Wahrheit,  an  der  es  dem  religiösen  Bedürfnis  des  Menschen 
liegen  kann,  galt  als  im  voraus  fest,  im  voraus  gegeben.  Es  kam 
nur  darauf  an,  sie  ihrem  tieferen  Wesen  und  Zusammenhange 
nach  darzulegen  und  zu  ergründen.  Die  Philosophie  war  im 
Mittelalter  durchaus,  wie  der  bezeichnende  Ausdruck  lautet,  die 
Magd  der  Kirche,  deren  unterwürfige  und  verpflichtete  Dienerin. 
Man  beachte,  daß  schon  diese  scholastische  Philosophie  des 
Mittelalters,  trotz  ihrer  Abhängigkeit  von  der  Religion  und  deren 
Erscheinungsform,  der  Kirche,  ein  höchst  wichtiger  und  be- 
deutender Schritt  zur  Befreiung  des  europäischen  Geistes  ist. 
Wenn  die  Philosophie  auch  noch  ganz  in  den  Fesseln  der  Religion 
liegt,  wenn  ihr  auch  noch  alle  Schwingen  beschnitten  sind,  und 
sie  allerwärts  an  die  harten  Wände  eines  unerbittlichen  Kerkers 
stößt,  so  besteht  sie  doch  überhaupt  schon  und  das  bedeutet 
schon  sehr  viel.  Ihr  bloßes  Dasein,  daß  sie  überhaupt  ins  Leben 
getreten  war,  gab  die  schönsten  Aussichten  auf  die  geistige  Zu- 
kunft Europas.  Hiermit  war  der  erste  ursprünglich  in  seinem 
wahren  Wert  und  Wesen  noch  gar  nicht  erkannte  und  begriffene 


223 


Zweiter  Teil. 

Sturmlauf  gegen  die  Religion  und  deren  gebundenen  Geist 
unternommen.  Hiermit  begann  der  europäische  Geist  sich  selber, 
nach  langer  Selbstentfremdung,  wiederzufinden.  Es  war  das 
erste  zaghafte  Wiederanknüpfen  an  eine  unvergleichlich  große  Ver- 
gangenheit, das  erste  Versprechen  einer  neuen  stolzen  Zukunft. 
Das  Christentum  war  nach  meinem  Dafürhalten  in  der  euro- 
päischen Geschichte,  auf  europäischem  Boden,  von  Anfang  an 
ein  Unding.  Die  volkstümliche  Vorstellung,  als  ob  das  Christen- 
tum der  tiefste  und  reinste  Ausdruck  des  europäischen  Wesens 
sei,  daß  das  Christentum  den  europäischen  Völkern  erst  ihr 
wahres  Wesen  erschlossen,  ihnen  zur  Entfaltung  und  Ausbildung 
ihres  geheimen  Grundwesens  verhelfen  habe,  diese  Auffassung 
ist  grundfalsch,  scheint  mir  die  gerade  Umkehrung  der  Wahrheit. 
Das  Christentum  war  vom  ersten  Tage  seines  Erscheinens  auf 
europäischem  Boden  die  fürchterlichste  Vergewaltigung  des 
europäischen  Geistes.  Das  griechische  Volk,  das  erste  euro- 
päische Volk,  das  in  der  Geschichte  aufgetreten  ist,  in  der  Ge- 
schichte eine  Rolle  gespielt  hat,  —  und  was  für  eine  Rolle!  —  hatte 
sogleich  auch  den  eigentümlichen  und  charakteristischen  Grund- 
zug des  europäischen  Wesens,  der  Europas  Ruhm  und  Ehre 
ausmacht,  dem  es  seinen  Vorsprung  vor  der  ganzen  übrigen 
Erde  verdankt,  zur  Ausbildung  gebracht:  die  individuelle  Freiheit. 
Auf  ihrem  Freiheitsgefühl  beruhen  alle  großen,  staunenswürdigen 
Erfolge  der  Griechen.  Mit  dieser  ihrer  Freiheit  setzten  sie  sich 
in  schroffsten  Gegensatz  zum  Orient,  zu  der  orientalischen 
Art  des  Lebens.  Denn  im  Orient  herrschte  von  jeher  und 
für  immer  der  gebundene  Geist,  das  durch  feste,  unveränderliche 
Vorstellungen  und  starre,  unbewegbare  Formen  eingeschnürte 
Leben.  Politisch  kommt  diese  Gebundenheit  in  der  orientalischen 
Despotie  zum  Ausdruck  und  geistig  in  den  starren,  einförmigen, 
unbeweglichen  Religionen,  auf  die  sich  diese  Völker  ein  für  allemal 
festlegen  und  in  die  sie  gewaltsam  all  ihr  Denken  und  Empfinden 
zwängen.  Im  Orient  hat  es  niemals  wirkliche  Philosophie  ge- 
geben, d.  h.  die  freie  ganz  persönliche  Betrachtung  der  Welt  und 
des  Lebens.  Hier  lag  der  Geist  immer  in  den  Fesseln  des  ge- 
samten Volkstums.  Dagegen  ist  der  Orient  bekanntlich  das 
Heimatsland  aller  Religionen,  die  bisher  in  der  Geschichte  Macht 

224 


Die  künftige  Religion.     I. 


gewonnen  haben,  ob  n:ian  nun  an  das  Judentum  oder  Christentum, 
den  Buddhismus,  die  Lehre  Zoroasters  oder  den  Islam  denkt.  Dies 
ist  kein  Zufall.  Die  orientalische  Gebundenheit,  der  orientalische 
Sklavensinn,  das  Unbedingte,  Fatalistische,  Fanatische  in  dem 
orientalischen  Wesen  war  der  rechte  und  einzig  mögliche  Boden, 
auf  dem  diese  herrschsüchtigen,  starren,  offenbarungsgläubigen 
Religionen  wachsen  konnten.  Das  Griechentum  bildet  zu  all 
diesem  den  vollständigen  Gegensatz.  Ist  im  Orient  alles  Zwang, 
Kette,  Fessel,  dumpfe  Eintönigkeit,  totesEinerlei,  so  ist  im  Griechen- 
tum alles  Freiheit  und  alles  Bewegung,  bunter  Reichtum  und 
wechselnde  Fülle.  Das  ganze  öffentliche  und  private  Leben  der 
Griechen,  alle  ihre  Einrichtungen  und  Sitten,  die  immer  eine 
so  starke  Anziehungskraft  geübt  haben,  immer  so  sehnsüchtige 
Bewunderung  erweckt  haben,  wurzeln  allein  in  der  Freiheit. 
Und  diesen  Freiheitssinn  atmet  auch  das  geistige,  besonders 
auch  das  religiöse  Leben  der  Griechen.  Niemals  konnte  die 
griechische  Entwicklung  auf  eine  Religion  hinauslaufen  nach 
orientalischem  Muster,  eine  dogmatisch  starre  Offenbarungs- 
religion, wie  wir  sie  vom  Christentum  und  den  übrigen  orienta- 
lischen Religionen  kennen.  Daß  das  Griechentum  solche  Re- 
ligion nicht  erzeugt  hat,  solche  Religion  verschmäht  hat,  ist 
nicht  ein  Mangel,  sondern  ein  Vorzug,  ein  Vorzug,  der  sich  eben- 
bürtig den  andern  geistigen  Großtaten  der  Griechen  anreiht.  Jene 
einzigartige  Stellung,  die  die  Griechen  unter  allen  Völkern  in 
bezug  auf  die  geistige  Kultur  einnehmen,  haben  sie  auch  in  der 
Religion  bewährt:  auch  hier  haben  sie  ihre  grenzenlose  Überlegen- 
heit und  Begabung  bewiesen.  Sie  schufen  zur  Befriedigung  ihrer 
religiösen  Sehnsucht,  als  Ersatz  für  die  Religion  die  Philosophie. 
In  Griechenland  vertrat  die  Philosophie  die  Stelle  der  Religion. 
Es  gehört  die  ganze  Voreingenommenheit  und  Urteilslosigkeit 
unserer  Theologen  dazu,  die  griechische  Mythologie,  die  schon 
in  den  Anfängen  der  griechischen  Geschichte  überwunden  war 
und  nur  noch  ein  leichtes  Spiel  in  den  Händen  der  Dichter 
blieb,  dem  Christentum  und  anderen  Religionen  zum  Vergleich 
gegenüber  zu  stellen.  Der  religiöse  Genius  der  Griechen  entlud 
sich  in  ihrer  Philosophie,  Hier  fand  ihr  religiöses  Ahnen  und 
Schauen,  ihr  religiöser  Wille   Ausdruck. 


225 


Zweiter  Teil. 

Aber  die  griechische  Freiheit,  dies  Morgendämmern  einer 
neuen  Zukunft,  erlosch  mit  dem  Untergange  des  griechischen 
Volkstums.  Die  europäische  Geschichte,  die  mit  dem  Griechen- 
tum einen  so  über  alle  Maßen  glänzenden  Anfang  genommen 
hatte,  erlitt  einen  jähen  Rückfall.  Warum  das  griechische 
Volk  zugrunde  ging,  was  eigentlich  dieses  stolze  Leben  in  den 
Untergang  stürzte,  —  dies  ist  schwer  zu  sagen.  Das  Entstehen 
und  Vergehen  aller  Lebenserscheinungen,  auch  der  menschlichen 
Bildungsformen,  ist  ein  dunkles  Geheimnis.  Die  Lebenskraft  der 
Griechen,  vermutlich  durch  allzu  energischen  und  schnellen  Brauch 
überreizt,  ging  zeitig  aus.  Wenn  man  aber  an  etwas  Einzelnes 
denken  will,  so  war  die  Art  und  Form  des  religiösen  Lebens 
der  Griechen  an  diesem  Untergange  am  letzten  Schuld.  Die 
griechische  Philosophie  hatte  von  allen  Schöpfungen  des  grie- 
chischen Lebens  den  längsten  Bestand.  Es  war  lange  der  einzige 
feste  Halt  noch,  um  den  sich  das  versinkende  griechische  Leben 
sammelte,  der  letzte  Fels,  an  den  es  sich  klammerte.  Neunhundert 
Jahre  hat  die  von  Piaton  einst  gestiftete  Philosophenschule  der 
Akademie  bestanden,  bis  sie  auf  Befehl  des  christlich  gewordenen 
Kaisers  geschlossen  wurde.  Wenn  etwas  Einzelnes  die  Erklärung 
für  den  Untergang  Griechenlands  abgeben  soll,  so  war  das  meiner 
Ansicht  nach  der  durch  merkwürdige,  zum  Teil  ganz  zufällige 
Umstände  herbeigeführte  politische  Verfall,  das  Scheitern  der 
Versuche,  einen  nationalen  Staat  zu  bilden;  und  dieser  politische 
Untergang  zog  dann  auch  den  wirtschaftlichen  und  ganz  zuletzt 
auch  den  geistigen  Verfall  nach  sich. 

So  erlag  das  Griechentum  einem  frühen  Tode,  ehe  andere 
europäische  Völker  von  ähnlicher  Begabung  herangereift  waren, 
um  den  Faden  der  griechischen  Kultur  aufzunehmen  und  weiter- 
zuleiten. Auch  die  Römer  waren  hierzu  nicht  imstande;  viel- 
mehr riß  das  untergehende  Griechentum  die  Römer  mit  herab. 
Dadurch  aber  wurde  der  Platz  frei  für  den  Einbruch  fremden 
Geistes  in  Europa,  für  eine  furchtbare  orientalische  Knechtschaft. 
Das  Christentum  war  dieser  fremde  Geist,  der  in  einer  schwachen 
Stunde  über  Europa  Herr  wurde,  Europa  unter  sich  zwang.  Mit 
dem  Christentum  flutete  eine  gewaltige  Welle  orientalischen 
Wesens  in  Europa  hinein,   ganz  ähnlich,  wie  später  im  Islam 

226 


Die  künftige  Religion.     I. 


eine  zweite  Welle  orientalischen  Wesens  sich  nach  dem  Westen 
ergoß.  Das  Christentum  und  der  Islam  sind  zwei  Brudergewächse 
aus  einem  Stamm,  zwei  furchtbare  lebensgefährliche  Angriffe 
der  niedern  asiatischen  Menschheit  gegen  die  vornehmere,  freiere 
Menschheit  Europas,  die  sich  zum  erstenmal  im  Griechentum 
offenbart  hatte.  Daß  das  Christentum  so  viel  größeren  Erfolg 
hatte  als  der  Islam,  liegt  wohl  daran,  daß  es  so  viel  geräuschloser 
auftrat,  daß  es  heimlich  und  still  die  ahnungslose  europäische 
Welt  b  e  s  c  h  1  i  c  h.  Sodann  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  das 
Christentum  einen  starken  griechischen  Einschlag  hatte,  der  es 
den  europäischen  Völkern  empfahl.  Das  Christentum  war  aus 
einer  griechisch-orientalischen  Mischkultur  hervorgegangen,  die 
man  Hellenismus  nennt.  Aber  der  Kern,  das  Grundwesen  des 
Christentums  war  und  blieb  orientalisch.  An  der  Spitze  des 
Christentums  steht  der  Glaube  an  Offenbarung,  die  Forderung 
der  Autorität.  Diesen  Anspruch  erheben  schon  Christus  und 
Paulus.  Hiermit  aber  verrät  das  Christentum  seine  orientalische 
Herkunft,  bezeugt  es  den  gebundenen  Geist,  aus  dem  es  stammt. 
Hiermit  führt  es  den  gebundenen  Geist  ein  und  will  zu  ihm  die 
Menschen  erziehen.  Und  dieser  autoritative,  gebundene  Cha- 
rakter ist  dem  Christentum  geblieben  bis  auf  den  heutigen  Tag. 
Auch  die  liberalste  Theologie  der  Gegenwart  ist  und  bleibt  dog- 
matisch. Mag  sie  auch  noch  so  viele  Grundüberzeugungen  des 
Christentums  aufgeben,  ein  Dogma  bleibt  auch  für  sie  als  un- 
antastbar bestehen:  die  unbedingte  Gültigkeit  und  maßgebende 
Vorbildlichkeit  Christi.  Hieran  will  und  läßt  auch  sie  nicht 
rütteln.  Es  kommt  aber  nicht  darauf  an,  wieviel  Dogmen 
man  aufstellt,  sondern  daß  man  überhaupt  Dogmen  aufstellt, 
unter  die  man  sich  zu  beugen  zwingt.  Es  ist  ein  großer  Irrtum 
der  protestantischen  Theologie,  daß  die  weitere  Entwicklung,  die 
das  Christentum  im  Mittelalter  auf  europäischem  Boden  ge- 
nommen hatte,  ein  Abfall  gewesen  sei,  eine  Entartung,  ein 
Niedergang;  sondern  es  war  in  der  Hauptsache  die  ganz  natür- 
liche und  folgerichtige  Entwicklung  eines  schon  im  Anfange 
vorhandenen  Keimes.  Das  Christentum  war  eben  eine  Blüte  am 
Baum  des  orientalischen  Geistes,  der  immer  der  Geist  der  Starr- 
heit, der  Gebundenheit,  des  despotischen  Zwanges  war. 


227 


Zweiter  Teil. 


Man  vergegenwärtige  sich  das  Griechentum  mit  seiner 
geistigen  Freiheit,  das  nicht  unter  dem  Banne  und  Zwange  eines 
geoffenbartenrehgiösenDogmas,  einer  Kirche,  stand,  wo  alle  Geister 
frei  nach  Wahrheit  suchten,  in  edlem  Wettstreit,  man  stelle 
sich  die  ehrwürdigen  Gestalten  der  griechischen  Philosophen  vor, 
wie  sie  in  ihren  Schulen  klaren  Gedankens  und  lauteren  Herzens 
ihre  Weisheit  verkündeten,  eine  Weisheit,  die  sie  mit  ihrem  Herz- 
blut erkauft  hatten,  die  sie  selbst  im  Leben  bewähren  wollten  und 
auch  wirklich  bewährten  als  leuchtende  Vorbilder  des  gesamten 
Volkes,  wie  ihre  Anhänger  ihnen  andächtigzu  Füßen  saßen  und,  was 
sie  in  den  geweihten  Räumender  Schule  vernommen  hatten,  in  das 
gesamte  öffentliche  wie  in  ihr  persönliches  Leben  hinaustrugen, 
wo  es  ihnen  für  ihr  ganzes  Leben  Halt  und  Stütze,  Heil  und 
Ehre  ward:  diesem  edlen  freien  Leben  gegenüber,  das  auf  Wahrheit 
gegründet  war  — denn  Wahrheit  ist's,  daß  der  Mensch  die  Wahr- 
heit nicht  hat,  sondern  sucht  —  diesem  unablässigen  Suchen 
nach  V/ahrheit  gegenüber,  das  die  griechische  Welt  beseelte,  ver- 
gegenwärtige man  sich  das  christliche  Mittelalter  mit  seinem 
starren  Dogma,  seinem  Glauben  an  die  einmal  geoffenbarte  Wahr- 
heit, die  über  alles  menschliche  Begreifen  hinausragend  unnahbar, 
unantastbar  jeden  Zweifel  niederschlägt,  mit  seiner  Herrschaft  der 
Priester  als  der  Wächter  und  Hüter  der  Offenbarung,  seiner 
Kirche,  die  despotisch  das  ganze  Leben  unter  ihr  Joch  spannt, 
gleichsam  das  ganze  Leben  verschlingt:  kein  Zweifel,  das  Christen- 
tum war  ein  Fremdkörper  in  dem  europäischen  Leben.  Es  weist 
nicht  nach  Athen  als  seinem  Ursprünge,  seiner  Heimat  und  seiner 
Verwandtschaft,  sondern  nach  Ägypten,  Babylonien,  Jerusalem. 
Dort  sind  die  priesterlich  gebundenen  Religionen  heimisch.  Dort 
ist  der  Geist  zu  Hause,  der  auch  das  Christentum  aufgebaut 
hat.  Von  dorther  war  das  Christentum  als  ein  Ableger  nach  dem 
Westen  verpflanzt.  Die  schlichte  menschliche  Größe  der  Grie- 
chen, ihren  ehrlichen  Wahrheitssinn,  ihren  weitherzigen  Frei- 
heitssinn —  sie  empfinde  ich  als  das  eigentliche  und  tiefste  Wesen 
der  europäischen  Völker,  als  ihr  Ziel  und  ihre  Aufgabe.  Das 
Christentum  aber  war  eine  orientalische  Krankheit  Europas, 
ein  Rückfall  auf  eine  tiefere,  schon  überwundene  Stufe  der 
Menschheit. 


228 


Die  künftige  Religion.     I. 


Eines  alten,  festgewurzelten,  verderblichen  Wahnes  müssen 
wir  uns  entschlagen,  nämlich  des  Glaubens,  als  ob  die  Welt  ein 
stetiger  Fortschritt  sei,  als  ob  jede  spätere  Zeit  auch  immer  die 
reifere,  bessere,  vollkommenere  sei.  Dieser  Wahn  wurzelt  in 
dem  noch  schlimmeren,  v/eil  allgemeineren  Wahne,  als  ob  eine 
bewußte,  planmäßige  Leitung  die  Welt  regiere,  als  ob  ein  vor- 
sorgender Gott  hinter  dem  Dasein  stehe,  der  nach  festen,  be- 
stimmten Zielen  die  Welt  lenke,  so  daß  diese  niemals  von  der 
ihr  einmal  gewiesenen  Bahn  abweichen  könne.  Dieser  Glaube 
hat  sehr  viel  Unheil  gestiftet.  Wir  haben  langsam  begonnen 
über  das  W^eltwesen  umzulernen.  Die  Welt,  die  wir  kennen, 
die  Welt,  soweit  sie  für  unsere  Gedanken  reicht  —  und  eine  andere 
Welt  geht  uns  nichts  an  — ,  diese  Welt  ist  ein  in  sich  selber  ruhen- 
des Leben,  ein  freies  Leben,  das  allein  von  den  ihm  innewohnenden 
Kräften  zehrt,  ausschließlich  mit  diesen  Kräften  schaltet  und 
schafft,  ein  selbständiges  Leben,  das  sich  zwar  sehnt  und  strebt, 
das  aber  in  seinem  Streben  abirren,  das  straucheln  und  fallen 
kann.  Die  Entwicklung  der  Welt  vollzieht  sich  in  seltsam  krausen, 
unberechenbaren  Windungen.  Es  geht  nicht  geraden  Wegs 
aufvv^ärts.  Sondern  manche  Höhe,  die  schon  einmal  erklommen 
war,  wird  wieder  verlassen.  Mancher  Pfad  wird  zweimal  ge- 
gangen. So  ist  auch  in  der  europäischen  Geschichte  das  christ- 
liche Zeitalter  gegen  das  Griechentum  unzweifelhaft  ein  Rück- 
schritt. Daß  es  keine  geoffenbarte  Wahrheit  gibt,  keinen  sicheren, 
festen  Bestand  in  den  Gedanken  der  Menschen  und  zumal  nicht 
in  den  höchsten  Gedanken,  die  die  letzten  Rätsel  des  Menschen 
enthüllen  wollen,  das  war  dem  Griechen  in  Fleisch  und  Blut 
übergegangen.  Er  war  gewiß,  daß  es  die  Wahrheit  zu  s  u  c  h  e  n 
gilt,  daß  jeder  Versuch,  den  Schleier  der  Welt  zu  heben,  dem 
Menschen  den  Sinn  seines  Seins  zu  erklären,  sein  Recht  hat  und 
freudig  begrüßt  werden  muß.  Diese  Überzeugung  gab  dem 
Griechen  den  freien  Blick.  Diese  Freiheit  war  sein  Triumph 
über  den  Orient.  Hiermit  begann  ein  neuer  Akt  der  Geschichte. 
Aber  zu  neu,  zu  groß,  zu  gefährlich  war  dies  Leben  der  Freiheit. 
Auf  dieser  Höhe  vermochte  sich  der  Mensch  beim  ersten  Anlauf 
nicht  zu  halten.  Ihm  mußte  noch  einmal  der  feste  Reif  der  orien- 
talischen   Gebundenheit    um    die    Stirn    gelegt    werden.      Noch 


229 


Zweiter  Teil. 


einmal  mußte  er  in  das  Gefängnis  zurück,  aus  dem  er  mit  so  viel 
Hoffnung  entflohen  war. 

Ich  kehre  zur  scholastischen  Philosophie  zurück,  von  der  ich 
ausging.  Die  scholastische  Philosophie  ist  das  erste,  bescheidene, 
noch  ganz  unbewußte  Wiederaufdämmern  der  europäischen  Frei- 
heit, der  selbständigen  geistigen  Kraft  der  europäischen  Völker. 
Indem  der  Geist  das  Bedürfnis  empfand,  die  Offenbarung  vor 
sich  selbst  zu  rechtfertigen,  tat  er  den  ersten  gefährlichen  Schritt 
zu  seiner  Befreiung,  der  in  Kürze  notwendig  zur  Verwerfung 
der  Offenbarung,  zur  Forderung  der  vollen  Autonomie  und  Selbst- 
herrlichkeit des  Geistes  führen  mußte.  Die  Scholastik,  so  recht- 
gläubig sie  von  außen  betrachtet  scheint,  ist  deshalb  auch  immer 
von  allen  wahrhaft  und  tief  innerlich  frommen  Christen  mit 
einer  überaus  feinen  Witterung  als  religionsfeindlich  empfunden 
worden,  religionsfeindlich  in  ihrem  Sinne,  vom  Standpunkt  der 
geoffenbarten  Religion  aus,  die  keinerlei  Stütze  durch  den  mensch- 
lichen Geist  bedarf.  Denn  der  Geist,  der  sich  hier  mit  den  an- 
geblich lautersten  Absichten  der  Offenbarung  nähert,  dieser 
Geist,  der  zunächst  nichts  will  als  die  Offenbarung  unterstützen, 
deuten,  erklären  — -  wie  wenn  dieser  Geist  sich  eines  Tages  zum 
Richter  über  die  Offenbarung  aufwirft?  Liegt  nicht  in  diesem, 
wie  es  scheint,  zunächst  ganz  unschuldigen  Anspruch,  in  dieser 
durchaus  wohlmeinenden  Absicht  des  Geistes  eine  ungeheure 
Gefahr?  Nach  der  orientalischen  Auffassung  ist  die  Religion 
Offenbarung,  Erleuchtung.  Wie  kann  sich  die  Erleuchtung, 
ohne  sich  selbst  zu  gefährden,  auf  Erkenntnis  stützen?  Zieht 
sie  sich  hier  nicht  einen  unheimlichen  Drachen  groß,  der  sie 
dereinst  unvermutet  anfallen  und  wer  weiß?  vielleicht  verschlingen 
kann?  In  der  Tat,  der  so  erzogene  und  ermutigte  Geist  kündigte 
plötzlich  der  Offenbarung  den  Gehorsam;  er  machte  sich  uner- 
schrocken zu  seinem  eigenen  Herrn.  Die  Wahrheit  wollte  er 
nicht  mehr  als  vorhanden,  als  bekannt,  weil  geoffenbart,  an- 
erkennen. Er  wollte  sie  selbständig  und  frei  bestimmen.  Ein 
Frühlingsbrausen  ging  durch  die  europäischen  Völker.  Der 
freie  Geist,  der  griechische  Geist,  der  durch  die  orientalische 
Flut  des  Christentums  hinweggespült  war,  tauchte  plötzlich 
wieder  hervor.    Europa  fand  sich  auf  einmal  nach  langer  Selbst- 


230 


Die  künftige  Religion.     I. 


entfremdung  wieder  oder  begann  wenigstens  sich  wieder  zu 
finden.  Mit  tiefem  Bedacht  hat  man  diese  Zeit  des  großen 
Sturms,  des  Aufbrechens  aller  Quellen,  die  Zeit  der  Wiedergeburt, 
der  Renaissance  genannt.  Das  Griechentum  mit  seinem  Indi- 
vidualismus, seiner  Freiheit,  seinem  geistigen  Stolz,  die  höhere 
europäische  Menschlichkeit  war  wieder  aufgewacht.  Es  war 
wirklich  ein  großer  Auferstehungstag  Europas.  Schon  hatte 
der  unruhige  Geist,  der  nach  Freiheit  lechzte,  in  der  Reforma- 
tion sich  an  das  Gerüste,  den  äußern  Bau  des  gebundenen  Geistes, 
die  Hierarchie  der  Kirche  selbst  gewagt  und  dieses  gewaltige 
Bauwerk,  das  für  die  Ewigkeit  gefestigt  schien,  stark  erschüttert. 
In  dieser  gährenden  Zeit,  wo  alles  Feste  sprang,  alle  Schleusen 
sich  öffneten,  alle  Tiefen  in  die  Höhe  strebten,  begann  auch 
für  die  Philosophie  ein  neuer  Tag.  Da  die  Philosophie  im  Mittel- 
alter noch  völlig  abhängig  gewesen  war,  ist  erst  von  der  Renais- 
sance an  die  eigentliche  Wiedergeburt  der  Philosophie  zu  rechnen, 
da  sie  seitdem  erst  wieder  die  Freiheit  genießt.  Denn  Philo- 
sophie ohne  Freiheit  ist  ein  Unding,  ein  Selbstwiderspruch. 

Indessen  nicht  sofort  erreichte  der  wiedererwachte  europäische 
Geist  die  volle  Freiheit.  Noch  mehrere  Jahrhunderte  hin- 
durch vermochte  er  nur  erst  die  halbe  Freiheit  zu  gewinnen, 
nur  die  Freiheit  des  Denkens,  aber  nicht  die  des  Lebens. 
Seit  alter  Zeit  hat  eine  gewisse  Einteilung  der  Philosophie  Be- 
deutung gewonnen:  die  Einteilung  in  theoretische  und 
praktische  Philosophie.  Die  theoretische  Philosophie  stellt 
sich  die  Aufgabe,  den  letzten  Weltgrund,  den  letzten  Zusammen- 
hang alles  Seins  zu  ermitteln,  sie  bemüht  sich,  einen  allgemeinen 
Grundriß  der  Erscheinungen  zu  entwerfen,  kurz,  die  Welt  in 
ihrer  Ganzheit  und  Allgemeinheit  zu  deuten.  Die  praktische 
Philosophie  baut  auf  dieser  Erkenntnis  der  Welt  Gesetze  für 
das  menschliche  Leben  auf,  wie  der  Mensch  auf  Grund  dieser 
Wahrheit  über  die  Welt  sein  Leben  zu  formen  hat;  sie  be- 
stimmt den  Lauf,  den  die  Weltentwicklung  im  Menschen 
fernerhin  einschlagen  soll;  alles  Gewesene  und  alles  Seiende 
überschauend,  richtet  sie  das  Ziel  auf,  dem  alle  menschlichen 
Kräfte  zustreben  sollen.  Die  europäischen  Philosophen,  die 
seit  der  Wiedergeburt  der  Philosophie    in   jener    Geburtsstunde 


231 


Zweiter  Teil. 

der  neuen  Kultur  am  Werke  waren,  haben  immer  nur  die 
erste  Aufgabe  als  die  ihre  erkannt  und  begriffen,  haben 
immer  nur  theoretische  Wahrheiten  zu  schaffen  ver- 
sucht. Die  andere  Aufgabe,  dem  Menschen  sein  Ziel  und 
seine  Gesetze  zu  geben,  ein  Ideal  für  den  Menschen  aufzu- 
richten, diese  Aufgabe  blieb  ihnen  fremd  und  unverständlich. 
Mit  tapferem  Mute  haben  sie  sich  dem  Rätsel  der  Welt  genähert. 
Ohne  Schauder  traten  sie  vor  die  furchtbare  Sphinx.  Und  ob 
auch  einer  nach  dem  andern  in  den  Abgrund  stürzte,  es  fanden 
sich  immer  neue  bereit,  den  Kopf  zu  wagen  und  das  grause 
Rätsel  zu  lösen.  Und  haben  sie  auch  den  Schleier  nicht  ganz 
gelüftet,  starrt  uns  auch  das  letzte  Geheimnis  der  Welt  mit  den 
immer  gleichen  grauenvollen  Augen  an,  ein  wenig,  ein  ganz 
klein  wenig  weiter  und  tiefer  haben  sie  uns  dennoch  schauen 
gelehrt.  Der  alte  Gott  ist  zu  Grabe  getragen,  und  nun  gilt  es 
andere  Welterklärungen  aufzufinden,  Deutungen  der  Welt  zu 
geben,  die  Gott  entbehren.  Aber  so  ruhmreich  die  europäischen 
Denker  die  theoretische  Philosophie  begründeten  und  ausbauten, 
ein  neues  Ideal  für  den  Menschen  sind  sie  uns  schuldig  ge- 
blieben. Sie  wiesen  uns  keine  eigenen  neuen  Bahnen,  auf  denen 
der  Mensch  zu  seiner  Höhe  klimmt.  Sie  lehrten  den  Menschen 
nicht,  auf  welche  Art  er  am  besten,  am  sichersten,  am  wahrsten 
den  Sinn  seines  Seins  erschöpft,  seinen  letzten  Zweck  erfüllt. 
Das  Ideal  des  Menschen  s  u  c  h  t  e  n  sie  nicht,  glaubten  sie  nicht 
erst  schaffen  zu  müssen.  Das,  glaubten  sie,  hätten  sie 
schon.  Das  übernahmen  sie  nur  aus  dem  Schatze  des  ererbten 
Reichtums.  Und  doch  ist  auch  in  der  besten  Erbschaft  viel 
Wahn  und  Irrtum.  Jede  Erbschaft  ist,  wie  wir  wissen,  neu 
zu  erobern.  Mit  keiner  sichern  Gabe  und  Habe  tritt  jedes  Ge- 
schlecht sein  Leben  an.  Es  hat  erst  alles  Überkommene  auf  die 
Wagschale  zu  legen  und  selbst  zu  wägen.  Auch  das  Ideal  des 
Menschen,  sein  heiligstes  Gut,  muß  der  Mensch  immer  wieder 
prüfen,  bezweifeln,  von  neuem  finden  und  schaffen.  Die  euro- 
päischen Philosophen  standen  in  der  Moral  alle  noch  unter 
dem  Druck  der  christlichen  Erbschaft.  Für  die  praktische  Philo- 
sophie, für  die  Werte,  die  Ideale  schaffende  Philosophie  waren 
sie  noch  gänzlich  abhängig,   noch  ganz  gebunden  und  unfrei. 

232 


Die  künftige  Religion.     I. 


Nicht  als  ob  sie  sich  dieser  Unfreiheit  bewußt  gewesen  wären. 
Sie  meinten  im  Gegenteil  ihre  Entscheidung  für  das  überlieferte, 
volkstümliche  Ideal  beruhe  auf  freier  Wahl  und  Prüfung;  sie 
hätten  sich  überzeugt,  daß  es  das  rechte  Ideal  sei.  Dies 
aber  war  ein  Irrtum.  Es  war  nur  die  ungeheure  Macht  des 
überlieferten  Ideals,  das  sie  also  urteilen  ließ,  nicht  ein  freier 
Entscheid.  Es  ist  ein  großer  Unterschied,  frei  sein  und  sich  für 
frei  halten.  Es  gibt  niemanden,  der  sich  nicht  für  frei  hielte. 
Ob  er  aber  wirklich  frei  ist,  ist  eine  andere  Frage.  Selbst  der 
katholische  Priester,  diese  unterworfenste  und  unfreieste  Art 
Mensch,  die  wir  uns  denken  können,  hält  sich  für  frei.  Es  kommt 
aber  darauf  an,  nicht,  daß  man  das  Vorhandensein  seiner  Frei- 
heit behauptet,  sondern  seine  Freiheit  betätigt.  Die 
europäischen  Philosophen  glaubten  nur  an  das  hergebrachte 
Ideal.  Für  einen  Philosophen  aber  und  überhaupt  jür  jeden 
freien  und  stolzen  Menschen  ist  es  eine  Schande  zu  glauben. 
Dieser  hat  erst  zu  prüfen,  gründlich,  bis  in  die  Tiefe  zu  prüfen, 
ehe  er  glaubt.  Der  Zweifel  muß  der  Ausgangspunkt  jedes  freien 
und  unabhängigen  Menschen  sein.  Zwar  die  Gefahr  besteht, 
daß  der  Zweifel  zur  Verzweiflung  führt  und  zumal  der  Zweifel 
am  Ideal.  Für  den  aber,  der  Kraft  in  sich  hat,  bedeutet  er 
nur  die  Geburtswehen,  durch  die  sich  ein  neues  Leben,  eine 
neue  Freude  und  Bejahung  empor  ringt. 

Es  ist  die  weltgeschichtliche  Tat  Nietzsches,  Europa  die  sitt- 
liche Freiheit  erkämpft  zu  haben.  Er  schenkt  dem  Menschen 
zu  der  theoretischen  auch  die  praktische  Freiheit.  Da- 
durch erst  wird  der  Mensch  in  Wahrheit  frei.  Aller  voran- 
gegangene Kampf  um  die  Freiheit,  alles  tapfere  Ringen  der  ver- 
flossenen Jahrhunderte  seit  den  Tagen  der  Renaissance  war 
nur  ein  Vorspiel,  ein  zaghafter  Anfang,  eine  Vorbereitung  für 
die  größere  Freiheit,  die  eben  anbricht,  die  Freiheit,  nicht  nur 
zu  denken,  sondern  nach  der  eigenen  Natur  zu  sein  und  zu 
handeln.  Nietzsche  hat  dem  europäischen  Geist  das  Recht 
zugesprochen,  sich  selbst  das  Ideal  zu  geben,  sich  nicht  nur 
das  Weltbild  nach  den  Maßen  des  eigenen  Auges  auszumalen, 
sondern  auch  für  die  Zukunft,  für  alles  Kommende  einen  eigenen 
Entschluß  zu  fassen,  einen  selbständigen  Plan  zu  entwerfen. 

Horneffer,  Das  klassische  Ideal.     2'^'^  ^5 


Zweiter  Teil. 

Unser  Schicksal,  des  Menschen  ganzes  künftiges  Sein  ist  in  uns 
selbst  verlegt.  Der  Mensch  trägt  in  seiner  eigenen  Brust  sein 
ganzes  Werden.  Er  ist  allein  sich  selbst  verantwortlich.  Vorbei 
ist  es  nun  mit  allem  dunklen  Drange.  Mit  Bewußtsein  steckt 
sich  jetzt  der  Mensch  die  Ziele.  Nicht  nur  das  alte  Weltbild, 
des  Menschen  Anschauungen  und  Begriffe  sind  vernichtet  und 
zerstoben,  —  nein,  auch  seine  Ideale  sind  erschüttert,  seine 
Wünschbarkeiten  und  höchsten  Werte  sind  vom  Zweifel  ange- 
fressen. Wie  die  Offenbarung  in  bezug  auf  alles  Äußere,  den 
ganzen  Bau  der  Welt  zerfloß,  so  ist  nun  auch  die  Offenbarung 
in  bezug  auf  unser  Inneres  dahin.  Denn  hier  im  Innern,  in 
des  eigenen  Busens  verborgener  Tiefe,  glaubte  man  immer  noch 
in  der  Stimme  des  Gewissens  ein  zuverlässiges,  treues  Orakel 
zu  besitzen,  eine  Offenbarung,  die  unverbrüchlich  auf  alle  Fragen 
der  Sittlichkeit,  über  Gut  und  Böse  Auskunft  gibt.  Hier  im 
Sittlichen,  meinte  man  noch  bis  jüngst,  sei  glücklicherweise 
niemals  Zweifel  möglich.  So  verworren  sich  die  Bilder  kreuzten, 
die  der  Mensch  sich  von  der  bunten  Welt  des  Seins  entwerfe, 
so  einfach  klar  und  unbezweifelbar  stehe  das  Sollende  vor 
ihm.  Aber  auch  dieser  letzte  Fels  im  Meer  des  Zweifels  ist  nun 
fortgerissen.  Menschenschöpfung,  Menschenwahn  und  Irrtum 
ist  nach  Nietzsche  alles  Werten.  Der  Mensch  ist  nicht  nur  in 
seinem  Denken,  sondern  auch  in  seinem  Handeln  völlig  auf  sich 
selbst  gestellt.  Er  steht  einsam,  nur  auf  seine  Kräfte  angewiesen, 
in  einer  stummen,  kalten  Welt,  die  ihm  von  selber  keine  Rätsel 
löst,  die  ihm  auch  auf  die  schwerste,  dringendste  Frage,  auf  die 
Frage  nach  Gut  und  Böse,  keine  unzv/eideutige  Antwort  gibt. 
Auch  hier  schwankt  und  tanzt  alles  vor  unserem  Blick.  Wir 
müssen  unseren  Blick  erst  schärfen,  unseren  Geist  aufrufen, 
daß  wir  unser  höchstes  Ziel  begreifen.  Nietzsche  gibt  dem  Men- 
schen einen  Hammer  in  die  Hand,  daß  er  damit  sein  Ideal  sich 
selber  meißele. 

So  hebt  mit  Nietzsche  die  dritte  philosophische  Epoche  an, 
seit  das  Christentum  den  europäischen  Geist  in  Bann  genommen 
hatte.  Die  erste  Epoche  war  die  scholastische  Philosophie  des 
Mittelalters,  die  das  Christentum  noch  in  allen  Teilen  anerkannte, 
und  es  nur  beweisen  wollte,  dadurch  aber  schon  die  kommende 

234 


Die  künftige  Religion.     I. 


Freiheit  ahnen  ließ.  In  der  Renaissance  fand  diese  Philosophie 
ihr  Ende.  Von  der  Renaissance  bis  Nietzsche  reicht  die  zweite 
Epoche,  eine  Zeit  des  Überganges,  halb  frei,  halb  unfrei,  frei 
in  bezug  auf  das  theoretische  Denken,  aber  unfrei  in  bezug  auf 
das  praktische  Wollen.  Wenn  der  Geist  auch  kühn  das  alte 
Weltbild  umgestaltete,  der  Wille  blieb  in  den  Fesseln  der  alten 
Werte,  liebte,  verehrte,  begehrte  immer  noch  nach  den  alten 
Normen.  Nietzsche  erst  hat  die  orientalische  Despotie  gebrochen, 
unter  der  der  Geist  Europas  schmachtete.  Er  erst  hat  Europa 
mündig  gemacht.  Nun  ist  der  europäische  Mensch  aller  Ketten 
entledigt,  nun  steht  er  frei  im  Dasein. 

Es  ist  mir  oft  bestritten  worden,  daß  Nietzsche  berufen  sei,  diese 
bedeutende  Stellung  in  der  geistigen  Entwicklung  Europas  ein- 
zunehmen. Und  keiner  seiner  Beurteiler  hebt  diese  Tat  als  sein 
Verdienst  hervor.  Hören  wir  aber,  was  die  Philosophen  noch 
jüngst,  noch  bis  in  die  Gegenwart  hinein  über  die  Moral  ge- 
urteilt haben,  in  was  für  Vorurteilen  in  bezug  auf  die  Moral  sie 
noch  bis  jüngst  befangen  waren.  Ich  will  einige  Äußerungen 
von  Philosophen  des  letzten  Jahrhunderts  wörtlich  anführen. 
Man  wird  ersehen,  v/ie  bitter  nötig  die  moralische  Aufklärung 
Nietzsches  war,  wie  entscheidend  Nietzsche  in  die  Entwicklung 
des  europäischen  Denkens  eingegriffen  hat.  Ich  beginne  mit 
Kant.  Es  ist  eine  ausgemachte  Tatsache,  daß  Kant  sehr  ferne 
von  dem  Gedanken  war,  eine  neue,  selbständige  Sittlichkeit  ein- 
zuführen oder  auch  nur  zu  umschreiben.  Er  wollte  nur  die 
überkommene  und  allgemein  gültige  Sittlichkeit,  die  im  Ernste 
noch  nicht  bezweifelt  war  und  die  er  selbst  am  wenigsten  zu 
bezweifeln  gedachte,  auf  einen  erschöpfenden  Ausdruck  bringen. 
Er  wollte  sie  in  ihrem  tiefsten  Wesen  begreifen,  ihre  wahre  Quelle 
aufdecken,  wodurch  sie  seiner  Meinung  nach  erst  ihre  volle 
Sicherheit  und  unerschütterliche  Festigkeit  bekommen  sollte, 
wodurch  erst  ihre  wahre  Heiligkeit  und  Unantastbarkeit  gewähr- 
leistet wäre.  Und  dementsprechend  erwidert  Kant  auf  den  Vor- 
wurf eines  Kritikers,  daß  er  ja  nur  eine  neue  Formel  und  keine 
neue  Sittlichkeit  selbst  brächte,  in  einer  Anmerkung  der  Krilik 
der  praktischen  Vernunft  (Ausgabe  Reclam  S,  7)  folgendes:  ,,Ein 
Rezensent,  der  etwas  zum  Tadel  dieser  Schrift  [gemeint  ist  die 


235  ^5" 


Zweiter  Teil. 

Metaphysik  der  Sitten]  sagen  wollte,  hat  es  besser  getroffen, 
als  er  wohl  selbst  gemeint  haben  mag,  indem  er  sagt:  daß  darin 
kein  neues  Prinzip  der  Moralität,  sondern  nur  eine  neue 
F  o  r  m  e  1 1  aufgestellt  worden.  Wer  wollte  aber  auch 
einen  neuen  Grundsatz  aller  Sittlichkeit 
einführen,  und  diese  gleichsam  zuerst  er- 
finden? gleich  als  ob  vor  ihm  die  Welt  in  dem, 
was  Pflicht  sei,  unwissend  oder  im  durch- 
gängigen Irrtum  gewesen  wäre".^  Kant  stellt 
es  demnach  so  dar,  als  ob  ein  Zweifel  an  dem  Werte  und  Rechte 
der  gültigen  Sittlichkeit  etwas  Unerhörtes  sei,  als  ob  die  über- 
kommene Sittlichkeit  gar  keiner  Kritik  zu  unterstehen  habe, 
als  ob  das  allgemeine  Urteil  über  die  Pflicht  in  Vergangenheit 
und  Gegenwart  gar  nicht  fehl  gehen  könne,  sondern  ganz  von 
selbst  das  Rechte  treffe.  Ist  das  überhaupt  die  Sprache  eines 
Philosophen?  Hat  dieser  nicht  alles,  jede  Behauptung  und  jede 
Wertschätzung,  als  falsch  vorauszusetzen  ?  Und  ebenso 
läßt  sich  Schopenhauer  vernehmen  in  folgendem  Worte.  Er  nennt 
(Werke,  Ausgabe  Reclam  III,  S.  517)  „das  Prinzip,  den  Grund- 
satz, über  dessen  Inhalt  alle  Ethiker  eigent- 
lich einig  sind,  in  so  verschiedene  Formen 
sie  ihn  auch  kleiden^:  neminem  laede  immo  omnes 
quantum  potes  juva."  ,,Dies  ist  eigentlich  der  Satz,  fährt  Schopen- 
hauer fort,  welchen  zu  begründen*  alle  Sittenlehrer  sich  ab- 
mühen, das  gemeinsame  Resultat  ihrer  so  verschiedenartigen 
Deduktionen."  Nach  Schopenhauer  ist  also  nur  die  Begrün- 
dung des  obersten  Sittensatzes  fraglich,  die  Quelle  nur, 
aus  der  das  Sittengesetz  stammt,  unterliegt  dem  Zweifel.  Über 
den  Inhalt  hingegen  des  Sittengesetzes,  was  das  Gute  sei, 
was  die  Menschen  zu  tun  und  zu  lassen  haben,  darüber  sind 
nach  Schopenhauer  die  Denker  einig.  Diese  Einmütigkeit  der 
Denker  aber  scheint  mir  für  ihr  Ansehen  in  hohem  Grade  be- 
denklich.   Denn  bei  der  Schwierigkeit  der  Frage  hätten  sie  wohl^ 


1  Von  Kant  gesperrt. 
-  Von  mir  gesperrt. 

2  Von  Schopenhauer  gesperrt. 
^  Von  mir  gesperrt. 


236 


Die  künftige  Religion.     I. 


wenn  sie  wirklich  selbständig  geurteilt  hätten,  verschiedenes 
lehren  müssen.  Ihre  Einmütigkeit  verrät  nur  ihre  Unfrei- 
heit, daß  sie  unter  einem  gemeinsamen  Druck,  unter  dem  Druck 
ihres  religiös-christlichen  Vorurteils  an  die  Moral  herangetreten 
waren. 

Nach  diesen  beiden  Denkern  aus  der  sogenannten  klassischen 
Zeit  der  deutschen  Philosophie  führe  ich  den  Ausspruch  eines 
Denkers  an  aus  der  sogenannten  Epigonenzeit,  um  die  Mitte 
des  letzten  Jahrhunderts,  eine  Äußerung  Lotzes.  Lotze  sagt: 
(Kleine  Schriften  III,  S.  521):  ,,Über  die  Gesinnungen,  die 
unser  Handeln  beherrschen  sollen,  und  über  die  Pflichten,  die 
allgemein  der  Mensch  dem  Menschen  schuldig  ist,  besteht  unter 
zivilisierten  Nationen  in  der  Theorie  wenigstens  erfreuliche 
Übereinstimmung!  und  die  praktische  Philosophie 
findet  wenig  Veranlassung  1,  hierüber  die  Welt  zu 
belehren,  sie  würde  nur  ermüden  durch  Wiederholung  dessen, 
dem  die  allgemeine  Anerkennung  längst  ge- 
wiß i  s  1 1  und  sie  würde  nicht  Glauben  finden  für  das,  wo- 
durch sie  diesem  öffentlichen  Gewissen  wi- 
derspräche" 1.  Der  Philosoph  fühlt  sich  also  nach  Lotze 
in  der  Moral  mit  der  Masse  einig.  Er  würde  mit  abweichenden 
moralischen  Anschauungen  bei  der  Masse  keinen  Glauben  finden, 
und  so  verzichtet  er  von  vornherein  darauf,  auf  dem  Gebiete  der 
Moral  die  Allgemeinheit  zu  belehren;  er  gibt  sich  mit  dem  zu- 
frieden, was  alle  Welt  über  Gut  und  Böse  glaubt.  Mich  wundert 
nur,  daß  diese  Denker  sich  nicht  auch  für  die  theoretische  Philo- 
sophie der  Masse  unterwerfen.  Hier  will  ich  noch  ein  bemerkens- 
wertes Wort  Kants  nachtragen,  das  sich  mit  dem  Ausspruche 
Lotzes  nahe  berührt.  Kant  geht  in  der  Wertschätzung  des 
moralischen  Urteils  des  gemeinen  Menschenverstandes  noch 
weiter  als  Lotze.  Philosophie  in  der  Moral  sei  nicht  nur  über- 
flüssig, sondern  direkt  schädlich.  Kant  zieht  an  einer  Stelle 
der  Metaphysik  der  Sitten  (Ausgabe  Reclam,  S.  34)  den  Schluß, 
,,daß  es  also  keiner  Wissenschaft  und  Philosophie  bedürfe,  um 
zu  wissen,  was  man  zu  tun  habe,  um  ehrlich  und  gut,  ja  sogar 


^  Von  mir  gesperrt. 


Zweiter  Teil. 

um  weise  und  tugendhaft  zu  sein*'.  Und  er  macht  ausdrücklich 
den  Unterschied:  Während  im  theoretischen  Gebrauch  der  Ver- 
nunft der  gemeine  Verstand  gänzhch  versage,  bewähre  er  sich 
durchaus  im  praktischen.  Hier  werde  er,  wie  Kant  sich  aus- 
drückt, ,, subtil".  Und  Kant  fährt  über  ihn  fort:  ,,Er  kann  .... 
sich  ebensogut  Hoffnung  machen,  es  recht  zu  treffen,  als  es 
sich  immer  ein  Philosoph  zu  versprechen  verm.ag,  ja  ist  beinahe 
noch  sicherer  hierin  als  selbst  der  letztere,  weil  dieser  doch  kein 
anderes  Prinzip  als  jener  haben,  sein  Urteil  aber  durch  eine 
Menge  fremder,  nicht  zur  Sache  gehöriger  Erwägungen  leicht 
verwirren  und  von  der  geraden  Richtung  abweichend  machen 
kann.**  Und  im  Anschluß  hieran  gibt  Kant  den  Rat:  ,,Wäre 
es  demnach  nicht  ratsamer ,  es  in  moralischen  Dingen 
bei  dem  gemeinen  Vernunfturteil  bewenden 
zu  lassen^  und  höchstens  nur  Philosophie  anzubringen,  um 
das  System  der   Sitten  um  so  vollständiger  und  faßlicher,  im- 

gleichen  die  Regeln  derselben  zum  Gebrauch bequemer 

darzustellen,  nicht  aber  um  selbst  in  praktischer  Absicht  den 
gemeinen  Menschenverstand  von  seiner  glücklichenEin- 
f  a  1  ti  abzubringen  und  ihn  durch  Philosophie  auf  einen  neuen 
Weg  der  Untersuchung  und  Belehrung  zu  bringen?**  Diese 
Auffassung  ist  uns  heute  gänzlich  unverständlich.  Der  Glaube 
an  die  glückliche  Einfalt  des  gemeinen  Menschenverstandes 
ist  uns  durch  Nietzsche  gründlich  zerstört  worden.  Wir  meinen 
allerdings,  daß  es  gar  sehr  der  Philosophie  bedürfe,  um  den  höch- 
sten Wert  zu  bestimmen,  das  Gute  festzustellen. 

Zum  Schluß  noch  ein  Wort  aus  der  Gegenwart.  Der  be- 
rühmte Professor  Wundt  in  Leipzig  erklärt  (Ethik  HI,  Aufl.  I, 
S.  40),  ,,daß  aus  den  übereinstimmenden  sinnlichen  Anlagen 
des  menschlichen  Bewußtseins  schließlich  übereinstim- 
mende sittliche  Anschauungen  sich  wirklich 
entwickelt  habe  n'*.  1  Die  Behauptungen  über  Verschie- 
denheiten der  sittlichen  Anschauungen  beruhen  nach  Wundt 
auf  Übertreibungen,  und  Wundt  fährt  fort:  ,,Kein  Unbefangener 
kann  sich  der  Überzeugung  verschließen,  daß  die  Unterschiede 


1  Von  mir  gesperrt, 

238 


Die  künftige  Religion.     I. 


hier  schließlich  nicht  größer  sind  als  auf  intellektuellem  Gebiete, 
wo  trotz  aller  Mannigfaltigkeit  der  Anschauungen  und  Denk- 
richtungen doch  die  Allgemeingültigkeit  der 
Denkgesetze  fest  steh  t.**  Die  Sittengesetze  sollen 
also  so  fest  stehen,  wie  die  Denkgesetze,  mit  denen  Wundt  die 
Sittengesetze  auf  eine  Stufe  stellt.  Eine  ungeheuerliche  Behaup- 
tung! Den  Denkgesetzen  und  ihrer  unvermeidlichen  Bestimmt- 
heit und  Notwendigkeit  wäre  doch  nur  die  Art  und  Weise  ver- 
gleichbar, wie  die  Willenshandlungen  psychologisch  zustande 
kommen.  Wie  aber  die  Menschen  trotz  der  Einheitlichkeit 
der  allgemeingültigen  Denkgesetze  inhaltlich  das  Ver- 
schiedenste denken,  wobei  es  erst  Aufgabe  der  Philosophie,  der 
Wissenschaft  ist  zu  unterscheiden  zwischen  wahr  und  falsch, 
so  wird  auch  der  Wille  der  Menschen  trotz  der  Einheitlichkeit 
und  Gleichartigkeit  seiner  allgemeinen  Anlage  und  Wirkungs- 
weise dennoch  inhaltlich,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  durch  das 
Verschiedenste  bewegt  und  zur  Handlung  gereizt.  Und  auch  hier 
ist  es  erst  Aufgabe  der  Philosophie,  zu  unterscheiden  zwischen 
Gut  und  Böse.  Diese  Aufgabe  ist  keineswegs  schon,  wie  Wundt 
zu  glauben  scheint,  durch  die  Geschichte  gelöst.  Sie  scheint 
nur  gelöst,  weil  die  Menschheit  seit  der  Herrschaft  des  Christen- 
tums das  Nachdenken  über  die  Moral,  das  wirklich  freie  und 
vorurteilslose  Nachdenken  hierüber  eingestellt  hat.  Es  ist  die 
höchste  Zeit,  daß  die  Menschheit  das  Nachdenken  über  die 
Moral  wieder  aufnimmt,  i 


1  Am  ehrlichsten  bekennt  die  Abhängigkeit  der  philosophischen 
Moral  von  der  religiösen  Professor  Liebmann  in  Jena  (Analysis  der 
Wirklichkeit,  III.  Auflage  S.  710  f.).  Dieses  Bekenntnis  ist  so  drastisch, 
daß  ich  es  dem  Leser  nicht  vorenthalten  will.  Liebmann  sagt,  daß  es 
eine  objektive  Ethik,  eine  allgemein  herrschende  moralische  Anschauung 
gebe.  Diese  allgemein  herrschende  Ethik  hätten  die  bekannten  Religions- 
stifter geschaffen.  ,,Konfucius  und  Buddha,  Moses  und  Zoroaster, 
Christus  und  Mohammed  sind  Träger  und  Begründer  dieser  objektiven 
Ethik".  Wenn  diese  ,, Koryphäen  der  Menschheit"  auch  in  Einzelheiten 
sich  widersprächen,  so  seien  sie  doch  im  wesentlichen  einig.  Und  Lieb- 
mann fährt  fort :  ,, Diese  große  weltgeschichtliche  Tatsache  steht  zum 
Heil  des  Menschengeschlechtes  fest  und  wir  alle  befinden  uns  bei  aller 
Selbständigkeit  des  persönlichen  Gewissens  von  Kindesbeinen  auf  be- 
wußter und  unbewußter  Weise  unter  ihrem  maßgebenden  Einfluß." 
Ich  war  immer  der  Meinung,  daß  der  Philosoph  unter  keines  andern 
Menschen  ,, maßgebendem"  Einfluß   stehen   dürfe.     Die  Philosophie  hat 


Zweiter  Teil. 


Wenn  man  sich  in  die  Gedankenwelt  Nietzsches  eingelebt 
hat,  klingen  einem  solche  Reden  der  Philosophen  wie  aus  einer 
gänzlich  andern  Welt.  Denn  wie  die  erwähnten  Philosophen 
denken  auch  die  übrigen,  nicht  erwähnten.  Und  zwar  nicht 
nur  bei  uns,  sondern  auch  im  Auslande.  Die  Beispiele  ließen 
sich  beliebig  häufen. 

Und  selbst  nachdem  die  gegenwärtigen  Denker  Nietzsche 
kennen  gelernt  haben,  haben  sie  sich  durch  ihn  in  ihrer  Be- 
fangenheit nicht  beirren  lassen,  sondern  sie  glauben  nach  wie 
vor  an  ihre  festen,  seienden  Werte  und  streiten  Nietzsche  es  ab, 
daß  es  gelte,  die  Werte  erst  zu  schaffen,  die  Sittlichkeit, 
das  Ideal  erst  zu  erfinden.  Mit  großer  Emphase  schließt 
Professor  Riehl  sein  Buch  über  Nietzsche,  das  verbreitetste 
Professorenbuch  über  Nietzsche,  das,  von  den  Fachgenossen 
in  allen  Tonarten  gelobt,  deren  Auffassung  und  Stimmung  wohl 
am  reinsten  wiedergibt.  Riehl  erklärt  am  Schlüsse  (Nietzsche, 
der  Künstler  und  der  Denker,  III.  Aufl.,  S.  170):  ,, Diese  Werte 
aber,  die  das  Handeln  des  Menschen  leiten  und  seine  Gesinnung 
beseelen,  werden  nicht  erfunden,  oder  durch  Umwertung  neu- 
geprägt. Sie  werden  entdeckt  und  gleich  wie  die  Sterne  am 
Himmel  treten  sie  nach  und  nach  mit  dem  Fortschritte  der 
Kultur  in  den  Gesichtskreis  des  Menschen.  Es  sind  nicht  alte 
Werte,  nicht  neue  Werte,  es  sind  die^  Werte."  Ich  möchte 
Riehl  die  Frage  vorlegen,  wo  denn  diese  seine  absoluten,  un- 
bedingten Werte  eigentlich  geschrieben  stehen.  In  der  Bibel 
etwa?  Und  dabei  widerspricht  sich  Riehl  in  seinem  pompösen 
Satze  selbst.  Er  sagt:  ,,Nach  und  nach  treten  die  Werte 
mit  dem  Fortschritt  der  Kultur  in  den  Gesichtskreis  des  Men- 
schen."    Kann  es  denn  aber  in  dieser  Entwicklung  nicht  manch- 


nach  Liebmann  in  der  Ethik  nichts  Schöpferisches  mehr  zu  leisten.  Sie 
findet  die  von  den  Religionsstiftern  geschaffene  Ethik  als  eine  Tat- 
sache vor.  Ganz  ebenso,  nach  der  eigenen  Äußerung  Liebmanns,  wie 
der  Naturforscher  die  Körperwelt  als  Tatsache  vor- 
findet. Die  Philosophie  sucht  die  von  den  Religionsstiftern  ge- 
schaffene Moral  nur  aus  einem  obersten  Prinzip  abzuleiten.  Ist  dies 
nicht  eine  wahrhaft  beschämende  Auffassung  von  dem  Werte  und  der 
Würde  der  Philosophie  ?  Hat  man  noch  Worte  für  eine  derartige  Unter- 
würfigkeit? Die  europäische  Philosophie  in  der  Moral  zur  Schleppen- 
trägerin der  asiatischen  Religionen  herabgewürdigt! 
^  Von  Riehl  gesperrt. 

240 


Die  künftige  Religion.     I. 


mal  einen  Rückschritt  geben?  Ist  etwa  der  berühmte  Fortschritt 
der  Kultur  immer  stetig,  immer  gleich  sicher  und  zuverlässig? 
Oder  gibt  es  in  der  Geschichte  nicht  zuweilen  Abirrungen,  Aus- 
weichungen, ja  öfter  völligen  Verfall  und  Fäulnis?  Wenn  aber 
die  menschliche  Entwicklung  dergestalt  zuweilen  rückwärts 
läuft,  —  daß  dies  aber  zuweilen  geschieht,  kann  niemand  ernst- 
lich bestreiten,  der  einen  Funken  Geschichte  kennt  — ,  dann 
müssen  doch  auch  zu  gewissen  Zeiten  die  Werte,  die  Wert- 
schätzungen, die  Ideale  des  Menschen  in  die  Irre  gehen,  trüge- 
rische, verderbliche  Ideale  werden.  Und  also  können  und  müssen 
doch  auch  Zeiten  kommen,  wo  diese  abgeirrten,  verfehlten  Werte 
wieder  neu  gewertet,  neu  geprägt,  und  waren  sie  gänzlich  irrige, 
was  auch  möglich  ist,  geradezu  u  m  gewertet  werden  müssen. 
Und  wer  weiß?  Vielleicht  hat  unsere  Zeit  diese  verhängnisvolle 
Aufgabe  des  Zweifels  an  dem  alten  Ideal,  die  große  Aufgabe, 
ein  neues,  freies,  eigenes  Ideal  zu  schaffen. 

Der  schon  vorher  erwähnte  Wundt  glaubt  Nietzsche  dadurch 
abzutun,  daß  er  zwar  wie  Riehl  ein  gewisses  Wachstum,  eine 
allmähliche  Entwicklung  der  Werte  zugibt,  aber  zugleich  er- 
klärt, daß  es  in  dieser  Entwicklung  niemals  Katastrophen  geben 
könne,  wie  Nietzsche  eine  Katastrophe  bedeuten  würde,  indem 
er  gut  und  böse  schlechthin  zu  vertauschen  vorschlage  (Ethik, 
III.  Aufl.  S.  521).  Aber  solche  Katastrophen,  wo  eine  Anschau- 
ung von  ihrem  geraden  Gegenteil  abgelöst  wurde,  haben  mehr- 
fach in  der  Geschichte  stattgefunden.  So  bedeutet  Piaton  im 
Verhältnisse  zum  älteren  Griechentum  in  vieler  Hinsicht  eine 
Katastrophe,  in  höherem  Maße  das  Christentum  gegen  das 
gesamte  Altertum,  in  mancher  Hinsicht  auch  Luther  gegen 
das  Mittelalter.  Es  ist  die  Art  aller  kleinen  Geister,  die  keine 
schöpferische  Ader  in  sich  spüren,  an  eine  Entwicklung  zu 
glauben,  die  gleichsam  sich  von  selber  gibt,  die  allmählich  kommt 
und  die  man  nicht  bewußt  vollziehen  könne.  Aber  immer  sind 
es  einzelne  große  Männer,  die  durch  entscheidende  Taten,  welche 
einen  katastrophischen  Charakter  haben,  die  Entwicklung 
machen.  Durch  jenen  kleinmütigen  Glauben  von  der  allmäh- 
lichen Entwicklung  suchen  die  kleinen  Geister  die  großen  und 
schöpferischen   sich  aus  dem  Wege  zu  schaffen.      Mit  diesem 


241 


Zweiter  Teil. 

Glauben  geben  sie  sich  das  Recht,  über  jene  hinweg  zu 
sehen. 

Die  Philosophen  haben,  wie  man  sieht,  ihre  Übereinstimmung 
mit  der  allgemeinen  Moral  nie  genug  betonen  können.  In  feier- 
lichen Worten  haben  sie  immerfort  ihre  Unschuld  beteuert. 
Vollauf  berechtigt  ist  deshalb  Nietzsches  herber  Vorwurf  gegen 
sie,  wenn  er  sagt:  ,,Dem  Volke  habt  ihr  gedient  und  des  Volkes 
Aberglauben,  ihr  berühmten  Weisen  alle  und  nicht  der  Wahrheit! 
Und  gerade  darum  zollte  man  euch  Ehrfurcht.  Und  darum 
auch  ertrug  man  euren  Unglauben,  weil  er  ein  Witz  und  Umweg 
war  zum  Volke.  So  läßt  der  Herr  seine  Sklaven  gewähren  und 
ergötzt  sich  noch  an  ihrem  Übermute.**  ,,Am  schlechtesten", 
sagt  Nietzsche,  ,, wurde  ich  bisher  von  den  Gelehrtesten  gehört." 
Das  trifft  auch  jetzt  noch  zu.  ,,Ich  möchte  verschenken  und 
austeilen,  bis  die  Weisen  unter  den  Menschen  wieder  einmal 
ihrer  Torheit  und  die  Armen  wieder  einmal  ihres  Reichtums 
froh  geworden  sind."  So  scheinen  jetzt  wirklich  die  Rollen 
vertauscht  zu  sein.  Als  Toren  stehen  die  Weisen  da.  Jeder  un- 
befangene Laie  aber  erkennt  die  Wahrheit. 

Wenn  man  die  Moralphilosophen  außer  Nietzsche  liest,  wird 
man  des  Staunens  nicht  müde,  wie  jung  das  europäische  Denken 
noch  ist.  Es  ist  einem,  als  ob  wir  eben  erst  angefangen  hätten, 
frei  zu  denken.  Wir  modernen  Europäer,  die  wir  uns  so  stolz 
gedünkt,  die  wir  so  erhaben  auf  die  alte  griechische  Bildung 
herabzublicken  das  Recht  zu  haben  meinten,  —  wie  wenig  Grund 
haben  wir  zu  diesem  Stolz  gehabt!  Jählings  werden  wir  von 
unserem  angemaßten  Thron  herabgestürzt.  Denn  die  griechischen 
Denker  waren  in  der  Moral  —  und  die  Moral  ist  und  bleibt 
der  wichtigste  Teil  der  Philosophie,  ihr  letzter  Zweck  und  ihre 
Krönung  —  sehr  viel  aufgeklärter  und  reifer  als  die  größten 
Denker  der  Neuzeit.  Sie  glaubten  nicht,  wie  es  unsere  Denker  in 
einer  fast  kindlichen  Einfalt  tun,  an  eine  feststehende,  aus- 
gemachte, unbedingt  bewährte  und  bewiesene  Moral,  an  ein  Ideal, 
das  d  a  ist,  das  sich  von  selbst  versteht.  Sie  wußten,  daß  auch  die 
Ideale  schwanken,  daß  es  erst  Aufgabe  des  Philosophen  ist,  das 
Gute  festzustellen,  das  Ideal  zu  schaffen.  Sie  waren  wirklich  der 
Ansicht,  die  Kant  für  ausgeschlossen  hält,  daß  die  Vergangenheit 

242 


Die  künftige  Religion.     I. 


über  das,  was  Pflicht  sei,  unwissend  und  in  durchgängigem 
Irrtum  wäre.  Sie  beabsichtigten  wirklich,  was  Kant  für  un- 
möglich hält,  eine  neue  Sittlichkeit  zuerst  zu  erfinden  und  ein- 
zuführen. Sie  verschmähten  es  weit,  wie  in  allem  anderen,  auch 
in  der  Moral  mit  der  Masse,  der  öffentlichen  Meinung,  dem 
öffentlichen  Gewissen  übereinzustimmen.  Diese  Übereinstimmung 
wäre  ihnen  höchstens  verdächtig  erschienen.  Diese  voraussetzungs- 
lose Freiheit  auch  für  das  Sittliche,  diese  Unbefangenheit  auch 
dem  Sittlichen  gegenüber,  wie  sie  die  griechische  Bildung  vor 
mehr  als  2  Jahrtausenden  bereits  besaß,  hat  erst  Nietzsche  dem 
europäischen  Denken  zurückerobert.  Wohl,  Nietzsche  hat  Vor- 
läufer hie  und  da  gehabt.  Verstreut  treten  in  der  Geschichte 
der  europäischen  Philosophie  ähnliche  Gedanken  wie  bei  Nietzsche 
auf.  Aber  sie  blieben  unwirksam.  Nietzsche  erst  hat  die  sittliche 
Freiheit,  das  Recht  zu  werten,  das  Recht  zum  freien  Ideal  so 
eindringlich  und  so  laut  gepredigt,  daß  diese  Freiheit  nun  nicht 
wieder  verloren  gehen  kann.  In  Nietzsche  erst  ist  der  echte, 
wahre  Freiheitssinn  der  Europäer,  ihr  eingeborener  Individua- 
lismus, durch  den  sich  Europa  von  allem  asiatischen  Barbaren- 
tum abhebt,  wieder  aufgelebt.  Mit  Nietzsche  beginnt  erst  die 
wahre,  die  größere  Renaissance.  Hierdurch  erst  ist 
die  griechische  Freiheit,  die  auch  die  sittliche  Freiheit  in  sich 
schließt,  die  Freiheit,  sich  selbst  das  sittliche  Ziel  zu  setzen,  wieder 
auferstanden. 

Aus  einer  jugendlichen,  halb  unbewußten  Sehnsucht  war  die 
erste  Renaissance  hervorgegangen.  Sie  war  nicht  entsprungen 
aus  einem  entschiedenen,  überzeugten  Willen;  sie  ruhte  nicht  auf 
einer  klaren  selbstgewissen  Sittlichkeit.  Es  war  ein  erster  Rausch, 
ein  Traum.  Deshalb  brach  dieses  Leben  auch  nach  kurzer, 
glanzvoller  Blüte  wieder  jäh  zusammen.  Sollte  die  Freiheit  in 
Europa  Dauer  haben,  mußte  der  Wille  sie  mit  voller  Überzeugung 
wählen.  Das  Gewissen  mußte  sich  befreien.  Auf  diesem 
Boden  echter,  wahrer  Freiheit  konnte  dann  der  Mensch  mit 
größerer  Hoffnung  nach  Glück  und  Schönheit  jagen.  Diese 
Aufgabe,  Europa  sittlich  zu  befreien,  dem  tiefsten  Willen, 
dem  Gewissen  die  Freiheit  zu  erkämpfen  und  so  den  festen  un- 
erschütterlichen  Unterbau  zu  legen  für  ein  noch  unbekanntes 


243 


Zweiter  Teil. 

ahnungsreiches  Leben  einer  schönern,  höheren  Zukunft  —  diese 
Aufgabe  war  dem  deutschen  Geiste  überlassen.  Luther,  der  so 
vielen  als  der  rauhe  Zerstörer  der  ersten  Renaissance  erscheint, 
legte  den  ersten  unscheinbaren  Keim  zu  einer  neuen  größeren 
Renaissance,  die  die  Zukunft  reifen  wird.  Durch  seine  Lehre 
vom  freien  Priestertum  der  Laien  befreite  Luther  die  Gewissen 
von  dem  äußeren  Bann  und  Zwang  der  Kirche.  Er  zerstörte 
das  furchtbare  Bollwerk  des  gebundenen  Geistes.  Was  nützte 
es,  wenn  einzelne  wenige,  Individuen,  Gruppen,  Stände,  sich 
die  Freiheit  nahmen?  Ein  starker  Hauch  des  allgemeinen  Willens 
blies  diese  verstreuten  Funken  wieder  aus.  Luther  errang  zwar 
nur  eine  gewisse,  eine  kleine,  beschränkte  Freiheit,  aber  eine 
sichere,  aber  eine  allgemeine,  dauernde.  Er  schenkte  dem  Bruch- 
teil der  Freiheit,  den  er  errungen,  zugleich  die  Kraft,  die  nur 
das  gute  Gewissen  leiht. 

Auf  Luther  folgte  Kant.  Luther  befreite  das  Gewissen  vom 
Druck  der  äußeren  Mächte,  aber  es  blieb  gebunden  im  Worte 
Gottes,  in  der  Offenbarung.  Kant  nimmt  ihm  auch  diese  Fessel 
ab.  Das  Sittengesetz  ist  ein  eingeborenes,  unveräußerliches 
Vernunftgesetz  des  Menschen.  Jeder  trägt  in  der  Tiefe  seines 
Busens  ein  heiliges,  unerbittliches:  Du  sollst!  mit  sich  herum. 
Das  ist  der  kategorische  Imperativ,  das  unbedingte  Sittengebot. 
Es  ist  nicht  verbürgt  und  nicht  abhängig  vom  religiösen  Glauben. 
Umgekehrt,  der  religiöse  Glaube  ist  abhängig  vom  kategorischen 
Imperativ  und  allein  durch  ihn  verbürgt.  Nicht  weil  wir  glauben, 
befolgen  wir  das  Sittengesetz,  sondern  daß  wir  das  Sittengesetz 
in  uns  haben  und  befolgen,  das  ist  der  einzige  letzte  Grund  zum 
Glauben. 

Als  dritter  tritt  Nietzsche  auf  den  Plan.  Nach  Kant  ist  das 
Sittengesetz  ein  selbständiges  Vernunftgesetz  des  Menschen. 
Dann  aber,  so  folgert  Nietzsche,  bestimmt  auch  der  Mensch 
den  Inhalt  dieses  Gesetzes.  Der  Inhalt  des  Sittengesetzes 
steht  für  Kant,  wie  wir  hörten,  fest.  Er  fragt  nur  nach  der 
Sanktion  des  Sittengesetzes.  Die  Pflicht  als  solche,  was 
das  Gute  sei,  was  der  Mensch  zu  tun  und  zu  lassen  habe,  das, 
meinte  Kant,  sei  allen  gleich  bekannt,  gewiß.  Die  Pflicht  ver- 
stehe sich  von  selbst.     Er  fragte  nur,  wer  die  Pflicht  uns  auf- 

244 


Die  künftige  Religion.     I. 


erlegt  und  gab  zur  Antwort:  wir  selbst  uns  selbst.  Nietzsche 
aber  zieht  daraus  den  Schluß:  Sind  wir  selbst  die  Quelle 
des  Sittengesetzes,  so  schaffen  wir  auch  den  Inhalt  dieses 
Gesetzes,  so  bestimmen  wir  auch  aus  freiem  Willen,  nach  eigenem 
Wunsch  und  eigener  Überzeugung,  was  gut  sein  soll,  was  wir 
als  wünschbar,  als  erhaben,  als  erstrebenswürdig  gelten 
lassen  wollen.  Der  kategorische  Imperativ  muß  sich  verwandeln 
in  den  freien  Wert.  Wir  müssen  uns  nicht  nur  selber 
an  den  höchsten  Wert  binden,  wie  Kant  es  wollte,  sondern  wir 
müssen  auch  erst  selbst  den  höchsten  Wert  bestimmen,  an  den 
wir  uns  binden  wollen.  Der  Mensch  ist  sich  allein  verantwortlich, 
nicht  nur  für  die  einzelne  Tat,  sondern  auch  für  das  Ideal,  den 
Maßstab,  an  dem  er  seine  Tat  mißt.  Wenn  aber  der  Mensch 
das  Gute,  das  Ideal  sich  selber  wählt,  so  wird  er  es  auch  von 
ganzem  Herzen  lieben,  die  selbstgewählten  Pflichten  auch  frei 
und  freudig  mit  jedem  Atemzug  erfüllen.  In  herber,  kalter 
Unerbittlichkeit,  in  düsterer  Strenge  steht  der  kategorische  Im- 
perativ vor  Kant.  Wir  aber  wollen  nicht  die  Schergen  der 
Tugend  sein,  sondern  deren  freie  Künstler.  ,,Du  kannst,  denn 
du  sollst!",  so  hieß  es  einst  mit  rauher  Stimme.  ,,Du  wirst,  denn 
du  willst",  so  tönt  es  jetzt  mit  freudigem   Klange. 

Immer  wird  Nietzsche  mit  Luther  und  Kant  zusammen  als 
der  dritte  große  deutsche  Gewissensbefreier  zu  nennen  sein. 
Man  darf  sich  durch  Nietzsches  Haß  auf  beide  Männer  nicht 
täuschen  lassen.  Daß  sie  nach  dem  gleichen  Ziele  strebten  wie 
er,  aber  auf  halbem  oder  noch  kürzerem  Wege  stehen  blieben, 
das  reizte  seine  leidenschaftliche  Seele,  die  schnell  zum  Ziele 
stürmte.  In  Stunden  der  Selbstbesinnung  —  denn  Nietzsche 
schuf  nur  im  Rausch  und  Sturm  —  war  er  sich  dieser  seiner 
Verwandtschaft  auch  bewußt.  Ohne  Zweifel,  er  war  ihres  Geistes. 
Dieselbe  sittlich  ernste  Leidenschaft,  derselbe  glühende  Frei- 
heitsdrang. 

So  ward  Europa  frei.  Nun  kann  es  beginnen  die  größere 
Renaissance,  wie  ich  das  Kommende  taufte.  Nun  ist  der  euro- 
päische Geist  zu  der  alten,  vollen  Griechenfreiheit  zurückgekehrt. 
Nun  blühe  auf,  trete  ans  Licht  unser  echtes  eingeborenes  Leben, 
unser  Tiefstes,  Stärkstes,  unser  verborgenes  Gold.  Zwar  schwindel- 


245 


Zweiter  Teil. 

erregend  ist  die  Freiheit  des  freien  Wertes,  gefährlich,  unheil- 
schwanger. Aber  wir  können  dieser  Freiheit  nicht  mehr  ent- 
rinnen. Wir  müßten  unser  Bewußtsein  töten  oder  zu  Lügnern 
werden,  da  unsere  Klarheit,  die  wachsende  Erleuchtung  un- 
seres Geistes  diese  Freiheit  uns  unerbittlich  aufzwingt.  Und 
alsbald  auch  werden  wir  uns  an  die  Freiheit  des  freien  Wertes 
gewöhnen.  Wenn  wir  uns  sammeln,  unsere  Kraft  bedenken, 
werden  wir  nicht  mehr  schaudern.  Wir  werden  die  grenzenlose 
Freiheit,  die  uns  ward,  nicht  mißbrauchen.  Unseren  Feinden, 
die  in  der  Knechtschaft,  für  die  Knechtschaft  erzogen  sind, 
werden  wir  nicht  das  heißersehnte  Schauspiel  geben,  daß  wir 
an  unserer  Freiheit  zugrunde  gehen.  Wir  werden  sie  nur  zu 
großen  Taten  nützen.  Mag  das  Griechentum,  das  zum  ersten 
und  bisher  einzigen  Male  diese  schrankenlose  Freiheit,  die  Frei- 
heit auch  im  Sittlichen  besessen  hatte,  an  ihr  gescheitert  sein. 
Uns  wird  das  Gleiche  nicht  begegnen.  Auch  ohne  die  eiserne 
Kette  des  kategorischen  Imperativs,  auch  mit  dem  freien  Wert, 
dem  freien  Ideal  werden  wir  leben  und  größer  leben.  Was  zum 
ersten  Male  mißlang,  braucht  nicht  zum  zweiten  Male  zu  miß- 
lingen. Wohl,  Großes  kann  nur  die  Einheit  schaffen,  ein  einiger, 
allumschlingender  Sinn  der  Geister.  Aber  verächtlich  ist  die 
Einheit,  die  die  rohe  Macht  und  Gewalt  erzwingt.  In  der  Wirt- 
schaft, im  Staat,  da  mag  der  Zwang  nützlich  und  vonnöten 
sein,  da  ist  er  vielleicht  mit  Recht  zu  Hause.  Aber  im  Leben 
des  Geistes,  im  Heiligsten,  im  verborgenen  Schatz  des  Herzens, 
da  kann  nur  ungewollt  und  unerzwungen  aus  der  reichsten 
Freiheit  die  Einheit  wachsen.  Wenn  der  freie  Wert  herrscht, 
dann  werden  mannigfaltige,  entgegengesetzte  Ideale  aufblühen. 
Der  eine  wird  begehren,  was  der  andere  flieht.  Aber  aus  dem 
stillen  Kampf  der  Ideale  wird  sich  eine  unbemerkte  höhere 
Einheit  ergeben,  eine  Harmonie,  nicht  ein  einziger,  schriller, 
toter  Ton,  sondern  ein  brausender  Zusammenklang,  ein  viel- 
stimmiger rauschender  Gesang,  der  erst  die  ganze  menschliche 
Seele  zum  Erklingen  bringt.  Darum  fürchten  wir  den  freien 
Wert  nicht!  Hier  ist  eine  neue  sprudelnde  Quelle  geöffnet, 
die  unermeßliches  Leben  sprießen  lassen  wird.  Die  Menschheit 
war  bisher  in  all  ihrem  Reichtum  arm.     Nun  können  gefesselte 

246 


Die  künftige  Religion.     I. 


Kräfte  ans  Licht.  Nun  kreißt  der  Berg  der  Menschen-Zukunft. 
,, Tausend  Pfade  gibt  es,  die  nie  noch  gegangen  sind;  tausend 
Gesundheiten  und  verborgene  Eilande  des  Lebens.  Unerschöpft 
und  unentdeckt  ist  immer  noch  Mensch  und  Menschenerde." 

Ob  das  Ideal,  das  Nietzsche  aufstellt,  ein  mögliches,  be- 
rechtigtes, heilsames  Ideal  ist,  ist  eine  andere  Frage.  Nietzsche 
nämlich  fordert  nicht  nur,  daß  die  künftigen  Philosophen  schätzen, 
Werte,  Ideale  aufrichten  sollen,  er  versucht  auf  der  Stelle  selbst 
ein  Ideal  zu  schaffen.  Dies  Ideal  mag  mangelhaft,  einseitig, 
gewaltsam  sein.  Man  bedenke,  daß  es  ein  erster  Versuch  ist. 
Darin  aber  wird  Nietzsche  ewig  Recht  haben,  daß  die  Philosophen 
hinfort  die  Pflicht  haben,  Ideale  zu  schaffen.  Nicht  w  i  e  Nietzsche 
wertet,  ist  das  Entscheidende,  Wichtige,  Schicksalsvolle,  sondern 
d  a  ß  er  wertet,  daß  er  der  Philosophie  dieses  Ziel  gibt,  diese 
Aufgabe  stellt.  Nietzsche  ist  ein  Eroberer,  Abenteurer,  ein  Co- 
lumbus  des  Geistes.  Er  entdeckt  neues  Land.  Nicht  nur  die 
Erbauer  und  Vollender,  die  letzten  Erfüller  einer  langen  Hoff- 
nung sind  die  großen  Wohltäter  der  Menschheit,  sondern  auch 
die  unruhigen  Entdecker  und  Seefahrer,  die  auf  Eroberung 
ausziehen.  Die  Menschen  des  Erdbebens,  die  das  Morsche  er- 
schüttern und  neue  Quellen  aufschlagen,  aus  denen  brausend 
und  flutend  sich  wilde  Wasser  ergießen  —  ob  sie  geringer  sind, 
als  die  stillen,  hehren  Vollender,  die  die  Krone  der  Menschheit 
erringen  und  reifen  Segen  aus  ihren  Füllhörnern  streuen,  wer 
will  das  sagen?  Aber  notwendig  sind  auch  jene  ersteren,  wilden, 
gewaltsamen.  Nietzsche  ist  ein  Mensch  des  Sturmes  und  Dranges. 
Er  kennt  keine  Grenzen.  Er  hat  sich  nicht  im  Zaume.  Seine 
Leidenschaft  reißt  ihn  immer  um  einen  Schritt  über  das  Ziel 
hinaus.  Aber  all  diese  gährende  Unruhe,  diese  Wildheit,  dieser 
Übermut,  was  sind  sie  anders  als  der  Rausch  der  Jugend?  Nur 
die  waghalsige,  verwegene,  ehrfurchtslose,  sehnsüchtige  Jugend 
kann  Werke  vollführen,  wie  sie  Nietzsche  vollführte.  Ohne 
diesen  schäumenden  Übermut  kein  neues  Land,  nicht  der  Auf- 
gang eines  neuen  Morgens.  Wir  müssen  Nietzsche  viel  nach- 
sehen. Er  weiß  es  selbst,  daß  er  Nachsicht  bedarf,  gesteht  er 
doch  freimütig:  ,, Töricht  ist  mein  Glück  und  Törichtes  wird  es 
reden,  zu  jung  noch  ist  es,  so  habt  Geduld  mit  ihm."     Sie  nennen 


247 


Zweiter  Teil. 


ihn  krank.  Aber  seine  Krankheit  ist  die  Krankheit  der  Jugend, 
die  an  der  Überfülle  zerbricht.  Die  Vernünftigen,  die  ihn  schel- 
ten, die  sich  vor  seinen  Ausschweifungen  entsetzt  bekreuzigen, 
sind  toter  Staub  gegen  sein  blühendes  Leben.  Kann  es  etwas 
Schöneres,  Berauschenderes  geben  als  Torheiten  der  Jugend? 
Wessen  Herz  lacht  nicht  vor  Wonne,  wenn  die  Jugend  im  Über- 
schwange vorüberbraust?  Und  habe  er  noch  so  viel  Schlimmes 
gesagt  und  komme  er  öfters,  wie  es  scheint,  frech  und  schamlos 
daher  und  kenne  er  nirgends  Ehrfurcht,  eine  solche  Vogelfreiheit 
nur  konnte  diesen  kühnen  Flug  nehmen,  konnte  über  den  tiefen 
Abgrund  hinüber,  der  das  neue  Land  der  Freiheit  von  den  alten, 
fest  umzirkten  Sitzen  schied.  Er  war  entzückt,  sein  Herz  schwoll 
über  beim  Anblick  neuer  Morgenröten.  Von  diesem  Anblick 
überwältigt,  verlor  seine  Seele  das  Gleichgewicht.  Er  fühlte 
sich  aller  Banden  los.  Aber  erobert  ist  durch  ihn  ein  neues 
Reich,  aufgetan  das  Tor  zur  neuen  Herrlichkeiten.  Auf  seinem 
Pfade  wird  die  Zukunft  nachdrängen,  sie  wird  erfüllen,  was 
er  versuchte,  vollbringen,  was  er  ersehnte. 

Nietzsche  heißt  die  Philosophen  nicht  nur  die  Wahrheit  er- 
kennen, das  letzt-mögliche  Wissen  gewinnen,  sondern  auch  ein 
Ideal  schaffen.  Wenn  die  Philosophen  die  allgemeinste  und 
umfassendste  Wahrheit  erkannt  haben,  dann  haben  sie  ihre 
Aufgabe  erst  zur  Hälfte  erfüllt.  Dann  tritt  noch  ihr  Wille  auf 
den  Plan,  dann  hat  ihr  Wille  noch  sein  Wort  zu  sprechen. 
Er  stellt  sich  vor  die  Welt  der  enthüllten  Erscheinungen  hin  und 
schätzt  die  Dinge  nach  dem  Werte  ab,  den  er  ihnen  leihen 
will.  Er  bestimmt  einen  höchsten  Wert  und  auf  diesen  höchsten 
Wert  hin  heißt  er  die  Menschheit  ihre  Blicke  und  ihre  Kräfte 
richten.  Aus  seiner  Erkenntnis  heraus  wird  der  Philosoph  zum 
Führer  und  Befehlshaber  der  Menschheit,  der  ihr  ihre  Bahnen 
vorschreibt,  ihr  Gesetze  auferlegt,  die  sie  zum  Heile  führen  sollen. 
Der  Philosoph  darf  nicht  an  der  Fülle  seines  Wissens  ersticken. 
Es  darf  ihn  nicht  ausdörren,  so  daß  nichts  als  reines  Denken  in 
ihm  übrig  bleibt.  Sondern  aus  all  seinem  Wissen  muß  der 
Philosoph  für  seinen  Willen,  für  sein  schätzendes,  wertendes 
Herz,  seinen  eigentlichen  Lebens  quell  sich  Nahrung  saugen. 
Sein  Wille  muß  mit  seinem  Wissen  wachsen.     Und  auf  der  Höhe 


248 


Die  künftige  Religion.    I. 


seines  Wissens  angelangt,  muß  der  also  gestärkte  und  gesättigte 
Wille,  der  plötzlich  sein  Ziel,  seine  höchste  Wünschbarkeit  er- 
kennt, in  heißer,  glühender  Sehnsucht  sich  entladen.  Ein  Sturm 
muß  das  bewegliche  Herz,  seine  wogende  Seele  packen,  und 
nun  strömt  seine  ganze  Kraft  und  Leidenschaft  brausend  seinem 
höchsten  Ideale  zu.  Eine  unendliche  Liebe  ist  in  seiner  Seele 
aufgegangen.  Sein  Herz  wird  von  einer  höchsten  Schönheit 
angelockt  und  nun  hebt  sich  in  seinem  Innern  jeder  Drang  und 
jedes  Streben.  Sein  Wille  spannt  seine  letzten  Kräfte  an,  daß 
er  sein  Ideal  zum  Leuchten  bringe,  daß  er  es  als  schönsten  Stern 
vor  der  Menschheit  aufglänzen  lasse,  damit  sie  die  gleiche  Liebe, 
das  gleiche  Verlangen  fühle.  So  hat  nicht  nur  das  Denken, 
sondern  auch  das  Streben  des  Menschen  sein  Maß  und  sein 
Ziel  gefunden.  So  will  Nietzsche  die  Philosophie  geübt  wissen. 
In  diesem  Sinne,  daß  sie  das  Ideal  heimbringen,  ruft  Nietzsche 
den  Philosophen  zu:  ,,Auf  die  Schiffe,  ihr  Philosophen,  auf  die 
Schiffe!"  Das  mag  unseren  Philosophiegelehrten,  die  fromm 
und  gläubig  als  heimliche  Diener  der  Kirche  sich  in  dem  Besitze 
des  echten  und  einzigen  Ideales  wähnen,  fremd  in  die  Ohren 
tönen.  Haben  sie  doch  alles,  was  sie  begehren;  ihnen  fehlt  es 
an  nichts.  Wir  aber,  die  wir  nicht  so  gelehrt  sind,  wir  haben 
eine  unbezwingliche  Sehnsucht  nach  einem  neuen  Ideal.  Wir 
fühlen  eine  unbeschreibliche  Leere  im  Busen.  Wir  möchten 
so  aus  innigstem,  tiefstem  Herzen  wieder  verehren.  Wir  möchten 
ein  Ziel  begreifen,  das  uns  die  letzte  Kraft  entlockt.  Denn  uns 
ist  das  alte  Ideal  verblaßt.  Es  blickt  uns  mit  hohlen,  toten  Zügen 
an.  An  ihm  mögen  sich  die  erheben  und  erbauen,  die  kein  Herz 
im  Busen  tragen,  denen  alles  Herz  vom  grübelnden  Geiste  auf- 
gezehrt ward.  Für  sie  mag  das  ererbte  Ideal  noch  Früchte 
genug  abwerfen,  so  dürr  und  mager  sie  auch  sind.  Wir  aber 
sind  hungrig  und  durstig  geworden  in  allem  Reichtum.  Uns 
will  die  Sehnsucht  nach  neuen  Hoffnungen,  neuen  Schönheiten, 
neuen  Anbetungen  die  Brust  sprengen.  Uns  alle  hat  Nietzsche 
ins  Herz  getroffen,  wenn  er  den  Philosophen  zuruft:  Gebt  Ideale; 
euer  ganzes  Streben  ist  unnütz,  ihr  seid  verworfen,  wenn  ihr 
nicht  Ideale  gebt.  Lange  genug  hat  die  Philosophie  mit  ihrem 
Wissen  geprunkt.     Es  ist  Zeit,    daß   die  Philosophie   mit   einem 

Horneffer,  Das  klassische  Ideal.      0,AQ  l6 


249 


Zweiter  Teil. 

Ideale,  das  die  Herzen  erwärmt,  ihr  Recht  beweist.  Immer  hat 
sie  bisher  mit  einem  Nichts  uns  abgespeist.  Wir  begehrten  Brot, 
und  sie  reichte  uns  einen  Stein.  Jetzt  wird  unser  Begehren 
lauter.  Nietzsche  hat  mit  seiner  Losung  der  Zeit  aus  der  Seele 
gesprochen.  Seine  Hoffnung  muß  sich  erfüllen.  Sein  schmerz- 
hafter Ruf  nach  Idealen,  nach  vollblütigen,  dem  tiefsten  Lebens- 
quell entstiegenen  Idealen  kann  nicht  verhallen.  Er  wird  früher 
oder  später  Geister  wecken,  die  diese  schwere  Bürde  mutig 
auf  sich  nehmen.  Er  wird  schließlich  zu  Herzen  dringen,  die 
so  voller  Sehnsucht  sind,  daß  sie  die  Scham  verlieren,  daß  sie 
ohne  Scheu  nach  dem  Hohen  und  Höchsten  greifen,  daß  sie 
neue  Heiligtümer  aufrichten,  zu  denen  sie  selbst  und  alle,  die 
mit  ihnen  gleicher  Gesinnung  sind,  wallen  können.  Sie  werden 
einen  neuen  Himmel  über  dem  Menschen  ausspannen  mit  einer 
neuen  Sonne,  die  dem  Leben  neue  Wärme,  Licht  und  Kraft  gibt. 
Diese  Philosophie  aber,  die  solche  Güter  bringt,  die  den 
Menschen  nicht  nur  die  letzte  Aufklärung  über  das  geheimnis- 
volle Dasein  gibt,  sondern  ihm  auch  noch  ein  Ideal  schenkt, 
die  ihn  nicht  nur  unterrichtet,  sondern  erzieht,  diese 
schaffende  Philosophie  ist  auch  imstande,  die  erstorbene 
Religion  dem  Menschen  zu  ersetzen,  die  Lücke  auszufüllen, 
die  die  versunkene  Religion  in  seinem  Innern  gerissen  hat. 
Hiermit  kehren  wir  zu  unserem  Ausgangspunkt  zurück.  Was 
soll  aus  der  Religion  werden?  Wer  und  was  soll  uns  die  Religion 
ersetzen?  Denn  die  Religion,  wie  sie  bisher  in  der  Geschichte 
bestanden,  ist  tot  und  begraben.  So  Geist  wie  Herz  hat  sich 
von  ihr  abgekehrt  und  beide  schmachten  nach  neuen  Bil- 
dungen, die  ihre  Aufgabe  erben.  Denn  ohne  das  tiefe  Glück 
der  Erleuchtung,  ohne  den  Schwung,  den  großen  Antrieb,  den 
die  Religion  den  Vätern  gab,  mögen  wir  nicht  leben.  Ohne 
dies  ist  uns  das  Leben  schal  und  leer.  Diesen  Ersatz  der  Religion 
kann  die  Philosophie  leisten,  die  mit  Nietzsche  ihren  Einzug 
hält,  eine  Philosophie,  die  nicht  nur  Erkenntnis  ist,  sondern  die 
die  ganze  Seele  des  Menschen  erschöpft,  gleichsam  in  sich  schlingt, 
indem  sie  alle  Regungen,  alles  Verlangen  und  Bedürfen  der  Seele 
stillt  und  befriedigt.  Wenn  der  Mensch  belehrt  ist  nicht  nur 
über  das  Seiende,   sondern  auch  über  das  Sollende,  wenn  ihm 

250 


Die  künftige  Religion.    I. 


seine  tiefste  Bestimmung  und  Bedeutung,  seine  höchste  Aufgabe 
und  PfHcht  enthüllt  ist,  was  ihm  zu  tun  obliegt,  und  was  seiner 
als  Lohn  und  Erfolg  seines  Strebens  harrt,  wenn  ein  Ideal  als 
stete  Sehnsucht  in  seiner  Seele  brennt,  als  stete  Erfüllung  seine 
Freude  weckt,  dann  hat  der  Mensch  alles  denkbare  Heil  erreicht, 
dann  ist  ihm  geworden,  was  ihm  werden  kann,  dann  ist  er  erlöst, 
befreit.  Offen  liegt  die  Welt  vor  ihm;  sein  Weg  ist  ihm  gebahnt. 
Nun  schwellt  die  Hoffnung  ihm  den  Busen.  Frohen  Mutes 
strebt  er  seinem  höchsten  Glück  und  seiner  höchsten  Freude  zu. 
Man  wende  nicht  ein,  daß  die  Philosophie  sich  immer  in 
engen  Grenzen  halten  müsse,  daß  sie,  ob  sie  nun  über  das  all- 
gemeinste Wesen  und  die  Wurzel  des  Daseins  grübele,  oder 
Ziele  für  das  Leben  festsetze,  Ideale  für  den  Menschen  aufrichte, 
immer  in  den  Grenzen  des  wissenschaftlich  Gewissen  bleiben 
müsse,  daß  hiermit  aber  das  Herz  des  Menschen  sich  nicht  zu- 
frieden geben  könne,  sondern  jenseits  dieser  Grenze  befinde 
sich  das  unbegrenzte  Reich  des  Möglichen,  des  Traumes,  der 
Hoffnung.  Und  dieses  sei  das  eigentliche  Reich  der  Religion, 
so  daß  auch  in  Zukunft  Philosophie  und  Religion  als  gesonderte 
Mächte  mit  gesonderten  Pflichten  nebeneinander  bestehen  und 
gedeihen  könnten.  Nein,  das  alles  ist  falsch.  Die  Philosophie 
dringt  bis  an  die  letzt-erreichbare  Grenze  vor.  Sie  macht  dort 
Halt,  wo  die  Gedanken  durch  ihre  Unbestimmtheit,  Grund-  und 
Haltlosigkeit  den  Wert  verlieren.  Alle  menschlichen  Vorstel- 
lungen haben  nur  Wert,  wenn  sie  möglich,  denkbar,  wahrschein- 
lich bleiben,  wenn  sie  noch  einen  gewissen  Grad  der  Zuverlässig- 
keit wahren.  Überschreiten  sie  diese  Grenze,  stürzen  sie  sich 
ins  Uferlose,  verlieren  sie  sich  im  Unermeßlichen,  Unfaßlichen, 
Übernatürlichen,  dann  werden  sie  Schaum  und  Dunst.  Kind- 
lichen Zeitaltern  mochte  es  möglich  sein,  an  die  unbegründetsten, 
ausschweifendsten  Vorstellungen,  wie  an  etwas  Handgreifliches 
fest  zu  glauben,  wenn  sie  nur  mit  kräftiger  Überzeugung  vor- 
getragen wurden,  wenn  sie  nur  recht  entschieden  auf  Offen- 
barung pochten.  Diese  Zeiten  sind  dahin.  Kinder  mochte  man 
mit  solchen  Gaukeleien,  die  sich  ohne  jeden  Anhalt,  jedes  wahre 
Recht  für  Wirklichkeiten  ausgaben,  abspeisen.  Wir  verlangen 
anderes.     Wir  wollen  Wahrheit,   nicht  Trug  und  Traum.     Wo 


251  i6' 


Zweiter  Teil. 

uns  der  Schein  der  Wahrheit  entfheht,  wo  wir  nur  noch  glauben 
sollen,  wo  uns  kein  Fingerzeig  der  Erfahrung  mehr  Andeu- 
tungen gibt,  da  kehren  wir  um,  da  beginnt  das  Reich  des  Nichts, 
da  suchen  wir  nicht  mehr  Schätze.  Freilich  dürfen  wir  auf  der 
andern  Seite  nicht  allzu  ängstlich  sein.  Wie  wir  die  Grenzen 
unserer  Vorstellung  nicht  zu  w  e  i  t  ziehen  dürfen,  so  dürfen  wir 
sie  auch  nicht  zu  e  n  g  ziehen.  W  o  sie  zu  ziehen  ist,  läßt  sich 
nicht  bestimmt  festsetzen,  das  schwankt  nach  den  Anschauungen 
der  verschiedenen  Menschen  und  Zeiten.  Jedenfalls  aber  füllt 
die  Philosophie  das  ganze  Reich  der  menschlichen  Vorstellungs- 
welt aus.  Sie  läßt  für  die  Religion  keinen  Raum.  Von  gegebenen 
Voraussetzungen  ausgehend  schreitet  sie  weiter  und  weiter,  bis 
die  Vorstellungen  den  Boden  der  Erfahrung,  wenigstens  den 
Anhalt  der  Erfahrungen  verlieren.  Hier  wendet  sich  der  Geist. 
Was  darüber  liegt,  ist  öde  und  unfruchtbar.  Nur  was  mensch- 
lich bleibt,  hat  für  Menschen  Wert. 

Aber  ein  letzter  Zug  ist  in  das  Wesen  der  kommenden  Philo- 
sophen, die  unsere  Erretter  werden  sollen,  noch  einzutragen. 
Eine  letzte  Aufgabe,  die  zudem  die  schwerste  ist,  fällt  ihnen  noch 
zu,  wenn  sie  die  Erwartungen,  die  wir  von  ihnen  hegen,  erfüllen 
sollen.  Wenn  die  künftigen  Philosophen  nicht  nur  das  höchste 
Wissen  vom  Dasein  bei  sich  vereinigen,  in  ihrem  Geiste  sammeln, 
was  man  schon  von  jeher  ihnen  zuschrieb,  sondern  wenn  sie 
auch  aus  diesem  ihrem  Wissen  noch  das  Ideal  ableiten,  das 
höchste  Gut,  das  letzte  Ziel  des  Menschen  bestimmen,  seine 
obersten  Werte  ihm  enthüllen  sollen  —  die  neue  verhängnis- 
volle Aufgabe,  die  Nietzsche  den  Philosophen  zuweist  —  so  haben 
sie  auch  noch  eine  dritte  und  letzte  Pflicht  zu  erfüllen:  sie  müssen 
das  Ideal,  das  sie  vertreten,  auch  selber  sein,  sie  müssen  es 
darstellen,  verkörpern,  lebendig  vor  Augen  führen.  Was  nützen 
die  Wertschätzungen,  wenn  ihre  Urheber  ihnen  nicht  zur  Wir- 
kung verhelfen,  ihnen  nicht  die  Macht  über  die  Gemüter  geben, 
daß  diese  in  Liebe  und  Verlangen  nach  diesen  Werten  und  Zielen 
entbrennen  und  sie  mit  aller  Leidenschaft  suchen?  Die  Schöpfer 
eines  Ideals  haben  ihrem  Ideale,  dem  sie  sich  hingegeben  haben, 
das  lockend  und  drohend  über  ihnen  schwebt,  auch  die  Einkehr 
in  die  Seele  zu  verschaffen,  müssen  ihm  auch  die  Tore  der  Herzen 

252 


Die  künftige  Religion.    I. 


öffnen.  Und  nicht  nur  dies:  wenn  sie  die  hart  verriegelten  Seelen 
gesprengt  haben,  so  müssen  sie  ihr  Ideal  den  Seelen  auch  ein- 
prägen, eingraben,  so  fest  und  tief,  daß  es  die  Herzen  ganz  in 
Besitz  nimmt  und  dauernd  zu  seiner  Wohnstätte  macht.  Bis  in  die 
unterste  Tiefe  jeder  Seele  müssen  sie  das  Ideal  hinab-  und  hinein- 
senken, daß  die  Seele  es  nicht  wieder  losläßt,  sondern  mit  um- 
klammernder Liebe  festhält  und  nur  noch  in  diesem  Ideale  lebt 
und  strebt.  Wie  aber  sollen  die  Philosophen,  die  Erfinder  und 
Träger  des  Ideals,  dies  erreichen,  wenn  nicht  dadurch,  daß  sie 
das  Ideal  selber  sind?  Sie  müssen  selbst  ein  lebendes  Zeugnis 
ihres  Ideals  sein.  Das  macht  die  Herzen  erbeben  und  zittern, 
erbeben  vor  Bewunderung  und  erbeben  vor  Sehnsucht,  dem  ge- 
schauten Vorbild  es  gleich  zu  tun.  Die  Philosophen  müssen  ihr 
Ideal  selber  betätigen,  müssen  ihm  durch  das  eigene  Leben 
Leuchtkraft  geben.  So  allein  werden  sie  zugleich  die  Erzieher 
zu  ihrem  Ideale.  Indem  sie  das  Ideal  zuerst  selbst  am  eigenen 
Leibe  und  Leben  erproben  und  bewähren,  schaffen  sie  ihm 
erst  die  Beredsamkeit  und  hinreißende  Sprache,  die  die  Geister 
fängt  und  zu  Liebhabern,  Anbetern,  Gefolgsmännern  ihres  Ideales 
macht.  Das  Leben  ist  für  den  Philosophen  ein  Versuch,  ein  Spiel 
um  alles.  Sein  Alles  gibt  er  preis,  bringt  er  seinem  Ideal  zum 
Opfer.  In  ihm  selbst,  durch  ihn  selbst  soll  es  leben.  Lebt  es 
aber  in  ihm,  so  ist  die  Macht  dieses  Ideals  unwiderstehlich. 
Dann  lenkt  es  alle  bewundernden  Blicke  auf  sich.  Dann  lernt 
jeder  schauen,  lernt  sich  mit  dem  Geschauten  messen.  Und 
fällt  dieser  Vergleich  zu  den  eigenen  Ungunsten  aus,  zwingt  er 
zur  Selbsterniedrigung  und  Selbstbeschämung,  dann  wachen  die 
Seelen,  die  noch  einen  letzten  Rest  von  idealer  Sehnsucht  und 
Ehrfurcht  vor  menschlicher  Würde  haben,  auf  und  ringen  fort 
und  fort  um  die  Nachahmung  ihres  Vorbildes,  die  Verkörperung 
ihrer  Wertschätzung,  die  Verwirklichung  ihrer  Sehnsucht.  Dann 
ruhen  sie  nicht,  bis  sie  nicht  wenigstens  im  Kleinen  auch  ihres 
Lebens  das  Ideal  bewähren  und  beweisen.  So  hat  das  ganze 
Leben  eine  neue  Triebkraft  bekommen.  Ein  neues  Grünen,  ein 
neues  Quellen  und  Schwellen  ist  allerorten  zu  spüren.  Der 
lockende  Reiz  warmen  Frühlingshauches  ist  über  das  Leben 
gefahren  und  nun  bricht  alle  totgeglaubte,  winterlich  erfrorene, 


253 


Zweiter  Teil. 

schlummernde  Kraft  wieder  hervor.  Ein  neues  Leben  hebt  an. 
Als  Verkündiger,  und  zugleich  als  Vorbilder,  Muster  eines  Ideals 
sind  die  Philosophen  zu  Erweckern,  Wiedererweckern  des  Lebens 
geworden,  das  tief  vergraben,  verschüttet  gewesen  war,  das  siech, 
verdorben  gewesen  war,  das  ziellos,  haltlos  dahintaumelte,  das 
daniederlag  und  im  Staube  verkam.  Die  Gelehrsamkeit  ist 
wenig.  Sie  erhält  erst  Wert,  wenn  sie  sich  in  eine  Lebensauf- 
fassung umsetzt,  die  den  menschlichen  Kräften  ihr  Ziel  gibt. 
Aber  über  alles  geht  eine  einzige  Tat  des  Charakters  im  Dienste 
eines  Ideals.  Die  Wahrheit  ist  wenig,  die  Wahrhaftig- 
keit ist  alles.  Wahrheiten  finden  ist  nicht  gar  schwer,  aber 
den  gefundenen  Wahrheiten  im  Leben  dienen,  ihr  getreuer  Herold 
und  Vollstrecker  im  Leben  sein  —  dem  entziehen  sich  viele. 
Und  wehe  dem  Leben,  wenn  diese  Aufrichtigen,  Wahrhaftigen, 
diese  Vorbilder  und  Muster  der  menschlichen  Tugend  und  Würde 
ganz  fehlen.  Dann  ist  der  Zusammenbruch  unvermeidlich  und 
nur  noch  kurze  Frist  ist  diesem  führer-  und  vorbildlosen  Leben 
gegönnt;  dann  naht  das  Verhängnis.  Wo  es  keine  sittlichen 
Erzieher  mehr  gibt  in  Wort  und  Tat,  da  ist  dem  Leben  das  Urteil 
gesprochen. 

Und  mangelt  es  unserer  Zeit  nicht  ganz  an  diesen  sittlichen 
Führern?  Irren  wir  nicht  ohne  Ziel,  ohne  Ausblick  und  Hoff- 
nung umher  in  einer  öden  Wüste?  Wo  zeigt  sich  ein  Mann, 
an  dem  wir  uns  aufrichten  könnten,  der  ein  Ideal  verkörperte? 
Wo  sind  die  Menschen,  die  überhaupt  meinen,  daß  Ideale  da 
sind,  damit  man  ihnen  mit  der  Tat  und  nicht  nur  mit  dem  Worte 
diene?  Wo  ist  einer,  der  wahrhaft  den  Mut  zu  dem  hat,  was  er 
denkt  und  glaubt,  den  sein  Ideal  erfüllt,  so,  daß  er  seinem  Ideale 
ohne  Rest  nachkommt,  sein  Ideal  erschöpft?  Feigheit,  Furcht 
und  Unterwerfung  unter  Staat  und  öffentliche  Meinung  —  das 
ist  der  deutsche  Geist  geworden.  Die  Unwahrhaftigkeit  unserer 
Denker,  derer,  die  sich,  wie  sie  vorgeben,  der  Wahrheit  widmen, 
deren  Lüge  schreit  zum  Himmel.  Ich  habe  die  Torheiten  und 
engen  Auffassungen  unserer  Philosophen  gerügt.  Was  will  aber 
dies  besagen  gegen  die  Unwahrhaftigkeit  und  Lüge,  deren  sie 
sich  täglich,  stündlich  schuldig  machen!  Solche  Philosophen 
können  allerdings  unser  Volk  nicht  erretten,   können  uns  die 

254 


Die  künftige  Religion.    I. 


Religion,  deren  wir  überdrüssig  geworden  sind,  nicht  verschmerzen 
lassen.  Philosophen  müssen  Männer  sein.  Furcht  ist  für  Denker 
und  sonderlich  für  alle  diejenigen,  welche  die  letzte  Wahrheit, 
letzte  Weisheit  suchen,  ein  verbotenes  Gefühl.  Anstatt  zur 
Wahrheit,  zur  Wahrhaftigkeit  zu  führen,  zur  Aufrichtigkeit, 
zum  geraden  Sinn,  erziehen  die  Philosophen  unsere  Jugend 
nicht  durch  ihre  Worte,  aber  durch  ihre  Taten,  zur  Unaufrichtig- 
keit,  zur  Unwahrhaftigkeit,  zum  Sklavensinn.  Unsere  Uni- 
versitäten sind  gewiß  bewundernswerte  Einrichtungen  zur  Pflege 
der  Wissenschaften,  Einrichtungen,  um  die  uns  jedes  Volk  be- 
neiden könnte.  Aber  der  wissenschaftliche  Geist,  der  doch  der 
Geist  der  unbedingten  Freiheit  sein  muß,  befindet  sich  hier  immer 
noch  gleichsam  wie  im  Puppenstande,  er  glüht  nur  unter  der 
Asche,  er  erreicht  seine  stolzen  Erfolge  immer  noch  auf  halb 
verbotenen  Pfaden,  er  ist  immer  in  eine  letzte  Hülle  noch  ver- 
steckt, die  er  nicht  zu  sprengen  wagt.  Es  ist  manche  Freiheit 
erreicht,  aber  nicht  die  ganze  Freiheit,  eine  gewisse  Frei- 
heit, aber  nicht  d  i  e  Freiheit.  Überall  wo  die  wissenschaftliche 
Tätigkeit  unser  Weltbild  im  einzelnen  läutert  und  vertieft, 
da  läßt  man  den  Geist  gewähren.  Denn  diese  wissenschaftlichen 
Erkenntnisse  sind  zu  manchem  Bedürfnis  nütze.  Dort  aber, 
wo  der  Geist  um  das  Höchste  ringt,  um  die  letzte,  allgemeinste 
Wahrheit,  in  der  alles  Wissen,  alles  Streben  des  Geistes  zusammen- 
läuft, in  der  Philosophie,  da  zwängt  man  den  Geist  unter  die 
Normen,  die  das  Volk,  die  der  Staat  verehrt.  Und  die  Philo- 
sophen tragen  schweigend  dieses  Joch.  Sie  sind  nicht  die  ersten, 
sondern  die  letzten  in  der  Freiheit.  Ein  seltsamer,  höchst  ver- 
dächtiger Friede  herrscht  zwischen  der  Philosophie,  der  Philo- 
sophie wenigstens,  der  unsere  Jugend  überantwortet  wird  und 
die  das  staatlich-öffentliche  Leben  beherrscht,  und  der  Religion 
und  ihren  Vertretern  und  Machthabern.  Ehemals  als  der  Geist 
noch  mutig  war  —  ach  was  für  vergessene  Zeiten!  —  da  standen 
diese  Mächte  gerüstet  und  jeden  Augenblick  zur  Schlacht  bereit 
einander  gegenüber.  Und  Streit  muß  ja  zwischen  diesen 
Mächten  sein,  die  als  unerbittliche  Nebenbuhler  das  Gleiche 
wollen.  Ist  jede  Partei  echt  und  wahrhaft,  dann  muß  hier  ein 
Kampf  auf  Tod  und  Leben  entbrennen,  der  nicht  eher  schließt, 


255 


Zweiter  Teil. 

als  bis  eine  Partei  besiegt  am  Boden  liegt.  Aber  anstatt,  daß 
die  Philosophen  diesen  Kampf  zu  Ende  geführt  und  zur  Ent- 
scheidung gebracht  hätten,  ihren  großen  Ahnen  getreu,  da  haben 
sie  in  letzter  Stunde,  als  die  Spannung  am  höchsten  war,  als 
alles  zum  Ende  drängte,  die  Waffen  gestreckt  und  Feindschaft 
in  Frieden  gelöst.  Da  ihr  Mut  am  stärksten  hätte  sein  sollen, 
da  sie  den  letzten  schwersten  Schlag  hätten  tun  sollen,  da  sind 
sie  furchtsam  in  die  Knie  gesunken,  da  haben  sie  noch  die  ganze 
stolze  Vergangenheit  der  Philosophie  hinterher  verraten  und  ver- 
leugnet, haben  für  jedes  verv/egene  Wort  und  jedes  Selbstbewußt- 
sein ihrer  Vorgänger  Abbitte  geleistet.  Und  nun  tauschen  sie 
Liebespfänder  mit  der  Religion  aus.  Die  furchtbar  ernsthaften 
Warnungen  aber,  die  Höllen-Strafpredigten  eines  Schopenhauer 
und  Nietzsche  hören  diese  Philosophen  nicht,  die  schlagen  sie 
unbesorgt  in  den  Wind.  In  das  eine  Ohr  hinein  —  aus  dem 
andern  heraus!  In  Geist  und  Seele  aber  dringt  nichts  ein.  Wenn 
Schopenhauer  aus  seinem  tiefsten  Ernste  heraus  die  Universitäts- 
philosophie vorfordert  und  ihr  ihre  Falschheit  vorhält,  so  geben 
die  Angegriffenen  dies  lediglich  für  das  sinnlose  Gerede  eines 
Narren  aus  und  Nietzsche  gilt  ihnen  schon  ohnehin  als  unzu- 
rechnungsfähig. Wie  werden  sie  sich  durch  diese  Männer  die 
Ruhe  stören  lassen!  Woher  dieser  ungeheuere  Erfolg,  den 
Nietzsche  bei  der  Jugend  hat?  Meint  man  wirklich,  es  ist  nur 
der  Glanz  und  Flitter  der  Sprache  und  die  Keckheit,  Überkeck- 
heit seiner  Gedanken?  Es  ist  auch  noch  etwas  Anderes,  Ernst- 
hafteres, Heiligeres.  Es  ist  der  Hauch  der  Reinheit,  Aufrichtig- 
keit, der  aus  seinen  Schriften  weht.  Dieser  Geist  schielt  nicht. 
Er  spricht  nur  aus  sich.  Er  spricht  nicht  für  jemand,  er  schweigt 
nicht  für  jemand.  Er  sieht  nur  sein  Ziel.  Welch  eine  Erlösung, 
welch  eine  Hoffnung,  die  sich  an  diesen  Namen  knüpft!  Nach 
langer,  gar  zu  langer  Zeit  wieder  der  erste  wahrhaftige,  auf- 
richtige   Mensch! 

Auch  die  freieste  religiöse  Auffassung  hält,  da  sie  die  Ge- 
meinde, den  festen  Bestand  einer  bestimmten  religiösen  Gemein- 
schaft nicht  auflösen  will,  ein  gewisses  Unveräußerliches,  Un- 
veränderliches, unbedingt  Gewisses  in  der  Religion  fest,  und  sei 
dies  auch  noch  so  klein   und  winzig.      Sie  nimmt  nicht  einen 

256 


Die  künftige  Religion.    I. 


steten  Fluß  aller  Wahrheit  an.  Sondern  eine  Wahrheit, 
meint  auch  die  freieste  Theologie,  sei  im  Kerne  einst  für  alle 
Ewigkeit,  wenigstens  für  alle  Menschlichkeit  gefunden,  und  diese 
eine,  unumstößliche  Wahrheit,  erschienen  in  der  Gestalt  Christi, 
wandle  im  Wesen  unverändert  durch  alle  Jahrhunderte  bis  in 
die  fernste  Zukunft.  Auch  diese  Geister  billigen  die  Gemeinde 
als  eine  feste  geistige  Partei,  die  sich  zu  dieser  Wahrheit  be- 
kennt. Alle  schroffen  Parteiungen  aber  im  Geistigen  sind  eine 
Unkultur,  ein  orientalischer  Atavismus,  eine  Barbarei.  Wie 
kann  die  Philosophie,  die  an  die  schöpferische  Freiheit  des  Men- 
schen in  bezug  auf  alle  Wahrheit  glaubt,  mit  solchen  Mächten 
Frieden  halten!  Was  wäre  das  erste,  was  die  Philosophen  von 
ihren  Schülern,  die  sich  an  ihre  Lehrstühle  drängen,  fordern 
müßten?  Was  müßten  sie  ihnen  zur  ersten  und  obersten  Pflicht 
machen?  Daß  sie  den  schroffen  Parteiungen,  in  die  sie  durch 
ihre  Jugenderziehung  hineingestellt  worden  sind,  den  Rücken 
kehren.  Wer  sich  dem  Dienst  der  Wahrheit  weiht,  darf  nichts 
schon  zu  wissen  meinen,  der  muß  frei  dem  Dasein  gegenüber- 
stehen, niemals  verschworen  und  verpflichtet  zu  einer  Wahr- 
heit, sondern  immer  unabhängig,  stets  befugt,  den  Stand  und 
die  Betrachtung  zu  wechseln.  Hat  je  ein  philosophischer  Lehrer 
so  zu  unserer  Jugend  gesprochen?  Mußte  er  nicht  so  sprechen, 
wofern  er  ehrlich  war?  Aber  die  Philosophen  gehören  ja  selbst 
ausnahmslos  den  schroffen  religiösen  Parteiungen  und  Ge- 
meinschaften an,  in  die  das  Volk  sich  spaltet.  Der  Philo- 
soph ,  überhaupt  der  Denker ,  der  Gelehrte  als  Mitglied 
und  Bekenner  der  religiösen  Parteiungen  des  Volkes  —  welch 
ein  absurder,  welch  ein  unmöglicher,  welch  ein  beschämender 
Anblick!  Der  wissenschaftliche  Geist,  die  Freiheit  und  Selbst- 
verantwortung, die  die  Denker  im  einzelnen  für  sich  beanspruchen 
und  auch  betätigen:  diese  Freiheit  und  Wissenschaftlichkeit  geben 
sie  bei  dem  Wichtigsten,  Allgemeinsten,  bei  ihrer  gesamten  Stel- 
lung zum  Leben  und  dessen  Grundfragen  preis.  Hier  schließen 
sie  sich  an  gegebene  Größen,  an  Massen  an.  Sägen  sie  damit 
nicht  den  Ast  ab,  auf  dem  sie  sitzen?  Verleugnen  sie  hier  ihr 
Recht  und  ihre  Pflicht  zur  vollkommenen  Unabhängigkeit,  zur 
vollkommen   freien  und  einsamen  Selbstverantwortung,  —  und 


257 


Zweiter  Teil. 

daß  sie  dies  Recht  verleugnen,  beweisen  sie  eben  damit,  daß 
sie  das  Band  zwischen  sich  und  der  Volksrehgion  nicht  zer- 
schneiden—  dann  mögen  sie  zusehen,  ob  der  Geist  der  Unfreiheit, 
dem  sie  hier  huldigen,  ihnen  nicht  früher  oder  später  das  Lebens- 
licht ganz  ausbläst,  indem  er  ihnen  jede  Freiheit  raubt.  Gegen 
den  Geist  der  Unfreiheit  dürfte  es  für  sie  nur  den  Todkrieg  geben. 
Was  nützt  es,  daß  tatsächlich  die  protestantische  Kirche  dem 
Geiste  ziemliche  Freiheit  läßt,  weil  sie  zu  schwach  ist !  Es  handelt 
sich  nicht  um  Wirklichkeiten,  sondern  um  Grundsätze, 
Prinzipien,  weil  diese  sehr  viel  wichtiger  als  irgendwelche 
Wirklichkeiten  sind;  denn  sie  bergen  die  Möglichkeit  von  un- 
zähligen Wirklichkeiten  in  sich.  Hier  heißt  es  Farbe  bekennen. 
Wenn  wirklich  die  protestantische  Kirche  —  oder  von  dieser 
will  ich  gar  nicht  reden  —  wenn  nur  die  sogenannte  liberale 
Theologie  wirklich  die  Freiheit  wollte,  dann  müßte  sie  jede 
Anschauung,  auch  jede  antichristliche  und  heidnische  Lehre 
dulden  und  dieser  in  gleicher  Weise  Raum  geben.  Solange  sie 
das  nicht  tut,  ist  sie  wie  jede  andere  religiöse  Partei  und  Gruppe 
eine  Feindin  der  Freiheit,  nur  weniger  ehrlich  als  diese.  Was 
für  eine  laue  Luft  weht  an  unseren  Universitäten!  Was  herrscht 
hier  für  eine  müde  Stimmung  des  Friedens  und  der  Entsagung! 
So  stürzt  man  sich,  um  das  schlechte  Gewissen  zu  betäuben, 
in  die  Arbeit.  Und  so  wird  im  einzelnen,  in  allen  Spezialfächern 
fleißig,  bienenfleißig  gearbeitet  und  auch  viel  Staunenswertes 
geleistet.  Von  der  Philosophie  aber,  die  das  ganze  Wissen  in 
einer  Einheit  sammeln,  die  die  letzten  höchsten  Folgerungen 
aus  dem  allgemeinen  Wissen  ziehen  soll,  die  das  menschliche 
Denken  gegen  die  andern  Lebensmächte  vertreten  und  abgrenzen, 
als  geistige  Macht  auf  das  Leben  einwirken  soll,  von  ihr  geht 
wenig  Rühmliches  aus.  Sie  waltet  ihres  Amtes  schlecht.  Im 
Grunde  geht  nichts  von  ihr  aus.  Die  Nation,  die  allgemeine 
geistige  Bildung  erfährt  keinen  Einfluß  von  ihr,  nur  daß  sie  ewig 
von  ihr  gehemmt  wird.  Wie  sollte  die  Philosophie  auch  Taten 
vollbringen,  wenn  sie  auf  den  Kampf  verzichtet  hat!  Denn  nur 
Taten  des  Kampfes  sind  wirkliche  Taten.  Die  kleinen  Plän- 
keleien aber,  die  sie  noch  gelegentlich  ausführt,  sollen  doch 
wohl  nur  die  beschämende  Tatsache  verhüllen,   daß  die  Philo- 

258 


Die  künftige  Religion.    I. 


Sophie  auf  ihr  selbständiges  Recht,  auf  ihr  letztes,  höchstes  Ziel 
verzichtet  hat.    Ich  gestehe,  ich  bin  öfter  dem  Gedanken  näher 
getreten,  an  einer  Universität  Philosophie  zu  lehren.  Aber  jedes- 
mal, wenn  das  Vorhaben  zur  Tat  werden  sollte,  ergriff  mich  ein 
Schauder,  ich  kehrte  immer  noch  rechtzeitig  um,  um  der  Gefahr 
zu  entrinnen,  nicht  auch  der  Verderbnis  anheim  zu  fallen.  Wenn 
man  gelegentlich  den   Universitätslehrern  klar  zu  machen  ver- 
sucht, daß  eine  charaktervolle  Philosophie,  da  diese  die  Freiheit 
um  jeden  Preis  fordern  muß,  niemals  mit  der  Religion,  mit  irgend- 
einer Religion,  die  immer  ein  festes,  straffes  Band  um  ihre  Be- 
kenner   schlingt,    paktieren  darf,    daß  die  Philosophie  hier  nur 
Kampf    und    Feindschaft,    nichts   als    Kampf    und    Feindschaft 
kennen  kann,  dann  sehen  den  also  Redenden  die  dortigen  Denker 
immer  nur  mit  großen  erstaunten  Augen  an,  gleich  als  ob  man 
nicht  völlig  bei  Sinnen  wäre.     Und  mit  unzähligen  spitzfindigen 
Gründen  wissen  sie  ihren  Frieden,  ihre  holde  Eintracht  mit  der 
Religion  zu  verteidigen.  Wenn  sie  nicht  gar,  was  auch  wohl  vor- 
kommt, ganz  offen  auf  die   Macht  des  Staates,  die  Bedürfnisse 
des  Volkes  hinweisen,    das  man  nicht  stören  dürfe.     Aber  man 
sollte  doch  überlegen,  ob  man  Polizist  oder  Philosoph  ist.     Ist 
man  das  letztere,  so  hat  man  doch  nur  e  i  n  Gebot:  die  Wahr- 
heit und  die  Wahrhaftigkeit  —  ganz  gleichgültig,  ob  man  hier- 
mit  irgend  jemand   stört  oder   ängstigt.      Ehe   an   unseren   Uni- 
versitäten  wieder   eine   charaktervolle   Philosophie   möglich   ist, 
muß  ein  vollkommener  Wechsel  in  unserer  gesamten  Geistig- 
keit eintreten.     Jetzt  dort  eine  tapfere  Philosophie,  die  sich  ihrer 
Aufgabe  und  Pflicht  bewußt  ist,   einführen,   wäre  gänzlich  un- 
möglich, stieße  auf  unüberwindliche  Schwierigkeiten.    Aber  eine 
ungeheuere  Gefahr  für  den  deutschen  Geist  und  damit  für  die 
ganze    geistige   Zukunft   bedeutet   diese    Schlaffheit,    Pflichtver- 
gessenheit   der   Philosophie,    die    als   die    öffentlich    anerkannte 
allein  Staat  und  Gesellschaft  beherrscht.     Wenn  sich  über  unser 
Volk  eine  immer  dunklere  Wolke  lagert,  wenn  wir  immer  tiefer 
hinein  in  Nacht  und  Nebel  wandern,  wenn  eine  immer  schwärzere 
Finsternis  sich  über  alle  Geister  breitet,  wenn  besorgte  Gemüter 
schon  fürchten  müssen,  daß  alles  wieder  verloren  gehe,  was  der 
europäische    Geist    in    den    stolzen    vergangenen    Jahrhunderten 


259 


Zweiter  Teil. 

geschaffen  habe  —  denn  wir  zehren  nur  von  den  alten  Schätzen, 
wir  fügen  nur  noch  im  Einzelnen  und  Kleinen  hinzu,  aber  der 
Strom  der  Leidenschaft  des  Geistes  ist  versiegt  und  im  Wesent- 
lichen, im  Entscheidenden  werden  wir  nicht  reicher  sondern  von 
Jahr  zu  Jahr  ärmer;  wenn  so  die  Zeiten  laufen:  wer  trägt  die 
Schuld  daran?  Die  abgefallenen  verräterischen  Philosophen, 
die  sich  vor  der  Religion,  dem  gebundenen  Geist,  gebeugt  haben, 
die,  um  Ruhe  zu  haben,  einen  faulen  Frieden  schlössen.  Sie 
sind  Verträge  eingegangen  mit  den  Mächten  des  gebundenen 
Geistes.  Religion  und  Philosophie  haben  sie  an  e  i  n  e  n  Wagen 
gespannt.  Wenn  aber  die  Philosophen  sich  damit  rechtfertigen, 
daß  sie  ja  keinerlei  Freiheit,  die  ehemals  errungen  war,  preis- 
gegeben hätten,  daß  sie,  was  die  früheren  Jahrhunderte  an  Frei- 
heit erreicht  hätten,  ja  ungeschmälert  bewahrten,  so  sage  ich: 
Stillstand  ist  Rückschritt.  Sie  häten  immer  neue,  immer  kühnere 
Freiheiten  an  die  alten  Kühnheiten  anreihen  müssen.  Was 
ehemals  kühn  war,  ist  heute  feige.  Daß  es  in  dem  ganzen  letzten 
Jahrhundert  an  den  Universitäten  niemals  Konflikte  mehr 
gegeben  hat,  daß  hier  alles  immer  von  Jahrzehnt  zu  Jahrzehnt 
in  vollkommener  Ruhe  verlief,  das  gibt  zu  denken.  Dies  ist 
nicht  etwa  ein  Beweis,  daß  hier  die  vollkommene  Freiheit  er- 
reicht  v/ar,  und  daß  es  deshalb  zu  gar  keinen  Kämpfen  mehr 
kam  —  o  nein,  es  beweist  umgekehrt,  daß  hier  nicht  einmal 
mehr  der  Versuch  gemacht  wurde,  die  Freiheit  weiter  zu  er- 
kämpfen, zu  vertiefen  und  zu  stärken,  die  große  Philosophie 
fortzuführen.  Freie  Köpfe,  starke  Seelen  konnten  hier  gar  nicht 
mehr  aufkommen,  konnten  auf  diesem  versumpften  Boden  gar 
nicht  mehr  gedeihen.  Es  ist  die  Kirchhofsruhe,  die  über  diesen 
Stätten  schwebt.  Und  daher  das  namenlose  geistige  Elend  unserer 
Zeit.  Nietzsche  sagt  einmal:  ,,  Man  soll  Katholiken  besser  be- 
handeln als  Protestanten;  orthodoxe  Protestanten  besser  als 
liberale.  Die  Schuld  nimmt  in  dem  Grade  zu,  als  man  sich 
der  Wissenschaft  nähert.  Der  Verbrecher  der  Verbrecher  ist 
folglich  der  Philosoph",  d.  h.  der  Philosoph,  wie  er  heute  üblich 
ist,  der  mit  der  Religion  in  Frieden  lebt. 

Nein,  diese  Philosophie  kann  die  leidenschaftliche  Sehnsucht 
der  Zeit  nicht  stillen,   kann  nicht  die   vorbildliche    Kraft,   das 

260 


Die  künftige  Religion.    I. 


Muster  des  Lebens  werden,  nicht  die  Führung  des  Lebens  in 
die  Hand  nehmen,  nicht  die  Öde  ausfüllen,  die  die  verfallene 
Religion  in  den  Herzen  gerissen  hat.  Ein  ganz  neuer  Ernst, 
eine  ganz  andere  Tapferkeit  muß  diejenigen  beseelen,  die  sich 
künftig  der  Philosophie  weihen.  Was  ehemals  Aufgabe  der 
Philosophie  war,  ist  es  jetzt  nicht  mehr.  Neue  Zeiten  geben 
der  Philosophie  auch  neue  Pflichten.  Eine  neue  heiligere  Glut 
muß  in  den  Seelen  der  Philosophen  brennen.  Ein  Feuerstrom 
der  Wahrheit  muß  durch  ihre  Seele  rinnen.  Ein  unerbittlicher 
Geist  der  Wahrheit,  Wahrhaftigkeit  muß  sie  beseelen,  der  sie 
unmittelbar  zur  Tat  reißt.  Das  hebt  sie  empor  zu  Führern,  Pfad- 
findern, Herrschern  des  Lebens.  Das  stellt  sie  an  die  Spitze  der 
Menschheit,  die  wieder  in  ihnen  ihre  langersehnten  Vorbilder 
und  Muster  erkennt.  Wandelnde  Ideale  müssen  die  Philosophen 
sein:  dann  ist  der  Mensch  erlöst,  dann  schaut  er  nicht  mehr 
schmerzvoll  nach  der  Religion  zurück.  Dann  hat  er  sein  Glück, 
seine  Rettung  gefunden.  Gab  es  schon  solche  Philosophen? 
Sind  irgendwann  schon  solche  Philosophen  erstanden,  die  die 
kommenden  Philosophen  als  ihre  Meister  zum  Vorbilde  nehmen 
könnten,  in  deren  Schule  sie  lernen  könnten  ihre  schwere  Bürde 
zu  tragen?  Ich  deutete  es  schon  an.  Die  griechischen  Philo- 
sophen waren  solche  Männer.  Sie  standen  mitten  im  Leben. 
Sie  waren  Kraft-  und  Segenspendende  Mächte.  Sie  waren 
Erzieher  und  wollten  es  sein.  Die  Tugend  zu  erkennen,  war 
das  letzte  Ziel  ihres  Geistes,  tugendhaft  zu  sein,  der  heißeste 
Wunsch  ihres  Herzens.  So  dienten  sie  ihrem  Volke,  wurden 
ihm  die  sicheren  Ruhepunkte  und  festen  Stützen,  die  leuchtenden 
Sterne   und   glückverheißenden  Wahrzeichen  des   Lebens. 

Das  Griechentum  war  der  schöne  Auftakt  des  europäischen 
Lebens,  das  Thema  gleichsam  für  Europas  Geschichte.  Dieser 
Ton  aber  brach  jählings  ab.  Der  europäische  Geist  wurde  durch 
das  Christentum  in  orientalische  Fesseln  geschlagen.  Seit  einigen 
Jahrhunderten  aber  hat  der  ursprüngliche  eingeborene  Geist 
der  Europäer  begonnen,  sich  unter  den  Ketten  zu  regen  und 
sehnsuchtsvoll  schaut  er  immer  zurück  in  die  griechische  Jugend, 
ob  er  sie  nicht  wieder  finden,  das  damals  angestimmte  Lied  nicht 
wieder  aufnehmen,  nicht  noch  einmal  singen  könne.     Bislang 


261 


Zweiter  Teil. 

aber  hat  man  immer  nur  die  Schönheit  der  Griechen  geliebt  und 
gesucht;  sie  wieder  zum  Leben  zu  bringen,  war  das  heiße  Ver- 
langen, die  trunkene  Inbrunst  der  Besten.  Aber  nicht  bloß  die 
Schönheit,  —  das  ganze  stolze  freie  Leben  der 
Griechen  müssen  wir  wieder  erschaffen.  Dann  erst  haben  wir 
uns  wahrhaft  wiedergefunden.  Dann  haben  wir  uns  erlöst,  unser 
tiefstes  Sein  und  Glück  entdeckt.  Wie  ehemals  unsere  großen 
Dichter,  die  noch  heute  als  die  ersten  und  einzigen  in  immer 
frischer  Jugend  unter  uns  leben,  bei  den  Griechen  ihre  Meister 
und  Vorbilder  fanden,  ebenso  müssen  nunmehr  auch  unsere 
Denker,  unsere  Weisen  und  Erzieher  bei  den  Griechen  einkehren, 
bei  den  griechischen  Philosophen  in  die  Lehre  und  Schule  gehen. 
Als  der  erste  ist  diesen  Weg  Nietzsche  gegangen.  Dort  bei  den 
Griechen  hat  er  sich  das  Feuer  und  die  Glut  seiner  Seele  geholt. 
Von  den  Griechen  hat  er  seine  Freiheit  gelernt,  dort  seine  neue 
philosophische  Aufgabe  gefunden,  ein  Erzieher  und  Zuchtmeister 
der  Menschen  zu  sein.  Schüler  der  griechischen  Philosophen  sol- 
len die  Philosophen  werden,  nicht  Nachahmer,  wie  auch  unsere 
Dichter  Schüler,  nicht  Nachahmer  der  griechischen  Dichter 
waren.  Dem  Schüler  ist  es  nicht  verwehrt,  den  Meister  zu  über- 
treffen, neue  Wege  einzuschlagen,  über  denMeister  hinauszustreben. 
Aber  was  er  auch  schafft,  so  weit  ab  von  den  Pfaden  des  Meisters 
sein  Weg  ihn  führt,  der  Geist  des  Meisters  muß  immer  unsichtbar 
über  ihm  schweben.  Er  muß  ihm  der  stete  Mahner  und  Warner 
sein,  daß  er  den  Ernst,  die  Heiligkeit  seiner  Aufgabe  nicht  ver- 
gißt, daß  er  stets  zum  höchsten  Ziele  strebt.  Es  wäre  auch  besser 
gewesen,  unsere  jüngeren  Dichter  hätten  die  griechischen  Dichter 
als  Erzieher  und  Vorbilder  niemals  verleugnet.  Und  nicht  eher 
werden  wir  wieder  eine  hohe  Dichtung  bekommen,  als  bis  unsere 
Dichter  reuig  zu  den  alten  großen  Meistern  und  Mustern  zurück- 
kehren. Die  Philosophen  aber  haben  noch  ganz  von  vorn  in 
der  Schule  der  Alten  anzufangen.  Dort  haben  sie  zuerst  zu 
lernen,  was  überhaupt  Philosophie  ist.  Nicht  ein  kaltes  Wissen 
war  dem  griechischen  Philosophen  seine  Erkenntnis,  sondern 
ein  Wissen,  das  nach  Leben  lechzte,  das  unmittelbar  in  das  Leben 
eingreifen,  das  Leben  bilden,  gestalten  wollte.  Diese  Philosophie 
war  nicht  Wissen,  sondern  Weisheit,  für  Sein  und  Leben 

262 


Die  künftige  Religion.    I. 


fruchtbare  Weisheit.  Und  zu  dieser  ihrer  Weisheit,  dieser  ihrer 
Art  zu  denken  und  zu  handeln,  wollten  die  Philosophen  auch 
ihre  Umgebung  erziehen  und  führen.  Und  dies  zu  allererst  da- 
durch, daß  sie  ihrer  Weisheit  entsprechend  lebten,  daß  sie 
durch  die  Tat  ihre  glückbringende  Weisheit  bewiesen.  Und 
ob  man  sie  von  Herd  und  Heimat  jagte,  und  ob  man  ihnen  den 
Giftbecher  reichte,  sie  wohnten  in  fremdem  Lande,  sie  tranken 
ruhig  den  Todestrank.  Und  nicht  als  gottgesandte  Propheten 
und  Priester,  die  Offenbarungen  künden,  traten  sie  auf,  sondern 
als  freie  Männer  sprachen  sie  zu  freien  Männern.  Sie  suchten 
nicht  mit  Strafen  und  Drohungen  zu  ängstigen  und  zu  überreden, 
sondern  mit  schlichten  Worten  und  Erfahrungen  zu  überzeugen. 
Dies  muß  das  Bild  der  kommenden  Philosophen  sein.  Der  un- 
gebildete und  empörende  Hochmut  unserer  Zeit,  die  von  der  Ver- 
gangenheit nichts  mehr  glaubt  lernen  zu  können,  muß  aufhören. 
Wohl,  wir  sind  klug,  wir  können  viel.  Wir  erzeugen  unzählige 
listig  ersonnene  Maschinen,  wir  bauen  überraschend  schnelle 
Fahrzeuge  für  Land  und  Wasser,  und  stolze  Brücken.  Können 
wir  aber  auch  eine  einzige  menschliche  Seele  erbauen?  Können 
wir  uns  selbst,  unser  Inneres,  gestalten  und  bilden?  Können 
wir  uns  und  andere  glücklich  machen?  Wo  wandelt  ein 
Glücklicher  unter  all  den  klug  erdachten  Werken  und  Schätzen 
dieser  verblendeten,  berauschten  Zeit?  Wozu  aber  all  diese  un- 
gemessene Zurüstung  zum  Leben,  wenn  das  Leben  selbst,  die 
Quelle  des  Lebens,  des  Menschen  Herz  und  Seele  verarmt  und 
verkommt?  Hier  können  wir  von  der  Vergangenheit  gar  viel 
erlernen.  Die  Menschen  von  ehemals  dachten  tiefer,  fühlten 
stärker,  wußten  ihre  Seele  zu  bilden,  daß  sie  im  Gleichgewicht 
schwebte  und  sich  selbst  gefiel,  daß  sie  Glück  atmete,  des  Daseins 
ganze  Fülle  und  Schönheit  trank.  Keine  Vergangenheit  aber 
kann  uns  so  erziehen,  wie  das  Griechentum,  weil  wir  diesem 
Leben  im  Tiefsten  verwandt  sind.  Es  ist  Geist  von  unserm  Geist. 
Folgen  wir  den  Spuren  unserer  großen  Dichter,  überwinden  wir 
die  Barbarei,  der  wir  verfallen  waren.  Erwecken  wir,  wie  einst 
die  Dichtung,  so  jetzt  die  Philosophie  der  Griechen  zu  neuem 
Leben.  Pflückten  wir  einst  bei  den  Griechen  die  Blume  der 
Schönheit,  so  brechen  wir  dort  nun  auch  die  Frucht  der  Weisheit. 


263 


Zweiter  Teil. 

So  sollen  die  Schaffenden  sein.  Wie  aber  sollen  die  Emp- 
fangenden sein?  Wie  müssen  die  Menschen  im  allgemeinen 
gewillt  und  gestimmt  sein,  daß  sie  jene  großen  Erlöser,  Führer 
und  Erzieher  würdig  aufnehmen,  daß  sie  ihnen  eine  gute  Stätte 
bereiten,  daß  sie  ein  fruchtbarer  Boden  werden  für  den  Samen, 
den  jene  ausstreuen?  Hierüber  spreche  ich  in  der  nächsten 
Rede:   ,, Kirchliche  oder  persönliche  Religion.."  — 


264 


2.  KIRCHLICHE  ODER 
PERSÖNLICHE  RELIGION. 


In  meiner  ersten  Rede  habe  ich  ein  Bild  der  Schaffenden  zu  ent- 
werfen versucht,  wie  die  Geister  geartet  sein  müssen,  die  uns 
für  die  abgestorbene,  im  Absterben  begriffene  Religion  Ersatz 
leisten  können,  an  wen  wir  uns  mit  unseren  Hoffnungen  wenden 
sollen.  Jetzt  wollen  wir  zu  den  Beschenkten  oder  den  zu  Be- 
schenkenden übergehen,  wie  die  Allgemeinheit  der  Menschen 
beschaffen  sein  muß,  um  solche  Bildungen  aufnehmen  zu  können, 
daß  sich  ihnen  nicht  das  größte  Heil  in  Fluch  verwandle.  Denn 
die  Gefahr  besteht,  daß  die  Menschheit  an  so  völlig  freien  Schöp- 
fungen, die  keine  Beglaubigung  mit  sich  führen,  keine  Empfeh- 
lung, als  nur  die  Überzeugung,  die  die  Sache  in  sich  birgt,  scheitere. 
Wie  ist  dem  zu  begegnen?  Wie  sind  die  Menschen  zur  Aufnahme 
solcher  freien  religiösen  Bildungen  geschickt  zu  machen?  Welche 
Einrichtungen  sind  zu  treffen,  wie  sind  die  vorhandenen  Einrich- 
tungen umzugestalten,  daß  die  Menschen  auch  stark  genug  werden, 
um  in  dieser  freien  Luft  atmen  zu  können,  daß  sie  ergreifen 
lernen,  was  sich  ihnen  bietet,  daß  sie  nicht  ungenossen  das  Beste 
an  sich  vorübergehen  lassen  oder,  es  ergreifend,  sich  an  ihm 
verzehren.  Hiermit  aber  betreten  wir  einen  heißen  Boden. 
Denn  man  mag  dem  Menschen  manche  Irrtümer  rauben,  mag 
ihm  manchen  Wahn  zerstören,  an  dem  sein  Herz  gehangen  hat:  er 


Horneffer,  Das   klassische  Ideal. 


265  17 


Zweiter  Teil. 


läßt  es  ruhig  geschehen  und  fügt  sich.  Ganz  anders  aber  wird  die 
Leidenschaft  der  Menschen  erregt,  wenn  man  ihnen  die  allgemein 
verbindlichen  Formen  des  Lebens  anrührt,  die  eine  jahrhundert- 
lange Gewohnheit  ihnen  wert  gemacht  hat.  Hier  in  den  Formen, 
in  den  Lebenssitten  und  Lebensweisen  hat  sich  die  ganze  Macht 
eines  Glaubens  niedergeschlagen  und  mit  unnennbarer  Gewalt 
die  Herzen  an  sich  gekettet.  Den  Glauben  selbst  und  was  inner- 
lich damit  zusammenhängt,  das  lassen  die  Menschen  leichten 
Herzens  fahren.  Aber  alle  die  Folgen  des  Glaubens,  seine  Nach- 
wirkungen, seine  Einwirkungen  auf  das  Leben,  wie  er  das  Leben 
gestaltet  hat  —  das  alles  vermögen  sie  nicht  zu  opfern.  Hiermit 
hängen  sie  durch  unzählige  Bande  zusammen.  In  Gedanken 
wollen  sie  wohl  ein  neues  Leben  führen,  aber  nicht  in  Wahrheit, 
in  der  Wirklichkeit,  in  der  Tat.  Da  schrecken  sie  angstvoll  vor 
jeder  Neuerung  zurück.  Da  retten  sie  sich  immer  wieder  schau- 
dernd auf  das  Wrack  des  alten  Lebens  zurück.  Aber  ich  werde 
mich  durch  solche  Rücksichten  nicht  abschrecken  lassen.  Ich  habe 
mir  vorgenommen,  vollkommen  frei  über  die  religiösen  Fragen  zu 
sprechen,  und  danach  will  ich  handeln.  Ich  werde  vieles  sagen 
müssen,  was  vielen  wehe  tut.  Ich  kann  das  aber  nicht  ändern. 
Denn  nur  der  Mutige  darf  sich  der  Religion  nähern.  Den  Feigen, 
der  nur  halbe  Taten  wagt,  stößt  sie  unbarmherzig  zurück.  Wie 
er  niemand  stört,  so  wird  er  auch  niemand  begeistern.  Er  täte 
besser,  diese  höchsten  Fragen  gar  nicht  anzurühren.  Er  kann 
sie  nur  herabzerren  in  den  Staub  des  Alltäglichen. 

Wie  haben  wir  nun  das  Leben  den  gewonnenen  Einsichten 
anzupassen?  Wir  gingen  von  der  Voraussetzung  aus,  daß  es 
keine  Offenbarung  gibt,  daß  die  Philosophen  alle  höchsten  Wahr- 
heiten, auch  die  moralischen  Wahrheiten,  aus  eigener  Verant- 
wortung und  in  völliger  Freiheit  schaffen  müssen.  Die  Philo- 
sophen dürfen  nicht  länger  furchtsam  nur  um  die  Außenseite 
der  Dinge  schleichen,  sondern  sie  müssen  in  das  blutigste  Leben 
greifen,  sie  müssen  Lebendiges  aus  ihren  Händen  hervorgehen 
lassen,  das  die  Menschen  erwärmt  und  fesselt.  Daß  aber  die 
Menschheit  diese  freien  Schöpfungen,  die  sich  oft  widersprechen 
und  einander  kreuzen  werden,  die  in  allen  Farben  schillernd 
den  ganzen  Reichtum  des  menschlichen  Innern  enthüllen  werden. 


266 


Die  künftige  Religion.   II. 


richtig  aufnehme,  daß  die  Menschen  diesen  mannigfaltigen  Bil- 
dungen gegenüber  nicht  wehrlos  seien,  sondern  eine  Wahl  zu 
treffen  vermögen,  zu  diesem  Ende  ist  die  alte  Gemeindeerziehung 
der  Menschen,  die  heute  noch  gilt,  die  Erziehung  zum  Glauben, 
zur  Autorität,  die  ganze  gebundene  Erziehung  der  Men- 
schen, kurz  die  Kirche  ist  abzuschaffen.  Die  Kirchen  sind  un- 
geheure Fesseln  des  geistigen  Lebens  und  vornehmlich  des 
höchsten  geistigen  Lebens,  des  religiösen.  Es  ist  nicht 
abzuleugnen,  daß  die  Kirchen  sämtlich  an  eine  unbedingte 
Wahrheit  glauben,  die  sie  zu  besitzen  wähnen;  daß  sie  die  Men- 
schen zur  Enge,  zur  Gebundenheit,  zur  Befangenheit  erziehen. 
Sie  suchen  den  Blick  der  Menschen  nicht  zu  weiten,  sondern 
von  frühauf  in  den  festen  Kreis  der  gerade  in  dieser  Kirche  an- 
erkannten und  üblichen  Vorstellungswelt  zu  bannen.  Sie  bilden 
alle  eine  feste,  geistige  Partei,  die  mit  mehr  oder  weniger  Erfolg 
ihre  Angehörigen  in  einer  bestimmten  Gedanken-  und  Gefühls- 
welt einkerkert,  die  sie  nicht  auf  sich  selber  stellt,  sondern  ihnen 
als  Gemeinde  alles  Wesentliche  und  Bedeutsame,  das  ganze  innere 
Rüstzeug  zum  Leben  reichen  will,  woran  sich  für  das  ganze 
Leben  zu  halten,  sie  ihren  Mitgliedern  früh  und  spät  einschärft. 
Daß  den  Kirchen  dies  nicht  immer  gelingt,  daß  viele  fahnenflüchtig 
werden  und  sich  dem  Einfluß  der  Kirche  entziehen,  diesen  Ein- 
fluß wie  einen  lästigen  Druck  abschütteln,  das  tut  zur  Sache 
nichts.  Im  Prinzip,  im  Grundsatz  wollen  die  Kirchen  ihre  An- 
gehörigen in  einem  festen,  geschlossenen  Vorstellungskreise 
halten.  Sie  wenden  alle  Mittel  an,  die  einen  gröbere,  die  anderen 
feinere,  um  die  Menschen  für  immer  in  den  Netzen  ihres  Glaubens 
einzufangen,  in  diesen  Netzen  fest  zu  verstricken.  Von  Jugend 
auf  sollen  die  Menschen  gedrillt,  abgerichtet  werden,  daß  ihnen 
ein  Entweichen  aus  diesen  Fesseln  unmöglich  werde.  In  allen 
leuchtenden  Farben  wird  das  Heil,  das  in  den  eigenen  Lehren 
wohnt,  das  Unheil,  das  in  den  Lehren  der  anderen  lauert,  ge- 
schildert. Die  Erziehung,  der  die  Kirche  huldigt,  weckt  die 
Menschen  nicht  auf,  sondern  macht  die  Sinne  stumpf,  den  Willen 
lahm.  Menschen,  die  aus  dieser  Erziehung  hervorgehen,  können 
allerdings  nicht  später  eine  unbefangene  Wahl  ihres  Glaubens 
und  ihres  Ideals  treffen.  Entweder  sie  taumeln  unentschieden  hin 


267  ^1^ 


Zweiter  Teil. 

und  her.  Sie  werden  ein  Spielball  aller  möglichen  gegensätz- 
lichen Meinungen,  sie  kommen  nie  zur  Entfaltung  ihrer  vollen 
Lebenskräfte,  da  sie  sich  in  dem  ewigen  Wechsel  und  Wanken 
ihrer  Meinungen  aufreiben.  Oder  sie  folgen,  herausgetreten  aus 
der  ihnen  von  der  Kirche  anerzogenen  Weltauffassung,  ebenso 
blind  und  wahllos,  so  unbedingt  und  grundlos  einem  anderen 
Glauben  irgendwelcher  Art.  Nicht  zum  Urteilen  erzogen,  sondern 
zum  Glauben,  nicht  zur  Selbständigkeit  gebildet,  sondern  zur 
Abhängigkeit,  vertauschen  sie  eine  Knechtschaft  mit  der  andern. 
Damit  neue  freie  Lehrer  wirken  können,  die  nur  sich  selbst  verant- 
wortlich sind,  die  alle,  jede  Wahrheit,  auch  die  letzte,  entschei- 
dende Wahrheit,  den  letzten  Lebenswert  und  Lebenssinn  aus  sich 
selber  schöpfen,  daß  diese  mit  Erfolg  wirken  können,  dazu  ist 
die  gebundene  Erziehung  der  Kirche  aufzuheben.  Diese  geistige 
Gebundenheit,  zu  der  wir  alle  erzogen  sind,  die  auch  noch  in 
uns  nachwirkt,  wenn  wir  längst  der  Kirche  den  Rücken  gewandt 
haben,  frißt  am  Mark  unseres  Geistes.  Sie  ist  ein  ewiger  Hemm- 
schuh unserer  Entwicklung.  Das  religiöse  Leben  wird  so  lange 
lahm  liegen,  wird  so  lange  äußerlich  und  fremd  bleiben,  nicht  aus 
dem  innersten  Born  der  Seele  quillen,  so  lange  wir  noch  diese 
Kette  der  kirchlich  gebundenen  Erziehung  mit  uns  schleifen. 
So  lange  werden  keine  kräftigen  Geister  erstehen  können,  die 
aus  ihrem  Innern  schöpfend  eine  reiche  Welt  der  Schönheit 
entfalten.  Ihnen  fehlt  in  den  Sitten  und  Gewohnheiten  des 
Lebens,  das  die  Kirche  mit  ihrer  gebundenen  Wahrheit  ausschließ- 
lich beherrscht,  von  früher  Jugend  auf  jede  Befeuerung,  jede 
Anregung,  jedes  Vorbild.  Solange  wird  es  auch,  selbst  wenn 
ursprüngliche  Geister  sich  durchringen,  die  zu  einer  eigenen 
und  selbständigen  Auffassung  und  Bewertung  des  Lebens  ge- 
langen, an  Hörern  fehlen,  deren  Seele  empfänglich,  frei  genug 
ist,  um  sich  auch  einer  anfänglich  fremden  und  seltsamen  Welt 
der  Gedanken  hinzugeben.  Denn  jede  Seele  trägt  durch  die 
Erziehung  in  dem  kirchlichen  Geiste  ein  festes  Bild  von  allen 
Werten  mit  sich  herum,  setzt  den  neu  herankommenden  Lehren 
und  Gedanken  einen  steinernen  Block  entgegen,  an  dem  sich 
diese  vergeblich  abmühen,  ohne  ihn  sprengen  zu  können.  Auf 
diese  Weise  schleppt  sich  das  religiöse  Leben  in  ewig  gleicher, 

268 


Die  künftige  Religion.    II. 


träger  Dumpfheit  hin.  Die  Kirchen  mit  ihrer  furchtbaren  äußeren 
Macht  legen  alle  schöpferische  religiöse  Kraft  des  Menschen  lahm. 
Und  doch  sehnt  sich  irgend  etwas  Unbekanntes  und  Unerkanntes 
in  uns  nach  seiner  Befreiung.  Irgend  etwas  Vergrabenes  in 
uns  will  auferstehen.  Wer  kennt  sie  nicht,  die  heimliche  Sehn- 
sucht, die  in  allen  Seelen  wohnt,  die  ihnen  das  Leben  so  matt 
und  flau  erscheinen  läßt,  die  irgend  einen  hohen  besonderen 
Wert,  der  das  Leben  in  ganz  neuem  Licht  erglänzen  läßt,  in 
der  Tiefe  ahnt.  Daß  diesen  stummen  Ahnungen  die  Erfüllung 
werde,  daß  neue  Geister  zu  den  Seelen  die  Wege  finden,  dem 
sperrt  sich  ewig  die  Kirche  mit  ihrem  starren,  öden  Dogma  ent- 
gegen, mit  ihrem  unfruchtbaren  Beharrungswillen,  ihrem  Wahn, 
die  Wahrheit  schon  zu  besitzen,  den  sie  mit  allen  Mitteln  den 
Seelen  einprägt.     Wie  kann  da  frisches  Leben  sprießen! 

Aber  hier  erhebt  eine  religiöse  Gruppe  Einspruch,  mit  der 
Behauptung,  daß  diese  Darstellung  auf  sie  nicht  zutreffe,  daß 
zwar  die  Strenggläubigen  in  jeder  Kirche  mit  ihrer  Berufung 
auf  Offenbarung  den  Kirchen,  den  religiösen  Gemeinschaften 
ein  starres  Gepräge  gäben,  daß  aber  sie,  die  liberalen  Christen 
das  Wunder  vollbracht  hätten,  die  Kirche  mit  der  Freiheit  zu 
versöhnen.  Durch  ihre  Auffassung  des  Christentums  als  einer 
menschlichen  Schöpfung  sei  dem  einzelnen  die  Freiheit  verbürgt, 
da  er  nun  nicht  mehr  unter  dem  Banne  und  Druck  eines  Offen- 
barungsglaubens, der  starr  und  unnahbar  alles  persönliche  Denken 
ausschließt,  dem  Christentum  anhängt,  sondern  aus  freier  Über- 
zeugung von  dem  Werte  und  der  Einzigkeit  dieser  Religion,  die 
schön  und  wahr  genug  sei,  um  die  Stütze  der  Offenbarung  ent- 
behren zu  können.  Aber  diese  Freiheit  der  liberalen  Christen 
besteht  nur  in  der  Einbildung.  Die  Orthodoxen  wollen  die 
Kirche  und  alles,  was  damit  zusammenhängt,  m  i  t  Grund, 
nämlich,  weil  die  Wahrheit  der  Kirche  auf  Offenbarung  ruht, 
die  Liberalen  wollen  das  Gleiche  ohne  Grund.  Das  ist  der 
einzige  Unterschied.  Denn  daß  die  Erfahrung  kein  genügender 
Grund  ist,  um  auf  ihm  eine  Kirche  aufzubauen,  sollte  einleuchten. 
Warum  hat  das  Christentum  so  Jahrhundertelang  als  einziger 
religiöser  Wert  bestanden,  neben  oder  gar  über  dem  kein  anderer 
religiöser  Wert  auch  nur  von  ferne  denkbar  schien?     War  dies 


269 


Zweiter  Teil. 

wirklich  die  innere  Kraft  des  Christentums,  sein  absoluter  Wahr- 
heitsgehalt? Oder  nicht  vielmehr  in  der  Hauptsache  eben  der 
Umstand,  den  die  liberale  Theologie  fallen  läßt,  daß  das  Christen- 
tum als  übernatürlich,  übermenschlich,  als  göttliche  Offenbarung 
galt?  Diese  Überzeugung  ließ  alle  Kritik  an  dieser  Religion 
abprallen,  ließ  einen  Zweifel  an  ihr  gar  nicht  aufkommen.  Nimmt 
man  der  Kirche  die  Offenbarung  als  Grundlage,  so  ist  die  Kirche 
dahin.  Alles  Menschliche  ist  etwas  Beschränktes  und  nur  auf 
etwas  Unbedingtem,  Unverbrüchlichem  läßt  sich  eine  Kirche 
aufbauen.  Aber  von  dieser  innern  Haltlosigkeit  der  liberalen 
Theologie  abgesehen:  unser  Einv/and  trifft  sie  wie  jede  andere 
kirchliche  Richtung.  Auch  die  liberale  Theologie  will  die  Kirche 
und  die  Gemeinde.  Aber  das  gerade  ist  es,  was  wir  bekämpfen. 
Was  die  Kirchen,  die  Gemeinden  glauben,  worauf  sie  ihre  Zu- 
sammengehörigkeit gründen,  das  ist  gleichgültig,  das  fordert 
nicht  unsern  Widerspruch,  unsere  Leidenschaft  heraus.  Denn 
wie  viel  Wunderliches  und  Abgeschmacktes  haben  nicht  die  Men- 
schen von  jeher  geglaubt  und  werden  es  noch  in  aller  Zukunft 
glauben!  Hier  lassen  wir  gern  jede  Nachsicht  walten.  Aber 
dies  ist  es,  was  die  liberalen  Theologen  allein  reformieren  wollen. 
Sie  wollen  den  Glaubensinhalt  der  Kirche,  der  Gemeinde  ver- 
schieben. Sie  wollen  die  Dogmen  ändern,  vor  allem  beschränken. 
Aber  daß  die  Kirche,  die  Gemeinde  als  solche  bestehen  bleiben 
soll,  daß  die  christliche  Gemeinschaft  auf  Grund  eines  mehr 
oder  weniger  bestimmten  und  umfangreichen  Glaubensgehaltes, 
der  allen  gemeinsam  ist,  als  Kirche  und  Gemeinde  beisammen 
bleiben  soll  —  darin  stimmen  liberale  Christen  mit  Orthodoxen 
überein.  Sie  wollen  die  Kirche,  die  Gemeinde  nicht  auflösen, 
sondern  stärken,  ihr  durch  Um.bildung  ihres  Inhalts  neue  An- 
hänger werben,  wollen  sie  wieder  zu  Ehren  bringen.  Aber 
eben  die  Kirche,  die  Gemeinde  als  solche  —  das  ist  es,  was  wir 
bekämpfen  müssen.  Nicht  was  die  Kirchen  lehren,  kümmert 
oder  entrüstet  uns,  sondern  daß  überhaupt  Kirchen  be- 
stehen, daß  die  Menschen  auf  etwas  rein  Geistiges  hin  sich  zu 
einer  festen  Gruppe  zusammenschließen,  sich  gegenseitig  auf 
einen  einheitlichen  geistigen  Inhalt  hin  verpflichten,  um  ihn 
unter  sich  und  nach  außen  hin  möglichst  zur  Geltung  zu  bringen  — 

270 


Die  künftige  Religion.    II. 


das  verwerfen  wir  vom  Standpunkt  und  Bedürfnis  einer  höheren 
Bildung.  In  solchen  Organisationen  auf  Grund  geistiger  Werte 
können  wir  nur  eine  Verengung,  Verkümmerung  der  mensch- 
lichen Seele  sehen.  Sie  wird  hierdurch  gefesselt;  ihr  werden 
durch  das  äußere  Band  der  Gemeinschaft,  zu  der  sie  sich  bekennen 
soll,  Schranken  auferlegt,  die  ihr  Bestes,  Innerstes  töten.  Die 
geistigen  Werte  sind  zu  zart,  als  daß  sie  je  zu  einer  Parteibildung, 
zu  einer  Kirchengründung,  zur  Schöpfung  einer  Konfession  dienen 
könnten.  Dadurch  können  sie  stets  nur  vergewaltigt  werden. 
Sie  können  stets  nur  das  heilige,  stille  Gut  einer  einzelnen  Seele 
sein.  Zum  Bindeglied  einer  Menge  gemacht,  werden  sie  not- 
wendig entstellt,  ihrer  wahren  Kraft  und  Schönheit  entkleidet. 
Still  und  heim.lich,  wie  jede  seelische  Schöpfung  dem  Herzen 
ihres  Schöpfers  entsprang,  muß  sie  sich  auch  ohne  Vermittlung 
jeder  andern  Seele  nähern,  die  religiöse  Schöpfung  als  die  hei- 
ligste, innerlichste  zumal.  Hier  darf  es  keiner  Zurüstung,  keines 
äußeren  Zwanges  und  Bandes  bedürfen,  daß  sie  wirke.  Sie  muß 
frei  wirken.  Wen  nicht  das  ganze  Gebahren  aller  religiösen 
Gemeinschaften,  aller  Kirchen  und  Gemeinden,  heißen  sie  wie 
sie  wollen,  in  seinem  innersten  Wesen,  in  seinem  tiefsten  Recht 
auf  Persönlichkeit  verletzt,  dem  spreche  ich  jede  tiefere  Seele 
ab.  Die  reiche,  selbstbewußte  Seele  verträgt  es  nicht,  daß  sie 
das  Innerste,  Geheimnisvollste  mit  jedem  gemein  habe.  Sie 
will  ihr  Sein,  ihr  Leben,  wie  s  i  e  es  versteht,  wie  sie  es  liebt  und 
schätzt.  Sie  kann  sich  nie  im  Geistigen  einer  Norm  unterwerfen, 
die  ihr  eine  Gemeinschaft  aufzwingt.  Alles  Geistige  kann  nur 
persönlich  sein.  Macht  man  etwas  Geistiges  zu  etwas 
Gemeinsamen,  gründet  m^an  daraufhin  eine  Gruppe,  einen  Verein, 
eine  Gemeinde,  eine  Kirche,  so  stumpft  man  es  ab,  dann  streift 
man  allen  Blütenstaub  von  ihm  ab.  Es  wird  kalt  und  schal. 
Es  ist  die  Form  des  seelischen  Lebens  für  geringere  Menschen, 
die  die  Persönlichkeit,  das  Recht  der  Persönlichkeit  noch  nicht 
erkannt  haben,  wo  alle  Menschen  noch  gleichmäßig  unter  eine 
Norm,  einen  Wert,  einen  Glauben  zu  bringen  sind.  Menschen 
höherer  Bildung  müssen,  wenn  sie  ehrlich  und  mutig  sind,  diese 
Form  abweisen,  müssen  sie  aus  ihrer  tiefsten  Feindschaft  heraus 
bekämpfen.      Der  Begriff   Kirche,   der  Begriff  Gemeinde  gehört 


271 


Zweiter  Teil. 

nach  Palästina,  Ägypten,  Syrien,  kurz  nach  dem  Orient,  nach 
Asien.  Dort  haben  diese  Begriffe  und  Bildungen  ihren  Ursprung 
und  der  minder  begabten,  geistig  beschränkteren  Natur  der 
dortigen  Menschen  entsprechend  auch  ihre  Berechtigung.  Aber 
sie  sind  ungriechisch,  sie  sind,  hoffe  ich,  auch  undeutsch.  Nie- 
mals hätte  man  diese  Begriffe  in  Europa  einführen  sollen.  Man 
hat  eine  ungeheuere  Verwüstung  damit  angerichtet.  Die  erste 
gewaltige  Tat  zur  Vernichtung  der  Kirche,  zur  Auflösung  der 
Gemeinde  war  die  Tat  Luthers.  In  Luther  empörte  sich  zum 
ersten  Male  der  ursprüngliche,  freie,  persönliche  Geist  unserer 
Rasse  gegen  den  gebundenen  Geist  der  Gemeinde,  der  Kirche. 
Aber  Luther  blieb  auf  halbem  Wege  stehen.  Es  war  das  Ver- 
hängnisvolle, daß  Luther  keinen  Nachfolger  fand.  Daß  er  selbst 
nicht  bis  ans  Ende  ging,  daß  er  die  letzten  Folgerungen  seiner 
Lehre  nicht  zog  —  wer  sollte  ihm  das  verargen?  Aber  die  Nach- 
welt hätte  schon  längst  sein  Werk  aufnehmen  und  weiterführen 
müssen.  Die  Zeit  ist  zu  solchem  Werke  überreif.  Die  Fort- 
führung des  Lutherschen  Werkes,  sein  Ausbau,  seine  letzte 
Folgerung  sind  so  selbstverständlich,  daß  man  sich  schämt,  sie 
auszusprechen.  Sie  liegen  so  offen  am  Tage,  daß  jeder  sie 
schauen  und  nennen  kann.  Innerlich  sind  die  Lehren  der  Re- 
formation wohl  fortgeführt  worden.  Meilenweit  hat  sich  das 
europäische  Denken  von  der  Gedankenwelt  Luthers  entfernt, 
bei  uns  und  im  Auslande.  Aber  was  all  diesen  Denkern  fehlte, 
war  der  Mut,  die  Folgerungen  für  das  Leben  aus  ihren  Gedanken 
zu  ziehen.  Hierin  war  ihnen  der  verachtete  Luther  weit  über- 
legen. Sein  Geist  hatte  seine  Schranken.  Aber  diesem  Geiste 
mußte  sich  die  Wirklichkeit  fügen.  Davon  ließ  er  sich  nichts 
abbitten.  Ich  wollte,  die  nachfolgenden  Geister  Europas  hätten 
nur  ein  wenig  von  seinem  Mut  gehabt.  Luther  warf  in  die  euro- 
päischen Völker  das  zündende  Wort  hinein  von  dem  freien 
Priestertum  der  Laien.  Aber  damit  war  alles  geschehen.  Damit 
war  der  erste  wichtigste  Schritt  geschehen,  dem  alles  weitere 
folgen  mußte.  Damit  war  das  Priestertum  gestürzt.  Aber  damit 
war  auch  zugleich,  was  Luther  nicht  erkannte  und  ahnte,  die 
Kirche  selbst  gestürzt,  die  ganze  Gemeinde  aufgelöst.  Die  Ka- 
tholiken haben  von  ihrem  Standpunkte  aus  völlig  recht,  wenn 

i272 


Die  künftige  Religion.    II. 


sie  Luther  als  die  Wurzel  alles  Übels  betrachten,  wenn  sie  mit 
Luther  das  Ende  der  Kirche,  der  Gemeinde,  der  Religion,  des 
Christentums  anheben  sehen.  Auf  der  Bahn,  die  Luther  einge- 
schlagen, gibt  es  wirklich  kein  Halten  mehr.  Hier  muß  man 
mutig  den  Weg  bis  zu  Ende  gehen.  Der  Priester  und  die  Ge- 
meinde gehören  innig  zusammen.  Nimmt  man  der  Gemeinde 
den  Priester,  stellt  man  alle  Gemeindeglieder  gleich,  dann  hat 
man  auch  die  Gemeinde  aufgelöst.  Ist  jedes  Mitglied  der  Ge- 
meinde sein  eigener  Priester,  wie  Luther  es  will  und  wie  es  der 
Protestantismus  als  seinen  Vorzug  rühmt,  ist  der  einzelne  nur 
sich ,  aber  nicht  mehr  der  Gemeinde  und  deren  Vertreter  verant- 
wortlich —  ich  verstehe  nicht,  wie  dabei  die  Gemeinde  noch  soll 
bestehen  können.  Sie  kann  sich  nur  durch  Selbsttäuschung 
halten.  Denn  der  einzelne  kann  und  wird,  wie  die  Erfahrung 
des  Protestantismus  lehrt,  sich  nicht  auf  die  Freiheit  seiner 
religiösen  Betätigung  innerhalb  der  durch  den  Glauben  der  Ge- 
meinde gesteckten  Grenzen  beschränken.  Dies  setzte  Luther 
voraus.  Er  gab  den  Gemeindegliedern  die  Freiheit,  da  er  gar 
nicht  ahnte,  den  Gedanken  gar  nicht  fassen  konnte,  befangen 
in  dem  Glauben  seiner  Zeit,  wie  er  war,  daß  die  einzelnen 
sich  je  von  der  Offenbarung,  dem  christlichen  Glauben  als 
solchem  entfernen  würden.  Dies  betrachtete  Luther  als  außerhalb 
jeder  Berechnung,  jeder  Möglichkeit  liegend.  Luther  würde  er- 
schrecken, wenn  er  wüßte,  was  er  angerichtet  hat. 

Das  einzelne  Gemeindeglied  wird  offenbar,  da  es  niemand,  der 
Gemeinde  im  ganzen  nicht  mehr  verantwortlich  ist,  sehr  leicht,  und 
erfahrungsgemäß  geschieht  das  in  unzähligen  Fällen,  ganz  aus 
der  Offenbarung,  dem  Glauben  der  Gemeinde  heraustreten.  Es 
wird  sich  innerlich  gänzlich  absondern  und  sich  seine  ganz  freie 
und  eigene  Religion  bilden,  die  mit  der  Religion  der  Gemeinde 
nicht  mehr  einen  Schatten  von  Ähnlichkeit  hat.  Wenn  das  aber 
in  zahlreichen  Fällen  geschieht  —  wo  bleibt  da  die  Gemeinde,  wo 
ist  da  noch  der  Bestand  der  Gemeinde  gewährleistet?  Bröckelt 
sie  da  nicht  mit  der  Zeit  völlig  ab?  Und  ist  es  nicht  so  in  dem 
Protestantismus  geschehen?  Die  Gemeinde  besteht  nur  noch 
in  der  Einbildung,  nur  noch  dem  Namen  nach.  Tatsächlich  ist 
sie  in  der  Auflösung  begriffen.     Nur  unsere  Heuchelei  hält  sie 


273 


Zweiter  Teil. 


noch  aufrecht.  Wir  wagen  den  bestehenden  Zustand  nicht  aus- 
zusprechen, nicht  offen  anzuerkennen.  Aber  zu  diesem  Mute 
müssen  wir  uns  jetzt  entschUeßen.  Hatte  Luther  gesagt:  jeder 
sein  eigener  Priester,  so  müssen  wir  jetzt  sagen:  jeder  sein  eigener 
Religions  Stifter,  der  eigene  Schöpfer  seiner  Religion. 
Das  entspricht  jetzt  allein  noch  der  Wahrheit.  Alles  andere 
ist  Lug  und  Trug.  Diese  Losung  ist  nicht  so  zu  verstehen,  daß 
die  einzelnen  nun  wirklich  sich  selber  eine  Religion  schaffen 
sollen ,  daß  jeder  einzelne  ganz  sich  selbst  überlassen  bleibt. 
Eine  Religion  zu  erfinden,  eine  eigentümliche  und  selbständige 
Stellung  zum  Dasein  zu  nehmen,  dem  Leben  einen  eigenen  Sinn 
zu  leihen,  ist  Sache  besonderer  geistiger  Begabung,  ist  nicht 
jedermanns  Sache,  ist  Sache  des  Genies,  des  auserwählten  Men- 
schen. Aber  in  d  e  m  Sinne  kann  und  muß  der  einzelne  sich  die 
Religion  selber  schaffen,  daß  er  sie  sich  selber  wählt,  daß 
er  nicht  durch  die  Zugehörigkeit  zum  Verbände  einer  Gemeinde, 
einer  Kirche  voreingenommen,  fest  verpflichtet  ist,  daß  jede 
religiöse  Schöpfung,  jeder  Gedanke  an  ihn  herantreten  kann 
und  er  nur  dem  folgt,  was  er  liebt,  was  er  aus  freier  Überzeugung 
schätzt.  In  diesem  Sinne  muß  allerdings  jeder  selber  der  Schöpfer 
seines  Glaubens  sein.  Jeder  muß  sich  frei,  unvoreingenommen, 
als  völliger  Herr  seines  Willens,  seine  Heiligtümer  selber  suchen. 
Zu  diesem  Suchen,  zu  dieser  freien  Wahl  muß  der  Mensch 
erzogen  werden.  Nicht  muß  sein  Blick,  wie  es  durch  die  Er- 
ziehung in  einer  Gemeinde,  einer  Kirche  geschieht,  von  frühauf 
geblendet  werden,  daß  der  einzelne  ohne  Überlegung,  in 
blindem  Gehorsam  nur  eins  als  Wahrheit  erkennt,  alles  andere 
aber  von  vornherein  als  Wahn  verwirft.  Durch  die  Gemeindezuge- 
hörigkeit darf  er  nicht  Schranken  um  sich  haben.  Jede  religiöse 
Schöpfung  muß  frei  entstehen  und  frei  um  jede  Seele  werben  können. 
Es  darf  in  Zukunft  gar  keine  Priester,  sondern  nur  noch 
freie  Lehrer,  Erzieher  geben.  Es  ist  das  Trostlos-Halbe  am  Pro- 
testantismus, daß  die  protestantischen  Geistlichen  zwar  Lehrer, 
aber  doch  zugleich  auch  noch  Priester  sind,  daß  sie  nicht  nur 
ihre  eigene,  freie  Meinung  äußern,  sondern  daß  sie  als  Beauf- 
tragte einer  Gemeinde,  einer  Kirche  reden  müssen.  Aber  das 
stößt  jeden  reifen   Menschen  ab.     Was  gilt  mir  das  Wort  eines 


274 


Die  künftige  Religion.    II. 


Mannes,  der  nicht  ausschließlich  sich  selber  folgt,  der  nicht 
ganz  und  gar  nur  vor  sich  selber  verantwortlich  ist,  der  eine 
Gemeinde  über  sich  hat,  die  ihn  reden  heißt,  die  ihn  beauftragt, 
die  von  ihm  Rechenschaft  fordern  kann.  Die  Rede  eines  solchen 
Mannes  gilt  mir  nichts.  Daß  er  sich  überhaupt  zu  solchem 
Dienste  hergab,  daß  er  seine  Persönlichkeit  an  eine  Gemeinde 
abtrat,  das  stellt  ihn  in  meinen  Augen  tief  in  der  Rangordnung 
der  Geister.  Damit  scheidet  er  sich  nach  meinem  Gefühl  — 
und  mag  er  bei  der  Allgemeinheit  in  noch  so  hohem  Ansehen 
stehen  —  aus  der  höheren  Bildung  aus.  Damit  hat  er  die  Grund- 
lage, das  Palladium  jeder  höheren  Erziehung  preisgegeben.  Im 
politischen  Leben,  in  den  wirtschaftlichen  Kämpfen  muß  es 
feste  Verbände  geben.  Wo  das  Leben  unmittelbar  zur  Tat  wird 
und  ein  gem.einsames  Handeln  erfordert,  da  ist  die  Zucht,  die 
straffe,  einheitliche  Erziehung  am  Platze.  Da  muß  sich  jeder 
fügen  lernen.  Ohne  solche  Kraft  zur  Organisation,  zur  Einord- 
nung geht  jedes  Volk  zugrunde.  Und  siegen,  herrschen  wird 
das  Volk,  das  die  stärkste  Kraft  zur  Organisation  hat.  Zumal 
der  allgemeinste  Verband,  der  alle  andern  Verbände  in  sich  be- 
greift, der  nationale,  muß  unzerreißbar  sein,  muß  eine  alles  andere 
überbietende  und  einschließende  Kraft  haben.  Aber  im  Leben 
des  Geistes  nach  seinem  engeren  Sinne,  in  der  Wissenschaft, 
in  der  Kunst  und  vor  allem  in  der  Religion  —  da  kann  nur  die 
freie  Liebe  herrschen.  V/en  der  Geist  treibt,  der  muß  reden 
können  wie  und  wo  er  mag.  Und  alle  müssen  hören  können, 
hören  wollen,  wo  nur  einer  etwas  zu  sagen  hat.  Aber  nie 
dürfen  die  Menschen  zu  festen  Gruppen,  zu  Gemeinden  zu- 
sammengeschlossen sein.  Damit  sperren  sie  andern  die  Bahn, 
dadurch  erheben  sie  ein  nur  Persönliches  zum  unpersönlichen 
Gesetz,  damit  üben  sie  Gewalt,  dadurch  werden  sie  intolerant, 
dadurch  verengern  sie  die  Seelen,  nehmen  sie  gefangen,  dadurch 
zerstören  sie  den  ganzen  Untergrund,  auf  dem  das  höhere  Leben 
ruht.  Wohl  dürfen  sich  in  gewissem  Sinne  auch  künftig  Ge- 
meinden um  jeden  Schöpfer  scharen,  aber  es  dürfen  dies  immer 
nur  stille,  unsichtbare  Gemeinden  sein,  die  nur  in  den  einzelnen 
Seelen  wurzeln.  Das  geistige  Leben  muß  wie  ein  freies  Meer 
sein,  auf  dem  jeder  Wind  nach  Herzensbegehr  spielen  und  tanzen 


275 


Zweiter  Teil. 

kann.  Die  starken  und  großen  Wahrheiten  werden  schon  von 
selbst  über  die  gebrechlichen  Meinungen  flüchtiger  Einbildungen 
Herr  werden.  Es  bedarf  zu  ihrer  Herrschaft  keiner  Gewalt,  keines 
Zwanges,  keiner  Organisation,  die  auf  sie  ihr  Siegel  drückt. 
Jede  Gemeindebildung  ist  ein  Wille  zur  Intoleranz,  sei  dieser 
Wille  stärker  oder  schwächer.  Gegen  jeden  Gedanken  soll  man 
tolerant  sein.  Aber  gegen  die  Intoleranz  gibt  es  nur  die  Intoleranz. 
Darum  rufen  wir:  Krieg  den  Gemeinden,  jeder  Gemeinde. 
In  Zukunft  sei  jeder  frei,  gehorche  im  Geistigen,  im  Innersten, 
im  Heiligsten  nur  sich  selber,  sei  ein  freier  König  seiner  Seele, 
dem  niemand  Gesetze  auferlegen  darf.  Wer  einer  Gemeinde 
angehört,  der  hat  sein  Heiligstes  preisgegeben,  der  hat  sein  Recht 
auf  Selbstbestimmung  geopfert,  der  hat  sich  am  Geiste  selbst 
vergangen.  Und  gar  erst  wer  einer  Gemeinde  als  Lehrer  und 
Priester  dient.  Schwer  ist  es,  gegen  einen  solchen  milde  zu  sein. 
Wen  nicht  der  Anblick  eines  Priesters,  eines  Gemeindeleiters, 
nenne  er  sich,  wie  er  wolle,  wen  nicht  das  Vorhandensein  solcher 
abhängigen  beauftragten  Geister,  die  führen  wollen  und  doch 
gehorchen  müssen,  die  reden  und  doch  nicht  nur  ihrem  Herzen 
folgen  können,  wen  diese  Tatsachen  nicht  im  Tiefsten  erschrecken, 
wer  nicht  ersieht,  wie  tief  angesichts  solcher  Zustände  unsere 
ganze  geistige  Bildung  noch  steht,  wer  darauf  hin  nicht  der  Ge- 
meinde entschlossen  den  Rücken  wendet,  den  verstehe  ich  nicht. 
Es  darf  in  Zukunft  keine  Gemeinde-Religion  mehr 
geben,  es  darf  nur  noch  persönliche  Religion  geben. 
Damit  allein  erfüllen  wir  unsere  Geistigkeit,  tun  wir  unserem 
wirklichen  geistigen  Bedürfnis,  der  echten  Anlage  unserer  Seele 
Genüge.  Schmach  über  uns,  wenn  wir  davor  zurückschrecken! 
Ketten  wir  uns  alle  innerlich  und  äußerlich  los  von  dem  Geiste 
des  Zwanges,  der  jede  Gemeinde  beseelt.  Stelle  jeder  einzelne 
sich  nur  auf  sich.  Er  wird  trotzdem  nicht  verlassen  sein.  Re- 
ligiöse Werte  und  Schätzungen  drängen  von  allen  Seiten  auf 
ihn  ein.  Daraus  braue  er  sich  selber  seinen  Trank.  Aber  fliehe 
er  jede  Religion,  die  sich  nicht  persönlich  gibt,  die  als  Herde, 
als  Gemeinde  sich  ihm  nähert.  Hüte  er  sich,  sich  jemals  ein- 
gliedern zu  lassen.  Die  menschliche  Seele  läßt  sich  nicht  ein- 
gliedern, wenigstens  die  höhere  menschliche  Seele  nicht.    Dies  ist 

276 


Die  künftige  Religion.    II. 


die  Form  für  die  gröbere,  plumpere,  schwerere  Seele.    Die  feinere 
Seele  will  frei  flattern.     Sie  kann  sich  nie  die  Fessel  eines  Ge- 
meindeglaubens   aufschmieden  lassen.     Deshalb  ertöne  laut  der 
Ruf  durch  alle  Gassen:  los  von  der  Kirche,  los  von  der  Gemeinde, 
los  von  Rom.    Rom  ist  der  Inbegriff    des   gebundenen  Geistes, 
des  geistigen  Zwanges.     Aber    den    gleichen  Zwang    üben    alle 
Kirchen,    alle    Gemeinden    aus.       Sie    sind    alle     römischen 
Geistes,   so  wenig  sie  es  Wort  haben  wollen.      Wir  aber  küm- 
mern uns  nicht  mehr  um  die  Worte,   sondern  um  die  Sachen, 
die  Wahrheit.     Und   in  Wahrheit  erziehen  die    andern  Kirchen 
die  Menschen  zu  derselben  Enge  wie  Rom,  nur  nicht  mit  so  viel 
Kunst  und  Erfolg.    Alle  andern  Kirchen  sind  echte  Abkömmlinge 
Roms,  die  dürftigeren   Kinder  einer  einst  stolzen    Mutter.     Sie 
verleugnen    ihre  Herkunft    nicht.     Daß    sie    diese  Herkunft    zu 
verraten    sich  abmühen,  daß  sie    in    allen  Tonarten    auf  Rom 
schmähen,   das  täuscht  uns  nicht  länger.      Ihr  Liebäugeln  mit 
der  Freiheit  kann   uns  nicht   mehr   ködern.     Sie   sind   alle   ge- 
bundenen   Geistes.       Deshalb:     los    von    der    Kirche,    los    von 
der     Gemeinde!       Vielleicht    könnten    wir     auch    sagen:     Los 
von  Asien!      Zurück    nach  Athen,    zurück    zu    uns    selbst,    zu 
unserem  eingeborenen,  stolzen,  kühnen,  freien  Selbst.    Griechen- 
land hat  auch  seine  Sünden  wider  den  Geist  begangen,  es  hat 
Sokrates  den  Giftbecher  gereicht,  es  hat  manchen  Denker  ver- 
folgt.     Aber   es  waren   immer   politische   oder   gesellschaftliche 
Gründe,   die  hierzu  trieben.     Und  diese  Hindernisse  wird  man 
dem  freien  Geiste  niemals  wegräumen.     Stets  wird  die  Gesell- 
schaft,  der   Staat  gegen  die    Männer  des  Geistes,  die  sie  nicht 
begreifen  und  fürchten,  eifern.     Aber  nie  hat  es  in  Griechenland 
eine    Kirche  gegeben,   eine  Gemeinde,   eine  auf  einen  geistigen 
Wert   verpflichtete   und  verschworene  Gruppe,    die    die    Geister 
band,   den  schöpferischen  Geistern  sich  entgegen  warf.     Es  hat 
in  Griechenland  niemals  im  eigentlichen  Sinne  Priester  gegeben, 
die   das   geistige  Leben   von   einem   bestimmten   Glauben,    einer 
bestimmten  Lehre  aus  überwachen  und  bewerten,  die  Gemüter 
so  früh  wie  möglich  für  diesen  Glauben  einfangen,  und  mit  allen 
Zäunen  umgarnen,   daß  sie  in  diesem  Glauben,   in  diesem  all- 
gemeinen Volksglauben ,    für    immer  verharren.     Wie  weit  ab 


277 


Zweiter  Teil. 


liegt  diese  ganze  Anschauungswelt  vom  Griechentum!  Hier 
ward  jeder  frei  entlassen  zu  einer  Wahl  seiner  Werte.  Hier  war 
nicht  Protestantismus,  hier  war  weit  mehr  als  Protestantismus, 
hier  war  die  volle  Freiheit.  Hier  gab  es  nur  persönliche  Re- 
ligion, persönliche  Werte,  persönliche  Schätzungen,  Hoffnungen, 
Ideale.  Wenn  einzelnen  Denkern  Schulen  folgten,  sie  arteten 
nie  zu  Gemeinden,  zu  Kirchen  aus,  es  blieben  freie,  persönliche 
Gefolgschaften,  die  sich  jederzeit  wieder  lösen  und  neu  sich 
fügen  konnten.  Jeder  blieb  ein  freier  Herr  seiner  Seele.  An- 
sätze zu  Gemeindebildungen  haben  auch  in  Griechenland 
nicht  gefehlt.  Aber  sie  waren  wider  den  Geist  der  Rasse,  sie 
blieben  machtlos.  Es  gelang  ihnen  nicht,  die  Nation,  den  natio- 
nalen Geist  zu  bezwingen,  der  auf  Freiheit  gegründet  war,  nur 
in  Freiheit  atmen  konnte.  Wir  schauen  in  dies  griechische  Leben, 
nach  dem  Einbruch  des  asiatisch-gebundenen  Geistes  in  Europa, 
wie  in  ein  glückliches  Paradies  zurück.  Damals  hatte  die  Mensch- 
heit, was  sie  jetzt  entbehrt,  was  sich  jetzt  der  Einzelne  nur 
mühsam  kämpfend  erringt,  die  individuelle  Freiheit.  Das  war 
allgemeines  Recht.  Man  strebte  nicht  nach  Gemeindegeist, 
Gemeindeglauben,  das  hätte  man  nicht  verstanden,  das  wäre 
allen  als  sinnlos  und  anmaßend  zugleich  erschienen  —  sondern 
nach  persönlichem  Geist,  persönlichem  Glauben.  Und  aus  dieser 
schrankenlosen  Freiheit  sproß  das  ganze  stolze  griechische 
Leben  hervor.  Wie  kann  man  hoffen,  je  wieder  zu  einer  höheren 
Bildung  zu  gelangen,  zu  einer  Reife  des  Menschen,  ehe  man 
nicht  wieder  den  Mut  zu  dieser  Freiheit  hat,  ehe  nicht  die  Macht 
des  Gemeindeglaubens  gebrochen  ist,  der  alle  stolzen  Blüten 
knickt,  ehe  nicht  wieder  die  Menschen  ganz  auf  sich  allein  gestellt 
sind.  Ehe  man  nicht  wieder  das  Wagnis  dieser  Freiheit  wagt,  ist 
alle  Hoffnung  auf  ein  höheres  Leben,  eine  höhere,  reinere  Mensch- 
lichkeit, auf  Vollendung  des  menschlichen  Wesens,  auf  Glück 
im  Dasein  verloren.  Darum  los  von  Asien,  los  von  der  Kirche! 
Die  Aufgeklärteren  werden  vielleicht  einräumen,  daß  dies 
zwar  logisch  gedacht  sei,  daß,  da  es  keine  Offenbarung,  keine 
durch  übernatürliche  Kräfte  verbürgte  Wahrheit  gibt,  es 
auch  keine  feste  Einheit  im  Geistigen  geben  kann.  In  den 
plumpesten,  einfachsten  Fragen    mag    es    eine    sichere  Einheit 


278 


Die  künftige  Religion.    II. 


geben.  Wo  der  Geist  aber  die  nächsten  Schranken  verläßt, 
wo  er  sich  ausweitet  zu  den  letzten  bedenklichsten  Fragen, 
die  so  zart,  so  überfein  sind,  daß  sie  jedes  Auge  anders  schaut, 
da  kann  keine  Vereinigung  der  Geister  mehr  stattfinden,  kann 
kein  festes  Band  mehr  um  sie  geschlungen  werden,  da  muß  der 
einzelne  zusehen ,  wie  er  seine  Wahrheit  findet,  da  kann  nur 
der  persönliche  Gedanke,  der  persönliche  Wille  walten.  Es  ist 
möglich,  daß  man  mir  dies  einräumt.  —  Aber,  wird  man  sagen, 
das  ist  eine  Lebensauffassung  nur  für  höhere  Menschen.  Sie 
ist  nur  in  sehr  beschränktem  Umfange  durchführbar.  Sie  mag 
wahr  sein,  aber  sie  ist  unmöglich,  jedenfalls  nur  bedingt 
möglich.  Man  darf  gar  manchen  Gedanken,  und  sei  er  noch 
so  wahr  und  richtig,  nicht  ohne  weiteres  in  das  Leben  einführen. 
Es  klafft  eine  tiefe  Lücke  zwischen  Idee  und  Wirklichkeit.  Wer 
diese  Lücke  übersieht,  kann  namenloses  Unheil  anrichten.  Gar 
vielen  Ideen,  und  gerade  den  höchsten,  wird  von  der  unbarm- 
herzigen, harten  Wirklichkeit  ein  unüberwindliches  ,,Halt"  ge- 
boten. Aber  mit  dieser  Betrachtung  kann  man  jede  menschliche 
Regung,  jedes  neue  Streben,  jede  reinere  Hoffnung  zur  Ruhe 
v/eisen.  Wohl  darf  man  die  Idee  nicht  leichtfertig,  von  heute 
auf  morgen  auf  die  Wirklichkeit  übertragen.  Die  Geschichte 
braucht  zu  ihren  großen  Taten  lange  Zeit.  Aber  auf  der  anderen 
Seite  darf  die  Wirklichkeit  auch  nicht  zu  langsam  hinter  der 
Welt  der  Gedanken,  hinter  der  Wahrheit,  die  einmal  erkannt  ist, 
hinterdrein  hinken.  Sonst  wird  die  Lücke  zu  groß.  Sonst  dehnt 
sich  eine  Kluft  zwischen  Idee  und  Wirklichkeit,  die  sich  nie  mehr 
ausfüllen  läßt.  Der  Gedanke  ist  ein  für  allemal  aus  der  Wirk- 
lichkeit verbannt.  Das  Leben  vollzieht  sich  in  dumpfer  Trägheit, 
ohne  Gedanken,  ohne  bewußte  Leitung  weiter.  So  aber  kann 
es  nur  dem  Verfalle  zueilen.  Es  ist  ein  furchtbares  Verhängnis, 
das  Leben  auf  der  Lüge  aufzubauen,  wenn  Geist  und  Tat  einander 
widersprechen,  wenn  der  Sinn  die  Handlung  verleugnet,  und  die 
Handlung  den  Sinn.  Ich  möchte  der  Menschheit  nicht  raten, 
einen  solchen  Zustand  dauernd  einzuführen.  Ich  hätte  nicht 
den  Mut  dazu.  Ich  bewundere  den  Mut,  mit  dem  unsere  Zeit 
diesen  Zustand  ohne  Bedenken  walten  läßt.  Ich  fürchte,  diese 
Lüge  wird  sich  einst  furchtbar  rächen.     Solch  Leben  ohne  Unter- 


279 


Zweiter  Teil. 


grund,  auf  dem  losen  Grunde  eines  hohlen  Wahnes,  muß  früher 
oder   später   zusammenbrechen.      Den    Feigen,    die    sich    selber 
täuschten,   wird   es   einst  grausam  tagen.     Zur   Auflösung  der 
Gemeinde,  zum  Grundsatz  der  persönlichen  Religion  dünkt  es 
mich  Zeit,  und  Überzeit.       Daß  diese  Bewegung  von  oben  an- 
heben muß,   daß  es  die  reifsten,  geistig  erzogensten  Menschen 
sein  müssen,  die  dieser  Form  des  religiösen  Lebens  zuerst  zufallen, 
das  erscheint  mir  kein   Gegengrund   gegen   meinen   Ratschlag, 
sondern   dessen   stärkste   Empfehlung.      Wir   haben   uns   daran 
gewöhnt,  zu  glauben  —  es  ist  uns  wenigstens  immer  so  gelehrt 
worden   — -   daß   die   religiösen   Bewegungen   von   unten   herauf 
kommen    müßten,  aus  den  engsten,  gedrücktesten,  gequältesten 
Schichten  des  Volkes,  aus  der  Stätte  der  Not  und  der  geistigen 
Armut.     Ich  muß  dem  laut  widersprechen.     Das  Christentum 
ist  allerdings  so  entstanden,  und  alle  religiösen  Bewegungen,  die 
es  aus  sich  geboren  hat,   bis  herunter  zur   Heilsarmee.      Aber 
diese  religiösen  Schöpfungen  tragen  auch  alle  deutlich  die  Spuren 
dieser  Herkunft.    Es  liegt  keine  Sonne  über  ihnen.   Es  sind  nicht 
die  stolzen,  mutigen,  hoffnungsfrohen  Gefühle,  die  sie  erwecken. 
Sie  haben  die   Menschheit  nicht  emporgehoben,  sondern,  indem 
sie  die  dumpfe  Luft  ihres  Ursprungs  auf  das  Ganze  ausdehnten, 
sie  herabgezerrt,   ihr  das  Bleigewicht  einer   Schmerzensreligion 
an  die  Ferse  gehängt.     Vielleicht  wäre  es  nicht  so  unklug,  es 
gereichte  der    Menschheit  vielleicht  nicht  zum  Unsegen,  wenn 
wir  einmal  den  entgegengesetzten  Weg  einschlügen,  die  religiöse 
Erziehung  nicht  von  unten  nach  oben,  sondern  von  oben  herunter 
auszuführen,  zum  Maßstab  zu  nehmen,  was  die  Besten  vermögen 
und  wollen,  was  diesen  tiefstes  Bedürfnis,   heiliger  Zwang  ist, 
und  in  diese  Art  des  Lebens  alle  anderen  hineinzuerziehen,  mit 
Geduld,  in  steter,  ernster  Arbeit.    Wenigstens  sei  dies  mein  Weg, 
und  ich  hoffe,  daß  er  zu  schönerem  Ziele  führt.    Nach  den  Licht- 
menschen sind  die  verfinsterten  auszubilden,   nicht  umgekehrt. 
Freilich,  einer  völlig  neuen  Erziehung  wird  es  bedürfen,  die 
diese  Zustände  vorbereite,  die    Menschen  ausrüste,  daß  sie  die 
unkirchliche,    persönliche   Religion   ertragen.      Was   es   jetzt   an 
Erziehung    gibt,    kann    diese  Aufgabe    nicht   erfüllen,   erscheint 
hierzu  völlig  ungeeignet.       Das  religiös-sittliche  Leben  ist  von 


280 


Die  künftige  Religion.   II. 


jeher  mit  der  Jugenderziehung  in  engster  Verbindung  gewesen. 
Wenn  die  Form  des  religiösen  Lebens  sich  wandelte,  mußte  sich 
auch  die  Schule  wandeln,  mußte  den  neuen  Geist,  der  das  Zeit- 
alter beherrschte,  zum  Ausdruck  bringen.  So  auch,  jetzt.  In 
den  Nöten  der  Schule,  in  der  allgemeinen  Verzweiflung,  wie  es 
mit  unseren  Schulen  werden  soll,  wie  die  Jugend  in  Zukunft 
zu  erziehen  ist,  in  dem  furchtbaren  Widerstreit,  der  um  diese 
Fragen  entbrannt  ist,  kommt  die  ganze  Fried-  und  Hilflosigkeit 
unserer  Zeit  zum  krassesten  Ausdruck.  Wüßten  wir,  wohin  die 
Entwicklung  überhaupt  gehen  soll,  so  würden  wir  auch  die  rechte 
Schule  erfinden,  die  hierzu  führen  würde.  Aber  da  wir  alle 
über  die  allgemeine  Zukunft  im  Dunklen  sind,  da  uns  die  tausend 
Pfade  des  möglichen  Werdens  wirr  vor  unseren  Blicken  schwirren, 
darum  wissen  wir  auch  keinen  Rat  für  die  Schule.  Daß  es  um 
die  Schule  schlecht  bestellt  ist,  daß  es  nicht  bleiben  kann  wie 
es  ist,  das  empfindet  jeder.  Aber  kein  bestimmter  Ausweg  will 
sich  zeigen.  Es  wird  immerfort  herum  versucht,  aber  niemand 
findet  eine  entscheidende  Lösung. 

Ich  habe  den  folgenschweren  Rat  gegeben,  an  Stelle  der 
gebundenen  Gemeindereligion  die  freie,  persönliche  Religion  zu 
setzen.  So  erwächst  mir  die  Pflicht,  auch  zu  einer  neuen  Weise 
der  Erziehung  zu  raten,  die  dieses  freie  Leben  ermöglicht.  Ich 
muß  für  eine  Weile  auf  das  Gebiet  der  Schule  abschweifen.  Aber 
die  Frage,  was  aus  unserer  Schule  werden  soll,  ist  ja  auch  an 
sich  wichtig  genug,  um  die  Aufmerksamkeit  beanspruchen  zu 
dürfen. 

Die  Schulen  in  Deutschland  sind  von  jeher  nicht  nur  Unterrichts- 
anstalten gewesen,  Anstalten,  die  ein  gewisses  Wissen,  einen 
bestimmten  Lernstoff  vermitteln,  den  die  Schüler  später  im 
Leben  verwenden  sollen.  Man  gibt  sich  jetzt  zwar  alle  erdenk- 
liche Mühe,  unsere  stolze  Schule,  die  einst  ihre  Ziele  weit  höher 
steckte,  auf  diesen  Zustand  herabzudrücken,  sie  ganz,  dem  rein 
sinnlich-nützlichen  Geschmack  unseres  Zeitalters  entsprechend, 
amerikanisch  zu  machen.  Aber  ehemals  war  das  anders.  Da 
hatte  die  Schule  noch  die  Aufgabe,  den  Menschen  als  Ganzes 
zu  bilden,  nicht  nur  sein  Wissen  zu  bereichern,  sondern  seinen 
Charakter  zu  erziehen,  ihn  nach  einem  Ideale  zu  bilden,  das  alle 

Horneffer,  Das  klassische  Ideal.      28I  I8 


Zweiter  Teil. 

Seiten  seines  Wesens  zur  Entfaltung  bringt.  Nur  in  dieser  All- 
heit und  Ganzheit  sah  man  die  Vollendung  des  Menschen.  Und 
diese  zu  erzielen,  war  der  Zweck  der  Schule.  Dies  allein  verstand 
man  unter  Bildung,  ein  voller  Mensch  zu  sein,  mit  den  und  den 
bestimmten  Richtungen  und  Bestrebungen  des  Willens.  Heute 
nennt  man  einen  gebildeten  Menschen  einen  wissenden  Menschen, 
jemanden,  der  sich  Kenntnisse  erworben  hat.  Aber  ein  solcher 
braucht  bei  weitem  nicht  gebildet  zu  sein.  Man  kann  höchst 
gebildet  sein,  ohne  viel  zu  wissen,  und  man  kann  viel  wissen 
und  dennoch  gänzlich  ungebildet  sein.  Bildung  besitzt,  wer  in 
der  Ganzheit  seines  Wesens  einen  bestimmten  sittlichen  und 
künstlerischen  Charakter  hat,  wer  eine  feste  Größe  geworden 
ist,  wer  sein  ganzes  Wesen  zur  Form  erhoben  hat.  Wie  kann 
man  dieses  Ziel  erreichen,  wie  kann  man  den  Menschen  zum 
Menschen  bilden?  Nur  so,  daß  man  ihn  in  möglichst  nahe  und 
dauernde  Berührung  mit  großen  Menschen  bringt,  die  ihr  Ideal 
erreicht  haben.  Nur  das  Beispiel  erzieht.  Am  besten  erzieht 
natürlich  das  lebendige  Beispiel.  Selig  der,  der  in  seiner 
Jugend  in  seinen  Eltern  und  Lehrern  lebende  Zeugnisse  eines 
Ideals  in  der  Nähe  geschaut  hat,  ständig  geschaut  hat!  Ihm 
ist  ein  unvergleichliches  Gut  zuteil  geworden.  Da  wir  aber  im 
allgemeinen  alle  kleine  Menschen  sind,  da  die  Erfüllung  eines 
Ideals  eine  große  Seltenheit  ist,  da  Eltern  und  Lehrer  im  allge- 
meinen schlechte  Erzieher  sein  werden,  so  müssen  wir  zu  toten 
Mustern  greifen.  Wir  müssen  den  Schatz  der  menschlichen 
Vergangenheit  öffnen.  Die  Menschheit  lebt  ihr  Leben  nicht 
erst  seit  wenig  Tagen,  sie  hat  ein  reiches  Leben  hinter  sich,  mit 
unzähligen  Großtaten,  die  außerordentliche  Menschen  vollbracht 
haben.  So  mancher  Stern  leuchtet  aus  dem  Dunkel  der  mensch- 
lichen Vergangenheit  mit  hellem  Lichte;  so  manches  Ideal  hat 
in  der  Vergangenheit  seine  Erfüllung  gefunden.  Hier  ruht  ein 
unerschöpflicher  Schatz  der  tiefsten  Belehrung,  der  edelsten 
Erziehung.  Die  große  Menschlichkeit  an  allen  Orten  und  zu 
allen  Zeiten  ist  der  Jugend  nahe  zu  bringen.  Hier  ist  der  Punkt, 
wo  man  begreift,  warum  die  geistigen  Fächer,  alle  die  Gebiete, 
die  sich  mit  dem  Menschen  und  seinen  Werken  befassen,  für 
die  Schule  so  ungleich  wichtiger  sind,  als  alle  Naturerkenntnis. 

282 


Die  künftige  Religion.   II. 


Um  diese  Frage  herrscht  ein  großer  Streit.  Mir  scheint  die  Ent- 
scheidung außerordentlich  einfach  zu  sein.  Nur  die  völHge  Ver- 
wirrung darüber,  was  die  Schule  überhaupt  ist  und  soll,  hat  hier 
ein  Schwanken  hervorrufen  können.  Der  ungeheure  Wert  der 
Naturwissenschaft  als  Wissenschaft  ist  über  jeden  Zweifel  er- 
haben. Der  Mensch  verdankt  der  Erforschung,  der  liebevollen 
und  eingehenden  Beschäftigung  mit  der  Natur  Unermeßliches. 
Aber  hier  ist  die  Frage,  welchen  erzieherischen  Wert  die  Natur- 
wissenschaft für  die  Jugend  hat.  Und  da  muß  sie  entschieden 
hinter  allem  Geschichtlichen,  Menschlichen  zurückstehen.  Ihre 
Würde  und  ihr  Wert  als  Wissenschaft  wird  damit  in  keiner 
Weise  berührt.  Das  steht  auf  einem  völlig  anderen  Blatt.  Aber 
was  kann  die  Naturerkenntnis  für  die  Charaktererziehung  der 
Menschen  leisten?  Unmittelbar  wenig  oder  nichts.  Erziehen 
kannnur  etwas  Persönliches,  etwas  dem  zu  Erziehenden  Ähnliches 
oder  Verwandtes,  also  nur  der  Mensch.  Die  Natur  bleibt  ewig 
unpersönlich.  Auf  weiten  Umwegen  nur,  wenn  man  auf  die 
Grundkräfte  zurückgeht  und  betrachtet,  wie  alles  in  der  Natur 
sich  bildet,  auf  diesem  weiten  Umwege  über  die  philosophische 
Spekulation  kann  wohl  auch  die  Natur  erziehen.  Der  Mensch 
lernt  sich  mit  der  Natur  verwandt  fühlen,  fühlt  sich  dem  großen 
Strom  des  Daseins  eingegliedert.  Aber  diese  Wirkung  ist  nur 
durch  das  Mittel  des  höchsten  menschlichen  Nachdenkens  mög- 
lich. Die  einzelne  Naturerscheinung  bleibt  kalt  und  fremd, 
fremder  als  eine  menschliche  Seele.  Diese  redet  eine  andere 
Sprache  zu  uns,  sie  packt  uns  unmittelbar,  reißt  uns  mit  sich 
fort,  wenn  sie  sich  in  ihrer  Kraft  und  Schönheit  vor  uns  entfaltet. 
Der  höhere  erzieherische  Wert  des  Menschen  scheint  mir  außer 
allem  Zweifel  zu  sein.  Es  ist  nötig,  daß  dies  endlich  einmal 
mit  aller  Entschiedenheit  gesagt  werde.  Wir  haben  über  die 
Natur,  in  der  wir  so  viel  Wunder  entdeckt  haben,  den  Menschen 
fast  ganz  vergessen.  Es  ist  Zeit,  daß  der  Mensch  in  sein  altes 
Vorrecht  wieder  eingesetzt  werde. 

Aber  welche  Vergangenheit  soll  uns  erziehen?  Wie  sollen 
wir  mit  der  Vergangenheit  erziehen?  Das  nächste  wäre  die 
darstellende  Geschichte,  die  politische  und  geistige,  die  äußere 
und  innere  Geschichte,  die  alle  die  starken  und  bewegenden  Men- 


283  18* 


Zweiter  Teil. 

sehen  vorführt,  die  mit  ihrem  trotzigen  Ringen  die  Menschheit 
emporgehoben  haben.  Der  ganze  Reichtum  der  Vergangenheit, 
alle  Höhepunkte  des  menschlichen  Lebens,  die  glücklichen 
Stunden,  in  denen  sich  der  Mensch  zu  seiner  vollen  Blüte  erhob, 
das  alles  ist  vor  der  Jugend  wachzurufen,  muß  der  Erzieher 
vor  ihrem  Auge  erstehen  lassen.  Der  unmittelbare  Nutzen  dieser 
Belehrung  ist  gering.  Da  ist  die  Sprachkenntnis,  besonders  die 
Kenntnis  lebender  Sprachen,  da  sind  alle  Natur  erkenntnisse,  beson- 
ders soweit  sie  Gebiete  betreffen,  aus  deren  Bearbeitung  die  neuere 
Zeit  greifbare  Werte  erzeugt  hat,  diesen  Menschendarstellungen 
weit  überlegen.  Aber  was  nützen  alle  Erkenntnisse,  alle  Fertig- 
keiten, wenn  die  Menschen,  die  sie  besitzen,  diese  nicht  richtig 
verwerten,  wenn  die  Charaktere,  die  Seelen,  die  dahinter  stehen, 
beschränkt,  falsch  gerichtet  sind?  Aller  äußere  Reichtum  nützt 
zu  nichts;  er  wird  zum  Verderb,  wenn  die  innere  Kraft  mangelt. 
Hier  im  Innersten,  im  Verborgensten  und  Tiefsten  muß  es  sprudeln 
und  quellen.  Diese  innere  Kraft  aber  erzeugt  sich  im  Menschen 
nur  am   Menschen. 

Indessen  im  allgemeinen  werden  die  Lehrer  und  Erzieher 
nicht  Künstler  genug  sein,  um  den  reichen  Schatz  der  aufgespei- 
cherten sittlichen  Kraft  der  Vergangenheit  wirklich  zu  heben. 
Sie  werden  ihn  im  allgemeinen  nicht  wieder  beleben,  mit  einem 
frischen  Hauche  anwehend,  verjüngen  können.  Sie  werden 
ihn  wohl  meist  zu  einem  äußeren  Lernstoff  herabdrücken,  wie 
alle  Sprach-  und  Naturerkenntnis;  und  so  werden  sie  ihn  am 
meisten  verhaßt  machen.  Denn  nichts  stößt  stärker  ab,  als  das 
Edle  und  Große  in  entstellter  Gestalt.  Nichts  läßt  sich  schlimmer 
mißbrauchen  als  das  Erhabene.  Deshalb  ist  der  darstellenden 
und  berichtenden  Wiedergabe  des  Vergangenen,  was  immer  eine 
unendlich  schwierige  Aufgabe  bleibt,  die  über  das  Mittelmaß 
hinausgeht,  die  einfachere,  bloß  auslegende,  erklärende  an  die 
Seite  zu  stellen.  Wir  müssen  die  Vergangenheit  unmittelbar  an 
die  jungen  Seelen  heranbringen,  ohne  die  wiederaufbauende  Dar- 
stellung des  Lehrenden,  der  nur  die  Seltensten  gewachsen  sind. 
Mit  anderen  Worten,  wir  müssen  unsere  Jugend  in  die  Dichter 
und  Denker,  in  die  geistigen  Werke  der  Weisen  der  Vorzeit  ein- 
führen.   Es  ist  die  Eigentümlichkeit  des  Menschen,  daß  er  nicht 

284 


Die  künftige  Religion.    II. 


nur  handelt,  daß  sein  Inneres  sich  nicht  nur  in  Taten  entlädt, 
sondern  daß  er  vor  und  nach  der  Handlung  sich  Bilder  von  der 
Handlung  entwirft,  daß  er  neben  die  wirkliche  Welt,  in  der  er 
sich  bewegt,  eine  halbwirkliche  Welt  der  Gedanken  stellt,  die  die 
wirkliche  vorbereitet,  ergänzt,  verklärt.  In  doppelter  Weise  findet 
diese  Gedankenwelt  ihren  Ausdruck.  Entweder  es  ist  eine  Wieder- 
gabe in  künstlerischer  Gestaltung,  oder  in  begrifflicher  Fassung. 
In  Kunst  und  Philosophie,  in  Dichtung  und  Weisheit  findet  das 
Seiende  und  das  Sein  sollende  seinen  geistigen  Niederschlag.  In 
diese  Welt  der  Gedanken,  in  der  sich  die  Glanzzeiten  der  mensch- 
lichen Vergangenheit  in  ihrem  ganzen  Wesen  ausgesprochen 
haben,  die  sie  sich  als  ihren  Spiegel  geschaffen  haben,  um  sich  ihres 
Anblicks  zu  freuen,  in  sie  müssen  wir  unsere  Jugend  einführen. 
Hier  redet  die  höchste  Menschlichkeit  unmittelbar  zu  ihr.  Hier 
bedarf  es  keiner  nachschaffenden  Tätigkeit,  die  sich  den  Men- 
schen des  Alltags  niemals  zumuten  läßt.  Hier  braucht  der 
Lehrende  nur  zu  erklären,  nur  zu  deuten,  nur  zu  vermitteln. 
Erziehen,  bilden  kann  einzig  und  allein  die  Lektüre,  die  tiefe, 
andächtige  Versenkung  in  die  Werke  der  Dichter  und  Weisen 
der  Vorzeit.  Eine  andere  Bildung  gibt  es  nicht,  anders  ist  Bildung 
nirgends  zu  holen.  Durch  die  schöne  Form,  in  Poesie  oder  Prosa, 
wissen  diese  höchsten  Menschen  das  höchste  Leben  unmittelbar 
uns  vorzuzaubern.  Wir  leben  in  einer  höheren  Welt  mit  ihnen. 
Zwar  das  Höchste  bleibt,  einen  heiligen  Menschen  in  unmittel- 
barer Nähe  zu  sehen.  Dies  Glück  ist  über  alle  Maßen.  Da  es 
aber  an  diesen  lebenden  Zeugnissen  des  Höchsten,  an  diesen 
wandelnden  Idealen  fast  immer  fehlen  wird,  so  müssen  die  großen 
Schriftwerke  der  Menschheit  an  deren  Stelle  treten,  die  die 
höchste  Menschlichkeit  zur  lebendigsten  Anschauung  bringen. 
Sie  sind  der  immer  bereite,  unversiegliche  Jungbrunnen  der 
Menschheit.  Moses  und  die  Propheten,  Homer,  Dante,  Shake- 
speare, Goethe  —  wer  diese  Erzieher  verleugnet,  wer  an  Stelle 
von  deren  Weisheit,  deren  herzquellender,  herzstärkender  Weisheit 
ein  kaltes  Wissen  von  der  Natur,  tote  Formeln  setzen  will,  der 
ist  ein  Stümper  in  der  Erziehung,  der  ist  aus  dem  Tempel  der 
hehren  Aufgabe  der  Menschenerziehung  auszuweisen.  Freilich 
kann  die  Unfähigkeit  der  Lehrer  auch  hier  viel  verderben.     Die 


285 


Zweiter  Teil. 

Lehrer  glauben  die  Schriftwerke  der  Jugend  näher  zu  bringen, 
wenn  sie  recht  viel  von  sich  hinzutun.  Aber  damit  können  sie 
die  Wirkung  des  Gelesenen  gänzlich  aufheben.  Mit  je  weniger 
Erläuterung  sie  auskommen,  um  so  besser.  Sie  sollen  die  großen 
Werke  mit  der  Jugend  nur  lesen,  möglichst  nur  lesen. 
Dieser  bloß  vermittelnden  Tätigkeit  steht  die  Eitelkeit  der  Lehrer 
entgegen.  Wenn  sie  nicht  aus  ihrem  Born  recht  viel  hinzufügen, 
meinen  sie,  wäre  es  nichts.  Sie  benützen  die  edelsten  Schöp- 
fungen der  Menschheit,  um  Lappalien  daranzuhängen.  Mit 
all  dem  zerstören  sie  nur  den  erzieherischen  Zweck  ihrer  Aufgabe. 
Möchte  uns  das  Schicksal  demütige  Lehrer  schenken,  die 
sich  mit  ihrem  kümmerlichen  Geiste  nicht  dem  erhabenen  Geiste 
der  Dichter  und  Denker  vorlagern,  die  freudig  hinter  das  Große 
zurücktreten,  die  nur  vermitteln  wollen,  die  das  Große  nicht 
zum  Schemel  ihrer  eigenen  Weisheit  herabdrücken,  sondern  es 
im  vollen  Glänze  leuchten  lassen,  daß  es  die  Jugend  ergreife 
und  zu  jeder  edlen  Gesinnung  begeistere. 

Aber  welche  Schriftwerke  der  Vergangenheit  sollen  wir 
unserer  Jugend  vorlegen?  Sind  hierzu  alle  in  gleichem  Maße 
geeignet?  Das  Nächstliegende  wäre  wohl,  daß  wir  ihnen  die 
großen  Schöpfungen  unseres  eigenen  Volksgeistes  vorlegten  und 
sie  hierin  einführten,  wie  wir  wohl  auch  bei  der  darstellenden 
Geschichte  die  Heldentaten,  die  mannigfaltigen  Kämpfe,  in  denen 
unser  Volkstum  auf  die  Probe  gestellt  wurde  und  sich  bewährte, 
mit  besonderer  Liebe  behandeln  werden.  In  der  Tat,  ich  habe 
das  lange  geglaubt.  Für  jedes  Volk  sind  dessen  eigene  Geister, 
die  die  ganze  Begabung  dieses  Volkes  darstellen,  seinen  letzten 
Tiefsinn  bei  sich  vereinen,  naturgemäß  auch  die  besten  Erzieher. 
Und  warum  sollten  sie  es  nicht  für  die  Jugend  sein?  Diese  Auf- 
fassung wird  heute  von  zahlreichen  ernsten  Männern  vertreten, 
die  sich  durch  das  Tagesgeschrei  nicht  haben  verwirren  lassen, 
denen  der  Amerikanismus  unserer  Tage  keinen  Eindruck  ge- 
macht hat,  die  an  der  alten  Wahrheit  festhalten,  daß  nur  der 
Mensch  erzieht,  und  zwar  nur  der  außerordentliche  Mensch, 
wie  er  sich  in  der  Geschichte  offenbart  hat.  Nach  der  Meinung 
dieser  Männer,  an  deren  Spitze  Professor  Paulsen  in  Berlin  steht, 
müsse  die  Erziehung  humanistisch  bleiben,  aber  sie  müsse  n  e  u  - 

286 


Die  künftige  Religion.   IL 


humanistisch  werden,  indem  sie  die  Schriftwerke  unseres  eigenen 
Volkes  zugrunde  legt.  Dies  erscheint  sehr  einleuchtend  und  doch 
hat  dieser  Plan  eine  große  Schwierigkeit.  Die  Bildung  unseres 
Volkes  ist  bekanntlich  eine  späte  Bildung.  Ihr  liegen  die  Bil- 
dungen, die  geistigen  Errungenschaften  jüngerer  Völker  voraus, 
die  sie  aufgenommen,  deren  Faden  sie  weiter  gesponnen  hat. 
Alle  Schöpfungen  unseres  Volkes  sind  spät  erzeugte  Früchte 
am  Baum  der  Geschichte  und  deshalb  schv/er  verständlich.  Es 
bedarf  erst  einer  längeren  geistigen  Vorbereitung,  ehe  man  zu 
ihrem  Verständnis  vordringt.  Diese  Vorbereitung  soll  gerade 
die  Schule  liefern,  muß  sie  also  doch  wohl  durch  etwas  anderes 
bewirken,  als  durch  diese  Werke  selbst,  die  höchstens  dem  Be- 
griffsvermögen der  reiferen  Jugend  zugänglich  sind.  Nur  der 
reiche  Liederquell  der  deutschen  Dichtung  ist  unmittelbar  ver- 
ständlich. Aus  dem  reichen  Schatze  der  deutschen  Lyrik,  der 
sich  trotz  vieler  Verirrungen  der  Gegenwart  noch  immerfort 
vermehrt,  können  wir  für  jede  Stufe  der  Jugend  geeignete  Muster 
wählen  zur  edelsten  Erziehung  von  Herz  und  Sinn.  Aber  die 
größeren  Werke  in  Poesie  und  Prosa,  an  denen  es  uns  doch  haupt- 
sächlich liegen  muß,  die  den  höchsten  erzieherischen  Wert  haben, 
können  wir  nur  der  älteren  Jugend  reichen.  Sucht  man  aber 
durch  eigens  erfundene  Lesestoffe  die  Jugend  zur  Lektüre  der 
großen  Dichtwerke  vorzubereiten,  indem  man  diese  selbsterfun- 
denen Arbeiten  ihrem  Verständnis  anpaßt,  so  kann  man  nur  er- 
künstelte Naivität  schaffen,  die  der  schlimmste  Verderb  für  die 
Jugend  ist.  Denn  sie  ist  eine  Heuchelei,  und  jede  Heuchelei 
verdirbt.  Nur  eine  natürliche  Kindlichkeit,  nur  die  echte  Kind- 
lichkeit des  Genies  kann  erziehen.  Bewahre  das  Schicksal  unsere 
Jugend  vor  etwaigen  künstlichen  Erzeugnissen  unserer  Lehrer; 
dies  wäre  das  allerfurchtbarste.  Ein  Ausweg  bliebe  noch,  daß 
man  der  Jugend  die  älteren  Werke  aus  der  noch  kindlicheren, 
jugendlicheren  Zeit  unseres  Volkes  darreicht,  aus  der  Zeit  des 
Mittelalters,  oder  der  Reformationszeit.  Indessen  es  scheint 
ein  Gesetz  der  Geschichte  zu  sein,  daß  das,  was  einmal  groß  ge- 
macht ward,  nie  wiederholt  werden  kann.  Unser  Mittelalter 
kann  sich  mit  dem  griechischen  Altertum  nicht  entfernt  ver- 
gleichen.    Die  Kultur  des  Mittelalters  wurde  durch  die  Einflüsse 


287 


Zweiter  Teil. 

des  überlegenen  Altertums  gekreuzt.  Das  ganze  Mittelalter  ist 
nur  die  tastende  Vorbereitung  unserer  Kultur,  bis  zu  dem  Augen- 
blick, wo  sie  sich  ebenbürtig  oder  vielleicht  überlegen  der  alten 
an  die  Seite  stellt,  was  in  der  Zeit  Goethes  und  Schillers  geschah. 
Da  erst  hebt  unsere  Bildung  wirklich  an.  Eine  große  Bega- 
bung verrät  sich  aus  allen  früheren  Versuchen  unseres  Volks- 
tums. Ergreifend  und  lehrreich  zugleich  ist  unsere  Vorgeschichte 
für  den  Geschichtsforscher.  Aber  diese  reiche  Begabung  hat 
sich  in  der  vorgoetheschen  Zeit,  mit  alleiniger  Ausnahme  vielleicht 
der  bildenden  Kunst,  noch  nicht  in  Form  gebracht,  hat  sich 
noch  nicht  zum  klassischen  Ausdruck  durchgerungen.  Es  fehlt 
gerade  das  Wesentliche,  was  den  erzieherischen  Wert  hat:  daß 
die  edelste  Innerlichkeit  die  weihevolle,  reine  Form  gefunden 
hat,  die  die  Herzen  fängt,  sich  ihnen  einschmeichelt,  den  lauter- 
sten Gehalt  den  Menschen  unbemerkt  in  die  Seele  spielt.  Solche 
Werke  haben  wir  erst  seit  Goethe.  Alles  frühere  sind  unvoll- 
kommene Vorübungen.  Nein,  es  bleibt  nichts  anderes  übrig. 
Wir  müssen  zu  dem  alten  Verachteten,  Verspotteten  zurückkehren, 
zum  klassischen  Altertum.  Das  klassische  Altertum  hat  Werke 
aufzuweisen,  in  die  die  ganze  Seele  der  Menschheit  eingegangen 
ist,  in  denen  sich  die  Menschheit  selbst  enthüllt  hat.  Und  diese 
Werke  sind  so  einfach  und  klar,  so  schlicht  und  kindlich,  wie  sie 
eben  die  Jugend  bedarf.  Die  Werke  der  Griechen  sind  die  Genie- 
schöpfungen aus  dem  Kindheits-Zeitalter  der  Menschheit.  Mit 
einer  Naivität,  mit  einer  Wahrheit  und  Schlichtheit,  mit  einer 
Herzlichkeit  und  Wärme  treten  sie  auf,  die  auf  Erden  nicht 
ihresgleichen  hat.  Sie  setzen  nichts  voraus.  Sie  sind  das  erste 
geistige  Erwachen  des  Menschen;  mit  diesen  Werken  schlug 
der  höhere  Mensch  gleichsam  zum  erstenm-al  die  Augen  auf. 
Zum  erstenmal  sprach  hierin  der  höhere  Mensch,  der  Mensch, 
wie  wir  ihn  heute  verstehen,  der  eine  reiche  Innerlichkeit  an 
die  Außenwelt  abgibt,  sein  tiefstes  Wesen  aus.  Ewig  müssen 
diese  Wunderschöpfungen  des  Menschen,  auf  denen  alle  spätere 
Bildung  ruht,  die  Schule,  das  Erziehungsmittel  der  vornehmen, 
geistig  begabten  Völker  sein.  Eine  andere  Art  zur  Bildung  zu 
gelangen,  einen  anderen  Weg  der  Erziehung  gibt  es  nicht,  kann 
es  nicht  geben.     Es  ist  ein  physiologisches  Gesetz,  daß  das  ein- 

288 


Die  künftige  Religion.    II. 


zelne  Glied  einer  Gattung  die  Hauptetappen  der  Gattungsent- 
wicklung in  seiner  persönlichen  Entwicklung  wiederholt.  Dies 
Gesetz  gilt  auch,  wie  oft  bemerkt  worden  ist,  auf  geistigem  Ge- 
biete. Auch  hier  kann  der  Mensch  die  Staffel  der  jetzigen  Bildung 
nur  erreichen,  wenn  er  in  seiner  Entwicklung  die  früheren  Bil- 
dungsstufen, die  der  heutigen  Bildung  voraufgegangen  sind,  auf 
denen  diese  ruht,  durchgemacht  hat,  wenigstens  die  wichtigsten, 
höchsten.  Unsere  Bildung  aber  ruht  ganz  und  gar  auf  der 
Antike.  So  ist  nur  von  hier  aus  das  Verständnis  unserer  eigenen 
Bildung  möglich.  Erst  wenn  die  Seele  die  großen  seelischen  Er- 
lebnisse der  menschlichen  Vergangenheit  nacherlebt  hat,  wird 
sie  die  hohen  Erlebnisse  der  Gegenwart  begreifen,  miterleben 
können.  Da  die  Erlebnisse  in  der  Jugendzeit  der  Menschheit 
kindlich  und  einfach,  ursprünglich  und  kräftig  waren,  sind  sie 
wie  geschaffen  zur  Jugenderziehung.  Gerade  wie  damals  die 
höchsten  Genies  empfanden,  so  empfindet  jetzt  die  Jugend.  Es 
ist  ein  Wahnsinn,  diese  Harmonie,  diese  Zusammengehörigkeit 
für  die  Erziehung  unserer  Jugend  nicht  auszunützen.  Wie  da- 
mals zum  erstenmal  der  Mensch  überhaupt  dichtete  und  trachtete, 
grübelte  und  sann,  lebte  und  webte,  kindlich  ernst  und  einfach, 
ebenso  dichtet  und  trachtet,  lebt  und  webt  noch  heute  die  Jugend. 
Und  darum  der  einzige  und  unvergleichliche  erzieherische  Wert 
dieser  Werke. 

Wenn  aber  die  Erziehung  im  Altertum  solchen  Wert  hat, 
wie  kommt  es,  daß  dem  alle  Erfahrung  Hohn  spricht,  daß  sich 
die  Jugend  von  diesen  Lehrmeistern  mit  Widerwillen  abwendet, 
daß  das  Leben  diese  verheißenen  Früchte  gar  nicht  zeitigt? 
Dieses  liegt  daran,  daß  unserer  Jugend  das  Altertum  in  einer 
völlig  falschen  Form  geboten  wird.  Und  hier  ist  mit  den 
Philologen  ein  ernstes  Wort  zu  reden. 

Unsere  Schule  beruht  auf  dem  Gedanken,  daß  die  Jugend 
in  zwei  Kulturen  eingeführt  werden  soll,  in  die  alte  u  n  d  in  die 
neue,  und  zwar  soll  sie  beide  im  Original  kennen  lernen. 
Sie  soll  die  Dichter  und  Denker  des  Altertums  wie  die  unseren 
in  der  Ursprache  lesen  lernen.  Das  aber  halte  ich  für 
unmöglich.  Das  Leben  erfordert  eine  Menge  Kenntnisse, 
die  nicht  zu   umgehen  sind,   mathematische,  naturwissenschaft- 


289 


Zweiter  Teil. 

liehe  Kenntnisse,  die  wichtigsten  lebenden  Sprachen.  Dies  muß 
um  jeden  Preis  erlernt  werden.  Zu  dieser  Fülle  Verstandes- 
tätigkeit der  Jugend  auch  noch  die  Erlernung  der  alten  Sprachen 
auferlegen,  ist  in  meinen  Augen  eine  ungeheuerliche  Über- 
bürdung. Die  heutige  Schule  ist  durch  die  übertriebenen  An- 
forderungen, die  sie  stellt,  die  reinste  Barbarei .  Diese  Schule 
kann  nur  abstumpfen,  töten.  Gerade  das,  was  für  das  Herz 
der  Jugend  sein  sollte,  das,  was  sie  erquicken,  stärken,  beleben 
und  begeistern  sollte,  das  wird  ihr  durch  die  unsinnige  Form, 
in  der  es  ihr  geboten  wird,  in  die  fürchterlichste  Quälerei  ver- 
wandelt. Eine  Sprache  lernen  ist  keine  Kleinigkeit,  nun  gar 
eine  tote  Sprache  mit  ganz  anderen  Sprachgesetzen  als  die  un- 
sere, und  nun  gar  zwei  tote  Sprachen!  Unsere  Schule  mag  sehr 
ideal  gedacht  sein,  aber  es  ist  immer  schlimm,  wenn  man  zu  ideal 
denkt,  wenn  man  die  Wahrheit  und  Erfahrung  mit  Füßen  tritt. 
Nicht  das  mache  ich  unsern  Lehrern  zum  Vorwurf,  daß  sie  den 
Versuch  gemacht  haben,  die  Kenntnis  der  alten  Sprachen 
mit  den  Bedürfnissen  des  gegenwärtigen  Lebens  zu  verbinden, 
sondern  daß  sie  in  jahrhundertlanger  Arbeit  es  nicht  gemerkt 
haben,  daß  sie  hiermit  etwas  Unmögliches  anstreben.  Hiervor 
stehe  ich  wie  vor  einem  Rätsel.  Es  mochte  möglich  sein,  die 
alten  Sprachen  mit  Erfolg  zu  lehren,  als  wir  noch  keine  eigene 
Bildung  besaßen,  als  das  praktische  Leben  noch  gar  keine  An- 
sprüche an  die  Ausbildung  stellte.  Jetzt  aber  ist  es  eine  absurde 
Zumutung,  daß  die  Jugend  zum  praktischen  Leben  vorbereitet 
werde  und  zugleich  die  Schriftwerke  der  Alten,  um  daraus  die 
innere  Bildung  zu  schöpfen,  im  Urtext  lesen  lerne.  Was  erreichen 
denn  die  Philologen  mit  ihrer  Tätigkeit?  Nichts,  als  daß  sie  die 
Jugend  mit  dem  sprachlichen  Vorwerk  abmartern.  Niemals 
dringt  die  Jugend  durch  dieses  Dornwerk  hindurch  zu  dem  wirk- 
lichen Gehalt,  der  eigentlichen  Schönheit  der  Werke.  Bei  ein- 
zelnen ganz  leichten  Schriftstellern  mag  es  hin  und  wieder  ge- 
lingen. Aber  auch  hier  bekommt  die  Jugend  immer  nur  Teile 
zu  sehen.  Aber  sie  soll  gerade  das  Ganze  haben.  Gerade  das 
Vollendete,  das  Charaktervolle,  das  in  einer  Gesamtschöpfung 
liegt,  ist  das  Erhebende,  das  Bildende.  Die  ganze  Art,  wie  die  alten 
Schriftwerke  an  unserer  Schule  behandelt  werden  und  der  Lage 

290 


Die  künftige  Relidon.    II. 


der  Dinge  nach,  da  man  etwas  Unmögliches  will,  behandelt 
werden  müssen,  ist  vom  Standpunkt  einer  höheren  Bildung 
eine  vollkommene  Lächerlichkeit.  Nichts  wird  auf  diese  Weise 
erreicht,  gar  nichts,  nur  daß  die  Jugend  vor  den  erhabensten 
Werken  der  Menschheit  einen  ewigen  Schauder  bekommt.  Wenn 
man  aber  die  Erlernung  der  alten  Sprachen  als  geistige  Turn- 
übung empfiehlt,  so  sage  ich:  das  kann  man  billiger  haben  durch 
Mathematik  und  neuere  Sprachen,  die  noch  dazu  den  Vorzug 
des  größeren  Nutzens  haben.  Zur  Erzielung  einer  äußeren  Tech- 
nik und  Gewandtheit  des  Geistes,  dazu  dünken  mich  die  alten 
Sprachen  zu  schade.  Wenn  die  Jugend  auf  diesem  Wege  nicht 
an  innerer  Bildung  gewinnt,  so  ist  über  diesen  Unterricht  der 
Stab  gebrochen.  Die  einzige  Möglichkeit,  die  Erziehung  im 
klassischen  Altertum  zu  erhalten,  was  so  dringend  zu  wün- 
schen ist,  ist  die,  daß  man  diese  Werke  der  Jugend  in  der  Über- 
setzung reicht.  Schlimm,  daß  die  Philologen  das  nicht  längst 
erkannt  haben.  Sie  haben  durch  ihr  starres  Festhalten  an  der 
Sprache  unser  ganzes  Volk  aus  dem.  Zusammenhang  mit  der 
alten  Kultur  herausgebrochen.  Sie  tragen  die  Hauptschuld  an 
dem  trostlosen  Verfall  unserer  Bildung.  Freilich,  die  Philologen 
pflegt  ein  Schauder  zu  überlaufen,  wenn  man  das  Wort  ,, Über- 
setzung" nur  in  den  Mund  nimmt,  weil  sie  dabei  an  ihre  eigenen 
schlechten  Übersetzungen  denken.  Im  Gedanken  an  diese  Über- 
setzungen haben  sie  allerdings  ein  Recht,  alle  Übersetzungen 
als  Verunstaltungen  des  Originals  anzusehen,  die  nichts  von  dem 
Zauber  des  Urbilds  bewahren.  Aber  Philologen  können  natürlich 
nicht  übersetzen.  Zum  Übersetzen  gehört  nämlich  zweierlei: 
erstens  das  Verständnis  des  Originals  —  das  will  ich  den  Philo- 
logen nicht  abstreiten,  obwohl  sie  meist  nur  bei  dem  einzelnen 
haften  bleiben  - —  aber  zweitens  gehört  dazu,  das,  was  man  in 
der  fremden  Sprache  gelesen  und  empfunden  hat,  in  der  eigenen 
Sprache  miit  der  gleichen  Einfachheit  und  Kraft,  mit  der  gleichen 
Sicherheit  und  Schönheit  wiederzugeben.  Und  das  vermögen 
selbstverständlich  die  Philologen  nicht.  Dazu  gehört  Genie. 
Freilich,  es  meinen  so  ziemlich  alle,  die  eigene  Sprache  sprechen 
zu  können,  in  der  eigenen  Sprache  allen  Gedanken  und  Emp- 
findungen,  die   sie   hegen,    Ausdruck   geben  zu   können.      Aber 


291 


Zweiter  Teil. 


dies  ist  ein  ungeheurer  Wahnglaube  der  Unbildung.  Nur  die 
Seltensten,  Ausgesuchtesten  können  das  Instrument  ,,  Sprache", 
auf  dem  alle  spielen,  mit  Meisterschaft  spielen.  Wenn  ich  auf 
Übersetzungen  der  alten  Schriftsteller  verweise,  so  denke  ich 
dabei  an  Übersetzungen  in  der  Art  der  Bibelübersetzung  Luthers 
oder  der  Shakespeare- Übersetzung  Schlegels.  Luther  konnte 
die  Bibel  übersetzen,  weil  er  selbst  ein  Religionsstifter  war.  In 
ihm  glomm  das  gleiche  Feuer  wie  in  den  Propheten  Israels. 
Und  Schlegel,  der  selbst  ein  Dichter  war,  hat  uns  Shakespeare 
neben  Goethe  und  Schiller  gestellt.  Welch  unbeschreiblichen 
Einfluß  haben  diese  beiden  Übersetzungen  auf  unser  Volk  gehabt, 
wie  haben  sie  unser  gesamtes  Volkstum  bestimmt  und  beherrscht! 
Das  ist  gar  nicht  auszudenken.  Angesichts  dieser  Tatsachen 
wage  man  noch  von  der  Unfruchtbarkeit  und  Verwerflichkeit 
aller  Übersetzungen  zu  reden!  Die  Philologen  kämpfen  eben 
gar  nicht  für  die  Kultur  und  Bildung,  wie  sie  vorgeben.  Sie 
kämpfen  nur  für  ihre  kleine  Eitelkeit,  weil  sie  als  Lehrer  der 
alten  Sprachen  nicht  entbehrlich  sein  wollen.  Ewig  schade,  daß 
nicht  in  unserer  klassischen  Zeit,  als  unser  Volk  in  dem  ersten 
Frühlingsrausch  der  Begeisterung  für  das  Griechentum  stand, 
ein  begabter  Mann,  wie  es  damals  so  viele  gab,  die  klassischen 
Schriftwerke  übersetzt  hat!  Die  geistige  Entwicklung  unseres 
Volkstums  hätte  eine  ganz  andere  Wendung  genommen.  Nur 
wenn  sie  umgegossen  ward  in  unsere  Sprache,  konnte  diese 
geistige  Welt  wirklich  unser  Leben  bestimmen.  Ohne  dies  mußte 
der  Rausch  verfliegen.  Die  schwärmerische  Hingabe  an  das 
Altertum,  worüber  die  Goethesche  Zeit  fast  alles  andere  vergaß, 
konnte  sich  die  spätere  Zeit  nicht  mehr  gestatten.  Der  rauhe 
Tag  forderte  sein  Recht.  Dagegen  konnte  sich  das  Griechentum 
nur  in  deutschem  Gewände  retten.  Aber  was  damals  versäumt 
wurde,  ist  heute  nachzuholen.  Noch  ist  es  Zeit  dazu.  Ein 
letzter  Rest  vom  Geiste  der  Goetheschen  Zeit  klingt  noch  in 
uns  nach.  Diese  langsam  verglimmenden  Funken  sind  wieder 
anzufachen.  Wir  müssen  noch  einmal  in  das  gelobte  Land  ziehen 
und  es  uns  erst  wahrhaft  erobern.  Und  liegt  dieser  geistige  Schatz 
der  Menschheit  ausgeprägt  und  geformt  in  unserer  Sprache  vor: 


292 


Die  künftige  Religion.    II. 


dann  damit  in  die  Schule!     Dann  erst  kann  von  einer  klassischen 
Bildung  die  Rede  sein.  ^ 

Nun  gehe  ich  aber  weiter  und  sage:  da  wir  die  klassische 
Bildung  nicht  mehr  in  der  Ursprache  lehren,  sondern  in  unserer 
eigenen  Sprache,  da  diese  Bildung  das  höchste  Gut  der  Mensch- 
heit ist,  die  das  höhere  Menschentum  ausmacht  und  allein  er- 
schafft, so  brauchen  wir  sie  nicht  mehr  auf  die  höhere  Schule 
zu  beschränken.  Da  sie  wegen  ihrer  Einfachheit  und  Kindlich- 
keit jeder  Jugend  zugänglich  ist,  so  können  wir  sie  auf  alle 
Schulen  ausdehnen,  so  brauchen  wir  sie  niemandem  vor- 
zuenthalten, so  können  wir  sie  auch  in  die  Volksschule 
einführen.  Ich  sage,  im  vollen  Bewußtsein  wie  sehr  ich  damit 
unserer  Zeit  widerspreche:  nicht  fort  mit  der  klassischen  Bil- 
dung,   sondern    umgekehrt:    die    klassische    Bildung 


1  Eine  genauere  Behandlung  des  Schulproblems  behalte  ich  mir 
vor.  Man  würde  in  Sexta  und  Quinta,  nachdem  die  Elemente  absolviert 
sind,  mit  Homer  beginnen,  in  Quarta  Herodot  und  Thukydides  folgen 
lassen,  in  Tertia  die  Tragiker  und  die  einfacheren  Schriften  der  Philo- 
sophen vorlegen.  In  den  Mittelklassen  kann  diese  vorbereitende  klassi- 
sche Bildung  ziemlich  zum  Abschluß  gebracht  werden.  Und  auf  diesem 
Unterbau  läßt  sich  dann  erst  eine  wahrhaft  deutsche  Bildung  an  der 
Hand  unserer  eigenen  Geister  aufbauen.  Und  diese  Schule  kann  auch 
allen  praktischen  Bedürfnissen  gerecht  werden  wegen  ihres  Zeitgewinns. 
In  den  oberen  Klassen  müßten  natürlich  die  Elemente  der  alten  Sprachen 
fakultativ  gelehrt  werden,  damit  die  besonders  begabten  und  lerneifrigen 
die  Originale  später  sich  aneignen  können.  —  Es  ist  sehr  bezeichnend, 
daß  der  bedeutendste  Philologe  der  Gegenwart,  von  Wilamowitz-MöUen- 
dorff  das  Bedürfnis  nach  Übersetzungen  der  Antike  empfindet.  Aber 
darin  irrt  Wilamowitz,  daß  er  glaubt,  diese  Übersetzungen  selber  liefern 
zu  können.  Es  tut  mir  leid,  daß  ich  das  aussprechen  muß,  da  ich  Wila- 
mowitz als  Gelehrten  und  als  meinen  persönlichen  Lehrer,  dem  ich  zu 
reichem  Dank  verpflichtet  bin,  hoch  verehre.  Wenn  diese  Übersetzungen 
dennoch  eine  starke  Wirkung  haben,  so  liegt  dies  nur  an  dem  Umstand, 
daß  sie  klar  und  durchsichtig  sind.  Und  so  groß  ist  die  Macht  der  Ori- 
ginale, daß  sie  eben  in  jeder  Form  wirken,  wenn  diese  Form  nur  ver- 
ständlich ist.  Aber  die  Einfachheit  und  Schlichtheit  der  Schönheit  ist 
etwas  anderes  als  Nüchternheit.  Es  ist  eben  von  niemand  zu  ver- 
langen, daß  er  dichten  könne,  auch  nicht  von  einem  großen  Gelehrten. 
Daß  die  öffentliche  Kritik  nicht  einmütig  gegen  diese  Übersetzungen 
Protest  erhoben  hat,  ist  mir  ein  Rätsel.  Man  sieht  daraus,  wie  viel  der 
große  Name  tut. 

293 


Zweiter  Teil. 


fürdasganzeVolk  !  Das  allein  kann  uns  aus  der  geistigen 
Not,  in  die  wir  verstrickt  sind,  befreien.  Man  wird  entsetzt  den 
Kopf  schütteln  und  fragen,  wie  denn  dies  möglich  sein  solle. 
Kaum  könne  die  Volksschule  die  nötigsten  Elemente:  lesen, 
schreiben,  rechnen  lehren,  und  nun  solle  sie  noch  in  ein  fremdes 
Volkstum,  eine  fremde  Kultur  einführen,  solle  Homer,  Herodot, 
Pindar,  Sophokles  verstehen  lehren.  Hierauf  erwidere  ich,  daß 
die  Volksschule  ein  ähnliches  Ziel  schon  von  jeher  erstrebt  hat. 
Sie  hat  sich  nie  auf  die  sogenannten  Elemente  beschränkt.  Sie 
hat  die  Jugend  auch  stets  noch  einen  höheren  Geist,  die  Schöp- 
fungen erlauchter  Geister  der  Vergangenheit  und  einer  gleichfalls 
unserem  Volkstum  fremden  Vergangenheit  lehren  wollen.  Nur 
war  es  die  orientalische  Vergangenheit,  in  die  die  Volks- 
schule in  der  Gestalt  des  Religionsunterrichtes  einführte.  Das 
eigentlich  Bildende  in  der  Volksschule,  das,  was  eigentlich  die 
Jugend  erziehen  soll,  was  sich  nicht  an  ihren  Verstand  wendet, 
sondern  was  zu  ihrem  Herzen  vordringen  soll,  das  ist  die  Welt  des 
Alten  und  Neuen  Testaments.  Was  sind  aber  diese  Schriftwerke 
anders,  wenigstens  von  einem  einsichtigen  geschichtlichen  Stand- 
punkte aus,  als  die  geistigen  Früchte  der  orientalischen  Geschichts- 
epoche; die  höchsten  Erzeugnisse  aus  der  allerersten  Kindheit 
der  Menschheit,  die  dann  von  der  griechischen  Bildung  überholt 
wurde?  Ich  will  mit  der  Vergangenheit  nicht  rechten.  Ich 
zweifle,  ob  es  nötig  war,  daß  die  neuere  Menschheit  nicht  un- 
mittelbar an  die  griechisch-römische  Bildung  anknüpfte,  daß 
hier  erst  das  orientalische  Christentum  eingeschaltet  wurde. 
Aber  geschehen  ist  geschehen.  In  dieser  orientalischen  Ge- 
danken- und  Gefühlswelt,  wie  sie  im  Christentum  und  dessen 
Urkunden  zum  Ausdruck  kommt,  wurde  unser  Volk  und  zumal 
unsere  Jugend  bisher  erzogen.  Und  ich  sage:  dies  muß  nunmehr 
ein  Ende  nehmen.  Ebensogut,  wie  wir  das  Alte  und  Neue  Testa- 
ment mit  seinen  Wundergeschichten,  mit  der  jüdischen  Sage 
und  Geschichte  in  der  Volksschule  treiben,  so  können  wir  auch 
Homer  und  Sophokles,  Thukydides  und  Piaton  treiben;  natürlich 
nur  in  den  höheren  Klassen  vom  lo. — 14.  Lebensjahre.  Aber 
das  muß  jetzt  geschehen.  Die  orientalische  Bildung  reicht  nicht 
mehr  aus.     Diese  Stufe  kann  und  muß  in  Zukunft  übersprungen 


294 


Die  künftige  Religion.   II. 


werden.  Es  ist  eine  enge,  dumpfe  Welt,  die  in  der  Bibel  lebt. 
An  die  höhere  Volksbildung  sind  höhere  Ansprüche  zu  stellen. 
Nicht  mehr  Wissen,  nicht  mehr  Kenntnisse  sollen  sie  geben, 
sondern  einen  tieferen  geistigen  Gehalt,  eine  reichere  innere 
Bildung.  Es  darf  nicht  mehr  das  ganze  Innere  des  Menschen 
auf  einen  einzigen  Ton  gestimmt  sein,  wie  es  im  Orient  und  also 
auch  in  der  Bibel  der  Fall  ist.  Es  muß  eine  reichere  Mannig- 
faltigkeit in  der  Seele  erstehen,  auch  in  den  einfachsten  Seelen, 
im  Grundstock  unseres  Volkes.  Der  Orient  hat  wirklich  nur  die 
allernotwendigsten  Grundlagen  des  höheren  Lebens  erschaffen. 
Es  gibt  im  Orient  keinen  Staat,  keine  Wissenschaft,  keine  Kunst, 
in  dem  Sinne,  den  wir  heute  mit  diesen  Begriffen  verbinden. 
Alle  Grundlagen  der  höheren  Bildung  hat  erst  das  Griechentum 
errungen.  Und  in  einer  Zeit,  wo  alle,  auch  die  Niedrigsten  und 
Letzten,  mit  zum  öffentlichen  Leben  berufen  sind,  in  der  Zeit 
des  allgemeinen  Stimmrechts  und  der  allgemeinen  Wehrpflicht,  da 
muß  ein  jeder,  auch  der  Unbemitteltste,  und  wer  zur  schwersten 
Arbeit  berufen  ist,  die  Grundbegriffe  der  Kultur  erlernen.  Diese 
aber  kann  er  nur  an  den  Geistern,  mit  Hilfe  der  Geister  erlernen, 
die  jene  Grundbegriffe  erschaffen  haben.  Da  nur  treten  diese 
Werte  mit  ihrer  ganzen  Wucht,  in  ihrer  ganzen  Reinheit  auf. 
In  dieser  ihrer  ersten  Gestalt  nur  prägen  sie  sich  mit  voller  Gewalt 
den  Seelen  ein.  Später  sind  sie  schon  zu  überladen,  zu  reich,  zu 
vielfach.  Da  dringt  nur  der  geübte  Blick  zu  ihrem  Wesen  hin- 
durch. Erlernen  lassen  sie  sich  nur  an  ihrem  Ursprung.  Des- 
halb muß  in  der  Volksbildung  die  Bibel  durch  das  Griechentum, 
müssen  Moses  und  die  Propheten,  Christus  und  Paulus  abgelöst 
werden  durch  Homer  und  Sophokles,  Thukydides  und  Piaton. 
Im  Griechentum  entfaltet  sich  eine  höhere  sittliche  Welt,  die 
Allgemeingut  unseres  Volkes  werden  muß.  Man  hat  viel  Auf- 
hebens von  der  religiösen  Überlegenheit  der  alten  Juden  über 
die  Griechen  gemacht,  weil  jene  an  einen,  diese  aber  an  viele 
Götter  geglaubt  hätten.  Aber  es  ist  völlig  gleichgültig,  ob  man 
an  einen,  oder  an  mehrere  Götter  glaubt.  Die  Menschen  unter- 
scheidet, ob  sie  überhaupt  Gottheiten  nötig  haben  zu  ihrer  Lebens- 
führung, ob  sie  Anlehnung,  Stütze  brauchen,  oder  ob  sie  stark 
genug  sind,    in   sich   selber   zu   wurzeln.     Und    diejenigen,    die 


295 


Zweiter  Teil. 


Götter  nötig  haben,  völlig  gleichgültig,  wie  viele  und  welcher 
Art  diese  Götter  sind,  sind  nach  meinem  Gefühl  die  geringeren 
Menschen.  Bei  den  Griechen  hatten  die  Götter  schon  am  An- 
fange der  uns  bekannten  Geschichte  ihre  eigentlich  religiöse 
Kraft  verloren,  sie  bildeten  nur  eine  schöne  Umkränzung  des 
Daseins.  Der  Grieche  fühlte  sich  stolz  als  Mensch.  Alles  Höchste 
glaubte  er  nur  sich  zu  verdanken,  während  der  Orientale  sich  vor 
seinem  Gotte  wie  ein  Sklave  wand.  Ich  brauche  nicht  zu  sagen, 
was  ich  für  das  Höhere  halte.  Und  die  griechischen  Tugenden 
der  Tapferkeit  und  der  Vaterlandsliebe,  der  Gerechtigkeit,  Selbst- 
beherrschung und  Weisheit  sind  höher,  wichtiger,  grundlegender, 
als  die  süßlich  weichlichen  Lehren  von  der  christlichen  Nächsten- 
liebe, dem  christlichen  Mitleid.  Der  Orientale  ist  entweder  brutal 
oder  sentimental.  Im  Christentum  kommt  die  ganze  Senti- 
mentalität des  Orients  zum  Ausdruck.  Daß  das  Griechentum 
den  Orientalen,  das  Christentum  eingeschlossen,  unendlich  über- 
legen ist,  ist  nicht  nur  Nietzsches  Meinung.  Wenn  man  einen 
ganz  ruhigen,  unverdächtigen  Zeugen  will,  so  berufe  ich  mich 
auf  den  tiefsten  Kenner  des  Altertums,  auf  einen  Gelehrten, 
der  nicht  nur  das  griechisch  -  römische  Altertum ,  sondern 
auch  alle  orientalischen  Kulturen  beherrscht  und  überblickt, 
einen  Mann  den  ich  für  den  bedeutendsten  lebenden  Historiker 
halte,  auf  Professor  Eduard  Meyer  in  Berlin.  Dieser  große  Ge- 
lehrte betont  stets  die  Überlegenheit  des  Griechentums  über  den 
Orient,  und  zwar  auf  allen  Gebieten.  Er  nimmt  hiervon  auch 
das  Religiöse  und  Sittliche  nicht  aus.  Sein  Blick  ist  nicht  durch 
die  religiöse  Erziehung  zugunsten  des  Christentums  getrübt. 
Und  gelegentlich  der  Würdigung  des  Sokrates  tut  er  den  be- 
merkenswerten Ausspruch:  ,,Die  überspannten  Lehren  der  christ- 
lichen Moral  von  Sokrates  und  Piaton  zu  fordern,  würde  meines 
Erachtens  diese  Männer  herabsetzen". i  Vor  allem  aber,  in  den 
griechischen  Schriftwerken  wie  in  dem  ganzen  griechischen 
Volkstum  lebt  ein  seltsamer  Geist  der  Freiheit,  der  persönlichen 
Selbstbestimmung,  der  eigenen  Verantwortlichkeit.  Und  dieser 
Geist  der  Freiheit  ist  es,  den  die  Jugend  aus  der  Bekanntschaft 

1  Ed.  Meyer,   Geschichte  des  Altertums,  Band  IV,  S.  452.  (Anmer- 
kung zu  §  623.) 


296 


Die  künftige  Religion.    II. 


und  Freundschaft  mit  den  Griechen  erlernen  soll.  Zu  diesem 
Zwecke  schlage  ich  diese  Schul-Reformation  vor.  Durch  die 
Schule  im  Griechentum  sollen  auch  die  einfachsten,  unerfahren- 
sten Kreise  des  Volkes,  die  durch  Armut  und  harte  Arbeit  ver- 
hindert sind,  ihren  Geist  zu  bilden,  geschickt  gemacht  werden, 
die  Kirche,  die  Gemeinde,  die  dem  Geist  unserer  Zeit  widerspricht, 
zu  entbehren,  die  freie,  persönliche  Religion,  die  allein  noch 
berechtigt  ist,  zu  ertragen.  So  kommen  wir  auf  weitem  Umwege 
zu  unserem  Ziele  zurück.  Von  der  falschen  gebundenen  Er- 
ziehung ist  unser  Volk  zu  befreien.  Die  Bibel  muß  abgelöst 
werden  durch  die  Werke  der  Griechen.  Diese  müssen  nunmehr 
unsere  Volksbücher  werden.  Durch  einen  geheimnisvollen  Ruck 
sind  bei  den  Griechen  plötzlich  die  orientalischen  Ketten  ab- 
geschüttelt. Hier  steht  eine  neue  Menschheit  auf.  Wenn  man 
Thukydides  und  Piaton  gelesen  hat,  wird  es  einem  auf  einmal 
wunderbar  hell.  Dann  ist  man  gefeit  gegen  den  Geist  des  Aber- 
glaubens, die  Enge,  die  Gebundenheit.  Man  führt  eine  blanke 
Waffe  mit  sich  gegen  den  umnebelnden  Priester-  und  Gemeinde- 
geist, wie  er  im  Orient  heimisch  ist,  und  ach  auch  noch  immer 
drückend  und  beklemmend  über  unserem  stolzen  Volke  lastet! 
In  diesen  freien  griechischen  Geist  muß  unser  Volk  eingesenkt 
werden.  Hier  muß  es  Wurzeln  fassen.  Dann  können  wir  getrost 
rufen,  der  Wahrheit  getreu  und  unserem  tiefsten  Herzen  folgend: 
Tod  der  Kirche,  Tod  der  Gemeinde!  Dann  brauchen  wir  nicht 
zu  fürchten,  daß  wir  mit  dieser  Losung  unser  Volk  an  einen 
Abgrund  führen.  Unser  Volk  ist  durch  das  Griechentum  er- 
zogen zur  Freiheit.  Denn  was  ist  das  Wesen  der  Freiheit? 
Nicht  daß  man  einen  Zwang  abgeschüttelt  hat,  daß  man  fessellos, 
ankerlos  hin  und  her  schwankt,  sondern  daß  man  sich  selbst 
gebunden  hat,  daß  man  auf  einem  Platze,  in  einer  Anschauung 
des  Daseins,  die  man  sich  selbst  erwählt  hat,  feste  Wurzel  ge- 
faßt hat.  Der  freie  Mensch  ist  nicht  der  haltlose  Mensch,  der 
ungebundene,  sondern  der  sich  selber  bindende.  Er  hat  sich 
selbst  einen  Schatz  erobert,  aus  dem  er  sich  für  sein  ganzes  Leben 
speist.  Er  bedarf  nicht  mehr  der  Gemeindezügel,  er  hat  sich 
selbst  gezügelt.  Er  ist  ein  freier  König  seiner  Seele  geworden. 
Aus  dem  geistigen  Sklaventum  ist  er  in  den  geistigen  Adel  ein- 

Horneffer,  Das  klassische  Ideal.        2Q7  ^9 


Zweiter  Teil. 


getreten.  So  muß  die  seelische  Verfassung  unseres  Volkes  werden. 
Es  gibt  keinen  anderen  Ausweg  als  den  Mut  zu  dieser  Frei- 
heit, zu  diesem  Adel.  Zu  dieser  Freiheit  aber  ist  das  Griechen- 
tum der  einzige  Weg.  Nicht  als  ob  das  Griechentum  etwas 
schlechthin  Vollkommenes  wäre.  Wäre  es  das,  so  könnte  es 
nicht  erziehen.  Ein  vollkommener  Meister  bildet  nicht.  Gerade 
aus  der  Schwäche  des  Meisters  zieht  der  Schüler  seine  Kraft. 
Ein  Gott  kann  nicht  erziehen,  der  kann  nur  blenden,  töten. 
Der  Mensch  allein  erzieht,  der  kämpfende,  irrende  Mensch. 
Nicht  alles  Einzelne,  was  je  in  Griechenland  geschah,  ist  gut. 
Es  gibt  unter  dem  Herrlichsten  dort  gar  viel  des  Schlimmsten. 
Aber  der  allgemeine  Zug  ihres  Lebens,  ihr  Drang  nach  Freiheit, 
ihre  Kraft  zur  Freiheit,  ihr  kirchenloses,  persönliches  Leben, 
wo  jeder  auf  sich  selbst  gestellt  war,  wo  nicht  alle  an  die  eine 
einzige  Kette  eines  Gemeindeglaubens  geschmiedet  waren,  alle 
gleichsam  auf  einer  Schnur  aufgereiht,  wie  Uhrwerke  aufgezogen, 
die  alle  die  gleiche  Stunde  weisen,  sondern  wo  eine  eigene  Lebens- 
quelle in  jeder  Seele  sprudelte  —  dieses  freie  stolze  Leben,  das 
ist  das  Große,  das  Nachahmenswerte.  Daß  auch  wir  dies  Leben 
erlernen,  dazu  ist  unser  gesamtes  Volk  in  die  Schule  der  Griechen 
zu  schicken. 

Allerdings  das  Leben  in  der  Freiheit  ist  schwer.  Wenn  die 
einzelne  Seele  nicht  durch  einen  Gemeindeglauben  gehalten  wird, 
wenn  sie  auf  das  offene  Meer  hinausgewiesen  wird,  daß  sie  sich 
hier  kämpfend  ihr  Reich  und  Eiland  suche,  wenn  sich  keine 
Kirche  mehr  schützend  und  bergend  über  den  Geistern  wölbt, 
wenn  jeder  einzelne  zu  einer  freien  Wahl  seines  Glaubens  und 
seines  Ideals  gedrängt  wird,  so  ist  das  Leben  gefährlich  geworden, 
und  zwar  nicht  nur  für  die  ungebildeteren  Geister,  sondern  für 
alle.  Es  bleibt  für  den  Höchsten  eine  schwere  Last,  für  das  ge- 
samte Leben  mit  all  seinen  Entschlüssen  und  dunklen  Rätseln, 
die  den  Menschen  drängen,  die  Verantwortung  allein  zu  tragen. 
Es  ist  leicht,  die  Verantwortung  für  seine  Lebensführung  auf 
eine  Gemeinde  abzuwälzen,  die  ihren  Gliedern  einen  festen  Maß- 
stab für  das  Leben  in  die  Hand  gibt.  Indessen,  die  stolze  und 
vornehme  Seele  liebt  das  gefährliche  Leben.  Es  wird  ihr  nur 
wohl,    wenn    rechts   und  links  das   Unheil  lauert.     Eine  stolze 


298 


Die  künftige  Religion.    II. 


und  begabte  Rasse  kann  das  Leben  nicht  kleinlich  nehmen.  Sie 
muß  immer  einen  Teil  ihrer  Glieder  aufs  Spiel  setzen.  Ohne 
diesen  Mut,  diesen  Opferungswillen  kann  sie  keine  Größe  er- 
langen. Wer  zweifelt  daran,  daß,  wenn  wir  die  Gemeinde  auf- 
heben und  jeden  in  seinen  tiefsten  Nöten  an  ihn  selber  weisen, 
daß  viele  an  dieser  Freiheit  scheitern  werden?  Aber  mögen  sie 
scheitern.  Unser  Volk  kann  nur  stolze,  königliche  Menschen 
brauchen,  die  sich  selbst  befehlen  können.  Es  ist  nur  zu  wünschen, 
daß  alle  diejenigen  untergehen,  die  da  schwach  und  hilflos  An- 
lehnung, Stütze  brauchen.  Von  diesen  Krüppeln  soll  unser  Volk 
geheilt  werden.  Um  einen  Vergleich  anzuführen:  es  ist  mit  der 
Freiheit  der  persönlichen  Religion  ähnlich,  wie  mit  der  akade- 
mischen Freiheit,  in  der  wir  unsere  studierende  Jugend  auf- 
wachsen lassen.  Kein  Volk  hat  es  je  gewagt,  die  Jugend  gerade 
in  den  entscheidenden  Jahren,  wo  der  Mensch  seinen  Charakter 
feststellt,  seinem  ganzen  späteren  Leben  die  bestimmende  Rich- 
tung gibt,  schlechthin  auf  sich  selbst  zu  stellen,  dem  jugend- 
lichen Geiste  die  Verantwortung  für  das  ganze  fernere  Leben 
allein  zuzuschieben.  Ohne  Zweifel,  das  ist  ein  kühnes  Wagnis, 
ein  gefährliches  Spiel.  Wir  wissen,  wie  viele  Schwächlinge  an 
dieser  Freiheit  zugrunde  gehen.  Und  doch  werden  wir  diese 
großartige  Sitte  nicht  aufheben  wollen.  Wir  müssen  eben  Jüng- 
linge aufs  Spiel  setzen,  wie  Herbart  sagt,  damit  wir  Männer 
bekommen.  Und  in  einem  tiefern  Sinne  muß  dieser  Grundsatz 
der  Freiheit,  der  gefährlich  ist,  aber  erzieht,  auf  die  Gesamtheit 
unseres  Volkes  ausgedehnt  werden.  Ich  habe  vorher  gesagt: 
die  klassische  Bildung  für  das  ganze  Volk.  So  möchte  ich  jetzt  in 
einem  tieferen  Sinne  des  Wortes,  indem  ich  an  Stelle  des  Wissen- 
schaftlichen das  Sittliche  in  den  Vordergrund  rücke,  sagen: 
die  akademische  Freiheit  für  das  ganze  Volk!  Im  Geistigen,  im 
innersten  Seelischen  sind  alle  auf  sich  selbst  zu  stellen.  Diese 
Freiheit  wird  viele  Opfer  kosten;  ich  leugne  es  nicht.  Aber  dem 
Genius  unseres  Volkes  ist  an  diesen  Scheiternden  nichts  gelegen. 
Sie  sollen  ausgemerzt  werden.  Es  werden  nicht  gar  so  viele  sein. 
Denn  ich  glaube  an  die  Kraft  unseres  Volkes,  dieser  Freiheit  nicht 
zu  erliegen.  Ob  andere  Völker  zu  dem  Gleichen  imstande  sind, 
das  weiß  ich  nicht;    das  kümmert  mich  auch  nicht;   ich  fühle 


299  19^ 


Zweiter  Teil. 

mich  nicht  für  sie  verantwortHch.  Unser  Volk  aber,  glaube  ich, 
kann,  was  ich  hier  von  ihm  fordere.  Durch  unsere  Volksbildung, 
die  die  weitesten  Kreise  durchdringt,  haben  wir  dieser  Freiheit 
mächtig  vorgearbeitet.  Noch  einenkühnen  Schritt,  und  der  Adel  der 
Freiheit  ist  unserem  Volke  gewonnen.  Auf  einem  neuen  Grunde 
baut  sich  eine  neue  Zukunft. 

Und  wie  wollen  wir  diesen  Schritt  vermeiden?  Wenn  wir 
die  Kirche  erhalten,  wenn  die  Gesellschaft  nach  wie  vor  unter 
dem  Druck  des  Staates,  der  wieder  der  gehorsame  Diener  der 
Kirche  ist,  jede  Pflege  des  religiösen  Lebens,  jede  sittliche  Be- 
lehrung und  Erziehung  außerhalb  der  Kirche  verpönt,  was  kann 
allein  die  Folge  sein?  Daß  wir  ganz  ohne  Religion  leben.  Da 
wir  die  Gemeindereligion  verschmähen,  da  wir  zur  persönlichen 
Religion  nicht  den  Mut  haben,  sondern  das  äußere  Band,  das 
uns  mit  der  Gemeindereligion  verknüpft,  ängstlich  wahren,  so 
leben  wir  ganz  ohne  Religion.  Ohne  Obhut  und  Pflege  leben  die 
Seelen  in  trostloser  Vereinsamung  dahin,  die  sie  allmählich  er- 
frieren, erstarren  läßt.  Wie  eine  Leichendecke  hat  unsere  feige 
Gesellschaft  das  Verbot  der  unkirchlichen  Religion  über  die  Seelen 
gezogen,  und  nun  schmachten  diese  gebunden  in  ihren  Fesseln 
vergeblich  nach  ihrer  Erlösung.  Nun  härmen  sie  sich  ab  in 
stummer,  schweigender  Sehnsucht.  Und  gerade  die  besten, 
edelsten  Seelen  sind  es,  die  hierunter  leiden.  Denn  sie  können 
nicht  zur  Gemeinde  zurück.  Ihnen  gerade  schnürt  sich  das 
Innere  zu,  wenn  sich  ihnen  die  Gemeinde  mit  ihren  Gaben  nähert. 
Sie  können  hier  nicht  mehr  weiden,  wo  alle  weiden.  Sie  wollen 
lieber  hungern,  als  sich  an  Tische  setzen,  die  mit  jedermanns 
Kost  gedeckt  sind.  So  ziehen  sie  sich  auf  sich  selbst  zurück.  In 
dieser  Verlassenheit  aber  verkümmern  sie.  Denn  aus  sich  selbst 
vermögen  sie  die  Güter,  deren  sie  bedürfen,  nicht  zu  erzeugen. 
Ein  anderer  aber,  der  außerhalb  der  Gemeinde  steht,  darf  sich 
ihnen  nicht  nahen.  Die  unkirchliche  religiöse  Lehre  und  Er- 
bauung ist  mit  dem  Fluche  belegt.  Die  besten  und  edelsten 
Menschen  aber,  die  reichsten  Seelen  bedürfen  am  meisten  der 
Erziehung  und  Pflege,  wie  schon  Piaton  gewußt  hat.  Sie  sind 
den  größten  Gefahren  ausgesetzt,  da  ihre  reiche  Natur  ihnen  jede 
Möglichkeit   bietet.     Es  ist  ein  wahres  Verbrechen  unserer  Ge- 

300 


Die  künftige  Religion.  II. 


Seilschaft,  gerade  diese  Geister  durch  die  Parteinahme  für  die 
kirchliche  Pflege  der  Religion  gänzlich  ohne  Erziehung  zu  lassen. 
Eine  ungeheure  Kraft,  unermeßlicher  innerer  Reichtum  unseres 
Volkes  wird  damit  vergeudet,  im  Keim  erstickt.  Und  wunder- 
lich sind  die  krampfhaften  Anstrengungen  der  Menschen,  diesen 
Verlust,  diese  Öde  auszugleichen.  Woher  die  übertriebene  Pflege 
der  Kunst,  zumal  der  Musik  bei  uns,  wenn  nicht  deshalb,  weil 
das  leere  Herz,  das  keine  Religion  hat,  das  nicht  weiß,  wo  aus 
noch  ein,  hier  Rettung  sucht?  Aber  Töne,  Farben,  Linien  können 
wohl  für  den  Augenblick  erquicken  und  beseligen.  Bald  aber 
ist  die  Not  im  Innern,  die  für  eine  Weile  besänftigt  war,  wieder 
wach.  Es  fehlt  der  Kunst  die  letzte  Klarheit  und  Wahrheit. 
Sie  wirkt  erst  ganz,  wenn  sie  eine  Wahrheit,  eine  religiöse 
Anschauung  voraussetzt,  die  sie  verherrlicht.  Nur  das  Wort  er- 
baut, das  Wort,  das  bis  in  die  tiefsten  Abgründe  des  menschlichen 
Daseins  hinunter  leuchtet,  das  nicht  vor  den  schwersten  Rätseln 
Halt  macht.  Wenn  man  uns  dieses  Wort  abschneidet,  oder 
wenn  wir  selbst  aus  Furcht  vor  der  Gemeinde  uns  dieses  Wort 
versagen,  so  hilft  uns  alles  Suchen  nach  anderen  geistigen  Werten 
nichts.  Die  aber  nicht  bei  der  Kunst  nach  Erlösung  suchen, 
wenden  sich  an  die  Wissenschaft.  Es  herrscht  eine  wahre  Bil- 
dungswut, eine  fieberhafte  Gier,  sich  über  alle  Gebiete  des  mensch- 
lichen Wissens  belehren  zu  lassen,  und  unsere  Gelehrten  kommen 
diesem  Bedürfnis  sattsam  entgegen.  Wie  eine  Flut  ergießt  sich 
der  Schatz  des  menschlichen  Wissens  durch  beredte  Vermittler 
über  die  Allgemeinheit,  die  gierig,  wahllos  nach  allem  hascht. 
Aber  dieser  Reichtum  nützt  den  Menschen  nichts;  er  belastet 
sie  nur,  er  verwirrt,  zerstreut,  schwächt  sie  nur.  Uns  tut  die  eine, 
einfache,  beglückende  Wahrheit  not,  die  große  Wahrheit,  die 
sich  nicht  aus  vielen  kleinen  Wahrheiten  zusammen  stückeln 
läßt,  sondern  die  unmittelbar  in  den  verborgenen  Kern  des  Da- 
seins greift,  die  mit  einem  Strahl  das  Ganze  erhellt.  Daß 
diese  höchste  Wahrheit,  an  der  uns  allein  liegt  und  nach  der 
heute  wieder  alle  fragen,  gefunden  werde,  dazu  müssen  wir  die 
hemmende  Macht  der  Kirche  brechen.  Von  dieser  Fessel  müssen 
wir  uns  frei  machen.  Wie  sollen  wir  die  Wahrheit  finden,  wenn  wir 
sie  nicht  suchen?  Bekennen  wir  nur  unsere  Armut.  Heucheln  wir 


301 


Zweiter  Teil. 

nicht  einen  Reichtum,  den  wir  nicht  haben.  Nur  aus  der  Sehn- 
sucht wird  das  Genie  geboren.  Nur  wenn  wir  ihn  ständig  rufen, 
wird  er  endHch  erscheinen,  der  Bringer  der  großen  Wahrheit, 
der  heihge  Winzer  mit  dem  Winzermesser,  wie  Nietzsche  ihn 
nennt,  der  die  reife  Traube  der  Wahrheit  bricht,  der  große  Löser, 
der  Namenlose. 

Und  all  das  Schöne,  das  uns  die  Kirche  geschenkt  hat,  es 
soll  alles  dahin  sein?  Denn  niemals  war  die  Kirche  nur  Lehre. 
Diese  mag  ein  einzelner  wohl  ersetzen.  Es  scheint  denkbar, 
daß  freie  Geister  Töne  finden,  die  uns  tiefer  zum  Herzen  dringen, 
während  das  starre  Dogma  der  Kirche  uns  abstößt.  Die  Lehrer 
der  Kirche  sind  an  eine  Wahrheit  gefesselt:  Ihr  Wort  kann  im 
eigentlichen  Sinne  nie  ihr  Herzenswort  sein;  es  kommt  von  außen 
zu  ihnen  und  hallt  nur  aus  ihnen  zurück.  Aber  die  Kirche  ist 
doch  nicht  nur  Lehre,  sie  ist  doch  auch  eine  reiche  Kunst  der 
Erbauung,  an  der  viele  Geschlechter  gearbeitet  haben,  bis  sie 
die  wirksamste  Form  erfanden,  das  menschliche  Herz  zu  erheben. 
All  diese  Gefühle  aber,  den  Rausch  der  Erbauung  und  Erhebung, 
den  der  glänzende  Kult  der  Kirche  in  uns  erweckte,  —  wie  soll 
uns  das  ersetzt  werden?  Dies  alles  ist  doch  nicht  ein  Nichts,  das 
sich  so  leichthin  aufgeben  ließe.  Dies  kann  allerdings  die  per- 
sönliche Religion  nicht  bieten.  Diese  Erbschaft  der  Kirche  muß 
die  Kunst  übernehmen.  Es  ist  ein  allgemeines  Gesetz,  daß  im 
Anfang  der  Geschichte  noch  viele  Dinge  zur  Einheit  miteinander 
verschmolzen  sind,  die  sich  später  im  Verlauf  der  Geschichte 
spalten,  zu  Besonderheiten  ausbilden.  Auch  die  Religion  ver- 
bindet noch  vieles,  was  sich  später  nur  getrennt  befriedigen 
läßt.  Alle  die  mächtigen  und  starken  Gefühlswellen,  die  die 
Religion  mit  ihrem  Kult  über  die  Seelen  ergoß,  muß  jetzt  die 
selbständig  gewordene  und  befreite  Kunst  über  sie  ergießen. 
Hier  müssen  die  Gefühle  ihren  Aufschwung  nehmen.  Und  hier 
können  sie  es  auch,  nur  noch  in  viel  mannigfaltigerer  und 
reicherer  Weise  als  ehemals  in  der  Religion,  wo  alle  Gefühle 
nur  auf  einen  Ton  gestimmt  waren.  In  Zukunft  darf  die  Re- 
ligion oder  die  religiöse  Lehre  nichts  als  Lehre  sein,  nichts  als 
Gedanke,  der  sich  zu  freiem  Gebrauch  den  Seelen  mitteilt.  Es 
ist  nicht  nötig,  daß  sich  dieser  Gedanke  in  trockener  Form  der 

302 


Die  künftige  Religion.   IL 


Seele  mitteilt.  Er  kann  sich  warm  den  Menschen  ans  Herz 
legen.  Aber  nichts  als  das  Wort  kann  die  Religion  hinfort  noch 
verwenden.  Das  Wort  allein  kann  für  sie  der  mächtige  Hebel 
sein,  die  Geister  zu  bewegen,  zu  erschüttern,  zu  trösten. 

Aber  vergessen  wir  hier  nicht  doch  noch  ein  Wichtiges? 
Die  Priester,  die  Leiter  der  Gemeinde,  sind  doch  nicht  nur  die 
Lehrer  der  Gemeinde  als  solcher.  Sie  nahen  sich  doch  auch 
persönlich  jedem  einzelnen  in  seinen  bedrängten  Stunden  und 
immer,  wenn  sein  Leben  an  einem  Wendepunkt  steht,  wenn 
sein  Leben  einen  großen  geweihten  Augenblick  hat.  Die  Priester 
waren  doch  nicht  nur  Priester  der  Gesamtheit,  sondern  auch 
Seelsorger  des  einzelnen.  Und  wer  soll  dies  Amt  übernehmen? 
Allein  dies  Amt  des  Seelsorgers  ist  wohl  für  die  reifen  Menschen 
der  schwerste  Anstoß.  Es  stößt  uns  ab,  wenn  ein  Redner  als 
Redner  einer  Gemeinde  zu  uns  spricht.  Wir  wenden  uns  ent- 
fremdet ab,  wir  wollen  freie  Lehrer,  keine  gebundenen  Geister. 
Aber  es  verletzt  uns,  wenn  ein  solcher  Redner  sich  auch 
noch  in  unser  persönliches  Leben  eindrängt.  Wenn  unser  Herz 
hoch  wallt,  wenn  eine  entscheidende  Stunde  in  unserm  Leben 
geschlagen  hat,  wenn  der  ganze  Inhalt  unseres  Lebens  sich  in 
einen  einzigen  großen  Augenblick  drängt,  wenn  dann  ein  fremder 
Mann  sich  uns  naht,  der  von  unserem  Eigensten,  Innersten 
nichts  kennt  und  ahnt,  der  uns  mit  Allerweltsreden  abfindet, 
dann  wird  unsere  Abneigung  Feindschaft.  Als  Gemeinderedner 
war  er  uns  lästig;  jetzt  hassen  wir  ihn.  Er  vergeht  sich  an  unserer 
tiefsten  Ehre.  So  muß  jeder  persönlich  erstarkte  Mensch,  jeder, 
der  überhaupt  als  erzogen  gelten  will,  fühlen.  Und  so  fühlt 
auch  jeder,  wenn  auch  niemand  darüber  spricht.  Hier  liegt  das 
tiefste  Übel  der  heutigen  religiösen  Sitten.  Die  allgemeinen 
Ergüsse  der  Priester  von  der  Kanzel  herab,  die  können  wir 
meiden.  Aber  daß  diese  allgemeinen  Tröster  und  Erbauer  uns 
auch  in  den  ernstesten  Stunden  unseres  persönlichen  Lebens 
auferbauen,  stärken  und  stützen  wollen,  daß  die  gesell- 
schaftliche Sitte  uns  hierzu  zwingt,  uns  nötigt,  diese  Be- 
lehrung über  uns  ergehen  zu  lassen  —  das  ist  schlimm.  So 
ziehen  unsere  heiligsten  Stunden  kalt  an  uns  vorüber.  Es  ist 
eine  furchtbare    Entbehrung,    die    wir    uns    hiermit   auferlegen. 


303 


Zweiter  Teil. 


In  solchen  Stunden  bedürfen  wir  am  meisten  des  erlösenden 
Wortes.  Hier  zeigt  sich  am  deutlichsten  die  verheerende  Wirkung 
der  Gemeindereligion.  Hier  offenbart  sich  die  ganze  Wüste, 
die  die  religiöse  Feigheit  in  den  Seelen  anrichtet.  Und  gerade 
die  gediegensten,  edelsten  Seelen  sind  es,  die  hierunter  seufzen. 
Sie  empfinden  den  Einbruch  des  unberufenen  Berufenen,  den 
die  Gemeinde  ihnen  schickt,  am  schmerzlichsten.  Dieser  Not- 
stand drängt  am  stärksten  nach  einer  Reform.  In  dieser  Verfassung 
darf  das  religiöse  Leben  nicht  mehr  eine  Stunde  bleiben,  wenn 
nicht  alles  innere  Leben,  alles  Sehnen  und  Quellen  der  Seelen 
absterben,  erlöschen  soll.  Gerade  in  den  ernsten  und  großen 
Stunden  des  Lebens,  da  d  ü  r  f  e  n  wir  nicht  ohne  Nahrung  bleiben, 
da  m  u  ß  das  Herz  sich  öffnen,  muß  irgend  ein  heiliges  Gut  emp- 
fangen, ein  erlösendes  Wort  aufsaugen,  das  die  Seele  über  den 
erhaben  furchtbaren  oder  überschwänglich  glücklichen  Augen- 
blick hinüberträgt.  Hier  die  Seelen  verstummen  machen,  hier 
den  fremden,  kalten  Priester  reden  lassen,  der  ihnen  nichts, 
nichts  zu  sagen  hat,  bei  dessen  Anblick  schon  ihnen  jede  Weihe 
des  Augenblicks  flieht,  —  es  ist  eine  ungeheure  Grausamkeit  der 
Gesellschaft.  Das  muß  sich  ändern,  wenn  wir  nicht  alle  in 
der  Armut,  im  gänzlichen  Nichts  versinken  sollen,  wenn  nicht 
die  letzte  Stunde  unserer  Kultur,  unserer  Bildung  schlagen  soll. 
In  dieser  Frage  kommt  der  ganze  Ernst  der  Lage  zum  Ausdruck. 
Leben  oder  Sterben,  das  steht  hier  zur  Entscheidung.  Aber  wer 
soll  die  Seelsorge  übernehmen,  wenn  wir  den  Priester  verschmähen  ? 
Das  kann  hinfort  nur  der  Freund.  Wenn  du  etwas  Großes  er- 
lebst, wenn  irgend  ein  Fest  in  deinem  Leben  erscheint,ein  düsteres 
oder  ein  schönes,  wenn  dein  Herz  sich  öffnen  will,  wenn  du  im 
Gedränge  deiner  hochgehenden  Gefühle  eine  Erlösung  brauchst, 
so  rufe  den  Freund.  Sein  stammelndes  Wort  wird  dir  mehr 
sein  als  die  glatte  Rede  des  Priesters.  Laßt  doch  den  fremden 
Mann  nicht  über  die  Schwelle  kommen!  Weist  doch  dem 
fremden  Manne  die  Tür!  Unsere  Feste  sollen  persönlich  sein. 
Kein  Fremder  soll  ihnen  die  persönliche  Weihe  rauben.  Wohin 
wir  auch  blicken,  die  persönliche  Religion  kann  allein  uns  noch 
retten.  Sie  allein  kommt  uns  ganz  aus  dem  Herzen,  wurzelt 
im  tiefsten  Grunde  der  Seele.     Sie  tut  uns  nicht  weh,  während 


304 


Die  künftige  Religion.    II. 


die  Gemeindereligion  mit  ihren  Sitten  und  Gebräuchen  unser 
Herz  bricht  und  tötet.  Persönliche  Religion,  —  es  ist  ein  Schrei 
aus  der  tiefsten  Not  heraus.  Unzählige  darben,  hungern,  da  die 
Gemeindereligion  ihnen  das  Tor  zu  ihrem  Glück  verschließt. 
Brechen  wir  endlich  diese  Ketten!  Suchen  wir  unser  Leben! 
Das  Leben  ist  so  kurz,  lassen  wir  uns  das  Schönste,  Heiligste, 
Seligste  nicht  vor  den  Lippen  fortrauben.  Laßt  uns  unser  Glück 
kosten.  Die  Freiheit,  wenn  die  Seele  lebt,  wie  sie  leben  mag 
und  leben  soll,  diese  Freiheit  schmeckt  so  süß.  Warum  kosten 
wir  sie  nicht?  Warum  hemmt  uns  Menschenfurcht?  Schlagen 
wir  endlich  die  Tür  der  Kirche  hinter  uns  zu!  Scheiden  wir! 
Machen  wir  einen  großen  Schnitt.  Und  uns  dämmert  ein  neues 
Leben  auf,  mit  einer  neuen  Schönheit,  einer  neuen  Seligkeit. 
Wen  aber  alles  dies  noch  nicht  überzeugt,  den  verweise  ich 
darauf,  daß,  was  ich  fordere,  die  Wahrheit  ist.  Es  gibt  keine 
Offenbarung.  Das  ist  durch  eine  unermeßliche  Fülle  von  Be- 
weisen erhärtet;  das  predigt  die  Wissenschaft  mit  tausend  Zungen. 
So  kann  es  auch  keine  Gemeinde  mehr  geben.  Wer  aber  das 
dennoch  behauptet,  der  trete  auch  offen  hervor  und  sage,  daß 
dem  Leben  die  Lüge  nötig  sei,  daß  das  Leben  auf  der  Lüge  sich 
gründen  müsse.  Klügeleien  fruchten  heute  nichts  mehr.  Die 
Zeit  ist  viel  zu  ernst,  es  steht  zu  viel  auf  dem  Spiele,  als  daß 
wir  uns  noch  Klügeleien  gestatten  könnten.  Für  Spitzfindig- 
keiten, da  man  sich  mit  listigen  Erwägungen  um  die  Not  unserer 
Lage  herum  redete,  ist  die  Zeit  vorbei.  Uns  kann  nichts  mehr 
helfen  als  die  einfache,  schlichte,  nackte  Wahrheit.  Und  diese 
Wahrheit  sagt,  daß  die  Offenbarung  widerlegt  ist,  daß  also  die 
Religion  nur  noch  frei,  unsichtbar,  von  Person  zu  Person  wirken 
kann,  daß  sie  aus  dem  Allgemeinen  ins  Persönliche  übersetzt 
werden  muß,  daß  sie  nur  noch  in  den  einzelnen  Seelen  wohnen 
kann  und  in  jeder  Seele  anders,  überall  so,  wie  es  gerade  diese 
Seele  liebt.  Das  ist  die  Wahrheit.  Also  müssen  wir  danach 
leben.  Oder  sollten  wir  uns  wirklich  entschließen,  mit  der  Lüge 
zu  leben,  auf  der  Lüge  das  Leben  aufzubauen?  Davor  graut 
mir.  Man  wähne  nicht,  daß  ich  die  Gefahr  der  neuen  Losung 
der  persönlichen  Religion  unterschätze.  Es  gehört  Mut  dazu, 
die    Kirche  aufzuheben,   alle  oder  möglichst  viele   Seelen  ganz 


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Zweiter  Teil. 

auf  sich  selbst  zu  stellen.  Es  gilt  als  eine  allgemeine  Weisheit, 
auch  bei  den  Philosophen,  leider!,  dem  Volke  müsse  die  Religion 
erhalten  werden.  Wenn  wir  jetzt  sagen,  o  nein!  dem  Volke  muß 
die  Religion  genommen  werden,  —  wie  sollte  nicht  Mut 
zu  dieser  Losung  gehören!  Aber  weit  gefährlicher  dünkt  es  mich 
noch,  in  der  Lüge  zu  leben.  Gehen  wir  auf  jenem  Wege  viel- 
leicht zugrunde,  mit  der  Lüge  gehen  wir  gewiß  zugrunde. 
Nun  die  Menschheit  das  neue  Land  des  Lebens,  wie  sie  es  leben 
müßte,  erkannt  hat,  nun  m  u  ß  sie  hinüber,  und  mag  es  sie  noch 
so  sehr  schaudern.  Denn  wagt  sie  diesen  Schritt  nicht,  so  nimmt 
sie  die  Lüge  in  sich  auf,  und  an  dieser  Lüge  verzehrt  sie  sich. 
Die  Lüge  rettet  nicht,  die  Lüge  tötet.  So  lange  wir  die  Unschuld 
hatten  im  Glauben  an  Offenbarung,  da  konnte  das  Leben  auch 
mit  diesem  Irrtum  gedeihen.  Nun  uns  aber  diese  Unschuld 
genommen  ist,  nun  wir  das  gebundene  Leben  nur  noch  mit 
bösem  Gewissen  leben  können,  nun  richtet  es  uns  zugrunde. 
Wer  lügt,  hat  seine  Sicherheit  verloren.  Er  stürzt  in  Bälde. 
Der  Widerspruch  in  seiner  eigenen  Seele  tötet  ihn.  Ihm  ist  die 
Kraft  genommen,  da  er  nicht  mehr  als  Ganzes  lebt  und  wirkt. 
Wohl  werden  auch  ferner  noch  viele  im  gebundenen  Geiste  leben 
und  leben  müssen.  Alle  die  wirklich  und  ehrlich  an  Offen- 
barung glauben,  wollen  wir  nicht  stören.  Wir  können  es  auch 
nicht.  Diese  sind  für  uns  unangreifbar.  Wir  wenden  uns  an 
alle  diejenigen,  die  nicht  mehr  an  Offenbarung  glauben.  Nie- 
mand soll  hinfort  mehr  heucheln.  Sind  die  Menschen  inner- 
halb eines  Volkes  und  einer  Kulturgemeinschaft  so  verschieden, 
daß  der  eine  an  Offenbarung  glaubt,  der  andere  nicht, 
so  muß  das  auch  offen  zum  Ausdruck  kommen.  Bei  der  Heu- 
chelei, als  glaubten  wir  alle  an  Offenbarung,  wie  der  einfachste 
Gebirgsbauer,  hierbei  kommt  nichts  Gutes  heraus.  Der  furcht- 
bare Riß,  der  durch  unser  Volk  hindurchgeht,  die  tiefe  Entfrem- 
dung, die  die  unteren  Volksschichten  gegen  die  führenden  Stände 
empfinden,  hat  ihren  gewichtigen  Grund  mit  in  der  schamlosen 
Heuchelei  der  Gebildeten.  Das  Volk  fühlt  sehr  genau  wie  die 
Kinder  Lüge  und  Wahrheit  heraus.  Und  naturgemäß  folgert 
das  Volk:  lügen  die  Regierenden  hier,  so  lügen  sie  überall.  Damit 
ist  das  Vertrauen  überhaupt  dahin.     Wenn  wir  fortfahren,  ohne 

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Die  künftige  Religion.    II. 


Ernst  und  ohne  Charakter  zu  leben,  so  steuern  wir  rettungslos 
dem  Untergang  zu.  In  der  furchtbaren  Wahl  zwischen  Lüge 
und  Freiheit  müssen  wir  die  Freiheit  wählen.  Das  ist  ein 
eiserner  Zwang.  Die  Lüge  ist  die  schwerste  Gefahr.  Möchten 
das  doch  viele  begreifen  lernen.  Möchten  sich  doch  vielen  Auge 
und  Sinne  öffnen.  Und  möchten  doch  viele  ein  tapferes  Herz 
haben,  was  sie  begreifen,  auch  auszuführen. 

Aber  scheint  nicht  jede  Hoffnung  auf  dieses  freiere  Leben, 
wie  ich  es  anpreise,  vergeblich,  da  unser  Staat  Einspruch  erheben 
wird?  Steht  nicht  das  ganze  Bild  der  geistigen  Zukunft,  wie  ich  es 
hinmale,  in  schroffem  Widerspruch  zu  den  Grundsätzen,  nach 
denen  unser  Volk  regiert  wird,''  Scheint  es  nicht,  als  ob  wir  das 
neue  Leben  nur  um  den  Preis  eines  neuen  Staates  erkaufen 
könnten?  Und  wird  unser  starker  Staat  sich  nicht  mit  aller 
Macht  gegen  diese  Entwicklung  zur  Wehr  setzen?  Freilich, 
nach  allem,  was  heute  geschieht,  zu  schließen,  wird  der  Staat 
dies  tun,  in  der  Furcht,  daß  hierbei  seine  eigene  Existenz  auf 
dem  Spiele  steht.  Aber  ich  bin  der  festen  Überzeugung,  daß 
diese  Furcht  gänzlich  unbegründet  ist,  daß  innere  Freiheit  und 
straffe,  äußere  Zucht,  das  Kennzeichen  unseres  Staates,  sich 
wohl  miteinander  vertragen,  ja  geradezu  einander  fordern.  Ich 
gestehe,  ich  bin  ein,  fast  möchte  ich  sagen,  schwärmerischer 
Verehrer  unseres  Staates  und  der  in  ihm  zur  Geltung  kommenden 
Grundsätze,  in  denen  ich  die  stärkste  Bürgschaft  unserer  Zu- 
kunft sehe.  Ich  gehe  so  weit  zu  behaupten,  daß  unser  Staat 
der  trefflichst-verwaltete  ist,  den  die  Geschichte  überhaupt  kennt, 
in  Vergangenheit  wie  in  Gegenwart.  Und  an  dieser  genialen 
Schöpfung  unseres  Volksgeistes,  glaube  ich,  hat  die  Monarchie 
den  stärksten  Anteil.  Und  auch  für  die  Zukunft,  glaube  ich,  hängt 
unser  ganzes  kräftiges  politisches  Leben  allein  an  der  Monarchie, 
die  uns  diesen  stolzen  Staat  geschenkt  hat.  Mit  der  Monarchie 
wird  unser  politisches  Leben,  unsere  staatliche  Kraft  stehen  und 
fallen.  Aber  diesen  strengen  Staat,  der  die  Menschen  zu  straffer 
Geschlossenheit  und  einhelligem,  gemeinsamen  Handeln  erzieht, 
können  nur  innerlich  freie  Menschen  ertragen.  In  der  inneren 
Freiheit  und  Ungebundenheit,  muß  die  äußere  Gebundenheit, 
der  äußere  Zwang  sein  Gegengewicht  finden.      Oder  dieser   Staat 


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Zweiter  Teil. 

erzieht  nur  Sklaven  und  Sklaven  beugen  sich,  aber  sie  werden  nie- 
malsHelden.  Nur  der  freie  Gehorsam  erzieht  die  starken  Menschen, 
die  Krieger,  auf  die  sich  bauen  läßt.  Deshalb  hüte  sich  unser  Staat 
Gehorsam  dort  zu  fordern,  wo  er  ihn  nicht  fordern  darf,  wo  er 
in  die  innere  Seele  greift.  Oder  er  gräbt  sich  selbst  das  Grab,  er 
geht  an  seinem  eigenen  großen  Sinn  und  Stil,  indem  er  sein  Wesen 
übertreibt,  zugrunde.  Im  ,, Dienste",  dort  wo  die  Menschen 
gemeinsam  handeln  sollen,  wo  sie  ein  einheitliches  Werk  voll- 
bringen sollen,  da  mögen  sie  angehalten  werden  zu  strenger 
Zucht.  Hier  fordere  man  jedes  Opfer;  hier  lerne  sich  jeder  dem 
gleichen,  allgemeinen  Zwecke  fügen.  Aber  was  darüber  hinaus 
liegt,  was  persönlich  ist,  was  das  gemeinsame  Handeln  nicht 
unmittelbar  berührt,  da  lasse  man  die  höchste  Freiheit  walten. 
Sonst  werden  die  Menschen  durch  die  Zucht  zu  Staub  zermahlen, 
sonst  sterben  sie  ab  in  Fesseln,  die  ihnen  die  innerste  Seele  zer- 
drückt. Nur  die  schrankenlose  innere  Freiheit  kann  der  äußeren 
Bindung  die  Wage  halten.  Das  wird  ein  weiser  Erzieher  so  mit 
der  Jugend  halten,  wird  Gehorsam  fordern,  wo  Gehorsam  nötig 
ist,  wird  aber  die  Jugend,  wo  ein  einhelliges,  gebundenes  Ver- 
halten nicht  vonnöten  ist,  sich  in  voller  Freiheit  tummeln  lassen. 
Und  so  wird  es  auch  der  weise  Staatsmann  mit  dem  ganzen  Volke 
halten,  wird  Zucht  und  Ordnung  im  äußeren  Leben  fordern,  die 
Seelen  aber  wird  er  frei  lassen,  damit  sie  die  Spannkraft  behalten, 
den  notwendigen  Druck  des  Zwanges  zu  tragen.  In  der  inneren 
Freiheit  heilt  sich  die  Seele  wieder  vom  Druck  der  Zucht.  Ein 
Volk  kann  an  der  Gebundenheit  zugrunde  gehen,  es  kann  auch 
an  der  Freiheit  zugrunde  gehen.  Griechenland  ist  für  beides 
ein  lehrreiches  Beispiel.  Athen  ging  an  seiner  Freiheit 
zugrunde,  Sparta  an  seiner  Gebundenheit.  Wir  müssen  beides 
werden,  Athen  und  Sparta  zugleich,  beides  im  rechten 
Maße.  Es  war  ein  einziges  Glück,  daß  der  stärkste,  straffste 
Staat  die  Herrschaft  in  unserem  Volke  errungen  hat.  Aber  nun 
gehe  er  nicht  zu  weit.  Das  Preußentum  darf  uns  das  Deutschtum 
nicht  erschlagen.  Seien  wir  alle  Hüter  des  Deutschtums,  dessen 
tiefstes  Wesen  die  Freiheit  ist.  Opfern  wir  nicht  dem  Preußen- 
tum das  edlere  Deutschtum.  Möge  der  Geist  des  Großen  Friedrich 
über   uns  schweben.     Dieser  war  ein  strenger  Soldat  und  doch 

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Die  künftige  Religion.    II. 


zugleich  ein  freier  Geist.  Wir  brauchen  tapfere  Fürsten.  Fürsten, 
die  Furcht  haben,  kann  das  deutsche  Volk  nicht  gebrauchen. 
Furcht  muß  unsern  Fürsten  und  Staatsmännern  fern  sein,  aber 
nicht  nur  Furcht  vor  dem  äußeren  Feinde,  sondern  Furcht  auch 
vor  dem  eigenen  Volke.  Bangen  sie  nicht  vor  dem  deutschen 
Geist!  So  kühn  dieser  Geist  auch  ausschreitet,  er  wird  ihnen 
niemals  gefährlich  werden,  je  reifer  der  Mensch,  um  so  mehr 
wird  er  die  Notwendigkeit  der  Unterordnung,  des  Zwanges,  des 
starken  Staates  begreifen.  Wann  waren  je  die  freien  Denker 
Revolutionäre?  Sie  waren  alle,  ohne  Ausnahme,  Anhänger  der 
Ordnung,  der  Einzelherrschaft.  Nur  von  der  Halbbildung,  die 
heute  herrscht,  ist  etwas  zu  fürchten,  nie  von  der  wirklichen 
Bildung.  Das  lasse  sich  unser  furchtsamer  Staat  gesagt  sein. 
Die  halbe  Bildung  aber  kann  man  nicht  überwinden  durch 
Zurückdrängen  und  Zurückdämmen.  Sie  kann  nur  geheilt 
werden  durch  die  volle,  ganze  Bildung,  die  sich  an  ihre  Stelle 
setzt:  Bildung  so  verstanden,  wie  ich  sie  verstehe,  nicht  als  Wissen, 
sondern  als  Einsicht,  Weisheit.  Der  heutige  Zustand,  daß  der 
Staat  dem  Geiste  die  Bahn  vorschreiben  will,  daß  er  in  ihm  ein 
Unheil  wittert,  daß  er  ihn  überall  hemmt  und  zwängt,  dieser 
Zustand  ist  unerträglich.  Gern  beugen  sich  die  Männer  des 
Geistes  vor  den  Männern  der  Macht.  Denn  das  Regieren  ist 
eine  schwere  Pflicht,  die  sie  ihnen  nicht  beneiden.  Aber  sie 
müssen  ,,Hand  weg"  rufen,  wenn  die  Männer  des  Staates  ihnen 
in  ihre  Arbeit  pfuschen.  Fürsten  und  Staatsmänner  dürfen  dem 
Geiste  nicht  gebieten  wollen,  sie  haben  vielmehr  andächtig  und 
demütig  zu  lauschen,  wenn  der  deutsche  Genius  seine  Schwingen 
regt.  Hier  sind  andere  die  Herren.  Wie  unser  Volk  geistig  leben 
und  weben  muß,  das  können  nicht  die  Staatsmänner  wissen, 
das  können  nur  die  Philosophen  wissen,  von  denen  jene  es 
dankbar  lernen  sollen.  Mögen  unsere  Staatsmänner  die  Angst 
und  den  Kleinmut  ablegen.  Möge  der  Alpdruck  von  unserem 
Volke  genommen  werden,  den  die  Feindschaft  des  Staates  wider 
den  Geist  über  uns  gewälzt  hat.  Man  gebe  uns  die  Freiheit 
zurück,  die  man  uns  genommen  hat;  und  unaussprechlicher 
Dank  wird  unserem  Staate  folgen.  Er  wird  ganz  neu  gefestigt 
sein.    Aber  mit  der  Feindschaft  wider  den  Geist  und  die  Wahrheit 


309 


Zweiter  Teil. 


Spielt  unser  Staat  ein  gefährliches  Spiel.  Es  ist  nicht  auszu- 
denken, wohin  diese  Bahn  noch  führen  kann.  Es  ist  unverkenn- 
bar, daß  unser  Volkstum  schweren  Zeiten  entgegengeht.  Überall 
zieht  es  sich  wie  ein  drohendes  Unwetter  um  uns  zusammen. 
Nach  den  Kämpfen  im  Innern,  die  uns  in  den  letzten  Zeiten 
ausschließlich  in  Atem  gehalten,  müssen  wir  wieder  den  Blick 
nach  außen  wenden.  Unser  Leben  steht  wieder  einmal  auf  dem 
Spiel.  Die  sozialen  Fragen  müssen  wieder  zurücktreten  hinter 
die  große  nationale  Frage,  ob  und  wie  weit  wir  unseren  natio- 
nalen Stand  behaupten  werden.  Darum  sage  ich:  ,, Rüsten  wir!". 
Aber  rüsten  wir  nicht  nur  mit  Schiffen  und  Kanonen,  obschon 
auch  dies  nötig,  bitter  nötig  ist,  sondern  rüsten  wir  auch  mit  der 
Wahrheit,  Wahrhaftigkeit,  mit  dem  Geist,  der  Tugend.  Das 
letzthin  Entscheidende  im  Menschenleben,  im  Leben  der  einzelnen 
wie  im  Leben  der  Völker,  sind  die  moralischen  Kräfte.  Der 
seelisch  Stärkere  siegt.  Der  Mensch  ist  Geist  und  nichts  als 
Geist.  Nur  wenn  wir  uns  von  der  Lüge  reinigen,  können  wir 
getrost  in  die  Zukunft  schauen.  Es  war  in  der  Zeit  des  tiefsten 
äußeren  Verfalles  unseres  Volkes,  als  Fichte  in  Berlin  die  Deut- 
schen auf  ihren  Geist  verwies,  als  auf  das  einzige  Mittel  der 
Rettung.  Heute,  wo  alles  im  Glücke  schwimmt,  kann  sich  ein 
Philosoph  nur  schwer  Gehör  schaffen,  wenn  er  unser  Volk  zur 
inneren  Reinigung  und  Wahrheit  aufruft.  Und  doch  war  eine 
geistige  Wiedergeburt  niemals  erwünschter,  niemals  dringender 
als  in  dieser  scheinbar  so  glücklichen,  glanzvollen  Zeit.  Denn 
noch  ist  es  Zeit;  noch  ist  der  Tag  nicht  da,  wo  es  sich  um  alles 
handelt,  der  Tag,  der  nicht  ausbleiben  wird,  der  jeden  Morgen 
erscheinen  kann.  Deshalb  raffen  wir  uns  schnell  zu  Taten 
auf,  so  lange  uns  Frist  gegeben  ist.  Reißen  wir  das  Nessus- 
gewand  der  Lüge  von  dem  Leibe  unseres  Volkes.  Die 
Lüge  einmal  gestattet,  an  einer  Stelle  zugelassen,  dringt  ver- 
zehrend in  den  ganzen  Volkskörper.  Noch  ist  unser  Volk  gesund, 
noch  lügt  es  nur  in  der  Religion.  Aber  die  Religion  ist  das 
Heiligste,  und  hier  die  Lüge  zum  Gesetz  erhoben,  vergiftet  sie 
schrittweis  das  ganze  Leben.  Ich  rufe  laut,  nachdrücklich, 
da  es  die  Wahrheit  erfordert:  ,,Los  von  der  Kirche,  los  von  der 
Gemeinde!".      Das  erst  ist   die  wahre   Reformation.      Die   erste 


310 


Die  künftige  Religion.    II. 


Reformation  war  nur  ein  Anfang,  ein  erstes  Sturmläuten,  ein 
Versprechen.  Halten  wir  dieses  Versprechen.  Nur  wenn  wir  die 
Kirche  ganz  aufheben,  wenn  wir  ihr  völlig  absagen,  dann  erst 
kehren  wir  heim  zu  unserem  wahren  Wesen,  dann  erst  stellen 
wir  unser  eigenstes  religiöses  Leben  wieder  her.  Eitles 
Bemühen,  die  Kirche  dem  deutschen  Geiste  anzupassen!  Das 
war  von  Anbeginn  ein  halber  Versuch.  Die  Kirche  und  der 
deutsche  Geist,  der  der  Geist  der  Freiheit  ist,  widerstreiten  ein- 
ander. Hier  gibt  es  kein  Band,  keine  feige  Versöhnung,  nur  eine 
reinliche  Scheidung.  Die  Kirche  gehört  nach  Asien,  treiben  wir 
Asien  aus  Europa  aus.  Das  ist  der  einzig  klare  Entschluß.  Für 
asiatische  Sklaven  mag  der  gebundene  Geist  die  rechte  Form 
gewesen  sein,  und  noch  sein.  Unser  Volk  aber  ist,  wie  das  grie- 
chische, zu  edel,  zu  frei  geboren,  um  diese  Fessel  tragen  zu  können. 
Bei  uns  will  jeder  seinen  Geist,  sein  Herz  für  sich.  Keine  ge- 
pferchte Herde,  sondern  ein  frei  schweifendes,  suchendes,  erobern- 
des Volk,  —  das  sei  das  Bild  desgeistigen  Lebens.  Darum  heraus 
ihr  starken  Herzen,  die  ihr  die  Lüge  nicht  mehr  ertragt,  die  ihr 
seufzt  unter  dem  Joch  der  Gebundenheit,  die  ihr  Heimweh  emp- 
findet nach  unserem  eigenen  Reich,  nach  unserem  wahren  Sein, 
das  uns  durch  schimpfliche  Fremdherrschaft  geraubt  ward, 
heraus  zum  Kampf,  zur  Freiheit!  Das  Leben  läuft  uns  allen 
meist  in  gleicher  träger  Stille  hin.  Nie  erscheint  eine  große  Tat,  nie 
wird  eine  große  Tat  von  uns  gefordert.  Aber  dann  plötzlich,  ehe  es 
sich  die  Zeit  versieht,  sind  wir  vor  die  größte  Entscheidung  ge- 
stellt. Jeder  ist  auf  einmal  zu  einer  weltgeschichtlichen  Tat 
berufen.  So  im  politischen  Krieg.  Wenn  der  Donner  der 
Schlacht  beginnt,  muß  ein  jeder  ein  Held  sein.  Dann  trägt  jeder 
einzelne  die  ganze  Last  der  Verantwortung  für  eine  unbegrenzte 
Zukunft  auf  seinen  Schultern.  Und  so  auch  im  Geisterkriege. 
Es  ist  uns  lange  erlaubt,  in  der  gewohnten  Weise  der  Väter  fort- 
zuleben. Aber  auf  einmal  werden  wir  durch  den  Drang  der 
Ereignisse  aufgerufen.  Die  Zeit  ist  in  der  Stille  gereift  und  nun 
heischt  sie  plötzlich  von  jedem  eine  ganze  Tat.  Dieser  Augen- 
blick ist  jetzt  gekommen.  Wer  sich  heute  von  der  Kirche  los- 
sagt, wer  hier  den  Krieg  erklärt,  tut  eine  weltgeschichtliche  Tat, 
der  erkämpft  Europa  die  alte  eingeborene  Freiheit  zurück,  der 


311 


Zweiter  Teil. 

hilft  an  seinem  Teil  mit  ein  furchtbares  Joch  der  Fremdherrschaft 
abschütteln.  In  dem  Entschluß  jedes  einzelnen  drängt  sich 
heute  alle  Vergangenheit  und  alle  Zukunft  zusammen.  Du 
hast  das  Schicksal  aller  Enkel  in  deiner  Hand.  Schaudern  wir 
nicht  vor  dieser  Pflicht  zurück.  Preisen  wir  unser  Schicksal,  daß 
es  uns  hinaushebt  aus  dem  flachen  Gerinnsel  eines  alltäglichen 
Daseins,  daß  es  uns  zu  Streitern  beruft  in  der  letzten  Entschei- 
dungsschlacht. Ich  frage  jeden  spät  und  früh:  ,, Glaubst  du 
an  Offenbarung?"  Auch  aus  der  Ferne  noch,  wenn  lange 
mein  Wort  verhallt  ist,  frage  ich  ihn  in  heimlicher  Stille. 
Mein  Wort  tönt  ihm  nach;  er  kann  ihm  nicht  entfliehen.  Also 
frage  ich  ihn.  Wenn  du  an  Offenbarung  glaubst,  wenn  du  ein 
Unfreier  bist,  ein  Gebundener,  wenn  du  die  Ketten  willst,  den 
festen  Reif  um  die  Geister,  dann  nenne  ich  dich  niederer  Abkunft; 
du  bist  ein  Hemmschuh  deinem  Volke,  und  ich  ärgere  mich 
deiner.  Du  bist  unschuldig  und  kein  Verbrecher;  aber  es  wäre 
deinem  Volke  besser,  du  wärest  nie  geboren.  Bist  du  aber  frei, 
erkennst  du,  daß  es  keine  Offenbarung  gibt,  bekennst  dich  aber 
nicht  zu  dieser  Freiheit,  sondern  heuchelst  die  Gebundenheit  und 
mischest  dich  unter  die  Unfreien,  als  wärest  du  ihresgleichen, 
damit  sie  dir  nicht  zürnen,  so  gehe  hin  mit  meiner  Verachtung. 
Du  bist  ein  Verbrecher,  und  ich  rufe  die  Schuld  der  Verküm- 
merung und  Entartung  deines  Volkes  über  dich  und  dein  Haupt. 

Aber  hängt  alles  dies  nicht  an  einer  einzigen  Frage,  ob  wirklich 
neue,  führende  Geister  erscheinen  werden?  Sollen  alle,  die  sich 
von  der  Gemeinde  abtrennen,  die  den  Mut  zur  Freiheit  und 
Einsamkeit  haben,  hinfort  zum  Nichts,  zur  inneren  Wüste  ver- 
urteilt sein?  Denn  aus  sich  selber  können  sie  die  Rätsel  des 
Lebens  nicht  lösen.  So  leben  sie  ohne  Führer  verlassen  dahin. 
Aber  fürchten  wir  uns  nicht.  Glauben  wir  an  den  Genius  unse- 
res edlen  Volkes,  der  diese  so  heiß  ersehnten  Männer  erzeugen  wird 
zur  rechten  Stunde.  Wenn  wir  zurückblicken  in  die  Geschichte 
des  deutschen  Geistes,  wenn  wir  bedenken,  was  unser  Volksgeist 
bisher  an  Dichtern,  Künstlern,  Denkern  erzeugt  hat,  wie 
sollten  wir  zweifeln,  daß  er  uns  auch  religiöse  Führer  schenken 
werde,  die  uns  ein  Turm  werden  können  im  Schwall  des  Lebens? 
Hat  er  uns  doch  auch  zum  rechten  Augenblick  den  großen  Staats- 

312 


Die  künftige  Religion.    II. 


mann  geschickt,  der  uns  den  deutschen  Staat  gebaut  hat,  und 
nie  zuvor  war  der  Deutsche  ein  Staatenkünstler.  Aber  in  allen 
Welten  der  Seele,  da  war  er  von  jeher  heimisch.  Hier  haben  wir 
schon  so  manches  Land  durchwandert.  Darum,  erkennen  wir 
ein  neues  Ziel,  wie  sollten  tapfere  Geister  nicht  auch  hierzu  die 
Wege  finden? 

Aber  eine  tiefe  Enttäuschung,  fürchte  ich,  wird  jeden 
befallen,  wenn  ich  nur  auf  die  Zukunft  verweise.  Wir  halten 
es  in  dieser  Dürre  und  Armut  nicht  länger  aus.  Wir  wollen  etwas 
unmittelbar  Greifbares  in  Händen  haben.  Ich  weiß,  ich  kann 
das  Ersehnte  nicht  bieten.  Aber  ich  will  auch  nichts  verschwei- 
gen. Mich  heißt  die  Not  der  Zeit  die  Lippen  öffnen.  Was  ich 
mir  über  die  letzten  Dinge  zurechtgedacht  und  ausgesponnen 
habe,  das  will  ich  nicht  für  Raub  halten,  sondern  freimütig 
mitteilen  in  der  letzten  Rede:  ,,Der  Mensch  als  Schöpfer,  die 
Religion  des  neuen  Heidentums", 


Horneffer,  Das  klassische  Ideal.       '^I'^ 


III. 

DER  MENSCH  ALS 
SCHÖPFER,  DIE  RELIGION 
DES  NEUEN  HEIDENTUMS. 

Wir  nahen  uns  dem  schwierigsten  Teil  unserer  Aufgabe,  zu- 
gleich aber  dem,  an  welchem  uns  am  meisten  liegt.  Denn 
alles,  was  ich  bisher  ausgeführt  habe,  bleibt  ohne  Sinn  und  Inhalt, 
es  fehlt  die  Krönung,  wenn  ich  nicht  religiöse  Gedanken  selbst 
mitzuteilen  weiß,  die  uns  beglücken.  Nach  diesen  lechzt  unsere 
Seele  wie  nach  ihrer  nötigsten  Nahrung.  Wie  die  künftige 
Form  des  religiösen  Lebens  sein  muß,  mag  mancher  wissen. 
Alles,  was  ich  in  meinen  beiden  ersten  Reden  gesagt  habe,  konnte 
jeder  sagen.  Ein  wenig  Ehrlichkeit  —  und  jeder  mußte  als  Wahr- 
heit erkennen,  was  ich  dort  ausgeführt  habe.  Ich  fühle  keinen 
Stolz  darob.  Auch  steht  mir  alles  dort  Gesagte  felsenfest.  Die 
Menschheit  wird  traurig  verkümmern,  wenn  sie  nicht  den  Weg  ein- 
schlägt, den  ich  ihr  gewiesen  habe.  Aber  ich  bange  und  zage,  nun 
ich  von  der  Religion  nach  ihrem  Inhalte  reden  soll.  Hier  muß 
ich  eine  ganz  andere  Scham  überwinden.  Und  nur  der  Umstand, 
daß  unsere  Zeit  so  schmerzlich  nach  neuen,  befreienden  Gedanken 
über  den  Sinn  des  Lebens  darbt,  kann  mich  bewegen,  hierüber 
mich  auszulassen.  Ich  weiß  zu  gut,  was  es  heißt,  an  die  höchsten 
Fragen  heranzutreten,  sich  vor  die  letzten  Rätsel  des  Lebens  zu 
stellen  und  nur  eine  einigermaßen  befriedigende  Lösung  zu  geben, 
daß  wir  für  einen  Augenblick  das  Fragen  einstellen.  Aber  nach 
dieser  Beruhigung  verlangt  die  menschliche  Seele.    Es  hilft  nicht, 


Die  künftige  Religion.    III. 


die  Blicke  abzuwenden.  Immer  wieder  gähnt  vor  uns  der  Ab- 
grund der  Ewigkeit.  Wir  beben  solange,  bis  wir  uns  diese 
finstere  Höhle  erleuchtet  haben  und  ohne  Schauder  hinunter- 
blicken. 

Nur  auf  dem  Hintergrunde  des  großen,  umfassenden  Daseins 
kann  dem  Menschen  das  Leben  wert  werden.  Der  tiefe  Einklang 
nur,  den  er  seinem  Leben  mit  dem  allgemeinen,  allgewaltigen  Sein 
gibt,  kann  in  seiner  Seele  Hochgefühle  erwecken.  Dann  nur 
kann  die  große  Begeisterung  über  ihn  kommen.  Der  Mensch 
muß  das  ganze  All  in  sein  Gefühl  nehmen,  muß  gleichsam  die 
Unendlichkeit  aufsaugen.  Das  leiht  seiner  Seele  erst  volle 
Schwungkraft,  das  verdoppelt,  vertausendfacht  seine  Stärke  und 
Leidenschaft.  Nie  hat  ein  solcher  Mensch  zuvor  gewußt,  was  er 
an  Kraft,  an  Wille  in  sich  barg.  Sein  eigenes  brausendes  Herz 
erweckt  ihm  Schauder.  Er  ist  über  sich  selbst  hinaus  gehoben. 
Ohne  dieses  Band  mit  dem  Unendlichen  fühlt  sich  der  Mensch 
als  ein  verrinnendes,  verstoßenes  Atom  des  Alls.  Er  ist  abge- 
sprengt vom  großen  Dasein  und  so  zerhackt  er  sein  Leben,  für 
das  er  keinen  Sinn  mehr  begreift,  das  ihm  ein  Spiel,  ein  Nichts 
ward,  in  lauter  kleine  wertlose  Stücke.  Das  Tier  und  alles,  was 
unter  Menschen  Tieres  Art  ist,  mag  mit  kurzen  Freuden  und  Lei- 
den dem  Augenblicke  leben.  Der  Mensch  bedarf  ein  Größeres. 
Er  muß  sein  Leben  als  Ganzes  gestalten.  Dies  aber  kann  er  nur, 
wenn  er  es  an  das  große  Leben  angliedert.  Er  muß  alle  Bäche 
des  Seins  in  seine  Seele  leiten,  daß  sie  hier  mit-  und  weiterströmen. 
Schränkt  er  sich  in  seinen  nächsten  Grenzen  ein,  stellt  er  sich 
nur  auf  sich  und  genießt,  was  der  Tag  ihm  bringt,  so  stirbt  er  als 
Glied  dem  großen  Dasein  ab.  Seine  Würde  als  Mensch  hat  er 
preisgegeben.  Zwar  die  höchsten  Fragen  türmen  sich  vor  uns 
wie  fürchterliche  Ungetüme  auf.  In  unnahbarer  Hoheit  blicken 
spöttisch  diese  erhabenen  Rätsel  auf  uns  herab,  daß  Ehrfurcht 
und  Zweifel  das  Herz  lähmen.  Und  dennoch,  will  der  Mensch 
nicht  ganz  auf  sich  verzichten,  muß  er  es  wagen  diese  hehren 
Göttinnen  anzugreifen.  Nur  auf  dem  Untergrunde  der  ganzen 
Welt  kann  der  Mensch  sein  Leben  erbauen.  Will  der  Mensch 
die  Welt  bemeistern,  will  er  das  All  gewinnen,  so  mag  er  wissen, 
daß  er  etwas  Unmögliches  will,  und  dennoch  muß  er  es  wollen. 


315 


Zweiter  Teil. 

Mag  das  mühsam  errichtete  Gebäude  des  einen  Geschlechts  immer 
wieder  in  sich  zusammenstürzen,  das  nächste  Geschlecht  muß 
von  neuem  an  das  große  Werk  gehen  und  ein  anderes  gründen. 
Nie  kann  der  Mensch  für  die  Dauer  in  der  Welt  als  Heimatloser 
schweifen.  Er  bedarf  letzter  Begriffe,  letzter  Wahrheiten,  auf 
denen  er  ausruht.  Und  so  schreiten  wir  denn  ans  Werk.  Suchen 
auch  wir  wieder  zum  tiefsten  Lebensquell  vorzudringen.  Wir 
wissen,  daß  wir  damit  nach  Unerreichbarem  streben.  Aber  es 
treibt  uns  unaufhaltsam  vorwärts.  Und  langsam,  langsam 
nähern  wir  uns  vielleicht  dem  Ziele.  Zaghaft  und  mutig,  de- 
mütig und  stolz  greifen  wir  wieder  nach  der  Krone  der  Menschheit. 
Kämpfen  wir  wieder  den  Kampf  mit  dem  Drachen  Ewigkeit. 
Wenn  wir  ihn  nicht  erlegen,  können  wir  ihn  vielleicht  für  eine 
Weile  verscheuchen.  Der  Mensch  muß  wieder  freier  atmen  ange- 
sichts des  großen  Lebens.  Hoffnung  soll  wieder  bei  ihm  ein- 
kehren.    Er  muß  wieder  Mensch  sein,  was  Mensch  sein  heißt. 

Aber  wie  finden  wir  nun  den  Schlüssel  zum  Leben,  das  Ver- 
ständnis für  das  geheimnisvolle  Allleben,  das  uns  immer  umwebt 
und  uns  doch  so  fremd,  so  dunkel  bleibt?  Hier  ist  schon  viel 
gewonnen,  wenn  wir  wenigstens  wissen,  wie  das  Wesen  des 
Daseins  jedenfalls  nicht  ist,  welche  Richtungen  des  Denkens 
uns  abgeschnitten  sind,  daß  wir  sie  nicht  weiter  verfolgen  können. 
Diese  Einsicht  des  Irrtums  öffnet  uns  vielleicht  das  Auge  für 
die  Wahrheit,  für  den  Weg,  auf  dem  wir  bessere  Früchte  brechen 
können. 

Hier  ist  zu  sagen,  daß  das  alte  Weltbild,  wie  es  uns  überkom- 
men ist,  der  Glaube  an  einen  Gott,  sei  dieser  nun  über  der  Welt 
oder  ausgegossen  in  der  Welt,  uns  nicht  mehr  zusagt,  daß  diese 
Auffassung  vom  Weltwesen  mehr  und  mehr  schwindet.  Eine 
bewußte,  überlegte,  planmäßige  Schöpfung  und  Leitung  der  Welt, 
ein  durchweg  sinnvoller  Aufbau  des  Weltganzen  ist  uns  nicht 
mehr  glaubhaft.  Auf  den  Gedanken  der  bewußten  Weltschöpfung 
konnte  man  nur  verfallen,  wenn  man  die  Welt  als  fertig  vor 
sich  sah,  wenn  man  die  Welt  in  ihrem  letzten  Ergebnis, 
so  wie  sie  sich  jetzt  dem  Blicke  des  Menschen  darbietet, 
betrachtete.  In  diesem  reifen,  späten  Zustande  allerdings  mußte 
die  Welt  wohl  auf  den  unbefangenen,   durch  Wissen  und   Er- 

316 


Die  künftige  Religion.   III. 


fahrung  nicht  belehrten  Geist  den  Eindruck  eines  vernünftigen, 
weise  angelegten,  weise  durchgeführten  Werkes  machen.  Und 
die  ersten  Ergebnisse  der  Wissenschaft  schienen  diese  Annahme 
nur  zu  bestätigen.  Als  man  einen  Einblick  gewann  in  das  Ge- 
triebe der  Natur,  in  die  unabänderlichen,  stetigen,  harmonischen 
Gesetze  der  Natur,  da  erst  glaubte  man  das  Wirken  und  Schaffen 
Gottes  recht  zu  erkennen,  hier  glaubte  man  ihn  unmittelbar  am 
Werke  zu  sehen.  Hier,  meinte  man,  könnte  man  seine  Tätig- 
keit und  also  auch  seine  Existenz  mit  Händen  greifen.  Und  so 
konnte  man  wohl,  vom  Anblick  dieser  anscheinend  so  weisen 
und  erhabenen  Wirklichkeit  berauscht,  den  Traum  von  der 
besten  aller  möglichen  Welten  träumen.  Da  konnte  man  recht 
schwelgen  in  der  Bewunderung  des  allmächtigen  Urhebers  und 
Schöpfers  der  Dinge.  Aber  auf  diese  begeisterte  Schwärmerei 
folgte  ein  jäher  Rückschlag.  Wir  haben  das  Auge  abgewendet 
von  der  seienden,  fertigen  Welt.  Wir  haben  einen  Blick  ins 
Werden  getan.  In  der  Wissenschaft  hat  sich  ein  völliger 
Umschwung  vollzogen.  Die  Wissenschaft  ist  heute  nicht  mehr 
bloß  eine  beschreibende,  sondern  eine  erzählende. 
Nicht  wie  die  vorhandene  Welt  beschaffen  ist,  erregt  heute 
in  erster  Linie  unsere  Wißbegier,  sondern  wie  sie  geworden 
ist,  wie  sie  sich  baut,  erzeugt,  entwickelt,  wie  ein  Zustand  aus 
dem  andern  gefolgt  ist,  wie  die  Welt  gewachsen  ist.  Die 
Erkenntnis  ihrer  vorhandenen  Eigenschaften  gilt  uns  nur  als 
die  Voraussetzung,  die  Vorbedingung  der  tieferen  und  wert- 
volleren Einsicht,  wie  sich  die  Welt  zu  dem,  als  das  sie  heute 
sich  gibt,  entfaltet  hat.  Diese  Betrachtungsart  hat  das  ganze 
alte  Weltbild  umgeworfen.  Wir  sehen  jetzt  in  die  geheime  Werk- 
statt der  Natur.  Und  hierbei  müssen  wir  wahrnehmen,  wie  oft 
die  Natur  in  die  Irre  geht.  Die  edelsten  Bildungen,  die  die 
Natur  mit  großer  Anstrengung  hervorgebracht  hat,  werden  oft 
schmählich  wieder  vernichtet.  Umgekehrt,  das  Unedle,  Ge- 
meine und  Schlechte,  das  den  Gang  der  Entwicklung  hemmt, 
besteht  häufig  über  Gebühr  lange  und  führt  eine  freche  Herr- 
schaft. Wir  sehen  die  Natur  vielfach  mit  den  plumpsten 
Mitteln  wirken.  Die  wichtigsten,  bedeutsamsten  Angelegenhei- 
ten, wie  z.   B.   Fortpflanzung  und  Zeugung,  sind  vielfach  dem 


317 


Zweiter  Teil. 

rohesten  Zufall  überlassen.  Wir  müssen  auf  ein  tiefes  Unver- 
mögen der  Natur  schließen,  wenn  wir  sehen,  daß  sie  oft  nur  auf 
weiten  Umwegen  ihr  Ziel  erreicht.  Gewiß,  ein  Streben  liegt  in 
der  Natur,  ein  Streben  nach  aufwärts,  ein  Wille  zum  Höheren  — 
wir  werden  noch  näher  prüfen,  was  dieser  Wille  zum  Höheren 
ist  —  aber  sie  kommt  nur  mühsam  vorwärts.  Sie  schweift  oft 
auf  kostspielige  Seitenpfade  ab.  Sie  ächzt  und  keucht  bei  ihrem 
Gange.  Hilflos,  sich  selbst  überlassen  ringt  sie  mit  schweren 
Widerständen,  die  sie  in  ihrem  Schöße  birgt.  Nein,  kein  ver- 
nünftiger, einsichtiger  Geist  hat  diesen  Lauf  geleitet.  Schon 
nach  menschlichem  Ermessen  hätten  unzählige  Ziele  auf  viel 
einfacherem,  geraderem  Wege  erreicht  werden  können.  Welche 
bodenlose  Verschwendung  herrscht  im  Haushalte  der  Natur! 
Welche  Verheerungen  brechen  oft  über  die  zartesten  Schöpfungen 
der  Natur  mit  entsetzlicher  Gewalt  herein!  Und  doch  liegt 
der  Natur  an  solchen  Bildungen.  Denn  sie  würde  nicht  so  viel 
Kraft  und  Mühe  aufwenden,  um  sie  hervorzubringen.  Hat  sie  sie 
aber  erreicht,  hat  sie  aus  ihrem  Schöße  edle  Kinder  geboren,  so 
kann  sie  sie  oft  nicht  retten.  Sondern  sie  selbst,  mit  anderen 
Kräften,  schlingt  sie  wieder  vorzeitig  in  ihren  Schoß  hinein. 
Das  Dasein  gewährt  vielfach  einen  chaotischen  Anblick.  Es  ist 
oft,  als  blickten  wir  in  einen  unheimlichen  Hexenkessel  hinein. 
Durch  die  Natur  schreitet  oft  mit  wuchtigen  Schritten  die  Tragödie 
und  läßt  ihre  entsetzensvollen  Spuren  zurück.  Gewiß,  auch  viel 
staunenswert  Zweckmäßiges  bringt  die  Natur  hervor.  Sie  erreicht 
oft  ihr  Ziel,  und  eine  Gesamtabrechnung,  ein  Überblick  des  Ganzen 
kann  uns  nur  die  höchste  Bewunderung  vor  den  mächtigen  Ge- 
staltungskräften der  Natur  abnötigen.  Aber  diese  Seite  ist  nur 
die  eine  Seite  der  Natur.  Ihr  steht  ein  schlimmes  Gegenstück 
gegenüber,  das  man  nicht  vergessen  darf.  Nicht  ohne  triftigen 
und  tiefsinnigen  Grund  hat  die  ältere  Zeit,  die  noch  fest  und  ehrlich 
an  Gott  glaubte  —  heute  tut  das  selbst  der  Frömmste  nicht  mehr, 
er  bildet  es  sich  nur  ein,  an  Gott  zu  glauben  —  die  ältere  Zeit 
hatte  mit  tiefem  Bedacht  dem  guten  und  weisen  Gotte  einen  bösen 
und  schlimmen  Gott  gegenübergestellt,  der  jenes  Gnadenwerk 
zerstören  will.  Wir  glauben  nicht  mehr  an  den  bösen  Gott.  So 
können  wir  auch  nicht  mehr  an  den  guten  Gott  glauben.     Denn 

318 


Die  künftige  Religion.    III, 


dann  haftet  an  diesem  alles  Wilde  und  Furchtbare,  alles  Grau- 
same und  Dumme,  alle  Fäulnis  und  Verderbnis  im  Dasein.  Das 
aber  widerspricht  sich.  Wenn  wir  etwas  an  dem  Wesen 
Gottes  als  unerläßliche  Eigenschaft  voraussetzen  müssen,  so  ist 
dies  die  Eigenschaft  der  Einsicht,  der  Weisheit,  der  unbegrenzten 
Vernunft.  Ohne  diese  Eigenschaft  wäre  der  Begriff  Gottes 
völlig  hohl.  Auf  diese  Eigenschaft  hin,  um  einen  Träger  für  die 
höchste  Ausbildung  und  Vereinigung  der  Vernunft  zu  haben, 
hat  man  überhaupt  den  Begriff  Gottes  gebildet.  Aber  diesem 
vernünftigen  Charakter,  den  die  Welt  als  das  Werk  Gottes 
tragen  müßte,  spricht  alle  Erfahrung  Hohn.  Zum  mindesten 
sind  auch  furchtbare  Gegenkräfte  und  Hemmnisse  am  Werk. 

Wenn  man  aber  einwendet,  dies,  gerade  dies  habe  Gott  ge- 
wollt; er  habe  die  Welt  sich  selber  überlassen,  daß  sie  erprobe, 
wie  weit  sie  mit  ihren  Kräften  kommen  möge,  so  ist  zu  sagen: 
ein  Gott,  der  außerhalb  der  Welt  steht,  der  sich  nicht  um  die 
Welt  bekümmert,  der  nicht  eingreift  in  den  Lauf  der  Welt,  ein 
solcher  Gott  geht  uns  nichts  an,  der  ist  für  uns  so  gut  wie  nicht 
vorhanden.  Nur  was  irgendwie  auf  die  Welt  einwirkt,  uns  und 
der  Welt  sich  fühlbar  macht,  das  allein  lebt  für  uns,  ist  für  uns. 
Und  behauptet  man,  Gott  lebe  und  wirke  in  der  Welt  und  auch 
all  das  scheinbar  Unvernünftige,  Widerwärtige,  Mangelhafte 
und  Böse  sei  sein  Werk,  sei  von  ihm  beabsichtigt,  sei  mit  ein- 
gerechnet in  seinen  Weltenplan,  den  wir  mit  unserer  beschränkten 
Vernunft  nur  nicht  zu  fassen  vermögen,  so  ist  zu  entgegnen: 
einen  anderen  Maßstab  als  unsere  Geistigkeit,  unsere  Auffas- 
sungskraft können  wir  an  die  Welt  nicht  anlegen,  weil  uns 
anderes  nicht  gegeben  ist.  Auf  überraschend  und  bewunderungs- 
würdig planvoll  und  zweckmäßig  gestaltete  Einrichtungen  der 
Natur  hin  hat  man  den  Begriff  Gottes  geprägt.  Wenn  entgegen- 
gesetzte Zustände  als  ebenfalls  für  die  Welt  bezeichnend  aufge- 
deckt werden,  so  hat  man  eben  seinen  Weltbegriff  umzu- 
bilden, hat  man  einen  neuen  Weltbegriff  zu  schaffen, 
der  diesen  Widersprüchen  gerecht  wird.  Aber  nicht  darf  man 
auf  solche  Erfahrungen  hin  seine  Vernunft  zum  Schweigen 
bringen.  Denn  aus  dem  Unvermögen  des  menschlichen  Geistes 
ließe  sich  nur  folgern,  daß  wir  überhaupt  keine  metaphysi- 


319 


Zweiter  Teil. 

sehen  Vorstellungen  bilden  sollen,  aber  niemals,  das  wir  be- 
stimmte Vorstellungen  glauben  sollen.  Das  hieße  sich 
nur  auf  den  Gedanken  der  Vergangenheit  schlafen  legen,  die 
nach  dieser  Auffassung  ebensowenig  Recht  hatte  wie  wir,  sich 
an  die  letzten  Rätsel  zu  wagen. 

Da  der  Glaube  an  Gott,  an  die  allweise  und  planvolle  Ge- 
staltung der  Welt  erschüttert  ist,  sucht  man  sich  auf  zweierlei 
Weise  zu  helfen.  Entweder  man  stellt  das  Denken  ein,  man 
schlägt  alles  nieder,  was  dagegen  spricht,  man  verbindet  sich 
die  Augen  —  wir  sahen  eben,  daß  dies  Verfahren  nicht  angängig 
ist  —  oder  man  trägt  jenen  seltsamen  Erscheinungen,  der  Tragik 
im  Dasein,  aller  Unvollkommenheit  und  Sünde  Rechnung,  sucht 
aber  Gott  hiervon  möglichst  zu  entlasten,  indem  man  ihn  immer 
weniger  für  die  Welt  verantwortlich  macht.  Dies  aber  kann 
man  nur  so  erreichen,  daß  man  den  Begriff  Gottes  immer  mehr 
seiner  Kraft  beraubt,  daß  man  ihn  immer  inhaltsleerer  macht. 
Wie  hat  man  die  ehemals  kräftige  Vorstellung  von  Gott  nach 
und  nach  verdünnt  und  verarmt!  Immer  mehr  Sein  und  Gehalt 
hat  man  von  ihr  abgestreift,  bis  fast  nichts  mehr  übrig  blieb 
und  man  schließlich  Gott  ganz  in  Rauch  aufgehen  ließ.  Da  man 
nicht  mehr  an  Gott  glauben  kann,  glaubt  man  wenigstens  an 
das  Wort  Gott.  So  hat  man  etwas  doch  gerettet!  Unsere 
Zeit  ist  sehr  anspruchslos  geworden.  Wir  haben  gelernt,  an 
nichts,  an  strohernen  Überbleibseln  uns  zu  nähren.  Wir  beten 
ohne  Bedenken  in  ausgebrannten  Tempeln.  Aber  allgemach 
stellt  sich  bei  allen  starken  und  leidenschaftlichen  Seelen  ein 
schmerzhafter,  schneidender  Hunger  ein.  Uns  befällt  ein  Grauen 
vor  den  öden  Wänden  unserer  zerstörten  Heiligtümer.  Klagen 
wir  nicht  länger  dem  verlorenen  Gotte  nach!  Man  halte  Gott 
nicht  mehr  krampfhaft  an  den  dünnsten  Fäden  fest!  Man  lasse 
das  Tote  tot  sein  und  wolle  es  nicht  immer  von  neuem  mit  der 
Farbe  des  Lebens  bemalen!  Ist  Gott  nicht  mehr  in  der  Welt  zu 
spüren  —  und  hier  i  s  t  er  nicht  zu  spüren,  hier  kämpft  das  Sein 
einsam  und  verlassen  mit  sich  selber  einen  schweren  Kampf  — 
so  wolle  man  auch  nicht  mehr  jenseits  aller  Wirklichkeit  Gottes 
Schatten  nachjagen.  In  allen  Verhältnissen  des  Lebens  muß 
man  irgendwann  einen  Schluß  finden  können.     Fällt  das  Haus 

320 


Die  künftige  Religion.    III. 


zusammen,  so  hockt  man  nicht  auf  den  Trümmern,  sondern 
richtet  ein  neues  auf.  Ward  es  uns  an  einem  Orte  zu  enge, 
so  greifen  wir  nach  dem  Stabe  und  streben  tapfer  neuen  Ländern 
zu.  Lassen  wir  endlich  Gott  ruhen,  schaffen  wir  andere  Welt- 
gedanken, die  uns  glaubhafter  dünken  und  uns  doch  zugleich 
das  Leben  wert  und  teuer  machen. 

Da  der  Glaube  an  einen  vernünftigen  Ursprung  der  Welt 
zu  wanken  begann,  verfiel  man  zunächst  auf  den  entgegengesetzten 
Weg.  Wie  immer,  wenn  man  eine  Enttäuschung  erlebt  hat, 
stürzte  man  sich  in  das  Gegenteil  der  bisher  geliebten  und  geehrten 
Dinge,  suchte  gleichsam  aus  Trotz  die  der  religiösen  Auffassung 
direkt  entgegengesetzte  Anschauungsweise  auszubilden  und  aus- 
zubreiten. Hatte  man  ehedem  alles  Seiende  auf  den  denkenden 
Geist  zurückgeführt,  so  versuchte  man  jetzt  den  umgekehrten 
Weg,  allen  Geist  aus  der  Welt  herauszutreiben.  Nur  Körper- 
liches glaubte  man  in  der  Welt  zu  finden.  Das,  was  man  Geist, 
Seele  nenne,  das  sei  auch  nur  ein  Körperliches,  eine  Bewegung 
des  Körpers.  Und  der  ganze  wunderbare  Aufbau  der  Welt, 
weit  entfernt  das  Werk  eines  planvoll  schaffenden,  überlegten 
Geistes  zu  sein,  er  sei  umgekehrt  das  ganz  zufällige  Ergebnis 
unbeseelter  bewegter  Massen.  So  suchte  man  die  alte  Wahrheit 
auf  den  Kopf  zu  stellen.  Indessen  diese  Auffassung,  die  unter 
dem  Namen  Materialismus  bekannt  ist,  hat  niemals  dauernd 
befriedigt.  Vorübergehend  hat  sie  wohl  Berühmtheit  und  Ein- 
fluß gewonnen.  Aber  immer  wieder  sehr  bald  und  entschieden 
hat  man  sich  von  ihr  abgewendet.  Es  erscheint  gänzlich  un- 
möglich, das  Seelische  auf  das  Körperliche  zurückzuführen. 
Selbst  bei  den  Naturforschern,  die  die  Hauptvertreter  und  Ver- 
fechter dieser  Anschauung  waren,  denen  es  besonders  nahe  lag, 
da  sie  sich  immer  nur  mit  Körpern  befassen,  auch  nur  an  Körper 
zu  glauben,  selbst  bei  ihnen  scheint  sich  ein  Umschwung  der 
Auffassung  anzubahnen.  Immer  mehr  löst  sich  ihnen  die  Ma- 
terie auf,  so  daß  sie  nur  noch  Kräfte  übrig  behalten.  Wie  dem 
auch  sein  mag,  so  viel  gilt  uns  heute  als  ausgemacht,  das,  was  wir 
Seele  nennen,  so  unlöslich  es  auch  mit  dem  Körperlichen  ver- 
bunden ist,  kann  niemals  selbst  als  etwas  Körperliches  aufgefaßt 
werden.      Wir   können   es   nie   aus   dem   Körperlichen   ableiten. 


321 


Zweiter  Teil. 

Deshalb,  wenn  wir  nach  einem  Weltgrund  suchen,  nach  einem 
letzten  Zusammenhange,  einem  allgemeinsten  Grundwesen  des 
Daseins,  etwas  Seelisches  wird  dieses  sein  müssen.  Denn  das 
Seelische  ist  das  uns  zunächst  Gegebene,  ja  in  gewissem  Sinne 
das  uns  ausschließlich  Gegebene.  Wir  können  niemals  von  dem 
Seelischen  absehen. 

Ich  glaube,  die  Wahrheit  liegt  wie  so  oft  in  der  Mitte.  Weder 
ist  die  Welt  Ausfluß  und  Zeugnis  eines  vernünftigen  Geistes, 
einer  allmächtigen,  weise  waltenden,  alles  durchdringenden  und 
beherrschenden  Vernunft,  noch  auch  ist  die  Welt  völlig  seelenlos, 
das  rein  zufällige  Spiel  ungeistiger  Massen.  Ich  glaube,  Schopen- 
hauer hat  hier  das  erlösende  Wort  gesprochen.  Schopenhauer 
geht  aus  vom  Menschen.  Er  sucht  nach  dem  Wesentlichen, 
dem  Grundlegenden  und  Allgemeinsten  in  der  Existenz  des  Men- 
schen und  findet,  daß  dies  nicht  der  Leib,  aber  auch  nicht  der 
vernünftige  Geist,  sondern  das  Triebleben,  der  Wille  ist.  Geist 
und  Leib  sind  ihm  Organe  des  Willens.  Der  Wille  ist  durchaus 
das  Fundament  des  seelischen  Lebens  der  Menschen  und  da- 
mit auch  des  leiblichen  Lebens,  das  Schopenhauer  ganz 
dem  seelischen  unterordnet  und  eingliedert.  Was  der  Mensch 
auch  vornimmt,  wie  er  sich  auch  gebärdet  und  äußert,  immer 
ist  es  ein  Wille,  der  ihn  beseelt,  sein  Tun  hervorruft.  Und  wie 
beim  Menschen,  so  in  der  gesamten  Natur.  Als  ewig  bewegt 
stellt  sich  uns  die  Natur  in  allen  ihren  Kindern  dar.  Aber  was 
ist  diese  Bewegung  aller  Naturerscheinungen,  organischer  oder 
unorganischer?  Wie  kommt  sie  zustande?  Wo  hat  sie  ihre 
Quelle?  Sind  die  Naturgebilde  tote  Massen,  die  an  unsichtbaren 
Ketten  gezogen  werden?  Schopenhauer  behauptet,  die  Natur 
ist  gleichen  Wesens  mit  dem  Menschen.  Auch  in  der  Natur 
sind  die  Bewegungen  das  äußere  Merkmal  eines  beseelten  Inneren. 
Auch  hier  stammt  wie  bei  uns  alle  Bewegung,  alles  Leben  aus 
einer  seelischen  Triebkraft.  Wille  ist  auch  in  der  Natur,  in  allen 
ihren  so  tausendfachen  Formen  das  Wesenhafte,  wenn  dieser 
Wille  bei  den  einzelnen  Wesen  und  Gattungen  auch  auf  sehr 
verschiedener  Stufe  der  Ausbildung  und  Klarheit  steht.  So 
verlegt  Schopenhauer  das  innere  Wesen  des  Menschen  in  die 
Natur  hinein  und  zwar  nicht  nur  in  den  geheimnisvollen  und 

322 


Die  künftige  Religion.    III. 


unbekannten  Urgrund  der  Dinge,  sondern  in  die  unmittelbare 
Naturerscheinung,  in  alles,  was  den  Menschen  umgibt.  Auf 
solche  Weise  ist  der  Mensch  in  die  nächste  Verwandtschaft  mit 
der  Natur  gerückt  und  umgekehrt.  Diese  metaphysische  Auf- 
fassung Schopenhauers,  die  den  Menschen  und  die  Natur  so  eng 
aneinander  gliedert,  hat  nachträglich  eine  starke  Stütze  in  der 
neueren  Naturwissenschaft  gefunden,  durch  die  berühmte  Ent- 
wicklungs-  und  Abstammungslehre  Darwins.  Durch  diese 
großartige  Entdeckung  ist  der  Zusammenhang  des  bis  dahin 
getrennten,  zerspalteten  Seins  bewiesen.  Wo  wir  früher  unüber- 
steigliche  Klüfte  annahmen,  da  sind  jetzt  Brücken  geschlagen. 
Die  ganze  schier  unübersehbare  Mannigfaltigkeit  der  Natur  ist 
in  einem  einheitlichen  Flusse  aufgegangen.  Alle  Naturerschei- 
nungen, der  Mensch  mit  eingeschlossen,  sind,  so  verschieden- 
artig ihr  äußerer  Anblick  auch  wirkt,  dennoch  letzten  Endes 
blutsverwandt.  Es  stammt  alles  aus  einer  gemeinsamen  großen 
Quelle.  Und  da  jede  einzelne  Erscheinung  Wille  ist,  wie  wir 
gehört  haben,  so  werden  wir  auf  einen  einheitlichen  allgemeinen 
Willen  schließen  müssen,  der  die  ganze  Erscheinungswelt  her- 
vorbringt, aus  dem  alle  individuellen  Gebilde  der  Natur  ent- 
sprungen sind  und  aus  dem  sie  ihre  Kraft  gesogen  haben.  Vor 
aller  Erscheinungswelt  mit  ihrer  vielgeteilten  Mannigfaltigkeit 
gibt  es  ein  allgemeines,  umfassendes  Urseelisches,  das  sich  dann 
erst  in  die  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungswelt  spaltet,  sich 
in  den  unzähligen  Gestalten  der  Erscheinungswelt  offenbart,  sich 
darin  objektiviert,  wie  Schopenhauer  sagt.  Dies  seelische  Etwas 
aber,  das  dergestalt  die  ganze  Welt  erfüllt  und  beherrscht,  ist 
nicht  ein  überlegter,  vorausschauender,  planmäßig  schaffender 
Geist,  nicht  eine  Vernunft,  die  überdenkt  und  berechnet,  sondern 
ein  unbewußtes  dumpfes  Begehren,  ein  wilder  Drang.  Nicht 
die  Vernunft,  sagt  Schopenhauer,  sondern  der  Wille,  ein  heißes 
unersättliches   Begehren,  das  ist  der  Grundzug  des  Daseins. 

Ich  glaube,  daß  diese  Auffassung  der  Welt  eine  große  Ent- 
deckung ist,  daß  sich  in  der  Richtung  dieser  Betrachtungsweise 
das  europäische  Denken  künftig  bewegen  wird.  Ohne  Zweifel 
ist  die  Philosophie  Schopenhauers  nur  ein  erster  Ansatz,  sie  ist 
noch  nichts  Abgeschlossenes.     Sie  harrt  noch  der  Ausgestaltung. 


323 


Zweiter  Teil. 


Aber  ein  fruchtbarer  Same,  scheint  mir,  ist  hier  gelegt,  der  mit 
der  Zeit  einst  üppig  aufgehen  wird. 

Worin  liegt  das  Unvollständige  der  Schopenhauerschen  Philo- 
sophie? Wo  hat  die  Ergänzung  einzusetzen?  Nach  Schopenhauer 
ist  die  Welt  Wille.  Aber  welcher  Art  ist  dieser  Wille?  Der  Wille 
braucht  einen  Ausgangspunkt  und  ein  Ziel.  Was  erstrebt  der 
Wille?  Und  wie  kommt  der  Wille  zum  Aufbau  der  Welt?  Wie 
kommt  es,  daß  er  gerade  diese  Gestaltung  der  Welt  hervorbringt? 
Und  worauf  läuft  das  Streben  des  Willens  schließlich  hinaus  ?  Scho- 
penhauer wußte  keine  andere  Stellung  zum  Willen  zu  finden  als 
die,  daß  er  den  Willen  verwünscht,  und  daß  er  eine  Ertötung, 
eine  Selbstvernichtung  des  Willens  fordert.  Ihm  ist  die  Welt 
ein  einziger  furchtbarer  Fluch,  der  nur  das  einzige  Ziel  kennen 
sollte,  sich  durch  Selbstentsagung  aufzuheben  und  so  zu  ent- 
sühnen. Offenbar  kann  dies  nicht  das  letzte  Wort  des  Menschen 
gegenüber  der  Welt  des  Willens  sein.  Wir  werden  den  furcht- 
baren Eindruck  überwinden  müssen,  dem  Schopenhauer  im 
ersten  Schrecken  erlag.  Vielleicht  daß  wir  durch  eine  genauere 
Bestimmung  des  Willens  wieder  ein  vertrauensvolleres  Ver- 
hältnis zum  Leben  gewinnen,  indem  der  Wille  uns  nicht  als 
Fluch,  wenigstens  nicht  notwendig  als  Fluch,  sondern  auch 
als  Segen  erscheint,  daß  wir  das  durch  Schopenhauer  zerris- 
sene Band  zum  Dasein  wieder  anknüpfen  können.  Eine  ge- 
nauere Erkenntnis  des  Willens  enthüllt  uns  den  Willen,  in 
dem  wir  alles  Grausen  erblicken  sollten,  vielleicht  als  eine  Quelle 
unermeßlichen  Glückes. 

Nietzsche  hat  als  erster  den  Versuch  gemacht,  durch  nähere 
Bestimmung  des  Willens  diesen  des  öden  und  unfruchtbaren 
Charakters,  den  ihm  Schopenhauer  zusprach,  zu  entkleiden. 
Wie  mir  scheint,  nicht  mit  vollem  Erfolge.  Indem  Nietzsche 
seinen  Blick  auf  die  einzelne  Lebenserscheinung,  auf  die  ver- 
schiedenen Individuen,  Gruppen  und  Gattungen  richtet,  bemerkt 
er,  daß  sich  das  Machtverhältnis  unter  diesen  begrenzten  Lebens- 
formen ständig  verschiebt.  Jedes  Wesen  trachtet  nach  einer 
größeren  Ausdehnung  seines  Machtbereiches  zu  Ungunsten  der 
andern.  Jedes  Wesen  will  sich  zwischen  die  es  umgebenden 
Wesen   mit  seinen  Machtansprüchen   hindurchwinden   und   sich 


324 


Die  künftige  Religion.    III. 


womöglich  über  sie  erheben.  Jedes  Wesen  will  möglichst  viel 
von  seiner  Umgebung,  von  allem,  was  in  seinen  Bereich  kommt, 
in  seinen  Dienst  nehmen,  es  sich  unterwerfen  und  nutzbar 
machen.  ,, Wille  zur  Macht"  sagt  Nietzsche,  ist  es,  was  alles 
Seiende  erfüllt  und  beherrscht.  So  sucht  Nietzsche  den  Willen 
Schopenhauers  durch  die  nähere  Bestimmung  seines  Zieles,  seines 
inneren  Charakters  und  Wesens  zu  ergänzen  und  auszugestalten. 
Nicht  nur  Wille  zum  Leben,  wie  Schopenhauer  ganz  allgemein 
und  unbestimmt  gesagt  hatte,  sondern  Wille  zur  Macht,  zum 
Mehr-Leben,  zum  Über-  andere-hinweg-Leben  —  das  sei  die  all- 
gemeinste Lebenserscheinung.  Durch  diesen  Willen  zur  Macht, 
der  alles  beherrscht,  entstehe  der  große  Kampf  des  Lebens,  und 
durch  diesen  Kampf  entwickle  sich  das  Leben  durch  stetige 
Überwindung  des  Schwächeren  durch  das  Stärkere  in  aufsteigen- 
der Linie.  Und  diese  Entwicklung  sei  noch  nicht  abgeschlossen, 
sondern  lasse  auch  für  die  Zukunft  noch  viel  erhoffen.  Und 
dieser  Ausblick  gebe  dem  Menschen  den  freudigen  Glauben,  die 
Zuversicht  zum  Leben  und  ganzen  Dasein  zurück. 

Ich  kann  diese  Lösung  nicht  für  genügend  ansehen.  Der 
Mensch  kann  nicht  nur  von  der  Zukunftshoffnung  leben.  Soll 
der  Wille  Wert  haben,  so  muß  er  in  jedem  Augenblicke  Wert 
haben.  Dann  darf  nicht  nur  das  Ergebnis,  und  gar  noch  ein  in 
der  Ferne  verschwimmendes  Ergebnis  des  Willens  dessen  letztes 
Ziel  sein.  Er  darf  nicht  nur  von  seinem  letzten  Ergebnis  seinen 
Wert  entleihen.  In  jedem  Augenblick,  auf  jeder  Stufe  muß  der 
Wille  zu  bejahen  sein.  Sein  Charakter,  seine  tiefste  Art  muß 
zugleich  seine  unmittelbare  und  überzeugende  Rechtfertigung 
sein.  Alles  Lebende  und  Seiende  muß  zu  jeder  Stunde  ein  lautes 
oder  stummes  Loblied  anstimmen  können  auf  die  Art  alles  Seins, 
auf  das  Ursein  des  Willens,  wie  es  sich  zu  jeder  Zeit,  in  jedem 
Wesen  offenbart.  Der  Wille  muß  sich  kraft  seines  Wesens  in 
ewiger  Selbstbeglücktheit  wiegen.  Wie  und  was  er  auch  will, 
an  welcher  Stelle  des  Daseins  er  auch  hervorbricht  und  seine 
Flügel  regt,  immer  muß  er  sich  selbst  die  Quelle  höchster 
Wonne  sein,  wenigstens  sein  können.  Oder  der  Wille  muß 
wirklich,  wie  Schopenhauer  es  meinte,  dort,  wo  er  zu  seinem 
Bewußtsein  kommt,  wo  er  sich  selber  und  seine  Art  begreift, 


325 


Zweiter  Teil. 


beim  Menschen,  in  einen  ewigen,  sich  selbst  verdammenden 
Fluch  ausbrechen  und  diesem  Fluche  folgend  und  gehorchend 
sich  selbst  vernichten,  sich  selber  absterben  und  so  die  ungeheure 
Tragödie  des  Daseins  enden.  Kann  aber  der  Wille  als  Wille  zur 
Macht  sich  wirklich  freudig  bejahen?  Kann  das  Sein  sich 
selber  gutheißen,  wenn  es  ewiger  Kampf,  wenn  gegenseitige 
Vernichtung  und  Knechtung  sein  einziges  Merkmal  ist?  Bei 
Schopenhauer  war  der  Wille  öde  und  sinnlos.  Es  grauste  Scho- 
penhauer vor  diesem  unfruchtbaren  Willen,  der  ohne  Folge  und 
Ziel  in  unablässiger  Bewegung  nach  Art  der  Danaiden  immer 
nur  will  und  strebt  und  wieder  will  und  strebt.  Durch  Nietzsche 
aber  wird  der  Wille,  dadurch  daß  er  Wille  zur  Macht  wird,  ein 
furchtbar  mörderisches,  entsetzensvolles  Spiel.  Freilich  läßt 
Nietzsche  als  letzten  Erfolg  dieses  Kampfes  ein  leuchtendes  Bild 
als  Siegeszeichen  aufglänzen,  ein  berauschendes  Sein,  ein  nie 
geahntes  Wunder.  Aber  niemand  von  heute  und  ehedem  findet 
zu  dieser  Insel  der  Seligen  Zugang.  Alles,  was  war  und  ist, 
bleibt  ein  ewiges  Sich-selbst-Zerfleischen,  Sich-selbst-Unterjochen 
und  -Quälen.  Die  Welt  Schopenhauers  wird  hierdurch  nicht 
erlöst;  ein  Unheil  wird  mit  dem  andern  vertauscht.  Der  Mensch 
kann  nicht  liebend  und  segnend  zur  Welt  stehen.  Ihn  lähmt 
der  immer  gleiche  Schauder  vorm  Dasein. 

Auch  Nietzsche  kann  uns  nicht  als  Abschluß  unserer  meta- 
physischen Spekulation  gelten.  Wir  werden  von  neuem  eine 
Prüfung  des  Willens  vornehmen  müssen,  um  zu  einer  genaueren 
Bestimmung  seines  Wesens  zu  gelangen,  die  überzeugender, 
fruchtbarer  und  vielleicht  auch  beglückender  ist. 

Ist  es  wirklich  die  Macht,  die  die  einzelnen  Wesen  begehren, 
wie  Nietzsche  glaubt?  Ist  Wille  zur  Macht  das  Beherrschende, 
das  eigentlich  und  letzthin  Treibende,  das  die  einzelnen  Wesen, 
lebendige  und  unlebendige,  beherrscht?  Sehen  sie  es  nur  darauf 
ab,  andere  Wesen  unter  sich  zu  zwingen,  sich  dienstbar  zu 
machen?  Ist  hiermit  wirklich  der  Kern  ihres  Strebens  und  ihrer 
Regsamkeit  bezeichnet?  Wie  Nietzsche  es  an  der  wichtigen 
Stelle,  wo  er  den  Willen  zur  Macht  im  Zarathustra  einführt, 
ausdrückt:  ,,Wo  ich  Lebendiges  fand,  da  fand  ich  Willen  zur 
Macht;  und  noch  im  Willen  des  Dienenden  fand  ich  den  Willen 


326 


Die  künftige  Religion.    III, 


Herr  zu  sein.  Daß  dem  Stärkeren  diene  das  Schwächere,  dazu 
überredet  es  sein  Wille,  der  über  noch  Schwächeres 
Herrseinwill:dieserLustalleinmagesnicht 
entraten."!  Ist  das  wirklich  der  Fall?  Mir  will  scheinen, 
als  ob  die  Macht  über  andere,  die  nähere  oder  fernere  Um- 
gebung die  unwillkürliche,  notwendige  Folge  des  Willens  und 
seiner  Betätigung  sei,  das  unvermeidliche  Ergebnis  seiner  Wirk- 
samkeit, aber  nicht  eigentlich  sein  Inhalt,  sein  unmittelbarer 
Zweck.  Man  muß  hier  scharf  unterscheiden.  Was  will  der  Wille? 
Ich  meine,  der  Wille  will  nur  sich,  nur  seine  Entfaltung,  seine 
Entfesselung,  seine  Befreiung.  Er  kann  diese  nicht  anders  er- 
langen als  so,  daß  er  auf  die  Umgebung  zugeht,  daß  er  ergreift, 
was  sich  ihm  darbietet,  daß  er  die  Umgebung  sich  Untertan 
macht,  irgendwie  in  seinen  Bereich  einbezieht,  an  sich 
kettet.  Aber  alles  dies  muß  der  Wille  notwendig  tun, 
wenn  er  nicht  ruhen  will.  Und  ruhen  kann  und  will  der 
Wille  nicht.  Er  ist  ununterbrochene  Bewegung.  Er  drängt, 
er  quillt,  er  strebt.  Wenn  er  strebt  und  sucht,  so  bedarf 
er  der  Zielpunkte,  der  Gegenstände,  die  er  erstrebt,  die  er  an  sich 
reißt.  Er  bedarf  irgendetwas,  an  das  er  sich  anknüpft.  Aber 
die  Macht,  die  er  dadurch  über  seine  Umwelt  erlangt,  war  nicht 
sein  eigentliches  und  erstes  Ziel,  sein  ursprünglicher  Zweck, 
sie  ist  die  unumgängliche  Folge  seines  Tätigseins.  Wirkt  der 
Wille,  wirkt  er  sich  aus,  so  erlangt  er  Macht.  Aber  er  will 
und  muß  nur  sich  auswirken.  Der  Wille  bestimmt  und  gestaltet 
sich  nicht  in  Rücksicht  auf  Anderes,  Fremdes.  Dies  Andere, 
Fremde,  das  an  ihn  herantritt,  ist  nur  etwas  Zweites,  Hinzu- 
gekommenes. Der  Wille  lebt  nur  von  sich,  von  seinem  un- 
mittelbaren, ihm  eingeborenen  Bedürfnis  aus;  nach  seinem 
eigenen  Wesen  und  Sein  gestaltet  er  sich.  Betrachten  wir 
den  Baum  im  Walde.  Er  ringt  alles  nieder,  was  ihn  umgibt. 
Aber  w  i  1  1  er  alles  dies  niederringen?  Ist  dies  sein  eigentliches, 
letztes  Ziel?  Oder  will  der  Baum  nicht  bloß  zum  Lichte,  zur 
Höhe  kommen?  Ist  das  Niederkämpfen  der  anderen  Gewächse 
und  Bäume  nicht  nur  das  Mittel  dieses  Höherwollens?     Und  das 


1)  Von  mir  gesperrt. 


Zweiter  Teil. 

Gleiche  ist  es  überall,    selbst    in    dem  Verhältnis    der    größeren 
menschlichen      Gruppen      untereinander,      in     dem      gegensei- 
tigen   Kampfe    der    Völker,    wo    doch    der    Wille    zur     Macht 
recht  eigentlich  zu  Hause  zu  sein  scheint.    Will  um  der  Herrsch- 
sucht willen  ein  Volk  dem  andern  seinen  Willen  aufzwingen? 
Will  es  dem  andern  nur  den  Fuß  auf  den  Nacken  setzen?     Oder 
ist  es  nicht  vielmehr  so,  daß  ein  Volk  in  sich  eine  gewisse  Fülle  von 
Leben,  Wille,  Tätigkeit,  Triebkraft  birgt,  die  sich  um  jeden  Preis 
entladen  will,  und  deshalb,  sich  ausdehnend  und  entfaltend,  hier- 
bei  aber  auf   den   gleichen  Willen,   das   gleiche   Bedürfnis  der 
anderen  Völker  stoßend,  sich  notwendig  in  Gegensatz  und  schließ- 
lich in  Kampf  mit  diesen  verwickelt?    Die  Spannung  eines  Volks- 
willens, der  wächst  und  quillt  wie  eine  Pflanze,  löst  sich  plötzlich 
aus  und  losgebunden  muß  dieser  Volkswille  vergewaltigen,  was 
sich  ihm  hemmend  entgegenstellt.     Aber  diese  Vergewaltigung 
ist  selbst  hier  nur  Mittel  zum  Zweck,  zum  Zweck  der  eigenen 
Freiheit,  des  ungehemmten  Wirkens.     Nietzsche  versteht  unter 
Wille  zur   Macht  offenbar  auch  diesen  schöpferischen  Willen, 
der  durch  sich  selbst  unwiderstehlich  getrieben  nach  außen  greift, 
nur  um  sich  zu  befreien  und  auszulösen.    Aber  es  spielt  in  seinen 
Ausdruck   doch   immer   zugleich   auch   jene   andere   Bedeutung 
hinein,  daß  der  Wille  sich  anderes  unterjochen  will,  und  zwar 
nur,  u  m  es  sich  zu  unterjochen,  worin  meiner  Ansicht  nach 
nur  etwas  Zweites,  Nachträgliches,  Sekundäres  erblickt  werden 
kann.     Deshalb  können  wir  nicht  den  Willen  zur  Macht  als  die 
entscheidende   und   grundlegende    Erscheinung   alles    Seins   an- 
erkennen, als  dessen  Grundzug  und  innerste  Charaktereigenschaft. 
Sondern  der  Wille  bleibt  in  seinen  eigenen  Grenzen.    Er  hat  sein 
letztes  Ziel  nicht  außer  sich,  sondern  in  sich.     Alles  Äußere  ist 
für  ihn  nur  Mittel,   Anknüpfungspunkt,  Vehikel  der   Selbstent- 
faltung,  Selbstentladung. 

Aber  offenbar  ist  hiermit  nur  ein  äußeres,  formales  Merkmal 
des  Willens  bezeichnet,  daß  sein  letztes  Ziel  in  seiner  eigenen 
Sphäre  liegt,  daß  er  den  Umweg  über  die  Außenwelt  nur  nimmt, 
um  zu  seinem  eigenen  Selbstgenuß  zu  gelangen.  Aber  was  will 
nun  der  Wille  mit  sich  selbst,  was  ist  das  eigentliche  Ziel,  das 
er  in  seinem  eigenen  Machtbereiche  sucht?    Ich  meine,  der  Wille 

328 


Die  künftige  Religion.    III. 


will  sich  gestalten,  sich  zur  Form  bilden.  Der  Wille 
findet  sich  nicht  als  eine  immer  gleiche,  unveränderliche  Einheit 
vor.  Er  hat  in  sich  mannigfache,  wechselnde  Zustände.  Diese 
Zustände  will  er  in  eine  Ordnung,  in  einen  Rhythmus  bringen. 
Jeder  Wille  tritt  zunächst  in  dem  Zustande  einer  verhältnis- 
mäßigen Unform,  eines  Chaos  auf,  eines  Durcheinander  mannig- 
faltiger, vielfach  sich  kreuzender  und  hemmender  Begehrungen. 
In  diese  Wirrnis  will  der  Wille  Einheit,  Klarheit,  Folge  bringen. 
Er  will  sich  selber  in  seinen  einzelnen  Äußerungen  gliedern, 
aufbauen.  Jeder  Wille  stellt  die  Aufgabe  einer  Ent- 
wicklung dar.  Diese  Entwicklung,  die  von  jedem  Willen 
gefordert  wird,  oder  die  jeder  Wille  von  sich  selber  fordert,  die 
eben  jeder  Wille  will,  ist  die,  daß  er  seine  Vielfachheit  in  eine 
Einheit  bannt,  daß  er  seine  Elemente,  seine  einzelnen  Äußerungen 
in  ein  System  bringt,  daß  er  nicht  bald  dies  bald  jenes  will,  sondern 
daß  er  seine  einzelnen  Strebungen  miteinander  in  Beziehung 
setzt,  verknüpft,  sie  auf  ein  einiges  gemeinsames  Band  reiht, 
sie  gleichsam  zu  einer  Melodie  vereint,  wo  das  erste  und  letzte 
zusammen  gehört,  wo  kein  Glied,  keine  einzelne  Strebung  heraus- 
genommen werden  kann,  sondern  alles  in  ein  unlösliches,  be- 
ständiges, gleichmäßiges  Gefüge  gehört.  Wo  immer  nur  Wille 
auftritt,  tritt  dieser  nicht  als  ein  eindeutiger,  völlig  bestimmter, 
geschlossener,  unerschütterlicher  Wille  auf,  wenigstens  nicht 
von  vornherein,  sondern  alles  dies  soll  der  Wille  erst  werden, 
w  i  1 1  er  erst  werden.  Jeder  Wille  unterliegt  der  Gefahr  zerrissen 
zu  werden.  Er  sieht  sich  umringt  von  unzähligen  Reizen,  die 
ihn  bald  dahin,  bald  dorthin  lenken.  Gegen  diese  Fülle  muß 
sich  der  Wille  behaupten.  Dies  kann  er  nur  so,  daß  er  seine 
einzelnen  Strebungen  in  Zucht  nimmt,  daß  er  sie  zu  einer  ge- 
schlossenen Einheit,  einem  festen  systematischen  Zusammen- 
hang gliedert,  damit  sie  nicht  verflattern,  damit  der  ganze  in 
dieser  Einheit  in  die  Erscheinung  getretene  Wille  zur  Hebung 
kommt,  damit  alles  Stärkste,  Tiefste,  die  ganze  Wucht  dieses 
Willens  zur  Entladung,  zum  Ausbruch  kommt.  Nur  durch 
Sammlung,  Konzentration,  Gliederung,  Ordnung,  Organisation 
kann  der  Wille  zu  seiner  vollen  Äußerung  kommen,  kann  er 
ganz  in  die  Erscheinung  treten,   kann  er  sich  voll  erschöpfen. 

Horneffer,  Das  klassische  Ideal.       32Q  2' 


Zweiter  Teil. 


Deshalb  sucht  er  nach  einer  Form  für  sich,  gleichsam  nach  einem 
Stil  für  sich.  Der  Wille  will  sich  selbst,  indem  er  seine  Form, 
seine  Ordnung,  Gliederung,  Schönheit  will.  Der  Wille  ist  an 
sich  selber  schöpferisch.  Er  ist  sich  selbst  als  Aufgabe  gestellt, 
sich  selbst  zu  formen,  zu  bauen.  Als  letzten  Zug  an  den  Erschei- 
nungen möchte  ich  deshalb  den  ,, Willen  zur  Form"  feststellen, 
einen  schöpferischen  Willen  zur  Form,  der  eine  äußerlich  vor- 
handene Einheit  zu  einer  Innern  Einheit  umschaffen  will.  Nicht 
Wille  zum  Leben,  auch  nicht  Wille  zur  Macht  scheint  mir  das 
letzt  Gegebene  zu  sein,  sondern  Wille  zur  Form,  ein  schöpferischer 
Wille  zur  Gestaltung,  der  das  Chaos  des  Willens,  seine  Zerrissen- 
heit zu  einer   Einheit  führen  will^). 

Wie  bildet  sich  der  Mensch?  Welches  ist  die  allgemeinste 
Form  der  geistigen  Entwicklung  des  Menschen?  Ich  glaube 
die  Entwicklung  des  Menschen  vollzieht  sich  so,  daß  der  einzelne 
aus  der  Verschwommenheit  zur  Klarheit  strebt.  Ein  unruhiges 
und  wechselndes  Durcheinander  ist  zunächst  jedes  Individuum, 
ein  Knäuel  sich  drängender  und  gegenseitig  störender  Strebungen. 
Das  sich  normal  entwickelnde  Individuum,  der  Mensch,  der  zur 
Reife  kommt,  bringt  in  diese   Unruhe  Ordnung  und  Übersicht. 


1  Diese  und  die  folgenden  Betrachtungen  sind  nicht  ohne  An- 
regung der  bedeutsamen  kleinen  Schrift  von  Felix  Krueger  ent- 
standen: ,,Der  Begriff  des  absolut  Wertvollen  als  Grundbegriff  der 
Moralphilosophie".  Leipzig  (Teubner)  1898.  Meine  Gedanken  bewegten 
sich  in  ganz  ähnlicher  Richtung,  wie  ich  sie  hier  ausgesprochen  fand. 
Aber  wie  ich  von  Nietzsche  ausgegangen  bin,  so  sind  auch,  glaube  ich, 
die  Gedanken  bei  Krueger  nicht  ohne  entscheidende  Anregung  Nietzsches 
entstanden,  obschon  sie  der  Form  nach  an  Kant  angeschlossen  sind. 
Diese  Gedanken  scheinen  mir  in  der  direkten  Konsequenz  Nietzsches 
zu  liegen.  Nietzsches  Wille  zur  Macht  ist  eine  Tautologie.  —  Auch 
die  Übertragung  dieser  Gedanken  ins  Metaphysische,  wie  ich  sie  hier 
vortrage,  ist  wohl  zum  Teil  durch  den  Gedankenaustausch  im  münd- 
lichen Verkehr  mit  Krueger  hervorgerufen.  Für  die  nähere  Durch- 
führung aber  dieses  Gedankens,  vor  allem  für  seine  Verknüpfung  mit 
dem  Dualismus,  zu  dem  ich  mich  v/eiter  unten  bekennen  werde, 
und  für  die  religiöse  Ausnützung  dieses  Gedankens  bin  ich  allein  ver- 
antwortlich. Ich  hebe  dies  hervor,  damit  man  diese  bedenklichen  Kühn- 
heiten nicht  meinem  Freunde  Krueger,  nachdem  ich  ihn  hier  erwähnt 
habe,  mit  zur  Last  legt. 


Die  künftige  Religion.    III. 


Er  erhebt  einige  seiner  Strebungen  zu  den  herrschenden,  grund- 
legenden, um  die  er  alle  anderen  mit  näherer  oder  fernerer  Be- 
ziehung gruppiert.  So  verwandelt  er  die  Verwirrung  seiner  noch 
unbestimmten  Jugend,  wo  ihn  alles,  was  an  ihn  herantrat,  mit 
mehr  oder  weniger  gleicher  Kraft  anzog,  wo  er  gleichmäßig  und 
ohne  Wahl  ergriff,  was  ihm  begegnete,  in  die  Sicherheit  einer 
bestimmten  und  stetigen  Ordnung  der  Seele.  So  entwickelt  sich 
der  Mensch  zum  Charakter.  Charakter  hat  derjenige, 
welcher  seiner  Seele  durch  eine  bestimmte  Form  Festigkeit  ge- 
geben hat,  der  gewisse  Strebungen  seines  Innern,  die  sonst  flüchtig 
auftauchten  und  wieder  vergingen,  zu  regelmäßigen  und  dauern- 
den gemacht  hat,  die  nun  seiner  Seele  einen  sicheren  Halt 
geben,  gleichsam  einen  granitnen  Block  bilden  in  dem  allzeit 
der  Gefahr  der  Zerfahrenheit,  dem  Chaos  ausgesetzten  Willen. 
Der  Mensch  soll  einiges  von  seinen  Willensrichtungen,  seinen 
Anlagen  zur  bestimmenden  Herrschaft  bringen,  anderes  soll  er 
ausscheiden  oder  zurücktreten  lassen,  jenen  ersteren  für  ihn  be- 
deutsameren Bestrebungen  unterordnen,  und  so  eine  klare, 
geordnete,  übersichtliche  Seele  werden.  Zunächst  ergreift  die 
menschliche  Seele  alles.  Aber  da  sie  alles  ergreift,  hält  sie  nichts 
fest,  sondern  spielt  gleichsam  nur  mit  den  Dingen.  Sie  soll  wäh- 
lend, richtend,  schätzend  den  Dingen  gegenübertreten  und  nur 
das  ihrem  Wesen  und  Zweck  Gemäße  sich  aneignen.  Das  höchste 
Lob,  das  wir  einem  Menschen  spenden,  ist  dies,  daß  wir  ihn  einen 
Charakter  nennen.  Und  den  schlimmsten  Tadel  sprechen  wir 
aus,  wenn  wir  jemand  den  Charakter  absprechen.  Der  eine  hat 
erfüllt,  was  er  erfüllen  sollte.  Der  andere  ist  seine  wichtigste 
Aufgabe  schuldig  geblieben.  Der  Mensch  soll  eben  —  diese 
Forderung  stellen  wir  an  ihn  und  sie  wird  auch  im  allgemeinen 
erfüllt  —  jeder  soll  das  Schwankende  seiner  Seele  überwinden 
und  etwas  Stetiges,  Festes  werden.  Er  soll  mit  einem  Wort 
,,Form"  erlangen.  Nur  durch  die  ,,Form",  die  Ordnung,  die  er 
seinem  Innern  gibt,  bringt  der  Mensch  den  ganzen  Reichtum 
seines  Willens,  die  ganze  Fülle  und  Kraft  seines  Innern  zum 
Ausdruck,  verhilft  er  seinem  Willen  zur  vollen  Betätigung  und 
Entladung.  Ohne  diese  Form,  diesen  Gestaltungswillen,  diesen 
Trieb  zum  Charakter  zergeht  und  verflüchtigt  sich  der  Wille  und 


331 


Zweiter  Teil. 


gibt  so  sich  selber,  seinen  eigentlichen  Sinn  preis.  Er  erlangt  nicht 
seine  Erfüllung,  seine  volle  Entfaltung  und  Befreiung.  Nur  durch 
sorgfältige  und  unablässige  Arbeit  an  sich  selber  gelangt  der 
Mensch  zu  seiner  vollen  Reife.  Diese  Arbeit  aber  besteht  darin, 
daß  er  seinem  Willen  einheitliche  Gestaltung  leiht.  Alle  Ent- 
wicklung des  Menschen  ist  Charakter-Entwicklung.  Nur  durch 
die  Form,  durch  die  Gestaltungskraft,  die  er  an  sich  selber  übt, 
erlöst  sich  der  Mensch,  erfüllt  er  seine  Bestimmung,  kommt  er 
zu  seinem  Ziele. 

In  diesem  Bilde  aber  der  Entwicklung  des 
Menschen  sehe  ich  das  Bild  der  ganzen  Welt. 
Wir  sind  gewöhnt  zu  glauben,  daß  die  Welt  der  chemischen 
Elemente,  der  unorganischen  Körper  etwas  Beständiges  sei. 
Ihre  immer  gleiche  Art  und  Wirkungsweise,  die  sie  in  unserer 
Erfahrung  aufweisen,  legt  den  Gedanken  ihrer  unbedingten  und 
vollständigen  Unveränderlichkeit  nahe.  Ist  die  organische  Welt 
werdend  und  wechselnd,  so  erscheint  die  unorganische  gleich- 
mäßig und  dauernd.  Wir  haben  hierüber  anders  zu  denken  ge- 
lernt. Die  Naturwissenschaft,  die  die  Geisteswissenschaften  sich 
schon  kühn  zu  unterjochen  vermaß,  die  ihre  Methoden  und 
Auffassungsweisen  den  Geisteswissenschaften  schon  aufzu- 
zwingen gedachte,  hat  umgekehrt  die  denkbar  tiefste  Einwirkung 
der  Geisteswissenschaften  erfahren.  Auch  in  der  Natur  erblickt 
man  jetzt  nur  noch  Entwicklung.  Und  diese  Betrachtungsart 
hat  sogar  auch  die  unorganische  Natur  ergriffen.  Auch  alle 
Körper  der  Natur,  die  uns  so  fest  und  unveränderlich  dünken, 
sind  erst  geworden.  Sie  alle  haben  wie  die  organischen  Gebilde 
ihre  ganz  bestimmte  Geschichte  und  Lebensdauer,  wenn  auch 
von  anderer  Art  als  die  organische  Materie.  Und  auch  in  dieser 
Entwicklung  der  unorganischen  Materie,  die  sich  noch  immerfort, 
nur  in  den  kleinsten  Phasen,  vollzieht,  hat  es  viel  Kampf,  viel 
Werden  und  Sterben  gegeben.  Wie  man  von  ausgestorbenen 
Arten  in  der  organischen  Natur  spricht,  muß  man  wahrscheinlich 
auch  von  ausgestorbenen  Arten  der  unorganischen  Materie 
sprechen.  Die  einzelnen  Elemente  und  deren  Zusammenset- 
zungen entstehen  und  vergehen  nicht  anders,  als  die  im  allge- 
meinen   sehr   viel  kurzlebigeren   organischen  vor  unsern  Augen 


332 


Die  künftige  Religion.   III. 


werden  und  vergehen.  Und  wie  die  einzelnen  Stoffe  ihre  Ent- 
wicklung und  Lebensgeschichte  haben,  so  hat  auch  die  unorga- 
nische Welt  in  ihrer  Gesamtheit  ihre  Entwicklung,  ihre  Lebens- 
geschichte. Sie  ist  das  späte  Produkt  einer  ungeheuren  Arbeit. 
Aber  worin  hat  nun  diese  Arbeit  bestanden?  Welcher  Art 
war  diese  Entwicklung?  Wir  halten  an  der  Auffassung 
fest,  daß  das  Allgemeinste  und  Fundamentalste  aller  Lebens- 
erscheinungen der  Wille  ist.  So  werden  wir  auch  in  der 
Entstehung  und  Entwicklung  der  uns  so  fremdartigen 
unorganischen  Natur  eine  Willensentwicklung  sehen.  Nun  wir 
wissen,  daß  auch  diese  Welt  geworden  ist,  ist  sie  uns,  die  wir  uns 
immerfort  in  Bewegung  befinden,  auch  nicht  mehr  so  fremd, 
so  gänzlich  tot.  Sie  ist  uns  trotz  ihrer  scheinbaren  Starrheit  auf 
einmal  lebendig  geworden.  Ist  aber  auch  die  unorganische  Welt 
eine  Entwicklung  des  Willens,  dann  wird  diese  Entwicklung  auch 
ihrer  Art  nach  ähnlich  unserer  eigenen  Willensentwicklung  sein. 
Aus  formlosem,  unbestimmtem,  chaotischem  Zustande  entwickelt 
sich  bei  uns  der  Wille.  ErstrebtnacheinerF  o  r  m  für  sich.  Nur 
so  kann  er  sich  erlösen,  kann  er  sich  selber  finden,  kann  er 
werden.  Und  so  auch  schon  in  den  untersten,  einfachsten 
Graden  der  Natur.  Auch  die  scheinbar  so  rohe,  plumpe,  einfache 
Welt  des  Unorganischen  ist  schon  eine  Form  des  Willens, 
eine  Gestaltung,  eine  Gliederung  und  Organisation  des  Willens, 
durch  die  er  sich  zu  befreien,  sich  zu  entfalten  sucht.  Vor  der 
uns  bekannten  einfachsten  Form  der  Natur  müssen  wir  eine  uns 
nicht  näher  vorstellbare  Unform  des  Willens  annehmen,  einen 
Willen  im  Zustande  des  Chaos,  des  innern  Widerspruchs,  der 
Zerklüftung.  Dieser  chaotische  Wille  aber,  der  an  seinem  Zu- 
stande leidet,  strebt  nach  seiner  Befreiung.  Er  will  sich  seiner 
Fülle,  seines  Wesens  bewußt  werden,  er  will  er  selbst  werden. 
Dazu  muß  er  Ordnung  in  seine  Verwirrung  bringen,  dazu  muß 
er  sich  organisieren,  sich  schaffen.  Und  zu  dieser  ,,Form"  des 
Willens,  dieser  seiner  Selbstgestaltung  ist  die  Welt  des  Unorga- 
nischen der  erste  Schritt.  Hier  ist  eine  gewisse  Form  erreicht. 
Es  wogt  nicht  mehr,  wie  wohl  in  dem  überwundenen  Zustande 
vorher,  alles  durch  und  gegeneinander.  Es  sind  bestimmte  Ver- 
wandtschaften, Zugehörigkeiten  gebildet.  Eine  gewisse  Gliederung, 


333 


Zweiter  Teil. 


eine  gewisse  Gruppierung  wenigstens  der  Willenselemente  ist 
eingetreten.  Aber  es  ist  doch  noch  eine  sehr  einfache  Ordnung, 
die  hier  der  Wille  errungen  hat.  Es  ist  nur  der  erste  Schritt  zu 
einer  Form.  Dem  Ganzen  fehlt  das  System,  die  gegliederte  Ein- 
heit, wo  alles  verschieden  und  in  sich  bestimmt,  doch  zu  einem 
einzigen  obersten  Zwecke  zusammenwirkt.  Die  Welt  des  Un- 
organischen ist  gleichsam  nur  gruppiert,  nicht  gebaut.  Jede 
einzelne  Erscheinung  ist  beliebig  teilbar,  ohne  ihr  Wesen  zu  ver- 
lieren. Es  ist  nicht  ein  Individuum,  das  eine  in  sich  notwendige 
feste  Einheit  bildet.  Und  so  auch  im  ganzen.  Die  unorganische 
Welt  als  eine  Einheit  gedacht  ist  ein  Nebeneinander  von  Teilen, 
die  zwar  aufeinander  wirkend,  sich  gegenseitig  bedingen  und 
bestimmen.  Aber  das  eine  ist  für  die  Ordnung  des  Ganzen  so 
bedeutungsvoll  oder  so  bedeutungslos  wie  das  andere.  Jedes 
könnte  seinen  Platz  wechseln,  ohne  daß  das  Ganze  einen  Abbruch 
erlitte.  Die  Form,  die  Gestaltungskraft  des  Willens  hat  erst  eine 
gewisse  Stufe  erreicht. 

Der  Wille  konnte  hier  nicht  Halt  machen.  Die  nächste  Stufe 
war  das  Organische.  Hiermit  erreichte  der  Wille  die  Fähigkeit 
zum  System.  Wir  sprechen  von  einem  System,  wenn  eine 
Mannigfaltigkeit  vieler  einzelner  Dinge  in  ein  einheitliches  Ganzes 
gebracht  ist,  derart,  daß  jeder  Teil  den  andern  trägt  und  voraus- 
setzt, daß  kein  Teil  durch  die  andern  ersetzt  werden  kann,  daß 
jeder  Teil  in  unmittelbarer  Beziehung  auf  die  Gesamtwirkung, 
die  Existenz  und  Betätigung  des  Ganzen  bestimmt  und  gebaut 
ist.  Das  bloße  Nebeneinander  von  Teilen,  die  beliebig  unter  sich 
vertauschbar  sind,  muß  sich  verwandeln  in  ein  gegenseitiges  Für- 
einander. Die  Selbständigkeit  der  Teile  muß  zugunsten  der 
größeren  Selbständigkeit,  der  vollen  Entfaltung  des  Ganzen  ge- 
opfert werden.  Es  werden  nicht  von  allen  Teilen  alle  Lasten 
gleich  getragen.  Sondern  die  Aufgaben,  die  das  Ganze  zu  er- 
füllen hat,  werden  angemessen  verteilt.  Für  jede  bestimmte 
Notwendigkeit  des  Ganzen  bildet  sich  ein  einzelner  Teil  aus. 
So  erhält  das  Ganze  seine  höchste  Durchschlagskraft,  bringt  es 
ganz  zur  Hebung  und  Entfaltung,  was  in  ihm  für  Möglichkeiten 
ruhen.  Bei  der  systemlosen  Ordnung,  wo  alle  Teile  in  gleicher 
Weise  wirken,   bleibt  ein  ungeheurer  Bruchteil  der  Kraft  unge- 


334 


Die  künftige  Religion.    III. 


hoben;  der  Wille,  der  in  dem  Ganzen  lebt,  bleibt  verzettelt, 
verstreut,  geteilt.  Dieser  Wille  will  sich  sammeln.  Dazu  schafft 
er  sich  das  System.  Wie  entsteht  ein  System?  Wie  kann  aus 
dem  gleichgültigen  Nebeneinander  ein  so  gegenseitig  interessiertes, 
gegenseitig  wertvolles  Füreinander  werden?  Dies  ist  nur  so 
möglich,  daß  e  i  n  Teil,  ein  bestimmtes  Glied  des  Ganzen  die 
Oberhand  gewinnt  und  ein  Zentrum  bildet,  daß  es  alle  andern 
Teile  auf  sich  hin,  indem  es  sich  als  die  Idee,  den  letzten  Zweck 
des  Ganzen  auffaßt,  gestaltet  und  umbildet.  Es  betrachtet  alles 
bis  dahin  ihm  Nebengeordnete  als  ein  ihm  dienendes  Untergeord- 
netes, das  für  seine  Zwecke  mitzuwirken  hat.  Auf  diese  Weise 
organisiert  ein  Zentrum,  ein  Kernpunkt  das  Ganze,  bis  es  um- 
geschaffen ist  zu  einer  einheitlichen  Form  und  Wirkung,  während 
alles  einzelne  seine  Form  gewechselt  und  zu  einer  für  das  Ganze 
zweckmäßigen  und  bedeutsamen  Art  bestimmt,  differenziert  hat. 
Nur  durch  Über-  und  Unterordnung  kann  ein  System  entstehen, 
so  nur,  daß  ein  gewisser  Teil  einer  Willenssammlung,  wenn  ich 
so  sagen  darf,  einer  loseren  Häufung  von  Willenselementen, 
die  anderen  sich  eingliedert,  sich  Untertan  macht.  Dies  ist 
offenbar  der  Grund  gewesen,  der  Nietzsche  veranlaßt  hat,  in  dem 
Willen  zur  Macht  das  Allgemeinste  des  Lebens  zu  sehen.  Nicht 
ohne  Grund  fand  Nietzsche  überall  Befehlendes  und  Gehorchendes. 
Aber  diese  Erscheinungen  sind  nur  die  äußeren  Merkmale  der 
erfolgten  Formung,  Gestaltung  des  Willens.  Der  Wille  zur  Macht 
ist  nur  ein  Mittel  des  Willens  zur  Form,  der  Versuch,  eine  bestimmte 
Summe  Wille  zum  System  zu  bringen,  etwas  Einheitliches,  etwas 
Ganzes,  Großes  zu  schaffen.  Es  ist  Schöpferwille,  nicht  Macht- 
wille. Der  Schöpferwille  ist  auch  Machtwille,  aber  er  ist  noch 
etwas  anderes,  größeres  als  Machtwille,  eristBauungs-,  Gestaltungs- 
wille, der  Wille,  sich  und  andere  Willen  durch  die  Form,  die 
Gestaltung,  die  er  sich  und  ihnen  aufprägt,  ganz  zu  erlösen  und 
zu  befreien. 

Daß  der  Wille  sich  das  System  erschuf,  war  die  zweite  Stufe 
seiner  Entwicklung,  die  er  mit  der  Entstehung  des  Organischen 
erreichte.  Aber  was  will  der  Wille  nun  mit  diesen  zahllosen, 
systematischen  Einheiten  im  Kleinen,  diesen  einzelnen  fester  und 
inniger    in    sich    verknüpften    Gebilden    der    organischen    Welt? 


335 


Zweiter  Teil. 


Was  soll  diese  höhere  Form,  die  der  Wille  hier  für  beschränkte 
Kreise  erreicht?  Es  ist  der  weite  Umweg  des  Willens,  sein  müh- 
samer Versuch,  das,  was  er  hier  im  Einzelnen  und  Kleinen  erreicht, 
dereinst  im  Ganzen  und  Großen  zu  erreichen,  nämlich  in  seiner 
Totalität,  wenigstens  in  weitestem  Umfange  ein  System  zu  werden. 
In  der  Entwicklung  der  Natur  nimmt  der  Mensch  entschieden 
eine  besondere  Stellung  ein.  Er  hat  eine  über  die  Bedeutung 
aller  anderer  Gattungen  hinausragende  Bedeutung.  Immer 
hat  sich  der  Mensch  in  einem  unendlichen  Abstände  von  der 
übrigen  Natur  gefühlt.  Diese  Auffassung  war  insofern  irrig, 
als  es  sich  um  die  Herkunft,  den  Ursprung  des  Menschen  handelte. 
Der  Mensch  stammt  nicht  aus  höheren  Sphären.  Er  ist  nicht 
nur  in  diese  Welt  hinein  verschlagen,  sondern  er  ist  dieser  Welt, 
in  der  er  steht,  innig  verwandt.  Er  ist  aus  ihr  herausgewachsen 
und  -geboren.  Aber  so  wichtig  diese  Erkenntnis  war,  so  sehr 
wir  dem  Hochmut  des  Menschen  durch  den  Nachweis  seiner 
natürlichen  Herkunft  steuern  mußten,  damit  er  sich  nicht  ganz 
von  der  Natur  entferne  und  ihr  entfremde  —  jetzt,  nachdem  dieser 
Boden  für  das  menschliche  Sein  ein  für  allemal  gewonnen  ist, 
jetzt  dürfen  wir  uns  auch  wieder  das  Auge  öffnen  für  den  unaus- 
rechenbaren Gegensatz,  in  welchem  sich  der  Mensch  zur  übrigen 
Natur  befindet,  wie  er  alles  übrige  Sein  überragt  und  abseits  steht. 
Wir  hatten  die  Welt  als  Willen  zur  Form  bestimmt,  als  das 
Streben  des  zunächst  chaotischen,  zerrissenen  Willens,  um  zur 
Formung,  Gliederung,  Gestaltung  zu  gelangen.  Im  Unorga- 
nischen war  erst  eine  losere  Ordnung  erreicht.  Im  Organischen 
wurde  das  System  erreicht.  Aus  dem  Organischen  aber  ent- 
wickelt sich  das  Organisierende,  der  Versuch,  das  Ver- 
langen, den  Willen  als  Ganzes,  oder  doch  einen  möglichst  weiten 
Umfang  des  allgemein  vorhandenen  Willens  in  systematische 
Form  zu  bringen  und  so  zu  erlösen.  Dieser  Wille  zur  systema- 
tischen Form,  dieser  Versuch,  die  Form  des  Systems  dem  Willen 
in  seiner  Totalität  aufzuprägen,  ist  die  Bedeutung,  der  Sinn  des 
Menschen,  zu  dem  alles  sonstige  Organische  nur  Vorstufe,  nur 
Mittel,  nur  Vorbereitung  ist.  Das  Organische  ist  eine  Übergangs- 
form, nichts  Abschließendes.  Aus  dem  Organischen  soll  sich  der 
organisierende,    bauende  Wille  erheben.      Dies  ist  der  Mensch 


336 


Die  künftige  Religion.    III. 


Ein  System,  die  höchste  Form  des  Willens,  die  wir  kennen  und 
uns  vorstellen  können,  entsteht,  wie  wir  hörten,  so,  daß  sich  ein 
stärkstes  und  mächtigstes  Glied  aus  einem  größeren  Zu- 
sammenhange ablöst,  sich  darüber  erhebt  und  das  ihm  bis  dahin 
Nebengeordnete  sich  unterwirft,  zu  seinen  Zwecken  umschafft 
und  so  eine  mannigfaltige  Gliederung  in  seine  Umgebung  bringt. 
So  entstanden  die  organischen  Gebilde  in  stufenweiser  Steigerung, 
indem  die  Systematisierung  immer  erfolgreicher  durchgeführt 
wurde,  bis  hinauf  zum  Menschen.  Der  Mensch  löst  sich  nun 
gegenüber  der  gesamten  übrigen  Natur,  der  organischen  wie  der 
unorganischen  ab,  er  nimmt  sich  als  den  höchsten  Zweck  der 
ganzen  Erscheinungswelt  und  geht  an  das  Werk,  die  übrige  Welt 
von  sich  aus  in  seinem  Dienst,  zu  seinen  Zwecken  zu  organisieren, 
umzuschaffen,  zu  gestalten,  daß  schließlich  die  Welt  im  Ganzen, 
zum  mindesten  ein  möglichst  weiter  Umfang  des  allgemeinen 
Weltwillens  in  seinem  Geist  und  Sinne  ein  System  wird.  Bis 
zum  Menschen  wogen  die  Wesen  und  Gattungen  der  Natur  neben- 
einander, durcheinander  hin  und  her.  Keines  hat  ein  beherrschen- 
des Übergewicht.  Sie  halten  sich  gegenseitig  im  Gleichgewicht. 
Es  fehlt  die  beherrschende  Übermacht,  die  alles  Sein  zusammen- 
faßt, in  einen  Strom  leitet.  Mit  dem  Menschen  beginnt  ein 
neuer  Ring  des  Seins.  Er  ist  nicht  nur  Form,  System  als  Indivi- 
duum, nicht  nur  organisiert  als  Gattungswesen,  wie  es  die  übrigen 
organischen  Wesen  auch  sind.  Sondern  bei  ihm  wird  der  Wille 
zur  Form  erst  im  höchsten  Grade  schöpferisch.  Er  greift  über  die 
eigene  Gattung  hinaus.  Das  Chaos  der  Natur,  das  sie  behält  trotz 
aller  Gliederung  im  einzelnen,  sucht  er  zu  überwinden.  Er  tritt 
als  das  überragende  Element  aus  der  Natur  heraus  und  wird  der 
große  Organisator  der  Natur.  Der  Mensch  ist  nichts,  wenn  er  nicht 
schöpferisch  ist,  wenn  er  nicht  Wille  organisiert.  Eine  unermeß- 
liche Fülle  Wille  schläft  noch  ungehoben  in  der  Natur.  Das  immer 
noch  herrschende  Chaos  läßt  ihn  nicht  zum  Leben,  zur  Entfaltung 
kommen.  Der  Mensch  muß  den  Willen  in  seiner  Ganzheit  er- 
lösen, indem  er  ihm  im  Ganzen  Form  gibt,  indem  er  die  ganze 
Welt,  soweit  nur  seine  Macht  reicht,  in  ein  einheitliches  System 
bringt,  an  dessen  Spitze  er  selber  steht.  So  ballt  sich  aller  vor- 
handene Wille  zu  einer  gegliederten  Einheit  zusammen,  und  kommt 


337 


Zweiter  Teil. 

so  zu  seiner  vollen  Entfaltung  und  Befreiung.  Durch  den  Menschen 
wird  das  ganze  All  e  i  n  Fluß,  e  i  n  Strom,  e  i  n  Rhythmus,  eine 
Melodie.  Im  Menschen  klingt  der  ganze  Naturwille  konzen- 
triert und  gesammelt  aus.  Hier  erlöst  sich  der  Wille.  Der 
Mensch  steht  im  Anfange  seiner  Entwicklung.  Er  ist  nicht  ein 
großer  Mittag,  sondern  ein  großer  Morgen.  Nur  durch  Form, 
durch  System  kann  der  Wille  sich  selbst  erlösen,  kann  er 
seine  Erfüllung  finden.  In  diesem  Willen  zur  Form  ist  der  Mensch 
ein  wichtiges  Glied,  ein  neuer  Anfang,  Ansatz,  das  erste  Sieges- 
lied einer  stolzen  Hoffnung,  die  sich  erkühnt,  die  ganze  Welt 
einst  in  ein  System  zu  bringen,  alles  Sein  in  die  menschliche 
Seele  aufzunehmen,  alles  Sein  zu  einer  einzigen  ungeheuren 
Melodie  zu  gliedern,  oder  vielmehr  das  All  in  eine  einzige  groß- 
artige Harmonie  zu  bringen,  in  der  der  Mensch  oder  dessen 
Nachkommenschaft  die  Melodie  führt. 

Nicht  Wille  zum  Leben  scheint  mir  die  Welt,  wie  Schopen- 
hauer lehrt.  Dies  ist  zu  allgemein,  zu  unbestimmt.  Auch  nicht 
Wille  zur  Macht  ist  die  Welt,  wie  Nietzsche  lehrt.  Dies  ist  zu 
einseitig,  nicht  allgemein  und  umfassend  genug.  Er  bezeichnet 
etwas  am  Dasein,  aber  nicht  das  Dasein  selbst,  nicht  das 
Grundlegende,  Durchgehende,  Übergreifende.  Mir  erscheint  die 
Welt  als  Wille  zur  Form,  als  der  strebende  Versuch  des  Willens, 
sich  selbst  zu  gestalten,  sich  aus  der  Zerrissenheit  in  die  geglie- 
derte Einheit  zu  bringen  und  sich  so  zu  retten,  sich  durch  die 
Ordnung  ganz  zu  vollenden  und  zu  erschöpfen,  sich  durch  die 
Form,  die  Schönheit  zu  erlösen.  Als  das  Letztgegebene  der  Welt 
müssen  wir  einen  künstlerischen  Urtrieb  annehmen,  eine  Sehn- 
sucht nach  Ordnung,  Rhythmus,  Harmonie,  einen  Willen  zur 
Gestaltung,  der  zwar  oft  nicht  zum  Ziele  kommt,  der  mit  schweren 
Widerständen  kämpft,  der  aber  auch  oft  sein  Ziel  erreicht,  der  bei 
der  Gesamtabrechnung  einer  ungeheuren  Entwicklung  doch 
immer  schließlich  den  Sieg  erringt  und  in  diesem  Siegesgefühl, 
in  dem  Bewußtsein  der  errungenen  Form  und  Schönheit  sich 
erlöst,  befreit,  gesättigt  fühlt.  Nur  die  Form  erlöst,  nur  die 
Schönheit  beglückt.  Darum  ist  alle  Welt  Wille  zur  Form,  Wille 
zur  Schönheit,  ist  alles  Seiende  Schöpferwille,  der  sich  selbst  zur 
Schönheit  schaffen  will,  —  wie  sollten  wir  nicht  alle  Welt  preisen 

338 


Die  künftige  Religion.    III. 


können?  Dieser  Wille  zur  Form,  zur  Schönheit,  dieser  dürstende 
Schöpferwille,  rechtfertigt  sich  in  jedem  Augenblick.  Der  Wille,  der 
in  der  Welt  lebt,  ist  ein  bauender  Wille,  der  sich  selber  baut  und 
bildet.  Wie  sollten  wir  diesen  Willen  nicht  lieben  und  segnen  wollen  ? 
Denn  auch  in  uns  ist  dieser  Wille  zur  Form,  dieser  ordnende,  glie- 
dernde, gestaltende  Schöpferwille  mächtig.  Unsere  tiefste,  reinste, 
stärkste  Sehnsucht  ist  die  Sehnsucht  nach  Schönheit,  nach  Kunst 
in  allem,  nach  dem  rhythmischen  Gange  aller  Erlebnisse.  Die 
ganze  Welt  ist  Kunst  und  Kunstwille.  So  lasset  uns  auf  diesen 
alltätigen,  nie  rastenden  Schöpferwillen,  der  die  Welt  beseelt, 
ein  weihevolles  Loblied  anstimmen,  auf  diesen  Schöpferwillen, 
der  zwar  nicht  von  einer  Allmacht  entlehnt  ist,  die  unweigerlich 
mit  ihm  ihr  Ziel  erreicht,  der  aber  unersättlich  in  seinem  Hange 
nach  Form  und  Schönheit,  nach  Gestalt,  in  unablässigem  Kampfe 
Herr  wird  seiner  Zerrissenheit,  der  Widerstände,  die  er  in  sich 
birgt,  bis  er  allüberall  und  im  Ganzen  seine  rhythmische  Reife 
und  Vollkommenheit  findet. 

Ein  nachdenklicher  Hörer  wird  die  Frage  aufwerfen,  die  ihm 
vielleicht  schon  lange  auf  den  Lippen  liegt,  wie  es  denn  überhaupt 
komme,  daß  der  Wille  sich  zunächst  im  Zustande  der  Zerrissen- 
heit, des  Chaos  finde,  aus  dem  er  sich  durch  Selbstformung  zu 
retten  sucht,  was  es  denn  für  Hindernisse  seien,  die  er  hierbei  zu 
überwinden  habe,  warum  der  Wille  um  seine  Form,  seine  rhyth- 
mische Vollendung  so  schwer  zu  kämpfen  habe,  warum  ihm  seine 
Bildung  und  Selbstschöpfung  so  oft  mißlingt?  Warum  die  Ent- 
wicklung des  Willens  nicht  völlig  gradlinig  und  sicher  sei,  warum 
die  Tragödie  im  Dasein  eine  so  ungeheure  Rolle  spiele?  Warum 
ist  der  Schöpferwille  nicht  allmächtig?  Warum  bleibt  ein  dunkler 
Rest  im  Dasein,  der  so  viele  Menschengeschlechter  schon  er- 
schreckt und  sie  oft  in  die  tiefste  Verwirrung  gestürzt  hat,  daß 
sie  verzweifelt  dem  Schöpferwillen  absagten  und  schlaff  zusam- 
mensanken? 

Ich  will  hier  einen  Gedanken  aussprechen,  der  unserer  Zeit 
sehr  fremd  klingen  wird,  der  mir  aber  die  einzige  Lösung  dieses 
schwierigen  Rätsels  scheint.  Es  herrscht  heute  allgemein  die  Auf- 
fassung, daß  die  Welt  aus  einem  einzigen  allgemeinsten  Prinzipe 
abgeleitet  werden  müsse,  daß  die  Welt  eine  unbedingte  Einheit  sei, 


339 


Zweiter  Teil. 


daß  alles  Mannigfaltige  der  Erscheinung  auf  eine  einzige  Urquelle 
zurückzuführen  sei.  Die  gesamte  moderne  Philosophie  seit  der 
Renaissance  hat  unter  der  bestrickenden  Macht  dieses  Gedankens 
gestanden.  Im  Pantheismus  mit  seinen  verschiedenen  Ausge- 
staltungen hat  dieser  Gedanke  seinen  stärksten  Ausdruck  gefunden. 
Heute  nun  vollends  ist  man  ganz  von  diesem  Gedanken  ein- 
gefangen. Man  glaubt  sich  aufs  höchste  zu  ehren,  wenn  man 
sich  einen  Monisten  nennt.  Monismus  ist  ein  beliebtes  Schlag- 
wort geworden,  mit  dem  man  einen  Abschluß,  einen  endlich 
erreichten  festen  Punkt  in  der  metaphysischen  Spekulation  zu 
bezeichnen  glaubt.  Ich  bin  gänzlich  anderer  Meinung.  Ich 
kann  mir  das  Entstehen  der  Welt  aus  einer  Einheit  schlechter- 
dings nicht  vorstellen.  Nur  aus  dem  Gegensatz  von  Kräften, 
aus  der  Reibung  von  Kräften  kann  meiner  Ansicht  nach  Be- 
wegung und  Leben  entstehen.  Eine  absolute  Kraft  scheint  mir 
gänzlich  unvorstellbar.  Jede  Kraft  braucht  einen  Gegenstand, 
einen  Widerstand,  den  sie  aufsucht,  an  dem  sie  sich  ausläßt. 
Ohne  Reiz  von  außen  kann  keine  Kraft  zu  ihrer  Äußerung  kom- 
men. Wir  sehen  doch  auch,  welche  ungeheure  Rolle  die 
Polarität  in  der  gesamten  Natur  spielt.  Kraft  bedarf  Gegenkraft. 
Und  so,  glaube  ich,  liegt  es  schon  in  dem  Urschoß  der  Dinge. 
Hier,  glaube  ich,  muß  schon  der  positiven  Kraft  eine  negative 
gegenüberstehen.  Hier  schon  muß  Kampf  und  Reibung  sein. 
Nur  so  konnte  die  Welt  entstehen. 

Ich  habe  bisher  den  Willen,  und  genauer  den  Willen  zur  Form 
als  die  allgemeinste  Grundlage  der  Welt  bezeichnet.  Aber  dies 
v/ar  einseitig.  Jetzt  ist  eine  wichtige  Ergänzung  nachzutragen. 
Der  Wille  zur  Form  ist  nicht  das  einzige,  ausschließliche  Element 
des  Seins.  Denn  warum  ist  der  Wille  zerstückelt?  Warum  muß 
er  ständig  nach  Form  ringen?  Warum  ist  die  Form,  die  Schönheit 
nicht  von  Ewigkeit  da?  Ich  glaube  dem  Willen  zur  Form  steht 
eine  negative  Kraft  gegenüber,  ein  Wille  zur  Unform,  zum 
Nichts.  Das  Nichts  kann  nicht  schlechthin  Nichts  sein.  Das 
Nichts  muß  eine  aktiv  wirksame,  hemmende  Kraft  haben,  die 
den  bild-  und  regsamen  Willen  zur  Form  durchkreuzt.  Wir 
steigen  hier  in  die  tiefsten  Abgründe  des  menschlichen  Nach- 
denkens hinab.     Aber  ich  kann  nicht  einsehen,  wie  man  ohne 


340 


Die  künftige  Religion.    III. 


solche  Vorstellungen  zu  einem  leidlich  klaren  Abschluß  seiner 
Weltbegriffe  kommen  will.  Woher  das  so  vielfach  Verwahrloste, 
Schauerliche,  Wüste  im  Dasein?  Woher  der  Kampf,  die  Not, 
die  Zwietracht  im  Sein?  Warum  muß  der  Wille  seine  Schönheit 
und  Form  so  mühsam  kämpfend  suchen?  Was  hat  ihn  zer- 
schlagen, daß  er  einen  so  weiten  Weg  nehmen  muß,  um  durch 
Gliederung  seine  Einheit  wieder  zu  finden?  Mir  scheint,  daß 
alles  dies  nur  die  Wirkung  einer  unheimlichen  Gegenkraft  sein 
kann,  die  sich  dem  schöpferischen  Willen  zur  Form  widersetzt, 
der  er  seine  Gliederung,  Sammlung,  Ordnung,  Schönheit  abringt, 
welche  ihm  oft  mißlingt. 

Aber  was  ist  nun  diese  negative  Kraft  im  Dasein,  die  sich  der- 
gestalt der  schöpferischen  Kraft  entgegenstellt?  Ich  kann  nicht 
hoffen,  mit  folgendem  viel  Beifall  zu  finden.  Ich  sage  es  nur, 
um  meinen  Gedanken  Abschluß  zu  geben,  um  nichts  zurückzu- 
halten. Wenn  ich  den  Willen  und  näher  den  Willen  zur  Form 
als  das  schöpferische  Prinzip  der  Welt  bezeichnete,  so  war  uns 
dieser  Wille  auch  niemals  in  einer  Ganzheit  gegeben,  sondern 
wir  hatten  ihn  nur  erschlossen  aus  den  einzelnen  Lebenserschei- 
nungen, die  wir  auf  ihn  zurückführten,  ohne  daß  wir  seiner  un- 
mittelbar habhaft  werden  konnten.  Und  in  dem  gleichen  Sinne 
will  ich  es  verstanden  wissen,  wenn  ich  jetzt  etwas  in  unserer 
Erscheinungswelt  als  das  negative,  hemmende,  zerstörende  Prinzip 
bezeichne.  Ich  sage  nicht:  dies  i  s  t  die  negative  Kraft,  sondern 
hierin  drückt  sie  sich  aus,  hiermit  ragt  sie  hinein  in  unsere  Er- 
scheinungswelt. Mit  dieser  Einschränkung  aber  sage  ich:  die 
alles  zerspaltende,  hemmende  und  dadurch  zernagende  und  zer- 
malmende, vernichtende  und  zerstörende  Kraft,  gegen  die  sich 
der  Wille  zur  Wehre  setzt,  scheint  mir  die  Zeit  zu  sein.  Die 
Zeit  ist  in  unserer  Erscheinungswelt  der  verkörperte  Wille  zum 
Nichts,  der  unfaßliche  und  doch  so  furchtbare  Wille  zum  Nichts. 
Seit  Kant  gilt  die  Zeit  als  eine  leere  Form  der  menschlichen 
Anschauungskraft,  der  keine  unbedingte  Wirklichkeit  zukommt. 
Ich  kann  diese  Auffassung  nicht  für  richtig  halten,  aus  Gründen, 
die  darzulegen  hier  natürlich  zu  weit  führen  würde.  Die  Zeit 
scheint  mir  auch  eine  unbedingte  Wirklichkeit  zu  haben  und 
zwar    eben    die    furchtbare    Wirklichkeit   des   steten    Auflösens, 


34 1 


Zweiter  Teil. 


Hemmens,  Zerstörens.  Die  Zeit  legt  sich  als  das  ewig  Trennende 
zwischen  die  Dinge.  Daß  der  Wille  nicht  als  Einheit  wirken  kann, 
daran  hindert  ihn  ewig  die  Zeit.  Heute  bist  du  ein  anderer  als 
gestern  und  morgen.  Du  bist  durch  das  Dazwischentreten 
der  Zeit  stets  in  deiner  Ganzheit  zerrissen,  in  deiner  Einheit 
gespalten  und  so  kannst  du  nicht  als  voller,  ganzer  Wille  wirken, 
sondern  immer  bist  du  ein  flüchtiges  Kind  des  Augenblicks.  Das 
ist  dein  ewiges  Hemmnis,  deine  Schwäche.  Und  so  in  allen 
Dingen.  Überall  trennt  und  zerstäubt  die  Zeit  die  Dinge,  die  nun 
nicht  als  volle  Einheiten  sich  regen  und  wirken  können,  sondern 
die  unter  dem  furchtbaren  Druck  der  Zeit  ständig  Gefahr  laufen 
zerrissen  zu  werden,  sich  in  Chaos  aufzulösen.  Sie  können  das 
Jetzt  und  Ehemals  nicht  zur  Einheit  verknüpfen.  Sie  verflattern 
unter  dem  Spiel  der  Zeit.  Die  Zeit  ist  dem  Willen  als  die  ewige 
Pein  über  den  Leib  geworfen.  Der  Raum  ist  nicht  in  gleichem 
Maße  das  Trennende  wie  die  Zeit,  wie  man  vielleicht  glaubt.  Der 
Raum  ist  gleichzeitig  mit  dem  Willen  gesetzt.  Wir  können  uns 
den  Willen  nicht  anders  denken  als  räumlich  gerichtet.  Daß  der 
Wille  aber  in  dieser  räumlichen  Ausdehnung  als  Einheit  wirke, 
daß  er  seine  ganze  Fülle  in  Eins  zusammenfasse,  daran  hindert 
ihn  eben  die  Zeit.  Auch  zur  Überwindung  der  Ausdehnung,  des 
Raumes  bedarf  es  Zeit.  Die  Zeit  hat  den  Willen  in  seiner  Breit- 
wie  in  seiner  Längsentwicklung  zerspalten  und  hemmt  ihn  an 
seinem  einheitlichen  Wirken.  Hiergegen  nun,  gegen  diese  hem- 
mende, spaltende  Kraft  der  Zeit  setzt  sich  der  Wille  zur  Wehr, 
dadurch,  daß  er  F  o  r  m  annimmt.  Durch  die  Form,  die  Gestalt 
kämpft  der  Wille  gegen  das  Nichts,  die  Zeit.  Durch  die  Form 
überbrückt  der  Wille  die  Kluft  der  Zeit.  Durch  die  Form,  dadurch 
daß  er  feste  Gestalt  annimmt,  sucht  er  der  Zeit  Herr  zu  werden, 
sucht  er  Dauer  zu  bekommen.  In  diesem  Zusammenhange  lernen 
wir  denn  überhaupt  erst  begreifen,  was  eigentlich  der  von  uns  so 
oft  gebrauchte  Ausdruck  ,,Form**  bedeutet.  Form  ist  nichts  ande- 
res als  die  Verbindung,  Zusammenfassung  eines  Mannigfaltigen, 
Zersprengten.  Form  ist  Rhythmus,  ist  Wiederkehr  des  Gleichen, 
ist  die  Verknüpfung  voneinander  getrennter  Elemente,  so  daß  das 
eine  an  das  andere  anklingt,  es  gleichsam  wieder  aufnimmt,  es 
über  die  Trennung  hinweg  erhält  und  so  mit  ihm  eine  einheitliche 


342 


Die  künftige  Religion.    III. 


Wirkung  übt.  Form  ist  der  Zusammenschluß  verstreuter  Ele- 
mente, die  einzeln  nichts  sind,  vereinigt  aber  ein  volles  Leben 
entfalten.  Nur  was  Form  hat,  lebt.  Wille  zur  Form  ist  Wille  zum 
Leben.  Die  Formlosigkeit  ist  der  Tod.  Durch  die  Form  ringt  der 
Wille  der  Zeit  sein  Dasein  ab.  Durch  die  Form  rettet  er  sich  vor 
der  Zeit.  So  beim  einzelnen  Menschen.  Der  einzelne  schafft  sich 
einen  dauernden  Charakter,  eine  feste  Verfassung  der  Seele,  damit 
er  über  den  flüchtigen  Strom  der  Zeit  hinweg  eine  Einheit  bilde, 
daß  er  zu  jeder  Stunde  seine  volle  Kraft  einsetzen  könne,  daß 
sein  Leben  ein  einheitlicher  rhythmischer  Gang  werde.  So  bietet 
er  Trotz  der  Zeit.  Und  so  ein  Volk.  Ein  Volk  schafft  sich  In- 
stitutionen, feste  Formen,  Verfassungen,  die  es  über  die  Flucht 
der  Zeit  hinweg  als  Volk  erhalten.  Nur  durch  solche  Formen 
lebt  ein  Volk,  sie  sind  der  einzige  Beweis  seines  Daseins.  Ohne 
diese  Formen  wird  es  alsbald  ein  Nichts,  ein  Chaos.  Und  so  die 
gesamte  Natur.  Mit  jedem  Wesen  als  einer  festen,  gestalteten 
Einheit  hat  der  Wille  dem  vernichtenden  Strom  der  Zeit  eine 
Spanne  Dauer,  Leben  abgerungen,  er  hat  sich,  zu  Einheiten  ge- 
sammelt, aus  dem  chaotischen  Strudel  herausgehoben.  Und 
durch  die  unendliche  Kette  der  Wesen  hindurch,  indem  immer  eine 
Form  die  andere  erzeugt,  wodurch  das  Fernste  mit  dem  Nächsten 
zusammenhängt,  sucht  sich  der  Wille  in  seiner  Ganzheit  empor- 
zuringen  aus  der  chaotischen  Zerrissenheit.  Indem  ein  Wesen 
immer  dem  andern,  eine  Form  der  andern  die  Hand  reicht,  steigt 
der  Wille  in  seiner  Allheit  empor  zum  Leben,  aus  der  Zerstückelung 
zur  Einheit,  aus  dem  Wirrsal  zur  Ordnung,  aus  dem  Chaos  zur 
Schönheit. 

Das  Leben  ist  eine  Mischung.  Die  Welt  ist  aus  einer  Kreuzung 
hervorgegangen,  aus  einer  Begattung  zweier  ewig  geschiedenen 
Mächte.  Jedes  Leben  ist  ein  harmonischer  Ton  aus  der  Tiefe 
disharmonischer  Urkräfte  heraus.  Die  Annahme  einer  Allmacht 
im  Dasein  ist  für  immer  gescheitert.  Nur  eine  seichte  Betrachtung 
der  Welt,  die  sich  bewußt  den  Blick  vor  den  Abgründen  des  Da- 
seins verschloß,  konnte  diesem  Glauben  anhängen.  Der  Pessi- 
mismus hat  sich  diesem  Wahnglauben  mit  Macht  entgegenge- 
worfen. Er  hat  unbarmherzig  den  Schleier  von  der  Welt  gerissen, 
den  schwärmerische  Geister  um  sie  gewoben  hatten,     Schopen- 


343 


Zweiter  Teil. 


hauer  hat  eine  tiefe  Furche  in  den  glatten   Sand  des  neueren 
Denkens  gezogen.    Was  er  niedergeschrieben  hat,  wird  niemand 
wieder  auslöschen.    Alles  dies  ist  mit  aufzunehmen  in  das  künftige 
Weltbild.    Wenn  eine  Allmacht  im  Dasein  herrschte,  müßte  sie 
überall  herrschen.     Sie  kann  nicht  freiwillig  aus  sich  selbst 
heraus  die  Unvollkommenheit  erzeugen.     Die  Allmacht  müßte 
sich  überall  rein  und  voll  ergießen.      Man  hat  oft  von  einem 
Abfall  vom  Göttlichen  gesprochen.    Wie  sollte  das  möglich  sein! 
Das  Göttliche  kann  sich  doch  nicht  selbst  aufheben,  auch  nicht 
zum  Teil.   Nein,  es  muß  eine  Zweiheit,  einen  Widerspruch,  einen 
Kampf  im  Ursein  geben.   Nur  aus  einem  gegenwirkenden  Zwange 
konnte  und  kann  das  Unvollkommene,  das  Böse  entstehen.    Die 
Welt   ist   die  schmerzhafte  Geburt  aus  zwei   entgegengesetzten 
Mächten.     An  dem  Kampfe  zwischen  Wille  und  Zeit  entzündet 
sich  die  Gestalt,  das  Leben.     Die  Welt  ist  weder  ein  Werk  der 
Weisheit,  noch  ein  Werk  des  Wahnsinns.    Sie  ist  das  sehnende, 
kämpfende  Suchen  eines  zerspalteten,  zerrissenen  Willens  nach 
seiner  Wiederkehr,  nach  seiner  Einheit,  nach  seiner  Schönheit, 
seinem  Glück.    Erkenne  dich  selbst.    Was  du  selbst  bist,  das  ist 
die  Welt.     Sie  ringt  und  sucht  wie  du.     Was  aber  sucht  sie? 
Ihre  Form  sucht  sie,  ihre  Gestalt,  ihre  Ordnung,  ihre  Schönheit. 
Die  Welt  ist  eine  Selbstschöpfung.     Der  Wille,  von  einer  furcht- 
baren Gegenkraft  zerspalten,  kann  diese  Zerspaltung,  diese  Zer- 
rissenheit nicht  ertragen.   Er  lechzt  nach  seiner  Sammlung,  seiner 
Vereinigung,  seinem  Aufbau.     So  entsteht  die  Welt. 

Und  der  Mensch?  Und  du?  Kannst  du  diese  Welt  lieben, 
kannst  du  ein  Mitstreiter  sein  in  dem  kämpfenden  Willen?  Willst 
du  dich  hineinstürzen  in  den  Strom  des  schöpferischen  Lebens, 
um  als  Tropfen  mit  hinauszuströmen  in  den  Ozean  der  letzten 
Schönheit?  Oder  willst  du  dich  ermüdet  abwenden,  entsagend, 
verzweifelt,  gebrochen?  In  der  Tiefe  der  menschlichen  Seele 
regt  sich  ewig  ein  Sehnen  nach  Selbstbejahung,  ein  unstillbares 
Sehnen  nach  Freude,  nach  Übereinstimmung  mit  dem  eigenen 
Wesen,  nach  —  Glück.  Man  hat  dies  Verlangen  schon  oft  tot- 
schlagen wollen.  Man  hat  es  verflucht,  gehöhnt  als  den  verderb- 
lichsten, sündhaftesten  Trieb  des  Menschen,  den  er  bei  sich  aus- 
rotten müsse  mit  Stumpf  und  Stiel.  Aber  alles  Schelten  und  Eifern 


344 


Die  künftige  Religion.    III. 


hat  nichts  vermocht.  Immer  wieder  ward  sie  rege,  die  alte  Sehn- 
sucht. In  heimlicher  Stille  tat  sie  immer  wieder  verstohlen  die 
Augen  auf  und  schaute  hinaus,  ein  Land  der  seligen  Wunder,  der 
Erlösung  suchend.  Schämen  wir  uns  dieses  Suchens  nicht.  Es 
ist  nicht  ein  verbotenes  Gefühl;  es  ist  das  wahrste,  echteste,  erste 
Gefühl.  An  der  Spitze  aller  Religionen  steht  die  Frage  nach  dem 
Glück.  Ist  Menschenglück  möglich?  Und  wie  ist  es  möglich? 
Diese  Frage  hat  allen  Religionen  das  Leben  gegeben.  Und  die 
Beantwortung  dieser  Frage  bildet  auch  die  Krönung  aller  kräftigen 
Philosophien,  die,  nicht  dürre  Gedankengespinste,  dem  Leben 
entquellen,  zum  Leben  drängen.  Diese  Frage  ist  mit  furchtbarer 
Gewalt  jetzt  wieder  in  den  Herzen  erwacht.  Sie  tönt,  sie  dröhnt 
in  allen  Gemütern.  Sie  läßt  sich  nicht  einschläfern,  töten.  Die 
düstern  Philosophien  des  letzten  Jahrhunderts,  die  so  vielen 
zweifelnden  Seelen  ihr  tiefstes  Empfinden  enthüllt,  ihr  banges 
Ahnen  in  Worte  gekleidet  haben,  haben  diese  Frage  von  neuem 
vor  die  Entscheidung  der  Menschheit  gebracht.  Diese  hat  jetzt 
zu  wählen,  sich  zu  erklären.  Will  sie  das  Leben  oder  will  sie  es 
nicht?  Auf  dem  einen  Wege  geht  es  hinab  in  ein  stilles  Hin- 
dämmern, ein  allmähliches  Sterben.  Auf  dem  andern  geht  es 
hinauf  zu  lichten   Höhen    und  stolzen   Taten. 

Ist  ein  Menschenglück?  Ja,  ich  sage,  es  i  s  t  ein  Menschen- 
glück. Aber  es  ist  nur  ein  einziges  Glück,  das  Glück  der  Schönheit. 
Alles   andere  ist  Schaum  und  Dunst. 

Wenn  der  Mensch  seine  Tugend  erfüllt,  wenn  er  sein  Inneres 
gestaltet,  alles,  was  in  ihm  an  unerlöstem,  sehnendem  Willen 
ruht,  zur  Form  erhebt,  wenn  er  lebendig  macht,  was  in  ihm  nach 
Leben  lechzt,  kurz,  wenn  er  sich  ausströmt,  ganz  Schönheit, 
ganz  klingende  Harmonie  wird,  dann  hat  auch  der  Mensch  das 
Glück.  Den  Menschen  darf  keine  Furcht  anfallen,  keine  Bangig- 
keit, er  darf  nicht  vor  seinem  eigenen  Wesen  schaudern,  sondern 
er  muß  ihm  frei  die  Zügel  schießen  lassen,  dem  Gesetze,  mit 
dem  er  sein  Leben  angetreten,  gehorchen,  er  muß,  wie  Nietzsche 
es  nennt,  werden,  was  er  ist,  dann  erringt  er  ein  überfließendes 
Maß  von  Glück.  Wenn  der  Mensch  alle  Schätze  hebt, 
die  in  seinem  Innern  ruhen,  wenn  er  ein  unermüdlicher,  nie 
rastender  Schöpfer  an  sich  selber  wird,  wenn  er  unablässig  bildet 


Hör  neffer,  Das  klassische  Ideal.        34S 


Zweiter  Teil. 


und  gestaltet  und  immer  nur  bildet  und  gestaltet,  mit  anderen 
Worten,  wenn  der  Mensch  nur  wirklich  lebt  —  denn  alles  Leben 
ist  ein  Bilden,  Gestalten  —  dann  erringt  er  das  einzige,  höchste 
Glück,  das  Künstler-  und  Schöpferglück.    Ob  sich  die  Welt  gegen 
ihn  bäumt,  ob  ihm  das  Schicksal  Fels  über  Fels  auf  den  Weg 
schleudert,  er  strömt  und  stürmt  über  alles  hinweg.     Nur  der 
dämonische  Mensch,  der  Sturm  in  sich  hat,  den  ein  Dämon  jagt, 
ist  glücklich.     Nicht  die  Ruhe  ist  das  Glück,  die  Bewegung  ist 
das  Glück.     Der  Mensch  der  großen  Leidenschaft  nur,  dem  alle 
Fesseln  entfallen  sind,  der  sich  nur  vor  sich  selber  retten  kann, 
wenn  er  schafft,  wenn  er  ringt,  wenn  er  alles  Sein  überflutet, 
verschlingt,  der  schöpferische  Mensch  allein  ist  glücklich.    Welch 
eine  Seltsamkeit,  daß  unsere  Väter  das  heiße  Begehren  die  Leiden- 
schaft, ein  Leiden  nannten.    Uns  ist  es  das  einzige  Glück.    Soweit 
du  begehrst,  soweit  du  liebst,  schätzst,  wertest,  erobern,  bilden, 
gestalten  willst,  soweit  hast  du  Glück.     Unglück  hast  du  nur, 
wenn  du  zaghaft  bist,  wenn  du  nur  halb  willst,  wenn  du  deinem 
Dämon,     deinem   Gesetze   nicht    folgst,    wenn    du    ihm    etwas 
abbitten  willst,  wenn  du  weniger  willst  als  du    wollen    solltest. 
Nicht  das  Wollen  ist  ein     Unglück,    nur    das    halbe    Wollen, 
das    gehemmte,     gebrochene     Wollen.     E  i  n      Leiden     gibt  es 
nur,     die    Verkrüppelung.     Wenn    du   aber    Mut    hast,    wenn 
du  den  Willen,  der  in  dir  quillt,  gestaltest,  wenn  du  ihn  nicht 
zurückdrängst,  sondern  ihm  ein  Bett  gräbst,  in  dem  er  sich  mit 
aller  Kraft  und  Pracht  ergießen  kann,  dann  zittert  deine   Seele 
vor  Seligkeit.      Sahst    du  noch  nie  einen   schöpferischen  Men- 
schen, wie  ihm  der  Blick  leuchtet  vor  Glück?     Wer  aber  feige 
um  das  Leben  schleicht,  wer  sich   duckt  und  ängstlich    schielt, 
wer    ein    Glück    von    außen    erwartet    und    mit    dem    Dasein 
rechtet,     wer     seinen     eigenen     Schatz,    seinen    Goldreichtum 
nicht  erkennt,  der  in  ihm  lebt,  da  er  ja  auch  Wille  ist,    den    er 
nur  zu  beleben  braucht,    dem  er  nur  ein  freudiges    Ja!    zuzu- 
rufen   braucht,     daß    er     hervorbricht     in     seiner      Schönheit 
und  sich  so   erlöst,  —  der   wird   nie   das   Glück   erjagen.     Das 
Glück  ist  ein  Lohn,  ein  Lohn  der  Tapferkeit,  des  Wagemuts. 
Wer  feige  ist,  der  geht  leer  aus.    Nur  die  Tugend  kann  das  Glück 
erschaffen.     Was  aber  ist  die  Tugend?     Das  Wollen  ist  die 


346 


Die  künftige  Religion.    III. 


Tugend.  Denn  alles  Wollen  ist  ein  Formen,  Bilden,  Gestalten, 
Adeln,  Verschönern.  Wenn  du  willst,  bist  du  ein  Künstler,  dann 
schaffst  du  das  Schöne.  Du  kannst  nicht  wollen,  ohne  Schönes 
zu  schaffen.  Mit  deinem  Wollen  breitest  du  über  dich  und  den 
ganzen  Umkreis  deines  Daseins  den  Adel  der  Schönheit  aus.  Und 
in  diesem  Adel  atmet  dein  Herz  beseligt  auf.  Es  gibt  nur  eine 
Erlösung,  die  Erlösung  durch  Schönheit.  Über  jeder  erreichten 
Schönheit  liegt  ein  Glanz  der  Unendlichkeit  ausgebreitet.  Es 
ist,  als  ob  mit  jeder  errungenen  Schönheit  das  ganze  Dasein,  der 
Allwille  einen  Triumph  feiere.  Jede  Schönheit  strömt  einen  ewigen 
Hauch  des  Glückes  aus.  Du  darfst  das  Glück  nicht  wollen; 
du  darfst  auch  die  Schönheit  nicht  wollen.  Du  mußt  nur  — 
wollen.  Willst  du  ganz,  willst  du  wahrhaft,  so  erschaffst 
du  von  selbst  das  Schöne.  Das  Schöne  ist  das  ganze  Wollen; 
das  Schöne  ist  die  Kraft.  Und  mit  der  Schönheit  senkt  sich 
auch  von  selbst  das  Glück  auf  dich  nieder.  Du  hast  dein  Dasein 
erfüllt.  Der  Wille,  der  in  und  mit  dir  Gestalt  gewinnen  wollte, 
hat  seine  Gestalt  gefunden.  Und  so  ist  er  gesättigt  in  seiner 
Schönheit,  so  ist  er  erlöst,  beglückt. 

Und  wie  der  Mensch,  so  alles  Sein.  Alles  Lebende,  alles 
Seiende  ist  von  Natur  ein  Schönes,  eine  Harmonie,  eine  rhyth- 
mische Gestalt.  Wille  zur  Form,  hatten  wir  gesagt,  ist  alles 
Dasein,  ein  Wille  zur  Schönheit.  Aus  der  Gestaltlosigkeit  will 
der  Wille  zur  Gestalt,  zum  Leben.  So  kann  der  Wille  nur  Leben 
haben,  soweit  er  schon  Gestalt,  schon  Schönheit  hat.  Aber  eine 
viel  größere  Aufgabe  ist  dem  Willen  noch  mit  dem  Leben  gestellt. 
Das  Leben  ist  ein  Ansatz  zur  Schönheit.  Eine  viel  höhere 
Schönheit  soll  der  Wille  in  seiner  Entwicklung  gestalten.  Was 
in  ihm  an  Gestaltungskraft,  an  Schönheitswille  ruht,  das  soll  er 
in  stufenweiser  Bildung  entfalten,  bis  er  seinen  ganzen  Schatz 
verbraucht  hat,  bis  er  alles  in  Form  gegossen  hat,  was  er  besitzt, 
bis  er  dasteht  in  seiner  Vollendung.  In  diesem  Zustande  aber, 
und  schon  bei  jedem  Schritte  vorwärts  auf  dieser  Bahn  wiegt 
sich  der  Wille  in  trunkenem  Glücke.  Und  wie  sollte  es  anders 
sein?  Das  Sein  ist  Wille.  Wenn  dieser  Wille  sich  erfüllt,  sich 
ganz  durch  Formung  entlädt,  wenn  er  ganz  heraus,  zum  Lichte 
kommt,  wenn  er  seine  Bahn  zu  Ende  läuft,  seinen  Umkreis  aus- 


347 


22« 


Zweiter   Teil. 

mißt,  sich  voll  erschöpft,  dann  muß  sich  der  Wille  bejahen  und 
dann  bejaht  er  sich  auch.  Und  zwar  allüberall.  Wo  der  Wille 
hervorbricht  im  Dasein,  wo  er  eingegliedert  ist  in  der  Kette  des 
Werdens,  wo  er  als  Tropfen  auftaucht  im  Strome  des  Allwillens, 
ob  seine  Ziele  weit  oder  eng,  hoch  oder  niedrig  sind,  ob  er  einen  weiten 
Weg  zu  seiner  Vollendung  vor  sich  hat,  ein  großer  Umkreis 
sich  vor  ihm  und  um  ihn  als  seine  Aufgabe  dehnt  —  das  alles 
tut  zur  Sache  nichts.  Wenn  der  Wille  nur  frisch  und  kräftig  ist, 
wenn  er  nur  Wagemut  hat  und  sich  in  das  schöpferische  Leben 
stürzt,  —  dann  hat  er  das  Glück.  Jede  Tat  erfreut.  Dies  ist  die 
ewige  Harmonie  im  Dasein.  Wo  Tat,  wo  Wille,  wo  Schöpferkraft 
ist,  da  ist  auch  Glück.  Nicht  nur  das  große,  das  staunenswürdige 
Dasein  kann  sich  bejahen,  wie  Nietzsche  glaubte;  alles  Dasein 
kann  sich  bejahen,  wenn  es  nur  bildet  und  schafft,  wenn  es  nur 
lebt.  Jeder  Wille  braucht  zur  Seligkeit  nur  der  Erfüllung 
seiner  Kraft.  Er  braucht  keine  unendliche  Tat,  er  braucht 
nur  seine  Tat.  Wenn  er  aber  diese  Tat  vollbringt,  die  ihm  sein 
Wille  vorschreibt,  die  aus  seiner  Stellung  im  Dasein,  seiner 
Anlage,  seinen  Umständen  fließt,  die  gerade  i  h  m  der  Lauf  des 
Daseins  gebeut,  dann  hat  er  auch  sein  Glück  zum  Lohn.  Tat 
und  Glück,  sie  halten  einander  im  Gleichgewicht.  Jede  Tat  findet 
unweigerlich  ihr  Glück.  Dies  ist  die  Lehre  von  der  Selbstge- 
nügsamkeit alles  Seins.  Alles  Sein  ist  sich  selbst 
genug.  Es  trägt  in  seinem  Schoß  einen  gleichen  Schatz  der 
Tat  und  auch  des  Glücks.  So  segnet  es  sich  selbst.  So  bewegt 
es     sich  beglückt  um  seine  eigene  Achse. 

Solchermaßen  gewinnt  die  Welt  ihren  Wert,  ihren  Adel 
wieder.  Adel  hat,  was  um  seiner  selbst  willen  lebt,  was  keiner 
höheren  Rechtfertigung  bedarf,  was  sich  selbst  bejaht.  Dies 
ist  die  Religion  des  Heidentums,  des  Griechentums.  Der  heilige 
Glaube  ist  es  an  die  selbsterlösende  Kraft  im  Menschen,  in  allem 
Sein.  Nur  was  durch  eigene  Kraft  bestehen  kann,  was  in  sich 
selbst  eine  unversiegliche  Quelle  des  Glückes  birgt,  was  keiner 
Unterstützung,  keiner  Anlehnung,  keiner  hilfreichen  Gnade 
bedarf,  was  ganz  auf  eigenen  Füßen  steht,  das  allein  hat  Würde. 
Diesem  stolzen  Glauben  huldigten  die  Griechen,  jene  wunder- 
baren Erstlinge  des  europäischen  Lebens.     Sie  glaubten  fest  an 

348 


Die  künftige  Religion.   III. 


eine  Tugend,  die  selig  macht,  die  Tugend  des  Schaffens,  des 
Schaffens  des  Schönen.  So  hatte  der  griechische  Mensch  Adel, 
Würde.  So  goß  er  noch  seinen  Adel  aus  über  alle  Dinge. 
Durch  Schönheit  taufte  er  sie  zur  Eigenwürde.  Der  Grieche 
lechzte  nicht  nach  Erlösung ;  er  war  erlöst  im  Glück  seiner 
Schönheit.  Dann  aber  brach  das  Unheil  herein.  Aus  Asien 
kam  herüber  das  Christentum  und  predigte,  wie  alle  asiati- 
schen Religionen,  die  Schwäche  des  Menschen.  Was  war  es, 
das  das  Christentum  die  Menschen  des  griechisch-römischen 
Heidentums  lehren  wollte?  Was  wollte  es  ihnen  mit  aller  Ge- 
walt einprägen?  Was  suchte  es  ihnen  immer  und  immer  wieder 
zu  Gemüte  zu  führen?  Den  Glauben  von  der  gänzlichen  Hilfs- 
bedürftigkeit, Haltlosigkeit,  Unwürde  des  Menschen,  der  nichts 
aus  eigener  Kraft  vermöge,  dessen  Hoffnung  auf  Eigenerlösung 
durch  die  Kraft  seiner  Tugend  ein  eiteler  Wahn  sei,  der  eine  Er- 
lösung durch  höhere  Macht  bedürfe,  der  Gnade  brauche.  Die 
Christen  empörte  die  Selbstsicherheit,  der  Stolz,  mit  dem  die 
Heiden  das  Leben  unschuldig  und  tapfer  lebten,  die  selber 
glücklich  zu  werden  gedachten,  die  fest  auf  die  eigene  Kraft, 
die  eigene  Tugend  bauten.  Diesen  Heidenhochmut  wollte  das 
Christentum  brechen.  Und  es  hat  ihn  gebrochen.  Es  hat 
den  Menschen  geknickt  und  entwurzelt.  Schleiermacher  gilt 
mit  Recht  als  ein  tiefer  Kenner  des  Christentums.  Aber 
wie  bestimmt  Schleiermacher  die  Religion?  Als  das  Gefühl 
einer  schlechthinigen,  soll  heißen  unbedingten,  gänzlichen 
Abhängigkeit.  Aber  das  ist  nur  eine  Religion.  Es  gibt  auch 
eine  Religion  des  Stolzes,  des  Mutes,  der  Selbsterlösung,  Das 
ist  die  heidnische  Religion,  das  ist  die  griechische  Religion,  die 
wir  zurückerobern  müssen.  Der  Glaube  an  Gott  war  das  größte 
Unglück  der  Menschheit.  Diese  Heilsbotschaft  war  eine  Unheils- 
botschaft.  Gott  war  dem  Menschen  immer  ein  Stab,  eine  Stütze, 
Anlehnung,  Hilfe,  Rettung.  Das  sollte  er  sein.  Darin  sah 
man  das  große  Heil  dieser  Lehre.  Aber  dadurch  begab  sich 
der  Mensch  der  Eigenwürde.  Damit  verzichtete  er  auf  die  eigene 
Kraft.  Aus  der  Schwäche  ist  dieser  Glaube  gewachsen.  Die 
Schwäche  hat  er  gezüchtet,  verewigt.  Was  hat  dieser  Glaube  den 
Menschen  gekostet!    Wie  viel  Menschenkraft  wurde  durch  diesen 


349 


Zweiter  Teil. 

Glauben  erstickt,  nicht  zum  Leben,  zur  Gestaltung  gebracht! 
Der  Mensch  mochte  sich  in  der  Gotteskindschaft  sicher,  gebor- 
gen fühlen.  Aber  sein  Stolz  war  auch  dahin.  Er  wurzelte  nicht 
mehr  in  sich  selbst.  Er  rankte  sich  an  einer  höheren  Macht 
empor.  Aber  nur  aus  dem  Selbstvertrauen,  dem  großen  Mut 
heraus  erwachsen  die  großen  Taten.  ,,Nur  dadurch,  daß  ich 
Gott  möglichst  zu  entbehren  suche,  kann  ich  mich  in  ein 
würdiges  Verhältnis  zu  ihm  setzen",  sagt  schon  Hebbel,  der 
kühne,  ahnungsreiche  Vorläufer  Nietzsches.  Wir  aber  müssen 
Gott  gänzlich  abschütteln.  Damit  erst  machen  wir  den  Men- 
schen wieder  zum  Menschen.  Der  Mensch,  der  einem  Gotte 
sich  beugt,  sich  einem  Gotte  verbunden  fühlt,  ist  nur  halb  ein 
Mensch.  Nur  wenn  er  ganz  auf  seine  eigenen  Kräfte  angewiesen 
bleibt,  wenn  er  allein  in  einer  feindlich  wogenden  Welt  steht, 
wenn  er  keinen  verstohlenen  Zugang  mehr  zu  einer  höheren 
Macht  hat,  nur  dann  kann  der  Mensch  Größe  erlangen.  Nur 
die  harte  Zucht  erzieht  zur  Schönheit.  Die  Welt  ist  nicht  für 
schwache  Seelen  gebaut,  sondern  für  starke.  Treiben  wir  die 
Religion  der  Schwäche  aus.  Werden  wir  wieder  aus  Christen 
zu  Heiden.  Was  ist  Christentum?  Was  ist  Heidentum?  Christen- 
tum ist  der  Unglaube  an  den  Menschen,  an  die  Eigenkraft  des 
Menschen.  Heidentum  ist  Glaube  an  den  Menschen,  an  die 
Selbstgenügsamkeit  des  Menschen,  an  die  Selbstgenügsamkeit 
des  Seins,  an  den  Adel  alles  Seins.  Die  Demut  soll  das  Höchste 
sein?  O  nein,  der  Stolz  ist  das  Höchste.  Richten  wir  den  Men- 
schen wieder  auf;  heben  wir  ihn  wieder  empor,  daß  er  sich  selbst 
vertraut.  Und  er  wird  ungeahnte  Früchte  treiben.  Er  wird 
wieder  ein  Leben  schaffen,  um  dessentwillen  das  ganze  Dasein 
gerechtfertigt  scheint,  das  seinen  Goldglanz  auf  alles  Dasein 
ausstrahlt. 

Aber  all  die  Scheiternden,  Fallenden,  die  nicht  ihre  Schönheit, 
ihr  Glück  erreichen?  Wir  sagten,  die  Welt  ist  keine  Allmacht. 
Was  tröstet  die  Enterbten,  die  ihr  Ziel  verfehlen?  Die  Welt  ist 
eine  Jagd  nach  dem  Glück  der  Schönheit.  Wer  fällt,  muß  freudig 
fallen.  Er  darf  dem  Leben  nicht  fluchen.  Er  muß  die  Glück- 
lichen segnen,  muß  ihnen  noch  ein  fröhliches,  herzliches  Auf! 
Weiter!  zurufen,  wie  der  fallende  Krieger  der  Schlacht  noch  an 

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Die  künftige  Religion.   III. 


dem  Glück  der  siegenden  Kameraden  sich  labt,  mit  diesem  Sieges- 
gefühl selig  stirbt.  Das  Leben  ist  keine  Kinderei,  kein  Spaß, 
kein  Spiel.  Es  ist  ein  Wagnis.  Auf,  lasset  uns  dieses  Wagnis 
wagen!  Wer  scheitert,  scheitere  gern;  mußte  er  doch  wissen, 
was  er  tat,  als  er  das  Leben  begann.  Das  Leben  ist  für  Helden 
gemacht  und  nicht  für  Feige.  Wir  müssen  es  uns  verbitten, 
daß  die  Verunglückten,  Gebrochenen,  Bekümmerten  über  das 
Leben  richten.  Lange  genug  haben  sie  den  Wert  des  Lebens 
bestimmt.  Die  Gesunden  sollen  nicht  nur  Mitleid  haben  mit  den 
Kranken,  sondern  die  Kranken  auch  mit  den  Gesunden.  Sie 
sollen  nicht  fordern,  daß  diese  in  ihr  Lied  mit  einstimmen.  Wer 
Schmerz  hat,  der  trage  den  Schmerz  in  der  Stille.  Er  verun- 
glimpfe das  Leben  nicht.  Er  lasse  nicht  die  ganze  Welt  wieder- 
hallen von  seinem  Schmerz,  Ihm  muß  das  Leben  heilig  sein. 
Er  darf  es  nicht  entweihen.  Er  koste  seinen  Schmerz  aus;  aber 
er  erscheine  fröhlich,  daß  er  nicht  auch  die  Glücklichen  erschreckt, 
verfinstert.  Er  habe  Scheu  vor  ihrem  Glück.  Er  breche  nicht 
verwüstend  ein  in  den  Garten  ihres  Glücks.  Wohl,  dazu  gehört 
Größe.  Aber  das  Leben  ist  eben  für  die  Größe  angelegt,  für 
hochgewachsene  Geister,  für  Heiden.  Wer  stolz  ist,  der  will 
kein  Mitleid.  Sein  Glück  will  er  mit  jedem  teilen.  Sein  Un- 
glück behält  er  für  sich  allein.  Wenn  diese  Gesinnung  herrscht, 
behält  das  ganze  Leben  seinen  Glanz,  seinen  Adel.  Aus  dem 
Leben  fallen  viele  heraus.  Jedes  Leben  ist  ein  Versuch.  Aber 
die  Geretteten,  die  Siegreichen  stehen  aufrecht,  ein  stolzes 
Triumphlied  im  Busen,  alles  Dasein  mit  ihrer  Schönheit  ver- 
schönend, mit  ihrem  Glück  beglückend. 

Aber  schlägt  nicht  auch  zuletzt  für  die  Glücklichen,  die 
Schönen  eine  angstvolle  Stunde?  Aus  Wille  und  Zeit,  hatten 
wir  gesagt,  baut  sich  die  Welt.  Im  Kampfe  mit  der  Zeit,  die 
ihn  spaltet  und  hemmt,  schafft  sich  der  Wille  die  Form,  die  Ge- 
stalt, das  Leben.  Aber  wird  nicht  doch  immer  wieder  die  Zeit 
über  den  Willen  Herr?  Muß  nicht  jede  Gestalt  wieder  verfallen? 
Jede  Gestalt  —  ein  schöner  Ton  aus  der  unharmonischen  Tiefe 
heraus.  Aber  auch  verhallend,  verklingend  wie  jeder  Ton.  Als 
letzter  Feind  und  Verneiner,  der  unseren  ganzen  Schönheits- 
traum verweht,  der  uns  zurückschleudert  in  die  Armut,  in  die 


351 


Zweiter  Teil. 

Gebrechlichkeit,  als  dieser  letzte,  wie  es  scheint,  unbesiegbare 
Feind  erhebt  sich  mit  finsterer  Macht  der  Tod,  der  unerbittliche. 
Was  kann  den  Tod  besiegen?  Wir  haben  diese  Frage  vergessen. 
Die  Menschen  irren  und  taumeln  durchs  Leben  hin.  Es  scheint, 
der  Tod  hat  keine  Macht  über  sie.  Aber  sie  haben  sich  den  Ge- 
danken an  den  Tod  nur  aus  dem  Sinn  geschlagen.  Sie  haben 
ihn  erdrückt,  erstickt.  Aber  das  schafft  keine  wahre  Ruhe. 
Man  darf  einem  Gegner  nicht  aus  dem  Wege  gehen.  So  bleibt 
er  hinterrücks  eine  Gefahr.  Man  muß  ihn  aufsuchen,  besiegen. 
Dann  steht  die  Seele  fest  und  aufrecht.  So  halte  es  der  Mensch 
auch  mit  seinem  furchtbarsten  Gegner,  dem  Tode. 

Was  ist  der  Tod?  Wer  kann  uns  den  Tod  besiegen?  Das 
Leben  ist  ein  Versuch,  ein  Wagespiel  des  sehnsüchtig  leidenden 
Willens,  der  seine  Gestalt  und  Schönheit  will.  Wie  oft  miß- 
lingt ihm  dieser  Versuch!  Wie  oft  zerfällt  die  Gestalt,  ehe  sie 
ihre  Schönheit  gefunden!  Rauhe  Stürme  schütteln  so  viele 
hoffende  Frühlingsblüten.  Und  auch  der  Wille,  der  seine 
Schönheit  errungen  hat,  der  sich  ganz  in  Form  gegossen 
hat,  der  ganz  Gestalt,  ganz  Leben  ward,  der  keinen  klein- 
sten Tropfen  in  seinen  verborgenen  Fässern  vergessen  hat, 
sondern  alles  ausgeschüttet  hat,  daß  es  in  dem  Kelche  seines 
Lebens  perlt  und  schäumt,  auch  dieser  vollendete  Wille  ist  dem 
Tod  verfallen.  Dadurch,  d  a  ß  er  vollendet  ward,  daß  er  nichts 
vergaß,  daß  nichts  Ungeformtes,  Unerlöstes  mehr  in  ihm  ruht, 
daß  er  sich  ganz  erschöpfte,  damit  gibt  er  wieder  dem  Tod  sein 
Recht.  Die  Schönheit  ist  ein  Geschenk  des  Augenblicks.  Ist 
dieser  Augenblick  erreicht,  kam  die  Schönheit  zum  Lichte,  fand 
der  Wille  sein  Ziel,  so  muß  er  wieder  zurückebben.  Das  Chaos 
wird  wieder  Herr  über  die  Schönheit.  Das  Nichts  besiegt  wieder 
den  Willen.  Er  hat  dem  Nichts  eine  Schönheit,  eine  Gestalt 
abgerungen.  Nun  schleicht  wieder  das  Nichts  herbei  und  löst 
die  Schönheit  auf.  Und  wie  im  einzelnen,  so  im  ganzen.  Wenn 
aller  Wille  organisiert  ist,  wenn  der  ganze  Wille  Schönheit, 
System  geworden  ist,  wenn  die  Welt  ein  einziger  schön  geformter 
Organismus  ist  —  was  die  Welt  gewiß  nicht  ist;  Chaos  ist  die 
Welt  im  weitesten  Ausmaß  noch,  sie  sucht  noch  ihre  Schönheit  — 
aber  denken  wir  uns  diese  Entwicklung  zur  Höhe  gelangt,  den 


Die  künftige  Religion.    III. 


ganzen  Willen  hin-  und  ausgegossen  in  seiner  Schönheit,  in 
seiner  Gestalt  vollendet,  dann  staut  unzweifelhaft  auch  der 
Schöpferwille  in  seiner  Ganzheit  zurück.  In  seinem  Ringen  nach 
Schönheit  und  Gestalt  hat  er  sich  verzehrt,  nun  verfällt  er  wieder 
dem  Chaos.  Wenn  der  Welt  eine  Zweiheit  zugrunde  liegt,  so 
müssen  diese  Gegensätze  auch  in  ihrer  Herrschaft  wechseln 
Die  beiden  Urgegensätze  des  Daseins  vollführen  einen  rhythmi- 
schen Gang  miteinander.  Dem  Schritt  muß  der  Gegenschritt 
folgen.  Tag  und  Nacht,  Helle  und  Dunkelheit,  Schönheit  und 
Wirrsal,  Ordnung  und  Wüste,  Leben  und  Tod  müssen  auch  im 
Allsein  wechseln.  Noch  sind  wir  Jünger  des  Tages.  Ein  un- 
endliches Schönheitssehnsuchtslied  klingt  noch  durch  alles  Da- 
sein. Der  Wille  lechzt  und  strebt  noch  unersättlich.  Sein  Reichtum 
dünkt  ihm  unerschöpflich.  Aber  irgendwann  legt  sich  der  Schleier 
des  Nichts  auch  wieder  über  den  Allwillen.  Die  Zeit  hat  ihn 
aufgerieben.  Er  hat  gesiegt,  nun  aber  muß  er  wieder  unterliegen, 
und  so  in  ewigem  Wechsel.  Aber  ich  sage:  dem  Tode  des  Schönen 
ist  der  Stachel  genommen.  Alles  Reife  will  sterben;  denn  es  kann 
sein  Glück  nicht  tragen.  Alles  Reife  lechzt  nach  dem  Tode. 
Wer  seine  Schönheit  fand,  wer  seinen  Willen  ganz  in  Form  ge- 
bracht hat,  daß  er  bis  auf  den  letzten,  versprühenden  Rest  Gestalt 
gewonnen,  daß  er  ganz  und  gar  lebt,  daß  er  in  ihm  wie  in  einem 
beengenden  Gefäße  quillt  und  schäumt,  —  der  lebt  in  einer 
seligen,  aber  auch  zugleich  in  einer  schweren  Spannung.  Das 
Herz  ist  ihm  immer  wie  zum  Zerspringen  voll.  Es  gibt  nicht 
nur  Tränen  des  Schmerzes,  sondern  auch  Tränen  des  Glückes. 
Das  höchste  Glück  wird  fast  ein  Schmerz.  Selig  ist  der  Rausch 
der  Schönheit.  Aber  fast  erträgt  ihn  nicht  das  Herz.  Es  muß 
sich  in  Tränen  entladen.  Und  einen  Schritt  weiter  noch,  so 
wünscht  es  selbst  den  Tod.  Hast  du  noch  nie  einen  großen 
Augenblick  erlebt?  Wenn  du  einen  großen  Augenblick  erlebt 
hast,  so  wirst  du  wissen,  daß,  als  der  Rausch  am  höchsten  war, 
als  du  fast  im  Taumel  deines  Glückes  vergehen  wolltest,  du  den 
Wunsch  hattest,  es  möchte  ein  Ende  nehmen.  Denn  du  ver- 
mochtest das  Gedränge  dieser  Seligkeit  nicht  mehr  zu  fassen. 
So  der  Glückliche  mit  dem  Leben.  Der  Glückliche  wandelt 
trunken  auf  der   Scheide  zwischen  Tod  und  Leben,   immer  zu 


353 


Zweiter  Teil. 

beidem  bereit.  Vor  dem  Tode  bangt,  wer  im  Leben  nicht  satt 
ward,  wer  seinem  Willen  nicht  ganz  Genüge  tat,  wer  in  seinem 
Innern  irgend  ein  Heiliges,  Edles  hat  verkümmern,  vermodern 
lassen.  Der  allein  bangt  vor  dem  Tode,  hat  er  doch  nie  das 
Glück  seiner  Schönheit,  den  Rausch  seiner  rhythmischen  Voll- 
endung nie  gekannt,  vermöge  welcher  seine  Seele  bis  in  ihr 
Unterstes,  Tiefstes  hinein  erklingt.  Wie  sollte  er  nicht  noch 
hungrig  sein!  Der  Wille  aber,  der  ganz  durch  Form  zum  Aus- 
druck kam,  der  siegreich  aus  seinem  Chaos  sich  zur  Schönheit, 
zum  Leben  erhob,  der  sein  ganzes  Genüge  fand,  der  sich  voll 
erschöpfte,  ein  solcher  Wille  geht  trunken  in  den  Tod.  Er  ist 
überladen  vom  Glück  der  Schönheit.  Er  zerbricht  an  diesem 
Überglück.  So  breitet  er  dem  Tode  freudig  seine  Arme  aus. 
Da  er  ganz  Form,  ganz  Schönheit  ward,  ward  er  erlöst.  Nun 
zuckt  er  nicht  mehr,  wenn  der  Schatten  des  Todes  naht.  Er 
hat  seinen  Sinn  erfüllt.  Wie  sollte  er  nicht  gerne  sterben 
wollen! 

Nur  da  es  ewig  vom  Nichts  umringelt  ist,  darum  hat  das 
Leben  diese  heiße  Glut.  Lieben  kannst  du  nur,  was  du  als  ein- 
ziges liebst.  Alle  wahrhafte  Liebe  ist  Liebe  zu  etwas  Unersetz- 
lichem, Unwiederbringlichem.  Darum  ist  der  Tod  nicht  der 
Feind,  sondern  der  Freund  des  Lebens  Wille  und  Nichts  bauen 
gemeinsam  die  Welt;  aus  ihrer  Begattung  nur  kann  das  Leben, 
die  Schönheit  erstehen.  Begreife  den  tiefen  Sinn  der  Zweiheit, 
der  Spaltung  im  Dasein.  Ohne  die  ewige  Furcht  vor  dem  Tode, 
ohne  die  ewige  ernste  Mahnung  des  Nichts,  ohne  den  steten 
Anreiz  des  drohenden  Abgrundes  würde  der  Wille  erlahmen,  er- 
löschen. Der  Tod,  das  Nichts,  die  Zeit,  die  Vergänglichkeit  — 
oder  wie  du  die  geheimnisvolle  verneinende  Kraft  im  Dasein 
nennen  willst  —  jagt  den  Willen  hinein  in  das  Leben,  die  Gestalt, 
die  Schönheit.  Der  Wille,  ewig  vom  Nichts  gereizt,  gehetzt, 
kann  sich  nicht  anders  retten,  als  daß  er  sich  in  die  Schönheit 
flüchtet.  Ewig  vom  Nichts  umlagert,  umlauert,  muß  er  den 
Augenblick  zur  höchsten  Weihe  gestalten,  daß  der  schöne  Augen- 
blick ihm  über  die  Wüste  des  Nichts  hinüberhelfe,  ihn  die  Finster- 
nis, die  Nacht  vergessen  lasse.  So  erzeugt  auch  das  Nichts  das 
Leben;  so  ist  auch  der  Tod  der  Vater  des  Schönen.     Das  Ewige 

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Die  künftige  Religion.    III. 


ist  nicht  das  Wertvolle,  Heilige,  Schöne.  Das  Ewige  ist  das 
Wertlose,  Wüste,  Gestaltlose.  Nicht  das  Vergängliche  sehnt  sich 
nach  dem  Unvergänglichen.  Das  Unvergängliche  sehnt  sich 
ewig  nach  dem  Vergänglichen.  Die  gestaltlose  Ewigkeit  sucht 
die  Gestalt  als  ihre  Erlösung.  Das  Ewige  ist  das  ewig  Leidende, 
Suchende,  Bangende.  Der  Zauber  der  Gestalt  hat  es  der  Ewig- 
keit angetan.  In  der  Gestalt  will  sich  die  wogende  Ewigkeit 
rhythmisch  gliedern  und  sich  so  erlösen,  von  seiner  Wüste 
heilen.  Zwar  die  Gestalt  bezahlt  sich  mit  dem  Tode,  mit  der 
Vergänglichkeit.  Aber  der  Adel  der  Gestalt,  die  klingende 
Musik  der  Gestalt,  das  Glück  der  Gestalt  wiegt  die  ganze  Wüste 
der  Ewigkeit  auf.  E  i  n  schöner  Ton  aus  der  grausigen  Tiefe 
heraus,  und  der  Allwille  entzückt  sich  an  dieser  verklingenden 
Schönheit,  er  vergißt  das  Leiden  seiner  Ungestalt,  er  erlebt  einen 
seligen  Augenblick.  Nicht  der  Augenblick  will  sich  zur  Ewig- 
keit ausdehnen,  erweitern,  sondern  die  Ewigkeit  will  sich  zum 
Augenblick  verengern,  verdichten.  Im  schönen  Augenblick 
der  Gestalt  jauchzt  die  gestaltlose  Ewigkeit  auf.  Das  Leben  ist 
der  verrinnende  Schaum  auf  der  Oberfläche  des  Meeres  der 
Ewigkeit,  den  der  gestaltlos  wogende  Schlund  nach  oben  spült. 
Aber  nur  in  diesem  tanzenden,  funkelnden,  glitzernden  Schaum 
liegt  alle  Schönheit,  liegt  alle  trunkene  Lust,  alles  Jubeln  und 
Sehnen  des  Meeres  der  Ewigkeit.  Im  Grenzenlosen  wollte  man 
den  Menschen  heimisch  machen.  Er  sollte  seinen  Blick  über 
die  Erde  hinauswerfen  und  im  Unermeßlichen  hausen  lernen. 
Aber  das  Grenzenlose  ist  nicht  für  den  Menschen.  Im  Grenzen- 
losen taumelt  er.  Verschweifen  wir  uns  nicht.  Halten  wir 
im  Begrenzten  Stand.  Hold  sind  alle  Schranken.  Nur  die  Schran- 
ke, nur  die  Grenze  wirkt  die  Schönheit,  i  s  t  die  Schönheit.  Die 
Schranke,  die  Grenze  ist  nicht  ein  Unglück,  eine  Fessel,  eine 
Schwäche.  Die  Grenze  ist  die  Stärke,  die  Entfaltung,  der  letzte 
Wunsch,  das  Glück.  Das  Ewige  will  sich  begrenzen,  sich 
zu  festen  Gebilden  fügen,  sich  in  schönen  Schranken  gliedern. 
Ich  weiß,  du  suchst  die  Schönheit.  So  nimm  denn  auch  den 
Glauben  an,  der  diese  Schönheit  schafft.  Nur  der  heilige  Glaube 
an  die  Gestalt  als  an  das  einzige  Leben,  die  Ehrfurcht  vor  dem 
Maß,  der  Grenze  können  die  Schönheit  zeugen.     Umarme  die 


355 


Zweiter  Teil. 

Gestalt,  trinke  alle  wonnige  Glut  der  Gestalt.  Vergiß  die  Ewig- 
keit, gib  dich  hin  an  die  Vergänglichkeit.  So  gebierst  du  die 
Schönheit.  Mit  deiner  Schönheit  aber  erlöst  sich  in  dir  die 
Ewigkeit.  Im  Glück  dieser  Schönheit  vergißt  du  Anfang  und 
Ende,  Geburt  und  Tod.  Wie  zwei  Liebende  in  seliger  Zwie- 
sprache Raum  und  Zeit  vergessen  —  sie  wissen  nichts  von 
Vergangenem  oder  Zukünftigem,  sie  sind  ganz  dem  Augenblick 
verfallen,  im  Jetzt  verloren  —  so  der  Gläubige,  Glückliche  mit 
dem  Leben.  Du  glaubst,  du  kennst  das  Leben.  Aber  du  kennst 
das  Leben  nicht.  Du  nimmst  dein  Leben  nur  hin.  Du  haspelst 
dein  Leben  nur  ab.  Spinne  dich  ein,  webe  dich  ein.  Nur  wenn 
du  dich  dem  Leben  ergibst,  ergibt  sich  das  Leben  dir.  Wenn  du 
so  lebst,  so  liebend  lebst,  so  schöpferisch  lebst,  dann  bist  du  er- 
haben über  alle  Vergänglichkeit.  Dann  ist  dir  der  Tod  nur  der 
notwendige  dunkle  Grundton  im  Dasein,  der  die  Melodie  des 
Lebens  nur  um  so  heller  erklingen  läßt,  der  ernste  Mahner,  der 
zu  allem  Leben,  zu  allem,  was  Gestalt  hat,  warnend  spricht: 
lebe,  lebe! 

Dies  ist  die  Religion  der  Griechen,  die  unbewußte  Religion 
Homers.  Homer  ist  nicht  nur  das  schönste,  es  ist  auch  das 
weiseste,  tiefste  Buch  der  Erde.  Denn  es  hat  das  Leben.  Es 
zeigt  das  Leben  in  unnachahmlichem  Glänze.  Nicht  die  Schön- 
heit Homers  erschüttert  uns,  sondern  der  Glaube,  der  diese  Schön- 
heit erschuf.  Welche  gläubigen  Verehrer  der  Gestalt,  des  Le- 
bens! Das  war  ein  herrlicher,  vielverheißender  Anfang  Eu- 
ropas. Aber  das  Griechentum  erfüllte  seine  Aufgabe  nicht. 
Das  Griechentum  erlitt  auf  der  Höhe  Schiffbruch.  Es  schuf 
nicht  die  zu  Homer  gehörige  Religion.  Es  gibt  nicht  nur  Tragik 
im  Einzelleben,  sondern  auch  Tragik  im  Völkerleben.  Das 
Griechentum  gipfelt  in  Piaton.  Aber  Piaton  war  der  letzte  Grieche 
und  auch  zugleich  der  erste  Christ.  Es  ist  ein  wunderbares  Doppel- 
spiel in  Piatons  Seele.  Piaton  war  das  Verhängnis  Europas.  Er 
fluchte  dem  Griechentum,  er  strich  sein  eigenes  Volk  durch. 
Man  möchte  noch  heute  wehe,  wehe!  rufen  über  diese  Tat.  So 
brach  er  der  asiatischen  Religion  die  Bahn.  Alle  asiatischen 
Religionen  haben  einen  Klang  der  Müdigkeit,  der  Schwäche, 
der  Sehnsucht  aus  dem  Menschen  heraus.    Sie  blicken  zweifelnd, 


Die  künftige  Religion.    III. 


verstört  auf  das  Leben.  Sie  wollen  das  Leben  nicht  stärken;  sie 
zittern  vor  ihm.  Sie  suchen  ihm  zu  entfliehen,  es  abzudämpfen. 
Darum  schläft  auch  Asien,  seitdem  diese  Religionen  dort  herr- 
schen, einen  ewigen  Schlaf.  Was  aber  in  Europa  Großes  geschah, 
geschah  vor  dem  Christentum  —  denn  auch  das  Christentum 
ist  wie  alle  asiatischen  Religionen  eine  Religion  des  Todes  und 
nicht  des  Lebens  —  oder  nach  dem  Christentum,  als  das 
Christentum  schon  wankend  geworden,  trotz  des  Christentums. 
Seitdem,  seit  es  wieder  zu  erwachen  begann,  sucht  Europa  eine 
Religion  des  Lebens.  Das  Leben  bricht  wohl  hin  und  wieder 
mit  wilder  Urkraft  hervor,  in  den  Nibelungen,  in  Shakespeare. 
Aber  es  fehlt  der  letzte  Adel,  die  letzte  Schönheit.  Es  fehlt  der 
homerische  Glanz.  Es  ist  ein  erkämpftes,  ertrotztes  Leben. 
Sonst  aber  ist  alles  höchste  Schaffen  Europas  ein  deutliches, 
unablässiges,  sehnendes  Suchen  nach  Leben.  Die  Renaissance, 
die  reichste,  üppigste  Blüte  des  europäischen  Lebens  gipfelt  in 
Michelangelo.  Aber  was  ist  Michelangelo  anders  als  ein 
schmerzhaftes,  krampfhaftes,  wildes  Suchen  nach  Leben?  Und 
Goethe?  Goethe  kommt  Homer  am  nächsten.  Er  hat  fast 
das  Griechentum.  Aber  auch  Goethe  noch  bleibt  ein  Suchender. 
Warum  ist  Faust  das  tiefste  Gedicht  der  neueren  Menschheit? 
Weil  Faust  das  Leben  sucht.  Wir  aber  wollen  nicht  länger 
Suchende  sein;  wir  wollen  endlich  Habende  sein.  Soll  Europa  nicht 
auch  seine  Religion  haben?  Sollen  wir  immer  nur  von  fremdem 
Gute  leben?  Immer  nur  ein  Nachhall,  ein  verspäteter  Traum? 
Schaffen  wir  eine  Religion  des  Lebens,  eine  homerische  Religion 
des  Menschenadels,  der  selbsterlösenden  Kraft  im  Menschen,  der 
Verehrung  der  Gestalt  als  des  einzigen  Lebens,  der  Erlösung 
durch  Schönheit.  Mit  dieser  Religion  bekommt  der  Mensch 
seine  Unschuld  wieder,  wie  die  Blumen  und  Sterne,  und  so  kann 
er  ein  Leben  schaffen  wie  einst  das  griechische,  das  die  Jahr- 
tausende überstrahlt,  an  dem  sich  Jahrtausende  satttrinken  und 
es  doch  nicht  erschöpfen.  Denn  es  ist  die  Krone  der  Menschheit, 
der  Inbegriff  der  Menschheit.  Drum  strahlt  es  über  alle  Mensch- 
heit hin. 


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Im  Verlag  von  Julius  Zeitler  in  Leipzig  erschienen  gleichfalls 

DR.  AUGUST  HORNEFFER 
DER  VERFALL  DER  HOCHSCHULE 

Preis  brosch.   M  2.  — 

Diese  Schrift  steht  in  engem  Zusammenhang  mit  dem  ,, Klas- 
sischen Ideal".  Sie  sucht  der  offenkundigen  Schwäche  unseres 
gesamten  Universitäts-  und  Bildungswesens  auf  den  Grund  zu 
gehen.  Scharf  und  rücksichtslos,  aber  ohne  jede  revolutionäre 
oder  agitatorische  Tendenz  werden  die  Fehler  klar  gelegt,  wobei 
in  gleicher  Weise  wie  die  gelehrten  auch  die  künstlerischen  Zu- 
stände zur  Sprache  kommen.  Dr.  Horneffer  bleibt  nicht  bei  der 
Kritik  stehen,  sondern  gibt  überall  zugleich  positive  Gedanken 
und  macht  praktische  Vorschläge. 

ERNST  HORNEFFER 

KATHOLICISMUS  IN  DER 

PROTESTANTISCHEN  KIRCHE 

Worte  zur  Abwehr  an  meine  Zuhörerschaft  in  Kassel 

Preis  brosch.    M  1.20 

Dieser  Veröffentlichung  liegt   ein  Vortrag  zu  Grunde,    den 
Dr.  Ernst  Horneffer  zu  Kassel  hielt.     Die  Schrift  wird  ver- 
vollständigt durch  einen  dreifachen  Anhang. 


Maschinensatz  und  Druck  von  der  Buch- 
druckerei Breitkopf  und  Härtel  in  Leipzig 


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