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Full text of "Kleinere Schriften;"

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KLEINERE  SCHRIFTEN 


VON 


WILHEL3I   GRI3I3I 

V,  3    li'3^^ 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


GUSTAV     HINRICHS 


ZWEITER   BAND 


BERLIN 

FERD.  DÜMMLERS  VERLAGSBUCHHANDLUNG 

HARRWITZ    TNO    fiOSsMAVX 

1882 


VORWORT. 


JL/er  vorliegende  zweite  Band  der  Kleineren  Schriften  ent- 
hält alle  Recensionen,  soweit  sie  sich  auffinden  liessen  und  nicht 
etwa  schon  in  den  ersten  Band  aufgenommen  worden  sind,  mit 
Ausnahme  der  Anzeige  von  Herzog  Ernst  und  der  für  das 
Litterarische  Centralblatt  geschriebenen,  zehn  bis  zwölf  an  der 
Zahl.  Mit  ihnen  verbinden  sich  die  Antikritiken,  welche  einige 
interessante  Züge  zu  dem  Bilde  von  Wilhelm  Grimms  wissen- 
schaftlichem Charakter  hinzuliefern.  Dieses  sich  zu  vergegen- 
wärtigen bietet  der  herannahende  hundertjährige  Geburtstag 
Jacobs  sowohl  als  Wilhelms  eine  vorzügliche  Veranlassung. 
Da  die  überwiegende  Anonymität  der  Kritiken  zur  nothwendigen 
Folge  hatte,  dass  das  Meiste  von  dem  hier  Zusammengestellten 
mehr  und  mehr  in.ycrgessenheit  gerathen  ist,  so  verdient  dieser 
Kecensionenband  besondere  Beachtung.  Finden  sich  doch  hier 
die  treffenden,  geistvollen  Bemerkungen  und  feinsinnigen  Beob- 
achtungen, welche  W.  Grimm  hie  und  da  über  das  Wesen  des 
Epos  gemacht  hat,  zusammen;  es  genügt  an  die  historisch  ge- 
wordene, S.  10  durch  den  Druck  hervorgehobene  Stelle  über 
das  Volkslied  zu  erinnern. 

Über  die  zu  erweisende  Verfasserschaft  der  anonymen  Re- 
censionen aus  der  Leipziger  Litteraturzeitung  und  den  Göttingischen 
gelehrten  Anzeigen  ist  im  Vorwort  zum  ersten  Band  das  Nöthige 
gesagt.  Für  die  Heidelbergischen  Jahrbücher  der  Litteratur  ist 
es  mir  trotz  mehrfacher  Anfragen,  durch  deren  freundliche  Be- 
antwortung mich  die  Herren  Prof.  Dr  K,  Zangemeister,  Verlags- 
buchhändler Gustav  Koester  in  Heidelberg,  Heinrich  Zimmer  in 
Homburg  v.  d.  Höhe,  Paul  Siebeck  in  Freiburg  im  Br.  zu  Dank 
verpflichtet  haben,  nicht  gelungen-,  irgend  welche  genaue  Aus- 
kunft über  den  Antheil  W.  Grimms  zu  erhalten.  Nicht  zu  be- 
legen ist  die  Autorschaft  von  den  folgenden  vier  Recensionen: 
Aage  ogElse  von  Rahbek,  Arius Multiscius  vonWerlauff,  Büschings 


IV 


VORWORT. 


Wöchentliche  Nachrichten  und  Nyerups  Morskabsläsning.  Dass 
W.  Grimm  nach  der  ersten  Ankündigungsschrift  der  dänischen 
Kämpeviser:  Axel  Thordsen  og  Skjön  Valborg  auch  die  zweite: 
Aage  og  Else  angezeigt  hat,  obwohl  diese  Besprechung  vor 
jener  abgedruckt  worden  ist,  ist  an  sich  und  aus  ihrem  Inhalt 
(vgl,  besonders  Palnatoke)  so  wahrscheinlich,  dass  beide  in  der 
Sammlung  der  Kl.  Sehr,  auseinanderzureissen  nicht  rathsam 
schien.  Die  drei  übrigen  Recensionen  sind  in  den  Anhang  ver- 
■  wiesen  worden.  Die  erste  ist  W.  Grimm  allerdings  nur  aus 
Conjectur  zuzuschreiben.  Bei  der  zweiten  und  dritten,  welche 
J.  Grimm  in  einem  seiner  Ausschnittsbändchen  ebenfalls  ge- 
sammelt hat,  freilich  ohne  wie  sonst  den  Verfasser  zu  nennen, 
bleibt  kaum  ein  Zweifel  übrig.  Aus  seinem  Schweigen  folgt 
nichts  mit  Gewissheit  gegen  diese  Annahme;  denn  einmal  ist 
das  Inhaltsverzeichnis  auf  den  Umschlägen  jener  Bändchen  nicht 
fehlerfrei,  was  sich  aus  der  Notiz  über  die  Kritik  von  Simrocks 
Walther  voij  der  Vogelweide  ergibt,  noch  ist  es  vollständig,  da 
er  z.  B.  seine  eingeheftete  Anzeige  von  Goethes  Briefwechsel 
mit  einem  Kinde  selbst  nicht  aufgeführt  hat.  W.  Grimm  hat 
bei  der  Recension  über  Büschings  Zeitschrift  eigenhändig  etwas 
nachgetragen,  wie  sonst  öfter  bei  Stücken,  die  von  ihm  her- 
rühren. Das  unterzeichnete  <p  halte  ich  für  verdruckt  statt  7 
oder  Yp.,  wie  die  Anzeige  von  Arnims  Kronenwächtern  aus  dem 
Jahre  1818  (s.  Bd  I,  S.  310)  mit  ßy  (Bettina.  Grimm)  unter- 
schrieben ist.  Sachlich  weisen*  in  beiden  Stücken,  wie  Herr  Pro- 
fessor Dr  Scherer  durch  eine  gütig  vorgenommene  Prüfung  fest- 
stellte, ohne  selbst  ein  bestimmtes  Urtheil  abzugeben,  das  Interesse 
an  den  Zeugnissen  zur  Pleldensage  und  die  Erwähnung  der 
Boisseree'schen  Sammlung,  eines  Aufenthalts  zu  Leipzig,  der 
Thiersage,  Eilharts  von  Hobergen  u.  a.  auf  W.  Grimm  hin.  Aber 
auch  im  Einzelnen  lassen  bestimmte  Wendungen,  wie  die  beliebte 
„Eins  und  das  Andere",  seine  Hand  vermuthen,  so  dass  die  Auf- 
nahme dieser  Recensionen  in  den  Anhang  wohl  gerechtfertigt  er- 
scheinen darf.  Derselbe  enthält  ausserdem  Ankündigungen  und 
kürzere  Erklärungen,  für  welche  sich  ein  anderer  Platz  nicht  fand. 
Wien,  tleii   1.  Octoltor  1881. 

Gustav  H  i  n  r  i  c  h  s. 


INHALTSVERZEICHNIS. 


Seite 

Vorwort       IH— IV  . 

Nyerap,  Axel  Thordsen  og  Skjön  Valborg 1 —   12 

Rahbek,  Aage  og  Else 12 —   13 

P.  E.  Müller,  Über  die  Echtheit  der  Asalehre  und  den  Werth  der  \ 

Snorroischen  Edda (    i  j 

Nyerup,  Om  Edda (* 

Nverop,  Edda  eller  skandinavemes  hedenske  gudeläre   .     .     .     .  ' 
J.  Müller,  Heldengesang  vom  Zuge  gegen  die  Polowzer,  des  Fürsten 

vom  sewerischen  Nowgorod  Igor  Swätslawlitsch SS —  41 

V.  d.  Hagen,  Der  Helden  Buch 41 —  51 

V.  d.  Hagen,  Narrenbuch 52 —  77 

Eschenburg.  Boners  Edelstein 77 —  80 

Kühs,  Die  Edda 88—  99 

Antwort  des  Recensent«n,  Epikritik  gegen  Rühs 100 — 103 

Sendschreiben  an  Gräter 104—136 

Rühs,  Über  den  Ursprung  der  isländischen  Poesie  aus  der  angel- 
sächsischen      137  — 154 

Bemerkung 154 — 156 

Antikritik  gegen  A.  W.  von  Schlegel 156 — 161 

Göttling,  Nibelungen  und  Gibelinen 161 — 175 

Lachmann,  Über  die  ursprüngliche  Gestalt  des  Gedichts  von  der 

Nibelungen  Noth 176—195 

Wandergeschichten  und  Legenden  der  Deutschen 195 — 197 

Mailäth  und  Köffinger,  Koloczaer  Codex  altdeutscher  Gedichte  198 — 206 

Reineke  Fuchs 206 — 207 

IL  Schubart,  Schottische  Lieder  und  Balladen  von  W.  Scott .     .  208—210 

Mone,  Einleitung  in  das  Nibelungenlied 210 — 220 

Rhode.  Ossians  Gedichte 220—221 

V.Schmidt,  Märchensaal 221 — 225 

Sturlünga-Saga 226—227 

Busching,  Hans  Sachs.     Erstes  Bach 227 — 232 

Furchau,  Hans  Sachs 233—234 

Frau  Holle 234—235 

Köpke,  Barlaam.  und  Benecke,  Wigalois 235 — 249 

Edda  Saemundar.     Pars  II 250—265 

Dorow,    Opferstätte    and   Grabbügel    der  Germanen   and  Römer 

am  Rhein 265—273 

Fürst  Wladimir  und  dessen  Tafelrande 274—275 


VI  INHALTSVERZEICHNIS. 

Seite 

Büsching,  Hans  Sachs.     Zweites  Buch 276 — 277 

J.  Wolff,  Runakefli  le  runic  rim-stoc  ou  calendrier  runique      .     .  278 — 279 

P.  E.  Müller,  Undersögelse  om  Snorros  kilder  og  trovärdighed    .  279 — 283 

Anzeige  der  Schlesischen  Bemühungen 284 — 285 

Correspondenz  der  Schlesischen  Gesellschaft 286 

V.  Schmidt,  Rolands  Abenteuer  nach  Bojardo 286—289 

V.  Schmidt,  Beiträge  zur  Geschichte  der  romantischen  Poesie     .  289 

F.Magnussen,  Bidrag  til  nordisk  archäologie 290 — 294 

P.E.Müller,  Undersögelse  af  Danmarks- og  Norges  sagnliistorie 

eller  om  trovärdigheden  af  Saxos  og  Snorros  kilder  ....  294 — 302 

Werlauff,  Symbolae  ad  geographiam  nicdii  aevi 302^ — 305 

Westendorp,  Hunehedden 306 — 323 

Bredsdorff,  Om  runeskriftens  oprindelse )  „,, 

Brynjulfsen,  Periculum  runologicum )    " 

Lyngb<ye,   Färöiske   qüäder  om  Sigurd  Fofnersbane  og  Hans  At  338 — 347 

Varnhagen,  Biographische  Denkmale 348—350 

F.Magnussen,  Den  aeldre  Edda 350—353 

Bilder.dijk,  Van  het  letterschrift 353 — 365 

Nyerup,   Verzeichnis  der   in   Dänemark    1824   noch  vorhandenen 

Runensteine 365 — 370 

Fairy  legends  and  traditions  of  tlie  South  of  Ireland 370 — 373 

The  populär  superstitions  and  festive  amusements  of  the  highlanders 

of  Scotland 373—375 

Liljegreen  och  Brunius,  Nordiska  fornlemningar 376 — 379 

V.  Schmidt,  Petri  Alfonsi  disciplina  dericalis 380 — 383 

Heiberg,  Nordische  Mythologie 384—385 

Lach  mann,  Die  Gedichte  Walthers  von  der  Vogelweide     .     .     .  385 — 395 

Edda  Saemundar.     Pars  HI 396—397 

Sjöborg,   Samlingar  för  Nordens  fornälskare 398 — 415 

Klüwer,  Norske  niindesmaerker 415 — 416 

W.  Grimm,  Die  deutsche  Heldensage 416 — 423 

W.  Grimm,   De  Hildebrando  antiquissimi  carminis  teutonici  frag- 

mentum 423 — 426 

Simrock,  Der  arme  Heinrich 426 — 427 

Echtermeyer,   Henschel,  Simrock,   Quellen  des  Shakespeare 

in  Novellen,  Märchen  und  Sagen      .     .     .* 427 — 430 

0.  L.  B.  Wolff,  Sammlung  historischer  Volkslieder 430—432 

P.E.Müller,  Critisk  undersögelse  af  Saxos  histories  syv  sidste  böger  432 — 435 

Dubois,  Le  Pantcha-Tantra 435 — 438 

Liljegren,   Run-Lära 439 — 440 

Bäumlein,  Untersuchungen  über  die  ursprüngliche  Beschafifonheit 

und   weiteren   Entwickclungen   des   griechischen   und    über  die 

Entstehung  des  gothischen  Alphabets 440—447 

Schulze,  llarzgcdichte 447—449 

W.  Grimm,  Vridankes  Bescheidenheit 449 — 468 

San-Marte,  Loben  und  Dichten  Wolframs  von  Eschenbach    .     .  468 — 469 

\V.  Grimm,   Der  Rosengarte 470—471 


INHALTSVERZEICHNIS.  VII 

Seite 

Brüder  Grimm,  Kinder-  und  Hausmärchen 471 — 472 

Michel,  La  chanson  de  Roland  ou  de  Roncevaux  .     .     .     .     .     .  472 — 479 

W.Grimm,  Ruolandes  Liet 479—481 

Vilmar,   Die  zwei  Recensionen  und  die  Handschriftenfamilien  der 

Weltchronik  Rudolfs  von  Ems 481—483 

Kemble,  The  Runes  of  Anglo-Saxons 483 — 490 

Anhang 493—525 

Ankündigung  einer  Sammlung  altnordischer  Sagen 493 — 495 

Ankündigung    der    Herausgabe    der    Edda    Saemundar    und    des 

Reineke  Fuchs 495—496 

Über  die  Edda 496—501 

Ankündigung  der  Altdeutschen  Wälder 501 — 502 

Litterarische  Anzeige 502 — 503 

Aufruf.     Pränumeration  zum  Besten  der  hessischen  Freiwilligen     .  504 

Vorrede  zum  Armen  Heinrich 505 

Anzeige 506 

Erklärung 506 

Zu  den  Kinder-  und  Hausmärchen 506 — 508 

Über  Bernhard  Freidank 508 — 509 

Zurechtweisung 509—510 

Werlauff,  Arius  midtiscius  primus  Islandorum  historicus     .     .     .  511 — 512 
Bü  sc  hing,  Wöchentliche  Nachrichten  für  Freunde  der  Geschichte. 

Kunst  und  Gelehrsamkeit  des  Mittelalters 512—520 

Nyerup,  Almindelig  morskahsläsning  i  Danmark  ogNorge  igjennem 

Aarhundreder 520 — 525 


AXEL  THORDSEX  OG  SKJÖN  VALBORG, 

en  norsk  Ballade,   med  Anniärkninger  af  R.  Nyerup;   som  Pröve  paa  den  ny 

Skikkelse  hvori  Abrahamson,    Rahbek    og   Xverup    agte    at  udgive  den  saa 

kaldte  Kjempe  Visebog.     Kjöbenhavn  1809.     63  S.     8. 

Heidelbergische  Jahrbücher  der  Litteratur.     Jahrgang  R'  (1811)  Bd  I,  Xo.  24. 

S.  369—381. 

_LJiese  kleine  Schrift  hat  den  Zweck,  eine  neue  Ausgabe r.69 
des  sogenannten  Kjempevisebogs  (Kämpferliederbuchs)  an- 
zukündigen. Drei  bekannte  dänische  Gelehrte  haben  sich  dazu 
vereinigt:  sie  wollen  einen  berichtisTten  Text  liefern,  eine  andere 
höchst  seltene  Sammlung,  unter  dem  Titel  Elskovs  Viser 
(Liebeslieder)  pder  Tragi ca  gekannt,  aber  nur  noch  in  einem 
einzigen  gedruckten  Exemplar  vorhanden,  hinzufügen,  endlieh 
Sorge  tragen,  die  noch  unter  dem  Volk  ganorbaren  Melodieen 
aufzufassen,  um  auch  in  dieser  Hinsicht  die  Wünsche  zu  be- 
friedigen. Wir  haben,  wie  sich  ergeben  wird,  Ursache  uns  für 
diese  Unternehmung  des  Auslandes  zu  interessiren,  die  auch  mit 
vmserer  Litteratur  in  einem  äusserlichen  Zusammenhang  zu  stehen 
scheint,  wenn  wir  uns  nicht  darin  täuschen,  dass  die  eben  bei 
uns  begonnenen  Untersuchungen  über  altdeutsche  Poesie  auch 
den  Norden  wieder  angeregt  und  auf  seine  Schätze  aufmerksam 
gemacht  haben.  Um  so  eher  aber  dürfen  wir  das  vermuthen, 
da  einer  von  jenen  Gelehrten,  dem  wir  vielleicht  den  Entschluss 
zu  verdanken  haben  und  von  welchem  diese  Probeschrift  herrührt, 
Herr  Professor  Nyerup,  als  Kenner  und  Würdiger  der  alt- 
deutschen Litteratur  bekannt  ist,  ja  der  selbst  durch  die  Heraus- 
gabe der  Symbolae  ad  literaturam  Teutonicam  einen  nicht  un- 
bedeutenden Beitrag  dazu  geliefert  hat. 

Die  dänische  Litteratur  mit  ihrem  eigenen  Charakter  kann 
kaum  einen  wichtigeren  Gegenstand  zur  Bearbeitung  darbieten. 

W.  GRIMM,  KL.  SCHRirrKX.      II.  1 


2  AXEL   THORDSEN  OG  SKJÖN  VALBORG  UDG.  AF  NYERUP. 

In  der  früheren  Zeit  darf  sie  als  ein  Theil  der  einen  nordischen 
870  betrachtet  werden ,  die  allen  dreien  Reichen  gemeinschaftlich 
war  und  die  wir  reich  nennen  müssen,  da  in  mannigfaltigen 
Liedern,  Sagen,  selbst  in  einem  grossen  Geschichtbuch,  in  der 
Heimskringla  (gegen  welche  wir  Deutsche  nichts  aufzuweisen 
haben),  das  Leben  des  ganzen  Volks  sich  tief,  wahr,  oft  herr- 
lich ausgesprochen:  späterhin,  etwa  mit  dem  Ende  des  fünf- 
zehnten Jahrhunderts,  wo  auch  wir  unsere  neue  Zeit  anfangen, 
zeigt  sich  die  Trennung  auch  in  ihr,  und  es  erscheint  abgesondert 
eine  eigene  dänische  Litteratur,  aber  in  einer  unbeschreiblichen 
Leere  und  Unfruchtbarkeit.  Ein  Zeitraum  von  beinahe  vier- 
hundert Jahren,  der  also  noch  gar  nicht  lang  geendigt  hat,  weiss, 
fast  unglaublich,  keinen  einzigen  Dichter  von  Belang  zu  nennen. 
Der  erste  namhafte  Poet  ist  Peter  Laale,  der  in  der  zweiten 
Hälfte  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  lebte,  von  dem  eine  Samm- 
lung Sprüchwörter  existirt,  die  ihr  Verdienst  haben,  das  ihm 
aber  nicht  zugehört;  der  folgende  ist  der  Bruder  Niels  von 
Soroe,  der  eine  Reimchronik  geschrieben:  von  dieser  Art  sind 
die  meisten  folgenden  Dichtungen,  zuweilen  Übersetzungen  aus 
dem  Deutschen,  nirgends  aber  ist  darin  ein  lebendiges  Regen. 
Jede  Litteratur  hat  eine  solche  Periode  des  Stillstandes  nach 
ihrem  ersten  lebendigsten  Aufblühen,  eine  Ermüdung  nach  einer 
grossen  That,  welche  die  erste  unbewusste  Jugendkraft  voll- 
bracht hat:  wo  sie  gleichsam  ruht,  um  nachzusinnen,  worauf  sie 
bauen  dürfe,  wie  sie  mit  Bewusstsein  fortlebe  und  sich  feststelle. 
Man  kann  auch  sagen,  es  sei  das  Erkennen  der  Sünde,  der 
Leere,  da  die  Unschuld  der  ersten  Dichtung  die  ganze  Welt 
entzündet  glaubt  und  von  keiner  Unpoesie  weiss.  In  Deutsch- 
land hat  diese  Zeit  auch  nicht  gefehlt,  allein  an  den  Stützen, 
die  ein  allseitiges  Streben,  die  Bekanntschaft  mit  den  Alten 
namentlich,  die  sich  in  Hans  Sachs  so  trefflich  wirkend  zeigt, 
darbot,  hat  sie  sich  stets  wieder  aufgerichtet:  in  so  manchem 
schönen  Lied  der  schlesischen  Periode  z.  B.  hat  die  Kenntnis 
der  italienischen  und  spanischen  Dichtung  (wie  wir  sie  bei 
Opitz  und  Ilarsdörfer  finden)  Früchte  getragen.  Eben  diesem 
871  auf  einander  sich  folgenden  Erkennen  des  Einzelnen,  das  sich 
immer  zwar  als  etwas  Lebendiges,  aber  nicht  als  zureichend  aus- 


AXEL  TEIORDSEN  OG  SKJÖN  VALBORG  UDG.  AF  SYERCP.  3 

wies,  haben  wir  es  zu  verdanken,  dass  wir  immer  mehr  zu  dem 
Ganzen  hingelenkt  wurden,  wie  es  nun  in  unseren  Meistern 
leuchtet,  nachdem  einzelne  Strahlen  erst  über  die  Erde  hin- 
streiften. In  Dänemark  verhinderte  eine  solche  Aufbauung  und 
Bildung  die  Abgeschlossenheit  der  Nation,  die  durch  ein  immer 
weiteres  Vergraben  in  sich  die  Scheidewand  immer  höher  auf- 
warf, die  Ungeneigtheit  derselben  gegen  Deutschland  (die,  wie 
man  richtig  bemerkt  hat,  jedes  schwächere  Volk  gegen  das 
mächtigere  empfindet  und  die  darum  nicht  gegenseitig  ist)  und 
die  daraus  entspringende  Geringschätzung  der  deutschen  Litte- 
ratur,  ohne  sie  zu  kennen,  die  auch  jetzt  noch  bei  den  Un- 
wissenden herrschen  soll. 

In  dieser  langen  unbeweglichen  Zeit  aber,  in  welcher  kein 
Dichter  gelebt  hat  und  keine  poetische  Kunst  geübt  WTirde,  ist 
eine  Ader  von  Gold,  aus  der  Mitte  der  alten  Zeit  entsprungen, 
durch  das  Volk  durchgelaufen:  wenn  es  keinen  Poeten  gab,  so 
hat  es  doch  Poesie  gegeben,  und  das  Leben  hat  sich  ausgedrückt, 
bei  wem  es  gewesen.  Ausser  den  Volksbüchern  nämlich,  die 
aus  dem  Deutschen  fast  sämmtlich  übersetzt  worden,  hat  es 
eine  Menge  trefflicher  Lieder  gehabt,  zum  Theil  aus  dem  Alter- 
thum  erhalten,  zum  Theil  später  entstanden,  und  diese  sind  es, 
welche  wir  in  dem  Kjempe  Visebog  finden.  Wir  halten 
diese  schon  im  sechzehnten  Jahrhundert  durch  einen  glück- 
lichen Zufall  entstandene  Sammlung  für  einen  der  reichsten 
Schätze  der  Poesie.  Die  spanischen  Lieder  von  Cid,  die  wir 
sehr  hoch  achten,  werden  von  diesen  an  Tiefe  und  Bedeutsam- 
keit übertrofien;  den  echt  deutschen,  vor  allen  den  englischen, 
sind  sie  im  Geiste  verwandt,  nur  vollständiger,  als  das,  was 
dort  gesammelt  worden  und  zu  uns  gelangt,  auch,  da  sie  früher  auf- 
bewahrt wurden,  reiner  und  gediegener.  Die  Darstellung  darin 
ist  vortrefflich,  weil  allzeit  die  innere  Noth wendigkeit  spricht, 
nicht  ein  äusseres  Gesetz;  eine  Hinneigung  zum  Dramatischen, 
wie  in  allen  Volksliedern,  erscheint  darin  sehr  kenntlich,  und 
es  ist  wenig  Sorge  an  eine  runde,  an  einander  sich  schliessende  372 
Erzählung  gewendet,  vielmehr  wird  alles  streng  neben  einander 
aufgestellt,  nur  angedeutet,  aber  oft  liegt  in  diesen  wenigen 
Worten  eine  grosse  Gewalt.     Denn  das  ist  das  Eigenthümliche 


4  AXEL  THORDSEN  OG  SKJÖX  VALROHG  UDG.  AF  NYERÜP. 

der  Poesie,  dass  sie  mehr  als  andere  Künste  der  Mittel  ent- 
behren kann  und  eine  grosse  Empfindung  in  unbeholfenen 
Worten  sich  rührender  und  mächtiger  ausspricht,  als  die  be- 
redteste Kunst.  Sagen  aus  den  frühsten  Zeiten,  die  sonst  die 
Scalden  besangen  und  die  als  grössere  Gedichte  nur  aus  den 
Handschriften  bekannt  sind,  leben  hier  in  einzelnen  Liedern 
fort,  in  denen  die  erhabene  Wildheit  jener  Jahrhunderte  noch 
kenntlich  ist  und  deren  Entstehung  weit  in  die  heidnische  Zeit 
zurückgeführt  werden  darf.  Diese  Heldenlieder  machen  einen 
Theil  der  Sammlung  aus;  den  andern  und  grössern:  Balladen 
und  Märchen,  die  später  und  in  der  christlichen  Zeit  ent- 
standen sind.  Es  ist  verwunderungswürdig,  wie  sich  alle,  auch 
die  heimlichsten  Neigungen  und  Richtungen  des  Lebens,  aller 
Schmerz  und  alle  Freude,  die  es  einmal  berührt,  darin  ofien- 
bart  haben,  und  wie  wir  uns  davon  betroflPen  und  gerührt  fühlen, 
weil  es  die  innere  Lust  war,  die  sich  aufthat,  diese  eigentliche 
Morgensonne  der  Poesie,  vor  der  ihre  Blüthen  sich  öffnen. 
Während  sie  alle  in  einer  gewissen  Nationalähnlichkeit  überein- 
stimmen, in  einem  geheimnisreichen  Wesen,  das  dunkel  und 
still  ist  gegen  den  Glanz  manches  südlichen  Liedes,  doch  voll 
verschlossener  Glut,  die  desto  gewaltiger  ausbricht,  und  womit 
sie  den  Himmel  anerkennen,  unter  welchem  sie  aufgewachsen 
sind,  so  zeigt  sich  wiederum  die  grösste  Mannigfaltigkeit  in 
ihnen.  Die  tiefste  Trauer,  das  höchste  Leiden,  wie  das  Glück 
der  Liebe,  des  Muthes,  der  Humor  bis  zum  leichtfertigen  Scherz 
ist  darin  besungen.  Wie  rührend  ist  in  vielen  Liedern  das 
Unglück  der  Liebe  erzählt.  Wie  der  Held  hingeht,  in  silbernem 
Schuh  Wasser  zu  holen  für  seine  Geliebte,  und  ihm  die  Nachti- 
gallen am  Brunnen  wahrsagen,  er  werde  sie  todt  finden  mit 
zwei  Kindern  in  ihrem  Schooss,  und  wie  er,  nachdem  er  alle 
373 drei  begraben,  glaubt,  die  Kinder  unter  der  Erde  weinen  zu 
hören,  und  sich  das  Schwert  ins  Herz  sticht;  oder  wie  er  den 
Tod  aus  der  Liebsten  Mund  empfangen  muss,  da  sie  seinen 
Namen  nennt  im  Kampf  und  ihm  ruft  ihres  jüngsten  Bruders 
zu  schonen;  denn  alsbald  wird  er  todwund  geschlagen.  Auch 
von  der  Gewalt  nächtlich  tanzender  Elfen  wird  erzählt,  die  den 
halb   träumenden  Jüngling   in    ihre  Reihen  locken  wollen,  oder 


AXEL  THORDSEX  OG  SKJuX  V'ALBORG  UDO.  AF  NYERUP.  5 

den  widerstrebenden  ans  Herz  schlagen,  dass  ihn  am  Morgen 
seine  Braut  todt  unterm  Scharlach  findet.  Anmuthig  sind  die 
Kindermärchen  von  der  Prinzessin,  welche  der  Wassermann  ge- 
stohlen und  die  ihr  Bruder  aus  dem  unterirdischen  Haus  be- 
freit, und  von  dem  Nachtraben,  an  den  die  Königin  ihr  Kind 
verkauft  hat.  Doch  wir  dürfen  nicht  weiter  vom  Einzelnen 
reden,  weil  das  zu  weit  führen  würde. 

Zu  diesem  Interesse  eines  poetischen  Buchs  kommt  noch 
ein  anderes,  das  uns  die  Kjempeviser  merkwürdig  macht.  Näm- 
lich der  älteste  Theil  desselben,  die  Heldenlieder,  greifen  in  die 
Fabel  und  den  Cyklus  des  Nibelungenlieds  und  Heldenbuchs 
ein.  Jeder,  den  die  Geschichte  dieses  grossen  Epos  und  der 
altdeutschen  Poesie  überhaupt  interessirt,  wird  ihre  Wichtigkeit 
aus  dieser  blossen  Bemerkung  schon  anerkennen;  noch  mehr 
aber,  wenn  wir  hinzufügen,  dass  sie,  von  der  dem  Norden 
eigenthümlichen  Gestalt  der  Sage  verschieden,  sich  zum  Theil 
der  deutschen  nähern,  ohne  dass  man  bestimmt  behaupten  könne, 
sie  seien  aus  dieser  entstanden  oder  orar  übersetzt.  Eine  eigene 
Ausführung  des  Gesagten  müsste  ihr  Interesse  haben,  gehört 
aber  nicht  hierher,  und  Rec.  wird  an  einem  anderen  Ort  Ge- 
legenheit haben  sie  zu  liefern. 

Die  Elskovs viser  (von  denen  Rec.  eine  Abschrift  be- 
sitzt) sind  eine  kleine  Sammlung  von  dreissig  Liedern,  die  alle 
einen  tragischen  Ausgang  haben  (daher  der  andere  Name:  Tra- 
gica),  wovon  die  meisten  an  Werth  den  Kjempeviser  nicht 
nachstehn.  Ausgezeichnet  darin  ist  das  Kind  von  Hafbur  und 
Signild,  eine  alte  Sage,  worauf  schon  die  Edda  hindeutet  und 
welche  auch  Saxo  Grammaticus  erzählt:  Hafbur,  als  Jungfrau 
verkleidet,  geniesst  die  Gunst  seiner  Geliebten,  wird  verrathenaii 
und  überwältigt:  alle  Stricke  reisst  er  entzwei,  bis  sie  ihn  mit 
zwei  Haaren  von  Signilde  binden,  die  er  nicht  zerreisst,  aus 
grosser  Liebe,  selbst  als  sie  ihn  darum  bittet;  sie  hat  ihm  ver- 
sprochen, sich  zu  verbrennen,  wenn  sie  ihn  aufgehängt  sehe, 
er  weiss  sie  einige  Augenblicke  früher  zu  täuschen,  indem  er 
erst  seinen  Mantel  hat  hinaufziehen  lassen,  und  nun  stirbt  er 
mit  der  Lust,  ihre  Kammer  in  Flammen  stehen  zu  sehen.  Ein 
merkwürdiges  Lied   enthält  Sigurds  mordlichen  Tod,  von  dem 


6      AXEL  THORDSEN  OG  SKJÖN  VALBOKG  UDO.  AF  NYERUP. 

Nibelungenlied,  auch  von  der  Wolsungasaga  wieder  abweichend, 
mit  eigenen  aber  herrlichen  Motiven. 

Bei  so  mannigfachem  Interesse  verdient  eine  neue  Aussrabe 
dieser  beiden  Sammlungen  unsere  ganze  Aufmerksamkeit.  Sie 
konnte  in  keine  bessern  Hände  fallen:  die  Gelehrten,  die  sich 
dieser  Arbeit  unterziehen  wollen,  sind  sämmtlich  durch  ihre 
Bemühungen  für  ihre  vaterländische  Litteratur  bekannt,  und 
wir  sind  berechtigt,  etwas  Vorzügliches  und  sorgfältig  Bearbeitetes 
zu  erwarten.  An  Zeit  dazu  wird  es  auch  nicht  fehlen,  da  die 
Erscheinung  des  Buchs  von  dem  Frieden  abhängen  soll.  Herr 
Prof.  Nyerup  hat  als  Probe  das  Lied  von  Axel  und  Wald- 
borg  geliefert.  Es  ist  das  grösste  der  ganzen  Sammlung  (in 
den  Kjempeviser  enthält  es  gerade  200  Strophen)  und  gehört 
unserm  ürtheil  nach  nicht  zu  den  ersten,  wiewohl  es  immer 
vorzüglich  bleibt  und  sehr  schöne  Stellen  hat.  Es  neigt  sich 
in  der  Darstellung  zu  der  späteren  Manier,  die  ausführlicher  ist, 
und  hat  etwas  von  dem  Charakter  mehr  historischer  Meldung, 
wie  es  auch  durch  sein  verschlungenes  Silbenmass  von  den 
andern  abweicht  und  fast  das  einzige  ist.  Veranlassung  dieses 
auszuwählen  war  dem  Verf.  das  neue  Öhlenschlägerische  Drama, 
welches  auf  dieses  Lied  gebaut  ist;  vielleicht  auch  die  Möglich- 
keit, so  viele  interessante  Volkssagen  über  das  sogenannte 
Historische  der  Erzählung  zu  sammeln,  welches  bei  anderen 
schwerer  fallen  dürfte.  Die  Volksmelodie  ist  hinzuo^egreben, 
auch  Wort-  und  Sacherklärung.  Durch  die  Betrachtung  dieser 
Probearbeit  sind  wir  zu  folgenden  Wünschen  veranlasst  worden. 
375  Erstlich:  das  Lied  hat  in  den  Kjempeviser  200  Verse,  hier 

sind  nur  175  mitgetheilt,  also  gerade  25  ausgelassen.  Der  Verf. 
sagt  deshalb,  es  sei  doch  lang  genug:  das  ist  wahr,  es  ist  lang, 
allein  bei  der  Poesie  erkennen  wir  keinen  Uberdruss,  der  aus 
dem  Allzulangen  entsteht,  und  ausserdem,  wer  ihn  bei  200  Strophen 
empfindet,  wird  damit  nicht  bis  zur  175sten  warten,  also  wäre 
für  einen  solchen  nichts  gewonnen;  andere  aber,  die  von  dem 
Uberdruss  nichts  wissen,  hätten  verloren.  Betrachten  wir  die 
fehlenden  Strophen,  so  müssen  wir  es  zwar  bei  mehreren,  weil 
sie  unnöthige  Wiederholungen  enthielten,  recht  sein  lassen,  dass 
sie  übergangen  sind.     Wir  bemerken  aber  gleich,  dass  wir  nur 


AXEL  THORDSEN  03  SKJOX  VALBORG  UDG.  AF  XYERUP.  7 

bei  diesem  einzigen  Lied,  weil  es  sich,  wie  schon  erwähnt,  durch 
seine  breitere  Manier  bestimmt  von  den  anderen  unterscheidet, 
dies  Recht  gelten  lassen,  nicht  aber  bei  irgend  einem  anderen 
der  Sammlung.  Andere  Strophen  hätten  wir  lieber  stehen 
gelassen  und  andere  dafür  gegeben,  die  uns  ein  matter  später 
Zusatz  scheinen,  wie  die  drei  letzten  (hier  173 — 175).  Doch 
darüber  wollen  wir  so  streng  nicht  richten;  was  wir  aber 
bestimmt  tadeln  müssen,  das  ist  die  Auslassung  folgender  schöner 
Verse  und  die  Idee,  welche  wir  als  Grund  davon  einzusehen 
glauben.  Erstlich  des  achtzehnten,  wo  erzählt  wird,  Axel  habe 
geträumt,  wie  er  seine  Liebste  in  Sammt  gekleidet  gesehen  und 
Haagen  der  Königssohn  neben  ihr  gesessen  und  sie  begehrt; 
dann  des  162.,  wo  Axels  Schild  beschrieben  wird:  weiss  und 
blau  und  zwei  rothe  Herzen  darin;  endlich  aber  des  140. 
Wir  wollen,  um  diesen  Vers  im  Zusammenhang  lesen  zu  können, 
die  dabei  stehenden  mitn hersetzen :  man  wird  zugleich  eine 
Probe  von  dem  rührenden  Gedicht  haben,  dessen  beste  Stelle 
diese  grade  nicht  ist.  Axel  und  Waldborg,  nachdem  sie  in  der 
Kirche  geschieden  worden,  sitzen  bei  dem  Fest  des  Königssohns 
zusammen  und  reden  über  ihr  Unglück: 

Sagt  mir,  Waldborg,  Herzliebste  mein. 

dieweil  allein  wir  beide: 
welcher  Rath  mag  uns  der  beste  sein, 

dass  seh  winden  misre  Leiden? 
„Fah'  ich  den  König,  wenn  das  geschieht,  376 

ist's  gegen  meinen  Willen: 
und  lebt'  ich  tausend  Jahre  hier, 

es  kam  mir  nicht  aus  den  Sinnen." 
„Ich  will  sitzen  in  dem  Saale  weit 

und  wirken  das  Gold  in  die  Haube, 
so  sorglich  leben  meine  Zeit, 

recht  wie  die  Turteltaulie.'^ 

140.     „Ruht  nimmer  auf  grünem  Ästelein, 

als  wenn  ihre  Bein  sind  müde: 
trinkt  nimmermehr  das  Wasser  so  rein, 

sie  rührt's  erst  mit  ihren  Füssen.** 
„Mein  Herr,  Ihr  reitet  so  lustiglich, 

zu  jagen  die  wilden  Rehe: 


8  AXEL  THORDSEN  OG  SKJÖN  VALBORG  ÜDG.  AF  NYERUP. 

und  alle  Gedanken,  die  kommen  um  mich, 

die  lasset  geschwind  fortgehen." 
„Mein  Herr,  Ihr  reitet  so  lustiglich, 

zu  jagen  die  Hasen  wilde: 
und  alle  Gedanken,  die  kommen  um  mich, 

die  lasset  fortgehn  geschwinde.* 
Und  wenn  ich  auch  in  den  Rosenwald  reit, 

die  wilden  Thiere  zu  jagen: 
was  soll  ich  Nächtens  thun,  zu  der  Zeit, 

wenn  ich  kann  gar  nicht  schlafen? 

Wir  hätten  dies  schöne  Bild  der  Taube,  die  von  Schmerz 
getrieben  nicht  ruht,  bis  sie  vor  Müdigkeit  nicht  mehr  fliegen 
kann,  und  die  das  Wasser  anrührt,  wenn  sie  trinkt,  damit  sie 
ihr  Bild  nicht  sehe,  unmöglich  auslassen  können.  Schlegel 
(Vorles.  über  dramat.  Kunst  II,  148)  nennt  sehr  treffend  die 
Furcht  vor  dem  Lächerlichen  das  Gewissen  der  französischen 
Schriftsteller,  die  ihre  Flügel  beschnitten  und  ihren  Schwung 
gelähmt:  wir  wünschen,  dass  die  Herausgeber  diese  Furcht  nicht 
in  diese  Lieder  hineintragen,  die  sie  nicht  kennen  und  die  ihrer 
Natur  ganz  und  gar  zuwider  ist.  Man  darf  ihrer  Wahrheit 
immer  vertrauen  und  nicht  besorgen,  dass  eine  Volksdichtung 
lächerlich  sein  könne,  das  ist  nur  das  Leere  und  Taube;  hegen 
wir  doch  vor  allem  im  Leben  Achtung,  was  aus  innerer  Über- 
377 Zeugung  gesagt  oder  gethan  wird,  selbst  bei  offenbarem  Irr- 
thum.  Wir  bitten  daher,  keinem  andern  Lied,  das  aufgenommen 
wird,  etwas  Ahnliches  zu  entziehen,  überhaupt  nichts,  und  nur 
ein  Vers  könnte  Ausnahme  machen,  der  zweimal  etwa  ganz 
unsinnig  angehängt  ist  und  die  Nachricht  von  einer  Verheirathung 
enthaltend  einen  Schluss  machen  soll:  bei  dem  Lied  von  dem 
Held  Vonved  (S.  90)   und   von  Marsk  Stigs  Töchtern  (S.  240). 

Sind  wir  so  streng  für  Lieder,  die  aufgenommen  worden, 
so  wollen  wir  recht  viel  nachgeben,  wenn  andere  sollen  ganz 
ausgelassen  werden:  ja  die  Herausgeber  werden  dadurch  unseren 
zweiten  Wunsch  erfüllen.  Es  findet  sich  in  den  Kjempeviser  eine 
Anzahl  sogenannter  historischer  Lieder  (hauptsächlich  S.  281  ff".)' 
d.  h.  solche,  die  nach  Art  gereimter  Chroniken  Begebenheiten 
erzählen,  ohne  sie  poetisch  aufgefasst  zu  haben,  die  wohl  einen 
historischen  Werth   haben    und  deshalb   eine   eigene  Sammlung 


AXEL  THORDSEN  OG  SKJÜN  VALBORG  UDG.  AF  NYERUP.  9 

verdienen,  die  aber  hier  nicht  berücksichtigt  werden  dürfen.  Sie 
gleichen  den  historischen  Liedern  in  unseren  Chroniken  und  ver- 
dienen keinen  Platz  neben  den  anderen.  Zu  übergehen  wären 
auch  poetisch  unbedeutende  Lieder,  deren  Motive  schon  einmal 
und  besser  da  gewesen  sind,  oder  die  zweite  oder  gar  dritte 
Recension  desselben  Liedes,  insofern  sie  wenig  abweicht;  es 
wird  hinlänglich  sein,  was  etwa  davon  interessiren  könnte,  in 
der  Note  anzumerken.  Beispiele  sind  gleich  das  15.  und  19.  Lied 
in  der  ersten  Abtheilung,  das  dritte  Lied  von  dem  Meermann 
(S.  157),  das  Lied  von  Kragelild,  das  S.  400  und  601  wenig 
verändert  wieder  vorkommt  u.  a.  m.  Ungrehörior  sind  ferner 
die  Modernisirungen  alter  Scaldenlieder,  die  zu  Anfang  des 
vierten  Theils  eingerückt  worden,  wie  Bialkemaal  hin  gamle, 
Ragnar  Lodbrocks  Lied,  auch  einige  Lieder,  die  keine  echten 
Volkslieder  sind,  wie  z.  B.  das  letzte. 

Drittens  wünschen  wir,  dass  die  Herausgeber  sparsamer 
mit  den  Noten  umgehen  möchten,  als  es  hier  bei  dieser  Probe 
geschehen.  So  sehr  wir  es  billigen,  dass  sie  Anmerkungen 
liefern  wollen,  auch,  was  zum  Verständnis  beim  Lesen  erfor- 
derlich, gleich  auf  der  Stelle  in  Noten  mittheilen  und  es  nicht, 
einer  unbequemen  modernen  Eleganz  zu  gefallen,  in  einen  An-37S 
hang  verweisen,  wo  es  niemand,  der  mit  Lust  Hest,  nachsieht, 
weil  er  sich  unterbrechen  muss,  so  wünschen  wir  doch  auch 
nicht,  dass  sie  über  andere  Dinge  sich  ausbreiten  möchten,  wie 
etwa  S.  28,  42,  49,  50,  62  geschehen.  Es  ist  nichts  lästiger, 
als  Noten,  die  sich  nicht  streng  an  die  Sache  halten  und  die 
die  Gedanken  ableiten  oder  etwas  mittheilen  ^  das  weiter  von 
keinem  Belang  ist:  wenn  in  einigen  von  den  citirten  Stellen  ge- 
sagt wird,  dieser  Zug  sei  recht  schön,  oder  diese  Cereraonien 
passend,  so  ist  das  wahr,  allein  es  bleibt  besser  der  eigenen 
Betrachtung  des  Lesers  selber  überlassen,  dies  zu  bemerken. 

In  der  Einleitung  zu  dieser  Ballade  sind  mehrere  Volks- 
sagen von  dem  Ort,  wo  die  Geschichte  sich  soll  zugetragen 
haben,  zusammengestellt,  welche  in  Norwegen  von  Reisenden 
sind  gehört  worden.  Jede  Gegend  gibt  einen  anderen  Ort  an, 
und  es  ist  interessant  zu  sehen,  wie  sich  die  Sage  an  so  manches 
angeknüpft  hat:   an  einen  mit  Steinen  umkreisten  Platz,  wo  die 


10  AXEL  THORDSEN  OG  SKJÖN  VALBORG  UDG.  AF  NYERÜP. 

Schlacht  soll  vorgefallen  sein,  in  welcher  Haagen  und  Axel 
fielen;  an  grosse  Bautasteine  (pyramidenförmig  aufgerichtete  Ge- 
dächtnissteine), worunter  die  Helden  liegen  sollen ;  an  ein  weisses 
Marniorgrab,  in  welchem  sie  Waldborg  ruhen  lässt.  Dieses  ist 
die  Natur  der  Sage,  die  überall,  wo  sie  lebt,  auch  ihr  Haus 
hat  und  daheim  ist.  Es  ist  daher  recht  schätzbar  und  ver- 
dienstlich, wenn  die  Herausgeber  solche  Volkssaoren  sammeln, 
nur  wünschen  wir  nicht,  dass  sie  gerade  kritisch  bestimmen 
wollten  und  aufsuchen,  welche  die  echte  sei,  um  die  anderen 
als  Unwahrheit  abweisen  zu  können.  Man  wird  mit  dieser  An- 
sicht, da  sie  sich  fast  alle  widersprechen  und  eine  an  sich  so 
viel  Glauben  verdient,  wie  die  andere,  schwerlich  zu  einem 
anderen  Resultat  gelangen,  als  dass  keiner  zu  trauen  und  nichts 
auszumachen  sei,  welches  auch  hier  angegeben  worden.  Es 
wird  genug  sein,  diese  mannigfaltigen  Sagen  zusammenzustellen, 
um  die  Wahrheit,  die  in  allen  erscheint,  zu  finden:  wie  alles 
in  der  Natur  von  derselben  Art  neben  einer  stetigen  indivi- 
duellen Verschiedenheit  immer  auch  denselben  Grundtypus  in 
379 sich  trägt.  Auch  die  Recherchen  über  die  Verfasser  der  Lieder 
rathen  wir  aufzuoreben,  weil  sie  doch  keinen  Erfolg  haben 
können:  das  Volkslied  dichtet  sich  selbst  und  springt 
als   Blüthe   aus    der    That   hervor. 

Endlich  hofien  wir,  die  Herausgeber  werden  nicht  bloss 
die  beiden  gedruckten  Sammlungen  benutzen,  und  etwa  noch 
vorhandene  Manuscripte,  sondern  auch  eine  dritte  Quelle,  welche 
für  das  Wunderhorn  sehr  reichlich  geflossen:  wir  meinen  die 
fliegenden  Blätter  und  das  Auffassen  aus  dem  Munde  des  Volks 
selbst.  Da  sie  gesonnen,  die  Melodieen  als  eine  sehr  will- 
kommene Zugabe  auf  die  letztere  Weise  zu  sammeln,  so  werden 
sie  Gelegenheit  haben,  manches  neue  Lied  zu  hören,  und  ohne 
Zweifel  sichern  und  aufzeichnen. 

Dies  sind  unsere  Wünsche  für  die  neue  Ausgabe  der  Kjem- 
peviser,  die  wir  geäussert,  um  unser  Interesse  für  diese  Unter- 
nehmung darzuthun.  Erfreulich  wird  es  sein,  wenn  es  sich 
bestätigt,  was  wir  gehört,  dass  auch  in  Schweden  jetzt  eine 
Sammlung  von  Volksliedern  veranstaltet  werde.  Möchten  sich 
dort  auch  Männer,  wie  hier,  dazu  vereinigen,  und  nicht  unge- 


AXEL  THORDSEX  OG  SKJÖN  VALBORG  UDO.  AF  NYERUP.     H 

schickte  Hände  darüber  gerathenl  Vieles  Interessante  müsste 
aus  der  Vergleichung  der  Lieder  beider  Nationen  hervorgehen, 
wahrscheinlich  auch  Aufklärungen,  gegenseitige  Ergänzungen 
und  Übereinstimmungen,  die  es  darthun  würden,  was  wir 
glauben,  dass  es  eine  Zeit  gegeben,  wo  die  Volkspoesie  beider 
Länder  nicht  getheilt,  sondern  ein  Gemeingut  war. 

Wir  können  diese  Anzeige  nicht  beschliessen,  ohne  Gelegen- 
heit  zu  nehmen,  noch  eine  litterarische  Bitte  an  die  dänischen 
Gelehrten  zu  thun.  Sie  betriflPt  die  baldige  Herausgabe  des 
zweiten  Theils  der  Sämundinischen  Edda.  Wir  erklären, 
dass  wir  unter  allen  noch  vorhandenen  Manuscripten  dieses  un- 
bedingt für  das  wichtigste  halten,  und  es  ist  unbegreiflich,  wie 
man  einen  solchen  Schatz  so  lange  unbenutzt  liegen  lässt.  Das 
!\Iagnäische  Institut,  das  sich  in  den  Jahren  1773  — 1787  eifrig 
für  die  Herausgabe  der  isländischen  Manuscripte  zeigte,  hat  in 
mehr  als  zwanzig  Jahren  nichts  edirt  als  eine  Übersetzung  der  380 
Nialssaga,  welche  eben  erschienen  und  wovon  der  Original- 
text schon  1 787  gedruckt  wurde.  Wir  wissen  nicht,  ob  Hinder- 
nisse entgegenstanden,  aber  wir  glauben,  dass  solche  nicht 
schwer  zu  besiegen  waren,  wenn  man  ernstlich  wollte.  Es  be- 
stätigt sich  auch  hier,  was  man  bei  gelehrten  Akademieen  er- 
fahren, dass  nichts  litterarischen  Arbeiten  nachtheiliger,  als  wenn 
man  sie  allzubequem  gemacht.  Würden  nicht  zw^ei  gelehrte 
Isländer  zur  Bearbeitung  der  Manuscripte  jährlich  von  dem 
Legat  besoldet  und  gehalten,  so  würde  es  dem  Eifer  eines  Ein- 
zelnen schon  gelungen  sein,  zu  dieser  reichen  Sammlung  zu 
gelangen,  und  er  würde  ohne  solche  Unterstützung  mehr  bewirkt 
haben.  Wir  dürfen  als  Beispiel  die  Schweden  Peringskiöld  und 
Biörner  nennen,  ja  die  Sammlung  altdeutscher  Gedichte,  sowohl 
die  Müller  veranstaltete,  als  die  jetzt  erscheint,  gewiss  nicht  in 
günstigen  Zeiten.  Der  Enthusiasmus  für  eine  Sache  thut  doch 
stets  am  meisten,  und  es  stände  noch  zu  fragen,  was  ohne 
Suhm  durch  das  Magnäische  Institut  geschehen  wäre.  Auch 
das  Princip,  wornach  man  den  Vorzug  der  zu  edirenden  Codd. 
bestimmt,  können  wir  nicht  billigen.  Man  gibt  den  Sagen, 
die  mehr  historisch  scheinen,  oder  mit  anderen  Worten,  den  un- 
poetischen (darum,  wie  wir  glauben,  jüngeren)  den  Vorzug.    So 


12  AAGE  OG  ELSE    UDGIVET  AF  RAHBEK. 

ist  es  gekommen,  dass  man,  um  einige  historische  Data,  deren 
Werth  wir  übrigens  anerkennen,  zu  erhalten,  die  ahen  Gedichte 
hintangesetzt  hat,  in  denen  sieh  der  Geist  der  altnordischen 
Dichtung  am  grössten  ausspricht  und  die  nicht  weniger  eine 
historische  Wahrheit,  nur  eine  noch  höhere  und  wichtigere  haben. 
Es  ist  keinem  Zweifel  mehr  unterworfen,  dass  die  Sage  der 
Nibelungen,  und  diese  ist  in  den  meisten  noch  ungedruckten 
Liedern  der  Edda  Sämundar  (wie  in  der  Blomsturwalla-  und 
wahrscheinlich  auch  in  der  Jarl-Magus-Saga)  enthalten,  ge- 
schichtlich begründet  sei,  und  wir  wollen  versichern,  dass,  wenn 
sich  der  Norden  nicht  für  diese  herrlichen  Gesänge  (wovon  wir 
eins  ganz,  andere  nur  aus  Bruchstücken  bei  Bartholin  und  Tor- 
381  fäus  kennen)  interessirt,  sie  von  uns  Deutschen  mit  Dankbarkeit 
und  Freude  sollen  aufgenommen  werden. 

[Anonym;  im  Verz.  von  W.  C.  Grimm.] 


143  AAGE  OG  ELSE, 

en  gammel  Ballade,  udgivet  af  Professor  og  Ridder  af  Dannebrog  K.  L.  Rahbek, 
som  Pröve  No.  2  paa  den  ny  Skikkelse  hvori  Abrahamson ,  Nyerup  og  Rahbek 
agte  at  udgive  den  saa  kaldte  Kjempevisebog.     Kjöbenhavn.    1810.     15  S.    8. 

Heidelbergische  Jahrbücher  der  Litteratur.      Jahrgang  IV  (1811)   Bd  I,  No.  9, 

S.  143—144. 

AJiese  Probeschrift   enthält   ein  kurzes  Lied  von  dreizehn 
Strophen,  welches  Sandvig  in  einer  Papierhandschrift  des  sech- 

144  zehnten  Jahrhunderts  in  der  Suhmischen  Bibliothek  fand  und 
in  seinen  Levninger  af  Middelalderens  Digtekunst,  forste  Hafte 
1780,  bekannt  machte.  Ohlenschläger  benutzte  es  neuerdings  in 
dem  Trauerspiel  Axel  und  Waldborg,  und  dieser  Umstand  ver- 
anlasste den  Herausgeber,  nachdem  schon  in  der  ersten  Probe- 
schrift Rücksicht  auf  diese  Dichtung  genommen  war,  es  als 
zweite  Ankündigung  der  neuen  Ausgabe  der  Kämpeviser  nach 
Sandvigs  Recension  abdrucken  zu  lassen,  mit  den  Varianten 
von  Ohlenschläger,  der  einer  mündlichen  Überlieferung  gefolgt 
zu  sein   scheint.     Das  Lied   weicht  in   etwas   von   der  Manier 


AAGE  OG  ELSE    UDGIVET  AF  RAHBEK.  13 

der  Kämpeviser  ab,  indem  es  runder  und  fliessender  ist;  es 
drückt  eigenthümlich  schön  jene  Sage  aus,  dass  der  Bräutigam 
im  Grab  die  Klage  seiner  Braut  gehört,  aufgestanden  in  der 
Nacht,  zu  ihr  gekommen  und  sie  mit  sich  gezogen;  tief  und 
wunderbar  ist  der  Zug,  dass  er  sagt,  er  fühle  ihre  Gedanken: 
wenn  sie  sich  freue,  sei  sein  Sarg  mit  Rosenblättern  angefüllt, 
wann  sie  traure,  aber  ganz  mit  geronnenem  Blut.  Auch  hier 
endigt,  wie  immer  in  nordischen  Sagen,  der  Hahnenschrei  das 
Geisterreich.  Auf  die  Ähnlichkeit  mit  Bürgers  Lenore  wird  in 
der  Einleitung  aufmerksam  gemacht,  auch  dass  diesem  einzelne 
Laute  eines  deutschen  Volkslieds  vorsceschwebt :  wir  füo-en  hinzu, 
dass  das  ganze  in  dem  Wunderhorn  II,  19  mitgetheilt  worden. 
Es  ist  gleichfalls  bemerkt,  dass  die  Engländer  ähnliche  Volks- 
lieder hätten,  wovon  eins  bei  Percy  stehe  (III,  126.  Herder  298), 
eines  anderen  im  Monthly  Magazine  1796  Sept.  gedacht  werde. 
Ganz  richtig  wird  der  Schluss  abgewehrt,  dass  eins  von  diesen 
Liedern  Original,  die  anderen  von  diesem  entlehnt  seien;  allen 
drei  Völkern  gehört  diese  Sage  zu,  als  ein  Zeugnis  ihrer  Ver- 
wandtschaft, jedes  hat  sie  eigenthümlich  behandelt,  und  schon 
dieses  würde  eine  solche  Behauptung  abweisen.  Von  einem 
anderen  dänischen  Liede  werden  drei  Zeilen  aus  Öhlenschläofers 
Palnatoke  angeführt: 

Mond  scheinet, 

todte  Mann  greinet: 

wird  dir  nicht  Angst? 

Wir  erinnern  uns  einiger  Zeilen  aus  einem  deutschen  Liede, 
die  ähnlich  damit  lauteten.  Dass  eine  Melodie  von  Öhlen- 
schläger  mitgetheilt  worden,  sehen  wir  als  eine  Artigkeit  gegen 
diesen  an;  bei  allem  Werth,  den  sie  haben  kann,  grehört  sie 
nicht  in  eine  Sammlung  alter  Volksmelodieen,  und  wir  zweifeln 
nicht,  dass  künftig  nur  auf  diese  wird  Rücksicht  genommen 
werden.  Von  der  Herausgabe  der  Kämpeviser  theilt  diese 
Schrift  die  angenehme  Nachricht  mit,  dass  sie  nicht  länger  auf- 
geschoben, sondern  begonnen  werden  soll. 

[anonym.] 


14  SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLOGIE. 

774  1.  ÜBER  DIE  ÄCHTHEIT  DER  ASALEHRE  UND  DEN 
WERTE  DER  SNORROISCHEN  EDDA. 

Von  P.  E.  Müller,   Prof.  der  Theologie  in  Kopenhagen.     Aus  der  dänischen 

Handschrift  übersetzt  Ton  L.  C.  Sander,  Prof.    Kopenhagen  bei  Fried.  Brummer. 

1811.     92  S.     8.     (Das  Original  wird  in   den   Schriften   der  Scandinavischen 

Litteraturgesellsch  aft  erscheinen.) 

2.    OM  EDDA. 

Von  Nyorup,  Prof.  (det  skandinaviske  Litteraturselskabs  Skrifter.     1807.     III, 
113—191.     Geschrieben  im  Februar  1808.) 

3.  EDDA  ELLER  SKANDINAVERNES  HEDENSKE 
GUDELÄRE. 

Oversat  Ted  R,  Nyerup.     Kjöbenhaven,  bei  Andr.  Seidelin.     1808.     127  S.     8. 

Heidelbergische  Jahrbücher  der  Litteratur.  Jahrgang  IV  (1811)  BdH,  No.  49,  50, 

S.  774—794. 

Von  Zeit  zu  Zeit  gibt  es  Gelegenheit  zu  einer  kleinen 
Schrift  in  Dänemark,  die  uns  bewährt,  dass  man  die  alte 
Mythologie  des  Nordens  allerdings  hochachte  und  dass  das 
Interesse  für  die  Denkmäler  derselben,  die  in  schätzbaren  Samm- 
lungen aufbewahrt  werden,  fortdauernd  sich  erhalte.  Weniger 
zeigt  sich  dieser  Eifer  in  der  wirklichen  Bearbeitung  und  Her- 
ausgabe der  alten  Manuscripte  selbst,  wodurch  das  Studium 
eigentlich  erst  belebt  werden  würde.  Denn  wenn  wir  schon 
behaupten,  dass  eine  besondere  Angelegenheit  einer  besondern 
Nation  doch  der  allgemeinen  Erforschungslust  aller  gebildeten 
Völker  müsse  mitgetheilt  werden,  weil  alles  in  einem  grossen 
Zusammenhange  steht  und  gegenseitig  sich  dienen  und  erläutern 
muss,  so  wie  in  der  Naturwissenschaft  die  fleissige  Betrachtung, 
man  kann  sagen,  einer  einzigen  Pflanze  das  Ganze  unerwartet 
gefördert  hat,  mehr,  als  eine  abermals  neue  Bearbeitung  und 
Ansicht  des  Ganzen,  die  aus  solchem  Fleiss  nicht  entstanden, 
so  muss  dies  noch  mehr  gelten,  wenn  von  einem  Gegenstand 
die  Rede  ist,  welcher  ein  so  durchaus  allgemeines  Interesse  hat. 
Die  Völker  germanischer  Abkunft  sehen  aber  in  der  altnordischen 
Mythologie    und    der    damit    verknüpften    Sagengeschichte    die 


SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLOGIE.  15 

Monumente  einer  Zeit,  wo  sie  alle  noch  zu  Einem  Gott  beteten 
und  in  Einer  Zunge   sprachen;   und   wie  sie   sich  im  Fortgang 
getrennt  und  entfernt,  so  werden  sie  doch  bei  dem  Nachdenken 
über   ihre  Schicksale   dahin  zurückgeführt,    und  dort  laufen  die 775 
Fäden  zusammen  und  in  einander.     Darum  scheint  die  Forderung 
gerecht,  dass  diejenigen,  welchen  diese  Denkmäler  zugekommen, 
sorgsam    seien,    sie   dem    gemeinsamen   Studium   zu   übergeben; 
dann  werden  für  einen  so  ernsten  Gegenstand  Theilnehmer  und 
Mithelfer  nicht  ausbleiben.    Einige*)  Klage  zu  führen  wird  uns 
um  so  eher  erlaubt  sein,  als  wir  die  Worte  des  Verf.  der  ersten 
Schrift   dazu    nehmen    S.  91:     «Sehr    vieles    von    dem   Zustand 
der  scandinavischen  Heidenzeit  bedarf  noch  einer  weiteren  Auf- 
klärung.    Viele  von  den  Denkmälern,  die  dazu  benutzt  werden 
könnten,  sind  noch  nicht  ans  Licht  hervorgezogen.    Die  Meinung 
derer,  die  da  geglaubt  haben,  das  Beste  von  den  Arnämagnäa- 
nischen  Manuscripten  sei  bereits  durch  den  Druck  bekannt  ge- 
macht,   ist   folglich   ganz   ungegründet.      Vor  kurzem  sind  zwei 
der  wichtigsten,  Eigla  (1809)  und  Niala  (von   der  letzteren  nur 
die  Übersetzung,  der  Text  des  Originals  war  schon  vor  dreissig 
Jahren    gedruckt)    herausgegeben.      Allein    zurück    sind    noch 
Sturlungasaga,  Kormakssaga,  Laxdjila,  Vatsdala,  Swarfdäla,  Reick- 
däla,  Grettissaga,  Olufs  des  Heiligen  Sage,  Hakon-Hakonsens- 
Saga  und  mehrere  andere,    besonders   von   den   halbmythischen 
Sagen,    sowie   alle  alten  Gesetze.      Für   die  eigentlich   my- 
thische Litteratur  ist  bis  jetzt  nur  noch  das  Wenigste 
gethan.    Ausser  der  einen  Hälfte  der  Sämundischen  Edda  hat 
man  noch  das  Wichtigste  (?)  von  Snorros  Edda  herausgegeben." 
Die  Gründe  dieser  Nachlässigkeit  oder,  ist  Absicht  dabei,  dieser 
Zögerung  dürfen  wir  nicht  in  dem  Mangel  eines  theilnehmenden 
Publicums  suchen,  weil  das  Magnäanische  Legat  die  Herausgabe 
der  alten  Sagen  ganz  unabhängig  davon  gemacht  hat,  und  wir 
kommen    auf  eine   schon  einmal  geäusserte  Behauptung  zurück, 
dass  gelehrte  Untersuchungen  durchaus  nicht  befördert  werden, 
wenn   sie   dem   Eifer  eines   Einzelnen,    der   früher  oder  später 
endlich   doch  alle  Schwierigkeiten  überwindet,   entzogen,   unter 


*)  [Änderung  im  Handexemplar  für:    Diese.] 


16  SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLOGIE. 

eine  Gesellschaft  vertheilt  werden,  die  nichts  zu  überwinden  hat. 
als  eben  den  Mangel  an  Eifer  und  Enthusiasmus  für  die  Sache. 
Dass  diese  Schwierigkeit  aber  die  grösste  sei,  beweisen  im  AU- 
776  gemeinen  die  geringen  Resultate  aller  Akademieen  gegen  ihre 
grossen  Anstalten,  hier  aber  der  Umstand,  dass  dreissig  Jahre 
lange  nichts  von  den  Arbeiten  des  Magnäanischen  Instituts  bekannt 
wurde,  während  in  den  Jahren  1776—1783,  wohl  durch  Suhms  Ein- 
fluss  und  uneigennützigen  Eifer,  in  kurzen  Zwischenräumen  die 
wichtiorsten  Werke  herausgeofeben  wurden.  Bis  wir  das  Institut 
wieder  zu  jener  Thätigkeit  erwacht  sehen,  wollen  wir  alles  dankbar 
annehmen,  was  sonst  für  die  alte  Litteratur  dort  geschieht,  und 
wir  freuen  uns  über  die  Versicherung,  welche  die  Vorrede  des 
ersten  Buches  enthält,  dass  ein  isländisches  Wörterbuch  unter 
der  Presse  sei  (eine  Grammatik  ist  so  eben  erschienen,  aber 
Rec.  noch  nicht  zugekommen)  und  eine  Reihe  von  Sagen  durch 
die  Unterstützung  wohlhabender  Freunde  der  Wissenschaft  zum 
Druck  befördert  werden  solle.  Indes  können  wir  uns  nicht  mit 
dieser  Empfindung  zu  den  genannten  Schriften  wenden,  ohne 
zu  bemerken,  welch  ein  Vorwurf  durch  ihre  Erscheinung  allein 
stillschweigend  gemacht  werde.  Eine  in  aller  Hinsicht  voll- 
ständige Bearbeitung  der  jüngeren  Edda,  indem  der  Text  kritisch 
nach  allen  vorhandenen  Manuscripten  (das  Upsalische  aus- 
genommen) verglichen,  übersetzt  und  erläutert  ist  von  dem  Is- 
länder Johannes  Olavius,  liegt  beinah  schon  ein  halbes  Jahr- 
hundert vollendet  in  der  Universitätsbibliothek,  welche  die 
Magnäanische  Sammlung  aufbewahrt  (Not.  1  S.  24),  so  dass  sie 
bei  dem  Abdruck  etwa  nur  dürfte  abgekürzt  werden  (S.  92). 
Die  beiden  ersteren  Schriften  beruhen  auf  dieser  Arbeit,  die 
dritte  verdankt  ihr  vieles;  nun  fragen  wir,  wie  es  möglich  ist, 
dass  man  mit  Eifer  für  die  Sache  ein  solches  Werk,  welches 
zu  den  ersten  Quellen  gehört,  so  lange  hat  liegen  lassen  können, 
währenddem  die  Ausgabe  von  Resenius  einffeständlich  erstlich 
incomplet  (Göranssons  Edition  hat  nicht  einmal  die  Dämesagen 
vollständig)  und  fehlerhaft,  sodann  aber  höchst  selten  ist  (Vor- 
rede zu  No.  3);  und  dass  man  noch  keine  Hoffnung  zur  Heraus- 
gabe desselben  macht? 

Doch  wir  wollen  erkenntlich   annehmen,   was  unsere  Veif. 


SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLOGIE.  17 

hier  mitgetheilt.  Die  erste  Schrift  macht  den  Versuch,  aus  der 
Snorroischen  Edda  die  Echtheit  der  Asalehre  darzuthun,  die  777 
zweite  theilt  für  solche  Untersuchungen  einige  interessante  Stellen 
aus  dem  Saxo  Grammaticus  mit,  sonst  ist  sie  grösstentheils 
bibliographischen  Inhalts  und  beschreibt  genau  und  mit  Sach- 
kenntnis die  vorhandenen  Manuscripte  der  jüngeren  Edda.  Die 
Hauptcodices  sind  der  Wormische,  der  königliche  und  der 
Upsalische.  Der  erste,  aus  der  Mitte  des  fünfzehnten  Jahr- 
hunderts, ist  der  vollständigste  und  reichste,  der  zweite  älter, 
aber  es  fehlt  einiges  (jetzt  gänzlich  verloren,  doch  in  dem  er- 
wähnten Werk  des  Olavius  vollständig  benutzt,  ausserdem  aber 
besitzt  Thorlacius  eine  sehr  correcte  Abschrift  davon) ;  der  dritte, 
aus  der  Mitte  des  vierzehnten  Jahrhunderts,  ist  der  kürzeste 
und  als  ein  Auszug  zu  betrachten  (eine  Abschrift  davon  hat  die 
Universitätsbibliothek  zu  Kopenhagen).  Ausserdem  besitzt  die 
Magn.  Sammlunoj  noch  zwei  andere  Membranen  aus  dem  Anfansf 
des  vierzehnten  Jahrhunderts  (No.757  und  748  in  4),  welcheBruch- 
stücke  aus  den  Kenningar  und  dem  letzten  Theil  der  Edda  ent- 
halten ,  und  mehrere  jüngere  Papierhandschriften  (zwei  Codices 
zu  Oxford  und  Paris,  ehemals  zu  Wolfenbüttel,  sind  spätere 
Copieen).  Merkwürdig  ist  das  Verhältnis  dieser  Manuscripte 
unter  sich:  sie  weichen  sämmtlich  von  einander  ab,  eins  ist  in 
besonderer  Hinsicht  vollständiger,  als  das  andere,  und  keins 
kann  als  Copie  des  anderen  betrachtet  werden  (Müller  S.  52). 
Diese  Snorroische  Edda  besteht  in  allen  vollständigren  Manu- 
Scripten  aus  drei  Theilen:  1)  aus  den  Dämesagen  oder  mythischen 
Erzählungen,  die  unter  dem  Namen  Gylfeginning  (Gylfes 
Täuschung)  und  Bragaradur  (Bragas  Rede)  begrifien  werden 
und  die  man  bei  Resenius  gedruckt  findet ;  2)  aus  den  Kenningar, 
poetischen  Umschreibungen,  wovon  Resenius  nur  einen  sehr 
unvollständigen,  Olaffsen  om  Nordens  gamle  Digtekonst  (§  34  ff.) 
einen  besseren  Auszug  gegeben ;  3)  aus  einer  isländischen  Prosodie, 
clavis  raetrica,  Hattatal  (auch  Hattalykil)  genannt  und  hundert 
Versarten  in  drei  Lobhedern  enthaltend.  Dazu  kommen  im 
Worm.  und  Upsal.  Codex  Abhandlungen  über  Buchstaben  und 
Tropen;  Olaflfsen  in  dem  genannten  Buch  handelt  §  85  ff.  davon.  778 
Aus  diesem  Inhalt  lässt  sich  die  Frage,  was  die  Edda  sei,  leicht 

W.  (jRIMM,   KL.  SCIIRIl'TKX.     11.  2 


18  SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLO.GIE. 

beantworten:  eine  Unterweisung  zur  Poesie,  wobei  zuerst  von 
der  Materie,  dann  von  der  Form  gehandelt  wird,  und  es  gilt 
ganz,  wie  es  in  dem  ersten  Capitel  der  Vorrede  bei  Resenius 
heisst:  „sie  lehrt  die  nordische  Scalldschaft  erkennen  aus  den 
Dämesagen  und  aus  den  üblichen  poetischen  Umschreibungen", 
endlich  aus  der  metrischen  Beispielsammlung.  Ein  Buch  muss 
nothwendig  nach  der  ihm  zum  Grund  liegenden  Ansicht  ge- 
fasst  werden,  nicht  aber  nach  dem  Namen,  der  sehr  zufälhg 
sein  kann,  und  Nyerup  irrt,  wenn  er  bloss  Gylfeginning  und 
Bragarfidr  zur  Edda  rechnet:  offenbar  ist  in  den  Theilen  des 
Werks  ein  Zusammenhang,  und  sie  werden  von  einer  Idee  zu- 
sammengehalten. Die  Stelle,  welche  er  als  Beweis  (S.  177)  an- 
führt, sagt  ebenfalls  nur,  wie  auch  Müller  bemerkt  (S.  62),  dass 
man  Bragarädr  mit  zur  Edda  gezählt  habe,  nicht  aber  zugleich, 
dass  die  Kenningar  und  Hattatal  davon  ausgeschlossen  seien, 
also  nichts  für  seine  Ansicht.  Überhaupt  genommen,  scheint 
es  schon  misslich,  den  Namen  Edda  auf  Einen  von  den  drei 
Theilen  des  Ganzen  ausschliesslich  zu  beziehen,  weil  jeder  dieser 
Theile  einen  eigenen  sehr  passenden  Namen  schon  hat,  und  es 
ist  wohl  das  Natürlichste  anzunehmen,  dass  man  das  Ganze 
damit  habe  bezeichnen  wollen;  sehen  wir  ferner,  dass  dieser 
Name  für  dieses  auch  sehr  schicklich  sei,  wie  gleich  wird  be- 
merkt werden,  so  erscheint  dies  Argument  bedeutend  genug. 
Dass  aber  die  Eine  Idee,  die  Dichtkunst  zu  lehren,  durch  das 
Ganze  hingehe,  ergibt  sich  auch  daraus,  dass  in  dem  ersten 
Theil  die  Mythologie  bloss  abgehandelt  wird,  insofern  sie  Gegen- 
stand der  Poesie  sein  kann,  nicht  insofern  sie  die  Religion 
enthält,  weshalb  auch  von  dem  Cultus  eigentlich  nichts  vor- 
kommt. Ein  klarer  Beweis  ist  ferner,  dass  ausser  den  religiösen 
Mythen  auch  der  Cyklus  der  Wolsungensage  dargestellt  ist, 
welcher  höchst  wahrscheinlich  nächst  jenen,  an  welche  er  sich 
doch  auch  wieder  anknüpft,  der  wichtigste  war,  ja  in  dem  königl. 
Codex  heisst  es  ausdrücklich,  dass  die  meisten  Scalden  nach 
779  8igurdur  Fofnisbane  gedichtet.  In  den  Kenningar  ist  dasselbe 
Verhältnis  sichtbar,  indem  neben  den  Benennungen  und  Um- 
schreibungen der  Götter  auch  viele  aus  dieser  Sage  sich  finden, 
die  wir  hernach  anführen  werden.    Wenn  man  daher  sagt,  dieser 


SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLOGIE.  19 

Cyklus  gehöre  nicht  zur  religiösen  Mythe,  so  hat  man  grössten- 
theils  Recht;    behauptet    man   aber,   er   gehöre    nicht  zur  Edda, 
so  ist  es  falsch,  und  wir  können  es  darum  nicht  billiffen.    dass 
Nyerup  in  der  Übersetzung  auch  diese  Fabeln  übergangen.     Dass 
man  das  System  nicht  genau  befolgte  und  sie,  wie  noch  andere, 
an  den  unrechten  Ort,  in  die  Kenningar,  stellte,  darf  man  nicht 
übel  nehmen:  es  ist  der  Zeit,  wo  alles  noch  im  Herzen  lebendig 
und   der  innere  Zusammenhang   sowohl   als  Unterschied  gefühlt 
wird,  eigenthümlich,   das   äussere  Gerüst  nicht  sehr  zu  achten; 
die  spätere  macht  es  umgekehrt.    Freilich  aus  kritischen  Gründen, 
wie  Ihre  glaubt,  hat  man  sie  nicht  dahin  gebracht.     Müller  ver- 
wirft gleichfalls  Nyerups  Einschränkung  (S.  ^^)  und  will,    dass 
edda  nach  Magnäus  in  Sämunds  Leben  als  weibliche  Form  von 
othr  soviel  als  Poesie  bedeute,  oder  noch  wahrscheinlicher  nach 
Olavs    handschriftlichem    isländischen     Wörterbuch     soviel     als 
aedada,  Particip  von  dem  ungebräuchlichen  Verbum  eg  aedi,  ich 
unterrichte,    mithin    Scaldenkunst   heisse    und   damit  genau  den 
Inhalt  des  Buchs  bezeichne.      Darin   aber   kann  ßec,  nicht  bei- 
stimmen,  dass  die  Bedeutung   von    Edda   als  Ältermutter,   un- 
streitig  die  ungezwungenste  des  Worts,  für  die  ganze  Sammlung 
unpassend  sei,  weil  die  Dämesagen  das  Frühere  wie  das  Spätere 
umfassten,    denn   an    eine   solche   Unterscheidung   ward  gewiss 
nicht  gedacht,  und  es  scheint  sehr  einfach,    die  Anweisung  zur 
Dichtkunst  bildlich   Mutter   der    Poesie    zu   nennen,    ebenso  die 
Sammlung  alter  Lieder  in  Sämunds  Edda ;  vielleicht  dachte  man 
auch  gar  nicht  an  solche   oder   irgend  eine  bildliche  Bedeutung 
und   gebrauchte    das  Wort   nur   als  gleichbedeutend   mit  Poesie 
im  Allgemeinen,  wie  es  in  Schriften  des  vierzehnten  Jahrhunderts 
vorkommt  (S.  67).    Da  die  Edda  des  Snorro  ein  Handbuch  für 
Dichter  war,  und  wahrscheinlich  ein  viel  gebrauchtes,  so  scheint  780 
es  natürlich,  dass  bald  Zusätze  dazu  gemacht  wurden  und   das 
Buch  mit  seinem  Alter  immer  mehr  zunahm.    Daher  kommt  es, 
dass  alle  Handschriften  abweichen  und  eine  mehr  als  die  andere 
enthält.     Müller   hat    es  gut  dargethan,   wie    in   den   Kenningar 
verschiedene  Verf.  zu   unterscheiden  sind,   die  nach  einander 
müssen  gelebt   haben  (S.  47.  48.  53).      Der  königl.  Codex  hat 
noch  eine  spätere  Unterscheidung  in  Kenningar  (Umschreibungen) 


20  SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLOGIE. 

und  Heiti  (poetische  Benennungen),  die  im  Worm.  Codex  fehlt. 
Zu  Hattatal  ist  noch  ein  Commentar  von  einem  späteren  ge- 
kommen (S.  45).  Ebenso  ist  es  unzweifelhaft,  dass  die  Ab- 
handlungen des  dritten  Theils  über  Buchstaben  und  Tropen 
von  mehreren,  auch  der  Zeit  nach  verschiedenen  Verfassern 
herrühren  (S.  31^ — 38);  und  wahrscheinlich  waren  sie  von  ihrem 
Urheber  auch  noch  nicht  in  verschiedene  getheilt  (S.  36).  Rec. 
vermuthet,  dass  auch  der  erste  Theil  eine  Veränderung  erlitten, 
wovon  hernach  mehr  vorkommen  wird.  Als  ein  solcher  später 
unschuldiger  Zusatz  erklärt  sich,  nach  des  Rec.  Ansicht,  auch 
die  verrufene  Vorrede.  Der  Verf.  derselben  hat  hinzugeschrieben, 
was  er  eben  gewusst  hat  von  griechisch-römischer,  christlicher 
Mythologie,  von  römischer  Geschichte  und  was  ihm  nützlich 
zu  poetischem  Gebrauch  schien.  Nichts  ist  daher  abgeschmackter, 
als  aus  dieser  die  Beweise  der  Unechtheit  der  Edda  zu  nehmen ; 
seltsam  aber,  dass  man  eins  besonders  als  Ungereimtheit  ansieht 
und  heraushebt,  was  nach  unserer  Meinung  doch  auf  alter  Tra- 
dition beruht,  nämlich  die  Hinweisung  auf  Troja,  wie  wir  an 
einem  andern  Ort  gezeigt  haben*).  Es  ist  leicht  möglich,  dass 
jeder  Dichter,  der  die  Poesie  nun  einmal  als  Kunst  zu  erlernen 
angewiesen  wurde,  sich  Zusätze  in  seinem  Buch  gemacht.  So 
ist  stets  das  Ganze,  gleichsam  unwillkürlich,  überarbeitet  worden, 
und  so  ist  alles  Spätere,  wie  etwa  auch  die  Kenningar  von 
Christus,  hineingekommen.  An  dem  Ende  des  Worm.  Codex 
finden  sich  sogar  einige  Blätter  loser  Excerpte,  vor  diesen  ein 
Blatt  mit  dem  interessanten  Fragment  von  Rigsmal,  und  er 
schliesst  mit  einem  Lobgesang  auf  die  Jungfrau  Maria.  Hier 
781  ist  jedoch  der  Ort  zu  erklären,  dass  wir  es  durchaus  für  un- 
statthaft halten,  wenn  diese  Ansicht  von  der  Entstehung  der 
Edda  Einfluss  auf  die  Bearbeitung  des  Textes  selber  haben 
sollte;  wir  behaupten  ausdrücklich,  dass  alles,  was  in  den 
Manuscripten  enthalten,  es  sei  offenbar  Späteres  darin,  mit- 
getheilt  werden  muss.  Darum  erstlich,  weil  doch  immer 
eine  Grenze  da  sein  wird,  wo  es  zweifelhaft  ist,  dann  aber, 
weil  niemand  so  kühn  sein  darf  zu  bestimmen,  es  sei  durchaus 
kein   Gewinn   und   keine   Aufklärung   mehr  daher  zu   nehmen; 


*),  Vgl.  jetzt  Kl.  Sehr.  I,  211. 


SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLOGIE.  21 

der  Scharfsinn  und  die  Ansichten  des  menschlichen  Geistes 
müssen  als  unendlich  geehrt  werden.  Eine  kritische  Unter- 
suchung wird  aber  daneben  an  ihrer  Stelle  sein,  nur  dass  die 
Quelle  selbst  nicht  angerührt  werde.  In  dieser  Hinsicht  sind 
die  bisherigen  Ausgaben  sehr  zu  tadeln,  es  ist  schon  bemerkt 
worden,  dass  sie  nicht  vollständig  sind.  Resenius  hat  die 
Kenningar  nur  auszugsweise  mitgetheilt,  und  doch  sind  eben 
diese  eine  ungemein  interessante  Sammlung,  voll  wunderbarer, 
oft  herrlicher  poetischer  Bilder  und  Namen;  von  ihrer  Wichtig- 
keit für  die  Geschichte  der  Poesie  nicht  zu  reden.  Wenn  man 
bedenkt,  dass  die  Mythen  und  Sagen,  auf  welche  sie  hindeuten, 
allgemein  unter  dem  Volk  bekannt  waren,  so  fallt  die  Dunkel- 
heit, die  man  ihnen  vorgeworfen,  grösstentheils  weg,  aber  ihre 
poetische  Bedeutsamkeit  bleibt. 

Es  fragt  sich,  wie  alt  die  Edda  sei;  soll  die  Frage  eine 
Bedeutung  haben,  so  darf  sie  nur  auf  dasjenige  bezogen  werden, 
was  als  das  Alteste  darin  anzuerkennen.  Sie  wird  am  besten 
durch  die  weitere,  wer  der  erste  Verf.  sei,  beantwortet  werden. 
Nyerup  sagt,  dass  er  aus  dem  dreizehnten  Jahrhundert,  sei  ge- 
wiss, aber  wer  es  gewesen,  wisse  man  nicht  (S.  178),  doch 
nach  der  Aussage  einer  Membrane  könne  ein  Theil  der  Kenningar 
von  Snorro  Sturleson  gesammelt  sein  (S.  182).  Dass  dieser 
jedoch  der  Verf.  von  Hattatal  sei,  darin  stimmen  beide  überein 
(N.  S.  150,  M.  S.  45);  ferner  aber  beweist  Müller,  dass  von  einem 
Theil  der  Abhandlungen  über  Buchstaben  und  Tropen  Olaf 
Thordsen,  der  weisse  Scalde  (Hvitaskald),  der  in  der  ersten 
Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  lebte,  ein  Bruderssohn  des  7^2 
Snorro  Sturleson,  der  Urheber  gewesen  (S.  32 — 37),  von  den 
Kenningar  aber  unwidersprechlich  wiederum  Snorro  Sturleson 
selbst  (obgleich  er  in  der  zweiten  Abtheilung  derselben  im  Worm. 
Codex  selbst  wieder  citirt  wird  und  andere,  die  nach  ihm 
lebten,  S.  53 — 58);  auf  die  Zeugnisse  werden  wir  gleich  her- 
nach zurückkommen,  da  sie  für  uns  noch  mehr  enthalten.  Hier 
nur  das  eine:  ein  Bearbeiter  der  Abhandlung  des  Olaf  Hvita- 
skald über  die  Buchstaben  gibt  den  Rath,  die  Kenningar  und 
Heiti  nur  so  weit  zu  gebrauchen,  als  es  Snorro  erlaubt;  nun 
findet  sich  wirklich  im  ersten  Theil  der  Kenningar  eine  solche 
Warnung  für  junge  Dichter,   in  neugebildeten  Kenningar  nicht 


22  SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLOGIE. 

ZU  weit  zu  gehen.  Dagegen  spricht  ihm  Müller  den  ersten  Theil, 
Gylfeginning  und  Bragarädr,  ab,  der  von  einem  Unbekannten 
herrühren  müsse.  Er  führt  für  diese  Meinung  folgende  Gründe 
an:  1)  wäre  Snorro  Urheber  des  ersten  Theils,  warum  hat  er 
die  Mythen  von  Thors  Reise  zur  Geirrod,  von  der  Iduna,  Sifs 
Haare  usw.  nicht  dahin  genommen  (wohin  sie  Resen  in  seiner 
Ausgabe  auch  gestellt  hat),  sondern  in  die  Kenningar  gebracht? 
Sodann  2)  warum  wird  Gylfeginning  und  Bragarädr  nicht  ein- 
mal in  den  Kenningar  erwähnt  und  vorausgesetzt?  3)  Auch  ist 
in  beiden  die  Behandlungsart  verschieden,  dort  werden  keine 
namhafte  Dichter  angeführt,  wie  hier  fast  immer;  endlich  4)  es 
war  zu  Snorros  Zeiten  eine  Mythensammlung  nicht  nöthig,  wo 
sie  noch  in  frischem  Andenken  lebten.  Wir  müssen  gestehen, 
dass  uns  diese  Gründe  nicht  überzeugt  haben  und  wir  dennoch 
geneigt  sind,  Snorro  auch  für  den  Verf.  von  Gylfeginning  und 
Bragarädr  zu  halten.  Ganz  einfach  erstlich  darum,  weil  diese 
Stücke  nothwendig  in  die  Idee  und  den  innern  Zusammenhang 
des  Buchs  gehören.  Sollte  es  ein  Handbuch  für  Dichter  sein, 
so  war  es  natürlich,  zuerst  von  dem  Vorwurf  der  Poesie,  welches 
die  Mythe  und  Sage  ist  (als  das  Überlieferte,  dazu  kommt,  was 
die  Gegenwart  gewährt,  welche  die  Scalden  gleichfeUs  besangen), 
zu  handeln;  darnach  kam  es  an  die  üblichen  poetischen  Um- 
783  Schreibungen  und  zuletzt  an  das  Metrische.  So  weit  möglich 
ist  zurückzugehen,  wird  der  erste  Theil  als  ein  zum  Ganzen 
nothwendiger  betrachtet,  und  schon  im  vierzehnten  Jahrhundert. 
Das  gibt  der  Verf.  (S.  60)  selbst  zu,  und  das  beweist  die  Stelle 
aus  der  alten  Membrane  757,  die  Bragarädr  zur  Edda  zählt 
(bei  Nyerup  S.  181.  182,  bei  Müller  S.  61),  auf  jeden  Fall.  Ist 
nun  Snorro  unbezweifelt  Urheber  der  Kenningar  und  des  Hattatal, 
so  muss  ihm  auch  der  damit  verbundene  erste  Theil  zuge- 
schrieben werden.  Hierzu  kommt  eine  Reihe  von  äusseren  Be- 
weisen. Zuerst  die  isländischen  Annalen  sagen  ganz  klar  von 
Snorro:  „er  setzte  die  Edda  zusammen"  (han  samsetti  Edda). 
Der  Verf.  führt  diese  Stelle  da  an  (S.  37.  38),  wo  er  allein  von 
den  Kenningar  redet  und  beweisen  will,  dass  sie  von  Snorro 
herrühren,  das  beweist  sie  freilich,  aber  was  mehr  darin  liegt, 
das  lässt  er  leicht  fallen,  indem  es  hier  zu  seinem  Zweck  genug 


SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLOGIE.  23 

ist,   wenn   doch  „mindestens"  die  Kenningar  unter  dieser  Edda 
begriffen   sein   müssten.      Doch    kommt   es   ihm    zu,    darzuthun, 
dass  bloss    diese   darunter   verstanden  sind;    davon    aber  haben 
wir   nirgends   den  Beweis   gefunden.      Er   geht  unstatthaft  über 
die  Schwierigkeit  hinaus  mit  den  Worten:    „was  die  Edda  um- 
fasse, lassen  wir  unentschieden"    und:    -entweder  die  Kenningar 
für   sich  bestehend  oder  mit  etwas  Mehrerem  verbunden   haben 
die  Edda  ausgemacht".    Ausserdem  ist  es  nicht  ganz  aufrichtig 
ausgedrückt,  da  er  späterhin  annimmt,  dass  alle  drei  Theile  dazu 
o-ehören  und  die  Bedeutunor  des  Worts  Edda  selber  das  Ganze 
tichicklich    bezeichne.       Also    ist    diese    Stelle    nicht    widerlegt, 
welches  auch,  nach  unserer  Meinung,  nicht  leicht  fallen  dürfte. 
Mit  ihr  trifft  zusammen,  was  nach  Arngrim  Jonas  Brief  an  Ole 
Worm  (S.  72)  ein  isländischer  Annalist  enthält,    nur  dass  noch 
die  Lieder  der  Sämundischen  Edda  als  frühere  Sammlung  dort 
orenannt  werden.      Hierauf  folgt  die  Stelle    aus   der  Membrane 
748  CS.  35),    woraus    zwar    zuvörderst    auch    sich   ergibt,    dass 
Snorro    die    Kenningar   verfasst,   keineswegs   aber   dieses   allein, 
und   es    wird   eben   so   schicklich   auf  das  Ganze  bezogen.     So- 
dann  mit    den  isländischen  Annalen   stimmt  wieder  überein  die 
Überschrift   des   Upsal.  Codex:    „dieses    Buch   heisst   Edda,    sie 784 
hat    zusammengesetzt    Snorro    Sturleson    nach   der  Weise,    wie 
sie   hier  geordnet  ist",   d.  h.  in  drei  Abtheilungen  (S.  56).    Wir 
finden  es  nicht  erwiesen,  dass  diese  Überschrift  später  sei,  aus 
dem   Grunde,    weil    man   keinen  Raum    dazu   gelassen.      Allein 
wäre  es  auch  erwiesen,   so  ist  die  darin  enthaltene  Behauptung 
nicht   damit  widerlegt.      Warum   ist   hier   der  Verf.    so    streng? 
Gleich   vorher  lässt   er   das  Zeugnis  eines  Bearbeiters  von  Olaf 
Hvitaskalds  Tractat,  dass    Snorro   Urheber   der  Kenningar   sei, 
der  ein  Jahrhundert  später  gelebt  hat,  als  der  Upsalische  Codex 
geschrieben  wurde,    ohne  Schwierigkeit   und   mit  Recht   gelten. 
Endlich    ist    der    Umstand,    dass    beide    Genealogieen    in    dem 
Upsalischen  Codex  mit  Snorro  schliessen,  allerdings  von  Gewicht. 

Wir    können   noch   manches    hinzufügen    und    auch   darauf785 
antworten,  wenn  der  Verf.  etwa  behaupten  wollte,  weil  Snorro 
die  Kenningar  gesammelt,  habe  man  ihn  auch  als  Urheber  des 
ersten  Theils  betrachtet,    wir   wollen   es   aber  nicht  thun,    weil 


24  SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLOGIE. 

wir  solche  feinzugespitzte  Kritik  nicht  lieben,  die  am  ersten  von 
der  einfachen  Wahrheit,  welche  jene  Aussagen  enthalten,  sich 
entfernt  und  in  eine  endlose  Nichtigkeit  sich  verliert.  Lieber 
wollen  wir  noch  einiges  gegen  seine  Gründe  anführen,  wo  wir 
zugleich  Gelegenheit  haben  werden,  unsere  Ansicht  weiter  zu 
entwickeln.  1)  Snorro  kann  die  Mythen  in  die  Kenningar  ein- 
gerückt haben,  weil  sie  nirgends  in  Gylfeginning  und  Bragaradr 
passen,  insofern  scheint  uns  Ihre  ganz  richtig  zu  urtheilen. 
Dort  wird  in  einer  strengen  und  doch  sehr  einfachen  und  ge- 
schickten Folge  die  Mythologie  entwickelt;  diese  Fabeln  weichen 
merklich  ab,  es  ist  des  Poetischen  in  ihnen  mehr  und  des  Be- 
deutenden weniger;  während  dort  fast  nur  der  blosse  Kern  ge- 
zeigt wird,  hat  er  hier  in  dichterischer  Ausschmückung  schon 
Blätter  und  Ranken  getrieben.  Deshalb  sind  wir  auch  geneigt, 
sie  für  den  Zusatz  eines  anderen  zu  halten,  und  es  scheint  dieses 
aus  der  Bemerkung  hervorzugehen,  die  sich  in  dem  Worm.  und 
königl.  Codex  vor  diesen  Mythen  findet  und  die  sonst  noch 
wichtig  ist.  2)  Die  Stelle  steht  bei  Nyerup  S.  157:  „nu  skal  en- 
segia  daemi  af,  hveriu  thear  Kenningar  eru,  er  nu  voru  ritadar, 
ok  adr  voru  aigi  daemi  tilsögd",  d.  h.:  nun  sollen  die  Fabeln 
786 gesagt  werden,  woraus  die  Kenningar  sind,  die  nun  {zu  den 
andern,  als  Zusatz)  aufgeschrieben  sind,  und  eher  waren  keine 
Fabeln  dazu  gesagt.  Das  heisst:  in  dem  vorhergehenden  Theile 
Gylfeginning  und  Bragaradr  finden  sich  keine  Mythen  zu  diesen 
Kenningar.  Diese  Erklärung,  die  auch  Nyerup  gibt,  ist  den 
Worten  nach  die  natürlichste,  und  es  wird  dadurch  bewiesen, 
dass  wirklich  in  dem  ersten  Theil  keine  Dämesagen  sind,  woraus 
diese  Kenningar  genommen.  Wir  begreifen  nicht,  wie  der  Verf. 
diese  Stelle  hat  übersehen  können.  Glaubt  er,  wie  es  scheint 
(S.  62),  dass  sie  von  Snorro  herrühre,  so  kann  er,  um  consequent 
zu  bleiben,  da  der  erste  Theil  nun  offenbar  in  den  Kenningar 
vorausgesetzt  wird,  nur  noch  annehmen,  dieser  sei  von  einem 
früheren  Urheber  als  Snorro.  Das  ist  aber  bestimmt  seine 
Meinung  nicht,  sondern  er  hält  ihn  für  später  (S.  65).  (Übrigens 
wenn  Skidbladner  schon  in  Gylfeginning  erwähnt  wird,  so  kann 
doch  eine  Mythe,  die  den  Erwerb  dieses  Schatzes  ausführlich 
beschreibt,   leicht  später  sein.)      3)  Der   erste  Theil  wird  zwar 


SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLOGIE.  25 

in  dem  zweiten  nicht  namentlich  angeführt,  doch  Bragas  Reden; 
allein,  wie  wir  eben  gesehen,  ausdrücklich  vorausgesetzt  und 
der  That  nach  sehr  häufig,  denn  wie  viele  Kenningar  sind  aus 
der  ersten  Sammlung  genommen ;  weil  Resenius  dies  schon  nach- 
gewiesen, so  brauchen  wir  keine  Beispiele  zu  geben.  Setzen 
aber  die  Kenningar  nicht  Gylfeginning  und  Bragaradr  voraus, 
warum  ist  keine  Mythe  aus  diesen  als  Beweis  erzählt?  Was 
sollte  Snorro  bewogen  haben,  grade  diese  zu  übergehen?  Es 
wäre  noch  die  Frage,  ob  die  Kenningar  nicht  ursprünglich  mit 
dem  Inhalt  der  Dämesagen  parallel  gelaufen  sind:  jene  Be- 
merkung vor  den  Mythen  in  den  Kenningar  sieht  es  wenigstens 
für  nothwendig  an,  dass  die  poetischen  Umschreibungen  stets 
durch  eine  Mythe  beglaubigt  werden ;  ein  neuer  Beweis  für  den 
inneren  Zusammenhang  beider  Theile.  4)  Dass  die  Behandlungs- 
art in  beiden  Theilen  verschieden,  ergibt  sich  vollkommen  aus 
der  ><atur  der  Sache.  Für  die  Mythen  selbst,  insofern  sie  ein 
Allgemeingut  waren  und  nicht  von  einem  Dichter  gegeben 
wurden,  konnte  begreiflich  kein  Dichter  als  Gewährsmann  ge-787 
nannt  werden.  Da  in  alten  Zeiten  die  Dichter  sich  nur  für  den 
Mund  ansahen,  durch  welchen  die  Poesie  sprach,  so  trat  ihre 
Persönlichkeit  fast  immer  zurück,  und  das,  beiläufig,  ist  der 
einfache  Grund,  warum  sich  zu  den  Liedern  der  Sämundischen 
Edda  keine  Verfasser  genannt.  Für  die  Kenningar  aber,  die 
eine  besondere  menschliche  Erfindung  sind,  musste  er  nach- 
gewiesen werden;  in  den  frühsten  Gedichten  werden  sich  die 
wenigsten  Umschreibungen  finden,  den  Bilderreichthum  erzeugt 
erst  die  zunehmende  Kunstcultur  wieder.  Ebenso,  wo  der 
Mythus  eine  besondere  eigenthümliche  Ausbildung  erhalten,  wie 
in  Thors  und  Hrungers  Kampf,  in  Idunas  Entführung,  da  ist 
auch  der  Bearbeiter,  der  Thiodolfr  von  Hvine,  genannt.  5)  Auf 
den  letzten  Grund  wird  der  Verf.  selbst  kein  besonderes  Ge- 
wicht legen.  Wer  kann  behaupten,  dass  die  damahge  Zeit  eine 
Mythensammlung  nicht  nöthig  gehabt,  hundertundfünfzig  Jahre 
nach  Einführung  des  Christenthums,  dreissig  oder  vierzig  Jahre 
später  aber  allerdings?  Wenigstens  hätte  er  dann  nicht  sagen 
dürfen,  es  sei  möglich,  dass  ein  älterer  Dichter  schon  eine  solche 
Behandlungsart  gewählt,  um  viele  Mythen  in  einen  Rahmen  zu 


26  SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLOGIE. 

fassen,  von  dessen  Arbeit  der  Urheber  des  ersten  Theils  der 
Edda  nur  eine  vermehrte  prosaische  Paraphrase  gegeben :  eine 
Vermuthung,  die  uns  an  sich  sehr  gut  scheint.  Ja,  wir  gehen 
noch  weiter  und  erklären,  dass  wir  sehr  geneigt  sind  zu  glauben, 
auch  der  Urheber  (nach  Rec.  Snorro)  von  Gylfeginning  und 
Bragarädr  habe  eine  zwar  vermehrte,  aber  gleichfalls  poetische 
Sammlung  von  Mythen  gegeben  und  die  prosaische  Auflösung 
rühre  von  einem  späteren  her.  Nimmt  man  das  an,  so  wird 
jene  Stelle  aus  den  isländischen  Annalisten,  die  Arngrim  Jonas 
citirt  (S.  72),  erst  recht  klar,  worin  es  heisst,  dass  Snorro 
Sämunds  Sammlung  von  Liedern  fortsetzte  und  vermehrte  in 
der  Edda.  Ein  zweiter  Beweis  dafür  liegt  in  dem  merkwürdigen 
Umstand,  dass  die  alte  Membrane  748  diese  alten  Gesänge  mit 
den  Kenningar  verbindet  und  sie  als  ersten  Theil  vorangehen 
788lässt  (S.  77);  und  gerade  diejenigen  finden  sich,  worin  sich  eben- 
falls, wie  der  Verf.  an  einem  anderen  Ort  bemerkt  (S.  6Q),  die 
Absicht  zeigt,  mehrere  Mythen  zusammenzufassen,  wie  Vafthrud- 
nismal,  Grimmismal,  Harbardslied.  Endlich  könnten  wir  nun 
gut  erklären,  warum  in  den  Kenningar  Bragas  Reden  zu  Agir 
zweimal  citirt  werden  (S.  63),  ohne  dass  das  Citat  passt,  indem 
der,  welcher  die  Gedichte  in  Prosa  auflöste,  etwas  verwirrte 
oder  ausliess.  Weiter  sagt  der  Verf.,  die  Mythe  lebte  noch  in 
frischem  Andenken  und  eine  Sammlung  derselben  war  nicht 
nöthig:  warum  aber  sollten  die  Gedichte  darüber  vergessen  sein, 
also  die  Kenningar  der  Scalden?  War  es  bequem  für  die  Dichter, 
diese  gesammelt  zu  haben,  so  musste  es  auch  bequem  sein,  die 
üblichen  Gegenstände  der  Poesie  zu  übersehen.  Überdies  er- 
innert sich  der  Verf.  hier  nicht,  was  er  sonst  anerkannt  (S.  90), 
dass  die  Edda  gar  nicht  direct  die  Mythologie  darstellte.  Fand 
sich  Snorro  bewogen,  die  Historie,  wie  aus  der  Vorrede  der 
Heimskringla  erhellt,  auch  nach  den  alten  Sagenliedern  (epter 
soguliodum)  zu  verzeichnen,  die  noch  nicht  vergessen  waren, 
denn  er  sagt  ausdrücklich,  dass  bei  Harald  Harfager  Scalden 
waren,  deren  Lieder  man  noch  kenne,  wie  aller  Könige  Lieder, 
die  seitdem  in  Norwegen  gewesen  (med  Harald!  vorn  Skalld,  og 
kunna  menn  enn  kuaede  theirra,  og  allra  konunga  quaedi, 
theirra   er   sidann   hafa   verit  at  Norige);  warum  sollte  er  nicht 


SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLOGIE.  27 

die  Mythen  aufbewahrt  und  sie,  wo  es  schicklich,  einem  Buch 
einverleibt  haben?  Seine  Bemühungen  darum  sind  aus  dem  er- 
wähnten Brief  des  Arngrim  Jonas  doch  ganz  unzweifelhaft,  ja 
schon  als  Geschichtschreiber,  der  die  Geschichte  lebendig  be- 
trachtete und  den  keine  geistlose  Kritik  beschränkte,  musste  er 
auch  zu  dieser  Quelle  gehen. 

So  haben  wir  den  Glauben,  dass  die  drei  Theile  der  Edda 
als  ein  Ganzes  zusammengehören  und  von  Snorro  herrühren, 
der  überall  besreffnet  und  darum  schon  so  leicht  nicht  dürfte 
hintangesetzt  werden,  zu  vertheidigen  gesucht  und  dargethan, 
dass  die  gewiss  nicht  ohne  Mühe  aufgesuchten  Gründe  nicht 
haltbar  sind.  Damit  haben  wir  die  Untersuchungen  der  beiden  7S9 
Verf.  über  das  Äusserliche  der  Edda  betrachtet  und  nach  unserer 
Weise  geordnet:  wir  sind  schuldig  hier  zu  bemerken,  dass  wir 
Fleiss  mancherlei  Art,  Belesenheit  und  aufmerksame  Betrachtung 
bei  ihnen  gefunden.  Wir  gelangen  nun  zu  der  wichtigsten 
Frage,  wie  nämlich  die  Echtheit  der  Asalehre  könne  dargethan 
werden.  Manche  Gegenstände  menschlicher  Forschungen  haben 
das  Schicksal,  dass  sich  der  Fleiss  zuvörderst  nicht  grade  auf 
die  Hauptsache  wendet,  sondern  auf  mancherlei  andere  Dinge, 
die  freilich  dazu  dienen  können,  sie  aufzuklären  und  zu  be- 
fördern, die  aber  ihr  Gewicht  und  rechte  Bedeutung  erst  er- 
halten, wenn  jene  entschieden  ist.  Wird  dies  eifiig  getrieben, 
so  häufen  sich  diese  Nebenuntersuchungen  an,  es  werden  na- 
türlich Irrthümer  begangen,  diese  zu  widerlegen  macht  sich  ein 
anderer  ein  besonderes  Geschäft,  und  so  findet  man  sich,  wenn 
man  die  Sache  selbst  nach  ihren  Quellen  einfach  zu  betrachten 
gedenkt,  von  mancherlei  Umgebungen  gehindert  imd  gedrängt, 
die  man  nicht  gradezu  abweisen  will,  weil  sich  manches  Nütz- 
liche darin  findet.  An  diese  Bemerkung,  die  allgemein  ist, 
wurden  wir  durch  die  Untersuchungen,  was  zur  Edda  gehöre 
und  wer  der  Urheber  sei,  wieder  erinnert. 

Jene  Frage  könnte  auf  doppelte  Art  beantwortet  werden. 
Erstlich  aus  inneren  Gründen,  aus  Erforschung  und  Betrachtung 
der  Quellen  selber,  ihrer  Natur  und  ihres  .Geistes ;  sodann  aus 
äusserlichen,  indem  man  die  Quellen  vorerst  in  Zweifel  stellte 
und  aus  den  Zeugnissen  anderer  ihre  Echtheit  darzuthun  suchte. 


28  SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLOGIE. 

Nyerup  hat  des  ersteren  Wegs  nicht  erwähnt,  wie  er  überhaupt 
die  Frage  nicht  ausführlich  behandelt,  sondern  führt  nur  (S.  125) 
einige,  allerdings  interessante  Stellen  aus  dem  Saxo  Grammaticus 
an,  woraus  klar  hervorgeht,  dass  dieser  die  Mythen  der  Edda 
gekannt  und  verschiedene  seinem  Werk,  manchmal  modificirt, 
einverleibt  habe.  Müller  hingegen  verwirft  den  ersten  ausdrück- 
lich: „die  Voluspa,  an  sich  selbst  betrachtet,  ist  überall  keine 
sichere  Quelle"  (S.  11).  „Dass  die  Mythen  etwas  mehr  sind, 
als  eine  Erdichtung  isländischer  Mönche  zum  Zeitvertreib  in 
790  langen  Winterabenden,  beweist  man  nicht  so  leicht  mit  wenigen 
Versen  aus  der  Voluspa,  Hyndlas  Gesänge,  Grimmismal,  Agis- 
dreka,  Skirners  Fahrt  und  Vafthrudnismal,  die  in  Gylfeginning 
citirt  werden.  Denn  das  hohe  Alter  dürfte  sich  schwerlich  aus 
inneren  Gründen  allein  mit  Sicherheit  darthun  lassen"  (S.  78). 
Was  den  zweiten  Weg  betrifft,  so  könne  er  auf  verschiedene 
Weise  eingeschlagen  werden,  mit  Vorbeigehung  anderer  wähle 
er  die,  bloss  aus  Snorros  Edda  das  Nöthige  darzuthun  (S.  22). 
Dieser  Beweis  der  Echtheit  wird  nun  (S.  78  ff.)  folgendermassen 
geführt:  die  Sammlung  der  Kenningar  enthält  gegen  jichtzig 
Namen  von  Dichtern,  die  (S.  79 — 82)  aufgezählt  werden  und 
deren  Lebzeit  grösstentheils  aus  der  Heimskringla,  den  isländischen 
Annalen,  dem  Saxo  G.  u.  a.  bekannt  ist,  einige  verlieren  sich  in 
die  frühste  Zeit,  wie  Biarke  und  Brage,  die  anderen  haben  von 
Harald  Haarfager  an  bis  auf  Hagen  den  Vierten  gelebt.  Unter 
dieser  Reihe  aber  liest  man  fünfhundert  Bruchstücke,  jedes  von 
vier  bis  acht  Zeilen,  etliche  aus  mehreren  Strophen  bestehend 
und  voll  von  mythischen  Anspielungen.  Mithin  hat  die 
Mythologie  durch  diese  Jahrhunderte  Kraft  und  Leben  gehabt. 
Wir  haben  an  sich  nichts  gegen  diesen  Beweis  und  wir  glauben 
daran,  weil  wir  schon  aus  anderen  Gründen  von  der  Echtheit 
der  Edda  überzeugt  sind;  ob  aber  der  Verf.  solche  Kritiker, 
gegen  welche  er  geschrieben,  damit  überzeugt,  das  bezweifeln 
wir.  Wie  leicht  haben  sie  das  Argument  abgewendet!  Da 
einige  unseres  Wissens  gar  nicht  die  alte  Othinslehre  leugnen, 
weil  ihr  Dasein  frülue  Historiker  bezeugen  (die  Stellen  sind  bei 
Delius  gesammelt),  und  nur  die  Darstellung  und  Ausbildung 
derselben  in   der  rhythmischen   und  prosaischen  Edda  für  Er- 


SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLOGIE.  29 

findimcr  auscreben.  so  dürfen  sie  bloss  anfuhren,  dass  durch 
solche  Anspielungen  die  Echtheit  dieser  noch  nicht  dargethan 
sei.  Wir  nehmen  dabei  an,  dass  sie  das  Verzeichnis  der 
Kenningar  fiir  echt  halten,  da  aber  der  Verf.  in  ihrem  Sinn  gar 
wohl  die  Möglichkeit  einer  Erdichtung,  wenn  man  bloss  die 
Quellen  hätte  ohne  dies  Verzeichnis,  vorausgesetzt,  so  werden 
sie,  weil  bei  ihnen  gerade  ein  grosses  Verdienst  in  dem  höchsten 
Grad  des  historischen  Unglaubens  besteht  und  nach  ihrem  Prin-  791 
cip  vorerst  alles  verworfen  werden  muss,  gern  glauben,  auch 
das  sei  gänzlich  eine  Erdichtung.  In  der  That  kann  sie  nicht 
allzuschwer  geworden  sein,  und  wie  leicht  ist,  in  solche  kurze 
Bruchstücke  Verschiedenheit  zu  bringen:  sie  werden  nicht  mehr 
zweifeln,  wenn  sie  bemerkt  sehen,  dass  die  meisten  die  einzigen 
noch  übrig  gebliebenen  Denkmäler  jener  Zeiten  sind,  wären  sie 
echt,  warum  finden  sich  nicht  mehrere  in  der  Heimskringla? 
Es  ist  uns  eigen  zuwider  in  dieser  Gesinnung  weiter  zu  reden, 
und  wir  müssen  daran  gedenken,  wie  stark  immer  der  Einfluss 
der  Zeitansicht  ist ,  wenn  wir  begreifen  wollen ,  wie  der  \  erf. 
sich  den  Einwurf  machen  konnte,  ob  nicht  diese  500  Bruch- 
stücke im  zwölften  Jahrhundert  alle  unter  den  alten  Namen 
könnten  von  verschiedenen  gedichtet  sein,  und  ihn  damit  wider- 
legen, dass  doch  unmöglich  eine  Gesellschaft  von  so  vielen  Be- 
trücrem  dazumal  könne  crelebt  haben.  Es  gibt  eine  gewisse  un- 
selige  Kritik,  die  kein  Leben  und  kein  wirkhches  Dasein  begreifen 
kann,  und  sie  gleicht  in  ihrer  Angst  jenen  unglückhchen 
Menschen,  die  in  der  einfachsten  und  gesundesten  Speise  Gift 
fürchteten  und  sie  darum  nicht  anders  als  mit  Gegengift  ver- 
zehren wollten.  Gegen  diese  sollte  man  nicht  reden  und  sie 
nicht  überzeugen  wollen.  Unter  allen  aber,  die  verneinen,  sind 
uns  diejenigen  noch  am  wenigsten  verhasst,  die  recht  unum- 
wunden und  bestimmt  es  thun,  am  meisten  dagegen  diejenigen, 
welche  mit  halben  Behauptungen,  die  in  der  That  doch  nichts 
zugeben,  sich  durchschleichen  wollen.  Wer  wie  Rühs  die  Echt- 
heit der  Mythen  zugibt,  aber  ihre  Bedeutung  in  aller  Hinsicht 
leugnet,  der  kann  nicht  mehr  übertroffen  werden.  Wie  weit 
wir  durch  eine  falsche  Ansicht  von  dem  AUereinfachsten  und  Na- 
türlichsten uns  entfernen  können,  zeigt  sich  auch  hier:  der  Verf. 


30  SCHRIFTEN  ÜBER  DIE   NORDISCHE  MYTHOLOGIE. 

hält  diesen  durch  die  Kenningar  geführten  Beweis  für  den  allein 
unumstösslichen  der  Echtheit,  und  so  wäre  nichts  einzuwenden 
gewesen,  wenn  ein  unglücklicher  Zufall  diese  Sammlung  von 
poetischen  Ausdrücken  hätte  verloren  gehen  lassen,  und  so  hätten 
wir  Deutsche,  die  nur  einen  Auszug  davon  einsehen  können, 
792  dem  gerade  das  fehlt,  worauf  es  hier  ankommt,  überhaupt  an 
eine  Erdichtung  glauben  müssen;  scheint  doch  das  Unbefangenste, 
die  Quelle  selbst  zu  prüfen  und  zu  versuchen,  ob  wir  sie  falsch 
befinden.  Wer  kann  aber  von  einer  Erfindung  der  Mythologie 
reden,  wo  noch  die  Spuren  von  dem  Cultus  der  alten  Götter 
sichtbar  sind ,  wo  in  so  vielen  Sagen  sie  uns  entgegentreten 
und  wo  deren  Regierung  in  so  manchen  herrlichen  Gedichten 
besungen  ist.  Niemals  hat  eine  Lüge  in  der  Zeit  Wurzel  ge- 
fasst,  sie  ist  stets  in  ihre  innere  Leerheit  zurückgefallen,  niemals 
haben  Dichter  von  dem  göttlichsten  Geist  an  eiiier  bodenlosen 
Erfindung  sich  entzündet,  und  nur  das  kann  zum  Herzen 
sprechen,  was  aus  dem  Herzen  gekommen  ist.  Die  Mythologie 
ist  etwas  Organisches,  durch  die  Macht  Gottes  Gewordenes,  in 
ihm  Begründetes.  Keines  Menschen  Kunst  reicht  dahin,  sie  zu 
erschaffen  und  zu  erfinden;  anerkennen  und  empfinden  kann  er 
sie.  Wie  es  immer  eine  Partie  geben  wird,  die  alle  Begeisterung, 
alle  Poesie  und  jede  höhere  Idee  des  Lebens  ableugnet,  weil 
sie  nur  mit  geistigen  Augen  kann  angeschaut  werden  und  kein 
Diplom  sie  beweist,  weil  es  nur  die  Überzeugung  unseres  Herzens 
kann,  so  wird  auch  stets  eine  Partie  die  Bedeutung,  die  Wahr- 
heit und  Echtheit  der  alten  Mythe  verwerfen,  wie  Schlözer, 
Adelung  und  alle,  gegen  die  der  Verf.  in  dem  Eingang  seiner 
Schrift  und  Nyerup  in  einer  besonderen  Abhandlung  (Skandin. 
Museum  1802  H)  polemisirt  hat. 

Wir  setzen  unsere  Ansicht  dem  Verf.  entgegen.  Der  innere 
Beweis  ist  uns  der  erste  und  wichtigste,  und  ohne  dieses  Ge- 
fühl für  das  Leben  der  alten  Mythen  würde  uns  ein  äusserlicher 
nicht  überzeugen  können.  Also  gerade  an  sich  selbst,  kraft  des 
ihnen  innewohnenden  Geistes,  sind  die  Voluspa,  die  Gesänge 
der  älteren  Edda  und  die  Dämesagen  der  jüngeren  die  ältesten 
und  sichersten  Quellen.  Es  ist  uns  eine  höhere  Kritik,  diesen 
Geist  anzuerkennen.    Wäre  uns  daher  aufgegeben,  die  Echtheit 


SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLOGIE.  31 

der  alten  Lehre  darzuthun,  so  würden  wir  vorerst  keine  Rück- 
sicht nehmen  auf  das  Geschrei  einer  modernen  Zweifelsucht,  die 
wie  stechende  Nesseln  an  den  alten  Ruinen  aufwächst,  und  aus 
allen  Quellen  mit  Glauben  an  eine  treue  Zeit  und  mit  dem79S 
besten  Fleiss  alles  zusammenstellen.  Es  würden  sich  wohl  die 
einzelnen  Theile,  wie  die  aufgeftmdenen  und  gesammelten  Stücke 
einer  verschütteten  Statue,  zu  einem  Ganzen  fügen,  wenigstens 
es  erkennen  lassen  und  so  sich  einander  verbürgen;  dann  würden 
wir  äusserliche  Beweise  berücksichtigen  und  sie  aufsuchen,  auch 
sie,  wie  billig,  achten,  und  nun  dürften  alle  kritischen  Zweifel 
erwägt  werden,  denn  es  würde  sich  leicht  zeigen,  wie  viel  sie 
dem  Ganzen  anhaben  könnten :  Berichtigungen  für  das  Einzelne 
aber  würden  immer  stattfinden.  Für  diese  Nachweisung  des 
inneren  Zusammenhangs  ist  bisher  im  Norden  wenig  geschehen, 
von  der  älteren  Edda  in  ihrem  Verhältnis  zu  der  jüngeren,  wo 
diese  unstreitig  als  ein  Auszug  aus  jener  zu  betrachten,  ein  so 
wichtiger  und  beweisender  Umstand,  ist  so  wie  hier  in  beiden 
Abhandlungen  so  im  Ganzen  wenig  Gebrauch  gemacht  worden; 
die  fleissigste  und  gelehrteste  Arbeit,  Suhms  Buch  om  Odin, 
kann  doch  nur  als  eine  Materialiensammlunsr  anscesehen  werden. 
Müller  macht  in  der  Vorrede  den  deutschen  Gelehrten  den  Vor- 
wurf, dass  sie  den  nordischen  Denkmälern  weniger  Aufmerk- 
samkeit geschenkt,  als  den  Schätzen  anderer  Litteraturen ;  dieser 
ist  gewiss  ungerecht.  Wir  getrauen  uns  eine  beträchtliche  An- 
zahl von  Gelehrten  zu  nennen,  die  sich  mit  der  skandinavischen 
Mythologie  beschäftigt:  wir  fragen,  wer  mit  allen  Mitteln,  die 
dort  zu  Gebote  stehen,  etwas  so  Durchdringendes  und  Gehalt- 
volles darüber  gesagt,  als  ganz  kürzlich  Görres  in  seiner  Mythen- 
geschichte? Es  ist  bewainderungswürdig,  wie  er  bei  den  wenigen 
Quellen,  zu  welchen  ein  Deutscher  ohne  Schwierigkeit  gelangt, 
und  bei  der  Möglichkeit  der  Irrthümer  im  Einzelnen  (wie  ihm 
z.  B.  entgangen,  dass  die  mit  Runen  geschriebene  Hialmarsaga 
ein  Betrug  ist)  vorahndend  gleichsam  den  Geist  des  Ganzen 
ergriffen:  wir  wissen  nichts,  das  wir  dagegensetzen  könnten. 

Ist  einmal  die  Echtheit  der  alten  Lehre  ausser  Zweifel  ge- 
setzt, dann  fällt  es  auch  leicht,  anderweitige  Fragen  zu  beant- 
worten: welche  Bedeutung  nämlich  den  Mythen  vergönnt  werden 


t 
32  SCHRIFTEN  ÜBER  DIE  NORDISCHE  MYTHOLOGIE. 

794 könne,  vor  allem,  ob  sie  historisch  zu  berücksichtigen.  Wer 
dies  verneint,  selbst  wenn  ihm  ein  gelehrtes  Blatt  so  sehr  bei- 
gestimmt, dass  nach  seinem  Ausspruch  weiter  von  dem  Einfluss 
der  alten  Sagen  auf  die  nordische  Geschichte  keine  Rede  sein 
könne,  der  wird  beweisen  müssen,  dass  überhaupt  der  Mythe 
das  historische  Element  fehle,  welches  eben  so  schwer  fallen 
wird,  als  wenn  man  das  Physikalische  und  Göttliche  darin  ab- 
leugnen wollte.  Dann  lässt  sich  auch  der  Zusammenhang  der 
nordischen  Religion  mit  der  indischen  nachweisen,  worauf  der 
Verf.  hindeutet  und  welchen  Görres  gleichfalls  gezeigt  hat. 

Es  ist  übrig,  von  dem  dritten  Werk,  Nyerups  Übersetzung 
des  ersten  Theils  der  jüngeren  Edda,  zu  reden,  allein  wir  müssen 
eine  ausführliche  Recension  davon  ablehnen.  Das  Buch  ist 
eigentlich  nicht  für  den  gelehrten  Gebrauch  bestimmt  und  soll 
Dilettanten  bloss  die  Bequemlichkeit  verschaffen,  die  Werke 
neuerer  dänischer  Dichter,  namentlich  Öhlenschlägers ,  die  sich 
auf  die  alte  Mythologie  gründen,  besser  zu  verstehen.  Und  so 
entschuldigt  sich,  was  wir  schon  gelegentlich  daran  ausgesetzt, 
dass  die  anderen  Theile  der  Edda  ausgelassen  sind,  und  was  wir 
sonst  tadeln  würden,  dass  der  Verf.,  wie  es  sich  bei  einer  so 
wichtigen  Quelle  geziemt,  wo  es  auf  jeden  Ausdruck  ankommt, 
sich  nicht  genau  genug  an  den  Text  gehalten,  manchmal  einen 
Fehler  moderner  Übersetzer,  die  gern  die  Farben  erhöhen,  bis 
zum  Entgegengesetzten  vermeidend ;  wer  einen  Beweis  verlangt, 
kann  den  etwas  derben ,  aber  ausgezeichneten  Mythus  von 
Suttungs  Meth  mit  dem  Resenischen  Text  vergleichen  (S.  1 19—123, 
bei  Resen  Fabel  61.  62).  Was  indessen  doch  die  Übersetzung 
dem  Gelehrten  nothwendig  und  schätzbar  macht,  ist  der  Um- 
stand, dass  sie  nach  dem  berichtigten  Text  der  handschriftlichen 
Bearbeitung  des  Olavius  verfertigt  ist.  Wir  schliessen  mit  dem 
Wunsche,  dass  dieses  Werk  nicht  länger  mehr  liegen  bleibe 
und  vor  allen  denjenigen  empfohlen  werde,  welche  die  vater- 
ländische Litteratur  zu  unterstützen  gedenken. 

W.  C.  Grimm. 


ALTRUSSISCHER  HELDEXGESAXG  VON  J.  MÜLLER.  33 


HELDENGESAXG  tos 

VOM  ZUGE  GEGEX  DIE  POLOAYZER.  DES  FÜRSTEN 
VOM  SEWERISCHEX  NOWGOROD  IGOR 
SWÄTSLAWLITSCH, 

geschrieben  in  altrassischer  Sprache  gegen  das  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts. 
In  die  deutsche  Sprache  treu  übertragen,  mit  einer  Vorrede  und  kurzen  phil'> 
logischen  und  historischen  Noten  begleitet  von  Joseph  Müller,  der  Philosophie 
Doctor  und  ehem.  Prof.  am  Gymnasium  zu  Heiligenstadt.  Prag  bev  Franz 
Sommer  1811.     82  S.  in  12. 

Heidelbergische  Jahrbücher  der  Litteratur.   Jahrgang  V  (1812),  Bd  TL,  No.  45. 

S.  705—713. 

Ln  diesem  kleinen  Buche  wird  uns  etwas  Schätzbares  und 
Interessantes  mitgetheilt.  Das  altrussische  Igorlied  ward  im 
Jahr  1795  entdeckt  und  1800  zu  Moskwa  in  4^  mit  einer  Über- 
setzung ins  Neurussische  gedruckt,  dasselbe  wiederholt  in  den 
Abhandlungen  der  russischen  Akademie  (für  Philologie  I  1805). 
Eine  Cbersetzune:  ins  Deutsche  befindet  sich  in  den  Russischen 
Miscellen  (1803  St.  3),  sie  ist  aber  fast  ganz  nach  der  neu- 
russischen gemacht,  ohne  Rücksicht  auf  den  Rhythmus,  hin  und 
wieder  frei  und  oft  fehlerhaft.  Hr.  Müller,  bei  dem  man  diese 
litterarischen  Notizen  ausfuhrlich  findet,  liefert  hier  zuerst  eine 
sorgfaltige  Übersetzung  ins  Deutsche  nach  dem  Originaltext 
mit  einer  Einleitung  und  den  nöthigen  Erläuterungen.  Wir 
müssen  seine  Arbeit  recht  sehr  loben ;  von  der  Übersetzung  als 
solcher  können  wir  nicht  urtheilen,  doch  sehen  wir  wohl,  dass 
sie  urkundlich  abgefasst  ist ;  dazu  kommt  die  Versicherung,  dass 
der  gelehrte  Dobrowsky  dabei  hilfreiche  Hand  geleistet,  was 
ims  den  Werth  des  Gelieferten  zusichert.  Sodann  ist  die  Ein- 
leitung mit  Einsicht  und  nicht  ohne  Sorgfalt  geschrieben,  der 
Verf.  hat  nach  verschiedenen  Rücksichten  darin  das  Gedicht 
betrachtet  und  manches  Gute  bemerkt;  was  wir  im  Einzelnen 
dagegen  einwenden,  werden  wir  hernach  zu  sagen  Gelegenheit 
linden. 

Um  von  dem  Gedicht  selbst  zu  reden,  so  ist  es  ein  Stück 
reiner  lebendiger  Nationaldichtung,  das  dem  slawischen  Stamme, 

W.  GBIM.M,  KL.  SCJIIIUTEN.     II.  3 


34  ALTRUSSISCHER  HELDENGESANG  VON  J.  MLLLER. 

70(;  der  sonst  in  geistigen  Äusserungen  dem  germanischen  nicht 
verglichen  werden  kann,  zugehört.  Der  Lobgesang  der  Menschen, 
dem  die  Gottheit  so  gern  zuhören  mag,  um  Goethes  Worte  zu 
gebrauchen,  ist  auch  hier  nicht  verstummt,  und  vernehmliche 
Töne  dringen  davon  in  diesem  Liede  zu  uns.  Ein  alter  Dichter 
der  Vorzeit,  dem  wahrscheinlich  der  spätere  hier  folgte,  wird 
nicht  ohne  Verehrung  erwähnt:  Boy  an,  Nachtigall  der  alten 
Zeit.  Auf  die  Vorzeit  wird  öfter  hingedeutet:  „Lasst  uns  in 
alten  Worten  anfangen"  (der  Herausgeber  erklärt  es  gewiss  un- 
richtig: im  alten  Stil),  „die  Sage  gedenkt  der  Fehden  alter 
Zeit";  so  heisst  es  in  unserem  Nibelungenlied:  „In  alten  Mären 
ist  uns  das  gesagt"  und  die  Eddaischen  Lieder  heben  an:  „Ehmals 
war's  in  den  Urtagen  (ar  var  i  ardaga)".  Des  allgemein  ver- 
breiteten Gesangs  wird  gleichfalls  gedacht:  „Da  singen  Deutsche 
und  Venetianer,  Griechen  und  Mähren  den  Ruhm  Swätslaws 
und  betrauern  den  Fürsten  Igor"  (S.  48).  Wir  zweifeln  nicht, 
dass  wir  hier  nur  einen  Theil  der  grossen  Dichtung  haben, 
schon  die  Analogie  ist  dafür,  ausserdem  heisst  es  ausdrücklich 
(S.  33):  „Lasst  uns  nun,  Brüder,  diese  Sage  von  dem  alten 
Wladimir  bis  auf  den  jetzigen  Igor  beginnen",  während  das 
Lied  allein  von  Igor  spricht.  Der  Übersetzer  erklärt  es  in  der 
Note  dergestalt,  als  sei  hernach  in  umgekehrter  Folge  von 
Wladimir  die  Rede,  allein  das  ist  erzwungen:  Wladimir  wird 
dort  bloss  bei  den  Erinnerungen  an  die  Vorzeit  erwähnt.  Dieser 
Boy  an  scheint  der  Sänger  eines  grossen  Epos  gewesen  zu  sein^ 
welches  untergegangen  ist,  welches  aber  wieder  aufzufinden  man 
die  Hoffnung  nicht  hingeben  darf.  Er,  „ein  göttlicher",  „Enkel 
des  Herdengottes  Weles",  „der  begeisterte  Dichter,  der,  wenn 
er  singen  wollte,  in  Gedanken  durch  die  W^älder  lief,  wie  der 
graue  Wolf  auf  Erden  oder  der  bläuliche  Adler  unter  den 
Wolken",  er  ist,  wie  Homer  und  Ossian,  jene  mythische  Ge- 
stalt, das  Organ,  durch  welches  das  Lied  einer  ganzen  Nation 
am  reinsten  geklungen.  Schon  die  wenigen  Züge,  die  von  ihm 
angegeben  werden,  deuten  auf  überirdische  göttliche  Kraft: 
wüssten  wir  mehr  von  ihm,  so  würde  vielleicht  auch  gesagt 
sein,  dass,  wie  jenen,  das  weltliche  Auge  ihm  verschlossen  ge- 
wesen. 


ALTRUSSISCHER  HELDENGESANG  VON  J.  MÜLLER.  35 

Das  Lied  ist  aus  der  Zeit,  wo  die  einzelnen  Fürsten,  707 
Lehensträger  des  Grossfürsten  von  Kiew,  sich  unabhängig  zu 
machen  strebten,  so  dass  sie  theils  gegen  diesen,  theils  unter 
einander  Krieg;  führen  und  sich  durch  eiarene  Kräfte  erhalten 
mussten;  dazu  kamen  die  Einfälle  der  Polowzer,  tatarisch- 
heidnischer  Horden,  von  aussen.  Also  in  den  Zeiten  einer 
lebendigen  Bewegung,  ähnlich  denen  des  Cid  in  Spanien,  hat 
die  Nationaldichtung  geblüht.  Der  Herausgeber  hat  in  der  Ein- 
leitung (S.  4 — 13)  eine  Parallele  des  Lieds  mit  der  Geschichte 
gezogen,  es  ergibt  sich  daraus,  dass  es  sehr"  nah  mit  ihr  über- 
einstimmt, und  aufs  neue  bestätigt  sich,  wenn  es  noch  bezweifelt 
werden  sollte,  dass  nur  aus  wirklicher  frischer  That  die  Poesie 
geboren  werde.  Merkwürdig  und  freilich  nur  dem  Lied  eigen- 
thümlich  ist  die  Erwähnung  von  Trojans  Zeitalter  (S.  41.  46.  58); 
wir  zweifeln  nicht,  auch  hier  der  so  allgemein  verbreiteten  Sage 
von  der  trojanischen  Abkunft  der  Völker  wieder  zu  begegnen. 
Die  Fabel  —  wir  verbinden  mit  diesem  Worte  nicht  auch  den 
Begrifi'  der  Erdichtung,  so  wie  er  ursprünglich  nicht  darin  lag  — 
des  Igorlieds  ,  ist  sehr  einfach :  Igor  zieht  gegen  die  Polowzer 
aus ;  anfänglich  glücklich,  erliegt  er  dann  in  einem  grossen  drei- 
tägigen Kampf,  wird  gefangen  fortgeführt,  und  Russland  klagt; 
doch  er  entflieht  heimlich  und  wird  mit  Freude  von  den  Seinio-en 
empfangen.  Der  Werth  des  Gedichts  beruht  in  der  Ausführung, 
sie  ist  gründlich  und  durchaus  eigenthümlich;  wir  schätzen  das 
Ganze  noch  mehr  als  der  Übersetzer,  welcher  (S.  2.  19)  „einem 
schön  formenden  Geist  nur  ein  treues  Material"  liefern  will. 
Wir  glauben  nicht,  dass  es  durch  die  zierlichste  Form  gewinnen 
werde,  es  sei  nun  der  Octavreim  oder  Hexameter.  Was  aus 
der  inneren  Nothwendigkeit  bei  einem  Volk  organisch  erwachsen 
ist,  das  kann  auf  andere  W^eise,  besonders  von  einem  einsam 
betrachtenden  Geist,  schwerlich  besser  gesagt  werden;  es  hat 
dort  seine  Gestalt,  die  ihm  gebührt,  wie  aus  einem  Kern  keine 
andere  Pflanze  aufgehen  kann,  in  dieser  Gestalt  aber  stets  einen 
eigenen  Reiz,  für  welchen  Rec.  sehr  empfänglich  ist,  den  er 
hier  auch  wohl  fühlt  und  den  er  nicht  hingeben  möchte,  man 
könnte  sagen,  für  einen  weltlichen  Gewinn.  Der  Herausgeber 
macht  die  Bemerkung,  dieses  Lied  könne  ein  Mittelglied  zwischcui  708 

3* 


36  ALTRUSSISCHER  HELDENGESANG  VON  J.  MÜLLER. 

Homer  und  Ossian  abgeben,  es  ist  etwas  Richtiges  darin,  weil 
alles  Epos  eine  gewisse  Ahnliclikeit  hat,  doch  steht  es  von  dem 
ganz  sinnlich  vollendeten  Homer  weiter  ab  und  neigt  sich  mehr 
zum  Ossian.  Hätte  der  Herausgeber  die  Lieder  der  alten  Edda 
gekannt,  so  würde  er  noch  passender  es  zwischen  diese  und 
den  Ossian  gestellt  haben,  es  ist  mehr  körperlich  als  dieser  und 
weniger  als  jene.  Manches  ist  hier  ganz  volksmässig  und  ver- 
traulich, was  dem  Ossian,  der  in  so  später  Zeit  erst  gefasst 
wurde,  wiewohl  er  ursprünglich  älter,  geradezu  fehlt;  so  z.  B, 
die  Klage  der  russischen  Weiber  (S.  17):  „nun  können  wir  an 
unsern  lieben  Gatten  nicht  einmal  mit  demGemüthe  denken, 
weder  in  Gedanken  nachsinnen,  noch  mit  den  Augen  sehen." 
Späterhin  erscheint  das  als  unnöthiger  Überfluss,  was  es  doch 
gar  nicht  ist,  sondern  lebendiger  Ausdruck,  der  den  Gedanken 
bei  der  Wurzel  anfassen  möchte;  die  Kunst  kommt  endlich  wieder 
dahin,  nur  feiner  und  witziger  und  weniger  naiv,  wie  Wolfram  von 
Eschilbach  im  Parcival  [364,  26]  sagt:  „Zwei  Augen  und  ein 
Herz  sprach,  die  Lypaot  mit  ihm  brachte  dar,  dass  der  Gast 
wäre  wohlgevar".  Auch  viele  Bilder  sind  ganz  episch  einfach,  so 
das  häufige:  „Wie  graue,  wie  barfüssige  Wölfe  sprangen  sie  ins 
Gefild"  — im  Nibelungenlied  [917,  3]:  „Wie  zwei  wilde  Panther 
liefen  sie  durch  den  Klee";  —  ferner:  „Zwei  Falken  flogen  vom 
väterlichen  Sitz"  S.  50  —  im  König  Laurin:  „Auf  einander  sie 
da  flogen,  als  zwei  Falken  die  da  zogen."  —  Ein  Gleichnis 
hat  dem  Übersetzer  nicht  recht  einleuchten  wollen:  ,,Es  quicken 
die  Wagen  um  Mitternacht,  man  möchte  sagen  (wie)  zerstreute 
Schwäne" ;  uns  scheint  es  passend  und  eigenthümlich :  zerstreute 
Schwäne  sind  verjagte,  die  wieder  zu  ihrem  Nest  wollen,  und 
der  eigene  flüsternde  Ton,  mit  welchem  Schwäne,  zum  Ufer 
heranschwimmend,  Futter  suchen,  kann  gar  wohl  mit  dem 
Rauschen  der  Räder  in  der  Nacht  verglichen  werden.  Ahnlich 
ist  das  Gleichnis  in  der  Wolsungasaga  (c.  36):  „Brynhilldur 
sprach,  wie  ein  Schwan  von  dem  Sturmwind  (getrieben)"- 
Darin  aber  geht  das  russische  Lied  weiter,  als  die  Edda  und 
die  Nibelungen,  die  nur  wenige  schöne  einfache,  gleichsam  fest- 
stehende Gleichnisse  haben,  und  nähert  sich  dem  Ossian,  dass 
709  68  die  Bilder  nun  weiter  ausführt.      So  heisst  es:    „Unfug  hob 


ALTRÜSSTSCHER  HELDENGESÄNG  VON  J.  MÜLLER.  37 

sich  in  den  Mächten  des  Enkels  Daschbogs.  Er  (der  Unfug) 
stieg  als  Jungfrau  in  Trojans  Land,  er  plätscherte  mit  Schwanen- 
fittigen  auf  dem  blauen  Meere  beim  Don  sich  schwingend, 
weckte  gefrässige  Zeiten."  Oder:  „Schwarze  Erde  unter  den 
Hufen  ward  mit  Knochen  besäet,  mit  Blut  begossen,  zum  Elend 
giengen  sie  empor  in  russischer  Erde."     Ferner: 

„Unter  Trompeten  eingewindelt. 
unter  Helmen  eingewiegt, 
an  Lanzenspitzen  genährt." 

Dazu  kommt,  dass  mau  sich  im  Krieg  der  Lanzenspitzen  wirk- 
ich  bei  dem  Essen  bediente.  Zart,  wie  von  einem  lyrischen 
Dichter,  ist  der  Ausdruck:  „Er  hauchte  aus  die  perlene  Seele 
aus  dem  tapfern  Leibe  durch  den  goldenen  Halskragen.-  AVie 
beim  Ossian  immer,  sind  hier  meist  die  Bilder  aus  der  um- 
gebenden Natur  genommen,  und  schön  ist  der  Zusammenhang 
damit  ausgedrückt,  „indem  die  Blüthe  verblich  vor  Klage  und 
das  Gehölz  sich  neigte  vor  Kummer  zur  Erde."  Dies  tiefe  Ge- 
fühl für  das  Mitleben  der  Natur  zeichnet  überhaupt  alle  Volks- 
dichtung aus. , 

Das  Schönste  indes  ist  die  Ausführung  der  einzelneu  Si- 
tuationen. Zwar  auch  der  Thaten  geschieht  Erwähnung  und 
nicht  so  flüchtig,  wie  beim  Ossian,  der  an  der  Geschichte  fast 
immer  mit  wenig  Worten  vorüberstreift  und  nur  soviel,  als  zum 
Verständnis  nöthig,  erwähnt ;  aber  dort  verweilt  doch  die  Dichtung 
am  längsten  und  liebsten.  Die  Probe,  die  wir  hernach  mit- 
theilen wollen,  kann  ein  Beweis  davon  sein.  Da  ist  auch  Ossian 
so  wunderbar  und  redet  aus  den  geheimsten  Tiefen  des  Herzens 
und  der  Natur,  dass  ihm  ein  unbefangenes  Herz  nicht  leicht 
widerstreben  kann.  Ganz  anders  ist  es  in  dem  Nibelungenlied, 
wo  alles  von  dem  frischesten  Leben  durchdrungen  in  That  und 
Handlung  sich  bewegt  und  keine  einzelne  ruhende  Situation 
oder  Betrachtung  heraustritt.  Die  Edda  steht  in  der  Mitte,  und 
wenn  sie  gleich  in  der  Darstellung  nicht  die  Ruhe  und  Aus- 
führlichkeit des  Nibelungenlieds  hat  und  in  erhabener  gross- 
artiger Bewegung  über  den  Zusammenhang  hinspringt,  wie  ein 
kühner,  sonnenglänzender  Bergstrom  auf  Felsenspitzen,  so  ist 710 
der   Fabel    doch    ihr   Recht    angethan,    ja    sie  ist  gewaltig  im 


38  ALTRUSSrSCHER  HELDENGESANG  VON  J.  MÜLLER. 

Ganzen.  —  Wo  die  Geschichte  zurückgesetzt  wird,  da  geht  der 
individuelle  Charakter  auch  meist  verloren,  vv^ie  die  Helden  im 
Ossian  fast  nur  der  allgemeine  Gegensatz  zwischen  edel  und 
unedel,  hell  und  finster  unterscheidet  und  Finjal  fast  überirdisch, 
wie  ein  Geist,  dessen  Schwert  stets  vernichtet,  wenn  er  in  den 
Kampf  geht,  erscheint,  so  zeigt  sich  auch  in  diesem  Igorlied 
nicht  jenes  sinnlich  Vollendete,  Charakteristische,  was  das 
Nibelungenlied  so  ansprechend  macht.  Nur  der  Bruder  Igors, 
Wsewolod,  unterscheidet  sich  durch  einen  noch  kühneren  Muth, 
er,  „der  Auerochs,  der  die  Wolga  mit  Rudern  zersprengen  und 
den  Don  mit  Helmen  ausgiessen  kann."  Wie  werden  diejenigen, 
welche  die  Poesie  bloss  im  Charakteristischen  finden,  das  wir 
freilich  auch  ungemein  schätzen,  wo  es  sich  findet,  sich  wundern, 
wenn  es  ausserdem  noch  eine  Poesie  gibt  (denn  mit  der  Un- 
echtheit  kann  auch  der  Ossian  nicht  mehr  abgewiesen  werden), 
die  wirklich  ist,  weil  sie  aus  der  Mitte  des  Lebens  hervor- 
gegangen, und  die  dennoch  in  einer  ganz  anderen  Richtung  lebt 
und  sich  herrlich  darin  zeigt.  Die  Poesie  hat  ein  grosses  Reich, 
das  nicht  umschifiit  werden  kann,  alles  aber,  worüber  die  Sonne 
scheint,  dass  es  uns  sichtbar  geworden,  das  sollen  wir  anerkennen. 
Wenn  man  den  massigen  Witz  nachahmen  und  ein  Inventarium, 
wie  von  den  Minneliedern,  von  dem  Ossian  und  diesem  Igor- 
lied machen  wollte,  es  würde  gleichfalls  wenig  Hausgeräth  auf- 
zufinden sein,  und  doch  kann  eine  zarte  Poesie  nicht  abgeleugnet 
werden.  Wir  geben  nun  zur  Probe  die  Klage  der  Jaro.slawna 
über  ihren  Gemahl  Igor  S.  63.  64  ; 

„Jaroslawna  weint  früh  in  Putiwl  auf  dem  Geländer  der 
Stadt  und  sagt:  o  Wind,  Weher!  wozu,  Herr,  wehst  du  so 
gewaltig?  wozu  trägst  du  chanische  Pfeilchen  auf  deinen  mühe- 
losen Flügelchen  gegen  die  Heere  meines  Geliebten?  war  es 
dir  zu  wenig,  unter  den  Wolken  über  die  Berge  zu  wehen, 
wogend  Schiffe  auf  dem  blauen  Meere?  Warum,  Herr,  ver- 
wehst du  meine  Freude  über  Pfriemengras?" 

„  Jaroslawna  weint  früh  auf  dem  Geländer  der  Stadt  Putiwl  : 

o  hochberühmter   Dnepr,    du    hast    durchbrochen   die  steinigen 

711  Berge  durch  das  Polowzer  Land,  du  wogtest  auf  dir  die  Swäts- 

lawlischen  Fahrzeuge  in  Kowaks  Schar.     Trage   in  sanfter  Be- 


ALTRCSSISCIIER  HELDENGESAXG  VON  J.  MÜLLER.  39 

Avegung,  Herr,  zu  mir  mein  Liebchen,  damit  ich  nicht  ins  Meer 
früh  Thränen  zu  ihm  sende." 

_  Jaroslawna  weint  früh  auf  dem  Geländer  der  Stadt  Putiwl 
und  sagt:  helle  und  dreimal  helle  Sonne I  allen  bist  du  warm 
und  schön.  Wozu,  Herrscherin,  breitest  du  aus  deinen  brennen- 
den Strahl  über  die  Heere  meines  Gatten?  Im  wasserlosen  Ge- 
fild  hat  sie  ihre  Bogen  durch  Durst  ausgetrocknet  und  vor 
Kummer  ihnen  die  Köcher  verschlossen." 

Für  die  altslawische  Religion  wird  sich  einige  Aufklärung 
in  diesem  Lied  finden  lassen.  Am  merkwürdigsten  ist  der 
Spruch,  welcher  dem  Boyan  zugeschrieben  wird  (S.  60.  61): 
„Weder  der  kluge,  noch  der  glückliche  Vogel  kann  dem  Schick- 
sal Gottes  entgehen."  Alt  erscheint  demnach  auch  hier  der 
Glauben  an  ein  unabänderliches  Urgesetz.  Der  Unglücks vogel 
Diw  zeigt  sich  und  schreit  am  Wipfel  des  Baums  (S.  37);  Vor- 
bedeutungen erschrecken :  wie  Igor  in  den  goldenen  Bügel  tritt 
und  auszieht  aus  Nowgorod,  „da  vertrat  ihm  die  Sonne  den 
Pfad  durch  Finsternis,  die  stöhnende  Nacht  erweckt  ihm  durch 
Grauen  die  Vögel,  das  Heulen  des  Wilds  in  ihrem  Stand".  Am 
Tage  des  Kampfs  verkündigt  sehr  früh  blutige  Morgenröthe  das 
Licht,  schwarze  Hagelwolken  entsteigen  dem  Meer,  Wolken  be- 
decken die  vier  Sonnen  (Heerführer);  aus  ihnen  zittern  hervor 
bläuliche  Blitze,  es  entstand  ein  heftiger  Donnerschlag,  es  regnete 
Pfeile  vom  grossen  Don  (S.  40).  Ausser  jenem  Gott  Weles, 
dessen  Enkel  Boyan  war  (40),  wird  auch  Stribog,  Gott  der 
Winde  (40),  und  Das ch bog,  von  dem  Glück  und  Segen  kam 
und  der  besonders  zu  Kiew  verehrt  wurde  (43),  angeführt.  Die 
Polowzer  werden  Dämonskinder  genannt  (41). 

Wir  sind  noch  einige  Bemerkungen  zu  der  Einleitung  des 
Herrn  Müller  schuldig.  Worüber  wir  verschieden  von  ihm 
denken,  haben  wir  zum  Theil  schon  bei  der  Betrachtung  des 
Gedichts  angedeutet:  wir  glauben  nicht,  dass  hier  an  einen  be- 
sonderen Dichter,  am  wenigsten  bei  der  lebendigen  Anschauung 
darin  an  einen  Geistlichen  gedacht  werden  könne,  der  absicht- 
lich hier  verfahren  und  aus  der  einheimischen  Geschichte  seinem 
Volk  hat  ein  Gedicht  von  nationalem  Interesse  liefern  wollen:  7i2 
es  hat  sich  dieses  Lied,  wie  alles  Epos,  unwillkürlich  gedichtet. 


40  ALTRUSSISCHER  HELDENGESANG  VON  J.  MÜLLER. 

Wenn  der  Verf.  genauer  die  epischen  Dichtungen  der  Völker 
betrachtet  und  über  ihre  Natur  nachforscht,  wird  ihm  die  Wahr- 
heit jener  Behauptung  einleuchten.  Darum  kann  auch  dem 
Dichter  kein  Vorwurf  gemacht  werden,  dass  ein  unbehilflich 
oratorisch- poetisch -rhythmischer  Gang  in  dem  Lied  sei;  wir 
sind  versichert,  dass  diese  Form  der  Zeit  nothwendig  und  darum 
die  rechte  war.  Wir  hätten  gewünscht,  dass  der  Verf.  sich  ge- 
nauer über  das  Metrum  geäussert  und  seine  Gesetze  angegeben, 
namentlich  wünschten  wir  zu  wissen,  ob  sich  keine  Spur  von 
der  in  den  altnordischen  Gedichten  herrschenden  Alliteration 
fände.  Wir  glauben  noch  nicht  recht  daran,  dass  nur  zuweilen 
ein  Rhythmus  sichtbar  und  vieles  blosse  Prosa  sei;  die  Ab- 
theilungen, die  in  Jaroslawnas  Klage  so  sichtbar  sind,  beruhen 
gewiss  auf  einem  metrischen  Gesetz.  Der  Vorwurf  gilt  auch 
nicht,  dass  der  Homer  nicht  benutzt  und  kein  reiner  Begriff 
des  Epos  in  dem  Lied  sei.  Das  Epos  zeigt  sich  bei  jedem 
Volk  sowohl  ähnlich  als  unähnlich,  das  heisst,  eigenthümlich ; 
es  würde  ungerecht  sein,  eins  als  Norm  aufzustellen,  um  das 
andere  darnach  zu  messen.  Auch  dem  müssen  wir  geradezu 
widersprechen,  dass  das  Gedicht  keine  Haltung  habe,  es  scheint 
uns  alles  in  einem  Geiste  ergriffen. 

Man  entschuldige  es,  dass  wir  so  ausführlich  über  dies 
kleine  Gedicht  gewesen.  Mancher  vielleicht,  den  unsere  An- 
zeige bewegt,  das  Buch  zur  Hand  zu  nehmen,  wird  sich  wundern 
über  die  wenigen  Blätter,  die  er  findet,  und  wenn  er  es  gar 
liest,  wird  es  ihm  seltsam  vorkommen,  dass  man  auf  diese 
wenigen  poetischen  Reize  Werth  legt,  während  Dichter  der  Zeit, 
von  welchen  nicht  einmal  viel  [die]  Rede  ist,  ihm  auf  leichtere 
Art  viel  Ansprechenderes  darbieten.  Wir  halten  das  aber  für 
den  grössten  Gewinn  der  historischen  Betrachtung  der  Poesie, 
dass  sie  uns  lehrt  auf  das  Ursprüngliche  in  derselben  zurück- 
zugehen und  es  von  dem  herauszuschneiden,  was,  durch  welt- 
liche Künste  entstanden,  in  falschem  Glänze  täuscht  und  mehr 
als  jenes  zu  sein  scheint.  Es  soll  vor  den  Alpen  zweierlei 
Wasser  fliessen,  das  aus  geschmolzenem  Schnee  sich  gesammelt 
und  das  aus  echten  Quellen  aus  der  Erde  Schooss  gestiegen; 
auch    jenes    schimmert    in    der   Sonne    und    scheint    ein   guter 


DER  HELDEN  BUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN.        41 

Trank,  aber  nur  dieses  ist  heilsam  und  erquickend.  Kundige  713 
Wanderer  wissen  es  allein  zu  unterscheiden.  Auch  ein  Botaniker 
wird  uns  verstehen,  wenn  wir  ihm  sagen,  dass  uns  dieses  Ge- 
dicht wie  eine  neu  entdeckte  Pflanze  vorkommt;  wir  kennen  andere, 
die  schöner  sind  und  süsser  duften,  aber  diese  macht  uns  mit 
ihren  einfachen  in  sich  vollkommenen  Formen  einen  Eindruck, 
den  wir  nie  so  empfunden  und  der  uns  aufs  neue  die  unerschöpf- 
liche Bildungskraft  der  Natur  bewundern  lässt. 

W.  C.  G. 


DER  HELDEN  BUCH. 

Herausgegeben  durch  Fried.  Heinr.  von  der  Hagen.  Erster  Band.  Berlin  bei 
J.  F.  Unger  1811.  gr.  8.  Vorrede  XIV  S.  Hörnen  Siegfried.  28  S.  Etzels 
Hofhaltung.  57  S.  Das  Rosengarten  -  Lied  oder  der  Rosengarten  zu  Worms. 
71  S.  Alpharts  Tod.  69  S.  Ecken  Ausfahrt.  191  S.  Riese  Siegenot.  70  S. 
Anhang.  13  S.     (2  Rthlr.  18  Gr.) 

Heidelbergische  Jahrbücher  der  Litteratur.    Jahrgang  V  (1812),  BdH,  No.  53. 

S.  833—843. 

-L/as  Glück  hat  sich  günstig  gezeigt  und  eine  Handschrift 
auffinden  lassen,  welche  in  den  grossen  Cykliis  der  altdeutschen 
Nationaldichtung  ein  lebendiges  Glied  wieder  aufstellt:  das  Lied 
von  Alpharts  Tod.  In  dem  Vaterländischen  Museum  theilte 
Hr.  Prof.  V.  d.  Hagen  Nachricht  davon  und  ein  Bruchstück  mit, 
welches  schon  die  ungemeine  Treflflichkeit  des  Gedichts  bewährte. 
Keins  unter  allen  anderen  noch  übrigen  schliesst  sich  im  Geist 
so  nahe  an  das  Nibelungenlied,  derselbe  Odem,  der  jenes  be- 
lebt, weht  auch  hier,  es  ist  eine  Frucht  in  derselben  Sonne  ge- 
reift, die  jenem  geschienen;  wenn  noch  mehrere  solcher  Gedichte 
sich  entdecken,  so  dass  der  Cyklus  wenigstens  in  seinen  Haupt- 
theilen  wieder  aufsteht,  wozu  wir  die  Hoflfnung  hegen  dürfen, 
da  sie  ohne  Zweifel  existirt  haben,  so  wird  selbst  die  feind- 
seligste Gesinnung  den  grossen  Umfang  und  die  reiche  Herrlich- 
keit der  deutschen  Dichtung  anerkennen  müssen. 

Dieses,  wie  die  anderen  Gedichte,  welche  dieser  Band  ent- 
hält und  die  alle  zu  dem  Cyklus  gehören,  hat  uns  der  Heraus- 


8.33 


42        DER  HELDEN  BUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN. 

geber  nicht  in  sorgfältigem  Originaltext  wie  das  Nibelungenlied, 
sondern  in  einer  modernisirten  Überarbeitung  mitgetheilt.  Da 
wir  mit  ihm  glauben,  dass  das  Leben  der  alten  Dichtungen  aus 
der  ursprünglichen  Form  am  besten  erkannt  werden  könne  und 
dass  die  Forderung  an  einen  reinen  Text  die  erste  sei,  so  dürfen 
wir  es  nicht  billigen,  dass  er  sie  zurückgesetzt  und  dadurch 
diejenigen,  welche  ein  Recht  haben,  sie  zu  machen,  gezwungen, 
834  gleichsam  von  unten  herauf  zu  dienen.  Man  hat  die  alten  Sta- 
tuen, als  sie  aufgefunden  worden,  erst  aufgestellt,  ehe  man 
daran  gedacht.  Gipsabdrücke  für  Akademieen  zu  nehmen.  Wir 
haben  schon  mehrmals  erklärt,  dass  wir  eine  solche  Arbeit  an 
sich  für  recht  halten,  wenn  sie  an  dem  rechten  Ort  geschieht, 
ja  für  nothwendig,  da  auf  alles,  was  vorhanden,  die  Gegenwart 
mit  ihren  Tugenden  und  Mängeln  einen  begründeten  Anspruch 
hat,  den  sie  auch  durch  alle  Zeiten  geltend  gemacht.  Jenes 
Verständnis  der  ursprünglichen  Form  erfordert  ein  besonderes 
Studium,  darum  ist  es  etwas  Abgeschlossenes  und  wirkt  nur 
langsam,  aber  es  ist  der  Kern,  aus  welchem  alles  für  die  Gegen- 
wart Bearbeitete  hervorgehen  muss,  sonst  würde  es  ohne  Ver- 
stand geschehen  und  wieder  zusammenfallen.  Es  ist  damit,  wie 
mit  einem  ausgezeichneten  Menschen,  sein  Geist  überflügelt 
seine  Zeit  und  steht  einsam  auf  seinen  Höhen,  aber  lässt  sich 
mild  und  lieblich  in  die  Nähe  herab,  weil  die  Einsamkeit  kalt 
ist,  wie  die  Region,  wo  nichts  mehr  wächst,  und  nur  in  der  Mit- 
theilung und  Gemeinschaft  die  rechte  Liebe.  So  denken  wir 
über  die  Zulässigkeit  einer  Modernisirung,  sie  soll  frisch  und 
unmittelbar  lebendig  sein,  das  ist  ihr  Ziel,  wornach  um  jeden 
Preis  zu  streben ;  wer  seiner  Zeit  etwas  geben  will,  der  soll  sie 
nicht  erst  meistern,  auf  welche  bessere  Art  sie  es  zu  empfangen 
habe. 

Wenden  wir  uns  zu  der  hier  gelieferten  Arbeit,  so  können 
wir  eines  ausführlichen  Urtheils  überhoben  sein,  es  ist  genau 
dieselbe  Manier,  die  der  Herausgeber  bei  der  Modernisirung 
des  Nibelungenlieds  befolgt  hat,  über  die  wir  uns  in  diesen 
Jahrbüchern  hinlänglich  geäussert.  Wie  dort  sind  mit  Con- 
sequenz  und  Fleiss  die  alten  Gedichte  in  eine  Sprache  über- 
tragen worden,  die  weder  alt  noch  neu  ist;  so  gehören  sie  nach 


DER  HELDEN  BUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN.        43 

Wartein  weil,  das  zwischen  Himmel  und  Hölle  liegt  und  wohin 
die  Landsknechte  wegen  ihres  ehrbaren  Fluchens  und  sonstiger 
frommer  Gottlosigkeit  verwiesen  sind.     Der  Herausgeber  hat  in 
der   Vorrede    einiges    zu   seiner  Vertheidigung    gesagt,    was   er 
überhaupt   über   die  Nothwendigkeit   der  Erneuerung  vorbringt, 
ist  auch    unsere   Meinung;    die   Neigung    dazu   hat   sich   durch 
alle  Jahrhunderte  gezeigt,  nur  allzeit  unschuldiger:    aber   gegen 
das,   was  er  zur  Vertheidigung  der  seinigen  anführt,  haben  wir 
vieles  einzuwenden.    Er  sagt,  es  gelte  bei  der  Sprache,  die  noch  soö 
fortlebe,  kein  Alt  und  Neu;  der  Satz  ist  ungeheuer;  insofern  er 
bedeutet,  dass  der  Geist,  der  redet,  ebenso  die  Idee  der  Poesie 
keine  Geschichte  habe,  können  wir  ihn  gern  zugeben,    aber  die 
Äusserungen  und  Formen  des  Geistes,  wovon  die  Sprache  eine 
ist,  Jiaben  ein  Alt  und  Neu,    sonst  würde    auch  eine  Erneuung 
überflüssig  sein;   die  Sprache  der  früheren  Jahrhunderte  ist  be- 
stimmt   untergegangen,    wiewolü   aus   ihr  die  jetzige  entstanden 
und  sie  mithin  in  Beziehung  darauf  keine  todte  heissen  kann.    In- 
soweit passt  das  Gleichnis  von  dem  Palmbaum,  dessen  Blätter  an 
dem  früheren  Ring  standen,  wie  an  dem  späteren  jetzt,  recht  gut, 
und  jede  Pflanze  drückt  es  aus,  die  wieder  aufwächst,  gleich  der, 
welche  den  Kern  zu  ihr  gab.    Wir  glauben  bestimmt  an  eine  Tra- 
dition, an  einen  Zusammenhang  aller  Zeiten,  an  das  Sittliche.    Soli 
aber  das  Gleichnis  beweisen,   dass,  wie  die  jetzigen  Palmblätter 
dieselben,  die  an  dem  früheren  Ring,  so  auch  die  jetzige  Sprache 
im  Grund   dieselbe,   so   passt   es    nicht  mehr.      Eben,    weil   die 
Pflanze  keine  Geschichte  hat,  so  keimt  sie  wieder  in  unseren  Treib- 
häusej'n,  wie  sie  vor  tausend  Jahren  in  Indien  aufgegangen  ist. 
Aber  der  menschliche  Geist  offenbart  sich  in  jeder  Zeit  anders 
j  und  verlässt  eine  Form,  in  die  er  nie  wieder  zurückkehrt.    Kein 
heiligeres  Princip,  sagt  Görres  in  der  Mythengeschichte,  hat  die 
Geschichte  zu  vertheidigen,  als  jenes  von  ihrem  stetigen  Wachs- 
thum  ohne  Beschränkung  in  der  schrankenlosen  Zeit.     Auch  an 
der  Religion  mögen  Tod  und  Vergänglichkeit  ihre  Macht  wohl 
üben,    wie    der  Zerstörer  Schiwa    vieler   Gestorbenen  Brahmas 
Schädel   trägt,    also    sind   auch    viele   religiöse  Formen  vor  dem 
Ewigen  schon  zerfallen   und  ihre  Mumien  nur  noch  in  der  Er- 
innerung der  Geschichte  aufbewahrt.    Um  von  unserem  Fall  zu 


44        DER  HELDEN  BUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN. 

reden,  so  gilt  kein  Mischen  der  untergegangenen  Formen  ue 
der  neuen,  welches  absichtlich  ist;  unbewusst  allerdings  wii 
sich  die  Sprache  aus  ihren  alten  Schätzen  erweitern  könne: 
weil  wir  am  wenigsten  eine  historische  Stärkung  ihr  wegnehme 
möchten;  wie  der  Geist  das  neue  Wort  im  Moment  der  Not] 
wendigkeit  erfindet,  so  wird  er  in  Gleichem  das  alte  wieder  ai 
wenden,  aber  äusserlich  nach  einem  System,  führt  den  Tod 
sich.  Richtig  bemerkt  der  Herausgeber,  dass,  je  näher  si( 
836  seine  Erneuung  an  das  alte  anschhesse,  desto  schreiender  d 
Misston  werde,  es  zeigt  sich  da,  dass  es  nur  eine  Abweichun 
nichts  für  sich  Wohlklingendes  sei.  Es  ist  hier  eine  Mischun 
die  in  keinem  Punkt  der  Vergangenheit  war  und  in  keine 
der  Zukunft  sein  kann,  weil  sie  ausser  der  Seele  der  Spracl 
liegt;  dass  ein  mittlerer  Verstand  als  Vorsatz  irgendwo  rec 
sein  könne,  ist  uns  undenkbar,  unwillkürlich  wird  die  Beschränk 
heit  weltlicher  Kräfte  stets  eine  Grenze  setzen,  aber  alles,  w 
würdig  lebt,  strebt  nach  dem  Höchsten;  es  liegt  nicht  in  de 
Willen,  wenn  zwei  zu  einander  Redende  sich  nicht  ganz  v€ 
ständlich  machen  können,  sondern  in  der  Dürftigkeit  der  Spracl 
worüber  alle  Dichter  klagen.  —  Einige  der  hier  mitgetheilt 
Gedichte  sind  in  der  Form,  in  welcher  sie  auf  uns  gekomrae 
bedeutend  jünger  als  das  Nibelungenlied  und  eine  Anzahl  Wort 
ausgenommen  bald  verständlich.  Hier  ist  nun  das  Schreien^ 
weit  weniger  hörbar,  als  in  der  Bearbeitung  des  Nibelunge 
lieds,  aber  wie  leicht  hätte  der  Herausgeber  darum  beide  Rüc 
sichten  befriedigen  können,  wenn  er  gleich  unter  dem  Text  d 
Unverständliche  erklärt  hätte,  ein  Verfahren,  das  uns  das  Ei 
fachste  und  Natürlichste  scheint.  Wir  wissen  nichts,  was  d 
gegen  sein  könnte,  als  die  Parade  des  Drucks,  dessen  Schö 
heit  und  Luxus  wir  darum  tadeln  und  an  sich  rühmen.  —  I 
aller  Sorgfalt,  sich  so  leicht  als  möglich  bei  den  Schwierigkeit 
zu  helfen,  sind  die  Hände  so  sehr  gebunden  bei  dieser  Mani( 
dass  ein  geringer  Zusatz  sich  leicht  als  imschicklich  zeigt; 
heisst  es  z.  B.  in  dem  Original  des  Rosengarten: 
Str.  254.  Chriemhilt  die  Königin  (weise)  de  nit  viel  lenger  beyt, 
mit  Ernst  vnd  mit  Fleise  sy  sich  gar  schon  bereit. 

bei  Hagen : 


DER  HELDEN  BUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEX.        45 

Str.  236.  Chriemhild  die  Königinne  nicht  länger  sie  da  weilte, 

mit  Ernst  imd  mit  Fleisse  sie  sich  bereitet"  und  eilte. 

Hier  ist  der  Zusatz  durchaus  dem  Sinn  entgegen,  das  Eilen  dem 
ernsthaften  Bereiten.  Es  versteht  sich,  dass  der  Herausgeber  die 
Formen,  zu  denen  er  eine  gewisse  Vorliebe  hegt  und  deren 
Verlust  wir  allerdings  beklagen  müssen  (wiewohl  wir  uns  damit 
trösten  können,  dass  jede  Sprache  etwas  Ahnliches  verloren  imd 
dieser  Untergang  nothwendig  ist),  obgleich  ganz  veraltet,  dennoch 
beibehalten,  wie:  gesegenot  (Siegenot  Str.  19),  da  der  Druckss? 
schon  (Str.  20):  gesegnet  liest;  ebenso  heute  ganz  im  ver- 
ständliche Wörter,  wie:  verschlinden  (Etzels  Hofh.  Str.  120), 
fährlingen  (Alpharts  Tod  Str.  177.  288),  rieh  ftr  räch  (Rosen- 
garten Str.  263). 

Wie  in  der  Recension  des  veränderten  Nibelungenlieds  er- 
kennen wir  auch  hier  die  Arbeit,  die  zum  Grimde  liegt,  und 
wissen  sie  von  der  Modemisirung  zu  scheiden.  Als  Beweis 
unserer  Aufmerksamkeit  mögen  hier  die  Bemerkungen  stehen, 
welche  wir  bei  der  Vergleichung  mit  dem  Originaltext  gemacht. 
—  Etzels  Hofhaltung  wäre  richtiger  der  Wunderer  zu  be- 
nennen, der  die  Hauptperson  im  Gedicht  ist.  —  Es  liegt  hier 
bloss  die  Dresdner  Handschrift  zum  Grunde.  Str.  21  liest  der 
Herausgeber: 

Des  Hat's  der  wilden  Meere  war  er  ein  König  reich. 
Wir  lesen:  dieshalb,  diesseits  der  wilden  Meere,  unstreitig 
richtiger,  da  der  seltsame  Pleonasmus  wegfallt,  ohnehin  müsste 
es  der  Haf  heissen.  da  im  Altdeutschen  Haf  stets  ein  Femininum 
ist.  Str.  38  im  letzten  Vers  möchten  wir  lieber  fiir  dich  er- 
gänzen. Das  Rosengartenlied.  Die  im  alten  Heldenbuch 
gedruckte  Recension  hat  der  Herausgeber  nach  dem  Mflnch. 
und  Dresd.  Codex,  die  beide  genau  mit  einander  übereinstimmen, 
wieder  hergestellt.  Das  Ganze  hat  dadurch  ungemein  an  Rein- 
heit und  Lesbarkeit  gewonnen,  da  die  Umarbeitung  in  Strophen 
manches  schlechte  Flickwort  hinzugesetzt  hatte.  Indessen  war 
der  Druck  auch  als  Quelle  anzusehen,  weil  er  in  mancher  Hin- 
sicht reicher  ist  und  jene  Mspte  ergänzt,  sodann  auch,  weil  er 
einzelne  bessere  Lesarten  hat.  Dass  der  Herausgeber  die 
22  Strophen,  welche  die  L^berfahrt  der  Helden  beschreiben,  aus- 


46        DER  HELDEN  BUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN. 

gelassen,  ist  zu  billigen,  weil  ganz  deutlich  sie  aus  einer  anderen 
Recension  eingerückt  sind,  dagegen  sehen  wir  keinen  rechten 
Grund,  warum  nach  Str.  173  vier  Strophen  aus  dem  Druck  über- 
gangen sind  und  in  den  Anhang  gebracht,  da  sie  gar  wohl  in 
den  Zusammenhang  passen  und  an  sich  nicht  schlecht  sind. 
Auch  manche  Lesart  im  Druck  hätten  wir  vorgezogen;  man 
kann  nicht  immer  mit  Gewissheit  auf  Verdorbenheit  des  Texts 
schliessen,  wenn  der  Reim  verschlungen  ist,  da  sich  bekanntlich 
838  dieses  nicht  gar  selten  schon  im  Nibelungenlied  findet,  und  der 
innere  Werth  einer  Lesart  würde  am  meisten  bei  uns  entscheiden. 
Ohnehin  haben  oft  mehrere  Verse  (wie  in  Str.  344.  345,  im  Druck 
362.  363)  aus  dem  Druck  müssen  genommen  werden,  wie  die 
ganze  Str.  339  (Dr.  357),  welche  offenbar  keine  Zusätze  des 
Bearbeiters  sind.  Wir  wollen  hier  einiges  bemerken,  was  uns 
besser  geschienen,  wiewohl  wir  gern  zugeben,  dass  bei  einer 
solchen  Auswahl  es  auf  individuelle  Ansicht  und  augenblickliche 
Stimmung  ankomme. 

Hagen  174.  Da  verkehrte   sich   die  Farbe  an  dem  viel  grimmen  Mann. 
Gehle  und  auch  grüne  ward  seine  Farbe  gethan. 

Druck  170.  Da   verkehrte   sich   die  Farbe  (syn)   an  dem  viel  grimmen 

mann, 
gel  vnd  grün  ward  syn  sch}ni,  das  er's  musst  sehen  an. 

H.  223.  Da  ward  gar  wohl  gezieret  viel  manche  schöne  Magd 

und  manche  schöne  Fraue,  als  man  uns  von  ihr  sagt. 

D.  241.  Da  ward  gar  wohl  gezieret  viel  manche  schöne  maid. 

die  do  ihr  Haar  aufschnieret,  als  uns  die  Wahrheit  sait. 

H.  251.  Da  kam  die  Königinne  und  gab  ihm  ein  Kränzelein, 

ein  Halsen  und  ein  Küssen,  das  müsst  sein  eigen  sein. 

D.  269.  Da   kam   die   Chriemhilt    die   kunigin   und   bracht    ihm   ein 

rosenkranz : 
ein  halsen  und  ein  küssen  macht  ihm  sin  freude  ganz. 

H.  266.  Da  spradi  der  Held  Heime:  „ich  will  ihn  nicht  bestan . 
er  ist  so  ungefüge  und  auch  so  freisam." 

D.  284,  Do  sprach  Heime,  der  recke:    „ich  will  sin  nit  bestan, 
er  hat  dreimal  mein-  stärke,  dann  ich  nie  gewann." 


DER   HELDEN  BUCH  VON  F.  H.  VON  DER   HAGEN.  47 

H.   340.  Da  sprach  der  von  Berne:  -ihr  habt  wohl  gestritten, 
in  dem  Rosengarten   nach  ehrlichen  Sitten; 
der  Anger  ist  gekleidet  mit  euer  beider  Blut: 
Chriemhild    die  Königinne    ist  des  bass  gemuth.'' 

D.   358.  Do  sprach  von  Bern  Dieterich:  -ihr  band  manlich  gestritten, 
streich  und  schlag  kräftigklich.  die  hatten  ihr  nit  vermitten; 
der  Anger  ist  geferbet  mit  euerm  rothen  blut: 
Chriemhilt  sich  nit  erbarmet,  sie  ist  dess  bass  gemuth." 

H.  355.  Den  Schild  begunnte  er  sassen,  der  getreue  Mann,         839 
er    säumte    sich    nicht   länger,    er   sprang  hin  auf 
den  Plan. 

D.   372.  Sin  Schild  er  zu  ihm  schwang  und  auch  sin  stehelin  heim 
er  durch  den  Garten  sprang,  das  von  ihm  stub  das  melm. 

H.   386.  Da  stritten  sie  gegen  einander,  die  zwene  weisen  Mann, 
da   ward  ritterlich   gestritten  auf  dem  Plan. 

D.  403.  Sie  stritten  mit  einander,  die  zwen  kühne  mann, 
recht  als  der  Salamander  in  hitzen  auf  dem  plan. 

H.  387.  Ich  sag'  euch  das  fürwahre,  die  zwene  alten  Mann, 
sie  stritten  witzigliche  auf  dem  weiten  Plan. 

D.  414.  Ich  sag  euch  das  furwahre,  die  zwen  alte  Mann, 

sie  schlugen  durch  graue  haare,  dass  das  blut  von  ihn'n  rann. 

Ecken  Ausfahrt.  Aus  den  verschiedenen  Drucken  und 
der  Dresd.  Handschrift  hat  der  Herausgeber  hier  einen  ergänzten 
und  besser  geordneten  Text  geliefert;  der  HS.  folgt  er  im 
Ganzen  wohl  mehr  bis  dahin,  wo  sie  gänzlich  abweicht  vom 
Druck.  Das  Silbenmass  hat  er  durchgehends  berichtigt,  wo- 
gegen wir  hier  gar  nichts  einzuwenden  haben,  da  eine  fest  be- 
stimmte Form  zum  Grund  liegt.  Wenn  er  in  der  Vorrede  aber 
diese  Überarbeitung  eine  meistersängerische  nennt,  so  wider- 
sprechen wir  ihm  bestimmt,  die  Form  rührt  gewiss  von  den 
Meistersängern  her,  die  Arbeit  selbst  ebenso  gewiss  nicht.  Die 
Auswahl  des  Herausgebers  gefällt  uns  fast  immer,  es  sind  die 
Vorzüge  der  verschiedenen  Kecensionen  vereinigt,  nur  in  folgen- 
dem Beispiel  scheint  die  einfache  Wortstellung  dadurch  verloren 
gegangen  zu  sein: 


48        DER  HELDEN  BUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN. 

Dres.  Hs.  Str.  144.  Du  fichtes  sam  dein  weren  zwen, 

vnd  sich  doch  nur  ein  vor  mir  sten. 

Druck.  Ich  sich  nit  mehr,  denn  einen  schein, 
und  mein  nit,  dass  dein  seyen  zwen. 

Hagen.  Du  flehtest,  als  wären  zween  dein, 
und  doch  seh  ich  nur  einen  Schein. 

Riese     Siegenot    ist    auf   dieselbe    Weise    behandelt.      Über 

Alpharts  Tod,    wo   wir   die  Erneuung   am  meisten  beklagen, 

können    wir,    da    uns    das    Mspt.    nicht    zu    Gebot    steht,    nur 

840 folgende  Bemerkungen  mittheilen:  Str.  54  heisst  der  letzte  Vers: 

Achtzig  Helden  kühne  mit  dem  Herzog  Wolfing  reit't. 

Dieser  Gebrauch  des  Singularis  ist  uns  noch  nicht  vorgekommen, 
und  es  wäre  wohl  besser  zu  lesen:  mit  denen.  Str.  115  steht: 
also  dass  für:  das.  Str.  139.  Er  sprach  mit  Gewalt  gibt 
keinen  Sinn;  sollte  es  heissen:  genote  und  auf  Spotte  reimen? 
Auch  die  beiden  vorhergehenden  Verse  haben  innere  Reime. 
Str.  203  der  herzen  Leide,  dies  Adjectiv  kennen  wir  gar  nicht, 
es  muss  unstreitig:  der  Herzenleide  heissen.  Ebenso  Str.  339 
statt  der  alte,  greise  der  Altgreise,  wie  sich  immer  die 
Zusammensetzung  findet.  Auch  für  den  Hörnen  Siegfried  be- 
sitzen wir  keinen  von  den  zwei  höchst  seltenen  Drucken,  deren 
Dasein  freilich  ausser  Zweifel  war. 

Wir  haben  noch  von  dem  poetischen  Werth  dieser  Ge- 
dichte zu  reden.  Der  Treftlichkeit  von  Alpharts  Tod  ist 
schon  oben  Erwähnung  gethan.  Wenn  wir  dieses  dem  Nibelungen- 
lied nicht  ganz  gleichstellen,  so  liegt  es  wohl  bloss  daran,  dass 
uns  dort  beständig  der  grosse  Zusammenhang  vor  Augen  steht, 
der  jedem  einzelneu  noch  die  eigene  Bedeutung  gibt,  sonst  ist 
hier  derselbe  Geist,  das  kleinste,  jedes  Wort  ebenso  von  dem 
frischesten  Dasein  durchdrungen,  dieselbe  Ausführlichkeit,  Ruhe 
und  Gewalt  der  Darstellung;  es  wird  sich  hiermit  am  besten 
die  Meinung  von  einem  besonderen  Dichter  des  Nibelungenlieds, 
die  ohnehin  auf  nichts  beruht,  wenn  noch  jemand  darauf  be- 
stehen sollte,  widerlegen.  Die  Fabel  ist  einfach :  ein  Held,  der, 
so  jung  er  ist,  doch  schon  sein  Geschlecht  fühlt,  der  nicht 
seine  Stärke  befragt,  wenn  er  zum  Kampf  soll  gehen  und  dem 


DER  HELDEN  BUCH  VON  F.  H.  TON  DER  HAGEN.        49 

die  weltliche  Meisterschaft  des  alten  Hildebrand  unterliesren 
muss,  fällt,  von  dem  ersten  Morgenroth  seines  Lebens  beschienen, 
unter  blutdurstigen  Händen;  wir  können  das  Interesse  nicht 
von  ihm  abwenden,  so  schön  ist  er  in  allen  Beweorungen  und 
in  allen  Reden.  —  Ist  in  dem  Rosengarten  die  Idee  des 
Ganzen  nicht  von  gar  tiefer  Bedeutung,  denn  der  Cyklus  will 
auch  sein  weltliches  Theil  haben,  so  ist  sie  doch  ungemein  er- 
götzlich  und  sehr  wohl  ausgeführt.  Die  Kämpfe  sind  alle  nach 
dem  individuellen  Charakter  der  Helden  verschieden,  ausserdem  841 
ist  dem  Gedicht  ein  heiterer  Scherz  und  Humor  eigen,  wodurch 
besonders  der  Mönch  Ylsan  belebend  hervortritt.  Will  der  ge- 
treue Eckart  keine  ungetreue  Magd  küssen  und  ruft  der  alte 
Hildebrand  aus:  das  alte  Hurenwerk  lasst  sein!  so  reibt  er  die 
zarte  Königin  wund  mit  seinem  rauhen  Bart,  und  die  erworbenen 
Rosenkränze  drückt  er  seinen  lieben  Brüdern  daheim  auf  die 
Stirne,  dass  das  Blut  herabläuft.  Hierauf  ist  Ecken  Aus- 
fahrt zu  nennen,  neben  den  vorigen  Gedichten,  namentlich 
neben  Alphart,  darf  man  sagen,  dass  eine  gewisse  Breite  darin 
sei,  die  hin  und  wieder  ermüde ;  das  Belebtsein  des  Epos  durch 
alle  Glieder,  das  Eindringliche  ist  in  der  Manier  einer  späteren 
Bearbeitung  schon  untergegangen,  bei  allem  dem  ist  noch  viel 
Poetisches  in  diesem  Gedicht.  Schön  ist  der  Auszug  des  Eck: 
aus  dem  Geschlecht  der  Riesen  reitet  er  nicht,  er  würde  das 
Pferd  erdrücken,  aber  gerüstet  in  Ottnits  Stahlrüstung  mit 
goldenen  Ringen,  die  gewirkt  sind  von  Zwergen  aus  arabischem 
Golde  und  gehärtet  in  Drachenblut,  tritt  er  wie  ein  Leu  in  den 
Tann;  fern  hört  man  es  aus  dem  Wald  klingen  wie  Glocken, 
wenn  die  Aste  seinen  Helm  berühren,  bei  dem  Hall  wacht  das 
Gewild  auf  mit  mannigfachen  Stimmen  und  flieht,  doch  von 
manchem  wilden  Thiere  wird  ihm  nachgesehen.  In  der  Nach* 
findet  er  Dieterich,  der  kampfmüde  ist,  beide  legen  sich  nach- 
einander zum  Schlaf  nieder,  einer  bewacht  den  anderen.  Wie 
die  Vögel  den  Tag  ansingen,  beginnt  der  Kampf,  das  Feuer 
aus  den  Helmen  springend,  entzündet  rings  die  Äste,  dass  ein 
Rauch  über  den  Streitenden  aufsteigt.  Die  Gewandtheit  des 
christlichen  Helden  siegt  endlich  über  den  ungefügen  Riesen, 
der,  heidnisch  gesinnt,   den  Teufel  zum  Helfer  haben  will  und 

W.  GRIMM,   KL.  SCHRUTEX.      II.  4 


50        DER  HELDEN  BUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN. 

der  doch  auch  wieder  eine  schöne  treuherzige  Gesinnung  zeigt^ 
ja,  er  sagt  selber  dem  Dieterich,  auf  welche  Weise  allein  er  ge- 
troffen werden  könne:  dahin  müsse  er  hauen,  wo  sein  Panzer 
zusammenhafte,  dass  jener,  wie  er  ihn  getödtet,  ausruft:  ich 
hab  mehr  verloren  zu  dieser  Stund  denn  gewonnen.  Riese 
Siegenot  ist  in  derselben  Manier  gearbeitet,  nur  ist  die  Fabel 
darin  weniger  werth.  Es  sind  Beschreibungen  der  Kämpfe 
Dieterichs  und  Hildebrands  mit  einem  Riesen,  die  an  sich 
manches  Gute  haben,  aber  eben  wie  die  Beschreibungen  von 
842  Landschaften  ihrer  Natur  nach  keine  zu  grosse  Ausführlichkeit 
erlauben,  selbst  nicht  die  beste.  Das  Epos  hält  darin  das  rechte 
und  schöne  Mass.  Erheitert  wird  das  Gedicht  und  die  Er- 
zählung von  den  Kämpfen  unterbrochen  durch  die  guten  Scherz- 
reden, die  Wolfhart  mit  der  Herzogin  Ute  treibt,  wie  sie  ihren 
Herrn,  den  alten  Hildebrand,  zum  Auszug  rüstet:  er  meint,  es 
sei  um  den  Riesen  geschehen,  wenn  dieser  an  den  Kuss  denke, 
den  sie  ihm  beim  Abschied  gegeben.  In  Siegenot  wie  in  Ecken 
Ausfahrt  leuchtet  der  alte  gute  Grund  immer  noch  durch,  und 
würden  wir  die  Originale  aus  früherer  Zeit  haben,  sie  würden  sich 
vortrefflich  zeigen.  Hierauf  folgt  der  Hörnen  Siegfried.  Die 
Fabel  kennt  man  aus  dem  Volksbuch,  die  Form  ist  der  des 
Nibelungenlieds  nachgeahmt,  nur  fehlt  meist  die  charakteristische 
Länge  der  vierten  Zeile  in  der  Strophe,  aber  von  dem  Geist 
desselben  ist  wenig  übergangen.  Während  jenes  bis  ins  kleinste 
Detail  belebt  und  ansprechend,  ist  hier  bei  keinem  einzigen 
Moment  verweilt,  sondern  alles  in  einer  allgemeinen  Oberfläch- 
lichkeit gehalten ;  das  Gleichmässige  darin  macht  das  Verdienst 
dieser  Bearbeitung  aus,  nebenbei  hat  sich  noch  manches  gute 
Wort  erhalten.  Endlich  Etzels  Hofhaltung  ist  uns  ganz 
ohne  poetischen  Werth.  Es  ist  keinem  Zweifel  unterworfen, 
dass  sich  in  jenen  Zeiten,  et^a  wo  die  Dresd.  Handschrift  com- 
pilirt  wurde,  eine  eigene  Manier  in  Bearbeitung  der  deutschen 
Heldensagen  gebildet  hatte,  der  wir  zwar  die  Erhaltung  manches 
Einzelnen  verdanken,  in  welcher  aber  jene  immer  mehr  oder 
weniger  von  ihrer  alten  Bedeutung  und  Höhe  herabgezogen 
wurden.  In  dieser  Schule,  und  zwar  von  einem  ihrer  geringsten 
Glieder,  ist  dieses  Gedicht  zusammengesetzt,  aus  entlehnten,  auch 


DER  HELDEN  BUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN.        51 

wohl  aus  eigenen  Gedanken.  Vielleicht  ist  eine  allegorische 
Absicht  dabei,  die  Jungfrau  nennt  sich  Frau  Seide  am  Ende, 
und  die  allegorischen  Gedichte  jener  Zeit  pflegen  mit  einer 
solchen  Hofhaltung  anzuheben. 

Hieran  schliesst  sich  noch  ein  bestimmter  Tadel  des  vor- 
liegenden Buchs.  Nichts  soll  verabsäumt  oder  gering  geachtet 
werden,  was  der  Wissenschaft  dienen  und  die  altdeutsche  Litteratur 
aufklären  kann,  das  Kleinste  verdient  aufbewahrt  und  berück- 
sichtigt zu  werden;  aber  dem,  der  sich  bloss  an  der  Poesie 
dieser  alten  Gedichte  erfreuen  will,  dem  soll  man  nur  das  Kost- 8*3 
lichste  und  Reinste  darreichen.  Alle  Poesie,  ja  alles  Grosse 
auf  der  Welt,  hat  seine  Nachfolger  und  Nachahmer  gehabt, 
die  sich  daran  gedrängt  und  angeschlossen,  bis  der  Gipfel,  der 
einsam  steht  und  die  Sterne  grüsst,  durch  sie  mit  dem  Thale 
verbunden  worden.  Diese  Verbindung,  die  an  sich  etwas  Noth- 
wendiges  und  darum  Rechtes  hat,  weil  ein  jeder  nach  seinen 
Kräften  Theil  nehmen  will,  gilt  nur  für  ihre  Zeit;  wenn  die 
Nacht  der  Jahrhunderte  kommt,  bleibt  nur  die  Spitze  in  un- 
vergänglichem Glänze  stehen,  und  auf  diese  sollen  wir  deuten, 
wenn  jemand  das  Herrlichste  jener  Zeiten,  das  alles  andere  doch 
in  sich  fasst,  ansehen  möchte.  Nicht  jeder  kann  sich  mit  dem 
Studium  der  alten  Zeit,  dem  es  auferlegt  ist,  allem  Zusammen- 
hang durch  die  Dunkelheit  nachzuspüren,  beschäftigen,  noch 
wäre  es  wünschenswerth,  aber  auf  die  Ausbeute  hat  jeder  ein 
Recht.  Des  äusserlichen  Nachtheils,  der  durch  solche  unbe- 
schränkte, alles  Urtheils  sich  begebende  Mittheilung  entsteht, 
indem  einer  entgegenarbeitenden  Gesinnung,  die  glaubt,  man 
dürfe  nur  Eines  lieben  und  ehren,  das  in  die  Hände  gibt,  was 
sie  überall  hier  gern  fände,  gedenken  wir  nicht,  weil  er  uns 
niemals  bedeutend  vorgekommen  ist. 

W.  C.  Grimm. 


52  NARRENBUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN. 


1281  NARRENBÜGH. 

Herausgegeben  durch  Friedrich  Heinrich  von  der  Hagen.     Halle  in  der 
Rengerschen  Buchhandlung,  1811.    VI  und  541  S.  in  8.    (1  Thlr.  12  Gr.) 

Leipziger  Litteratur-Zeitung  für  das  Jahr  1812.    Zweites  Halbjahr.    Leipzig,  bei 
Breitkopf  und  Haertel.    No.  161—163,  am  1.— 3.  Juh  1812.    S.  1281—1301. 

[Mit  Jacob  Grimm.] 

Wenn  einer  den  Witz  alter  Zeiten  zusammenzustellen 
und  als  einen  nothwendigen  Theil  der  ganzen  Poesie  geschicht- 
lich zu  untersuchen  gedächte,  wird  niemand  ein  solches  Unter- 
nehmen tadeln  wollen:  der  poetisch  Geniessende,  der  historisch 
Betrachtende,  oder  der  beides  zugleich  ist,  müsste  dafür  dankbar 
sein.  Es  ist  eine  eigene  Freude  und  ein  fester  Grund  in  jenen 
Scherzen,  besonders  in  jener  Ironie,  die  mit  sicherer  Hand  ein 
ganzes  bürgermeisterliches  Regiment  gefasst  und  aufgehoben, 
das  sie  langsam  nun  dem  Licht  zudreht  und  mit  unerschöpf- 
licher Lust  betrachtet.  Etwa  zu  der  Zeit,  wo  das  uralte  Helden- 
gedicht bis  auf  wenige  Laute  verschollen,  tritt  diese  neue  Bil- 
dung hervor:  das  Feuer,  das  dort  gleichsam  auf  Bergen  ernst 
und  reinflammend  gestanden,  brennt  hier  in  den  Thälern,  wohin 
die  Menschen  hinabgezogen  sind,  tiefer  und  niedriger,  aber  lustig 
und  prasselnd  fort.  Hell  sind  die  Gestalten,  die  es  anleuchtet, 
keine  tragische  geheimnisreiche  Macht  lenkt  das  Schicksal,  alles 
lässt  sich  leicht  übersehen,  wäre  nicht  der  Geist,  der  dort  in 
ernsthaftem  Aufschauen  so  gross  erscheint,  hier  um  sich  wen- 
dend und  der  Welt  zugekehrt,  derselbe  und  darum  doch  unaus- 
messbar.  Nicht  ganz  aber  ist  das  Feuer  verlöscht,  so  gut  war 
es  entzündet,  und  noch  heute  lebt  dieser  Scherz  und  diese  Ironie 
fort;  war  demnach  bei  der  Erweckung  des  alten  Lieds  uner- 
lässlich,  die  Gedanken  in  eine  verschwundene  Zeit  zurückzu- 
lenken,  so  kann  eine  Erneuerung  dieser  alten  Bürgerlust  geradezu 
begehrenden  Händen  gereicht  werden. 

Über  die  Forderungen,  die  bei  einem  solchen  Unternehmen 
gerecht  sind,  verständigt  man  sich  leicht.  Diese  Gedichte,  die 
sämmtlich  über  den  Punkt,    wo  sie  uns  in  solcher  Gestalt  sind 


NARRENBCCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN.  53 

überliefert  worden,  hinausgehen  und  einen  mythischen  Cha- 
rakter haben,  müssen  bis  zu  ihren  Quellen  verfolgt  und  ihre 
Entwickelung  und  Ausbildung,  so  weit  es  möglich  ist,  vor  unsere 
Augen  gelegt  werden.  Nichts  darf  für  diesen  Zweck  versäumt 
werden;  es  ist  nöthig,  dass  die  Geschichte  der  Poesie  gewinne 
und  das  Gedicht  selbst  reicher,  reiner  und  irischer  der  leben-  1282 
digen  Lust  übergeben  werde,  welcher  die  Wissenschaft  sich 
doch  nimmer  entziehen  darf.  Wir  zweifeln,  dass  dem  Hrn. 
V.  d.  Hascen  diese  Forderimcren  entgancren  sind,  sollen  wir  aber 
das  Resultat  unserer  Betrachtung  seiner  Arbeit  gleich  voran- 
stellen, so  müssen  wir  sagen,  dass  er  keine  davon  erfüllt,  was 
noch  schlimmer,  dass  er  nicht  einmal  den  Vorsatz  gehabt,  sie 
zu  erfüllen.  Haben  wir  ihm  dafiir  gedankt,  dass  er  die  beiden 
Kalenberger,  die  selten  sind,  wieder  hat  abdrucken  lassen,  was 
doch  immer  ein  massiges  Verdienst  ist,  so  wissen  wir  nicht, 
was  wir  an  dem  ganzen  Buch  noch  zu  loben  hätten.  So  sorg- 
faltig und  übergenau  der  Verf.  in  dem  ist,  was  den  altdeutschen 
Nationalcyklus  betrifft,  so  nachlässig  erscheint  er  in  den  Prosa- 
büchem;  man  hat  dem  Buch  der  Liebe  schon  vieles  mit  Recht 
zur  Last  legen  können,  dennoch  ist  es  mit  einer  gewissen 
äusseren  Sorgfalt  behandelt,  da  hingegen  dieses  Werk  kaum 
leichtsinniger  konnte  angefasst  werden.  Der  Anhang,  welcher 
historische  Untersuchungen  und  litterarische  Notizen  enthalten 
soll,  liefert  nur,  was  dem  Verf.  in  der  Eile  unter  die  Hände 
kam,  und  gewinnt  endlich  durch  mancherlei  Nachsätze  das  An- 
sehen von  blossen  Collectaneen ;  dazu  kommt,  dass  bei  einem 
fremden  Corrector  sich  in  diesem  Theil  eine  Menge  böser  Druck- 
fehler eingeschlichen  haben. 

Wir  verlangen  von  jeder  Arbeit,  dass  sie  ernstlich  gemeint 
und  wirklich  förderlich  sei.  Das  ist  dieses  Buch  aber  auf  keine 
Weise,  und  man  sieht  nicht  ab,  wozu  es  eigentlich  in  dieser 
Gestalt  unternommen  worden.  Das  Laienbuch  wird  gesen- 
wärtig  noch  in  einigen  Gegenden  Deutschlands  als  Volksbuch 
verkauft,  wohl  nicht  mehr  der  Morolf,  aber  dieses  Gedicht  ist 
in  der  älteren  poetischen  Bearbeitung,  welche  der  Prosa  nicht 
nachsteht,  schon  dem  Publicum  von  dem  Herausgeber  mitge- 
theilt;   was  die  beiden  Kalenberger  betrifit,  so  ist  es  zwar,  wie 


54  NARRENBUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN. 

gesagt,  gut,  dass  sie  wieder  abgedruckt  sind,  indessen  hat  Flögel 
in  der  Geschichte  der  Hofnarren  einen  ausführlichen  Auszug 
gegeben,  mit  welchem  man  sich  gern  begnügt  hätte,  bis  sie 
sorgfältiger  erschienen  wären.  Dass  diese  Gedichte  übersehen 
würden,  war  bei  der  Art,  womit  das  Studium  der  altdeutschen 
Litteratur  überhaupt  getrieben  wird,  nicht  zu  befürchten,  und 
eben  darum  eine  solche  Hast  unnöthig,  bei  welcher  dem  Verf. 
selbst  nicht  wohl  kann  geworden  sein. 

Wäre  ein  ordentliches  Studium  vorangegangen,  so  würden 
128:5  mehrere  ganz  bestimmte,  feststehende  Charaktere  begegnet  sein, 
wie  der  Prahler,  Schwaben,  Schneider.  Diese  nebeneinander 
aufgestellt  hätten,  gegenseitig  sich  erläuternd  und  erklärend, 
erst  den  Reichthum  und  die  eigentliche  Natur  dieser  Seite  der 
altdeutschen  Poesie  erkennen  lassen.  Eine  solche  mannigfach 
sich  ausbreitende  Untersuchung  müsste  der  Geschichte  der  Poesie 
nicht  gering  zu  achtende  Resultate  gewähren.  Gerade  diese 
Ruhe  und  helle  Besonnenheit  des  Humors,  diese  ausdauernde 
und  sicherlebende  Ironie  ist  etwas  den  Deutschen  ganz  Eigen- 
thümliches,  die  leicht  an  leichtspringendem  Witz  von  anderen 
Völkern  übertroflfen  werden. 

Wissenschaftlicher  Ernst  hätte  hier  noch  einen  anderen  Vor- 
theil  gebracht:  das  Buch  wäre  dann  nur  in  die  Hände  derer 
gekommen,  denen  es  gebührte.  Wir  wissen  auch,  dass  Derb- 
heiten dieser  Dichtung  zugehören  und  noth wendig  sind,  und 
verlangen  so  wenig,  dass  sie  wegbleiben  sollen,  als  wir  den 
Aristophanes  castrirt  sehen  möchten,  allein  unsere  Zeit  hat  eine 
Zucht  und  Sitte,  die  geachtet  werden  muss,  vor  deren  Augen 
man  solche  Dinge  nicht  hinstellen  soll.  Das  Volk  mag  sie  ver- 
tragen, aber  ein  feiner  schamhafter  Sinn  der  Frauen,  der  etwas 
Edles  ist,  hätte  hier  gewarnt  werden  sollen,  und  ein  Zusatz: 
„für  Männer  gedruckt"  scheint  so  statthaft  als  das  bekannte: 
Manuscript  für  Freunde. 

Dieses  im  Allgemeinen  über  das  vorhegende  Buch  ausge- 
sprochene Urtheil  halten  wir  uns  schuldig  im  Einzelnen  zu 
bewähren,  wodurch  wir  zugleich  in  den  Stand  gesetzt  werden, 
der  Recension  einiges  Interesse  zu  verleihen. 

I.     Die   Schildbürger.     Wie   dieses   Werk  das   Vollen- 


NARRENBCCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN.  55 

detste  und  Gediegenste  in  der  alten  komischen  Litteratur  ist: 
so  erscheint  eine  sorgfaltige  Bearbeitung  hier  am  nothwendigsten. 
Was  den  Text  betriift,  so  ist  der  erste  Theil  nach  den  Aus- 
gaben von  1605  und  161-4  gemacht,  die  frühere  von  1598  hat 
der  Herausgeber  nicht  gehabt,  da  sie  doch  bestimmt  existirt  und 
billig  hätte  benutzt  werden  sollen;  zweifelhafter  ist  freilich  die 
von  1597,  weil  man  überhaupt  Drauds  Angaben*)  nicht  für  zu- 
verlässig nehmen  kann.  Indessen  wollen  wir  hierüber  nicht 
lange  rechten;  da  das  Laienbuch,  wahrscheinlich  wegen  der  in 
Perioden  geschlossenen  Rede,  die  nicht  so  leicht  zu  zerreissen 
war,  überhaupt  wenigere  Veränderungen  erlitten  und  selbst  in 
den  heutioren  Volksbüchern  noch  ziemlich  rein  erscheint,  so  mag 
hier  nicht  so  viel  auf  die  ersten  Ausgaben  ankommen,  wie  bei 
den  Romanen  im  Buch  der  Liebe.  Diese  Nachlässigkeit  ver- 
schwindet gegen  eine  viel  bedeutendere  und  geradezu  unver- 
zeihliche, indem  Hr.  v.  d.  Hagen  den  zweiten  Theil  des  Buchs 
nicht  mitherausgegeben  hat.  Dieser,  wenn  er  gleich  nicht 
völlig  den  ersten  erreicht,  ist  dennoch  ungemein  witzig  und  in 
vielen  einzelnen  Zügen  ganz  vortrefflich.  Statt  ihn  im  Text 
mit  abzudrucken,  gibt  er  im  Anhang  einen  dürftigen  Auszug 
davon,  dem  aller  Scherz  und  alles  poetische  Interesse  entzogen 
ist.  Eben  so  ist  die  abweichende  Erzählung  des  Grillenver- 1284 
treibers  von  den  allzuderben  Capiteln  des  ersten  Theils,  die 
man  ganz  zugegeben  wünscht,  nur  im  Inhalt  geliefert;  wie  wenig 
aufmerksam  auch  dieser  gemacht  ist,  sieht  man  daraus,  dass 
das  eine  Gedicht  (S.  453  ff.)  in  zehn  (nicht  einmal  in  neun) 
Verse  abgetheilt  worden ,  während  es  offenbar  ein  ganz  regel- 
mässiger Meistergesang  von  zwei  Stollen  und  Abgesang  in  drei 
Gesätzen  ist.  Auch  die  Litteratur  des  Laienbuchs  ist  nicht  voll- 
ständig: der  Katalog  der  Ungerischen  Bibliothek  führt  S.  125 
eine  Ausgabe  des  Grillenvertreibers  Frankf.  1670.  8^  an.  Eine 
andere  erschien:  Nürnberg  1678.  Die  Ausgabe  s.  1.  et  a.,  welche 
in  der  Romanenbibliothek  benutzt  und  hier  S.  491  bezweifelt 
wird,  existirt  unstreitig,  der  Titel  ist  ganz  richtig,  nur  etwas 
abgekürzt  ansjegeben.  Sie  stimmt  dem  Inhalt  nach  treu  mit  der 
Ausgabe  von  1598  überein,  und  nur  die  Orthographie  ist  erneuert. 

*)   [Vgl.  Briefwechsel  zwischen  J.  und  W.  Grimm,  Anm.  S.  509.] 


56  NARRENBUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN. 

Hat  der  Herausgeber  auf  diese  Weise  die  Quellen  vernach- 
lässigt, so  fehlen  ihm  weiter  die  besten  und  wichtigsten  Hilfs- 
mittel zur  Erläuterung  des  Gedichts.  Die  dänische  Sammlung: 
Molboers  Bedrifter,  die  interessante  Vergleich ungen  an  die 
Hand  gibt,  hat  er  nicht  gehabt  und  nur  aus  Nyerups  Abhand- 
lung in  einer  Zeitschrift  angeführt.  Aus  dieser  nimmt  er  weiter 
auch  Nachweisungen  über  Freys  Gartengesellschaft  und  das  Roll- 
wagenbüchlein. Dass  sie  nur  sehr  unvollständig  sind,  ist  na- 
türlich, da  man  in  Dänemark  nicht  über  seltene  altdeutsche 
Bücher  Untersuchungen  anstellen  kann ;  so  erscheinen  denn 
diese  Notizen  hier  falsch  und  dürftig.  Das  Rollwagenbüch- 
lein ist  ursprünglich  nicht  ein  zweiter  Theil  der  Gartengesell- 
schaft, sondern  ein  eigenes  Buch,  das  den  bekannten  Jörg 
Wickram,  Stadtschreiber  zu  Burkhaim,  zum  Verfasser  hat. 
(Hieraus  erklärt  sich  nun  die  Stelle  bei  Fischart  in  der  Ge- 
schichtsklitterung S.  437,  und  Burkhaim  ist  nicht  der  Verfasser 
eines  Buchs,  s.  Note  438,  was  Hr.  Prof.  v.  d.  H.  ohnehin  hätte 
wissen  können,  schon  wenn  er  den  Fischart  aufmerksamer  ge- 
lesen. Eben  so  rührt  die  Gartengesellschaft  von  Jacob  Frey, 
Stadtschreiber  zu  Maursmünster,  her.)  Die  Ausgabe,  die  Rec. 
vor  sich  hat,  ist  von  1557  in  8*^,  indessen  existirt  wahrscheinlich 
eine  frühere,  da  in  der  Vorrede  von  Freys  Gartengesellschaft 
von  demselben  Jahr  schon  des  Rollwagenbüchleins  gedacht  wird 
und  auf  dem  Titel  dieser  Ausgabe  steht:  „wiederum  erneuwert 
und  gemert."  Die  Ausgabe  Magdeburg  s.  a.,  welche  Draud 
bemerkt,  ist  später,  sie  ist  bei  Johann  Franken  gedruckt,  heisst 
der  Rollwagen  und  auf  dem  auch  sonst  abgeänderten  Titel 
steht:  jetzt  von  neuem  übersehen  und  gemehret.  Eine  andere 
Ausgabe:  Rollwagenbüchlein  Mühlhausen  s.  a.  (dieselbe 
welche  Nyerup  meint)  ist  auch  später,  als  die  von  1557,  weil 
die  Gartengesellschaft  als  zweiter  Theil  damit  verbunden,  in 
dem  Katalog  der  Adelung.  Bibliothek  No.  2549  angeführt  wird; 
ein  dritter  Theil  wird  dem  Montanus  zugeschrieben,  unstreitig 
dessen  Weg  kürzer.  (Wir  kennen  von  demselben  ein  Lust- 
1285  spiel:  der  ungetrewe  Knecht.  Strassb.  bei  Messerschmidt  s.  a. 
in  8®)  Einer  anderen  Ausgabe  von  1568  Rollwagen  von 
Schimpf  und  Ernst  gedenkt  Cless   bibHoth.  p.  247.     Ausser 


XARREXBÜCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEX.  57 

diesen  beiden  gäbt  es  noch   ein   drittes  hier  auch  wichtiges  und 
dem  H.  v.  d.  Hagen  nicht  einmal   dem  Namen  nach  bekanntes 
Buch:  WendUnmuth  durch  Hans  Wilhelm  Kirchhof,  einen 
Hessen  aus  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts,  der  erste  und 
beste  Band  erschien    Frankf.  1565    8^  (jedoch  ist   die  Vorrede 
Cassel  1562  datirt)  und  ist  in  zwei,    aber  ungleiche  Theile  ge- 
theilt,  der  grösste  enthält  die  weltlichen,   der  andere   die  geist- 
lichen  Erzählungen.     In    der   Fortsetzung   nennt   Kirchhof  sein 
Buch   eine   erweiterte  und    vermehrte  Übersetzung  von  Bebeis 
facetiis.      Von    diesem    ersten    Theü    führt    Strieder    (hessische 
Gelehrt.  -  Gesch.  VII,   79)    noch  eine  andere  Ausgabe  Frankf. 
1587   8^  an.     Mehr,  als  Strieder  gefunden,   kann  man  aus  dem 
Buch  selbst  von  Kirchhofs  Leben   erfahren :    als  Soldat   war  er 
in  Franken,  Norddeutschland,  Flandern  gewesen,  überall  ist  der 
Erwerb  der  Weltbekanntschaft,  eine  recht  lebendige  Anschauung 
sichtbar,  und  er  übertriffi  in  der  Erzählung  Frey  und  Wickram. 
Den  dritten  Theil  hat  Rec.  noch  nicht  gefunden,  einen  vierten 
und  fünften    aber,    den    Kirchhof  späterhin    als  Burggraf  von 
Spangenberg  (Frankf.  1602)  herausgab,   auf  der  königl.  Biblio- 
thek zu  Berlin  gesehen;  beide  enthalten  meist  Auszüge  aus  der 
alten   Geschichte    und   gehören   nicht    eigentlich   hierher.      Wie 
beliebt  das  Werk  gewesen,   zeigt  die  Nachahmung  des  Titels 
in  späteren  Sammlungen.    Es  folgt  auf  diese  Bücher  eine  ziem- 
lich lange  Reihe  ähnlicher,  in  diesem  Geschmack  ausgearbeiteter, 
sie  sind  wohl  alle  selten  zu  nennen,  aber  dass  Hr.  v.  d.  H.  auch 
nicht   ein   einziges    davon   erwähnt,    zeigt,    wie   wenig   er   nach 
dieser  Litteratur  sich  umgesehen.     Sie  können  hier  nicht  ange- 
führt  werden,  weil  sie  eine  besondere  Abhandlung  nöthig  machten ; 
wir  nennen  nur  daraus  Katzipori  1558  8*^.    Der  Verfasser  unter- 
schreibt sich  bei  der  Dedication:  Hans,  Compan  von  Schleu- 
singen —  und:  Rastbüchlein  durch  Michael  Lindner,  weil 
dadurch  die   Stelle    in   der  Vorrede   von  Fischarts   Geschichts- 
klittenmg  vollkommen  erklärt  sein  wird,  wo  ofienbar  zwei  Bücher 
in  eins  zusammengeworfen  sind.    Aus  der  späteren  Zeit  ist  der 
Neugebutzte    kurzweilige    Zeitvertreiber,    welcher    den 
bekannten  Dichter  Simon  Dach  zum  Verfasser  hat,  anzuführen. 
Koch  (Compend.  H,   327)    citirt  eine   Ausgabe  s.  1.    1668  12% 


58  NARRENBÜCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN. 

eine  andere  von  1700  aber,  die  Reo.  vor  sich  hat,  zeigt,  dass 
das  Buch  fünfmal  aufgelegt  worden.  Es  ist  eine  gar  nicht 
dürftige  Sammlung,  die  nur  in  der  Darstellung  der  älteren 
weichen  muss. 

Wir  haben  diese  litterarischen  Nachweisungen  nicht  zurück- 
legen wollen,  weil  die  kleinen  Bücher  in  dem  lustigen  Schwaben, 
Elsass  und  Breisgau  zuerst  entstanden,  dann  aller  Orten  nach- 
geahmt, bestimmt  auf  Reisen,  vor  Traurigen  oder  an  kühlen 
Brunnen  gelesen  zu  werden,  sich  auf  die  rechte  Art  fast  ganz 
1286  vergriffen  und  verblättert  haben  und  sehr  selten  geworden  sind ; 
zudem  ist  für  die  Bestimmung  des  Alters  der  Schildbürger  eine 
genaue  Angabe  wichtig. 

Der  Verfasser  theilt  in  einigen  Worten  die  Bemerkung  mit, 
dass  das  ganze  Gedicht  aus  Volkstradition  wahrscheinlich  zu- 
sammengestellt sei  und  seinen  Ursprung  Dunkel  umhülle,  was 
eben  so  leicht  als  sicher  im  Allgemeinen  zu  treffen  war.  Ein 
Dunkel  ruht  freilich  auf  der  Entstehung  eines  jeden  Gedichts, 
das  wir  nicht  aufhellen  werden,  wie  bei  der  Betrachtung  einer 
jeden  wahrhaftigen  Dichtung,  auch  unserer  Zeit,  wir  endlich 
auf  etwas  Unergründliches  gelangen. 

Überall  aber,  wo  wir  Poesie  finden,  sehen  wir  sie  auch 
angeknüpft  an  ein  Früheres,  eine  Tradition  geht  durch  alle  Zeit, 
und  Jahrhunderte,  die  auf  die  auffallendste  Weise  von  einander 
geschieden,  hängen  doch  mit  tausend  Fäden  zusammen  und 
mögen  sich  nicht  verläugnen  *).  Wiederum  aber  stehen  wir  auch 
immer,  wo  die  Dichtung  frisch  strömt,  vor  ihrer  unversiegbaren 
Quelle,  denn  darin  ruht  das  Geheimnis  ihrer  ergreifenden  Macht, 
dass  ihre  Gegenwart  in  der  Vorzeit  begründet,  die  Vorzeit  in 
ihrer  Gegenwart  lebendig  und  unvergangen  ist.  Wurde  oben 
behauptet,  dass  nach  dem  Untergang  des  alten  Heldenepos  dieses 
Gedicht  als  neue  Bildung  hervorgetreten,  so  müssen  doch  die 
Keime  und  Adern  dazu  in  früherer  Zeit  schon  dagewesen  sein, 
und  nur  das  Herrschende  können  wir  durch  einen  Gegensatz 
bezeichnen.  Hernach  hat  das  Ganze  sich  gesammelt,  gleichsam 
auf  einen  Ruf,  wie  das  gediegene  Silber  eine  Zusammenhäufung 
einzelner  Theile  ist,  nach  unbekannten  Gesetzen  chemischer  Ver- 

*)  [So  habe  ich  für  „verlängern"  geschrieben.] 


NARRENBUCH  VON  F.  H.  TON  DER  HAGEN.  59 

wandtschaft  bewirkt.  Solche  einzelne  Spur  finden  wir  schon  im 
13.  Jahrhundert  in  dem  Gedicht  von  Reinfried  von  Braun- 
schweig,   S.  37*^  des  Hanöv.  Manuscripts  heisst    es  nämlich: 

mit  nassen  schöben  (Fackeln)  lachtet 
man  e  vnd  vasset  manes  schin 
in  s ecken,  e  vch  iemer  min 
hiilde  werde  ze  teile. 

Hier  erscheint  dieselbe  Idee,  die  wir  bei  den  Schildbürgern 
weiter  ausgeführt  sehen,  indem  sie  das  Sonnenlicht  in  Säcken 
für  ihr  Rathhaus  einfangen;  wahrscheinlich  bezieht  sich  das 
vorhergehende:  „mit  nassen  Fackeln  leuchten"  gleichfalls  auf 
eine  hierhergehörige  Sage,  die  jetzt  verloren  ist.  Die  folgenden 
Jahrhunderte  zeigten  die  Neigung  des  menschlichen  Geistes  zum 
Scherz,  das  freiwillige  Begeben  in  eine  fröhliche  Narrheit  in 
ihrer  Entwickelung,  wie  die  Griechen  auf  eine  Tragödie  ein 
Lustspiel  folgen  Hessen,  oder  wie  der  Scherz  uns  wieder  Luft 
macht  und  die  Fesseln  löst,  mit  denen  der  Ernst  uns  umgeben, 
so  sehen  wir  diesen  Gegensatz  im  Grossen  erscheinen  und  diese 
Zeiten  auf  jene  der  Heldengesänge  folgen,  die  einen  durchaus 
tragischen  Charakter  hatten.  Die  Weihnachtspossen,  das  Oster- 
gelächter,  das  Narrenfest  sind  Zeichen  dieser  Zeit,  alle  früher 
entsprungen  gelangten  sie  dazumal  zu  rechter  Ausbildung.  Nicht  i287 
im  Ernst,  wie  die  theologische  Facultät  zu  Paris  zur  Vertheidigung 
dieser  Feste  in  einem  Circularschreiben  von  1441  anführt,  son- 
dern bloss  zum  Scherz  werden  sie  nach  alter  Sitte  gefeiert,  damit 
die  Narrheit,  die  uns  natürlich  ist  und  uns  angeboren  scheint, 
wenigstens  alle  Jahr  einmal  ausdünste  und  die  Fässer  mit  dem 
Wein  der  Weisheit  nicht  zerplatzen.  Man  sieht  hieraus,  dass 
diese  Ansicht  der  Narrheit,  wie  sie  auch  in  dem  Eingang  des 
Laienbuchs  aufgestellt  ist,  eine  allgemein  verbreitete  Volksidee 
war.  Die  clevische  Geckengesellschaft,  gestiftet  im  Jahr  1381, 
spricht  sie  gleichfalls  deutlich  aus.  Endlich  haben  die  berühm- 
testen Hofnarren,  Kunz  von  Rosen,  Claus  Narr  und  der  Eulen- 
spiegel, der  eine  ganze  Klasse  repräsentirt ,  in  diesen  Zeiten 
gelebt. 

Die  vorhin  genannten  Sammlungen,  fast  alle  in  dem  Laufe 
des  16.  Jahrhunderts  entstanden,  haben  uns  eine  Reihe  sehr  fröh- 
licher  und   in   der  That  trefilicher  Volkssagen   erhalten.     Dass 


60  NAKRENBUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN. 

sie  eigenthümlich  deutsch  (wiewohl  man  allerdings  auch  früher 
schon  Übersetzungen,  z.  B.  des  Boccaccio  antrifft)  und  das* 
sie  unmittelbar  dem  Munde  des  Volks,  unter  dem  sie  lebten, 
entnommen  sind,  leidet  keinen  Zweifel,  sobald  man  sie  näher 
betrachtet.  Es  zeigt  sich  in  ihnen  alles,  was  wir  an  der  Sage 
charakteristisch  erkannt  haben:  eine  Grundübereinstimmung,  die 
durch  alles  geht,  dann  Abweichungen  in  Geschlechter  und 
Stämme,  die  sich  wieder  in  Äste  und  Zweige  vertheilen,  so 
dass  jedem  Einzelnen  bei  seinem  unleugbaren  Zusammenhang 
mit  dem  Ganzen  sein  individuelles  Leben  bleibt  und  jeder  kleine 
Bezirk  in  einem  anderen  Dialekt  redet. 

Wir  kommen  hier  auf  den  Punkt  unserer  Forderungen 
zurück.  Dieser  Charakter  der  Schildbürger,  der  vor  den  übrigen? 
die  gleichwohl  ihr  eigenes  Lob  verlangen,  unstreitig  den  Vor- 
zug verdient,  war  aus  den  bemerkten  Quellen  zu  erläutern. 
Wäre  nicht  schon  der  poetische  Werth,  so  würde  die  merk- 
würdige Ausbreitung  desselben,  indem  wir  ihn  nicht  nur  bei 
den  Deutschen  (in  mehr  als  dreissig  Gegenden)  und  den  ver- 
wandten Stämmen,  sondern  auch  bei  den  Slaven  und  Ungarn, 
in  Frankreich  und  England  finden,  eine  besonders  aufmerksame 
Betrachtung  fordern.  Es  waren  die  einzelnen  Sagen  aufzu- 
suchen, zu  vergleichen  und  zusammenzustellen.  Das  wird  man 
im  Voraus  schon  nicht  abstreiten,  dass  sich  aus  einer  solchen 
Arbeit  mannigfache  interessante  Resultate  ergeben  müssen.  So 
ist  es  auf  der  einen  Seite  gewiss  merkwürdig,  dass  der  Ver- 
fasser des  Laienbuchs,  wiewohl  ein  ganzer  Guss  in  seinem  Werk 
ohne  Zweifel  sichtbar,  doch  die  älteren  Quellen  oft  wörtlich 
benutzt  hat,  z.  B.  die  Geschichte  von  dem  Bauer,  der  meint  er 
schlafe  (C.  37),  ist  im  Rollwagenbüchlein  fast  mit  denselben 
Worten  erzählt  und  nur  dort  mit  einigen  Zusätzen  verbessert. 
Es  ist  dies  nichts  anderes  als  ein  Lob  für  ihn,  da  es  beweist, 
wie  sicher  er  den  Charakter  des  Nationalgedichts  getroffen. 
288  Auf  der  anderen  Seite  aber  hat  er  auch  manche  einzelne  Sage 
nicht  so  gut  und  innerlich  vollkommen  gefasst,  wie  sie  uns 
anderwärts  begegnet  (von  den  ganz  fehlenden  reden  wir  nicht), 
und  wenn  zwar  der  Zusammenhang  keineswegs  vermisst  wird, 
so  sind   sie  doch  eigentlich  lückenhaft  dargestellt;   das  Beispiel, 


NARRENBÜCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN.  61 

das  wir  unten  geben,  wird  auch  dieses  beweisen.  Es  liegt  aber 
in  der  Natur  der  Sache,  dass  ein  Einzelner  nicht  im  Stande 
war,  überall  das  Beste  zu  gewinnen,  und  die  Arbeit  ist  dem- 
ungeachtet  in  sehr  geschickte  Hände  gerathen.  Freilich  wird 
die  allgemeinere  Bemerkung  auch  hier  gelten,  dass  eben  ein 
solches  Zusammenfassen  und  Verknüpfen  einer  nach  allen  Seiten 
hin  ausgebreiteten  und  lebendigen  Sage  schon  einen  Punkt  der 
beginnenden  Abnahme  bezeichne  und  das  Bedürfnis  damit  ge- 
fühlt werde,  den  Verlust  abzuwenden.  Uns  liegt  es  ob,  nach- 
zuholen, so  weit  es  möglich  ist,  und  daher  scheint  ein  solches 
ins  Einzelne  gehende  Untersuchen  hier  allein  förderlich:  ein 
Ansehen  der  Sache  gewährt  wohl  Ansichten,  aber  keine  eigent- 
liche Erkenntnis.  Endlich  war  bei  der  noch  lebendigen  Tra- 
dition, einer  nicht  ganz  armen  Quelle,  zu  schöpfen  und  ihr  Zu- 
sammenhang mit  dem  alten  Gedicht  nachzuweisen. 

Halten  wir  dagegen ,  was  Hr.  v.  d.  Hagen  geleistet ,  so  1289 
besteht  es  darin,  dass  er  erstlich  den  Bebel,  einen  der  Dürftig- 
sten, nach  der  lateinischen  Ausgabe  (wo  sich  diese  Scherze 
schlecht  ausnehmen,  besser  liest  sich  die  deutsche  Übersetzung) 
mit  dem  Laienbuch  verglichen:  einige  hierher  gehörige  Sagen 
hat  er  wieder  gefunden  und  angeführt.  Wie  flüchtig  indessen 
diese  Vergleichung  angestellt  sei,  ergibt  sich  daraus,  dass  er 
eine  Sage,  die  Bebel  (S.  57.  58)  neben  den  anderen  erzählt^ 
übersehen  hat:  der  Schultheiss  nämlich  im  Bade  zu  Minsingen 
(Einsingen)  sagt  seinem  ehemaligen  Gesellen  im  Pferdehüten : 
wer  hätte  damals  geglaubt,  dass  ich  noch  Schultheiss  werden 
würde,  was  in  den  Schildbürgern  Cap.  18  erzählt  wird.  Ja,  es 
wird  überhaupt  zweifelhaft,  ob  der  Herausgeber  wirklich  die 
Ausgabe  des  Bebel,  die  er  citirt,  vor  sich  gehabt,  und  die  Rec. 
eben  auch  besitzt,  er  würde  sonst  die  vorangehenden  facetiae 
Frischlini  durchgesehen  haben,  dass  dieses  aber  nicht  geschehen, 
ist  offenbar,  denn  S.  8  findet  sich  nicht  nur  eine  Redensart, 
womit  der  Schultheiss  dem  Kaiser  die  ausgesuchte  Braut  (Cap.  23, 
S.  143)  lobt,  in  einer  Erzählung  erläutert,  sondern  S.  13  und  14 
zum  Theil  der  Schwank  von  der  Braut  (Schildb.  Cap.  31),  die 
dem  Bräutigam  vergilt,  wieder.  Auch,  war  die  Zeit  von  der 
Abfassung  der  Bebel.  Sammlung  zu  bestimmen,  so  musste  nicht 


62  NARRENBUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN. 

das  Jahr  1506  erwähnt  werden,  sondern  1509,  das  Bebel  (S.  198) 
als  ein  vorlängst  verflossenes  bezeichnet,  ausserdem  gedenkt  er 
(S.  93)  seines  1508  gestorbenen  Vaters,  welches  Jahr  noch 
einmal  (S.  232)  erwähnt  wird.  Selbst  die  ausbündigen  guten 
Possen  1610  8^,  die  nach  dem  Panzer.  Catalog  16212'*  mit  dem 
Laienbuch  in  einem  Band  waren,  welchen  der  Herausgeber  er- 
standen hat,  und  die  No.  35  die  Geschichte  von  dem  Schultheiss 
im  Bade  enthalten,  sind  nicht  einmal  nachgesehen  worden.  Auf 
den  Bebel  sodann  lässt  der  Herausgeber  die  Anspielungen  folgen, 
die  sich  bei  Fischart  auf  das  Gedicht  finden.  Es  wird  ge- 
schlossen, [dass,]  weil  er  das  Laienbuch  oder  die  Schildbürger  nir- 
gends als  ein  besonderes  Werk  citirt,  dieses  vor  1591  nicht  da- 
gewesen sei ;  dagegen  ist  nichts  zu  erinnern,  und  da  wir  in  jener 
1290  früheren  scherzhaften  Sammlung  ebenfalls  keine  Spur  seines  Da- 
seins gefunden,  so  mag  leicht  die  Ausgabe  von  1597  die  erste  und 
das  Buch  in  diesem  Jahr  entstanden  sein.  —  Indessen  ist  hier  ein 
Irrthum  zu  berichtigen,  den  Hr.  v.  d.  Hagen  freilich  mit  vielen 
anderen  theilt:  eine  Ausgabe  der  Fischartischen  Geschichts- 
klitterung, nämlich  vom  Jahr  1552,  existirt  nicht,  betrachtet 
man  die  Ziffer  genau,  so  wird  man  leichter  1582  lesen  können, 
diese  aber  als  die  rechte  Jahrzahl  ergibt  sich  nicht  nur  daraus, 
dass  Fischart  überhaupt  erst  seit  1570  zu  schreiben  angefangen 
und  sonst  ein  grosser  Zeitraum  zwischen  diesem  und  seinen 
übrigen  Werken  liegen  würde,  sondern  auch  aus  dem  ent- 
scheidenden Umstand,  dass  die  Gartengesellschaft,  Katzipori- 
gestech  darin  citirt  werden,  welche  sämmtlich  nach  1552  zum 
ersten  Mal  erschienen  sind,  und  dass  Rabelais,  dessen  Grabschrift 
Fischart  darin  dichtet,  erst  1553  gestorben  ist. 

Das  ist  alles,  was  Hr.  v.  d.  Hagen  für  die  Erklärung  der 
alten  Dichtung  gethan.  Zwei  Bücher  hat  er  benutzt,  nicht 
einmal,  wie  sich's  gebührt;  alle  anderen  bestimmt  hierher  ge- 
hörenden Hilfsmittel,  die  ein  reichliches  Licht  geben,  waren 
ihm  fremd.  Wir  schweigen  von  entfernteren  Anspielungen,  die 
sich  in  anderen  gleichzeitigen  Büchern  finden,  da  Hans  Sachs, 
der  so  nahe  lag,  nicht  einmal  zu  Rathe  gezogen  worden ;  ausser- 
dem gibt  es  Romane,  die,  in  dem  Geist  dieser  Dichtung  ge- 
schrieben,   Aufklärungen,    selbst   neue   Sagen    gewähren.      Der 


NARRESBUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN.  65 

noch  lebenden  Sage  ist  es  nicht  besser  ergangen,  denn  dass  die 
Paar  Zeilen,  die  S.  496  ihrer  Erwähnung  thun,  hier  för  etwas 
gelten  sollen,  wird  er  selbst  nicht  behaupten.  Mehr  Sorgfalt 
und  Mühe  hat  er  nicht  an  eine  Dichtung  wenden  wollen,  von 
der  er  selbst  sagt,  dass  Görres  sie  mit  Recht  dem  unsterblichen 
Don  Quixote  verglichen.  Die  Ehre,  zuerst  wieder  auf  diese 
Art  eine  Ausgabe  veranstaltet  zu  haben,  dürfte  ihm  nicht  leicht 
missgönnt  werden.  Die  Fragen  nach  der  Entstehung,  Ausbil- 
dung, nach  dem  sagenmässigen,  allgemein  verbreiteten  Leben 
des  Ganzen  werden  gleich  anfangs  mit  einer  leichten  Con- 
versationswendimg:  ,.die  Namen  werden  nicht  gern  gehört,  ein 
jeder  kennt  seine  Heimath"  abgewiesen.  Da  sie  gleich  vor 
trockenen  Auszügen  steht,  so  bedenken  wir  uns  gar  nicht,  viel- 
leicht etwas  linkisch,  darauf  zu  antworten:  sie  würden  recht 
gern  gehört,  und  der  Verf.  sei  nicht  zu  loben,  dass  er  absicht- 
lich zu  verschweigen  sich  anstelle,  was  ohne  Zweifel  von  Inter- 
esse sei. 

Wir  sind  nicht  verpflichtet,  des  Verfassers  Schuld  hier  abzu-  1291 
tragen,  die  einzelnen  Sagen  nachzuweisen  und  in  ihrer  Ver- 
schiedenheit und  Übereinstimmung  aufzustellen,  ohnehin  würden 
die  Grenzen  einer  Recension  uns  von  dieser  Pflicht  befreien. 
Leser,  denen  die  Quellen  zur  Hand  sind,  mögen  etwa  nur  die 
Fabel  vom  Krebs  Cap.  41  mit  Bebel  S.  184,  mit  einem  Meister- 
gesang, vermuthlich  H.  Sachsens  von  1545,  mit  der  Erzählung 
im  Ovum  paschale  Th.  2,  S.  250 — 254  und  einer  wiederum  ganz 
verschiedenen  in  der  Fortsetzung  dieses  Werks  S.  64  —  66,  so 
wie  endlich  mit  der  Sage  vom  Hering  gleich  Eingangs  der 
Malboers  Bedrifter  vergleichen. 

Wir  irren  schwerlich,  wenn  wir  meinen,  man  könne  erst 
von  einer  alle  und  jede  Verschiedenheit  der  Fabel  verfolgenden, 
fi-eilich  mühsameren  Bearbeitung  des  Ganzen  sagen,  dass  etwas 
für  die  Erklärung  desselben  geleistet  worden.  Es  würde  dann 
klar  vor  Augen  stehen,  wie  das  Gedicht,  aus  der  Mitte  mannig- 
facher Traditionen  aufwärts  getrieben,  die  Idee,  die  durch  jene 
hingegangen,  gefunden  und  ausgesprochen  habe.  Das  ist  Pflicht 
der  historischen  Untersuchung,  das  Geflecht  und  die  Adern  des 
Blattes,  das  frei  in  der  Luft  spielt,  zu  betrachten  und  den  Zu- 


€4  NARRENBÜCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN. 

sammenhang  darin  zu  entdecken.  Zugleich,  da  dies  auf  seinen 
Stamm  zurückführt,  muss  dadurch  die  Kraft,  die  es  hervorge- 
trieben, in  ihrem  grösseren  Umfange  sichtbar  werden,  und  so 
würde  in  diesem  Fall  eine  nicht  zu  verachtende  Zahl  hierher- 
gehöriger, im  Zusammenfassen  ausgefallener  Fabeln  als  Ergän- 
zungen sich  dargeboten  haben. 

II.  Markolf  und  Salomon.  Wir  brauchen  hier  nicht 
lang  zu  verweilen,  da  die  eigentliche  historische  Untersuchung 
über  dieses  Gedicht  zu  der  älteren  poetischen  Bearbeitung  ge- 
hört, wohin  denn  auch  der  Verf.  verwiesen  und  wozu  er  ein 
Paar  Nachträge  geliefert  hat.  Was  den  Text  betrifft,  so  ist  der 
Neuberische  Druck  zu  Grund  gelegt;  hätten  wir  eine  Ausgabe 
dieses  Gedichts,  welches  bei  allem  Schmutz  und  obgleich  weit 
unter  den  Schildbürgern,  doch  durch  seinen  kecken,  festen 
Charakter  und  nicht  gemeinen  Witz  seinen  Werth  behaupten 
kann,  zu  besorgen,  so  würden  wir  ein  Manuscript  dieser  Prosa 
aus  dem  15.  Jahrhundert  zu  Grunde  legen.  Wir  können  dem 
Hrn.  v.  d.  Hagen  weiter  keinen  Vorwurf  darüber  machen,  dass 
er  es  nicht  gekannt,  allein  es  ist  dadurch  unstreitig  Nachtheil 
erwachsen,  da  im  Verhältnis  zum  Druck  die  Sprache  im  Manu- 
script durchaus  naiver  und  einfacher  ist;  manchmal  ist  es  in 
der  Sache  ausführlicher,  auch  dass  einzelnes  darin  besser  vor- 
kommt, wird  man  leicht  zugeben,  da  die  Nachlässigkeit  des 
Drucks  fast  immer  etwas  zu  Grunde  gerichtet  hat.  Wir  führen 
eine  kurze  Stelle  aus  dem  Anfang  zur  Vergleichung  an:  (Mo- 
rolf)  „hat  Haar,  das  was  grob  und  stach  als  Igelsborsten,  und 
sein  Schuh  waren  aus  der  Massen  buers  (bäurisch),  und  sin 
Gürtel  was  von  einer  Eichenwied,  und  die  Scheiden  was  fast 
1292  zurissen.  Sein  Gugel  was  gemacht  von  rieden  und  was  ge- 
ftittert  mit  einer  Hirshut  und  sin  Gewand  hat  die  allersnodeste 
Farbe."  So  auch  z.  B.,  wenn  es  hernach  heisst:  „wer  Spreu 
säet,  der  schneidet  Armuth",  so  scheint  uns  das  besser  als  im 
Druck :  der  mähet  bös  Getraide.  —  S.  504  wird  Morolf  für  eine 
Art  Wein  ausgegeben,  es  wäre  erst  zu  fragen,  ob  das  nicht 
eine  Fischartische  Abänderung  für  Moras  ist.  Über  einige  Aus- 
gaben des  lateinischen  und  deutschen  Buchs  vergleiche  man  eine 


NARRENBUCH  TON  F.  H.  VON  DER  HAGEN.  65 

Anzeige  des  Recensenten  im  Neuen  lit.  Anz.  1807,  No.  50 
[=  Kl.  Sehr.  I,  45 — 47],  die  dem  Herausgeber  entgangen  zu  sein 
scheint. 

III.  Der  Pfarrherr  vom  Kaienberg  und  Peter  Leu. 
Beide  Gedichte  haben  einen  sehr  ähnlichen  Charakter,  gute 
Spässe,  etwas  feiner,  als  sie  Eulenspiegel  geliefert,  wiewohl 
dieser  charakteristischer  und  originaler  bleibt;  hier  in  der  Dar- 
stellung mögen  sie  auch  schon  etwas  verloren  haben.  Die  Über- 
einstimmung beider  zeigt  sich  nicht  nur  in  der  Benennung,  indem 
Peter  Leu  der  zweite  Kalenberger  heisst,  sondern  auch  darin, 
dass  in  beiden  eine  ziemlich  gleichlautende  Predigt  vorkommt, 
wodurch  der  Herausgeber  eine  Nachahmung  beweisen  will,  die 
indes  weder  in  der  Vorrede  eingestanden  noch  in  diesem  Sinn 
vorhanden  ist. 

Für  die  historische  Erklärung  beider  Gedichte  ist  nichts 
geschehen,  selbst  Flögeis  so  brauchbares  Buch  über  die  Hof- 
narren [Leipzig  1789],  wenn  gleich  angeführt,  doch  nicht  benutzt, 
wahrscheinlich  nicht  einmal  nachgesehen.  Denn  schwerlich  würde 
der  Herausgeber  es  unterlassen  haben,  anzumerken,  was  sich  aus 
S.  178.  179.  255  bei  Flögel  ergibt,  dass  die  Sage,  worin  der 
Kalenberger  den  Thürhüter,  der  mit  ihm  theilen  will,  betrügt  und 
ihm  Schläge  zuwendet,  mit  geringer  Abweichung  von  dem  tür- 
kischen Hofharren  Nasureddin  Chodscha  erzählt  wird,  femer 
dass  sie  bei  Sacchetti  in  der  195.  Novelle  von  einem  Bauer 
vorkommt,  der  dem  König  Philipp  von  Valois  seinen  verlorenen 
Sperber  wieder  bringt. 

Diese  Übereinstimmungen  aber  sind  hier  ungemein  merk- 
würdig; würden  mehrere  dieser  Art  auch  nur  in  verwandten 
Gedichten  sich  finden,  so  würde  die  Frage,  wie  sie  zu  erklären, 
zunächst  ein  Zweifel,  ob  die  Personen,  die  in  diesen  Gedichten 
leben,  auch  ausser  denselben  gelebt  haben,  sehr  natürlich  und 
vor  allem  zur  L'ntersuchung  interessant  sein.  Ohne  sich  auf 
diese  einzulassen,  behauptet  Hr.  v,  d.  Hagen  (S.  515):  „es  ist 
nicht  zu  zweifeln,  dass  der  Kalenberger  wirklich  gelebt  habe 
und  alles  oder  doch  das  meiste  so  geschehen  sei,  wie  wir  es 
hier  lesen";  hernach  etwas  Ähnliches  vom  Peter  Leu.  Die 
Stütze  der  Behauptung   ist  das  Gedicht  selber,  in  welchem  die 

W.  GRIMM,  KL.  SCHRIFTEN.      II.  5 


6Q  NARRENBÜCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN. 

äusseren  Verhältnisse  der  Kalenberger  vorkommen,  und  beson- 
ders gehört  folgende  Stelle  hierher  (S.  307): 

Darum  hielt  er  (Otto  der  Fröhliche)  die  zween  Mann, 

den  Neithard  und  den  Capellan. 

Dies  führt  auf  die  Frage,  ob  der  Neithart,  der  hier  als  Genosse 
1293  des  Kalenbergers  genannt  wird,  der  bekannte  Meistersänger  sei. 
Da  Hr.  v.  d,  Hagen  sich  im  Anhang  (S.  520  —  525)  auch  auf 
diesen  einlässt  und  ohnehin  Hr.  A.  W.  Schlegel  in  der  Re- 
cension  von  Docens  Titurel  (Heidelberger  Jahrbücher  1811, 
No.  69,  S.  1097.  1098)  der  Schwierigkeiten  in  Bestimmung  des 
Zeitalters  dieses  Dichters  gedenkt,  so  wird  man  es  billigen, 
wenn  wir  bei  ihm  erst  verweilen,  ehe  wir  zu  jenen  Fragen 
zurückkehren,  deren  Beantwortung  dann  auch  erleichtert  sein 
wird. 

Wir  fangen  mit  der  Behauptung  an,  dass  alle  Gedichte, 
die  unter  Nitharts  Namen  auf  uns  gekommen  sind,  sowohl  die- 
jenigen, die  man  in  der  Bodmerischen  Sammlung  abgedruckt 
findet,  als  die,  welche  das  Brentanoische  Manuscript,  das 
Rec.  vor  sich  liegen  hat,  enthält  (auch  das  einzelne  Lied,  das 
Benecke  in  seinen  Beiträgen  wieder  hat  abdrucken  lassen,  ge- 
hört hierher),  von  einem  und  demselben  Individuum  herrühren. 
Man  braucht  nur  leichthin  zu  lesen,  um  dieselbe  charakteristische 
Manier  in  der  Darstellung  und  im  Ausdruck  zu  erkennen;  eben 
so  treten  dieselben  Personen  wieder  auf.  Soll  nun  Nitharts 
Zeitalter  bestimmt  werden,  so  müssen  uns  vor  allen  die  An- 
gaben in  seinen  Gedichten  leiten.  Er  sagt  aber  folgendes  von 
sich  aus:  er  sei  mit  Kaiser  Friedrich  über  das  Meer  in  der 
Heiden  Land  gezogen,  grosse  Noth  habe  er  da  gelitten,  da  die 
Schwerter  der  Feinde  scharf  geschnitten;  ein  heidnischer  Pfeil 
habe  ihn  getroflPen,  da  sei  er  zurück  nach  Haus  gesendet  worden, 
als  er  aber  seine  Gesundheit  wieder  erhalten,  sei  seine  Noth 
mit  den  Torpern  (Tölpeln)  wieder  angegangen."  —  «Die  ihn 
Nithart  genannt,  die  hätten  sein  zu  gut  gedacht,  dass  er  in 
seinem  Muthe  nie  einen  Biedermann  (d.  h.  hier:  einen  Vor- 
nehmen, indem  er  sich  gleich  entgegen  setzt)  sich,  dem  Bauer, 
geneigt  gehalten,  ihrer  Üppigkeit  halber,  die  ihn  zu  Schaden 
gebracht,  gegen  die  Herzogin  von  Baiern"  —  „diese  habe  sein 


NARRESBUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN.  67 

zum  ersten  erdacht"  —  „zwölf  Jahre  sei  er  in  Baiern  ge- 
wesen, eh"  er  dem  Fürsten  von  Oestreich  gegeben  worden,  da 
habe  sich  allererst  sein  Leben  getheuert".  —  Einmal  erzählt  er, 
wie  er  Bauern  als  Mönche  geschoren  zum  Herzog  Otto  nach 
Wien  gebracht.  Alle  diese  Anoraben  enthält  das  Brentan.  Manu- 
Script.  Aus  der  Bodmerischen  Sammlung  (S.  72'"')  ist  hinzu- 
zufügen, dass  Fürst  Friedrich  dem  Nithart  einen  silbervollen 
Schrein  gegeben. 

Der  Hauptpunkt  ist  ohne  Zweifel  die  Erwähnung  des  Kreuz- 
zuges unter  Kaiser  Friedrich  und  geradezu  entscheidend.  Unter 
dem  Kaiser  ist  wohl  nicht  Barbarossa  gemeint,  dieser  konnte 
nach  Zinkgräfs  Behauptung  (Apophthegmata  I,  32)  keine  Schalks- 
narren leiden,  auch  wäre  seiner  bekannten  Todesart  in  dem 
.Kreuzzug  von  1190  wohl  Erwähnung  geschehen;  darum  und 
weil  Nithart  von  einer  Seefahrt  redet,  die  eigentlich  nicht  auf 
diesen  Zug  passt,  ist  wahrscheinlich  von  Barbarossas  Enkel 
Friedrich  ll.  und  dem  Kreuzzug  die  Rede,  den  er  1228  unter- 
nahm, nachdem  er  ihn  bei  seiner  Vermählung  mit  Jolanta  von  1294 
Brienne  fünf  Jahre  vorher  schon  gelobt  und  wegen  Verzögerung 
desselben  von  Gregor  IX.  in  den  Bann  gethan  war.  (Ausge- 
macht ist  es  indes  noch  nicht,  und  nur  so  viel  ausser  Zweifel, 
dass  auf  keinen  anderen  als  auf  einen  von  diesen  beiden  Kreuz- 
zügen die  Stelle  bezogen  werden  kann.  Ist  Nithart  bei  Bar- 
barossa und  Friedrich  dem  Katholischen  von  Oestreich  gewesen, 
so  ist  er  einer  der  ältesten  Dichter.)  Nach  unserer  Annahme 
können  wir  ein  männliches  Alter  voraussetzen,  als  Nithart  mit 
dem  Kaiser  auszog,  und  so  irrt  man  schwerlich  bedeutend,  wenn 
man  annimmt,  dass  seine  Jahre  mit  denen  des  13.  Jahrhunderts 
zu  zählen  sind ;  eher  indessen  dürfte  er  etwas  älter  als  jünger  sein, 
da  er  schon  12  Jahre  in  Baiern  gewesen,  als  er  nach  Oestreich 
kam,  und  dort  wenigstens  ein  jugendliches  Alter  hatte.  Der 
Fürst  von  Oestreich,  dem  er  gegeben  wurde,  dessen  Gunst  er 
80  sehr  rühmt,  kann  nicht  leicht  ein  anderer  als  Friedrich  der 
Streitbare,  der  letzte  Bamberger,  gewesen  sein:  ein  frischer 
Herr,  wie  ihn  Aventin  nennt,  der  wohl  seine  Lust  an  dem  Nit- 
hart gehabt  hat;  auch  passt  das  Loblied  auf  den  allein  muthigen 
Fürsten  von   Osterland  (Bodmer  76-^)    recht    wohl    auf  diesen. 


68  NARRENBUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN. 

Friedrich,  geb.  1211,  starb  bekanntlich  schon  1246.  Der  Herzog 
Otto,  dessen  Nithart  einmal  gedenkt,  muss  nach  ihm  gelebt 
haben;  wir  werden  hernach  auf  ihn  zurückkommen.  Obiger 
Annahme  fügen  sich  auch  die  Erwähnungen  des  Nitharts  bei 
den  Dichtem  des  13.  Jahrhunderts.  Eschenbach  gedenkt  seiner 
nicht  nur  im  Titurel,  sondern  auch  in  einer  bisher  übersehenen 
Stelle  des  Wilhelm  von  Oranse  (S.  140")  [312,  12—14]: 

hett  iz  (das  Schwert  Rennwarts)  her  nithart  gesehen 

oter  sinen  gobowel  tragen 

her  begund  iz  sinen  vrounden  clagen. 

Als  Theilnehmer  an  dem  Wartburger  Krieg  dürfen  wir  diesem 
um  1207  ein  männliches  Alter  zuschreiben,  und  es  ist  ohne 
Zweifel,  dass  er  noch  in  dem  12.  Jahrhundert  geboren,  und  wahr- 
scheinlich, dass  er  in  der  ersten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  viel- 
leicht um  1230  gestorben  ist.  Lässt  ihn  Hr.  Büsching  (Altdeutsches 
Museum  I,  6)  nur  bis  in  den  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  leben, 
so  ist  es  ungleich  irriger  und  geradezu  unbegreiflich,  wie  Hr. 
v.  d.  Hagen  S.  526  Note  behaupten  kann,  Wolfram  müsse  bis 
tief  ins  13.  Jahrhundert  gelebt  haben.  Eschenbach  war  noch  des 
Nitharts  Zeitgenosse,  nur  älter.  Heinrich  von  Vriberc,  den  wir 
als  Nachfolger  des  Gottfried  von  Strassburg  nicht  weit  hinter 
die  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  setzen,  erwähnt  der  Lieder  Nitharts, 
aber  nichts  ausdrücklich  von  seinem  Tod.  Robin  und  Marner 
dagegen  beklagen  schon  den  todten  Nithart,  dass  beide  aber 
auch  gegen  das  Ende  des  13.  Jahrhunderts  schon  gestorben  waren, 
ist  wiederum  aus  der  Klage  des  Herman  Damen  (hinter  dem 
Iwain  der  Müller.  Sammlung  V,  310)  über  den  todten  Nithart, 
Robin  und  Marner  nicht  zu  bezweifeln:  eine  deshalb  merkwürdige 
1295  Stelle,  die  Hr.  v.  d.  Hagen  nicht  angeführt  hat.  Herman  Damen 
aber  als  Zeitgenosse  des  Conrad  von  Wirzburg  und  des  Meisners 
oder  Frauenlobs  gehört  auch  noch  in  das  13.  Jahrhundert.  Mar- 
ners  Zeit  wird  noch  deutlicher,  wenn  wir  bemerken,  dass  Ru- 
melant  aus  der  zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  des  Alters  jenes 
Dichters  spottet  (Altd.  Museum  II,  154).  (Übrigens  könnten 
die  Stellen,  die  über  Nithart  in  späteren  Gedichten  sich  finden 
und  die  hier  weiter  von  keinem  Einfluss   sind,   leicht  vermehrt 


NARREXBUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN.  69 

werden.     In   dem  Apollonius  von   Tyrland   heisst  es   nach   der 
Gothaischen  HS.  V.  7833: 

er  was  ir  meister  worden  sa, 

als  engelmair  in  dem  gew. 

In  dem  Manuscript  eines  allegorischen  Gedichts  über  die  Strafe 
der  Untreue  p.  m.  43. 

—  Zeiselmure, 

da  manichen  ^•ilzgebur 

her  nithard  hat  gesungen. 

Auch  in  der  Mörin  kommt  noch  eine  Stelle  vor,  die  der  eilige 
Verf.  übersehen,  ed.  1512,  f.  42  ^ 

ich  sprach:    nein,  eckart.  das  lass  ston, 
als  neithart  sang  zu  einem  mal. 

dann  bei  Hans  Sachs.) 

Es  geht  aus  allem  diesem  ohne  Widerrede  hervor,  dass 
Nithart  auf  keine  Weise  in  Diensten  oder  in  der  Gesellschaft 
Otto  des  Fröhlichen  von  Oestreich  hat  leben  können,  der  ganz 
dem  14.  Jahrhundert  angehört.  Selbst  zwischen  dessen  Geburt 
(1301)  und  Nitharts  Tod  liegt  einige  Zeit.  Da  wir  nun  den  Kalen- 
berger  bestimmt  als  Ottos  Zeitgenossen  sehen,  so  ist  ferner  ein- 
fache Folge,  dass  beide  Lustigmacher  sich  nicht  gekannt  und 
mit  einander  Verkehr  gehabt  haben.  Es  wäre  schon  ein  wich- 
tiger Grund  dagegen,  dass  in  des  Kalenbergers  Streichen  nicht 
eine  Beziehung  auf  den  Nithart  vorkommt,  während  doch  bei 
einem  Zusammenleben  sich  ihre  Schwanke  mannigfach  müssten 
gekreuzt  haben;  es  wundert  uns,  dass  dem  Hrn.  v.  d.  Hagen 
dieses  nicht  aufgefallen  ist;  kommt  dazu,  was  wir  aus  dem 
Manuscript  vollständig  versichern  können,  dass  auch  bei  Nit- 
hart keine  Spur  von  dem  Kalenberger  sich  findet,  so  würde 
dies  allein  jene  Behauptung  sehr  zweifelhaft  machen. 

Die  Hauptstelle  dafür  ist  die  aus  dem  Gedicht  selber  vorhin 
angeführte.  Unter  den  übrigen  Schriftstellern,  die  sie  enthalten, 
hätte  der  zuerst  reden  müssen,  welcher  der  älteste  ist,  Aventin 
(den  aber  Hr.  v.  d.  H.  bloss  citirt),  er  sagt  (Bair.  Chronik  Hft. 
1580,  f.  390''):  „bey  diesem  Herzog  Otto  (dem  Fröhlichen)  aus 
Oestreich  und  seinem  Gemahl,  Frauen  Elsen  aus  Niederbayern, 
seind  am  Hof  gewesen:  Neithart  Fuchs,  ein  Franke  und  Hans 


70  NARRENBUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN. 

PfaflF,  Pfarrherr  zu  Kaienberg,  von  dem  man  so  viel  singet  und 
1296  saget."  —  Hier  finden  wir  zuerst  die  neue  Bestiinmung,  dass 
Nithart  auch  Fuchs  geheissen  und  ein  Franke  gewesen.  Fugger 
sagt  dasselbe  von  Nithart,  nur  setzt  er  hinzu,  dass  er  der 
Bauern feind  genannt  worden  (auch  den  Kalenberger  nennt  er 
abweichend  vom  Aventin  Weigand  von  Theben).  Die  anderen, 
Fischart,  Roo  usw.,  die  der  Verf.  anführt,  schreiben  ofienbar 
dem  Fugger  nach  und  verdienen  hier  weiter  keine  Berück- 
sichtigung, eben  dies  ist  mit  Ludwig  in  germania  princeps  der 
Fall  (Koch  hat  falsch  citirt,  die  hierhergehörige  Stelle  findet 
sich  nach  der  Ausgabe  von  1725  S.  15  in  der  östreichischen 
Genealogie).  Spangenberg  führt  noch  das  Jahr  1290  an,  wo 
Nithart  an  Ottos  Hof  soll  gelebt  haben. 

Wir  erklären  diese  Angaben  geradezu  für  falsch :  es  ist  ein 
überlieferter  Irrthum  darin,  den  wahrscheinlich  der  Verf.  des 
Kalenbergers  zuerst  aufgebracht  hat.  Weitere  Beweise  sind 
nach  dem  oben  Ausgeführten  nicht  nöthig,  sonst  könnte  einer 
aus  Spangenbergs  Angabe  der  Zeit  geführt  werden,  da  Otto 
der  Fröhliche  erst  im  14.  Jahrhundert  geboren  wurde;  wir  wissen 
nicht,  wie  sogar  dieser  Widerspruch  dem  Hrn.  v.  d.  Hagen  ent- 
gangen ist.  Wollte  man  die  Entstehung  des  Irrthums  erklären, 
so  könnte  man  annehmen,  dass  der  Herzog  Otto,  den  Nithart 
in  einem  Gedicht  anführt,  von  dem  Dichter  des  Kalenbergers 
für  Otto  den  Fröhlichen,  nicht  sonderlich  um  chronologische  Wider- 
sprüche bekümmert,  auf  gut  Glück  angenommen  worden.  In- 
dessen bleibt  es  immer  schwierig  zu  bestimmen,  wer  unter  diesem 
H.  Otto  gemeint  ist,  und  nur  die  Hauptsache  gewiss,  dass  an 
Otto  den  Fröhlichen  nicht  kann  gedacht  werden.  Nach  Frie- 
drichs des  Streitbaren  Tod  entstanden  bekanntlich  Uneinigkeiten 
über  die  Erbfolge  in  die  östreichischen  Länder;  obgleich  Kaiser 
Friedrich  II.  sie  schon  für  ein  erledigtes,  ihm  anheimgefallenes 
Reichslehen  erklärte,  so  gelangte  doch  erst  Rudolf  von  Habs- 
burg in  den  ruhigen  Besitz  derselben,  der  sie  dem  Ottokar  von 
Böhmen  abgewinnen  musste.  Rudolf  gab  seine  Tochter  Catha- 
rina  einem  Herzog  Otto  von  Baiern  zur  Gemahlin  und  ihr  zur 
Ausstattung  das  Land  ob  der  Ens.  Dieser  Otto  müsste  sich 
zu  Wien    befunden    und    Nithart    ihm    die   Lust  mit    den  be- 


NARREXBUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN.  71 

trogenen  Bauern  gemacht  haben,  nur  werden  dann  seine  Lebens- 
jahre in  die  siebziger  Jahre  weit  hinaufgerückt,  was  sich  immer 
noch  mit  den  obigen  Angaben  vereinigen  lässt,  wiewohl  er  nicht 
viel  länger  kann  gelebt  haben.  Friedrich  II.  hatte  nach  des 
Bambergers  Tod  und  auch  früher  einmal,  als  dieser  in  die  Acht 
erklärt  war,  einen  Grafen  Otto  von  Eberstein  nach  Wien  zum 
Reichsverweser  gesetzt,  nur  darf  man  nicht  annehmen,  dass  er 
lang  sein  Amt  behauptet,  und  das  macht  es  schwierig,  wenn 
man  diesen  darunter  verstehen  will. 

Indessen  hat  der  Irrthum,  der  den  Nithart  und  den  Kaien-  1297 
bersrer  zusammenscestellt ,  noch  eine  andere  Seite,  die  wir  be- 
rücksichtigen  wollen.  Offenbar  nämlich  liegt  der  Gedanke  zum 
Grund,  dass  beide  eine  gewisse  Ähnlichkeit  im  Charakter  ver- 
bindet. Es  scheint  wirklich,  dass  Nithart  wie  der  Kalenberger 
ein  Lustigmacher  von  Profession  gewesen.  Vielleicht  war  er 
in  Meissen  zu  Haus,  denn  nach  einem  Lied  des  Brentanoischen 
Manuscripts  zog  er  durch  stolzen  Muth  und  durch  seine  Frau 
aus  Meissen  in  das  Elend,  in  ein  fremdes  Land.  (Es  ist  darum 
wahrscheinlich,  dass  Gottsched  dies  Manuscript  gekannt,  denn 
er  nennt  den  Nithart  einen  Meissnischen  Edelmann,  was  Flögel 
sich  nicht  erklären  konnte  und  was  er  auch  wohl  nicht  war, 
vermuthlich  ein  Bürger.)  Er  kam  mit  guter  Zuversicht,  ohne 
Mangel  an  Ross  und  Gewand  nach  Nürnberg,  dort  wollte  er 
sich  dem  Reichsvogt  (Otto  IV?)  bekannt  machen.  Einer  fragte 
ihn,  ob  er  ihm  halb  geben  wolle,  was  der  Fürst  an  ihm  thue 
(hierin  liegt  eine  Ähnlichkeit  mit  des  Kalenbergers  erstem 
Streich),  so  wolle  er  ihn  vor  ihn  bringen;  Nithart  aber  besann 
sich  auf  einen  Schwank.  Er  gab  hundert  oder  mehr  Bürgern 
jedem  einen  Regensburger  (beiläufig:  auch  dieses  bestimmt  in 
etwas  Nitharts  Zeitalter,  indem  Herzog  Otto  von  Baiem,  der 
1253  gestorben,  diese  Münze  während  seiner  Regierung  unter- 
drückt hatte,  nach  Aventin  S.  377''),  ihm  ein  Paar  Hosen  kaufen 
zu  helfen,  die  überhaupt  nur  18  Regensburger  kosten  sollten, 
wodurch  ein  Zusammenlauf  und  ein  schimpfliches  Spotten  ent- 
stand. Der  Fürst,  der  aufmerksam  darauf  geworden  war,  liess 
ihn  holen,  und  er  ward  nun  vor  ihn  und  die  Herzogin  geführt. 
Es   scheint,    dass   er  einmal   mit   einigen   Edeln   Streit   gehabt, 


72  NARRENBUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN. 

ihrer  Üppigkeit  halber,  und  sie  aus  Rache  es  bei  der  Herzogin 
dahin  brachten,  dass  er  genöthigt  ward,  das  Amt  eines  Lustig- 
machers zu  übernehmen;  so  legen  wir  wenigstens  die  Worte 
aus:  „die  (Herzogin)  mein  zum  ersten  erdachte."  Die  tölpische 
Verschlagenheit  und  fast  unbeholfene  Lust,  Streiche  zu  spielen, 
überhaupt  diese  Mischung  von  Klugheit  und  Dummheit,  die  ihn 
charakterisirt,  machten  ihn  ganz  passend  zu  diesem  Handwerk. 
Die  Dichtkunst  hatte  er  schon  getrieben,  denn  er  sagt  bei  seinem 
1298  Einzug  in  Nürnberg:  „ich  sang  aus  meines  Dichtes  Werk" 
(Brent.  Ms.);  und  dass  er  nicht  eigentlich  aus  dem  Bauernstand, 
ist  wahrscheinlich,  da  er  deutsche  Bücher  lesen  konnte  (Bodmer 
79'^).  In  Baiern,  scheint  es,  hat  man  ihn  hart  gehalten,  denn 
als  er  hernach  dem  Fürsten  von  Oestreich  gegeben  wurde,  hat 
sich  erst,  wie  er  sagt,  sein  Leben  getheuert.  Aus  Oestreich 
muss  er  nun  den  Kreuzzug  1228  mitgemacht  haben,  vielleicht 
doch  um  sich  seiner  Lage  zu  entziehen ;  als  er  zurückgekommen, 
klagt  er,  sei  seine  Notli  mit  den  Torpern  wieder  angegangen, 
er  habe  gedacht,  sie  hätten  sich  geändert,  aber  sie  hätten  noch 
in  der  alten  Haut  gesteckt.  Merkwürdig  ist  auch,  dass  er  S.  79^ 
die  Marke  verwünscht,  wo  er  und  mancher  Flemink  un- 
sanfte leben  müssen,  was  vielleicht  daraus  erläutert  wird,  dass 
Fr.  des  Str.  Vater  Leopold  (f  1230)  flandrische  Münzmeister 
berief.  S.  Hormayrs  T.-B.  f.  vaterl.  Gesch.  1811,  S.  212.  Eines 
Zugs,  den  er  nach  Baiern  gemacht,  gedenkt  Nithart  auch  (Bod- 
mer 79*^)  und  eines  Bischofs  Eberhard,  welches  der  Bischof  E, 
von  Salzburg  sein  könnte,  der  zwischen  Friedrich  dem  Streit- 
baren und  Otto  von  Baiern  einen  Waffenstillstand  vermitteln 
half.  (S.  Hormayr  am  angef.  O.  S.  256.)  Reuenthal,  das  nach 
mehreren  Stellen  ihm  eigen  (Ms.  und  Bodmer  80**.  83^),  nach 
einer  Stelle  im  B.  Mspt.  ihm  und  seinem  Bruder,  ist  wahr- 
scheinlich ein  allegorischer  Name.  Einmal  ergibt  sich  von  ihm 
im  B.  Mspt.,  dass  er  zu  den  „Singern  in  Wien"  gehört,  und 
von  Wien  aus  trieb  er  auf  dem  Mark-  und  Tulnerfeld  und  zu 
Zeiselmauer  seine  Streiche  mit  Engelmair  und  den  Bauern. 

Der  Kalenberger  mit  Nithart  verglichen  ist  behender  und 
besser  in  seinen  Listen.  Nitharts  Gedichte  bei  aller  mühsamen 
Ausführung  sind  doch  nicht  fein  und  mit  den  Minneliedern  gar 


NARRESBUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN.  73^ 

nicht  in  eine  Reihe  zu  setzen.  Manchmal  klingt's  in  dem  Ton 
derselben,  aber  dann  bricht's  ab  und  zart  und  leichtschwebend 
ist  kein  einziges  Lied  wie  dort.  Viele  sind  derb  unzüchtig: 
die  Gedichte  heben  fast  alle  in  dem  ersten  Vers  mit  einem  Lob 
des  Frühlings  oder  mit  der  Klage  über  den  Winter  an,  oft  ohne 
weiteren  Zusammenhang.  Das  Metrum,  obgleich  auf  der  einen 
Seite  schwer  und  gar  nicht  volksmässig,  ist  doch  wieder  eigen- 
thümlich  und  hat  manchmal  die  Bewegung  der  Bauerntänze. 
Übereinstimmung  in  den  Schwanken  bei  Nithart  und  dem 
Kalenberger  findet  sich  eigentlich  nicht,  dagegen  sehen  wir 
mehrere  Scherze,  die  Nithart  ausgeführt,  auch  anderen  zuge- 1299^ 
schrieben.  Einmal  (nach  dem  Mscpt.)  wiU  der  Herzog  Nit- 
harts  Frau  besuchen,  Nithart  sagt  ihm,  seine  Frau  sei  zwar 
schön,  aber  leider  taub,  dasselbe  sagt  er  ihr  vom  Herzog  und 
sie  müsse  laut  reden;  wie  dieser  kommt,  umfasst  ihn  die  Frau 
und  schreit  ihm  in  die  Ohren,  dass  ihm  das  Haupt  erklingt  und 
er  erschrocken  zurückkehrt;  denselben  Schwank  finden  wir  bei 
Gonella,  einem  der  berühmtesten  Hofharren  des  15.  Jahrhunderts  am 
Hofe  zu  Ferrara  (Flögel  307);  auch  von  Brusquet,  einem  Fran- 
zosen aus  dem  16.  Jahrhundert,  wird  er  erzählt  (Flögel  358,  der  noch 
andere  Citate  hat).  Durch  diesen  Gonella  wird  Nithart  mit  dem 
Eulenspiegel  verbunden,  indem  diese  in  mehreren  Streichen  über- 
einstimmen. Beide  nämlich,  als  sie  des  Landes  verwiesen  sind, 
helfen  sich  auf  ähnliche  Weise:  Gonella  kommt  auf  einem  mit 
seiner  Erde  angefüllten  Wagen  gefahren,  Eulenspiegel  schlitzt 
sein  Pferd  auf  und  stellt  sich  hinein,  als  wäre  er  zwischen  seinen 
vier  Pfählen  (Flögel  206);  Brusquet  gehört  auch  hierher,  denn 
er  trägt  fremde  Erde  in  seinen  Schuhen,  und  Pape  Theun,  der 
Hofnarr  Carls  V.,  der  es  wie  Gonella  machte  (Flögel  374.  206). 
Beide  sagen  mehreren  Blinden,  sie  hätten  einem  unter  ihnen 
etwas  gegeben,  so  dass  jeder  meint,  der  andere  habe  das  Ge- 
schenk, und  sie  Zank  darum  anfangen  (Flögel  308).  Der  Schwank 
mit  der  Viole,  die  Nithart  der  Herzogin  zeigt,  der  übrigens 
nicht  im  B.  Mscpt.  wie  bei  Hans  Sachs  mit  dem  von  der  vor- 
geblichen Taubheit  verbunden  ist,  knüpft  den  Nithart  an  den 
Taubmann,  dem  er  gleichfalls  zugeschrieben  wird. 

Scheint  auf  diese  Art  das  Eigenthumsrecht  oft  der  am  besten 


74  NARRENBUCH  VON  F.  H  VON  DER  HAGEN. 

erfundenen  Scherze  zweifelhaft  zu  werden,  indem  wir  sie  überall 
doch  wiederum  so  eigenthümlich  angeknüpft  und  verschieden 
sehen,  dass  ein  Hinzutragen  von  irgend  einem  Sammler  der- 
selben kaum  denkbar  ist,  so  kommen  wir  damit  auf  die  früher 
geäusserte  und  noch  zurückgeschobene  Frage  zurück,  ob  die 
Personen,  denen  sie  zugeschrieben  werden,  auch  wirklich  gelebt 
und  sich  alles  auf  diese  Weise  zugetragen  habe.  Man  kann 
darauf  mit  ja  und  nein  antworten,  wenigstens  hat  das  ja  hier 
einen  anderen  Sinn,  als  in  welchem  es  der  Verf.  ausgesprochen. 
Diese  Personen  sind  nämlich  durchaus  mythische.  Schon 
wenn  man  das,  was  Flögel  gesammelt,  durchliest,  so  muss  es 
der  leichtesten  Betrachtung  auffallen,  wie  sich  die  Scherze 
wiederholen  in  den  verschiedensten  Individuen,  welche  Jahr- 
hunderte oder  Länder  so  trennen,  dass  an  ein  äusserliches  zu- 
fälliges Mittheilen  oder  Abborgen  nicht  kann  geglaubt  werden. 
Ohnehin  aber  ist  oft  nicht  von  einer  Handlung,  die  bloss  von 
dem  Einzelnen,  sondern  die  von  mehreren  abhängig  ist,  die 
Rede;  wiederum  von  einer  solchen,  die  einen  entscheidenden 
Einfluss  auf  das  Leben  des  Einzelnen  gehabt.  Wenn  wir  von 
Gonella  lesen,  dass  er  vor  Schrecken  über  eine  bloss  fingirte 
Todesstrafe,  da  sein  Herr  ihm  bloss  einen  Eimer  Wasser  auf 
den  Kopf  schütten  liess,  starb,  so  wird  man  ohne  weiteres 
1300  glauben,  dass  Claus  Hinze  am  Hofe  des  Herzogs  von  Pommern, 
wenn  dasselbe  von  ihm  erzählt  wird,  nicht  aus  Nachahmung  so 
gestorben  sei;  so  wenig  wie  der  Thürhüter,  der  mit  dem  Kalen- 
berger  die  Gabe  getheilt,  den  an  Tamerlans  Hofe  sich  wird 
zum  Muster  genommen  haben.  So  zeigt  es  sich  auch  hier,  dass 
ein  Mythus  lebt,  der  keinem  Individuum  zugehört,  sondern  all- 
gemein ist,  der  sich  freilich  aber  immer  in  einem  Individuum 
äussern  muss.  Derjenige  aber  war  berufen,  den  Mythus  oder 
die  Sage  besonders  aufzufassen,  in  dessen  Natur  dazu  eine  eigene 
Empfänglichkeit  gelegt  war.  In  ihm  ward  wieder  lebendig,  was 
die  Tradition  verliehen,  und  was  wir  bei  der  ernsthaften  Sage 
schon  mannigfach  beobachtet,  das  vermissen  wir  auch  hier  bei 
der  scherzhaften  nicht;  sodann  aber  was  das  Individuum  nicht 
gethan  oder  in  ihm  nicht  zur  Äusserung  gelangen  konnte,  ward 
ihm  dennoch  hinzugegeben  aus   dem  alten  Schatz.     Dazu  kam 


KAERENBUGH  VON  F.  H.  TON  DER  HAGEN.  75 

endlich  das,  worin  das  eigenthümliche  Leben  des  Einzelnen  sich 
kund  gegeben,  wodurch  die  Tradition  besonders  gefärbt  und 
ausgedehnt  wurde.  Den  Unterschied  zeigt  die  Geschichte,  dass 
früher  der  mythische  Charakter  bestimmter  und  reiner  hervor- 
tritt, der  später  von  der  Anmassung  des  Einzelnen  zurückge- 
drängt wird. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  diesen  wichtigen  Gegenstand 
weiter  auszuführen,  nur  soviel  musste  erwähnt  werden,  um 
diesen  Gedichten  ihren  mythischen  Charakter  zu  erwerben. 
Können  wir  also  auf  der  einen  Seite  behaupten,  Nithart,  der 
Kalenberger  haben  wirklich  in  einem  solchen  Kreise  und  in 
solchen  Äusserungen  gelebt,  so  ist  es  auf  der  anderen  wahr, 
dass  sie  mit  Gonella,  Brusquet,  Eulenspiegel  nur  eine  und  die- 
selbe Person  sind,  nach  ihrer  Natur  wieder  im  Einzelnen  ver- 
schieden, und  dass  die  Erfindung  dieser  Scherze  keinem  zuge- 
hört oder  auch  jeder  ein  gleiches  Recht  darauf  hat.  Manches 
wird  sich  aus  dieser  Ansicht  erklären,  eben  weil  mit  den  Men- 
schen nicht  die  Dichtung  starb,  so  sind  die  Angaben  von  ihrer 
Lebenszeit  so  verschieden  und  oft  geradezu  gegen  die  Chrono- 
logie; wie  wir  dieses  bei  Nithart  bemerkt,  so  findet  sich  bei 
dem  Eulenspiegel  ein  Gleiches,  Flögel  (461)  wusste  kein  anderes 
Auskunftsmittel  als  zwei  Eulenspiegel  anzunehmen,  welches,  nur 
recht  verstanden,  auf  den  rechten  Weg  geführt  hätte. 

Was  die  Namen  betriflPt,  so  ist  der  des  Nitharts  unstreitig 
ein  mythischer,  er  bedeutet  einen  neidischen,  schadenfrohen,  der- 
gleichen Nithart  in  Beziehung  auf  die  Torper  war.  Er  sagt 
selbst  von  ihnen,  Brent.  Manusc. ; 

so  ist  mein  gedenken, 

wie  ich  s'  mocht  krenken 

vnd  geschenken 

in'  do  mit, 

das  sie  alle  wurden  krank: 

darnach  so  stet  mein  Gedank; 

so  ist  ir  springen  ATid  ir  sprank 

gar  geleich  den  pocken  (Böcken). 

Gayler  von  Kaisersperg  braucht  das  Wort  in  dieser  allgemeinen  1301 
Bedeutung,  und  wir  besitzen  eine  kleine  Fabel  in  Handschrift, 
de  nythardo  überschrieben,  welche,  als  Gleichnis  von  einer  nei- 


76  NARRENBUCH  VON  F.  H.  VON  DER  HAGEN. 

dischen  Frau,  von  einem  neidischen  Hund  handelt.  Das  Wort 
kommt  überein  mit  dem  nordischen,  auch  altdeutschen  Niding 
und  Nidingswerk.  Wenn  in  den  altdänischen  Kämpeviser  der 
Niflungenschatz  auch  einmal  Nidingsskat  genannt  wird,  so  ist 
diese  Verfälschung,  darf  man  anders  so  sagen,  des  ursprüng- 
lichen Namens  gewiss  entstanden,  weil  sie  einen  passenden  Sinn 
gab:  beneideter  Schatz,  denn  er  wurde  immer  dem  Besitzer 
missgönnt.  Hierzu  kommt  endlich,  dass  Nithart  selbst  (im  Brent. 
MS.)  erzählt,  wie  er  den  Namen  erhalten:  als  er,  wie  erwähnt 
ist,  der  Herzogin  vorgestellt  wurde,  sagte  der,  welcher  ihn  an 
des  Fürsten  Hof  zu  bringen  versprochen,  dem  es  Nithart  aber 
nicht  verdanken  wollte: 

ir  seyt  ein  geitig  man, 

ir  seit  mein  gewartet  han. 

wie  lang  seit  ich  eur  warten? 

Sye  schrihen  all:   er  heist  neythard; 

der  nom  mir  da  beruffet  ward, 

der  muss  mir  do  beleyben; 
vil  manig  zeit  vnd  manig  tag 

kund  ich  in  nie  uertreiben. 

Der  Beiname  Fuchs  und  Bauernfeind,  den  Aventin  und  die 
anderen  noch  anführen,  mag  von  diesen  selbst  oder  aus  Volks- 
sagen herrühren,  es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  dass  der  erstere 
von  dem  ziemlich  gleichlautenden  ß einhart  Fuchs  genommen 
ist;  aus  Nitharts  Gedichten  erhellt  nicht,  dass  er  ihn  bei  seinen 
Lebzeiten  geführt.  Viele  von  den  bäurischen  Namen  in  den 
Gedichten  scheinen  gleichfalls  bedeutende  und  von  ihm  gebildete 
zu  sein,  z.  B.  Holenschwamm,  Bolzmann,  Pachenpaws  (Paus- 
backen), Snabelraws,  Lobenspot  (im  B.  Ms.),  Rumpholz,  Krump- 
holz (Bodmer  79'').  Dass  Eulenspiegel  ein  symbolischer  Name 
sei,  hat  Kanne  neuerdings  vortrefflich  gezeigt.  Der  Pfarrherr 
vom  Kaienberg  ist  zwar  kein  solcher,  aber  dass  man  nicht  einig 
über  den  seinigen,  beweisen  die  verschiedenen  Angaben  bei 
Aventin  und  Fugger. 

Damit  schliessen  wir  diese  Recension ;  wir  hoflfen  den  darin 
vergönnten  Raum  nicht  unnütz  angewendet  zu  haben  und  bitten 
nur  noch  den  Hrn.  v.  d.  Hagen,   wenn   er  dieses  Buch  fortzu- 


BOXERS  EDELSTEIN  VOX  J.  J.  ESCHEXBURG.  77 

setzen  gedenkt,  keins  zu  liefern,    das   dem  vorliegenden  gleich 

sei,  in  welchem  das  allein  nicht  schlecht  ist,  was  nicht  von  ihm 

herrührt. 

[anonym.] 


BOXERS  EDELSTEIN,  2485 

in  hundert  Fabeln.     Mit  Varianten  und  Worterklämngen  herausge?eben  von 

Johann  Joachim  Eschenburg.     Berlin,  bey  Unger.     1810.     325  S.     8. 

ä  Thlr.  12  Gr.) 

Leipziger  Litteratur-Zeitung  für  das  Jahr  1812.    Zweites  Halbjahr.    No.  311,  am 
14.  December  1812.    S.  2485—2487. 

JL/er  um  die  deutsche  Litteratur  verdiente  Herausgeber 
theilt  uns  hier  wieder  einiores  von  seinen  Bemühunoren  im  Fache 
der  altdeutschen  mit.  Im  Besitz  mancher  litterarischen  Hilfs- 
mittel hätte  er  uns  nur  öfter  mit  seinen  Arbeiten  beschenken 
sollen,  und  wir  müssen  die  Umstände  bedauern,  die  ihn  bis 
daher  abgehalten.  Hier  liefert  er  Boners  Fabeln  in  einer  neuen 
Auflage,  ein  an  sich  verdienstliches  Unternehmen,  da  die  Zürcher 
Ausgabe  schwer  zu  haben  und  ausserdem  nicht  ganz  vollständig 
ist.  Die  Fabeln  selbst  verdienen  alle  kritische  Sorgfalt;  sind 
einige  für  den  poetischen  Eindruck  zu  kurz,  so  haben  andere 
und  nicht  gerade  wenige  eine  angenehme,  gar  nicht  leere  Aus- 
führlichkeit. Sein  ansehnlicher  Apparat  musste  es  dem  Heraus- 
geber erleichtern,  der  vorliegenden  Ausgabe  bedeutende  kritische 
Vorzüge  vor  der  Bodmerischen  zu  geben.  Es  fehlt  daher  nicht, 
dass  in  manchem  der  Text  gewählter  ist,  ausserdem  ist  er  durch 
die  Interpunction,  die  bei  Bodmer  fehlt,  erläutert,  die  wichtigsten 
Varianten  der  benutzten  Quellen  sind  gesammelt,  endlich  aber, 
was  dieser  Ausgabe  einen  bestimmteren  Werth  gibt,  es  sind 
noch  sieben  neue  Fabeln,  nämlich  1,  95  — 100  (da  bei  Bodmer 
24  und  25  durch  Verzählen  fehlen  und  23  bei  Eschenburg  in  2486 
2  Nummern  abgetheilt  ist,  so  laufen  mit  26  die  Nummern  in 
beiden  Ausgaben  wieder  beisammen),  endhch  Eingang  und 
Schlussrede  hinzugegeben.  Wir  haben  den  neuen  mit  dem 
Bodmerischen   Text  verglichen    und   mehrere   Stellen   gefunden, 


78  BONERS  EDELSTEIN  VON  J.  J.  ESCHENBURG. 

WO  wir  diesen  lieber  beibehalten  gesehen   hätten;    einige  davon 
vrollen  wir  zum  Beweis  unserer  Aufmerksamkeit  anführen. 
S,  9.     der  wäre  lustiglich  und  gut, 
Bodmer:    suesslich 
besser  und  nothwendig,  weil  sich  Bitterkeit  und  Süssigkeit  V.  17 
und  18  darauf  beziehen.    S.  28  spricht  das  Schaf  zu  dem  Wolf: 

du  hast  um  ein  Jahr  unrecht  gezahlt 
ich  bin  nicht  sieben  Jahr  alt. 

Bodmer:  du  hast  mir  min  jar  unrecht  gezalt 
ich  bin  nit  siben  monat  alt 

scheint  uns  treflfender,  den  Widerspruch  besser  hervorhebender; 

unmittelbar  darauf  heisst  es: 

du  sprichst,  dass  ich  den  Bach  trübe  dir, 
das  ist  nicht  wahr,  du  trübst  ihn  mir 

Bodmer:   darzuo  sprichst  du,    ich  tröwe  (draüe)  dir 
das  ist  nit  war,  du  tröwest  mir 

hier  ist  die  alte  Lesart  unstreitig  die  allein  richtige,  und  die 
andere  blos  aus  Miss  Verständnis  von  tröwen  entstanden,  denn 
der  Vorwurf  des  Wassertrübens  ist  schon  vorher  dagewesen 
und  widerlegt  worden,  der  Wolf  hat  aber  so  eben  gesagt:  was 
drohst  du  mir  an  den  Leib?  Warum  fehlt  gerade  hier  An- 
gabe der  Variante,  wenn  eine  wirklich  vorhanden  ist? 

S.  39.     ein  Thor  bewährt  sein  Thorheit  wol, 
wann  er  ist  der  Narrheit  voll; 
mit  den  Weisen  er  schimpfen  will; 

Rec.  liest  den  Bodm.  Text  also  interpungirt : 

ein  tor  bewart  sin  torheit  wol; 
wenn  der,  der  narrekeit  ist  vol, 
mit  den  wisen  schimpfen  wil, 

daselbst  ist  das  Schimpfwort  meke,  womit  der  Esel  den  Löwen 
anredet,  mit  dem  schlechteren,  aus  Unverständnis  herrührenden 
gek  des  Bamb.  Drucks  vertauscht.  Alle  Mss.  haben  jenes  oder 
ein  verwandtes  Wort,  das  vielleicht  mit  dem  schwed.  meker, 
nach  Ihre:  ein  weichlicher  Mensch,  der  unmännlich  redet,  gleich- 
bedeutend ist  und  mit  dem  Island,  meka  unmännlich  fein 
reden,  womit  glaublich  m ackern  und  mäkern  der  Ziege  zu- 
sammenhängt.    S.  42  ist  ziger  Käsematte  etwa  ausgefallen. 


BONERS  EDELSTEIN  VON  J.  J.  ESCHENBÜRG.  79 

S.  43.    darum  musst  du  sie  alleine  haben 
Bodmer  besser: 

davon  solt  du  die  vorcht  aUeine  haben. 
S.  45.    ohn  Erbarmde  war  der  Aar, 

dess  nahmen  seine  Kinder  auch  wahr, 

wie  die  jungen  Fuchs  nimmer  waren  froh 

in  des  Aaren  Hand  also 

bei  Bodmer  offenbar  zusammenhängender  und  fliessender: 

an  erbermde  was  der  ar  248T 

noch  minr  sin  kint;  nemet  war, 

wie  der  jemer  muige  werden  fro, 

der  in  des  argen  band  also 

kunt  (d.  i.  kommt),  da  kein  erbermde  ist! 

S.  49  mit  einem  Käs  kam  er  geflogen,  den  er  geraubt  hatte, 
das  Strasb.  imd  vatik.  Ms.  lesen  detaillirter  und  besser:  den  er 
gezogen  von  einem  Speicher  hatte,  S,  55  ist  t reuten  durch 
treten  erklärt,  es  kommt  aber  von  truten,  wie  auch  Bodmer 
liest,  und  heisst  hier:  Liebkosungen  machen,  was  auch  besseren. 
Sinn  gibt,  S.  105  so  kommen  sie  geflogen  als  die  Brem. 
Bodmer:  russent  summend.  S.  107  an  Wonn  an  Freuden 
bin  ich  reich.  Bodmer  sprichwörtlicher  und  alliterirend  bessert 
an  wonn  an  weide,  S,  108  du  bist  voller  aller  Bosheit,  Bod- 
mer: vol  aller.  S,  124  und  er  zerbrach,  Bodm,  uns  bis. 
S.  227  dass  es  uns  beiden  freuen  soll,  wohl  nur  ein  Druck- 
fehler für  beide, 

S,  229.     die  Schalkheit  ihnen  sehr  zerbrach 
der  gute  man  sich  selten  räch 

Bodmer  hat:  zu  sttre  brach,  zur  Säure,  zum  Bösen,  ohne  Zweifel 
richtiger,  selten  für  selben  blosser  Druckfehler. 

Ausserdem  müssen  wir  recht  sehr  beklagen,  dass  Herr 
Eschenburg  die  Vorzüge  seiner  Arbeit  wieder  vermindert  hat, 
indem  er  sich  zu  Gefallen  einer  gewissen  KJasse  von  Lesern  [hat] 
bestimmen  lassen,  von  seiner  früheren,  in  den  Denkmälern  alt- 
deutscher Dichtkunst  befolgten  Weise  abzuweichen  und  den 
Text  zu  modernisiren,  nämlich  die  alte  Mundart  und  (wie  es 
heisst)  unbehilfliche  Orthographie  in  die  neuere  umzusetzen. 
Ein  anderer  Grund,  der  ihn  nach  der  Vorrede  dazu  bewogen 
haben  soll,  ist  offenbar  unbedeutend,  da  man  sich  einige  In- 


80  DIE  EDDA  VON  FR.  RÜHS. 

consequenz  in  den  Varianten  lieber  hätte  gefallen  lassen.  Jemehr 
wir  es  auf  der  einen  Seite  loben  könnten,  dass  der  Herausgeber 
sich  weniger  als  andere  bei  solchen  Arbeiten  erlaubt,  nament- 
lich kein  altes  Wort  ausgestrichen,  sondern  unten  in  Noten  er- 
klärt hat,  um  so  eher  wird  auf  der  anderen  Seite  ein  Tadel 
daraus,  weil  er  theils  jenen  Lesern  sich  zu  weit  entfernt  ge- 
halten, theils  durch  einen  so  geringen  Vortheil  sich  verleiten 
lassen,  von  dem  rechten  Wege  abzuweichen.  Selbst  das  Ab- 
ändern der  alten  Orthographie  und  der  blossen  x\ussprache  ist 
meistentheils  misslich  und  nachtheilig.  Hier  mag  noch  eine 
rechte  Kleinigkeit  als  Beispiel  stehen,  wie  bloss  die  moderne 
Physiognomie  den  Sinn  verrenken  kann.  S.  104  spricht  das 
Ross  zur  Bremse:  du  Schwalbenaas,  was  ist  dein  Zier?  Da 
das  Wort  aas  sich  jetzt  auf  eine  speciellere  Bedeutung  einge- 
schränkt hat,  so  muss  jeder  ohne  Kenntnis  der  alten  Sprache 
dies  hier  für  ein  gemeines  Schimpfwort  nehmen,  was  nur 
Schwalbenspeise  heisst  und  ein  poetischer  Ausdruck  für 
Bremse  ist. 

Dass  die  Zürcher  Ausgabe  etc.  durch  die  gegenwärtige 
überflüssig  geworden,  kann  man  also  nicht  behaupten,  ohnehin 
hat  jene  durch  einige  andere  Zugaben  ihren  eigenen  Werth. 

[anonym.] 


961  DIE  EDDA, 

nebst    einer    Einleitung    über    nordische    Poesie    und    Mythologie    und    einem 

Anhang  über  die  historische  Litteratur    der  Isländer.     Von  Friedrich  Rühs. 

Berlin  in  der  Realschulbachhandlung.     1812. 

Heidelbergische  Jahrbücher  der  Litteratur.  Jahrgang  V  (1812)  Bdll,  No.  61.62. 

S.  962—981. 

j\.\s  die  eigenthümlichste  und  auch  am  sorgfältigsten  be- 
arbeitete Idee  der  ganzen  vorliegenden  Schrift,  insoweit  sie  der 
Untersuchung  gewidmet  ist,  wird  Hr.  Prof.  Rühs  wahrscheinlich 
selbst  diejenige  nennen,  wornach,  was  wir  unter  nordischer 
Poesie   verstehen,   für  weiter  nichts   als   eine  Nachahmung  der 


DIE  EDDA  VON  FR.  RÜHS.  81 

angelsächsischen  gelten  kann.  Man  wird  es  dem  Rec.  erlauben, 
diese  Idee  herauszunehmen,  um  an  sie  zuerst  eine  nähere  Be- 
trachtung zu  wenden.  Die  Ansicht  wird  aber  folgendermassen 
aufgestellt:  über  die  alte  Poesie  des  Nordens  lasse  sich  aus 
Mangel  an  Nachrichten  nichts,  kaum  das  Allgemeine  sagen,  dass 
sie  einmal  müsse  vorhanden  gewesen  sein,  weil  selbst  noch 
rohere  Völker  ihrer  nicht  entbehrt.  Die  angelsächsische  habe 
sich  schon  frühe,  zwar  nicht  aus  sich  selbst,  sondern  nach  den 
Mustern  der  welschen  Barden  gebildet,  und  aus  ihr  sei  durch 
Mittheilung  die  isländische  entsprossen,  eine  aus  fremdem  Lande 
geholte  Blume  nur  von  den  Gelehrteren  gehegt;  und  wie  diese 
Dichtung  dem  Geiste  des  Volkes  entfremdet,  so  habe  sich  selbst 
die  Sprache  darin  von  der  einheimischen  losgerissen.  Norwegen 
und  Dänemark,  an  sich  ohne  Lieder,  haben  erst  von  Island  aus 
einiges  erhalten. 

Grosse  Übereinstimmung  zwischen  der  angelsächsischen  und 
nordischen  Poesie,  wie  in  der  Sprache,  ist  nicht  zu  verkennen, 
und  schon  längst  auch  in  jener  Hinsicht,  besonders  von  dem 
gelehrten  Olafsen  bemerkt  worden.  Begreiflich  kann  diese 
allein  das  Erborgen  durchaus  nicht  beweisen,  weil  man  mit 
gleichem  Recht  die  Behauptung  umdrehen  und  die  angelsächsische 
für  eine  Nachahmung  der  nordischen  ausgeben  könnte,  und  es 
sind  noch  andere  besondere  Gründe  nöthig.  Diese  gibt  auch  962 
Hr.  Rühs  als  die  eigentlich  entscheidenden  S.  113  ff,  an.  Erst- 
lich nämlich  zeige  sich  in  der  angelsächsischen  Poesie  eine  ge- 
wisseTechnik,  namentlich  die  Alliteration,  als  ein  charakteristisches 
Zeichen;  dass  diese  aber  in  der  nordischen,  wo  sie  gleichfalls 
erscheint,  ein  fremdes  Element,  mithin  von  dort  erborgt  sei, 
folge  daraus,  dass  sie  nicht  weiter  bei  dem  germanischen  Stamm, 
selbst  nicht  in  altdänischen  und  altschwedischen  Gedichten  vor- 
komme. Zweitens:  ein  gleiches  Verhältnis  sei  in  der  Sprache 
selbst  sichtbar,  „die  isländische  Dichtkunst  habe  eine  Menge  von 
Wörtern,  die  nicht  in  der  gewöhnlichen"  (altnordischen  und 
heutig  isländischen)  „Sprache,  viel  weniger  in  den  übrigen 
Dialecten  vorkommen,  diese  Wörter  seien  meistentheils  angel- 
sächsisch". 

Beide  Behauptungen   sind   wichtig,  und  wenn  sie  als  wahr 

\V.  GKIMM,   KL.  SCHRIFTE.N.     II.  6 


82  DIE  EDDA  VON  FR.  RÜHS. 

anerkannt  werden  müssen,  geben  sie  Anlass  zu  bedeutenden 
Folgerungen,  daher  wir  sie  so  genau  als  möglich  prüfen  müssen. 
Man  wird  zugeben,  dass  die  Beweiskraft  des  ersten  Satzes 
lediglich  darin  beruht,  dass  sich  das  Gesetz  der  Alliteration 
nirgends  weiter  findet  und  also  etwas  dem  Angelsächsischen 
Eigenthümliches  ausmacht.  Sie  wird  demnach  schon  in  etwas 
geschwächt,  wenn  wir  bemerken,  dass  dieser  Buchstabenreim 
in  der  finnischen  (wie  in  den  vorangehenden  Paragraphen  aus- 
geführt worden,  hier  aber  vergessen  scheint),  dann  auch  in  der 
celtischen  Poesie  vorkommt.  Indessen  die  übrige  ganz  eigene 
alte  Form,  nämlich  Fornyrdalag,  worin  die  Alliteration  im  Angel- 
sächsischen erscheint  (denn  in  der  finnischen  Poesie  bleibt  die 
Alliteration  in  einer  Zeile  und  verbindet  nicht,  wie  im  Nordischen, 
zwei  Theile  oder  Abschnitte  mit  einander,  in  der  celtischen  ist 
sie  nach  Olafsens  Probe  S.  204  auf  eine  ganz  von  der  nordischen 
verschiedene  Weise  angewendet)  und  die  sich  in  der  nordischen 
Poesie  ebenso  wieder  zeigt,  möge  den  Gedanken,  dem  wir 
ohnehin  nicht  Beifall  geben  könnten,  entfernen,  als  sei  dieses 
Gesetz  von  jenen  Völkern  eines  anderen  Stammes  erborgt.  Aber 
etwas  anderes  wirft  sogleich  die  ganze  Behauptung  nieder,  der 
Umstand,  dass  sich  diese  Alliteration  im  Fornyrdalag  der  angel- 
sächsischen und  nordischen  Poesie  auch  in  den  beiden  ersten 
963 Denkmälern  altsächsischer  Dichtkunst  zeigt,  in  den  Evangelien 
und  in  dem  Fragment  von  Hildebrand  und  Hadubrand.  Dieser 
wichtigen  Wahrheit  gedenkt  Hr.  Kühs  hier,  wo  sie  hingehört, 
nicht,  sondern  hat  sie  lieber  an  einen  anderen  Ort  (S.  80)  ge- 
bracht und,  so  gut  es  gehen  wollte,  abgethan.  Seinethalben 
bringt  er  die  Hypothese  auf,  die  Sachsen  hätten  gewiss  eine 
sehr  rohe  Dichtkunst  mit  nach  England  gebracht,  wovon  der 
Beweis  bloss  in  dem  unterstrichenen  Ausdruck  liegt,  und  erst 
durch  die  welschen  Barden  sich  gebildet,  was  durchaus  un- 
gegründet  ist;  dann  führt  er  die  Thatsache  selbst  mit  den  Worten 
ein,  dass  man  noch  keine  „frühere"  Spur  habe,  wonach  die 
Alliteration  als  ein  „allgemeines"  Gesetz  in  Deutschland  könne 
betrachtet  werden  und  dass  es  „scheine",  sie  sei  in  jenen  alt- 
sächsischen Gedichten  vorhanden.  Wir  versichern  dagegen  so 
bestimmt  als  möglich,    dass    es   keine  genauere   Spuren   geben 


DIE  EDDA  VON  FR.  RÜHS.  83 

könne,  dass  es  hier  ganz  gleichgültig,  ob  die  Alliteration  ein 
allgemeines  Gesetz  in  Deutschland  gewesen,  es  spreche  noch 
mehr  gegen  ihn,  wenn  es  bloss  bei  den  Sachsen  gegolten,  was 
übrigens  zu  leugnen  ist,  und  dass  in  diesen  Gedichten  nicht 
bloss  dem  Namen  nach,  sondern  unzweifelhaft  das  angelsächsisch- 
nordische Metrum  vollständig  vorhanden  sei.  Wie  in  dem  Bam- 
berger Manuscript  der  Evangelien,  ist  in  dem  Casselischen  die 
Alliteration  sogar  durch  Punkte  angedeutet,  und  es  fällt  gar 
nicht  schwer,  das  Gedicht  darnach  abzusetzen.  Eine  weitere 
Hypothese  des  Hrn.  Rühs,  diese  Gedichte  „möchten  vielleicht" 
von  einem  Geistlichen  verfasst  sein,  der  sich  das  Muster  bei 
den  Angelsachsen  geholt,  verdient  keine  Antwort.  Endlich  aber 
ist  in  einem  dritten  und  zwar  fränkischen  alten  Gedicht  die 
Alliteration  eben  entdeckt  und  in  der  neuen  Ausgabe  jenes 
Casselischen  Fragments  entwickelt  worden.  Ausser  dieser  alt- 
deutschen Alliteration  zeigen  sich  auch  in  den  faröischen  Kämpe- 
viser  oder  Rimur  hin  und  wieder  kenntliche  Spuren  davon,  was 
Hr.  Rühs  aus  Olafsen  (S.  200  §  20)  hätte  lernen  können,  falls 
er  es  nicht  absichtlich  hintangesetzt.  Er  bringt  auch  noch  für 
seine  Meinung  vor,  in  England  habe  sich  die  Alliteration,  nach- 
dem der  Reim  schon  eingeführt,  noch  bis  ins  16.  Jahrhundert  er- 
halten; in  den  altdänischen,  schwedischen  und  norwegischen,  so- 
wie in  den  dänischen  Kämpeviser  herrsche  aber  nur  der  Reim. 
Es  ist  auch  hier  das  ganze  wahre  Verhältnis  übersehen :  wie  in  964 
England  findet  sich  im  Norden,  und  noch  später,  Alliteration, 
auch  in  Verbindung  mit  dem  Reim  (worauf  Runhend  beruht), 
selbst  in  ganz  späteren  deutschen  Gedichten,  beides  ajs  Spielerei 
vereinigt.  Was  sich  gereimt  zeigt,  nämlich  in  dem  einfachen 
unmetrischen  Reimpaar,  sind  Übersetzungen  und  Umarbeitungen 
solcher  Gegenstände,  z.  B.  des  Gesetzbuches,  die  aus  innerer 
Nothwendigkeit  kein  Metrum  hatten.  Diese  Art  von  Ab- 
messung war  allgemein  verbreitet,  und  man  kann  sie  eher  wie 
den  Anfang  der  Prosa,  da  man  auf  diese  Weise  sich  bequem 
gebunden  fand,  denn  als  zur  Poesie  gehörend  betrachten,  und 
sie  hat  überall  fast  als  Gegensatz  zu  dieser  bestanden.  In 
diesen  altdänischen  Gedichten  verhält  es  sich  zu  der  ursprüng- 
lichen Alliteration,    wie    etwa   das  Versmass    der    altdeutschen 


84  DIE  EDDA  VON  ER.  RÜHS. 

aus  dem  Welschen  übersetzten  zu  der  epischen  Strophe  des 
Nibelungenlieds.  Indessen  was  wieder  auf  den  ersten  Blick  die 
Sache  entscheidet  und  was  wir  Hrn.  Rühs  als  ein  unredliches 
Verschweigen  anrechnen,  da  es  ihm  nicht  konnte  unbekannt 
geblieben  sein,  ist  der  Umstand,  dass  sich  in  der  englischen 
Poesie  genau  dasselbe  Verhältnis  wieder  findet,  wie  in  der 
nordischen;  die  alten  Gedichte:  Hörn  Child  and  Maid  Ry- 
menild,  Übersetzungen  wie  Ywaine  and  Gawin,  Chronicle  of 
England  usw.  (bei  Ritson  metrical  Romances),  so  alt  und 
noch  älter,  wie  jene  altdänischen  und  altschwedischen,  sind 
sämmtlich  in  diesem  Reimpaar  gemessen;  ausserdem  aber  exi- 
stiren  noch  frühere  Gedichte,  besonders  in  dem  normannisch- 
sächsischen  Dialekt,  nicht  aber  in  kurzen  unmittelbar  reimenden 
Zeilen,  sondern  auch  in  längeren,  jener  epischen  Strophe  ähn- 
lichen; selbst  das  Fragment  von  Judith  enthält  einmal  einige 
Reime;  dies  alles  war  bei  Hickes  zu  finden.  Endlich  das 
Silbenmass  der  altdänischen  Kämpeviser  stimmt  aufs  genaueste 
überein  mit  dem  der  altenglischen  und  altschottischen  Balladen 
bei  Percy  und  Scott.  Man  wird  sehen,  ob  Hr.  Rühs  den 
Dänen  deshalb  das  Eigenthumsrecht  an  ihrem  schönsten  Volks- 
buch streitig  macht;  er  hat  nun  auch  die  Frage  für  England 
zu  beantworten,  wie  es  sich  denken  lasse,  dass  man  eine  ein- 
heimische und  gewohnte  Versart  mit  einer  fremden  und  schwie- 
rigen vertauscht?  Sie  führt  vielleicht  auf  gute  Gedanken  über 
das  Wesen  der  Alliteration. 
965  Mag   diese   eine  Stütze    nichts    aufrecht   erhalten,    so   kann 

vielleicht  die  andere  mehr  tragen.  Es  kommt  hier  darauf  an, 
zu  beweisen,  dass  eine  grosse  Anzahl  Wörter,  die  in  der  nor- 
dischen Poesie  vorkommen,  sich  weder  in  der  nordischen  Prosa, 
noch  in  einem  anderen  Dialekt  der  germanischen  Sprache  finden, 
sondern  lediglich  in  der  angelsächsischen.  Hr.  Rühs  führt  zwei 
Seiten  (116.  117)  solcher  Wörter  an,  und  zwar  als  die  wich- 
tigsten, welche  zu  reichen  würden,  diesen  Beweis  zu  führen. 
Rec.  darf  es  sich  nicht  erlassen,  sie  einzeln  durchzugehen,  da 
alles  auf  ihre  als  der  Repräsentanten  Richtigkeit  ankommt. 
Es  macht  einen  schlimmen  Eindruck,  dass  die  beiden  ersten 
schon   übel  gewählt  sind:    Bart   und  Bior:    Bart   und   Bier, 


DIE  EDDA  VON  FR.  RÜHS.  85 

denn  es  findet  sich  in  denselben  deutschen  Wörtern  sogleich 
der  Beweis,  dass  ein  anderer  Zweig  der  Sprache  sie  noch  hat, 
und  darum  allein  schon  gehören  sie  nicht  hierher.  Will  man, 
wie  unser  Verf.,  schliessen,  so  dürfte  man  sich  eben  so  gut  die 
Behauptung  erlauben,  dass  aus  dem  Deutschen  und  nicht  aus 
dem  Angelsächsischen  das  Wort  nach  dem  Norden  gekommen. 
Weiter  sind  beide  Wörter  durch  viele  Sprachen  verbreitet,  lat. 
barba,  slav.  mit  umgekehrten  Buchstaben:  brada,  s.  Adelung; 
Bier  franz.  biere,  engl,  beer,  ital.  bira.  Endlich  wird  das 
Unglückliche  der  Wahl  durch  den  Zufall  vollendet,  dass  das 
Wort,  was  die  Dänen  und  Schweden  für  Bart  gebrauchen? 
Skegg.  Skiäg,  nicht  nur  ausserdem  den  Isländern  eigen  ist 
(s.  Gudmund  Andrea),  sondern  auch  den  Angelsachsen:  Sceaga 
und  sceacged,  isl.  skeggiadr  bartig,  comatus.  —  Biolla 
kommt  von  baula,  belja,  schwed.  bälla,  deutsch:  bellen; 
bei  den  Minnesängern  und  in  Gerhards  von  Schueren  Teutonista 
kommt  noch  Belle  für  Schelle,  Glocke  vor;  wie  bei  uns  hat 
das  Verbum  die  Bedeutung  von  sonorem  Klingen  jetzt  verloren. 
Klocke  und, das  schwed.  Klocka,  das  Hr.  Rühs  dagegen- 
stellt,  ist  aber  wiederum  nicht  nur  isl.  Klocka,  sondern  auch 
angels.  Clok.  —  Blota  bezieht  sieh  auf  das  heidnische  Opfer 
und  heisst  wörtlich:  bluten,  Ulphilas  und  andere  haben  noch 
blotan  für  opfern.  —  Blika  hat  in  der  nordischen  Sprache 
eine  doppelte  Bedeutung:  eine  transitive,  anblicken,  und 
intransitive,  deutsch:  blinken,  schwedisch:  blinka;  welche 966 
auf  diese  Weise  in  den  anderen  Dialekten  mit  richtigem  Gefiihl 
unterschieden  ist,  offenbar  ist  blinka  dasselbe  Wort,  ausserdem 
aber  ist  die  intransitive  Form  auch  im  Altdeutschen  durch 
blicken  ausgedrückt,  denn  das  Junius.  Gloss.  hat  pleckazzan 
micare  und  blic  fulgur.  —  Dyna;  erstlich  ist  das  deutsche 
tönen  dasselbe,  dann  aber  das  Wort  auch  schwedisch  dona 
und  im  Gedicht  vom  Heil.  Anno  diunan  vorhanden.  —  Erja 
pflügen,  schwed.  äria,  altdeutsch:  eren.  Man  sieht,  wie 
schnell  Hr.  R.  sich  entschieden,  wenn  das  Glossar  nicht  gleich 
unter  demselben  Buchstaben  das  Wort  gab.  —  Färth  Kriegs- 
zug, altdeutsch:  Färd,  Kämpe  viser  S.  91.  Deutsch:  Fahrt.  — 
Faxi  Mähne,  Cotton.  Evangelien:  Fahs  (b.  Nyerup  Sjmb.  ad 


86  DIE   EDDA  VON   FR.  RÜHS. 

litt.  teut.  p.  135),  altfriesisch:  Fax  (Asegabuch  S.  186),  "Willeram 
und  Junius.  Gl.  Vahs,  im  heutigen  Deutsch:  der  Fahsen.  — 
Fiadrhamr  Federgewand,  Fragm.  von  Hildebrand:  garutun 
se  iro  guthamun,  bereiteten  sich  ihre  Kriegskleider;  altdänisch: 
Harn,  Kärapeviser  und  schwedisch  eben  so.  —  Fiör  Leben, 
vi  gor,  schwed.  Fior.  —  Freah  soll  heissen:  isl.  Frekr,  Herr, 
ist  das  dänische  frek,  fräk,  das  deutsche  frech,  was  eine  edle 
Bedeutung  hatte,  daher  Herr.  —  Frega  soll  heissen:  isl.  fregna, 
das  Wort  hat  im  Nordischen  eine  transitive  Bedeutung:  inter- 
rogare    und   intransitive:    percipere,    interrogando   percipere,    s. 

•  Gudmund.  Im  Schwedischen  sind  beide  vorhanden  und  durch  das 
eingeschobene  n  unterschieden:  fräga  interrogare  und  frag  na 
percipere;  wir  Deutsche  haben  das  Wort  nur  noch  in  der  tran- 
sitiven Bedeutung:  fragen.  Ähnlich  ist  es  mit  dem  dänischen 
spörge,  das  sonst  auch  noch  vernehmen  hiess,  wie  es  Kämpe- 
viser  S.  241  V.  21  gebraucht  wird,  jetzt  bloss  fragen.  —  Galldr 
Zauberei  (durch  Schrei,  Gesang),  wörtlich:  Gegälle,  von 
gellen,  schwed.  gälla,  dän.  gale.  —  Geta  anschaffen,  aber 
auch  erinnern,  verbinden  in  Gedanken,  daher  das  isl.:  Geta 
Räthsel,  dän.  Gaade.  —  *Grey  Jagdhund,  altdeutsch:  greit 
begierig,  und  das  glossar.  Eddae  Säm.  bemerkt  schon  Ver- 
wandtschaft mit  dem  belgischen  gray,  vorax.  —  Grithi, 
gratia,  friesisch:    great;    auch  sehr  wahrscheinlich  mit  Friede 

967 ein  Wort,  nur  durch  eine  nicht  ungewöhnliche  Verwechslung 
der  Buchstaben  F  und  G  unterschieden.  —  Hildi  Krieg,  alt- 
deutsch in  dem  Fragment  von  Hildebrand:  to  dero  Hiltu  zu 
ihrem  Kampf;  das  Wort  kommt  von  hialla,  hallen,  ist  in 
dem  verwandten  Held  und  noch  näher  in  vielen  Eigen- 
namen, z.B.  Hildegunde,  Hildebrand  vorhanden. —  Hlustan 
soll  heissen  isl.  hlusta,  das  deutsche  lauschen  ist  dasselbe, 
altdeutsch:  laussen.  —  Hräf,  eigentlich  Hrä,  Leichnam, 
angels.  Hreaw,  findet  sich  auch  altdeutsch:  bi  Hrahanen  am 
Leichnam,  Fragment  von  Hildebrand;  ferner:  Reue  (bei  Ott- 
fried) und  Re  (s.  Oberlin),  hernach  ist  es  mit  dem  deutschen 
Reff,  Riff  in  seinen  mannigfachen  Bedeutungen  verwandt, 
ferner  mit  dem  schwedischen  Röf.  Eines  der  unglücklichsten  Bei- 
spiele, da  das  Wort  durch  die  ganze  germanische  Sprache  sich 


DIE  EDDA  VON  FR.  RÜHS.  87 

ausbreitet.  —  Kiölr  Schiff,  dänisch:  Kiöl,  deutsch:  Kiel.  — 
Klökgua  seufzen,  dänisch:  klukke,  deutsch:  glucken. 
Hätte  Hr.  Rühs  nur  Olafsen  S.  75  angesehen,  so  würde  er  dies 
AVort  schon  haben  streichen  müssen.  —  Kne  cognatus,  alt- 
deutsch: Cnuosl  Geschlecht,  Fragment  von  Hildebrand,  dann 
ebenso:  Kne  auch  altfriesisch  Asegabuch  36.  116,  ferner 
deutsch:  Knän.  s.  Roman  vom  Simplicissimus  aus  dem 
17.  Jahrhundert.  Verwandt  ist  das  altdeutsche  Kunne,  Kynne 
genus,  dän.  Kiön.  —  Lid  Getränk,  Ottfried  und  Notker:  Lid 
Getränk,  Ulphilas:  Leithus  Obstwein.  —  Lokr  Säge,  isl.  und 
schwed.  luka,  lösen,  auflösen,  deutsch:  lockern,  locker 
machen,  welches  mit  sägen  zusammenkommt,  ferner  ist  Lücke, 
Loch  und  löchern  damit  verwandt.  —  *  Mäkir,  Degen,  mit 
dem  griech.  und  lat.  machaera  verwandt.  —  Mala  femina, 
angels.  Mevola,  Ulph.  Mavi  und  diminut.  Mavilo,  deutsch- 
Magd,  Maid,  dän.  und  schwed.  Mö,  s.  Adelung.  —  Meith- 
mar  Gut,   Geschenk;  Ulphilas:  Maithms,  altdeutsch:  Miete. 

—  Mögr  Sohn,  cognatus,  schwed.  Make,  altdeutsch:    Mage. 

—  Mund,  Hand,  in  der  Bedeutung  von  Hand,  Mass  (über- 
einkommend mit  palma)  in  lege  Ostrogothorum ,  s.  Ihre  h.  v., 
auch  altdeutsch,  s.  Munti,  Docen  Miscellen  I,  S.  226.  — 
Nagli  Schlüssel,  dän.  Nögl;  aber  Nagli  heisst  isländ.  auch 
clavus  und  ist  das  deutsche  und  schwed.  Nagel  und  dän. 
Nagle  (das  dän.  Nögl  und  Nagle  verhält  sich  zusammen,  wie 968 
das  lat.  clavis  und  clavus);  Spik,  was  Hr.  Rühs  für  den 
einzigen  schwedischen  Ausdruck  zu  halten  scheint,  heisst  ebenso 
erst  clavus,  Spitze,  Speiche  und  dann  auch  clavis.  — 
*Nar  Leiche.  Ulph.  Naus  der  Todte.  —  Oedlingr  nobilis» 
altdänisch:  Aedeling,  s.  Elsko vs viser ,  deutsch:  Edler,  alt- 
deutsch: Edeling.  —  Ossi  unsere,  im  deutschen  und  dän. 
pronom.  person.  os,  uns.  —  *  Räsir  Fürst,  eigentlich  Ge- 
waltiger, altdeutsch:  Raser,  Rässer,  muthiger,  von  ras,  räss 
acer,  s.  Oberlin.  Peringskiold  in  den  Noten  zu  Cochlaei  vita 
Theodorici  p.  263  führt  die  Inschrift  ressmadr,  tapferer  Mann, 
auf  einer  westgothischen  Münze  an,  sie  steht  unter  dem  Bild- 
nis des  Königs.  —  Reke  Held,  auch  altschwedisch  in  Bei- 
spielen gezeigt  von  Ihre,  altdeutsch:  Reche.  —  Rönd  Schild, 


88  DIE  EDDA  VON  FR.  RÜHS. 

der  Theil  steht  hier  nur  für  das  Ganze,  so  viel  als  Schildes- 
Rand,  wie  häufig  in  den  altdeutschen  Gedichten.  —  Sefi 
Gemüth,  in  mannigfache  Worte  übergegangen  und  verwandt 
mit  dem  schwed.  Sef,  Sefe,  Ruhe,  und  als  Adject.  pacatus, 
der  sanftes  Gemüthes  ist.  —  Seggr  heisst  eigentlich:  qui  gladio 
utitur,  dann  vir  und  poetisch;  Kämpfer;  es  kommt  aber  von 
sega,  schwed.  säga,  deutsch:  sägen  und  entspricht  dem 
deutschen  Säger.  —  Skirr,  schwed.  skir  und  skär.  — 
Snotr  klug,  Ulph.  snutrs,  noch  heute  in  Smäland:  snoter.  — 
Spor,  dänisch:  Spor,  Spör,  schwed.  Sporr,  altdeutsch: 
Spur.  —  Sunna,  Sonne,  Ulph.  Sunna;  dass  das  Wort 
auch  sonst  in  Schweden  und  Dänemark  bekannt,  beweist  Sun- 
dag  und  Söndag  für  Sonntag.  —  *Thengil,  Herr;  wahr- 
scheinlich so  viel,  als  Redner,  der  Recht  spricht,  von  Thinga 
Recht  sprechen,  welches  Wort  in  Thing  durch  alle  nordische 
Dialekte  geht.  —  Thylr  soll  heissen  isl.  Thulr,  Redner,  deutsch: 
Erzähler,  dänisch:  Taler  (s.  Olafsen  S.  7  und  72),  dann  im 
dänischen  tale  reden,  im  niedersächsischen  teilen;  verwandt 
auch  mit  dahlen.  —  Thverra,  verderben,  kommt  von  quer^ 
was  quer  geht,  dies  Wort  aber  ist  in  allen  germanischen  Dia- 
lekten: über  twär  als  contrarius  s.  Ihre.  —  Tungl  (Himin- 
969 tungl)  Gestirn,  schwed.  Tungel,  s.  Ihre,  der  die  Allgemeinheit 
des  Worts  und  die  Abstammungen  bemerkt,  z.  B.  tunglsiukr, 
mondsüchtig.  Aber  merkwürdiger  Weise  kommt  derselbe  Aus- 
druck Hebentungal  schon  in  den  altsächsischen  Evangelien 
vor  (s.  Docen  Miscellen  11,  13),  und  es  ist  noch  zu  entscheiden,, 
ob  nicht  das  Wort  mit  unserem  Zünglein  übereinkommt  und 
ursprünglich  Himmelszunge,  ein  sehr  poetisches  Gleichnis  für 
Stern*),  ist.  —  Vang  formirt  von  Anger  durch  vorgesetztes  V, 
dänisch:  Eng,  Wiese.  —  Verja,  umgeben,  dänisch:  värge, 
deutsch:  wehren. 

Ein  Wort  ist  übrig,  das  wir  in  keinem  anderen  Dialekt  al& 
in  dem  angelsächsischen  wieder  finden ,  mithin  das  einzige, 
welches  Probe  hält:  Sigli  das  Halsband,  und  hier  klärt  es  sich 
vielleicht  noch  auf,  dass  es  mit  unserem:  Siegel  zusammen- 
hängt,   welches    sich    schon   bei  Ulphilas   findet.     Nimmt   man 

*)  [S.  Briefwechsel  zwischen  J.  und  W.  Grimm,  S.  140.] 


DIE  EDDA  VON  FR.  RÜHS.  89 

auch  die  fünf  einigermassen  zweifelhaften  (darum  mit  einem 
Stern  bezeichneten)  dazu,  so  wird  doch  niemand  glauben,  dass 
eine  so  kühne  Behauptung,  wie  die  des  Herrn  Rühs,  darauf 
ruhen  könne.  Davon  wünscht  nur  Rec.  durch  diese  Wider- 
legung überzeugt  zu  haben,  dass  Hr.  Rühs  nicht  im  Stande 
ist,  ausserdem  ein  langes  Register  von  Wörtern,  die  seine  An- 
sicht erhalten  können,  aufzustellen,  und  dass  es  mit  den  übrigen 
sich  nicht  besser,  eher  wo  möglich  noch  schlechter  verhalten 
wird ;  da  er  es  indessen  zuversichtlich  behauptet,  mag  ausdrück- 
lich gesagt  werden,  dass  eine  in  der  That  zu  oberflächliche 
Kenntnis  der  altnordischen  und  neueren  Sprachen  sich  hier  ge- 
zeigt, ja  es  bleibt  unbegreiflich,  wie  bei  der  geringsten  Auf- 
merksamkeit Wörter,  wie  erja,  Färth,  Fior,  skirr,  Spor, 
snotr,  haben  können  aufgeführt  werden.  —  Was  die  Sache 
selbst  betrifft,  abgesehen  von  der  Hypothese  des  Herrn  Rühs, 
die  freilich  zu  Grund  gehen  musste,  so  ist  es  an  und  für  sich 
nicht  so  schlimm  damit,  wie  es  hier  aussieht,  und  es  mag  sich 
leicht  mehr  als  ein  Wort  im  Nordischen  finden,  das  sich  im 
Angelsächsischen  nur  noch  erhalten  hat:  ein  Paar  Betrachtungen 
darüber  gehören  zur  Vollständigkeit  unseres  TJrtheils. 

Es  ist  gewiss,  dass,  als  die  tiefe  Quelle  der  germanischen. 
Sprache  in  ihre  Ströme  ausgieng,  diese  Ströme  eben  durch  einen 
Trieb  nach  einer  besonderen  Richtung,  der  in  ihnen  vorherrschte, 
geworden  sind,  denn  alles  verlangt  bei  dem  Zusammenhang  mit  970 
dem  Grossen  und  Einen  wieder  sein  eigenthümliches,  ihm  allein 
zugehöriges  Leben ;  ferner ,  dass  dieser  Trieb  durch  seine  Kraft, 
die  Ströme,  die  anfangs  noch  neben  einander  flössen,  mit  der 
Zeit  immer  weiter  von  einander  trennte.  Dieses  Verhältnis  ist 
ohne  Widerrede  in  der  Geschichte  eines  jeden  Sprachstammes 
sichtbar;  je  weiter  wir  zurückgehen,  desto  mehr  nähern  sich 
die  Dialekte.  Die  einfache  Folge  davon  ist,  dass  jeder  Dialekt 
etwas  besitze,  das  ihm  ganz  allein  zugehöre,  derjenige  aber  der 
erste  zu  nennen,  der  das  Meiste  in  seinem  Bett  zusammenfassen 
und  behalten  konnte,  oder,  um  ein  anderes  Gleichnis  zu  ge- 
brauchen, der,  wenn  er  zur  Vergleichung  neben  die  anderen 
gestellt  wird,  am  wenigsten  Schulden  hätte  (borgen  müsste), 
ebenso  auch  auf  der  anderen  Seite,  dass  kein  einziger  bloss 
Passiva  ohne  Activa  habe.    Die  zweite  Folge  ist,  dass  in  jedem 


•90  DIE  EDDA  VON  FR.  RÜHS. 

Dialekt  sich  jedes  denkbare  Verhältnis  zu  den  übrigen  finden 
kann,  in  einigen  reichen  auch  wird,  welches  nur  allzeit  in  sich, 
und  oft  ungemein  verschieden  sein  mag;  also  wird  jeder  etwas 
besitzen,  was  er  nur  noch  allein  hat,  anderes,  was  er  nur  mit 
einem  einzigen  theilt,  bis  auf  das,  was  nur  einem  einzigen  fehlt, 
in  allen  möglichen  Abstufungen.  Es  würde  leicht  sein,  Bei- 
spiele von  Wörtern  zu  geben,  die  sich  nur  noch  allein  im  Alt- 
deutschen, von  solchen,  die  sich  nur  noch  in  der  altdeutschen  und 
altnordischen  [Mundart]  finden,  usw.  Diese  Verhältnisse  beziehen 
sich  aber  nicht  bloss  auf  Wörter,  sondern  auf  alles,  wodurch 
ein  Dialekt  besteht,  jede  grammatikalische  Eigenthümlichkeit, 
Umlaut,  Erweiterung  oder  Zusammenziehung  gehört  hierher. 
Es  ist  beiläufig  daraus  klar,  dass  das  Ganze  nur  aus  dem  Zu- 
sammenfassen einer  jeden  Äussserung  der  ursprünglichen  Idee, 
mithin  aller  Dialekte,  verstanden  und  durch  dieses  Verständnis, 
das  wiederum  verbindet,  was  die  Zeit  getrennt,  eine  historische 
Stärkung,  freilich  aber  keine  absolute  Gesetzgebung  gewonnen 
werden  kann,  die  sich  überhaupt  die  Zukunft  verbittet.  Nehmen 
wir  dieses  Verhältnis  grösser  und  betrachten  den  germanischen 
Stamm  wieder  nur  als  einen  Zweig  eines  anderen  (wem  dies 
entgegen  ist,  der  sehe  hier,  wo  nichts  darauf  ankommt,  nur  ein 
Gleichnis,  welches  das  unleugbare  Factum  von  der  Überein- 
stimmung der  germanischen  Sprache  mit  der  indischen,  per- 
971  sischen ,  griechischen  und  römischen  auf  diese  Art  aufstellen 
will);  so  folgt  daraus,  dass  in  jedem  Dialekt  auch  wieder  ein 
besonderes  Verhältnis  der  Annäherung  und  Entfernung  zu  jenen 
grösseren  Zweigen  sich  finden  muss  und  darin  nur  durch  diese 
erläutert  werden  kann.  —  Diese  Sätze,  die  freilich  einer  aus- 
führlicheren Entwickelung  fähig  sind,  auf  unseren  Fall  ange- 
wendet, ist  es  eines  Theils  bei  der  überhaupt  schon  bemerkten 
Ähnlichkeit  der  nordischen  und  angelsächsischen  Poesie  und  bei 
ihrem  Alter  zu  erwarten,  dass  ei;ie  gewisse  Anzahl  Wörter  nur 
noch  in  beiden  sich  erhalten  und  darum  diese  Anzahl  vorzugs- 
weise beträchtlicher  sein  müsse,  als  bei  der  Übereinstimmung 
mit  anderen  Dialekten  und  Sprachen,  wo  eine  solche  Annäherung 
nicht  statt  gefunden.  Auf  der  anderen  Seite  ist  es  eben  so  klar, 
dass  nichts  verkehrter  sein  würde,   als  der  Schluss  auf  ein  Er- 


DIE  EDDA  VON  FR.  RÜHS.  91 

borgen  von  irgend  einem  Theil,  denn  man  müsste  sogleich  die 
mit  anderen  Sprachen  übereinkommenden  Wörter  für  fremdes 
Eigenthum  erklären.  (Überhaupt  sollte  man  mit  der  Meinung 
von  zufäUigem  Erborgen,  wodurch  alle  in  sich  nothwendige  Ent- 
wickelung,  die  zumal  im  Alterthum  nichts  hat  abhalten  können, 
ausgeschlossen  wird,  vorsichtig  sein;  uns  wäre,  wenn  wir  den 
Reichthum  der  altnordischen  Mythe  und  Sagendichtung  be- 
trachtet, schon  der  Gedanken  niemals  möglich  gewesen,  das 
alles  für  die  Folge  eines  fremden,  todten  Abborgens  zu  be- 
trachten ;  viel  kann  eine  Lüge  vernichten,  aber  nichts  aufbauen, 
und  diese  Bemerkung  allein  wäre  dem  Rec.  genug  gewesen, 
die  Ansicht  des  Herrn  Rühs  für  ungegründet  zu  halten;  Rec. 
möchte  aber  gern  andere  davon  überzeugen  —  wenn  er  auch 
nicht  hoffen  darf,  diesen  Gelehrten  selbst  —  und  darum  muss 
er  ausführlich  sein.)  Eine  solche  Ansicht  geben  schon  allge- 
meinere Gründe,  indessen  sehen  wir  glücklicher  Weise  die 
Sache  durch  eine  genaue  Untersuchung  eben  so  entschieden 
in  der  mehrmals  genannten,  fleissigen  und  gelehrten  Preisschrift 
von  Olafsen.  Er  betrachtet  darin  unter  anderen  die  Sprache 
der  altnordischen  Dichtung  erstlich  in  dem  Verhältnis  zu  ihrer 
«igenen  Prosa;  nachdem  er  (S.  74  —  80)  in  recht  genauem  und 
schätzbarem  Detail  mitgetheilt,  was  sich  bloss  in  der  nordischen 
Poesie,  nicht  in  der  gewöhnlichen  Sprache  findet,  dennoch  aber 
aus  dem  Kern  der  Sprache  gewachsen  ist,  kommt  er  auf  die 
Wörter,  die  fremden  Ursprungs  sind,  solche,  die  man  für  Über-  972 
bleibsel  einer  vorgothischen  Sprache  gehalten,  wovon  er  aber 
meint,  sie  seien  von  allen  Seiten  von  Slaven,  Finnen  usw. 
gekommen,  dann  die  griechischen  Ursprungs,  lateinischen,  hie- 
nach  angelsächsischen,  doch  sind  es  hier  nur  solche  Wörter, 
welche  die  angelsächsische  Prosa  und  nordische  Poesie  gemein 
haben,  unten  (S.  233)  theilt  er  dann  die  W^örter  mit,  die  sich 
in  der  angelsächsischen  und  nordischen  Poesie  allein  finden, 
nicht  in  der  Prosa  beider  Völker,  ferner  (S.  236)  diejenigen, 
welche  die  angelsächsische  Poesie  bloss  mit  der  isländischen 
Prosa  (der  umgekehrte  Fall  von  der  Behauptung  des  Herrn 
Rühs),  nicht  mit  ihrer  eigenen  gemein  hat.  Oben  werden  end- 
lich noch  Wörter   aus   der  wallisischen  und  finnischen  Sprache 


92  DTE  EDDA  VON  FR.  RÜHS. 

ZU  erläutern  gegeben  (Herr  Rühs  bemerkt  S.  115  in  der  Note^ 
dass  von  den  letzteren  die  meisten  müssten  gestrichen  werden, 
wir  bedauern,  dass  gerade  bei  diesen  willkommenen  Berichti- 
gungen der  Raum  gespart  worden). 

Eine  solche  ausführliche  Darlegung  des  wahren  Verhält- 
nisses, wobei  die  besondere  Übereinstimmung  der  nordischen  und 
angelsächsischen  Poesie  in  ihr  richtiges  und  gemildertes  Licht 
kommt,  scheint  den  Gedanken  an  eine  so  übertriebene  Hypothese 
kaum  möglich  werden  zu  lassen,  und  wir  können  den  Anlass 
dazu  nur  in  der  Unbefangenheit  suchen,  welche  die  Vorrede 
an  dem  Verfasser  rühmt.  Der  einzige  Tadel,  der  Olafsen  triffi,  ist, 
dass  er  nicht  genug  Rücksicht  auf  die  deutsche  Sprache  ge- 
nommen, sei  es  aus  Unkenntnis,  oder  weil  er  nur  Scandinavien 
im  Sinn  hatte.  Es  lassen  sich  überall,  wo  er  das  Nordische  nur 
noch  im  Angelsächsischen  oder  umgekehrt  findet,  viele  Wörter 
aus  dem  Deutschen  erklären.  Zum  Theil  ist  es  schon  vorhin 
bei  den  Proben  des  Herrn  Rühs  geschehen,  da  wir  eine  gute 
Anzahl  seiner  Wörter  auch  bei  Olafsen  antreffen;  hier  mögen 
als  Beispiel  noch  ein  Paar  andere  folgen:  Renn  Fluss,  angel- 
sächsisch Rin,  deutsch:  Rhein,  von  rinnen;  wir  bemerken 
dies  Wort  zuerst,  weil  Hr.  Rühs  daraus  abnehmen  kann,  dass 
es  an  sich  nicht  die  deutsche  Abkunft  des  Wolsungencyklus 
beweist,  wie  er  (S.  102)  glaubt.  —  Nefi  Schwestersohn,  angel- 
sächsisch Nefa,  deutsch:  Neffe.  —  Nift  Schwestertochter, 
angels.  Nift,  altdeutsch:  Niftel.  —  Vagr  fluctus,  angels. 
973 Väg,  altdeutsch:  Vag.  —  Heimir  domesticus,  angels.  ho- 
mora,  deutsch:  heimisches.  —  Litr  vultus,  angels.  Ulite, 
deutsch:  Antlitz.  —  Fria  amare,  angels.  frion,  altdeutsch: 
Friedel  Geliebter,  dann  auch  frien.  —  Feigr  todtwund, 
angels.  fäg,  altdeutsch:  vaig,  veig  usw.  Die  Wörter, 
die  vorerst  übrig  bleiben,  werden  sich  gleichstehen,  und  die 
angelsächsische  Poesie  eben  so  viel  aus  der  nordischen  Prosa, 
als  die  nordische  Poesie  aus  der  angelsächsischen  Prosa  ent- 
halten, und  daher  jede  Meinung  von  dem  Erborgen  der  Poesie, 
welche  Seite  man  nun  zum  Original  macht,  augenblicklich  ab- 
weisen. 

Wir  nehmen  gleich  eine  andere  Ansicht  aus  dem  Abschnitt 


DIE  EDDA   VON  FR.  RÜHS.  93 

über  Mythologie  zur  Betrachtung  hierher,  da  sie  gleichfalls  eine 
Folge  der  bis  jetzt  besprochenen  Hypothese  ist.     Hr.  Rühs  be- 
hauptet nämlich  (S.  137),  wo  er  griechisch-römische  Mythologie 
in  der  nordischen  entdeckt  hat,  erstlich,  die  Angelsachsen  hätten 
viele  Namen  der  römischen  Mythologie  übersetzt  und  von  diesen 
die   Isländer    sie    wieder  angenommen;    zweitens,    die  Isländer 
hätten    andere    mythische   Ausdrücke    aus  der  angelsächsischen 
Sprache    geborgt,    die    sich   weder  in    ihrem    noch   verwandten 
Dialekten    wiederfänden.      Schon    sicher    durch   die    obige   ent- 
scheidende Beweisführung,   geht    er    hier  leicht  an  der  zur  Be- 
gründung der  neuen  Sätze  nöthigen  vorüber.     Was  den  ersten 
betrifft,   so  wird   zuerst  Walkyre  (Todten Wählerin,    wir  haben 
bekanntlich    die  Worte   noch   in  Wahl  platz    und   kühren)    für 
eine   Übersetzung   von   Bellona  ausgegeben;    hätte   er  gesagt, 
es  sei  etwa  dieselbe  Idee,  so  wäre  ein  Sinn  vorhanden,  so  aber 
könnte  man  eben  so  richtig  Walhall  für  eine  wörtliche  Über- 
setzung  von  Elysium    ausgeben;    die   folgenden  Beispiele    sind 
nicht  schlechter    und  mögen  nachgelesen  werden.      Die  zweite 
Behauptung  setzt  unseren   vorhin   ausführlich   behandelten   Fall 
voraus,    und    wir    müssen    uns    wohl    wieder    darauf  einlassen. 
Othin  heisst  nicht  Tir  (was  einmal  richtig  eins  von  den  Wörtern 
ist,  das  wir  bis  jetzt  nur  im  Nordischen  und  Angelsächsischen 
finden),   nur   in   einigen  Beinamen   kommt   ein   ähnliches  Wort 
vor,    dahin    gehört  Vera-tyrr,    wo    es   aber  Helfer  heisst    und 
sich  von  ek   tiai   ich   helfe    ableitet:    bloss  in  Farma-tyrr  und 
Hanga-tyrr    will    das    gloss.    Eddae    Säm.    das  Wort   von    Tir 
(dieses  von  tyrannus)   abstammen   lassen,  weil   es   sonst  keine 974 
Bedeutung  herauszubringen  weiss.  —  Im  Angelsächsischen  heisst 
nicht    Thundr,    sondern    Thunor    der    Donner,    sollte    daher 
Jupiter  der   Donnerer  genannt  werden,  so  war  natürlich  kein 
anderes  Wort  als  dieses  zu  gebrauchen.     Hr.  Rühs  möchte  den 
Satz   erzwingen,   Othin   habe   seinen  Beinamen  Thundr   durch 
die  Angelsachsen  von  Jupiter  erhalten.    Entweder  bedeutet  aber 
Thundr  hier  wirklich  Donner,  so  ist  das  Wort  nicht  entlehnt, 
da  es   im  Deutschen   und  in   dem   noch   heute  üblichen  schwe- 
dischen   Dünn  er     allgemein     für    jedes   Geräusch     vorkommt; 
indes    ist    dies    nicht    wahrscheinlich,    da   man   im   Norden    das 


94  rJlE   EDDA  VON  FR.  RCHS. 

besondere  Geräusch  beim  Gewitter,  des  (Donnergottes)  Thors 
Ton,  schwed.  Tordön,  dän.  Torden  nannte;  —  oder  es  heisst 
Thundr  so  viel  als  Bogen,  wie  das  Wort  wirklich  im  Islän- 
dischen üblich  und  von  thenia  spannen  abzuleiten  ist  (s.  gloss. 
Eddae  Säm.)  —  Hrimfaxi  und  Skinfaxi:  da  oben  schon  ge- 
zeigt ist,  dass  Faxi  auch  in  anderen  Dialekten  vorhanden,  fällt 
die  hier  gemachte  Behauptung  von  selbst.  —  Dass  Mimir 
kein  aus  dem  Angelsächsischen  erborgtes  und  dem  Norden 
fremdes  Wort  sei  (wiewohl  wir  gern  zugeben,  dass  das  angel- 
sächsische meomor  peritus  damit  übereinkommt,  wie  auch 
das  gloss.  Eddae  S.  bemerkt),  geht  schon  daraus  hervor,  dass  es 
in  anderen  offenbar  verwandten  Namen  erscheint:  Mim  er  ein 
kluger  Schmied,  Wilkina-Saga,  Mimmering  ein  kluger  zwerg- 
hafter Kämpfer,  altdänische  Kämpeviser.  Dann  ist  die  Ähn- 
lichkeit mit  dem  latein.  und  griech.  Mimas  zu  erwägen;  end- 
lich glaubt  Rec. ,  dass  es  zu  einem  Geschlecht  gehört  mit 
schwed.  Minne  Andenken,  dän.  Min  de  und  dem  latein. 
memor  und  memini.  —  Ist  die  Benennung  der  Nornen  noch 
nicht  aus  dem  Scandinavischen  erklärt,  so  ist  es  ihr  anderer 
Namen:  Disir  noch  weniger,  und  zu  diesem  wird  Hr.  Rühs 
nicht  einmal  eine  so  erzwungene  Erläuterung  aus  dem  Angel- 
sächsischen wie  zu  jenem  aufbringen;  endlich  aber  wird  die 
Behauptung  dadurch  abgewiesen,  dass  der  dritte  Name  der 
Nornen  Fylgior  die  Folgenden  (die  den  Menschen  geleiten) 
sehr  wohl  aus  dem  Nordischen,  wie  aus  allen  germanischen 
Dialekten  zu  erklären  und  allgemein  gebräuchlich  ist  in  den 
Denkmälern.  Es  begreift  sich  übrigens,  dass  in  den  Namen, 
975 zumal  in  den  mythischen,  sich  die  ältesten  Wörter  erhalten 
mussten;  haben  wir  doch  noch  einen  W  ig  and,  aber  vig 
Kampf  und  vigen  ist  längst  untergegangen,  während  es  im 
Nordischen  fortgedauert.  —  Niflheim  heisst  Nebelheim, 
und  ist  an  ein  Erborgen  nicht  zu  denken.  —  Die  unglaublichste 
Anmassung  ist  indessen  die  letzte,  wo  geradezu  behauptet  wird, 
es  sei  „ohne  allen  Grund",  die  drei  Nornen  Urd  (urdu  es  ward 
von  Verda  werden),  Verdandi  (regelmässiges  Participium  von 
Verda  das  Werdende)  und  Skuld  (Schuld,  was  soll,  wird,  von 
skulu,  womit  bekanntlich  noch  heute  im  Isländischen,  Dänischen 


DIE  EDDA   VON  FR.  RÜHS.  95 

und  Schwedischen  das  Futurum  formirt  wird)  durch  Vergangen- 
heit, Gegenwart  und  Zukunft  zu  erklären.  Dafür  gibt  Hr. 
Rühs  folgenden  Aufschluss:  Urd  sei  Wyrd,  das  Schicksal^ 
fatum,  aber  dasselbe  AVort,  das  auch  im  Angelsächsischen  (word) 
und  Altdeutschen  (uyrd,  wurt)  existirt,  heisst  im  Isländischen 
orth.  Verdandi  soll  das  Bewachende  heissen,  aber  das 
nordische  und  angelsächsiche  Wort,  das  Hr.  Riihs  im  Sinn  hat, 
heisst  verja  wehren  und  müsste  verjandi  bilden.  Skuld 
soll  von  skyldan  beschützen  herkommen,  und  demnach  wäre 
die  dritte  Norne  nur  eine  unnütze  Wiederholung  der  zweiten^ 
aber  im  Nordischen  lautet  dasselbe  Wort  Schilden  skiola  [skyla] 
und  das  Substantivum  Skioldr  Schild  und  nicht  Skuld. 

Die  Widerlegung  solcher  allzu  leichtsinniger  Behauptungen 
führt  etwas  Unangenehmes  mit  sich,  weil  man  die  Mühe  zu 
etwas  Fruchtbarerem  möchte  angewendet  haben.  Indessen  hat 
sich  Rec.  nichts  erlassen  wollen  und  er  glaubt,  was  hier  neu 
oder  vielmehr  in  dieser  Zusammenstellung  neu  erscheint,  hinläng- 
lich betrachtet  zu  haben,  so  dass  er  sich  einen  Gegenbeweis 
eben  so  genau  ausbitten  darf.  Diese  Hypothese  von  der  angel- 
sächsischen Abkunfl  der  nordischen  Poesie  macht  die  Haupt- 
sache des  zweiten  hier  gelieferten  Abschnittes  aus,  der  von  der 
Poesie  handeln  soll,  ausserdem  geht  noch  voran  ein  Abschnitt 
über  nordische  Geschichte  und  Cultur  und  folgt  einer  über 
nordische  Mythologie.  Da,  wie  Eingangs  gesagt  worden,  die 
recensirte  Idee  noch  die  sorgfältigste  Ausführung  erhalten,  so 
wird  man  hier  keine  eigentlichen  Untersuchungen  und  neue 
Resultate  erwarten.  Hr.  Rühs  hat  gute,  auch  wohl  seltene 
Bücher  benutzen  können,  aber  von  eigenem  Quellenstudium 97^. 
und  genauem  Arbeiten,  um  es  gerade  herauszusagen,  haben  wir 
keine  Spur  gefunden.  Es  scheint  auch  kaum  möglich,  in  einem 
so  beschränkten  Raum  sie  mitzutheilen.  Der  Zusammenstellung 
des  Glaubens  über  Elfen  und  Zwerge  wollen  wir,  weil  wir 
auch  etwas  Geringes  nicht  verschmähen,  dankbar  erwähnen, 
wiewohl  sie  so  wenig  genau  und  vollständig  ist,  dass  Rec.  allein 
sie  zu  einem  eigenen  Buche  vermehren  könnte.  Für  die  Nach- 
richten über  finnische  Poesie  haben  wir  dem  Verf  schon  bei 
seinem  Werk  über  Finnland  gedankt,  wo  sie  ausfuhrlicher  und 


96  DIE  EDDA  VON  FR.  RÜHS. 

darum  besser  stehen ;  dieser  Auszug  gehört  nicht  hierher.  Was 
auch  sonst  vorgetragen  wird,  ist  von  anderen  schon  so  ziemlich 
gesagt  oder  geglaubt  worden,  das  Ganze  ist  auf  jene  widerlegte 
Hypothese  zugeschnitten,  daher  wird  die  Anordnung  bei  der 
nächsten  Wiederholung  anders  ausfallen  müssen,  selbst  wenn 
Hr.  Rühs  neue  Gründe  für  seine  Meinungen  entdeckt. 

977  Man  wird  daher  dem  Rec.  nichts  vorwerfen  können,  wenn 

er  die  beiden  anderen  Abschnitte  weder  betrachten  noch  wider- 
legen will.  Gegen  die  darin  herrschende  Ansicht  hat  er  sich 
aus  Gründen  und  bestimmt  in  einer  anderen  Recension  dieser 
Jahrbücher  (Schriften  über  nordische  Mythologie  1811.  No.  49.  50) 
[=  oben  S.  14 — 32]  erklärt  und  kann  darauf  verweisen  i) ;  es  wird 
genug  sein,  wenn  er  sich  hier  eben  so  bestimmt  als  Gegner  des 
Hrn.  Rühs  zu  fast  allen  in  dieser  Schrift  aufgestellten  Behauptungen 
nennt  und  keine  einzige  bedeutende  für  erwiesen  erklärt.  Was  soll 
man  auch  dazu  sagen,  wenn  es  in  dem  Eingang  der  Abhandlung 
über  die  Mythologie  heisst,  sie  sei  nicht  als  alter  heidnischer 
Glauben    des    Volks,    sondern    als  Hilfsmittel    zur   Dichtkunst, 

978 d.h.  vorsätzliche,  leere  Erdichtung  auf  uns  gekommen,  darauf 
müsse  man  halten,  wenn  des  Verf  Meinung  bestehen  sollte? 
Kann  es,  wo  wir  nur  Christen  darüber  sprechen  hören,  anders 
sein,  als  dass  jeder  versichert,  dies  sei  die  wahrhaftige  und 
glaubwürdige  Religion  nicht,  sie  dürfe  man  nicht  für  das  Leben, 
nur  für  die  Dichtkunst  noch  benutzen;  nur  den  Glauben  selbst 
nannte  man  irrig,  niemand  hat  das  frühe  Dasein  desselben  ge- 
leugnet.    Zeigt  sich   in    den   Gedichten  selbst   eine   Spur,   dass 

1)  Wir  können  auch  wegen  der  hier  gelieferten  Übersetzung  der  jüngeren 
Edda  dorthin  verweisen,  da  sie  aus  der  dänischen,  nicht  aus  dem  Original 
entstanden  ist.  Hr.  Rühs  gibt  sie  noch,  nachdem  er  die  Edda  schon  ver- 
niciitet  zu  haben  glaubt,  zu  grösserer  Bekräftigung ;  diese  Beweisführung  könnte 
uns  die  liebste  sein,  denn  wir  brauchten  nur  zu  bitten,  das  alte  Denkmal  mit 
den  Behauptungen  des  Hrn.  Rühs  zusammenzuhalten.  Indessen  geht  dies 
nicht  ganz ,  .weil  zum  Studium  diese  Übersetzung  nicht  zu  empfehlen  ist  und 
dazu  das  Original  nöthig  bleibt.  Das  Ganze  ist  nicht  urkundlich  abgefasst; 
einem  schwierigen  Ausdruck  wird  durch  einen  allgemeineren  ausgewichen, 
gleich  Refels  Steig  in  der  ersten  Fabel  durch  fernen  Weg  übersetzt.  Für 
Dilettanten  und  das  ungefähre  Verständnis  mag  diese  Arbeit  ihren  Werth 
haben,  den  wir  ihr  gern  lassen;  jenen  wird  gerade  die  das  Eigonthümliche 
verwischende  Umstellung  der  Worte  in  die  übliche  Folge  angenehm  sein. 


DIE  EDDA  VON  FR.  RÜHS.  97 

man  in  Lügen  sich  herumtreibe,  und  sind  sie  nicht  ernstlich 
überall  gemeint?  Odersoll  man  Gründe  widerlegen,  wie  folgenden 
(S.  31):  es  werde  niemand  sich  einbilden,  dass  so  rauhe  Krieger 
ein  weitläuftiges  System  religiöser  Ideen  gehabt,  eine  vollständige 
Genealogie  ihrer  Gottheiten?  als  ob  nicht  bei  allen,  selbst  den 
ausgebildetsten  Völkern  nur  eine  besondere  Klasse  die  heiligen 
Gesetze  und  Geheimlehren  der  Religion  allein  hätte  bewahren 
und  lehren  dürfen  und  können,  niemals  der  gemeine  Haufen. 
Baare  Unwahrheiten,  wie  z.  B. ,  dass  in  allen  Gedichten  die 
Sprache  gleich  sei  und  alle  Individualität  in  den  künstlichen 
Silbenmassen  untergehe,  welche  die  ältesten  Dichter  schon  ge- 
braucht (S.  98)  (die  alten  Lieder,  besonders  die  epischen  noch 
ungedruckten  der  Edda  sind  einfach  und  un verkünstelt) ,  oder 
dass  Saxo  seine  Gedichte  selbst  verfertigt  und  nichts  darin 
übersetzt  habe  (ohngeachtet  Nyerup  in  einer  Abhandlung,  die 
Hr.  Rühs  selbst  citirt,  das  Gegentheil  klar  in  Beispielen  gezeigt), 
werden  Leser,  welche  irgend  von  der  Sache  etwas  wissen,  von 
selbst  finden;  wir  sind  darauf  gefasst,  nächstens  den  ganzen 
Saxo  von  Hrn.  Rühs  vernichtet  zu  sehen,  da  es  ohnehin  mit 
den  Handschriften  verdächtig  aussehen  soll. 

Nur  einige  besonders  charakteristische  Sätze  mögen  heraus- 
gehoben werden:  S.  4.  „Norwegens  frühste  Geschichte  ist  blosse 
Dichtung",  d.h.  bei  Hrn.  Rühs:  späterhin  erfundene  leere  Un- 
wahrheit. S.  17.  Auch  der  Namen  der  Äsen  ist  erst  entstanden, 
als  Mönche  ein  System  über  die  Bevölkerung  [des]  Nordens  aus 
Asien  bildeten.  S.  51.  Selbst  Snorro  theilt  mit  seinen  Zeit- 
genossen den  „allerrohsten  Aberglauben,  in  seiner  Chronik 
kommen  die  unsinnigsten  Geschichten  von  Hexereien  vor"^. 
S.  99.  „Die  Vermuthung  ist  so  unwahrscheinlich  nicht,  dass 
Snorro  die  in  seinem  Buch  angeführten  Gedichte  selbst  ver- 
fertigt" (solche  schleichende  Wendungen  liebt  Hr.  Rühs,  in  979 
derselben  Art  sagt  er  vom  Skaldatal:  es  habe  „nur  leichtes 
Gewicht  auf  der  Wage  der  Kritik" ;  nachher,  wenn  es  zum 
Schliessen  kommt,  gelten  solche  Annahmen  für  voll).  S.  29. 
Der  Cultus  war  äusserst  roh,  die  Sitten  barbarisch,  „die 
wildeste  Grausamkeit,  empörender  als  bei  den  Irokesen,  war 
die  erste  Freude  der  Helden".     S.  88.    Alle  Cultur  kam  erst 

W.  GRIMM,  KL.  SCIIRltTES.     II.  7 


98  DIE   EDDA   VON  FR.  KÜHS. 

vom  Christenthum ,  dieses  zunächst  aus  England.  Runen  sind 
dann  erst  aus  dem  lateinischen  Alphabet  entstanden.  —  Von 
den  mythischen  Büchern  wird  behauptet  S.  121,  sie  seien  von 
Christen  verfertigt,  S.  129  das  ganze  System  ein  blosses  Spiel 
der  Phantasie  der  Mönche,  zusammengesetzt  aus  einem  ge- 
ringen Theil  Volksglauben  und  aus  griechisch-römischer  Mythe  i), 
eben  so  augenscheinlich  sei  Christenthum  darin,  das  meiste  aber 
„freie,  unmittelbare  Erfindung".  S.  141.  Der  Versuch, 
Zusammenhang  in  die  Mythologie  zu  bringen,  habe  immer  den 
traurigsten  Erfolg   gehabt. 

So  wenig  als  auf  das  Vorhergehende  sind  wir  gesonnen, 
auf  das  zu  antworten,  was  Hr.  Rühs  über  den  Cyklus  der 
Wolsungasaga  vorbringt,  und  auf  die  Behauptung,  es  sei 
diese  Fabel  ganz  aus  Deutschland  gekommen.  Wenn  Hr.  Rühs 
einmal  näher  und  gründlich  über  diesen  Gegenstand  sich  unter- 
richtet hat,  wird  er  gern  zurücknehmen,  was  er  hier  darüber 
gesagt. 

Es  steht  nun  zu  erwarten,  was  diese  aufs  neue  und  gar 
nicht  zweifelnd  hingestellte  absprechende  Ansicht  für  Eindruck 
machen  wird;  sonst  trug  sie  ohne  Weiteres  das  Lob  einer  sehr 
gelehrten  Scharfsinnigkeit  davon,  denn  es  ist  allerdings  über- 
raschend, wenn  ein  Einzelner  den  Betrug  entdeckt,  der  Jahr- 
980  hunderte  täuschte,  doch  ist  diese  Zeit  vorüber,  und  man  scheint 
jetzt  mehr  zu  verlangen,  üb  die  entgegengesetzte,  die  an  das 
Dasein  wahrhaftiger  Theomythieen  einer  ursprünglichen,  in  dem 
Leben  und  der  Wahrheit  begründeten  Dichtung,  au  eine  Tra- 
dition, in  der  sich  alle  Lehre  und  würdige  Erinnerung  der 
Geschichte  fortgepflanzt,  an  ein  edles  Heldenthum,  überhaupt 
an  eine  aus  innen  gekommene  Entfaltung  glaubt,  wornach  alles 
Grosse,  was  geschehen,  nicht  ein  schlechtes  Spiel  zweckloser 
Kunstgriffe  wird,  ob  eine  solche  sich  erhält,  wird  die  Zeit  lehren. 

')  Wir  können  es  doch  nicht  unterlassen,  hier  eine  Note  zu  machen.  Um 
den  römischen  Antheil  in  den  Mythen  zu  beweisen,  führt  Hr.  Rühs  S.  129 
zwei  Wörter  an,  die  dem  Lateinischen  nachgebildet  seien,  nämlich  Töflr  tabulae 
und  Kai  kr  calix;  fiel  es  ihm  denn  nicht  ein,  als  er  die  deutschen  Tafel  und 
Kelch  daneben  schrieb,  dass  es  durchaus  dieselben  seien?  Beide  sind  uralt 
im  Deutschen  mit   dem  Lateinischen  verwandt,   aber  nicht  aus  ihnen  formirt. 


DIE  EDDA  VON   FE.  RÜHS.  99 

Merkwürdig  und  erfreulich  bleibt  es,  dass  noch  alle,  welche  die 
Mythologie  zu  ihrem  Studium  machten,  ihr  zugethan  waren. 

Es  sei  noch  erlaubt,  seitdem  anderwärts  hergekommener 
Äusserungen  wegen  aus  der  vorigen  Recension  die  Behauptung 
wieder  herzunehmen  und  noch  deutlicher  aufzustellen,  dass  es 
bloss  darauf  ankomme,  zu  entscheiden,  ob  diese  nordischen 
Denkmäler  echt,  d.  h.  aus  alter  Zeit  herstammen  und  keine 
spätere  Erfindung  und  Lügen  sind,  wie  z.  B.  in  dieser  Schrift 
hier  behauptet  wird.  Ist  für  jenes  entschieden,  dann  wird  sich 
bestimmen  lassen,  inwiefern  sie  historisch  berücksichtigt  werden 
müssen,  nämlich  insoweit  die  Mythen  aller  Völker  historisch 
sind.  Zu  dieser  Bestimmung  aber  müssen  die  Resultate  derer, 
welche  die  Mythen  und  epischen  Gedichte  der  Völker  über- 
haupt untersucht  haben,  und  die  der  Historiker  zusammenge- 
nommen werden;  nicht  aber  dürfen  letztere  allein  entscheiden. 
Durchaus  ungerecht  ist  es,  an  den  nordischen  Mythen  und 
Sagen  den  alten  Streit  ausfechten  und  sie  damit  prüfen  zu 
wollen,  dass  man  nachsieht,  ob  sie  genau  historisch  wahr  sind, 
und  jeden  Zweifel,  den  man  aufbringt,  sogleich  als  einen  Be- 
weis ihrer  Unechtheit  wichtig  macht.  Wir  wollten,  wenn  es 
darauf  ankäme,  solcher  Zweifel  mit  leichter  Mühe  weit  mehrere 
darlegen.  Wer  die  Wahrheit  der  modernen  Geschichte  in  den 
alten  Sagen  finden  will,  der  irrt  sehr,  noch  mehr  aber,  wer  die 
eigenthümliche  Wahrheit  derselben  für  Lüge  und  Verfälschung 
ausgibt,  wie  derjenige,  der  sie  für  geringer  hält,  als  jene:  im 
edlen  und  rechten  Sinne  grenzen  Wahrheit  und  Dichtung  nahe 
an  einander.  Wie  dies  unserer  Zeit  noch  eben  in  einem  herr- 
lichen Beispiel  gezeigt  worden,  so  ist  es  auch  in  jenen  alten iisi 
Denkmälern.  Wir  meinen  nicht,  dass  diese  Ansicht  der  Kritik 
und  Geschichte  Hohn  spreche,  ja  wir  nehmen  für  sie  jede  Art 
von  Scharfsinn  und  Kritik  in  Anspruch;  die  Geschichte  selbst 
wird  durch  sie  erweitert,  während  die  andere  sie  in  ihren 
schönsten  Punkten  zernichtet. 

W.  C.  Grimm. 


100  EPIKRITIK  GEGEN  RÜHS. 


10  ANTWORT  DES  RECENSENTEN 

auf  die  Antikritik  *)  des   Hrn.  Prof.  D.  Fr.  Rühs  in   der  Hallischen  Allgem. 

Lit.  Zeit.  1812.  No.  318  [Dienstag,  den  22.  Dezember  1812,  BdHI,  S.  849—851] 

gegen    die  Recension    seines  Buchs    über    die  Edda   in   den  Heidelbergischen 

Jahrb.  1812.    Oct.    No.  61.  62  [S.  961—976.   977—981  =  oben  S.  80-99]. 

Heidelbergische  Jahrbücher  der  Litteratur.     Jahrgang  VI  (1813).     Intelligenz- 
blatt II,  S.  10— 13. 

J-ch  verspreche  aus  grosser  Neigung  zur  Sache,  mich 
darauf  einzulassen,  wenn  Herr  Prof.  Rühs  in  seiner  zukünftigen 
Antwort  auf  meine  Recension  seines  Buchs,  was  weder  dieses 
noch  sein  Ton,  den  er  für  sich  behalten  mag,  verdient,  wirk- 
lich etwas  vorbringt,  sei  es  auch  das  Geringste,  die  gegen- 
wärtige enthält  gar  nichts  und  singt  bloss  um  eine  Note  zu  hoch. 
Vielleicht  geben  indessen  noch  andere,  welche  von  der  Sache 
wissen,  ihre  Stimmen  ab  (die  in  der  Leipziger  Lit.  Zeit.  1812. 
No.287.  288  [17.  18.  Nov.  Bdll,  S.  2289— 2299  von  Jacob  Grimm] 
streitet  offenbar  nicht  für  Hrn.  Rühs),  wie  man  mir  eben  schreibt, 
dass  zwei  dänische  Gelehrte  sich  die  Mühe  nehmen  wollen,  sein 
Buch  zu  beleuchten.  Nur  zweierlei  halt'  ich  mir  aus:  erstlich, 
dass  er  nicht  fordert,  ich  solle  seine  Worte  anders  nehmen,  als 
wie  sie  einen  Sinn  geben,  und  ich  nicht  verbunden  bin  bei 
meinen  Ausdrücken  mich  nach  seinen  Hypothesen  zu  richten; 
wenn  er  z.  B.  sein  Werk  gut  nennt,  ich  schlecht,  so  meinen 
wir  beide  ganz  gewiss  dasselbe  ohnbeschadet  des  grossen  Unter- 
schiedes unserer  Worte,  ebenso  meint  er  unter  isländischer,  ich 
(alt-)nordischer  Poesie  dieselben  JVionumente,  von  denen 
und    deren  Sprache    die   Rede    ist^).      Zweitens,    dass   er 

*)  Erklärung.     Über   Herrn  C.  W.  Grimms  Ausfall   gegen    meine  Bear- 
beitung der  Edda  in  den  H.  J.     October  1812,  No.  61.  62.     F.  Rühs,  Dr. 

■  0  Für  diejenigen,  welche  sich  die  Mühe  nehmen  wollen,  herabzusehen, 
steht  hier  noch  eine  vergleichende  Tabelle: 

Herr  Rühs,   „der  Forscher"  (Anti-  Der  Recensent. 

kritik  S.  851).  S.962[obcn  S.81].  Hr.  R.  behauptet, 

S.  115.  „Die  isländische  Dichtkunst  „die  isländische  Dichtkunst  habe  eine 
hat  eine  Menge  von  Wörtern,  die  Menge  von  Wörtern,  die  nicht  in  der 
nicht   in    der    gewöhnlichen    Sprache,      gewöhnlichen    (altnordischen   und 


EPIKRITIK  GEGEN  RÜHS. 


101 


mehr    als    ein   Paar    rothe  Schuhe  mit  zum   Tanz  bringt    undii 
dann   etwas  Besseres  weiss,   als  dass  Straa  (sprich  aus:    Stro) 
nicht  Stroh,    sondern  Halm,   spaed    „nicht  dünn,    sondern 
zart"  (tauschen  die  Worte  nur  ihre  Stelle,  so  macht  die  Anti- 
kritik  schon   den  Unterschied  zwischen  beiden  sichtbar  genug), 


viel  weniger  in  den  übrigen  Dialekten 
vorkommen :  diese  Wörter  sind  meisten- 
theils  angelsächsisch".  Antikritik 
S.  850.  -S.  962  [81]  scheint  es  sogar, 
als  wenn  Hr,  W.  C.  Grimm  selbst  mich 
verstanden, 


aber  nun,  da  es  ans  Widerlegen  gehen 
soll,  schiebt  er  mir  folgende  unsinnige 
Stelle  unter: 


S.965[S4].  Es  kommt  hier  darauf 
an,  zu  beweisen,  dass  einegrosse 
Anzahl  Wörter,  die  in  der  nor- 
dischen (ich  sage:  isländischen) 
Poesie  vorkommen,  sich  weder 
in  der  nordischen  (ich  sage:  islän- 
dischen) Prosa,  noch  in  einem 
anderen  Dialekt  der  germani- 
schen (ich  sage:  nordischen)  Sprache 


heutig  isländischen)  Sprache,  viel 
weniger  in  den  übrigen  Dialekten  vor- 
kommen, diese  Wörter  seien  meist 
angelsächsisch". 

Zusatz.  Nach  meiner  Ansicht  sind 
die  alten  Denkmäler  (die  Edden, 
Scaldenb'eder  etc.)  keine  besondere 
isländische,  sondern  allgemein  nor- 
dische Poesie,  dies  habe  ich  klar  aus- 
gedrückt, indem  ich  die  -gewöhnliche 
Sprache",  worunter  Hr.  Rühs  offenbar 
die  isländische  versteht,  durch  die  alt- 
nordische und  heutig  isländische  er- 
klärte (die  letztere  kam  hinzu,  weil 
sich  bekanntlich  auf  Island  die  alt- 
nordische Sprache  mit  geringen  Ab- 
weichungen erhalten),  um  nicht  das- 
selbe zweimal  hinter  einander  zu  sagen, 
und  weil  es  sich  von  selbst  verstand, 
ich  auch  überall  von  nordischer 
Poesie  sprach,  ist  vorher  bei  ,. islän- 
discher Dichtkunst  ■*  nicht  auch  in 
Parenthese,  d.  h.  altnordische  ge- 
setzt worden.  Bei  der  Widerlegung 
daher,  wo  ich  nicht  mit  dem  Forscher 
die  nach  allen  Seiten  unsinnige  Hypo- 
these von  der  freien,  unmittelbaren 
Erfindung  der  altnordischen  Poesie 
auf  Island  annehmen  wollte,  musste 
ich  mich  durchaus  also  ausdrücken: 

S.  965  [84].  Es  kommt  hier  nur  darauf 
an,  zu  beweisen,  dass  eine  grosse  An- 
zahl Wörter,  die  in  der  nordischen 
(Zusatz:  versteht  sich  nach  dem 
Obigen  von  selbst:  bei  Hm.  R.  islän- 
dischen) Poesie  vorkommen,  sich 
weder  in  der  nordischen  (Zusatz: 
versteht  sich  von  selbst:  bei  Hrn.  R. 
isländischen)  Prosa,  noch  in  einem 


102  EPIKRITIK  GEGEN  RÜHS. 

12  Sang*)  nicht  Fang,  sondern  Sang  (welches  letztere  wahr- 
scheinlich wir  alle  drei:  der  Forscher,  der  Corrector  und  ich 
gewusst  haben,  desto  strafbarer  der  zweite,  dass  er  es  hat 
stehen  lassen,  desto  witziger  der  erste,  der  es  dem  dritten  zur 
Last  legt)  heisst,  und  dass  in  einem  nach  dem  Dänischen  (vor 

finden,     sondern     lediglich     im      anderen     Dialekt     der     germanischen 
Angelsächsischen".  Sprache    (Zusatz,    d.  h.    der    nor- 

dischen und  deutschen,  denn  die 
letztere  darf  nicht  übergangen  werden, 
falls  der  Satz  des  Forschers  einigen 
Sinn  haben  soll,  wenn  sich  im  Angel- 
sächsischen nicht  allein  die  Wörter 
wiederfinden,  sondern  noch  bei  einem 
anderen  GHed  der  Familie,  wie  kann 
das  Borgen  dorther  daraus  gefolgert 
werden?)  wiederfinden,  sondern  ledig- 
lich im  Angelsächsischen. 

Anmerk.     Dass  ich  meine  Worte 
anführte,  ist  auch  daraus  klar,    dass 
ich  sie  nicht  mit  Häkchen  bezeichnete, 
welches  bei  des  Forschers  seinen  ge- 
schehen ist. 
Wer  nun  Lust  hat,  etwas  Gemeines  zu  lesen,  der  sehe  in  der  Antikritik 
nach,   wie   der  Forscher  weiter  spricht,    über  Verfälschung  und  dergl.  mehr, 
welche  so  gewiss  nicht  da  ist,  als  sie  da  ist,  wenn  er  z.  B.  angibt,  ich  halte 
seine  Hypothese  vom  angelsächsischen  Ursprung  für  die  Hauptidee,    während 
ch  sie  nur  als  das   einzige  Neue  und  Eigenthümliche  angegeben:   die  Haupt- 
sache ist  das  Alte,  von  Schlötzer  und  Adelung  schon  übrig  Bekannte,  hier  mit 
einer  schnarrenden  Rede  bloss  neu   aufgesteift  usw.     Übrigens  ist  dem  Rec. 
(will  er  zu  seiner  Schande  bekennen,   aber  wer  kann  eine  so  gründliche  For- 
schung   auslernen?)    doch  noch  ein  neuer  und  eigenthümlicher  Gedanke  ent- 
schlüpft,  auf  den   ihn  der  Leipziger  Rec.   erst  wieder  aufmerksam  gemacht. 
Thors  Bilde  setzte  man  täglich  vier  Brote  und  darnach  im  Verhältnis  Fleisch 
vor;  als  aber  das  Idol  niedergestürzt  wurde,  wimmelte  das  Innere  von  Mäusen 7 
Eidechsen  und  anderen  Thieren,   „die",  setzt  der  Forscher  und  mit  Bedacht 
hinzu,    „sich    die    Opferspendungen    vermuthlich    zueigneten"    s.  p.  12    seines 
Werkes.     Was  ist  wahrscheinlicher  als  diese  Vermuthung!  wie  mögen  sich  die 
Thiere  über  die  guten  Bissen  hergemacht   haben,   die  man  doch  gewöhnlich 
zum  Opfer  bringt!  auch  hierin  zeigt  sich  das  Feine  der  Idee  auffallend.    Hätte 
uns  das  Glück  gelächelt  und  Hr.  R.  selber  etwa  den  Hergang  belauschen  und 
mit  eigenen  Augen   den  Betrug  der   unverschämten  Thiere  entdecken  können, 
so  wäre  alles  unnütze  Geschwätz  über  die  Echtheit  der  nordischen  Mythologie 

*)  [Dies  bezieht  sich  auf  das  Öhlenschläger'sche  Lied  Maria,  Kl.  Sehr.  I, 
S.  246.] 


EPIKRITIK  GEGEN  RÜHS.  103 

4  Jahren  oder  länger  aus  Gefälligkeit)  übersetzten  Lied,  das 
ohne  mein  Wissen  dort  abgedruckt  worden,  wiewohl  ich  nichts 
dagegen  habe,  eine  absichtliche  Freiheit  unerlaubt  sei,  denn 
übersetzt  er  nach  seinem  Verstand; 

legt  ihn  an  ihre  volle  Brust. 
Vogelfang  ist  ihre  Stimme 
und   nicht:    ist   ihre  Lust,   so   kommt  er  zu  jenem  Poeten,    der 
es  vor  allen  zu  treffen  hoflfte,  wenn  er  sprach: 
Ich  bin  genannt  der  Hänslein  Stolz 
imd  fuhr'  einen  Wagen  mit  Scheiter. 
Wo  er  ist,    will  ich  nicht  verrathen,  sonst  trägt  ihm  Hr,  Prof.  13 
Rühs    seiner   Forschungen    wegen,    die   Zeit  kosten,    die   Aus- 
arbeitung der  Antikritiken  auf,  und  ich  muss  gegen  vereinigten 
Scharfsinn  kämpfen. 

Damit  hab'  ich  auf  das  geantwortet  (welches  ich  als  Rec. 
dem  Institut  schuldig  bin,  sonst  würden  mich  die  Paar  Tropfen 
guter  Tinte  dauern,  die  ich  daran  wenden  müsste),  was  gewiss 
noch  den  meisten  Schein  hat  in  der  Antikritik;  wer  unseren 
Forscher  versteht,  weiss,  dass  es  stark  auf  die  Sache  eingeht, 
wie  das  Übrige.  Ich  benutze  diese  Gelegenheit,  einen  wirk- 
lichen Fehler  in  meiner  L'bersetzung  der  Kämpeviser  anzuzeigen, 
Slaa  nämlich  im  Lied  von  dem  Helden  Vonved  [No.  57]  V.  42 
und  46  heisst  nicht  (wie  sonst)  Riegel,  sondern  Schlehe,  was 
auch  in  dem  Zusammenhang  einen  besseren  Sinn  gibt;  ich 
verdanke  diese  Bemerkung  meinem  Bruder. 

Cassel  im  Januar  1813.  W.  C.  Grimm. 

längst  abgeschnitten.  Denn  Rec.  muss  es  nur  gestehen,  dass  er  in  einigen 
schwachen  Minuten  daran  gedacht,  ob  der  hölzerne  Klotz,  denn  das  Opfer 
war  doch  einmal  fort,  nicht  etwa  am  Ende  aus  Übermuth  oder  wer  weiss 
aus  welchem  anderen  Grund,  Lust  bekommen  und  sich  auf  irgend  eine  Art 
darüber  erbarmt.  Zu  des  Rec.  Entschuldigung  dient  höchstens,  dass  das  Holz 
doch  unter  gewissen  Umständen  kracht,  knallt,  als  war'  es  ordentlich  bei  Leben 
und  Verstand  (z.B.  wenn  es  verbrannt  wird),  und  sodann  eine  gewisse  Ideen- 
verbindung mit  einem  oben  im  Text  hernach  vorkommenden  Vers,  in  welchem 
er  den  kunstreich  versteckten  Reim  entdeckt,  in  den  zwei  Zeilen,  was  einem 
ja  wohl  widerfährt,  verwechselt  und  dadurch  aus  dem  Holz  eine  lebendige 
Person  bekommen.  Aber  wie  wird  das  alles  von  jener  so  scharfsinnigen  und 
doch  höchst  einfachen  Erklärung  des  Forschers  niedergeschlagen! 


104  SENDSCHREIBEN  AN  GRÄTER. 


17  SENDSCHREIBEN 

AN  HERRN  FRIEDRICH  DAVID  GRÄTER, 

DER  W.  W.  DOCTOR,  RECTOR  UND  PROFESSOR. 

Drei  altschottische  Lieder  in  Original  und  Übersetzung  aus  zwei  neuen  Samm- 
lungen.    Nebst  einem   Sendschreiben  an   Herrn  Professor  F.  D.  Gräter  von 
W.  C.  Grimm.    Heidelberg,  bey  Mohr  und  Zimmer.    1813.    8.    S.  17—50. 

Vergönnen  Sie  einer  kleinen  kritischen  Arbeit  vor  Ihre 
Augen  zu  treten,  in  welcher  wenigstens  das  Bestreben,  unver- 
ständige und  ungerechte  Angriffe  abzuwehren,  auf  Ihren  Beifall 
hoffen  darf.  Wer  aber  könnte  besser  urtheilen  als  Sie  und  wer 
vor  Ihnen?  Sie  waren  ja  der  Erste,  der  uns  Deutsche  in  die 
Herrlichkeit  altnordischer  Dichtung  einführte,  indem  eine  Über- 
setzung der  zwar  schon  erläuterten  Edda  gleichsam  die  ver- 
steinernde Decke  abzog  oder  das  Eis  losschlug;  nicht  weniger 
der  Erste,  der  uns  aus  dem  zweiten  Theil  der  Sämund.  Edda 
9  Strophen,  „noch  nie  gedruckt  und  nie  erklärt",  in  dem  Urtext 
sammt  lateinischer  Übersetzung  („mirabuntur  viri  eruditi  et 
mirentur  licet  —  at  periclitandum  est!")  mittheilte*);  endlich 
waren  Sie  (ich  irre  gern)  auch  der  Erste,  der  das  reiche  Kämpe- 
visebog  öffnete  und  in  einigen  (unübertroffenen)  Übersetzungen, 
auf  die  ich  mir  in  der  Schrift  selbst  einmal  zurückzukommen  die 
Freude  mache,  gleichsam  einen  Vorschmack  gab.  Ich  weiss  nichts, 
was  ich  von  Bedeutung  dagegenstellen  könnte,  und  dürfte  ich 
vielleicht  mit  einigem  Vortheil  anführen,  dass  mich  meine  Corre- 
spondenz  an  Porto  Geld  genug  kostet,  so  wüsste  ich  doch  nicht 
zu  sagen,  dass  sie  bis  zum  Ebro  oder  gar  der  ungrischen  Sau 
sich  erstreckt.    Wichtigere  Arbeiten  hatten  Ihren  Geist  gefesselt, 

*)  [ Helga -Quida  haddingia  scata,  h.  e.  camien  de  Helgio,  Haddingorum 
heroe,  Sectio  I.  Specimen  eddicum  codicis  Vidaliani,  nunquam  antea  typis 
impressum  nee  interpretatione  illustratum.  Quod  programmatis  loco  in  Anni- 
versariis Majestatis  Regiae  Cal.  Jan.  MDCCCXI  celebrandis  publice  erudi- 
torum  examini  subjicit  Frid.  Dav.  Gräter,  Halae  Suevor.  1811  =  Odina  und 
Teutona  (s.  folg.  Ä.)  S.  211  —  224.] 


SENDSCHREIBEN  AN   GRÄTER.  105 

sonst  wäre  vielleicht  aus  ihm  und  Ihrer  Feder  eine  volle  Über- 
setzung der  Kämpeviser  uns  zugeflossen,  und  mir  waren  in  Hin- 
sicht des  Wenigen,  was  ich  dem  Geist  nach  zu  leisten  vermogte  *), 
im  voraus  die  Hände  in  den  Schooss  gelegt ;  statt  arbeiten  zu  is 
müssen,  hätte  ich  Ihr  Buch  vor  mich  nehmen  und  mich  poetisch 
erquicken  und  erbauen  können.  Freilich  dann  war  ungeboren, 
womit  uns  jetzt  das  neue  Magazin  Odina  und  Teutona  herrlich 
beschenkt.  Ich  nenne  zuerst  die  Übersetzung  eines  eddischen 
Lieds  ins  Griechische**),  wäre  diese  Arbeit  vollendet  oder  gar 
über  das  Ganze  ausgebreitet,  so  könnten  wir  hoffen,  in  einer 
geschickten  Zurückübersetzung  ins  Deutsche  (gut  war  s,  könnten 
sie  auch  noch  durch  das  Arabische  etwa  laufen)  den  eigentlichen 
Kern  dieser  Gesänge  aufgebissen  zu  sehen,  wie  Salzwasser  erst 
durch  so  viele  Dornen  tröpfeln  muss,  um  gehaltiger  zu  werden, 
oder  der  Wein  in  gleicher  Absicht  die  Linie  verschiedentlich 
passiren.  Doch  auch  dieses  wird  von  anderem  noch  übertroffen: 
mögte  es  Ihnen  gefallen,  uns  weiter  aus  den  öffentlichen  allbe- 
kannten Denkmälern  geheime  Memoiren  über  das  Einwandern 
jener  asiatischen  Heimtücker***)  scharfsinnig  auszuziehen,  so  dass 
herauskommt,  was  eben  kein  anderer  sieht.  Wie  deutlich  wird 
alles,  wie  greif  lieh  und  verständlich!  Man  glaubt  sich  in  der 
Nähe  der  Hofintrigue  und  sie  wie  mit  eigenen  Augen  anzu- 
sehen; sollte  man  die  Hoffnung  aufgeben,  etwa  das  Tagebuch 
des  Listigen  aufzufinden,  in  welchem  er  offenherzig  von  seinen 
gebrauchten  Mitteln  und  Ränken  spricht,  oder,  was  noch  mehr 
überzeugen  könnte,  die  Schneiderrechnungen  für  die  prächtigen 
Kleider,  in  welchen  sie  ein  albernes  Hirtenvolk  täuschten?  Ich 
muss   noch   einmal   sagen,   wie  greiflich  wird  alles,  und  denke 

*)  [Über  diese  Orthographie  s.  S.  121.] 

**)  [Odina  und  Teutona.  Ein  Neues  literarisches  Magazin  der  Teutschen 
und  Nordischen  Vorzeit.  Von  F.  D.  Gräter.  Erster  Band.  Breslau  1812. 
Bei  Carl  Friedrich  Barth.  S.  23  —  45:  Über  eine  griechische  Nachbildung  in 
homerischer  Sprache  und  Versen  der  nordischen  Göttergeschichte:  Skirners 
Fahrt  oder  die  Brautwerbung  des  Gottes  Frey.  Ein  Programm,  geschrieben 
von  Friedrich  David  Gräter.] 

***)  [Ebenda  S.  1—22:  Der  Donnergott  und  der  Asiate  Thor.  Ein  Bruch- 
stück aus  Werdomars  Jugendträumen.  Geschrieben  im  Jahr  1793.  Vergl. 
S.  XXV :  Ein  Versuch,  den  widersprechenden  Charakter  des  Gottes  Thor  aus 
der  geheimen  Geschichte  der  eingewanderten  Asiaten  zu  erklären.] 


106  SENDSCHREIBEN  AN  GRÄTER. 

dabei  an  eine  Ansicht,  die  alle  Veränderung  und  Epoche  in  der 
Religion  als  ein  von  einem  ewigen  Weltgeiste  rührendes  Fort- 
leben und  Bewegen  ansieht,  das  naturnoth wendig  ist  und  so 
wieder  über  allen  Menschen  steht,  und  welche  darum  der  Zeit 
und  den  Menschen,  in  welchen  es  sich  offenbarte,  eine  gewisse 
göttliche  Natur  beilegt,  die  ihnen  unbewusst  auf  ihrem  Haupt 
geruht,  wie  nur  auf  des  schlafenden  Servius  Tullius  Haupt  eine 
Flamme  brannte,  die  bei  seinem  Erwachen  verlosch.  Was  diese 
Ansicht,  zumal  roh  wie  hier  ausgesprochen,  für  einen  Namen 
verdiene,  das  wissen  wir  wohl,  Sie  haben  sie  selbst  gelegentlich 
19  an  sonst  gar  nicht  so  übelen  Schriftstellern  zu  tadeln  nicht  ver- 
fehlt oder  einen  Stein  auf  die  jungen  Titanen  geworfen :  Schade, 
dass  Jupiter  Berge  dazu  nahm,  sonst  war  kein  Unterschied. 
Allein  das  wollte  ich  eigentlich  bemerken,  dass  wie  man  bei 
ihr  des  Fadens  keinen  rechten  Anfang  auf  der  cultivirten  Erde 
finden  kann,  sondern  immer,  wenn  man  sich  nasführen  lässt, 
wie  nicht  recht  gescheidt  hinterherläuft,  so  ist  doch  bei  der- 
jenigen, welche  Sie  aufstellen,  gar  wohl  das  möglich :  das  fremde 
wunderbare  Element,  will  man  sagen,  Göttlichkeit,  fallt  heraus, 
die  Menschen  handeln  bloss  irdischer  Zwecke  halber,  denen  man 
auf  den  Zahn  fühlt,  weil  man  sie  aus  Erfahrung  kennt ;  ja  man 
sieht  hinter  die  Coulissen  und  weiss,  was  daselbst  die  Jahr- 
hunderte darnach  verehrten  Götter  für  Creaturen  waren.  Vettern 
und  Basen  waren  darunter,  wie  Sie  uns  mittheilen. 

Ich  komme  aber  ab  und  wollte  von  der  Recension  *)  reden, 
deren  Antikritik  vor  Ihnen  hier  erscheint,  nicht  ohne  einiges 
Gefühl  solcher  Kühnheit.  Als  ich  diese  Recension  zuerst  er- 
blickte und  ihre  Ausführlichkeit,  die  in  dem  Schein  von  Gründ- 
lichkeit sich  zu  gefallen  schien,  so  glaubte  ich  nicht,  dass  ich 
am  Ende  mit  der  besten  Empfänglichkeit  fiir  Belehrung  mich 
nicht  zu  Abänderung  eines  Jotas  in  meiner  Arbeit  bewogen 
sehen  würde.  Ich  hoffte  einige  Minuten  lang  eine  Recension 
zu  finden,  welche  alle  Irrthümer  scharf  und  genau  angegeben 
hätte,    wäre    dann    noch    etwas    übrig   geblieben,    an   dem   der 


*)   [Der  Altdänischen   Heldenlieder  in   den  Heidelbergisclien  Jahrbüchern 
der  Litteratur.    Jalirgang  VI  (1813)  Bdl,  No.  11  —  13,  S.  161  —  198.  unter/.:  T.] 


SENDSCHREIBEN  AN  GRÄTER.  107 

Recensent  nichts  auszusetzen  wusste,  so  wären  mir  drei  Worte 
Anerkennung  davon  das  liebste  Lob  und  gerade  so  viel,  als 
nöthig  gewesen  und  ich  verdient  hätte.  Denn  ein  blosses  fades 
Lob  ist  mir  noch  mehr  zuwider  als  elender  Tadel,  und  ich 
wüsste  nicht,  wie  der  Rec.  sich  anders  übertreflPen  könnte,  als 
durch  ein  Umsatteln  zu  jener  Manier.  Die  Recension,  die  ich 
mir  als  gute  vorstelle,  vereinigt  grosse  Schärfe  und  grosse  Milde, 
und  ihr  steht  nichts  mehr  gegenüber  als  eine,  wie  vorliegende, 
die  gesuchten,  falschen  Tadel  wie  einen  Iltis  durch  einiges  Lob 
wohlriechend  zu  machen  denkt,  aber  der  stinkt  bekanntlich  par- 
fümirt  nur  ärger ;  wären  die  Beschuldigungen,  die  er  aufzustellen 
sucht,  nur  halb  begründet,  es  war  seine  Pflicht  ganz  anders  zu  20 
reden. 

Hätte  der  Recensent  sich  begnügt,  seine  Wahrheitsliebe  zu 
loben  und  meine  Arbeit  eilfertig,  ungeschickt,  fehlerhaft  und 
geistlos  zu  nennen,  würde  ich  einen  Rath,  den  Ihre  nur  leis 
auftretende  Gesinnung  mir  gewiss  gibt,  von  selbst  befolgt  haben, 
nämlich  kein  Wort  geantwortet,  den  Rec,  so  hoch  er  sich 
macht,  übersehen  und  aus  meiner  Kindheit  mich  erinnert,  dass 
ja  des  schrecklichen  Knecht  Ruprechts  Haupt  nur  ein  einfaltiger 
Staubbesen  war,  mit  einem  weissen  Tuche  behängt.  Auch  der 
Trost,  den  Sie  mir  gleichfalls  geben  würden,  fallt  mir  schon 
ein,  dass,  weil  der  Beweis  dieser  Behauptungen  nicht  geführt 
sei,  ja  in  ihnen  selbst  A\  idersprüche  sich  darthun,  die  Schande 
am  Ende  doppelt  auf  ihn  zurückfalle.  Die  Freude  an  den 
Druckfehlern  hätte  ich  ihm  auch  gern  gelassen,  man  freut  sich 
selber,  einen  Menschen  einmal  so  wohlfeil  in  herzlicher  und 
wahrhaft  unschuldiger  Lust  zu  sehen.  Allein  zweierlei  machte 
es  doch  nöthig,  einmal  (zum  zweiten  Mal  natürlich  nicht  wieder) 
darauf  zu  antworten.  Erstlich  die  verschiedentlich  durch- 
brechende Begierde,  meine  Kenntnis  des  Isländischen  verdächtig 
zu  machen  (die,  wie  ich  selber  überzeugt  bin,  noch  gar  sehr 
wachsen  kann  und  muss);  diese  Begierde  sticht  ihn  so  sehr, 
dass  er  eine  der  verzeihlichsten  Nachlässigkeiten,  die,  wie  das 
Buch  selbst  beweist,  in  vielen  durchaus  gleichen  Fällen  nur 
einmal  vorkommt,  zur  Stütze  seiner  Behauptungen  macht.  Ich 
wünsche   bei   dieser  Gelegenheit   zu   meinem   Besten,   dass  mir 


108  SENDSCHREIBEN  AN  GRXTER. 

niemals  eine  grössere  kann  vorgeworfen  werden,  es  verhält  sich 
damit,  wie  mit  Druckfehlern,  die,  wie  ich  aus  Erfahrung  weiss, 
bei  der  schärfsten  Aufmerksamkeit  in  der  Correctur  unseren 
Augen  entgehen,  weil  man  das  Rechte  im  Sinn  hat,  und  ich 
behaupte,  nur  der  darf  hoflfen,  vor  dergleichen  sicher  zu  sein, 
der  sich  bewusst  ist,  innerlich  ganz  leer  zu  sein,  wann  er  sich 
zum  Schriftstellern  hinsetzt.  Zu  dieser  Begierde  konnte  ich 
nicht  länger  still  sein,  aus  Gründen,  die  Sie  wissen,  aber  auch 
ohne  diese,  und  glaubt  das  Publikum,  es  sei  hier  die  erste  An- 
21  reizung,  die  dieser  Recensent  ausgehen  lässt,  wird  man  es  na- 
türlich finden,  dass  ich  darauf  antworte.  Nicht  jeder  geniesst 
des  Vortheils,  wie  Sie,  dass  man  auf  den  freilich  noch  empfind- 
licheren Vorwurf,  der  in  Ihren  Worten  [Idunna  1812  No.  17 
S.  65]:  Sie  hoffien,  es  sei  ein  „edler"  Wettstreit  bei  der  Heraus- 
gabe der  Edda  liegt,  denn  ein  jeder  versteht  wohl,  was  darunter 
verstanden  war;  dass  man,  sage  ich,  eine  Zeit  lang  still  zu 
schweigen  sich  bewogen  sieht.  Der  andere  Grund,  warum  ich 
antworten  muss,  liegt  in  dem  Vorwurf  des  Reo.,  es  sei  meine 
Absicht,  ausgezeichnetes  Verdienst  herabzusetzen;  man  sehe  her- 
nach selbst,  mit  welchen  ungezähmten  Worten  er  diese  Unwahr- 
heit ausspricht. 

Es  entgeht  mir  nicht,  dass  ich  einiges  wage,  wenn  ich  den 
Streit  vor  Ihr  Richtschwert  stelle,  indem  mein  Gegner  offenbar 
ein  Schüler  von  Ihnen  ist,  was  Sie  zu  einiger  Parteilichkeit  be- 
wegen könnte.  Nicht  nur  aus  den  häufigen  Berufungen  auf 
Sie  und  sehr  richtigen  und  genauen  Citaten  Ihrer  Werke  ver- 
muthe  ich  dieses,  sondern  er  hat  auch  Ihnen  mehrmals  bestimmt 
nachgeahmt,  ich  komme  in  der  Antikritik  darauf,  einiges  ist 
ganz  plump  (was  Sie  zu  meinem  Vortheil  auch  wieder  gegen 
ihn  entrüsten  könnte),  aber  gleich  den  Eingang  mit  den  Gleich- 
nissen von  den  Palästen,  Häusern,  Hütten,  die  auf  seinen  Grund 
(versteht  sich  in  Einbildung)  ein  anderer  gebaut,  hat  er  Ihnen 
in  Geistesarmuth  aus  Ihrer  Vorrede  zu  Odina  und  Teutona 
8.  XIII  abgesehen,  ebenso  hat  er  aus  Ihrer  Beleuchtung  unserer 
Ankündigung  der  Edda*)  einige  Sätze  ziemlich  ausgeschrieben, 

0  Man  findet  sie  in  den  ersten  Blättern  der  Alterthumszeitung  Idunna 
von  1812.    [Jahrgang  I,  No.  17.  18,  den  25.  April  und  2.  Mai  1812,  S.  65—68. 


SENDSCHREIBEN   AN  GRÄTER.  109 

und  die  Welt  kauft  und  liest  auch  wohl  zum  zweiten  Mal,  was 
sie  in  der  Alterthumszeitung  schon,  und  versteht  sich  in  seiner 
Art  besser,  besass,  denn  wie  wir  beide,  Sie  und  ich,  wissen, 
enthält  es  des  Falschen  mehr,  als  uns  beiden  lieb  ist.  Der 
erste  Stich  ist  doch  immer  noch  schärfer,  als  solch  ein  weiterer 
Nach  stich. 

Übrigens,    damit   der  Recensent  die  Käufer  nicht  zu   sehr 
hinters  Licht  führt,  thue  ich  selber,  was  seines  Amtes  war,  und  22 
theile   in    dem  Anhang  [S.  51  —  56,   hier  natürlich  übergangen] 

71 — 72:  -Über  den  Aufsatz:  Die  Lieder  der  alten  Edda.  Eine  nähere  An- 
kündigung der  Herausgabe  des  2ten  Theils  der  sämundinischen  Edda  von  den 
Herrn  Gebrüdem  Grimm  zu  Cassel.  Im  Morgenblatt  1812.  Xo.  65.  66.  67  und 
68-  (=  Kl.  Sehr.  I,  S.  212  —  227.  587).  No.  69  fehlte  also.]  Der  Herr  Yerf. 
war  so  eifrig  für  die  gute  Sache,  dass  er  den  Schlnss  jener  Ankündigung 
nicht  einmal  abwarten  wollte,  sondern  lieber  gleich  Hand  ans  Werk  legte. 
Vielleicht  wird  zu  anderer  Zeit  das  Nöthige  nachgeUefert.  So  ward  auch  das 
attische  Salz,  das  anfangs  fehlte,  durch  ein  Paar  Antikritiken  im  Anzeiger 
F.  T.  d.  Hagens  Ausfall  Tom  12.  März  1812:  -Wie  es  in  den  Wald  hinein 
schallt,  so  schallt  es  wieder  heraus"  im  Anzeiger  No.  13,  den  4.  Juli  1812, 
und  -Zur  Weisung"  vom  15.  August  im  Anzeiger  No.  15,  den  22.  August  1812] 
herbeigeschafft.  Ein  anderer  Mitarbeiter,  der.  wo  ich  nicht  irre,  einmal  ein 
Register  zu  einem  Buch  gemacht  hat.  wnsste  zn  sagen,  dass  er  überzeugt  sei. 
wir  würden  halten,  was  wir  versprochen,  als  deutsche  Männer,  und  das  hat 
uns  freilich  hinlänglich  wohlgethan.  [Ich  weiss  nicht,  wer  gemeint  ist.]  Ein 
dritter  gieng  an  einem  anderen  Ort  als  Leipziger  Recensent  [anonjm  in  der 
Leipziger  Litteraturzeitung .  No.  255.  den  14.  October  1812,  S.  2039],  wo  ich 
ihn  nur  an  der  Löwentatze  erkannt  habe,  noch  kühner  heraus  und  meinte, 
Hm.  Gräters  Aufsatz  gegen  uns  enthalte  viel  Wahres,  ,.nur  zu  mild  aus- 
gesprochen", ein  süsser  Tadel,  sollte  man  meinen,  der  aber  dennoch  dem- 
jenigen, welchen  er  traf,  kann  heiss  gemacht  haben,  als  müsste  er  einen  Ehren- 
pelz in  der  Sonnenhitze  tragen.  Dieser  arme  Recensent  fällt  mir  wieder  ein, 
weil  er  in  der  Recension  von  Weckherlins  Beiträgen  (Hall.  Lit.  Ztg.  No.  59) 
[März  1813.  I,  S.  472]  zweideutig  und  fein  unserer  -lobpreisenden"  An- 
kündigungen des  Reinhart  Fuchs  gedenkt.  Da  nach  einer  Behauptung  seines 
Geistes,  die  wir  mit  Vergnügen  in  der  Recension  von  Schlegels  Deutschem 
Museum  in  den  Jen.  Ergänz.  Bl.  [1813.  No.  41,  I,  S.  326,  unterz.  a.  ß.  7.]  ge- 
lesen. -Dichtung  zeitUche  Dinge  so  darzustellen  hat,  dass  aus  ihnen  ein 
Gedanke  hervorgehe",  so  bitten  wir  ihn  auch  hier  seinen  Gedanken  her- 
vorgehen zu  lassen  und  entweder  massig  erstaunt  zu  versichern,  dass  er  es  so 
nicht  gemeint,  oder  eine  einzige  Stelle,  ja  ein  Wort  nur  anzugeben,  wo  wir 
etwas  anderes  als  das  treffliche  Gedicht  selbst  in  der  Ankündigung  und  Probe 
daraus  gerühmt.  An  unsere  Arbeit  dabei  haben  wir  nicht  gedacht,  da  wir 
uns  nicht  einmal  gern  citiren,  wie  dieser  Rec.  sich  mit  allen  E^nöpfen,  die  er 
an  seinem  Rock  und  über  blinden  Taschen  trägt. 


110  SENDSCHREIBEN    AN   GRÄTEK. 

verschiedene  Zusätze  und  Verbesserungen  mit,  es  ist  nicht  viel, 
aber  doch  etwas,  und  hätte  mein  Rec.  nur  gleich  so  viel  ge- 
geben, so  wäre  immer  einiges  in  der  Sache  gewonnen.  Dass 
ich  diese  besser  verstehe,  als  er,  werden  Sie  mir  darum  selbst 
gern  zugeben,  zumal  da  solch  ein  Lobspruch  mich  schwerlich 
stolz  machen  kann. 

Endlich,  sollte  einiges  gegen  alles  Bestreben  in  diesen 
Blättern  dunkel,  mystisch  oder  nicht  scharf  genug  ausgedrückt 
sein,  so  schreiben  Sie  es  in  gütiger  Nachsicht  einer  Zeit  zu, 
die  zum  Schaden  der  Kunst,  Litteratur,  der  Vorzeit  und  des 
guten  Geschmacks  auf  Abwegen  sich  befindet,  denen  man  mit 
aller  Mühe  nicht  ganz  entfliehen  kann. 


33  ANTIKRITIK, 

gegen  die  Recension  der  altdänischen  Lieder  in  den  Heidelbergischcn  Jahrbüchern 
No.  11.  12.  13  von  1813  [S.  161  —  198]. 

Ein  zweiter  Daniel,   ein  Daniel,   Jude! 
ungläubiger,   ich  hab   dich  bei  der  Hüfte. 

Graziano  in   Shakespears  Kaufmann  von   Venedig.     [IV,  1.] 

§    1. 

Die  Übersetzung  der  Kämpe -Viser  wurde  zu  einer  Zeit 
angefangen,  wo  ich  von  der  neuen  Ausgabe  Nyerups  noch 
nichts  wusste,  denn  was  eine  Ankündigung  vor  10 — 12  Jahren 
betriJÖft,  so  wird  mir  jeder  Litterator  Recht  geben,  dass  sie  nach 
der  Wahrscheinlichkeit  vor  den  ersten  24  Jahren  nicht  erscheine, 
und  so  lang  wollte  ich  aus  allerlei  Gründen  nicht  warten.  Als 
ich  von  dem  neuen  Vorhaben  hörte,  war  ich  schon  (1809)  mit 
Hrn.  Zimmer  verbunden,  und  ich  konnte  nicht  mehr  zurück- 
gehen. Ich  würde  dennoch  zu  zögern  gesucht  haben,  da  ich 
in  der  Thal  es  für  Unrecht  angesehen,  solche  Hilfsmittel  nicht 
abzuwarten,  allein  Nyerup  setzte  in  der  Ankündigung  (Axel 
und  Waldburg  S.  4)  den  Druck  noch  in  die  Weite;  dass  jetzt 
[1812]  dennoch  zwei  Theile  erschienen  (noch  2  —  3  sind  übrig,  Gott 
weiss,  wann  die  können  gedruckt  werden,  schreibt  mir  Nyerup), 


SENDSCHREIBEN   AN  GRÄTER.  Hl 

ist  unerwartet  und  durch  besondere  Unterstützung  gekommen. 
Ausserdem  ist  noch  zweierlei  zu  beachten.  Nyerup  wird  natür- 
lich eine  Auswahl  treflfen,  und  nach  seiner  Ansicht  bleiben 
solche  übertreibende  Stücke  (wie  No.  XIV  bei  mir)  zurück, 
dies  ist  gewiss,  da  er  (Nyerup)  in  der  Recension  meines  Buches 
meint,  es  würden  mir  wenige  für  diese  Mittheilung  Dank  wissen. 
Mir  sind  aber  diese  in  den  Nibelungencyklus  fallende  Stücke 
vor  allen  wichtig,  ich  habe  sogar  vorher  bei  Nyerup  angefragt, 
ob  er  neue  dieser  Art  geben  würde,  er  hat  es  aber  verneint; 
mithin  wird  meine  Ausgabe  für  diejenigen,  die  nicht  mit  Nyerup 
stimmen,  einigen  Vorzug  behalten,  aber  es  wird  auch  sonst  in 
der  neuen  Edition  manches  gestrichen  sein,  was  ich  nicht  aus- 24 
lassen  kann.  (S.  die  Reo.  von  Axel  und  Waldburg  in  den 
Heidelb.  Jahrb.)  [=  oben  S.  1—12].  Sodann,  verfliessen  zwischen 
meiner  Arbeit  und  der  neuen  vollständigen  dänischen  Ausgabe 
6  —  7  Jahre,  was  höchst  wahrscheinlich  ist,  so  war  ja  bei  der 
inneren  TreflFlichkeit  der  Lieder  die  Hoffnung  auf  eine  zweite 
Auflage  nicht  so  eitel  und  dann  leicht,  wenn  versäumt  war, 
nachzuholen.  Das  konnte  der  Rec.  überlegen,  ich  will  ihm 
aber  keinen  Vorwurf  darüber  machen,  dass  er  es  nicht  gethan? 
da  er  auf  den  ersten  Augenblick  Recht  zu  haben  scheint,  aber 
darüber  mach'  ich  ihm  einen  Vorwurf,  dass  er  mir  nicht  nach- 
gewiesen, wo  mich  der  unkritische  Text  zu  Fehlern  verleitet, 
was  doch  leicht  möglich  gewesen:  dies  würde  ihn  darauf  ge- 
führt haben,  den  Text  zu  vergleichen,  und  da  würde  er  ge- 
funden haben,  dass  ich  ihn  an  manchen  Orten  verbessert,  wovon 
hernach  einige  Beispiele  vorkommen.  Habe  ich  hier  gefehlt, 
so  gab  ihm  das  Gelegenheit  an  die  Hand,  mich  zu  corrigiren, 
dergleichen  wäre  etwas  werth  gewesen. 

§  2. 
Der  Rec.  übereilt  sich  sehr  und  spricht  von  Eile  bei  diesem 
Buch,  ohne  zu  wissen,  wie  lang  und  anhaltend  ich  daran  ge- 
arbeitet. Wer  die  Zeit  nicht  verzettelt  und  vor  allem  wer 
nach  Methode  arbeitet,  kann  manches  ausrichten,  während  ein 
anderer  in  litterarischer  Eitelkeit  Räder  schlagend  auf-  und  nieder- 
schreitet (beim  Wind   sieht's  am   lächerlichsten   aus,    denn   der 


112  SENDSCHREIBEN   AN  GRItER. 

fängt  sich  in  der  grossen  und  leichten  Maschine,  dreht  sie  auf 
die  Seite  und  herum).  Sogar  lässt  er  sich  verleiten  zu  sagen, 
dass  ich  in  Jahresfrist,  in  welcher  ein  anderer,  der  das  nonum 
prematur  in  annum  vor  Augen  hat,  kaum  ein  Lied  zu  be- 
friedigender Vollendung  bringe,  ihrer  hundert  auf  einmal  druck- 
gerecht zu  machen  verstehe;  ich  schlage  ihm  daher  vor,  die 
Übersetzung  der  122  Lieder  jenem  reisenden  Schwaben  zu  über- 
tragen, der  bekanntlich  200  Städte  gesehen  und  in  jeder  ein 
Jahr  gelebt.  Gut  indessen,  jedoch  stillschweigend,  widerlegt 
der  Rec.  den  Vorwurf  selber,  indem  er  keinen  einzigen  Fehler 
25  gegen  das  Original  aufzubringen  weiss  (s.  §  4),  auch  von  Fleiss 
spricht;  denn  dass  Übereilung  mit  genauer  Richtigkeit  nicht 
bestehen  könne,  begreift  er  nöthigenfalls  selber.  Ihm  gegenüber 
will  ich  thun,  was  ich  kann  und  darf,  aber  aus  freien  Stücken 
nicht  gern  thue,  mich  meiner  Aufmerksamkeit,  Arbeit  und  Mühe 
rühmen,  deren  ich  keine  gespart.  Alte  Ausdrücke,  die  kein 
dänisches  Lexikon  erklärt,  habe  ich  in  verwandten  Sprachen, 
namentlich  im  Nordischen  gesucht  und  daraus  manchmal,  wie 
ich  hofi'en  darf,  genügend  erklärt.  Ich  habe  mit  einem  gelehrten 
Dänen  [Steffens]  über  manchen  Ausdruck  zu  sprechen  Gelegen- 
heit gehabt,  über  die  schwierigen  ein  Register  gehalten  und 
bin  mir  bewusst,  keine  leichtsinnige  Arbeit  gegeben  zu  haben. 
Dennoch  habe  ich  mir  nie  eingebildet,  dass  sie  ganz  fehlerfrei 
sei,  was  schwerlich  eine  Arbeit  dieser  Art,  die  so  gut  als  gar 
keine  Vorarbeiten  benutzen  konnte,  sein  kann,  ich  selber  theile 
im  Anhang  einige  Verbesserungen  mit,  die  ich  theils  Freunden 
verdanke,  theils  rühren  sie  von  mir.  Nur  dieser  Rec.  hat  nichts 
finden  können,  und  ich  fordere  ihn  auf,  wo  er  etwas  weiss,  es 
öffentlich  anzuzeigen,  ich  habe  aber  ein  Gefühl,  als  wisse  er 
nichts,  und  er  habe  den  Ausdruck:  „hin  und  wieder  sei  der 
Sinn  sonderbar  verfehle  [S.  176]  nur  auf  gut  Glück  gebraucht. 
Hoffl  er  jetzt  noch  zu  finden  und  macht  sich  ans  Suchen,  so 
rath'  ich  ihm,  sich  genau  vorzusehen,  ehe  er  losschlägt,  denn 
bei  schweren  Fällen  habe  ich,  so  gut  ich  konnte,  die  Sache 
überlegt,  und  einigen  Grund  wird  die  Übersetzung  immer  haben. 
Findet  er  wirklich  etwas,  soll  mirs  lieb  sein,  ich  würd'  ihn  auf- 
muntern zu  der  Arbeit,  hätte  ich  mehr  Vertrauen  zu  ihm. 


SENDSCHREIBEN  AN  GRÄTER.  113 

§  3. 
Auf  zwei  Seiten  [178  — 180]  verbraucht  der  Rec.  Geist 
und  Geschick,  um  mich  zu  tadeln,  dass  ich  nicht  genau  citire  i), 
und  ich  traue  ihm  doch  zu,  dass  er  die  Titel  der  Bücher,  diese 
er  besser  citirt  verlangt,  auswendig  weiss.  Mir  sind  nur  Citate 
fatal,  welche  zeigen,  dass  man  nicht  selber  oder  nicht  genau 
und  ordentlich  nachgesehen;  richtige  findet,  wer  von  der  Sache 
weiss,  doch  gar  bald.  Ich  freue  mich  auf  Hrn.  Gräters  Miss- 
billigung, wenn  er  bemerkt,  dass  der  Rec.  (kalter,  prüfender 
Ansicht  wegen,  die  sich  Eingangs  rühmt),  wie  es  scheint,  sehr 
genau  citirt  und  berechnet,  die  Kämpe- Viser  enthielten  190  Lieder, 
ich  habe  nur  122  mitgetheilt,  also  seien  noch  68  zurück,  und 
damit  den  unglaublichsten  Leichtsinn  bewährt.  In  der  Vorrede 
der  Übersetzung  steht  sehr  bestimmt  und  ausführlich,  dass  ich 
der  Sammlung  auch  die  Elskovs -Viser  oder  Tragica  einverleibt 
und  alle  unter  der  Überschrift  mit  einem  T.  bezeichneten  daraus 
genommen  seien,  ich  kann  mir  nicht  gut  vorstellen,  dass  diese 
Stelle  (S.  IX)  [=  Kl.  Sehr.  I,  S.  179]  zu  den  dunkeln  und 
mystischen  gehöre.  Freunde,  die  ich  sie  zu  meiner  Beruhigung 
lesen  lassen,  versicherten  mich,  sie  verständen  sie  vollkommen  bis 
auf  den  Titel  des  Buchs,  weil  der  nämlich  dänisch  ist.  Das  hat 
aber  der  Rec.  gänzlich  übersehen,  erwähnt  dieser  Sammlung, 
deren  Mittheilung  ich  der  Güte  Nyerups  verdanke,  von  der  er 
schwerlich  das  Original  vor  Augen  gehabt,  mit  keinem  Wort  (so 
dass  ein  anderer  diese  noch  besonders  recensiren  könnte),  und 
der  Gute  glaubt  nach  der  Berechnung  offenbar,  die  Originale 
stünden  alle  in  seinem  Kämpevisebog.  Rec.  besitzt  dieses  Werk 
gewiss,  hat  aber  wegen  Ausarbeitung  der  Recension  nicht  Müsse, 


')  Er  zeigt  auf  diesen  zwei  Seiten  nur.  indem  er  ohngefähr  eine  Buch- 
händleranzeige  macht,  wie  man  Suhms  Fabelzeit  (d.  h.  Hm.  Gräters  Über- 
setzung, sonst  wäre  der  Titel  dänisch)  citiren  müsse.  Bloss  zufällig  habe  ich 
ein  paarmal  die  genauere  Bezeichnung  ausgelassen,  gewöhnlich  ist  sie  dabei 
(wie  S.  491.  493.  495.  509):  gefehlt  konnte  nicht  leicht  werden,  da  bei  anderen 
Werken  Suhms  der  Titel  auch  angegeben  ist,  wie  z.  B.  om  Odin.  Das  ist 
das  einzige  Citat,  was  er  eigentlich  als  undeutlich  tadelt;  übrigens,  meine 
Sünde  liegt  bloss  darin,  dass  ich  den  Übersetzer  nicht  citirt  habe;  der  Rec. 
thut  zwanzigfache  Busse  für  mich,  wo  er  aufspringt,  regt  sich  all  sein  Gut. 

W.  GKIMM,  KL.  SC;HK1I-TES.     II.  8 


114  SENDSCHREIBEN   AN  GRÄTER, 

es  noch  einmal  durchzulesen,  und  kann  sich  ja  nähere  Prüfung 
vorbehalten. 

Offenbar  also  sind  noch  mehr  als  68  Lieder  unübersetzt 
zurück,  die  nicht  mitgerechnet,  die  ich  aus  den  Elskovsviser 
27  nicht  aufnahm.  Recensent  mögte  gern  diese  Auslassung  tadeln, 
seine  Pflicht  war  (da  die  Nothwendigkeit  an  meiner  Stelle  eine 
Auswahl  zu  treffen  jeder  einsieht,  der  die  Sache  versteht)  i),  die 
übergangenen  Stücke  nachzulesen,  dass  er  dies  nicht  gethan, 
ist  aus  der  Berechnung  sichtbar,  und  so  tadelt  er  vergnügt  ins 
Blaue  hinein.  Ich  will  dagegen  Nyerups  Urtheil  aus  seiner 
Recension  (Dansk  Litteratur - Tidende  1811,  No.  15)  anführen: 
„at  han  ikke  forfode  har  oversat  hele  Peder  Syv,  forstaaer 
sig  selv;  han  har  gjort  et  Udvalg  af  de  bedste  Stykker,  og 
et  Valg,  som  man  for  det  meste  (nämlich  etwas  hängt  vom 
individuellen  Urtheil  ab;  und  wenn  ein  anderer  eins  noch  auf- 
nähme, würde  ich  ihn  gewiss  nicht  tadeln)  ikke  kan  andet 
end  billige.'* 

§4. 
Das  Vorangehende  war  allgemein,  ich  komme  jetzt  zu  dem 
Besonderen.  Der  Werth  einer  Übersetzung  besteht  vor  allem 
in  ihrer  Treue,  d.  h.  in  einem  genauen  und  richtigen  Verständnis 
des  Originals.  Hier  steht  es  mit  mir  leidlich,  der  Rec.  will 
mir  keineswegs  genaue  Kenntnis  des  Dänischen  absprechen, 
doch  sei,  wie  schon  erwähnt,  der  Sinn  „hie  und  da  sonderbar 
verfehlt".  Das  Beste  vergisst  er,  die  Beweise,  das  Einzige, 
was  er  [S.  176]  anführt,  ist  falsch,  ich  habe  faurt  unrecht 
übersetzt;  in  meiner  Ausgabe,  Kopenh.  1787  (man  mache  mir 
keinen  Vorwurf,  dass  ich  keine  andere  verglichen,  die  einzige, 
deren  ich  hätte  habhaft  werden  können,  war  eine  zu  Göttingen, 
diese  kam  Hrn.  Prof.  v.  der  Hagen  abhanden  und  erst  wieder 
zum  Vorschein,  als  mein  Buch  gedruckt  war),  steht  saa  snart 
over  alle  Quinde,  d.  h.  so  schnell;  dies  beziehe  ich  auf  das 
Singen   des  Weibes  und  jetzt  auch  wohl  auf  den  entzückenden, 

*)  Biarkamal  habe  ich  absichtlich  ausgelassen,  weil  es  nicht  in  diese  Reihe 
gehört  und  kein  Volkslied  ist,  nichts  wäre  unkritischer  und  ungeschickter  ge- 
wesen, als  dieses  darunter  zu  mischen. 


SENDSCHREIBEN   AN  CxRÄTER.  115 

sinnverwirrenden  nordischen  Hulderslot  und  ziehe  die  Lesart 
(leshalb  der  anderen:  faurt  vor.  Falsch  nenne  ich  in  einem 
etwas  anderen  Sinn  die  Angabe  des  Rec,  weil  er  selbst  gesteht, 
dass  ich  das  allbekannte  faurt  hundertmal  im  Buche,  sogar  in  -2^ 
demselben  Liede,  richtig  übersetzt;  ja  die  Belehrung,  was  es 
lieisse,  kann  er  nicht  zurückhalten.  Jeder  andere  hätte  sich 
besonnen  hier  zu  tadeln  und  einen  anderen  Grund  vermuthet. 
Kniv  übersetzte  ich  mit  Bedacht  durch  Messerlein,  weil  das 
deutsche  Knief,  Kneip  und  das  französische  canif,  dasselbe  Wort, 
auf  ein  kleines  Messer  leiten. 

Der  Recensent  stellt  meiner  Übersetzung  von  der  Elfen- 
höh  drei  andere  [S.  165 — 169:  von  Gerstenberg  (1766),  Herder 
(1778)  IV,  11,  Hang  (1805)]  als  besser  entgegen.  Es  ist  nichts 
widriger,  als  zu  zeigen,  wie  man  etwas  verstanden  und  wie  genau 
man  gewesen,  hier  muss  ich  aber  daran.  Elvershöhe  heisst  Elfen- 
höhe (Jamieson  übersetzt  auch  Elferhill),  jenes  dänische  Wort 
versteht  der  Deutsche  nicht  ^),  und  doch  lassen  es  alle  drei  un- 
übersetzt.  Die  Idee  des  Liedes  ist  diese:  Die  Elfen- Jungfrauen 
finden  den  halbschlafenden  Knaben,  denn  wunderbar  ist 
Träumen  und  Wachen  hier  vereinigt,  und  von  seiner  Schönheit, 


')  Und  darüber  geht  der  Recensent  leichtfüssig,  während  es  ihn  gewaltsam 
im  Genuss  der  altdänischen  Reliquien  stört,  dass  ich  die  dänischen  Namen 
dänisch  geschrieben:  es  war  eine  zu  grosse  Genauigkeit,  die  ich  hätte  ablegen 
können  und  was  vielleicht  in  Zukunft  geschieht.  Das  ist  die  einzige  Bemer- 
kung des  Recensenten,  die  ich  brauchen  kann,  und  die  allerleichteste,  die  man 
machen  konnte.  Dennoch  will  ich  hier  gern,  wo  Gelegenheit  da  ist,  in  einer 
Alliteration  Geist,  Genie  und  Geschmack  an  meinem  Rec,  so  weit  sich  das 
alles  in  seiner  Bemerkung  zeigt,  stark  und  viel  rühmen.  Es  ist  kein  Scherz, 
denn  man  erkenne  das  feine  Gefühl  eines  Kritikers,  den,  wie  wir  gleich  sehen 
werden,  die  ärgsten  Verstösse  gegen  das  Original  an  anderen  Übersetzungen 
nicht  hindern,  den  Vorzug  derselben  vor  den  meinigen  so  tief  zu  empfinden, 
dass  er  sie  als  weit  trefflicher  gegenüberstellt,  und  den  hernach  [S.  176]  doch 
ein  dänisches  V  (er  weiss  wohl,  es  wird  wie  ein  \V  ausgesprochen,  hat  aber 
hier  wirklich  das  Reclit.  unwissend  zu  sein)  so  sehr  irrt,  dass  er  vielleicht 
deshalb  vor  Widerwillen  das  Buch  zuschlagen  niusste.  Nicht  ganz  unähnlich 
sind  überhaupt  solche  Geister  einem  Springglastropfen:  man  behandele  die 
Hauptsache  ohne  Ängstlichkeit,  stosse  nach  Kräften,  der  Tropf  bleibt  stark 
und  fühlt  nichts,  aber  man  berühre  das  kleine  Schwänzchen  an  der  Spitze 
nur  mit  einem  Druckfehler  oder  einer  ungenauen  Orthographie,  so  ist  das 
Gemüth  verletzt,  und  alles  springt  krachend  vor  Schmerz  auseinander. 

8* 


116  SEXDSCIlRKIBIiN   AN  GKÄTER. 

29  entzückt,  wollen  sie  ihn  verführen,  aber  er  gehört  ihnen  erst  in  dem 
Augenblick,  wo  er  das  erste  Wort  mit  ihnen  spricht,  wo 
er  auf  sie  achtet  (dies  bestätigt  auch  die  jetzt  bekannte 
Volkssage  vom  Hahnenberg,  s.  die  Zusätze),  sie  versuchen  nun 
alles,  ihn  zu  bewegen:  Schmeicheleien,  Gesang,  der  die  ganze 
Natur  bewegt  und  wie  in  ihrem  Herzen  ergreift;  sie  versprechen 
Weisheit  und  Gold,  sie  tanzen  vor  ihm,  sie  drohen  mit  blinken- 
dem Messer,  der  Knabe  hält  sich  noch,  er  stützt  sich  in  der 
Angst  auf  sein  Schwert  und  klammert  sich  fest  daran,  doch 
die  Augen  kann  er  nicht  von  dieser  überirdischen  Schönheit 
abwenden,  schon  wankt  sein  Geist,  halbverwirrt,  er  will  sich 
zu  ihnen  neigen,  da  kräht  zum  Glück  der  Hahn,  er  erwacht, 
und  für  diesmal  ist  er  gerettet.  Ich  führte  darum  die  merk- 
würdige Stelle  aus  dem  Hüon  an  i),  wo  der  elfenartige  Oberon 
auch  nur  immer  ein  einziges  Wort  verlangt.  —  Str.  1  heisst  es 
nun:  mine  Öyne  de  finge  en  Dvale,  wörtlich:  meine  Augen 
empfingen  einen  Schlaf.  Meine  Augenlider  sanken,  Gerstenberg, 
ist  zu  vornehm  und  gesucht  für  das  Volkslied.  Meine  Augen 
begannen  zu  sinken,  Herder,  ist  besser;  ich  habe  übersetzt 
meine  Augen  begannen  zu  schlafen,  scheint  mir  einfacher 
und  kindlicher,  wie  man  sagt,  meine  Ohren  hören  statt:  ich 
höre,  was  nur  Unverständigen  ein  Pleonasmus  sein  kann.  Med 
mig  tale,  wörtlich  reden,  dahlen:  unterreden  Gst.  ist  ganz 
unpassend,  wie  man  fühlt,  Herders  Freiheit:  lieblich  winken 
entstellt  ganz  den  Sinn  und  nimmt  dem  Lied  die  Bedeu- 
tung; oJöfenbar  hat  sich  Herder  dazu  verleiten  lassen,  um  einen 
Reim  zu  haben.  Ich  sah  den  Nachdruck,  der  auf  dem  reden 
liegt,  und  habe  nach  diesem  Gefühl  übersetzt,  das  Dänische  ist 
freilich  besser,  weiss  es  jemand  leichter  auszudrücken,  so  will 
ich  es  gern  annehmen,  nur  komm  mir  keiner  mit  lispeln,  säuseln, 
wo  einfach  reden  steht.  Den  Refrain  lassen  alle  sehr  zum  Nach- 
theil  aus.  —   Str.  2  Kinn  für  Backen    bei  H.  falsch.    —  Str.  4: 

30  striden  ström  den  stilles  derved,  soin  förre  var  van  at  rinde, 
den  letzten  Halbvers   hat  weder  Gst.  noch  H.  verstanden,   der 

')  Franz.  Volksbuch  heisst  bei  mir:  wird  in  Frankreich  auf  den  Märkten 
verkauft.     Jenes  ist  mystischer  Ausdruck  [S.  187]. 


SENDSCHREIBEN   AN   GRÄTER.  117 

erste  übergeht  ihn  ganz,  der  zweite  übersetzt  ihn  aus  dem 
Kopf,  indem  er  etwas  dazu  setzt:  und  horcht  den  süssen 
Tönen,  wovon  keine  Silbe  da  steht,  van  freihch  findet  man 
nicht  im  dänischen  Wörterbuch ,  aber  es  ist  das  isländische 
vanr,  englisch  wont,  deutsch  gewohnt,  und  kommt  noch 
einmal  in  den  Kämpe -Viser  S.  110,  V.  32  vor,  wo  es  gleichfalls 
nicht  anders  kann  erklärt  werden.  —  Str.  5: 

Striaen  ström  den  stilles  derved,  som  forre  var  van  at  rinde. 

de  liden  smaa  fiske  i  floden  svani.  legte  med  deres  finde. 

Die  erste  Zeile,  wie  vorher  falsch,  die  zweite  übersetzen  beide 
gleichfalls  mit  einem  argen  Fehler:  spielten  mit  ihren  Feinden, 
da  Feind  doch  dreisilbig  fiende  heisst  und  finde  hier  ofiTenbar 
durch  finne  Flossfeder  muss  erklärt  werden.  —  Str.  6  in 
meiner  Ausgabe  fugle  i  floden,  hier  muss  i  lüften  emendirt 
werden,  wie  ich  übersetzt  habe:  aus  Jamieson  I,  226  sehe  ich, 
dass  eine  andere  Ausgabe  i  skofven  liest,  wie  Gst.  und  H. 
haben.  —  Str.  8  hasse,  beide  lassen  das  Wort  aus,  das  sich 
aus  dem  isländ.  bassi,  aper,  s.  Gudm.  Andr.  erklärt.  Jetzt  hat 
man  im  Dänischen  Vildbasse.  Übrigens  sehe  ich  aus  Hallager, 
dass  basse  in  Norwegen  auch  ein  Bär  heisst.  Str.  9  alt  i  den 
elver  faerd,  Gst.  lässt  es  aus,  H.  versteht  es  nicht  und  setzt 
dafür:  zu  buhlen  ihr  Herz  begehrt;  es  heisst  auf  dem  Elfen- 
zug, auf  der  Fahrt  oder  auch  Fährte,  wie  man  am  Morgen 
noch  ihre  Spuren  in  dem  bethauten  Gras  zu  sehen  glaubt.  Alt 
sad  fauren  unger  svend.  H.  übersetzt:  der  muntere 
Jüngling,  frei,  ohngeachtet  er  hier  gewiss  die  Worte  verstand, 
aber  ganz  zerstörend  den  Sinn  des  Lieds,  wo  ein  Träumender, 
Herzbeklemmter  da  sitzt.  Str.  10  wird  von  beiden  statt 
scharfes  Messerlein  nur  Messer  gesagt.  Str.  11  at  hauen 
havde  slaget  sin  vinge:  dass  der  Hahn  hätte  geschlagen 3i 
seinen  Fittich.  Gst.  und  H.  übersetzen  auch  wohl  aus  Miss- 
verständnis: dass  der  Hahn  krähte,  denn  dass  es  so  etwas 
sein  musste,  darauf  führt  der  Zusammenhang  nothwendig,  und 
dass  das  Krähen  zuletzt  durch  das  Schlagen  der  Fittiche  soll 
angedeutet  werden,  glaub"  ich  selber;  allein  wie  viel  lebendiger 
und  poetischer  daher  ist  es,  wenn  die  Bewegung  dabei  ausge- 
drückt wird.     War  hier  ein  Flickwort  erlaubt,   so  war  es:    so- 


118  SENDSCHREIBEN   AN  GRÄTER. 

fort,  weil  es  ofl'enbar  dem  Sinn  nach  heisst:  in  diesem  Augen- 
blick krähte  der  Hahn,  und  ich  daher  höchstens  nur  etwas 
bestimmter  ausgedrückt  habe. 

Mein  Rec.  fragt  viel,  erstaunt,  ruft  (wie  süss  schwärmend) 
aus:  nein}  so  darf  es  nicht  sein,  sonst  geht  der  Geist  verloren! 
Ich  will  hier  auch  einmal  fragen,  wie  ein  Recensent  würdig 
gelobt  werden  könne,  ob  man  auskomme  mit:  redlicher,  wahr- 
heitsliebender, aufrichtiger,  der  wie  dieser  solche  ganz  fehler- 
hafte sinnentstellende  Übersetzungen  i),  ohne  dies  mit  einem 
Wort  zu  bemerken,  öffentlich  vorhält  als  bessere,  dem 
Original  näher  kommende? 

Nach  demselben  Rec.  habe  ich  nirgends  poetisch  über- 
setzt und  von  dem  Zauber  dieses  Liedes  jede  Spur  getödtet. 
Worin  besteht  aber  die  Poesie?  In  dem  Ergreifen  des  Innersten 
des  Gedankens,  in  dem  Gefühl  desselben,  die  Worte  mögen 
dann  fallen,  wie  sie  wollen,  kommen  sie  aus  dem  Herzen,  so 
wird  es  ihnen  nicht  an  Gewalt  und  Eindringlichem  fehlen,  sind 
sie  noch  zierlich  gesetzt,  so  ist  es  gut,  aber  Worte  ohne  jenen 
festen  Sinn,  noch  so  gut  an  einander  gereiht,  sind  ein  gemeines 
Spiel  elender  aufgedunsener  Eitelkeit,  das  der  Sprache  Gewalt 
und  Wahrheit  unwiederbringlich  raubt  und  sie  in  ihrem  Herzen 
vergiftet,  und  das  einer,  der  es  nicht  verachtet,  wie  alles  Schlechte 
32  gar  bald  lernt.  Eine  jede  Übersetzung  steht  hinter  dem  Original, 
das  weiss  man,  nur  wo  man  den  Abzug  machen  will,  darüber 
ist  man  nicht  einig.  Gegen  den  Zeitgeschmack,  der  lieber  alles 
drauf  gibt,  wenn  er  nur  die  Form  wieder  erhält,  ich  lieber  an 
dem  Äusserlichen,  so  hab'  ich  lieber  gewollt,  dass  meine  Worte 
holpriger  wären  gegen  die  des  Originals,  als  der  Sinn  gegen 
den  Sinn  des  Originals,  und  eine  blosse  Assonanz,  wozu  andere 
Stellen  mich  genug  berechtigten  '^),  war  mir  lieber  als  ein  Reim, 

1)  Ich  hatte  bei  meiner  Übersetzung  wohl  Herders  Fehler  gesehen,  aber 
dieser  Mann,  vor  dem  ich  gern  mit  Ehrfurcht  zurücktrete,  gesteht  selbst  seine 
geringe  Bekanntschaft  mit  nordischen  Sprachen,  und  es  wäre  mir  nie  ein- 
gefallen, ihrer  zu  gedenken. 

^)  Um  nur  ein  Beispiel  zu  geben,  in  dem  ersten  Lied  von  der  Frau 
Grimild  sind  in  den  Str.  22  bis  43,  also  unter  21,  an  zwölf  unvollkommene 
oder  nicht  ganz  reine  Reime,  darunter  folgende:  Maend  Hielm,  Lön  Born, 
stang  frem,  mindste  finde. 


SENDSCHREIBEN   AN  GRÄTER.  119 

der  den  Sinn  entstellte.  Leichtigkeit  der  Worte  bei  Leichtig- 
keit gegen  den  Sinn  macht  sich  freihch  gar  leicht.  (Es  war 
daher  Grundsatz  geradeso  zu  übersetzen,  den  ich  auch  in  Zu- 
kunft befolgen  werde.)  Ich  will  hier  kein  L'rtheil  über  meine 
Arbeit  haben,  aber  das  kann  ich  nicht  anerkennen,  dass  das 
mir  Gegenübergestellte  besser  sein  soll,  da  es  den  Sinn  des 
Originals  wenigstens  nicht  ganz  begriffen  hat.  Gerstenbergs 
Übersetzung  ist  ganz  unbedeutend  und  nicht  zu  gebrauchen, 
Herders  so  gut  als  sie  es  sein  kann,  und  es  fehlt  ihr  nicht  das 
Eigenthümlich-angenehme,  was  alles  bekam,  das  er  anrührte; 
was  soll  ich  von  der  dritten,  der  von  Hang  sagen?  Hier  ist 
der  ganze  Ernst  und  die  Bedeutung  des  Originals  in  dünnen, 
wohlriechenden,  süssen  Reden  aufgegangen :  hohle,  leichte  Zucker- 
bäckerei, die  nach  nichts  schmeckt,  nicht  sättigt  und  nicht  er- 
nährt, vor  der  einem,  der  das  Alterthum  mit  seinem  ernsten 
Blick  liebt,  widert;  eine  solche  Bearbeitung  ist  wie  ein  ge- 
schändetes altes  Bild,  worin  die  Hauptfiguren  übermalt  und 
alles  neu  und  gleissend  angestrichen.  Der  wunderbaren  nor- 
dischen Elfe  ist  ein  Mvrthenkranz  aufo^esetzt,  den  irgend  eine 
Operntänzerin  verloren.  Ich  weiss,  dass  dem  innerlich  leeren, 
aber  in  Worten  fühlenden  ästhetischen  Pöbel  ^)  dergleichen  ge- 
fallt,  ich  missgönne  es  ihm  nicht,  mag  es  aber  nicht  lesen. 33 
Lässt  sich  Geist  und  Poesie  auf  diese  Art  erreichen,  so  entsag' 
ich  beiden  gem. 

Wer  Lust  hat,  mag  ungescheut  alle  Schüsseln  des  Lobes, 
die  ihm  vorgesetzt  werden,  von  der  grössten  bis  zur  kleinsten 
nicht  nur.  und  wär's  ein  blosses  Schaugericht  oder  Einladung 
von  einer  Standesperson  zu  einem  Diner,  wieder  aufzählen, 
sondern  auch,  was  schwarz  auf  weiss  sich  zeigt,  selbst  aus 
einem  längst  abgestandenen  esprit  gar  in  eigenen  Schriften 
wieder  abdrucken  lassen,  mir  ist's  wahrhaftig  nicht  möglich, 
meinem  Recensenten  eine  Stelle  aus  Njerups  Kritik  mitzu- 
theilen,  worin  dieser  gewiss  zu  gütig  über  den  poetischen 
Werth  meiner  Übersetzung  spricht.     Noch  mag  ich  sagen,  wie 

^)  Diese  poetischen  Moschnsratten  machen,  wie  die  auf  Ceylon,  den  reinen 
^^  ein  der  Dichtung  ungeniessbar,  wenn  sie  nur  in  den  Keller  kommen,  wo  er 
liegt,  wie  fest  er  auch  vor  ihnen  zugestopft  ist,  es  schützt  ihn  nicht. 


120  SENDSCHREIBEN   AN  GRÄTER. 

Männer,  deren  Urtheil  mir  etwas  werth  ist,  sich  geäussert,  weil 
ich  es  höher  halte,  als  das  allzulaute,  unnöthig  wachsame  Wesen 
dieses  Recensenten  damit  schweigen  zu  machen.  Haben  mich 
diese  Urtheile  nicht  stolz  gemacht,  so  schlägt  mich  des  Recen- 
senten seins  nicht  nieder  i). 


Ich  habe  fast  zu  lebhaft  gesprochen  und  trete  einmal 
heraus,  um  mich  an  Sie  zu  wenden  und  „meinen  gerechten 
Unwillen  über  seine  unbescheidene  Art  zu  urtheilen  (ich  borge 
diesen  Ausdruck  von  ihm  [S.  183])  in  eine  mildere  Empfindung 
aufzulösen".  Sie  nämlich  waren,  wie  fast  in  allem  so  auch  hier, 
der  Erste,  welcher  durch  echtpoetische  Übersetzungen  von  zwei 
oder  drei  Liedern  der  Kämpe -Viser  die  Bahn  gebrochen,  auf 
welcher  ich  („vielleicht  nur  durch  eine  falsche  Voraussetzung 
verführt!")  zu  meinem  sichtlichen  Nachtheil  nicht  fortgewandelt 
bin.  Nun  erlaube  ich  mir  die  Frage,  ob  ich  nicht  mit  einigen 
34  Ehren  hätte  auch  wohl  ganz  viereckige  Fehler  (es  ist  nicht  ge- 
schehen, aber  doch  ist  die  Frage  nicht  unnütz)  begehen  können, 
da  selbst  Ihrem  scharfen  Blick  manches  entgangen,  was,  sollte 
man  meinen,  einem  anderen  Mühe  kosten  würde  nicht  zu  sehen? 
Sie  sagen  gewiss  ja,  und  zur  Beschämung  des  Recensenten 
erlauben  Sie  mir  gern  einige  Beweise.  Bei  Kleinigkeiten  wollen 
wir  uns  nicht  aufhalten,  sondern  lieber  gleich  mit  der  Thüre 
ins  Haus  fallen.  Hedebys  Gespenst.  Str.  1  und  2:  ieg  lagde 
min  best  udi  beide,  Sie  übersetzen:  ich  legte  mein  Ross  auf 
die  Wiese  grün,  es  hätte  einen  schon  stutzig  gemacht,  wie 
das  anzufangen  gewesen,  wenn  es  nicht  klar  hiess:  in  Schlingen, 
beide,  hälde,  das  altdeutsche  halde,  bilde,  retinaculum. 
Dem  Pferd  wurden  die  Füsse  mit  einem  kurzen  Strick  gebunden. 
Str.  2:  til  tue,  Sie:  an  einen  Baum,  heisst  an  einen  kleinen 
Hügel,   Rain.      Str.    15:    han   beder  de   vilde   diur  i   lunde, 

■  ^)  Noch  eins  will  ich  in  einer  Note  bemerken.  Rec.  sagt  gelegentlich 
[S.  178.  187],  Syvs  Einleitungen  seien  durch  meinen  Anhang  nicht  ersetzt. 
Ich  verlange  von  ihm,  dass  er  etwas  Wichtiges,  das  zugleich  zur  Sache  gehört, 
als  übergangen  bemerke,  vorausgesetzt,  dass  es  an  sich  richtig  ist.  Ich  habe 
nicht  Zeit  und  Raum  daran  wenden  wollen,  Syvs  Irrthümer  zu  widerlegen, 
so  wenig  als  ich  mit  dem  vielen  Unbedeutenden,  das  er  mittbeilt,  mein  Buch 
füllen  wollte. 


SENDSCHREIBEN   .A>r  GKÄTER.  121 

Sie:  er  bietet  die  wilden  Thier*  im  Holz;  es  gibt  trübe  Tage, 
wo  ich  das  gar  nicht  einmal  verstehe  (wie  Rec.  mein  mögt 
nicht  versteht,  imperf.  von  mögen,  vielleicht  richtiger  so  als 
mocht  geschrieben),  es  heisst  aber,  erjagt;  bede  genau:  jagen, 
incitare,  schwed.  beta.  Ihre.  h.  v.  —  Weitere  Hilfe  leistet 
uns  der  Bär  auf  der  Dalby  Heide.  Str.  2:  saa  laed  (für  leed), 
Sie:  so  gut,  ist  zu  gut,  es  heisst:  so  hässlich,  wo  nicht 
wiederum,  was  ich  bei  dem  bekannten  Wort  glauben  muss, 
wenn  man  poetisch  übersetzen  will.  Umkehrung  des  Sinns 
nöthig  ist.  Str.  5:  paa  braaden,  Sie:  auf  der  Lauer,  heisst: 
bei  der  Speise,  beim  Fressen,  braad,  isländ.  bräth,  deutsch 
Braten,  und  zum  Uberfluss  vornen  noch  von  Syv  erklärt.  — 
Endlich  Dieterich  von  Bern  und  Olger  der  Däne.  Str.  1 : 
atten,  Sie:  acht,  sind  aber  achtzehn,  doch  zehn  mehr  oder 
weniger  verschlägt  der  Poesie  auch  nichts.  Str.  2:  de  red  des 
ikke  for  deres  liv,  Sie:  die  sind  verloren,  heisst  etwa  das 
Gegentheil:  sie  fürchten  nicht  um  ihr  Leben,  da  hier  nur 
räddes  kann  gelesen  werden;  das  hätten  Sie,  wenn  die  neue 
Ausgabe  erscheint,  gewiss  auch  gefunden.  Str.  6:  en  flue,:s5 
Sie:  ein  Floh,  heisst  aber  eine  Fliege,  ich  weiss  also,  wie 
sich  diese  poetisch  benennt.  Das  Beste  zuletzt  zweimal  Str.  12 
und  18  i  hu  (eine  der  häufigsten  Redensarten  in  den  Kämpe- 
viser),  Sie:  im  Nu,  heisst  aber:  im  Herzen,  Gemüth,  hu, 
mens,  schwed.  hug,  hog,  isländ.  hugr,  altdeutsch  huge. 
Man  sieht,  wie  selbst  das  nonum  prematur  in  annum,  das  bei 
Ihnen  gewiss  nicht  fehlte,  nicht  schützt  und  man  im  Nu  auf 
dem  fahlen  Pferd  reitet  ^). 


*)  Weniger  aas  Schonung,  die  hier  unnöthig  war,  als  aus  Furcht,  zu  einer 
Vergleichnng  mit  meiner  Arbeit  zu  reizen,  in  der  eine  solche  Kraft  und  Kühn- 
heit poetischen  Gefühls  sich  nicht  erhebt,  schwieg  ich  früher  von  diesem  durch 
die  schlimmsten  Verstösse  gegen  Sprache  und  Sinn  fein  aufgefassten  Geist. 
FreiUch,  begreife  ich  allmählich,  ist  es  schwerer  auf  diese  Weise  zu  übersetzen, 
da  man  sich  zu  entschliessen  hat  und  sattsam  zu  überlegen,  wo  aufs  Beste 
der  Sbn  des  Originals  hintangesetzt,  verkehrt  und  entstellt  werde.  Ich  bin 
gewiss  am  schlimmsten  daran,  denn  wo  mir  so  etwas  begegnet  wäre,  merkte 
man  gleich,  es  sei  Menschlichkeit,  keiner  würde  auf  den  Gedanken  verfallen, 
mir  deshalb  Geist  zuzuschreiben,  und  ich  gehe  leer  aus,  wie  ich  mich  auch 
anstelle. 


122  SENDSCHREIBEN   AN  GRÄTER. 

§    5. 

Was  den  Rhythmus  betrifit,  behauptet  der  Rec.  [S.  175], 
ich  habe  nicht  immer  die  gefälhge  Treue  beachtet,  der  Aus- 
druck ist  schwankend  und  mag  vorbeilaufen.  In  einem  hat  er 
Recht,  wenn  er  nämlich  sagt,  ich  irre  sehr,  wenn  ich  etwas 
Falsches,  was  er  S.  173  ausführt,  glaube,  nur  darin  hat  er  Un- 
recht, wenn  er  sich  einbildet,  ich  glaube  es,  ich  habe  das 
Gegentheil  ausdrücklich  in  der  Vorrede  angedeutet,  hier  setz' 
ich  hinzu,  dass  ich  Volkslieder  genug  singen  gehört  und  zwar 
vortrefflich  (ein  Freund  [August  v.  Haxthausen]  wird  eine 
schöne  Sammlung  solcher  Volksmelodieen  einmal  herausgeben)*), 
und  dass  nichts  natürlicher  ist,  als  dabei  zu  bemerken,  wie  um 
mehrerer  Accente  willen,  die  beim  Lesen  deutlich  sind  und  den 
Vers  offenbar  erweitern,  doch  die  Melodie  sich  nicht  darum 
wesentlich  ändere,  sondern  die  Worte  wieder  zusammenfasse, 
„der  Gesang  hat  den  los  zusammengehaltenen  Rhythmus  durch  sein 
-?6  Darüberschweben  wieder  verbunden",  so  drück' ich  mich  S.  XXXV 
[Kl.  Sehr.  I,  S.196]  in  der  Vorrede  aus,  deutlich  genug  für  jeden,  der 
nur  irgend  weiss,  wovon  die  Rede  ist;  aber  es  wird  auch  wieder 
eine  dunkele  Stelle  sein,  wobei  der  Rec.  glaubt,  sich  eine  Ehre 
zu  erzeigen,  wenn  er  sagt,  er  verstehe  sie  nicht,  es  war'  aber 
auch  anders  auszulegen.  Um  ein  Beispiel  zu  geben,  führt  er 
an,  in  Marstigs  erstem  Lied  erkenne  man  das  Silbenmass  des 
Originals  nicht  wieder,  ich  kann  geradezu  antworten,  dass  es 
nicht  wahr  ist,  Beweise  brauch'  ich  nicht  zu  widerlegen,  weil 
er  keine  anführt;  ich  verspreche  aber,  wenn  er  mir  Freiheiten 
zeigt,  darzuthun,  dass  sie  sich,  wo  nicht  immer  an  derselben, 
doch  an  anderen  Orten  finden,  da  ich  vor  der  Übersetzung  das 
Silbenmass  untersucht.  Was  er  speciell  aus  dem  Lied  von 
der  Elfenhöh  anführt,  vergleiche  er  einmal  mit  dem  Original, 
er  wird  finden,  dass  es  sogar  bis  auf  einige  Kleinigkeiten  mit 
diesem  übereinstimmt  und  ihm  nachgebildet  ist;  z.  B.  du  steh 
auf,  du  stat  op.  Dass  ich  bei  Str.  5  einen  Accent  mehr  habe, 
als  das  Original,  ist  richtig,  allein  wenn  er  nur  einige  Blätter 
umschlägt,  wird  er  an  anderen  Orten  in  einem  Halbvers  auch 
fünf,  in  einem  anderen  nur  drei  (z.  B.  det  var  iomfru  Gloriant) 

*)  [Vgl. Westfälische  Volkslieder  in  Wort  und  Weise,  hgg.  von  Alex.  Reiffer- 
scheid,  Heilbronn  1879.] 


SKNDSCHKEIliEX   AN  GKÄTF.R.  123 

finden:  also  muss  der  Gesang  auch  ausdehnen,  und  das  gibt 
ihm  die  Verschiedenheit,  wovon  ich  S.  XXXVII  [=  Kl.  Sehr.  I, 
S.  197  f.]  in  der  Vorrede  gesprochen,  während  die  Melodie  im 
Ganzen  dieselbe  bleibt.  Wenn  der  Rec.  [S.  172]  sagt,  meine  Ein- 
theilung  in  zweifachen  Hauptrhythraus  sei  verunglückte  Kunst- 
regelung, so  muss  ich  ihm  hier  kurz  antworten:  er  versteht  davon 
nichts,  was  dort  angedeutet,  ist  eine  Ansicht,  die  sich  auf  die  Be- 
trachtung der  epischen  Gedichte  vieler  Völker  gründet,  nächstens 
wird  der  ßec.  auch  spanische  Romanzen  in  langen  Zeilen  zu 
sehen  bekommen,  selbst  die  eddaischen  Lieder  lassen  wir  nach 
diesem  System  in  langen  Zeilen  abdrucken,  und  eine  Erläuterung 
wird  er  im  Commentar  finden.*)    Hier  würde  sie  zu  weit  führen. 

§  6- 

Eine  Hauptabsicht  des  wackeren  Deutschen  in  dieser  Re- 
oension  [S.  187  f.]  ist,  meine  Kenntnis  des  Isländischen  zweifel- 
haft und  achselzuckend  zu  betrachten,  er  sucht  jede  Gelegen- 37 
heit  dazu  auf,  und  der  Gedanke  daran  regt  sich  ihm  bei  jeder 
Bewegung,  wie  der  Klang  der  Schellen  an  einem  Judenschlaf- 
rock. Hierin  zeigt  sich  eine  offenbare  Nachahmung  des  Hrn. 
Gräter,  der  fast  auf  dieselbe  Weise  unsere  Ankündigung  be- 
trachtete. Es  ist  dies  eine  Weise,  die  wir  allen  empfehlen 
können,  die  gern  sich  sicher  stellen  wollen,  geräth  die  Sache 
nicht,  wie  man  nicht  wünscht,  doch  erwartet,  so  h^t  man 
Winke  gegeben,  wo  auch  nicht,  wie  man  sagt,  mit  einem 
Scheuerthor,  doch  deutlich  genug,  sollte  aber  einer  sein  Spiel 
haben  und  es  fiele  so  aus,  dass  man  nicht  darüber  herfallen 
könnte,  so  ist  dann  Stille  für  den  Vernünftigen  gut,  und  das 
vorausgeschickte  Lob  des  schönen  Enthusiasmus  (ist  auch  an 
mir  vornen  gerühmt)  sichert  und  deckt  wieder  alles.  Ich  prophe- 
zeie unserer  Ausgabe  der  Edda  diese  Stille,  nicht  in  einem 
eitlen  Wahn,  als  könne  sie  fehlerfrei  sein,  aber  weil  der  Fleiss, 
den  wir  uns  daran  zu  wenden  bewusst  sind,  nicht  ganz  vergeb- 
lich sein  und,  was  einem  Deutschen  möglich  ist,  ihr  etwas 
Eigenthümliches  geben  wird. 

Ich    will    hier    etwas    ganz    aufrichtig    erzählen.      Als    ich 
Isländisch  zu  lernen  anfieng,  hatte  ich  ausser  dem  Lexikon  des 

*)  [S.  Kl.  Sehr.  I,  S.  587.] 


124  SENDSCHREIBEN    AN   GRÄTER. 

Gudmund  Andrea  (die  Glossarien  bei  den  Ausgaben  des  In- 
stituts bekam  ich  erst  nach  und  nach  eigen)  kein  anderes  Hilfs- 
mittel als  die  Grammatik  von  Runolf  Jonson,  sie  ist  aber  so 
dürftig  und  verwirrt,  dass  man  mit  dem  besten  Willen  nicht 
fortkommt.  Die  erste  Regel  war,  an  den  Quellen  selbst  zu 
lernen,  so  schrieben  wir  uns  vor  sieben  Jahren,  als  wir  die 
jüngere  Edda  noch  nicht  besassen,  den  blossen  isländischen 
Text  von  dem  Göttingischen  Exemplare  und  späterhin  Biörners 
Kampa -Dater  ab.  Bei  einer  Sprache,  die  so  einfach  in  dem 
Periodenbau  (der  Prosa)  und  so  viele  Worte  noch  ohne  Zu- 
sammensetzungen klar  erhalten,  bringt  man  es  wohl  zu  einem 
Verständnis,  in  welchem  man  Prosa  bald  und  dann,  was  nicht 
allzuschwer  und  verwickelt  ist  in  den  Gesängen,  liest.  Es  gibt 
aber  ein  genaueres  Verständnis,  welches  bei  einzelnen  zweifel- 
haften Fällen  und  im  Detail  sicher  ist,  weil  es  nach  bestimmten 
38  Regeln  die  Schwierigkeiten  (alle  niemals)  zu  lösen  weiss.  Dieses 
genauere  Verständnis  verdanke  ich  erst  der  trefflichen  Gram- 
matik von  Rask  i),  worin  namentlich  die  verwickelte  Declination 
der  Subst.  Adject.  und  Pronomina  klar  sich  zeigt,  und  welche 
ich  nun  schon  zwei  Jahre  gebrauchen  kann  2).  Als  wir  die 
Edda  bestimmt  anzeigten,  befanden  wir  uns  durch  die  liberalste 
Güte  in  dem  Besitz  der  wünschenswerthesten  Hilfsmittel,  wovon 
wir  am  gehörigen  Ort  reden  werden,  die  uns  ein  Gelingen  ver- 
bürgten, soweit  es  Eifer  und  Liebe  zur  Sache,  Entferntheit  von 
reichen  Sammlungen  und  selbst  von  dem  Land,  wohin  jene 
Länder  gehören  und  dessen  Anschauunof   auch  das  Verständnis 

^)  Was  ich  früher  daher  aus  dem  Isländischen  übersetzte,  kann  solche 
einzelne  Fehler  in  sich  tragen,  manche  Arbeit  zur  Übung,  die  zum  Nachtheil 
des  Rec.  nie  für  den  Druck  bestimmt  war,  wie  z.  B.  eine  Übersetzung  der 
ganzen  Hervararsage  nach  dem  Originaltext,  darum,  was  gelegentlich  gedruckt 
ist  [s.  Kl.  Sehr.  I,  S.  171],  einzelnes  aus  der  Edda  bloss  nach  dem  isländischen 
Text,  verwerfe  ich  selbst  jetzt  als  unrichtig  oder  ungenau;  ich  glaube  gegen 
mich  strenger  zu  sein  als  gegen  andere. 

^  Wer  besseres  Talent,  als  ich,  zur  Erlernung  der  Sprachen  hat,  kann  in 
solcher  Zeit  ganz  andere  Dinge  thun.  Hören  wir  Hrn.  Gräter,  was  er  von  sich 
in  seiner  Alterthumszeitung  1812,  No.  6  sagt:  „in  weniger  als  zwei  Jahren 
hatte  ich  mich  der  dänischen,  schwedischen,  isländischen,  englischen  und 
holländischen  Sprache  so  weit  bemächtigt,  dass  ich  die  Lieder  der  Scalden 
in  ihrer  Ursprache  lesen,  die  sämmtlichen  Commentare  derselben  vergleichen 
und  gründliche  Resultate  aus  beiden  zu  ziehen  vennogte". 


SENDSCHREIBEN   AN   GRÄTER.  125 

seiner  Poesie  fördern  muss,  möglich  machen.  Theilnahme,  die 
uns  entgegengekommen  wäre,  fanden  wir  hier  so  wenig,  dass 
selbst  solche,  die  für  diese  Litteratur  enthusiastische  Gaukel- 
sprünge aller  Art  gethan,  lieber  sich  das  Gegentheil  offen  und 
versteckt  zur  Pflicht  machten.  Jetzt  bitten  wir  diese  zu 
schweigen,  bis  das  Werk  erschienen  ist,  von  dem  ich  ungern 
noch  öffentlich  rede,  dann  aber,  wo  sie  nicht  ebenso  auf 
Schweigen  bestehen,  mit  jeder  Art  von  Schärfe  zu  kritisiren, 
wozu  Anlass  nicht  fehlen  wird. 

Dies  frei  zu  sagen,  dazu  hat  mich  bloss  die  Gelegenheit, 
nicht  mein  Recensent  bewogen ,  der  leicht  abzufertigen  ist.  39 
Wollte  er  ohne  Bedacht  reden,  so  hat  er  es  getroffen.  Er 
rechnet  nämlich,  dass  ein  Fehler  gegen  das  Isländische,  der 
sieh  im  Buch  befindet,  zeige,  ich  habe  erst  bei  Erscheinung 
des  Buchs  1811  angefangen,  die  skandinavischen  Sprachen  zu 
lernen.  Und  doch,  was  war  natürlicher  zu  denken,  als  dass 
bei  einem  so  starken  Buch  der  Druck  ein  halb  Jahr  wegnahm, 
dass  das  Manuscript  noch  früher  musste  abgeschickt,  endlich 
noch  früher  ausgearbeitet  werden  und  demnach  anders  zu 
rechnen  wäre;  ausserdem  aber  will  ich  ihm  noch  sagen,  natür- 
lich ohne  es  ihm  anzurechnen,  dass  das  Manuscript  beinah  ein 
Jahr  früher  zum  Druck  nach  Sachsen  abgeschickt  war,  erst  bei 
einem  anderen  Buchhändler  lag  i)  und  im  Winter  180D — 1810 
eigentlich  fertig  gearbeitet  worden,  nur  ein  Paar  Noten  und 
Einzelheiten  sind  nachgesendet.  Ich  habe  damals  in  dem  An- 
hang ein  bedeutendes  Stück  aus  der  Wilkinasaga,  wenn  der 
Rec.  vergleichen  will,  kann  er  sich  leicht  überzeugen,  nach  dem 
nordischen  Original,  nicht  nach  der  schwedischen  Übersetzung 
verdeutscht,  das  lässt  er  ruhig,  aber  in  einer  metrischen  Strophe 
der  Hervararsage ,  die  ich  gleichfalls  darin  übersetzt,  hat  er 
einen  Fehler  entdeckt.  Dass,  wie  er  selber  gesteht,  ich  mich 
wieder  ans  Original  gehalten,  aus  Grundsatz,  um  an  die  Quelle 
zu  gehen,  und,  weil  ich  mich  überzeugt,  dass  die  schwedische 
Übersetzung  an  einigen  Orten  frei  und  ungenau  war  (ich  habe 
wirklich  in   derselben  Strophe   eine  Stelle   schon  genauer  über- 

')  Rec.  kann  sich   immer  in  portofreien  Briefen  bei  Herrn  Zimmer  dar- 
nach erkundigen. 


126  SENDSCHREIBEN  AN   GRÄTEK. 

setzt,  als  der  Schwede),  nichts  aufzunehmen,  was  ich  nicht  als 
richtig  einsah,  ferner  dass  ich  damals  sichtbar  nur  die  Vereh 
Ausgabe  hatte,  dieses  hätte  ihn  wohl  zu  einer  anderen  Folgerung 
bringen  können,  als  die,  welche  er  ohne  Scheu  aufstellt  und 
von  welcher  hernach  die  Rede  sein  wird. 

Indessen,  wie  dem  allem  sei,  einen  Fehler  hat  ein  Rec. 
Recht  und  Pflicht  mir  vorzuhalten:  worin  besteht  er  aber  hier? 
40 Ich  habe  das  pronom.  sd,  der,  für  sva,  so  (wie  es  auch  vor- 
kommt) so  angesehen.  Der  Fehler  an  sich  ist  richtig,  als  ein 
blosses  Übersehen  nicht  schwer  und  sehr  verzeihlich.  In  den 
Manuscripten  findet  ersieh  oft  als  Schreibfehler,  in  der  Verel.  Aus- 
gabe ist  sd  das  Pronomen  noch  nicht  mit  dem  Accent  bezeichnet, 
wodurch  es  sogleich  in  die  Augen  fällt,  sodann  hat  dieser 
Fehler  hier  auf  den  Sinn  gerade  gar  keinen  Einfluss,  endlich 
sind  im  Deutschen  beide  Bedeutungen  in  einem  Wort,  welches 
offenbar  äusserlich  dasselbe  ist,  vereinigt  (denn  wir  können 
richtig  sagen,  wiewohl  es  nicht  angenehm  klingt :  die  Anmassung, 
so  (quae)  hier  sich  zeigt,  ist  zehnmal  so  gross  als  der  Fehler). 
Der  Rec.  konnte  diesen  Fehler  bemerken  (ich  verlange  nicht, 
dass  er  ihn  entschuldigte),  es  war  mir  lieb,  ich  hätte  ihn  bei 
einer  Durchsicht  auch  gefunden;  er  konnte  auch  meintwegen 
sagen,  ihm  begegne  dergleichen  nicht,  denn  er  hätte  es  zu  ver- 
antworten gehabt  und  sich  zu  hüten;  allein  es  sticht  ihn  etwas 
stark,  ausser  jenem  allgemeinen,  vorhin  angeführten  Schluss, 
der  sich  auf  einen  Rechnungsfehler  stützt,  hier  noch  zu  folgern: 
„Hr.  Grimm  kannte  das  Pronomen  sa,  su,  that  noch  nicht" 
[S.  188].  Einerlei  war  es  ihm,  dass  dieses  Pronomen  natürlich 
überall,  häufig  in  den  Dämesagen  der  Edda,  die  man  vor  allem 
liest,  vorkommt  und  es  wohl  das  Erste  ist,  was  man  wissen 
kann,  er  war  gewiss  selbst  überzeugt,  dass  ich  es  wusste,  allein 
desto  schmählicher  war  der  Vorwurf,  und  ein  Mittel,  wie  ich 
ihn  abwenden  könne ,  sah  er  nicht  gleich.  Allein  es  fehlt  mir 
nicht,  und  ich  kann  unwiderleglich  das  Gegentheil  von  der 
elenden  Behauptung  beweisen,  wodurch  der  Recensent  auch  in 
sein  rechtes  Licht  kommt.  In  den  Stellen  nämlich  aus  der 
Wilkinasaga,  die  in  dem  Anhang  gleichfalls  übersetzt  sind, 
kommt  das  Pronomen   häufig  vor   und  ist   da  richtig  über- 


I 


SENDSCHREIBEN   AS  GRÄTEK.  127 

setzt,  ffleich  vomen  heisst  es  c.  170:  hvad  manna  mundi  sd 
vera,  was  für  ein  Mann  mag  der  sein.  C.  174:  ^ä  heitir  Et- 
geir,  der  Etgeir  heisst,  -*«  madr,  der  Mann,  und  noch  mehr, 
hieran  mag  es  genug  sein.  So  weiss  der  Recensent,  wie  oben 
bei  faurt,  alles  zu  übersehen,  um  argHstigen  und  ftilsehen4L 
Tadel  zu  gewinnen  i).  Hätte  er  etwas  über  meine  kleine  Ent- 
deckung gesagt,  die  mächtige  alte  Hervararsaga  in  diesem  \  olks- 
lied  wieder  zu  sehen,  versteht  sich  zweifelnd  oder  untersuchend, 
da  Abrahamson,  wie  ich  weiss,  sie  auch  nicht  für  wahr  hielt, 
so  war  das  besser  gewesen,  allein  da  ist  alles  still. 

Das    war    der    Hauptvorwurf   des    Recensenten,    und    der 
unterstrichene,   ausserdem  gibt  er  an,  ich  habe  in  den  Worten 

theim  gef  ek  emi 
e/stum  bradir 
den  Ausdruck  e/gtum  nicht  verstanden,  doch  macht  er  nicht 
gross  Wesens  davon,  darum,  weil  er,  wie  es  höchst  wahrschein- 
lich ist,  selbst  ihn  gegenwärtig  noch  nicht  recht  versteht.  Die 
Stelle  macht  einigen  Anstoss:  efstum  auf  Adler  zu  beziehen, 
wie  Verel.  thut^  ist  gezwungen,  äfstr  heisst  eigentlich  ultimus,^ 
und  nur  indem  man  die  Bedeutung  ausdehnt  und  hochfliegend 
darunter  versteht,  ergibt  sich  ein  immer  etwas  gezwungener 
Sinn,  und  ich  halte  die  Erklärung  wirklich  für  falsch.  Weil 
ich  das  Wort  damals  mir  nicht  recht  auslegen  konnte,  liess  ich 
es  aus,  da  der  Sinn  dennoch  klar  war.  Diese  Schuld  hoff*  ich 
gegenwärtig  abzubüssen,  indem  ich  eine  Erklärung  versuche, 
die  ich  nirgends  her  borge.  Indem  ich  nämlich  nachsehen  will, 
wie  es  mit  des  Recensenten  Weisheit  stehe  und  die  Ausgabe 
des  Instituts  aufschlage,  finde  ich,  dass  er  sie  daselbst  p.  40, 
Note  65  geliehen.  Aber  das  ist  das  Schlimmste,  er  hat  sie  (ich 
erlaube  mir  nur  zu  sagen,  wie  es  scheint)  nicht  recht  verstanden, 
denn  er  übersetzt  mir  vor: 

Diesem  Adler  geb  ich 

die  letzte  der  Speisen. 

')  Er  weiss  sich  auch  zu  hüten.     Ebendaselbst  S.  523  steht  hin  widforli, 
rnuss  aber  hinn  heissen,  da  jenes  das  Femininam  ist,  allein  der  (auch  nicht  an- 
gezeigte) Druckfehler  ist  klar,  da  zwei  Zeilen  vorher  hinn  hugfolli  steht.    Hier- 
schweigt der  Recensent  und  wirft  nichts  vor.    Der  Grund  wird  vielleicht  her- 
nach deutlich. 


128  SENDSCHREIBEN   AN  GRXTER. 

Ich  muss  hier,  wo  von  genauem  Verständnis  die  Rede  ist, 
4-2  annehmen,  dass  er  wörtlich  übersetzt,  demnach  wäre  efstum  der 
acc.  sing.  fem.  eines  Adject.,  denn  bräth  ist  ein  Fem.,  und 
hrüdir  wäre  der  gen.  pl.  Beides  ist  ganz  unmöglich,  und  ein 
Isländer  müsste  über  dergleichen  Zumuthungen  lachen,  aber 
wenn  er  hernach  v.  Hogna  sehen  wird,  was  der  Reo.  von  den 
Declinationen  weiss,  würde  er  mich  vielleicht  dazu  berechtigt 
halten,  dennoch  will  ich  es  nicht  und  nur  an  eine  Übereilung 
glauben.  Versteht  der  Rec.  wirklich  (wenn  er  es  erklärt,  will 
ich  es  gelten  lassen)  wie  die  Ausgabe  des  Instituts  den  acc. 
pl.,  so  begreift  man  durchaus  nicht,  warum  er  nicht  einfach  sagt  : 

Die  letzten  Speisen. 
ein  Druckfehler  ist  nicht  denkbar,  und  dass  jenes  poetischer 
sein  soll,  kann  ich  mir  noch  weniger  einbilden.  Dass  er  die 
Form  efstum  nicht  verstand,  das  ist  jedoch  auf  jeden  Fall  ge- 
wiss und  gibt  den  Ausschlag.  Es  ist  ein  abl.  (dat.),  wie  ist 
der  mit  dem  offenbaren  acc.  pl.  brädir  zu  vereinigen?  Stephanus 
Biörnsen  greift  durch  und  sagt,  es  stehe  geradezu  für  efstar. 
Nahm  Rec,  wie  es  scheint,  diesen  Ausweg  an,  so  musste  er 
sich  darüber  äussern,  auf  keinen  Fall  aber  war  er  berechtigt, 
zu  übersetzen,  wie  er  gethan  hat.  Ich  glaube,  efstum  steht  hier 
adverbialiter,  wie  sonst  häufig  fornum,  laungom,  fordum,  es  ist 
der  abl.  (dat.)  pl.  und  dagum,  timum  ausgelassen,  so  in  Oddru- 
nar-grätr.  Str.  1  : 

heyrda  ek  segia  i  sauge  fornom 

hörte  ich  sagen  in  der  Sage  in  alten  Tagen, 

demnach  heissen  die  zwei  Zeilen  wörtlich: 

diesem  Aar  geb  ich 

in  den  letzten  Stunden  Braten, 

mit  diesem  kommt  auch  die  lateinische  Übersetzung:  isti  do 
aquilae  ultimo  pabulum  überein  gegen  die  Erklärung  der  Note. 
Noch  besser  zeigt  sich  der  Rec.  in  folgender  Bemerkung 
[S.  186] :  „Hr.  Grimm  wird  im  Verfolg  seiner  Studien  statt  Hogna 
Hogni  oder  Hogne  sagen,  Hogna  ist  die  weibliche  Form, 
und  Rec.  hat  es  sonst  auch  gebraucht."  Ich  muss  hier 
zweierlei  voran  bemerken:  erstlich,  ich  konnte  die  Correctur 
43 nicht  selbst   besorgen   (wenn   man  dies  bedenkt,   wird  man  das 


SENDSCHREIBEN   AN  GRÄTER.  129 

Buch  recht  correct  finden)  und  schrieb  daher  jeden  etwas 
schwierigen  Namen  noch  einmal  mit  lateinischen  Buchstaben 
besonders  auf  oder  neben  bei.  Sodann  bei  der  Übersetzung 
aus  dem  Isländischen  wollte  ich  aus  übergrosser  Genauigkeit 
die  Declination,  wie  sie  im  Isländischen  vorkommt,  stehen 
lassen,  wie  man  ja  auch  wohl  Jovis  usw.  sagt,  was  freilich 
nicht  nöthig  war.  Ich  sagte  daher,  wo  der  nom.  war,  Hogni 
(S.  427.  432)  und  im  gen.  (S.  482  AT.)  Heimis  Hornboga,  Hogna. 
Bei  dem  Fragment  aus  der  Hervararsage  war  es  ebenso:  zu 
Ingibiorg  (den  nom.  hatte  ich  cap.  4  schon  vor  mir  und  in 
Hrafnborg  S.  320  der  Rec.  vor  sich),  als  der  dat.  vorkam: 
Ingibiorgu  den  Ring  zu  bringen,  schrieb  ich  zufallig  noch  mit 
lateinischen  Buchstaben  den  Namen  neben  an;  der  Corrector 
glaubte  sich  daher  verpflichtet,  überall  dahin  abzuändern,  und 
so  kommt  jetzt  Ingibiorgu  als  nom.  und  acc.  vor.  Ich  habe 
es  bei  den  Druckfehlern  nicht  bemerkt,  in  meinem  Exemplar 
war  längst  alles  corrigirt.  Was  thut  nun  mein  Recensent,  dass 
anderwärts  ich  im  nom.  Hogni  geschrieben,  übersieht  er  nach 
seiner  ehrlichen  Sitte  wieder,  meint,  der  offenbare  gen. 
masc.  sei  die  weibliche  Form,  und  gesteht,  dass  er  in 
ähnlichem  Fall  selbst  so  geschrieben  Wohlklangs  wegen.  Da- 
bei ist  ferner,  dass,  spricht  er  bloss  von  Namen,  es  auch  männ- 
liche gibt,  die  auf  a  ausgehen,  z.  B.  Sifka  Vidga  in  der  Wil- 
kinasaga  und  weibliche  auf  /,  wie:  Signi  Skadi,  spricht  er 
aber  allgemein,  dass  a  nicht  ausschliesslich  das  fem.  anzeigt, 
da  auch  neutra  auf  a  ausgehen  (wie  hiarta,  auga^  Rask.  S.  30), 
so  wie  umgekehrt  i  nicht  ausschliessend  das  masc.  anzeigt,  da 
es  auch  fem.  auf  i  gibt  (z.  B.  bi/nU,  heidi,  Rask.  S.  50).  Nun 
borg*  ich  mit  einer  vernünftigen  Abänderung  die  Redensart  des 
Rec.  [S.  188]:  „ein  wahrer  Beweis,  wie  es  scheint,  dass  der 
Rec.  wenigstens  zur  Zeit  der  Abfassung  der  Recension  die 
scandinavische  Sprache  erst  zu  lernen  angefangen  hat  und  be- 
sonders die  Declinationen  noch  nicht  verstand". 


W.  (iRIMM,   KL.  SClIRirrKN.     11. 


130  SENDSCHREIBEN   AN  GRÄTER. 

44  Ich  sag:  ein   Daniel!  ein   zweiter  Daniel! 

Dank,  Jude,   dass   du  mich   das  Wort  gelehrt! 

Kaufmann  von   Venedig.     S.  125.  [IV,  l.J 

Ich  springe  wieder  ab,  um  bei  Ihnen  anzufragen,  wie  Sie 
von  einem  solchen  Recensenten  denken;  sollte  er  aufgeklärte 
Lehrer  haben  nachahmen  wollen,  die  Zöglingen  vorwerfen,  was 
sie  nicht  verdienen,  bloss  um  die  Einbildung  ihnen  zu  nehmen, 
als  seien  sie  schon  so  klug,  wie  sie  selber?  Darin  aber  geben 
Sie  mir  unbesehens  Recht,  dass  ich  das  schmähende  Urtheil 
auf  ihn,  der  es  verdient,  zurückgeworfen,  da  er  breit  (gleichsam 
mit  grossen  Rosinen  in  der  Tasche)  eine  falsche  Lehre  gibt 
und  mit  Vorsatz  sich  in  Unwissenheit  zeigt.  Übrigens  aber, 
und  das  ist  mir  am  meisten  werth,  was  meine  Übereilung  und 
meinen  Fehler  mehr  als  entschuldigt,  was  mich  sichert  und  mir 
gleichsam  Ehre  daraus  bereitet,  ich  kann  mich  zu  Ihnen,  einem 
Veteranen  in  dieser  Litteratur,  der  schon  so  lange  den  scandi- 
navischen  Sprachen  sich  weihte,  wogegen  die  Jahre,  die  ich 
aufwenden  konnte,  in  der  That  recht  armselig  erscheinen,  ich 
kann  mich,  sage  ich,  zu  Ihnen  flüchten.  In  Ihrem  nämlich  so 
treflPlichen  neuen  litterarischen  Magazin  i),  denn  frühere  Arbeiten, 
dergleichen  meine  doch  ist,  wollen  wir  lieber  nicht  untersuchen, 
steht  in  der  Abhandlung  von  dem  Königstitel  Folgendes: 

liod  ek  than  kann,  er  kannat 
thiodans  kona  ok  manskis  mögiir. 

45  Nun  ist  aber  liod  ein  neutr.  pl.  und  verlangt  daher  thauj 
wie  auch  im  Runacap.  steht;  wollten  Sie  sich  meiner  schämen 
und  durch  einen  Druckfehler  entspringen,  so  halt'  ich  Sie  fest, 
denn  Sie  übersetzen  munter:  dieses  Lied  kann  ich,  Sie  müssten 

0  Ich  citire  einmal  genau:  Odina  und  Teutona,  ein  neues  literarisches 
Magazin  der  Teutschen  und  Nordischen  Vorzeit  von  F.  D.  Gräter.  Mit  einer 
Titelvignette,  darunter  runisch  Thor.  Erster  Band.  Breslau  bei  Carl  Friedr. 
Barth.  1812.  Dieser  Titel  in  Kupfer  darauf  noch  einmal  gedruckt,  gleich- 
lautend. Braga  und  Hermode,  oder  neues  Magazin  für  die  Vaterländischen 
Alterthümer,  der  Sprache,  Kunst  und  Sitten,  herausgegeben  von  F.  D.  Gräter. 
Fünfter  Band.  Breslau  bei  Carl  Friedr.  Barth.  1812.  Bragur,  ein  literarisches 
Magazin  der  deutschen  und  nordischen  Vorzeit.  Herausgegeben  von  F.  D. 
Gräter.  Achter  Band.  Breslau  bei  Carl  Friedrich  Barth.  1812.  Vorrede 
XXXin  und  418  Seiten,  auch  2  Seiten  Verbesserungen  in  8.  Alles  in  einem 
Band. 


SENDSCHREIBEN   AN  GRÄTER.  131 

aber  gesagt  haben:  diese  Lieder,  da  liod  thau  der  acc.  p]. 
ist,  nach  Ihrer  Übersetzung  aber  liod  that  stehen  müsste,  was 
aber  den  Worten  entsjegenlaufend  auch  unerlaubt  wäre.  Denkt 
man  eine  Minute,  Sie  hätten  than  für  acc.  s.  masc.  gehalten, 
so  müsste  es  thann  heissen;  wie  man  sieh  wendet,  kommt  man 
nicht  heraus.  Nun  müsst"  ich  mir  ein  Gewissen  daraus  machen, 
wenn  ich,  ohngeachtet  die  lateinische  Übersetzung  dabei  klar 
und  richtig  hat:  carmina  illa,  Ihnen  vorwürfe,  Sie  wüssten  den 
acc.  s.  und  pl.  von  dem  pronom.  demonstrat.  sä,  su,  that  nicht: 
einmal  in  so  vielen  Jahren,  hätte  der  beschränkteste  Rec.  ge- 
dacht, war'  er  Ihnen  vorgekommen.  Auf  derselben  Seite  zeigt 
sich  noch  etwas  zwar  nicht  in  der  Art,  aber  immer  verdriess- 
lich,  nämlich  Sie  führen  daselbst  eine  Stelle  aus  der  Hervarar- 
sage  an,  im  Original  steht: 

lier  er  Hlödr  kominn, 
Sie  theilen  aber  mit: 

her  er  Hlödr  komin. 
Hier  muss  ich  anderer  halben,  Ihnen  ist  es  gewiss  nur  zu  gut 
bekannt,  bemerken,  dass  durch  die  Weglassung  des  einen  n  das 
Particip  zu  einem  fem.  wird,  was  natürlich  auf  keine  Weise 
passt.  Sie  könnten  sich  leicht,  und  werden  es  auch  thun,  durch 
einen  Druckfehler  entschuldigen,  aber  da  ist  der  weitere  unbe- 
queme Zufall,  dass  gleich  dahinter  derselbe  noch  einmal  er- 
scheint, nämlich  im  Original:  brodr  thinn  heisst  bei  Ihnen: 
brödr  thiw.  Wenn  nun  einer  sich  berechticrt  erlaubte  zu  recen- 
siren:  „Sie  hätten  den  Unterschied  noch  nicht  gewusst  und 
gemeint,  die  Orthographie  durch  zierliche  Auslassung  zu  ver- 
bessern", so  hätte  er  (scheinbar)  Recht  gehabt,  doch  mit  ganz 
anderem  Recht  von  Ihnen  hören  können,  man  werfe  Ihnen, 
einem  Manne,  der  hier  zum  ersten  Mal  diese  Stellen  ins  Deutsche 
übertrage  und  bekannte  Verdienste  habe,  dergleichen  nicht 
schicklich  vor. 

Bringt   mir,   dem    es    nicht   zukommt,   sich    mit  der  langen 46 
Ehle  zu  messen,  nun  mein  Übersehen  nicht  Ehre,   da  es  offen- 
bar geringer  ist,  als  Ihre  beiden  Fehler  (ich  rühme  mich  nicht, 
dass    mir    vor    Jahren    nicht    auch    dergleichen    hätte    passiren 
können),  und  niemand  verlangen  könnte,  Sie  zu  übertreffen? 


132  SENDSCHREIBEN  AN   GRÄTER. 

§  7. 

Ist  kurz  und  handelt  von  der  Sprache.  Rec.  sagt,  meine 
Vorrede  sei  ihm  dunkel  hin  und  wieder,  das  ist  mir  wieder 
dunkel.  Er  tadelt  [S.  192]  den  Ausdruck  Recension  bei  den 
Volksliedern,  wünscht  Abdruck  dafür,  was  aber  nicht  passt,  da 
die  abweichendsten  Lieder  leben  und  entstehen  können,  die 
nicht  gedruckt  sind,  er  mag  Goethe  auch  tadeln,  der  in  der  Be- 
urtheilung  des  Wunderhorns  sich  desselben  Ausdrucks  bediente. 
Er  tadelt  mordlicher  Tod,  das  Wort  solle  gewogen  werden, 
ich  will  hier  meine  Wagschale  füllen,  der  Rec.  mag  zu  seinem 
eigenen  Besten  die  Gewichte  auf  der  anderen  Seite  auflegen, 
sein  Resultat  ist  mir  gleichgültig. 

Nibel.  3990  [935,  2]:     Het  ich  an  ach  erkennet  den  m ortlichen  sit, 
Ottokar  V.  Horneck  (b.  Pez)  S.  675. 

Do  das  ni ort  1  eich  Leid  an  Künig  Latisla  ergie 
und    als    Adverb    häufig.      Er    fragt    auch    [S.  178],    was    ein 
Waffen  sei;   wie  es  scheint,   weiss  er  nicht,  dass  das  Wort  im 
Altdeutschen  ein  Neutrum  ist,  wie  im  Isländischen. 

§8. 
Ich  komme  endlich  zu  einem  Paragraphen,  auf  den  ich 
mich  lange  gefreut,  da  die  anderen  immer  etwas  Widerwärtiges 
mit  sich  führten,  nämlich  zu  den  Druckfehlern.  Hier  ist  der 
Recensent  ganz  in  seinem  Element,  schnalzt  und  tanzt  ordent- 
lich vor  Lust  in  dem  Wasser  und  weiss  nicht,  wo  er  anfangen 
soll  [S.  178].  Wie  ein  raffinirter  Liebhaber  benutzt  er  sie  auf 
die  verschiedenste  Art,  und  der  gute  Quintus  Fixlein  würde 
gewiss  mit  seiner  Sammlung  schlecht  gegen  ihn  fahren.  In 
47 Höhle  werfen  für  in  die  Höhle  werfen  (der  Ausdruck  kommt 
sogar  sonst  noch  richtig  vor)  weiss  er  mir  schön  als  Streben 
nach  seltsamer  Originalität  aufzurücken.  Ohngeachtet  da  steht 
Aquitanus,  Scholasticus,  Gamblacensis  hält  er  mir  Otto  Fri- 
singens  (im  Mscr.  stand  Otto  Frisingens.)  als  bizarre  Schreibart 
vor,  schreibt  mir  auch  zur  Belehrung  das  Wort  vollends  aus. 
Was  ist  Gläsirvallr,  Hedinsflied  usw.  ruft  er  in  listiger 
Dummheit  aus.  Dann  florirt  sein  Glück,  als  protopolin  sich 
zeigt;  jeder,  der  nicht  glaubt,  mir  ins  Gesicht  sagen  zu  dürfen,  j 


i 


SENDSCHREIBEN  AN  GRÄTER.  133 

ich  wisse  nicht,  wie  es  im  nom.  hat.  wird  sich  bescheiden,  es, 
wenn  er  will,  als  einen  Druckfehler  anzugeben.  Was  thut  aber 
die  Schulmeisterei?  Ich  citirte  den  Stephanius  zum  Saxo,  wo 
man  den  ganzen  Streit  finden  könne,  mithin  auch  die  Nachricht 
von  dem  Buche  des  Messenius;  der  Rec.  schlägt  die  Stelle 
nach,  drückt  sich  so  aus,  dass  man  beinah  glauben  kann,  als 
habe  ich  gesagt,  die  Schrift  desselben  sei  von  mir  eingesehen, 
holt  (still)  den  Jöcher,  erzählt,  was  dort  steht  und  hierher 
nicht  passt,  schreibt  dann  die 'ganze  Stelle  ab  und  corrigirt 
endlich  weitläuftijr,  was  jeder  auf  den  ersten  Blick  sieht.  Noch 
wohler  wird  es  ihm,  wenn  er  [S.  163]  einen  anderen  Druck- 
fehler, der  im  Buche  sogar  hinten  angegeben  ist,  color  für  colos, 
noch  einmal  als  einen  solchen  nennen  kann.  Laben  wird  es 
ihn,  dass  in  der  Recension  wieder  die  besten  Sorten  und  viel 
ärgere  vorkommen,  z.  B.  statt  infelici  vena  infelici  vera,  quaende 
für  quaede,  thal  für  that  usw.:  mir  ists  widrig,  davon  zu 
reden.  AVill  er  sich  schriftlich  und  portofrei  an  mich  wenden, 
will  ich  ihm  die  Liste  der  von  ihm  dennoch  übersehenen  mit- 
theilen. Der  beste  Spass  aber  kommt  zuletzt,  wo  die  Hoflfart 
einmal  recht  den  Schwanz  übers  Nest  hinausstreckt.  Man 
weiss  vielleicht,  als  unsere  Ankündigung  der  Edda  erschien, 
schrieb  Hr.  Gräter  in  seiner  Alterthumszeitung  eine  Kritik  [s. 
oben  S.  1 08  f.]  darüber,  unter  anderem  war  ein  Stern  verrückt  und 
die  Note  an  einen  unrechten  Platz  gekommen.  Die  Sache  war 
so  klar,  dass  wir,  als  wir  Druckfehler  anzeigten*),  davon  schwiegen, 
weil  es  sich  ganz  von  selbst  verstand,  wo  er  hingehöre.  Dieser  48 
Gelehrte  schenkte  dennoch  diesem  Umstand  seine  besondere 
Aufmerksamkeit,  versuchte  hin  und  wieder  scharfsinnig,  wie 
dieser  Unsinn  zu  erklären  sei,  aber  freilich  vergebens,  hinten- 
drein  bekannte  er  der  Wahrheit  zur  Steuer,  dass  uns  das  Ridi- 
küle  nicht  zur  Last  falle,  vermuthete  so  etwas  wie  Schuld  des 
Setzers  und  kam  dem  Ding  ziemlich  auf  die  Spur.  Dieses 
ahmt  nun  mein  Recensent  nach,  glaubte  ich  anfangs,  doch  bin 
ich  zweifelhaft  geworden,  da  die  Nachahmung  doch  gar  zu 
plump  wäre,  und  wahrscheinlicher  hat  ihn  die  Druckfehler- 
freude    ganz     blind    gemacht.       Man    schlage    nämlich    S.  440 

*)  [In  der  Leipziger  Litteraturzeitung  1812,  S.  864  =  Kl.  Sehr.  I,  S.587.J 


134  SENDSCHREIBEN   AN  GRÄTER. 

meines  Buchs  [=  Kl.  Sehr.  I,  S.  211]  auf,  da  wird  man  zwei  Noten 
finden,  die  *,  welche  Pasquiers  Urtheil  über  die  trojanische  Ab- 
kunft der  Franken  enthält  (in  meiner  kleinen  Abhandlung  darüber 
findet  Reo.  nichts  Neues,  was«  ich  auch  sehr  wohl  begreife,  da 
der  Druckfehler,  den  er  in  der  Nähe  vermuthete,  ihn  geblendet 
haben  wird,  überhaupt:  wäre  nicht  zu  vermuthen,  dass  die  ganze 
unverständige  Recension  in  der  betäubenden  Freude  über  erwartete 
Druckfehler  entstanden  sei?),  und  eine  andere  **  zu  der  im 
Text  erwähnten  Blomsturwallasaga,  der  Trunkene  sieht  (vgl. 
Recension  S.  186)  nur  die  zweite  **,  hängt  sie  dem  Text  zu 
Note  *  an  und  fragt  nun  vergnügt,  was  ich  für  tolles,  dunkeles 
Zeug  schreibe,  und  ob  Meister  Biörn  die  Sage  von  der  tro- 
janischen Abkunft  der  Franken  nach  Norwegen  gebracht. 

§  9- 

Bei  allem  Vorangehenden  war  immer  noch  ein  Spass  übrig, 
es  war  als  hätte  die  Eitelkeit  den  Recensenten  benebelt  und 
zu  so  wunderlichen  Übertreibungen  verleitet,  die  er  einmal, 
wenn  er  noch  einige  Zeit  fleissig  ist  und  lernt,  bei  ruhiger 
Prüfung,  die  hier  nur  als  eine  Redensart  vorkommt,  fühlen 
würde:  nur  muss  er  sich  noch  besonders  abgewöhnen,  zu 
glauben,  ihm  komme  in  diesen  Sachen  die  erste  Stimme  zu. 
Bei  dem  Folgenden  aber  ist  es  anders,  und  ich  muss  leider  ernst- 
haft endigen. 

Es  gibt  eine  doppelte  Verehrung  der  Verdienste,  selbst  der 
grössten,  eine  solche,  die  mit  Bewusstsein  achtet  und  weiss, 
warum  sie  achtet,  und  die  kein  menschlicher  Fehler  irr  macht, 
49 und  eine  andere,  die  blind  ist  und  unfähig  einen  Fehler  zu 
sehen;  jene  ist  allein  dauerhaft  und  fruchtbar,  diese  ist  fast 
immer  eine,  taube  Schale,  die  sich  um  den  Kern  drängt  und 
selbst  nichts  hervorbringt,  ausserdem  ist  sie  der  Gefahr  ausge- 
setzt, umzuschlagen,  sobald  Persönlichkeit,  gereizte  Eitelkeit 
oder  dergleichen  ins  Spiel  kommt;  sie  fällt  dann  in  Hass  und 
Widerwillen,  der  wieder  so  blind  wird,  dass  er  alles  freie  Ur- 
theil zernichtet,  Recensenten  mit  solcher  Gesinnung  sind  in 
der  ersten  Periode  die  Liebreichen,  AUes-Gutmacher,  die  Zu- 
duttler.   Erstauner,  in  der  zweiten  diejenigen,  die  unter  irgend 


SENDSCHREIBEN  AX  GRÄTER.  135 

einem  Schein  Parteilichkeit  und  Ungerechtigkeit  jeder  Art  sich 
erlauben.  Wenn  die  Gegenwart  vorüber  ist,  die  eine  Macht 
übt,  in  welcher  wir  selber  noch  befangen  nur  einzelne  Stimmen 
haben,  die  kein  allgemeines  Urtheil  ausmachen  können,  dann 
dürfen  wir,  was  Geist  und  Ansicht  betriffi,  (über  Kenntnisse 
natürlich  gleich)  frei  sprechen;  niemand  geschieht  weh,  und 
indem  wir  zur  Wahrheit  streben,  wird  diese  gefordert. 

Hrn.  Gräters  Urtheil  z.  B.  über  Suhm  [S.  181]  ist  ein 
solches  aus  ungemessener  Verehrung  gekommenes,  welche  nur 
in  Verhältnissen,  die  aus  den  Gesetzen  der  Natur  entspringen, 
wie  zwischen  Eltern  und  Kindern,  schön  und  rührend  ist;  er 
geht  so  weit,  dass  er  uns  einmal  gerathen,  zu  dessen  Füssen 
zu  sitzen,  wo  dieser  in  einem  erweislichen  Irrthum  war,  nur 
zu  den  Quellen  soll  man  sich  beugen  und  aus  ihnen  schöpfen. 
Ich  habe  Suhms  Gelehrsamkeit,  der  meine  geringe  nicht  bei- 
kommt, seine  Verdienste  um  die  nordische  Litteratur  niemals 
vei-kannt.  in  eben  diesen  Heidelb.  Jahrb.  (1811.  S.  776)  [==  oben 
S.  16]  habe  ich  Suhms  Einfluss  und  uneigennützigen  Eifer  ge- 
rühmt, sein  Buch  Om  Odin  die  fleissigste  und  gelehrteste  Ar- 
beit über  die  Mythologie  genannt,  freilich  nur  als  Materialien- 
sammlung brauchbar.  In  der  Übersetzung  der  Lieder  habe  ich 
seineu  Stil,  was  er  wirklich  ist,  matt  und  breit  genannt  (möo-e 
jeder  die  Proben  vergleichen),  wer  es  noch  nicht  glaubt,  lese 
seine  Kämpferromane.  Es  war  dies  meine  Überzeugung,  und 
die  habe  ich  ausgesprochen,  ich  will  noch  mehr  thun  und  hier 
sagen,  dass  ich  Suhms  Fabelzeit,  so  schätzbar  die  Sammlung 50 
und  Arbeit  an  sich,  in  ihrer  Ansicht  durchaus  für  verfehlt  halte, 
indem  sie  die  alte  Mythengeschichte  nur  von  einer  Seite  erkannt, 
sonst  aber  unwürdig  betrachtet. 

Der  Rec,  darf  ich  mit  Sicherheit  vermuthen,  hat  jene 
Stellen  gelesen,  dennoch  bildet  er  sich  das  Recht  ein,  mir  mit 
den  Worten  entgegenzutreten  [S.  181]:  „mit  welcher  Ein- 
bildung ich  müsse  gestraft  sein,  um  einen  solchen  Übermuth 
zu  zeigen''.  Ich  will  mir  vorstellen,  der  Rec.  habe  persönliche 
Gründe,  fiir  Suhm  so  zu  eifern,  und  vergesse  in  der  Hitze, 
dass  diese  keine  allgemeinen  sind  und  bloss  ihn  verpflichten,  aber 
das  Folgende  weiss  ich  auf  keine  Weise  zu  entschuldigen. 


136  SENDSCHREIBEN  AN   GRÄTER. 

S.  431  liest  man  in  einer  Note  meines  Buchs:  Thomas 
Bartholin  in  seinen  mit  eben  so  viel  Belesenheit  als  Ge- 
schmacklosigkeit geschriebenen  antiquitates  danicae  fallt  ein 
(und  das  muss  der  Rec.  selbst  eingestehen)  geschmackloses 
Urtheil.  Ich  fordere  jeden  auf,  der  den  Bartholin  wie  ich  auf- 
merksam und  mehrmals  gelesen,  ob  dieses  Urtheil  nicht  durch- 
aus gerecht  ist.  Gelehrte  Sammlungen  sind  an  einen  Gedanken 
ganz  locker  gereiht,  der  nirgends  als  die  eigentliche  und  leitende 
Idee  heraustritt,  kurz  es  ist,  wie  man  sich  ausdrückt,  kein  Buch^ 
nur  ein  Haufen  Collectaneen,  sehr  wunderlich  registrirt.  Hier 
nun  schämt  sich  mein  Rec.  nicht  der  offenbaren  Verdrehung 
und  Unredlichkeit  und  spricht  [S.  181]:  „Hr.  Grimm  kann 
nicht  umhin,  dasselbe  zum  ersten  Mal  unter  allen  Dänen, 
Schweden,  Isländern,  Engländern  und  Deutschen,  die  seiner 
gedenken,  mit  dem  Namen  eines  geschmacklos  geschriebenen 
Buchs  der  Verachtung  preisgeben  zu  wollen".  So' 
nimmt  er  von  dem  Schwarz  und  Weissen,  das  gleich  gross  in 
meinem  Urtheil  steht,  das  Schwarze  allein  heraus  und  legt 
ihm  eine  gemeine  Absicht  unter,  oder  er  leert  in  der  Wage 
die  schwere  gute  Hälfte  ganz,  lässt  die  andere  darin,  wirft  noch 
zu  und  ruft  nun  meine  Gerechtigkeit  aus. 


Damit  schliesse  ich  und  bitte  nur  den  Recensenten,  falls 
er  noch  einmal  etwas  von  mir  recensirt,  die  Paar  Silbergroschen, 
die  er  in  scheinbarer  Grossmuth  und  Unparteilichkeit  unter 
den  Schmutz  wirft,  zurückzuhalten;  ich  mag  sie  nicht  aufheben, 
sie  würden  mich  nicht  reich  machen  noch  für  meine  Schulden 
ausreichen,  vielleicht  auch  sind  sie  des  Scheins  wegen  bloss 
weiss  gesotten  und  sonst  falsch.  Ich  meine  die  eingestreuten 
lobenden  Worte. 

Cassel  im  Februar  1813. 

W.  C.  Grimm. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN  POESIE  VON  RÜHS.    137 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN  POESIE  209 
AUS  DER  ANGELSÄCHSISCHEN. 

Nebst  vermischten  Bemerkungen  über  die  nordische  Dichtkunst  und  Mythologie. 
Ein  nothwendiger  Nachtrag  zu  seinen  neuesten  Ilntei-suchungen  von  Fr.  Rühs. 

(Ohne  Druckort  und  Verleger.)     1813.     8. 
(Hinzugefügt  sind  der  Recension  Bemerkungen  zu  der  Rühsischen  Übersetzung 

der  Edda.) 

Heidelbergische  Jahrbücher  der  Litteratur,  Jahrgang  YH  (1814)  Bd  I,  No.  14. 15. 
S.  209—223.  225—228. 

Vor  noch  nicht  zwei  Jahren  gab  Herr  Professor  Rühs  in 
Berlin  eine  Übersetzung  der  prosaischen  oder  jüngeren  Edda 
und  eine  Einleitung  über  nordische  Poesie  und  Mythologie  heraus. 
Die  letztere,  eigentlich  die  Hauptsache,  hat  die  Absicht  darzu- 
thun,  dass  es  keine  nordische,  nur  eine  isländische  Dichtkunst 
gebe  und  dass  der  grösste  Theil  der  Mythologie  freie  unmittel- 
bare Erfindung  sei,  in  welche  Zusammenhang  zu  bringen  immer 
den  traurigsten  Erfolg  gehabt;  Christen  hätten  die  mythischen 
Bücher  verfasst,  ja  überhaupt  sei  durch  das  Christenthum  alle 
Cultur  erst  nach  dem  rohen  Norden  gekommen. 

Diese  Ansicht,  schon  durch  Schlözer  und  Adelung  bekannt, 
ist  der  Überzeugung  des  Rec.  gerade  entgegengesetzt,  und 
früher,  als  das  Buch  des  Hrn.  Rühs  erschien,  hat  er  in  diesen 
Jahrbüchern  (1811.  No.  49.  50.  [S.  774—794,  oben  S.  14—32]) 
sich  darüber  erklärt.  Da  er  keine  neuen  Gründe  von  Hrn.  Rühs 
entwickelt  fand,  glaubte  er  alles  Weitere  von  seiner  Seite  über- 
flüssig, verwies  dorthin,  und  indem  er  nur  einige  charakteristische 
Sätze  mit  den  eigenen  Worten  des  Verf.  anführte,  stellte  er  anheim, 
was  diese  Ansicht,  wiederum  so  sicher  und  vornehm  ausge- 
sprochen, für  einen  Eindruck  machen  werde,  ob  sie  vielleicht 
durchdringe  oder  ob  die  entgegengesetzte,  welche  an  Wahrheit 
und  Echtheit  der  nordischen  Mythen  und  der  alten  Sagenge- 
schichte glaubt,  sich  begründe. 

Auch  an  der  Übersetzung  der  Edda  selbst  konnte  er  vor- 
beigehen,   sie    war    eingeständlich    nach     der    dänischen    von 


138  ÜBER  DEN  URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN  POESIE  VON  RÜHS. 

2ioNyerup  und  Rask  abgefasst;  kann  schon  diese  bei  dem  Studium 
das  Original  nicht  ersetzen,  obwohl  sie  vieles  Schätzbare  hat, 
denn  man  sieht  bald,  dass  geschickte  Hände  daran  gearbeitet, 
so  war  von  der  weiteren  deutschen  dies  noch  weniger  zu  er- 
warten. Sie  konnte  höchstens  für  Liebhaber  und  zur  Unter- 
haltung dienen.  Rec.  empfahl  also  jenes  und  zeigte  sie  bloss 
an,  da  eine  Prüfung  derselben  eine  eigene  undankbare  Arbeit 
gewesen  wäre;  einige  Bemerkungen  will  Rec.  jetzt  zu  Gunsten 
der  gegenwärtigen  Recension  weiter  mittheilen,  sie  werden  auf 
die  folgenden  Untersuchungen  ein  grosses  Licht  werfen. 

Nyerup :  hvorledes  blev  Verden  til  og  hvad  var  der  tilforn  ? 
wie  ward  die  Welt  geschaffen  und  was  war  da  zuvor?  Hr. 
Rühs  S.  166:  „wie  ward  die  Welt  und  was  war  sie  vorher?"  — 
N.  med  feige  maends  liv,  mit  todter  Männer  Leib.  Hr.  R. 
S.  173:  „mit  feiger  Männer  Leben".  N.  hvad  Gud,  welcher 
Gott.  Hr.  R.  S.  175:  „ob  Gott".  —  N.  alt  veed  jeg,  schon 
weiss  ich.  Hr.  R.  S.  177:  „alles  weiss  ich".  —  N.  ilsindet, 
jähzornig.  Hr.  R.  „übelgesinnt^.  —  N.  klaede,  Tuch,  Taschen- 
tuch. Hr.  R.  S.  206:  „Kleid".  —  N.  i  en  Hule,  in  eine 
Höhle.  Hr.  R.  „in  ein  Loch".  (Das  Loch  heisst  dänisch: 
et  Hui.) 

Zu  der  Übersetzung  der  mehr  historischen  Mythen,  welche 
Nyerup  ausliess,  und  wo  Hr.  Rühs  bloss  den  Resen  vor  sich 
hatte.  Folgendes:  Text:  Litlu  Werdur  Wöggur  Feigenn  (litlu 
verdr  Vöggur  feiginn),  mit  wenigem  wird  Vöggur  vergnügt. 
Hr.  R.  S.  252:  „über  wenig  wird  Werdur  froh".  Dieser 
verdr  (wie  man  sieht,  3.  pers.  praes.  von  verda)  wird  auch  im 
Register  S.  276  ganz  ordentlich  als  ein  mythischer  Mann  auf- 
geführt. —  Text:  their  steffndu  orrustu,  sie  bestimmten,  verab- 
redeten eine  Schlacht.  Hr.  R.  „sie  führten  Krieg".  —  Adils 
verlangt  von  Kraki  Hülfe:  thä  sendi  hann  Berserki  sina  tölf 
steht  im  Text;  hinter  hann  ist  eine  Note  und  wird  unten  die 
Variante  angeführt:  Adilsi;  d.  h.  er  sandte  (v.  dem  Adils)  seine 
zwölf  Berserker.  Hr.  R.  dagegen  führt  diesen  dat.  Adilsi  als 
einen  besonderen  Namen  auf  und  setzt  ihn  als  einen  neuen 
Berserker  vornen  an.  —  Bei  den  Namen  der  Berserker 
211  werden  auch  Zunamen  angeführt,  hinter  Hialti  in  der  Note  e: 
hugprudi.     Daraus   macht  Hr.  R.   ein  nom.  propr.  und  führt 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN  POESIE  VON  RÜHS.    139 

den  Berserker  Hugprudi  an;  ebenso  aus  Hvitserker  (hinn) 
hvati  wird  bei  ihm:  „Hvitserkr  und  Hvati".  —  Text:  bera  i 
haufuth  sier  thad  vatn,  bringen,  giessen  aufs  Haupt  sich  das 
Wasser.  Hr.  R.  S.  263:  „tragen  auf  ihrem  Haupt  das 
Wasser".  —  Text:  their  vorn  svo  reidir  mödur  sinne,  sie 
waren  so  zornig  auf  ihre  Mutter.  Hr.  R.  S.  266:  „sie  waren 
so  unwillig  über  das  Gemüth  ihrer  Mutter". 

Es  war  aber  in  der  Schrift  des  Hrn.  Rühs  eine  wenigstens 
in  ihrer  Ausführung  neue  Idee.  Darnach  war  die  nordische 
Poesie  (Hr.  R.  bedient  sich  nach  seiner  Meinung,  es  gebe  keine 
nordische,  des  Ausdrucks:  isländische)  nichts  weiter,  als  eine 
Nachahmung  der  angelsächsischen;  Norwegen  und  Dänemark, 
an  sich  ohne  Lieder,  haben  erst  durch  Island  etwas  erhalten. 

Dies  zu  beweisen,  hatten  allgemeine  historische  Paragraphen, 
die  vorangiengen ,  gleichfalls  die  Absicht.  Es  ward  erst  darin 
die  Volkspoesie  der  zu  einem  anderen  Sprachstamme  gehörigen 
Finnen  als  lebendiges,  sehr  erläuterndes  Beispiel  dargestellt. 
Es  folgten  mit  historischen  Zwischenblicken  Beschreibungen 
der  wälschen  (die  Barden  sollen  auch  erst  die  Angelsachsen 
gebildet  haben),  angelsächsischen  und  nordischen  Dichtung;  die 
Ähnlichkeit  der  beiden  letzteren  ward  bemerkt  und  ist  ganz 
unbestritten;  einen  einzigen  treffenden  Beweis  aber,  dass  die 
nordische  aus  der  angelsächsischen  Poesie  geborgt  sei,  hat  Reo. 
darin  nicht  gefunden;  es  wird  bloss  gesagt,  und  man  sieht  in 
der  Aufstellung  und  im  Zuschnitt  bekannter  Dinge,  dass  es 
Hrn.  Rühs  Meinung  ist.  Was  den  Werth  solcher  Umrisse 
überhaupt  betrifft,  so  sind  vielleicht  andere  empfänglicher,  als 
der  Rec. ,  der  wenig  Geschmack  daran  hat.  Indessen  kamen 
auch  hernach  zwei  besondere  Beweise  vor,  „welche  völlig  ent- 
scheiden" sollten.  1)  Die  Alliteration,  ein  charakteristisches 
Zeichen,  hätten  die  Isländer  von  den  Angelsachsen  entlehnt,  da 
in  Norwegen,  Schweden  und  Dänemark  „keine  Spur"  davon 
sei.  2)  Die  nordische  Dichtkunst  habe  „eine  Menge  von 
Wörtern,  die  nicht  in  der  gewöhnlichen  Sprache,  viel  weniger 212 
in  den  übrigen  Dialekten  vorkämen;  diese  Wörter  seien  meisten- 
theils  angelsächsisch".  Von  solchen  wurden  zwei  Seiten  Bei- 
spiele gegeben. 

Die  Herabwürdigungen  und  Schmähungen  der  Edda  konnte 


140    ÜBER  DEN  URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN  POESIE  VON  RÜHS. 

der  Rec.  der  Zeit  überlassen,  aber  beide  Sätze,  waren  sie  be- 
gründet, gaben  Anlass  zu  wichtigen  Folgerungen;  er  glaubte 
daher,  sie  herausheben  zu  dürfen  und  sorgfältig  prüfen  zu 
müssen.  Rec.  hat  diese  kleine  Untersuchung  noch  einmal  durch- 
gelesen, ob  irgend  ein  Wort  darin  sei,  das  nicht  auf  die  Sache 
selber  gehe  oder  Hrn.  Rühs  beleidigen  könne,  aber  keins  ge- 
funden. Vielleicht  könnte  es  missdeutet  werden,  wenn  er  sich 
[S.  964  =  oben  S.  84]  des  Ausdrucks  „unredliches  Verschweigen" 
bedient  hat;  es  bezieht  sich  darauf,  dass  Hr.  Rühs  einen  ihm  gewiss 
bekannten  Umstand  in  der  englischen  Poesie,  der  die  Ansicht  so- 
gleich veränderte,  übergieng,  und  heisst  (wie  könnte  man  es  nur 
anders  verstehen?)  nichts  anderes,  als  ein  absichtliches  Ver- 
schweigen, Inconsequenz  aus  Behauptungssucht.  Hr.  Rühs  scheint 
sich  S.  158  seiner  Edda  selbst  zu  den  „redlich  Zweifelnden"  zu 
zählen,  es  wird  daher  erlaubt  sein,  das  Gegentheil,  wenn  man 
es  findet,  zu  bemerken. 

Hr.  Rühs  nahm  Widerlegungen  und  Einwendungen  folgender- 
massen  auf.  Zuerst  erliess  er  in  der  Hallischen  L.-Ztg.  1812. 
No.318  [S.  849 — 851]  eine  Antikritik,  worin  er  über  Verfälschung 
klagte;  wie  es  sich  damit  verhalte,  hat  Rec.  in  dem  Intelligenz- 
blatt der  Jahrbücher  1813.  H,  S.  10-13  [=  oben  S.  100-103] 
bündig  genug  gezeigt.  Sodann  erschien  gegenwärtige  dort 
schon  angekündigte  Schrift.  Hr.  Rühs  fängt  damit  an,  dem 
Rec.  oder  Jacob  Grimm  die  Recension  seines  Buchs  in  der 
Jenaer  L.-Ztg.  1813  Januar  [S.  169—173  von  XYZ]*),  und  zwar 
mit  gewohnter  Sicherheit  zuzuschreiben,  so  dass  er  diese  Be- 
hauptung, man  mag  selber  sehen,  in  welchen  Reden,  ganz  durch- 
führt. Rec.  gibt  hier  öffentlich  sein  Wort,  dass  er  so  wenig, 
als  Jacob  Grimm  den  allerentferntesten  Antheil  an  dieser  Jenaer 
Kritik  gehabt  und  durch  den  Druck  sie  ihnen  zuerst  bekannt 
geworden.  Die  Redaction  der  Jenaer  L.-Ztg.  wird  dies  leicht 
auch  noch  bezeugen,  und  der  Verf.  derselben  nennt  sich  wohl 
selber.  Ohnehin  unterschreibt  der  Rec.  jene  Kritik  nicht  in 
allem  Einzelnen ;  richtig  ist,  dass  Hr.  Müller  in  der  Schrift  über 
213  die  Asalehre  sich  nicht  mit  der  Hypothese  vom  angelsächsischen 
Ursprung  der  nordischen  Poesie  abgegeben,  sie  also  auch  nicht 

*)   [D.  h.  von  Gräter,  s.  Briefwechsel  zwischen  J.  und  W.  Grimm  S.  260.] 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN  POESIE   VON  RÜHS.     141 

widerlegt  hat:  Rec.  wunderte  sich  selbst,  als  er  diese  Behauptung 
dort  fand. 

Hr.  Rühs  äussert  sich  darauf  für  jene  Sätze.  Gegen  den 
ersten,  dass  die  Alliteration  sich  sonst  nicht  finde  (die  Hall.  L.- 
Ztg.  No.  318  [S.  849]  behauptete  noch:  „die  Alliteration  sei  unter 
den  germanischen  Völkern  nur  bei  den  Ags.  und  Isländern  das 
metrische  Grundgesetz  gewesen"),  hatte  Rec.  hauptsächlich  ein- 
gewendet, es  scheine  nicht,  es  sei  ganz  gewiss,  dass  in  zweien 
altdeutschen  Gedichten  nicht  nur,  sondern  auch  in  einem  dritten 
sie  vorkomme,  mithin  bei  anderen  Völkern  desselben  Stammes, 
so  dass  sie  nicht  als  eine  Eigenthümlichkeit  der  Angelsachsen 
gelten  könne;  ferner  in  den  faröischen  Rimur.  Hr.  Rühs,  der 
in  dem  Buch  nur  mit  einem  vielleicht  die  Vermuthung  ein- 
leitete, die  beiden,  denn  das  dritte  kannte  er  noch  nicht,  seien 
von  Geistlichen  in  England  oder  nach  angelsächsischen  Mustern 
gebildet,  fahrt  jetzt  leichter  fort:  kein  Geschichtsforscher,  der 
den  Einfluss  der  Ags.  auf  deutsche  Cultur  nur  zu  würdigen 
wisse  (er  selbst  verspricht  etwas  eigenes  Forschendes  darüber 
in  Schlegels  Museum),  könne  es  bezweifeln,  dass  diese  Ge- 
dichte sämmtlich  von  Angelsachsen  herrührten,  wodurch  im 
voraus  jedes  unserer  alten  Gedichte,  in  welchen  sich  noch 
Alliteration  entdecken  sollte,  hinlänglich  abgewiesen  wird  (was 
die  faröischen  Rimur  betrifft,  so  gibt  schon  die  Hall.  L.-Ztg. 
die  Antwort:  es.  müsse  erst  bewiesen  werden,  dass  sie  nicht 
unmittelbar  aus  Island  dahin  gebracht:  natürlicher  scheint  es 
dem  Rec,  erst  den  Beweis  zu  verlangen,  dass  sie  erborsrt 
seien).  Er  lässt  es  um  so  eher  dabei  bewenden  und  anderen 
die  Entscheidung,  da  noch  nicht  lang  ein  ausgezeichneter  Ge- 
lehrter, dem  vor  allen  hier  ein  Urtheil  zukommt,  öffentlich  be- 
hauptet hat,  es  sei  durch  jene  Gedichte  das  frühe  Dasein  und 
allgemeine  Verbreitung  der  Alliteration  in  Deutschland  schlagend 
bewiesen.  —  Übrigens,  hatte  früherhin  Hr.  Rühs  doch  die  mög- 
liche altdeutsche  Alliteration  etwas  gescheut  und  damit  (ausser 
dem  ags.  Ursprung  derselben,  der  freilich  überall  am  besten 
aushilft)  abgewendet  S.  80  s.  Edda,  „es  seien  einzelne  Spuren, 
die  sich  zu  bald  verlören,  um  annehmen  zu  können,  es  sei  all- 
gemeine Regel",  so  ist  er  jetzt  S.  25  viel  fester  und  fürchtet 2U 
die  allgemeineVerbreitung  gar  nicht  in  den  germanischen  Stämmen, 


142    ÜBER  DEN  URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN  POESIE   VON  RÜHS. 

sein  Satz  bleibe  doch  wahr;  ja  noch  mehr,  selbst  einzelne  Bei- 
spiele, die  etwa  in  Norwegen,  Schweden  oder  Dänemark  nach- 
gewiesen würden  (nach  dem  Buch  S.  114  war  „keine  Spur" 
dort  zu  finden),  verschlagen  ihm  nichts,  diese  „können  nur  als 
Nachahmung  gelten."  Er  verlangt  jetzt  alliterirende  Gedichte 
in  Norwegen,  Schweden  und  Dänemark  „in  bedeutender  An- 
zahl" nachgewiesen,  ehe  er  entkräftet  werde.  Wenn  Hr.  Rühs 
erst  dahin  'gebracht  wird,  zu  sagen,  wie  er  es  eigentlich  meint, 
weiss  er  sich  zu  sichern. 

Was  den  zweiten  Satz  betrifft,  so  sieht  man  aus  den  vorhin 
angezogenen,  S.  115  der  Rühsischen  Edda  befindlichen  Worten,, 
wie  er  aufgestellt  war.  Die  als  Beispiel  gegebenen  50  Wörter 
sollten  sich  weder  in  der  nordischen  (d.  h.  bei  Hrn.  R.  is- 
ländischen) Prosa  noch  sonst  in  den  übrigen  Dialekten  finden. 
Auch  andere  Äusserungen  —  z.  B.  diese  Worte  seien  der  ge- 
wöhnlichen nordischen  (isländischen)  Sprache  und  den  nor- 
dischen Dialekten  „ganz  fremd  und  niemals  ins  Leben 
übergegangen"  S.  91.  118;  ferner:  „dass  die  Ags.  sie  von  den 
nordischen  Völkern  geborgt  haben,  kann  man  nicht  annehmen, 
weil  —  sich  nicht  begreifen  lässt,  warum  sie  in  den  übrigen 
skandinavischen  Mundarten  ausgestorben  sind  und  sich 
nur  im  Isländischen  erhalten  haben"  S.  119  — ,  meint  Rec.^ 
lassen  am  wenigsten  eine  mildere  Ansicht  hinter  jenem  Aus- 
spruch vermuthen.  Allein  jetzt  erklärt  Hr.  Rühs  den  Satz  erst 
recht  in  seiner  wahren  Bedeutung  und  weiss  es  dem  Rec.  an- 
zurechnen, dass  er  sie  nicht  gefunden,  während  dieser  sich  vor 
der  Anklage  einer  Verfälschung  gefürchtet,  wenn  er  sie  hinein- 
gelegt hätte.  Nämlich  Hallische  L.-Ztg.  1812.  No.  318  [S.  850]: 
„das  Treffende  und  Bindende  meines  Beweises  liegt  gar  nicht 
in  der  Identität  der  Wurzel  in  anderen  germanischen  Dialekten, 
sondern  in  der  Form"  (Form  ist  hier  in  der  Schrift  S.  22 
auch  noch  erklärt  durch:  „Schreibung");  „ganz  in  derselben 
Form  und  Bedeutung  müssen  die  Wörter  in  der  isländischen 
Prosa  oder  in  den  übrigen  nordischen  Dialekten  nachgewiesen 
werden."  Ferner  hier  S.  17  und  18:  „beide  Sprachen  (Ags.  und 
Isl.)  gehören  zu  einem  Stamme;  es  ist  daher  natürlich,  dass  die 
215  Wurzeln  der  Wörter  oft  vorhanden  sein  müssen,  aber  eben  die 
Ausbildung  und  genaue  Bestimmung  bildet  den  Dialekt;  da-^ 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN  POESIE  VON  RÜHS.     14^ 

her  sindWörter,  die  auch  in  anderer  Bedeutung  sonst  vor- 
kommen, hier  aber  eine  bestimmte  Nuance  haben,  am  meisten 
zum  Beweise  geeignet."  —  «Ganz  nothwendig  müssen  die  ags. 
Wörter  ihre  Verwandtschaft  in  anderen  germanischen  Sprachen 
haben,  wenn  sie  nicht  etwa  aus  anderen  Zungen  entlehnt  sind, 
was  wohl  bisweilen  der  Fall  sein  mag,  aber  diese  Verwandt- 
schaft ist  meist  sehr  entfernt,  sie  deutet  bestimmt  auf  die 
eigene  Ausbildung.'*  Die  neuen  Worte,  „am  meisten  zum  Be- 
weise geeignet",  sind  merkwürdig,  sie  sollen  mit  zudecken  helfen; 
denn  gäbe  man  zu  (was  ßec.  leugnet),  dass  auf  diesem  Wege 
etwas  könnte  bewiesen  werden,  so  wären  doch  ganz  offenbar 
solche  W  örter,  die  in  keinen  Nuancen  mehr  sich  finden,  welche 
ganz  fremd  und  gleichsam  sonst  ausgestorben  oder  wie 
niemals  ins  Leben  übergegangen  dastehen,  kurz  wie  etwas 
Geborgtes,  was  sie  sein  sollen,  zum  Beweis  der  Hypothese  viel 
geschickter.  Allein,  gerade  auf  die  Sache  eingegangen,  diese 
Modificationen  heben  den  alten  Satz  auf,  einmal  können 
blosse  Übereinstimmungen  in  Nuancen  noch  viel  weniger  be- 
weisen, dass  die  ganze  ausgebreitete  Poesie  erborgt  sei  (dabei 
muss  man  nicht  vergessen,  dass  die  Ähnlichkeit  derselben  bei 
beiden  Völkern  durchaus  nicht  bestritten  wird  und  sich  sehr 
wohl  sonsther  erklärt);  dann  aber,  auch  ohne  das,  ist  es  jetzt 
ein  endloser  Schlupfwinkel,  um  in  jedem  einzelnen  Falle  sich 
zurückzuziehen  und  zu  behaupten,  das  passe  nicht  hierher,  so- 
dass alle  weitere  Bestreitung  völlig  fruchtlos  ist.  Beispiele 
werden  dies  klar  machen ;  in  dem  neugelieferten  Verzeichnis 
S.  22  steht  hier  isl.  b öl,  ags.  beal,  Verderben,  Übel.  Bemerkte 
jemand,  es  sei  auch  altdeutsch:  symb.  p.  22  palo,  Teutonista: 
bail,  so  würde  geantwortet,  es  sei  zwar  die  Wurzel,  aber  die 
Schreibung  verschieden,  dort  ein  p  für  b,  hier  ein  ai  für  au. 
Ebenso  wird  es  bei  folgendem  ergehen.  Hr.  Kühs  stellt  auf: 
«isl.  flug,  ags.  flyge  Flucht."  Im  Ags.  ist  die  doppelte  Form: 
f^ygß?  flyht:  fuga  und  volatus;  in  der  nord.  Prosa:  flug 
volatus,  Niäla  c.  128  und  im  Schwed.  flygt  volatus  und  auch 
flykt  fuga.  —  Ferner:  isl.  gunn,  guth,  ags.  guth  Krieg, 
das  Wort  war  aber  auch  im  Altdeutschen,  Hildebr.-Lied  V.  4  2i& 
guthamum,  acc.  pl.  Kriegskleider,  und  in  den  Namen  Gunnarr, 
Gundachar,  Gundobald  durch  die  skandinavischen  sowohl,  als 


144    ÜBER  DEN  URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN  POESIE  VON  RÜIiS. 

deutschen  Mundarten  verbreitet,  und  es  fühlt  wohl  jeder,  wie 
unpassend  und  falsch  es  ist,  zu  behaupten,  es  sei  durch  die  angel- 
sächsische erst  in  die  nordische  (isl.)  Poesie  gekommen;  Hr.  Rühs 
aber  kann  einwenden,  es  seien  Nuancen  wegen  der  Zusammen- 
setzungen.—  Thiodan,  Theodan  Herr,  biodr,  beode  Tisch, 
hat  auch  Ulphilas:  thiudans  und  biuds,  da  wird  aber  das 
fehlende  s  die  Widerlegung  entkräften  und  „auf  eigene  Ausbildung 
bei  den  Angelsachsen  deuten." 

Damit  wäre  eigentlich  die  Sache  beendigt  und  einerlei,  ob 
jene  Beispielsammlung  richtig  oder  nicht,  weil  das,  was  sie 
nach  der  neuen  Erklärung  beweisen  soll,  gar  nichts  beweist; 
allein  Rec.  will  sich  nichts  erlassen.  Er  hatte  gezeigt,  dass  von 
jenen  50  aufgestellten  Wörtern  44  in  anderen  Dialekten  der 
germanischen  Sprachen  sich  wiederfänden ;  die  deutsche,  nament- 
lich die  altdeutsche,  Ulphilas  und  die  Glossen,  gehörte  dazu  als 
ein  Zweig  des  Stammes;  wer  mag  sagen,  was  bei  dem  gothischen 
Ulphilas  schon  sich  findet,  hätten  die  nordischen  (isl.)  Dichter 
«rst  durch  die  Ags.  erhalten?  Sollte  Hr.  Rühs  das  sagen,  so  hält 
Rec.  jedes  Wort  dagegen  für  unnöthig.  (Ein  Glück  nur,  dass 
den  Ulphilas  die  Zeitrechnung  vor  einer  Behauptung,  auch  er 
habe  von  den  Ags.  geborgt,  schützt.J  Fünf  jener  Wörter  waren 
als  zweifelhaft  bezeichnet,  eins  blieb  zurück.  Hr.  Rühs  ant- 
wortet hier:  „jenes  Verzeichnis  habe  er  bloss  nach  erster  Er- 
innerung gemacht,  ohne  den  Ihre  nachzuschlagen"  (und  so  fiel 
es  ihm  natürlich  nicht  bei,  dass  ein  grosser  Theil  der  aufge- 
stellten ags.  und  altnord.  Wörter  auch  schwedisch  war).  Zehn 
wolle  er  als  nichts  beweisend  zurücknehmen;  jedoch  nur  zu 
etwa  neun  (worunter  aber  drei  von  den  fünf  zweifelhaften  sind 
und  das  eine,  das  zurückblieb)  macht  er  Gegenbemerkungen. 

1.  Bioila  Schelle,  altd.  Belle,  wird  in  der  Rec.  von 
bellen,  schwed.  bäla,  isl.  baula,  belia,  abgeleitet.  Hr. 
Rühs:  „nichts  ist  unglücklicher,  als  die  Herleitung  aus 
dieser  Wurzel."  Sie  ist  aber  so  unzweifelhaft,  dass  jedes  Wort 
^17  überflüssig  wäre ;  man  vergl.  Adelung  v.  Bellen,  welcher  gleicher 
Meinung:  ausgeführt  hat  und  dessen  Scharfsinn  in  diesem  Fach, 
ob  er  ihn  hier  gleich  nicht  aufzuwenden  brauchte,  niemand  be- 
zweifeln wird. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN  POESIE  VON  RUHS.     145 

2.  Rec. :  frega  soll  heissen  fregna.  Hr.  Rühs  wendet  ein, 
es  finde  sieh  diese  Form  als  poetische  bei  Olafsen.  —  Das  ist 
wahr,  allein  nur  im  Register;  schlägt  man  die  dabei  citirten 
Stellen  nach,  so  findet  sie  sich  nicht,  so  wie  sie  Rec.  in  keinem 
nordischen  Buch  und  keinem  Glossar  gefunden  (wiewohl  sie  mög- 
lich wäre),  sondern  allzeit  fregna.  Also  bleibt  es  fürs  erste  bei 
seiner  obigen  Behauptung.  (Dabei  vergisst  Hr.  Rühs  gänzlich, 
dass  Rec.  ihm  die  schwedischen  Formen  fraega  und  fraegna 
vorhielt,  die  ihn  so  ganz  widerlegen.) 

3.  Rec:  freah  soll  heissen  frekr.  Nämlich  freah  ist 
durchaus  nicht  nordisch  und  musste  verbessert  werden.  Hr. 
Rühs  sagt,  1)  „ob  sich  die  Form  freah  im  Isländischen  wirklich 
finde  oder  durch  einen  Schreib- oder  Druckfehler  sich  ein- 
geschlichen habe,  muss  ich  dahingestellt  sein  lassen." 
Unverständlich,  da  es  sich  nirgends  findet  und  über  seinen 
eigenen  Schreibfehler  Hr.  Rühs  ohne  Zweifel  entscheiden  kann. 
2)  „Kein  vernünftiger  Mensch  wird  freah  und  frekr  ver- 
gleichen —  das  isländische  Wort  heisst  (sollte  heissen)  freyr."  — 
Die  Zusammenstellung  des  ags.  freah  (liber  und  daher  dominus, 
übrigens  müsste  es  in  letzterer  Bedeutung  genauer  von  Hrn.  R. 
frea  geschrieben  sein)  mit  frekr  macht  gar  keine  Schwierig- 
keit, wenn  man  nur  das  hinlänglich  Bekannte  weiss,  dass  frech 
und  frei  dasselbe  Wort  ist,  nur  durch  die  Aussprache  ver- 
schieden; man  sehe  Adelung  darüber.  Im  Trojanischen  Krieo- 
V.  21419.  25228  [21546.  25380  Keller]  die  vermittelnde  Form., 
fr  ei  eh. 

Schlimm  ist  es  dagegen,  weil  es  einen  wirklichen  Fehler 
veranlasst,  wenn  Hr.  Rühs  hilmir  Fürst  und  hiälmr  Helm 
verwechselt  und  engla  heim,  das  dem  nord.  ein  gl  a  hilmir 
angelorum  rex  entspricht,  S.  85  seiner  Edda  durch:  der  Engel 
Helm  übersetzt,  so  wie  aethelinga  heim  der  Edlen  Fürst: 
der  Edlen  Helm.  Beide  Worte  sind  zwar  verwandt,  aber  doch 
viel   entfernter. 

4.  Rec:  kne    cognatio    (es   steht   der   völlig  unbedeutende 218 
Druckf.  cognatus  in  der  Rec.  [=oben  S.87]),  altdeutsch  cnuosl  im 
Hildebr.-Lied,    und  ebenso:    kne  (Zusatz:    und   zwar   häufig,  s. 
Oberlin)  auch  altfries.  Asegab.  36.  1 1 6.    Ferner  deutsch :  k n an  im 

W.  GRIMM,   KL.  SCIIUII-TES.     II.  10 


146  ÜBER  DEN  URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN  POESIE  VON  RÜHS. 

Simplicissimus.  Verwandt  istkunne,kynue  genus,  das  dänische 
kiön.  —  Hr.  Rühs:  „seine  Wurzel  ist  knie  (Glied)  und  cyn, 
kind,  kön  lässt  sich  gar  nicht  damit  zusammenstellen, 
es  gehört  zu  einem  ganz  anderen  Stamm." 

Die  Hauptsache,  dass  das  Wort  in  anderen  Dialekten,  sogar 
auch  im  Altfriesischen  sich  findet,  ist  wiederum  übergangen  und 
nur  eine  andere  Ableitung  mitgetheilt,  die  man  auch  bei  Ober- 
lin,  Adelung  findet.  Es  kommt  knae,  knie  (genu)  im  Schwed. 
und  Dithmars.  in  der  Bedeutung  von  Verwandtschaftsgrad  und 
Geschlechtsfolge  vor,  und  da  hat  gerade  Adelung  die  gute  Ver- 
muthung,  es  sei  aus  dem  alten  kunne  Geschlecht  zusammen- 
gezogen. Die  Verwandtschaft  zwischen  kynne,  kunne,  kiön 
und  kne,  knän  ist  ganz  ausser  Zweifel. 

5.  Rec. :  lokr  Säge,  isl.  und  schwed.  lüka  lösen,  auf- 
lösen, deutsch:  lockern  locker  machen,  welches  mit  Sägen 
zusammenkommt;  ferner  ist  Lücke,  Loch  und  löchern  damit 
verwandt.  Hr.  Rühs:  „lukan  lösen,  auflösen,  und  davon  soll 
locer  die  Säge  kommen!!  Es  bedeutet  gerade  das  Gegen- 
theil,  li'ika  isl.,  luka  altschw.,  belucan  ags.  heisst  claudere, 
obserare,  verschliessen.  Hat  Hrn.  Grimm  vielleicht  Ihres:  ut 
latini  solvere  debitum  dicunt  verführt?  Das  wäre  fast 
zu  arg!" 

An  dieser  eifriijen  Erklärung  des  Hrn.  Prof.  Rühs  ist  die 
Meinung  des  Rec.  Schuld ,  dass  es  unnöthig  sei ,  Bekanntes  und 
was  sich  von  selbst  verstehe  anzuführen,  also  1)  dass  lüka 
auch  schliessen,  claudere  heisse,  denn  es  steht  in  allen  isländ. 
und  schwed.  Glossarien,  2)  was  alle  Sprachforscher  wissen,  dass 
häufig  ein  und  dasselbe  Wort  die  beiden  entgegengesetzten  Be- 
deutungen in  sich  fasse,  weil  sie  sich  berühren  (der  Grund  liegt 
tief,  dasselbe  Verhältnis  erscheint  auch  in  den  Mythen);  um 
nur  etwas  Allbekanntes  anzuführen,  so  hat  schlecht  die  Be- 
2i9deutung  von  bös  und  gut,  obgleich  die  erste  und  nicht  die 
ursprünglichere  jetzt  vorherrscht,  während  eine  andere  ganz 
nahliegende  Form  schlicht  bloss  die  letztere  hat.  Mit  h'ika 
verhält  es  sich  ebenso;  das  Wort  an  sich  betrachtet  hängt 
ohne  allen  Zweifel  mit  lochen,  löchern,  lockern  ganz  nahe 
zusammen.     Die  Lücke   ist  im   Haus   nicht   nur   die   Öffiumg, 


I 


ÜBER   DEN  URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN  POESIE  VON  RÜHS.    147 

die  verschlossen  wird,  sondern  auch  das  Verschliessende  selbst, 
wie  Thür  und  Fenster,  darum  heisst  in  der  Schweiz  (s.  Stal- 
ders  Idiotikon)  die  schliessende  Gatterthüre :  Lücke,  Lügge. 
Ferner:  lyklar  die  Schlüssel  schliessen  sowohl  als  sie  öffnen; 
der  Begriff  von  Schliessen  geht  mit  dem  von  Auflösen  oft  zu- 
sammen, das  Ende  schliesst  und  löst  auf:  so  hat  das  gloss. 
synt.  lok,  operculum  (und  auch  Ende,  Auflösung,  z.  B.  aldr- 
lok  Lebensschluss  oder  Auflösung),  hoc  haud  dubie  affine  -<a 
ger.  lochforamen,  apertura.  Lüka  upp  und  liika  allein,  also 
gerade,  hält  man  claudere  für  die  eigentliche  Bedeutung,  die 
Gegensätze  werden  in  der  Bedeutung  von:  sententiam  ferre^ 
decidere  ganz  gleich  gebraucht,  s.  Niäla  isl.  Text  S.  77,  lat- 
Übers.  S.  415  Note  f.  —  Daselbst  steht  c.  117  lauk  upp 
schloss  auf,  aber  auch  c.  61  tak  thü  nü  vid  kistu  lyklum  minum? 
thuiat  ek  mun  theim  eigi  lüka  optarr,  welches  in  der  lat.  Übers. 
richtig  heisst:  accipe  claves  scriniorum  meorum,  haec  enim  non 
amplius  reserabo.  (Unnöthig  ist  das  Bedenken,  welches  das 
Glossar  hernach  äussert  und  claudere  übersetzen  will,  vix  enim 
recte  capitur  lüka  simpliciter  pro  reserare.)  Das  schwed. 
skuld  lüka,  debitum  solvere  entspricht  dem  deutschen:  von 
einer  Schuld  sich  lösen,  so  heisst  ferner  im  Nord,  lüka  fyrir 
sik,  multam  solvere,  s.  Niäla,  sich  lösen.  Endlich  steht 
Folgendes  in  den  Glossarien,  die  Hrn.  R.  selbst  zur  Hand  waren, 
und  was  den  Rec.  aller  Ausführung  überhob.  Olafsen:  lüka, 
solvere,  expedire.  — Gloss.  synt.  lyk,  claudo,  it.  absolvo.  — 
Gl.  edd.  ek  lyk,  solvo,  rependo,  reddo,  est  sensus  translatus 
verbi  at  lüka    claudere,  finire. 

Rec.  sagt  gern  nur  das  Nöthigste,  Hr.  Rübs  liebt  aber  die 
Bequemlichkeit  —  alles,  was  über  das  ganz  Gewöhnliche  hin- 
ausgeht, gut  genug  und  kurz  durch  eine  „unbegreifliche  Un-220 
wissenheit"  sich  deutlich  zu  machen.  Dies  passt,  wie  man 
sieht,  auf  alle  seine  Bemerkungen;  zuweilen  mildert  er  wohl 
den  Ausdruck  und  sagt  wie  oben  bei  frekr:  „kein  vernünftiger 
Mensch"  könne  dergleichen  behaupten  oder  auch:  „nur  die 
grösste  Unkunde",  wie  bei  maugr;  es  ist  aber  eigentlich  immer 
dasselbe.  Ja  gleich  Eingangs  S.  4  hat  er  nicht  ohne  Gross- 
muth  dem  Rec.  und   Jacob  Grimm  einen    ganzen  Folianten 

10* 


148    ÜBER  DEN  URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN   POESIE  VON  RÜHS. 

Fehler  nachgesehen  und  geschenkt;  wäre  nur  anzunehmen,  dass 
das  lauter  nicht  ganz  gewöhnliche  Dinge  gewesen,  könnten  sie 
stolz  auf  das  gelehrte  Werk  sein,  das  sie  schon  in  die  Welt 
geschickt. 

6,  Rec. :  mäkir  Degen  mit  dem  lat.  und  griech.  ma- 
chaera  verwandt.  Hr.  Rühs:  ^das  ist  ungefähr  so  viel,  als 
wenn  Gudm.  Andrea  in  seiner  Unschuld  seger  von  sag  um 
ableitet  und  dabei  schreibt  sag,  Persis  canis.  —  Rec.  setzt  bloss 
hinzu,  dass  mäkir  mit  machaera,  dem  böhm.  mec,  dem 
wend.  mecz,  dem  finn.  micka  und  dem  deutschen  Messer 
(es  ist  ein  Wort,  k  und  s  haben  sich  bloss  vertauscht,  wie 
ülph.  kukjan  küssen  hat)  nach  längst  begründeten  Ansichten 
(s.  Adelung,  ja  auch  der  von  Hrn.  Rühs  gerühmte  Ihre,  als 
welcher  den  rechten  Takt  habe,  bemerkt  das  griechische  Wort) 
ohne  Zweifel  verwandt  ist  und  an  ein  Erborgen  von  den  Angel- 
sachsen nicht  zu  denken.  Indessen  kann  sich  Hr.  Rühs  jetzt  nach 
der  neuen  Erklärung  leicht  an  die  Verschiedenheit  in  der  Form 
und  Schreibung  (denn  Stechmesser  heisst  im  Altdeutschen  auch 
Degen)  halten,  wiewohl  zwischen  dem  nord.  mäkir  und  dem 
ags.  meca,  mece  auch  eine  kleine  wäre. 

7.  Rec:  mala  femina,  ags.  mevola,  Ulph.  mavi  und 
diminut.  mavilo,  deutsch:  Magd,  Maid,  dän.  und  schwed. 
Mö,  S.Adelung.  Hr.  Rühs:  „mala  und  meavla  (jenes  sprich 
maula  und  fast  so  dieses)  wird  mit  Meid,  Magd  zusammenge- 
stellt, aber  höchst  unglücklich,  denn  die  Isländer  haben 
ebenfalls  das  Wort  mey."  —  Die  Erklärung  des  Rec.  ist  aber 
ganz  sicher  und  alles  Weitere  darüber  unnöthig;  man  vergleiche 
nur  die  Ausführung  bei  dem  citirten  Adelung.  Im  Altdeutschen 
haben  wir  auch  die  Formen  Meid,  Magd  und  Maget  zugleich. 

221  8.    Rec:  Meithmar   Gut,  Geschenk.     Ulph.  Maithms,   alt- 

deutsch: Miete.  Hr.  Rühs:  „Mathmas,  Meithmar  lassen  sich 
durchaus  nicht  mit  dem  altdeutschen  Miete,  unserem  Miethe, 
zusammenstellen,  das  stets  Lohn,  Gewinn  bedeutet."  Es  ist 
aber  überflüssig  bekannt,  dass  Miete  in  der  Bedeutung  von  Gut, 
Geschenk  im  Altdeutschen  vorkommt  und  Lohn  da  eine  grund- 
falsche Erklärung  wäre,  z.  B.  im  armen  Heinrich  844,  s.  Ober- 
lin.  h.  V. 

9.  Rec:  mögr  Sohn,  cognatus,  schwed.  make,  altdeutsch: 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN  POESIE  TON  RÜHS.   149 

Mage.  —  Hr.  Rühs;  „das  schwed.  make  bedeutet  einen  Ge- 
nossen —  nur  die  grösste  ünkunde  konnte  auf  dieses  Wort 
fallen:  unserem  altdeutschen  Magen  entspricht  das  schwed.  mag." 

Gleichwohl  ist  make  socius  nichts  anders,  als  eine  dem 
mag  ganz  nah  verwandte  Form  eines  Worts;  ein  Verwandter 
ist  ein  Hausgenosse,  affinis.  Man  vergleiche  das  gloss.  synt.  s. 
voce  maki.  Ausserdem  heisst  das  nord.  maugr  auch  socius 
s.  Gl.  edd.  Adelung  führt  es  recht  gut  aus:  ^das  Zeitwort 
machen,  im  Aleman.  gimachon,  beim  Kero  kimachon  be- 
deutete ehedem  auch  vereinigen,  verbinden,  vermischen;  daher 
ist  gimach  beim  Ottfr.  und  anderen  Oberdeutschen  ein  Paar: 
zua  dubono  gimacho.  ein  Paar  Tauben,  und  kimachida  in  Bocks- 
horns Glossen  contubernium.  Eben  um  deswillen  bedeutet  auch 
make  im  Schwed.  einen  Gehülfen,  Gesellen,  mage  im  Ober- 
deutschen einen  Verwandten."  Rec.  drückt  sich  also  nur  voll- 
ständiger so  aus:  „mögr,  schwed.  make  und  mag,  altdeutsch 
Mage"  (auch  gehen  die  Formen  in  einander  über,  z.  B.  von 
sipschaft  sin  mauc.  Troj.  Krieg  6863  [6870  K.]);  Rec.  wollte  so 
bekannte   und   hinlänglich  ausgeführte  Dinge  nicht  wiederholen. 

10.  Hr.  Rühs  hatte  aufgestellt:  _isl.  naorli  a^s.  naeeel, 
Nagel  (spik)."  Also  glaubte  er,  was  ganz  klar  ist,  in  den  nor- 
dischen Dialekten  finde  sich  das  Wort  sonst  nicht  (und  das  hinzu- 
gefügte spik  clavus  sollte  wohl  anzeigen,  die  Schweden  hätten 
dafür  diesen  Ausdruck,  doch  war  das  einerlei).  Rec.  hielt  ihm 
nun  entgegen,  was  ihn  ganz  einfach  widerlegt  (so  dass  Rec. 
nicht  einmal  absieht,  wie  jetzt  die  Nuancen  durchhelfen  wollen),  222 
nämlich  das  schwed.  nagel  und  dän.  nagle,  ganz  in  derselben 
Bedeutung  von  clavus.  Rec.  hatte  [oben  S.  87]  geglaubt,  das  nor- 
dische nagli  und  spik  heisse  ausser  clavus  auch  noch  clavis,  das 
war  ein  Irrthum,  den  er  hier  bekennt,  er  scheint  ihm  nicht  gross 
bei  den  nahe  liegenden  Begriffen,  clavis  ist  das  Schliessende,  Ver- 
bindende, wie  clavus  (a  claudendo),  und  die  Verwandtschaft  des 
nord.  nagli  clavus  mit  dem  dän.  nögl  clavis  ist  so  wahrschein- 
lich, als  die  zwischen  den  beiden  lateinischen  Worten.  Hr.  Rühs 
konnte  diesen  Irrthum,  der  zur  Sache  gar  nichts  that,  bemerken, 
Rec,  wäre  ihm  dankbar  gewesen;  sehr  billig  hätte  er  dagegen 
gestehen  müssen,  dass  er  widerlegt  und  das  Wort  im  Verzeichnis 
zu  streichen  sei.     Hr.  Rühs  thut  aber  Folgendes:    1)   er  stellt 


150    ÜBER  DEN  URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN  POESIE  VON  RÜHS. 

die  Sache  so  auf,  dass  jeder  meint,  der  Rec.  habe  bloss  ge- 
sagt, nagli  und  spik  heisse  Schlüssel,  und  habe  clavus  mit 
clavis  verwechselt,  was  ihm  nie  einfallen  konnte;  zu  spik  clavus 
bemerkte  er  sogar  die  verwandten  deutschen  Ausdrücke:  Spitze, 
Speiche,  wozu  noch  näher  Spiecker  kann  gefügt  werden.  — 
2)  Er  verschweigt,  dass  Rec.  ihn  ganz  widerlegt  hat;  ja  er  trägt 
kein  Bedenken,  jetzt,  was  ihm  dort  vom  Rec.  bemerkt  war, 
als  müsse  er  ihn  hierin  belehren,  wieder  vorsagen  zu  wollen: 
S.  7  „nagli  isl. ,  naegl  ags. ,  na  gel  schwed.  und  negl 
dän.  heisst  clavus  und  unguis."  Dabei  sind  aber  zwei  Irrthümer 
eingeflossen,  denn  das  nord.  nagli  clavus  heisst  nicht  auch 
unguis,  sondern  nagl,  nögl  ist  das  Wort  dafür;  und  umge- 
kehrt das  dän.  negl  heisst,  soviel  Rec.  weiss,  bloss  unguis, 
nicht  clavus,  wofür  das  oben  bemerkte  nagle  vorhanden  ist; 
nur  das  ags.  vmd  schwed.  Wort  haben  beide  Bedeutungen 
zugleich.  Rec.  sähe  demnach  seine  Fehler  nach  anderen  Seiten 
hier  von  Hrn.  Rühs  zweifach  begangen.  — 

11.  Rec:  Sefi  Gemüth,  in  mannigfache  Worte  über- 
gegangen (Zusatz:  d.  h.  Wurzel  derselben)  und  verwandt 
mit  dem  schwed.  Sef,  Sefe  Ruhe.  Hr.  Rühs  führt  diese 
Worte  des  Rec.  also  an:  „Sefi,  Sefa  soll  das  schwed.  Sefe 
sein.  Das  ist  nun  wieder  durch  einen  etymologischen  salto 
mortale  herbeigeholt,  aber  zum  Unglück  ist  auch  im  Ags.  syb, 
223Sybbe  Ruhe"  (Bemerkung  des  Rec,  als  gebe  es  nicht  ver- 
schiedene Formen,  Ihre  hat  aber  bei  sef  auch  das  ags.  syb), 
„Ihre  führt  es  nur  als  Wurzel  einiger  Ableitungen  an."  Man 
sieht,  dass  Rec.  nichts  anderes  gesagt  hat:  säf werlig  tran- 
quillus,  säflighet  animi  moderatio  sind  schwedische  Wörter. 

12 — 17.  Was  nun  folgt,  Bemerkungen  des  Hrn.  Rühs  zu 
seggr  (er  sieht  verächtlich  auf  das  gl.  edd.,  dem  Rec.  bei- 
stimmte, dessen  Werth  Hr.  Rühs  nicht  kennt),  snotr,  sunna, 
thengil,  thulr,  vang,  angr  ist  bloss  eine  andere  Form  (vergl. 
Ihre  V.  aeng),  enthalten  gar  nichts,  was  nur  den  Schein  eines 
Beweises  für  seine  Behauptungen  hätte,  oder  wo  er  da  ist,  be- 
darf es  zum  Urtheil  nur  der  leichtesten  Kenntnis,  z.  B.  bei 
thulr  (die  gewöhnliche  Form  aller  Glossarien,  der  Edda,  Niäla, 
Olafsens).     Da    meint  Hr.  Rühs,   es  komme   zwar  beim   Gud- 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN  POESIE  VON  RÜHS.  ]51 

mund  thvlia  vor  in  der  Bedeutung  von  reden,  aber  Ihre  be- 
hauptet, es  heisse  nugari.  Das  soll  also  widerlegen.  Nicht 
einmal  das  deutsche  dahlen,  thalen,  das  Rec.  als  entsprechend 
bemerkte,  brachte  ihn  darauf,  einzusehen,  dass  das  Wort  beide 
nahliegende  Begriffe  zugleich  enthalte  (überdies  hatte  das  gl. 
edd.:  thylia  fabulari,  sermoncs  fundere  und  das  treffliche  der 
NicUa:  thylia  perlegere,  perorare,  thulr  lector,  orator).  So 
bleibt  ihm  denn  auch  der  ganz  klare  Zusammenhang  mit  dem 
provinziellen  tule  ein  Possenmacher,  nugator  unbegreiflich, 
er  aber  dabei,  „das  Wort  möchte  doch  wohl  aus  Ags.  ge- 
borgt sein",  während  es  eins  seiner  unglücklichsten  Beispiele 
ist.  Rec.  kann  in  nichts  von  seinen  Erklärungen  abweichen 
und  bittet  bloss,  was  er  gesagt,  dagegenzuhalten. 

18.  19.  Ganz  nothwendig  ist  eine  Vergleichung  mit  des 
Rec.  Worten  bei  dem,  was  Hr.  Rühs  zu  tungl  und  sigli  (auch 
bei  Mi  mir)  anführt.  Blosse  Vermuthungen  des  Rec,  denen 
er  noch  jetzt  beistimmt,  werden  ohne  Weiteres  als  Gewissheit 
und  mit  anderen  Worten  vorgetragen. 

Auf  das ,  was  nun  folgt  und  was  Hr.  Rühs  gegen  die  An-  225 
sieht  des  Rec.  sagt,  antwortet  er  nicht,  wie  in  der  vorigen  Re- 
cension;  selbst  wenn  er  wollte,  würde  es  nicht  angehen,  weil 
die  eigenen  Worte  des  Hrn.  Rühs,  die  er  doch  anführen  müsste, 
den  Anstand  beleidigen.  Folgendes  lässt  sich  noch  herausheben. 
Rec.  sagte:  -das  nord.  und  ags.  Wort,  das  Hr.  Rühs  im 
Sinn  hat  (Zusatz:  oder  haben  sollte),  heisst  veria  und  müsste 
veriandi  bilden."  Hr.  Rühs  übersieht,  dass  beim  Rec.,  falls 
er  die  ags.  Form  hätte  anführen  wollen,  werjan  dastehen 
müsste,  und  schreibt  ihm  kurz  die  Worte  zu:  „das  angel- 
sächsische Wort,  das  Hr.  Rühs  im  Sinne  hat,  heisst  veria", 
hilft  sich  auch  leicht,  indem  er  wiederholt,  was  schon  im  Buche 
steht,  dass  die  Ags.  auch  weardan  hätten,  und  was  zu  be- 
zweifeln dem  Rec.  gar  nicht  einfiel:  nur  citirt  er  sein  ags. 
Lexikon.  Die  Norne  Verdandi  vom  nord.  varda,  welches 
dem  ags.  weardan  entspricht,  abzuleiten  ist  auch  unstattbar, 
weil  es  ja  vardandi  heissen  müsste.  —  Den  Bemerkungen  des 
Rec.  über  Urd  ist  es  nicht  besser  ergangen;  Hr.  Rühs  lässt 
ihn  bloss  behaupten:  „das  isländ.  Wort  für  Schicksal  sei  orth.'' 


152    L'ßEK  DEN  URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN  POESIE  VON  RÜHS. 

Er  hat  aber  durchaus  nichts  anderes  gesagt  als:  dem  ags. 
wyrd  (und  der  anderen  Form:  word)  verbum  und  fatum  ent- 
spreche das  altdeutsche  (schon  in  der  gl.  rhab.)  uyrd,  wurt 
und  das  isländ.  orth,  was  wohl  alles  keinen  Zweifel  leidet  und 
Hrn.  Rühs  vollständig  widerlegt.  Denn  wollte  die  nordische 
Poesie  fatum,  verbum  (die  Begriffe  gehen  in  einander  über)  durch 
eine  Walkyrie  andeuten,  so  lag  ihr  das  einheimische  orth  näher, 
226 als  die  ags.  Form  wyrd,  die  ja  ohnehin  auch  von  Urd^)  viel 
mehr  äusserlich  abweicht.  Hätten  die  nordischen  Dichter  die 
NorneWyrd  genannt,  während  daneben  ihre  eigene  Sprache 
orth  2:e währte,  dann  verdiente  der  Umstand  Berücksichtiguno:. 
—  Das  schlimmste  Schicksal  in  der  Art  hat  ein  kleiner  Wunsch 
des  Rec.  Er  bedauerte  nämlich  (s.  972  der  Kecension  [=  oben 
S.  92]),  dass  die  finnischen  Wörter,  welche  in  einer  Unter- 
suchung von  Olafsen  nach  dem  Ausspruch  des  Hrn.  Rühs  auch 
müssten  gestrichen  werden,  nicht  namentlich  angegeben  wären; 
natürlich,  weil  eine  solche  Berichtigung  angenehm  und  der  Re- 
censent,  welcher  nicht,  wie  Hr.  Rühs,  ein  Kenner  der  finnischen 
Sprache  ist,  selbst  nicht  geschickt  dazu  war.  Was  nun  höch- 
stens ein  Wunsch  ist,  sieht  Hr.  Rühs  als  eine  Forderung  nach 
einer  Erklärung  an,  warum  die  Hälfte  aller  von  Olafsen 
aus  verschiedenen  Sprachen  hierbei  zusammengestellter  (das  ist 
die  Meinung  des  Hrn.  Rühs,  die  Rec.  ganz  in  ihrer  Ruhe  lässt) 
müssten  gestrichen  werden.  Er  thut's  wirklich  und  erklärt  sich 
darüber,  man  sehe,  was  er  S.  14  und  15  recht  gut  beibringt 
(Rec.  hält's  nur  für  falsch),  und  wie  er  jene  Forderung,  mithin 

0  Hierbei  eine  Note.  Die  Worte  des  Rec.  waren:  Urd  (urdii  es  ward 
von  verda  werden)."  Hr.  Rühs  gibt  aber  an  S.  22,  .,  Urda  soll  das  Im- 
perfectuin  sein  statt  wart."  Dabei  ist  zweierlei  zu  bemerken:  1)  die  Norne 
heisst  nicht  Urda,  sondern  Urd  oder  Urdu r.  2)  Nicht  statt  vart,  sondern 
vard  soll  Urd  stehen;  der  Plural,  urdu  ward  hinzugesetzt,  um  zu  zeiyfen, 
dass  das  u  für  va  hier  noch  hervortrete  und  keinen  Einwurf  mache.  Wir 
haben  ja  auch  im  Deutschen  die  doppelte  Form  ward  und  wurde,  was  wieder 
für  jene  Auslegung  spricht.  Hr.  Rühs  führt  kurz  vorher  auch  den  Nom. 
Urdu  an;  es  sollte  Rec.  leid  tiiun,  wenn  jener  Plural  von  Hrn.  Rühs  als  eine 
andere  Form  angesehen  iind  gebraucht  wäre.  Vielleicht  ist  es  blosser  Druck- 
fehler für  das  falsche  Urda.  —  Noch  eine  Kleinigkeit.  Hr.  Rühs  bringt  aus 
der  Edda  bei:  „Urthar  orthi  Schicksals-Worte."  Es  ist  aber  orthi  kein  Nom. 
Plur.,  sondern  der  Dat.  Sing. 


LBEIi   DEN   URSPRUNG  DER  ISLÄNDISCHEN   POESIE   VON  RÜHS.    153 

auch  den  gelehrten  Olafsen,  wacker  in  die  Schule  nimmt,  der 
demnach  «die  Elemente  der  richtigen  und  gründlichen  Wort- 
forschung nicht  begriflPen  hat." 

Folgendes  ist  vor  dem  Schluss  gewissenhaft  zu  bemerken. 
Zu  den  Worten  in  der  Rec.  S.  974  [=  oben  S.  93]  „im  Ags, 
heisst  nicht  Thundr,  sondern  Thunor  der  Donner",  setze  man2-27 
hinter  nicht:  „oder  ganz  ungewöhnlich".  Es  hat  auf  das  Re- 
sultat natürlich  keinen  Einfluss  und  wird  bloss  der  Vollständig- 
keit wegen  bemerkt;  auf  jeden  Fall  ist  die  Inconsequenz  des 
Hrn.  Rühs  zu  berichtigen,  womit  er  gleich  neben  thundr  den 
Gen.  thunres  modur  nach  der  gewöhnlichen  Form  anführt. 
Dass  Hr.  Rühs  jene  Form  erdichtet,  davon  steht  auch  nicht  ein 
Wort  in  der  Recension,  wiewohl  er  hier  S.  10  in  schöner  Sicher- 
heit behauptet,  es  werde  ihm  „geradezu  vorgeworfen";  auf  keinen 
Fall  hätte  er  es  absichtlich  gethan,  sondern  unschuldig,  wie 
bei  der  Person  Werdur,  bei  Urda  und  oben  bei  freah,  wo 
er  jetzt  noch  nicht  weiss,  wie  er  dazu  gekommen.  —  S.  968 
[=  oben  S.  87]  ist  bei  räsir  wegen  eines  kleinen,  wahrhaftig 
unschuldigen  Versehens  um  Verzeihung  zu  bitten.  In  seinen 
Collectaneen  fand  Rec,  dass  Peringskjöld  in  den  Noten  zu 
Cochlaei  vita  Theodorici  anführte,  auf  einer  westgothischen 
Münze  unter  dem  Bilde  des  Königs  stehe  ressmadr  tapferer 
Mann,  und  das  sei  noch  jetzt  üblicher  Ausdruck.  Rec.  besitzt 
das  Buch  nicht  selber;  weil  hier  nun  gar  nichts  dadurch  ent- 
schieden werden  sollte,  sondern  es  nur  eine  Bestätigung  der 
vorangehenden  Meinung  war,  so  fügte  er,  ohne  nachzusehen, 
die  Anmerkung  hinzu.  Hr.  Rühs,  der  das  Buch  besitzt,  hat 
so  gut,  wie  jeder,  der  es  nachsieht,  gemerkt,  was  Schuld  an 
dem  unrichtigen  Citat  war,  es  auch  redlich  gesagt,  doch  aber, 
um  sich  selber  nicht  zu  verkürzen,  einen  anderen  Fall  S.  37 
und  38  mit  mehr  Lust  und  Anhänglichkeit,  auch  mit  reicheren 
Folgerungen  durchgeführt.  Rec,  nun  aufmerksam  gemacht, 
erkennt  freilich  bei  genauer  Betrachtung  selber  deutlich  genug, 
dass  nicht  unter  dem  Königskopf,  sondern  unter  dem  Reuter 
eine  Inschrift  steht,  die  sehr  unleserlich,  und  dass  jenes  eine 
blosse  Conjectur  ist.  Man  streiche  also  diese  zweifelhafte  Be- 
merkung; wie  gesagt,  in  der  Sache  ändert  sich  dadurch  nichts, 


154  BEMERKUNG. 

und  Rec.  hat  damit  bloss  sich,  nicht  Hrn.  Rühs  geschadet.  — 
Skiola  S.  975  [=  oben  S.  95]  für  skyla  hat  wahrscheinlich 
der  Corrector  gelesen,  weil  er  skioldr  daneben  sah,  es  ist  hin- 
länglich bekannt.  —  S.  979  [=  oben  S.  98]  Note  ist  tabulae 
für  tabula  zu  setzen. 

Rec.  hat  sonst  keinen  Irrthum  zu  bekennen  und  nimmt 
nichts  zurück.  Leicht  hat  er  sich  aller  Folgerungren  enthalten, 
228 denn  sie  können  niemanden  entgehen,  und  überhaupt  ungern 
diese  Bemerkungen  aufgeschrieben,  aber  seine  Pflicht  als  Re- 
censent  nöthigten  ihn  und  sein  früheres  Versprechen;  auch  musste 
er  sich  wegen  der  Jenaer  Kritik  erklären. 

Gar  über  die  Weise,  worin  Hr.  Rühs  sich  gefasst  hat,  zu 

reden,    wird    kein    Ehrliebender    zumuthen.      Wer    wollte    den 

Schmutz    auch   nur   anrühren,    in    welchem    diese   Blätter   einer 

gemeinen  und  besinnungslosen  Wuth,  die  längst  über  den  Grad, 

der  beleidigt,  hinaus  ist,  schwimmen. 

\Y.  C.  Grimm. 


55  BEMERKUNG 

zu  der  Recension  der  altdänischen  Lieder  in  der  Hall.  Allg.Lit.-Ztg.No.95  und  96. 
[Bdl,  S.  753— 756.  761—767.] 

Heidelbergische  Jahrbücher  der  Litteratur.     Jahrgang  VIII  (1815)  Bd  H, 
Intelligenzblatt  No.  VI,  S.  55 — 57. 

i.1  yerup  hat  sich  in  der  neuen  Ausgabe  der  Kämpeviser 
günstig  genug  über  meine  Übersetzung  geäussert,  andere  haben 
es  auch  gethan,  jene  Recension  in  der  Hall.  Lit.-Ztg.  sucht  ein 
entgegengesetztes  Urtheil  in  den  Gang  zu  bringen,  wornach  sie 
eine  blosse  Travestirung  ist,  und  ich  verkenne  den  bösen  W^illen 
sowohl  im  Eingang  als  Schluss  der  einzelnen  Bemerkungen  [S.  756. 
767]  nicht.  Dagegen  bin  ich  gleichgültig  geworden,  zumal  seit  ich 
das  Rasen  und  Treiben  zweier  und  dreier  namenloser  Recensenten 
kenne,  wovon  mir  immer  einer  so  lieb  ist  als  der  andere.  Aber 
die  Bemerkungen  selbst  enthalten  einiges  W^ahre,  und  das  scheide 
ich  von  jener  edlen  Gesinnung.  Will  sich  der  Verfasser  der- 
selben (ein  anderer  ist  leicht  der  Einsender  der  Recension  und 


BEMERKUNG.  155 

jener  bekannte  Forscher,  der  es  der  Redaction  der  L.-Z.  dringend 
genug  muss  gemacht  haben,  da  das  Buch  daselbst  schon  im 
Jahr  1813  No.  171  [S.  535  —  536]  ruhig  recensirt  ist)  nennen, 
so  könnte  ich  ihm  ausführlich  mittheilen,  warum  sein  Tadel 
mich  wenig  triflft.  Hier  einige  Bemerkungen  mit  wenigen  Bei- 
spielen. Erstlich  hat  er  mir  alle  Ubersetzungs- Freiheiten  als 
Fehler  angerechnet  und  begeht  bei  scheinbarem  Recht  ein  zwei- 
faches  Unrecht.  Ob  er  sich  dessen  bewusst  war,  mag  gleich 
sein  erstes  Beispiel  zeigen,  im  Text  steht  „er  wusste  zu  kriegen 
und  streiten",  ich  lasse  den  Helden  selbst  reden:  „ich  weiss 
dir  Krieg  und  Streit" ;  das  wirft  er  mir  nun  vor.  Manches  ist 
unglaublich:  bert,  vornen  von  Syv  durch  praestans  erklärt, 
ist  das  isl.  biartr,  altdeutsch  bert,  pert  weiss,  herrlich, 
ein  allgemein  verstärkendes  Beiwort,  bei  einem  Löwen  über- 
setze ich  es  ganz  richtig  durch  kühn,  und  das  tadelt  er  als  Un- 
wissenheit. Ich  komme  auf  die  Vermuthung,  dass  er  besser 
Dänisch  als  Deutsch  versteht,  sonst  hätte  er,  wenn  er  gesehen, 
dass  ich  bald  überall,  z.  B.  S.  128,  richtig  durch  Felsen  über- 
setzt, einmal  aber  der  Assonanz  wegen  das  Wort  beibehalten, 
wohl  aus  Adelung  gewusst,  dass  Halde  auch  deutsch  ist;  ferner 
nicht  geglaubt,  Algraf  sei  verständlich.  Zweitens  habe  ich 
einen  Theil  des  von  ihm  Gerügten  selber  schon  gerügt  in  dem 
Sendschreiben  an  Hrn.  Gräter  [S.  51 — 56],  und  er  hätte  alles, 
z.  B.  was  er  über  Hafbur  und  Signild  vorbringt,  ersparen  können. 
Drittens  war"  einiges  weggefallen,  wenn  er  die  Ausgabe  der  K.-V. 
von  1787,  die  ich  vor  mir  hatte,  einsah,  daselbst  steht  z.  B.  og. 
vognet  af  forste  Sövn,  erwacht  aus  dem  ersten  Schlaf;  das 
gilt  nun  für  einen  Fehler,  weil  er  liest  först  af  Sövn.  Was 
übrig  bleibt  und  worin  er  Recht  gegen  mich  hat,  sind  einige 
gute  Bemerkungen  über  verderbte  Stellen,  wie  sie  mir  bei  der 
neuen  Ausgabe  der  Urschrift  auch  nicht  schwer  fallen,  einige 
wirkliche  Fehler  und  einige  blosse  Versehen,  z.  B.  ich  habe  ein- 
mal et  Kind  durch  en  Kind,  wo  es  guten  Sinn  gibt,  übersetzt, 
19 mal  green  durch  Zweig,  einmal  durch  grön,  grün  u.  dgl. 
Überhaupt  hat  meine  Übersetzung  immer  Sinn,  auch  wo  ich 
geirrt,  wenn  ihn  der  Rec.  nicht  eingesehen,  ist's  nicht  meine 
Schuld.     Ich   würde  jetzt    nach  fünf  Jahren    bei    einem    neuen 


156  ANTIKRITIK  GEGEN  A.  W.  VON  SCHLEGEL. 

kritischen  Text  und  mit  besseren,  schwer  zu  erlangenden  Hilfs- 
mittehi  (ich  hatte  das  Dansk  Ordbog,  soweit  es  heraus  ist,  noch 
nicht,  und  ein  Däne  [Steffens]  konnte  mir  nicht  sagen,  was  Ageruld 
sei,  dort  finde  ich  es  erklärt)  das  alles  und  wohl  noch  mehr  ge- 
funden haben,  dennoch  aber  danke  ich  dem  Verf.  Ich  kann 
das  um  so  unbefangener,  da  ich  selbst  längst  öffentlich  zuVer- 
57besserungen  eingeladen  und  erklärt,  dass  ich  eine  Arbeit  von 
solchem  Umfang,  ohne  irgend  eine  frühere  Vorarbeit  zuerst 
übernommen,  im  voraus  nicht  für  fehlerfrei  gehalten. 

W.  C.  Grimm. 


ANTIKRITIK  GEGEN  A.  W.  VON  SCHLEGEL. 

Altdeutsche  Wälder  herausgegeben   durch   die  Brüder  Grimm.     Dritter  Band. 
Frankfurt,  bei  Bernhard  Körner.     1816.     8.     S.  270—277. 

270  lliine  Recension  des  ersten  Bandes  der  altdeutschen  Wälder 
von  Herrn  A.W.  von  Schlegel  befindet  sich  in  den  Heidelbergischen 
Jahrbüchern  von  1815,  Stück  46.  47  und  48.  [S.  721  —  766  = 
Werke  XII,  S.  383  —  426,  Leipzig  1847].  Ich  schätze  die 
Freimüthigkeit   darin,    so   wie   den  Fleiss  und   die   Liebe,    mit 

271  welcher  ein  so  ausgezeichneter  Gelehrter  eine  Zeitschrift  über 
die  altdeutsche  Litteratur  selbst  im  Auslande  betrachtet.  Was 
uns  berichtigt  und  eines  Besseren  belehrt  hat,  nehmen  wir  dank- 
bar an;  das  Tadelnswürdige  darin,  womit  ich  nicht  Unrichtig- 
keiten und  Irrthümer  meine,  welche  man  in  diesem  Fache  leicht 
entschuldigt,  sondern  den  niederdrückenden  Ton  gegen  ganz 
gute  und  wahre  Dinge,  deren  Betrachtung  am  Ende  dem  ge- 
scheidtesten  Manne  wird  angemuthet  werden,  und  der  zumeist 
an  jemand  befremdet,  der  selbst  über  das  freie  Leben  jeglicher 
Ansicht  gekämpft;  ferner  ein  hin  und  wieder  etwas  unbilliger 
Ausdruck:  dieses  Tadelnswürdige  schadet  uns  nicht,  sondern  der 
Recensent,  der  sich,  wie  es  bei  allen  scharfen  Beurtheilungen 
sein  sollte,  genannt,  hätte  es  nöthigen  Falls  zu  verantworten. 
In  dem  Eingang  [721 — 730]  stellt  er  aus  gelegentlichen  Äusse- 
rungen unsere  Ansicht  von  der  Sage,  Entstehung  und  Aus- 
breitung   der  Poesie    auf  und   scheint  sie   so   ziemlich   zu   ver- 


ANTIKRITIK  GEGEN  A.  W.  VON  SCHLEGEL.  157 

werfen;  wo  wir  im  Zusammenhange  dargelegt,  würde  sie  nicht 
wie  dort  lauten:  indessen  können  wir  der  von  Hrn.  v.  Schlegel 
dagegengestellten  kaum  in  ein  Paar  gelegentlichen  Bemerkungen 
beistimmen.  Wir  glauben  nicht,  dass,  was  man  an  Zeitaltern 
und  Völkern  rühmt,  sich  bei  näherer  Betrachtung  in  die  Eigen- 
schaften und  Handlungen  einzelner  Menschen  auflöse,  auch 
nicht,  dass  die  Poesie  durch  solche  Einzelmenschen  erfunden, 
noch  dass  die,  welche  das  Epos  den  Völkern  verkündigten,  wie 
es  hier  in  gewähltem  Ausdrucke  heisst:  bei  absichtlichen  Ver- 
schönerunsren  ihre  eio^enen  Vertrauten  waren.  Doch  ist  dies 
auszuführen  hier  nicht  der  Ort.  Fast  noch  stärker  erklärt  sich 
Hr.  von  Schlegel  gegen  einige  etymologische  Versuche.  Diese 
haben  überhaupt  das  Eigene,  dass  eine  gewagte  Behauptung, 272 
die  dabei  nicht  ganz  zu  vermeiden  ist  und  der  man  oft  nicht 
ansieht,  wie  vielfach  sie  überlegt  worden,  seltener  vorkommt,  als 
von  solchen,  welche  sich  gerade  nicht  damit  beschäftigen,  ein 
leichtes  und  vorschnelles  Absprechen,  dem  ein  jeder  von  Haus 
aus  gewachsen  zu  sein  ohne  Anstand  glaubt.  Ich  sehe  es  daher 
in  einem  milderen  Lichte,  wenn  Hr.  von  Schlegel  [S.  755]  sagt: 
Etymologie  sei  eine  Klippe,  die  wir  „niemals"  berührten,  ohne 
zu  scheitern.  Wie  es  in  solchen  Dingen  geht,  eben  auf  die 
Kenner  berufen  wir  uns,  wie  Hr.  von  Schlegel,  und  ich  will 
für  diese  nur  ein  Beispiel  bemerken.  Da  es  gerade  das 
schlimmste  ist,  das  unser  Gegner  weiss,  wird  er  mich  nicht 
tadeln  dürfen,  dass  ich  es  wiederum  als  das  beste  für  uns  aus- 
wähle. Von  J.  G.  waren  S.  81  und  82  einige  Worte  über 
Teut  und  Mann  gesagt;  dass  Hr.  v.  Schlegel  [S.  738]  in  dem,  was 
augenscheinlich  eine  blosse  Anregung  (nach  dem  eigenthüm- 
lichen  Recht  der  Zeitschriften)  ist,  ein  „tumultuarisches  Abthun" 
der  Sache  bemerkt,  hätte  weiter  nichts  auf  sich,  aber  es  wird 
daselbst  nebenbei  erinnert,  dass  in  ho-mo  die  zweite  Silbe  mit 
unserem  Mann  übereinkomme,  indem  ho  der  alte  morgen- 
ländische Artikel  ist,  der  in  ne-mo  wieder  weggefallen.  Eine 
bekannte  Sache,  welche  Sprachforscher,  wie  Morhof,  Ihre, 
Adelung,  ausführlich  gezeigt:  die  Vermuthung  an  sich  hat  einen 
hohen  Grad  von  Wahrscheinlichkeit,  ihre  Statthaftigkeit  aber 
ist    ausser    allem  Zweifel.      Indes   behauptet    Hr.    von  Schlegel, 


158         ANTIKRITIK  GEGEN  A.  W.  VON  SCHLEGEL. 

die  wahre  Ableitung  finde  sich  bei  Varro  (homo  dictus  ab 
humo);  das  könnte  dahingestellt  sein  und  dem  Gegner  überlassen 
bleiben,  darauf  zu  antworten,  aber  wenn  Hr.  von  Schlegel  noch 

273 hinzusetzt:  „darüber  werden  alle  Kenner  einverstanden  sein, 
dass,  wer  solche  Etymologieen  an  das  Licht  bringt,  noch  in  den 
ersten  Grundsätzen  der  Sprachforschung  ein  Fremdling  ist",  — 
so  fühlt  man  das  harte  Urtheil  gegen  ausgezeichnete  Männer, 
und  wir  dürfen  wenigstens  von  Hrn.  von  Schlegel  die  Billigkeit 
verlangen,  ein  Paar  etymologische  Irrthümer,  wenn  er  sie  fände, 
Stillschweigens  hingehen  zu  lassen. 

Soviel  nur,  weil  ich  die  übrige  Recension  nicht  ganz  über- 
gehen wollte,  wenn  ich  es  nöthig  glaubte,  auf  die  ausführlichen 
Bemerkungen  des  Hrn.  von  Schlegel  gegen  die  Zeugnisse  über 
die  deutsche  Heldensage  [S.  747 — 766]  zu  antworten  und  mich  zu 
rechtfertigen,  dass  ich  nicht  mehr  daraus  in  den  vorangehenden 
Zusätzen  benutzt  habe.  Diese  Abhandlung  enthält,  wie  man  aus 
der  Überschrift  und  den  deutlichen  Worten  der  Einleitung:  sieht, 
bloss  gesammelte  Zeugnisse  über  die  deutsche  Heldensage,  die  ich 
in  einer  meist  chronologischen  Ordnung,  nach  welcher  sie  am 
leichtesten  zu  finden  waren,  aufstellte.  Dass  diese  Absicht  un- 
klar ausgedrückt  sei,  kann  ich  nicht  finden  (ja  ich  halte  die 
Klage  über  Unverständlichkeit  überhaupt  hier  nur  für  einen  bei 
Recensionen  üblichen  Zierat),  wohl  aber  das  Gegentheil  durch  den 
Göttinger  Recensenten  [Benecke,  1813,  Bd  HI,  1713 — 1719]  sogar 
bewiesen,  der  mich  zu  einer  Bearbeituno^  dieser  Zeugnisse  auf- 
foderte.  Demnach  hatte  ich  bloss  zu  zeigen,  dass  eine  mitgetheilte 
Stelle  sich  auf  die  Sage  beziehe,  und  dies,  wo  es  dunkel  war,  aus- 
einanderzusetzen. Ganz  ausser  meinem  Gesichtspunkt  aber  lagen 
Untersuchungen,  wozu  diese  Zeugnisse  veranlassen  können,  nament- 
lich eine  Darstellung  des  Verhältnisses  der  Geschichte  zur  Sage,  die 

274 gewiss  ein  anderes  grosses  Werk  erfodert  und  nicht  in  solchen 
einzelnen  Sätzen  abzuthun  ist.  Dies  verstand  sich  ganz  von  selbst, 
ausserdem  sagte  ich  noch  [S.  196]  ausdrücklich:  jenes  Verhältnis 
werde  „zum  Theil"  dargelegt,  nämlich  wo  die  urkundliche,  un- 
bezweifelte  Geschichte  mit  der  Sage  übereinstimme,  wo  es  aber 
„der  eigentliche  Gegenstand  der  Untersuchung"  sei,  müsse  der 
Gesichtspunkt    erweitert    werden.      Hr.    von   Schlegel   indessen 


ANTIKRITIK   GEGEN   A.  W.  VON    SCHLEGEL.  159 

scheint  eine  solche  Darstellung  zu  erblicken  und  entdeckt  darum 
in  der  Handhabung  und  Auslegung  der  Stellen  leicht  Mängel.  Ein 
Beispiel  wird  die  Sache  ganz  deutlich  machen.  Bei  Jemandes 
findet  sich  eine  Erzählung  von  dem  Tode  des  Ermanrich,  die 
mit  der  Sage  Übereinstimmung  hat ;  diese  ward  angeführt  und 
die  Übereinstimmung  gezeigt.  Ammian.  Marcellin  hat  eine 
andere  Angabe,  der  Mascov  folgt,  da  sie  aber  auf  die  Sage 
keinen  Bezug  hat  (wenigstens  sehe  ich  keinen  darin),  so  ist 
klar,  dass  sie  nicht  durfte  angefiihrt  werden.  Es  geht  mich 
hier  weder  an,  wer  mehr  Glauben  verdiene,  der  von  Hrn.  von 
Schlegel  zu  sehr  verachtete  und  für  die  Sagengeschichte  wichtige 
Jornandes  oder  Ammian.  Marcellin,  noch  ob  sich  beide  ver- 
einigen lassen.  Dennoch  erhalte  ich  [S.  753]  den  Vorwurf,  dass 
ich  letzteren  übersehen. 

Aus  diesem  MissgriflP  sind  viele  Blätter  mit  überflüssigem 
Tadel  gefüllt.  Das  Wichtigste  daraus  will  ich  bemerken.  Natur, 
lieh  wird  mir  zuerst  [S.  748]  im  Allgemeinen  vorgehalten,  dass 
ich  die  Zeugnisse  nicht  nach  Graden  der  Gültigkeit  geordnet 
oder  CS  an  Kritik  fehlen  lassen,  d.  h.  dass  ich  hier  keine  Rücksicht 
darauf  nahm,  wo  das  Zeugnis  stand,  bei  einem  beglaubigten 
Geschichtschreiber  oder  einem  [aus]  der  Sage  und  Mythe  aufge- 
nommenen. Im  Einzelnen  wird  dann  [S.  749  f.]  behauptet,  ich  275 
hätte  untersuchen  müssen,  ob  des  Paulus  Diac.  Angabe  von  dem 
Untergang  Günthers  durch  Attila  auch  in  Wahrheit  begründet 
sei,  und  dem  Sidonius  Apollin,  den  ich  nicht  einmal  genannt  (die 
Stelle  des  Hrn.  von  Schlegel  steht  bei  Mascov),  Glauben  bei- 
messen, wornach  vielmehr  die  Burgunden  damals  mit  dem  Attila 
gestritten.  Weil  ich  nun  den  Paulus  Diac.  u.  a.,  die  mir  mit 
der  Sage  zu  stimmen  scheinen  (worin  ich  mich  hätte  irren 
können),  anführe,  so  behauptet  auch  Hr.  von  Schlegel,  dass  ich 
ihre  Angabe  für  ausgemacht  halte.  Was  ferner  die  geschicht- 
liche Deutung  Dieterichs  von  Bern  betrifft,  so  scheine  ich  meinem 
Gegner  [S.751]  nicht  im  Klaren;  eigentlich  habe  ich  nichts  darüber 
gesagt.  Ich  sehe  allerdings  eine  Beziehung  des  sagenmässigen 
Dieterichs  von  Bern  auf  Theodorich  den  Grossen,  ja,  ich  habe 
selbst  S.  228.  229  den  Zusammenhang  der  Amaler  mit  den 
Amelungen  unter  den  Zeugnissen  angeführt  und   konnte   daher 


160  ANTIKRITIK  GEGEN  A.  W.  VON  SCHLEGEL. 

unmöglich  denken,  dass  dieser  von  meinem  Gegner  S.  752 
wiederum  angeführt  werden  würde  als  ein  Beweis,  dass  ich 
Unrecht  hätte,  eben  diesen  Zusammenhang  leugnen  zu  wollen. 
(Nebenbei:  wenn  Otto  von  Freysingen  und  Gottfried  von 
Viterbo  nicht  an  der  Einerleiheit  des  epischen  Dieterichs  von 
Bern  und  des  geschichtlichen  Theodorichs  zweifeln,  so  könnte 
das  erst  Gewicht  haben,  wenn  sie  genaue  Kenntnis  der  alten 
Sagen  zeigten,  wornach  sie  sich  die  Frage  beantwortet:  sehr 
wahrscheinlich  ist  jene  Kenntnis  bei  ihnen  nicht,  sonst  würden 
sie  nicht  nur  dies  eine  Mal  an  den  Tag  gekommen  sein.)  S.  224 
hatte  ich  angedeutet,  dass  man  über  Hermanfried  Nachricht  bei 
Gregor  von  Tours  und  Wittechind  finde.  Hr.  von  Schlegel 
276  äussert  [S.  754],  dass  ich  beide  Zeugen  „in  einem  Athem  nenne", 
als  ob  sie  gleiches  Ansehen  hätten.  Das  ist  nun  grundfalsch:  ich 
wollte  bloss  noch  ein  Paar  Zeugen  nennen,  die  den  Hermanfried 
in  der  ohnehin  bis  in  spätere  Zeiten  so  eigenthümlich  mythischen 
Geschichte  Thüringens  als  eine  geschichtliche  Gestalt  sichern. 
Seine  weitere  Geschichte,  da  ich  „kein  ganz  bestimmtes  Zeugnis, 
das  sich  auf  unsere  Sage  bezieht"  (dies  sind  meine  Worte  in 
der  Einleitung),  darin  gefunden,  gehörte  gewiss  nicht  hierher 
und  war  darum  nicht  berührt.  Wenn  ich  sage:  Hermanfried 
entspricht  dem  mythischen  Irnfrit,  so  heisst  das  natürlich  nichts 
anders,  als  er  verhält  sich  zu  ihm  wie  eine  geschichtliche  Ge- 
stalt zu  einer  in  der  Sage  lebenden.  Es  kommt  freilich  auf  die 
Ansicht  von  diesem  Verhältnis  überhaupt  au;  wer  eine  andere 
hat,  darf  doch  darnach  nicht  für  mich  jenen  Ausdruck  erklären. 
Was  die  von  Hrn.  von  Schlegel  [S.  753]  angedeutete  eigen- 
thümliche  Ansicht  von  den  Nibelungen  betrifft,  wornach  sie  und 
die  damit  verwandten  Kreise  aus  gothischen,  burgundischen,  frän- 
kischen, longobardischen ,  thüringischen  u.  a.  Sagen  zusammen- 
geflossen und  in  Attilas  und  der  Völkerwanderung  Zeit  zurück- 
geschoben worden,  so  müsste  sie  näher  ausgedrückt  sein,  um 
etwas  dagegen  zu  sagen,  weil  man  ihr  sonst  leicht  Unrecht 
thun  konnte.  Hoffentlich  wird  uns  das  ganze  diesem  Gegen- 
stand bestimmte  Werk  des  Hrn.  von  Schlegel*)  bald  erfreuen. 
Wie  die  Ansicht  hier  steht,  bin  ich  ihr  geradezu  abgeneigt  und 

.  .  .  ± 

*)    [Seine  Ausgabe  des  Nibelungenliedes,  welche  nicht  erschienen  ist.]  9 


^'IBELUNGEN  UND  GIBELIKEN  VON  GÖTTLING.  161 

^'ollte  etwas,  das  man  in  orewissem  Sinne  das  Gesjentheil  nennen 
könnte,  lieber  vertheidigen.  Auch  auf  die  Frage  [S.  755],  war 
Attila  ein  wirklicher  Mensch  oder  haben  wir  ihn  für  eine  alle- 
gorische (sagenmässige)  Person  zu  halten  ?  welche  mich  schlagen  277 
soll,  bin  ich  um  eine  Antwort  wirklich  nicht  verlegen.  Es  scheint 
mir  ein  neuer  Beweis,  wie  richtig  es  war,  dass  ich  die  Zeug- 
nisse, ohne  sie  (wie  es  doch  nicht  anders  möglich  gewesen) 
nach  meiner  Ansicht  zu  verarbeiten,  zu  eines  jeden  Gebrauch 
bloss  aufstellte;  je  mehr  lebendige  Verschiedenheit  der  Ansicht, 
desto  mehr  Gewinn  für  die  Sache.  Ganz  ohne  Einfluss  ist  in- 
dessen meine  Ansicht  doch  nicht  gewesen,  wie  ich  aus  der 
Frage  des  Hrn.  von  Schlegel  [S.  748]  sehe:  „was  in  aller  Welt 
haben  die  Nibelungen  mit  der  Catalaunischen  Schlacht  gemein? 
Der  letzte  Theil  des  Gedichts  schildert  ja  nicht  einen  Eroberungs- 
krieg, sondern  eine  [Fehde]  zwischen  den  Hunnen  und  einem  be- 
freundeten Volke,  in  dem  Königssitze  des  Attila  selbst,  mitten  im 
Frieden  durch  geheime  Leidenschaften  angeregt",  welches  frei- 
lich alles  richtig  ist.  Eine  Antwort  auf  eine  solche  Frage,  die 
schwerlich  jemand  nicht  einfallen  kann,  muss  ich  gehabt  haben, 
und  sie  ist  auch  wohl  angedeutet,  indem  ich  sogar  den  Bruder- 
strit  der  ungarischen  Sage,  der  erst  nach  Attilas  Tod  vorfiel, 
auf  die  grosse  Niblungen-Schlacht  wiederum  bezogen.  Übrigens, 
da  Hrn.  von  Schlegel  die  Chronologie  zur  Seite  steht,  ist  es 
freilich  natürlich,  dass  er  es  für  falsch  hält,  wenn  man  glaubt, 
die  Niblungen-Sage  sei  schon  in  heidnischer  Zeit  vorhanden 
gewesen. 
[Schlags  der  Nachträge  zu  den  Zeugnissen  über  die  deutsche  Heldensage.] 


NIBELUNGEN  UND  GIBELINEN. 

Von  D.  Carl  Wilhelm  Göttling.     Rudolstadt  1816.     104  S.  in  8. 

Leipziger  Litteratur-Zeitung  für  das  Jahr  1817.    Erstes  Halbjahr. 
No.86.87,  1.  und  2.  April  1817.  S.  681—688.  693-696. 

Uiese  Schrift  hat  die  Absicht,  eine  innere  Bildung  des 
Nibelungenliedes  darzulegen,  obgleich  sie  nicht  darauf  hinaus- 
geht,   die   ursprüngliche    oder    erste    Gestalt   desselben    zu   ent- 

W.  GRIMM,  KL.  SCHKUTEX.     II.  1  1 


681 


162  NIBELUNGEN  UND  GIBELINEN  VON  GuTTLING. 

decken.  Sie  will  einen  Schleier  wegziehen,  worunter  die  eigent- 
liche Bedeutung  des  Gedichts,  wie  es  auf  uns  gekommen  ist,, 
liege,  oder  auch  einen  zeigen,  der  darüber  gezogen  worden 
und  den  man  bisher  noch  nicht  gesehen.  Voran  stehe,  dass 
sie  mit  einer  schönen  Liebe  zur  Sache,  mit  Lebendigkeit  und 
Geist  geschrieben  ist,  woraus,  man  mag  beistimmen  oder  nicht,, 
dem  aufrichtigen  Leser  eine  Freude  erwächst,  so  dass  nichts 
unwürdiger  sein  kann,  als  sie  höhnend  anzufahren,  wie  ihr  dieses 
neuerlich,  und  wie  sich  denken  lässt,  von  einer  gründlichen 
Unwissenheit  begegnet  ist. 

Die  Entstehung  des  Liedes  aus  Sagen  des  Volks  bezweifelt 
der  Verf.  nicht,  spricht  auch  von  einem  älteren  Liedergeschlecht,, 
welches  keinen  anderen  Dichter  als  das  Volk  hatte  und  sich 
noch  in  den  Gesängen  der  Edda  darstellt;  aber  das  ganze  Werk 
rührt  nach  seiner  Ansicht  doch  von  einem  einzigen  Dichter 
oder,  wie  er  sich  ausdrückt,  es  ist  in  einem  Geist  und  Sinn  zu 
einer  Zeit  entstanden  (vgl.  S.  40.  41).  Diese  Umschreibung  ist 
darum  nicht  recht  passend,  weil  jener  Geist  und  Sinn,  den 
andere  in  dem  Liede  walten  lassen,  auch  einer  ist  imd  auch 
wohl  zu  einer  Zeit  aufgefasst  sein  kann.  Doch  das  ist  nicht 
der  Gegenstand  der  Untersuchung,  der  Verf.  will  darthun,  d ass- 
in den  Nibelungen  und  Wölfingen  hernach  die  Gibe- 
linen  und  Weifen  seien  ausgedrückt  worden.  Nämlich 
so,  dass  wie  dieser  Gegensatz  in  die  Geschichte  getreten,  man 
ihn  nun  auch  auf  die  alten  Helden  der  Sagen  angewendet  und 
ihre  Thaten  darnach  vertheilt  habe,  wodurch  sie  eine  neue  Be- 
deutung erhalten,  während  sie  vorher  ihre  eigene,  man  kann 
sagen,  natürliche  hatten. 

Der  Beweis  hebt  mit  einigen  allgemeinen,  wie  man  auch 
spricht,  philosophischen  Sätzen  an.  Dergleichen  ist  gewöhnlich 
an  sich  recht  gut,  aber  der  Irrthum  liegt  in  der  Anwendung. 
682 Der  erste  Satz  ist  dieser:  die  deutsche  poetische  Kraft  zeigt 
sich  in  drei  Gestaltungen,  in  der  Reckenzeit,  wo  noch  Götter 
mit  jugendlicher  Kraft  in  Verbindung  mit  den  Menschen  stehen, 
in  der  Heldenzeit,  wo  bloss  menschliche  Kraft  übrig  geblieben, 
die  sichtbaren  Götter  verschwunden  sind,  endlich  in  der  Ritter- 
zeit,  wo  der  wahre  Gott  durch   die  Kämpfe  verherrlicht  wird 


NIBELUNGEN  UND  GIBELINEN  VON  GuTTLING.  163 

und  der  Held  für  das  wahre  Ziel  streitet.  Den  Unteroranor 
erster  und  zweiter  Zeit  bezeichnet  das  Nibelungenlied,  die 
dritte  ist  in  dem  heiligen  Gral  vorgestellt.  Keins  von  beiden 
Liedern  kann  sich  der  Verf.  ohne  das  andere  denken,  sie  be- 
dingen ihr  gegenseitiges  Leben, 

Gegen  diesen  Satz  von  den  drei  Perioden  an  sich  hat  der 
Reo.,  wie  gesagt,  weiter  nichts,  aber  hier  ist  er  für  die  Ge- 
schichte der  Poesie  falsch  angewendet  und  gar  nicht  wahr. 
Denn  Rec.  kann  schon  die  drei  Stufen  in  dem  Nibelungen- 
liede allein,  wenn  es  gefordert  würde,  herausfinden.  Brunhild 
mit  ihrer  übernatürlichen  Kraft,  die  Nibelungsrecken,  der  Zwerg- 
könig Alberich,  die  Schwanenjungfrauen,  ganz  den  nordischen 
Wahlküren  ähnlich,  kennen  eine  Welt,  in  der  heidnische  Götter 
.sichtbar  wandeln.  Siegfried  ist  dann  der  rein  menschliche  Held, 
Hagen  die  wilde,  trotzige  Naturkraft:  in  Dieterich  und  Hilde- 
brand stehen  die  Streiter  für  das  Sittliche,  das  Recht.  In  den 
Gedichten  von  Carl  dem  Grossen  sollten  sich  auch  ähnliche 
Stufen  nachweisen  lassen.  Aber  weiter:  den  Einwurf,  dass  das 
Gedicht  vom^  Gral  ein  nicht  ursprünglich  deutsches,  sondern 
herübergekommenes  Werk  sei,  hat  der  Verf.  zwar  abgewiesen, 
indem  er  die  Wahrheit  als  etwas  Einheimisches  betrachtet  und 
das  Christenthum  sonst  auch  für  etwas  Ausländisches  gelten 
müsse ;  doch  dieses  reisst  gar  zu  viel  nieder  und  nimmt  uns  die 
in  der  Geschichte  der  deutschen  Poesie  so  nöthisfe  L'nter- 
Scheidung  zwischen  dem,  was  auf  einheimischem  Boden  ge- 
wachsen und  von  fremdem  dahin  verpflanzt  wurde,  gänzlich  weg, 
ob  wir  gleich  in  beiden  Theilen  an  wahre  Poesie  glauben. 
Übergehen  wir  auch  diese  unstatthafte  Aushilfe,  so  hat  uns  der 
Verf.  doch  noch  zu  erklären,  wie  die  Südfranzosen  und  die 
Völker,  bei  denen  die  Sage  vom  Gral  zu  Hause  war,  zu  dieser 
dritten  Stufe  unserer  Dichtung  gelangen  konnten,  ohne  unsere 
beiden  ersten  zu  haben,  durch  welche  doch  jene  nach  dem  Verf. 
bedingt  ist;  denn  dass  das  Nibelungenlied  bei  ihnen  nicht  be-6S3 
kannt  war,  dürfen  wir  mit  einiger  Gewissheit  annehmen.  Folgten 
die  Bildungsperioden  der  Völker  regelmässig,  so  zu  sagen,  nach 
Vorschrift,  so  könnte  man  eher  darauf  verfallen,  sie  in  dem 
Vorhandenen  zu  suchen  und  durchzusetzen,  was  es  koste.    Aber 

11* 


164  NIBELUNGEN  UND  GIBELINEN  VON   GÖTTLING. 

das  ist  die  Wirkung  geistiger  Berührung  der  Völker,  dass  ein 
Licht  früher  schon  einbricht  und  sich  ein  neuer  Entwickhings- 
gang  in  eigenen  Verhältnissen  bildet;  ob  zum  Vortheil,  hängt 
von  der  Kraft  der  eigenen  Natur  ab.  Nun  kommt  noch  ein 
dritter  Umstand:  die  Gedichte  von  Artus  und  dem  Gral  waren 
in  dieser  Gestalt  und  für  uns  nicht  volksmässig  (gewiss  ihrem 
Ursprünge  nach),  wie  können  sie  als  Fortbildung  der  Nibelungen 
betrachtet  werden?  Hier  wendet  sich  der  Verf.  so:  jene  Dich- 
tungen, von  einem  höheren  Streben  ausgegangen,  konnten  nicht 
dem  ganzen  Volke  eigen  sein,  da  sie  eine  besondere  Weihe  er- 
forderten. Nun  zweifeln  wir  aber  nicht,  dass  sie  ursprünglich 
vom  Volke  ausgegangen  sind,  wenn  wir  aber  überhaupt  von 
diesem  reden,  denken  wir  es  nicht  anders,  als  dass  alles,  was 
in  einem  Einzelnen  hervorbrechen  kann,  in  ihm  begründet  ist 
und  ihm  zugehört,  denn  jener  stellt  es  nur  dar,  und  es  gibt 
kein  höheres  Streben,  das  dem  Volk  fremd  sein  kann,  oder  es 
wäre  gar  kein  Volk. 

Der  zweite  allgemeine  Satz  des  Verf.  ist  dieser:  Geschichte 
drückt  sich  noth wendig  in  der  Poesie  aus,  beide  sind  nicht  zu 
scheiden.  Das  gefallt  uns  sehr  wohl,  besonders  wenn  wir  an 
das  Wesen  der  Sage  denken,  aber  wenn  daraus  folgen  soll,  dass 
die  Gibellinen  und  Weifen  sich  in  die  Nibelungensage  ein- 
drücken mussten,  so  leugnen  wir  ihn.  Nämlich  das  Leben,  das 
Poetische  der  gegenwärtigen  Geschichte  fällt  nicht  sogleich  mit 
der  überlieferten  Poesie  zusammen,  jenes  nimmt  leicht  etwas 
von  dieser  auf  und  verjüngt  es  wieder,  aber  dass  umgekehrt 
die  überlieferte  auch  die  neue  Geschichte  in  sich  aufnehme,  die 
alte  Form  beibehalte,  aber  die  alte  Bedeutung  aufgebe  und  eine 
neue  hineinlege,  ist  etwas  ganz  anderes,  das  wir  wenigstens 
in  unserem  Fall  hier  durchaus  nicht  zugeben.  Dass  es  die 
lebensreichen  Griechen  nicht  auf  diese  Weise  mit  ihrem  Homer 
gepiacht,  ist  wohl  ziemlich  gewiss,  oder  glaubt  der  Verf.  auch, 
dass  in  diesem  Epos  sich  jedesmal  die  neue  Bewegung  der  Zeit 
vorgestellt  habe  und  von  den  Dichtern  hineingelegt  worden  sei, 
gleichsam  die  alte  Münze  mit  ihrem  Bilde  gelassen,  aber  eine 
neue  Lischrift  darum  gesetzt? 


NIBELUNGEN  UND  GIBELINEN  VON  GÖTTLING.  165 

Bevor  wir  ins  Einzelne  übergehen,  bemerken  wir  Folgendes. 
Ob  der  Gegensatz  der  Gibellinen  und  Weifen  in  der  Geschichte 
einer  war,  der  als  Kampf  des  Weltlichen  und  Geistlichen  das 
Mark  des  Volks  durchdrang  und  deshalb  poetisch  sich  äussern 
musste,  können  wir  unberührt  lassen,  da  ihn  der  Verf.  selbst 
als  einen  solchen  nur  voraussetzt,  nicht  dargestellt  hat,  wie  auch 
Lachmann  schon  tadelt;  aber  was  wäre  denn  natürlicher  undesi 
dem  Volkssinne  angemessener  gewesen,  als  diesen  Kampf,  wie 
ihn  die  poetisch  lebendige  Geschichte  gab,  darzustellen?  Wo 
ist  dieses  Epos?  Wo  findet  sich  eine  Spur,  eine  leise  Anspielung 
davon?  Blieb  nichts  übrig,  als  nur  die  alten  Volksdichtungen, 
an  deren  Wahrheit  und  Ehrwürdigkeit  man  glaubte,  in  diesen 
Gegensatz  zu  theilen  und  darauf  hindeuten  zu  lassen?  Was  fiir 
Hindeutungen  es  sind,  werden  wir  nun  sehen,  wenn  wir  die 
Schrift  des  Verf.  näher  betrachten. 

Natürlich  musste  er  zuerst,  zeigen,  dass  der  Name  Nibe- 
lung,  der  mit  Gibellin  eins  sein  soll,  deutsch  ist  und  nicht  aus 
dem  Nordischen  abzuleiten.  Das  erste  gibt  einer  leicht  zu,  der 
auch  das  andere  nicht  behaupten  will,  weil  die  Sprachen  so 
verwandt  sind.  Die  S.  20  bemerkten  Unwahrscheinlichkeiten 
der  nordischen  Geschlechtstafel  in  gewissen  Beziehungen  wird 
jemand,  der  die  Natur  derselben  kennt,  gar  nicht  leugnen,  aber 
sie  nicht  darum  zum  Machwerk  machen  wollen;  der  Näfil,  von 
dem  die  Niflungen  abstammen,  bleibt  uns  immer  in  der  Volks- 
sage begründet  und  kein  erfundener  Held.  Der  Verf.  muss 
aber  noch  weiter  gehen:  nicht  bloss  deutsch,  aus  dem  Nordischen 
nicht  entlehnt,  muss  der  Name  sein,  der  Norden  muss  ihn  auch, 
weil  er  dort  die  Bedeutung  nach  des  Verf.  eigener  Meinung 
nicht  haben  kann,  im  12.  Jahrhundert  von  Deutschland  aus  be- 
deutungslos erhalten  haben.  Überhaupt  fahrt  der  Norden 
schlimm;  erst  hat  er  die  Lieder  selber,  die  in  jenen  eddaischen 
Gesängen  mit  nordischem  Leben  und  Land  genau  zusammen- 
hängen, von  Deutschland  bekommen,  dann  auch  noch  den  Namen 
Niflung,  der,  man  erräth  nicht  wozu  und  wem  zum  Besten, 
gleichsam  in  die  Sage  eingetragen  wurde.  (Auch  sonst 
findet    sich     der    Name    Niflung     noch     in     den     Kenningar 


166  NIBELUNGEN  UND  GIBELINEN  VON  GÖTTLING. 

in  Fundin  Norreg  und  im  alten  Biarkamal.  S.  Sagabiblio- 
thek S.  124  und  352.)*)  Wie  ist  er  aber  hinüber  gelangt, 
nämlich  der  blosse  Name?  Es  thut  uns  leid,  dass  der  Verf. 
niemand  anders  dazu  hat,  als  reisende  Nordländer, 
die  ihn  in  Deutschland  hörten.  Wahrscheinlich  haben  sie 
ihn  zufällig  vernommen,  sich  nicht  weiter  um  seine  Bedeu- 
tung und  um  die  Sage  selbst  bekümmert  und  hernach  daheim 
in  ihre  Lieder  einführen  lassen.  Rec.  hat  immer  eine  Scheu 
vor  diesen  Unbekannten,  wenn  sie  den  Knoten  lösen  und  das 
Volksmässige  veranlassen  müssen.  An  einen  Beweis  der  An- 
nahme ist  ohnehin  nicht  zu  denken,  und  hier  gleich  steht  die 
Sache  des  Verf.  auf  schwachen  Beinen. 

Ehe  nun  soll  dargethan  werden,  dass  Nibelungen  so  viel 
heissen  soll  als  Gibellinen,  gibt  der  Verf.  einige  historische  Be- 
merkungen über  letztere.  Dass  sie  nach  der  gewöhnlichen 
Meinung  von  Waiblingen  herrühren,  leugnet  er  vorerst  und 
nimmt  an,  von  einem  schwäbischen  Herzog,  der  Nebi  und  Webi 
geschrieben  wird,  mit  Carl  dem  Grossen  durch  dessen  Gemahlin 
Hildegard  verwandt,  sei  der  Name  gekommen,  indem  alle 
685 Schwaben,  die  mit  jenem  Fürsten  bei  den  Karolingern  ge- 
halten, Webilinger  oder  Nebilinger  genannt  worden,  sich  von 
denen,  die  auf  der  Seite  der  Merovinger  waren,  zu  unterscheiden. 
Wir  lassen  die  hier  gemachten  Behauptungen  auf  sich  ruhen, 
da  sie  unsere  Sache  nicht  näher  angehen;  einiges  auf  jeden 
Fall  ist  scharfsinnig  angemerkt.  Aber  wenn  es  heisst:  ganz 
sprachgemäss  ist  die  Veränderung  der  Waiblinger  in  Nibelungen, 
wie  des  Webi  und  Nebi,  und  Nibelung  ist  die  ältere  Form,  so 
könnten  wir  Vertauschungen  von  W  und  N  zugeben  (übrigens 
Schwaben  und  Waiblinger  für  eins  zu  halten,  wird  man  durch 
das  Beispiel  swenn  und  swas  für  wenn  und  was  nicht  berechtigt, 
wie  der  Verf  wohl  jetzt  selbst  einsieht),  aber  damit  wird  die 
Sache  selbst  noch  nicht  festgestellt:  wir  verlangen,  und  das  ist 
nicht  unbillig,  für  den  vorliegenden  Fall,  vermischten  Gebrauch 
der  beiden  angeblich  gleichen  Formen  Nibelung  und  Gibelin, 
da  sie  doch  zusammen  sollen  gültig  gewesen  sein,  deutlich  nach- 

*)  [Das  Eingeklammerte  ist  Zusatz  aus  dem  Handexemplar.] 


:^^BELUNGEN  USD  GIBELIXEN  VON  GÖTTLING.  167 

gewiesen.  Wo  steht  aber  Nibelung  für  Gibelin?  Vielleicht  in 
einer  immer  merkenswerthen  Stelle,  die  S.  30  angeführt  wird? 
Sie  findet  sich  in  den  Annalen  der  Dominicaner  zu  Colmar 
(bei  Urstisius  11,  24)  und  enthält,  dass  Kaiser  Rudolf  im  Jahre 
1289  elsassische  Krieger,  die  sich  Nebelringe  genannt,  vorge- 
fodert.  Hier,  behauptet  der  Verf.,  könnten  nur  jene  Unruhe- 
stifter sremeint  sein,  welche  nach  Kaiser  Friedrichs,  des  letzten 
Oibellinen,  Tod  im  Elsass  entstanden;  mehrere  gaben  sich  für 
den  gestorbenen  Kaiser  aus,  und  diese  GibeUinen  würden  hier, 
als  im  Elsass  zu  Haus,  mit  dem  älteren  Namen  der  Nibelungen 
belegt.  Uns  dünkt,  wären  jene  Unruhestifter  gemeint,  so  wäre 
das  dabei  gesagt,  und  nimmt  man  an,  dass  unter  jenem  Namen 
Nibelungen  verstanden  werden,  so  gaben  sich  ihn  die  Krieger 
entweder  in  Beziehung  auf  die  alten  Helden  der  Volksdichtung 
oder  sie  gehörten  zu  dem  Geschlecht  der  Nibelungen,  das  im 
Elsass  (Schoepflin  Als.  illustr.  H,  660)  zu  Haus  war.  Viel- 
leicht aber  geht  der  Name  auf  ihre  Kleidung,  wenigstens  scheint 
das  nach  dem  Zusammenhange:  milites  Alsatiae,  qui  parem 
vestem  tribus  annis  paene  tulerant  et  se  Nebelringin 
nominaverant.  Nämlich  sie  trugen  graue  Panzer,  ringe  steht 
bekanntlich  im  Altdeutschen  oft  für  Ringpanzer  (vgl.  Nibel.  872. 
1842  [213,  4.  463,  2]),  und  Nebel  bedeutet  grau,  wie  in  Nebel- 
krähe, Aschkrähe,  und  hat  in  Nacht  wahrscheinlich  seine  Wurzel 
(vgl.  Adelung  h.  v.)*).  Ob  diese  eine  so  in  aller  Hinsicht  zweifel- 
hafte Stelle  etwas  fiir  des  Verf.  Meinung  beweisen  kann,  lassen 
wir  jeden  beurtheilen.  Aber  wie  viele  natürliche  Fragen  drängen 
sich  auf!  Warum  gebrauchten  die  Dichter  nicht  den  gewöhnlichen 
Namen  Gibel,  wie  wir  ihn  aus  der  S.  63  angeführten  Stelle  des 
Lohengrin  kennen?  Was  wollte  der  Dichter  des  Nibelungenheds, 
der  ja  nach  dem  Verf.  recht  gut  die  Bedeutung  des  Namens 
wusste,  mit  den  alten  eigentlichen  Nibelungsrecken,  die  Sieg- 
fried schlug?  (wäre  dieser  also  der  erste  Weife?)  mit  Nibelungen- 686 
land,  dem  König  Nibelung?  Warum  spricht  er  von  ihnen  so 
dunkel  und  unverständlich?    Liegt  das  Kaiserthum  demnach  im 


*)    Vgl.   Grotta   Saunffi*.    V.  98    gräfer   kiat  lib.      [Zusatz    im    Hand- 
■xemplar.] 


168  NIBELUNGEN  UND   GIBELINEN  VON  GÖTTLING. 

tiefen  Norden?  Wie  ist  der  nicht  selten  vorkommende  6e^ 
schlechtsname  Nibelung  zu  verstehen,  den  doch  auch  wohl 
Weifen  geführt  haben?  In  späterer  Zeit  soll  das  förmliche  Be- 
wusstsein  von  der  Einerleiheit  beider  Namen  untergegangen  sein ; 
Herrmann  von  Sachsenheim  redet,  wie  es  der  Verf.  auslegt^ 
von  einem  Nöbling-Hort,  der  aus  Gold-Nobeln  bestehe,  welches 
wir  gar  nicht  aus  dieser  Veränderung  des  Namens  schliessen. 

Nachdem  der  Verf.  nun  alles,  was  den  Namen  selbst  be- 
trifft, berichtigt  und  seine  Meinung  bewiesen  glaubt,  begegnet 
er  selbst  einem  sich  darbietenden  Einwui-f  Die  nordischen 
Lieder  der  Edda  enthalten  gleichfalls  die  deutsche  Mythe,  und 
darin  ist  doch  der  Gegensatz  des  Weltlichen  und  Geistlichen 
der  Gibellinen  und  Weifen  nicht  ausgedrückt!  Wir  wollen  nicht 
zufügen,  dass  ihnen  die  dritte  nothwendige  Stufe  fehlt,  vielleicht 
erklärt  es  der  Verf.  daraus,  dass  sie  die  Lieder  von  Deutsch- 
land aus  bekamen  und,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  nicht  in 
ihrer  Reinheit  erhielten.  Der  Verf.  hilft  sich  nämlich  auf  fol- 
gende Weise:  er  zeigt,  dass  die  nordische  Mythe  Ähnlichkeit 
mit  der  griechischen  von  Jason  und  Medea  hat.  Diese  Über- 
einstimmung ist  nicht  unbegründet,  wird  aber  nicht  die  einzige 
sein,  welche  Sagen  entfernter  Völker  auf  eine  wunderbare  Weise 
haben.  Aber  was  fängt  der  Verf.  damit  für  seine  Sache  an? 
Er  sagt  (S.  50):  gleichwie  die  Wäringer  auf  dem  Hippo- 
dromus  zu  Constantinopel  ihre  einheimischen  Sagen  von  den 
Äsen  und  Wolsungen  vorstellten,  so  mögen  sie  auch  die  grie- 
chische von  Jason  in  freundlichem  Umtausch  von  ihren  Kriegs- 
gefährten erhalten  haben.  Diese  Kenntnis  gab  Veranlassung, 
die  nordische  Sage  nach  der  griechischen  umzubilden.  Die 
deutsche  erhielt  also  die  ursprüngliche  Reinheit. 

Hier  wissen  wir  zwar,  wer  die  reisenden  Nordländer  sind, 
aber  dass  sie  die  griechische  Fabel  von  Jason  vernommen,  be- 
halten, heimgebracht  und  dass  die  fremde  Fabel  daselbst  mit 
der  einheimischen  verarbeitet  worden,  ja  diese  so  überwältigt 
hat,  dass  nach  des  Verf.  Meinung  jetzt  nur  noch  weniges,  nur 
das  Allgemeine  mit  der  deutschen  gemeinschaftlich  blieb,  das 
alles  müssen  wir  dem  Verf  seiner  Hypothese  zu  Lieb  glauben. 
Was  trieb  aber  zu  einer  solchen  Verarbeitung?   Wird,  was  einem 


NIBELUNGEN  UND  GIBELINEN  VON  GÖTTLING.  169 

einzelnen  Dichter  wahrscheinlich  sein  konnte,  nun  auch  zum 
lebendigen  Gefühl  des  Volks?  Wo  lebt  nicht,  so  lange  diese 
Poesie  selbst  nicht  untergegangen,  grosse  Achtung  und  Glauben 
an  die  Wahrheit  der  Überlieferung?  Kann  man  dem  Volk  auf 
diese  Weise  Altes  wegnehmen  und  Neues  dafür  hinreichen? 
Wo  fand  sich  der  Dichter,  der  mit  Bewusstsein  und  Vorsatz 
so  künstlich  verschmelzen  und  übertragen  konnte,  dass  ein  gross-  687 
artiges  Gedicht  im  alten,  strengen  Stil  daraus  hervorgieng,  in 
allen  Zügen  jene  Einfachheit  und  im  Gegensatz  zu  den  ausge- 
bildeten Nibelungen  von  offenbar  grösserer  Ursprünglichkeit? 
Endlich  wie  kamen  die  deutschen  Sagen  in  den  noch  lebenden 
Hausmärchen,  welche  offenbar  Zusammenhang  mit  der  nor- 
dischen  Dichtung  haben,  wieder  herüber?  Diese  Annahme  des 
Verf.  gehört  mit  zu  dem  Unwahrscheinlichsten  der  ganzen  Ab- 
handlung. 

Wir  gelangen  zur  näheren  xlusführung  der  Ansicht;  es 
werden  von  S.  62  bis  zum  Schluss  die  Gedichte  des  Fabel- 
kreises in  Gibellinische  und  Weifische,  weltliche  und  geistliche 
geschieden.  Es  gab  nach  dem  Verf.  Dichter  für  diese  und  jene 
Partei,  welche  die  Helden  und  ihre  Thaten  nach  ihrer  Gesinnung 
vertheilten.  Nun  ist  wahr  und  in  die  Auofen  fallend,  dass  sich 
ein  Gegensatz  zwischen  den  Helden  im  Epos  zeigt,  die  Nibe- 
lungen, Burgunden  stehen  dem  Dieterich  von  Bern  und  seinen 
Mannen,  den  Wölfingen,  zu  welchen  auch  Etzel  gehört,  ent- 
gegen. Niemand  wird  dieses  leugnen  und  jemand,  der  die  Natur 
anderer  epischen  Dichtungen  betrachtet,  sehr  nothwendig  glauben- 
Der  ungedruckte  Rosengarten  ist  in  gewissem  Sinne  eine  Ab- 
spiegelung des  Nibelungenlieds  und  ein  merkwürdiges  Gedicht. 
Also  einen  Gegensatz,  den  genau  nachzuweisen  eine  nützliche 
Arbeit  wäre,  geben  wir  dem  Verf.  ohne  Widerrede  zu,  er  hat 
nur  darzuthun,  und  das  ist  das  Schwere  des  Beweises,  dass 
damit  Gibellinen  und  Weifen  gemeint  sind,  und  das  werden  wir 
in  dem  Folgenden  auch  allein  beachten. 

Das  Nibelungenlied  soll  ein  Gibellinisches  sein.  Der 
einzige  Beweis  ist:  der  bairische  Gelfrat  und  Else  unterliege 
den  Nibelungen,  Gelfrat  aber  sei  soviel  als  Weif.  Reo.  glaubt, 
über  diesen  nichtssagenden  Beweis  hinausgehen  zu  dürfen.     In 


170  NIBELUNGEN  UND   GIBELINEN  VON  GÖTTLING. 

der  früheren  Schrift  über  das  Geschichtliche  im  Nibehingen- 
liede  gab  der  Verf.  noch  ein  anderes  GibeUinisches  Zeichen  an, 
das  doch  näher  auf  die  Sache  eingieng.  Volker  steckt,  wie  er 
Baiern,  das  Land  Gelfrats  (des  Weifen),  betritt,  auf  seinen  Schaft 
ein  rothes  Zeichen  (Nibel.  6395  [1535,  3J),  das  bezeichne  die 
rothe  Lilie  der  Gibellinen.  Rec.  weiss  nicht,  ob  Hr.  Götthng 
indessen  diesen  Beweis  selbst  zurückgenommen,  da  aber  Hr. 
Lachmann  S.  20  davon  spricht  und  in  der  Anmerk.  11  Sieg- 
frieds rothe  Fahne  aus  der  Rabenschlacht  anführt,  als  weiter 
beweisend,  so  will  Rec.  nur  dagegen  bemerken,  dass  in  dem 
ungedruckten  Rosengarten  Dietlieb  von  Steier,  der  doch  nach 
dem  Verf.  ein  Weife  ist,  gleichfalls  ein  rothes  Banner  führt, 
Ermenrich  dagegen,  der  angebliche  Gibellin,  im  Alphart  ein 
grünes,  gar  Hagen  in  dem  ebenangeführten  Rosengarten  ein 
silberweisses.  Wir  sagten  vorhin,  jener  bairische  Weif  Gelphrat 
sei  das  Einzige,  was  der  V^erf.  für  seine  Sache  anführt,  aber  es 
€88  folgt  noch  etwas.  Nämlich  wie  die  Gibellinen  nie  Weif  aus- 
sprachen, die  Weifen  nicht  Gibellin  aus  grossem  Hasse,  so 
komme  der  Name  Nibelung  nur  in  den  Gibellinischen  Gedichten 
vor,  Wölfing  bloss  in  den  W^elfischen.  Dies  ist  an  sich  für  des 
Verf.  Hypothese  fein  bemerkt,  so  wie  späterhin,  dass  Gelphrat 
gesagt  sei  für  Weifrat,  um  zugleich  etwas  Tadelndes  hineinzu- 
legen (gelf,  vergl.  Nibel.  2707  [621,  3]),  so  wie  in  gleichem 
Sinne  „Franci  Nebulones"  im  Walther  von  Aquitanien,  aber 
gewiss  ungegründet.  Mit  dem  Namen  Nibelung  hat  es  ohnehin 
seine  Bewandtnis,  ausser  dem  Liede  kommt  er  eigentlich  in 
keinem  Gedichte  vor,  als  in  Nibelungenhort,  wovon  das  Gedicht 
vom  Siegfried  spricht,  und  in  dem  Parcifal  [421,  7],  wo  die  be- 
kannte Anspielung  gemacht  wird  (war  der  bairische  Wolfram  von 
Eschilbach  darum  auch  ein  Gibellin,  weil  er  den  Namen  nennt? 
oder  umgekehrt:  war  er  ein  Weif,  weil  er  über  die  Nibelungen 
spottet  und  heisst  er  deshalb  Wolfram?).  Wenn  die  Wölfinge 
in  dem  Nibelungenlied  nicht  genannt  werden,  so  wird  doch 
Wolf  hart,  Wolfbrand,  Wolf  wein  ohne  Scheu  ausgesprochen. 
Das  Lied  vom  hörnen  Siegfried  und  Ecken  Ausfahrt 
werden,  das  letztere  bloss  als  wahrscheinlich,  zu  den  Gibellini- 
schen   Gedichten  gezählt    ohne   weitere  Nachweisungen.     Über 


NIBELUNGEN  UND  GIBELINEN  VON  GÖTTLING.  171 

König  Er  enteile  sind  Zweifel  geäussert,  wohin  er  zu  schlagen 
sei.  Eine  beigebrachte  geschichtliche  Beziehung  wird  der  Verf., 
nachdem  er  das  Gedicht  gelesen,  vielleicht  selbst  zurücknehmen, 
wir  können  sie  ohnehin  übergehen.  (Nebenbei,  dass  der  Name 
Erntelle  und  Aldrian  mit  weniger  Veränderung  zusammenfalle, 
müssen  wir  leugnen,  sie  haben  verschiedene  Wurzel.  Vgl.  Altd. 
Wälder  11,  28  Anm.  64.)  —  Hier  sind  wir  schon  mit  den  Gi- 
bellinischen  Dichtungen  zu  Ende,  eigentlich  ist  das  Nibelungen- 
lied das  einzige,  da  man  das  Lied  von  Siegfried  seinem  In- 
halte nach  als  eine  Einzelheit  daraus  betrachten  könnte.  Rec. 
weiss  nicht,  ob  dem  Verf.  nicht  die  Frage  eingefallen  ist,  warum 
kein  Weifendichter  darauf  gerathen,  die  Sage  in  dem  Lichte 
seiner  Partei  darzustellen,  wozu  sie,  da  der  Untergang  der  Nibe- 
lungen besungen  ist,  ganz  gemacht  scheint.  Dann  hätten  wir 
zwei  Gedichte,  jedes  in  die  Farbe  seiner  Meinung  gekleidet,  und 
wäre  uns  etwa  das  Gibellinische  verloren,  den  ganzen  Gegen- 
satz nicht  kennen  gelernt. 

Jetzt  kommt  die  Reihe  an  die  Weifischen  Gedichte, 
d.  h.  alle  übrigen  des  Fabelkreises;  den  Siegenot  sehen  wir 
nicht  namentlich  angeführt.  Verwundem  muss  es,  dass  mitten 
unter  den  Weifen,  die  für  das  Heilige  kämpfen,  der  Heide  Etzel 
sich  befindet,  Saul  unter  den  Propheten,  ja  das  Weifenhaupt, 
Dietrich  von  Bern,  ist  gar  sein  Mann.  Welch  ein  Miss- 
griff von  den  fein  anlegenden,  bis  ins  Einzelne  durchführenden 
Dichtern ! 

Zuerst  das  Heldenbuch  und  eine  historische  Deutung  des  698 
Ottnit  als  Othenat,  Gemahls  der  Zenobia.  In  dem  Wolf- 
dieterich  wird  Attenus  als  Papst  bezeichnet.  Warum  wird  er 
nicht  so  von  den  Dichtern  genannt?  Vielleicht,  was  für  ihn  nicht 
gut  lauten  würde,  weil  er  einen  Sohn  und  Nachkommen  hat,  aber 
diese  sind  ja  nach  dem  Verf.  (S.  78)  Sinnbilder  von  der  Fort- 
pflanzung geistlicher  Macht.  Wolfdieterichs  Kreuzzug  soU  ein 
Zeichen  seines  Welfenthums  sein,  wenn  nun  jemand  ausführte, 
dass  dieser  Zug  so  viel  Ähnlichkeit  mit  den  Fahrten  des  Odysseus 
hat,  selbst  eine  Circe  darin  vorkomme,  so  wären  wir  wieder 
weit  vom  Geistlichen  verschlagen.  Aber  die  Erzählung  von  der 
Kindheit  des  Wolfdieterich,  der  ausgesetzt  und  von  einer  Wölfin 


if^  NIBELUNGEN  UND  GiÖELINEN  VON  GÖTTLING. 

gesäugt  und  erhalten  wurde,  hat  doch  Ähnlichkeit  mit  der  Sage, 
die  der  Anonymus  Wingartensis  vom  Geschlecht  der  Weifen 
erzählt?  Wir  glauben  nicht,  dass  einer  vom  anderen  geborsftv 
am  wenigsten  das  Gedicht  aus  der  Chronik,  und  können  schon 
deshalb  den  Wolfdieterich  nicht  zum  Weifen  machen,  die  Sage 
selbst  ist  uralt,  oder  wir  müssten  nichts  vom  Romulus  wissen, 
—  Mit  der  Anhänglichkeit  der  Weifen  an  den  Papst  vergleicht 
der  Verf.  die  Anhäno-lichkeit  der  Wölfinge  an  dessen  sinnbild- 
liehe  Gewalt,  an  das  Geschlecht  des  Attenus.  Es  ist  die  natür- 
liche in  der  Sage  liegende  Treue  des  Geschlechts  der  Meister 
an  ihren  Herrn;  wie  aber  der  alte  Hildebrand  (späterhin  lässt 
der  Verf.  diesen  Weifen  selbst  Gregor  VH.  darstellen)  mit  seinem 
Herrn  Dieterich  im  Rosengarten  umgeht,  dem  er,  um  Zorn  und 
Kampflust  in  ihm  zu  erwecken,  mit  der  Faust  ins  Gesicht 
schlägt,  das  wird  sich  nicht  gut  mit  dem  Verhalten  der  Weifen 
zum  heil.  Vater  vergleichen  lassen.  Und  doch  haben  die  Dichter, 
wie  der  Verf.  glaubt,  das  Einzelne  gar  wohl  bestimmt!  In  der 
nordischen  Sage  finden  wir  ähnliche  Verhältnisse,  z.  B.  des 
alten  Starkathers  zu  seinem  Herrn.  Die  Verwandtschaft  der 
Wölfinge  mit  den  Bernern  ist  übrigens  nach  dem  Dresdner 
Wolfdieterich  ausser  Zweifel:  Puntung  wird  darin  zweimal 
(Str.  2  und  72,  wie  auch  Altd.  Wälder  I,  206  angegeben  ist) 
Potelung  genannt  und  seine  Schwester  ist  Hugdieterichs  Weib. 
Für  die  Harlunge  wird  S.  85  eine  geschichtliche  Beziehung  an- 
gegeben; vielleicht  ist  hier  einiger  Zusammenhang. 
694  Ein  Paar  Gedichte  zeichnet  der  Verf.  aus,  als  die  wichtigsten 

für  seine  Behauptung,  ja  in  dem  Rosengarten  soll  ein  klarer 
und  starker  Beweis  gegeben  sein.  Was  soll  in  dem  hier  ganz 
deutlichen  Gegenüberstellen  der  Helden  das  Gibellinische  und 
Weifische  dabei  beweisen?  Die  Helden  am  Rhein  werden  als 
Riesen  dargestellt,  um  einen  Gegensatz  zu  den  Wölfingen  zu 
machen,  und  das  bezeichnet  diese  nun  als  Weifen,  die  für  das 
Geistliche  kämpfen.  Für  das  Geistliche  kämpfen  sie  hier  aber 
nicht,  sondern  um  ein  Halsen  und  Küssen,  wahrscheinlich  in 
den  älteren  Gedichten  um  noch  mehr.  An  dem  Hofe  der  Wöl- 
finge geht  es  nicht  allzu  züchtig  her,  die  Herzogin  bietet  dem 
Wolf  hart  ihr  Magdthura,  wenn  er  die  Gäste  wohl  behandeln 
will;   dieser  aber  ist   so  ungeschlacht,   wie  irgend  ein  Kämpfer 


NIBELUNGEN  UND  GIBELINEN  VON   GÖTTLING.  173 

am  Rhein,  und  an  dem  Mönch  ist  gar  wenig  Geistliches,  son- 
dern ein  völlig  riesenhaftes  Wesen,  grosse  Kampflust  und  guter 
Humor.  In  dem  ungedruckten  Rosengarten,  einem  wahrschein- 
lich älteren  und  besseren  Gedicht,  befindet  sich  auch  der  Heide 
Etzel  unter  diesen  sogenannten  geistlichen  Kämpfern.  Weiter: 
nach  dem  Verf.  ist  dieser  Ilsan  der  Else  des  Nibelungenlieds, 
dessen  Ferge  den  Hagen  überführen  sollte  und  von  ihm  er- 
schlagen ward;  hier  schlage  nun  Ilsan,  das  heisse  Else,  den 
rheinischen  Fergen.  Diese  Gegenüberstellung  könnte  ihren  Grund 
haben  und  entspränge  aus  der  Natur  der  Sage,  aber  wo  zeigt 
sich  das  Weifische  und  Gibellinische  darin?  Zudem,  in  dem  un- 
gedruckten Rosengarten,  den  Hr.  Göttling  zu  lesen  wahrschein- 
lich nicht  Gelegenheit  hatte,  geht  die  Fahrt  über  den  Rhein 
viel  friedlicher  ab,  der  Ferge  ist  ein  Freund  des  alten  Hilde- 
brands und  lässt  darum  den  Cberschifienden  den  Zoll  nach,  der 
in  einem  Fuss  und  einer  Hand  besteht,  wird  dafür  aber  von 
dem  Meister  mit  44  Mark  beschenkt.  —  Vielleicht  findet  sich 
in  der  Rabenschlacht  ein  deutliches  Wort  für  des  Verf. 
Hypothese?  Die  Verwebung  des  Ermanrich  mit  Kaiser  Hein- 
rich IV.,  den  der  alte  Hildebrand  als  Papst  Gregor  VII.  be- 
siegt, kann  nicht  dafür  angesehen  werden,  und  wir  dürfen  sie 
wohl  übergehen.  Aber  Dieterich  von  Bern  springt  in  Ermrichs 
Heer  mit  dem  Ausruf:  „aht  schevelin  Berne!"  Das  erklärt 
nun  der  Verf.:  „Bern  (nom.)  strafe  Schevelin!"  Schevelin 
aber  sei  das  ausländisch  oder  Weifisch  gesprochene  Gibelin  oder 
Gibeling.  Endlich  hätte  ein  Dichter  den  Mund  geöffnet  und 
in  der  Verwünschungsformel  den  wahren  Namen  des  Feindes 
genannt,  der  sonst  nicht  über  seine  Lippen  kommt.  Wir  haben 
in  der  Rabenschlacht  gelesen:  hetschevalir  berne  und  schreiben 
he  tschevalir  Berne  (oder  nach  jener  Lesart  ah  tschevalir), 
damit  ist  auch  die  Erklärung  gegeben,  der  angebliche  Schevelin 
ist  ein  chevalier  und  tsch  nach  der  romanischen  Aussprache 
geschrieben,  wie  tschionatulander  u.  a.  Diese  Stütze  des  Verf. 
müssen  wir  also  wegnehmen.  —  Beim  Walther  von  Aqui- 
tanien  wird  bloss  erörtert,  dass  er  zu  den  Gegnern  der  Nibe- 
lungenhelden gehöre.  Endlich  wird  man  überrascht,  ein  Ge-695 
dicht  aus  dem  Kreis  Carls  des  Grossen  herzugenommen  zu 
sehen.     In  Carl  soll  das  Gibellinische  und  Weltliche,  im  Mala- 


174  NIBELUNGEN  UND  GIBELINEN  VON  GÖTTLING. 

giss  und  den  vier  Haimonskindern  das  Weifische,  Geistliche 
angedeutet  sein.  In  der  verabscheuten  schwarzen  Kunst  des 
Zauberers  Mälagiss  also  liegt  ein  Heiliges,  gar  der  Papst  selbst? 
Nimmermehr.  Wir  vermuthen,  bloss  weil  im  Nibelungenlied 
[2218.  1,  2260,  2]  ein  Eitschart  und  Wichart  (nicht  Witschart) 
mit  den  Dieterichshelden  kämpfen,  ist  das  ganze  Gedicht  hier 
berührt  und  werden  zwei  von  den  Haimonskindern,  die  beinahe 
so  heissen,  daraus  gemacht.  Namenreihen  können  sagenmässig 
auf  andere  übergehen,  aber  hier  müssten,  wenn  man  so  etwas 
behaupten  wollte,  alle  vier  Haimonskinder  genannt  sein,  und  der 
erste  darunter,  Reinolt,  dürfte  in  keinem  Falle  vermisst  werden, 
und  doch  wäre  es  fürs  Erste  nur  eine  Übertragung  von  Namen. 
Zum  Schluss  ein  Paar  Bemerkungen  über  die  Ansicht  des 
Verf.  im  Ganzen.  Wir  können  zugeben,  dass,  wenn  eine  neue 
bewegende  Zeit  kommt,  das  Volk  auch  seine  alten  Lieder  und 
Sagen  in  dem  Scheine  dieser  Zeit  zu  betrachten  und  aufzu- 
stellen geneigt  wird.  Also  wäre  der  Kampf  der  Gibellinen  und 
Weifen  so  etwas  Volksmässiges  gewesen,  nicht  bloss  als  welt- 
licher auch  als  geistlicher  Streit,  so  lässt  sich  denken,  dass  er 
in  die  Sagen  eingegangen,  auch  wohl  der  alte  Gegensatz  der 
Berner  und  Nibelungen,  der  ja  auch  in  der  alten  Geschichte 
seine  Abspiegelung  haben  wird,  sich  dem  neuen  genähert.  Was 
sich  von  selbst  gemacht,  würde  sich  dann  auch  in  den  Ge- 
dichten ausgedrückt  und  bildend  eingewirkt  haben;  es  wäre  ein 
neuer  Ansatz  erfolgt,  wie  etwa  Rüdiger  von  Bechelar  eingetreten 
ist,  den  die  nordischen  Lieder  nicht  kennen.  Dass,  was  denkbar 
ist,  nicht  wirklich  geschah,  zeigt  wenigstens,  dass  es  nicht  noth- 
wendig  war.  So  aber  will  es  der  Verf.  auch  nicht,  nein,  er 
lässt  die  alten  Gestalten  stehen:  Attila,  jene  burgundischen 
Könige,  von  deren  Leben,  Zeitalter  und  Verhältnisse  man  ge- 
wiss noch  wusste,  und  lässt  die  Dichter  bei  ihnen  ein  unver- 
ständliches Zeichen  machen,  dass  ihr  Treiben  von  etwas  anderem, 
was  jetzt  in  der  Gegenwart  die  Welt  anrege,  zu  verstehen  sei. 
Sie  geben  ihre  Absicht  nur  heimlich  und  vorsichtig  kund,  sie 
haben  sich  alles  bis  ins  Einzelne  ausgelegt,  aber  sie  sagen  es 
nicht  heraus.  Die  festen,  leiblichen  Gestalten  schwanken,  bald 
sind  sie  es  wirklich,  bald  Andeutungen  und  Sinnbilder  geist- 
licher  Macht.      Insofern   liegt   etwas   wesentlich  Todtes  in  der 


^"IDELUNGL:N  UND  GIBELINEN  VON  GÜTTLING.  175 

Ansicht  des  Verf.  Die  erhabene,  reine  Dichtung,  die  wie  ein 
ruhiger  Himmel  über  der  Erde  steht,  soll  recht  gut  wissen,  was 
die  Nibelungen  aussagen,  aber  sie  nicht  beim  bekannten  Namen 
nennen,  nicht  der  gegenwärtigen  Thaten  der  Gibellinen  und 
Weifen  gedenken!  In  den  Wölfingen  die  edelsten  Menschen 
darstellen  und  doch  den  gemeinen  Hass  theilen,  der  den  Namen 
des  Feindes  nicht  in  den  Mund  nehmen  willl  Nur  in  dem  696 
Schlachtruf  hätte  sich  einmal  die  Gesinnung  kund  gethan!  — 
Die  Geschichte  der  Poesie  wird  durch  diese  Ansicht  gewaltsam 
behandelt;  dem  Norden  die  Ursprünglichkeit  seiner  eddischen 
Lieder  in  zwiefacher  Hinsicht  abgesprochen ;  erst  von  den  Deut- 
schen entlehnt,  dann  mit  griechischer  Sage  vermischt  und  end- 
lich mit  einem  gleichfalls  erborgten,  dort  unverständlichen  Namen 
wohl  nicht  geziert!  Der  Cyklus  von  Carl  dem  Grossen,  in 
welchem  so  klar  auch  die  Begründung  des  Christenthums  gegen 
die  Heiden  dargestellt  wird,  muss  fast  ganz  zurückgeschoben 
werden  und  hat  in  dem  Gegensatz  von  Gibellinen  und  Weifen 
keinen  Platz.  Freilich  wäre  es  arg  gewesen,  die  Sarazenen  zu 
Nibelungen  zu  machen ;  vielleicht  wird  der  Verf.  doch  nicht  ab- 
geneigt, wenn  er  sieht,  dass  nach  einer  Lesart  wirklich  ein 
Gy beilin  unter  ihnen  vorkommt  (Rhythmus  de  exped.  Caroli 
M.  in  Hisp.  pag.  78^);  aber  unglücklicher  Weise  kämpft  unter 
den  Christen  auch  ein  Held  Nevelin  (pag.  119''),  und  Stricker 
war  wenigstens  nicht  von  dem  Zeitgeist  ergrifien,  als  er  die 
beiden  gegenüberstellte.  Alles,  was  der  Verf.  anzuführen  hat, 
besteht  darin,  dass  zwei  von  den  Haimonskindern  beinahe  dem 
Namen  nach  vorkommen  und  für  seine  Weifen  fechten. 

Wir  wünschen,  dass  der  Verf.,  den  wir  hoch  schätzen  und 
der  unsere  Liebe  zur  Sache  in  dieser  Beurtheilung  anerkennen 
wird,  noch  einmal  ohne  Vorurtheil  seine  Hypothese  prüfe;  will 
er  sie  auch  nicht  aufgeben,  so  wird  er  vielleicht  durch  unsere 
Bemerkungen  veranlasst,    manches   anders    darin  zu  bestimmen, 

und  die  Wahrheit  wird  immer  gefördert  werden.*) 

[anonym.] 

*)  [Gegen  diese  Recension  erschien  in  der  Isis  1818,  Heft  2,  S.  338—344 
von  K.  Göttling  eine  Entgegnung  unter  dem  Titel:  Über  eine  Ansicht  vom. 
altteutschen  Epos.] 


176  DER  NIBELUNGEN  NOTH  VON  LACHMANN. 


-lAb  a\RL  LACHMANN 

ÜBER  DIE  URSPRÜNGLICHE  GESTALT  DES  GE- 
DICHTS VON  DER  NIBELUNGEN  NOTH. 

Berlin,  bey  Dümmler,    1816.    111  S.  in  8.  [=  Kleinere  Schriften  I,  1876, 

S.  1—80.] 

Leipziger  Litteratur-Zeitung  für  das  Jahr  1817.    Erstes  Halbjahr.    No.  94.  95, 
9.  und  10.  April  1817,  S.  745—760. 

J-iine  Einheit  des  Nibelungenlieds  erkennt  unser  Verf.  an, 
einen  Guss  des  Werks.  Wer  könnte  auch  den  ebenmässiffen 
Gang,  das  stets  mitschreitende  Gefühl  für  das  Ganze,  welches 
iein  Vordringen  des  Einzelnen  gestattet,  jenen  Geist,  der  am 
Anfang  wie  am  Ende  lebt  und  webt,  verkennen,  selbst  wenn 
man  das  äussere  Zeichen  der  einer  bestimmten  Zeit  zugehörigen 
Sprache  nicht  beachten  wollte?  Diesem  Gefühl,  das  sich  jedem 
aufdringt,  der  nur  von  der  Poesie  der  mächtigen  Dichtung  er- 
füllt ist,  thut  es,  wie  hier  gesagt  wird,  weh,  das  Phantasiebild 
eines  einzigen  Schöpfers  aufzugeben.  Aber,  nachdem  ihm  der 
Verf.  sein  Recht  angethan,  zeigt  er  die  Absicht  der  Schrift, 
dennoch  eine  entgegengesetzte  Behauptung  durchzufahren.  Er 
stellt  auf,  dass  das  grosse  aus  einzelnen  kleineren  Liedern  zu- 
sammengesetzt sei  und  dieses  Verhältnis  sich  noch  in  der  Ge- 
stalt, in  welcher  wir  es  Vjesitzen,  nachweisen  lasse.  Dafür  könnte 
schon  hinlänglich  scheinen,  die  Zusammenfügungen  anzugeben 
und  zu  erweisen,  da  aber  überhaupt  die  ursprüngliche  Gestalt 
des  Liedes,  wie  schon  der  Titel  der  Abhandlung  sagt,  ergründet 
werden  soll,  so  sind  ferner  auch  Zufügungen,  die  sich  gar  wohl 
bei  einem,  aus  einer  einzigen  Arbeit  entstandenen  Gedicht  denken 
lassen  und  auch  z.  B.  beim  armen  Heinrich  in  der  Vatican. 
Handschrift  vorkommen,  wie  sie  der  Verf.  gefunden,  angemerkt. 
Dass  durch  diese  Untersuchungen  ein  bedeutender  Schritt  in 
<3er  Erkenntnis  des  Liedes  vorwärts  gethan  wird,  leuchtet  ein, 
und    sie   sind   eine  schätzbare,    mit  Dank  aufzunehmende  Gabe. 

Wir  wollen  die  Beweisführung  des  Verf  näher  betrachten. 
Er  fangt  aus  guten  Gründen    nach    der  Lage    der   Dinge,   die 


DER  NIBELUNGEN  NOTH  VON  LACHMANN.  177 

er  überhaupt  mit  einer  gewandten  und  sicheren  Hand  ergreift, 
bei  der  zweiten  Hälfte  des  Gedichts  an.  §  3  werden  später 
eingeschobene  Personen  bezeichnet.  Markgraf  Rüdiger  von 
Bechelar  ist  zweifelhaft,  da  er  zu  sehr  in  die  Sage  verwebt 
worden.  Später  bleibt  er  demohngeachtet  immer,  auch  einge-746 
schoben  kann  man  noch  sagen,  nur  meint  der  Verf.,  wenn  er 
ihn  frei  gibt,  eigentlich  wohl,  dass  er  nicht  vorsätzlich  ein- 
gerückt sei.  Von  dem  Bischof  Pilgrin  wird  es  dagegen  be- 
stimmt behauptet  und  ausgeführt.  Als  Chriemhild  auf  dem  Zug 
nach  Hunnenland  Rüdigers  Gemahlin  Gotelinde  erblickt,  reitet 
sie  näher  und  lässt  sich  vom  Pferde  heben;  gleichwohl  heisst 
es  hernach  [1252,  1.2]: 

den  bischof  sach  man  wisen  siner  swester  kint 
in  und  Eckewarten  zu  Gotelinde  sint, 

worauf  sie  sich  grüssen  und,  wie  dies  beim  Empfang  Sitte  war, 
küssen.  Sollte  wisen  nun  an  dieser  Stelle  in  dem  heutigen 
Sinn  weisen,  zeigen  heissen,  so  wäre  gewiss  eine  Unschick- 
lichkeit und  Widerspruch  mit  dem  Vorhergehenden  darin  nur 
aus  plumper  Einfügung  des  Bischofs  zu  erklären,  allein  es  heisst 
hier  zu  Gotelinde  wisen  nichts  anderes  als  sie  hinführen, 
der  Bischof  und  Eckewart  nahmen  Chriemhild  in  die  Mitte,  um 
sie  als  eine  Königin  zu  geleiten.  Über  diesen  Gebrauch  des 
Worts  vergl.  den  Schwanritter  (Altdeutsche  Wälder  IH,  59). 

203.     die  arke  hatte  do  der  swan 
gewiset  zu  der  feste  dan. 

§  4  —  7.  Von  Volker  sind  bis  dahin,  wo  er  näheren  An- 
theil  an  den  Begebenheiten  nimmt,  die  Stellen  eingeschoben 
oder  überflüssig.  Die  Vergleichung  mit  der  Wilkinasaga 
hätte  dieser  Behauptung  viel  genutzt,  Volker  kommt  da  auch 
nicht  bei  der  Überfahrt  der  Nibelungen  vor  und  wird  früher 
nur  einmal  genannt.  Der  Widerspruch  in  der  Zählung  von 
den  Recken,  die  Hagen  und  Dankwart  und  Volker  zu  den 
tausend  ausgewählten  Helden  zuführen,  wird  gut  bemerkt.  Sehr 
bestätigend  ist  in  der  Wilkinasaga  nur  von  tausend  Günthers- 
Helden  die  Rede,  nämlich  Cap.  337  werden  sie  angeführt,  und 
Cap.  387,  S.  484  heisst  es  übereinstimmend:  siebenhundert  lebten 
noch,  dreihundert  waren  todt.     Hagens  Probe  an  dem  Capellan 

W.GRIMM,   KL.SCHRIFTKN.il.  12 


178  DER  NIBELUNGEN  NOTH   VON  LACHMANN. 

scheint  auch  verdächtig,  merkwürdig,  dass  sie  in  einer  anderen 
Recension  des  Nibehingenliedes  (wir  behalten  den  allgemeinen 
Namen,  auch  weil  er  schon  eingeführt  ist,  bei,  wiewohl  unser 
Gedicht  richtiger  mit  Hrn.  Lachmann  der  Nibelungen  Noth 
heissen  sollte)  noch  weiter  ausgeführt  wird  (nämlich  in  dem 
747 Bruchstück,  das  Docen  mittheilte,  aber  wahrscheinlich  zu  der 
Hohen-Emser  Hs.  zu  Wien  gehörte.  Vergl.  Altd.  Wälder  III, 
244).  —  §  8  wird  untersucht,  ob  sich  Spuren  von  Überarbeitung 
finden,  indem  das  spätere  Wien  im  Gedicht  vorkommt.  Sie 
lassen  sich  nicht  bestimmt  angeben,  wiewohl  ohne  Zweifel  muss 
angenommen  werden,  dass  einiges  eingefügt  sei.  An  den  Stellen 
aber,  die  sich  aufs  Christenthum  beziehen,  kann  der  Verf.  nichts 
davon  entdecken,  obgleich  er  es  zugibt,  dass  es  nirgends  her- 
vortrete, dies  aber  lediglich  aus  der  Beschafi^enheit  der  Fabel 
erklärt.  Anzumerken  ist  nur,  dass  in  den  Sagen  aus  christlicher 
Zeit  von  Carl  dem  Grossen  an  das  Christenthum  immer  einen 
bedeutenden  und  bewegenden  Theil  ausmache,  da  wo  es  nicht 
geradezu  der  Mittelpunkt  ist.  —  §  9  werden  bestimmte  Anfänge 
einzelner  Lieder  nachgewiesen,  dabei  des  Abgebrochenen 
in  der  Erwähnung  des  Eckewart  gedacht  (S,  26).  Auffallend 
ist  es  dem  Verf.,  dass  jener  die  Burgunden  warne  und  ihnen 
sage:  6555  [1575,  3]  ^nian  ist  in  hie  gehäz,  während  erst 
hernach  Dieterich  dem  Günther  und  Gernot  den  Verrath  ent- 
decke; aber  Eckwart  sagt  es  nicht  allen  Burgunden,  sondern 
dem  Hagen,  und  gibt  ihm  auch  die  Ursache  an:  weil  er  Sieg- 
fried erschlagen.  Dann  müsste  auch  die  Weissagung  der  Meer- 
weiber in  dem  Gedicht  unstatthaft  sein,  die  schon  vorangegangen 
und  worin  dem  Hagen  noch  deutlicher  gesagt  war:  er  sei  be- 
trogen, komme  er  zu  den  Hunnen,  und  alle  müssten  dort  sterben. 
Ohnehin  hatte  Hagen  recht  gut  die  Absicht  der  Chriemhild 
schon  bei  der  Einladung  gemerkt,  sie  war  ihm  „grimme  leit" 
(5847  [1398,  3]),  und  er  sagt  deutlich:  wie  können  wir  wagen, 
nach  der  Chriemhild  zu  reiten,  da  ich  ihren  Mann  erschlagen? 
Er  geht  nur  mit,  weil  er  keine  Furcht  will  über  sich  kommen 
lassen;  vergl.  Nibel.  5869  [1404,  4]  ff.  Daraus  konnten  die 
Burgunden  so  viel  ahnen,  als  aus  Eckewarts  Worten,  hätten 
sie  diese  auch  vernommen,  und  Hagen  selbst  erfuhr  nichts  Neues. 


DER  NIBELUNGEN  XOTH  VON  LACHMANN.  179 

Wenn  der  Verf.  nicht  begreift,  wie  Eckewart,  der  noch  kurz 
vorher  Kämmerer  der  Chriemhild  bei  Etzel  war,  nun  als 
Wächter  an  die  Grenze  kommt,  so  könnte  er  meinen,  man  hätte 
vorher  hören  müssen,  dass  er  zu  diesem  Amte  bestellt  worden; 
aber  wir  geben  nicht  zu,  dass  der  Geist  des  Liedes,  wessen  er 
nun  sei,  solche  Breite  und  Umständlichkeit  verlange.  Verwundert 
sich  aber  der  Verf.  über  dieses  Amt  des  Eckewart  und  hält  das 
für  einen  Zusatz,  so  müssen  wir  ihm  aus  inneren  Gründen 
widersprechen.  Eckewart  folgte  erst  der  Chriemhild  in  Sieg- 
frieds Reich,  dann  auch  mit  zu  Etzel  und  sprach: 

5146  [1223.  2 — 4].  sit  daz  ich  allerste  iuwer  gesinde  wart. 

so  han  ich  iu  mit  triuwen   gedienet 

und  wil  unz  an  minen  ende  desselben   immer  bi 

iu  pflegen. 

Er  ist  ein  getreuer  Eckhart  (in  dem  ungedruckten  Rosengarten 
heisst  dieser  auch  Ecke  wart  und  in  der  Hohen-Emser  Hs.  zu 748 
München  steht,  wenn  es  kein  Schreibfehler  bei  Müller  ist, 
V.  2810  wirklich  einmal  Eckhart)  und  hängt  mit  dem  in  den 
anderen  Gedichten  vorkommenden  treuen  Eckhart  von  Breisach 
zusammen,  wie  der  Verf.  selbst  Anmerk.  21  annimmt:  darum 
steht  er  am  Eingang  zu  dem  Verderben  bringenden  Land 
und  warnt.  —  Es  folgen  §  10  Widersprüche,  die  sich  im 
Nibelungenliede  finden,  mit  die  wichtigsten  Stützpunkte  der 
Behauptung.  Angemerkt  wird,  dass  Chriemhild  durch  ihre 
Boten  den  Hagen  einladen  lasse,  diese  aber  bei  ihrer  Ankunft 
von  der  Ladung  nichts  sagen,  damit  nun,  nicht  aber  mit  dem 
Vorhergehenden,  stimme  es,  dass  die  Königin  dann  den  Hagen 
frage:  „wie  durftet  Ihr  hierher?  wärt  Ihr  vernünftig,  Ihr  hättet 
es  gelassen",  so  wie  seine  Antwort:  -ich  nicht,  nur  drei  Degen 
waren  eingeladen,  aber  diese  sind  meine  Herren,  die  ich  nir- 
gend verlasse."  Ein  eigentlicher  Widerspruch  liegt  nicht  darin, 
Chriemhild  lädt  Hagen  nicht  geradezu  ein,  sie  will  nur  veran- 
lassen, dass  er,  ihr  erster  Feind,  auf  den  es  zumeist  abge- 
sehen war,  mitkomme,  und  lässt  ihren  Brüdern  sagen,  „wenn 
Hagen  etwa  dort  zurückbleibe,  wer  sie  dann  die  unkunden 
Wege  führen  wolle."  Noch  ausdrücklich  steht  dabei:  die  Boten 
wussten  nicht,  warum  sie  den  Hagen  nicht  zurücklassen  sollten. 

12* 


180  I^ER  NIBELUNGEN  NOTH  VON  LACHMANN. 

Es  ist  wahr,  die  Boten  sagen  im  Burgimdenland  nichts  von 
dieser  Vorsorge  der  Chriemhilde  für  die  Fahrt,  wie  überhaupt 
nicht  genau  folgt,  was  vorgezeichnet  war:  an  Gernot  wird  kein 
Wort  von  dem  gerichtet,  was  Chriemhilde  für  ihn  bestellt,  Ute 
dagegen  fast  eingeladen,  für  welche  die  Boten  doch  nur  die 
Worte:  „sagt  och  miner  muter  diu  ere,  diu  ich  han"  (V.  5689) 
[1359,  1]  mitnahmen;  aber  für  jenen  Auftrag  war  doch  erst 
Zeit,  wenn  die  Boten  vernahmen,  dass  Hagen  etwa  zurück- 
bleiben wolle.  Als  sie  wieder  nach  Haus  kommen,  fragt  sie 
Chriemhild  gleich  nach  ihm,  und  wie  sie  aus  der  Antwort  ab- 
nehmen kann  (wiewohl  es  auch  nicht  ausdrücklich  gesagt  wird), 
dass  er  nicht  ausbleiben  wird,  auch  von  Volker  hört,  verstellt 
sie  sich  sogleich  und  spricht:  „diesen  könnte  ich  entbehren, 
aber  dem  Hagen  bin  ich  gewogen,  das  ist  ein  guter  Held."  — 
§  11  stellt  mancherlei  Erscheinungen  zusammen.  Etwas  zwar 
nicht  Unverständliches,  wie  es  der  Verf.  nennt,  was  der  alte 
Bischof  spricht  (6054  ff.)  [1448,  3],  aber  wohl  Abgebrochenes; 
überhaupt  sieht  der  Verf.  hier  den  Nachklang  eines  halb- 
verlorenen  Liedes.  In  der  Erzählung  von  Hagens  Gespräch 
mit  den  Meerweibern  entdeckt  er  Lückenhaftes,  weil  Hagen 
das  Begehren  Weissagung  zu  vernehmen  nicht  wirklich  aus- 
gesprochen, auf  das  sich  doch  bezogen  wird.  Uns  scheint  diese 
Anführung  gerade  nicht  nöthig,  weil  sie  sich  von  selbst  ver- 
steht, die  Weiber  bieten  ihm  ja  vorher  die  Weissagung  an; 
viel  könnte  auf  keinen  Fall  ausgelassen  sein,  in  der  Wilkina- 
saga  (Cap.  388)  erklärt  Hagen  kürzlich,  er  gebe  eher  das  Ge- 
wand nicht.  So  verhält  es  sich  auch,  wenn  es  im  Nibelungen- 
749lied  von  Hagen  nicht  ausdrücklich  gesagt  wird,  dass  er  ins 
Schiff  gestiegen  sei,  wie  es  in  der  Wilkinasaga  geschieht.  Ob 
dergleichen  der  epischen  Breite  wegen  noth wendig  ist,  wird 
sich  nicht  entscheiden  lassen;  Rec.  glaubt,  dass  die  Natur  des 
Gedichts  solche  Freiheiten  erlaubt.  Bedeutender  dagegen  ist 
es  schon,  dass  nichts  von  dem  Leib  des  getödteten  Fährmanns 
gesagt  wird,  zumal  die  dänischen  Lieder  davon  nach  ihrer  Art 
ausführlich  reden.  Die  Wilkinasaga  erzählt  bloss,  dass  Hagen 
ihm  den  Kopf  abgehauen. 

Es  folgt  jetzt  eine  Untersuchung  (§  12 — 26)  über  das  Ver- 


DER  XIBELUXGEX  XOTH   VON  LACHMANN.  Igl 

hältnis  der  KJage  zum  Nibelungenlied.  Der  Verf.  stellt  auf, 
dass  dem  Dichter  der  Abenteure  von  der  Klage  bekannt  war: 
erstlich  ein  von  unserer  Nibelungennoth  abweichendes  Gedicht, 
welches  zugleich  das  Märe  von  der  Klage  enthielt;  zweitens 
daneben  auch  ein  Theil  von  unserem  Lied.  Von  dem  ersten 
Satz  ist  der  Rec.  überzeugt,  von  dem  zweiten  nicht.  Denn  er 
hat  nirgends  den  Beweis  gefunden,  dass  dasjenige,  worin  die 
Klage  mit  unserem  Nibelungenliede  stimmt,  nicht  auch  in  jener 
vorauszusetzenden  sonst  unbekannten  Gestaltung  habe  stehen 
können,  er  denkt  sie  sich  eben  theil  weise  recht  überein- 
stimmend, selbst  bis  zu  einzelnen  Worten.  Dieser  Punkt  aber 
ist  nicht  unwichtig. 

Streng  genommen  gehört  also  nach  des  Kec.  Ansicht  diese 
Abhandlung  nicht  hierher,  doch  bleibt  ihre  Ausführung  schätz- 
bar und  hellt  immer  die  ja  auch  allgemeiner  zu  fassende  Frage 
nach  dem  Ursprünge  oder,  wie  Rec.  lieber  spricht,  nach  der 
Geschichte  des  Liedes  auf.  §  14  kommen  die  Übereinstimmungen 
der  Klage  mit  unserer  Nibelungennoth  vor,  deren  Beweiskraft 
Rec.  soeben  geleugnet.  Hr.  Lachmann  legt  auch  selbst  im  Er- 
folg (§  15)  nicht  viel  Gewicht  darauf,  will  aber  in  den  weiteren 
Untersuchunoren  einstweilen  seinen  Satz  als  ausgcemacht  ansehen, 
übrigens,  wollte  der  Rec.  auch  zugeben,  diese  Überein- 
stimmungen bewiesen,  was  sie  nach  dem  Verf.  sollen,  so  könnte 
er  doch  das  Einzelne  anfechten.  Dass  zwölf  Könige  dem  Etzel 
dienen,  ist  ein  sagenmässiger  Zug  (Carl  der  Grosse  hat  ja  be- 
kanntlich auch  seine  zwölf  Helden),  der  sich  auch  in  dem  Ge- 
dicht von  Etzels  Hofhaltung  gleich  Eingangs  findet.  Ferner 
nach  der  Klage  (681  [313—316])  jammert  Etzel  laut: 

als  ob  man  hört  ein  wisenthorn; 
dein  edeln  fürsten  wolgeborn 
diu  stimme  uz  sime  munde 
erdoz  in  der  stunde, 
do  er  so  sere  klage te, 
daz  davon  erwagete 
beidiu  tiume  unt  palas. 

Das  lässt  nun  Hr.  Lachmann  aus  folgender  Stelle  unserer  Nibe- 
lungennoth genommen  sein,  wo  es  von  Dieterich  heisst: 


182  DER  NIBELUNGEN  NOTH  VON  LACHMANN. 

750  8025  [1924,  1 — 3].  mit  clirapft  begonde  rufen  der  degen  uzerchorn, 
daz  sin  stimme  erlute,  alsam  ein  wisentes-horn , 
unt  daz  diu  burch  vil  wite  von  siner  chrapft  erdoz. 

Auffallender  wäre  dem  Rec.  schon  die  Abweichung,  etwas  auf 
Etzel  zu  beziehen,  was  im  Nibelungenlied  von  Dieterich  gesagt 
wird,  zumal  die  Stelle,  worauf  sich  die  Klage  eher  zu  beziehen 
hätte,  im  Ausdruck  stark  genug  ist,  nämlich: 

9045  [2171,  1 — 3].    der  Etzelen  iamer  wart  also  groz, 

als'  eines  leuwen  stimme  der  riebe  chünig  erdoz 
mit  herzeleidem  wuffe  —  — 


9049  [2172,  1 — 2].    do  bort  man  allenthalben  iamer  also  groz 
daz  palas  iinde  turne  von  wuffe  erdoz. 

Zum  Überfluss  aber  kommt  jenes  Gleichnis  als  ein  episches 
Gemeingut  auch  im  ungedruckten  Rosengarten  vor: 

do  sprenget  in  die  rosen,  der  degen  uzerchorn, 

im  erlute  sine  stimme  reht  als  ein  wisant-horn. 

Mit  §  15  hebt  nun  eine,  wie  gesagt,  für  jeden  Fall  verdienst- 
liche Vergleichung  von  den  Angaben  der  Klage  mit  unserer 
Nibelungennoth  an.  Wir  wollen  gleichfalls  einiges  dazu  be- 
merken, im  Allgemeinen  Folgendes:  wenn  die  Klage  irgend 
einen  Umstand  oder  ein  Paar  übergeht,  bei  ihrem  ohnehin  aus- 
zugsmässigen  Wesen,  und  wenn  sie  auch  an  anderen  Orten 
wieder  genau  nachspricht,  so  gilt  doch  nicht  gleich  der  Schluss, 
dass  sie  darum  jene  Abenteure,  worin  das  Ausgelassene  vor- 
kommt, nicht  gekannt  habe.  Z.  B.  des  hiedergebrannten  Saales 
geschieht  nur  einmal  (V.  641  [294])  Erwähnung  und  wird  nichts 
ausführlich  erzählt;  nun  nimmt  Hr.  Lachmann  an,  der  Verfasser 
der  Klage  habe  nichts  davon  gewusst  und  diese  aus  seiner 
Quelle  herübergenommene  Angabe  selbst  nicht  verstanden.  Wir 
glauben  schwerlich,  dass  in  irgend  einer  Gestaltung  des  Nibe- 
lungenliedes dieser  Umstand  gefehlt  hat.  Was  weiss  ein  Dichter, 
wie  jener,  viel  von  Gleichmass  und  Genauigkeit.  S.  48  wird 
eine  Stelle  des  Nibelungenlieds  angegrifien.  Iring,  von  Giselher, 
doch  ohne  Wunde,  niedergeschlagen,  springt  auf: 

8295  [1987,  1 — 2].    do  lief  er  uz  dem  huse,  da  er  aber  Hagen  vant, 
und  slug  im  siege  grimm  mit  siner  elleuthafter  hant. 


DER  NIBELUNGEN  NOTH  VON  LACHMANN.  183 

Nun  sagt  Hr.  Lachmanu:  „hier  verräth  sich  die  Überarbeitung, 
denn  Hagen  war  ja  im  Hause  oder  doch  auf  der  Treppe." 
Freihch,  aber  in  jenen  Worten  liegt  nicht  gerade,  dass  er  schon 
wirklich  aus  dem  Haus  herausgekommen  war;  im  Laufe  stiess 
er  abermals  gegen  Hagen,  und  es  beginnt  der  zweite  Kampf, 
worin  er  diesem  eine  Wunde  beibringt.  Ausdrücklich  heisst  es 
ja  hernach,  erst  8303  [1998,  4],  dass  Iring  endlich  doch  die 
Stiege  hinab  fliehen  musste.  Es  folgt  der  dritte  Kampf  mit 
Hagen,  worin  Iring  bleibt.  In  der  Wilkinasaga  fehlt  (Cap.  360) 
der  erste  und  Iring  verwundet  gleich  Anfangs  den  Hagen,  springt  751 
zurück  und  geht,  von  Chriemhild  gereizt,  zum  zweiten  Mal  auf 
ihn  los,  wo  er  von  dessen  Ger  niedergestossen  wird.  Dass  er 
einmal  glücklich  entkommt,  hat  schwerlich  in  irgend  einer  Ge- 
' staltung  des  I^iedes  gefehlt,  weil  aber  die  Klage  nichts  davon 
sagt,  schliesst  Hr.  Lachmann,  wie  es  uns  scheint,  wieder  zu 
schnell,  es  sei  das  ein  Zug  des  Uberarbeiters.  —  S.  49  heisst 
es,  Etzel  habe  man  nach  der  Klage  (V.  1224  [564])  mit  dreissig 
seiner  Mannen,  die  doch  nach  der  Nibelungennoth  erst  später 
erschlagen  wurden,  vor  dem  Hause  gefunden,  wo  ihn  Hagen 
erschoss.  Die  angeführte  Stelle  aber  sagt  nicht,  dass  Iring 
grade  vor  dem  Hause  gelegen,  sondern:  vor  dem  Hause  lag 
manich  werther  Todte;  nun  kam  Etzel  auch  dahin,  wo  Iring 
lag,  den  Hagen  erschossen.  Damit  kann  die  weitere  Ausführung 
doch  wohl  bestehen:  weit  wird  der  Todwunde  nicht  zu  den 
Dänen  zurückgeflohen  sein.  —  S.  52  steht  eine  starke  Behaup- 
tung. Hagen  klagt  über  den  Tod  von  Gernot  und  Rüdiger, 
die  einander  erschlagen,  und  dann  folgt: 

9001  [2160].     ^O  we  min  es  bruder,  der  tot  ist  hie  gefrumt! 
was  mir  leiden  maere  z'allen  ziteii  chiimt! 
Öh  muz  mich  immer  riuwen  der  edel  Rüdeger: 
der  schade  ist  beidenthalben  unt  diu  vil  grözHchen  Her." 

Hr.  Lachmann  behauptet  nun,  weil  Dankwart  bekanntlich  in 
dem  Nibelungenliede  Hagens  Bruder  ist,  so  werde  hier  dessen 
Tod,  nicht  Gernots  beklagt;  obgleich  dieser  Dankwart  eben 
vorher  (V.  8963  [2151,  3])  mit  Giselher  vorkommt  und  gleich 
nach  jener  Todtenklage  auch  wieder  auftritt  (V.  9010  [2162,  2]), 
ja  hernach  ausdrücklich  gesagt  wird,  dass  er  durch  eines  anderen, 


184  DER  NIBELUNGEN  NOTE!  VON  LACHMAXN. 

des  Helferich,  Hand  gefallen.  Aber  diese  grossen  Wider- 
sprüche räumt  Hr.  Lachmann  damit  aus  dem  Wege,  dass  er 
annimmt,  nach  jenen  Worten  Hagens  fange  ein  neues  Lied  an, 
das  sich  um  das  vorhergehende  nicht  kümmere,  während  dieses 
den  Tod  Dankwarts  voraussetze.  Nun  ist  aber  an  sich  schon 
ganz  klar,  dass  in  jener  Strophe  Gernot  und  kein  anderer  ge- 
meint wird,  das  zeigt  der  darin  ausgedrückte  Gegensatz:  auch 
•Küdigers  Tod  sei  zu  beklagen  und  beidenthalben  der  Schaden 
gross.  Will  man  diese  Strophe  dem  Hagen  zuschreiben,  wie 
sie  ihm  nach  unserem  Text  zuzugehören  scheint,  so  müsste 
man  annehmen,  Bruder  bezeichne  hier  allgemein  Geselle,  Stall- 
bruder, und  so  nenne  Hagen  den  Gernot,  oder  es  sei  eine  dann 
merkwürdige  Spur  von  jener  Gestaltung,  wornach  Hagen  wirk- 
lich ein  Bruder  des  Gernot  ist,  wie  in  der  Wilkinasaga  und 
Edda.  Allein  viel  wahrscheinlicher  ist  eine  andere  dem  Rec. 
mitgetheilte  Meinung,  wornach  jene  Strophe  ursprünglich  dem 
Günther  zugehört  und  zwischen  ihr  und  Hagens  Klage 
(8993—96  [2159,  1—2])  eine  Lücke  sich  befindet,  in  welche 
jetzt  die  Hohen-Emser  Handschrift  zu  Wien  eine  ohnehin  wenig 
passende  Strophe  einrückt  (dieser  Umstand  ist  merkwürdig, 
752 Natur  und  Entstehung  jener  Handschrift  zu  erklären;  absicht- 
licher Zusatz  kann  es  kaum  sein,  er  wäre  allzu  ungeschickt) 
und  worin  der  Name  Günthers  und  der  Zusammenhang  ent- 
halten war.  —  S.  52.  53.  54.  Manches  von  dem  hier  An- 
gegriflfenen  lässt  sich  ohne  Zwang  vertheidigen.  Warum  muss 
der  todte  Rüdiger  aus  dem  Hause  getragen  sein,  wann  er  vor 
den  König  getragen  wird,  und  im  Blut  der  Wunden  lag  er  immer, 
auch  floss  es  überall.  Was  das  Übrige  betrifft,  so  ist  es  aller- 
dings merkenswerth,  dass  Hildebrand  Rüdigers  Leiche  nach 
einem  Auftrag  seines  Herrn,  von  dem  man  aber  vorher  nichts 
gehört  hat,  den  Burgunden  abfodert;  aber  das  Verbot,  gegen 
diese  nicht  zu  kämpfen,  braucht  nicht  ausdrücklich  gegeben  zu 
sein,  es  versteht  sich  daraus,  dass  Dieterich  bisher  nicht  hat 
kämpfen  wollen  (V.  8044  [1929,  1]);  er  will  mit  seinem  Ge- 
sinde bei  dem  Streit  in  Friede  bleiben,  heisst  es,  und  Wolfhart 
wird  (V.  8052  [1930,  4])  schweigen  geheissen,  als  er  sich  streit- 
lustig zeigt.    V.  9112  und  9116  [2187,  4  und  2188,  4]  gehen  ohne 


DER  NIBELUNGEN  NOTH  VON   LACHMANN.  185 

Zweifel  auf  Hildebrand.  —  S.  54  die  Worte  der  Klage  von 
Giselhers  Leid  über  Rüdigers  Tod  könnten  sich  doch  wohl  auf 
das  beziehen,  was  im  Nibelungenlied  9005.  9008.  9012 — 13 
[2161,  1,  4.  2162,  4.  2163,  1.]  gesagt  wird. 

Nachdem  die  Abhandlung  über  die  Klage  zu  Ende  ist, 
wird  jetzt  §  27  bis  34  auch  die  erste  Hälfte  des  Nibelungen- 
lieds zu  demselben  Zwecke,  wie  zuvor  die  zweite,  untersucht. 
§  28  wird  angemerkt,  dass  die  ersten  Strophen  des  Gedichts 
sich  sogleich  als  eine  besonders  für  die  jetzige  Gestalt  der 
Nibelungennoth  verfertigte  Einleitung  kund  gäben,  weil  gerade 
alle  späterhin  vorkommenden  Personen  und  keine  mehr  noch 
weniger  darin  verzeichnet  wären.  Es  sollte  natürlich  bloss 
heissen  „keine  weniger";  dort  werden  die  Burgunden  mit 
ihren  Mannen  genannt.  Ist  nun  auch  die  erste  Strophe  der 
nächsten  Abenteure  ein  (nicht  noth wendiger ,  absichtlicher)  Zu- 
satz, worin  Siegfried  mit  den  Seinigen  aufgeführt  wird?  Solche 
Namenreihen  und  noch  viel  grössere  haben  auch  die  dänischen 
Heldenlieder  und  werden  in  einem  Epos  nicht  leicht  fehlen.  — 
S.  82.  Siegfried  war  zwischen  den  Schultern  verwundbar, 
Chriemhild  nähte  ihm,  als  die  Scheinfahrt  beschlossen  war,  auf 
das  Kriegsgewand  aussen  ein  kleines  Kreuz  an  jene  Stelle,  da- 
mit sie  Hagen  sich  merken  und  ihn,  wenn  man  ihn  dorthin 
stossen  wolle,  schützen  sollte.  Hernach,  als  beide  vor  dem  Mord 
in  die  Wette  laufen,  legen  sie  die  Kleider  ab  und  sind  in  weissen 
Hemden,  wie  nun  Siegfried  zum  Trinken  gebückt  liegt,  sieht 
Hagen  nach  dem  Zeichen  (bilde  steht  in  der  St.  Galler,  chrüze 
in  der  Hohen -Emser  Handschrift  zu  Wien)  auf  dem  Gewand 
und  schiesst  den  Helden  dadurch.  Da  nun  Siegfried  auf  keinen 
Fall  jenes  Heergewand  anhatte,  so  scheint  hier  oöenbar  ein 
Vergessen  oder  ein  Widerspruch. 

Indessen  Hess  sich  noch  folgende  Vermuthung  aufstellen :  753 
Siegfried  trug  auf  seinen  Hemden  dieses  Zeichen  zum  Schutz 
der  verwundbaren  Stelle  (sei  es  nun  das  christliche  Kreuz  oder 
ein  altes  aus  der  Heidenzeit  herrührendes  ähnliches,  gleichfalls 
schützendes  Zeichen  von  Thors  Hammer,  vgl.  Thorlacius  om 
Thor  og  hans  Hammer  p.  46.  47),  und  Chriemhild  nähte  es 
damals  nur  auf  das  äussere  Gewand,  damit  es  für  Hagen  sieht- 


186  DER  NIBELUNGEX  NOTH  VON  LACHMANN. 

bar  würde;  bedeutend  wenigstens  scheint  die  Kreuzform  in 
jedem  Fall.  Freilich  wäre  dann  ein  Stück  aus  der  alten  Sage 
vergessen  (auch  die  Wilkinasaga  weiss  nichts  davon),  und  es 
bliebe  für  das  Gedicht  immer  ein  gewisser  Widerspruch.  —  Da, 
wo  die  Verschiedenheit  der  Geographie  auseinandergesetzt  wird, 
kommt  auch  S.  78  vor,  dass,  als  die  Nibelungen  den  König 
Siegmund  heimgeleiteten,  doch  dabei  gesagt  wäre: 

4409  [1039.  1].    wie  si  nu  gefüren,  des  chan  ich  nicht  gesagen. 
und   Hr.  Lachmann    scheint    die   Stelle    so    zu    verstehen:     der 
Dichter  wisse  nicht  zu  sagen,  welchen  Weg  sie  gen  Niederland 
genommen,    während    dieser    doch    sonst   näher   angegeben    ist. 
Eigentlich  werden  nicht  die  Nibelungen  genannt,  sondern  Giselher: 

4406  [1038,  2 — 4].    er  brahte  sorgende  uz  dem  lande  sint 

den   chünich   mit   sinen   rechen  heim  ze  Niderlant: 
M'ie  lützel   man  der   mage  darinne  vrölichen  vant! 

Rec.  versteht  dies  so,  dass  Giselher  wirklich  den  Siegmund  heim 
brachte,  ohne  dass  des  dabei  eingeschlagenen  Wegs  gedacht  wird. 
Mit  jener  bemerkten  Zeile  4409  [1039,  1]  fangt,  wie  eine  neue 
Strophe,  so  auch  ein  neuer  Sinn  an,  und  Rec.  legt  sie  folgender- 
gestalt  aus :  Was  sie  (die  Burgunden)  darauf  für  Fahrten  unter- 
nahmen, was  jetzt  für  Abenteuer  folgten,  weiss  ich  (die  Sage) 
nicht;  es  trat  eine  Zeit  der  Ruhe  ein,  Brunhild  war  Übermut hig, 
Chriemhild  beweinte  ihren  Mann.  Erst  nach  viertehalben  Jahren 
(vgl.  V.  4438  [1046,2])  regt  Hagen  die  Begierde  nach  dem 
Hort  an. 
754:  Damit  hatte  Rec.  die  Untersuchung  des  Verf.,  deren  Eigen- 

thümlichkeit ,  Verstand  und  Scharfsinn  er  mit  Vergnügen  an- 
erkennt, durchgegangen.  Ihre  Ergebnisse  an  sich  lässt  er  sich, 
im  Ganzen  genommen,  wohl  gefallen,  und  seine  Gegenbemerkungen 
betreffen  bloss  das  Einzelne  darin.  Nur  dass  das  grosse  Ge- 
dicht aus  einzelnen  Liedern  zusammengesetzt  sei,  kann  er  nicht 
so  geradezu  annehmen.  Nicht  als  wollte  er  ihr  Dasein  leugnen, 
aber  eben  so  früh,  glaubt  er,  ist  auch  ein  Ganzes  schon  da- 
gewesen, und  er  mögte  den  Satz  so  ausdrücken:  es  lässt  sich 
eine  Zusammenfügung  einzelner  Abschnitte  erkennen,  wovon 
aber  jeder  gewiss  in  dem  Bewusstsein  vom  Ganzen  sein  Leben 
hatte,  wenn  es  auch  einzeln  verständlich  war.    Übrigens  wünscht. 


DER  NIBELUNGEN  NOTH  VON  LACHMANN.  187 

Rec.  die  Arbeit  erweitert  und  vom  Verf.  eine  neue  Schrift,  in 
welcher  die  verschiedenen  Gestaltungen  des  Nibelungenlieds, 
soweit  sie  sich  erkennen  lassen,  aufgestellt,  in  ihrer  Eigenthüm- 
lichkeit  erläutert  und  unter  einander  verglichen  sind:  also  1)  der 
einen  Hohen-Emser,  der  St.  Galler  und  Münchener  Handschrift, 
die  im  Ganzen  als  eine  hierbei  könnten  betrachtet  werden,  2)  der- 
jenigen, «welche  der  Verf.  der  Klage  vor  sich  gehabt,  so  viel 
sich  davon  herausbringen  lässt,  3)  der  Wilkinasaga,  deren  Zu- 
rücksetzung gegenwärtiger  Abhandlung  doch  weniger  Vortheil 
als  Nachtheil  gebracht,  4)  der  Hohen-Emser  zu  Wien.  Sie 
kann  jetzt,  nachdem  achtund vierzig  neue  Strophen  daraus  in 
dem  dritten  Band  der  Altdeutschen  Wälder  mitgetheilt  sind, 
welche  in  der  neuesten  Hacjenschen  Ausgabe  noch  fehlen 
mnssten,  ziemlich  vollständig  beurtheilt  werden.  Dann  wären 
5)  die  dänischen  Lieder,  so  kurz  sie  sind,  anzuführen.  Kommt 
indessen  noch  die  Hundehagische  Handschrift  zum  Vorschein, 
die  dem  Vernehmen  nach  vom  Jahre  1426  ist  und  neue  Dinge 
enthält,  so  müsste  sie  auch  berücksichtiget  werden.  Nur  wäre 
vorerst,  wenigstens  abgesondert,  blosse  Untersuchung  zu  geben, 
welche  die  Erscheinungen  aufstellt,  nicht  aber  eine  Ansicht 
über  die  Entstehunor  derselben  gleich  einzumischen. 

Diese  Ansicht  muss  eigentlich  als  der  andere  Theil  be- 
trachtet werden,  welcher  in  gegenwärtiger  Schrift  enthalten  ist, 
ohne  besonders  auseinandergesetzt  zu  sein.  Die  natürlichste 
Frage  ist  hier,  von  wem  die  bemerkten  Eigenschaften  des  Liedes 
herrühren,  ob  sie  im  Ganzen  als  Folge  unwillkürlicher  Fort- 
bildung (versteht  sich,  insoweit  überhaupt  die  schöpferische 755 
Kraft,  aus  der  Dichtung  hervorgeht,  unwillkürlich  zu  nennen 
ist),  wozu  die  wachsende,  sich  ändernde  Gesinnung  des  Volks 
gewirkt  hat,  zu  betrachten  sind,  oder  ob  sie  aus  Willkür  und 
Absicht,  die  bloss  Einzelnen  zugehört,  entstanden  sind;  mit 
anderen  Worten,  ob  das  Nibelungenlied  ein  Volkslied  oder 
ein  kunstgemässes,  nach  Plan  verfertigtes  sei?  Wer  das  erstere 
annimmt,  kann  dabei  immer  glauben,  dass,  wenn  durch  die 
Schrift  das  Gedicht  einmal  gefasst  worden,  dann  Zusätze  und 
Veränderungen  Einzelner  wohl  möglich  sind,  doch  werden  sie, 
sobald   sie  auf  das  Ganze  Einfluss   haben   oder   einen  Zug   der 


188  DER  NIBELUNGEN  NOTH  VON  LACHMANN. 

Sage  selbst  angreifen  wollen,  leicht  zu  erkennen  sein.  Ferner 
kann  man  gern  zugeben,  dass  das  Lied  einer  gewissen  Klasse, 
solchen,  welche  die  alten  Gedichte  sangen  und  sagten  (unter 
denen  man  sich  natürlich  keine  Bänkelsänger  an  den  Ecken 
denken  darf,  wie  ein  Gelehrter  zu  leichter  Widerlegung  einer 
von  niemand  gehegten  Ansicht  gut  genug  annimmt),  überliefert 
worden.  Nur  muss  als  wesentliche  Eigenthümlichkeit  dabei 
festgestellt  werden,  dass  ihnen  durchaus  die  Absicht  und  Will- 
kür zu  einer  Veränderung  oder  Umarbeitung  fremd  war.  Hr. 
Lachmann  berührt  jene  Frage,  weist  sie  aber  anfangs  ab,  ja, 
wenn  er  überhaupt  jenen  Unterschied  anführt,  will  er  damit 
nach  einer  besonderen  Anmerkung  eine  seit  mehreren  Jahren 
in  Schwang  gekommene  wunderliche  Vorstellung  von  Volks- 
liedern und  ihrer  Entstehung  keineswegs  theilen,  über  welche 
Hr.  A.  W.  von  Schlegel  neulich  klar  und  scharf  gesprochen. 
Rec.  stimmt  gern  in  dieses  Lob  der  klaren  Schärfe  und  hat 
sich  selbst  über  die  zum  Theil  wunderlichen  Vorstellungen  ge- 
wundert, die  durch  dieses  Atzmittel  wegzubeizen  waren.  In- 
dessen beantwortet  die  Abhandlung  selbst  die  Frage  und  schreibt 
Dichtern,  Ordnern,  Diaskeuasten ,  wie  sie  verschiedentlich  ge- 
nannt werden,  die  bemerkten  Eigenschaften,  Abänderungen  usw. 
des  Nibelungenliedes  zu. 

Diese  Ansicht  ist  sehr  verschieden  von  derjenigen,  welche 
überhaupt  nur  einen  einzigen  Dichter  des  Ganzen  annimmt,  ja, 
den  Vertheidigern  derselben,  die  sogar  seinen  Namen  schon 
errathen,  wird  durch  diese  Untersuchungen  ein  harter  Stand 
bereitet.  Was  soll  man  sagen,  wenn  er  bei  seinen  schönge- 
schmückten Lügen  solche  Widersprüche,  Mängel  an  Umsicht, 
Un Verständlichkeiten  sich  erlaubte?  Die  Sassen  sind  nach  dieser 
Meinung  bekanntlich  zurecht  und  rückwärts  gestellt,  wie  es 
der  Plan  verlangte;  also  aus  Achtung  vor  der  Überlieferung 
kann  jenes  unmöglich  stehen  gebHeben  sein. 

Hrn.  Lachmanns  Ansicht  ist  es  zuträglich,  dass  die  ver- 
schiedenen Gestaltungen  des  Nibelungenliedes  in  seiner  Schrift 
nicht  besonders  ins  Auge  genommen  sind.  Für  die  Abweichung 
der  Wilkinasaga,  zweifeln  wir  nicht,  wird  er  eine  scharfsinnige 
Erklärung    in   Bereitschaft    haben.      Nur    der   S.  32    geäusserte 


DER  NIBELUNGEN  NOTH  VON  LACHMANN.  189 

Zweifel ,  es  könne  vielleicht  auch  keine  neue  Gestalt  der  Sage.  756 
sondern  eine  Bildung  der  noch  vorhandenen  sein,  ist  nach 
unserer  Meinung^  unstatthaft.  Was  das  Neue  in  der  Hohen- 
Emser  Hs.  zu  Wien  betrifiit,  so  ist  es  möglich,  dass  eins  und 
das  andere  von  einer  bloss  erweiternden  und  näher  ausführenden 
Hand  herrührt,  wenn  sie  aber  auch  in  die  Fabel  eingeht  und 
sich  darin  Dinge  finden,  die  sich  nach  der  Klage  nothwendig 
in  dem  Gedicht  befinden  mussten,  aber  anderwärts  fehlen,  so 
sollte  man  doch  denken  dürfen,  es  seien  dies  nicht  erst  später 
eingebundene,  sondern  natürlich  gewachsene  Früchte,  die  in  den 
anderen  Gestaltungen  nicht  zum  Vorschein  gekommen  sind  oder 
abgefallen.  Denn  nicht  nur  findet  sich  in  jener  Hohen-Eraser, 
was  S.  60  vom  Verf.  bemerkt  wird,  dass  Chriemhilde  den  Hagen 
gern  ausgeschieden  hätte,  um  an  ihm  allein  sich  zu  rächen, 
sondern  auch,  was  der  Verf.  noch  nicht  bemerken  konnte,  dass 
Frau  Ute  nach  dem  Kloster  Lorse  gegangen  und  Etzel  einmal 
sich  zum  Christenthum  bekehrt  hatte,  aber  wieder  abgefallen 
war  (vgl.  Altd.  Wälder  HI,  10.  11).  Ganz  mit  den  Angaben 
der  Klagen  über,einstimmend. 

Doch  wir  übergehen  das  und  fragen,  ob  Hr.  Lachmann 
für  die  abweichende  Gestaltung,  die  der  Verfasser  der  Klage 
vor  sich  hatte,  einen  neuen  Dichter  und  ein  neues  ursprüng- 
liches Gedicht,  selbst  mit  einem  anderen  Mittelpunkt,  annimmt? 
Er  kann  es  bejahen  und  das  wäre  seinem  System  gemäss;  aber 
diese  Annahme  bekommt  Schwierigkeiten  oder  vielmehr  sie  wird 
ganz  unhaltbar,  wenn  man  nicht  zugleich,  wie  allerdings  Hr. 
Lachmann  recht  klug  thut,  annimmt,  dass  der  Verfasser  der  Klage 
zugleich  nebenbei  unsere  Gestaltung,  die  Nibelungennoth  ge- 
kannt und  daraus  geschöpft.  Rec.  hat  schon  vorhin  bemerkt, 
dass  er  nirgends  von  dieser  Behauptung  ist  überzeugt  worden, 
ausserdem  hat  er  noch  dagegen  anzuführen,  dass  es  ihm  nach 
Art  und  Natur,  die  der  Dichter  der  Klage  überall  zeigt,  un- 
glaublich scheint,  er  sollte  beide  so  abweichende  Gestaltungen 
nicht  genannt,  ihre  Abweichungen,  Widersprüche,  ihr  Verhältnis 
nicht  angegeben  (da  er  der  verschiedenen  Sagen  von  Etzels 
Tod  gedenkt)  haben  imd  stillschweigend  bald  hier,  bald  dort 
etwas    her   geholt.     Dass   endlich   dasjenige,    was  er  nach  Hrn. 


190  DER  NIBELUNGEN  NOTH   VON   LACHMANN. 

Lachmanns  Ansicht  aus  unserer  Nibelungennoth  gezogen,  ge- 
rade in  jenem  anderen  Gedicht  gefehlt  oder  nur  habe  fehlen 
können,  wird  Rec.  sich  nicht  leicht  vorstellen.  Es  bleibt  also, 
bis  stärkerer  Beweis  geführt  wird,  jenes  Gedicht  eine  andere 
Darstellung  der  Sage,  in  einigen  Stücken  sehr  übereinstimmend, 
selbst  wörtlich,  in  anderen  abweichend.  Dafür  aber  einen 
neuen  Dichter  und  eine  neue  ursprüngliche  Gestalt,  wie  Hr. 
Lachmann  thun  muss,  anzunehmen  ist,  wie  gesagt,  ein  schwie- 
riger Entschluss,  weil  man  nämlich  damit  einen,  welchen  man 
^  nun  zum  jüngsten  machen  will,  des  Plagiats  beschuldigt.  Einer 
anderen  Ansicht  ist  dagegen  dieses  Verhältnis  ganz  willkommen : 
Übereinstimmung  selbst  bis  in  das  Einzelne,  Abweichung  da- 
757  neben  in  unzählbaren  Stufen  bis  zu  grossen  anders  angeschauten 
und  verstandenen  Theilen  der  Sage;  darin  besteht  ja  die  nach- 
zuweisende Eigenthümlichkeit  aller  Volksdichtung.  Das  ist  die 
rechte  Einzelheit,  die  für  sich  lebt  und  doch  stets  auf  das 
Ganze  weiset  und  von  ihm  das  Leben  hat:  über  allem  Einzelnen 
schwebt  eine  unergreif  bare  Einheit  und  verbindet  sie.  Ist  doch 
merkwürdig  und  nicht  zu  übersehen,  dass  selbst  jene  drei  zu 
einem  Stamme  gehörigen  Hss.  der  Nibelungen,  so  von  einander 
unabhängig  sind,  dass  keine  von  der  anderen  unmittelbar  kann 
hergenommen  sein,  sondern  jede  ihr  Eignes  hat. 

Wir  wollen  nun  ohne  Rücksicht  auf  diese  Einwürfe  Hrn. 
Lachmanns  Vorstellung  an  sich  betrachten.  Er  nimmt  eine 
ursprüngliche  Gestalt  des  Ganzen  an  als  eine  wirklich 
dagewesene.  Die  erste  Frage  lautet:  wo  und  bei  wem  ist  diese 
zu  suchen?  Eine  unmittelbare  Antwort  findet  Rec.  in  der 
Schrift  nicht  und  muss  demnach  jene  Frage  anders  stellen:  von 
wem  rühren  die  mannigfachen  Abänderungen,  überhaupt  die 
durch  die  Untersuchung  aufgedeckten  Eigenschaften  des  Liedes? 
Wir  finden  überall  die  Auskunft:  von  Dichtern,  Ordnern,  Dia- 
skeuasten,  Kritikern.  Nirgends  aber  wird  bemerkt,  also  wohl 
geleugnet,  dass  sich  etwas  volksmässig  in  dem  oben  bemerkten 
Sinne  ohne  einwirkende  Absicht  anders  gestaltet  hätte. 

Jene  Eigenschaften,  wie  sie  in  dieser  Schrift  dargelegt 
worden,  sind  verschiedener  Art  und  wohl  zu  unterscheiden. 
Ein  Theil   betrifil  das  Ganze,   z.  B.  die  noch  sichtbaren  Nähte 


DER  NIBELUNGEN   NOTH   VON   LACHMANN.  191 

bei  der  Zusammenfügung,  das  Einschieben  neuer  Personen  in 
die  Fabel.  Im  Gegensatz  zu  der  Gestaltung,  die  der  Verfasser 
der  Klage  vor  sich  hatte,  ist  auch  anzunehmen,  dass  die  Grund- 
ansicht, die  Angel,  um  die  sich  das  Ganze  dreht,  bei  unserer 
Nibelungennoth  Zuthat  des  Dichters  ist.  Andere  aber  be- 
treffen das  Einzelne  und  sind  jenen  gegenüber  geringfügiger 
Art;  die  Spitze  wäre  etwa,  dass  der  Verf.  nachweist,  die  Worte: 
„do  sprach  der  küne  Dancwart"  wären  Überarbeitung. 
Grösstentheils  gehört  hierher,  was  von  Überflüssigem,  Einge- 
schobenem, Verworrenem  usw.  angemerkt  ist. 

Jene  erstgenannten,  die  wir,  ohne  dass  man  weiter  etwas 
daraus  folgern  soll,  innere  Eigenschaften  nennen  wollen,  müssen 
natürlich  dem  Dichter  des  Ganzen  zugeschrieben  werden:  von 
ihm  also  kommt  jene  ursprüngliche  Gestalt  der  Nibelungen- 
noth,  die  wir  in  der  auf  uns  gelangten  so  ziemlich  vor  uns 
haben  sollen,  denn  jene  war  nach  des  Verf.  Worten  (S.  5) 
^eine  der  jetzigen  sehr  ähnliche".  Sie  ist  etwa  noch  durch  die 
Hände  eines  oder  zweier  Ordner  gegangen.  Die  äusseren  Ab- 
änderungen dagegen  müssen  grösstentheils  schon  ihrer  Natur 
nach,  z.  B.  das  Unverständliche,  Nachklänge  halb  verlorener 
Gesänge,  Widersprüche  in  den  verschiedenen  Abenteuern  von 
den  Dichtern,  Ordnern  der  einzelnen  Lieder  herrühren.  Ihrer 758 
werden  mehrere  für  ein  Lied  gar  wohl  angenommen;  eins  und 
das  andere  ist  schon  durch  ein  Paar,  ja  drei  bis  vier  Hände 
gegangen  (vgl.  S.  QQ}-,  eh'  es  zu  dem  Dichter  des  Ganzen  ge- 
langte. Einen  ersten  Dichter  der  einzelnen  Lieder,  also  auch 
eine  ursprüngliche  Gestalt  derselben,  von  welcher  dann  die 
ursprüngliche  Gestalt  des  Ganzen  abhängen  musste,  nimmt  der 
Verf.  nun  noch  an  (vgl.  S.  14.   19). 

Hierbei  wäre  Folgendes  zu  erinnern.  Die  Einheit  des 
Nibelungenliedes  als  Folge  der  Einheit  eines  Geistes,  der  es 
geschaffen,  leugnet  der  Verf.  nicht  (vgl.  Anmerkung  1).  Glaubt 
er  auch,  dass  eine  gewisse  epische  Weise  verbreitet  war,  da 
wir  das  grosse  Heldenbuch  (nach  dem  Bruchstück  einer  Perga- 
menthandschrift), den  Alphart  in  einer  so  sehr  ähnlichen  Art 
gedichtet  besitzen,  die  nicht  wohl  sämmtlich  von  einem  Meister 
herrühren    können,    so   ist   damit   noch    nicht   die   Frage   beant- 


192  RER  NIBELUNGEN  NOTH  VON   LACHMANN. 

wortet:  wie  hat  der  Dichter  des  Ganzen  die  Einzelnheiten  der 
verschiedenen  Dichter  und  weitere  Überarbeitungen  in  einen  so 
gleichmässigen  Guss  gebracht?  Wir  müssen  ihm  nun  auch  in 
der  Form  grosse  Freiheiten  zugestehen,  dem  Stoft'  nach  ver- 
stehen sie  sich  von  selbst,  da  ihm  jene  bedeutende  Einwirkung 
auf  das  Gedicht  durch  Einrücken  ganzer  Personen,  wie  vielleicht 
Rüdigers,  anheimfällt;  dem  Dankwart  gelingt  es  nicht  recht, 
sich  in  die  Fabel  einzufügen  (Note  38);  in  dem  Abschnitt  von 
Siegfrieds  Jugend  und  Fahrt  rührt  auch  vieles  von  ihm  (S.  72). 
Sogar  eigene  Erfindungen  des  Dichters  denkt  sich  der  Verf 
auch,  wie  wir  daraus  abnehmen,  dass  er  sie  beim  Traume  der 
Chriemhilde  aus  anderen  Ursachen  ableugnet.  Von  diesem 
Traum  heisst  es  (S.  70),  er  sei  so  zart  gehalten  in  jeder  Zeile, 
dass  er  nur  von  diesem  Dichter  des  Ganzen  herrühren  könne, 
wenn  er  auch  aus  einem  älteren  Liede  hergenommen  sei.  Dieses 
^wenn"  ist  aber  hernach  Anmerkung  71  der  einzige  Grund, 
warum  dieses  Lied  so  schön  ist,  denn  ein  anderes,  von  ihm, 
wie  Hr.  Lachmann  vorstellt,  eingerücktes,  worin  Günther  und 
die  übrigen  Siegfrieds  Tod  schwören,  ist  mangelhaft,  und  zwar 
deshalb,  weil  es  nicht  nach  der  Sage,  sondern  aus  eigenen 
Mitteln  hinzugedichtet  ist.  (Also  das  Frischlebendige  hätte 
doch  nur  in  der  Sage  seinen  Ursprung,  und  dieser  Dichter,  den 
Hr.  Lachmann,  nach  dem,  was  er  ihn  thun  lässt,  einen  herr- 
lichen nennen  sollte,  wird  matt,  wo  er  selbst  reden  muss.)  Wir 
lassen  das  ruhen,  aber  wenn  diesem  Dichter  so  viel  Freiheit 
für  StoflF  und  Form  muss  zugeschrieben  werden,  wie  wird  es 
begreiflich,  dass  er  das  Verworrene,  die  Nähte  der  Zusammen- 
fügungen, ja  den  Widerspruch,  von  dem  doch  Hr.  Lachmann 
einige  starker  Art,  z.  B.  die  Klage  Hagens  über  Dankwarts 
Tod,  während  dieser  noch  lebt,  annimmt,  nicht  bemerkt,  sondern 
aus  den  einzelnen  Liedern  aufgenommen,  gleichsam  gebilligt 
759  hat?  Dem  flüchtigsten  Übersetzer  wird  man  heut  zu  Tag  der- 
gleichen nicht  zu  gut  halten;  auf  der  anderen  Seite  ist  jener 
Dichter  so  geschickt,  dass  man  bei  unzweifelhaften  Zusätzen, 
wie  die  Stadt  Wien  ist,  die  Einfügung  nicht  erkennen  kann. 
Auch  Achtung  oder  Rücksicht  für  die  Überlieferung  kann  ihm 
Hr.  Lachmann  nicht  beilegen,  eben  der  Freiheit  wegen,  die  er 


i 


DER  NIBELUNGEN  NOTH  VON  LACHMANN.  193 

ihm  gegeben.  Dagegen  aber,  warum  sollte  ein  anderer,  der 
nicht  nach  unseres  Verf.  Hypothese  die  Erscheinungen  des 
Nibelungenliedes  sich  erklärt,  nicht  darin  eine  Achtung  vor 
der  Überlieferung  erkennen,  dass  selbst  die  St.  Galler  und  die 
Hohen-Emser  zu  Wien  nichts  anzutasten  wagten  und  alle 
wiederum  jene  seltsamen  Dinge  beibehielten?  Ja,  ganz  Beweg- 
liches, wie  Ziffern  sind,  ändern  sie  nicht  einmal,  z.  B.  die 
achtzig  oder  sechszig  Recken  Hagens  und  Dankwarts.  Selbst 
nicht  die  immer  etwas  unglaubliche  Zählung  (die  Hr.  Lach- 
mann nicht  anmerkt),  wornach  Chriemhilde  im  geringsten  Fall 
schon  48  Jahre  alt  ist,  sehr  leicht  54  zur  Zeit,  wo  sie  dem 
Etzel  ein  Kind  gebiert;  je  nachdem  wir  nämlich  18  oder  24 
Jahre  bei  ihrer  Verheirathung  mit  Siegfried  voraussetzen,  denn 
die  übrigen  Angaben  hat  das  Lied:  10  Jahre  lebt  sie  mit  Sieg- 
fried (V.  2874  [659,  2]),  13  Jahre  nach  seinem  Tod  (V.  4582 
[1082,  2],  die  Hohen-E.  Hs.  hat  12  J.)  als  Wittwe,  7  Jahre  mit 
Etzel,  bis  sie  einen  Sohn  zur  AYelt  bringt  (V.  5564  [1327,  2]). 
Ihre  Rache  fällt  noch  6  Jahre  später,  also  in  das  54ste  oder 
60ste.  —  Auf  einen  späteren  Ordner  kann  Hr.  Lachmann  die 
Schuld  auch  nicht  wälzen:  wozu  zwecklose  und  unsinnige  Ver- 
derbnis?  Überdiess  sind  ja  jene  Erscheinungen  als  natürliche, 
aus  der  Lage  der  Dinge  hervorgehende  eben  zugleich  Zeugnisse 
von  der  früheren  Bildung  des  Ganzen  in  besonderen  Ab- 
schnitten. 

Es  bleibt  noch  etwas  über  die  Dichter,  Ordner  der  einzelnen, 
unabhängigen  Lieder  zu  sagen.  Ihnen  müssen  die  äusseren 
Veränderungen  zugeschrieben  werden.  Auch  hier  glaubt  Hr 
Lachmann,  wie  schon  bemerkt,  an  einen  ersten  Dichter,  von 
dem  die  ursprüngliche  Gestalt  herrühren  musste.  Dass  dieser 
aus  der  lebendigen  Sage  geschöpft,  nimmt  er  allerdings  an, 
aber  über  das  Verhältnis  seiner  Arbeit  zu  jener  Quelle,  worauf 
so  viel  ankommt,  finden  wir  nichts  gesagt,  und  es  ist  nicht  klar, 
wie  es  von  ihm  gedacht  wird.  War  die  Sage  roh,  ohne  Form, 
ohne  Spur  der  schönen  Ausfüllung,  die  wir  jetzt  bewundern, 
war  sie  prosaisch  in  der  Art,  die  wir  noch  heute  bei  Volks- 
sagen finden?  Dann  müsste  man  von  Rechtswegen  von  einem 
ursprünglichen    Dichter   reden,    wurden   aber  jene   Fragen   ver- 

W.  GHIMM,   KL.  SCHRIFTEN.     II.  13 


194  DER  NIBELUNGEN  NOTH  VON  LACHMANN. 

neint,  so  hieng  es  von  dem  Verhältnis  ab,  das  man  zu  jener 
schon  vorhandenen  Dichtung  für  die  neue  behauptet,  ob  er  ein 
blosser  Aufzeichner  oder  auch  ein  noch  immer  selbst  schöpfe- 
rischer Dichter  zu  nennen  wäre.  Wenn  wir  bemerken,  dass 
der  Verf.  von  einem  solchen  Diaskeuasten  den  Versuch  her- 
760  rühren  lässt,  Folker  den  Spielmann  einzuführen,  so  können  wir 
sehen,  wohin  er  sich  neigt  und  dass  er  an  keinen  Aufzeichner 
und  Bewahrer  der  Sage  denkt.  Übrigens,  nimmt  man  hier 
selbstschaflPende  Dichter  an,  so  sind  wir  überzeugt,  dass  es  nur 
ein  Paar  solcher  Hände  bedurfte,  um  ein  ganz  anderes,  von 
jenen  Volkssagen  völlig  nach  Inhalt  und  Form  verschiedenes 
Gedicht  zu  haben. 

Für  welchen  Fall  sich  aber  der  Verf.  entscheiden  wird,  so 
kann  doch  immer  gefragt  werden:  wie  erklären  sich  die  nach 
ihm  von  den  auf  einander  folgenden  Diaskeuasten  herrührenden 
Eigenschaften  der  Lieder,  da  sie  grösstentheils  wie  Ver- 
schlechterungen aussehen;  es  erscheint  darin  ein  allmähliches 
Herabsinken  von  ursprünglicher  Reinheit,  nur  eins  und  das 
andere  wäre  ein  lobenswürdiger  Zusatz  gewesen,  etwa  Hagens 
Probe  an  dem  Capellan,  wenn  er  ihnen  vom  Verf.  zugeschrieben 
wird.  Das  durch  unvollständige  Überlieferung  (mündliche  oder 
schriftliche?),  deren  auch  (S.  59)  bei  Gelegenheit  gedacht  wird, 
eins  und  das  andere  sich  einschleichen  konnte,  mag  man  zu- 
geben, aber  dann  wäre  der  Dichter  des  Ganzen  immer  zu 
tadeln  gewesen,  dass  er  nicht  nach  vollständigerer  getrachtet; 
aber  von  dem  Eingeschobenen,  Ausmalenden,  Unnöthigen  darf 
das  doch  nicht  angenommen  werden.  Je  freier  die  Diaskeuasten 
und  ohne  Rücksicht  auf  das  Überlieferte  gedacht  werden,  desto 
mehr  ist  sich  über  das  Verwirrte,  Unverständliche,  die  blossen 
Nachklänge  zu  verwundern.  Wie  aber,  wenn  sich  in  den 
Dingen,  die  nicht  aus  dem  Ursprünglichen  sollen  geschöpft  sein, 
Spuren  von  einem  grösseren  Zusammenhang,  der  auch  dieses 
umfasste,  aufthäten  oder  eine  mythische  Bedeutung  darin  sich 
zeigte,  die  den  Vorwurf  einer  gewöhnlichen  Zuthat  wegnähme? 

Wir  sind  ausführlich  gewesen,  weil  es  gewiss  wichtig  ist, 
zu  erforschen ,  wie  das  Epos  bei  den  Völkern  sich  gebildet, 
aus  welchen  Händen  es  hervorgegangen,  welche  es  in  dem  Lauf 


WUNDERGESCHICHTEN  UND   LEGENDEN  DER  DEUTSCHEN.       195 

der  Jahrhunderte  gehalten  und  getragen  und  wessen  Geist  in 
ihm  lebt.  Überall  aber  begegnet  uns  dasselbe :  ein  mächtiges 
Ganzes,  niemals  vollständig  ausgesprochen,  neben  dem  Herr- 
lichsten einzelnes  Lückenhaftes,  Unverständliches,  Widerspre- 
chendes, es  scheint  sich  nur  hier  mehr,  dort  weniger  heraus- 
gearbeitet zu  haben,  um  einem  Vollkommenen,  aber  Unsicht- 
baren, niemals  Wirklichen  immer  näher  entgegenzudringen. 
Fehler  hangen  mit  der  VortrefFlichkeit  zusammen,  es  ist  jedes- 
mal ein  Widerschein  darin  von  den  Eigenthümlichkeiten  der 
Zeit,  und  die  verschiedenen  Gestaltungen  können  nicht  gegen 
einander  abgewogen  oder  zusammengeschmolzen  werden,  damit 
man  ein  einziges  Vollkommenes  erhalte.  Dasselbe  zeigt  sich 
schon  in  unserem  Hildebrandslied,  in  den  eddischen  Gesängen, 
wie  in  den  noch  heute  lebenden  Volkssagen  und  Hausmärchen.*) 

[anonym.] 


WÜNDERGESCHICHTEN  UND  LEGENDEN  DER     12% 
DEUTSCHEN. 

Erstes  Bändchen.     Quedlinburg  1816.     175  S.     Zweites  Bändchen,  das. 

176  S.     8. 

Leipziger  Litteratur- Zeitung  für  das  Jahr  1817.     Erstes  Halbjahr. 
No.  151,  am  11.  Juni  1817.     S.  1206—1207. 

JUer  A^erfasser  theilt  ein  Paar  wahrscheinlich  aus  münd^ 
lieber  Überlieferung  aufgefasste  Sagen  mit,  an  sich  löblich,  aber 
in  einer  Bearbeitung,  die  wir,  wenn  sie  auch  besser  als  hier 
gerathen  wäre,  nicht  loben  könnten.  Knecht  Ruprecht,  wo- 
mit der  zweite  Band  anfängt,  ist  eine  artige  Geschichte  von  dem 
neckenden  boshaften  Geist,  der  daneben  wie  Rübezahl  einen 
gutmüthigen  Zug  hat.  Eine  Erzählung  von  eben  diesem,  wie 
er  einer  jungen  Wittwe,  die  durch  die  schlesisch- böhmischen 
Gebirge   fährt,   in   einem  Zauberschloss   eine  eigentliche  Vorge- 

*)  [Vgl.  hierzu  den  von  Zacher  herausgegebenen  Briefwechsel  über  das 
Nibelungenlied  von  C.  Lachmann  und  Wilhelm  Grimm  und  den  Brief  an  Jacob 
Grimm  in  der  Zeitschrift  für  Deutsche  Philologie  II,  1870.  S.  193—215.  343—365. 
515—528.] 


196      WUNDERGESCHICHTEN  UND  LEGENDEN   DER  DEUTSCHEN. 

schichte   von   dem   erleben   lässt,    was   ihr   hernach   in  Carlsbad 
in   der  Wirklichkeit  begegnet,   ist  gut,   und   beide  Stücke  sind 
bei    weitem   am   besten,    d.  h.  am  einfachsten  und  natürlichsten 
vorgetragen,    so    dass    sie    einem    anderen    Verf.    zuzugehören 
scheinen.     Der  Erzählung  von  dem  Graumännlein  liegt  auch 
vielleicht  Wahres  zu  Grund,   und  die  Sage  von  den  Zwergen 
im  Schwalberg   hat   an    sich  ihren  Werth,  aber  sie  ist  wirk- 
lich   gar    zu    unerträglich   dramatisch   dargestellt.      Die   Zwerge 
werden,    wie    das   in   anderen    Sagen    vorkommt,    gebeten,    ihr 
Küchengeschirr  Menschen   zu   leihen,    die   ihnen  dafür    als  ver- 
sprochenen   Lohn    nach     dem    Gebrauch    darauf   Leckerbissen 
hinstellen.     Ein  Schäfer  nimmt  diese  Speise  den  „Bergesalten" 
(Volksausdruck    für    Zwerge?)    weg    und    besudelt    ihnen    die 
Schüsseln,    wofür    sie    ihn    dann    strafen.      Den    zweiten    Band 
nannten  wir  zuerst,  weil   er  der  beste  ist;   im  ersten  steht  das 
bekannte  Märchen  Aschenputtel   voran,   aber  es  ist  dem  In- 
halte   nach    so    kahl    und    ohne   alle  die   vielen   schönen   Züge, 
z.  B.   nichts   kommt   von   dem  Baum   vor,   der   auf  der  Mutter 
Grab  steht,   von   den  Tauben,  die  geflogen  kommen  und  Hilfe 
leisten,  nur  am  Schluss  werden  sie  kurz  erwähnt,  dass  man  es 
ohne   alles  Vergnügen   liest.     Auch    die  Erzählung  ist  ungefähr 
in  der   unleidlichen  Art,   die    der  Bibliothekar  des  Romantisch- 
Wunderbaren*)  aufgebracht  hat,  und  wobei  stark  mit  Rauschgold 
besetzt  wird.     Z.  B.  gleich  S.  16:  „die  Haut  der  Dirne  glänzte 
wie  Lilien  in  der  Morgenröthe,  ihr  Busen  schwoll  wie  Knospen 
am   Frühlingsgesträuche,    die  Arme   blühten,   wie  Ranken    voll 
Frucht   und  Leben,    und    die   zarten  Füsse    waren   so  zierlich, 
als    hätte    der   Grossultan    sie    aus    China   verschrieben".      Und 
S.  21:   „als  aber  auch  Drell  und  Wolle  die  blendende  Schönheit 
des    lieben  Mägdleins    nicht    mehr    bergen    konnten    und  die 
1207  liebe    Sonne    ihnen    die    frische    Blüthe    der    Jugend    in    der 
holden  Magd  einst  beim  Frühstück  in  der  Laube  von  Geis- 
blatt und  Jasmin  in  ihrem  lieblichsten  Glänze  zeigte:  da  Hess 
sie    Satan    den    duftenden    Brautkranz    in    dem    köst- 
lichsten Haarschmucke  der  jungen  Nymphe  erblicken 

*)    [Vulpius.] 


WUNDERGESCHICHTEN  UND  LEGENDEN  DER  DEUTSCHEN.       197 

und  entzündete  ihren  Verdruss  zur  wilden  Flamme  des  Zorns 
und  der  Grausamkeit."  Wahrscheinlich  hat  der  Verf.  zur  Zeit 
der  romantischen  Dichtungen  der  Vorzeit  starke  Lieferungen  in 
Ritterromanen  übernommen  und  versucht  sich  jetzt  in  Sagen 
und  Märchen.  —  Die  drei  Johanniter  gründen  sich  wohl 
auf  eine  noch  gangbare  Volkssage.  Drei  Geister  haben  keine 
Ruhe,  weil  unter  dem  Haupte  des  einen  das  Archiv  der  Grafen 
von  Mansfeld  liegt,  das  durch  ihre  Erscheinung  endlich  an  den 
Tag  kommt.  Merkwürdig  ist  der  Eingang  von  den  beiden  Seen, 
die,  durch  einen  schmalen  Strich  Landes  getrennt,  feindselig 
gegen  einander  erscheinen;  der  eine  hat  süsses,  der  andere 
salziges  Wasser,  sie  strömen  immer  entgegengesetzt  und  be- 
rühren sich  niemals.  Wer  denkt  nicht  an  die  Sage  von  jenen 
Flammen,  die  sich  von  einander  abwendeten,  weil,  was  das 
Feuer  verzehrte,  im  Leben  sich  gehasst  hatte?  Im  Ross trapp, 
so  wie  in  der  Fortsetzung  Ilsenburg  ist  die  bekannte  Sage 
stark  überarbeitet,  mit  allerlei  Zuthaten  versetzt  und,  wie  jemand, 
der  die  treuen  Überlieferungen  in  der  Sammlung  deutscher 
Sagen  von  4en  Brüdern  Grimm  damit  vergleichen  will,  leicht 
erfahren  kann,  sehr  verschlechtert. 

Hätte  der  Verf.  auf  ein  Paar  Bogen  die  Sagen,  wie  er  sie 
gehört  hatte,  ohne  etwas  auszulassen,  aber  auch  ohne  die  Zu- 
that  von  falschem  Gewürz  gerad  und  schlicht  erzählt,  so  wären 
wir  ihm  für  den  wenn  auch  kleinen  Beitrag  dankbar  gewesen. 
Denn  der  Werth  dieser  Überlieferungen,  worin  sich  bei  den 
Deutschen  so  gut,  wie  bei  anderen  Völkern,  Sitten,  Charakter 
und  Bildung  vergangener  Zeiten  darstellen,  wird  kein  Ver- 
ständiger mehr  ableugnen  und  sie  so  gut  zu  schätzen  wissen, 
als  etwa  die  griechischen  bei  Herodot  oder  die  römischen  bei 
Livius  oder  die  nordischen  bei  Saxo  Grammaticus.  Haben 
doch  auch  bei  uns  nicht  bloss  Dichter,  sondern  auch  Geschicht- 
schreiber, die  Sinn  für  das  Lebendige  haben,  wie  z.  B.  Johannes 
Müller  sie  der  Betrachtung  und  Achtung  werthgehalten,  und 
dabei  kann  man  leicht  überhören,  was  eine  Eintagsfliege  darüber 
brummt  oder  ein  litterarischer  Thurmwärter  etwa  darüber  ausruft. 

[anonym.] 


198  KOLOCZAER  CODEX  ALTDEUTSCHER  GEDICHTE. 


1369KOLOCZAER    (KOLOZER)  CODEX  ALTDEUTSCHER 

GEDICHTE. 

Herausgegeben  von  Johann  Nep.  Grafen  Mailätb  und  Johann  Paul  Köffinger. 
Pesth,  1817  bey  Konrad  Adolph  Hartleben.     464  S.  in  8. 

Leipziger  Litteratur-Zeitung  für  das  Jahr  1818.     Zweites  Halbjahr.     No.  172, 
am  8.  Juli  1818.     S.  1369— 1375. 

-L/er  würdige  ungrische  Gelehrte,  Martin  Georg  von  Kova- 
chich,  fand  im  Jahre  1811  auf  der  Capitular-Bibliothek  zu  Ko- 
locza,  tief  in  Ungarn,  eine  starke  Handschrift  altdeutscher  Ge- 
dichte, welche,  bis  jetzo  grösstentheils  unbekannt  oder  doch  un- 
gedruckt geblieben  waren.  Er  liess  in  Schlegels  Museum  IV, 
402  —  440  unter  dem  sonderbar  gewählten  unrichtigfen  Titel : 
„Konrads  von  Würzburg  Gesammtabentheuer"  eine  umständ- 
liche Inhaltsanzeige  einrücken,  und  seitdem  haben  wohl  mehrere 
Freunde  der  altdeutschen  Poesie  die  Benutzung  und  Ver- 
gleichung  dieser  Handschrift  gewünscht.  Wir  sehen  gegen- 
wärtig, und  vermuthlich  auf  Unkosten  des  zuerst  genannten 
Herausgebers,  des  Grafen  Mailath,  nicht  die  ganze  Handschrift, 
sondern  einen  guten  Theil,  etwa  ein  Viertel  des  gesammten 
Inhalts  rasch  im  Druck  herausgegeben.  Ein  Unternehmen,  das 
zwar  wegen  der  guten  Absicht  und  darauf  verwandten  Mühe 
Lob,  hingegen  auch  den  Tadel  verdient,  dass  es  sich  nicht  um 
die  Vergleichung  älterer  und  besserer  oder  doch  aushelfender 
Abschriften  bekümmert,  sondern  den  Text  ganz  roh,  bloss  mit 
hinzugefügter  Interpunktion  aufgestellt  hat.  Nun  aber  befand 
sich  zu  Rom,  wie  man  längst  wusste,  und  befindet  sich  jetzt 
zu  Heidelberg  ein  sehr  zugänglicher  und  noch  vollständigerer 
Pergament -Codex  derselben  Sammlung  (Cod.  palat.  341,  s. 
Wilkens  Verzeichnis  S.  417  —  428).  Ferner  bewahrt  die  kais. 
Bibliothek  zu  Wien  eine  kleinere,  aber  ältere  Sammlung,  in 
welcher  viele  der  in  jenem  grösseren  befindlichen  Gedichte  an- 
getroflFen  werden.  Dies  hätte  freilich  der  Kritik  des  Textes 
mannigfaltigen  Stoff  dargeboten.  Wenn  inzwischen  Kec.  über- 
legt, wie   unsicher,   schwankend   und  fehlerhaft  die    bisherigen 


KOLOCZAER  CODEX  ALTDEUTSCHER  GEDICHTE.  199 

Grundsätze,  besonders  der  altdeutschen  Grammatik  beschaffen 
gewesen  sind,  und  dass  dazu  von  einem  Anfänger  in  diesem 
Fache,  wie  Herr  Köffinger  zu  sein  scheint,  keine  eigentlich 
kritische  Ausgabe,  sondern  eine  blosse  Durcheinanderwerfung 
verschiedener  Lesarten  zu  erwarten  gewesen  sein  dürfte,  so 
steht  er  gern  von  jener  Forderung  ab  und  nimmt  mit  dem  ge-  1370 
gebenen  Abdruck  vorlieb.  Tadelnswerth  in  jedem  Sinne  scheint 
ihm  aber  die  Aufnahme  solcher  Stücke,  die  bereits  und  zwar 
besser  gedruckt  herausgegeben  waren,  wohin  das  Gedicht  von 
der  goldenen  Schmiede  S.  1  —  51  und  der  arme  Heinrich 
S.  421  — 464  gehören;  diese  Bogen  hätten  füglicher  mit  anderen 
Erzählungen  gefüllt  werden  sollen. 

Die  übrigen  Stücke  sind  dem  Inhalt  nach  nicht  übel  aus- 
gewählt, und  besonders  gehören:  die  Wiener  Meerfahrt  und 
Pf  äff  Amis  zu  den  besseren  und  lebendigeren  Erzeus^nissen 
des  13.  Jahrhunderts.  Von  Reinhart  Fuchs  haben  die  Gebrüder 
Grimm  längst  eine  Ausgabe  angekündigt,  welche  hoffentlich  die 
Lücke  der  Kolotzer  Handschrift  (Vorrede  S.  X)  zu  ergänzen 
vermag  oder  über  die  auch  in  der  pfalzer  Handschrift  zum 
Theil  anders  erscheinende  Auslassung  Auskunft  gewähren  wird. 
Das  schöne  Gedicht:  Crescentia  S.  241  ff.  ist  zum  Theil 
wörtlich  nach  der  früheren  Dichtung,  welche  sich  in  der  un- 
gedruckten Reimchronik  aus  der  Mitte  des  12.  Jahrhunderts 
findet,  behandelt.  Es  ist  höchst  anziehend  zu  vergleichen,  worin 
der  ältere  Reimer  dem  späteren  nicht  nach-,  sondern  überall 
beinahe,  die  Sprödigkeit  des  Versbaues  abgerechnet,  vorsteht. 
Die  schönsten  Gedanken  und  den  frischesten  Ausdruck  hat  der 
frühere  Dichter  bei  aller  seiner  Herbheit. 

Wir  wollen  aus  dieser  Crescentia  einige  Proben  heben,  wie 
es  um  die  Correctheit  der  hier  gelieferten  Abdrücke  stehe.  So- 
genannte Kleinigkeiten,  wie  mochte  st.  mohte,  untz  st.  unz, 
die  st.  diu  (Nom.  Sing.  Fem.  und  Nom.  PI.  Neutr.)  mögen, 
weil  sich  die  Fehler  zu  ofl  wiederholen,  dabei  übergangcen 
werden.  Zeile  5  lese  man  Wunsches  statt  wunschez,  —  30. 
<wert  st.  Schwert,  —  37.  streiche  man  die  falsche  Conjectur 
want,  —  55.  lese  man:  Lateran,  —  58.  romere  st.  romer, 
—  59.  60.  mere,  here  st.  mer,  her,  —  68.  sie  sprachen  st. 


200  KOLOCZAER  CODEX  ALTDEUTSCHER  GEDICHTE. 

sie  sprach,  —  74.  sus  st.  sust,  —  76.  kuniginne  st.  kuni- 
ginnen,  —  77.  umbe-vienc  st.  umbe  vienc,  —  91.  ratgebe 
st.  Rathgebe,  —  107.  Hb  es  st.  liebes,  —  126.  wort  sie  st. 
wort,  —  129.  benige  soll  so  viel  sein  als  winie  (amica,  uxor), 
der  neue  Dichter  schrieb  aber  winige,  dem  Reim  aufmenige 
zu  Gefallen,  —  130.  ervreischet  st.  er  vreischet,  —  141.  du 
enwandels  mir  st.  du  wandest,  —  142.  statt:  so  bist  du,  diu 
1371  die  schände  hat,  wäre  besser:  diu  den  schaden  hat,  —  156. 
gefrei  scheut  st.  ge  frischent,  175.  wundern -schire,  —  189. 
stehet: 

daz  wir  an  unser  veine 
unser  stunden  meine 
rügen  usw. 

man  lese:     daz  wir  an  unser  venie  (oder  venige) 
unser  sunden  menie  (menige)  usw. 

201.  1.  empor-lanc,  —  210.  statt  des  vermutheten  im  ist  zw 
lesen  ich,  —  222.  der  werlde  spot  st.  tot,  —  223.  zwene 
st.  zween,  —  229.  nu  sich  st.  ru  sich,  —  231.  schonez  bette- 
gewete  st.  bette,  gewete,  —  246.  das  fehlerhafte  gesungen 
hätte  gar  nicht  gedruckt  werden  dürfen,  —  260.  wie  ist  iv  st. 
ich  uch,  —  262.  hui  de  st.  holde,  —  269.  377.  mit- alle  st. 
mit  alle,  —  279.  281.  1.  verlurst,  verholn  st.  ver  lurst,  ver 
holn,  —  304.  sahen  st.  Sachen,  —  312.  ist  das  Komma  hinter 
brewen  (bruwen)  zu  löschen  und  312  hinter  vrowen  zu  setzen, 
—  330.  iungest  st.  Jungest,  349.  störte  st.  stoerte,  352.  359. 
iv  st.  ivch,  —  358.  Rome,  —  362.  willen  st.  wille,  —  370. 
haben  st.  hohen,  —  371.  diese  Zeile  ist  getrost  ganz  zu 
tilgen,  —  379.  ist  das  Komma  hinter  hunt  zu  streichen,  — 
382.  tiefe  st.  tieflfe,  —  390.  er-beizten  st.  er  beizten,  — 
392.  daz  st.  das,  —  395.  kneht'  st.  kneht,  —  404.  ir  vrowen 
st.  vrowe,  —  mit  sne-wizer  hende  st.  sine  wizer,  —  419. 
wäzzer  st.  wasser,  —  433.  kucket'  ist  ganz  recht  und  heisst: 
erquickte,  brachte  wieder  zum  Leben;  der  Reim  sin  zu  heim 
dagegen  bedenklich,  —  447.  swes  st.  swez,  —  445.  durch- 
recken, —  456  ist  das  Komma  hinter  sie  zu  tilgen,  —  457. 
unscult  st.  unsult,  wie  das  Wort  von  sollen  stammt,  —  464. 
in  st.  im,  —  490.  daz  st.  ditz,  —  500.  herren  st.  herre. 


KOLOCZAER  CODEX  ALTDEUTSCHER  GEDICHTE.  201 

Dies  ist  es,  was  Rec.  in  500  ganz  zufällig  zu  der  näheren 
Durchsicht  genommenen  Zeilen  anzumerken  findet.  Das  Meiste 
darunter  mag  der  Handschrift  selbst  zur  Last  fallen,  die  ver- 
muthlich  sehr  leserlich  geschrieben  und  von  dem  Herausgeber 
sorcrfaltior  ("was  immer  rühmlich  anerkannt  werden  muss)  in  dem 
Abdruck  corrigirt  worden  ist.  Rein  und  richtig  aber  darf  ein 
solcher  Text  nicht  genannt  werden.  Da  die  heidelberger  Hand- 
schrift selbst  in  kleinlichen  Fehlern  mit  der  Kolotzer  überein- 
kommt, so  möchte  man  fast  vermuthen,  dass  die  letztere  eine 
Afterabschrift  der  ersteren  sei.  Um  ungefähr  zu  erkennen  zu 
geben,  wie  das  Gedicht  ursprünglich  gelautet  haben  möge, 
wollen  wir  nicht  nur  die  Zeilen  594  —  688  in  einem  gereinigten 
Texte  hersetzen,  sondern  auch  die  Parallelstelle  aus  der  Quelle 
des  späteren  Dichters,  nämlich  der  obenerwähnten  um  hundert 
Jahre  älteren,  noch  völlig  ungedruckten  Reimchronik  hinzufügen. 
Es  möchten  sich  in  der  ganzen  altdeutschen  Poesie  wenig  so 
merkwürdige  Vergleichungen  darbieten. 

dii  rede  was  dem  \nztuom  zorn, 
'  ein  eit  von  im  was  gesworn, 
daz  er  ir  mit  valscher  kunst 
erwürbe  des  herren  Ungunst. 

mit  grimme  gie  er  in  den  sal.  1372 

da  die  meide  sazen  uberal; 
de  er  die  vrowen  an  sach, 
disii  wort  er  zorniclichen  sprach: 
„o  we.  du  unholde, 
sizzestu  hie  mit  golde 
gezieret  unt  behangen? 
ez  ist  dir  wol  ergangen, 
ich  wil  des  wesen  sicher; 
du  soltest  billicher 
da  ze  holze  varn, 
danne  meide  hie  bewarn! 
ich  kan  nicht  wizzen,  nmbe  waz 
ich  mich  gegen  dir  so  vergaz, 
daz  ich  des  je  geruchte 
vnde  zu  dir  besuchte 
deheinen  minen  willen; 
man  solde  dich  mit  besemen  villen!'*  — 
„ich  enruche  nicht,  waz  ir  spreht, 


202  KOLOCZAER  CODEX  ALTDEUTSCHER  GEDICHTE. 

ir  tuot  mir  niichel  vnreht, 
wan  ich  ü  iniiien  dienst  bot, 
daz  ir  mich  liezet  an  not; 
ich  en  bin  kein  vnholde."  — 
der  viztuom  sie  wolde 
mit   den  fiizen  stozen, 
vf-sprungen  ir  genozen 
vnt  werten,  daz  ez  niht  gescach. 
do  er  sich  an  ir  niht  gerach, 
dannen  schiet  er  vnvro, 
michel  was  sin  dro. 
do  want  sie  ir  hende: 
„nu  bin  ich  eilende, 
luzel  mir  daz  frume  was, 
daz  ich  des  wages  genas, 
nu  miioz  ich  mit  itwizzen  sin; 
daz  erbarme  dich,  herre  trehtin!"   — 
do  rieten  dii  magetin 
daz  sie  ir  weinen  lieze  sin 
vnt  ir  herren  klagete, 
nimmer  er  irz  versagete: 
„er  rilltet  dir  wot  mit  eren." 
sie  wolt  sich  dran  niht  keren: 
„ich  wil  mime  herren  guot 
niht  betrüben  sinen  muot 
durch  dehein  ungemach; 
daz  mir  der  viztuom  übel  sprach 
vnt  swaz  er  hat  an  mir  getan, 
daz  wil  ich  allez  lazen  stan 
immer  ungerochen; 
ia  hat  er  mich  besprochen, 
er  wolt  mich  gerne  s wachen!"  — 
der  viztuom  liez  im  machen 
einen  slüzzel  zu  der  kamern; 
des  muoz  min  herze  iamern, 
daz  er  sie  bracht  in  arebeit 
vnt  in  so  groze  herzeleit! 
der  hunt,  der  vngetrtlwe  man 
huop  sich  zu  der  kamern  san; 
als  er  sie  lise  ufsloz, 
do  wart  ein  michel  wintstoz. 
i  in  dem  selben  winde 

sneit  er  ab  dem  kinde 


KOLOCZAER  CODEX  ALTDEUTSCHER  GEDICHTE.       203 

daz  houbl  mit  dem  »werte, 
als  sin  bosheit  gerte, 
do  was  sunde  \nit  schade  groz. 
der  ^Towen  leget"  erz  in  die  schoz, 
sam  ob  sie'z  selbe  hete  getan, 
sa  ze  hant  huop  er  sich  dan 
vor  sines  herren  bette, 
ez  duht'  in  aUez  wette, 
waz  im  von  ir  was  geschehen, 
dem  herzogen  begunde  er  iehen: 
„ez  wer  ein  teil  ze  spate 
nach  der  hanen  krate, 
er  solde  balde  utstan 
zu  der  metten  gan.  ' 

ez  schine  der  tagesterne."* 
„ich  slief  noch  viel  gerne; 
mit  der  metten  du  mich  mit! 
min  meisterin  weiz  wol  die  zit, 
nu  ervar  mir,  waz  daz  mache 
daz  sie  nicht  enwache: 
ich  sich  wol,  ez  ist  tag."  — 
er  gie,  da  du  vrowe  lag 
vor  allem  meine  bloz. 
der  tür  tet  er  einen  stoz 
daz  sie  brast  enzwei. 
eia,  wie  lute  er  schrei: 
„woluf  alle  die  hie  sint! 
ja  hat  du  morderin  daz  kint 
ermordet  an  dem  arme  etc. 
Diese   kleine   Stelle,   auf  die   wir   uns   des  Raumes   wegen 
beschränken  müssen,  lautet  in  der  älteren  Bearbeitung  folgender- 

gestalt  : 

mit  zorne  gie  er  in  den  sal, 

dar  sazen  die  megede  vberal, 

er  sprach:  „waz  huotes  duo  dase, 

vbele  horn-blase! 

duo  Soldes  billecher  da  ze  holze  varn, 

dan  die  megede  hie  bewarn: 

duo  bist  ein  \niholde 

vnde  sizzest  hie  behangen  mit  golde!" 

sie  sprach:  „goteweiz  her  guot  kneht, 

ir  tuot  mir  michel  unreht; 

wände  ich  iu  min  dienest  enpot 


204  KOLOCZAER  CODEX  ALTDEUTSCHER  GEDICHTE. 

daz  ir  mich  liezet  ane  not; 
got  weiz  wol  die  scuolde 
ob  ich  bin  ein  unholde, 
oder  ie  deheines  zouberes  gephlac". 
er  wolde  ir  tuon  einen  slac, 
stozen  mit  den  füzen, 
die  megede  in  enliezen; 
dannen  schiet  er  unvro, 
vil  michel  was  sin  dro. 
do  want  sie  ir  hende, 
sie  sprach:  „ach  mich  endende! 
daz  ich  des  wages  genas, 
luzzel  hiefet  mich  daz. 
1374  nu  muoz  ich  mit  itewizzen  sin, 

daz  irbarme  dich,  herre  trechtin, 
durch  dine  guote 
ia  sint  die  mine  note 
noch  vil  ungeslizzen, 

er  hat  mir  manige  hoende  verwizzen!"  — 
do  rieten  ir  diu   magetin, 
daz  sie  ir  weinen  lieze  sin, 
vnd  clagete  iz  ir  herren, 
der  rihtet  iz  nach  dinen  eren; 
wir  megede  sprechen  alle  darzuo; 
unmere  ist  uns  sin  dro, 
er  sol  es  sere  intgelden, 
daz  er  dich  ie  torste  geschelden". 
si  sprach:    „ich  enwil  in  niht  truoric  gesezzen, 
er  mac  mich  es  wol  irgezzen; 
daz  er  mir  ze  leide  hat  getan 
daz  wil  ich  also  lazen  stan 
immer  ungerochen; 
er  hat  mir  an  scuolde  vil  leides  gesprochen. 

Ein  smit  mit  sinem  hamere 
der  worhte  zuo  der  kamere 
einen  sluzzel  vil  veste, 
daz  iz  nieman  ne  weste, 
wan  der  gote- leide, 
der  swuor  im  zwene  eide, 
daz  er  in  daz  wol  hele, 

daz  er  sich  in  der  vrowen  kemenaten  verstele, 
des  abendes  so  spate 


KOLOCZAER  CODEX  ALTDEUTSCHER  GEDICHTE.       205 

er  gienc  zuo  der  vrowen  keuienaten, 

alse  er  die  kamenaten  vf  entsloz, 

do  wart  ein  michel  wintstoz; 

in  dem  selben  winde. 

do  sneit  er  dem  kinde 

daz  houbet  abe  mit  dem  swerte, 

sam  ez  diu  "VTOwe  ermordet  bete. 

er  leget'  ez  ir  an  die  scoze. 

do  tet  er  scaden  grozen 

der  goteleide  vizetuom 

der  verloz  sin  rehtez  hertuom. 

der  vizetuom  gie  so  drate 

zuo  sines  herren  kemenaten. 

er  sprach:  ^herre.  ir  solt  ufstan 

zuo  der  mettene  gan. 

ja  schinet  der  tagesteme, 

ir  ne  sliefet  nie  neheines  morgenes  so  gerne". 

der  herre  im  antwuorte 

mit  susgetanen  worten: 

^der  mettene  du  dich  virmit. 

biz  iz  mine  meisterinne  dunke  zit: 

ez  enist  noch  niht  ze  spete. 

ich  wene  dehein  hane  noh  krete 

hinaht  bi  dirre  naht; 

ich  ne  weiz,  warumbe  du  mich  irwekit  hast; 

nu  irvar,  waz  daz  mache, 

daz  min  meisterinne  selbe  nin'erwache*. 

do  gienc  er  also  drate 

zuo  der  vrowen  kemenaten. 

uf  huop  er  den  fuoz, 

er  tet  der  ture  einen  stoz 

daz  sie  al  ce  brast  en-ein.  1375 

vil  luote  er  ir  zuo  screi: 

-uf.  nf.  alle  die  hie  sin! 

ia  hat  diu  valendin 

daz  kint  ermordet  an  dem  arme  etc. 

Kennern  der  altdeutschen  Litteratur  braucht  es  nicht  erörtert 
zu  werden,  dass  die  Redensarten  der  zuletzt  mitgetheilten  Re- 
cension  der  altepischen  Sprache  merklich  näher  liegen.  —  Wir 
ermuntern  schliesslich  die  Herausgeber  dieser  Sammlung,  in 
ihrem  Eifer  nicht  zu  erkalten,  sondern  namentlich  in  den  übrigen 


206  REINECKE   FUCHS. 

Bibliotheken,  Klöstern  und  Archiven  Ungerns,  Siebenbürgens 
und  Croatiens  zu  forschen,  ob  nicht  in  ihnen  andere  und  viel- 
leicht wichtigere  Denkmäler  der  deutschen  Sprache  aus  älteren 
Jahrhunderten  noch  verborgen  liegen. 

[anonym.] 

1375  REINECKE  FUCHS. 

Ein  Volksbuch.     Aus   den  plattdeutschen  Reimen   in  hochdeutsche  Prose  aufs 

neue  getreu  übergetragen.    Mit  vielen  Kupfern.    Tübingen, 

bey  C.  F.  Oslander.     1817.     209  S.  in  Queroctav. 

Leipziger  Litteratur- Zeitung  für  das  Jahr  1818.     Zweites  Halbjahr, 
No.  172,  am  8.  Juli  1818.     S.  1375  —  1376. 

Uie  Kupferstiche,  um  derentwillen  die  vorliegende  Bear- 
beitung des  berühmten  Gedichtes  unternommen  worden  sein 
mag,  sind  im  Ganzen  nicht  missrathen  und  besser  in  das  Wesen 
der  Thierfabel  eingedrungen,  als  die  Bilder  der  Gottschedischen 
Ausgabe.  Es  kommt  nämlich  nicht  darauf  an,  den  Löwen, 
Bären,  Fuchs  etc.  naturgeschichtlich  treu  vorzustellen,  sondern 
wie  diese  Geschöpfe  von  der  Fabel  mit  der  menschlichen  Rede 
begabt  worden  sind,  so  soll  auch  der  Künstler  ihre  Gestalt, 
Haltung  und  Gesichtszüge  aus  dem  bloss  Thierischen  heraus- 
arbeiten und  ihnen  den  feineren  Ausdruck  des  Menschen  zu 
leihen  wissen.  Auf  solcher  Verschmelzung  und  Idealisirung 
thierischer  Formen  beruht  allein  das  Ergötzliche  von  dergleichen 
Bildern,  ja  die  Natur  der  Fabeln  insgemein.  Wir  finden  daher 
die  Holzschnitte  der  älteren  Ausgaben  des  sechszehnten  und 
siebzehnten  Jahrhunderts  doch  noch  mehr  im  Geiste  des  Gedichts, 
einige  darunter  sind  vortreflflich  zu  nennen,  und  nach  ihnen 
sollten  neuere  Künstler  studiren,  wenn  sie  die  Sache  noch 
weiter  zu  bringen  gedächten.  Auf  den  gegenwärtigen  Zeich- 
nungen sind  uns  viele  Thiere  zu  natürlich  und  zu  kalt  darge- 
stellt, namentlich  scheint  der  Löwe,  die  Löwin,  der  Bär,  Affe 
und,  was  noch  mehr  zu  bedauern,  der  Hahn  nirgends  gelungen 
und  der  Thierfabel  gemäss.  Lob  hingegen  verdient,  dass  die 
Hauptgestalt,  Reineke  selbst,  auf  allen  Bildern  am  besten  ge- 
troffen worden  ist,  besonders  haben  uns  seine  Stellungen  S.  149. 
117  und  49  gefallen.    Das  Pferd  mit  dem  Füllen  S.  117    durfte 


REINECKE  FUCHS.  207 

auch     wie    in    der    Fabel    selbst    natürlich   genommen   werden. 
Wo  aber  der  Künstler  die  Hofversammlung  darstellen  will  (S.  1. 
10.  58),    zeigt    sich    das   Mangelhafte   seiner   Manier    am    deut- 1376 
liebsten:    es    fehlt    an    aller   lebendigen    Composition   und   Ver- 
theilung. 

Die  Bearbeitung  des  Textes  ist  ganz  lesbar,  wiewohl  sie 
weit  hinter  der  Gefügigkeit  und  feinen  Wendung  des  platt- 
deutschen Verses  zurücksteht.  Besonderen  Fleiss  hat  der  Verf. 
der  Übersetzung  nicht  darauf  verwendet,  noch  weniger  ein 
gründliches  Studium  des  Originals  verrathen.  Dies  beweist 
schon  die  ungleiche  Behandlung  der  Eigennamen.  Denn  wenn 
z.  B.  das  niederdeutsche  Brune,  Plückebüdel,  Krassefoet  in 
Braun,  Pflückebeutel  (plücken  ist  lieber  das  hochdeutsche 
rupfen,  zausen),  Kratzfuss  verändert  wird,  so  hätte  auch  die 
Krähe  nicht  Scharfenebbe,  sondern  Scharfschnabel,  die 
Ente  nicht  Alheit,  sondern  Adelheit  benannt  werden  sollen. 
(Man  kann  aus  Schützes  Idiotikon  sehen,  dass  Alheit  oder  Alke 
im  Niederdeutschen  eine  dumme  Gans  oder  Ente  .bezeichnet.) 
Dieselbe  Bemerkung  triflft  die  Übersetzung  oder  Beibehaltung 
der  Bauernamen,  z.  B.  Kückelrei  S.  23  ist  ganz  plattdeutsch, 
im  Hochdeutschen :  Gaukelrey,  Gückelrey :  so  gebraucht  der  alte 
Dichter  Walther  von  der  Vogelweide  (Manessische  Sammlung 
Th.  1,  S.  105  [82,  21])  Guggaldei  und  Meister  Frauenlob  (das.  2, 
S.  218)  Guggelgiege  von  dummen,  bäurischen  Leuten.  Einige- 
mal sind  dem  neuen  Bearbeiter  nicht  so  wohl  Schwierigkeiten, 
sondern  andere  Bedenklichkeiten  bei  seiner  Übersetzung  in  den 
Weg  getreten,  z.  B.  S.  38,  und  er  hat  dann  lieber  sein  Original 
ganz  bei  Seite  gesetzt.  Der  feinen  Welt  mag  freilich  mancherlei 
unanständig  scheinen,  was  man  im  fünfzehnten  Jahrhundert  und 
noch  heutiges  Tags  bei  unverdorbenen  Landleuten  naiv  heraus- 
sagt.  Diese  Unschuld  selbst  in  Indecenzen  hat  unsere  gebildete 
Zeit  längst  eingebüsst,  darum  kann  sie  auch  die  Lust  der  Thier- 
fabel  eigentlich  nicht  mehr  vertragen,  und  der  alte  Schalk  von 
Dichter,  wenn  ihm  angemuthet  worden  wäre,  sein  Werk  so  ein- 
ziu*ichten,  dass  es  unseren  Damen  auf  den  Putztisch  gelegt 
werden  könnte,  hätte  sicher  die  Hand  davon  abgelassen. 

[anonym.] 


208     SCHOTTISCHE  LIEDER  UND  BALLADEN  VON  WALTER  SCOTT. 

1502  SCHOTTISCHE  LIEDER  UND  BALLADEN  VON 

WALTER  SCOTT. 

Uebersetzt    von  Henriette   Sclmbart.     Leipzig   und  Altenburg  bey  Brockhaus. 
1817.     LH  und  259  S.  8. 

Leipziger  Litteratur- Zeitung  für  das  Jahr  1818.     Zweites  Halbjahr, 
No.  188,  am  27.  Juli  1818.     S.  1502—1504. 

Vt  ir  müssen  uns  bei  der  Anzeige  dieses  Buchs  kurz  fassen, 
da  wir  es  weder  viel  loben  können  noch  besonders  tadeln 
mögen.  Nach  dem  Titel  sollte  man  meinen,  als  sei  Walter 
Scott,  der  beliebte  Dichter  des  heutigen  Englands,  Verfasser  dieser 
Lieder;  so  gern  wir  sein  Talent  achten,  würde  ihm  doch  damit 
zu  viel  Ehre  geschehen.  Er  ist  blosser  Sammler  und  Heraus- 
geber, hat  sich  aber  im  Stil  der  Volkspoesie  genug  geübt  und 
wo  nicht  ganze  Arien,  mitunter  doch  einzelne  Töne  und  Wen- 
dungen in  die  Unschuld  dieser  herrlichen  Gesänge  eingelegt. 
Des  Echten  bleibt  freilich  genug,  und  es  lässt  sich  Gottlob  auch 
nicht  machen.  Noch  viel  weniger  lässt  es  sich  übersetzen. 
Rec.  hat  es  gleichwohl  über  sich  genommen  und  einige  dieser 
Verdeutschungen  mit  den  Originalen  verglichen,   da  findet  sich 

1503  denn  nun  alles,  was  sich  aus  der  verwandten  schottischen 
Sprache  gleichsam  von  selber  auch  im  Deutschen  ausdrückt 
und  reimt,  ganz  gut  übergetragen,  z.  B. 

the  youngest  stude  upon  a  stane, 
the  eldest  came  and  pushed  her  in 
S.  24.     Die  jüngste  stand  auf  einem  Stein, 

Die  älteste  kam  und  stiess  sie  hinein; 

allein  wo  man  sich  nicht  so  helfen  kann,  da  gerathen  sogleich 
vornehme  und  steife  Wörter  unter  diese  rührenden,  einfachen 
Volksweisen,  als  wenn  eine  geputzte  Dame  sich  unter  natür- 
liche Landmädchen  mengen  wollte.     Z.  B.  im  Lied  heisst  es: 

but  how  can  I  gang  maiden  like, 
when  maiden  I  am  nane, 
have  I  not  born  seven  sons  to  thee, 
and  am  with  child  jigain  ? 

und  in  der  Übersetzung  S.  116: 


SCHOTTISCHE  LIEDER  UND  BALLADEN  VON  WALTER  SCOTT.     209 

Doch  wie  kann  ich  gehn  Mädchen  gleich, 

Da  ich  kein  Mädchen  frey? 

Gebahr  ich  dir  nicht  sieben  Söhn' 

und  trag  ein  Pfand  aufs  neu? 
Da    ist    schon  in    der   zweiten    Zeile    das    „Mädchen    frey"    viel 
schlechter,    aber   in    der    vierten   das:    ein    Pfand    tragen    statt: 
wieder    mit    einem   Kinde    gehn     unerträglich.      Wenn   in    dem 
herrlichen  Lied  von  den  zwei  Schwestern  steht: 

he  made  a  harp  of  her  breast -hone 
whose  Sounds  would  melt  a  heart  of  stone, 
the   strings  he  framed  of  her  yellow  hair, 
whose  notes  made  sad  the  listening  ear 

und  in  der  Übersetzung  S.  137: 

er  macht  eine  Harf  aus  ihrem  Brustbein, 
deren  Ton  könnt'  schmelzen  ein  Herz   von  Stein, 
die  Saiten  aus  ihrem  gelben  Haar  er  erkohr, 
deren  Klang  macht  traurig  das  lauschende  Ohr. 

so  ist  das  vornehme  „er  erkohr"  unserem  Gefühl  höchst  widrig, 
überdem  der  nicht  bloss  einfache,  sondern  bedeutende  Satz,  dass 
in  der  Volkspoesie  das  zweite  Mal  Gedanken  und  Wörter  wie 
das  erste  Mal  folgen  müssen,  ganz  aufgehoben;  das  yellow  hair 
musste  eben  so  wie  das  breast -bone  die  Zeile  schliessen  und 
den  Reim  haben. 

Da  eine  jede  Übersetzung  von  Volksliedern  misslingen 
muss,  so  wollen  wir  nicht  mit  der  Verfasserin,  die  vermuthlich 
die  Schönheit  der  Originale  hinreichend  empfindet,  über  einzelne 
Ausdrücke  rechten,  die  sie  der  Sprache  nach  verfehlt  hat  (z.  ß. 
wenn  sie  the  bonny  milldams  durch:  den  muntern  Mühl- 
damm wiedergibt),  noch  ihre  getroffene  Auswahl  tadeln  (denn 
es  sind  drei  Viertel  der  Lieder  unübersetzt  geblieben)  noch  ihr 
vorhalten,  dass  ausser  Scotts  Minstrel  andere  Sammlungen, 
namentlich  die  von  Jamieson  zu  berücksichtigen  gewesen.  In 
dieser  steht  das  gedachte  Lied  von  der  bösen  Schwester  mit 
merkwürdigen  Abweichungen  S.  48  —  58  unter  dem  Titel  the 
twa  sisters.  Rec.  will  bei  dieser  Gelegenheit  einer  trefflichen 
Sammlung  schwedischer  Volkslieder  Erwähnung  thun  (Swenska 
Folkwisor  utgifne  af  Geyer  och  Afzelius.  Stokholm  1814), 
worin   man  S.  87  —  91    dieselbe  Sage    von    der  aus  dem  Brust-  1504 

W.  GRIMM,  KL.  SCHRIFTEN.      II.  14 


210  EINLEITUNG  IN  DAS  NIBELUNGENLIED  VON  MONE. 

bein  der  Ersäuften  gebauten  wunderbaren  Harfe,  deren  Stränge 
aus  dem  goldgelben  Haar  und  deren  Schrauben  aus  den  Fingern 
der  Unglücklichen  bestanden,  eigentlich  noch  ergreifender,  wie 
im  schottischen  Lied,  in  zwei  abweichenden  Recensionen,  einer 
westgothländischen  und  einer  faröischen,  lesen  kann.  Die  Harfe 
wird  in  den  Hochzeitssaal  getragen,  auf  den  ersten  Schlag  sitzt 
die  Braut  (die  neidische  Schwester)  im  Brautstuhl  und  lacht, 
auf  den  zweiten  Schlag  werden  ihr  die  Kleider  abgenommen 
(d.  h.  sie  soll  zu  Bett),  auf  den  dritten  Schlag  liegt  sie  todt 
im  Brautbett,  An  solchen  Beispielen  kann  man  sehen,  wie  die 
Sagen  und  Lieder  bei  allen  verwandten  Stämmen  des  germa- 
nischen Volks  umhergehen,  aber  nicht  auf  dem  vermittelnden 
Wege  von  Übersetzung  und  Erborgung,  sondern  auf  dem  viel 
wunderbareren,  wonach  Gott  jedem  Land  sein  Theil  als  etwas 
Ursprüngliches  und  lebendig  in  sei^ae  Besonderheit  Verwachsenes 

beschieden  hat. 

[anonym.] 


1867  EINLEITUNG  IN  DAS  NIBELUNGENLIED; 

zum  Schul-  und  Selbstgebrauch  bearbeitet  von  D.  F .  J.  Mone.    Heidelberg,  in 
Aug.  Oswalds  Univers.  Buchhandlung,   1818.    89  S.  in  8. 

Leipziger  Litteratur  -  Zeitung  für  das  Jahr  1818.     Zweites  Halbjahr. 
No.  233,  am  17.  September  1818.    S.  1857  —  1864. 

JL/rei  Abschnitte  dieser  Schrift  (§1  —  53)  nehmen  eine  mit 
Kenntnis  und  sichtbarer  Neigung  zur  Sache  abgefasste  Zu- 
sammenstellung der  bis  dahin  gelieferten  Arbeiten  und  ver- 
schiedenen Ansichten  über  das  Nibelungenlied  ein.  Bei  der 
gegenwärtigen  Lage  der  Dinge  wird  sie  vielen  nützlich  und 
solchen,  die  davon  schon  unterrichtet  sind  angenehm  und 
brauchbar  sein,  zumal  da  es  nicht  an  eingemischten  eigenen 
kritischen  Bemerkungen  fehlt.  Hat  das  Studium  erst  tiefer 
Wurzel  geschlagen,  so  kann  man  eine  solche  Ausführlichkeit 
wohl  aufgeben;  vielleicht  wäre  schon  jetzt  einer  und  der  andere 
ohne  Nachtheil  übergangen,  dem  es  mehr  um  eine  gelegentliche 
Äusserung,   als  eine  gründliche  Erforschung  zu  thun  war.     Zu 


EINLEITUNG  IX  DAS  NIBELUNGENLIED  VON  MONE.  211 

den  Litterarnotizen  §  2  bemerkt  Rec. ,  dass  es  keine  Pariser 
Handschrift  des  Nibelungenliedes  gibt  und  nur  durch  ein 
Missverständnis,  wie  er  von  Hrn.  Prof.  Göttling  selbst  erfahren, 
davon  die  Rede  gewesen.  Eine  Nachricht  von  der  Hundes- 
hagischen  Handschrift,  wornach  sie  vom  Jahre  1426  sein  soll, 
wiederholt  Rec.  auch  hier,  damit  sie  bestätigt  oder  berichtigt 
werden  kann.  §  8  wird  die  Sprache  des  Nibelungenliedes  die 
altschwäbische  genannt;  dabei  wäre  nicht  zu  vergessen,  dass 
dies  von  den  Haupthandschriften  zwar  gilt,  sonst  aber  die 
Sprache  sich  nach  der  Gegend  des  Schreibers  richtet  oder 
auch  desjenigen ,  aus  dessen  Munde  die  Dichtung  aufgefasst 
wurde.  Wenigstens  in  den  beiden  Bruchstücken  von  Görres 
finden  sich  unleugbar  niederrheinische  Formen  (Altd.  Wälder 
HI,  251).  Es  ist  nöthig,  in  solchen  Behauptungen  vorsichtig 
zu  sein,  weil  man  sonst  die  Entstehung  oder  Erhaltung  des 
Liedes  gewissen  Gegenden  zuzueignen  geneigt  werden  könnte: 
wir  halten  es  aber  noch  mit  der  Yilkinasage,  welche  nicht  nur 
deutlich  (auch)  Norddeutschland  bezeichnet  als  den  Ort,  wo 
die  Lieder  seien  vernommen  worden,  sondern  bis  zum  grie- 
chischen (mittelländischen)  Meer  die  Verbreitung  der  Sage  be- 
hauptet. Wer  möchte  also  wohl  sagen,  dass  in  niedersächsischer 
Sprache  das  Lied  nie  sei  gehört  worden?  —  §  21  wird  Nobling- 1858 
hört  bei  Hermann  von  Sachsenheim  nach  Göttling  von  den 
Nobeln  (Goldstücken)  hergeleitet :  Rec.  hält  das  für  ungegründet 
schon  darum,  weil  es  sonst  Nobelnhort  heissen  müsste:  es  sind 
gewiss  die  Nibelungen  gemeint.  —  Bei  der  Frage  nach  dem 
Dichter  des  Liedes  werden  die  Meinungen  in  zwei  Parteien 
getheilt,  je  nachdem  ein  oder  mehrere  Dichter  vorausgesetzt 
sind.  Lachmann  gehört  eigentlich  zu  beiden,  denn  er  nimmt 
einen  einzigen  Dichter  und  auch  viele  Ordner,  Diaskeuasten  an; 
schätzbar  bleiben  seine  Untersuchungen  an  sich,  doch  glaubt 
Rec,  dass  jene  Annahme  in  grosse  Schwierigkeiten  verwickele, 
aus  denen  er  sich  wenigstens  nicht  herauszuhelfen  wüsste,  und 
verweist  deshalb  auf  die  Leipz.  Litt. -Zeit.  (1817,  No.  94.  95. 
[S.  745-760  =  oben  S.  176-195]),  wo  er  sich  ausführlich  darüber 
erkläret  hat.  —  §  26  heisst  es,  dass  nichts  darauf  ankomme, 
ob  man  die  Nibelungen  als  Volkslied   betrachte  oder  nicht,   da 

14* 


212  EINLEITUNG  IN   DAS  NIBELUNGENLIED  VON  MONE. 

man  am  Ende  doch  zugestehen  müsse,  dass  jedes  alte  Helden- 
gedicht eine  geschichtliche  Umwandlung  des  alten  Glaubens 
sei.  Es  ist  wahrscheinlich,  dass,  wer  das  letztere  zugibt,  auch 
das  erstere  nicht  geradezu  verneinen  wird,  allein,  dass  man  jene 
Behauptungen  so  ohne  Widerspruch  durchsetzen  könne,  dünkt 
uns  sehr  zweifelhaft.  Z.  B.  Hr.  von  Schlegel  muss  bei  seiner 
Ansicht,  wornach  das  Gedicht  aus  allerlei  Sagen,  fränkischen, 
burgundischen  etc.  nach  vorsetzlichem  Plane  zusammengearbeitet 
und  mit  holden  Lügen  ausgeschmückt  ist,  eben  so  stark  sich 
dagegen  äussern,  als  über  die  Zusammenstellung  des  Atlas  mit 
Attila,  deren  doch  hier  in  Ehren  gedacht  wird.  —  Wenn  §  34 
drei  Perioden  für  die  Bildung  des  Nibelungenliedes  festgesetzt 
werden,  so  ist  dabei  nicht  zu  vergessen,  dass  dies  mehr  aus 
allgemeinen  abgezogenen  Grundsätzen  geschieht,  als  dass  deut- 
lich redende  Zeugnisse  dazu  auffordern.  Stellt  man  sich  das 
Nibelungenlied  vor  in  einer  stets  lebendigen  Bewegung  und 
darum  auch  Fortbildung,  glaubt  man  ferner,  dass,  sobald  es 
poetischen  Leib  und  Dasein  erhalten,  es  schon  in  Mannig- 
faltigkeit sich  äusserte  und  den  Keim  der  verschiedenen  Bil- 
dungen in  sich  trug,  so  wird  man  eine  solche  Annahme  erst 
ohne  Gefahr  für  die  Wahrheit  sich  erlauben  dürfen.  Es  ist 
nicht  mehr  als  eine  Handhabe,  um  die  Veränderungen  zusammen- 
zufassen, wie  mau  etwa  das  Menschenalter  zu  30  Jahren  an- 
nimmt, während  es  meist  darüber  oder  darunter  endigt.  Einen 
1859  Zweifel  gegen  die  erste  Periode  werden  wir  hernach  vorbringen. 
Bei  der  geschichtlichen  Erklärung,  nachdem  besonders  auch 
das  neben  der  aufgefundenen  Übereinstimmung  zwischen  Sage 
und  Geschichte  Hervorspringende,  Abweichende  und  Wider- 
sprechende aufmerksam  gemacht  ist,  tritt  die  Meinung  des  Ver- 
fassers (§52)  bestimmt  hervor.  Nämlich:  es  liegt  dem  Nibe- 
lungenlied keine  Geschichte  zu  Grunde,  vielmehr  be- 
ruht es  auf  der  alten  deutschen  Glaubenssage  und  ist  seinem 
Ursprünge  nach  ein  heidnisch  -  religiöses  Werk.  Als  mit  dem 
Untergang  der  alten  Götter  die  Sage  ihren  eigentlichen  Inhalt 
verlor,  wurde  ihm  aus  innerem  Bedürfnis  jener  geschichtliche 
Anschein  gegeben,  und  die  Thaten  aus  der  Zeit  der  Völker- 
wanderung  machten  jetzt  den  Hintergrund  der  alten  Sage  aus. 


EINLEITUNG  IN  DAS  NIBELUNGENLIED  VON  MONE.  213 

Dieser  Meinung  ist  Kec.  im  Ganzen  zugethan  und  hat  sie  schon 
verschiedentlich,  zuletzt  noch  im  Gegensatz  zu  der  von  Hrn. 
von  Schlegel  aufgestellten  Hypothese  vertheidigt.  Es  springt 
ja  bei  unbefangener  Betrachtung  so  vielfach  in  die  Augen,  dass 
die  geschichtlichen  Helden  nicht  die  Urheber  und  Vorbilder 
der  in  der  Dichtung  lebenden  sein  können;  z.  B.  an  dem  nor- 
dischen Atli,  der  mit  dem  historischen  Attila  weiter  keine  Ge- 
meinschaft hat.  Indes  hat  Rec.  Folgendes  näher  zu  bestimmen, 
vras  manche  Verschiedenheit  in  der  Anwendung  und  in  den 
Folgerungen  herbeiführt.  Wenn  man  nämlich  sagt,  die  alten 
Götter  nahmen  die  Gestalt  geschichtlicher. Helden  an,  weil  sie 
in  ihrer  ursprünglichen  zusammensinken  mussten,  so  darf  man 
nicht  vergessen,  dass  man  damit  nur  das  Vorherrschende  be- 
zeichnet, den  Gang  der  Entwickelung  in  einem  Resultat  scharf 
ausspricht.  Rec.  glaubt,  dass,  sobald  jene  Uranschauungen 
Ahndungen  über  göttliche  Dinge  irdisch  und  leiblich  in  einer 
Mythologie  sich  gestalteten,  auch  das  historische  Element 
wenigstens  schon  vorhanden  war  und  ausgedrückt  werden 
musste.  Die  Helden  und  Menschen  sind  alsbald  zur  Ver- 
sammlung der  Götter  gezogen,  oder  wenn  man  will :  die  Götter 
neigten  sich  zu  den  Menschen  herab  und  traten  unter  sie;  ja, 
der  Lichtstrahl  ist  durch  die  sranze  Natur  ausgetheilt  worden. 
Im  Fortgang,  bei  weiterer  Entfernung  von  dem  Ursprünglichen 
und  dem  I^bergewicht,  das  die  mannigfach  hervorbrechenden 
schönen  und  furchtbaren  Kräfte  des  Menschen  erhalten,  wird 
die  Bedeutung  (bis  zur  reinen  Wiederkehr)  zurückgedrängt, 
und  das  bloss  Sinnlich-Menschliche,  das  epische  Element  gewinnt 
die  Oberhand.  Bei  dieser  Ansicht  zeis^t  sich  gleich  eine  Ver- 
schiedenheit  in  den  Folcreruncren.  Der  Verf.  nimmt  an,  dass 
durch  das  eindringende  Christenthum  die  alte  Nibelungensage 
in  ihrer  eigentlichen  Bedeutung  erloschen  sei  (vgl.  §  34)  und: 
„die  christlich  gewordene  im  Verlauf  der  Zeiten  mit  ähnlichen 
geschichtlichen  Namen  die  leeren  Göttersagen  ausfiillte,  um  so 
mehr,  wenn  diese  geschichtlichen  Namen  auf  Attila,  die  Hunnen 
etc.  Bezug  hatten".  Dagegen  glaubt  Rec,  dass  vor  dem  Ein- 
brüche des  Christenthums  oder  ohne  Einfluss  desselben  die  1860 
Sage   bereits   einen   geschichtlichen   Charakter  gehabt.      Beweis 


214  EINLEITUNG  IN  DAS  NIBELUNGENLIED  VON  MONE. 

sind  allein  schon  die  Lieder  der  alten  Edda,  die  in  unseren 
Kreis  fallen,  wo  er  ganz  entschieden  vorwaltet,  obgleich  diese 
noch  keinen  Einfluss  des  Christenthums  erfahren,  im  Gegentheil 
sichtbar  unter  der  Herrschaft  der  heidnischen  Götter  stehen. 
Deutlich  spricht  auch  ein  Zeugnis  bei  Jornandes  von  Erman- 
rich  und  seinem  Untergang  durch  Saurle  und  Hamder,  welches 
Rec.  in  den  AM.  Wäldern  I,  223  —  227  angeführt  hat.  Wir 
sehen  hier  ein  Stück  aus  der  Mythe  schon  in  der  Mitte  des 
6.  Jahrhunderts  völlig  als  eine  historische  Begebenheit  behandelt. 

Auch  scheint  dem  Rec.  die  Weise,  in  welcher  sich  der 
Verf.  den  Eintritt  der  geschichtlichen  Namen  und  Thatsachen 
in  die  früheren  vorstellt,  zu  äusserlich  und  roh.  Gewiss  ist  er 
„aus  dem  inneren  Bedürfnis  menschlicher  Natur"  erfolgt,  nicht 
aber,  „um  dem  Liede  geschichtlichen  Anschein  und  Glauben 
zu  geben",  sondern  ohne  alle  Absicht,  dämm,  weil  theils  eine 
gewisse  innere  Verwandtschaft  der  Geschichte  mit  der  Sage, 
welche  Verwandtschaft  man  immerhin  aus  dem  ewig  zu  sich 
zurückkehrenden  menschlichen  Geiste  erklären  kann,  dazu 
nöthigte,  theils  aber,  weil  man  einen  Einfluss  der  Sage  auf  das 
Leben  selbst  nicht  ableugnen  darf,  wie  er  z.  B.  bei  jener  von 
von  Teil  dem  Schützen  sichtbar  ist. 

Der  letzte  dem  Verf.  ganz  eigenthümliche  Abschnitt  ist 
nun  der  Ausführung  jener  Behauptung  bestimmt  und  enthält 
nach  seiner  Überschrift  eine  mythologische  Erklärung 
der  Sage.  Er  stellt  gleich  voran:  eine  heilige  Urkunde  ist 
für  uns  das  Nibelungenlied.  Eine  Wahrheit  liegt  gewiss  darin, 
wenn  man  nur  glaubt,  dass  das  Lied  aus  dem  ursprünglichen 
Geiste  des  deutschen  Volks  hervorgegangen,  denn  es  gewährt 
alsdann  ein  Abbild  desselben  und  ist  mit  Recht  hochzuhalten. 
Glaubt  man  aber  auch,  wie  Rec,  dass  schon  früh,  und  so  weit 
irgend  Zeugnisse  reichen,  das  Lied  von  dem  geschichtlichen 
Charakter  durchdrungen  war,  so  würde  es  zuträglicher  und  ge- 
winnreicher sein,  die  Behauptung  so  zu  stellen:  der  Fabelkreis 
der  Nibelungen  hat  mit  der  Götterlehre  der  Deutschen  in  Zu- 
sammenhang und  Verbindung  gestanden.  Diese  Verbindung 
hat  ein  Beispiel  in  jener  der  nordischen  Wolsungensaga  mit 
der  Asalehre.     Ob   und  inwiefern  in  unserem  Falle  ein  solches 


EINLEITUNG  IX  DAS  NIBELUNGENLIED  VON  MONE.  215 

Herabsinken  von  dem  Rein -Göttlichen  in  das  Menschlich  -  Um- 
hüllte später  aus  blossem  Bedürfnis  poetisch  -  sinnHcher  An- 
schauung stattgefunden,  oder  ob  es  gleich  als  ein  solches  ver- 
mittelndes, nur  halb  sichtbares  Abbild  ein  noth wendiges  Glied 
in  dem  Kreise  gewesen?  Diese  Frage  kann  so  lange  ruhen,  bis 
sie  einmal  mit  Nutzen  zu  beantworten  neue,  doch  kaum  zu 
hoffende  Hilfsmittel  möglich  machen;  jetzt  würde  man  sich 
mit  allgemeinen  Schlüssen  nach  der  Analogie  zu  begnügen 
haben.  Die  Aufgabe  ist  fürs  erste  wohl  nur  diese:  die  im 
Ganzen  sowohl,  als  in  den  Einzelnen  ruhende  Idee  aufzuhellen 
und  die  Spur  der  ihnen  ohne  Zweifel  innewohnenden  Göttlich-  i86l 
keit  so  hoch  als  möglich  zu  verfolgen.  Dabei  ist  es  unumgäng- 
lich nöthig,  die  Sage  in  allen  ihren  Äusserungen  zu  übersehen, 
namentlich  kann  die  nordische,  in  dieser  Beziehung  viel  reinere 
auf  keine  Weise  bei  Seite  gesetzt  werden;  selbst  an  die  noch 
gangbaren  Überlieferungen  (Hausmärchen  H,  Stück  4  —  8)  muss 
Rec.  erinnern. 

Der  Verf.  dagegen  schlägt  einen  anderen,  eigentlich  ent- 
gegengesetzten Weg  ein,  der  von  der  Spitze  anhebt.  Nachdem 
im  Allgemeinen  (§  59  —  63)  die  Hilfsmittel  richtig  angegeben 
sind,  durch  welche  der  alte  Glaube  noch  zu  erforschen  ist, 
kommt  der  Verf.  auf  die  Einheit  der  Grundanschauungen  aller 
Völker  als  nothwendige  Folge  der  Einheit  des  Menschengeistes 
und  merkt  an,  dass  die  tiefsten  und  allgemeinsten  Ideen  in  der 
Anschauung  des  planetarischen  Lebens  gelegen.  Darauf  ge- 
denkt er  jener  verbreiteten  Mythe  von  dem  Tode  eines  guten 
Gottes  durch  einen  arglistigen  Feind,  wodurch  die  ganze  Welt 
bewegt  und  in  Trauer  versetzt  wird;  weil  aber  der  Gott  ewig 
und  unvergänglich  ist,  erscheint  er  zu  seiner  Zeit  aufs  neue 
und  wird  wiedergeboren.  Bekanntlich :  Kommen  und  Scheiden 
des  Lichts,  Tag  und  Nacht,  Sommer  und  Winter,  Ab-  und  Zu- 
nahme des  Mondes.  Diesen  Mythus,  schliesst  der  Verf.,  müssen 
die  heidnischen  Deutschen  auch  gehabt  haben,  und  er  sucht  ihn 
nun  in  der  Sage  von  Siegfried.  Seine  Aufgabe  ist,  jene  drei 
angedeuteten  Momente:  Tod,  Trauer  und  Wiedergeburt 
nachzuweisen,  wir  wollen  ihm  dabei  näher  folgen. 

Siegfried  wird  sogleich  (§  68)  für  den  Sonnengott  der 


216  EINLEITUNG  IN  DAS  NIBELUNGENLIED  VON  MONE. 

alten  Deutschen  erklärt  und  zwar  schon  seines  Namens  wegen, 
denn  auch  Othin,  der  skandinavische  Lichtgott,  heisse  Sigga 
(Sige)  und  es  zeige  sich  einerlei  Namenswurzel;  so  auch  liege 
in  der  Erwähnung  des  Odenwaldes  und  Odenheims  eine  leise 
Erinnerung  von  Othin s  Namen.  Allein  Sige  heisst  Othin 
selbst  nicht,  sondern  nur  einer  seiner  Söhne  (s.  die  Kenrungar 
im  4.  Abschnitt),  und  zwar  ist  dieser  eben  nur  aus  der  Wol- 
sungasaga  bekannt  als  ein  Ahnherr  Sigurds.  Käme  es  also 
.  auf  die  Verwandtschaft  des  Helden  mit  Othin  an,  so  würde  sie 
hier  viel  leichter  gefunden.  Ferner  hat  Sige  schwerlich  mit 
Siegfried  eine  Wurzel,  das  glossar.  eddic.  h.  v.  erklärt  es  durch 
homo  lentus,  tardigradus,  bringt  es  also  mit  siga,  altdeutsch 
eigen,  sinken  in  Verbindung.  Dagegen  führt  Othins  hierher 
gehöriger  Name  Sigarr  victor  nach  Angabe  der  Kenuingar 
auf  die  in  unserem  Fabelkreise  fremden  Siklinger.  In  dem 
Namen  Odenwalde,  Odenheim  etwas  anderes  zu  finden  als  die 
ganz  natürliche  Bedeutung:  öder,  grosser  Wald,  Ort  (vgl.  od  hin 
bei  Isidor)  scheint  dem  Rec.  äusserst  gewagt.  —  Doch  deut- 
licher vielleicht  als  der  Name  spricht  die  Sache?  Keineswegs, 
eine  Übereinstimmung  zwischen  Siegfried  und  Othin  dem  All- 
1862  vater  ist  nicht  zu  finden,  darum  erkennt  nun  der  Verf.,  auf 
die  mythische  Einheit  zwischen  Vater  und  Sohn  sich  stützend, 
jenen  in  Othins  geliebtem  Sohne  Baidur,  hauptsächlich  weil 
dessen  Tod  mit  unserem  Mythus  zusammenzuhängen  scheint. 
Erlaubt  wird  diese  Zusammenstellung  erst  dann,  wenn  sich  von 
Siegfrieds  Tode  dasselbe  mit  Gewissheit  sagen  lässt  (der  nor- 
dische Sigurd  müsste  aber  nun  auch  als  eine  Wiederholung  von 
Baidur  betrachtet  werden).  Noch  ist  anzumerken,  dass,  wenn 
der  Verf.  es  für  möglich  hält,  Sie^ried  (Sigurd)  sei  einer  der 
Hauptnamen  Othins  gewesen,  die  Edda  und  die  Kenningar,  die 
das  nicht  übersehen  hätten,  davon  nichts  wissen  und  diese  Be- 
hauptung mit  ziemlicher  Gewissheit  zu  verneinen  ist. 

Doch  Siegfried  wird  nun  (§  69)  dem  Inhalt  der  Sage  nach 
betrachtet:  seine  Ermordung  durch  den  feindlichen  Hagen  ist 
der  Tod  des  Sonnengottes.  Jene  nämlich,  behauptet  der  Verf., 
falle  bedeutend  in  die  Zeit  der  Sommersonnenwende,  und 
damit  bringt  er  in  Verbindung,  dass  auf  diesen  Tag  (24.  Juni) 
der  Tag  Johannes  des  Täufers  gelegt  worden,  der  Tag  nämlich 


EINLEITUNG  IN  DAS  NIBELUNGENLIED  VON  MONE.  217 

seiner  Enthauptung,  welche  daher  heidnisch  die  Ermordung 
Siegfrieds  gewesen.  Das  Alter  und  die  Bedeutung  des  Johannes- 
feuers, eines  durch  Deutschland  nicht  bloss,  sondern  auch  in 
Schweden  und  Finnland,  im  südlichen  Frankreich,  selbst  im 
Archipelagus  üblichen  Festes,  ist  nicht  zu  verkennen,  und  es 
kann  kaum  auf  etwas  anderes,  als  einen  Sonnendienst  Bezug 
haben;  schwer  aber  wird  es  schon  anzunehmen,  die  Enthauptung 
des  Johannes  sei  deshalb  auf  diesen  Tag  verlest:,  weil  an  ihm 
der  Tod  des  Sonnengottes  ursprünglich  gefeiert  worden.  Es 
ist  ein  dünner,  sehr  zweifelhafter  Faden,  der  die  grossen  Hansen 
(vgl.  Adelung  h.  v.)  an  den  christlichen  Johannes  knüpft;  sie 
selbst  sollen  wohl  erst  wieder  die  Anses.  Halbgötter  der  Gothen. 
nach  Jemandes  (c.  13)  sein,  diese  Halbgötter  aber  die  höchsten, 
die  Äsen,  die  nordischen  Lehrer,  und  endlich  müsste  durch 
Ase  auch  der  oberste  Lichtgott  noch  besonders  angedeutet 
werden.  Auf  die  Untersuchungen  von  Regnitzsch  (über  Trübten 
und  Truhtensteine ,  Gotha  1802)  ist  sich  nicht  zu  verlassen,  er 
hat  mancherlei  gesammelt,  aber  bei  ein  Paar  unbefangenen, 
natürlichen  Ansichten  alles  wild  unter  einander  geworfen.  Doch 
zugegeben  einmal,  das  Fest  habe  in  heidnischer  Zeit  den  Tod, 
das  Heruntersinken  des  geliebten  Sonnengottes  feiern  wollen 
(während  es  vielleicht  seinen  höchsten  Glanz  freudig  begrüsste, 
darum  wurden  alle  Geschäfte  auf  diesen  glücklichen  Tag  ver- 
legt), so  verbietet  doch  ein  Umstand  den  Tod  dieses  Sonnen- 
gottes in  Siegfrieds  Ermordung  wiederzufinden,  nämlich  dass 
diese  gar  nicht  auf  die  Sonnenwende  fällt.  Die  beiden 
Stellen  des  Nibelungenliedes,  von  denen  die  erste  nur  vom  Verf. 
angeführt  ist,  sind  folgende: 

2955  [678,  3  —  4].    (Günther  spricht):   vor  disen  sunne wenden  sei 

er  (Siegfried)  unt  sine  man 
sehen  hie  vil  manigen,  der  im  vil  grozzer  ere  gan. 

was  die  folgende  noch  deutlicher  macht.    Der  Bote  Gere  spricht  1863 
zu  Siegfried: 

3015  [693,  3-694,  3].    si  ladent  iiich  ze  Rine  zeiner  hochgezit, 

sie  sähen  iuch  vil  gerne,  daz  ir  des  ane  zwivel  sit; 
unt  bittent  mine  frouwen.  si  sul  mit  iu  dar  kernen 
swenne  daz  der  winder  ein  ende  habe  genomen 
vor  disen  sunnewenden,  so  wolden  si  iuch  sehen. 


218  EINLEITUNG  IN  DAS  NIBELUNGENLIED  VON  MONE. 

Ohne  Zweifel  war  also  die  Hochzeit,  auf  welcher  Siegfried  um- 
kam, nicht  im  Hochsonmer,  sondern  genau  den  Worten  nach 
vor  den  Sonnenwenden,  in  der  Frühlingszeit,  im  Mai,  in  den 
Pfingsttagen,  ganz  nach  der  alten,  sonst  noch  im  Nibelungen- 
lied vorkommenden  Sitte,  vgl.  V.  1097.  5473  [294,  1.  1305,  1]. 
Schliesst  der  Verf  aber,  Siegfried  sei  im  Mai  an  den  Rhein  ge- 
kommen, habe  aber  dort  einige  Zeit  zugebracht,  so  dass  sein 
Mord  ungefähr  auf  die  Sonnenwende  könne  gesetzt  werden,  so 
scheint  uns,  werde  dem  Umstände  alle  hier  nöthige  Beweis- 
kraft entzogen.  Es  muss  eine  deutliche  Beziehung  auf  jenen 
Tag  vorkommen. 

Die  Ausstellung  der  Leiche  und  die  Trauer  über  den 
Mord  ist  nun  freilich  in  der  Sage  ausgedrückt,  aber  wie  ist  sie 
mit  unserem  Mythus,  wo  die  ganze  Natur  in  Trauer  versinkt, 
in  Beziehung  zu  bringen?  Der  Verf  führt  das  Frohnleichnams- 
fest  an  und  setzt  voraus,  diesem  christlichen  Sommerfeste  liege 
auch  ein  (nicht  bekanntes)  heidnisches,  auf  Siegfrieds  Aussetzung 
Bezug  habendes  zum  Grunde.  Wäre  die  Sache  sonst  gewiss, 
so  möchte  dies  als  eine  Vermuthung  gelten,  so  aber  kann  Rec. 
in  der  Ausstellung  von  Siegfrieds  Leiche  nur  eine  Ausübung 
des  Barrechts  erkennen,  wie  denn  auch  bei  Annäherung  des 
Mörders  die  Wunden  wieder  zu  fliessen  anfangen  (4191  [985,  3]). 
Wenn  Kriemhilde  den  Leichnam  drei  Tage  in  der  Kirche  aus- 
gestellt und  Gottesdienst  bei  ihm  verrichten  lässt,  um  ihn  würdig 
zu  betrauern,  so  scheint  das  bloss  eine  christliche  Umwandlung 
dessen,  was  ein  Lied  der  alten  Edda  (das  erste  Lied  von  Gu- 
drun) noch  enthält  und  worin  fürs  Erste  ein  rein  menschliches 
Gefühl  herrlich  ausgedrückt  wird.  Die  Wittwe  sitzt  in  starrem, 
herzzerreissendem  Gram  thränenlos  bei  der  Leiche,  die  Frauen 
suchen  sie  vergeblich  mit  Worten  zu  trösten,  bis  eine  die  Decke 
von  dem  Todten  wegzieht  und  der  Schmerz  bei  dem  Anblick 
sich  in  Thränen  löst.  An  sich  will  Rec.  gar  nicht  leugnen, 
dass  diese  Trauer  eine  mythische  Beziehung  haben  könne,  so 
wie  die  den  Nibelungen  angehängte  Klage  gewiss  nicht  unbe- 
deutend ist. 

Für  den  dritten  wesentlichen  Moment  des  Mythus,  die 
Wiedergeburt  des  Sonnengottes,  lässt  sich  in  der  alten  Sage 


EINLEITUNG  TN  DAS  NIBELUNGENLIED  VON  MONE.  219 

von  Siegfried  durchaus  nichts  nachweisen.  Das  erkennt  der 
Verf.  selbst,  aber  er  sagt,  aus  einer  Volkssage  des  17.  Jahr- 
hunderts gehe  jene  Wiedergeburt  unleugbar  hervor.  Ohne 
Zweifel  meint  er  die  vom  Rec.  selbst  in  den  Altd.  Wäldern 
(I,  322)  aus  den  Gedichten  des  Philander  von  Sittewald  ange-  is&4 
führte  Stelle,  worin  es  heisst,  wann  grosse  Noth  komme,  würden 
die  deutschen  Helden  wieder  aufstehen  und  gesehen  werden, 
unter  welchen  auch  Siegfried  namentlich  angeführt  ist.  Aber 
diese  Stelle  beweist  nach  des  Rec.  Überzeugung  für  den  Verf. 
gar  nichts,  sie  berührt  bloss  jene  verbreitete  Sage  von  der  Un- 
sterblichkeit der  an  einem  verborgenen  Orte  schlafenden  Helden 
(wie  z.  B.  die  Dänen  von  Olger  Danske  glauben;  vgl.  die  drei 
Teile  in  den  deutschen  Sagen  I.  No.  297)  und  ist  mit  jener  von 
den  Siebenschläfern  verwandt.  —  Ausserdem  schlägt  der  Verf. 
noch  einen  anderen  Weg  ein,  um  zu  seinem  Ziele  zu  gelangen. 
Er  schliesst  nämlich  stark  (§  69) :  weil  in  dem  Johannestag  und 
Frohnieich namsfest  Siegfried  als  Sonnengott  erscheine,  so  stehe 
nichts  im  Wege,  auch  in  anderen  Beziehungen  ihn  dafür  an- 
zusehen, wo  das  Lied  weiter  keinen  Aufschluss  gebe.  Also: 
was  der  Mythus  einmal  fordert,  muss  als  vorhanden  angenommen 
werden,  wenn  sich  auch  keine  Spur  davon  zeigt.  Es  werden 
nun  Versuche  gemacht,  den  Michelstag  (21.  September)  und 
Weihnachten  als  alte  heidnische  Sonnenfeste  in  Beziehung  auf 
jenen  Mythus  darzustellen.  An  sich  verdient  der  Gedanke 
Rücksicht,  denn  es  ist  nichts  natürlicher,  als  einen  Zusammen- 
hang der  christlichen  Festtage  mit  altbeidnischen  zu  vermuthen; 
wir  brauchen  aber  dabei  nicht  zu  verweilen,  da  wir  gegen  die 
Stützen  des  Schlusses  schon  zu  viel  einzuwenden  haben. 

Rec.  fasst  das  Resultat  seiner  Beurtheiluug  noch  einmal 
zusammen.  Er  ist  mit  dem  Verf.  gleicher  Meinung,  dass  das 
Nibelungenlied  nicht  aus  der  Geschichte  entsprungen,  sondern 
in  der  heidnischen  Zeit  der  Deutschen  schon  vorhanden  ge- 
wesen. Rec.  glaubt  ferner,  dass  es  eine  lebendige  epische  Ent- 
wickelung  uralter  Grundanschauungen  enthalte;  in  dieser  Be- 
stimmung aber  trennt  er  sich  von  dem  Verfasser,  der  weiter 
geht  und  es  geradezu  für  eine  durch  das  eindringende  Christen- 
thum  erst  umgewandelte  Glaubenssage  hält  und  eine  heilige  Ur- 


220  OSSIANS  GEDICHTE   VON  J.  G.  RHODE. 

künde  nennt.  In  der  Sage  von  Siegfried  sieht  er  die  alte 
Mythe  von  dem  Tode  und  der  Wiedergeburt  eines  Sonnen- 
gottes, Rec.  aber  kann  gerade  in  diesen  Hauptmomenten  keine 
Übereinstimmung  finden.  Er  hält  nicht  nur  diese  Anwendung 
für  unstatthaft,  sondern  überhaupt  die  Methode  des  Verfassers 
für  unzuträglich.  Eine  eigene  Ansicht  von  Siegfried  und  seiner 
Sage  gehört  nicht  in  die  Grenzen  einer  Recension. 

Dem  Verfasser,  dem  es  um  Wahrheit  zu  thun  ist,  wird 
diß  Freiheit  unseres  Urtheils  willkommen  sein  und  er  überzeugt, 
dass  wir  das  Gute  seiner  Schrift  zu  achten  wissen.  Mit  Ver- 
gnügen theilen  wir  noch  aus  der  Vorrede  die  Nachricht  mit, 
dass  wir  eine  Ausgabe  von  des  Pfaffen  Kunrads  Rolandslied 
aus  der  Pfälzer  Handschrift  No.  112  sammt  den  Handzeich- 
nungen von  ihm  zu  erwarten  haben. 

[anonym.] 


632 


OSSIANS  GEDICHTE. 

Rhythmisch  übersetzt  von  J.  G.  Rhode.     Zweyte  verbesserte  Ausgabe. 
Drei  Theile  mit  Vignetten  und  Kupfern.    Berlin.    Bey  Duncker  und  Humblot. 
1817.  1818.     Erster  Theil  280.   Zweyter  TheU  272.   Dritter  Theil  277  S.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.    Bd  I.    63.  Stück,  den  18.  April  1818.    S.  632. 

Vorliegende  Übersetzung  hält  sich,  wie  alle  übrigen  seit- 
her erschienenen  (die  Ahlwardtische  ausgenommen,  die  es  mit 
dem  Urtext  zu  thun  hat  und  deshalb  andere  Rücksichten  ver- 
dient), an  die  englische  Bearbeitung  von  Macpherson.  Sie  ist 
lesbar  und  ansprechend  und  hat  diesem  Umstände  auch  wohl 
eine  zweite  Auflage  (die  erste  erschien  1800J  zu  verdanken. 
Die  Stollbergische  scheint  uns,  soweit  wir  sie  verglichen,  wür- 
diger und  edler,  doch  auch,  weil  man  den  Übersetzer  aus  dem 
Griechischen  darin  merkt,  für  die  Lesewelt  fremder.  Die  Vor- 
rede enthält  eine  Einleitung  aus  dem  Report  of  the  Committee 
of  the  Highland  Society;  etwas  Neues  über  Ossian  muss  man 
hier  also  nicht  erwarten,  und  wir  haben  nur  Gelegenheit  zu  der 
erfreulichen  Bemerkung,  dass  trotz  der  vielfachen  absprechenden 


MÄRCHENSAAL  VON  VALENTIN  SCHMIDT.  221 

Urtheile  doch  die  Liebe  für  diese  eben  so  herrlichen  als  merk- 
würdigen Gesänge  fortdauert.  Wer  könnte  den  Ossian  über- 
gehen und  das  Wesen  des  Epos  erforschen  wollen? 

[anonym.] 


MARCHENSAAL.  esi 

Sammlung  alter  Märchen  etc.  mit  Anmerkungen;  herausgegeben  von 

Dr.  Friedr.  Wilh.  Yal.  Schmidt.    Erster  Band.    Die  Märchen  des  Stra- 

parola.     (Mit  dem  zweiten  Titel:  die  Märchen  des  Straparola.)    Berlin.     Bey 

Duncker  und  Humblot.     1817.     XIII  und  361  Seiten  klein  Octav. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.  Bdl.  69.Stück,  den  30.  April  1818.   S.  681— 686. 

JL/er  Verf.  hat  die  Absicht,  wie  es  in  der  Vorrede  heisst, 
„ein  verjüngtes  und  veredeltes  Cabinet  des  fees  mit  sorgsamer 
Wahl  aus  den  wahrhaft  classischen  Erzeugnissen  dieser  Art  zu 
veranstalten".  Ein  Unternehmen,  das  um  so  mehr  Beifall  ver- 
dient, als  man  anfängt,  diese  Dichtungen  nicht  bloss  wegen 
ihres  grösseren  oder  geringeren  poetischen  Werthes,  sondern 
auch  in  Beziehung  auf  die  Geschichte  der  Tradition  und  Er- 
findung, wofür  noch  so  viel  zu  thun  übrig  ist,  zu  beachten. 
Eine  Thatsache  ist  hier  nicht  abzuleugnen,  nämlich,  dass 
Deutsche,  Italiener,  Franzosen,  Engländer,  Dänen  und  Schweden, 
schon  entferntere  Völker  nicht  zu  nennen ,  dieselben  Märchen  682 
besitzen,  eines  Theils  im  Grund  und  in  der  Häuptsache  oft  so 
übereinstimmend,  dass  ein  Zusammenhang  nicht  wohl  abge- 
leugnet werden  kann,  anderen  Theils  auch  jedesmal  so  eigenthüm- 
lich,  dass  ein  Abborgen  und  Herübernehmen  auch  höchst  un- 
wahrscheinlich wird,  zumal  da  sie  nicht  in  Büchern,  sondern 
in  den  Überlieferungen  des  Volkes  leben  und  fortdauern.  Diese 
Erscheinungen,  deren  Interesse  noch  dadurch  gesteigert  wird, 
dass  sie  in  anderen  wichtigen  Punkten,  z.  B.  in  der  dunkeln 
Sagengeschichte  der  Völker  sehr  ähnlich  sich  wiederholen,  werden 
nicht  besser  als  auf  dem  historischen,  ohnehin  immer  Gewinn 
mit  sich  führenden  Wege  aufgeklärt  werden.  Die  deutschen 
Traditionen  dieser  Art  sind  in  den  Hausmärchen  der  Brüder 
Grimm  (Berlin,  Realschulb.  1812  und  1815)  gesammelt,  und  die 
Anmerkungen  dazu  enthalten  mancherlei  Beiträge  zur  Geschichte 


222  MÄRCHENSAAL  VON  VALENTIN  SCHMIDT. 

ihrer  Entstehung  und  Fortpflanzung.  Wenn  einmal,  was  dort 
nur  fragmentarisch  konnte  mitgetheilt  [werden],  vervollständigt  ist, 
so  wird  man  so  ziemlich  den  Reichthum  und  Werth  der  ein- 
heimischen Volksmärchen  beurtheilen  können;  schon  jetzt  lassen 
sich  mancherlei  Bilder  und  Gestalten  erkennen,  die  man  nicht 
ganz  mit  Unrecht  einer  deutschen  Mythologie  zueignen  würde.  An 
die  genannte  Sammlung  schliesst  sich  sowohl  seiner  Idee  nach,  als 
auch  in  der  äusserlichen  Einrichtung  gegenwärtiges  Buch,  indem 
es  die  Märchen  des  Auslands  zusammenzustellen  denkt.  Mit 
einem  Auszug  derselben  aus  Straparolas  Nächten  wird  hier 
nun  der  Anfang  gemacht;  ohne  Zweifel  hätte  der  Pentamerone 
des  Basile  den  Vorzug  verdient  wegen  grösseren  Reichthums 
und  frischerer  Lebendigkeit  der  Darstellung,  indessen  wollte 
Hr.  Schmidt  anderen,  die  eine  Übersetzung  davon  längst  ver- 
sprochen, nicht  vorgreifen.  Dagegen  ist  nichts  einzuwenden, 
nur  hat  es  das  Ansehen,  als  ob  Hr.  Schmidt  den  Pentamerone 
683  aus  eigener  Ansicht  (was  bei  der  Seltenheit  des  Buchs  in  Deutsch- 
land leicht  möglich  ist)  noch  nicht  gekannt  habe;  er  würde  ihn 
sonst  in  den  Anmerkungen  fleissiger  benutzt  haben.  Achtzehn 
Stück  sind  ausgehoben,  nur  eins,  meint  Hr.  S.,  würde  man  ver- 
missen (Notte  V.  fab.  2),  dessen  Inhalt  sich  aber  gegen  jeden 
Übersetzungsversuch  gesträubt.  Davon  überzeugt  man  sich 
leicht  und,  insofern  das  Buch  unserer  Lesewelt  bestimmt  ist, 
wird  man  nichts  zu  tadeln  haben,  obgleich  dieses  Märchen  nur 
zu  den  sehr  kecken  und  freien  gehört,  an  sich  ist  es  doch 
merkwürdig,  besonders  da  die  wunderliche  Puppe,  welche  darin 
die  Hauptrolle  spielt,  ofi'enbar  mit  den  deutschen  Alraunen  ver- 
wandt ist.  Das  Original  bleibt  also  unentbehrlich,  und  hier 
zeigt  sich  überhaupt  eine  bedeutende  Schwierigkeit  des  ganzen 
Unternehmens,  welche  vielleicht  auch  eine  Übersetzung  des 
Basile  zurückhalten  wird.  Bei  den  freieren  Sitten  jener  Zeit, 
überhaupt  der  noch  jetzt  oft  bemerkten  Natürlichkeit  der  Ita- 
liener in  gewissen  Dingen  konnte  manches  erzählt  werden,  was 
bei  uns  mit  Recht  Anstoss  macht,  nicht  einmal  der  wirklich 
unsittlichen,  bei  Straparola  manchmal  schamlosen  Erzählungen 
und  Räthsel  zu  gedenken.  Sollten  wir  einen  Rath  geben,  so 
wäre  wohl  das  Beste,  dergleichen  Märchen  im  Anhang  und  nur 


MÄRCHEXSAAL   VON  VALENTIN   SCHMIDT.  223 

im  Auszuge  zu  liefern,  diesen  aber  überhaupt  als  eine  Zugabe 
besonders  zu  verkaufen.  Das  zweite  Märchen  der  ersten  Nacht 
von  den  listigen  Diebsstreichen  des  Cassandrino  hätte  Hr.  Schmidt 
nicht  übergehen  sollen:  doch  viel  bestimmter  müssen  wir  ihn 
tadeln,  dass  er  sich  nicht  sorscfaltiojer  um  die  Litteratur  seines 
Originals  bekümmert  und  keine  andere  Ausgabe  als  die,  aus 
welcher  er  übersetzte  (Venetia  1608),  nachgesehen.  Eine  leichte 
Vergleichung  mit  der  gewiss  nicht  seltenen  altfranzösischen 
Übersetzung  (die  vor  uns  liegende,  von  Hrn.  Schmidt  nicht 
bemerkte  erschien  zu  Lyon  1611)  hätte  ihn  schon  überzeugt, 
wie  nöthig  das  gewesen  wäre.  In  seiner  Ausgabe  fehlt  die  esi 
kurze  Vorrede  des  Straparola  zum  zweiten  Bande  (vor  der 
sechsten  Nacht),  in  welcher  aber  eine  sehr  merkenswerthe  Stelle 
vorkommt:  dass  nämlich  diese  Märchen  nicht  sein  Eigenthum 
seien,  sondern  er  sie  nach  den  mündlichen  Überlieferungen 
zehn  junger  Fräulein  aufgeschrieben,  weshalb  ihn  niemand  des 
Stils  wegen  anklagen  dürfe.  Ferner  enthält  die  französische  Über- 
setzung mehr:  Nacht  1,  Erz.  2  einen  dritten  Streich  des  Cas- 
sandrino, wie  er  als  Engel  verkleidet  einen  Sack  der  Herrlich- 
keit darbietet  und  einen  überredet,  hineinzukriechen,  gerade  wie 
in  dem  Märchen,  welches  aus  einer  lateinischen  Handschrift  in  der 
Grimmischen  Sammlung  (H,  60  Anm.  XLVI)  bekannt  gemacht 
ist.  —  N.  8,  Erz.  5  steht  in  der  italienischen  Ausgabe  von  1608  ein 
unbedeutender  Schwank  von  zwei  Ärzten  (hier  in  der  Über- 
setzung St.  12),  dafür  in  der  französischen  ein  sehr  schönes  Märchen 
von  einem  Zauberer  und  dessen  Lehrling,  welches  um  so  merk- 
würdiger ist,  weil  es  deutliche  Übereinstimmung  mit  einer  Er- 
zählung der  (damals  noch  unbekannten)  1001  Nacht  hat.  —  In 
der  eilften  Nacht  zwei  Erzählungen  mehr:  Fab.  2  und  5,  die 
erste  ist  ein  ganz  artiges  Märchen.  —  In  der  12ten  Nacht  ist 
Fab.  4  verschieden,  Fab.  5  fehlt  im  Italienischen  ganz.  In  der 
13.  Nacht  sind  zwei  Erzählungen  mehr,  einige  verschieden.  Rec. 
hat  gerade  auch  keine  andere  italienische  Ausgabe  des  Straparola 
als  die  von  1608  zur  Hand  und  kann  daher  nicht  bestimmen,  ob 
sich  diese  Verschiedenheiten  sämmtlich  auf  ein  italienisches  Orisrinal 
gründen  oder  ob  sie  vielleicht  zum  Theil  von  dem  französischen 
Übersetzer  herrühren;    doch  ist  ihm  das  Letztere  sehr  unwahr- 


224  MÄRCHENSAAL  VON  VALENTIN:  SCHMIDT. 

scheinlich,  weil  dieser  in  der  Vorrede  seiner  Abänderungen 
würde  gedacht  haben.  Und  da  Dunlop  in  seiner  history  of 
fiction  (wie  Hr.  Schmidt  selbst,    ohne  dadurch  aufmerksam  ge- 

685  worden  zu  sein,  bemerkt)  neun  Erzählungen  mehr  angibt,  als 
in  der  genannten  Ausgabe  stehen,  diese  ferner  in  einzelnen 
schlüpfrigen  Stellen  gegen  die  französische  abgekürzt  erscheint, 
so  leidet  es  fast  keinen  Zweifel,  dass  es  eine  absichtlich  castrirte 
ist.  Wir  bitten  Hrn.  Schmidt,  diesen  Punkt  näher  zu  erörtern 
und  bei  der  Fortsetzung  des  Werks,  welche  wir  wünschen, 
einen  Nachtrag  für  den  Straparola  zu  liefern.  Zur  Erweiterung 
der  etwas  dürftigen  Litterarnotizen  in  der  Vorrede  empfehlen 
wir  ihm  eine  Übersetzung  im  Auszug,  welche  zu  Wien  (die 
Nächte  des  Strapparola  von  Caravaggio,  zwei  Theile  1791)  er- 
schienen ist  und  ihm  gleichfalls  muss  unbekannt  geblieben  zu 
sein.  Sie  hat  zwar  an  sich  wenig  Werth  und  ist  schwerfällig 
genug,  aber  sie  theilt  aus  dem  handschriftlichen  Nachlasse  des 
Giambattista  Rodella  aus  Brescia  einen  ausführlichen  Artikel 
über  Straparola  und  dessen  Schriften  mit.  Die  Übersetzung 
des  Hrn.  Schmidt  lieset  sich  gut,  eine  genaue  Prüfung  derselben 
können  wir  hier  nicht  anstellen. 

Die  reichlichen  Anmerkungen,  bei  welchen  dem  Verf.  „die 
Sachbemerkungen  der  Philologen  zu  den  griechischen  und 
römischen  Schriftstellern  vorschwebten^  zeigen  von  Fleiss  und 
Liebe  zur  Sache  und  sind  schätzbar.  Wir  wollen  dabei  nur 
vor  dem  Abweg  der  zu  grossen  Ausführlichkeit  warnen,  nach 
welchem  sich  der  Verf.  ein  paarmal  hinwendet.  Nicht  zwar  in 
wichtigen  Dingen  ist  Ausführlichkeit  zu  tadeln,  sondern  in  dem, 
was  allgemeiner,  nicht  dem  engeren  Kreis  der  Märchen  anheim- 
fällt; da  ist  eine  Hindeutung  genug,  sonst  entsteht  eine  unver- 
hältnismässige Breite,  wie  z.  B.  in  der  Erörterung  der  Zauber- 
pferde. Auch  ist  an  dem,  was  spätere  Dichter  willkürlich  er- 
weiternd dichtet-en,  z.  B.  Ariost,  wenig  gelegen,  und  es  wird 
dann  nur  mit  Nutzen  angeführt  werden,  wenn  das  ursprüng- 
liche Element  sichtbar  durchschimmert.    In  der  Anmerkung  zum 

686  dritten  Märchen  hat  der  Verf.  Gelegenheit  gehabt ,  seine  An- 
sicht über  die  Ausbreitung  der  Märchen  überhaupt  mitzutheilen. 
Er  nimmt  an,    dass   diese    nur    „bei   den  genialen  Erzeugnissen 


MÄKCHENSAAL  VON  VALENTIN  SCHMIDT.  225 

einzelner  schöpferischer  Geister"  stattfinde.  Das  eigentlich 
Volksmässige  (von  keinem  bestimmten  Dichter  Erzeugte?)  wird 
daher  nach  seiner  Meinung  niemals  Eigenthum  eines  fremden 
Volks  und  bezeichnet  sich  durch  „eine  gewisse  Einseitigkeit 
und  bewusstlose  Dürftigkeit  bei  innerer  Vollendung".  Jene 
Dichtung  eines  schöpferischen  Geistes  aber  „macht  sich  gewalt- 
sam Bahn,  weil  es  in  jedes  Menschen  Brust  einen  Anklang 
findet,  und  wie  der  Handel  die  getrennten  Völker  und  ihre  Er- 
zeugnisse in  Verkehr  setzt  und  mit  der  Befriedigung  das  Be- 
dürfnis schnell  wächst,  so  ist  es  mit  dem  geistigen  Bande,  das 
besonders  im  Mittelalter  die  europäischen  Völker  verknüpfte 
und  nicht  bloss  die  weniaren  Gelehrten  in  Berührunor  brachte. 
Das  wahrhaft  lebendige,  harmonisch  geformte  Erzeugnis  der 
Phantasie  in  der  Gestalt  des  Märchens,  der  Novelle,  der  Fabel, 
des  Schwanks  ergriff  den  Hörer  und  pflanzte  sich  mit  reissender 
Schnelligkeit  von  Mund  zu  Mund  fort;  das  Äussere  erlitt  Ver- 
änderung, aber  das  Wesentliche  der  Sache  blieb".  Diese  An- 
sicht hat  ihre  grossen  Schwierigkeiten;  eine  solche  ausserordent- 
liche, reissend  schnelle  Fortpflanzung  von  Munde  zu  Munde 
bis  in  die  einsamsten  Berggegenden  bleibt  immer  eine  Art 
Wunder.  Durch  so  verschiedenartige  Sprachen  gehen  ja  die 
Sagen  hindurch,  selbst  hinüber  zu  geographisch  getrennten 
Völkern ;  auch  lässt  sich  nicht  gut  die  an  verschiedenen  Orten 
sich  findende,  sehr  abweichende  und  doch  ursprünglich  er- 
scheinende Bildung  derselben  Sage  erklären,  so  auch,  dass 
manchmal  gerade  das  Wesentliche  in  Sache  und  Form  die  Ver- 
änderung erleidet.  —  Wir  empfehlen  dem  Verf.  zunächst  die 
unter  dem  Titel  gesta  Romanorum  bekannte  Sammlung  vorzu- 
nehmen, welche  zu  mancherlei  Untersuchungen  Anlass  gibt. 

[anonym.] 


AV.  GKIMM.    KL.  SCIlRIhTKN.      II. 


226  STÜRLÜNGA-SAGA. 


1229  STÜRLUNGA-SAGA 

edr  Islendinga-Saga  hin  mikla.  Nii  litgengin  ä  prent  ad  tilhlutun  hins  islenska 
bökmentafelags  eptir  famanburd  hinna  merkilegulta  handarrita  er  fengift  gätu. 
Fyrra  bindini.  Kopenhagen  1817.  227  S.  in  4  und  XIX  S.  Vorrede.  Fyrra 
bindinis  fidari  deild.  1818.  260  S.  in  4.  (d.  h.  Geschichte  von  dem  Geschlecht 
der  Sturlungen  oder  die  grosse  Geschichte  der  Isländer.  Auf  Veranstaltung 
der  Isländischen  Litteraturgesellschaft  nach  den  vorzüglichsten  Handschriften 
jetzt  in  Druck  gegeben.     Des  ersten  Bandes  erster  und  zweiter  Theil.) 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.    Bd  II,   123.  St.,  den  2.  August  1819. 
S.  1229—1230. 

Xi/igentlich  Jahrbücher  der  isländischen  Geschichte,  welche 
in  einem  gewissen  Zusammenhang  die  Zwistigkeiten  und  Be- 
fehdungen der  ersten  Geschlechter  unter  einander  darstellen.  Sie 
begreifen  einen  Zeitraum  von  ungefähr  150  Jahren,  indem  sie 
mit  dem  Jahr  1116  anfangen  und  mit  der  freiwilligen  Unter- 
werfung der  Insel  unter  den  König  von  Norwegen  Hagen 
Hagensen  im  Jahr  1261  endigen.  Da  diese  inneren  Unruhen 
über  die  ganze  Insel  sich  ausbreiteten,  ja  sie  verwüsteten,  so 
heisst  die  Sage  mit  Recht  die  grosse  isländische  Ge- 
schichte; indessen  kommt  ihr  auch  der  Name  der  Sturlungen- 
Sage  zu,  weil  dieses  Geschlecht  als  das  herrschende  und 
mächtigste  eine  Hauptrolle  darin  spielt.  Auch  an  äusserem 
Umfang   ist   es   eine   der  grössten,  und  dieser  starke  Band  ent- 

1230  hält  nur  die  erste  Hälfte.  Da  sie  zunächst  für  Isländer  be- 
stimmt ist  und  die  Ausgabe  sonst  zu  kostbar  würde,  ist  man 
von  der  gewöhnlichen  Sitte  abgegangen  und  hat  ohne  Begleitung 
einer  lateinischen  oder  deutschen  Übersetzung  bloss  den  Original- 
text, aber  diesen  mit  der  gewöhnlichen  Sorgfalt  geliefert.  Was 
den  inneren  Werth  betrifft,  so  darf  man  an  der  historischen 
Wahrheit  der  Erzählung  in  modernem  Sinne  nicht  zweifeln, 
und  in  dieser  Rücksicht  wird  gegenwärtige  Sage  über  alle 
anderen  zu  stellen  sein ;  dagegen  fehlt  ihr,  was  die  älteren,  von 
einer  poetischen  Anschauung  durchdrungenen  auszeichnet:  jene 
Frische  und  Lebendigkeit  der  Darstellung.  Man  lieset  diese 
Annalen   der   ganzen    Insel    mit   weniger   Theilnahme,    als  jene 


HANS  SACHS  VON  BÜSCHING.  I.  227 

Lebensbeschreibungen  Einzelner;  doch  damit  soll  die  einer 
anderen  Zeit  nothwendig  gewordene  Richtung  nicht  herab- 
gewfirdigt  werden,  der  rechte  Gebrauch  wird  das  Gute  auch 
hier  finden.  Der  Verfasser  des  späteren  Theils  ist  Sturle 
Thordson,  ein  Brudersohn  des  berühmten  Snorre  Sturleson 
und  bei  dem  König  Hagen  Hagensen  wohlgelitten,  der  ihm 
auch  deshalb  das  Amt  eines  Laugmann  in  Island  ertheilte.  Der 
erste  Theil  bis  zum  Jahr  1201  wird  hier  zwar  in  der  von 
B.  Thorsteinson  aborefassten  Vorrede  dem  Bischof  Brand 
Sämundson  auf  Holum  nach  einer  von  den  meisten  nordischen 
Gelehrten  angenommenen  Meinung  zugeschrieben,  allein  P.  F. 
Müller  hat  in  der  Sagenbibliothek  (Originalausg.  I,  245.  246) 
dafirearen  wohlbecfründete  Einwendunoren  oremacht.  Der  Stil  ist 
sehr  ungleich,  überhaupt  keinem  Zweifel  unterworfen,  dass 
spätere  Zusätze  eingeschoben  sind;  auch  geht  keine  der  Hand- 
schriften, welche  bei  dieser  Ausgabe  benutzt  wurden,    über  das 

17.  Jahrhundert  zurück. 

[anonym.] 


HANS  SACHS  01 

(entweder:  Sachs's  oder  besser:  Sachsens)  ernstliche  Trauerspiele,  liebliche 
Schauspiele,  seltsame  Fastnachtsspiele,  kurzweilige  Gespräch',  sehnliche  Klag- 
reden, wunderbarliche  Fabeln,  samnit  andern  lächerlichen  Schwänken  und 
Possen.  Bearbeitet  und  herausge'ieben  von  Dr.  Joh.  Gustav  Büsching.  Erstes 
Buch.  Mit  dem  Bildnis  des  Hans  Sachs  und  mehrern  kleinen  Kupfern  zwi- 
schen den  einzelnen  Gedichten.     Nürnberg,  bei  Schräg  1S16.    355  S.  8. 

Leipziger  Litteratur- Zeitung  für  das  Jahr  1819.     Erstes  Halbjahr. 
No.  7,  am  8.  Januar  1819.     S.  51 — 55. 

±Jev  Herausgeber,  welcher  sein  Ungeschick  zu  Erneuerungen 
(wofern  dergleichen  überhaupt  statthaft  sind)  durch  einen  miss- 
rathenen  Versuch  an  den  Nibelungen*)  hinlänghch  erwiesen  hat, 
macht  sich  nun  gar  hinter  die  W^erke  des  ehrlichen  Meister- 
sängers. Das  Unternehmen,  wenn  es  nicht  bei  diesem  oder 
dem  zweiten  Bande  stecken  bliebe,  sondern  sich  zu  fünfen  aus- 
dehnte,   würde   dem    Geschmack    und   der   Kritik    Deutschlands 

*)  [Das  Lied  der  Mbelungen.    Metrisch  übersetzt  von  Dr  Joh.  Gust.  Bü- 
sching.    Altenburg  und  Leipzig:  F.  A.  Brockhaus.    1815.] 

15* 


228  HANS  SACHS  VON  BÜSCHING.  I. 

keine  Ehre  bringen  und  bezeugen  müssen,  wie  wir  die  Hinter- 
lassenschaft unserer  alten  Dichter  hochzuachten  pflegen.  Wäre 
Hans  Sachs  ein  Eigenthum  Englands,  so  würde  seit  1612  gewiss 
mehr  als  ein  vollständiger  Wiederabdruck  dieser  Gedichte 
52  sorgfältig  und  schön  veranstaltet  worden  sein.  Bei  uns  hin- 
gegen, nachdem  über  ein  Jahrhundert  lang  ein  so  reichbegabter, 
wahrhafter  Dichter  verkannt  und  vergessen,  endlich  aber  von 
Goethe  und  Wieland  wieder  eingeführt  worden  war,  was  ist  nun 
seit  fünfzig  Jahren  zu  seiner  Verbreitung  geschehen?  Bertuch 
fasste  den  Vorsatz  zu  einer  neuen  Ausgabe  sämmtlicher  Werke, 
wollte  aber  Subscribenten  haben,  die  sich  natürlich  nicht  fanden; 
Häslein  lieferte  im  Jahre  1781  einen  Auszug  aus  dem  ersten 
Buche,  der  inzwischen  des  rechten  Eindrucks  verfehlte.  Theils 
ist  die  getrofiene  Auswahl  nicht  ganz  zu  billigen,  theils  sind 
die  beigefügten  Worterklärungen,  obschon  fleissig,  jedoch  bei 
weitem  nicht  von  der  Art,  wie  sie  ein  tüchtiger  Herausgeber, 
der  nur  seinen  Autor  mehrmals  und  vollständior  durchgelesen 
hat,  ohne  besondere  Mühe  hätte  liefern  können.  Häufig  aber 
waren  die  Erklärunoren  unnöthior  oder  schief:  wir  beffnüoren  uns 
auf  die  „Mägdchen  und  Buben"  zu  verweisen,  die  S.  283  aus 
dem  „meiden  und  sehnen"  entsprungen  sind.  Mit  der  Correct- 
heit  des  Textes  hat  man  mehr  Ursache  zufrieden  zu  sein. 

Der  Bearbeiter  des  vorliegenden  Versuchs  liefert  absichtlich 
gar  keinen  correcten  Text,  sondern  eine  klägliche  Moderni- 
sirung,  die  es  den  heutigen  Lesern  leichter  machen  soll,  den 
alten  Dichter  zu  verstehen.  Dieses  in  sich  selbst  nichtige  und 
immerwährend  schwankende  Verfahren  bestehet  nun  haupt- 
sächlich darin,  dass  neben  Umsetzung  der  Orthographie  und 
Aussprache  einige  veraltete  Wörter  und  Formen  durch  ähnliche 
neue  (mitunter  schlecht  passende)  ersetzt  oder  auch  nach  Be- 
lieben beibehalten  und  in  Randanmerkungen  erklärt  werden. 
Zumeist  betriift  die  Veränderung  den  Keim,  der  sich  bald  anders 
drehen,  bald  ein  elendes  Flickwort  gefallen  lassen  muss;  Hans 
Sachs  selbst  nimmt  es  mit  diesen  Dingen  nicht  zu  genau,  würde 
aber  schwerlich  so  läppische,  sinuverstellende  Reime  gebraucht 
haben,  wie  man  hier  zu  lesen  bekommt:  S.  149  „das  thu  gern 
ich"  (st.  das  thu  ich  gern),  S.  352  „die  Geiss  war  frölich  und 


HANS  SACHS  VON  BÜSCHING.  I.  229 

mutig  und  in  der  Nähe  hielt  nicht  sich"  (H.  Sachs:  die  geisz 
war  mutig  iung  und  frech  und  blibe  gar  nit  in  der 
nech),  S.  6  „dass  er  nichts  könn'  und  vermag  auch"  (das 
er  nichts  könn  und  vermüg),  woselbst  die  indicative  Form 
„vermag"  mit  der  conjunctiven  „könne"  verbunden  ist.  S.  288 
„ich  hatt  viel  Fried'  nit,  sehr  grossen  Hunger  ich  erlitt",  warum 
nicht:  „ich  hett  viel  Unfried,  s.  gr.  H.  i.  erlitt",  wie  bei  Hans 
Sachs  steht  ?  Wie  leicht  insgemein  über  das  Original  hinge- 
fahren werde,  mögen  folgende  hin  und  wieder  verglichene  Be- 
lege  darthun.  S.  149  y,\ye\\  er  sich  wolt  der  Straf"  nie  geben." 
Das  versteht  gewiss  niemand,  H.  S.  schrieb:  „weil  er  wolt 
vmb  kein  straf  nie  geben",  d.  h.  weil  er  auf  keine  Strafe 
achtete,  nicht  durch  sie  gebessert  wurde.  —  S.  283  „niemand 
dich  füllen  kann,  du  glaubst  das  Erdreich  wird  zerrinnen", 
welches  ein  heutiger  Leser  nicht  anders  nehmen  wird  als :  das  58 
Erdreich  wird  zerfallen,  zerfliessen,  auseinandergehen.  Der 
Dichter  sagt:  „des  gantzeu  erdrichs  will  dir  zrinnen", 
d.  h.  du  thust,  als  werde  es  dir  an  Erde  gebrechen,  die  Erde 
Dir  ausgehen,  in  Bezug  auf  die  habgierige  Kröte,  die  nach 
einem  alten  Volksglauben  nichts  als  schlechte  Erde  frisst  und 
nicht  daran  genug  haben  kann.  Das  dir  musste  noth wendig 
ausgedrückt  werden.  Fischart  im  Gargantua  Bl.  213"  (ed. 
1594):  „vnd  fressest  erd  wie  ein  krott,  die  sorgt  die 
erd  werd  ihr  entgehn,  vnnd  meint  sie  hab  die  Erd  im 
Sündflut  in  ihrem  bauch  erhalten  vnnd  wöUs  noc 
thun."  —  S.  290.  „Da  die  Alten  bey  ihn'n  sagen,  ich  thu  die 
bösen  Dämpf  einnagen."  Wer  hat  je  die  Spinne  zu  den  Nage- 
thieren  gerechnet!  Im  Text  stehet:  wie  wol  die  alten  bei 
ihn  jähen  (also:  sagten,  nicht:  sagen),  ich  thu  die  bösen 
dempff  auffahen.  —-  S.  120  „wollt  ihr  mir  erst  ein  Tränk- 
lein lassen"  (H.  S.  solt  ich  erst  nit  ein  tränklein  mügen, 
d.  h.  da  ich  so  viel  getrunken,  sollt'  ich  nicht  ein  solches  Tränk- 
lein, als  eure  Arznei,  zu  schlucken  vermögen.)  —  S.  133  wird 
zwar  garteten  durch  „bettelten"  richtig,  aber  gleich  darauf, 
als  S.  Peter  von  den  Landsknechten  vor  dem  Himmelsthor  er- 
zählt: „sie  wollen  geren  hinnen  garten"  dies  ganz  falsch 
übersetzt:    „gern  schweiften   sie  herum  im  Garten"  (!)  und  die 


230  HANS  SACHS  VON  BÜSCHING.  I. 

noth wendig  festzuhaltende  Idee,  dass  sie  auch  im  Himmel  ihre 
Lebensweise  fortsetzen,  verwischt. 

Dergleichen,  wo  nicht  Missverständnisse,  auf  jeden  Fall 
Entstellungen  des  ursprünglichen  Textes  lassen  sich  fast  auf 
allen  Blättern  nachweisen.  Dafür  werden  andere  Hilfsmittel 
zum  Verständnis  des  Alterthümlichen  dem  Leser  gleichsam  als 
Entschädigung  geboten.  Er  findet  S.  150  schmecken  durch: 
riechen  erklärt,  S.  148  allesannt  durch:  allzusammen, 
S.  121  räumen  durch:  räumen,  S.  285  holf  durch  hülfe, 
S.  288  gemachsam  verschlechtert  in:  gewachsam,  S.  285  wo 
im  Text  stehet:  „nährest  dich  der  schelmenstück  vnnd 
darzu  aller  bösen  Tück",  in  der  Erneuerung:  „nährest  dich 
von  Schelmenstück  und  dazu  aller  bösen  Tück."  Er  findet 
den  Ausdruck  „dest  bass"  (desto  besser)  bald  beibehalten,  wie 
S.  124  und  148,  bald  übersetzt  in  „was  bass"  S.  121;  —  S.  123 
„vor  zuletzt"  nicht  übersetzt  in  den  heutigen  Sprachgebrauch: 
für  zuletzt;  —  unerklärt  gelassen  aber:  S.  124  geudisch; 
S.  121  Rosselwurst;  S.  130  Wunderer;  S.  285  „du  bist  mir 
nicht  eben";  S.  146  hartselig;  S.  9  „  umrevieren ";  S.  138 
^unterdrungen'^;  S.  170  „dir  soll  die  Schmach  thun  billig 
Zorn"  u.  dgl.  m.  Dem  Liebhaber  der  Hans  Sachsischen  Poesieen, 
der  an  dergleichen  Dingen  keinen  Anstoss  nimmt,  ist  sicherlich 
nicht  der  mindeste  Vorschub  geschehen,  wenn  „sieht"  in  „sieht", 
ruben  in  Rüben  usw.  verwandelt  wird,  oder  das  besser 
lautende  „auff  ein  Tag"  S.  288  verändert  in:  auf  nem  Tag. 
In  solchen  Virgeln  beruht  oft  der  Geist  der  ganzen  Erneuerung, 
z.  B.  S.  282  „ein's  Tag's  in  einem  alten  Fuchs  gross'  Reu'  von 
64 seiner  Sund  erwuchs"  (H.  S.  eins  tages  in  eim  alten  Fuchs 
gross  rew  der  seinen' sünd  erwuchs).  Es  müsste  aber 
ebenso  gut  auch  gesetzt  werden  „Sünd'"  statt  „Sünd'^  und 
S.  287  ^grün',  blüh'  und  wachs'"  statt:  grün,  blüh  und 
wachs;  oder:  S.  118  „'nen  guten  Abend"  statt:  ein  guten 
Abend."  Übrigens  wird  die  jedesmalige  Subscription  um  das 
„Anno  Salutis"  und  das  Wort  „Tag"  gekürzt,  den  einzelnen 
Stücken  aber  eine  Randbeziff'eruug  zugegeben,  welches  den  un- 
verhofifentlichen    Fall   voraussetzt,    dass   H.  S.   Werke   verloren 


HASS  SACHS  VON  bCSCHISG.    I.  231 

giengen  und  man  gezwungen  wäre,  das  gegenwärtige  Bruchstück 
einer  Erneuerung  zu  citiren. 

Als  Bruchstück  nämlich  würde  es  auch  dann  unbefriedigend 
bleiben,  wenn  es  besseren  Text,  d.  h.  unschuldigen  Abdruck 
des  Urtextes  lieferte.  Hält  man  die  355  einspaltigen  Octav- 
seiten  zu  dem  starken  Folianten  der  Nürnberger  und  dem  dicken 
Quartanten  der  Kemptener  Ausgabe  des  ersten  Buchs,  so  ent- 
fällt einem  völlig  der  Muth,  an  dergleichen  modernen  Arbeiten 
€twas  Nützliches  aufzufinden.  Was  frommt  eine  so  willkürliche, 
gleichgültige  Auslese?  Schon  das  erste  Stück  von  der  Erschaf- 
fung gehört  zu  des  Dichters  geringeren  Hervorbringungen; 
awar  ist  das  Spiel  von  Evas  ungleichen  Kindern  viel  besser, 
aber  derselbe  Stoff  in  einem  Schwank  des  zweiten  Buchs  bei 
weitem  dichterischer  und  lebendiger  aufgefasst  und  aus2eführt. 
Statt  der  Kinderlehre  und  der  daran  gereihten  Ermordung  Abels 
durch  Cain  wird  der  Ursprung  und  Gegensatz  der  edeln  und 
bäurischen  Geschlechter  höchst  anschaulich  aus  der  Fabel  ent- 
wickelt. 

Was  sqll  und  kann  nun  in  unserer  Zeit,  die  den  Wieder- 
abdruck sämmtlicher,  allmählich  so  selten  gewordenen  Werke 
unseres  Dichters  (d.  h.  also  der  früher  schon  gedruckten,  nicht 
der  ungedruckten,  weit  schlechteren  Meisterlieder)  kaimi  zu  be- 
i^treiten  vermag,  am  löblichsten  geschehen?  Guter  Kath  scheint 
hier  gar  nicht  theuer.  Man  nehme  aus  jedem  Buch  die  letzte, 
Fabeln  und  Schwanke  enthaltende  Abtheilung  und  drucke  sie 
Aollständig  genau  und  getreu  nach  der  ältesten  Ausgabe  und 
mit  der  in  das  Wesen  der  damaligen  Sprache  eingreifenden, 
alterthümlichen  Schreibung  ab.  In  diesen  Foesieen  liegt  un- 
leugbar  die  grösste  Kraft  des  vielgewandten,  unerschöpflichen, 
bürgerlichen,  derben  Meisters;  hier  bewegt  er  sich  am  freisten 
und  vollkommensten  und  hier  stecken  zugleich  mehr  Aufschlüsse 
über  Volkssage,  Fabel  und  Volkssprache,  als  in  allen  übrigen 
Theilen  zusammen.  Verständig  zeigt  er  sich  zwar  überall,  je- 
doch in  den  geistlichen  und  weltlichen  Geschichten  zu  sehr  von 
dem  gegebenen,  nicht  aus  eigener  Lebenserfahrung  entsprun- 
genen   Stoff   gebunden.     Die   dramatischen   Spiele    ernster   Art 


232  HANS  SACHS  VON  BÜSCHING.  I. 

leiden  nach  dem  damaligen  Stand  der  Bühne  (grossentheils  zu 
wirklicher  Aufführung  bestimmt  und  auch  aufgeführt)  bei  der 
raschesten  Handlung  mitunter  an  Weitschweifigkeit  und  Dürre. 
Vielleicht  wäre  mit  kluger  Auswahl  eine,  jedoch  nicht  starke 
55  Zahl  verschiedenartiger  Stücke  aus  den  übrigen  Abtheilungen 
beizufügen.  Das  Ganze  würde  sämmtliche  Schwanke  imd  Fabeln 
unverkümmert  enthalten  und,  im  Einzelnen  nach  der  Zeit  ihrer 
Abfassung  geordnet  (was  noch  nie  ein  anderer  Dichter  so  leicht 
gemacht  hat),  einen  guten  Quartanten  oder  zwei  starke  Octav- 
bände  fassen.  Ein,  aber  fleissig  imd  grammatisch  zu  bearbei- 
tendes gedrängtes  Wörterbuch  am  Ende  muss  dem  Leser,  der 
mit  ernster  Lust  an  den  nicht  viel  als  Luthers  Bibel  alterthüm- 
lieberen  Dichter  geht,  alles  Nöthige  gewähren  und  jedes  Dunkel 
heben,  dagegen  Randglossen  und  böse  Verdrehungen  des  durch- 
weg ungezwungen  frischen  Ausdrucks  ersparen,  zugleich  auch 
den  Herausgeber  über  Bedenklichkeiten  setzen,  denen  kein  Er- 
neuerer, weil  er  mit  seinem  eigenen  Stil  auftritt,  ausweicht, 
oder  er  muss  z.  B.  wie  der  gegenwärtige  S.  123  den  Teufel 
beissen  lassen.  Es  wäre  doch  schön,  wenn  die  Stadt  Nürn- 
berg, in  welcher  es  nocli  viel  gute,  der  alten  Zeiten  eingedenke 
Leute  geben  wird,  nachdem  ihr  das  letzte  Mal,  vor  so  lange 
schon,  Kempten  und  Augsburg  zuvorgekommen,  für  ihren 
eigenthümlichsten,  wir  zaudern  gar  nicht  zu  sagen:  grössten 
Dichter  etwas  thuu  und  ihn  wieder  in  wahrer  Gestalt  unter 
die  Leute  bringen  wollte.  Der  Aufwand  wäre  so  unbedeutend, 
dass  eine  der  kleinen  Pegnitzbrükkern,  wenn  sie  eingebrochen, 
mehr  kosten  würde.  Im  Hans  Sachs  ist  aber  auch  eine  vater- 
ländische, dem  gesammten  Deutschland  auferbauliche  Gesinnung, 
und  viele  würden  sich  sein  Buch  gern  kaufen.  Will  Hr.  Dr 
Büsching,  dessen  Arbeitsamkeit  und  guter  Meinung  man  alle 
gebührende  Gerechtigkeit  widerfahren  lässt,  zu  solcher  wahrer 
Herstellung  des  von  ihm  verehrten  Dichters  mitwirken,  so  wollen 
wir  so  gern  aus  seinen  Händen  als  aus  denen  jedes  anderen  ein 
£uch  empfangen,  an  dem  man  sich  doch  einmal  freuen  kann. 
Auch  das  hübsche  Bildchen,  welches  des  Meisters  Haus  vor- 
stellt, darf  dann  nicht  wegbleiben. 

[anonym.] 


HANS  SACHS  VON  FURCHAU.  233 

HANS  SACHS,  VON  F.  FURCHAU.  i83i 

In  zwey   Abtheilungen.     Erste  Abtheilung,    die  Wanderschaft.     Leipzig,  bey 

Brockhaus.     1818.     (1  Thk.  8  Gr.) 

Leipziger  Litteratur- Zeitung  für  .das  Jahr  1819.    Zweites  Halbjahr.     No.  229, 

am  15.  September  1819.     S.  1831  —  1832. 

jliin  Roman  in  der  jetzt  schon  ablebenden,  bei  Nach- 
ahmern vollends  unerträglichen  und  über  die  Massen  lang- 
weiligen Fouqueschen  Manier,  ob  sie  gleich  ein  gewisses  Talent, 
eine  Schreib-  und  Denkfertigkeit  voraussetzt,  über  deren  Miss- 
brauch man  sich  betrübt.  Die  wohlbekannten  Gesinnungen  und 
Lobpreisungen  des  altdeutschen  Lebens  sind  hier  an  des  (als 
zehn  solcher  Romanschreiber  unendlich  kräftigeren  und  poetisch 
rührigeren)  Hans  Sachsens  Geschichte,  wie  wir  sie  aus  den 
Gedichten  und  anderen  Nachrichten  her  wissen,  gesetzt  und 
mannigfaltig  verblümt.  Der  ehrliche  Meister  würde  auflachen, 
wenn  er  gewusst  hätte,  was  ihm  hier  für  Feinheiten  und  ge- 
müthliches  Zeug  untergeschoben  werden;  gescheidter  nicht,  aber 
gelehrter  ist  er  gemacht,  z.  ß.  S.  104.  105  urtheilt  er  über  die 
Nibelungen,  die  er  ohne  Zweifel  niemals  gelesen  hatte.  Bei 
einem  „Herrn  und  Büchermeister"  wird  die  altdeutsche  Poesie 
durchgemustert  und  bekommt  gewaltiges  Lob,  versteht  sich. 
Da  heisst  es  S.  100:  „ein  herrlich  überaus  vorzügliches  Gedicht" 
und  S.  98:  „ein  vorzüglich  merkwürdiges  und  überaus  ange- 
nehmes altes  Gedicht ,  genannt  der  Krieg  auf  der  Wartburg" ; 
wahrscheinlich  hat  Hr.  Furchau  dieses  dunkle,  verworrene  und 
nichts  weniger  als  angenehme  Lied  niemals  mit  Augen  erblickt, 
er  lese  es  gelegentlich  in  der  überaus  zierlichen  und  bequemen  1832 
Jenaer  Handschrift  einmal  nach.  Wörter  wie:  Völliorkeit,  herzigr, 
herzinnig,  minniglich,  gar  arg,  gar  anmuthig,  allerabenteuerlichst, 
allerunseligst,  herzig,  friedlicher  und  fröhlicher  Herr,  und  hundert 
dergleichen  schmelzen  diese  Poesie  auf  allen  Blättern,  —  Jean 
Paul  in  der  Vorrede  zur  dritten  Auflage  des  Hesperus  S.  10 
bezeichnet  den  Missbrauch  der  Beiwörter  treÖ'end  als  schrift- 
stellerische Austrommelsucht  oder  Vorsprecherei  der  Empfin- 
dungen, welche  der  Gegenstand  haben  und  zeigen  soll,  aber 
nicht  der  Dichter, 


234  FRAU  HOLLE. 

Bei  einem  Romanschreiber  des  18.  Jahrhunderts  (die  zehn- 
mal übelgerathene  und  einmal  wohlgetroffene  Heirath  eines 
Mannes,  Leipzig  1735,  und  die  siebenmal  übelgerathene  und 
einmal  sehr  wohl  ausgeschlagene  Ehe  eine  Weibes,  ebendas.) 
findet  Rec.  dieselbe  Sünde  in  gleichem  ünmass,  nur  dass  die 
damals  modigen  Beiwörter  etwas  dünner  und  prosaischer  sind, 
es  heisst  nie  anders  als:  meine  unvergleichliche  Caroline,  ihre 
wenige  Gestalt,  meiner  liebsten  Gemahlin  erstaunens würdige 
Anmuth,  in  sehr  tiefen  Gedanken  sitzen,  kurz,  es  steht  kein 
Hauptwort  ohne  solche  Zuthat. 

Die  Fortsetzung  dieses  histofischen  Romans  von  Hans 
Sachs  wird  im  Messkatalog  bereits  verkündigt;  Hr.  Brockhaus 
hätte  die  bekannte  Schrift  von  Ranisch  (Altenburg  1765)  um- 
arbeiten und  aus  den  Gedichten  ergänzen  lassen  sollen,  so  wäre 
ein  Buch  von  bleibenderem  Werth  entstanden. 

[anonym.] 


1830  FRAU  HOLLE. 

Ein  hessisches  Volksmährchen  vom  Meisnerberge.     Kassel,  bey  Bohne.     1819. 

72  S.    8. 

Leipziger  Litteratur- Zeitung  für  das  Jahr  1819.    Zweites  Halbjahr,     No.  229, 

am  15.  September  1819.     S.  1830. 

VVir  zeigen  diese  übrigens  leicht  und  gewandt  geschriebenen 
Erzählungen  an,  um  dem  (am  Schkisse  des  Vorberichts  Dr. 
K.  Chr.  Schmieder  unterzeichneten)  Verf.  geradezu  zu  wider- 
sprechen, wenn  er  versichert,  sie  „theils  auf  dem  Berge,  theils 
in  den  Orten  umher"  gesammelt  zu  haben.  Rec.  ist  auf  dem 
bekannten  merkwürdigen  Meisnergebirge  selbst  gewesen  und  hat 
sich  sorgfältig  so  wie  in  den  umliegenden  Dörfern  nach  vor- 
handenen Volkssagen  erkundigt,  aber  keine  erfragen  noch  durch 
andere  darum  bemüht  gewesene  Reisende  erfahren  können,  das 
Wenige  abgerechnet,  was  man  (aber  fast  in  ganz  Hessen  und 
Thüringen)  von  Frau  Holle  zu  erzählen  weiss  und  das  in  vielen 
Büchern  gedruckt  steht.  Die  hier  gelieferten  Erdichtungen 
haben    auch    gar    nicht   das   Ansehen,    als   ob   ihnen   lebendige 


BARLAAM  VON   KÖPKE  UND  WIGALOIS  VON  BEXECKE.  235 

Volkstraditiou  unterläge,  sondern  sie  sind  auf  Namen  und  Auto- 
rität der  Frau  Holle  bin  aus  spielenden  Deutungen  der  örtlichen 
Namen  erzeugt  worden.  Die  Kutz-  oder  Kitzkamraer  wird  hier 
mit  Katzen  bevölkert;  der  Sache  und  der  hessischen  Volks- 
mundart  angemessener  wären  aber  wohl  Eulen  (Käuze).  Der- 
gleichen im  Erfola:  uothwendig  schale  und  dünne  Erzählunoren 
mag  nun  schreiben  und  lesen,  wer  dazu  Lust  hat,  allein  man 
sollte  sie  nicht  als  wirkliche  Sagen  ausbreiten,  auf  deren  sehr 
viel  höheren  poetischen  und  historischen  AA  erth  die  Aufmerk- 
samkeit unserer  Zeit  wieder  gelenkt  worden  ist.  Solche  falschen 
Nachrichten  können  einmal  in  Zukunft  schaden  und  verwirren. 
Münchhausens  Abhandlung  über  den  Meisner  in  Hinsicht  auf 
mythisches  Alterthum  (Hess.  Denkwürdigkeiten  2,  S.  161 — 202) 
bleibt  sehr  unbefriedigend  und  trägt  nordisches  System  (wie  es 
denn  auch  in  vorliegenden  Erzählungen  spukt)  ohne  Weiteres 
auf  das  deutsche  Alterthum  über,  das  in  einem  ganz  anderen 
Zusammenhang  zu  jenem  steht;  man  gefallt  sich  in  unerwiesenen 
Namendeutuugen  und  macht  z.  B.  aus  dem  Schlagrasen  (wo 
Holz  geschlagen  worden)  alsbald  einen  Schlachtrasen,  um  den 
heidnischen  Anstrich  zu  erhöhen.  —  Wer  baare.  unverfälschte 
Volkssagen  dieser  Gegend  (wo  sie  gewiss  vor  Zeiten  geblüht 
haben)  noch  ausspüren  könnte  und  mittheilen  wollte,  darf  des 
Dankes  der  Kenner  und  Liebhaber  des  vaterländischen  Alter- 
thums  gewiss  sein.  [anonym.] 


BARLAAM  UND  JOSAPHAT  2081 

von  Rudolph   Ton  Montfort  herausgegeben    und  mit   einem  Wörterbuche  ver- 
sehen von  Fr.  Carl  Köpke.     Königsberg,  bey  Fr.  Nicolovius.    1818.     XÜ  und 
527  S.  (wovon  aber  1—402  nur  Spalten  sind).    8.    (8.421—436  finden  sich 
kritische  Verbesserungen  von  Dr  Lachmann),     (1  Thlr.  12  Gr.) 

WIGALOIS  DER  RITTER  AUT  DEM  RADE 

getihtet  von  Wirnt  von  Gravenberch,  herausg.  von  George  Friedrich  Benecke. 
Erster  Druck.     Berlin,  bey  Reimer.     1819.     LXIV  und  767  S.    8. 

Leipziger  Litteratur-Zeitung  für  das  Jahr  1819.     Zweites  Halbjahr.     No.  261, 
am  20.  October  1819.     S.  2081—2092. 

-LJie  Beurtheilimg  dieser  beiden  für  die  altdeutsche  Litteratur 
sehr    erfreulichen    Erscheinungen    wird    hier    zusammenorefasst. 


236  BARLAAM  VON  KÖPKE  UND  WIGALOIS  VON  BENECKE. 

theils  weil  die  abgedruckten  Dichtungen  aus  der  besten  Zeit 
des  13.  Jahrhunderts  herrühren,  theils  aber  auch  weil  auf  ihre 
Herausgabe  ein  ähnliches  sorgfältiges,  von  der  seitherigen  nach- 
lässigen Behandlung  anderer  nicht  minder  wichtiger  Denkmäler 
desselben  Zeitalters  vortheilhaft  abstechendes  Verfahren  ange- 
wendet worden  ist. 

Barlaam  und  Wigalois  waren  noch  nicht  bekannt  gemacht, 
keiner  ihrer  Verfasser  findet  sich  unter  der  Zahl  der  auf  die 
Nachwelt  gekommenen  Minnesänger.  Rudolf  (von  Montfort 
benannt,  weil  er  ein  Dienstmann  des  Grafen  von  Montfort  ge- 
wesen) gehört  gleichwohl  unter  die  fruchtbarsten  und  begabtesten 
Dichter  jener  Zeit ;  den  vorliegenden  Barlaam  abgerechnet  sind 
noch  vier  andere  beträchtliche  Werke  von  ihm  erhalten,  ein 
sechstes  (die  Legende  des  heiligen  Eustachius)  scheint  hin- 
gegen verloren,  unter  jenen  vieren  ist  eins  von  grossem  Um- 
fang, die  sogenannte  Welt  ehr  onik,  in  vielen,  wiewohl  äusserst 
ungleichen  und  überarbeiteten  Handschriften  vorhanden,  eine 
Art  Weltgeschichte  nach  dem  Plan  des  Gottfried  von  Viterbo. 
Über  Rudolfs  Alexandreis  vermag  Rec.  nicht  zu  urtheilen, 
weil  er  noch  keine  der  davon  vorfindlichen  Handschriften  ein- 
zusehen Gelegenheit  gehabt  hat;  dagegen  steht  er  nicht  an,  den 
ihm  bekannten  Wilhelm  von  Orlenz  für  eine  anmuthige, 
des  vollständigen  Abdrucks  vollkommen  würdige  Dichtung  zu 
erklären.  Das  sechste  Gedicht,  den  guten  Gerhard  nämlich, 
2082  welchen  noch  Hr.  Köpke  für  gänzlich  unbekannt  hält  und 
dessen  auch  die  seitherigen  litterarischen  Hilfsmittel  geschweigen, 
wollen  wir  hier  wenigstens  in  einer  Handschrift  nachweisen. 
Sie  liegt  zu  Wien  No.  44  und  wird  als:  poema  heroicum 
anonymi  de  Ottone  rufo  aufgeführt,  Hauptheld  ist  aber  der 
gute  Gerhard  zu  Cöln,  wiewohl  auch  Kaiser  Otto  darin  auftritt. 
Dieser  Dichtung  erwähnt  Rudolf  selbst  im  Wilhelm  von  Orlenz: 

der  iu  daz  buoch  getihtet  hat, 
wie  dar  iinsers  schepheres  rat 
der  guote  Gerhart  loste 
von  grozeme  untroste 
ein  edele  kiimberliafte  diet. 

und  hier  im  Barlaam  402,  6  ff. 


BÄRLAAM  VON  KÖPKE  UND  WIGALOIS  VON  BENECKE.  237 

ich  hatte  mich  vermezzen  e. 

do  ich  daz  maere  enbarte 

von  dem  guoten  Gerharte, 

hatte  ich  mich  daran  versumet  iht 

daz  lihte  tumbem  man  geschiht, 

daz  ich  ze  buoze  wolde  stan, 

ob  mir  wurde  kunt  getan 

ein  ander  maere.  dast  geschehen. 
Die  Wiener  Handschrift  ist  freilich  auf  Papier  und  aus  dem 
15.  Jahrhundert:  wenn  wir  ihren  baldigen  Abdruck  wünschen, 
so  geschieht  es  dem  für  die  deutsche  Sagengeschichte  merk- 
würdigen Inhalt  zu  Gefallen;  wer  inzwischen  die  plane,  ver- 
ständige Schreibart  des  Dichters  aus  seinen  übrigen  Werken 
studirt.  wird  so  ziemlich  im  Stande  sein,  den  wahren  Text  über- 
all herzustellen.  Hier  ist  einmal  (leider  der  seltenere  Fall) 
Stoff  aus  der  mythischen  deutschen  Geschichte  geschöpft  i), 
während  Wilhelm  von  Orlenz  der  französischen  Quelle  nach- 
gedichtet wurde,  freilich  veredelnd.  Gleichwohl  stellen  wir  nicht 
bloss  diesen  letzteren,  sondern  auch  die  Weltchronik  unter  den 
altdeutschen  Gedichten,  die  sich  demnächst  zur  Herausgabe 
eicrnen,  oben  an.  Rudolf  von  Montfort  ist  kein  orlänzender 
Dichter,  wie  Wolfram  von  Eschenbach,  kein  lieblicher,  wie 
Gottfried  von  Strassburor,  auch  nicht  so  eindringlich,  wie  Hart- 
mann  von  der  Aue,  allein  Stil  und  Gedanke  haben  bei  ihm 
eine  bescheidene  Natürlichkeit  und  sehr  gleichmässige  Haltung.  2083 
Sein  heller  Verstand  neigt  sich  zur  ernsthaften,  frommen  Be- 
trachtung, daher  auch  zu  geistlichen  Stoffen.  Die  Legende  von 
Barlaam  ist  eine  stillbegeisterte  Lobrede  auf  die  Würde  und 
Reinheit  des  innerlichen  Christenthums  im  Gegensatz  zur  heid- 
nischen Weltlichkeit.  Den  Inhalt  dieser  edelen.  durch  die 
passendsten  Gleichnisse  und  Beispiele  erläuterten  Sage  hat  der 
deutsche  Dichter  höchst  angemessen  behandelt  und  wirklich 
nirgends  weder  zu  viel  noch  zu  wenig  gethan.  Man  darf  auf 
den  Verfasser  und  seine  Gabe  selbst  die  schönen  W^orte  an- 
wenden, die  er  einer  genügsamen  Armen  in  den  Mund  legt 
(137,  38): 

')  Einen  vorläufigen  Auszug  der  Fabel  vom  guten  Gerhart  vermisst  man 
ungern  im  zweiten  Bande  der  Grimm'schen  Sammlung  deutscher  Sagen. 


238  BARLAAM  VON  KÖPKE   UND   WIGALOIS  VON  BENECKE. 

got  hat  nach  gotlichem  site 
daz  groste  mir  geteilet  mite, 
den  notdürftigen  rehten  teil; 
daz  ist  daz  menscheliche  heil, 

seine  Dichtungen  lassen  in  dem  Leser  einen  befriedigenden 
Eindruck  zurück.  In  den  Reimen  sucht  Rudolf  keine  Künste, 
aber  sie  strömen  ihm  zu  ohne  allen  Zwang,  Er  ahmt  nie- 
manden nach,  sondern  steht  auch  in  manchen  Wendungen  seiner 
Sprache  eigenthümlich  für  sich  allein. 

Ein  verschiedener  Geist  spricht  aus  Wirnt  von  Grafen- 
berg, von  dem  nichts  als  dieser  Wigalois  übrig  ist,  doch  ver- 
muthlich  hat  er  auch  weiter  nichts  gedichtet.  Der  Ritter  er- 
scheint weltlicher,  zierlicher  und  höfisch  gebildeter,  als  der  gute 
Dienstmann,  er  übertriflft  diesen  an  Lebenserfahrung  und  weiss 
daraus  manche  feine  Bemerkung  anzubringen,  die  jenem  bei 
einem  ruhigeren  und  in  sich  gekehrteren  Wandel  schwerlich 
eingefallen  sein  würde,  obschon  Rudolf  kein  Geistlicher  war 
und  die  Freuden  der  Welt  nicht  verschmähte  (vgl.  305,  33  flP.). 
Für  die  Sitten  des  13.  Jahrhunderts  liefert  daher  Barlaam  gar 
keine,  Wigalois  aber  manche  wichtige  Erläuterung.  Der  Stoff 
ist  in  beiden  fremd  und  im  Wigalois  sogar  ein  altbritannisches, 
aber  durch  mehrfache  Bearbeitungen  i)  von  der  ursprünglichen 
bis  zu  der  welschen  und  deutschen  ziemlich  verwässertes  Mär- 
chen. Die  Fabel  vom  goldnen  Glücksrad  (1047  ff.  1865), 
das  sich  unaufhörlich  umdreht  und  seinem  Besitzer  Glück  und 
Friede  bringt  (eine  merkwürdige  Erinnerung  an  das  eddische 
Mühlenlied  und  an  die  nur  etwas  anders  gewendete  Idee  des 
Mittelalters  von  den  hier  auf  dem  Glücksrade  sitzenden  Men- 
schen; vgl.  auch  Grimm  deutsche  Sagen  No.  209  und  337), 
vermuthlich  der  Mittelpunkt  der  eigentlichen  Sage,  tritt  hier 
2084  völlig  zurück  und  wird  bloss  nebenbei  erwähnt.  Diese  Aus- 
lassung   oder    Verdünnung    einfacher    Bestandtheile    des    alten 

•)  Wirents  Grundlage  zum  Wigalois  war  vermuthlich  eine  nordfranzosischfr 
Dichtung,  wie  schon  aus  dem  kleinen  Umstand  hervorgeht,  dass  die  Namen 
Iwein,  Gavein  auf  ein  (altfranzösisch  Ivain,  Gauvain)  endigen.  Dasselbe 
gilt  von  Hartmanns  Quelle.  EschenVjach  aber,  der  einem  Provenzalen  folgte, 
setzt  die  Formen  Iwan,  Gawan  (provenzalisch  Ivans,  Gavans). 


BARLAAM  VON  KÖPKE  UND  WIGALOIS  VON  BENECKE.  239 

Märchens  und  ihrer  Verbindungen  unter  einander  bewirkt,  dass 
die  vielen  schweren  Abenteuer,  welche  der  Held  auszurichten 
hat,  ihm  doch  zu  wenig  Mühe  machen  und  der  für  ihn  günstige 
Ausgang  beinahe  jedesmal  vorauszusehen  ist.  Der  Dichter  hat 
indessen  den  (in  unseren  Augen  wenigstens)  undankbaren  Stoff 
mit  seltener  Geschicklichkeit  zu  behandeln  verstanden  und  ihm 
so  viel  abgewonnen  und  von  anderen  Seiten  her  vergütet,  dass 
gewiss,  wer  nur  dieser  alten  Sprache  kundig  ist,  das  Ganze 
von  Anfang  bis  zu  Ende  mit  besonderem  Wohlgefallen  durch- 
lesen wird. 

Der  Herausgeber  des  Wigalois  bringt  es  durch  die  geschickte 
Zusammenstellung  mehrerer  Umstände  (Vorrede  VIH  —  XIV) 
zur  höchsten  Wahrscheinlichkeit,  dass  Wirnt  (die  ältere  Form. 
dieses  Eigennamens  Wirant  ersehen  wir  aus  einem  Diplom 
bei  Neugart  No.  585  vom  Jahre  889)  von  Grafen berg  im 
ersten  Viertel  des  13.  Jahrhunderts  gedichtet  hat,  ungefähr  um 
1212  oder  einige  Jahre  später.  Gebürtig  war  er  aus  Franken, 
aus  dem  noch  bestehenHen,  unweit  Nürnberg  und  Erlangen 
liegenden  Städtchen  Grafenberg,  damals  wohl  unter  meranischer 
Botmässigkeit.  Sehr  gut  wird  gezeigt,  dass  eine  merkwürdige 
Stelle  des  Gedichts  (Z.  8061  ff.)  von  dem  Tode  des  Fürsten 
von  Meran,  wobei  der  Dichter  zugegen  gewesen,  auf  Herzog 
Berthold  IV.  (f  1206)  bezogen  werden  muss,  also  mit  der  Volks- 
sa^e  von  der  Gräfin  von  Orlamünde  (bei  Grimm  No.  579) 
oder  einer  anderen  von  dem  Mörder  Hager  zu  Plassenburg 
nicht  zusammengestellt  werden  kann,  wie  denn  auch  das  Ge- 
dicht nirgends  auf  einen  Mord  anspielt,  sondern  nur  der  klagen- 
den Frauen  gedenkt.  Hiernach  berichtigt  sich  Docens  Ver- 
muthung  in  den  Marginalien  zu  Koch  (Aretius  Beiträge  Bd  VH, 
S.  316)  und  im  altdeutschen  Museum  I,  S.  165.  Über  Wirents 
weitere  Lebensumstände  ist  nichts  bekannt,  ausser  dass  ihn  der 
freilich  weit  spätere  Conrad  von  Würzburg  in  eine  sagenmässige 
(Beilage  S.  LV  bis  LXIV  mit  Recht  hier  abgedruckte)  Er- 
zählung verflicht.  Die  Geringfügigkeit  der  Nachrichten  von  des 
Dichters  äusserem  Leben  (wir  besitzen  keine  alten  Biographieen 
der  Minnesänger,  wie  die  der  provenzalischen  Troubadours  sind) 
vergiitet  Herr  Prof.  Benecke  durch    einen  wichtigen  Aufschluss 


240  BARLAAM  VON  KÖPKE  UND  WIGALOIS  VON  BENECKE. 

über  sein  inneres  Wesen;  Wirent  hat  sich  sichtbar  in  Stil  und 
Sprache  den  Hartmann  von  der  Aue  zum  Muster  genommen, 
man  vergleiche  nur  Z.  126  ff.  des  Wigalois  mit  dem  armen 
Heinrich  Z.  10,  Z.  151  mit  Iwein  Z.  40—58,  Z.  445  mit  Iwein 
4622,  Z.  557  mit  Iwein  Z.  7091  usw.,  er  möge  nun  persönlichen 
Umgang  mit  Hartmann  gepflogen  haben  (nach  einem  Lied  der 
Man.  Samml.  1,  183  b  scheint  letzterer  auch  in  Franken  zu  leben) 
oder  durch  öfteres  Lesen  und  Anhören  des  Iwein  und  anderer 
berühmter  Dichtungen  Hartmanns  mit  dem  Geist  und  der 
Weise  derselben  vertraut  geworden  sein.  Dergleichen  auffallende 
2085  Familienähnlichkeit  findet  sich  auch  sonst  zwischen  anderen 
alten  Dichtern;  in  demselben  Sinn,  wie  wir  Wirent  einen  Nach- 
eiferer und  Schüler  Hartmanns,  dürfen  wir  auch  Reinbot  von 
Doren  einen  Schüler  Wolframs  (vgl.  S.  Georg  4916  mit  Parcifal 
2045  [69,  16]  und  Wörter  wie  hamit,  phandes  sten  etc.),  den 
unbekannten  Verfasser  des  Wigamur  einen  Schüler  Gottfrieds 
nennen  (vgl.  Wigamur  1195  mit  einer  leicht  aufzufindenden 
Parallelstelle  im  Tristan).  Mehrere  Stellen  beweisen  indessen, 
dass  Wirent  auch  ausserdem  Wolframs  Parcifal  in  einzelnen 
Wendungen  nachgeahmt  habe.  Der  dreifache  Reim,  mit 
welchem  seine  Absätze  schliessen,  findet  sich  auch  in  Turlins 
Wilhelm  dem  Heiligen,  doch  so,  dass  in  letzterem  regelmässig 
31  Zeilen  zum  Satz  gehören,  Wirent  aber  in  diesem  Stück 
keine  Zahl  hält;  neben  kleinen  Abschnitten  von  15,  13,  11  und 
selbst  9  Zeilen  (S.  62.  69.  82.  104.  134.  97)  finden  sich  viel 
längere,  z.  B.  S.  66  —  68  einer  von  77  Zeilen. 

Das,  wodurch  sich  die  vorliegenden  Ausgaben  des  Barlaam 
und  Wigalois  gemeinschaftlich  auszeichnen,  ist  die  kritische  Be- 
handlung des  Textes.  Es  macht  Freude  und  berechtigt  zu  Er- 
wartungen für  die  Zukunft,  wenn  wir  ein  Verfahren,  das  bei 
der  griechischen  und  römischen  Philologie  allgemein  gültig  ist, 
vielleicht  noch  mit  glücklicher  Vermeidung  einiger  hierbei  wohl 
betretener  Abwege,  endlich  auch  auf  die  Denkmäler  unserer 
einheimischen  Litteratur  angewendet  sehen.  Freilich  geht  es 
leichter  und  schneller,  den  merkwürdigen  Inhalt  altdeutscher 
Poesieen  oberflächlich  zu  erfassen  und  ihre  Schönheiten  heraus- 
zufühlen;  aber   gründlich   geschehen  kann   dieses   doch  niemals 


BARLAAM  VON  KÖPKE  UND  WIGALOIS  VOX  BEXECKE.  241 

ohne  die  innigste  Bekanntschaft  mit  dem  Buchstaben,  d.  h.  mit 
allen  ihren   äusseren  Formen.      Erst   dadurch  gewinnt  die  Aus- 
legung im  Einzelnen  gehörige  Sicherheit,  und  aus  dieser  scharfen 
Betrachtung  des  Einzelnen  gehen  gleichwohl  Lichtstrahlen  aus, 
die   dem  Ganzen   zu    statten   kommen.      Was  hier  überall  wün- 
schenswerth  scheint,  führt  sich  hauptsächlich  auf  folgende  Punkte 
zurück.     Man   strebe  jeder  Herausgabe   eines  bedeutenden  Ge- 
dichts  eine   alte   gleichzeitige    oder   dem  Zeitalter   des   Dichters 
möglichst    nahe    kommende   Abschrift    zum   Grunde    zu   legten; 
billicr  sollte  keine,    die   über  hundert  Jahre  iünofer  wäre,    zusre- 
lassen  werden.      Spätere   Handschriften   dienen   bloss   nebenher 
zu  Ausfüllung  einzelner  Lücken   oder    zu  Muthmassungen  über 
schwierige  Stellen:  ihre  übrige  Abweichung  hat  keinen  Werth, 
d.  h.  für   die   Feststellung   des   herauszugebenden    Textes.      Für 
jemand,    der  die  Sprache  geschichtlich  verfolgt,   kann  natürlich 
ihre  Vergleichung  sehr  nützlich  werden,  aber  um  dieses  Zweckes 
willen  soll  man  keine  solche  Lesarten   wirklich  drucken  lassen; 
auch   versteht   sich    von  selbst,   dass   bei  offenbar  fluctuirendeu, 
mehr  volksmässigen  Dichtungen,  wie  die  Nibelungen  oder  Theile 
des  Heldenbuchs  sind,  spätere  Abschriften  ungleich  bedeutender 
werden  und   vielleicht  der  vollständige  Abdruck  aller  Varianten  20^6 
wünschenswerth  ist.     Hat  nun  glücklicherweise  der  Herausgeber 
eine  gute  Handschrift  aufgetrieben  und  stimmt  diese  hochdeutsch 
(denn  es  gibt  auch  sehr  frühe  im  13.  Jahrhundert  von  nieder- 
deutschen  und   halbniederdeutschen  Copisten    geschriebene,    die 
man  nicht  zum  Grund  legen  darf,   obwohl   sie   sonst  besondere 
Rücksicht  verdienen),    so   muss   er   den  Text   nach   den  Regeln 
der  damaligen  Sprache  prüfen  und  sichten,  wird  aber  damit  im 
Allgemeinen  noch  nicht  ausreichen,  sondern  seine  zweite  Sorge 
muss  dahin   gerichtet  sein,    dass   er   die   Eigenthümlichkeit   des 
Dichters    in    Mundart    und    Stil    theils    aus    dem    vorliegenden 
Werke  selbst,  theils  aus  anderen  vorhandenen  Werken  desselben 
zu  erfassen  und  darnach  den  Text  zu  stellen  suche.     Ein  treff- 
liches und  die  grosse  Mühe  reichlich  (auch  in  anderen  Absichten) 
lohnendes  Mittel    sind    hierbei    umständliche    und   ins   Kleinste 
gehende  Wörterbücher,  die  sich  der  Herausgeber  noch  genauer 
für   sich   anlegen    muss,   als    er   sie  etwa  dem  Publikum  mitzu- 

W.  GEIMM,  KL.  SCHRIFTEN.     U.  16 


242  BARLAAM  VON  KÖPKE  UND  WIGALOIS  VON  BENECKE. 

theilen  denkt.  Auf  diesem  einzigen  Wege  werden  wir  allmählich 
dahin  gelangen,  die  Werke  unserer  ausgezeichneten  Dichter  des 

13.  Jahrhunderts  in  ihre  wahre,  ursprüngliche  Gestalt  kritisch 
herzustellen  und  demnächst  sogar  die  Bekanntmachung  einzelner^ 
die  sich  nur  in  späteren  schlechten  Handschriften  erhalten  haben, 
sobald  der  Dichter  aus  anderen  Quellen  studirt  werden  kann, 
mit  sicherem  Erfolge  zu  versuchen.  Einen  Fall  letzterer  Art 
haben  wir  oben  bei  Rudolfs  gutem  Gerhart  bezeichnet.  Wie 
erwünscht  und  förderlich  wäre  eine  Ausgabe  der  operum 
omni  um  dieses  Dichters,  und  wie  musterhaft  könnte  sie  ein- 
gerichtet sein!  Gelehrte  Gesellschaften  und  Regierungen  Deutsch- 
lands müssen  aber  die  Erscheinung  von  4  bis  5  Bänden  unter- 
stützen, wenn  einzelne  Verleger  sich  kaum  zu  einem  Bande  be- 
wegen lassen. 

Nach  guten  kritischen  Grundsätzen  ist  inzwischen  bei  dem 
Barlaam  und  vornehmlich  bei  dem  Wigalois  verfahren,  und  wir 
sagen  nicht  ein  vollkommener,  aber  ein  ziemlich  und  beinahe 
vollkommener  Text  geliefert  worden.  Dem  Barlaam  hat  Hr. 
Köpke  eine  Königsberger  Handschrift  zum  Grund  gelegt,  eine 
zweite  Königsberger  und  eine  Berliner  zugezogen.  Genauere 
Untersuchungen  über  das  wahrscheinliche  Zeitalter  der  Hand- 
schriften mangeln,  beide  Königsberger  scheinen  schon  aus  dem 

14.  Jahrhundert,  die  Berliner  ist  noch  später  und  schlechter. 
Allein  auch  die  bessere  Königsberger  verdient  keineswegs  den 
Namen  einer  trefflichen  (vgl.  Lachmanhs  Bemerkung  S.  428); 
unter  solchen  Umständen  hat  der  Text,  zumal  in  grammatischen 
Verhältnissen,  nach  den  bisher  erkannten  Regeln  der  hoch- 
deutschen Sprache  des  13.  Jahrhunderts  inj  Allgemeinen  be- 
richtigt werden  müssen,  was  zwar  mit  grossem  Fleisse,  jedoch 
keineswegs  genügend  geleistet  worden  ist.  Dass  sich  der  Heraus- 
geber weder  um  die  Hohenemser  noch  um  die  Münchener  Hand- 

2087  Schrift  (letztere  von  1284  und  in  bairische  Mundart  umge- 
schrieben, jene  wohl  auch  aus  dem  13.  Jahrhundert)  bemühet 
hat,  bleibt  zu  bedauern.  —  Dem  Herausgeber  des  Wigalois 
stand  eine  Kölner,  beinahe  gleichzeitige  aus  dem  Beginn  des 
13.  Jahrhunderts,  eine  Leidener  von  1392  (auf  welche  Hrn. 
Beneckes  Auszüge  in  der  Vorrede  zu  dem  holländischen  Abdruck 


BARLAAM   VON   KÖPKE  UND  WIGALOIS  VON  BENECKE.  O43 

des  Teutonista  führten ;  noch  häufigere  hätte  er  schon  in 
Huydecopers  Erläuterungen  des  Melis  Stoke  finden  können), 
eine  Bremer  von  1376  und  eine  Hamburger  von  1451  (ausser 
anderen  Bruchstücken)  zu  Gebote.  Hier  ist  mithin  alles  besser 
bestellt  und  die  Kölner  natürlich  zum  Grund  geleoft.  Auch  sind 
keine  anderen  guten  Handschriften  des  Wigalois  sonst  entdeckt 
worden. 

In  Absicht  auf  äussere  Einrichtung  des  Abdrucks  bemerken 
wii-,  dass  sie  bei  Barlaam  ungleich  gedrängter  und  sparsamer 
ist;  16060  Zeilen  sind  auf  402  Spalten,  folglich  201  Blattseiten 
abgredruckt  worden,  während  die  11708  Zeilen  des  Wioralois 
429  Seiten  (etwas  kleineren  Formats)  einnehmen.  Dieses  erhöht 
freilich  die  Kosten  des  Verlags,  wenn  indessen  nur  lauter  solche 
gediecrene  Arbeiten  im  Fache  der  altdeutschen  Litteratur  er- 
schienen  und  die  unreifen  hinterblieben,  so  würde  man  doch 
sparen,  und  die  Form  des  Wigalois  gereicht  zur  Bequemlich- 
keit beim  Gebrauch.  Auch  die  neue  Art  von  Bezifferung, 
welche  beim  Barlaam  versucht  worden  ist,  so  dass  nicht  fort- 
laufend die  Zeilen  des  Ganzen,  sondern  für  jede  Spalte  bezeichnet 
werden,  will  uns  nicht  gefallen.  Sie  hat  etwas  Unsinnliches 
und  erspart  beim  Citiren  nichts.  (Sp.  147 — 150  sind  richtig 
beziffert,  allein  im  Satz  verrückt,  man  lese  auf  Sp.  146  die 
rechte  Seite  des  folgenden  und  dann  erst  die  linke  des  vor- 
stehenden Blattes:  auf  die  Worte:  der  tohter  was  er  vil 
bereit   folgt:    diu   wart   im  sa  gegeben.) 

Was  wir  grammatisch  und  orthographisch  an  den  beiden 
Texten  (am  Wigalois  fast  bloss  in  letzterer  Rücksicht)  auszu- 
setzen hätten,  das  theilen  wir  hier  nicht  mit,  weil  die  Litteratur- 
zeitungen  dergleichen  ins  Einzelne  und  Umständliche  gehenden 
Bemerkungen  ungern  den  gebührenden  Kaum  gestatten,  überdem 
die  Druckereien  nicht  mit  den  nöthigen  Schrif\zeichen  versehen 
sind,  und  was  das  Schlimmste  ist,  der  Abdruck  nicht  unter 
den  Augen  des  Rec.  geschehen  kann,  also  unvermeidliche  Druck- 
fehler zu  befürchten  sind,  die  den  Werth  der  Kritik  schmälern. 
Vielleicht  gehören  auch  dergleichen  Dinge  besser  für  die  Heraus- 
geber, als  für  ein  gemischtes,  sie  leicht  missdeutendes  Publikum, 
und   Rec.  (um    nicht  in    den   S.  436    von   Hrn.  Lachmann    aus- 

16* 


244  BARLAAM  VON  KÖPKE  UND   WIGALOIS  VON  BENECKE. 

gesprochenen  Vorwurf  zu    fallen)    begnügt   sich,    zu   bemerken, 
dass  er  eine  ausführliche  grammatische  Durchsicht  vorgenommen, 
auch   dem  Herausgeber    des  Wigalois   besonders   mitgetheilt  hat 
und  Hrn.  Prof.  Köpke  ebenfalls  mitzutheilen  bereit  ist. 
2088  Ein  Gleiches  gilt   in  Ansehung   der  Bemerkungen,    welche 

wir  der  Natur  der  Sache  nach  etwas  häufiger  zu  den  beiden 
Ausgaben  beigefügten  Wörterbüchern  zu  machen  hätten.  Denn 
im  Text  stellen  sich  die  einzelnen  grammatischen  Formen 
meistens  von  selbst  richtig  auf;  in  dem  Wörterbuche  hat  die 
Angabe  der  vollständigen  Verhältnisse  jedes  Worts  schon  grössere 
Schwierigkeit.  Dem  Publikum  muss  aber  gesagt  werden,  dass, 
wiewohl  beide  Glossare  sehr  fleissiff  gearbeitet  sind  und  dem 
Studium  der  alten  Sprache  gewiss  förderlich  sein  werden,  das 
Beneckische  (auch  mit  dem  besonderen  Titel:  Anmerkungen 
und  Wörterbuch  zum  Wigalois  S.  430  —  476  ausgecrebene) 
vorzüglicher  Auszeichnung  werth  ist.  Rec.  erinnert  sich 
keiner  gleich  treflflichen  Arbeit  im  ganzen  Fache  altdeutscher 
Litteratur.  Die  wahren  Stämme  und  Ableitungen  dunkler 
Wörter  zu  finden  und  anzugeben  ist  öfters  sehr  schwer;  aber 
noch  ungleich  schwerer  scheint  es,  Wörtern,  deren  Wurzel  und 
Bildung  durchaus  klar  ist,  den  Begriff  nachzuweisen,  den  sie 
in  einer  verflossenen  Zeit,  häufig  ganz  verschieden  von  dem 
einer  früheren  oder  späteren,  gerade  gehabt  haben.  Nicht  bloss 
die  Formen  und  Endungen  der  Wörter  sind  einem  unaufhör- 
lichen Wechsel  unterworfen;  auch  ihre  Bedeutung  und  das, 
was  ihre  Seele  heissen  kann,  ändert  sich  und  hat  Übergänge. 
Z.  B.  unsere  heutigen  Ausdrücke:  fromm,  klein,  krank,  mögen, 
können  usw.  finden  sich  auch  in  der  alten  Sprache,  bedeuten 
aber  ganz  etwas  anderes,  und  wörtliche  Übersetzungen  der  ver- 
alteten Form  in  die  neue  würden  den  Sinn  am  meisten  ge- 
fährden. Den  damaligen  Begriff  äusserlich  leicht  aussehender, 
innerlich  sehr  verschiedener  Wörter  aufzuspüren  scheint  uns 
ein  löbliches  Ziel  Hrn.  Prof.  B.,  und  er  ist  darin  ungemein 
glücklich.  Man  sehe  die  Wörter:  aventiure,  besch renken, 
buhurt,  poinder  und  viele  andere,  deren  Erläuterung  einen 
dem  Wörterbuch  vorgesetzten  Spruch  (plus  habet  operis,  quam 
ostentationis)  reichlich  bewährt.      Eine   schöne  Ausführung   der 


BARLAAM  TON   KuPKE  UND  WIGALOIS  VON  BENFXKE.  945 

mehrfachen  und  schwankenden  Bedeutungen  liest  man  bei  dem 
Worte  palas,  das  zwar  von  palatium  abstammt,  alllein  mit 
dem  Beorriflf  unseres  heutigen  Palast  ffar  nicht  zu  verwechseln 
ist.  Rec.  will  hier  Einiges  über  die  Geschichte  dieses  Aus- 
drucks, sowie  über  ähnliche  für  das  Bauwesen  im  Mittelalter 
gültige  Benennungen  zufügen.  Der  Name  palas  wurde,  scheint 
es,  erst  im  12.  und  13.  Jahrhundert  aus  dem  französischen 
palas  (palaz,  später  palais)  eingeführt  und  statt  der  früheren 
echtdeutschen  Ausdrücke:  sal,  hof,  halle,  auch  wohl  hus  und 
bürg  gebraucht.  Allein  unsere  Sprache  hatte  schon  viele  Jahr- 
hunderte früher  das  Wort  palatium  in  sich  und  zwar  aus  der 
Griechischen  Form  -a/.XavTiov  aufgrenommen. 

Bereits  vom  7.  Jahrhundert  an  findet  sich  das  Femininum  2089 
phalanza,  phalinza,  falanza,  späterhin  phalenze  in  mehr- 
fachem Sinn,  bald  für  basilica(gl.  Mons. 331. 382),  praetorium 
(daselbst  398),  bald  für  aula,  gleichbedeutend  mit  Hof  und 
phorzih  (Symbolae  194).  Ottfried  nennt  Marias  Wohnung 
palinza  (I,  5,  17)  und  Pilatus  Prätorium  palinz-hus  (IV,  20,  6), 
es  unterliegt '  keinem  Zweifel,  dass  man  ein  jedes  ansehnliche 
öffentliche  Gebäude,  voraus  Kirchen  und  Königswohnungen  mit 
diesem  Namen  beleo^te.  In  encrerem  Sinn  oralt  er  vorzüglich 
von  dem  Hofe  des  Königs,  es  bildeten  sich  Dienste  und  Ge- 
wohnheiten der  Pfalenz  (Pfalz),  leges  palatinae  (Lamb. 
schafhab.  ed.  Krause  S.  159.  220.  245)  und  die  Würde  der 
Pfalzgrafen.  Eine  Glossensammlung  des  12.  Jahrhunderts  (Sym- 
bolae  303),  nachdem  sie  palas  und  p alenze  als  zweierlei 
Ausdrücke  aufgestellt  hat,  fügt  hinzu:  sed  Francorum  lingua 
eodem  verbo  significatur  et  aedificium  et  officium,  cum  dicitur 
p alenze.  Da  man  in  neueren  Zeiten  die  Geschichte  unserer 
Architektur  mit  verdienter  Aufmerksamkeit  betrachtet,  so  ist  der 
frühere  Gebrauch  der  aus  dem  Byzantinischen  mit  der  Bau- 
kunst selbst  (seit  dem  5.  und  6.  Jahrhundert?)  eingeführten  Be- 
nennungen palanza  und  kirihha  (■/.•joiotzT-,  dominica)  sicher 
zu  beachten.  Eben  dahin  gehört  das  gleichfalls  alte  phorzih 
(Masc,  im  Plur.  phorzihha),  angelsächsisch  portic,  aus  dem 
lateinischen  porticus  stammend  und  zuweilen  mit  phalanza 
gleichbedeutend  (Symbolae  194),  gewöhnlich  aber  den  Vorhof  der 


246  BARLAAM   VON  KÖPKE   UND   WIGALOTS  VON  BENECKE. 

Kirche  oder  des  Palastes  (aula,  atrium,  vestibulum,  peri- 
bolus,  pastophorium,  doma)  bezeichnend  (gl.  mons  337. 
341.  361.  362,  Symb.  202.  231.  234).  In  diesem  Sinn  spricht 
Lamb.  schafnab.  (p.  128)  von  einem  atrium  palatii.  Es  war 
natürlich,  dass  in  der  Kirchenbaukunst  die  altdeutschen,  viel- 
leicht an  das  abgeschworene  Heidenthum  mahnenden  Ausdrucke 
den  fremden  weichen  mussten;  einen  solchen  mag  selbst  hof 
(atrium  bei  Notker  95,  7)  gehabt  haben.  Eine  sorgfältige 
Untersuchung  der  deutschen  Bauwörter  nach  Zeiten  und  Völker- 
schaften wäre  gewiss  fruchtbar;  dergleichen  sind  alh,  gothisch 
2090templum,  altsächsisch  alah;  rohsn,  gothisch  atrium;  razn 
gothisch  domus,  isländisch  rann;  hochdeutsch  folgende: 
gadam  (Gaden),  flezzi  (atrium,  isländisch  flet),  zimbar 
(Zimmer,  timbr)  und  andere.  Keminate  ist  weit  jünger  und 
entweder  lateinischen  Ursprungs  (der  Heizbarkeit  wegen  von 
camin us),  oder  slavischen  (polnisch  kamienica,  steinernes 
Haus);  seine  damalige  Bedeutung  und  Identität  mit  gadem 
setzt  der  Herausgeber  des  Wigalois  ins  Klare. 

Zu  den  S.  433  —  510  enthaltenen,  wichtige  Varianten  mit- 
theilenden und  besonders  dunkele  Stellen  beleuchtenden  An- 
merkungen ist  uns  beim  Durchlesen  ein  und  das  andere  ein- 
gefallen, was  wir  hier  mittheilen  wollen.  Z.  57  „sit  ich  mich 
guotes  alrerst  versan"  wiederholt  sich  976.  6855  und  heisst 
soviel  als:  von  Kindesbeinen  auf,  sobald  ich  unterscheiden  lernte, 
was  Gut  und  Bös  sei.  Liechtenstein  (Man.  2,  26a)  „sit  daz 
ich  verstuont  beidiu  übel  und  guot."  —  Z.  341  „biderbe 
und  frumech"  steht  ebenso  zusammen  in  Wernhers  Maria  4133 
und  Wigamur  2517.  —  Z.  788.  Bedenklich  scheint  die  Aus- 
legung der  Worte:  „geworht  ane  zungen"  durch:  Dichter- 
gebilde abgerechnet.  Von  einem  Abrechnen,  Ausnehmen  hat 
der  Text  nichts,  denn  ane  steht  nicht  vor  geworht,  sondern 
vor  Zungen,  ane  kann  aber  auch  nicht  soviel  wie  an  und  der 
Satz:  gedichtet  mit  der  Zunge,  d.  h.  Poesie,  Sprache  bedeuten 
sollen,  denn  in  dieser  Construction  wird  mit  erfordert  (Z.  782. 
4471).  Entweder  also  müssen  die  Worte  „geworht  ane 
Zungen"  aussagen:  nicht  mit  der  Zunge  (durch  die  Zunge, 
nämlich  Sprache,  Poesie)  geschaffen,   folghch:    wirklich  lebend, 


BARLAAM  VON  KÖPKE  UxND  WIGALOIS  VON  BENECKE.  247 

oder  zungenlos  erschaffen,  d.  h.  als  Bildsäule  oder  Gemälde, 
denen  der  Schein  der  Oberfläche,  kein  inneres  Leben  zusteht, 
folglich:  sprachlos,  unlebend.  In  keinem  Fall  dürfen  die 
Worte  eingeklammert  werden.  —  Zu  Z.  1605  wird  die  alte 
Bedeutung  des  Wortes  rede:  ratio,  Rechenschaft  angemerkt. 
In  früherer  Zeit  galt  redihaft  für  rationabilis,  und  noch 
im  heutigen  Holländisch  steht  redene  für  Rechenschaft.  Dies 
alles  ist  in  der  Philosophie  der  Sprache  tief  gegründet,  die  Be- 
griffe, welche  sich  im  lateinischen  ratio,  oratio,  numerus  usw. 
begegnen,  erscheinen  auch  im  gothischen  rathjo  (Rechenschaft 
und  Zahl),  im  althochdeutschen  redia;  Zahl  (zala,  tala) 
drückt  numerus,  lingua  und  solertia  aus.  —  Z.  2319 — 24 
klagt  der  Dichter  über  die  Sitte  seiner  Zeit,  den  besiegten 
Ritter  der  Rüstung  zu  berauben;  ebenso  Reinmar  von  Zweter209l 
(Man.  2,  129b)  „do  hete  man  umbe  eine  deke  un gerne 
erwürget  guoten  man."  Allein  dies  Lob  der  besseren  alten 
Zeit  ist  hier,  wie  so  häufig,  ungegründet,  und  das  spolium 
(re-roup  Parc.  1414L  14176  [473,  29.  475,  5],  sonst  auch 
wala-rauba,  val-rän)  war  uralte  Gewohnheit  aller  frühen 
Völker;  vgl.  Waltharius  1187:  Caesos  spoliarier  armis,  205 
tum  super  occisos  ruit  et  spoliaverat  omnes;  Hildebrands- 
lied Z.  50  und  das  homerische  -su/sa  a-jXav.  Z.  2358  ff",  wird 
wiederum  Alt  und  Neu  gegeneinandergestellt :  eine  Jungfrau  dürfe 
nicht  mehr  allein  reisen,  ohne  in  Gefahr  und  übelen  Ruf  zu  fallen. 
Man  vgl.  dazu  Wigamur  5389  und  Reinmar  von  Zweter  (2,  152  b). 
—  Die  Anmerkung  zu  Z.  2861  über  Hoyer  von  Mansfeld  dient 
zur  Ergänzung  von  Grimm  deutsche  Sagen  No.  487;  man  vgl. 
auch  Helmoid.  chron.  slav,  S.  36.  —  Z.  3522  bei  der  Redensart 
„gan  lan"  (gehen  lassen)  ist  zu  verstehen:  diu  ors  oder  daz 
ors,  und  mit  dem  Streitross  ablenken  oder  herzureiten  wird 
durch:  von  einander  oder  zuo  einander  gan  lan  (1993) 
ausgedrückt.  Auf  ähnliche  Weise:  He  hine  gan  (ritt  fort) 
Tristan  8995.  9049.  9080. 15912. 16048  und:  lie  naher  strichen 
Parc.  20308  [679,  25],  Oranse  2,  146a  [Will.  324,  20].  Zu- 
weilen sind  aber  auch  andere  Substantive  bei  dergleichen 
Redensarten  zu  subintelligiren.  —  Aus  Z.  6145  wird  bewiesen, 
dass   diese  Gedichte  für  Zuhörer,   nicht  für  stumme  Leser  be- 


248  BARLAAM  VON  KÖPKE  UND  WIGALOIS  VON  BENECKE. 

stimmt  waren.  Darum  heisst  es  häufig  in  Beziehung  auf  das 
laute  Vorlesen:  munt  nie  gelasZ.  11569  und  Parc.  9394  [315, 
14],  S.  Georg  4993,  Orlenz  16—20.  Ein  stilles  Für-sich-Lesen 
kommt  indessen  auch  vor,  z.  B.  in  Conrads  Erzählung  von 
Wirnt  Z.  55  —  62.  —  Den  sorgfältigen  Nachweisungen  der 
Fabel  vom  Salamander  und  Samanirit  zu  Z.  7435  wüssten  wir 
gegenwärtig  nur  eine  Stelle  im  Laurin  (Symb.  68.  69)  beizu- 
fügen. —  Z.  7462.  Die  Wortfügung,  welche  den  Nominativ 
vorausschickt  und  dann  das  Pronomen  im  nöthigen  Casus  folgen 
lässt,  kommt  überall  in  der  altdeutschen  Sprache  vor  und  schon 
in  Quellen  des  8.  und  9.  Jahrhunderts.  Auch  die  zu  Z.  8660 
bemerkte  Unterbrechung  der  Rede  durch  Fragen  lässt  sich  durch 
eine  Menge  von  Beispielen  erläutern.  Aber  so  vergessen  ist 
die  alte  Syntax  unserer  Sprache,  dass  dergleichen  Dinge  den 
Grammatikern  unerhört  und  neu  dünken  werden!  —  Z.  8920 
wird  gelac  (endigte)  von  dem  blossen  lac  (lag)  richtigi  unter- 
schieden. Der  Nachdruck  beruht  auf  der  Vorsilbe  ge-  (xcz-a-), 
und  gelag  kommt  unserem  heutigen  „lag  dahin,  danieder"  bei. 
Man  muss  daher  sagen:  „daz  her  lac  uf  dem  velde",  aber; 
„er  gelac  tot  oder  sigelos"  —  Z.  9089  „sper  von  angeran, 
angran"  heisst  im  Parcifal  10000.  11479.  21027  [335,  20.  384, 
29.  703,  24]  an  gram  (im  Reim  auf:  nam).  Es  ist  der  Name 
eines  Ortes,  wo  besonders  starke  Speere  verfertigt  werden 
mussten,  wie  man  aus  sper  von  troys  (Troyes  in  Campagne) 
Parc.  8586  [288,  16]  entnehmen  kann.  Vermuthlich  wird  Agram 
in  Croatien  gemeint.  —  Z.  9525  „die  sines  ortes  waren  geil'* 
2092  kann  sines  schwerlich  auf  die  Fürsten  bezogen  werden ,  weil 
es  sonst  nach  der  Grammatik  heissen  müsste:  ir  ortes,  und 
ieslicher  schwerlich  als  ausgelassen  hinzugedacht  werden  darf. 
Hr.  Benecke  versteht  unter  Ort  das  Land,  womit  einer  belehnt 
wird.  —  Sollte  es  nicht  vielmehr  die  Spitze  des  Speers, 
Scepters  oder  der  Fahne  bedeuten,  welche  symbolisch  von  dem 
Lehnsherrn  gegen  den  Vasall  bei  der  Übergabe  des  Lehns  ge- 
senkt wurde?  Sines  ortes  gienge  alsdann  auf  den  belehnenden 
König,  die  belehnten  Fürsten  waren  seines  Scepters  oder  seiner 
Belehnung  froh,  standen  gern  unter  einem  so  mächtigen  Ober- 
herrn.     Die   ganze  Stelle  hat  Wirent  von  Grafenberg  aus  dem 


BARLAAM  VON  KÖPKE  UND  WIGALOIS  VON  BENECKE.     249 

Parcifal  1527  [51,28]  entlehnt,  wo  auch  1528  [51,  29]  folgt:  doch 
beleip  der  bezzer  teil  gamurete,  wie  hier  9524  iedoch 
beleip  im  der  beste  teil.  —  Z.  10494  steht:  ouch  lagen 
im  geliche  zwey  richiu  kunechriche,  welches  erklärt 
wird:  zwei  mächtige  Reiche  grenzten  an  sein  Land.  Dieses 
Grenzen  ist  zu  bezweifeln.  Geliche  (Adv.)  ligen  oder  auch 
stehen  heisst  wohl  nichts  als:  aequipollere,  aequiparari(Nibel. 449 
[113,  1].  Parcif.  13423  [449,  28]),  in  unserem  Zusammenhang: 
sie  kamen  ihm  gleich  an  Macht,  und  er  wusste  sich  ihrer  doch 
zu  erwehren.  Die  Redensart:  gelich  (Adj.)  sin  (auch  mit 
dem  Dativ)  findet  sich  bei  den  alten  Dichtern  weit  häufiger 
und  muss  auf  mancherlei  Weise  verstanden  werden. 

Der  Herausgeber  des  Barlaam  hätte  dunkele  oder  merk- 
würdige Stellen  seines  Textes  mit  ähnlichen  Erläuterungen  aus- 
statten sollen,  z.  B.  Spalte  79  die  jüdische  Fabel  von  dem  un- 
geheueren Fisch  Leviathan,  dessen  Wange  Christi  Tod  mit  der 
Angel  durchbohrte,  eine  merkwürdige  Anspielung  auf  die  mid- 
gardische  Schlange,  welche  in  Thors  Angel  biss  und  dann  wieder 
ins  Meer  versank  (s.  Hymisquida).  Die  Stelle  von  den  fünf 
Kasteiungen  Sp.  377 — 380  kann  mit  Notkers  Auslegung  der 
Psalmen  9,  1  verglichen  werden,  die  lateinische  Erzählung  von 
Barlaam  und  Josaphat,  wie  sie  in  der  legenda  aurea  steht,  ent- 
hält nichts  davon.     Dergleichen  wäre  vieles  anzubringen. 

Die  Namen  der  Orter  und  Personen  (die  man  im  Wigalois 
lieber  in  einem  besonderen  Verzeichnis,  nicht  unter  den  anderen 
Wörtern  läse)  hat  Hr.  Köpke  gar  nicht  mit  ins  Glossar  ge- 
bracht; es  sind  ihrer  freilich  nur  wenige.  Aber  eine  das  Nach- 
schlagen erleichternde  Inhaltsanzeige  ist  dem  Barlaam  vorgesetzt, 
die  wir  beim  Wigalois  vermissen.  [anonym.] 


250  EDDA   SAEMUNDAR  II. 


116  EDDA  SAEMUNDAR  HINNS  FRODA. 

Edda  rhythmica  seu  antiquior,  vulgo  Saemundina  dicta.  Pars  11.  Odas  mythico- 
historicas  continens.  Ex  codice  bibliothecae  regiae  havniensis  pergameno  nee 
non  diversis  legati  ama-magnaeani  et  aliorum  membraneis  chartaceisque 
melioris  notae  manuscriptis.  Cum  interpretatione  latina,  lectlonibus  Tariis, 
notis,  glossario  vocuni,  indice  nominum  propriorum  et  rerum,  conspectu  argumenti 
caiTuinum  et  IV  appendicibus.     Hav.  1818  in  4to.  XXXFV  et  1010  pag. 

Hermes  oder  kritisches  Jahrbuch  der  Literatur.     [Zweiter  Jahrgang.]     Erstes 
Stück  für  das  Jahr  1 820*     Nr.  V.  der  ganzen  Folge.     Amsterdam  in  der  Ver- 
lags-Expedition  des  Hermes.     1820.     (Leipzig  in   Commission  in   der  Bach- 
handlung Brockhaus.)     gr.  8.     pag.  116 — 129.*) 

xAuf  die  mythischen  Lieder,  welche  der  erste  Band, 
dessen  Beurtheilung  nicht  hierher  gehört,  enthält,  folgen  in 
natürlicher  Ordnung  die  epischen  oder,  wie  sie  nach  der  An- 
sicht der  Herausgeber  genannt  sind,  die  mythisch-histori- 
schen. Sie  sind  auf  folgende  Weise  eingetheilt:  1)  Das  Lied 
von  Wölund.  2)  Lied  von  Helge  dem  Haddingenheld 
(dem  Sohne  Hiorvards)  oder  das  erste  Lied  von  Helge. 
3)  Lied  von  Helge  dem  Hundingstödter  oder  das  zweite 
li7Lied  von  Helge.  4)  Das  andere  Lied  von  Helge  dem 
Hundingstödter  oder  das  dritte  Lied  von  Helge.  5)  Von 
dem  Tode  Sinfiötles.  6)  Gripers  Weissagung  oder  das 
ersteLied  von  Sigurd  dem  Schlangentödter.  7)  Zweites 
Lied  von  Sigurd,  erste  Abtheilung.  8)  Zweites  Lied 
von  Sigurd,  andere  Abtheilung.  9)  Das  erste  Lied  von 
Brynhild  oder  Sigurdrifas  Lied.  10)  Drittes  Lied 
von  Sigurd.  11)  Bruchstück  aus  dem  zweiten  Liede  von 
Brynhild.  12)  Todesfahrt  von  Brynhild.  13)  Das  erste 
Lied  von  Gudrun.  14)  Mord  der  Niflungen.  15)  Das 
zweite  Lied  von  Gudrun.  16)  Das  dritte  Lied  von 
Gudrun.    17)  Klage  der  Oddrun.    18)  Das  grönländische 

*)  [Die  Red.  bemerkt  hierzu:  „Aus  Unachtsamkeit  des  Setzers  erscheint 
■diese  Beurtheilung  an  dieser  Stelle.  Sie  sollte  unmittelbar  dem  ersten  Auf- 
satze in  diesem  Stück  über  die  altnordische  Litteratur  folgen,  da  sie 
mit  diesem  gewissermassen  ein  Ganzes  ausmacht."  Letzterer  wird  den 
dritten  Band  der  Kleineren  Schriften  eröffnen.] 


EDDA   SAEMUXDAR   II.  251 

Liied  von  Atli.  19)  Die  grönländischen  Lieder  von 
Atli.  20)  Das  Lied  von  Hamdir.  21)  Der  Gudrun  Auf- 
reizung. Hierbei  ist  zu  bemerken,  dass  Nr.  5  und  14  nur 
kurze  prosaische  Stücke  enthalten  und  nicht  mehr  die  Lieder 
selbst,  so  dass  deren  in  der  That  nur  19  sind.  Dagegen  ist 
noch  zugefiigt  22)  Grou  Galdr,  Zauberruf  der  Groa,  der  aber 
nicht  hierher  gehört,  sondern  als  eine  Zugabe  zu  den  mythischen 
Liedern  des  ersten  Bandes  zu  betrachten  ist.  Als  Anhang  ist 
Gunnars-Slagr  (fidicinium  Gunnaris),  eine  neuere,  aber  ge- 
schickte Nachahmung,  mitojetheilt.  —  Das  erste  Lied  von 
AVölund  steht  hier  nur  in  einer  entfernteren  Beziehung  auf  den 
Fabelkreis,  hätte  aber,  zumal  da  sich  die  nähere  Verflechtung 
damit  aus  der  Wilkinasaora  ergribt,  nicht  fehlen  dürfen.  Die 
drei  Helgenlieder  und  das  Bruchstück  von  Sinfiötles  Tod  sind 
gleichsam  die  Vorgeschichte  der  Fabel,  deren  engeren  Ring  die 
sechszehn  oder,  nach  obiger  Bemerkung  Nr.  14  nicht  mitgezählt, 
die  fünfzehn  Rhapsodieen  Nr.  6  bis  21  bilden.  Bei  den  Über- 
schriften scheint  uns  das  Zusammenfassen  und  die  daher  ent- 
standenen L^riterabtheilunoren  in  Ziflern  nicht  orünstior:  so  ver- 
^virrt  man  leicht  Nr.  6.  7.  8  und  10,  und  es  ist  viel  natürlicher, 
Nr.  6  bloss  Gripisspä  und  Nr.  8  Fafnismal  zu  nennen. 

Was  zuerst  den  Text  betrifft,  so  liegt  die  beste  Handschrift 
von  Pergamen  auf  der  königl.  Bibliothek  zu  Grund,  eine  noch 
vorzüglichere  auf  der  Universitätsbibliothek  besteht  leider  nur 
aus  sieben  Blättern;  unter  den  papiernen,  welche  benutzt  sind, 
ist  die  Suhmische  anzumerken,  weil  sie  eine  andere  Recension 
als  die  königliche  enthält,  wenigstens  nach  der  Meinung  des 
Gudmund  Magnäus;  man  vergleiche  deshalb  S.  326  N.  d.  — 
Die  Feststelluncr  und  Vero'leichuncr  des  Textes  und  Ausarbeitunsr 
der  Noten  war  zwei  Stipendiaten  des  Arnamagnäanischen  Instituts, 
Gudmund  Magnäus,  der  schon  am  ersten  Bande  gearbeitet  118 
hatte,  und  John  Johnson,  dessen  schon  oben  [Hermes  S.  7] 
bei  der  Niäla-Saga  rühmlich  gedacht  ist  und  der  gleichfalls  beim 
ersten  Bande  thätig  gewesen,  aufgetragen;  beide  waren  Isländer, 
um  des  grossen  Vortheils,  welche  diesen  die  Muttersprache  bei  Er- 
klärung der  alten  Gedichte  gewährt,  nicht  zu  entbehren.  Jetzt 
zeigte  sich  jenes  Schicksal,  das  die  Herausgabe  der  altnordischen 


252  EDDA  SAEMÜNDAR  II. 

Denkmäler  auf  eine  so  eigene  Weise  begleitet.  Die  langsam 
vorrückende  Arbeit  war  im  Anfange  des  Jahres  1793,  also  vor 
25  Jahren  beendigt,  doch  bei  genauer  Prüfung  sahen  sich  die 
Ephoren  des  Instituts  damit  nicht  völlig  zufrieden  gestellt; 
Gudmund  war  hin  und  wieder  zu  weitläuftig,  in  der  Kritik 
aber  und  dem  Commentar  zu  eilfertig  gewesen.  John  Olafs en 
(von  Svefnöe,  Hypnonesiensis,  von  dem  es  in  der  Vorrede 
heisst :  in  poesi  septentrionali  facile  princeps),  einer  der  Ephoren, 
übernahm  eine  Durchsicht  und  Überarbeitung,  so  wie  beim 
ersten  Bande  durch  Gunnar  Paulsons  Commentar  die  Über- 
setzung des  Gudmund  Magnäus  berichtigt  war.  Mancherlei 
Hindernisse,  endlich  Altersschwäche  waren  Schuld,  dass  er  die 
Arbeit  nur  bis  etwas  über  die  Hälfte  vollenden  konnte.  Das 
Unternehmen  stockte  jetzt  lange  Zeit.  Als  man  endlich,  nachdem 
John  Olafsen  und  Gudm.  Magnäus  gestorben  waren,  John 
Johnson  aber  nach  Island  zur  Verwaltung  eines  Amts  zurück- 
gekehrt, mit  dem  Drucke  des  einmal  Vorhandenen  beginnen 
Avollte,  zeigte  sich  eine  neue  Widerwärtigkeit:  von  den  zwölf 
durch  Olafsen  zum  Drucke  ausgearbeiteten  Liedern  waren  zwei, 
die  beiden  Lieder  von  Helge  dem  Hundingstödter ,  abhanden 
gekommen.  Diesen  Verlust  zu  ersetzen,  die  Indices  und  ein 
noch  ganz  fehlendes  Glossarium  abzufassen,  wurde  der  durch 
gelehrte  Arbeiten  schon  bekannte  und  im  Herbst  1812  aus 
Island  nach  einem  elfjährigen  Aufenthalte  zurückgekommene 
Finn  Magnussen  ausgewählt.  Eine  andere,  aufs  Neue  von 
Hallgrim  Scheving  auf  Island  unternommene  Bearbeitung 
der  beiden  Helgenlieder  kam  zu  spät  und  konnte  nur  im  Glossar 
und  bei  den  Indicibus  benutzt  werden.  Fünf  Jahre  waren  zu 
dem  Drucke  nöthig. 

Von  einem  Texte,  an  welchem  vier  und  zumal  darunter 
ausgezeichnete  Kenner  der  altnordischen  Sprache  und  Dichtung 
gearbeitet,  lässt  sich  schon  etwas  Vorzügliches  erwarten.  Die 
Vortheile  einer  solchen  Gemeinschaft  sind  so  überwiegend,  dass 
der  Nachtheil  derselben,  wohin  man  die  immer  etwas  verschiedene 
zu  Grunde  gelegte  Ansicht  von  kritischer  Behandlung  rechnen 
kann,  nicht  in  Betracht  kommt.  G.  Magnäus  scheint  am  ge- 
neigtesten  zu  Conjecturen   gewesen   zu   sein.      Im  Ganzen   also 


EDDA  SAEMUNDAR  II.  253 

betrachtet ,  haben  wir  einen  sorgfaltigen  und  lobenswürdigen  119 
Text  und  eine  fleissige  und  genaue  Übersetzung  erhalten, 
gleichfalls  ist  in  den  Anmerkungen  viel  Schätzbares,  zum  Ver- 
ständnisse des  Einzelnen  Führendes  enthalten.  Eine  auf  diese 
Vorarbeiten  sich  stützende,  aus  einem  Gusse  gearbeitete,  reinere 
Recension  (welcher  dann  auch  manches  geringerer  Art, 
z.  B.  eine  folgerechte  Orthographie  von  selbst  zuföllt)  wird 
nicht  ausbleiben.  Manches  für  die  höhere  Kritik  wird  sich, 
wenn  man  Zeit  und  Stil  der  verschiedenen  Lieder  genauer  zu 
unterscheiden  orelemt  hat.  auch  die  Weise  ihrer  Auffassung 
näher  kennt,  ergeben;  ferner  muss  die  beständige  Rücksicht 
aufs  Metrum  noch  Verbesserungen  herbeifuhren.  So  hätten 
wir  bei  dem  Wölundshed  nach  erster  Durchsicht  etwa  folgende 
Anmerkungen  zu  machen,  die,  zumal  da  sie  in  dem  manches 
Vortheils  beraubten  Auslande  entstanden  sind,  auf  Nachsicht 
Anspruch  machen.  Str.  1  und  3  orlog  drvgia,  ut  fata  con- 
stituerunt,  orlog  hat  aber  hier  gewiss  die  nähere  Bedeutung 
von  Krieg,  wie  auch  im  contextus  p.  964  vermuthet  wird; 
die  AVahlküren  wollten  in  den  Krieg  ziehen,  das  Schicksal  der 
Schlacht  zu  bestimmen.  Str.  2  svanfiadrar  drö,  hier  scheint, 
wie  wir  schon  bemerkt,  eine  Zeile  zu  fehlen,  etwa:  er  Slagfinni 
hendur  um  sleyngdi.  Str.  3  thrädo,  desiderio  tenebantur 
(Note  9  ist  der  zwar  richtige  Infinit,  threya  angegeben,  aber 
thrä  kommt  nur  im  Glossar  vor),  dieses  Wort  scheint  eigen- 
thümlich  das  Treibende,  die  Unruhe  der  Wahlkflren  zu  be- 
zeichnen, daher  heisst  es  auch  in  Hrafnagalldr  (Edda  I,  p.  206): 
ihra  walkyrior.  —  naudr  um  skildi,  uecessitas  rem  mu- 
tavit;  Finn  Magnussen  erklärt  uecessitas  hernach  noch  durch 
fatum,  da  aber  die  Wahlküren  selbst  das  Schicksal  bestimmen 
und  von  sonst  einer  Nothwendigkeit  nicht  die  Rede  sein  kann, 
so  empfiehlt  sich  eine  andere  Erklärung  von  naudr  durch  ne- 
cessitudo,  Verwandtschaft  (wie  in  Atlamiü  naudmadr  homo 
necessarius  vorkommt).  Band,  Ehe:  skildi  wäre  dann  passive 
zu  nehmen;  auch  ist  in  der  Niäla  von  skil  und  skilit  bemerkt, 
dass  dieser  Ausdruck  bei  Ehescheidungen  gebraucht  wird. 
Der  Sinn  der  Stelle  also  wäre:  ihre  Ehe  ward  aufgelöst. 
Str.  5    ist   der  Alliteration  wegen   statt   liüsar  quanar  zu  lesen: 


254  EDDA   SAEMUNDAR  IL 

biartar.  Str.  6  vegreigr  und  Str.  8  vedreygr,  da  jedesmal 
der  Zustand  des  von  der  Jagd  zurückkehrenden  Schützen  be- 
schrieben wird,  auch  der  vorangehende  Halbvers  derselbe  ist, 
so  müssen  beide  Worte  wohl  in  Übereinstimmung  gebracht 
werden,  was  auch  dem  epischen  Stile  nach  nothwendig  ist. 
120  Periculis  strenuus  scheint  aber  hier  passender  als  eundo  alacer. 
Str.  6  negldar  bryniar,  dazu  ist  eine  Stelle  aus  dem  Nibe- 
lungenlied anzuführen  „von  genagelten  riehen  pfellen  vil 
der  Schilde  breit"  (Hohen-Ems.  Hs.  zu  Wien  5189  [1234,  2  C]). 
Vgl.  auch  Wigalois  von  Benecke  v.  genagelt.  —  Str.  14  die  letzte 
Zeile:  era  sa  nu  hyrr,  er  or  holti  ferr  bezieht  G.  Magn. 
auf  Wölund,  der  in  die  Gefangenschaft  abgeführt  werde,  das 
geht  nun  wohl  den  Worten  nach  (ob  es  gleich  natürlicher  hiesse: 
der  aus  dem  Hause  weggeführt  wird),  aber  dann  stehen  die 
vorangehenden  Zeilen  ganz  abgerissen.  Finn  Magnussen  be- 
zieht es  daher  auf  Nidud  und  legt  dem  Wölund  die  Worte 
in  den  Mund,  allein  Nidud  fährt  ja  nicht  eben  aus  dem  Holze^ 
den  Wölund  zu  besuchen,  er  ist  längst  da,  war  versteckt  und 
Wölund  weiss  nicht,  wo  er  herkommt.  Der  Sinn  der  ganzen 
Strophe  bleibt  also  dunkel,  wahrscheinlich  ist  sie  verderbt,  und 
sie  nach  der  dritten  zu  setzen  scheint  doch  noch  das  beste  Aus- 
kunftsmittel. Wie  sollte  Wölund,  der  sich  beklagen  will,  an- 
fangen, dem  Nidud  von  seiner  Familie  vorzuerzählen?  Über- 
haupt lässt  das  Lied  hin  und  wieder  verderbte  und  zerstückelte 
Stellen  vermuthen,  z.B.  bei  der  Wiederholung  Str.  4  und  8: 
kom  thar  usw.  Man  sieht  wenigstens  nicht,  warum  Str.  4  nicht 
auch  Wölund  bei  den  von  der  Jagd  Zurückkehrenden  genannt 
wird,  da  er  doch  musste  mit  den  beiden  anderen  ausgezogen 
sein.  Str.  20  yccr  lät  für  iJitc.  Str.  22  seldi  ist  wohl,  wie 
Str.  23  und  33,  in  sendi  abzuändern,  der  epischen  Einförmigkeit 
wegen.  In  Str.  24  fehlt  wahrscheinlich  eine  Zeile,  worin  es 
heisst,  dass  Baudvild  den  Ring  zerbrach.  Str.  26  das  schwere 
Wort  ividgiarn  ist* hier  durch  ividgrannr,  welche  Leseart 
aucli  vorkommt,  neutiquam  tenuis  erklärt  (im  Glossar  fehlt  es 
ganz).  Olafsen  schlägt  in  der  Note  vor  i  vid  giör,  im  Walde 
vollbracht,  und  bezieht  es  auf  jenen  dem  Wölund  im  Walde 
geraubten  Ring;  das  ist  scharfsinnig,  allein  die  Übereinstimmung 


EDDA   SAEMUNDAR  II.  255 

mit  dem  invidies-gern,  fraudulentus ,  in  der  altsächsischen 
Evangelienharmonie  ist  zu  wichtig,  um  das  Wort  nicht  zu  er- 
halten; ivid  ist  altdeutsch:  fraus,  dolus  malus,  angelsächsisch 
inwit.  Str.  27  wünscht  Wölund,  dass  ihm  seine  Sehnen  nicht 
zerschnitten  wären  und  er  noch  auf  seinen  Füssen  stehe,  dann 
heisst  es  unmittelbar:  lachend  hob  er  sich  in  die  Höhe.  Dabei 
steht  die  unpassende  Anmerkung:  poeta  Volundum  mira  quadam 
et  supernaturali  ratione  voti  compotem  factum  esse  praedicat. 
Wir  wissen  aber  aus  der  Wilkinasaga  Cap.  20  bestimmt,  dass 
er  durch  Hilfe  eines  kunstreich  verfertigten  Federkleides  ent- 
fliegt; die  Strophe,  die  dies  erzählt,  ist  wiederum  untergegangen. 
Str.  35  Nidud  sagt,  niemand  sei  so  gross,  dass  er  den  Wölund  121 
vom  Pferde  ziehen  könne,  d.  h.  dieser  schwebt  in  der  Luft, 
sein  Pferd  ist  die  Luft.  Str.  39  bei  augurstund,  hora  molesta, 
wäre  doch  wohl  die  andere  Lesart  angurstund.  Angststunde, 
vorzuziehen,  wie  angrliod  vorkommt.  Str.  39  steht  Nidadr 
wie  sonst  auch,  dagegen  Str.  29  Nidudur,  diese  Form  aber, 
welche  auch  die  bessere  scheint,  ist  nur  in  den  Index  der  Eigen- 
namen aufgenpmmen. 

Auf  diese  Weise  fortzufahren,  würde  hier  zu  weit  führen, 
wir  heben  daher  aus  den  anderen  Liedern  nur  einiges  aus.  S.  43 
Str.  28  mund  heisst  Hand  und  threnuar  mundir  meyia 
heisst:  dreierlei  Jungfrauen.  S.  51  Str.  40  hug  skalltu  deila, 
weder  die  Erklärung  von  G.  Magnäus:  animi  affectum  moderare 
passt  zu  den  Worten,  noch  die  von  Olafsen:  animi  aflectum 
dividas  (inter  me  et  fratrem)  in  den  Zusammenhang.  Theile 
meine  Gedanken  heisst  hier :  höre  mich  an,  habe  Acht  auf  meine 
Worte,  was  in  der  folgenden  Strophe  heisst:  ef  thu  vill  mino 
mali  hlyda.  S.  90  Str.  4  hvar  her  megir  heyia  eigudi,  es  ist 
ohne  Zweifel  wegen  der  in  der  folgenden  Strophe  entsprechenden 
Antwort  zu  lesen:  heima  eigudi.  —  S.  108  at  lithi  lofdüngs, 
super  populum  regis;  es  scheint  aber  dem  Zusammenhang  an- 
gemessener zu  verstehen:  at  hlithi,  an  dem  Grabhügel,  wo 
der  Verstorbene  leuchtend  erscheint.  —  S.  172  Anm.  13  soll 
api,  Affe,  als  ein  neueres  Wort  in  den  Text  nicht  passen,  dennoch 
kommt  es  ganz  auf  diese  Art  und  mit  demselben  Beiworte  osvidr 
in  Hävamäl  und  Grimnismal  vor.  —  S.  234  soltnar  thyar  hat 


256  EDDA  SAEMUNDAR  II. 

in  dem  Zusammenhange  die  alte  Bedeutung:  todte  Mägde. 
Sie  sagen:  genug  sind  todt  (werden  mitverbrannt),  wir  wollen 
leben;  vergl.  Str.  65.  —  S.  243  miotudr  ist  hier  bedeutender 
(wie  es  auch  S.  347  Str.  14  vorkommt)  der  Weltschöpfer,  das 
Schicksal,  obgleich  auch  Schwert  einen  natürlichen  Sinn  gibt. 
—  S.  300  Str.  13  heisst  es,  sie  stickte:  sali  suthrAna  ok  svani 
danska,  deutsche  Häuser  und  dänische  Schwäne;  hier  scheint 
aber  svanr  für  Frau  zu  stehen,  was  einen  natürlichen  Gegen- 
satz zu  den  Häusern  und  einen  besseren  Sinn  an  sich  gewährt. 
In  Hrafnag  kommt  svanni  für  femina  vor.  —  S.  334  Str.  10 
ist  sva  übersetzt  durch  ita  und  angenommen,  dass  bot  fehlt, 
sva  bot  Gudrun  sinna  harma,  so  rächte  Gudrun  ihre  Leiden; 
es  scheint  aber  sva  hier  von  einem  Verbum  herzuleiten,  das 
wie  sväfa  (unser  altdeutsches  entschweben)  besänftigen,  sopire 
bedeutet.  So  stillte  sie  ihren  Kummer,  freilich:  indem  sie  sich 
122  rächte.  —  S.  358  Str.  30  ist  eine  merkwürdige  Stelle;  es  wird 
darin  erzählt,  dass  Gunnar  in  der  Höhle  alle  Schlangen  durch 
sein  Spiel  eingeschläfert,  nur  eine  sei  nicht  zu  besänftigen  gewesen. 
Sie  drang  zu  Gunnars  Herz,  dies  war  die  Mutter  Atlis,  mothir 
Atla.  In  der  Note  heisst  es:  nimirum  in  anguem  transformata. 
Diese  Mutter  Atlis  wird  weder  in  den  Liedern  noch  in  anderen 
hierhergehörigen  Sagen  ein  einziges  Mal  genannt  oder  nur  auf 
ihr  Dasein  angespielt;  eben  so  ist  es  auffallend,  dass  sie,  ohne 
dass  dieser  Umwandlung  gedacht  wäre,  gleich  als  eine  Schlange 
erscheint.  Es  ist  daher  wahrscheinlich,  dass  sie  bloss  durch  ein 
Missverständnis  oder  einen  Schreibfehler  entstanden  und  modir 
nadra,  Mutter  der  Nattern,  zu  lesen  ist,  d.  h.  die  grösste,  mächtigste 
Schlange.  Beweisend  ist,  dass  die  Wolsungasaga,  die  doch 
eine  andere  Recension  vor  sich  hatte,  ganz  in  Sinn  und  Wort 
damit  übereinstimmend  liest:  ein  nadra  mikil  ok  illeleg 
(Cap.  46).  Dass  alle  Handschriften  Atla  lesen,  ist  nicht  zu 
verwundern,  da  wir  durch  die  gemeinschaftliche  grosse  Lücke 
wissen,  dass  sie  alle  zu  einer  Familie  gehören.  Noch  sonst  ist 
diese  Stelle  wichtig,  weil  sie  dann  die  Neuheit  von  Gunnarsslagr, 
wo  diese  Mutter  Atlis  eingeführt  ist,  unwidersprechlich  dar- 
thäte.  —  S.  377  Str.  14  Bicca  greppar,  feroces  viri,  sind  ohne 
Zweifel  treulose  Männer  in  Beziehung  auf  den  treulosen  Bicci. 


EDDA  SAEMUNDAR  II.  257 

Der  Ausdruck  ist  vorausgenommen,  da  der  Verrath  Biccis  erst 
später  in  der  Sage  vorkommt,  aber  sehr  passend,  denn  auch 
Atli  hatte  Verrath  im  Sinne.  S.  382  ist  der  Alliteration  wegen 
statt  folginn  zu  lesen  getinn.  —  S.  386  Str.  25.  Die  allein 
richtige  Erklärunsr  von  Kumblasmidr  ist  im  Glossar  nach- 
getragen:  tumulorum  auctor.  —  S.  399  Str.  35  ut  geck-at 
reifagiold  raugnir,  exiit  exhibitum  officia  regi  debita;  giold 
ist  aber  hier  natürlicher  in  der  Bedeutung  von  poena  zu  nehmen. 
Gudrun  gieng,  um  den  Fürsten,  d.  h.  Gunnar  zu  rächen.  Statt 
bratha  barnäsku  brt\dor  inn  kapp-svinna  ist  zu  lesen: 
brä  tha  barn-äsku  brudur  in  kapp-svinna:  da  richtete  die 
Kinder  zu  Grunde  das  listige  Weib. 

Das  Glossar  ist  von  Finn  Magnussen  mit  Sorgfalt  und 
Gelehrsamkeit  ausgearbeitet  und  zeichnet  sich  durch  grössere 
Vollständigkeit  vor  dem  des  ersten  Bandes  aus.  Auch  ist  hier 
im  Etymologisiren  weiter  gegangen,  namentlich  sind  die  orien- 
talischen Sprachen  mehr  herzugezogen.  Die  Vergleichung  damit 
wird  ihren  Vortheil  erst  bei  genauerer  Kenntnis  der  Grammatik 
und  Formen  bewähren,  bis  jetzt  kann  man  noch  immer  miss- 
trauisch  sein,  da  ein  blosses  Suchen  nach  der  Wurzel  leicht 
täuscht.  Wir  können  bei  nahe  liegenden  Sprachen  die  Beispiele 
dafür  nehmen:  ohne  Zweifel  ist  der  Verf.  mit  der  deutschen  recht  123 
gut  bekannt,  dennoch  bleibt  es  uns  unverständlich,  wie  er  bei 
kära,  klagen,  unser  kehren  hat  anführen  können,  bei  sar,  vulnus, 
unser  Geschwür  und  die  Partikel  zer  (wir  haben  altdeutsch 
diu  sere  und  noch  heute  versehrt);  bei  sättr,  reconciliatus, 
unser  sanft,  was  gar  nichts  damit  zu  schafi'en  hat;  sich  setzen 
brauchen  wir  dagegen  noch  von  dem  Beilegen  eines  Streits  oder 
bei  Anordnung  eines  verwickelten  Verhältnisses.  Dagegen  war 
unser  sanft  igen  bei  sefa,  sefia  anzuführen.  Bei  vath  lag 
unser  altdeutsches  wat  viel  näher  als  das  heutige  Gewand, 
welches  sollte  angeführt  werden,  es  steht  aber  wahrscheinlich 
durch  einen  Schreibfehler  Wand  da,  was  nur  paries  bezeichnet. 
Bei  vöxtr  ist  Wuchs  nicht  angegeben,  sondern  Wach  st  hu  m, 
was  etwas  anderes  aussagt,  und  Wachsung,  welches  eine  bei  uns 
nicht  übliche,  sichtbar  von  einem  Fremden  gebildete  Form  ist. 
Bei  thy,   serva,   lag  Dieb  völlig  ab,  Diener  konnte  zur  Ver- 

W.  GKIMM,   KL.  SCHRIFTEN.     11.  17 


258  EDDA  SAEMUNDAR  II. 

gleichung  daneben  gestellt  werden,  wenn  wir  nicht  dasselbe 
Wort  im  Altdeutschen  auch  hätten:  diu.  Ebendaher  war  zu 
slod,  via  trita,  unser  sla  zu  bemerken,  zu  sim,  simi  aber  Sime, 
was  die  Vogelsteller  nock  heute  von  ihren  Seilen  gebrauchen. 
Zu  gagl,  pullus  avis,  gehört  unser  Küchlein.  Fehlende  Wörter 
sind  uns  bisher  nicht  viel  aufgestossen,  es  gehört  dahin:  acka 
ek  AM.  13;  angurliod  H.  II,  44;  angurlauss  H.  II,  45; 
haufdi  halda  O.  20;  halfo  fremr  HM.  2;  koma  in  der  Be- 
deutung von  berühren;  hefir  hiorr  komit  hiarta  H.  I,  40;  rünar 
o-spiltar  und  o-vill  tar  B.  I,  19;  sprutto  HM.  I;  thrimr 
Gh.  10.  Das  Zeitwort  bregda  verdient  eine  genauere  Erläuterung 
seiner  verschiedenen  Bedeutungen.  Bei  dem  schwierigen  Worte 
hypia  ist  die  ganz  entsprechende  Stelle  tottrug  hypia  in 
Rigsmäl  Str.  16  übersehen,  auch  wäre  heppa  ein  Bettlerweib 
in  der  Wilk.  S.  anzuführen.  Bei  as-kunnr  fehlt  Aq.  28,  bei 
heyia  H.  II,  4,  bei  Kaikar  S.  III,  37.,  bei  Jarknasteinn 
Vq.  23.  33.  Wahrscheinlich  ist  unter  Jarkna-steinn  ein  schwarzer 
Achat  zu  verstehen,  und  zwar,  da  er  Augen,  welche  Wölund 
daraus  macht,  ähnlich  sein  muss,  eiförmig,  da  Gudrun  gleich- 
falls einen  solchen  Stein  aus  dem  Kessel  holt,  hat  er  schon 
deshalb  diese  Gestalt  haben  müssen,  denn  nach  dem  Schwaben- 
spiegel Cap.  37  musste  der  Stein  beim  KesselgriflPe  die  Form 
eines  Hühnereis  haben.  Er  ist  also  wohl  der  Kabenstein,  von 
dem  in  der  Hervararsage  ein  Räthsel  steht.  Auch  darf  man 
124  an  die  in  altheidnischen  Grabhügeln  bei  uns  nicht  selten  ge- 
fundenen ganz  eiförmigen  glatten  Steine  erinnern. 

Nach  dem  Glossar  kommt  ein  Index  nominum  propriorum, 
zuweilen  mit  etymologischen  Erklärungen,  die  hier  besonders 
schwierig  sind  und  zu  sehr  gewagten  Vermuthungen  führen. 
(Heinrich  z.  B.  stammt  gewiss  nicht  von  Heidrekr,  wir  haben 
noch  denselben  Namen:  Heiden  reich.)  .  Es  scheint  gleich- 
falls vollständig  (nur  Sporvitnir  aus  H.  I,  47  haben  wir  nicht 
darin  gefunden).  Der  Anfang  zu  diesem  Index  liefert  eine 
Übersicht  der  Sprachen,  welche  zur  Vergleichung  in  dem 
Glossar  gedient  haben.  Darauf  folgt  ein  Contextus  carminum, 
ein  Index  rerum  memorabilium,  endlich  noch  eine  Aufzählung 
der    einzelnen    schwierigen    Stellen.      Sämmtlich    Arbeiten    von 


EDDA  SAEMUNDAR  II.  259 

Finn  Magnussen,  welche  zeigen,  dass  dieser  Band  reichlicher 
als  der  erste  ausgestattet  worden,  wo  von  allen  diesen  Stücken 
nur  das  vorletzte  sich  befindet.  Von  besonderem  Nutzen,  zu- 
mal bei  dem  epischen  Charakter  dieser  Lieder,  ist  die  genaue 
Übersicht  des  Inhalts,  deren  Werth  noch  dadurch  erhöht  wird, 
dass  in  den  Anmerkungen  zur  Vergleichung  manches  Ent- 
sprechende aus  den  Sitten  des  Orients  beigebracht  ist.  Die 
rechte  Bedeutung  davon  wird  sich  gleichfalls  erst  oflFenbaren, 
wenn  das  ganze  Verhältnis  zu  jenen  Ländern,  wo  die  Que.len 
liegen,  die  auch  in  unserer  Poesie  strömen,  genau  erörtert  und 
bestimmt  ist,  eine  grössere  Arbeit,  an  welcher  seinen  Theil  zu 
liefern  der  Verf.  ohne  Zweifel  Beruf  hat.  übrigens  hat  er  in 
diesen  Beilagen  bei  schicklicher  Gelegenheit  einzelne  Stellen 
des  Textes  nach  seiner  Ansicht  verbessert  und  anders  ausgelegt; 
gewöhnlich  ist  dies  angezeigt,  doch  nicht  immer,  namentlich  bei 
kleineren  Dingen,  so  dass  man  wohl  im  Contextus  eine  andere 
Erklärung  als  in  der  Übersetzung  finden  kann.  Z.  B.  Aq.  28 
heisst  der  Hort  der  den  Göttern  bekannte,  dagegen  im 
Contextus  und'  Glossar  wird  der  Fluss  Rhein  der  göttliche 
genannt,  je  nachdem  man  nämlich  as-kunnr  auf  arfi  oder  Rin 
bezieht:  diese  letztere  Ausleguncr  scheint  den  Worten  nach  vor- 
zuziehen,  macht  aber  das  Beiwort  ohne  Zweifel  wichtig.  Es 
gehört  also  schon  genauere  Bekanntschaft  mit  dem  Buche  dazu, 
um  es  nach  seinem  eigentlichen  Werthe  benutzen  zu  können. 
Die  wohl  abgefasste  Vorrede  rührt  wahrscheinlich  von 
Birger  Thorlacius.  Sie  gibt  ausser  den  Nachrichten  über 
die  Entstehung  und  Einrichtung  des  Buchs  auch  einige  Winke 
über  die  Natur  dieser  Lieder,  wobei  die  aus  P.  E.  Müllers 
Untersuchungen  genommenen  Resultate,  deren  wir  bei  dem 
zweiten  Bande  der  Sagenbibliothek  [Hermes  S.  12 — 17]  gedacht 
haben,  zu  Grunde  liegen.  Es  leidet  keinen  Zweifel,  dass  wir  diese  125 
Lieder  nicht  sämmtlich  besitzen,  so  auch  konnten  die  bei  der  Ver- 
schiedenheit ihres  Geistes,  den  Wiederholungen,  den  Abweichungen 
im  Einzelnen,  selbst  Widersprüchen  unmöglich  einen  und  den- 
selben Verfasser  haben.  Die  Atli-Lieder,  nach  einer  norwegischen 
Provinz  die  grönländischen  genannt,  zeigen  innerlich  und  äusser- 
lich   eine  andere  Gestaltung   der  Saga  und,   wie  schon  bei  den 

17* 


260  EDDA  SAEMÜNDAR  II. 

dänischen  Heldenliedern  bemerkt  ist,  in  verschiedenen  Zügen 
eine  Annäherung  zu  der  deutschen ;  dennoch  sind  beide  Ge- 
dichte in  ihrer  Grundlage  wieder  verschieden  (vgl.  auch  das 
Glossar  V.  rynendr).  —  S.  489.  Anm.  5  ist  eine  sehr  wunder- 
liche und  ganz  gewiss  unbegründete  Vermuthung  (denn  sie  stützt 
sich  auf  eine  falsche  Erklärung  von  halfo  fremr)  vorgetragen: 
dass  Eyvind  Skaldaspiller  Verfasser  von  Hamdismäl  und 
anderen  eddischen  Liedern  sei.  Der  Text  ist  nicht  selten  ver- 
wirrt und  verderbt,  und  manches  Unvollständige,  Abgebrochene, 
selbst  das  Einrücken  prosaischer  Zwischensätze,  wo  die  Er- 
innerung nur  noch  dürftig  den  Zusammenhang  behalten  hatte, 
lässt  sich  durch  die  Auffassung  aus  mündlichen  Überlieferungen 
erklären.  Als  später,  wenn  auch  nicht  verdächtig,  wird  das 
dritte  Gudrunenlied  und  die  Atlaquida  bezeichnet.  Zu 
der  Wolsungasaga  und  der  jüngeren  Edda  ergibt  sich  das  merk- 
würdige Verhältnis,  dass  diese  beiden  mehr  und  weniger  von 
diesen  eddischen  Liedern  vor  sich  hatten,  nämlich  jetzt  ganz 
verlorene  gleich  alte  oder  noch  ältere;  dagegen  ist  die  Wolsunga- 
saga an  anderen  Stellen  kürzer  oder  hat  den  rechten  Sinn  nicht 
verstanden.  Genau  also  dieselbe  Natur  und  Eigenthümlichkeit, 
welche  alle  epischen  Dichtungen  zeigen.  Die  Mythologie  ist 
(wie  beim  Homer)  zurückgedrängt,  blickt  aber  doch  verschiedent- 
lich durch;  S.  HI  der  Vorrede  ist  einiges  darüber  zusammen- 
gestellt. 

Eine  eigentliche  Erklärung  der  alten  Saga  ist  nicht  ge- 
geben, konnte  auch  nicht  wohl  als  eine  zu  weit  führende  Unter- 
suchung in  dem  Plane  liegen.  Insofern  hat  der  erste  Band 
der  Edda  einen  bestimmten  Vorzug,  wo  Skule  Thorlacius 
die  Hauptpunkte  der  nordischen  Mythologie  berührt  und  erörtert 
hat;  diese  Abhandlung,  wenngleich  nicht  erschöpfend,  gehört 
doch  mit  zu  dem  Besten,  was  über  diesen  Gegenstand  bis  jetzt 
geschrieben  ist,  und  man  fühlt  überall,  selbst  in  der  gar  nicht 
leichten  Schreibart  den  scharfsinnigen  und  gedankenreichen 
Geist.  Hier  ist  bloss  die  vorhin  besprochene  Müller'sche  Hypo- 
these angeführt,  dass  die  gemeinschaftliche,  aus  den  asiatischen 
Stammsitzen  mitgebrachte  Grundlage  in  dem  Norden  sowohl  als 
in   Deutschland    unabhängig    sich   ausgebildet;    dort  habe   man 


EDDA  SAEMDNDAR  II.  261 

die  Sage  von  Helge,  bei  uns  die  von  Dieterich  hinzugemiseht. 
Man  müsste  also  weiter  schliessen :  während  im  Norden  der  126 
Rhein  und  der  Atli  für  nichts  anderes  als  die  asiatischen  Namen 
(Rha  und  Atel)  der  Wolga  gelten,  wären  dieselben  bei  uns  in 
Deutschland  auf  einen  bestimmten  einzelnen  Fluss  und  auf  den 
historischen  Hunnenkönig  Attila  angewendet  worden. 

Es  ist  schon  oben  bemerkt,  was  aus  inneren  Gründen  gegen 
jene  Hypothese  streitet  und  warum  sie  uns  an  sich  unzulässig 
erscheint.  Wäre  bei  einem  so  vorurtheilsfreien  Gelehrten,  als 
P.  E.  Müller  ist,  so  etwas  erlaubt,  so  könnte  man  vermuthen, 
bei  ihrer  Erfindung  habe  der  Wunsch  Einfluss  gehabt,  die 
Originalität  dieser  Lieder  recht  sicher  zu  stellen,  namentlich 
den  Gedanken  abzuwehren,  sie  hätten  Einwirkungen  deutscher 
Dichtungen  erfahren.  Dennoch  ist  bei  unbefangener  Betrachtung 
der  Zusammenhang  mit  Deutschland  nicht  zu  verkennen  (übrigens 
nicht  zu  verschweigen,  dass  in  der  Vorrede  bei  der  Atlaquida 
auf  die  Möglichkeit  einer  Übersetzung  hingedeutet  wird).  Wir 
wollen  nur  einiges  berühren.  Vorerst  ist  ganz  gewiss,  dass 
unter  dem  Rhein  in  den  Liedern  (merkwürdiger  Weise  ist  Rin 
ein  Femininum,  vielleicht  in  Rücksicht  auf  die  Meergöttin  Ran?) 
nichts  anderes  als  unser  deutscher,  goldführender  Strom  ver- 
standen wird,  unter  Atli  aber  Etzel  unserer  Lieder  mit  der- 
selben Beziehung  auf  den  historischen  Hunnenkönig  Attila. 
Das  Letztere  kann  gar  nicht  abgeleugnet  werden  und  ist  auch 
hier  Vorrede  S.  VUI  anerkannt,  selbst  in  Rücksicht  auf  Atlis 
Ehe  und  Tod  stimmt  die  nordische  Sage  noch  näher  mit  der 
Geschichte  als  die  deutsche.  Zwar  ist  ein  Ausweg  angegeben, 
nämlich  die  Vermuthung,  dass  durch  die  Gothen  die  Sagen  von 
Attila  zu  den  Deutschen  sowohl  als  zu  den  Nordländern  ge- 
kommen seien,  allein  anzunehmen,  dass  beide  Völker  unabhängig 
darauf  verfallen  seien,  Athel,  den  Flussnamen,  auf  eine  so 
analoge  Weise  in  ein  und  derselben  Sage  zu  einer  historischen 
Gestalt  umzuschaffen,  das  ist  unter  allen  möglichen  Fällen  der 
unwahrscheinlichste.  Aber  auch  manches  andere  in  diesen 
eddischen  Liedern  weist  auf  Deutschland  hin.  Während  ein 
Theil  der  Fabel  auf  dem  nordischen  Boden  Wurzel  gefasst  hat, 
werden  Atli  und   die  Giukungen,   wie   ein   altes  Zeugnis   in 


2G2  "  EDDA  SAEMUNDAR  IL 

der  Heimskringia  beweist,  ausserhalb  Skandinaviens  in  südliche 
Länder,  d.  h.  nach  Deutschland  versetzt;  überhaupt  wo 
der  Ausdruck  südlich  vorkommt,  scheint  er  nichts  anderes  als 
deutsch  zu  bedeuten.  Frankenland,  die  Berge  des  Rheins, 
Weinberg,  Burgunden  sind  deutsche  Namen.  Die  Rechts- 
gebräuche der  hier  in  die  Fabel  selbst  tief  eingreifenden 
127  Mordsühne  und  des  Kesselgriffs  sind  deutsch,  d.  h.  kommen  in 
dem  von  Deutschland  getrennten  Norden  nicht  vor.  Der  merk- 
würdige Umstand,  dass  in  Gudrunarsvaut  (S.  526)  Haugni 
allein  der  Mörder  Sigurds  genannt  wird,  kann  nur  auf  eine 
der  deutschen  ähnliche  Gestaltung  der  Sage  sich  beziehen. 
Selbst  die  Einmischung  des  Dieterich  von  Bern,  wes- 
halb das  dritte  Gudrunenlied  angefochten  wird,  ist,  wenngleich 
später,  doch  nicht  durch  einen  Zufall  erfolgt;  wer  irgend  einige 
Kenntnis  der  deutschen  Sage  gehabt  hätte,  würde  den  alten 
Hildebrand  nicht  neben  jenem  vergessen  haben.  Selbst  einzelne 
Ausdrücke  sind  hier  merkwürdig:  berfiall,  Bärinfell,  ist  in 
Hinsicht  beider  Wurzeln  in  den  nordischen  Sprachen  nicht  vor- 
handen (man  hat  zwar  biörn,  aber  berr  oder  beri  findet  sich 
nicht),  wohl  aber  bei  uns,  und  zeugt  nicht  bloss,  wie  das 
Glossar  anmerkt,  von  der  frühen  Verwandtschaft  der  Sprache, 
sondern  hier  auch  wohl  der  Sage;  ebenso  ist  habeinn,  hoch- 
bein,  eine  ganz  deutsche  Zusammensetzung,  während  bein  in 
der  Bedeutung  von  pes  wohl  in  der  nordischen  Sprache  nicht 
vorkommt.  Auch  das  vorhin  schon  berührte  ividgiarn  scheint 
hierher  zu  gehören.  Eine  genauere  Ausführung  dieses  Ver- 
hältnisses erfordert  eine  eigene  Arbeit,  die  man  am  natürlichsten 
von  einem  Deutschen  erwartet.  Wir  würden  dabei  keineswegs 
dahin  streben,  diese  eddischen  Lieder  etwa  als  freie  Über- 
tragungen aus  dem  Deutschen  oder  irgend  abhängig  davon  dar- 
zustellen, sondern  nach  einer  noch  grösseren  Bestätigung  der 
Ansicht,  welche  sie  als  ein  Gemeingut  beider  Völker  betrachtet, 
und  zwar  nicht  bloss  aus  dem  asiatischen  Mutterlande  her, 
sondern  auch  noch  aus  der  Zeit,  welche  wir  die  germanische 
nennen.  Dann  steht  das  Hildebrandslied  nicht  mehr  allein,  und 
es  wird  begreiflich,  dass  man  noch  im  11.  Jahrhundert  in 
Deutschland    die   Sage    von    Hamdir   Saurli    und   Erpur   (s.  die 


EDDA  SAEMCNDAR  II,  263 

Stelle  aus  dem  chronicon  quedlinburgense  in  den  Altd.  Wäldern 
in,  261)  kannte. 

Über  die  Wichtigkeit  der  eddischen  Lieder  fiir  das  Studium 
des  Alterthums  kann  kein  Zweifel  sein,  sie  sind  die  reinste 
Quelle,  um  die  Sage,  Sprache,  die  Sitten  und  Anschauungen, 
überhaupt  die  Lebensweise  der  Vorzeit  kennen  zu  lernen,  man 
kann  behaupten,  sie  sind  in  dieser  Hinsicht  so  gut  unerschöpf- 
lich, als  es  der  Homer  für  das  griechische  Alterthum  ist.  Ihr 
unabhängiger,  geistiger  Werth  wird  denen  einleuchten,  welche 
iahig  sind,  das  Ursprüngliche  darin,  die  Reinheit  des  Ausdruckes, 
das  Gewaltige  und  Grossartige  der  Gesinnung,  auf  dessen  Höhe 
auch  das  Zarte  wie  eine  Blüthe  ausbricht,  zu  erkennen.  Es  128 
wird  wohl  niemand  eine  Zeit,  die  so  etwas  hervorgebracht,  roh 
und  barbarisch  nennen  wollen.  Durch  das  Ganze  geht  die 
Trauer  über  den  Untergang  eines  Heldengeschlechts  und  jene 
Schwermuth,  von  der  das  Heidenthum,  das  überall  im  Hinter- 
grunde ein  eisernes  unabwendbares  Schicksal  erblickt,  musste 
niedergedrückt  werden.  Ton  und  Farbe  dieser  Lieder,  obgleich 
im  Ganzen  übereinstimmend  und  ein  gewisses  Zeitalter  be- 
zeichnend, unterscheidet  sich  doch  wieder  in  verschiedenen  Ab- 
stufunsen.  Die  Helgenlieder  sind  von  einem  eiorenen  Geiste 
durchdrungen.  Mächtiger,  wie  in  den  Gedanken  so  im  Aus- 
drucke, scheint  eine  höhere  Bedeutung  mehr  als  bei  den  übrigen 
durchzublicken,  und  sichtbar  neigen  sie  sich  zu  dem  Über- 
natürlichen und  Märchenhaften.  Sie  verweilen  auch  mehr 
bei  der  inneren  Gesinnung  und  lassen  die  Handlung  zurück- 
treten, die  Gleichnisse  sind  ausgeführter,  so  dass  eine  gewisse 
Ähnlichkeit  mit  dem  Ossian  sich  zeigt.  In  den  Gesprächen  der 
Swawa  mit  Helge,  den  Verwünschungen  der  Sigrun,  ihrer  L'nter- 
redung  mit  dem  Todten  herrscht  ein  gesteigerter,  veredelter 
Ausdruck,  wozu  der  Zank  zwischen  Atla  und  dem  Riesen weib 
Sinfiötle  und  Gudmund  den  Gegensatz  bildet.  Bei  der  inneren 
Verwandtschaft  der  beiden  Helge  mit  Sigurd,  die,  gleichsam 
dessen  Vorbilder,  ihre  ursprünglich  innewohnende  Göttlichkeit 
noch  heller  durchleuchten  lassen,  erhalten  diese  Lieder  noch 
eine  besondere  Wichtigkeit:  es  ist  möglich,  dass  wir  darin  den 
Grund    einer    noch    älteren   Bildung    der   Sage    besitzen.      Die 


264  EDDA  SAEMÜNDAR  II. 

Lieder  von  Sigurd,  von  Brynhild,  vom  Hamder,  Gudrunen» 
Aufreizung,  auch  das  Wölundslied  haben  völHg  den  epischen 
Charakter;  sie  erzählen  schUcht,  manchmal  abgerissen,  ohne  be- 
sonderen Schmuck,  aber  mit  eindringlicher  Wahrheit.  Nicht 
selten  fallt  die  Rede  der  Handelnden  ein,  aber  ein  einzelner 
Moment  wird  nicht  veeiter  hervorgehoben.  Hier  darf  man  am 
ersten  Lücken  und  Verderbnis  des  Textes  muthmassen,  sowie 
auf  der  anderen  Seite  Wiederholungen  und  Abschweifungen. 
Deutlich  unterscheiden  sich  davon  die  beiden  grönländischen 
Lieder  von  Atle,  sie  sind  schwerer  und  gewichtiger  im  Aus- 
drucke, feiner  und  gesuchter  in  den  Gedanken  und  Wendungen 
und  die  ganze  Darstellung  fliesst  nicht  so  schlicht  und  ruhig. 
Es  gehörte  schon  grössere  Sorgfalt  dazu,  sie  im  Gedächtnisse 
aufzubewahren,  und  es  ist  darum  merkenswerth,  dass  das  grösste 
von  allen  diesen  eddischen  Gedichten,  die  Atlamäl,  von  103 
Strophen  am  vollständigsten  sich  erhalten  ohne  aushelfende 
prosaische  Zwischensätze.  Dagegen  die  zwei  ersten  Lieder  von 
129  Gudrun  (denn  das  dritte  ist  unbedeutender)  zeigen  wieder  den 
rein  epischen  Geist  in  vorzüglicher  Ausbildung  und  sind  durch 
den  rührenden  und  zarten  Ausdruck  des  Menschlichen  vor  allen 
ansprechend.  Auch  die  Klage  der  Oddrun  kann  hierher  ge- 
zählt werden.  Die  Erzählung  geht  gleichfalls  einen  einfachen,, 
ruhigen  Gang,  hebt  aber  einzelne  Punkte  mehr  hervor  und  ent- 
faltet sie  in  besonderer  Schönheit.  —  Gripers  Weissagung  unter- 
scheidet sich  durch  die  regelmässig  durchgeführte  dialogische 
Form,  das  Lied  ist  gleichfalls  ohne  prosaische  Zwischensätze 
und  eins  der  vollständigsten.  Das  Epische  weicht  darin  zurück 
und  die  Betrachtung  und  Lehre  tritt  hervor;  die  Sage  wird 
nur  angedeutet,  um  das  daraus  entspringende  Unheil  und  Ver- 
derben zu  verkündigen.  Auch  kommt  Griper  selbst  weiter  nicht 
vor.  Sollte  man  deshalb  geneigt  sein,  das  Lied  für  später  zu 
halten,  so  ist  zu  bedenken,  dass  gerade  diese  Form,  die  Fragen 
eines  Schülers  und  Antworten  eines  Sehers,  für  Darstellung  von 
Geheimlehren  eine  der  ältesten  und  natürlichsten  ist,  wie  sie 
sich  auch  z.  B.  in  Vafthrudnismal  und  Vegtamsquida  findet. 
In  ähnlichem  Geiste  ist  auch  das  Lied  von  Fafner  und  Sigurd- 
rifa  gedichtet,  in  welchen  geheime  und  prophetische  Aussprüche, 


OPFERSTÄTTE  UND  GRABHÜGEL  VON  DOROW.        265 

Deutung  der  Runen  und  Sittenlehren  vorkommen.  Man  könnte 
daher  die  Lieder  überhaupt  so  eintheilen,  dass  in  ihnen  ent- 
weder das  mythische,  das  epische  oder  das  ethische  Colorit  vor- 
herrsche. 

Der  dritte  Band  der  Edda,  welcher  in  3 — 4  Jahren  er- 
scheinen soll,  wird  die  von  Resen  bereits  bekannt  gemachten 
Lieder  Voluspä  und  Hävamäl  enthalten,  aber,  wie  sich  von 
selbst  versteht,  in  einer  neuen  kritischen  Bearbeitung,  wozu 
verschiedene  schon  vorhandene  Commentare  benutzt  werden 
sollen.  Hoffentlich  wird  auch  Rigsmal  dazu  genommen  und 
der  Grotta-Sauns:r  nach  der  Bearbeitung  von  Sk.  Thorlacius 
wieder  abgedruckt.  Versprochen  ist  ein  Nachtrag  zu  dem 
Glossar  des  ersten  Bandes  und,  was  ohne  Zweifel  ein  sehr 
schätzbares  Hilfsmittel  sein  wird,  ein  Lexicon  integrum  veteris 
Eddae  mythologicum.  W.  C.  Grimm. 


OPFERSTÄTTE  UXD  GRABHÜGEL  DER  GERMANEN  369 
UND  RÖMER  AM  RHEIN, 

untersucht  und  dargestellt  durch  Dorow,  Königlich-Preussischen  Hofinth. 
Erstes  Heft  Amt  Wiesbaden.     Mit  22  Steindrucken  und  einer  Karte.     Wies- 
baden.   Bey  L.  Schellenbei^.    1819.    G6  S.  in  Quart. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.    Bd  I,  38.  Stück,  den  4.  März  1820. 
S.  369—379. 

Lx  her  die  Eröffnung  altdeutscher  Grabhügel,  die  manchmal 
dem  Zufall  zu  verdanken  war,  manchmal  Liebhabern,  welche 
oft  nur  die  Absicht  dabei  hatten,  Aschenkrüge  in  ihren  Samm- 
lungen als  eine  Zierde  aufzustellen,  gibt  es  seit  der  Mitte  des 
17.  Jahrhunderts  eine  Anzahl  kleiner  Schriften,  die  man  noch  am 
vollständigsten  in  dem  Handbuch  von  Lawätz  verzeichnet  findet. 
Ausser  der  jedesmaligen  Beschreibung  und  Abbildung,  deren 
Werth  von  ihrer  Genauigkeit  abhängt,  liefern  sie  fast  immer 
auch  weithin  treibende,  oft  sehr  wunderliche  Hypothesen;  eine 
der  ältesten,  die  man  Scherzes  halber  wohl  erwähnen  darf,  wor- 
nach    die   alten  Urnen   als  Naturerzeugnisse    in    der  Erde   ge- 


266  OPFERSTÄTTE  UND  GRABHÜGEL  VON  DOROW. 

370  wachsen  sind,  ist  doch  eine  der  unschädlichsten.  Zu  einer  Nach- 
grahung  von  Umfang  und  Betrachtung  dieser  Alterthümer  im 
Ganzen  war  es  nicht  gekommen,  und  auch  hierin  standen  wir 
dem  Norden  nach,  wo  Sjöborg  in  seiner  Nomenclatur  der  Alter- 
thümer schon  eine  fruchtbare  Übersicht  der  gewonnenen  Re- 
sultate liefern  konnte.  Jenen  Mangel  an  Grundlage  sieht  man 
auch  der  Abhandlung  von  Hirt  an:  sur  les  monumens  sepul- 
craux  des  anciens  peuples  du  Nord  (Mem.  de  lacad.  de  Berlin 
1798).  Je  mehr  Lücken  da  sind,  desto  geneigter  wird  man 
zu  ausfüllenden  Vermuthungen ;  so  ist  darin  die  gewiss  unhalt- 
bare Hypothese  durchgeführt,  dass  slavische  Völker  solche  Grab- 
hügel nicht  gehabt,  während  sie  eben  dadurch  eine  besondere 
Wichtigkeit  und  Bedeutung  erhalten,  dass  sich  in  ihnen  eine 
uralte,  jenem  grossen  durch  verwandte  Sprache  verbundenen 
Völkerstamm,  zu  welchem  auch  die  Slaven  gehören,  gemein- 
schaftliche, bis  in  das  tiefe  Asien  ausgebreitete  Sitte  zeigt.  Den 
Griechen  (Ilias  24,  786  flf.)  und  alten  Etruscern  war  sie  nicht 
fremd,  dagegen  in  Ägypten,  wo  das  Mumienwesen  herrschte, 
in  ganz  Africa  und  America  zeigt  sich,  so  viel  Rec.  weiss,  keine 
Spur  davon.  Die  ernstlichere  Bearbeitung  der  einheimischen 
Alterthümer  scheint  auch  hier  nachhelfen  zu  wollen,  und  neuer- 
dings sind  Nachgrabungen  von  Umfang  angestellt  worden:  in 
Schlesien,  worüber  Friedrich  Kruse  in  seinem  Budorgis  (Leipzig 
1819)  genaue  Auskunft  gibt,  in  Thüringen,  wo  schon  Dalberg 
früher  den  Anfang  gemacht  und  worüber  Goethe  bereits  einiges 
Theilnahme  Erregendes  in  dem  neuesten  Heft  seiner  Zeitschrift 
über  Kunst  und  Alterthum  angemerkt,  verschiedentlich  am 
Rhein  und  dem  Vernehmen  nach  auch  in  dem  benachbarten 
Hessen. 

In  vorliegendem  Werk  wird  nun  der  Anfang  gemacht,  dem 

371  Publikum  den  Gewinn  mitzutheilen ,  den  der  umsichtige  und 
mit  sichtbarer  Liebe  zur  Sache  arbeitende  Verfasser  aus  seinen 
Nachgrabungen  in  den  Rheingegenden  gezogen.  Dieses  erste 
Heft  umfasst  das  Amt  Wiesbaden,  und  eine  beigefügte  auch 
sonst  schätzbare  Karte  dieser  Gegend  zeigt  genau  die  Orte, 
wo  unter  seinen  Augen  und  nach  seiner  Anleitung  ist  nachge- 
graben worden.    Die  Hügel  sind  dort  und  wahrscheinlich  überall 


OPFERSTÄTTE  UND  GRABHÜGEL  VON  DOROW.        267 

der  Form  nach  nmd,  nur  in  Höhe  und  Umfang  verschieden, 
-von  4  Fuss  Höhe  und  10  Schritten  Umfang  bis  zu  24  Fuss 
Höhe  und  160  Schritte  Umfang.  Im  Dec.  1817  öffnete  Hr. 
Hofr.  Dorow  den  ersten  Grabhügel,  da  er  die  Winterzeit  in 
mancherlei  Hinsicht  dafür  am  zuträglichsten  hält,  er  empfiehlt 
zugleich  die  Methode,  von  der  Spitze  des  Hügels  beginnend 
ihn  nach  allen  Richtungen  bis  zum  äussersten  Rande  abzutragen, 
denn  oft  fanden  sich  da  noch  merkwürdige  Gegenstände,  viel- 
leicht Nachbegräbnisse.  Man  hat  sich  gewöhnlich  begnügt,  den 
Hügel  in  einer  Richtung  zu  durchschneiden.  Der  auf  dem 
sogenannten  Hebenkies  und  in  der  Geishecke  geöffnete  sind  die 
beiden  merkwürdigsten.  Bei  diesem,  von  160  Fuss  Umfang 
und  10  Fuss  Höhe,  stiess  man  anfangs  auf  sehr  harte  Brand- 
erde mit  Holzkohlen  vermischt;  von  Urnen  und  Knochen  war 
noch  keine  Spur  zu  sehen,  aber  es  zeigte  sich  eine  Menge  rein 
erhaltener  Asche.  Darin  lagen  Reste  eines  verrosteten  Schwertes 
(die  noch  erhaltenen  stahlblauen  Massen  waren  so  stark,  dass 
kein  Instrument,  selbst  eine  Uhrmachersäge  sie  nicht  angreifen 
wollte),  Ringe,  darunter  spiralförmig  gewundene,  zwei  Heft- 
nadeln, Stücke  Speis,  dem  altrömischen  Sandmörtel  ähnlich,  und 
noch  ein  Sporn.  Als  man  mit  dem  Abräumen  der  Erdmassen 
beinahe  zu  Ende  war,  traf  man  am  äussersten  Rande  der  Erd- 
erhöhung nordostwärts  auf  einen  platten,  breiten  Stein  von  2  Fuss  372 
10  Zoll  Länge,  2  Fuss  8  Zoll  Breite,  welcher  wie  ein  Tisch  auf 
vier  Feldsteinen  ruhte.  Er  war  tafelförmig  zugerichtet  und  be- 
hauen, und  auf  der  Oberfläche  zeigte  sich  eine  unförmliche  Ver- 
tiefung, welche  in  zwei  Hauptrinnen  auf  verschiedenen  Seiten 
auslief.  Auf  der  einen  Seite  der  Tafel  steckte  ein  eisernes 
Schwert,  welches  zerfiel,  auf  der  anderen  aber  lagen  Scherben 
eines  zerdrückten  Gefässes  von  der  rohesten  Arbeit  und  gröbsten 
Masse.  In  der  Nähe  aber  befanden  sich  zwei  zum  Dreieck 
behauene  Feldsteine,  so  wie  noch  andere  mehr  oder  weniger 
in  diese  Form  gebrachte,  nicht  über  ein  Pfund  schwere  Steine. 
Diese  Tafel,  wovon  das  Titelkupfer  eine  Ansicht  liefert,  hält 
Hr.  Dorow  für  einen  einfachen  germanischen  Opfer-Altar 
(das  dabei  eingeklammerte:  Druiden -Altar  könnte  Irrthümer 
erregen,   da   bekanntlich    die    Druiden   den  Galliern   zugehören) 


268  OPFERSTÄTTE  UND  GRABHÜGEL  VON  DOROW. 

mit  dem  umher  gestreuten  Schmuck  und  Waffen  gefangener 
und  vielleicht  geopferter  Römer  und  Gallier.  Und  zwar  vor 
Drusus  Zeit  sei  er  errichtet  worden,  weil  nachher  die  Macht 
der  Römer  in  dieser  Gegend  zu  stark  gewesen  und  Opfer  und 
Priester  in  das  tiefere  Germanien  getrieben.  Vielleicht  bei  einem 
Vorrücken  des  Julius  Cäsar,  sagt  der  Verf.,  und  der- dadurch 
herannahenden  Kriegsgefahr  wurde  diese  Opferstätte,  um  sie 
zu  erhalten  und  zu  schützen,  grabhügelmässig  überschüttet,  da 
den  Römern  die  Gräber  der  Feinde  heilig  waren.  —  Der  Hügel 
auf  dem  Hebenkies  war  nach  der  Volkssage  das  Grab  eines 
vor  der  Römerzeit  beerdigten  Fürsten  und  lag  einsam.  Man 
fand  darin  Scherben  von  Urnen,  die  sich  zusammensetzen  Hessen 
und  eine  besonders  schöne  Form  mit  geschmackvoller  Ver- 
zierung zeigten.  Sie  sind  Tafel  I  abgebildet.  Ferner:  viel 
Asche,  verwitterte  Knochen  von  einem  Menschengerippe,  die 
373  auf  kleinen  Quarzkrystallen ,  welche  mehr  oder  weniger  vom 
Feuer  gelitten  hatten,  lagen,  Knochen  von  der  oberen  und 
unteren  Kinnlade  eines  Pferdes  (dies  Beispiel  ist  nicht  einzig, 
so  hat  man  z.  B.  in  einem  Grabhügel  bei  Calbe  Überbleibsel 
von  den  verbrannten  Knochen  eines  Pferdes  gefunden),  endlich 
eine  Streitaxt  von  Serpentinstein,  deren  Politur  noch  spiegelte. 
Die  genaue  Besichtigung  der  Grabstätte  führte  auf  die  Ansicht, 
dass  solche  in  Form  eines  Kessels  von  7  Fuss  im  Durchmesser 
und  5  Fuss  Höhe  in  den  Erdhügel  mit  keilförmig  gesetzten 
Feldsteinen  erbaut  war,  so  dass  von  Abend  her  eine  horizontale 
Öffnung  blieb,  welche  zuletzt  mit  Steinen  ausgefüllt  wurde. 
Dann  scheint  auf  diesem  Kessel,  der  keine  Spur  vou  Uber- 
wölbung  zeigte,  ein  7  Fuss  hoher  Kegel  von  eben  solchen  Feld- 
steinen errichtet,  das  Ganze  aber  einige  Fuss  dick  mit  Erde 
überdeckt  worden  zu  sein,  in  der  gleich  oben  eine  Menge  zum 
Theil  ganz  zu  Grünspan  gewordener  Metallringe  gefunden  wurden. 
Der  Verf.  glaubt,  dass  zuerst  der  Kessel  gebaut  worden,  um 
darauf  den  Holzstoss  zur  Verbrennung  des  Todten  mit  Waffen 
und  Streitross  aufzuführen.  Der  horizontale  Gang  darin  habe 
als  Zugloch  zur  Beförderung  des  Brandes  gedient.  Die  zum 
Schmuck  um  den  Rand  gestellten  Urnen  seien  mit  dem  ver- 
brannten  Holzstoss    in   den   Kessel  hinabgestürzt    und  von   der 


OPFERSTÄTTE  UND  GRABHÜGEL  VON  DOROW.  269 

Last  des  Steinkegels,  der  hernach  das  Ganze  überdeckte,  zer- 
drückt worden.  Die  übrigen  in  ziemlicher  Anzahl  geöffneten, 
hier  sämmtlich  einzeln  und  ausfuhrlich  beschriebenen  Hügel 
zeigen  keine  verschiedene  Construction,  nur  ist,  wie  es  scheint, 
nach  dem  Range  des  Verstorbenen  mehr  oder  weniger  Sorgfalt 
dabei  angewendet  worden.  Im  Norden  wenigstens,  wo  wir  über- 
haupt alte,  gemeinschaftliche  Sitte  reiner  und  deutlicher  ausge- 
drückt finden,  hatte  man  darüber  bestimmte  Unterscheidungen  374 
und  eigene  Benennungen  dafür:  Haugr  war  für  Edle,  Kuml  für 
Freie,  beide  oft  mit  Denksteinen  geziert.  Dys  für  Sklaven  und 
Gefangene.  Meist  fand  man  hier  verbrannte  Knochen  und 
Asche,  doch  auch  unverbrannte  Gerippe,  beides  oft  sehr  nahe 
zusammen  (S.  VIII),  so  dass  die  Meinung  immer  mehr  Kraft 
erhält,  wonach  die  verschiedene  Sitte  schon  damals  zu  gleicher 
Zeit  in  Ausübung  kam.  Wo  sich  Pferdeknochen  finden,  kann 
man  wohl  auf  das  Grab  eines  Vornehmeren  oder  Heerführers 
schliessen,  von  anderen  Thieren  hat  man,  so  viel  wir  wissen, 
noch  keine  Überbleibsel  gefunden,  obgleich  (nach  der  Edda) 
Hunde  und  Habichte  auch  mit  verbrannt  wurden :  doch  können 
diese  als  schwächere  vom  Feuer  ganz  verzehrt  sein,  oder  was 
sich  erhalten,  ist  nicht  mehr  zu  unterscheiden.  —  Die  Tafeln 
aus  der  Müllerischen  Steindruckerei  in  Carlsruhe  nach  Zeich- 
nungen von  Metzger  und  Hundeshagen  liefern  in  schönen  und 
sorgfaltigen  Abbildungen,  die  viel  Lob  verdienen,  was  sich  sonst 
Merkwürdiges  in  den  Hügeln  gefunden.  Man  kann  es  in  fol- 
gender Übersicht  zusammenfassen.  1.  Urnen  von  verschieden- 
artiger sowohl  zierlicher  als  unbehilflicher,  roher  Form.  Die 
vorzüglichsten  sind  die  in  dem  Hebenkies -Hügel  gefundenen 
Taf.  I  abgebildeten,  obgleich  die  Masse  und  Arbeit  selbst  grob 
ist.  Sie  sind  mit  eingezeichneten  gefalligen  Zieraten,  wovon 
einige  Tannenzapfen  vorzustellen  scheinen,  versehen.  (Eine  in 
Korddeutschland  gefundene  Urne  zeigt  die  bekannte  Verzierung 
aus  Linien,  die  im  Viereck  verschlungen  sind  (ä  la  grecque),  und 
ist  in  Meyers  Darstellungen  aus  Norddeutschland  S.  302  abge- 
bildet.) Der  Verf.  wirft  daher  die  Frage  auf,  ob  die  schöne 
Form  noch  Überbleibsel  einer  hohen  Ausbildung  asiatischer 
Colonisten    sei?    Die   Masse    an   den    deutschen    Grabumen   ist  375 


270  OPFERSTÄTTE  UND  GRABHÜGEL  VON  DOROW. 

überhaupt  verschieden,  manchmal  sehr  fein,  gewöhnlich  bricht 
der  Thon  schwarz  oder  gräulich  und  flimmernd,  aber  auch  röth- 
lich  und  ganz  braun  oder  erdfarben.  Die  Urnen  sind  entweder 
mit  den  Überresten  der  verbrannten  Knochen  angefüllt  oder 
mussten  bloss  als  Zierde  um  das  Grab  gestellt  sein,  wo  sie  dann 
gewöhnlich  nur  Erde  oder  Sand  enthalten.  2.  Waffen.  Die 
auf  Taf.  IX  abgebildeten  sind  wohl  die  ältesten ;  Exemplare  aus 
anderen  Hügeln,  die  Rec.  gesehen,  waren  diesen  vollkommen 
ähnlich  und  von  sehr  feinem  Kupfer.  Vielleicht  ist  Fig.  3  die 
framea  des  Tacitus.  Auffallend  ist  der  Sporn  in  dem  Hügel 
über  der  Opferstätte,  an  dessen  Alter  und  Gleichzeitigkeit  nicht 
darf  gezweifelt  werden.  Der  Verf  bemerkt,  dass  er  wegen 
seiner  langen  Schenkel  nur  an  Sandalen  oder  Stiefeln  und 
Schuhen,  wie  sie  im  Mittelalter  gebräuchlich  gewesen,  habe  be- 
festigt werden  können.  Im  Mittelalter  war  die  Fussbekleidung 
(bei  den  Vornehmen),  nach  den  Bildern  in  Handschriften  zu 
urtheilen,  nicht  plump,  sondern  anschliessend;  doch  wozu  über- 
haupt jene  Bemerkung,  da  hier  von  der  Zeit,  die  wir  unter  dem 
Mittelalter  begreifen,  nicht  die  Rede  sein  kann.  Der  Sporn  ist 
ganz  gewiss  nicht  deutschen  Ursprungs,  sondern  war  eine  Beute, 
auch     würde    sich     sonst    der    zweite    dabei     gefunden    haben. 

3.  Schmuck,  Zieraten,  die  der  Verstorbene  wahrscheinlich 
getragen  hatte.  Allerlei  Ringe  von  Bronze,  oft  nicht  ge- 
schlossen, Fibeln,  Armringe  (Rec.  sah  gedrehte  Ringe  aus  Grab- 
hügeln, die  für  den  stärksten  Arm  zu  gross  waren  und  an  dem 
Schenkel  hätten  müssen  getragen  werden),  Haarnadeln  (ähn- 
liche werden  noch  jetzt  am  Rhein  getragen,  in  Sachsen  hat 
man  sie  ganz  von  derselben  Form  ausgegraben,  wie  sie  Taf.  X 
abgebildet  sind),    Bernsteincorallen ;    beide  Zieraten  mögen  eine 

376  weibliche  Leiche  anzeigen.  Hierher  gehören  auch  wohl  die 
verschiedenartigen  kleinen  Bronzeverzierungen,  deren  Zweck 
man  nicht  einsieht.  (Vergl.  S.  27  und  S.  15.)  Man  hat  in 
vielen  Grabhügeln  solche  räthselhafte  Dinge  gefunden,  z.  B. 
durchbohrte,  regelmässig  geformte,  kleine  Steine,  Thonkügelchen. 

4.  Andere  Dinge,  die  man  für  schätzbar  hielt.  Dahin 
zählen  wir  die  S.  16  beschriebene  und  Taf  5  abgebildete  Kanne 
und   Schale   aus   Kupferblech   von   geschmackvoller,    aber   ohne 


OPFERSTÄTTE  UND  GRx\BHÜGEL  VON  DOROW.  271 

Zweifel  römischer  Arbeit;  beide  waren  innen  mit  einem  kork- 
ähnlichen Stoff  überkleidet;  der  Verf.  sieht  darin  eine  Opfer- 
kanne und  Opferschale.  Wo  steht  aber  Nachricht,  das» 
solche  Geräthe  beim  Opfer  sind  gebraucht  worden?  Im  Norden 
hatte  man  einen  Blutkessel  (hlautbolli),  in  welchem  das  Blut 
des  Opfers  aufgefangen  und  aus  dessen  Tröpfeln  geweissagt 
wurde.  Und  ferner:  warum  sollten  diese  Geräthe,  wenn  sie  zu 
dem  Opferdienst  nöthig  waren,  in  einen  Grabhügel  gelegt  worden 
sein?  Man  gab  sonst  das  Kostbarste  dem  Todten  mit;  wie  es 
in  nordischen  Denkmälern  ausdrücklich  heisst,  wurden  deshalb 
Sklaven,  Ross  und  Jagdthiere  mit  verbrannt,  damit  der  Ver- 
storbene nicht  ohne  Begleitung  in  Valhaul  eintrete  und  das 
Thor  ihm  hinter  den  Fersen  zuschlage.  Deshalb  wurden  jene 
Gefässe,  wahrscheinlich  durch  Tausch  oder  Beute  erworben, 
mit  in  den  Grabhügel  gestellt;  so  ist  auch  wohl  das  vorgefundene 
prächtige  Exemplar  einer  versteinerten  Venusmuschel  (S.  23) 
hineingekommen.  Hierher  gehörten  auch  römische  Münzen, 
allein  in  allen  hier  beschriebenen  deutschen  Hügeln  haben  sich 
keine  gefunden,  eben  so  sind  sie  in  den  Grabstätten  von  Nord- 
deutschland höchst  selten  vorgekommen.  Da  andere  Bronze- 
arbeiten sichtbar  römische  Arbeit  sind,  so  scheint  der  Umstand 
auf  ein  hohes  Alter  der  Gräber  zu  deuten ,  wo  die  römischen  377 
Münzen  bei  den  Deutschen  noch  nicht  in  Werth  waren.  Die, 
welche  man  findet  (in  der  Abhandlung  von  Hirt  werden  ein 
Paar  unbezweifelte  Fälle  angegeben),  sind  gewöhnlich  Kaiser- 
münzen aus  den  ersten  Jahrhunderten.  5.  Symbole.  Wir 
nennen  hier  zuerst  die  steinernen  Streithämmer,  Steinpfeile  und 
sogenannten  Opfermesser,  die  nicht  selten  ausgegraben  werden. 
Eine  Streitaxt  von  Serpentinstein  mit  noch  glänzender  Politur 
fand  sich  im  Hebenkies  und  ist  Taf.  I  abgebildet.  Von  der  Axt 
bemerkt  der  Verf.  selbst,  dass  sie  nicht  zum  Gebrauch  habe 
dienen  können,  indem  die  Öffnung  für  einen  hölzernen  Stiel  zu 
klein  sei.  Ein  ähnlicher  keilförmiger  Stein,  ganz  undurchbohrt, 
dem  blassen  Serpentinstein  nicht  unähnlich,  ist  S.  30.  31  be- 
schrieben und  Taf.  II  abgebildet.  Ein  Stück  von  einem  soge- 
nannten Opfermesser  scheint  Taf.  2,  Fig.  6  abgebildet,  man  kann 
es  nicht  wohl,   wie  der  Verf.  thut,   für  eine  Säge  halten.     Die 


272        OPFERSTÄTTE  UND  GRABHÜGEL  VON  DOROW. 

sogenannten  Steinpfeile  haben  sich  in  diesen  Gräbern  nicht  ge- 
funden. Nach  der  von  Sk.  Th.  Thorlacius  besonders  ausge- 
führten Meinung  sind  diese  drei  auch  im  Norden  häufigen 
Stücke  blosse  simulacra  armorum  und  Symbole  von  der  drei- 
fachen Kraft  des  Blitzes  oder  Thors  Hammer,  welche  dem 
Todten  zum  Schutz  gegen  die  bösen  Geister  mit  ins  Grab  ge- 
legt wurden.  Darnach  ist  zu  berichtigen,  wenn  der  Verf.  S.  3 
bemerkt:  die  Streitaxt  sei  Symbol  von  Thor,  „um  den  Todten 
als  einen  Helden  zu  bezeichnen."  —  Merkwürdig  sind  die  ver- 
schiedentlich gefundenen  Dreiecksteine  (vergl.  S.  11.  19.  29), 
die  als  Symbole  einer  Trimurti  angesprochen  werden.  Auch 
finden  sich  die  Gerippe  in  ein  Dreieck  gelegt,  in  dessen  Mitte 
die  vorhin  angeführten  sogenannten  Opfergeräthe  standen;  zu 
378  den  Füssen  des  einen  lag  ein  asbestartiger  Stein.  Man  müsste 
die  noch  häufiger  gefundenen  oft  länglichen  Kiesel  von  Milch- 
quarz (S.  5.  10.  14.  16.  18.  24.  31.  32.  33.  34)  damit  in  Ver- 
bindung bringen  als  ein  Symbol  der  Einheit  oder  des  Alls.  In  den 
bei  Maden  in  Hessen  [gefundenen],  von  Schminke  beschriebenen 
Gräbern,  so  wie  in  einem  schlesischen,  wovon  Kruse  Nachricht 
gibt,  hat  man  wenigstens  völlig  eiförmige  Steine  gefunden, 
die  man  sich  auf  keine  Art  zu  erklären  wusste.  Bei  einem  an 
den  Flächen  abgeriebenen  Quarzstück  äussert  der  Verf.  die 
Vermuthung,  es  könne  zum  Anzünden  des  Opferfeuers  gebraucht 
sein,  und  durch  jene  Quarzstücke  überhaupt  würde  der  Hügel 
eines  Priesters  bezeichnet.  —  Von  Inschriften  hat  sich  keine 
Spur  gezeigt,  obgleich  ein  behauener  Deckstein  (S.  20)  dazu 
Gelegenheit  gegeben  hätte. 

Nach  der  Beschreibung  germanischer  folgt  S.  35  fi".  Nach- 
richt von  muthmasslich  römischen  Grabstätten  in  Wiesbaden. 
Man  hat  ganze  Menschengerippe  mit  darauf  liegendem  Schmuck 
und  Wafien,  so  wie  mit  Backsteinen  gemauerte  Gräber,  in  denen 
mehrere  flaschenförmige  Krüge  mit  Asche  und  Knochen,  Lam- 
pen usw.  standen,  einige  Fuss  tief  im  Marschlande,  als  die 
Fundamente  zum  neuen  Schloss  gegraben  wurden,  gefunden. 
Der  Verf.  ist  im  Besitz  aller  Überreste  eines  solchen  römischen 
Grabes  und  liefert  genaue  Beschreibung  und  Abbildung  der- 
selben.   Eine  grosse  Glasvase  zeichnet  sich  aus.    In  dem  söge- 


OPFERSTÄTTE  UND  GRABHÜGEL  VON  DOROW.  273 

nannten  heidnischen  Berge  vor  Wiesbaden  fand  sich  ein  grosser 
Plattziegel  mit  der  Inschrift:  LEG  XXII.  PRPF,  der  wahr- 
scheinlich  zu  einem  Grabziegel  gedient  hat,  da  dabei  eine  Menge 
Asche  und  Kohlen  war.  Ein  anderer  war  mit  einem  Stempel 
verziert  und  enthielt  dieselbe  Inschrift  LEGXII  P.  P.  F.  Näm- 
lich die  zweiundzwanzigste  Legion  stand  250  Jahre  zu  Mainz,  379 
wohin  sie  80  Jahre  vor  Christi  Geburt  gelegt  war,  sie  hiess 
primigenia,  weil  sie  von  Anfang  ihrer  Aufrichtung  unvertheilt 
bestanden,  ferner  pia  und  fidelis,  woraus  obige  Buchstaben  zu 
erklären  sind.  —  In  einem  Grabhügel  auf  der  sogenannten  Wein- 
hohl lag  der  ganze  Kessel,  mit  Scherben  zusammengedrückter 
Urnen  angefüllt,  darunter  ein  sogenannter  Donnerkeil.  Ein  Weg 
von  zwei  Stunden  durch  den  Wald  von  einem  römischen  Lager 
in  der  Nähe  des  bekannten  Pfahlgrabens  bis  nach  dem  Feld- 
berg heisst  noch  jetzt  der  Hermannsweg.  —  Der  Anhang 
liefert  Nachricht  von  zwei  römischen  Bädern,  wozu  Grundriss 
und  Durchschnittzeichnung  gehört,  und  von  dem  benachbarten 
Nerosberg. 

Wir  wünschen  eine  günstige  Aufnahme  und  baldige  Fort- 
setzung dieses  gewiss  nicht  ohne  mehrfache  Aufopferung  zu 
Stand  gebrachten  Werkes.  Sie  wird  uns  wahrscheinlich  auch 
Auskunft  über  die  öfi'entlichen  Nachrichten  zufolge  beim 
Festungsbau  zwischen  Ehrenbreitstein  und  dem  Dorfe  Rothen- 
bahn  gefundenen  Gräber  geben.  Schliesslich  müssen  wir  es 
noch  ausdrücklich  rühmend  anerkennen,  dass  der  Verf.  seine 
Beschreibungen  von  jenen  leicht  aufzubringenden,  oft  nur  auf 
einem  flüchtigen  Gedanken  ruhenden  Hypothesen  freigehalten; 
nur  hier  und  da  ist  eine  Bemerkung,  die  sich  natürlich  darge- 
boten hatte,  beigefügt. 

[anonym.] 


W.  GRIMM,    KL.  SCHRIFTEK.      II.  18 


274  FÜRST  WLADIMIR  UND  DESSEN  TAFELRUNDE. 

619  FÜRST  WLADIMIR  UND  DESSEN  TAFELRUNDE. 

Alt-Russische  Heldenlieder.     Leipzig  bey  F.  A.  Brockhaus.     1819.     160  S.    8. 
Göttingische  gelehrte  Anzeigen.    Bd  I,  62.  Stück,  den  15.  April  1820,   S.  619— 621. 

Ziwar  nur  eine  kleine,  aber  echte  Sammlung  russischer 
Sagen,  aus  dem  Munde  des  Volks,  wie  es  scheint,  in  der  Nähe 
von  Moskwa  selbst,  aufgefasst  und  darum  sehr  willkommen.    Auch 

620  mit  der  Bearbeitung,  die  der  ungenannte  Verfasser  [von  Busse] 
einer  deutschen  Fürstin  bei  ihrem  Aufenthalt  in  Moskwa  schicklich 
zugeeignet,  hat  man  Ursache  zufrieden  zu  sein;  er  hat  sich,  wie 
man  sogleich  fühlt  (denn  die  Originale  zu  einer  etwaigen  Ver- 
gleichung  sind  noch  nicht  gedruckt),  keine  Zusätze  erlaubt,  nur 
ausgelassen,  was  ihm  moderne  Zuthat  schien,  und  dabei  ist,  wie  er 
versichert,  nichts  Eigenthümliches  untergegangen.  Das  gewählte 
Mass,  die  vom  Assonanzenzwang  befreiten  spanischen  Redondillas, 
wie  sie  Herder  in  seinem  Cid  gebraucht,  ist  auch  ganz  passend, 
nöthigt  wenigstens  nicht  zu  Veränderungen  und  Verdrehungen. 
Auch  hier,  wie  in  allem  echten  Epos,  kein  Bilderschmuck, 
aber  passende,  naive  Gleichnisse  (z.  B.  S.  96.  Leichter  ist's  in 
wollnen  Säcken  heisse  Kohlen  zu  verwahren,  als  zwei  Liebenden 
verwehren,  sich  zu  begegnen),  keine  Pracht  und  Künstelei 
des  Ausdrucks,  alles  schlicht,  aber  zutraulich  und  ansprechend, 
wenn  man  überhaupt  nur  für  ruhige  Naturdichtung  zugänglich 
geblieben  ist.  In  der  Ausstattung  der  Sage  ist  eine  gewisse, 
aus  den  serbischen  Liedern  schon  bekannte  Eigenthümlichkeit 
sichtbar;  überhaupt  zeigt  sich  darin  die  slavische  Nationalität. 
Es  fehlt  jene  zarte  Frauenliebe  und  Achtung  der  Deutschen, 
und  „die  Sitte  des  abendländischen  Ritterthums,  WaflPen wacht 
und  Ritterschlag,  die  Wafienschilder  und  Sporendienste  sucht 
man  vergebens."  Dagegen  der  Inhalt  der  Sagen  selbst  verkündet 
im  Ganzen,  wie  in  einzelnen  Zügen  jene  merkwürdige  Gemeinschaft. 
Es  sind  zwölf  Stücke,  ganz  eigentliche  Märchen,  deren  jedes 
für  sich  besteht,  die  aber  in  Wladimir  dem  Grossen,  dem  Gründer 
des  christlichen  Russlands,  der  hier  den  Beinamen  „helle  Sonne" 
führt,  ihren  Mittelpunkt  haben,  wie  andere  Sagenkreise  in 
Artus,    Carl  d.  G.   und  Dietrich   von  Bern.      Eben   so  erhalten 


FÜRST  WLADIMIR  UXD  DESSEN  TAFELRCSDE.  275 

sie  dadurch   einen   gewissen  Anflug   und  Schein   von  wirkhcher62i 
Geschichte.      In    dem    ersten  Lied    will    der  Bolgare  Tugarin, 
Schlangensohn,  AVladimirs  Gattin  Lepa  mit  Gewalt   holen   und 
kann  von  niemand  besiegt  werden,  als  von  einem,  der  lebt,  ohne 
geboren   zu   sein.      Das  Räthsel   wird  gelöset,    wie  in  der  Sage 
von  Macbeth,  Rodgai  ist  aus  der  Mutter  Leib  geschnitten  und 
tödtet  den  Riesen.    Uja  in  dem  3.  und  ß.  Lied  ist  der  Dummling 
deutscher  Märchen,    eine  verborgene,   gewaltige  Kraft,  die  erst 
spät   zum  Durchbruch   kommt;    dreissig  Jahre   sitzt  er  unthätig 
und   unbehilflich,    da   erhebt   er  sich,    tödtet  den  von  allen  ge- 
furchteten  Feind  mit  einem  Pfeilschuss,  der  durch  neun  Baumäste 
schlägt,    trinkt    den   TTein   aus   einem   Eimer  oder  fasst  seinen 
Gegner  um    die  Hüften,    wirft   ihn    in   die  Luft    und   fängt  ihn 
wieder.  Er  ist  im  Charakter  mit  dem  Siegfiied  des  Nibelungenliedes 
verwandt,  so  auch  der  trotzige  Knabe  Wassily,  der  die  Vögte, 
die  ihn  greifen  wollen,    fortjagt.      In  dem  achten  Liede  kämpft 
der  Sohn  Mstislaw  gegen  Wladimir,  seinen  Vater,  ohne  ihn  zu 
kennen,    wie   im   Hildebrandslied.     Tschurilo   im    dritten   Liede 
gleicht  einem  jungen  Riesen  in  dem  deutschen  Märchen  (Grimm, 
Sammlung  Nr.  90),  er  zerreisst  sechs  Häute,  wie  morsches  Linnen, 
und   bricht  wie  jener  einen  Eichbaum  sammt  den  Wurzeln  aus 
der  Erde,  um  damit  zu  kämpfen.     Sein  Ross  duldet  ihn  allein, 
wie    das  Ross   Grane    den   Sigurd.      Rodgai    wirft    mit  solcher 
Kraft   einen  Stein,   dass   er    wie  ein  Vogel  fliegt  und  gar  nicht 
wieder    herabkommt,    gerade    wie    dort   in    den   deutschen   Er- 
zählungen  (Nr.  20)  prahlerisch   einer   dasselbe   thun  will,    aber 
heimlich  wirklich  einen  Vogel  statt  des  Steins  dazu  nimmt.    Für 
die  Verwandtschaft   der  epischen  Dichtung  sind  solche  einzelne 

Züge  auch  von  Werth. 

[anonym.] 


18^ 


276  HANS  SACHS  VON  BÜSCHING.  IL 


1876        HANS  SACHS  ERNSTLICHE  TRAUERSPIELE, 

liebliche  Schauspiele,  kurzweilige  Gespräche,  sehnliche  Klagreden,  wunderbar. 
^  liehe  Fabeln    sammt    andern    lächerlichen  Schwänken    und    Possen.     Heraus- 
gegeben von  Dr.  Johann  Gustav  Büsching.     Zweytes  Buch.     Nürnberg  1819, 
bey  Schräg.     347  S.     8.     (2  Thlr.) 

Leipziger  Litteratur-Zeitung  für  das  Jahr  1821.     Zweites  Halbjahr.     No.  235, 
am  21.  September  1821.     S.  1876  —  1877. 

Jtvec.  bezieht  sich  auf  das  Urtheil,  das  er  Jahrg.  1819, 
No.  7  [=  oben  S.  227 — 232]  über  den  ersten  Band  dieser  unver- 
dienstlichen Bearbeitung  der  Hans  Sachsichen  Gedichte  abgegeben 
hat.  Die  gegenwärtige  Fortsetzung  des  Werks  ist  noch  dazu  un- 
gleich, indem  sie  sich  etwas  strenger  an  den  Text  hält;  für  den 
Schluss  des  Ganzen  werden  sogar  wörtlich  abgedruckte,  noch 
unherausgegebene  Gedichte  verheissen.  Soll  nun,  wer  diese  zu 
schätzen  weiss,  den  ganzen  Mischmasch  mitkaufen?  Viel  Mühe 
und  Studium  kann  weder  die  Auswahl  noch  die  Zurichtung 
dem  Herausgeber  verursacht  haben,  er  versteht  nicht  einmal 
seinen  Autor  gründlich,  wo  dieser  zuweilen  schwierig  wird,  und 
wer  sich  Register  über  Hans  Sachsens  Sprache  aufsetzen  will, 
kann  Hrn  B.  missverstandene,  unklar  gefasste  Stellen  genug 
nachweisen.     Seite  32  stehet  vom  redenden  Gulden: 

dieselb  (Bäuerin)  mich  unter  die  Erde  grab 
und  legt  auf  mich  'nen  grossen  Stein, 
in  Sorg  um  mich,  die  war  nicht  klein. 

Rec,  ohne  das  Original  nachzuschlagen,  wettet,  dass  es 
heisse : 

ihr  Sorg  um  mich  die  war  nicht  klein. 

mit  ganz  gewöhnlicher  Sprachwendung;  wozu  die  nichts  er- 
leichternde, sprach  verderbende  Änderung?  Der  Sinn  geht  frei- 
lich nicht  ganz  verloren,  aber  was  Hans  Sachs  natürlich  und 
fliessend  erzählt,  stockt  und  hapert  in  den  Sätzen  des  nach- 
erzählenden Erneuerers.  Dafür  bekommen  die  Augen  unzählige 
ihr'r,  ihn'n,  Apostrophen  und  ähnliche  Hilfsmittel  zur  Über- 
windung von  Schwierigkeiten  dargereicht,  welche  von  zehn 
Lesern,  denen  wirklich  an  dem  alten  Dichter  liegt,  zehn  sicher 


HAXS  SACHS  VON  BÜSCHING.  II.  277 

nach  der  ersten  Viertelstunde  besiegt  hätten.  S.  139  reimt  der  1877 
Dichter  Tag  auf  Hafj;  zu  irgend  einer  eingebildeten  Erleichte- 
rung  verfölscht  Hr.  B.  den  Reim  und  schreibt  Haag;  Seite  141 
aber  ausser  dem  Reim  belässt  er  Hag ;  heisst  das  nun  unnöthig 
oder  leichtsinnig  mit  seinem  Text  umgesprungen  ?  Auf  derselben 
S.  139: 

die  lichte  Sonn'  thut  blicken. 

des  Mondes  Schein  thut  sich  verdrücken 

mit  der  Note  zu  verdrücken:  verstecken.  H.  Sachs  sagt  aber: 
sie  verdrücken,  die  Sonne  (das  reine  Evangelium)  verdrängt 
den  Mondschein  der  papistischen  Lehre;  sich  selbst  zu  ver- 
stecken hat  diese  keine  Lust.  Die  Noten  behandeln  oft  das 
Klarste;  zuweilen  irren  sie;  nach  S.  264  soll  „entwicht"  bedeuten: 
entwichen!  es  bedeutet:  inane,  nichtig,  und  hat  mit  ent- 
weichen durchaus  nichts  zu  schaffen.  Solche  Fehler  sind  kaum 
Anfangern  in  der  altdeutschen  Sprache  verzeihlich.  S.  150  der 
Reim  „erklärten"  (erklärt  ihnen,  hier  wäre  einmal  der  Apo- 
stroph erklärt'en  am  Platz)  auf  „Schriftgelehrten".  Die  Note 
gibt  aber:  erklärte,  als  sei  erklärten  dafür  eigenthümliche  Form 
H.  Sachsens.  S.  147  wird  die  Redensart  „mit  Lichten 
(warum  nicht  erleichternd:  Lichtern?)  verschiessen"  zwar 
richtig  durch  excommuniciren  ausgelegt  (vgl.  Frisch  v.  ver- 
schiessen  und  Häsleins  Auszug  p.  228),  aber  verdiente  hier  nicht 
der  unberathene  Leser  eine  wörtliche  Deutung?  Kurz  Rec. 
sieht  nicht  ab,  wem  mit  einer  Modernisirung  gedient  ist,  die 
unter  drei  Fällen  im  ersten  wirklich  hilft,  im  zweiten  unnöthig, 
im  dritten  falsch.  Obige  Verstösse  sind  nicht  herausgesucht, 
sondern  zufällig  aufgegriffen  mit  dem  Gefühle,  dass  ihrer  der 
ganze  Band  allenthalben  und  weit  ärgere  darbietet. 

[anonym.] 


278  RÜNAKEFLI  PAR  JENS  WOLFF. 

887RUNAKEFL1  LE  RUNIC  RIM-STOC,  OU  CALENDRIER 

RUNIQÜE, 

avec  l'explication  des  divers  caracteres,  fetes  etc.,  qui  sont  graves  sui-  ces 
anciens  bätons,  auquel  est  ajoutee  une  ode  tiree  de  Edda  saemundar,  appelee 
Thryms-quida  ou  le  rapt  du  marteau  de  Thor,  composee  dans  le  1 1''  siecle; 
traduit  en  franpais  de  la  langue  islandaise,  suivi  de  quelques  remarques  sur 
la  mythologie  du  Nord.  —  On  y  a  Joint  quelques  Planches  representant  des 
monumens  runiques  dont  on  donne  l'explication.  Par  Jens  Wolff,  cidevant 
consul  de  Danemark  et  de  Norwege  ä  Londres,  membre  de  la  societe  de  la 
litt.  d'Island  ä  Copenhague.   Paris  1820.   De  rimprimerie  de  Nouzou.  59  S.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.    Bd  II,  89.  Stück,  den  4.  Juni  1821.    S.  887—888. 

Voran  geht  die  prosaische  Übersetzung  der  Thryms- 
quida,  dann  kommen  die  Anmerkungen,  die  Urschrift  zuletzt. 
Wer  in  der  Vorrede  schon  die  Genit.  Sturla,  Froda,  Sä- 
mundar  für  die  Nominat.  Sturli,  Frödi,  Sämundur  und 
Skaldartal  für  Skaldatal  bemerkt  hat,  auch  den  Dichter 
Olafr  Hvitaskald  als  eine  doppelte  Person:  Olaf  und  Hinta- 
skald  gefunden,  der  ist  schon  im  Voraus  überzeugt,  was  sich 
auch  bald  ausweiset,  dass  der  Verfasser  bloss  nach  der  lateini- 
schen Übersetzung  in  der  Kopenhag.  Ausgabe  der  Edda  die 
seinige  verfertigt  hat.  Die  zugefügten  Anmerkungen  sind  ohne 
Sachkenntnis  aufgelesen  und  völlig  werthlos.  Bei  Heimdallr 
(es  steht  Heimdallar  da)  wird  bemerkt:  „litteralement  le  plus 
blanc  des  Asi"  (so  findet  man  auch  Alfi,  Thurssi,  Birkibeini), 
das  bedeuten  aber  im  Text  die  Worte  „Hvitastr  Asa"  und 
Heimdallr  heisst  vielleicht  so  viel  als  Weltlicht,  Weltbestrahler. 
Die  einzige  Note  unter  dem  Text:  „dazumal  scheine  das  Silber 
mehr  Werth  gehabt  zu  haben  als  das  Gold",  wozu  nur  die 
888  oberflächlichste  Ansicht  verleiten  konnte,  würde  ein  anderer  auch 
ohne  Kenntnis  der  Edda  weggelassen  haben.  Die  Hauptsache 
kommt  S.  30:  Erklärung  und  Abbildung  eines  runischen  Ka- 
lenders auf  einem  Holzstab,  welcher  dann  das  rünakefli  sein 
soll.  Man  findet  alles  besser,  genauer,  reichhaltiger,  mit  Ab- 
bildungen der  verschiedenartigen  Runen-Kalender  in  einem  be- 
sonderen Werk  des  Olaus  Worm,  Fasti  Danici  (Hafniae  1643), 
welches    hier    nicht   einmal    genannt  wird.     Zum   Schluss   sind 


OM  SNOEROS  KILDER  OG  TROVÄRDIGHED.         279 

fünf  Runensteine  aus  Ol.  \Yorms  monim.  dan.  wiederholt,  und 
bei  einem  macht  der  Verf.  sogar  den  Versuch,  die  Auslegung 
von  Worm  zu  bessern.  Wir  können  versichern,  dass  alles,  was 
er  vorbringt,  völlig  grundlos  ist,  und  wollen  uns  nicht  mit  einer 
Widerlegung  aufhalten.  Die  ganze  Schrift  wäre  ohne  Nach- 
theil ungedruckt  geblieben,  in  keinem  Falle  aber  hätte  der  Verf. 
Ciceros  Worte  auf  den  Titel  setzen  sollen:  haec  studia  —  per- 

noctant  uobiscum,  peregrinantur,  rusticantur. 

[anonym.] 


UNDERSÖGELSE  OM  SNORROS  KILDER  isei 

OG  TROVÄRDIGHED. 

Disquisitio  de  Snononis  fontibus  et  aactoritate.     Scripsit  P.  E.  Müller. 
Latine  vertit  B.  Thorlacius.     Kopenhagen  1820.     24  S.  in  Folio. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.    Bd  III,  157.  Stück,  den  1.  October  1821. 

S.  1561-1566. 

JL/ie  Geschichte  der  norwegischen  Könige  in  der  Heims- 
kringla  des  Snorre  Sturleson  gilt  mit  Recht  für  ein  ausgezeich- 
netes Werk.  Die  Darstellung  ist  natürlich,  dabei  doch  eindring- 
lich und  lebendig  und  hält  eine  glückliche  Mitte  zwischen  zu 
grosser  Ausführlichkeit  und  trockner  Allgemeinheit;  die  Sprache 
aus  dem  goldenen  Zeitalter  ist  würdig  und  angemessen,  so  dass 
man  sich,  wenn  man  diese  Geschichte  liest,  etwa  wie  bei  dem 
Herodot,  den  man  auch  insofern  damit  verglichen  hat,  immer 
auf  irgend  eine  Art  angezogen  fühlt.  Neben  Snorre  zu  nennen 
ist  nur  die  der  Zeitfolge  nach  sich  anschliessende  Sverres-Sage 
von  Carl  Abt,  die  an  Geist  und  Gehalt  nicht  nachsteht;  die 
späteren  dagegen  verfallen  schon  in  die  unfruchtbare  Trocken- 
heit der  Annalisten.  Die  Frage,  wie  Snorre  sein  Werk  zu 
Stande  gebracht,  was  für  Quellen  imd  wie  er  sie  benutzt,  war 
bis  jetzt  noch  nicht  genügend  beantwortet.  Dass  er  Skalden-  1562 
gesänge,  welche  die  Thaten  der  Könige  überlieferten,  vor  sich 
gehabt,  war,  da  er  sie  theils  wörtlich,  theils  dem  Inhalte  nach 
anführt,  gewiss;  auch  dass  er  Vorarbeiten  anderer  benutzt,  ver- 
schiedentlich geschlossen,   allein  so  lange  dies  Verhältnis  nicht 


280  OM  SNORROS  KILDER  OG  TROVÄRDIGHED. 

deutlich  aufgeklärt  und  auseinandergesetzt  wurde,  konnte  man 
aus  jenen  Bemerkungen  nicht  den  rechten  Nutzen  ziehen.  Und 
doch  war  es  wichtig,  für  die  Kritik  der  norwegischen  Geschichte 
und  für  die  Geschichte  der  menschlichen  Bildung  überhaupt 
zu  wissen,  wie  ein  bedeutendes  historisches  Werk,  das  nicht 
bloss  seine  Zeit  befriedigte,  sondern  auch  noch  in  der  Folge 
als  ausgezeichnet  anerkannt  wurde,  entstanden  war.  Die  nöthige 
Untersuchung  hat  Prof.  P.  E.  Müller  vorgenommen,  dem  die 
altnordische  Litteratur  schon  so  vieles  verdankt,  und  die  Auf- 
gabe mit  Fleiss,  Gründlichkeit  und  Gelehrsamkeit,  kurz  auf  eine 
durchaus  tüchtige  Art  gelöst.  Diese  Arbeit  sollte  ursprünglich 
einen  Abschnitt  in  dem  dritten  Bande  in  der  so  verdienstlichen, 
nach  ihrem  Werth  noch  nicht  hinlänglich  bekannten  Sagen- 
bibliothek ausmachen,  allein  da  dort  nicht  Raum  genug  war, 
so  entschloss  sich  der  Verf.,  sie  besonders  in  dem  Format  der 
grossen  Ausgabe  der  Heimskringla  herauszugeben,  und  Birger 
Thorlacius  hat  sie  durch  eine  fliessende  lateinische  Übersetzung 
auch  für  die  zugänglich  gemacht,  welche  die  dänische  Sprache 
nicht  verstehen.  Nur  in  Copenhagen  selbst  konnte  übrigens 
diese  Untersuchung  angestellt  werden,  da  sie  sich  vorzüglich 
auf  die  gleichzeitigen  handschriftlichen  Sagen  von  den  nor- 
wegischen Königen,  worunter  die  Sammlungen  im  Flatobuch 
und  in  der  Handschrift,  Fagurskinna  genannt,  die  hauptsäch- 
lichsten sind,  stützen  musste.  Der  Verf.  schlägt  dabei  folgenden 
Weg  ein,  er  nimmt  die  Sagen,  aus  welchen  die  Heimskringla 
besteht,  einzeln  vor,  untersucht  erst  die  Glaubwürdigkeit  aus 
inneren  Gründen,  forscht  dann  nach  den  Quellen  und  bestimmt 
das  Verhältnis  derselben  zu  Snorres  Arbeit. 
1663  Die  Ynglinga-Saga  von  Cap.  14  an  war  schon  früher  vor- 
handen, wie  aus  Snorres  eigenen  Worten  folgt,  dieser  hat  bloss 
eins  und  das  andere  zugefügt,  namentlich  aus  den  Gesängen 
Thiodolfs,  die  dort  nicht  wörtlich  mochten  angeführt  sein.  Die 
Sage  selbst  war  entstanden  eben  aus  Thiodolfs  Gedichten  und 
anderer  ausdrücklich  genannten  Skalden,  endlich  aus  den  Nach- 
trägen kenntnisreicher  Männer.  Die  dreizehn  ersten  Capitel, 
die  von  der  Einwanderung  der  Äsen  handeln,  sind  Snorres 
eigene  Arbeit.     Sie  enthalten  einmal  Erzählungen,   die   sich   in 


OM  SNORROS  KILDER  OG  TROVÄEDIGHED.         28l 

den  Edden  wiederfinden.  Wenn  sich  hier  Verschiedenheiten 
zeigen,  so  rühren  diese  von  Snorren,  und  dort  ist  das  Ursprüng- 
liche, denn  Snorre  legte  das  Mythische  nach  seiner  Ansicht 
historisch  aus:  eben  darum  aber  konnte  er  auch  nicht  die  Skal- 
den als  seine  Gewährsmänner  anführen,  weil  sie  niemals  auf 
diese  historische  Weise  von  den  alten  Göttern  geredet  hatten. 
W^as  wir  demnach  in  der  Heimskringla  lesen,  sind  nichts,  als 
falsche  Erklärungen  der  Mythen  und  ein  Beitrag  zu  der  Be- 
handlung der  nordischen  Mythologie.  Sodann  enthalten  die 
dreizehn  Capitel  Erzählungen,  die  ein  mythisches  Gepräge  haben, 
sich  aber  nicht  mehr  nachweisen  lassen,  von  ihnen  gilt  dasselbe. 
Endlich  Nachrichten  von  der  Zeit,  in  welcher  Odin  einwanderte^ 
und  den  Gegenden,  aus  welchen  er  kam.  Snorre  sagt  nämlich, 
es  sei  etwa  1 300  Jahr  vor  seiner  Lebenszeit  geschehen  und  ge- 
kommen sei  er  aus  den  Gegenden  des  Tanais.  Der  Verf. 
leugnet  nun,  dass  so  bestimmte  historische  Nachrichten  bis  da- 
hin im  Munde  des  Volks  sich  hätten  erhalten  können,  und  er- 
klärt die  Abkunft  aus  Asien  für  eine  blosse  Conjectur,  veran- 
lasst durch  die  Namen  Äsen  und  Asgard  und  durch  die  Nach- 
richten bei  Jornandes  und  Paulus  Diaconus,  die  Snorre  wahr- 
scheinlich gekannt  habe.  Die  Zeitbestimmung  sei  aber  theils 
eine  theologische  Meinung,  theils  genealogische  Combination. 
Das  alles  lässt  sich  wohl  hören,  da  aber  die  Abkunft  aus  x\sien, 
wie  der  Verf.  selbst  anmerkt,  aus  anderen  Gründen  sich  be- 
stätigt, so  wäre  die  Frage,  ob  nicht  Snorre  in  noch  unentdeckten  I56t 
Quellen  eine  deutliche  Hinweisung  auf  jenen  Zug  gefunden. 
Der  Verf.  schliesst  diesen  Abschnitt  mit  der  Bemerkung,  dass 
auch  damals  schon  eine  Mischunof  der  eigenen  Meinuncren  mit 
der  überlieferten  Sage  ftir  Geschichte  sei  ausgegeben  worden. 
—  Halfdan  Svartes  Saga.  Auch  hier  war  Snorre  kaum  der 
erste,  der  sie  aufschrieb,  vielmehr  bestätigen  es  innere  und 
äussere  Gründe,  dass  er  eine  ältere  vor  sich  gehabt.  Sie  ist 
immer  Einleitung  zu  der  folgenden  gewesen.  —  Harald  Haar- 
fagers-Saga.  Snorre  hat  das  Wunderbare  in  der  Jugendge- 
schichte  Haralds  etwas  gemindert,  aber  dadurch  nur  unver- 
ständlicher gemacht.  Es  wird  des  Gelübdes  gedacht,  das  Harald 
gethan,  sich  nicht  eher  das  Haar  zu  kämmen  und  zu  schneiden. 


282  OM  SNORROS  KILDER  OG  TROVÄRDIGHED. 

bis  er  sich  ganz  Norwegen  unterworfen;  dies  ist  wohl  nicht  so 
unwahrscheinlich,  als  der  Verf.  glaubt,  da  es  in  einer  uralten 
germanischen  Sitte  begründet  scheint.  (Schon  in  der  Völuspä 
wäscht  sich  Balders  Rächer  nicht  die  Hand  und  kämmt  sich 
nicht  das  Haar,  bis  er  Balders  Feind  in  die  Flammen  getragen, 
und  Tacitus  Germ.  31  erzählt  von  den  Gatten,  dass  sie  erst, 
wenn  sie  einen  Feind  getödtet,  Bart-  und  Haupthaar  geschnitten.) 
Übrigens  kann  auch  Snorre  nicht  der  Erste  gewesen  sein,  der 
die  zerstreuten  Nachrichten  von  Harald  gesammelt  hat;  in  Fagur- 
skinna  und  im  Flatobuch  finden  sich  schon  Sagen  von  diesem 
König,  die  älter  sind  und  wovon  die  letztere  mehr  enthält  als 
Snorre  und  doch  manchmal  wörtlich  mit  ihm  übereinstimmt. 
—  Hakon  des  Guten  Sage.  In  Fagurskinna  eine  Darstellung, 
die  bald  abweicht,  bald  wörtlich  mit  Snorre  zusammenfällt  und 
deren  Verfasser  entweder  Snorres  Quelle  selbst  gewesen  ist 
oder  sie  benutzt  hat.  Die  Erzählung  im  Flatobuch  enthält  da- 
gegen einen  Auszug  aus  Snorre.  —  Sage  von  Harald  Graafeld 
und  Hakon  Jarl.  Eine  besondere  Sage  gab  es  kaum  unter  diesem 
Namen,  sie  ist  aus  dem  Inhalt  von  Skaldengesängen  zusammen- 
1565  gefügt.  —  Oluf  Tryggvesens  Saga.  Diese  haben  auch  der  Mönch 
Gunlaug  und  Mönch  Oddur  ausführlich  behandelt;  sie  stimmen 
meist  mit  Snorre.  Der  Verf.  in  Fagurskinna  ist  kürzer,  zeigt 
aber,  dass  er  von  Snorre  unabhängig  ist.  Dieser  hat  ausser 
jenen  Werken  und  was  Are  und  Sämuud  gewährten  eine  oder 
mehrere  zusammenhängende  Erzählungen  von  Oluf  gehabt,  wie 
etwa  jene  in  Fagurskinna.  Am  Ende  der  Schrift  liefert  der 
Verf.  noch  eine  tabellarische,  sehr  nützliche  Übersicht  von  dem 
Verhältnis  Gunlaugs,  Snorres  und  Oddurs  unter  sich.  —  Sage 
von  Oluf  Harald  oder  dem  Heiligen.  Snorres  Quellen  könnten 
wohl,  ausser  Are  und  Sämund,  auch  eine  Erzählung  in  Fagur- 
skinna, die  jedoch  im  Ganzen  kürzer  ist,  gewesen  sein.  Eine 
andere  im  Flatobuch  ist  weitläuftiger,  aber  aus  verschiedenen 
Gründen  unabhängig  von  Snorre,  und  da  sie  wiederum  nicht 
selten  wörtlich  mit  diesem  stimmt,  so  kann  man  annehmen,  dass 
er  sie  vor  sich  gehabt  und  dann  seine  Arbeit  bloss  im  Aus- 
streichen bestanden  hat.  —  Sage  von  Magnus  dem  Guten.  Ein 
mit  Urtheil  und  Geschick  gemachter  Auszug  aus  anderen  Er- 
zählungen, dem  einiges  zugefügt  ist.    Was  Snorre  ausliess,  waren 


OM  SXORROS  KILDER  OG  TROVÄRDIGHED.  283 

bis  auf  zwei  Begebenheiten  Fabeln.  —  Sage  von  Harald  Haar- 
draade.  Manches  in  dieser  Sage  ist  ungewiss,  Snorre  hat  mit 
Vorsicht  aus  dem  Vorhandenen  ausgewählt.  —  Oluf  Kyrre.  Die 
Darstellungen  in  Fagurskinna,  Morkinskinna  und  Hrockinskinna 
sind  weitläuftiger  und  haben  mehr  Wunderbares.  —  Magnus 
Barfuss,  Sigurd  der  Jerusalemfahrer,  Eistein  und  Oluf  —  Harald 
Gille  und  seine  Söhne  —  Hakon  Herdebred  und  Magnus  Er- 
lingsen.  Diese  zuletzt  genannten  Sagen  gehören  schon  in  das 
Ende  des  1 1.  Jahrhunderts,  wo  die  isländischen  Geschichtschreiber 
selbst  lebten,  so  dass  es  nicht  nöthig  ist,  ihren  Quellen  nach- 
zuforschen. Die  Darstellungen  in  den  Handschriften  stimmen 
oft  wörtlich  mit  Snorre  überein. 

Wie  uns  scheint,  ergibt  sich  aus  diesen  Untersuchungen 
Folgendes.  Snorre  hat  die  vorhandenen  Quellen  der  norwegischen 
Geschichte  mit  Sorgfalt  gesammelt  und  mit  umsichtiger  Be-  iö66 
nutzung  daraus  das  grössere  Werk  zusammengesetzt.  Er  hat 
sich  erkundigt  und  umgesehen,  wo  etwas  für  seinen  Zweck  zu 
finden  war,  auch  mündliche  Überlieferung  wohl  benutzt,  doch 
im  Ganzen  daher  wenig  genommen;  meist  stützt  er  sich  auf 
schriftliche  Denkmäler.  Das  Vorhandene  hat  er  theils  ausge- 
zogen, theils  erweitert,  er  hat  es  aber  auch  wörtlich  beibehalten 
und  bloss  abgeschrieben.  Ihm  bleibt  also  nur  das  Verdienst 
einer  verständigen  Redaction,  man  muss  aber  jener  Zeit  dies 
höher  anschlagen,  wo  es  nämlich  bei  dem  Reiz  der  lebendigen 
Erzählung  schwerer  war,  das  rechte  Mass  zu  treflfen.  Snorre 
hat  seinen  Gegenstand  übersehen  und  beherrscht  und  dem 
Ganzen  eine  gewisse  Eigenthümlichkeit,  der  Darstellung  eine 
gleiche  Farbe  und  Haltung  gegeben.  In  einer  anderen,  späteren 
Zeit  würde  eine  solche  Zusammenstellung  bunter  aussehen;  die 
Bildung  aber  pflegt  in  jenen  frühen  Perioden  ebenmässiger  und 
übereinstimmender  zu  sein,  so  dass  ein  gemeinschaftliches  Werk, 
auch  ohne  Verabredung,  wohl  zu  Stande  kommen  kann.  Wäre 
nicht  jenes  frische  Gefühl  da,  das  sich  in  diesen  Erzählungen 
ausspricht,  so  würde  auch  ein  solches  historisches  Werk  nicht 
möglich  sein;  späterhin  drücken  es  die  Zweifel  und  Bedenk- 
lichkeiten der  Kritik  nieder  oder  es  wird  mit  tadelnswürdigem 
Leichtsinn  unternommen.  [anonym.] 


284  SCHLESISCHE  BEMÜHUNGEN. 


1566      ANZEIGE  DER  SCHLESISCHEN  BEMÜHUNGEN 

für  Sammlung  und  Kunde  einheimischer  Alterthümer. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  III,  157.  Stück,  den  1.  October  1821. 
S.  1566  —  1568. 

XJie  germanischen  und  slavischen  Alterthümer  Deutsch- 
lands und  seiner  einzelnen  Provinzen  sind  im  vorigen  Jahr- 
hundert öfter  im  Einzelnen  und  Ganzen  betrachtet  worden,  doch 
schien  der  Eifer  allmählich  erkaltet.  Jetzt  fängt  man  aufs  Neue 
an,  Nachforschungen  anzustellen,  und  erkennt  auch  in  den 
ältesten  Denkmalen  unseres  Vaterlandes  eine  gewisse  eigenthüm- 
liche  Cultur,  die  nicht  auf  der  untersten  Stufe  des  Bedürfnisses 
steht.  Aus  geöffneten  Gräbern  oder  Sandlagern  gehen  Urnen 
und  Gefässe  hervor,  die  von  einem  nicht  verwahrloseten  Ge- 
1667  schmack  zeigen,  und  eine  Menge  kleiner  Anticaglien  reizen  die 
Forschbegierde  nicht  minder  als  die  Lust  zu  sammeln,  obgleich 
freilich  die  kritische  Untersuchung  auf  keinem  Felde  weniger 
sicheren  Grund  findet  als  hier. 

Unter  den  deutschen  Ländern,  in  denen  der  Eifer  für  ihr 
Alterthum  erwacht  ist  —  am  meisten  an  den  beiden  Enden  in 
Osten  und  Westen  —  dürfen  wir  Schlesien  mit  Auszeichnung 
nennen.  Von  jeher  bemerkte  man  unter  den  Einwohnern  eine 
Lust,  Urnen,  Münzen  und  andere  Denkmale  ihrer  Provinz  zu 
sammeln:  allein  das  in  Privatsammlungen  Zerstreute  wirkte  nie 
kräftig  zusammen  und  wurde  auch  leicht  wieder  versplittert, 
indem  nur  zu  oft  den  Erben  des  Sammlers  die  stille  Beschäfti- 
gung des  Alten  als  lächerliche  Thorheit  erschien.  Daher  es  ein 
erfreuliches  Ereignis  war,  als  das  Ministerium  des  öffentlichen 
Unterrichts  auf  Ansuchen  des  Hrn.  Prof.  und  Archivar  Büsching 
zu  Breslau  Erlaubnis  und  Unterstützung  zu  einer  Alterthums- 
sammlung  für  Schlesien  verwilligte,  —  Überdies  hat  sich  auf 
die  Aufforderung  desselben  Gelehrten  ein  Verein  von  schlesischen 
Alterthumsfreunden  zusammengefunden,  die  durch  einen  jähr- 
lichen Beitrag  den  Abdruck  der  wichtigsten  Urkunden  und 
Chroniken,  so  wie  die  Bekanntmachung  der  bedeutendsten  Alter- 


SCHLESISCHE  BEMÜHUNGEN.  285 

thümer  ermöglichen,  und  deren  Zahl  sich  auf  erfreuliche  Weise 
fortwährend  vermehrt. 

Auf  Kosten  dieser  Gesellschaft  sind  nun  schon  im  Druck 
erschienen  : 

1.  Budorgis,  oder  etwas  über  das  alte  Schlesien  vor  Ein- 
führung der  christl.  Religion  von  Fr.  Kruse,  nebst  zwey  Ab- 
bildungen und  einer  Charte.  Leipzig  1819,  bei  Hartknoch. 
S.  179.  Budorgis  ist  nämlich  der  Ort,  wo  —  wenn  man 
Ptolemäus  Angaben  in  Reiserouten  auflöst,  sich  zwei  Strassen 
durchschneiden  —  also  ein  alter  Hauptort  Schlesiens,  den  man 
im  briegschen  Kreise  beim  Dorfe  Laskowitz,  wo  noch  gepflasterte 
Strassen  und  grosse  Steinhaufen  im  Walde  zu  sehen  sind,  auf- 
gefunden zu  haben  glaubt.  In  dieser  Schrift  führt  der  Verf. 
den  Gedanken  durch,  dass  durch  Combination  der  Ptolemäischen 
Angaben  mit  der  Lage  der  Orte,  wo  besonders  viel  Urnen  auf- 
gegraben worden  sind,  sich  bedeutendes  für  die  alte  Geographie  1568 
Schlesiens  ergeben  müsse:  ein  Gedanke,  der  allerdings  von 
fruchtbarer  Anwendung  sein  muss,  obgleich  sich  freilich  gegen 
Methode  und  Einzelnes  der  Forschung  manches  Gegründete 
einwenden  lässt. 

2.  Der  noch  ungedruckte  Theil  der  Jahrbücher  Pols,  der 
die  Geschichte  Breslaus  im  16.  Jahrhundert  erzählt.  Nächstens 
soll  auch  die  für  Schlesiens  ältere  Geschichte  höchst  wichtigre 
Chronik  von  Eschenloer,  die  auf  der  Elisabethbibliothek  in 
Breslau  liegt,  an  die  Reihe  kommen. 

3.  Die  Alterthümer  der  heydnischen  Zeit  Schlesiens.  Her- 
ausgegeben von  Büsching,  Bd  I.  Breslau  182(b  Heft  1. 
Dies  enthält  3  grosse  Steindrucktafeln  von  guter  und  gewissen- 
hafter Ausführung.  Auf  der  ersten  1 2  verschiedenartige  kleinere 
Gefässe.  Die  Formen  sind  zum  Theil  (z.  B.  von  No.  9)  gefallig 
und  ansprechend.  Die  Verzierungen  bestehen  in  Strichen,  welche 
man  eingrub,  da  die  Masse  noch  weich  war,  und  welche  theils 
die  beliebte  Dreieckverzierung  ä  la  grecque,  theils  Palmschnüre, 

theils  eine  Art  Zweige  darstellen. 

[anonym.] 


286     CORRESPONDENZ  DER  SCHLESISCHEN  GESELLSCHAFT. 


1568  CORRESPONDENZ 

der  Schlesischen  Gesellschaft  für  vaterländische  Cultur.     Bd  1.     Mit  7  Stein- 
drücken und  7  Tab.     Breslau  bey  W.  G.  Korn.     1820. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.   Bd  III,  157.  Stück,  den  1.  October  1821.   S.  1568. 

TT  ir  fiigen  der  obigen  Anzeige  sogleich  die  einer  anderen 
Sammlung  bei,  die  zwar  einen  weit  grösseren  Umfang  hat,  aber 
die  einheimischen  Alterthümer  doch  ebenfalls  als  ein  Haupt- 
augenmerk betrachtet.  Die  seit  16  Jahren  bestehende  Schles. 
Gesellschaft  für  vaterländische  Cultur  hatte  vorzüglich  durch 
von  ihr  bewirkte  Ausstellungen  der  vaterländischen  Kunst-  und 
Handelserzeugnisse  und  durch  die  Eröffnung  eines  umfassenden 
Briefwechsels  durch  die  ganze  Provinz  über  alles,  was  in  den 
Bereich  der  Gesellschaft  gehört,  eine  neue  Epoche  eifriger  und 
lebhafter  Thätigkeit  begonnen.  —  Aus  den  Briefnachrichten  und 
Arbeiten  der  einzelnen  ordentlichen  und  correspondirenden  Mit- 
glieder ist  das  vorliegende  Werk  zusammengesetzt:  und  wie 
mancherlei  Verfasser  dafür  und  daran  gearbeitet  haben,  so 
können  auch  mancherlei  Leser,  was  ihnen  anmuthet,  daraus 
entnehmen.  Für  die  Alterthümer  Schlesiens  sind  die  Aufsätze 
S.  109.   125.   168.  191.  234.  246  schätzbare  Beiträge. 

[anonym.] 


1596  ROLANDS  ABENTHEÜER 

in  hundert  romantischen  Bildern.  Nach  dem  Italiäuischen  des  Grafen  Bojardo. 
Herausgegeben  von  Dr.  Fr.  Wilh.  Val.  Schmidt.  Erster  Theil.  Berlin  und 
Leipzig  bey  G.  C.  Nauck.  1819.  Zweyter  Theil.  1820.  Dritter  Theil.  1820. 
Dieser  hat  noch  den  besonderen  Titel:  Über  die  itahänischen  Helden- Gedichte 
aus  dem  Sagenkreis  Karls  des  Grossen.  Von  Fr.  Wilh.  Val.  Schmidt. 
Ein  Beytrag  zur  Geschichte  der  romantischen  Poesie. 

Göttingische-gelchrte  Anzeigen.   Bd  III,  160.  Stück,  den  6.  October  1821. 
S.  1596—1599. 

JUie  Übersetzung  des  Orlando  innamorato  rührt  nicht  von 
Hrn  Schmidt  her,  der  sie  nur  in  das  Publikum  einführt,  son- 
dern von  einer  Ungenannten,  welche  er  insofern  mit  der  ver- 
storbenen Frau   Naubert   vergleicht,    als   auch   diese   ihr    erstes 


ROLAXDS  ABEXTEUER.  287 

Werk  von  ähnlichem  Inhalt  ohne  ihren  Namen  erscheinen  liess. 
Das  Andenken  an  das  Gedicht  des  Bojardo,  welches  durch 
Ariosts  Fortsetzung  unbilliger  Weise  zurückgedrängt  ist,  ver- 
dient wohl  wieder  aufgefrischt  zu  werden,  und  bei  uns  kann  es 
leicht  mit  mehr  Erfolg  geschehen,  als  bei  den  Italienern  selbst. 
Diese  werden  dem  Ariost,  der  ihren  Forderungen  auf  das  Geist- 
reichste Genüge  thut,  nicht  den  ersten  Platz  entziehen  wollen, 
während  wir  gegen  die  gewöhnliche  Meinung  ohne  Bedenken  1597 
dem  Bojardo  den  Vorzug  geben,  weil  er  mit  Ernst  und  Treue 
sich  an  die  alte  Überlieferung  hält;  die  Ironie  des  Ariosts,  eben  . 
weil  sie  grundlos  ist  und  auf  keinen  Ernst  und  ein  wirkliches 
Leben  zurückdeutet,  kann  ein  natürliches  Gemüth  nicht  auf  die 
Dauer  erfreuen.  Wie  leicht  es  sein  mag,  ein  zierliches,  reizendes, 
mit  den  leuchtendsten  Farben  ausgeschmücktes  Stück  heraus- 
zuheben, diese  Bravourarie  mit  ihren  künstlichen  Läufen  und 
Trillern  in  sechsundvierzig  Variationen  anzuhören,  bleibt  immer 
ein  starker  Entschluss.  Bojardo  hat  Phantasie,  Behendigkeit 
und  Geschick  in  Verflechtung  der  Begebenheiten  und  weiss 
lieblich  auszumalen,  indessen  ein  vollkommenes  Gedicht  würde 
er,  auch  wenn  er  es  vollendet  hätte,  nicht  geliefert  haben:  man 
fühlt  zu  bald,  dass  dem  Ganzen  ein  Mittelpunkt,  ein  durch- 
gehender Faden  fehlt,  und  man  hat  ungefähr,  die  Empfindung, 
als  würde  ein  reiches  Gemälde  in  der  Nacht  mit  der  Blend- 
laterne gezeigt,  die  jedesmal  nur  einen  kleinen  Theil  hell  er- 
leuchtete, das  andere  aber  in  der  Dunkelheit  zurückliess.  Da- 
gegen diese  einzelnen  Bilder  sind  oft  ausgezeichnet  schön,  völlig 
märchenhaft  und  verdienen  grosses  Lob.  Die  vorliegende  Bear- 
beitung in  Prosa  liest  sich  leicht  und  angenehm,  doch  verträgt 
diese  Art  von  Poesie  weniger  als  eine  andere  eine  solche  Auf- 
lösung, da  sie  zu  feingespitzten  Wendungen  sich  hinneigt  und 
zwar  Ausführlichkeit  genug  bis  ins  Geschwätzige,  aber  nicht 
die  epische  Breite  und  Rnndung  hat,  die  in  der  Prosa  nun 
vollends  nicht  kann  entbehrt  werden. 

Der  dritte  Band,  ganz  zu  litterarischen  Untersuchungen  be- 
stimmt, enthält  einen  Beitrag  zur  Geschichte  der  romantischen 
Poesie,  der  für  uns  mehr  A\'erth  hat,  als  manche  philosophisch- 
ästhetische  Erörterung,   und  mit  einer  dem    Verfasser  eigenen. 


288  ROLANDS  ABENTEUER. 

auch  in  seinen  übrigen  Arbeiten  sichtbaren  Treue  und  Fleiss 
ausgeführt  ist.  Der  erste  Abschnitt  als  Eingang  enthält  die 
alte  Sage  von  der  Königin  Bertha  und  König  Pipin  nach  einer 
(leider  lückenhaften)  altfranzösischen  Handschrift  der  könig- 
lichen Bibliothek  zu  Berlin,  dann  eine  Darstellung  aus  dem 
;1598  Turpin  und  den  Reali  di  Franza.  Jedesmal,  wie  auch  im  Fol- 
genden, sind  geschichtliche,  kritische,  ästhetische  und  litterarische 
Untersuchungen  angefügt.  Der  zweite  Abschnitt  begreift  die 
älteren  Gedichte  aus  diesem  Sagenkreis.  Buovo  d'Antona,  von 
einem  ungenannten  Dichter  nach  1313  verfasst.  La  Spagna 
wird  gegen  die  Schmähungen  der  neueren  italienischen  Kritiker 
in  Schutz  genommen  und  ein  altes  volksmässiges  Gedicht  darin 
erkannt.  La  regina  Anchroja,  gleichzeitig  mit  den  beiden  vor- 
hergenannten; so  selten,  dass  sich  der  Verf.  hier  nur  an  Gin- 
guenes  flüchtigen  Auszug  halten  musste.  Leandra,  beinahe  un- 
bekannt und  nur  von  Quadrio  erwähnt,  doch  dieser  Vergessen- 
heit würdig.  Dama  Rovenza  dal  Martello,  völlig  werthlos.  In 
dem  letzten  Abschnitt  wird  von  den  späteren  Gedichten  ge- 
handelt. Morgante  maggiore  von  Pulci,  Orlando  innamorato 
von  Bojardo,  Mambrino  von  Francesco  cieco  (der  Blinde)  da 
Ferrara,  Orlando  Furioso  von  Ariost,  Rinaldo  von  Torquato 
Tasso,  Ricciardetto  *von  Nie.  Fortiguerra.  Die  zugefügten  litte- 
rarischen Notizen  sind  genau  und  von  Werth,  weil  sie  nicht  das 
Bekannte  wiederholen,  sondern  Neues  enthalten.  In  der  kriti- 
schen und  ästhetischen  Beurtheilung  der  Gedichte  äussert  sich 
,ein  richtiges,  natürliches  Gefühl,  auch  wir  sind  der  Meinung, 
dass  man  in  Ariost  nicht  die  höchste  Vollkommenheit,  sondern 
.den  Anfang  des  einbrechenden  Verderbens  erkennen  müsse;  er 
hat,  wie  hier  völlig  wahr  gesagt  wird,  „die  Poesie  zu  einem 
Amüsement  gemacht".  Auf  den  eigentlichen  Kern  gesehen, 
nicht  auf  die  Nebendinge,  kann  er  kein  grosser  Dichter  heissen. 
. —  Auch  der  Anhang  ist  mit  Dank  anzunehmen:  ein  Verzeichnis 
italienischer  Gedichte  in  achtzeiligen  Stanzen  aus  dem  Sagen- 
kreis Karls  des  Grossen,  welche  im  Obigen  nicht  ausführlich 
behandelt  worden.  Der  Zusatz  gibt  den  Inhalt  eines  Calda- 
d*onischen  Schauspiels  (und  zwar  des  letzten  dieses  fruchtbaren 
Pichters),  d^^s  j^em  Fabelkreis  sich  anschliesst,  es  heisst:  hado 


ZUR  GESCHICHTE  DER  ROMANTISCHEN  POESIE  VON  VAL.  SCHMIDT.    289 

y  divisa  de  Leonido  j  de  Marfisa  (Loos  und  Spruch  von  Leo- 
nido  und  Marfisa);  sogar  Verbesserungen  des  gebrauchten  spa- 
nischen Textes  hat  der  sorgsame  Verf.  noch  zugefügt. 

Wir   benutzen    diese  Gelegenheit,    um    eine   verspätete  An- 1599 
zeige   von   einem   ähnlichen  AVerk  des  Verfassers  nachzuliefern: 


BEYTRAGE  zur  GESCHICHTE  DER 
ROMAXTISCHEX  POESIE 

Ton  Dr.  Fried.  Wilh.  Val.  Schmidt.    Berlin  18 IS.    In  der  Maurerschen 
Buchhandlung. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.    Bd  III,  160.Stück,  den  G.October  1821.    S.  1599. 

JL/ie  erste  Abhandluns:  ist  die  wichtigste:  über  den  De- 
cameron  des  Boccac[c]io.  Untersuchungen  über  das  Geschicht- 
liche darin,  über  Quellen  und  Nachahmungen,  besonders  in  Be- 
ziehung auf  Dante,  Hans  Sachs  und  das  altenglische  Theater. 
Der  Verf.  benutzte  dabei  das  Werk  von  Manni  (Istoria  del 
Decamerone)  und  noch  mehr  John  Dunlop  (the  history  of 
fiction),  die  beide  noch  nicht  ins  Deutsche  übersetzt  sind,  doch 
über  die  Hälfte  der  Arbeit  ist  sein  Eigenthum.  Bei  Ginoruene 
fand  er  nichts  Neues.  Hierauf  folgt  das  fünfte  Beispiel  der 
Kaiserin  aus  den  sieben  weisen  Meistern,  dabei  eine  müh- 
same und  dankenswerthe  Zusammenstellung  der  Sagen  vom 
mythischen  Virgil.  Die  Abhandlung  des  Theophrastus  Para- 
celsus  von  Undinen,  Sylphen,  Gnomen  und  Salaman- 
dern scheint  uns  nicht  so  wichtig,  als  Hrn.  Schmidt.  Es  ist 
hier  ohne  Zweifel  der  Glauben  verschiedener  Völker  unterein- 
andergeworfen und  auch  wohl  manches  aus  eigener  Phantasie 
eingemischt.  Den  Schluss  machen  einige  vermischte  Bemer- 
kungen im  Gebiete  der  romantischen  Poesie. 

[anonym.] 


I 


W.  GRIMM.  KL.  SCHRItTEX.     II.  19 


290  NORDISK  ARCHÄOLOGIE  VED  FINN  MAGNUSSEN. 

1659  BIDRAG  TIL  NORDISK  ARCHÄOLOGIE 

MEDDEELTE  I  FORELÄSNIXGER 

ved  Finn  Magnussen.    Kopenhagen  1820.    Trykt  paa  Hofboghandler  Beekeus 

Forlag.     208  S.  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.    Bd  III,   166.  1G7.  Stück,  den  18.  October  1S21.. 

S.  1659— 1664. 

Xn  den  Schriften  der  skandinavischen  Litteratur-Gesellschaft 
hatte  Werlauff  eine  Übersicht  von  der  Geschichte  der  nor- 
dischen Archäologie  bis  auf  Ol.  Worm  geliefert;  reichhaltiger 
lind  weiter  ausgeführt  ist  Nyerups  Übersicht  von  den  vater- 
ländischen Denkmälern  der  Vorzeit  (Oversyn  over  Fädernelandets 
Mindesmärker  fra  Oldtiden.  Kjöbenh.  1806,  zugleich  der  4te 
Band  von  der  historisch  -  statistischen  Schilderung  von  Däne- 
mark und  Norwegen).  Schweden  besitzt  die  geschätzten  Ar- 
beiten Sjöborgs  in  diesem  Fache:  eine  Einleitung  und  eine 
Nomenclatur  der  nordischen  Alterthümer.  Der  Verf  der  vor- 
liegenden Schrift  erhielt  vom  Könige  den  Auftrag,  Vorlesungen 
über  die  altnordische  Mythologie  bei  der  Akademie  der  schönen 
Künste  in  Kopenhagen  zu  halten,  und  es  schien  ihm  f*flicht, 
bei  dieser  Gelegenheit  die  ziemlich  verbreiteten  falschen  Mei- 
nungen  über   die   Cultur,    Kenntnisse   und    Denkungsweise   der 

1660  alten  Nordbewohner  zu  berichtigen ;  hauptsächlich  war  es  ihm 
darum  zu  thun,  den  Vorwurf  abzuwenden,  dass  sie  ohne  alle 
Kunstfertigkeit  und  allen  Kunstgeschmack  gewesen.  Diese 
wirklich  gehaltenen  (doch  hier  ohne  Abtheihmg  in  Einem  fort- 
laufenden) Vorlesungen,  welche  auf  jene  Grundlagen  von  Nyerup, 
Sjöborg  u.  a.,  aber  auch  auf  die  eigenen  Untersuchungen  des 
Verf.  sich  stützen,  werden  nun  hier  dem  grösseren  Publikum 
zu  weiterer  Belebung  der  Alterthumswissenschaft  mitgetheilt. 

Zuerst  allgemeine  Betrachtungen  und  Blicke  auf  die  älteste 
Geschichte,  die  Abkunft,  die  gemeinschaftliche  Sprache  der 
Skandinavier  (1  — 16).  Wie  von  den  kleinen  Königen  sich  die 
Gewalt  auf  Einen  gesammelt,  in  Dänemark  Gorm  der  Alte,  in 
Norwegen  Harald  Haarfager  (19).  Der  Ackerbau  nach  Saxos 
Zeugnis  im  alten  Dänemark  blühend  (22).     Die   ältesten  Woh- 


NORDISK  ARCHÄOLOGIE  VED  FIXN  MAGNUSSEN.  291 

nunoren,  zwar  gewöhnlich  Rauchstuben,  waren  doch  auch  von 
Stein  und  hiessen  dann  hallir,  sie  bestanden  auch  wohl  aus 
mehreren  Etagen  (darüber  wären  deutliche  Zeugnisse  erwünscht). 
Die  Tempel  werden  in  den  alten  Denkmälern  prächtig  be- 
schrieben; sie  waren  gross,  weil  sie  zugleich  zu  Versammlungs- 
örtern  dienten  (25).  Nicht  minder  prächtig  die  Wohnungen 
der  Grossen :  sie  waren  den  Beschreibungen  nach  mit  Gemälden 
und  Bildhauerarbeit  geziert.  Als  Beispiel  das  Haus  des  Olaf 
Höskuldsen,  wegen  seiner  Prachtliebe  Pfauvogel  genannt  (26 — 36). 
Ein  Hof  (gardr)  bestand  aus  lauter  einzelnen,  zu  verschiedenen 
Zwecken  eingerichteten  Gebäuden  (so  wie  wir  es  in  altdeutschen 
Gedichten  beschrieben  finden).  Einige  hatten  Herd  mit  Rauch- 
fang in  der  Mitte,  andere  waren  zum  Schlafen  bestimmt,  selbst 
Badhäuser  befanden  sich  darunter  (37  —  41).  Von  den  soge- 
nannten Riesenkammern,  in  denen  sich  eine  rohe,  aber  gewaltige, 
ungeheure  Kräfte  erfordernde  Bauart  zeigt.  In  ähnlichem  Stil 
die  Steinkreise,  Bautasteine,  Grabstätten  (42 — 66).  Unterirdische 
Gebäude,  deren  Bestimmung  man  nicht  kennt;  dabei,  wie  auch 
anderwärts,,  nimmt  der  Verf.  Rücksicht  auf  Schottland.  Ver-  1661 
glaste  Mauern ,  Glasburgen,  vitrified  forts  (71  —  73).  Rokke- 
steine,  die  sonst  mit  der  druidischen  Lehre  zusammenhängen, 
in  Norwegen  und  Schweden  (74).  Jetzt  die  schwierige  Frage: 
warum  haben  sich  von  jenen  prächtigen  Tempeln  und  Gebäuden 
gar  keine  Überreste  erhalten?  Unter  anderen  wird  auch  die 
Vermuthung  angeführt,  es  könnten  christliche  Kirchen  darauf 
gebaut  worden  sein  (82). 

Der  Verf  kommt  auf  die  Kunstfertigkeiten  der  alten  Skan- 
dinavier. Die  Malerei  sei  ja  auch  in  Deutschland  alt,  wird  be- 
hauptet und  auf  eine  Stelle  über  eine  kölnische  Schule  im 
„Heldenbuch"  (es  ist  die  bekannte  Stelle  im  Parcifal  gemeint) 
hingewiesen.  Sogar  die  Malerei  auf  den  Schildern  bei  Tacitus 
wird  mit  aufgeführt  (89.  90).  Beschreibungen  von  Gemälden 
aus  den  alten  schriftlichen  Denkmälern  (93 — 96);  darnach  wären 
sogar  die  Wohnungen  mit  historischen  Malereien  geziert  ge- 
wesen (97).  Bildhauerei  (99).  Zeugnisse  darüber.  Beschrei- 
bungen von  fünf  Bildsäulen  Thors  nach  den  Sagen  (11 3 — 129). 
Von  weiblichen  Bildsäulen  weiss  man  wenig  (130).     Resultate: 

19* 


292  NORDISK  ARCHÄOLOGIE  VED  FINN  MAGNUSSEN. 

die  Bildsäulen  waren  nicht  colossal,  doch  auch  von  mensch- 
licher Grösse,  aus  Holz  gehauen,  innen  hohl,  zusammengesetzt 
oder  durch  mechanische  Kunst  so  eingerichtet,  dass  ihre  Glieder 
sich  bewegen  Hessen,  der  Kopf  hin-  und  herzudrehen.  In  die 
Statue  eines  Freyr,  die  sich  in  Schweden  befand,  konnte  sich 
ein  Mensch  stecken  und  ihre  Glieder  bewegen.  Die  von  mensch- 
licher Grösse  waren,  hatten  Gesicht  und  Hände  bemalt  und 
wirkliche  Kleider  an.  Andere  scheinen  mit  Silber  oder  Gold 
überzogen  gewesen  zu  sein  (132 — 134).  Thors  Bildsäulen  nach 
den  Beschreibungen  späterer  Schriftsteller,  Adams  von  Bremen 
u.  a.  Götterbilder  benachbarter  Völker,  der  Russen  und  Wenden 
(139 — 141).  Von  anderen  Kunsterzeugnissen,  den  Goldhörnern 
(143).  SchifFbaukunst.  Kriegsschiflfe  von  ansehnlicher  Grösse; 
die  alten  Skandinavier  waren  ausgezeichnete  SchiflPahrer  (145 
1662 — 148).  Nidstange.  Banner.  Freyers  Eber.  Spuren  von  Por- 
traitzeichnung.  Kivike  Monument  von  Munter  als  Opferung 
gefangener  Feinde  erklärt  (156  — 160).  Eingegrabene  Figuren 
auf  Felsenwänden,  Runensteinen  (161).  Stickereien  mit  der  be- 
kannten Stelle  aus  der  Gudrünarquida  (163).  Waffen;  eiserne 
sind  in  der  Erde  verrostet,  von  Kupfer  und  Metall  werden  sie 
gefunden,  auch  vom  feinsten  Stahl  (174).  Aber  woher  kam  all 
dieser  Reichthum  in  den  Norden?  Es  wird  geantwortet:  durch 
Handel,  Fischfang,  Kriegsbeute  und  fremden  Sold  (176 — 186). 
Zuletzt  ein  Auszug  aus  dem  alteddischen  Rigsmäl,  worin  die 
Entstehung  der  drei  Stände  im  Norden  beschrieben  wird. 

Wie  schon  bemerkt  ist,  der  Verf.  hat  vorzugsweise  die  Ab- 
sicht gehabt  darzuthun,  dass  auch  die  Kunst  im  Norden  be- 
kannt gewesen.  Es  ist  recht  und  löblich,  das  Einheimische 
gegen  Herabwürdigungen  in  Schutz  zu  nehmen;  dagegen  fruchtet 
es  auch  nicht,  wenn  man  über  die  Linie  hinausgeht,  zu  viel 
thut  und,  was  sich  nur  irgend  erhaschen  lässt,  so  aufstellt,  dass 
es  mehr  scheint,  als  es  wirklich  ist.  Den  grössten  Gewinn  von 
dem  Studium  des  Alterthums  wird  man  haben,  wenn  man  es 
unbefangen  nach  seiner  Natur  und  seinem  Wesen  zu  erläutern 
und  aufzustellen  sucht  ohne  irgend  eine  Nebenabsicht.  Es  wird 
genug  übrig  bleiben,  welches  unsere  Achtung,  selbst  unser  Er- 
staunen erregt.    Reo.  gehört  gewiss  nicht  zu  denen,  die  in  eitler 


b 


XORDISK  ARCHÄOLOGIE  VED  FINX  MAGNUSSEN.  293 

Vornehmthuerei  den  alten  Norden  gering  sehätzen,  aber  eine 
eigentliche  Kunst,  versteht  man  darunter  eine  freie  und  schöne 
Entwickelung  und  ein  leichtes  und  lebendiges  Bewegen  in  den 
natürlichen  Gesetzen  derselben,  muss  er  doch  dem  Norden  ab- 
sprechen; eine  Fähigkeit  oder  ein  Streben,  einen  Trieb  zur 
Kunst  will  er  gern  zugeben.  Die  edle  Natur  des  Volks  wird 
sich  auch  hierin  nicht  verleugnet  haben,  stumpfsinnnig  hat  es 
sich  niemals  gezeigt.  Die  alten  Steinbauten  sind  merkwürdig 
und  charakteristisch,  sie  deuten  auf  jenen  gewaltigen  Geist, 
welchen  die  Denkmäler  der  Poesie  so  tief  und  herrlich  aus- 1663 
sprechen ;  was  aber  von  Tempeln  und  anderen  Gebäuden  in  den 
Sagen  beschrieben  und  gerühmt  wird,  wir  wollen  es  nicht  ver- 
werfen noch  weniger  unbeachtet  lassen,  doch  zweifeln  wir,  dass 
es  so  wörtlich  für  wahr  dürfe  gehalten  werden.  Wir  denken 
dabei  nicht  an  ein  absichtliches  Lügen,  aber  es  gehört  ein  Auge 
dazu,  welches  Vergleich ungen  hat  anstellen  können,  um  über 
die  Pracht  eines  Gebäudes  ein  wirkliches  Urtheil  zu  fallen,  sonst 
hilft  die  Phantasie  das  Unbedeutendste  als  das  Grösste  aus- 
malen. Wer  ist  nicht  schon  auf  diese  Art  getäuscht  worden 
oder  hat  sich  selbst  getäuscht?  Es  mttsste  noch  etwas  übrig 
geblieben  sein,  um  uns  durch  eigenen  Anblick  zu  überzeugen, 
und  da  ja  unbezweifelt  alte  Bauten  sich  erhalten  haben,  so  sieht 
man.  dass  die  von  dem  Verf.  angegebenen  Gründe,  unter  welchen 
auch  die  eigene  Beschaffenheit  des  Bodens  in  Dänemark  vor- 
kommt, nicht  hinreichend  sind,  um  diesen  gänzlichen  Mangel 
zu  erklären.  Nicht  günstiger  urtheilen  wir  über  die  Zeugnisse 
von  Werken  der  Bildhauerkunst  und  Malerei,  schon  die  Be- 
weglichkeit der  Holzbilder  verräth  den  geringen  künstlerischen 
Werth ;  es  mögen  rohe  Arbeiten  gewesen  sein ,  welche  gleich- 
wohl einen  gewissen  Geist  kund  gegeben  oder  angeborene  Fertig- 
keit offenbart  haben,  aber  schwerlich  war  von  einer  wirklich 
gebildeten,  überlieferten  Kunst  eine  Spur  darin.  Was  sich  von 
Zeichnungen  auf  Felsenwänden,  Runensteinen  usw.  erhalten, 
zeigt  in  den  besten  Fällen  von  einer  gewissen  Fertigkeit,  aber 
durchaus  keine  Kenntnis  der  ersten  Kegeln.  Sind  die  Gold- 
'  hörner,  wie  am  Ende  doch  das  Wahrscheinlichste  ist,  nordische 
Arbeit,   so  können  sie  den  besten  Beweis  davon  abgeben;    das 


294       AF  SAXOS  OG  SNORROS  KILDER  VED  MÜLLER. 

kostbare  Material  forderte  gewiss  die  Anwendung  der  grössten 
Geschicklichkeit,  und  doch  wie  roh,  im  höchsten  Grade  elend 
ist  die  Zeichnung  aller  darauf  vorkommenden  Figuren  ohne 
Ausnahme.  Dagegen  wo  eine  wirkliche  gebildete  Kunst  vor- 
handen ist,  da  deutet  auch  die  gemeinste  Pfuscherei  noch  darauf 
hin  und  zeigt,  dass  man  von  etwas  Besserem  weiss. 
1664  Um    über    das  vorliegende  Buch   bilhg   zu   urtheilen,    muss 

man  nicht  vergessen,  dass  es  bloss  anregende  Vorlesungen  sein 
sollen;  an  eine  irgend  ausführliche  oder  gründliche  Behandlung 
des  Gegenstandes  ist  daher  nicht  zu  denken.  Der  sonst  durch 
fleissige  und  gelehrte  Arbeiten  bekannte  Verfasser  will  dies  auch 
wohl  selbst  sagen,  indem  er  S.  74  manches  als  zu  weitläuftig 
abweist  und  S.  86  verspricht,  eine  ausführliche  Übersicht  über 

die  nordische  Archäologie  zu  liefern. 

[anonym.] 

401  CRITISK  UNDERSÖGELSE 

af  Danmarks  og  Norges   Sagnhistorie  eller  om  Trovaerdigheden  af  Saxos  og 

Snorros  Kilder.    Ved  Peter  Erasmus  Müller.    Saerskilt  aftrykt  af  det  kongelige 

danske  Videnskabers  Selskabs  Skrifter.     Kopenhagen  1823.     In  Commission  in 

der  Gyldendalischen  Buchhandlung.     314  Seiten  in  Quart. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.    Bd  I,  41.  42.  Stück,  den  11.  März  1824. 

S.  401—410. 

JL^ie  zweite  von  den  beiden  vorliegenden  Abhandlungen, 
welche  Snorres  Quellen  und  Glaubwürdigkeit  untersucht,  haben 
wir  bereits  im  Jahre  1821  Stück  157  [=  oben  S.  279 — 283]  an- 
gezeigt und  nach  Verdienst  gerühmt.  Sie  ist  auf  Beschluss  der 
königlichen  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Kopenhagen  neu 
abgedruckt,  weil  sie  in  jenem  Format  und  mit  einer  lateinischen 
Übersetzung  versehen,  die  hier  natürlich  fehlt,  bestimmt  war,  in 
die  grosse  Ausgabe  der  Heimskringla  eingerückt  zu  werden, 
und  dieses  Werk  seiner  BeschaflPenheit  nach  nicht  in  jedermanns 
Hände  gelangen  kann. 

Wir  haben   also   hier   nur  über  die  erste,    aber  später  ge- 

402  schriebene  Abhandlung  Bericht  zu  erstatten.  Gleichfalls  eine 
Frucht  von  des  Verf.  Studium  über  die  altnordische  Sagenge- 
schichte,  erörtert   sie  Glaubwürdigkeit  und  Quellen   der  ersten 


AF  SÄXOS  OG  SNORROS  KILDER  VED  MÜLLER.  295 

neun  Bücher  des  Saxo  Grammaticus,  welche  nämlich  die 
dänische  Fabelzeit,  wie  Snorre  die  norwegische,  begreifen. 
So  ähnlich  die  Arbeit  mit  der  vorigen  ihrer  Idee  nach  ist,  so 
musste  doch  die  Ausführung  sehr  verschieden  werden,  da  Snorres 
Quellen,  denen  er  oft  wörtlich  gefolgt  ist,  sich  so  ziemlich  nach- 
weisen lassen  und  eigentlich  nur  die  vierzehn  ersten  Bücher 
sein  Eigenthum  sind;  dagegen  über  Saxos  Grundlage  konnten 
nur  mehr  oder  minder  gewisse  Vermuthungen  stattfinden,  ausser- 
dem rührt  Anordnung  und  Einkleidung  ganz  von  ihm  her,  hat 
nichts  mit  anderen  Gemeinsames  und  zeigt  vielmehr  eine  scharf 
bestimmte  Eigenthümlichkeit. 

Im  Ganzen  betrachtet  ist  die  historia  danica  des  Saxo 
sowohl  in  Beziehung  auf  die  Zeit,  in  welcher  sie  geschrieben 
wurde,  als  auf  ihren  Inhalt  und  ihre  Sprache  eine  ausgezeich- 
nete Erscheinung.  Diejenigen,  welche  sich  dem  ersten  und 
natürlichen  Eindruck  überliessen,  wurden  ebenso  von  dem  freien, 
ungewöhnlich  aussrebildeten  Geist  als  von  dem  reichen  Inhalt 
xmd  der  lebendigen  Anschauung  überrascht,  die  sich  in  einer 
fremden,  damals  noch  nicht  so  leicht  zugänglichen  Sprache  mit 
solcher  Eindringlichkeit  und  zierlichen  Kunst  ausdrückte,  und 
legten  dem  Werk  einen  grossen  Werth  bei,  ohne  sich  mit 
kritischen  Sorgen  über  den  Inhalt  zu  belästigen.  Dieses  Ge- 
fühl veranlasste  schon  ziemlich  früh  die  dänische  Übersetzung 
von  Wedel  (1575),  und  vor  kurzem  (1818)  hat  Grundtvig  das 
A\  erk  neu  und,  wie  uns  scheint,  nach  jenem  Gesichtspunkt  sehr 
glücklich  ins  Dänische  übertragen,  dabei  mit  dem  ihm  eigenen 
Eifer  in  einer  sonst  auch  lesenswerthen  Vorrede  seinen  Lands- 
leulen  empfohlen.  Den  schwierigen  Punkt  der  Glaubwürdigkeit 
übergeht  er  zwar  nicht  ganz,  berührt  ihn  aber  nur  und  wendet 
ihn,  wie  es  im  Sinne  jener  Ansicht  wohl  zulässig  ist,  mit  der403 
Bemerkung  ab,  dass  der  Grund  von  Saxos  Erzählungen  ohne 
Zweifel  Wahrheit  enthalte,  da  aber  die  Überlieferung  schon  un- 
vollständig und  verwirrt  zu  ihm  gekommen  sei,  er  nichts  mehr 
habe  thun  können,  als  sie  nach  seiner  besten  Einsicht  benutzen; 
was  nicht  geschichtliche  Wahrheit  enthalte,  erfreue  sich  doch 
einer  geistigen,  weil  es  aus  dem  Leben  selbst  geschöpft  sei.  Bei 
dieser  oder  einer  ähnlichen  Erklärung  kann  sich  aber  die  Kritik, 


296  AF  SAXOS  OG  SNORROS  KILDER  VED  MÜLLER. 

die  auch  ihr  Recht  hat,  nicht  beruhigen;  die  Zeit  des  vollen 
Glaubens  an  die  Sagengeschichte  geht  bei  den  Völkern  wie  bei 
einzelnen  Menschen  vorüber,  und  es  ist  ein  Glück,  wenn  der 
Gegensatz  nicht  allzuscharf  schneidend  auftritt,  alles  Gute  und 
Achtungswürdige  der  früheren  Periode  zernichtend.  Jeder,  der 
die  Quellen  der  altnordischen  Geschichte  selbst  nachsah,  musste 
bei  der  Betrachtung  des  Saxo  zu  Bedenklichkeiten  und  Zweifeln 
noth wendig  angeregt  werden:  manches  konnte  mit  der  be- 
glaubigten Geschichte  sichtbar  nicht  bestehen,  anderes  war  an 
sich  nicht  wohl  möglich  oder  stand  mit  weiteren  Behauptungen 
im  Widerspruch.  Von  diesem  Standpunkt  aus  gab  es  aber 
sehr  verschiedenartige  Lrtheile.  Suhm  in  seiner  dänischen  Ge- 
schichte betrat  die  erste  Stufe  der  Kritik,  die  gleichwohl  auf 
den  verderblichsten  Weg  führt  (man  darf  dies  sagen  und  kann 
doch  seine  Gelehrsamkeit  und  seine  grossen  Verdienste  hoch- 
achten), indem  er  die  Wahrheit  der  alten  Sagen,  die  er  in  der 
That  fühlte,  zu  entdecken,  gleichsam  als  Gold  aus  dem  Sande 
herauszuwaschen  glaubte,  wenn  er  den  Erzählungen  ihren 
Schmuck,  den  Begebenheiten  selbst  ihr  Wunderbares  abnähme. 
Er  übersetzte  also  nur  die  Poesie  des  Saxo  in  Prosa,  Gegen 
diese  in  der  That  viel  zu  gläubige  Ansicht  hatte  die  über- 
kritische Schule,  deren  Häupter  wir  nicht  zu  nennen  brauchen,^ 
404  gewonnen  Spiel ;  was  ist  leichter  zu  zeigen,  als  dass  keine  wahr- 
hafte Geschichte  entsteht,  wenn  man  z.  B.  den  Odin  als  einen 
gewöhnlichen  Menschen,  etwa  nur  als  einen  Betrüger  handeln 
lässt?  Von  ihr  ward  im  schärfsten  Gegensatz  Saxo  so  gut 
wie  jede  andere  Sagengeschichte  in  Bausch  und  Bogen  ver- 
worfen; von  ihm  sollte  nicht  die  Rede  sein,  und  man  beschuldigte 
ihn  noch  dazu  absichtlicher  und  muth williger  Verfälschung,  ja 
man  bedauerte  die  Mühe,  die  man  auf  die  Betrachtung  leerer 
Träumereien  und  gehaltloser  Märchen  wendete.  Frei  von  dieser 
Starrheit,  mit  einem  besseren  und  belebten  Geist  ist  die  neueste 
deutsche  Abhandlung  von  D ah  1  mann  (Einleitung  in  die  Kritik 
der  Geschichte  von  Altdänemark,  in  den  Forschungen  auf  dem 
Gebiete  der  Geschichte,  1.  Band  1822)  geschrieben.  Er  hat 
eigene  Untersuchungen  über  den  Saxo  angestellt*)  und  ist  weit 

*)  [Dieses  Wort  ist  im  Handexemplar  zugesetzt.] 


AF  SAXOS  OG  SNORROS  KILDER   VED  MÜLLER.  297 

davon  entfernt,  dessen  geistige  Kraft  und  poetischen  Werth  zu 
verkennen,  gleichwohl  ist  auch  er  zum  Verneinen  geneigt  und 
ocelangt  zu  einem  Resultat,  welches  den  acht  ersten  Büchern 
des  Saxo  allen  geschichtlichen  Werth  raubt.  Er  nimmt  an,. 
Saxo  habe  echte,  schriftliche  Quellen  nicht  nur  nicht  gesucht, 
sondern  sogar  von  sich  gestossen,  seine  Quellen  seien  alte  Aben- 
teuer und  Gedichte  gewesen,  die  er  von  Dichtern  und  vom 
Volk  geborgt  und  nach  Sage  und  Volksmeinung  und,  wo  diese 
schwiegen,  nach  Gutdünken  und  Willkür  zusammengesetzt- habe. 
Quellen  dieser  Art  hält  er  aber  in  Beziehung  auf  die  Geschichte 
für  völlig  werthlos.  Recht  charakteristisch  ist  der  Ausspruch, 
dass  der  Untergang  jener  von  Carl  dem  Grossen  gesammelten 
deutschen  Gedichte,  wenn  auch  ein  grosser  Verlust  für  die 
Poesie,  als  ein  Gewinn  für  die  Geschichte  zu  betrachten  sei. 

Hr.  P.  E.  Müller  gehört  zu  keiner  von  beiden  Parteien;  mit 
anderen  Worten:  er  erkennt  in  jeder  Richtung  das  Wahre  neben 
dem  Falschen.  Er  gibt  zu,  dass  die  Quellen,  aus  welchen  Saxo 
schöpfte,  durch  Zusätze  und  Veränderungen  von  Jahrhunderten  405 
bereits  getrübt  waren  und  mehr  oder  weniger  ihre  Wahrheit 
von  der  geschichtlichen  sich  entfernt  hatte;  ihm  ist  daher  das 
Dasein  mancher  dänischen  Könige,  die  Saxo  anführt,  zweifel- 
haft oder  völlig  unbegründet,  so  wie  er  Ordnung  und  Folge 
derselben  nicht  anerkennt.  Er  nimmt  ferner  an,  Saxo  habe  die 
Sagen  nach  seiner  nothwendig  beschränkten  Ansicht  einge- 
theilt  und  zusammengestellt  und  diese  Ansicht  könne  leicht 
falsch  und  unstatthaft  gewesen  sein.  Dagegen  behauptet  er  auf 
der  anderen  Seite,  dass  Saxos  Quellen  nicht  durchaus  eines  ge- 
schichtlichen Grundes  entbehrten  und,  weil  nicht  alles,  was  er 
aus  der  heidnischen  Zeit  erzähle,  wahr  sein  könne,  man  deshalb 
nicht*)  einer  jeden  seiner  Angaben  den  Glauben  absprechen 
müsse.  Er  leugnet  eine  absichtliche  und  willkürliche  Ver- 
fälschung und  erkennt  sogar  Spuren  von  Kritik,  zwar  einer  an 
sich  schwachen  und  haltungslosen,  die  aber  Zeugnis  von  einem 
redlichen  Willen  gibt.  Er  sieht  in  Saxos  AVerk  eine  Anzahl 
echter  altdänischer  Sagen  erhalten,  deren  Zeitalter  gewisslich 
nicht   kann   angegeben   werden,   die  aber  aus  inneren  Gründen 

*)  [Zusatz  im  Handexemplar.] 


298  AF  SAXOS  OG  SNORROS  KILDER  VED  MÜLLER. 

sich  in  verschiedene,  immer  erkennbare  Epochen  der  heidnischen 
Heldenzeit  ordnen  und  zusammenstellen  lassen.  Diese  Quellen 
hält  er  zum  Theil  für  glaubwürdig  und  spricht  ihnen  damit 
einen  geschichtlichen  Werth  und  einen  wahrhaften  Inhalt  zu. 

Eine  solche  Ansicht  kann  ihre  rechte  Bedeutung  erst  durch 
die  Ausführung  gewinnen,  und  diese  erhält  sie  in  vorliegender 
Abhandlung  nach  einem  einfachen  und  natürlichen  Plane. 
Schritt  für  Schritt  untersucht  der  Verf.  die  einzelnen  Erzäh- 
lungen in  den  neun  ersten  Büchern  des  Saxo,  jede  für  sich 
nach  ihrer  inneren  BeschaflFenheit  und  nach  den  äusseren  Zeug- 
nissen, und  bringt  die  Arbeit  ebenmässig  zu  Ende  mit  der  ihm 
eigenthümlichen  Klarheit  und  dem  schon  früher  gewonnenen 
406  Geschick  in  der  Handhabung  dieser  immer  vorsichtig  zu  be- 
rührenden Gegenstände.  Ein  Auszug  scheint  uns  etwas  Un- 
fruchtbares, wir  laden  zum  Lesen,  vielmehr  zum  Studium  der 
Schrift  selbst  ein,  denn  es  versteht  sich,  dass  über  manchen 
einzelnen  Punkt  weitere  Untersuchungen  zulässig,  sogar  noth- 
wendig  sind  und  abweichende  Resultate  sich  ergeben  können. 
Vielleicht  ist  Eins  und  das  Andere  mythisch  bedeutender  und 
älter,  als  es  hier  dargestellt  wird,  dagegen  auch  manches  My- 
thische in  Beziehung  auf  Geschichte  von  geringerem  Werth. 
Wir  wollen  einiges  berühren,  um  Beispiele  von  dem  Verfahren 
des  Verfassers  und  dem  Vortheil  zu  geben,  den  solche  Unter- 
suchungen der  Wissenschaft  gewähren.  Gleich  im  ersten  Buche 
wird  nachgewiesen,  dass  ein  Wechselgesang  zwischen  Hadding 
und  seinem  Weibe  derselbe  ist,  wovon  Snorres  Edda  den  An- 
fang enthält  und  welchen  sie  den  Göttern  Niord  und  Skade  zu- 
schreibt; hier  hatte  also  Saxo  ein  sehr  altes  Lied  aufgenommen. 
In  der  Sage  von  Frode  zeigt  sich  gerade  das  Fabelhafte  älter 
und  mehr  gegründet,  als  das  historische  Element,  da  das  eddische 
Mühlenlied  sich  schon  auf  Frode  und  die  goldene,  saturnische 
Zeit,  die  unter  ihm  soll  geblüht  haben,  bezieht.  Dass  die 
deutschen  Dichter  des  Mittelalters  den  milden  König  Fruote 
von  Dänemark,  und  gewiss  nicht  aus  dem  Saxo,  gekannt  haben, 
scheint  dem  Verf.  entgangen  zu  sein.  Die  Stellen,  die  sich 
darauf  beziehen,  sind  gesammelt  in  der  Zeitschrift  Askania  von 
Wilhelm  Müller  1820  S.  156.  157.  Bei  Helge  dem  Hundings- 
tödter  gibt   das  Zeugnis   der   beiden  Eddalieder,   deren   ganzen 


AF  SAXOS  OG  SNORROS  KILDER  VED  MÜLLER.        299 

Inhalt  doch  Saxo  nicht  benutzte,  eine  ahe  Sage  unzweifelhaft 
kund.  Zu  der  Erzählung  von  Hrolf,  Helges  Sohn,  lässt  sich 
eine  isländische  Sage  vergleichen;  worin  beide  übereinstimmen, 
das  gehört  zu  dem  uralten  Inhalt,  sonst  aber  ist  die  isländische 
Sage  theils  älter,  theils  jünger  als  Saxo.  Sehr  merkwürdig  ist 
der  Beweis ,  dass  das  alte  Biarkamäl  hier  in  einer  Paraphrase  407 
sich  erhalten  hat.  Von  diesem  berühmten,  durch  den  ganzen 
Norden  verbreiteten  Gesang  lässt  sich  das  Zeitalter  mit  einiger 
Sicherheit  ausmitteln.  schon  im  11.  Jahrhundert  hiess  es  ein 
altes  Lied  und  rührt  leicht  aus  dem  7.,  spätestens  aus  dem 
9.  Jahrhundert.  Zugleich  werden  die  Dunkelheiten  der  latei- 
nischen Bearbeitung  glücklich  erläutert  durch  die  Bemerkung, 
dass  Saxo  zwei  verschiedene  dialogisirte  Gesänge  unrichtig  ver- 
mischt hat.  In  Snorres  Heimskrinorla  sind  einige  Bruchstücke 
des  alten  Liedes  erhalten,  die  sich  nun  mit  Saxos  Worten  ver- 
gleichen lassen.  Wir  wollen  hier  nur  eine  Strophe  anführen 
(Olaf  des  Heil.  Sage  S.  348): 

vekat  ek  ydor  at  vini  Nicht  weck'  ich  euch  zum  Wein, 

ne  at  vifs  runom,  nicht  zum  Gespräch  mit  Jungfrauen; 

helldr  vek  ek  ydor  at  hördom         ich  wecke  euch  zum  harten 
Hiildar  leiki.  Spiele  der  Hilldur  (Kriegsgöttin). 

Bei  Saxo: 

non  ego  virgineos  jubeo  cognoscere  ludos, 
nee  teneras  tractare  genas  aut  dulcia  nuptis 
oscula  conferre,  et  tenues  adstringere  mammas. 
Non  hquidum  captare  merum,  tenerumque  fricare 
femen  et  in  niveos  oculum  jactare  lacertos; 
evoco  vos  ad  amara  magis  certamina  Martis. 

Welch  ein  Contrast  zwischen  der  schlichten  alten  Sprache  und 
Saxos  zierlichen  Gedanken  und  kunstreichen  Worten!  Nichts 
kann  uns  lebhafter  eine  Anschauung  von  seiner  Behandlung 
der  Sagen  und  Lieder  gewähren.  Hothers  Streit  mit  Balder 
enthält  eine  der  ältesten  Mythen  von  Baldurs  Tod  durch  Hödur, 
welche  die  Edda  in  ihrer  Bedeutung  und  in  richtigem  Zu- 
sammenhang erzählt,  die  von  Saxo  aber  ohne  Sinn  und  un- 
geschickt als  eine  historische  Begebenheit  dargestellt  ist.  Da- 
gegen was  von  Amleth  erzählt  wird,  scheint  nicht  alt  und  eine 
Dichtimg  des  Isländers  Arnold,  der  sie  dem  Saxo  geliefert  haben  408 


300  AF  SAXOS  OG  SNORROS  KILDER  VED  MÜLLER. 

mag.  Bei  Dan  Mikillati  wird  gezeigt,  dass  Saxo  unter  drei 
austheilt,  was  Snorre  einem  Einzigen  zulegt;  Suhm  hat  mehr 
von  ihm,  aber  das  beruht  auf  späteren,  unbegründeten  Zusätzen 
und  kann  als  völlig  unhistorisch  verworfen  werden.  Die  Ge- 
schichte von  Erik  Ragners  Sohn  ist  eine  Reihe  von  Unwahr- 
scheinlichkeiten  und  ungereimten  Dingen  und  sieht  ganz  aus, 
als  sei  sie  zu  blosser  Unterhaltung  gedichtet  worden;  hingegen 
gehört  die  Sage  von  Hogne  und  Hethin  abermals  ganz  erweislich 
zu  den  ältesten  Denkmälern:  die  alten  Skalden  spielen  darauf 
an,  und  Snorres  Edda  erzählt  sie,  nur  einfacher  und  darum 
besser.  Bei  der  Geschichte  von  Stärkodder,  einer  der  schönsten 
voll  Kraft  und  Leben,  wird  die  Vermuthung  geäussert,  dass 
deutsche  (freilich  ganz  spurlos  verschwundene)  Gedichte  könnten 
benutzt  worden  sein;  es  ist  nur  die  Frage,  ob  im  11.  Jahr- 
hundert schon  deutsche  Gesänge  in  Dänemark  bekannt  waren? 
Späterhin  gewiss,  wie  durch  Zeugnisse  kann  bewiesen  werden. 
In  dem  7.  Buche  wird  eine  neue  Quelle  Saxos  entdeckt,  indem 
er  sehr  wahrscheinlich  vier  epische  Volkslieder  oder  Balladen, 
dergleichen  die  Kjämpeviser  enthalten,  und  gerade  bei  den  an- 
ziehendsten Geschichten  zu  Grunde  gelegt  hat,  unter  diesen 
auch  das  über  den  ganzen  Norden  verbreitete  Lied  von  Signe 
und  Habor.  Da  diese  Lieder  aus  alter  Überlieferung  stammten, 
gleichwohl  keine  Zeitbestimmungen  enthielten,  so  glaubte  Saxo 
klug  zu  thun  oder  nach  seiner  Weise  kritisch  zu  verfahren, 
wenn  er  sie  an  das  Ende  der  mythischen  Zeit  setzte.  Im 
8.  Buch  wird  das  Alter  des  Gedichts  von  der  Brawallaschlacht 
vertheidigt,  auf  welches  sich  Saxos  Beschreibung  derselben 
gründet.  Ein  schlagender  Beweis  liegt  in  dem  Umstand,  dass 
die  Namenliste  noch  den  alten  Reimbuchstaben  gemäss  geordnet 
ist.  Ausserdem  stimmt  Saxo  mit  einem  von  ihm  unabhängigen 
409  isländischen  Denkmal,  Sogubrot  genannt,  und  das  Gedicht, 
welches  er  benutzte,  rührte  aus  der  heidnischen  Zeit,  wiewohl 
es  mit  der  Brawallaschlacht  selbst  nicht  gleichzeitig  ist,  die  in 
die  erste  Hälfte  des  8.  Jahrhunderts  fallt;  Saxo,  durch  falsche 
Voraussetzungen  verleitet,  schob  sie  in  das  6.  Jahrhundert  zu- 
rück. Die  Geschichte  von  Jarmerich  und  Bicke,  glaubt  der 
Verf.,  sei  nicht  aus  isländischen  Denkmälern,  sondern  aus  Volks- 


AF  SAXOS  OG  SNORROS  KILDER  VED  MÜLLER.  301 

sagen  genommen,  die  in  dem  12.  Jahrhundert  aus  einer  Mischung 
von  deutschen  Gedichten  und  alten  dänischen  Erinnerungen 
sich  gebildet  hätten;  das  Ganze  aber  sei  dem  Norden  fremd 
gewesen.  Eine  Angabe,  die  genauere  Prüfung  und  weitere 
Untersuchung  erfordert,  weil  sie  nicht  ohne  Einfiuss  auf  die  An- 
sicht von  der  Originalität  der  eddischen  Lieder,  die  den  deut- 
schen Fabelkreis  und  eben  auch  diese  Sage  von  Jormunrekr 
berühren,  bleiben  kann.  Eine  Sage  von  König  Snio,  die  andere 
Chroniken  doch  erzählen,  hat  Saxo  nicht,  war  sie  ihm  bekannt, 
so  hat  er  sie  aus  einer  Art  von  kritischem  Gefühl  ausgeschlossen. 
Was  die  Auswanderung  der  Longobarden  betrifiit,  so  hält  der 
Verf.  Saxos  Beschreibung  davon,  obgleich  Paulus  Diaconus, 
selbst  ein  Longobarde,  etwas  Ahnliches  berührt,  insoweit  für 
pnbegründet,  als  sie  nicht  aus  echten  nordischen  Quellen  ge- 
schöpft sei ;  dagegen  scheint  es  ihm  auch  nicht  ausgemacht,  was 
zumal  deutsche  Schriftsteller  behaupten,  dass  man  den  Auszug 
der  Longobarden  aus  Scandinavien,  namentlich  aus  dem  nörd- 
lichen Jütland  bestimmt  leugnen  müsse.  Da  in  dieser  Angabe 
an  sich  selbst  nichts  Ungereimtes  liege,  so  dürfe  sie  nicht  ver- 
worfen werden.  Saxo ,  glaubt  der  Verf ,  habe  die  Nachricht 
aus  deutschen,  eben  durch  Paulus  Diaconus  veranlassten  Sagen 
erhalten,  die  im  11.  oder  12.  Jahrhundert  nach  Dänemark  ein- 
gedrungen wären.  Thorkills  Reisen  nennt  der  Verf.  ein  wahres 
Gegenstück  zu  den  Reisen  des  Arabers  Sindbad ;  indem  er  darin 
theils  eine  moralische,  theils  eine  religiöse  Absicht  erblickt,  be-  4io 
trachtet  er  sie  als  eine  Dichtung,  aus  welcher  auch  nicht  ein 
Zug  für  die  Geschichte  zu  gewinnen  sei.  Bei  Ragnar  Lodbrok 
wird  gezeigt,  dass  Saxo  aus  vier  verschiedenen  Quellen  seine 
Erzählung  zusammengesetzt,  die  er  vergeblich  zu  einem  Ganzen 
hat  verbinden  wollen.  —  Wir  haben  nur  ausgehoben,  was  am 
deutlichsten  das  V^ erfahren  erkennen  lässt,  welches  der  Verf 
angewendet  hat.  Sowohl  die  bejahende  als  verneinende  Partei 
wird  manches  für  sich  finden,  ebensoviel  gegen  sich;  möchten 
beide  durch  diese  Schrift  zur  Einsicht  geführt  werden,  dass 
man  Saxos  Werk  nicht  beurtheilen  kann,  wenn  man  sich  nicht 
genau  die  Lage  vorstellt,  in  welcher  er  schrieb.  Fast  jede  der 
Sagen,  woraus  es  zusammengewebt  ist,  hat  ihr  eigenthümliches 


302  SYMBOL AE  AD  GEOGRAPHIAM  VON  WERLAUFF. 

Wesen  und  verlangt  nach  besonderen  Gesetzen  beurtheilt  zu 
werden;  unter  einen  Hut,  wie  man  sagt,  lassen  sie  sich  nicht 
bringen.  So  viel  ist  gewiss,  man  wird  den  Saxo,  wenn  man 
die  altdänische  Vorzeit  zu  untersuchen  gedenkt,  nicht  bei  Seite 
legen  dürfen;  wer  ihn  aber  gebrauchen  will,  muss  ausser  der 
Unbefangenheit  und  dem  Scharfsinn  auch  die  reiche  Kenntnis 
von  den  übrigen  Denkmälern  des  nordischen  Alterthums  be- 
sitzen, die  Hrn.  P.  E.  Müller  eigen  ist. 

[anonym.] 


öisSYMBOLAE    AD    GEOGRAPHIAM   MEDH    AEVI    EX 
MONUMENTIS  ISLANDICIS  SCR.  E.  CHR.  WERLAUFF. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.   Bd  I,  52.  Stück,  den  29.  März  1824.   S.  513 — 517. 

Wir  holen  noch  die  Anzeige  eines  akademischen  Pro- 
gramms des  Hrn.  Prof,  Erich  Christian  WerlauflP  nach,  welches 
bereits  im  Jahr  1821  erschienen  ist  und  symbolas  ad  geo- 
graphiam  medii  aevi  ex  monumentis  islandicis  61  S.  in  4  enthält. 
Die  historischen  und  mythisch-poetischen  Werke  des  alten 
Nordens  sind  vorzugsweise,  wie  sie  es  verdienen,  bearbeitet  und 
durch  den  Druck  bekannt  gemacht  worden;  jetzt  ist  es  wohl 
an  der  Zeit,  die  übrigen  aufgesammelten  isländischen  Hand- 
schriften, welche  anderen  Wissenschaften  angehören,  genauer 
zu  untersuchen,  mögen  sie  auch  von  geringerem  Gehalt  sein. 
Einiges  ist  dort  für  die  lateinischen  Classiker  und  die  Geschichte 
des  Studiums  der  griechischen  und  römischen  Litteratur  zu 
holen,  reichere  Ausbeute  für  die  Theologie  zu  erwarten  und 
manches  für  die  Geschichte  der  Poesie  aus  den  isländischen  Über- 
setzungen romantischer  Dichtungen  zu  gewinnen,  wovon  uns  Pf. 
Müllerin  dem  S.Bande  der  Sagenbibliothek  S.  480— 484  wenigstens 
614  ein  Register  geliefert  hat.  Ein  geographischer  Tractat  veran- 
lasste Hrn.  Prof.  Werlauff'  zu  einer  Untersuchung  über  die 
Kenntnisse  des  Nordens  in  diesem  Fache.  Die  Geographie 
konnte  bei  ihrer  Verbindung  mit  der  Geschichte  nicht  vernach- 
lässigt  werden;   wirklich   finden  sich   auch   in   den  historischen 


SYMBOLAE  AD   GEOGRAPHIAM  VON  WERLAUFF.  303- 

Werken,  wo  sich  Gelegenheit  ergab,  und  um  die  Begebenheiten 
selbst  besser  zu  erläutern,  mehr  oder  minder  ausführliche  geo- 
graphische Beschreibungen,  z.  B.  von  Schweden,  Norwegen  und 
Russland,  worüber  der  Verf.  genauere  Angaben  liefert.  Es  lässt 
sich  nachweisen,  dass  die  Isländer  verschiedene  geographische 
Werke  des  Mittelalters  benutzten;  sie  hatten  ausserdem  be- 
sondere Gelegenheit,  entfernte  Völker  und  Länder  kennen  zu 
lernen.  Als  Dichter  besuchten  sie  die  nordischen  und  eng- 
lischen Königshöfe,  als  Kaufleute  Britannien  und  Frankreich,  als, 
Seefahrer  drangen  sie  nach  den  Polargegenden,  als  Krieger 
giengen  sie  nach  Russland  und  Griechenland,  der  Wissenschaften 
wegen  nach  Erfurt,  Cöln  und  Paris,  als  Geistliche  nach  Rom 
und  als  Wallfahrer  noch  weiter  bis  in  das  heilige  Land.  Es 
waren  auch  besondere  Reisebeschreibungen  von  namhaften  Ver- 
fassern vorhanden,  worüber  man  hier  nähere  Nachricht  findet. 
Leider  sind  sie  verloren  gegangen,  doch  haben  sich  einige 
Tractate  mit  einer  Beschreibung  der  drei  Welttheile  erhalten, 
worin  das  Geographische,  wie  sich  aus  mehreren  Gründen 
schliessen  läs^t,  der  Ertrag  wirklich  unternommener  Reisen  sein 
mag.  Proben  daraus  sind  schon  in  den  Scr.  Rer.  Dan.  II,  25 
und  in  der  Rymbegla  S.  340  bekannt  gemacht.  Reichhaltiger 
sowohl  für  die  fabelhafte  als  wahre  Geographie  sind  aber  ver- 
schiedene in  der  Arnamagnäanischen  Sammlung  aufbewahrte, 
bis  jetzt  noch  ungedruckte  Pergamentcodices,  welche  der  Verf. 
hier  äusserlich  und  nach  ihrem  Inhalt  genau  beschreibt ;  einer 
darunter,  von  reinlicher  Hand,  gehört  in  das  13.  Jahrhundert. 
Das  ganze  Werk  besteht  aus  drei  Theilen:  der  erste  enthält  öiä 
eine  Geographie  der  damals  bekannten  Welt;  der  zweite,  welcher 
den  meisten  Werth  hat,  eine  Reisebeschreibung  von  Dänemark 
aus  durch  Deutschland,  die  Schweiz,  Italien  nach  Rom,  von 
da  nach  ünteritalien  und  Griechenland  bis  nach  Palästina. 
Die  Stationen  der  Reisenden  werden  aufgezählt,  die  Städte,  wo 
sich  ein  bischöflicher  Sitz  oder  Reliquien  eines  Heiligen  be- 
finden, Klöster  und  sonst  irgend  eine  Merkwürdigkeit;  dabei 
ist  die  Entfernunor  der  Orte  von  einander  angreoreben.  Als  Ver- 
fasser,  das  heisst  als  derjenige,  nach  dessen  mündlichem  Be- 
richt dieses  Itinerarium  aufgeschrieben  ist,  wird  Abt  Nicolaua 


304        SYMBOLAE  AD  GEOGRAPHIAM  VON  WERLAUFF. 

genannt.  Es  wird  wahrscheinlich  gemacht,  dass  er  der  in  den 
isländischen  Annalen  erwähnte  Abt  Nico  laus,  ein  Sohn  Sä- 
munds,  ist,  der  im  Jahr  1154  von  einer  Reise  zurückkam  und 
hald  darauf  1159  starb.  In  jedem  Fall  aber  gehört  diese  Schrift 
in  die  Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts.  Der  dritte  Theil  ist 
^m  wenigsten  wichtig  und  enthält  allerlei  historische  und  geo- 
graphische Nachrichten,  z.  B.  eine  Beschreibung  der  Kirchen 
zu  Rom,  Aufzählung  der  Städte  in  Italien,  Spanien,  Frankreich 
und  dergleichen. 

Den  zweiten  Theil  hat  Hr.  Prof.  Werlauff  vollständig  nach 
der  besten  Handschrift  abdrucken  lassen,  aus  dem  ersten  nur, 
was  Europa  betrifft,  und  aus  dem  übrigen,  was  zur  Ergänzung 
des  Ausgewählten  dienen  konnte.  Für  diejenigen,  welche  den 
isländischen  Text  nicht  verstehen,  ist  eine  lateinische  Über- 
setzung danebengestellt;  unter  dem  Text  sind  abweichende 
Lesearten  oder  Zusätze  der  anderen  Handschriften  angegeben, 
und  alles  ist  mit  der  Sorgfalt  behandelt,  an  die  wir  bei  der 
Herausgabe  altnordischer  Denkmäler  gewöhnt  sind.  Wir  hätten 
also  hier  eine  Übersicht  von  dem,  was  die  Isländer  von  der 
Geographie  im  Mittelalter  wussten,  und  da  diese  an  und  für  sich 
:5l6noch  dunkel  genug  ist,  wir  auch  aus  dieser  Abhandlung  nähere 
Einsicht  von  der  Art,  wie  sie  ihre  Reisen  einrichteten,  und  von 
ihrem  Verkehr  mit  entfernten  Völkern  erlangen,  so  hat  uns 
Hr.  Prof.  Werlauff  gewiss    ein  annehmbares  Geschenk  gemacht. 

Nach  Rom  gab  es  damals  aus  dem  Norden  zwei  Wege, 
einen  westlichen  und  einen  östlichen ;  ebenso  werden  von  Stade 
bis  nach  Mainz  zwei  Strassen  bezeichnet.  Die  eine  gieng  über 
Verden,  Minden  und  Paderborn.  Bei  Minden  wird  die  An- 
merkung gemacht:  „nü  skiptaz  tüngur",  hier  verändern  oder 
scheiden  sich  die  Sprachen.  Es  könnte  nur  von  der  hoch- 
deutschen und  niederdeutschen  Sprache  die  Rede  sein,  aber  die 
Augabe  befremdet,  da  sie  völlig  unbegründet  ist.  Merkenswerth 
ist  folgende  Stelle:  „Thar  imilli  (zwischen  Paderborn  und 
Mainz,  deren  Entfernung  auf  vier  Tagereisen  angegeben  wird) 
er  thorp  er  Horus  heitir,  annat  heitir  Kiliandr,  ok  thar  er 
Gnitaheidr  (?  Gnitaheidi),  er  Sigurdur  va  Fafni."  Das  Dorf 
Horus  und  Kiliandur  ist  völlig  unbekannt,  auch  klingen  die 


SYMBOLAE   AD   GEOGRAPHIAM   VON  WERLAUFF.  305 

Namen   seltsam;    wenn    Suhm    in    seiner    kritischen    Geschichte 
"darunter  Herborn  und  Dillenburg  vermuthet,  so  hat  das  nichts 
für  sich,    als  die  sehr  entfernte  Ähnlichkeit  im  Klang  und  den 
Umstand,    dass    beide  Orte   nicht    weit    von    einander    zwischen 
Paderborn    und  Mainz   liegen.      Die    Gnita beide,    wo    Sigurd 
den  Fafner  tödtete,    ist   aus    den  Liedern   der  Edda  hinlänglich 
bekannt,  aber  nicht  wo  sie  lag  und  was  der  Name  an  sich  be- 
deutet, denn  Nussheide,  wie  die  grosse  Kopenhagener  Ausgabe 
der   Edda   (II,   871)  erklärt,    ist   gewiss    falsch.      An    sich   mag 
jene  Stelle,    der   alten  Fabel   nach,    richtiger   sein,    als    bei    der 
Stadt  Luna  in  Italien  (S.  20)  die  Bemerkung:   „I  Lunu  söndum 
kalla   sumir   menn    ormgard    er   Gunarr   var  i  settr."       In    dem 
Sand  bei  Luna,  sagen  einige,    sei  die  Schlangenhöhle  gewesen, 
'  in  welche  Gunarr  gesetzt  wurde.      Gleichwohl   ist    weder   diese  öi7 
Beziehung  auf  den  Untergang  des  Helden,  wie  er  in  der  Edda 
erzählt  wird,    noch  der  Umstand  zu  übersehen,   dass    schon  im 
12.  Jahrhundert  Isländer    die   alte  Sage   ins  Ausland  und  selbst 
in   die    weite  Ferne    versetzten.   —    Der  andere  Weg  von  Stade 
nach  Mainz  hält  sich  östlich.    Valfoburg  ist  dunkel,  und  Hana- 
bruinburg  kann  seiner  Lage  nach  sehr  wohl  Hanover  sein:  aber 
wie  ist  das  Wort  selbst  zu  verstehen?    Der  Verf.  macht  aus  der 
Erklärung   von   Hanover   (in    den   Urkunden   Hanovere)    durch 
hohes  Ufer  alta  ripa  den  isländischen  Namen  deutlich,  als  eine 
blosse  Übersetzung:    Hanabruinburg,  nimmt  er  an,  bestehe  aus 
här,    altus,    und  brün,    crepido,    was  immer   eine    scharfsinnige 
Vermuthung   bleibt.      Soviel    als    Beispiel,    was   aus    der  Schrift 
zu   lernen   ist,    und    dass   auch    nach    den   zahlreichen   und    s:e- 
lehrten  Erläuterungen  des  Hrn.  Prof  Werlauff,  welche  S.  32—34 
«innehmen,  noch  Dunkeles  zurückbleibt.    Als  Anhang  folgt  eine 
alte  Ichnographie    von  Jerusalem    nach   dem  Original  sauber  in 
Kupfer  gestochen ;  dabei  eine  Beschreibung  einiger  Merkwürdig- 
keiten   des    heiligen    Landes,    dergleichen    Meusel   bibl.  bist.  I, 
P.  II,   S.  174  JÖf.  anführt.      Sie    steht   in   zweien  der  oben  angre- 
führten   Handschriften.      In    den   Anmerkungen    kommen    auch 

noch  Auszüge  aus  der  Kyrialaxsage  vor. 

[anonym. 


\V.  GICIMM,   KL.  .SCIIUIFTKX.      II.  20 


306  WESTENDORP,  HUNEBEDDEN. 


689  VERHANDELING 

ter  beantwoording  der  Vrage:  welke  Volkeren  hebben  de  zoogenoemde  Hunc- 
bedden  gesticht?  in  welke  tyden  kan  men  onderstellen,  dat  zy  deze  oorden 
hebben  bewoond?  door  Nicolaus  Westendorp,  Predikant  by  de  Hervormde 
Gemeente  te  Losdorp,  en  Lid  der  Commissie  van  onderwys  in  de  Provincie 
Groningen,  an  wien,  door  de  algemeene  jaarlyksche  Vergadering  van  de 
Hollandsche  Maatschapy  der  Wetenschappen  te  Haarlem,  op  den  20.  Mei  1815, 
de  gouden  eerprys  benevens  eene  premie  van  vyf  en  twintig  gouden  dukaten 
is  toegewezen.  Tweede  druk.  Groningen.  Bei  J.  Oomkens  1822.  XVI  und 
326  S.  Text.    49  S.  Anm.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.  Bdll,  70.71.Stück,  den  I.Mai  1824.  S.689-71L 

-Ciine  holländische  Preisschrift  über  die  Hünenbetten, 
von  einer  gelehrten  Gesellschaft  in  Haarlem  gekrönt  und  von 
dem  Publikum  so  günstig  aufgenommen,  dass  hier  schon  eine 
zweite  Auflage  mit  mannigfachen  Verbesserungen  dargereicht 
■wird,   verdient   gewiss   Aufmerksamkeit;   um   so  mehr,   da  eine 

690  nahverwandte  Frage  bei  uns  zur  Beantwortung  öffentlich  ist 
gestellt  worden.  Uralte  Denkmäler  eines  unbekannten,  vielleicht 
untergegangenen  Volkes,  welche  die  Vorzeit  schon  mit  Verehrung 
betrachtete  und  in  denen  das  Volk  noch  heute  Wundersames, 
wie  etwa  den  versteinten  Hochzeitzug  einer  in  den  Tod  be- 
trübten Braut  oder  nächtliche  Wohnungen  der  Geister  erblickt r 
sie  regen  jeden  sinnenden  Menschen  an.  Beides,  ihre  Rohheit 
und  ihre  Grossartigkeit,  überraschen  und  fesseln  unser  Auge, 
sie  scheinen  halb  wie  Naturwerke  und  aus  einer  Zeit  herüber- 
gekommen, von  der  wir  uns  schwer  ein  Bild  zusammensetzen 
und  gleichwohl  durch  eine  solche  Beschauung  eine  Ahnung  ge- 
winnen. Diese  gelehrte,  mit  sichtbarer  Liebe  zur  Sache  unter- 
nommene Nachforschung  leitet  vielleicht  einen  zwar  feinen  und 
dünnen,  aber  doch  hellen  Strahl  in  die  Finsternis  unserer 
ältesten  Geschichte,  der  uns,  wenn  auch  nicht  deutlich  zu  sehen, 
doch  Manches  zu  unterscheiden  gestattet.  Eine  ..olche  Arbeit 
trägt  schon  in  sich  Belohnung  und  bleibt  höchst  achtungswerth, 
wenn  auch  der  Gewinn  nicht  mit  Händen  zu  greifen  wäre. 

Der  Verf.  hat  die  Hünenbetten  von  ähnlichen  Denkmälern 
getrennt,   und    diese    scharfe   Sonderung,    während  sie  für   die 


WESTENDORP,  HUNEBEDDEN.  307 

Untersuchung  selbst  vortheilhaft  ist,  kann  bei  dem  Abschluss 
und  für  die  Resultate  nachtheilige  Folgen  haben.  Wissen  wir 
nicht,  von  welchem  Volk  jene  anderen  Denkmäler  herrühren, 
ob  von  demselben,  einem  nahverwandten  oder  ganz  fremden, 
welches  später  daselbst  seinen  Sitz  hatte,  kurz,  kennen  wir  nicht 
das  gegenseitige  Verhalten,  so  wird  unsere  Einsicht  nicht  recht 
wahr  und  lebendig  werden  können.  Dies  soll  kein  Vorwurf 
gegen  den  Verf.  sein,  der  seine  Aufgabe  sehr  wohl  bearbeitet 
hat;  wir  wollen  nur  damit  sagen,  dass  eine  jede  Art  dieser 
Alterthümer  erst  muss  gründlich  untersucht  sein,  ehe  es  vor- 
theilhaft sein  kann,  für  die  Geschichte  allgemeine  Schlüsse  zu  691 
ziehen  oder  Hypothesen  zu  begründen. 

Also  sondert  Hr.  Westendorp  ab:  die  aufgeworfenen  Grab- 
hügel, die  bei  uns,  d.  h.  im  nördlichen  Deutschland  so  häufig 
sind  und  gleichfalls  Hünenbetten  genannt  werden;  die  Grab- 
kammern, die  eine  Art  Übergang  machen;  die  Dolmens  in 
Frankreich;  die  Altäre  und  dergleichen  Denkmäler,  die  der 
skandinavische  Norden  in  der  mannigfaltigsten  Abwechselung 
zeigt.  Ihre  Betrachtung  und  Untersuchung  schiebt  er  ganz  zur 
Seite  und  hält  sich  bloss  an  die  eigentlichen  Hünenbetten.  So 
aber  nennt  er  jene  über  der  Erde  zwar  freistehenden,  aber  doch 
niedrigen  Felsenblöcke,  die  in  ein  längliches,  am  Westende 
etwas  breiteres  Viereck  von  verschiedener  Grösse  geordnet  und 
von  gleichen  Felsenstücken  oben  bedeckt  sind,  neben  [?]  freie 
Zwischenräume  haben,  aussen  von  einem  jetzt  nur  selten  noch 
sichtbaren  Steinkreis  umgeben  sind.  Der  einzige  Unterschied 
besteht  in  der  grösseren  und  geringeren  Anzahl  der  Felsenstücke 
und  der  daraus  folgenden  verschiedenen  Grösse  des  Ganzen, 
das  sich  von  18—60,  80  Fuss  Länge  und  5 — 10,  11  Fuss  Breite 
findet;  ebenso  ist  auch  die  Grösse  und  Schwere  der  Felsen- 
blöcke selbst  verschieden;  sonst  sind  sich  die  Hünenbetten 
überall  vollkommen  gleich.  Ihre  Richtung  ist  gewöhnlich  von 
Osten  nach  Westen  (bis  auf  einige  feinere  Unterscheidungen, 
die  in  den  Anmerkungen  S.  33  angegeben  werden).  Innen 
findet  man,  wenn  man  aufgräbt,  gewisse  Dinge,  von  welchen 
hernach  die  Rede  sein  wird  und  die  überall  dieselben  sind. 

Mit  Recht  wird  zuerst  das  Bereich  der  Hünenbetten  aus- 

20* 


308  WESTENDORP,  HUNEBEDDEN. 

gemittelt.  Zieht  man  von  dem  schwedischen  Lappland  aus- 
gehend eine  Linie  über  den  bothnischen  Meerbusen,  die  Ostsee, 
die   Mündung   der   Oder   durch  Böhmen,   Baiern,   Savoyen    bis 

692  zum  Ausfluss  der  Rhone  in  Frankreich ,  so  liegen  die  Länder 
alle  westlich,  in  welchen  sie  vorkommen.  Also  im  skandina- 
vischen Norden,  den  brittischen  Inseln,  Norddeutschland,  Holland 
und  Frankreich;  in  Gallicien  sind  sie  vielleicht  noch  vorhanden, 
in  Portugal  waren  sie  ehedem,  sind  aber  jetzt  zerstört.  Hierzu 
einige  nähere  Bestimmungen:  geht  man  in  Frankreich  von  dem 
Ursprung  der  Garonne  zu  dem  der  Loire  über  Nevers  und  Sens 
bis  an  die  Seine,  so  hat  man  zur  linken  Hand  die  Gegenden, 
welche  allein  im  Besitz  dieser  Alterthümer  sind;  von  Deutsch- 
land aber  gehört  nur  hierher,  was  nördlich  über  der  Linie  liegt, 
die  an  der  Oder  herab  über  Berlin,  Dessau,  Cassel  und  Wesel 
läuft.  Südlicher  hinunter  findet  sich  kein  Hünenbett  mehr,  und 
die  Cap.  6  angeführten  Spuren  eines  solchen  am  Rhein  können 
getrost  ganz  gelöscht  werden.  Das  Denkmal,  dessen  Johannes 
Müller  in  einem  Brief  gedenkt,  hat  nichts  mit  einem  Hünenbett 
gemein,  sondern  ist  der  bekannte,  jetzt  verwüstete  Königsstuhl 
zu  Rense  oder  Rees  in  der  Nähe  von  Coblenz,  worüber  man 
schon  in  Büschings  Geographie  Auskunft  finden  kann.  —  Der 
Verf.  hat  sich  noch  weiter  umgesehen,  aber  sonst  nirgends, 
auch  nicht  in  anderen  Welttheilen,  kommen  solche  Hünenbetten 
vor;  am  meisten  Verwandtschaft  zeigen  noch  jene  durch  Pallas 
bekannt  gewordenen  Denkmäler  am  Jeniseistrom  in  Sibirien, 
zugleich  aber  auch  wesentliche  Verschiedenheiten. 

Die  Beschreibung  der  Hünenbetten  in  den  vorhin  genannten 
Gegenden  füllt  10  Capitel  (S.  13 — 81),  sie  ist  sehr  schätzbar, 
indem  die  Nachrichten  darüber  mit  Fleiss  und  grosser  Belesen- 
heit zusammengetragen  sind.  Daselbst  ist  auch  der  Bericht 
einer  Reise  eingerückt,  die  Hr.  Westendorp  unternommen  hatte, 
um  die  Alterthümer  in  seiner  Nähe  zu  untersuchen.  Dort,  in 
Drenthe  nämlich  und  den  Grenzen  von  Ober-Yssel,  befinden 
sich  Hünenbetten  in  vorzüglicher  Menge  und  noch  am  meisten 

693  erhalten,  ja  eins  zu  Tinarlo,  wovon  die  erste  Kupfertafel  eine 
willkommene  Abbildung  liefert,  steht  noch  bis  auf  den  äusseren 


WESTENDORP,  HÜNEBEDDEN.  309 

Steinkreis,  der  verschwunden  ist,  ganz  in  seinem  ursprünglichen, 
wahrscheinlich  Jahrtausende  alten  Zustand. 

Die  in  den  aufgegrabenen  Hünenbetten  vorkommenden 
Dinge  betrachten  wir  wohl  am  besten  an  den  Exemplaren,  die 
in  Drenthe  ausgegraben  sind,  eben  weil  sie  hier  am  genausten 
und  vollständigsten  aufgezählt  werden.  Zuerst  kleine  Urnen, 
worin  die  Asche  des  Verstorbenen  aufbewahrt  wurde;  wir  wün- 
schen, der  Verf.  hätte  ausdrücklich  gesagt,  dass  er  oder  andere 
glaubwürdige  Zeugen  die  Asche  und  verbrannten  Knochen  noch 
selbst  darin  gesehen;  in  den  deutschen  Grabhügeln  wenigstens 
hat  man  Urnen  gefunden,  die  mit  nichts  als  reinem  Sand  an- 
gefüllt waren.  Sie  sind  von  gelbbrauner  oder  aschgrauer  Farbe, 
theils  mit,  theils  ohne  Henkel,  sowohl  mit  engem  als  weitem 
Hals.  Einige  haben  gerade  und  gekrümmte,  rings  um  die 
Urne  laufende  Striche,  bei  anderen  fehlen  sie.  Sie  sind  allzeit 
nicht  nur  kleiner  (denn  die  grösste  ist  nicht  über  einen  halben 
Fuss),  als  die,  welche  man  in  den  Grabhügeln  findet,  sondern 
auch  feiner  und  besser  gearbeitet.  Fälschlich  hat  man  geglaubt, 
sie  seien  in  dem  Wind  oder  der  Sonne  getrocknet,  sie  sind  ge- 
brannt; ferner  sagt  Hr.  Westendorp ,  sie  seien  in  einer  Form 
gemacht  (?)  und  nicht  aus  freier  Hand,  dagegen  fehlt  ihnen 
Glasur.  Sodann  runde,  glatte  Steine,  in  der  Mitte  durch- 
löchert und  mit  einigen  Kreuzen  bezeichnet.  Sie  sind  aus  ge- 
branntem Thon,  der  manchmal  schwarz  ist,  glimmernd  und  zer- 
brechlich: Waffen  können  es  deshalb  unmöglich  gewesen  sein, 
und  der  Verf.  scheint  der  Meinung  den  Vorzug  zu  geben, 
welche  darin  ein  Bild  der  Sonnenscheibe  erblickt.  Femer  runde 
Steine  in  der  Grösse  eines  Hühnereis,  doch  nicht  oval, 
darauf  zwei  oder  drei  Kreuze  in  einem  Cirkel,  sehr  sauber  ein- 
gegraben. Ohne  Zweifel  haben  sie  eine  religiöse  Bedeutung  694 
gehabt,  der  Verf.  sieht  Talismane  darin  und  äussert  die  Ver- 
muthung,  dass  jenes  Kreuz  im  Ring  ein  celtiberischer  Buch- 
stabe sei,  mit  dem  griechischen  6  verwandt  und  eine  Hiero- 
glyphe der  Gottheit,  welches  wir  dahingestellt  sein  lassen. 
Endlich  Äxte,  Streithämmer  und  Keile  von  Stein.  Die 
beiden  ersten  sind  beständig  aus  einem  schwärzlichen  Stein  ge- 


310  WESTENDORP,  HÜNEBEDDEN. 

arbeitet,  der  in  Drenthe  nicht  vorkommt,  jedoch  in  Savoyen 
und  den  Schweizer  Bergen  gefunden  wird.  Einige  Streitäxte 
sind  breiter  und  ohne  Öffnung.  Die  Keile  von  verschiedener 
Grösse  und  Steinart  sind  manchmal  glatt  und  geschliffen.  Ein- 
mal ist  ein  Wetzstein  ausgegraben  worden.  In  deutschen  Hünen- 
betten hat  sich,  wie  aus  dem  Bericht  in  den  Anmerkungen 
S.  23  erhellt,  auch  Bernstein  von  verschiedener  Grösse  und 
Gestalt,  in  der  Mitte  gewöhnlich  durchlöchert,  gefunden.  Ausser- 
dem zeigten  sie  noch  eine  Eigenthümlichkeit:  ausserhalb  des 
Denkmals,  rundherum  (wahrscheinlich  doch  immer  noch  inner- 
halb des  ehemaligen  Steinkreises),  grub  man  noch  eine  grosse 
Menge  zerbrochene  Urnen  aus  der  Erde.  Wir  vermissen  von 
allen  diesen  Dingen  Abbildungen;  sind  sie  auch  in  anderen 
Werken  vorhanden,  so  würde  es  doch  sehr  bequem  und  nütz- 
lich sein,  jeden  dieser  Gegenstände,  wenn  auch  nur  in  einem 
Umriss  und  in  seiner  häufigsten  Gestalt,  beim  Gebrauch  dieses 
Werkes  ansehen  zu  können.  Noch  ist  anzumerken,  dass  der 
Stein  an  den  Felsenblöcken  selbst  in  Drenthe,  wie  fast  überall, 
grober  Granit  ist  und  in  der  Nähe  angetroffen  wird. 

Die  Hünenbetten  sind  nach  Hrn.  Westendorps  Meinung 
nichts  Anderes  als  Grabstätten.  Dies  zeigt  der  unregel- 
mässige Bau  der  Steinblöcke,  die  zu  Altären  nicht  können  ge- 
dient haben,  und  die  innen  ausgegrabenen  Aschenkrüge  und 
Steingeräthe.  Sie  sind  aber  verwüstet;  zu  der  Zeit,  wo  das 
695  Christenthum  eingeführt  werden  sollte,  wurden  sie  absichtlich, 
wo  nicht  völlig  zerstört,  welches  zu  viel  Mühe  erfordert  hätte, 
doch  beschädigt,  um  einer  fortdauernden  und  abergläubischen 
Verehrung  derselben  entgegenzuwirken.  Staubsand  scheint  das 
einzige  zu  Tinarloo  geschützt  zu  haben.  Man  schreibt  dem 
Bonifacius  diese  Verwüstung  in  Holland  zu,  die,  wenn  sie  auch 
damals  einen  löblichen  Zweck  hatte,  jetzt  nur  einen  rohen  und 
barbarischen  Sinn  zeigen  würde,  weshalb  auch  die  Regierung 
in  den  Niederlanden  diese  Alterthümer  ausdrücklich  in  Schutz 
genommen  und  jede  Beschädigung  derselben  streng  verboten  hat. 

In  welchem  Zustand  lebte  das  Volk,  das  diese  Geräthe  in 
seine  Gräber  legte,  welche  Folgerungen  lassen  sich  aus  der  Be- 
trachtung   derselben    ziehen?     Diese    Fragen    werden    zunächst 


WESTENDORP,  HUNEBEDDEN.  311 

(S.  99  ff.)  erörtert.  Das  Brennen  des  irdenen  Geschirres  war 
zu  der  Zeit,  wo  die  Hünenbetten  errichtet  wurden,  schon  be- 
kannt, eine  Kunst,  von  der  viele  Stämme  in  Amerika  noch  jetzt 
nichts  wissen,  und  diese  Urnen  scheinen,  die  Glasur  ausge- 
nommen, nicht  schlechter,  als  unser  heutiges  Küchengeschirr. 
Die  Striche  und  Linien  darauf  sind  sauber  gezogen.  Metall 
war  noch  nicht  bekannt,  kein  Stückchen  Kupfer  (so  häufig  in 
den  deutschen  Grabhügeln),  noch  weniger  Eisen  ist  je  zum 
Vorschein  gekommen.  Die  Waffen  sind  von  Stein  und  geben 
Anlass  zu  der  auffallenden  Bemerkung,  dass  sie  vollkommen 
den  Steinwaffen  der  neuen  AVeit  gleichen,  also  überall  dieselben 
sind.  Es  ist  kein  Grund  vorhanden,  zu  glauben,  dass  diese 
Steingeräthe  seien  nicht  wirklich  gebraucht  worden.  Das  Volk, 
dem  sie  angehören,  schliesst  Hr.  Westendorp,  verstand  demnach 
einen  irdenen  Topf  zu  brennen,  einen  Stein  zu  einer  Waffe 
zurecht  zu  schleifen  und  allenfalls  mit  bewunderungswürdiser 
und  anhaltender  Arbeit  zu  durchbohren,  eine  Hütte  zu  bauen 
und  schwere  Felsenstflcke  mit  Menschenkraft  fortzuschaffen; 
dabei  möge  es  Jagd  und  Fischfang  getrieben  haben,  Landbau  696 
aber  sei  ihm  fremd  gewesen.  Im  Ganzen  weist  er  ihm  keine 
höhere  Stufe  von  Cultur  an,  als  jene  der  Hottentotten  und 
herumziehenden  amerikanischen  Stämme.  Etwas  mildert  er 
diesen  Ausspruch  und  lässt  das  Volk  wieder  einige  Grade  hin- 
aufsteigen, indem  er  ihm  eine  grössere  gesellschaftliche  Ver- 
bindung und  eine  religiöse  Vereinigung  zuschreibt.  Ohne  Priester 
und  höher  stehende  Geschlechter  lässt  sich  die  Errichtung 
solcher  Grabstätten,  Felsendenkmäler  nicht  wohl  denken,  daher 
dürfen  wir  uns  keine  eigentlichen  Nomaden  vorstellen.  Tausch- 
handel muss  schon  stattgefunden  haben,  eben  der  Steinwaffen 
wegen,  die  aus  entfernten  Gegenden  kamen.  Die  Verbrennung 
der  Todten  (denn  unverbrannte  Knochen  und  Gerippe  fanden 
sich  unter  den  Hünenbetten  nicht)  ist  an  sich  ein  religiöser, 
geheimsinniger  Gebrauch,  der  ohne  die  Leitung  von  Priestern 
nicht  ausgeübt  werden  konnte.  Hr.  Westendorp  glaubt,  man 
habe  wohl  die  Idee  einer  Reinigung  damit  verbunden,  einer 
Scheidung  des  Nichtigen  und  des  Unvergänglichen,  um  dadurch 
zur  Vereinigung  mit  einem  höheren  Wesen  zu  gelangen.     Eben 


312  WESTENDORP,  HUNEBEDDEN. 

deshalb  dürfe  man  nicht  den  Glauben  an  Seelenwanderung  ver- 
muthen,  wohl  aber  an  Unsterblichkeit  der  Seele,  indem  man 
Sorge  für  einen  glücklichen  Zustand  nach  dem  Tod  getragen, 
habe.  Nicht  bloss  arm  und  bedürftig  muss  aber  das  Volk  ge- 
wesen sein,  auch  gewohnt  in  Krieg  und  Streit  zu  leben,  da&- 
beweisen  die  WaflPen,  die  dem  Todten  noch  mit  ins  Grab  ge- 
geben wurden  und  ein  Zeugnis  von  seiner  wichtigsten  Be- 
schäftigung im  Leben  sind. 

Diese  Resultate  hat  der  Verf.  durch  aufmerksame  Betrach- 
tung gewonnen.  Rec.  wünscht,  er  hätte  jede  Vergleichung  mit 
Nomaden,  den  Hottentotten  und  wilden  amerikanischen  Stämmen,, 
auf  die  er  öfter  zurückkommt,  aufgegeben. 

697  Mögen  Nomaden,  Hottentotten  und  wilde  amerikanische 
Stämme  ihre  Leichen  eine  Zeit  lang  bewahren  und  dabei  von 
religiösen  Ansichten  und  Gebräuchen  geleitet  werden,  diese 
grossen,  mühsam  vollbrachten  Steinbauten  über  der  Asche  eines 
geehrten  Todten  zeigen  einen  ganz  anderen  geschichtlichen  Sinn,. 
der  nur  Völkern  einer  höheren  Bildung  eigen  zu  sein  pflegt. 
Wie  sie  der  Nachwelt  das  Andenken  ihrer  Helden,  Anführer 
oder  Priester  zu  erhalten  gedachten,  ebenso  war  von  ihnen  die 
Vergangenheit  in  Denkmälern  geachtet  und  in  Sagen  und  Liedern- 
bewahrt.  Welcher  Schluss  ist  natürlicher,  als  dass  dies  Volky 
welches  die  Hünenbetten  errichtete,  einer  eben  so  geistigen 
Ausbildung  sich  erfreute,  als  jenes,  dessen  Thaten  Ossian  be- 
singt und  dessen  Denkmäler  und  Grabstätten,  wenigstens  nach 
seiner  Beschreibung,  an  rauher  Einfachheit  diesen  gleich  standen. 
Spricht   nicht   das   berühmte  Stonehenge  in  England  gegen  des 

698  Verf.  Ansicht,  indem  es  zu  viel  Bildung  und  Verstand  in  An- 
lage und  Ausführung  zeigt,  als  dass  man  es  einem  wilden  und 
rohen  Volke  zuschreiben  dürfte?  Es  mag  leicht  einer  etwas 
späteren  Zeit  angehören  (denn  man  glaubt,  die  Steine  seien  mit 
dem  Meissel  bearbeitet,  und  noch  jetzt  fühlbar  sind  die  Zapfen 
auf  den  aufrechtstehenden  Felsen,  in  welche  die  Decksteine  von 
oben,  gewiss  mit  künstlichen  Vorkehrungen,  eingesenkt  wurden), 
aber  ganz  sichtbar  ist  es  in  dem  Stil  der  Hünenbetten  und  von 
demselben  Volk  erbaut,  wiewohl  viel  prächtiger  und  grossartiger^ 
und    diese  Verwandtschaft    erkennt    Hr.  Westendorp    auch   an. 


WESTENDORP,   IIUXEBEDDEN.  313: 

Hier  wäre  eine  nähere  Vergleichung  gewiss  vortheilhaft  gewesen. 
Auch  der  Norden  leitet  auf  andere  Folgerungen,  seine  Altäre 
und  Riesengräber  sind  auf  gleich  rohe  Weise  mit  unbear- 
beiteten  Felsenstflcken  erbaut,  dennoch  lassen  die  ältesten  Ge- 
sänore  einen  Geist  erkennen,  der  auch  nicht  die  entfernteste 
Verwandtschaft  mit  der  abgestumpften  und  ins  Thierische  herab- 
gesunkenen Seele  der  amerikanischen  Wilden  zeigt.  Freilich 
muss  die  Bilduno^  solcher  Zeitalter  mit  ihrem  eigenen  Massstabe 
gemessen  werden,  ganz  nah  bei  edlen  und  erhabenen  Gefühlen 
hat  oft  grosse  Härte  und  Grausamkeit  gestanden.  Was  die  Ge- 
räthe  von  gebrannter  Erde  betrifft,  so  wünschen  wir  eine  genaue 
Untersuchung,  ob  sie  nicht  den  Gebrauch  der  Töpferscheibe 
verratheu:  Rec.  ist  es  wahrscheinlich,  denn  aus  freier  Hand, 
roh  geformt  sind  sie  nicht,  wie  ausdrücklich  angemerkt  wird, 
und  wie  sollen  runde,  enghalsige  Gefässe  -in  einer  Form"  ge- 
macht sein.  Es  ist  nicht  wohl  möglich;  die  Anwendung  der 
Töpferscheibe  aber  würde  gleichfalls  ein  in  festen  Wohnsitzen 
lebendes,  mit  bestimmter  Handarbeit  sich  beschäftigendes  Volk 
vermuthen  lassen. 

Warum  das  Verbrennen  der  Leiche  den  Glauben  an  Seelen- 
wanderung ausschliessen  solle,  sehen  wir  nicht  ein.  Im  Wider- 
spruch damit  berichtet  Cäsar  (de  B.  G.  VI,  14)  von  den  Druiden,  699» 
sie  hätten  jene  Lehre  den  Galliern  vorgetragen  (non  interire 
animas,  sed  ab  aliis  post  mortem  transire  ad  alios),  und  bald 
darauf  (VI,  19)  beschreibt  er  die  Feierlichkeiten  beim  Ver- 
brennen der  Leichen.  Diese  Folgerung  würde  also  besser  ganz 
unterdrückt. 

Die  Frage,  wie  brachte  man  die  schweren  Felsenblöcke,- 
die  über  die  anderen  als  Decke  gelegt  wurden,  ohne  künstliche 
Maschinen  in  die  Höhe?  beantwortet  der  Verf.,  wie  uns  scheint,, 
befriedigend.  Man  füllte  den  Grund  mit  Erde  und  arbeitete 
dann  mit  Hebebäumen  ohne  andere  Werkzeuge  durch  die  blosse 
Kraft  von  Menschenarmen  den  Abhang  hinauf.  Freilich  war 
eine  erstaunlich  grosse  Anzahl  von  Menschen  dazu  nöthig;  eben 
darum  scheinen  solche  Denkmäler  auch  nur  Auszeichnungen  für 
den  höheren  Stand  gewesen  zu  sein.  Die  Richtung  der  Hünen- 
betten von  Osten  nach  Westen  wird  durch  eine  Verehrung  der 


fc 


314  WESTENDORP,  HUNEBEDDEN. 

Sonne  erklärt.  Die  Höhe  von  dem  Deckstein  bis  auf  den 
Grund  ist  nach  einer  festen  Regel  zu  bestimmen;  fügt  man 
nämlich  noch  den  Raum  von  dem  Grunde  bis  zu  dem  untersten 
Steinboden  hinzu,  so  erhält  man  gerade  Menschenhöhe. 

Die  zweite  Abtheilung  des  Buchs  (S.  109 — 156)  beschäftigt 
sich  lediglich  damit,  die  Völker  nach  der  Reihe  vorzuführen, 
von  welchen  die  Hünenbetten  nicht  herrühren  können.  Es  ist 
zugleich  eine  Geschichte  der  verschiedenen  Meinungen;  denn 
welchem  alten  Volke  sollte  sie  nicht  dieser  oder  jener  nach 
einem  augenblicklichen  Einfall  oder  aus  Liebhaberei  an  einer 
Hypothese  aufgebürdet  haben!  Wir  begnügen  uns  hier,  diesen 
Abschnitt  anzuzeigen,  der  an  sich  so  sorgfältig  ausgearbeitet  ist, 
als  das  ganze  Buch.  Würde  bei  dieser  Gelegenheit  jemand  zu 
viel  Umständlichkeit  und  Breite  überhaupt  tadeln,  so  müsste  er 
auch  die  aufgewandte  Gelehrsamkeit  und  reiche  Belesenheit, 
die  oft  da  Früchte  trägt,  wo  man  sie  nicht  erwartet,  dankbar 
anerkennen. 
700  Regelmässig  schreitet  die  Untersuchung  in  der  dritten  und 

ausführlichsten  Abtheilung  weiter:  nachdem  die  Völker  sämmt- 
lich  abgewiesen  sind,  welchen  die  Hünenbetten  nicht  dürfen 
zugeschrieben  werden,  so  muss  endlich  dasjenige  übrig  bleiben, 
welchem  sie  in  der  That  zugehören.  Ehe  dies  aber  genannt 
und  sein  Recht  erörtert  wird,  sucht  eine  vorbereitende  Ab- 
handlung (S.  160 — 197)  das  hohe  Alter  der  Denkmäler  an  sich 
zu  begründen.  Das  Resultat  lautet:  die  Hünenbetten  gehören 
in  die  allerälteste  Zeit,  ja  in  die  Kinderjahre  der  Menschheit; 
sie  sind  von  den  ersten  Bewohnern  Europas  errichtet,  als  sie 
noch  abgeschieden  von  allen  gebildeten  Völkern  lebten.  Ref. 
darf  hier,  wo  alles  sorgfältig  zusammengetragen,  selbst  ungewisse 
Spuren  nicht  übergangen  sind,  nur  die  Hauptsätze  berühren, 
worauf  jener  Ausspruch  ruht.  Dass  die  Stellen  der  Alten,  die 
sich  hierher  deuten  lassen,  zuerst  angeführt  und  erläutert  werden, 
versteht  sich  von  selbst;  am  merkwürdigsten  sind  die  bei  Tacitus 
und  Strabo  (aus  dem  Ephorus),  welche  von  Denkmälern  reden, 
welche  den  Dolmens  oder  den  Hünenbetten  scheinen  ähnlich 
gewesen  zu  sein;  dabei  denken  beide  an  ein  Heiligthum  des 
Herkules.      Seine  Behauptung  aber  ferner  zu  begründen,  führt 


WESTENDORP.  flUNEREDDEN.  315 

Hr.  Westendorp  folgende  Punkte  aus.  1 .  Die  von  jeher  herrschende 
Ansicht,  welche  die  Hünenbetten  als  Werke  undenklicher  Zeiten 
betrachtet,  auch  in  der  Volksmeinung  ausgesprochen,  wornach 
Riesen  die  Erbauer  derselben  waren.  (In  der  S.  168  angeführten 
Stelle  aus  dem  Otnit  heisst  ris  in  keinem  Falle  gigas,  und  in 
der  aus  Melis  Stocke  ebendaselbst  heisst  ries  nichts  Anderes 
als  stultus;  beide  gehören  also  durchaus  nicht  hierher.)  2.  Die 
Roheit  der  Arbeit,  es  sind  rauhe  unbewerkte  Felsenblöcke; 
nirgends  Spur  einer  Inschrift.  3.  Die  äussere  Form  gibt  Zeug- 
nis von  hohem  Alter.  Die  Hünenbetten,  glaubt  der  Verf.,  seien 
Häuser,  dem  abgeschiedenen  Geist  erbaut,  weshalb  das  Volk  70i 
noch  jetzt  wähne,  sie  würden  Nachts  von  Geistern  bewohnt. 
Die  meisten  Völker  hätten  ein  solches  Haus  für  den  Geist  als 
etwas  sehr  Nothwendiges  betrachtet,  und  so  gelangt  er  zu  dem 
Satz,  dass  alle  Völker,  die  sich  einigermassen  aus  der  Wildheit 
herausgearbeitet,  die  Grabstätten  ihren  Wohnungen  nachgebildet 
hätten.  Dieser  Satz  wird  viel  Anfechtung  erleiden,  und  es  ist 
schwer  darauf  bauen,  weil  man  nicht  weiss,  bei  welchem  Grad 
von  Cultur  diese  Eigenthümlichkeit  aufhört,  den  Verf.  aber 
leitet  er  zu  dem  weiteren  Ausspruch,  dass  sich  in  den  Hünen- 
betten eine  Nachahmung  fremder  und  seltsamer  Bauart  kund 
gebe.  Indem  sie  nämlich  die  platten  Dächer  Asiens  und  Afrikas 
zeigten,  fielen  sie  dem  grauen  Alterthum  anheim,  das  in  die 
ersten  Zeiten  von  Europas  Bevölkerung  hinaufsteige.  Wie  ge- 
neigt Rec.  überhaupt  ist,  den  Hünenbetten  ein  hohes  Alter  zu- 
zugestehen, so  scheinen  ihm  diese  Schlüsse  doch  sehr  gewagt 
und  zu  bedenklich,  als  dass  er  etwas  darauf  stützen  möchte. 
Die  Idee,  einen  verbindenden  Stein  als  Decke  über  zwei  andere 
aufrechtstehende  zu  legen,  bietet  sich  so  natürlich  dar,  dass  wir 
deshalb  nicht  an  die  platten  Dächer  südlicher  Himmelsstriche 
zu  denken  brauchen.  Auch  kommt  hier  einiger  Widerspruch 
mit  früheren  Behauptungen  vor:  baute  das  Volk  den  Geistern 
Wohnungen  den  seinigen  ähnlich,  so  lebte  es  auch  selbst  in 
festen,  solid  gebauten  Häusern  und  war  kein  nomadisch-wildes. 
4.  Die  Vergleichung  mit  anderen  alten  Denkmälern  dieser  Art 
verleiht  den  Hünenbetten  das  höhere  Alter.  Einleuchtend  scheint 
uns  in  den  Drenthischen  Monumenten   die  Unterscheidung:  von 


316  WESTENDORP,  HUNEBEDDEN, 

vier  Zeitaltern.  Die  jüngsten  sind  die  gemauerten  und  eben 
gepflasterten  Keller  mit  unverbrannten  Leichen,  wobei  sich 
einige  Ähnlichkeit  mit  christlichen  Gebräuchen  zeigt.  Älter  als 
diese  eine  grosse  Menge  runder  Grabhügel  von  Erde  und  Steinen, 

702  die  von  der  Zeit  der  Einführung  des  Christenthums  bis  in  den 
früheren  Zeitraum  zurückgehen.  Kennzeichen  von  noch  höherem 
Alter  tragen  die  Grabkammern  von  grossen  Steinen  an  sich, 
die  in  runden  Hügeln  angelegt  sind.  Am  allerältesten  sind  end- 
lich die  Hünenbetten.  5.  Einen  Hauptgrund  gibt  die  Armselig- 
keit der  ausgegrabenen  Geräthe  ab,  die  gleichwohl  das  Kost- 
barste scheinen  gewesen  zu  sein,  das  man  besass.  Hier  kommt 
der  Verf.  wieder  auf  seine  Lieblingsansicht:  ^zekerlyk  zyn  de 
Hunebedden  van  de  Wilden  in  Europa"  und  lässt  sie  noch  un- 
stät  in  ganzen  Landstrecken  herumschwärmen.  Wir  glauben 
nicht,  dass  es  jemals  in  dem  mit  Asien  stets  in  Verbindung  ge- 
bliebenen Europa  Wilde  gegeben  hat,  wie  sie  in  dem  isolirten, 
geistig  versunkenen  Amerika  sind  gefunden  worden.  Der  grössten 
Aufmerksamkeit  werth  ist  gewisslich  der  Umstand,  dass  man 
unter  den  Hünenbetten  noch  nie  ein  Stückchen  Kupfer  ange- 
troffen hat,  und  der  Schluss  des  Verf ,  dass  das  westliche  Europa 
damals  noch  kein  Metall  kannte,  ist,  wo  nicht  ganz  sicher,  doch 
sehr  wahrscheinlich.  Weniger  ist  es  die  weitere  Folgerung, 
dass  die  Errichter  der  Hünenbetten  mit  keinem  anderen  ge- 
bildeten Volke  in  Verbindung  gestanden  hätten;  muss  doch 
gleich  der  Steinwaffen  wegen,  die  aus  den  Gegenden  her- 
stammten, wo  die  besondere  Streitaxt  zu  Hause  war,  eine  Aus- 
nahme gemacht  werden.  Da  bereits  vor  der  christlichen  Zeit- 
rechnung Bergwerke  in  Spanien  und  Gallien  geöffnet  waren, 
so  musste  eine  des  Metalls  unkundige  Periode  viel  früher  ge- 
setzt werden,  dagegen  lässt  sich  nichts  einwenden;  der  Verf. 
behauptet  aber,  sie  sei  noch  früher,  als  die  Zeit,  wo  Gelten  und 
Iberier  in  der  persischen  Reiterei  dienten,  welches  bereits  im 
4.  Jahrhundert  vor  Christus  geschah.  Es  gibt  einen  Einwurf 
gegen  die  Schlüsse  des  Verf.,  nämlich  dass  man  gar  wohl  andere 
Waffen,    vielleicht  selbst  von  Metall,   gekannt,    aber   diese   von 

703  Stein  in  die  Grabstätten  gelegt  habe ,  als  blosse  simulacra  ar- 
morum,    böse  Geister   abzuwehren.      Wiewohl  dem  Rec.  dieser 


WESTENDORP,  HÜNEBEDDEN.  317 

Einwurf  nicht  genügend  scheint,  weil  sich  doch  einmal  ein  Bei- 
spiel von  Metallwafien  würde  gezeigt  haben,  so  wird  er  doch  von 
Hrn.  Westendorp  zu  schnell  und  hart  abgewiesen;  wahrschein- 
lich kennt  er  des  fein  und  scharf  blickenden  Sk.  Th.  Thorlacius 
Abhandlung,  die  er  anführt,  weiter  nicht,  sonst  würde  er  ein- 
gesehen haben,  dass  sie  eine  genaue  Widerlegung  wohl  verdient. 
Viele  in  den  nordischen  Gräbern  gefundene  Steinwaffen  konnten 
weder  im  Kampf  noch  beim  Opfer  gebraucht  werden;  das  ist 
wenigstens  Thatsache.  6.  Als  letzter  Stützpunkt  dient  die  grosse 
Ähnlichkeit  der  Steinwaffen  mit  denen  der  wilden  Völker  anderer 
Welttheile;  so  merkwürdig  dieser  Umstand  an  sich  ist,  so  führt 
er  doch  zu  sehr  ins  Weite,  wenn  der  Verf.  fragt:  wird  man 
nicht  orenöthiort  anzunehmen,  dass  man  dergleichen  Waffen  da- 
mals  gebrauchte,  als  die  Väter  aller  dieser  Völker  noch  in  Asien 
lebten?  haben  sie  diese  Kunst  nicht  mit  aus  der  Wiege  gebracht? 
Diese  Ähnlichkeit  müsste  erst  genau  untersucht  und  davon  ab- 
gezogen werden,  was  sich  ohne  Überlieferung  aus  der  Natur 
der  Sache  selbst  ergibt;  ein  Hammer  scheint  in  seiner  ersten 
und  rohen  Form  überall  sich  gleichen  zu  müssen. 

Nachdem  der  Verf.  bis  dahin  sich  den  Weg  gebahnt,  glaubt 
er  das  Volk  nennen  zu  dürfen,  welchem  nach  seiner  Meinung 
die  Hünenbetten  allein  müssen  zugeschrieben  werden.  Es  sind, 
wie  zu  erwarten  stand,  die  Gelten,  die  einzigen,  die  bis  jetzt 
noch  nicht  vorgeführt  waren.  Hierin  folgt  er  der  gewöhnlichen, 
sich  leicht  darbietenden  Meinung,  weil  in  den  anerkannten 
Sitzen  der  Gelten,  zwischen  der  Seine  und  Garonne  in  Frank- 
reich und  in  den  brittischen  Inseln,  die  meisten  Hünenbetten 
gefunden  werden.  Es  ist  aber  zu  erklären,  wie  diese  Monu- 
mente in  Gegenden  kommen,  welche  nach  bisheriger  Ansicht  704 
niemals  von  "Gelten  bewohnt  wurden,  also  in  das  nördliche 
Deutschland  und  noch  weiter  hinauf  in  den  skandinavischen 
Norden.  Deshalb  entwickelt  der  Verf.  (S.  202 — 309)  eine  neue 
Hypothese.  Neben  den  Liguriern  oder  römischen  Galliern 
nimmt  er  als  einen  besonderen  Volksstamm  die  Gelten  an, 
welche  das  ganze  westliche  Europa  vom  Süden  bis  zum  Norden 
bewohnt  hätten.  Von  Gadix  an  durch  Portugall  und  dann 
nach  Unterbrechung   durch   die  Gantabrier  wieder  von  der  Ga- 


318  WESTENDORP,  HUNEBEDDEN. 

rönne  die  Seeküsten  entlang  bis  nach  dem  Norden  sollen  sie 
sich  ausgestreckt,  kurz  in  allen  den  Ländern  Sitze  gehabt  haben, 
in  welchen  wir  die  Hünenbetten  antreffen  oder  sie  ehemals  vor- 
handen waren.  Diese  Gelten,  wozu  ausdrücklich  die  Cimbern 
gezählt  werden,  hält  Hr.  Westendorp  für  die  Urbewohner 
jener  Gegenden:  in  Deutschland  hätten  sie  sich  bis  zum  Harz 
herab  verbreitet  und  wären  dann  später  hier  und  im  skandi- 
navischen Norden  von  den  Germanen  überwunden  und  unter- 
jocht worden.  Sie  sind  ihm  „die  Wilden  von  Europa",  welche 
vor  Ankunft  der  Römer  schon  besiegt  waren,  und  mögen,  wenn 
man  alles  erwägt,  schon  zu  Moses  Zeit  in  Deutschland  herum- 
geschwärmt sein;  machte  doch  bereits  im  6.  Jahrhundert  vor 
Christus  die  Übervölkerung  den  Auszug  des  Belloves  und  Si- 
goves  nöthig.  Sie  also,  die  celtischen  Cimbern,  haben  in  Deutsch- 
land die  Hünenbetten  errichtet,  und  die  runden  Grabhügel 
rühren  von  ihren  Feinden  her,  von  den  Germanen,  die  später 
ihre  Sitze  einnahmen  und  Verehrer  Odins  waren. 

Die  Sorgfalt  und  Gelehrsamkeit,  womit  diese  Hypothese 
ausgeführt  ist,  verdient  schon  Anerkennung,  wäre  auch  nicht 
nebenbei  manches  Beifallswürdige  bemerkt  und  Manches  scharf- 
sinnig unterschieden.  Günstig  ist  ihr  allerdings  das  hohe  Alter 
705  und  die  anfänglich  weite  Verbreitung  des  celtischen  Stammes, 
und  wie  er  in  Gallien  und  auf  den  brittischen  Inseln  unter- 
drückt und  westlich  in  einen  kleinen  Raum  zurückgedrängt 
wurde,  so  hätte  ein  ähnliches  Schicksal  ihn  in  Germanien  und 
dem  Norden  treffen  oder  dort  sein  Missgeschick  anfangen 
können,  falls  er  diese  Gegenden  ursprünglich  bewohnte.  Ferner 
spricht  dafür  (freilich  die  Veranlassung)  das  Dasein  der  Hünen- 
betten, so  eigenthümlicher  und  überall  vollkommen  ähnlicher 
Denkmäler,  in  den  genannten  Ländern.  Endlich  konnten  noch 
angeführt  werden  (was  Hr.  Westendorp  nicht  thut)  jene  Rokke- 
steine,  welche  mit  druidischer  Lehre  zusammenhangen  und 
nicht  bloss  in  Frankreich,  sondern,  gewiss  sehr  merkwürdig, 
auch  im  Norden,  am  häufigsten  auf  der  Insel  Bornholm  vor- 
kommen, aber  freilich  noch  nirgends  in  Deutschland  entdeckt 
sind.  Nachzusehen  ist  darüber  Münters  Abhandlung  im  zweiten 
Bande  der   antiquarischen  Annalen   und  Finn  Magnussen   nor- 


WESTENDORP,  HUXEBEDDEX.  319 

dische  Archäologie  S.  74.  75.  Die  allgemeinen  und  ungewissen 
Bemerkuncren  der  Alten,  die  einmal  Gelten  und  Gallier  unter- 
scheiden,  dann  bloss  den  Ausdruck  Gelten  anwenden,  die  Cim- 
bern  bald  Gelten,  bald  Kimmerier,  bald  Gallier,  bald  Germanen 
nennen,  gestatten  die  verschiedenartigsten  Auslegungen,  und 
man  kann  es  dem  Verf.  nicht  verdenken,  wenn  er  herausnimmt, 
was  seiner  Meinung  zuträglich  ist.  Allein  in  der  Hauptsache 
sieht  es  doch,  wie  uns  deucht,  bedenklich  aus;  wir  glauben 
nämlich,  dass  der  eigentliche  Beweis  durch  die  Sprache  müsse 
geführt  werden.  Mangelt  dieser,  so  bleibt  das  Ganze  nur  eine 
Vermuthung.  Der  Verf.  behauptet  zwar  folgerichtig,  in  den 
von  den  Germanen  unterjochten,  ursprünglich  celtischen  Gegenden 
habe  sich  ein  Misch volk  und  eine  gemischte  Sprache  gebildet; 
allein  diese  Behauptungen  sind  durch  nichts  begründet.  Solche 
entgegengesetzte  Elemente  müssten  noch  jetzt  in  der  nieder- 
deutschen und  in  den  nordischen  Sprachen  können  nachgewiesen  706 
werden,  eine  Forderung,  die  an  sich  natürlich  und  um  so  billiger 
ist,  als  das  Geltische  noch  in  Wallis  sowohl  als  der  Bretagne 
fortlebt,  also  eine  Vergleichung  sich  gar  wohl  anstellen  lässt. 
Wie  es  scheint,  hat  Hr.  Westendorp  die  Untersuchung  über 
den  Ursprung  der  altnordischen  Sprache  von  Rask  nicht  ge- 
kannt, er  würde  sonst  gerade,  was  er  vernachlässigt,  eine  Er- 
örterung des  Verhältnisses  der  celtischen  und  germanischen 
Sprache  daselbst  gefunden  haben.  Eine  Einmischung  des  Ger- 
manischen auf  das  Geltische  ist  schon  früher  bemerkt  und  an- 
erkannt, sie  betrifft  aber  nur  den  Wortvorrath  und  hat  keinen 
Einfluss  auf  den  inneren  organischen  Bau  der  Sprache,  der 
doch  eigentlich  die  Hauptsache  ist;  im  Gegentheil  darin  sind 
beide  grundverschieden.  Jene  Berührung  erklärt  sich  hinläng- 
lich aus  der  alten  Vermischung  der  Germanen  (Gimbern)  und 
Gelten  in  Belgien,  ausserdem  ist  sie  hier,  d.  h.  für  das  System 
des  Verf.,  ohne  Einfluss,  wo  der  umgekehrte  Fall  zu  beweisen 
steht,  dass  die  germanische  Sprache  Elemente  aus  der  celtischen 
empfangen  habe.  Wird  aber  dieser  Beweis  nicht  geführt,  so 
offenbart  sich  gleich  eine  sehr  schwache  Seite  des  ganzen  Ge- 
bäudes. Es  hätte  können  dafür  gesagt  werden,  was  Adelung 
(Alteste  Geschichte  der  Deutschen  S.  114)  vorbringt,    dass   die 


320  WESTENDORP,  HUNEBEDDEN. 

Namen  der  cirabrischen  Heerführer  gallisch  klängen,  aber  das 
ist  etwas  an  sich  sehr  Schwankendes  und  könnte  in  keinem 
Fall  eine  Stütze  des  Systems  werden.  Näher  steht  schon  die 
Bemerkung  bei  Rask  (S.  188):  „einige  Wörter"  aus  der  celtischen 
Sprache  seien  in  die  germanische  übergegangen,  ja  er  äussert 
dabei  (auch  S.  82)  den  übereinstimmenden  Gedanken,  die  Ur- 
sache könne  darin  liegen,  dass  der  germanische  Stamm  nach  dem 
celtischen  in  den  Besitz  einiger  Länder  gelangt  sei,  wiewohl 
er  auch  einen  anderen  sehr  natürlichen  Weg  zeigt,  nämlich 
'.707  diese  einzelnen  Wörter  seien  durch  die  Kriege  der  Nordbewohner 
mit  den  Gelten  herübergekommen.  Rask  hat  das  Verzeichnis 
dieser  Wörter  nicht  geliefert,  und  wollte  jemand  zu  Gunsten  des 
Westendorpischen  Systems  es  aufstellen,  so  müsste  er  bedenken, 
dass,  wenn  es  etwas  beweisen  soll,  zugleich  diese  celtisch-ger- 
manischen  Wörter  lediglich  in  der  niederdeutschen  und  nor- 
dischen Sprache,  nicht  auch  zugleich  in  einer  süddeutschen  oder 
der  gothischen  vorkommen  dürften.  Was  Hr.  Westendorp  selbst 
für  die  vorausgesetzte  Mischsprache  anführt,  ist  ohne  Gewicht 
und  enthält  nur  Andeutungen,  wo  etwa  Beweise  aufzufinden 
seien.  Er  sagt  S.  231  und  kommt  S.  289  darauf  zurück:  die 
Namen  von  Bergen,  Flüssen,  Landschaften,  Wäldern,  Bächen 
und  Dörfern  in  Germanien  Hessen  sich  aus  dem  Celtischen  er- 
klären, aber  die  in  der  Note  als  Gewährsmänner  angemerkten 
Schriftsteller  beweisen  von  diesem  Satz  nicht  das  Geringste. 
Der  neueste  darunter,  Barth  in  Deutschlands  Urgeschichte,  hat 
auch  nicht  entfernt  so  etwas  im  Sinn  gehabt,  wie  man  sich  aus 
dessen  angeführten  Worten  überzeugen  wird;  Adelung,  den  Rec. 
-nachgeschlagen,  sagt  eher  das  Gegentheil  oder  etwas  durchaus 
nicht  hierher  Gehöriges  und  ganz  Triviales,  nämlich  dass  man 
an  der  Übereinstimmung  des  ältesten  Deutsche»  mit  dem  neueren 
nicht  zweifeln  dürfe,  und  im  Bragur  endlich  sind  bloss  Adelungs 
Worte  wiederholt.  —  Die  nordische  Edda  spricht  von  einem 
Volk,  welches  die  Äsen  bei  ihrer  Ankunft  vorgefunden  hätten 
-und  von  ihnen  besiegt  und  verdrängt  worden  sei;  es  sind  die 
Riesen,  Joten,  Feinde  der  Götter.  Ob  eine  historische  Wahr- 
heit in  dieser  Angabe  liegt,  wollen  wir  dahingestellt  sein  lassen 
"oder  auch  einmal  als  wahrscheinlich  annehmen,    wo   fände  sich 


WESTEKDORP,  HCNEBEDDEN.  321 

aber  der  Beweis,  dass  diese  Joten  nichts  Anderes  als  Gelten  ge- 
wesen wären,  wie  der  Verf.  seinem  System  gemäss  annimmt? 
Wenn  er  (S.  254)  fragt,  ob  die  dänische,  schwedische  und 
friesische  Sprache  nicht  einen  fremdartigen  Bestandtheil  er-  708 
kennen  lasse,  und  wenn  er  (S.  245)  geradezu  annimmt,  es 
schimmere  im  Skandinavischen  und  Niederdeutschen  viel  Cel- 
tisches  durch,  so  müssen  wir  beides  ganz  entschieden  verneinen. 
Das  Höchste  wären  ein  Paar  einzelne  (erst  noch  zu  erweisende) 
celtische  Wörter,  die  gar  nicht  in  Betracht  kommen  könnten, 
da  ja  die  reinste  und  eigenthümlichste  Sprache  aus  einer  anderen 
einzelne  Wörter  erhalten  hat;  und  gerade  der  altnordischen, 
von  der  doch  als  Mutter  der  schwedischen,  dänischen  und  nor- 
wegischen allein  die  Rede  sein  sollte,  kann  man  Reinheit,  so- 
weit diese  einen  Sinn  hat,  gewiss  zuschreiben.  Hr.  Westen- 
dorp  hat  nicht  wohl  gethan,  dass  er  (S.  296)  die  gelegentliche, 
■ohne  Zweifel  flüchticre  Bemerkung  eines  deutschen  Gelehrten: 
das  Altnordische  zeige  eine  höhere  Ausbildung  der  Formen, 
als  das  Gothische  des  Ulfilas,  die  an  sich  völlig  ungegründet 
ist,  für  wahr  angenommen  und  nun  darauf  bauend  sich  diese 
höhere  Ausbildung  durch  den  Einfluss  des  Celtischen,  das  über- 
haupt eine  höhere  Geistesbildung  erkennen  lasse,  erklärt.  Wäre 
jener  Satz  auch  wahr,  so  würde  er  gerade  die  Abwesenheit 
eines  jeden  fremden  Einflusses  beweisen,  da  die  Geschichte  der 
Sprachen  hinlänglich  darthut,  dass  bei  einer  jeden  Mischung 
eben  die  Formen  Schaden  leiden  und  sich  abstumpfen. 

Überhaupt  ist  der  Verf.  da  nicht  am  glücklichsten,  wo  er 
Sprachdenkmäler  in  seinen  Vortheil  ziehen  will.  Er  theilt 
(S.  207)  ein  Gelübde  mit,  das  die  Sachsen  zu  Carls  des  Grossen 
Zeit  dem  Wodan  sollen  abgelegt  haben,  und  zwar  als  „ein 
echtes"'  Beispiel  der  celtisch-deutschen  Sprache  in  jener  Mischung, 
die  er  sich  denkt.  Allein  dieses  angeblich  alte  Stück  ist  als 
ein  moderner  Betrug  anerkannt  und  verräth  sich  sogleich  durch 
die  elende  Nachahmung  der  alten  Sprache;  schon  Kinderling 
(Geschichte  der  niedersächsischen  Sprache  S.  196)  hat  es  sehr 
verdächtig  gemacht.  Gewisslich  hat  der  Verf.  desselben  kein  709 
Wort  Celtisch  verstanden.  Dao:e(jen  gibt  es  ein  echtes  und 
sehr   ausgezeichnetes  Denkmal    der   altsächsischen  Sprache,    die 

\V.  UIUMM,    KL.  üCIlKirrKX.      II.  21 


322  WESTENDORP,  HUNEBEDDEN. 

Evangelienharmonie,  welches,  da  bis  jetzt  nur  Bruchstücke  da- 
von gedruckt  sind,  wahrscheinlich  Hrn.  Westendorp  noch  nicht 
bekannt  geworden  ist,  in  welchem  er  indessen  nicht  das  ge- 
ringste Celtische  wird  entdecken  können.  —  S.  255  macht  er 
die  an  sich  richtige  Bemerkung,  man  müsse  die  Sprache  Isidors, 
Otfrieds  usw.  nicht  die  fränkische  nennen,  es  ist  die  althoch- 
deutsche, wenn  er  aber  die  bekannten  Malbergischen  Glossen  als 
das  Einzige  erklärt,  was  Licht  über  die  eigentliche  fränkische 
Sprache  gebe,  und  eine  Anzahl  daraus  gezogener  Wörter  anführt 
zur  Überzeugung,  dass  es  weder  Niederdeutsch  noch  Hochdeutsch 
noch  Niedersächsisch  sei,  so  muthet  er  den  Lesern  zu  viel  zu, 
da  aus  diesen  völlig  entstellten,  vereinzelten  Wörtern  schwer- 
lich jemand  einen  Sinn  bringen,  noch  weniger  einen  Begriff 
von  einer  Sprache  bekommen  wird.  Muss  die  deutsche  Gram- 
matik diese  Malbergischen  Glossen  ganz  aufgeben,  so  werden 
sie  schwerlich  für  historische  Untersuchungen  ein  Resultat  liefern 
können. 

W'^ir  schliessen  mit  einem  Einwurf  gegen  des  Verf  Hypo- 
these, der  uns  äusserst  natürlich  vorkommt.  Sollen  die  runden 
Grabhügel  von  einem  ganz  anderen  Volk,  das  den  Odin  ver- 
ehrte, herrühren  und  einen  Gegensatz  zu  den  Hünenbetten 
bilden,  was  wäre  einfacher  als  der  Schluss,  dass  sie  sich  über- 
all, wo  wir  Sitze  der  Germanen  mit  Sicherheit  annehmen,  vor- 
finden müssten?  Davon  zeigt  sich  aber  gerade  das  Gegentheil 
und  eine  sehr  merkwürdige  Analogie  mit  den  Hünenbetten,  in- 
dem die  Grabhügel  etwa  innerhalb  derselben  Linie  in  Nord- 
deutschland  vorkommen,  dagegen  in  Süddeutschland  (in  den 
Anmerkungen  S.  19  steht,  ohne  Zweifel  durch  einen  Schreib- 
710  fehler,  der  aber  durchaus  verbessert  werden  muss,  nördlich  für 
südlich)  selten  und  die  Paar  Beispiele  noch  ungewiss  sind. 
Wäre  nun  die  Vermuthung  nicht  viel  ansprechender,  dass  beides,^ 
Hünenbetten  und  Grabhügel,  von  einem  und  demselben  oder 
einem  verwandten  Volke  herrührte  und  einen  Unterschied  der 
Zeit  oder  des  Standes  anzeigte?  wie  ja  auch  im  Norden  an- 
erkannt nach  Verschiedenheit  des  Standes  die  Grabstätten  ver- 
schieden eingerichtet  wurden ;  nur  für  Höhere  z.  B.  waren  aus- 
gemauerte Grabkammern.    Noch  mehr  Gewicht  erhält  die  Ver- 


WESTENDORP,  HUKEBEDDEN.  323 

muthung  durch  den  Umstand,  dass  viele  geöffnete  Grabhügel 
ebenso  wenig  ein  Stückchen  Metall  geliefert  haben,  als  die  Httnen- 
betten,  dagegen  gleichfalls  Steinwaffen,  einen  runden  Eistein 
und  die  Aschenkrüge,  nur,  wie  es  scheint,  roher  und  grösser. 
Würde  ein  späteres,  feindlich  gesinntes  Volk  eine  so  gleiche 
Sitte  bei  seinen  Todten  angewendet  haben?  Nach  dem  S.  23 
in  den  Anmerkungen  mitgetheilten  Bericht  waren  die  Urnen  in 
deutschen  Hünenbetten  zum  Theil  „sehr  elegant",  den  etrurischen 
Vasen  ähnlich;  warum  sollen  die  gröberen  imd  unförmlicheren 
in  den  Grabhügeln  jünger  sein?  Übrigens  wollen  wir  ausdrück- 
lich anerkennen,  wie  viel  Schwierigkeiten  sich  beiden  Ansichten 
entgegenstellen,  der  einen,  welche  die  Hünenbetten  aller  Gegen- 
den einem  und  demselben  Volke  zuschreibt,  das  sich  durch  das 
ganze  westliche  Europa  von  Süden  bis  in  den  tiefen  Norden 
müsste  ausgestreckt  haben,  oder  der  anderen,  welche  diese 
überall  ganz  ähnlichen  Denkmäler  verschiedenen  Völkern  zu- 
theilen  möchte.  Sollte  es  unter  diesen  Umständen  nicht  ge- 
rathener  sein,  vorerst  sämmtliche  alten  Monumente  und  Grab- 
stätten sorgfältig  zu  untersuchen  und  nach  ihren  Eigenthüm- 
lichkeiten  und  Verschiedenheiten  genau  zu  beschreiben,  ehe  wir 
daran  gehen,  Hypothesen  über  ihr  Alter,  ihre  Bedeutung  und 
die  Völker,  die  sie  errichtet  haben,  auszuarbeiten  und  mit  allen  711 
Kräften  zu  unterstützen?  Der  freie  Blick  und  die  Unbefangen- 
heit der  Betrachtung  wird  dadurch  nur  gefesselt;  nach  den 
nöthigen  Vorarbeiten  würde  die  Zeit  der  Entscheidung  auch 
kommen. 

Der  Anhang  enthält  einen  Bericht  von  Hrn.  P.  Hofstede 
über  eine  bei  Emmen  in  Drenthe  im  Jahr  1809  geöffnete  Grab- 
kammer,  in  welcher  man  eine  Anzahl  zerscherbter  Urnen  und 
drei  kleine  graue  und  rothe  Gefasse  ausgegraben  hat.  Da  man 
die  Wandsteine  inwendig  behauen  fand,  so  wird  auf  ein  jüngeres 
Denkmal  geschlossen.  Die  zweite  Kupfertafel,  die  davon  eine 
Abbildung  liefert,  fehlt  in  unserem  Exemplar. 

[anonym.] 


2V 


324  BRYNJULFSEN,  PERICULÜM  RUNOLOGICÜM. 


1017  OM  RÜNESKRIFTENS  OPRINDELSE. 

Af  Jakob  Homemann  Bredsdorflf.     Kopenhagen.    Bei  Andreas  Seidelin     1822. 
19  S.  in  4.     Mit  einer  Kupfertafel. 

PERICULÜM  RUNOLOGICÜM. 

Dissertatio  inauguralis  quam   pro  summis  in  philosophia   honoribus  rite  impe- 

trandis  publicae  disquisitioni  subjicit  Gislius  Brynjulfi  fil.  Isl.  Pastor  ecclesiae 

Holmensis  in  Islandia  orientali,  respondente  Thorleifo  Gudmundi  Repp  Islando. 

Kopenhagen.     Hei  Hartw.  Friedr.  Popp.     1823.     147  S.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  II,  103.  Stück,  den  26.  Juni  1824. 
S.  1017-1032. 


A, 


uch  für  die  Runen  scheint  sich  im  Norden  ein  frischer 
Eifer  zu  regen.  Wir  zeigen  hier  zwei  Schriften  darüber  an, 
die  kurz  hinter  einander  erschienen  sind,  eine  dritte  von  Lilje- 
gren  zuLund,  für  die  wir  ein  günstiges  Vorurth eil  hegen  müssen, 
da  sie  von  der  königl.  Akademie  zu  Stockholm  ist  gekrönt 
worden,  haben  wir  uns  noch  nicht  verschaffen  können  und  wir 
behalten  uns  vor,  darüber  demnächst  zu  berichten.  Wie  er- 
schwert muss  der  Bücherverkehr  in  Schweden  überhaupt  sein,  da 
1018  diese  Preisschrift  noch  nicht  einmal  in  das  benachbarte  Däne- 
mark gedrungen  war,  wie  wir  hier  ausdrücklich  angemerkt  finden. 
Man  kann  es  dem  Verfasser  der  letztgenannten  Schrift, 
Hrn.  Brynjulfsen,  nicht  vorwerfen,  dass  er  von  der  Wichtigkeit 
der  Runen  zu  gering  denke  oder  mit  einer  allzukühlen  Kritik 
seinen  Gegenstand  behandle.  Während  auf  der  einen  Seite  die 
Meinung  noch  ihre  Anhänger  hat,  welche  in  den  Runen  nichts  An- 
deres als  verderbte  lateinische  Buchstaben  erblickt  (eine  Meinung, 
der  Rec.  zwar  nicht  zugethan  ist,  die  aber  gewiss  Rücksicht 
verdiente,  wenn  sie  mit  Scharfsinn  und  Gelehrsamkeit  vertheidigt 
würde  und  nicht  wie  von  vielen  nur  aus  Bequemlichkeit  bei- 
behalten, um  die  Sache  schnell  abzuthun),  äussert  sich  auf  der 
anderen  Seite,  um  hohes  Alter  und  Originalität  behaupten  zu 
können,  Hr.  Brynjulfsen  mit  einer  Kühnheit,  die  seit  Rudbeck 
in  der  altnordischen  Litteratur  schwerlich  ist  gehört  worden. 
Nicht  genug,  dass  man  zugibt,  das  runische  Alphabet  zeige  mit 
dem  phönicischen,  altgriechischen,  celtiberischen,  gothischcn  und 


BRYNJULFSEN,  PERICULUM  RUNOLOGICÜM.  325 

anderen  eine  gewisse  Verwandtschaft,  welche  ihm  gleichwohl 
etwas  Eifjenthüraliches  und  Unabhängiges  lasse  und  auf  einen 
früheren  gemeinschaftlichen  Ursprung  hindeute;  nein,  er  will 
die  Bande  dieser  Verwandtschaft  genau  angeben  und  nichts  Ge- 
ringeres beweisen,  als  dass  die  Runen  bei  einem  über  alle  Ge- 
schichte hinausgehenden  Alter  als  die  Grundlage  aller  übrigen 
Buchstabenschrift  von  Europa  und  Asia,  mithin  als  der  wich- 
tigste Theil  der  Paläographie  beider  Welttheile  zu  betrachten 
seien.  Hier  kann  es  nun  nicht  ohne  eine  Musterung  der 
menschlichen  Racen  und  ihrer  Verbreitung  auf  der  Erde  ab- 
gehen.  Demnach  besteht  die  Untersuchung  eigentlich  aus  zwei 
Theilen:  in  dem  einen,  den  wir  den  phantastischen  nennen 
wollen,  wird  Erfindung  und  Ursprung  der  Schrift  und  ihre 
Vertheilung  auf  der  Welt  abgehandelt;  erst  in  dem  anderen, 
wo  von  den  wirklichen  Runen  die  Rede  ist ,  gelangen  wir  zu  ioi9 
unserem  Gegenstand. 

Rec.  will  sich  bei  der  ersten,  gleichwohl  den  meisten  Raum 
wegnehmenden  Abtheilung  (denn  die  beiden  Abschnitte:  de 
comparatione  inter  Runas  et  alia  alphabeta  und  de  Runarum 
origine  et  prima  propagatione  gehören  hierher)  kurz  fassen; 
dies  ist  nicht  leicht,  da  eine  Behauptung  die  andere  drängt. 
Hr.  Brynjulfsen  nimmt  drei  Menschenracen  an:  Neger,  Mongolen 
und  Caucasier.  Die  Neger,  als  die  geringste,  besitzen  keinerlei 
Art  Schrift;  die  etwas  höher  stehenden  Mongolen,  unter  welchen 
die  Chinesen  die  vornehmsten  sind,  haben  Bilderschrift  (kyrio- 
logische),  aber  keine  Buchstaben,  diese  wurden  erst  von  der 
edelsten  Race,  den  Caucasiern,  und  zwar  durch  Verwandlung 
der  Bilderschrift  erfunden.  Dabei  werden  vorübergehende, 
nicht  dauernde  Völker  vorausgesetzt,  wie  die  Finnen,  Gelten 
und  Semiten.  Auf  den  Höhen  des  Caucasus  bildete  sich  aus 
den  beiden  letztgenannten,  den  Gelten  und  Semiten,  der  gothisch- 
caucasische  Stamm,  welcher,  bestimmt  zum  Herrn  der  Welt, 
auszog,  Besitz  von  seinem  Eigenthum  zu  nehmen.  Nun  ent- 
standen „asiatische  und  europäische  Gothen".  Jene  zertheilten 
sich  abermals  mannigfach  (indem  sie  sich  mit  früher  vor- 
handenen, von  ihnen  besiegten  Nationen  mischten)  in  Chal- 
däer,   Ägypter   und  Indier;    und   aus  der  caucasisch-gothischen 


326  BRYNJULFSEN,   PERICULUM  RUNOLOGICUM. 

und  semitischen  Vereinigung  bildeten  sich  Mischsprachen,  der- 
gleichen die  ägyptische  und  das  Sanskrit  sollen  gewesen  sein. 
Die  nach  Europa  gewanderten  caucasischen  Gothen  aber  werden 
in  drei  Völker  getheilt:  in  die  Gothen  (die  der  Verf.  die  eigent- 
lichen nennt),  welche  den  skandinavischen  Norden  in  Besitz 
nahmen,  in  die  Germanen  und  in  die  Thracier,  aus  welchen  dann 
die  Hellenen,  Etrusker,  Pelasger  hervorgiengen.  Noch  andere 
Völker,  wie  die  Slaven,  sind  aus  gothischem  Zusammenfluss  (ex 
colluvie  gothica)  aufgewachsen. 
1020  Die   Erfindung   der   Buchstaben,    die   der  Verf.   überhaupt 

Runen  nennt,  ist  bei  den  gothischen  Caucasiern  durch  einen 
scharfsinnigen  Geist,  wohl  in  einer  glücklichen  Stunde,  gemacht 
worden.  Dieser  Übergang  aus  der  rohen  Bilder-  in  die  Buch- 
stabenschrift (der  anderen  fast  unbegreiflich  ist)  dünkt  dem 
Verf.  natürlich  und  ziemlich  leicht;  man  kann  §  23  nachsehen, 
wie  er  sich  den  Hergang  der  Sache  vorstellt.  Er  scheint  den 
Unterschied  zwischen  einer  Tonschrift,  die  auch  wohl  eine  un- 
regelmässige Silbenschrift  werden  kann  und  leicht  aus  Zeichen 
oder  Bildern  entspringt,  und  einer  Buchstabenschrift,  die  ein 
organisch  gegliedertes  Alphabet  voraussetzt,  nicht  bedacht  zu 
haben.  Auffallend  ist  die  Behauptung,  die  S.  58  vorkommt, 
dass  gleich  anfangs  verschiedene  Namen  und  Zeichen  für  einen 
und  denselben  Laut  vorhanden  gewesen  wären.  Wozu  dieser 
zwecklose  und  verirrende  Uberfluss?  und  zwar  bei  einem  Geist, 
der  Scharfsinn  genug  besass,  die  Sprachlaute,  die  sich  der 
ersten  Beobachtung  in  einer  beinahe  unerfasslichen  Verschieden- 
heit darstellen  müssen,  in  ihren  Grundelementen  richtig  aufzu- 
finden? der  ferner  im  Stande  war,  die  kyriologischen  Zeichen, 
deren  wir  doch  eine  verhältnismässig  grosse  Anzahl  voraussetzen 
dürfen,  auf  16  oder  wie  der  Verf.  will  gar  auf  14  zu  redu- 
cieren?  Ort  und  Zeit  der  Erfindung  sind  freilich  nicht  zu  be- 
stimmen, aber  in  der  allerältesten  Periode  muss  sie  doch  ge- 
macht sein,  bevor  die  Caucasier  sich  in  die  Welt  vertheilten, 
noch  in  ihren  ersten  Wohnsitzen. 

Man  sollte  meinen,  wo  diese  Caucasier  sich  ausgebreitet 
hätten,  sei  es  im  Orient  oder  Occident,  immer  müsste  die 
Grundlage  der  von  ihnen   erfundenen  Buchstaben  sichtbar  sein. 


BRYNJDLFSEN,  PERICULDM  RÜXOLOGICUM.  327 

Da  dies  bei  den  meisten  semitischen  Alphabeten  augenscheinlich 
nicht  der  Fall  ist,  so  nimmt  Hr.  Brynjulfsen  an,  diese  seien  durch 
Zusätze  und  Veränderungen  so  sehr  entstellt  worden,  dass  man 
den  runischen  Ursprung  nicht  mehr  entdecken  könne :  mit  anderen  1021 
Worten,  es  sind  Runen,  die  nichts  mehr  mit  den  Runen  gemein 
haben.  Diese  Bemerkung  beschränkt  gar  sehr  die  Anwendung  der 
Hypothese.  Die  übrigen  aber,  also  das  phönicische,  persische, 
armenische,  die  nicht  semitischen :  das  altgriechiscbe,  celtiberische, 
lateinische  usw.  sind  in  dem  ersten  Abschnitt  aufgeführt  und 
mit  den  Runen  verorlichen.  Hier  o-ibt  es  abermals  Bedenken : 
warum  stimmen  nicht  wenigstens  jene  Buchstaben  aller  Orten 
tiberein,  bei  deren  Lauten  Übergänge  und  Veränderungen  nicht 
stattfinden?  Dies  zu  erklären,  hat  der  Verf.  den  vorhin  er- 
wähnten seltsamen  Satz  von  einer  ursprünglichen  Verschieden- 
Leit  der  Zeichen  für  denselben  Laut  nöthig,  ausserdem  ändert 
er  auch  seine  Meinung  von  einer  einzigen  Grundlage  dahin  ab, 
■dass  er  behauptet,  man  müsse  die  verschiedenen  Alphabete  be- 
trachten als  Flüsse,  zwar  aus  einer  einzigen,  aber  chaotischen 
Quelle  entsprungen. 

Wir  haben  wohl  über  diesen  Bestandtheil  des  Buchs  schon 
unsere  Meinung  geäussert,  indem  wir  ihn  vorhin  den  phan- 
tastischen nannten.  Was  ist  hier  nicht  zusammengesponnen, 
welche  verschiedene  Fäden  sind  nicht  in  einander  gedreht  I  Gleicht 
das  System  des  Verf.  nicht  einer  illuminirten  Landkarte,  die 
nass  geworden  ist  und  deren  Farben  aus  einer  Gegend  in  die 
andere,  aus  einem  Welttheil  in  den  anderen  geflossen  sind?  An 
eigentliche  Beweise  konnte  nicht  gedacht  werden,  sondern  alles 
ist,  wie  es  der  Verf.  für  seinen  Zweck  nöthig  fand,  dogmatisch 
vorgetragen.  Damit  Rec,  der  an  solchen  Arbeiten  seiner  Na- 
tur nach  keine  Freude  hat,  nicht  ungerecht  werde,  wiU  er  gern 
zugeben,  dass  Eins  und  das  Andere  witzig  ausgedacht  und 
manche  Bemerkung  sinnreich  ist.  Überhaupt  fehlt  es  Hrn. 
Brynjulfsen  weder  an  gelehrter  Belesenheit  noch  an  Leichtigkeit 
in  der  Behandlung  seines  Gegenstandes.  Rec.  ist  an  sich  gar  nicht  1022 
abgeneigt,  Verwandtschaft  und  Zusammenhang  aller  wirklichen 
Buchstabenschrift  anzunehmen,  denn  schwerlich  ist  die  Erfindung 
auf  der  Welt  zweimal    gemacht    worden;    sollen    wir   aber   auf 


328  BRYNJULFSEN,  PERICULÜM  RUNOLOGICUM. 

eine  fruchtbare  Art  zur  Einsicht  davon  gelangen,  so  würde  er 
lieber  den  fast  entgegengesetzten  Weg  anrathen :  von  dem 
Sicheren  und  Einzelnen  ausgehend  langsam  und  mit  Mühe  auf- 
wärts Bahn  zu  brechen.  Eine  allseitige  und  genaue  Erklärung 
eines  einzigen  Denkmals,  die  im  Dunkel  lässt,  was  sie  nicht 
aufhellen  kann,  wird  dennoch  mehr  Licht  in  die  Vorzeit  werfen, 
als  hundert  einander  ablösende  Vermuthungen  und  sinnreiche 
Ideen  über  den  Mittelpunkt,  von  welchem  man  alles  überschauen 
könne.  Was  sollen  nun  die  allgemeinen  und  oberflächlichen 
Vergleichungen,  die  im  ersten  Abschnitte  angestellt  sind?  Es 
kommt  hier  alles  darauf  an,  Mittelglieder  und  Übergänge  aus 
Denkmälern  darzuthun,  Rec.  zweifelt  gar  nicht,  dass  die  ver- 
schiedensten Zeichen  eines  Buchstaben  dennoch  von  einander 
abstammen  können,  es  muss  nur  auf  jenem  Wege  bewiesen 
werden,  wie  es  der  gelehrte  Paläograph  Kopp  bei  den  semitischen 
Alphabeten  gethan  hat.  Kein  Mensch  kann  bis  jetzt,  soviel 
Rec.  weiss,  eine  einzige  Inschrift  der  celtiberischen  Münzen  mit 
einiger  Sicherheit  lesen,  warum  ein  unzuverlässiges  Alphabet 
neben  das  runische  aufstellen?  Mehr  als  den  längst  erkannten, 
in  die  Augen  leuchtenden  Satz  von  Verwandtschaft  der  Züge 
gewinnt  niemand  dadurch;  dasselbe  gilt  von  dem  §  18  ange- 
führten sogenannten  phrygischen  Alphabet.  Wem  nützt  es^ 
dass  das  sichtbar  erfundene  ogumitische,  bloss  der  Möglichkeit 
wegen,  etwas  Echtes  darin  noch  zu  entdecken,  herbeigeholt  wird? 
Irgendwo  steht  ein  Alphabet,  das  ein  saracenisches  genannt  ist, 
dem  Verf.  fällt  es  nicht  schwer,  damit  fertig  zu  werden:  „viel- 
leicht irre  ich  gar  nicht,  sagt  er,  wenn  ich  es  für  ein  hunisches 
oder  alanisches  halte",  und  bringt  es  §  12  zu  erbaulicher  Ver- 
1023  gleichung  neben  das  runische;  dabei  gibt  er  die  angelsächsisch- 
deutsche Rune  M  für  B  aus.  Das  russische  Tscherf  wird  S.  32 
mit  dem  runischen  S  zusammengestellt,  und  bald  darauf  kann 
man  dasselbe  Zeichen  als  phönicisches  K  neben  dem  runischen 
Kann  erblicken.  Wer  vermag  auch  nur  einige  Ähnlichkeit 
zwischen  dem  persischen  und  runischen  A  und  N  (S.  40)  auf- 
zufinden, und  wenn  nun  gar  noch  ein  Zeichen  aus  der  perse- 
politanischen   Keilschrift  (S.  41)   und   Figuren   aus   den   Hiero- 


BRYXJULFSEN,  PERICULUM  RUNOLOGICUM.  329 

p-lvphen    herzugetragen    und   mit   Runen   verglichen   werden,   so 
verliert  man  alle  Geduld. 

Erst  §  35  kommen  wir  auf  Grund  und  Boden  zu  stehen^ 
wo  die  Untersuchung  bei  den  eigentlichen  Runen  anlangt.  Die 
nordischen  stellen  nach  des  Verf.  Meinung  unter  allen  asiatischen 
und  europäischen  Alphabeten  am  reinsten,  wiewohl  auch  nicht 
ohne  Veränderung,  die  alte  gothisch-caucasische  Erfindung  dar. 
Wir  begegnen  gleich  einer  Hypothese  über  die  ursprüngliche 
Zahl  derselben.  Zuffesetzt  sollen  sein:  das  dem  lateinischen 
ähnliche  Zeichen  für  R  und  ursprünglich  echt  nur  das  andere 
R-Zeichen,  welches  jetzt  das  R  finale  anzeigt  und  von  den  Is- 
ländern auch  für  Y  gebraucht  wird;  sodann  die  Osrune  als  ein 
zweimal  gestrichenes  runisches  A,  denn  wie  der  spätere  Vocal 
-E  kein  runisches  Zeichen  habe,  so  müsse  dasselbe  auch  von 
dem  späteren  Vocal  O  gelten.  Wir  wollen  dies  als  Vermuthung 
bestehen  lassen,  weiter  ist  aber  damit  nichts  anzufangen,  da  in 
den  ältesten  Denkmälern,  wie  Hr.  Brynjulfsen  selbst  bemerkt, 
beide  Runen  schon  o-ebraucht  werden.  Sonst  möchte  er  ijerne 
noch  den  Satz-  durchführen  (wovon  auch  §  25  und  26  die  Rede 
ist),  dass  in  dem  Runenalphabet  kein  überflüssiger  Buchstabe 
und  ausser  den  Vocalen  und  Liquiden  für  jede  andere  Reihe 
nur  ein  einziges  Zeichen  vorkomme,  dies  ist  aber  insoweit  nicht 
richtig,  als  die  Linguallaute  zwei  Zeichen  haben:  T  und  TH; 
denn  dass  in  der  nordischen  Sprache  allein  die  aspirata  TH 
sich  finde,  ist  theils  nicht  wahr,  theils  bleibt  es  immer  ein  1024 
Linguallaut.  Eine  andere  Hypothese  betrifft  die  hieroglyphische 
Gestalt  der  Runen,  welche  §  36  abgehandelt  wird.  Da  die 
Runen  aus  Bilderschrift  sich  sollen  entwickelt  haben  und  der  ur- 
sprünglichen Erfindung  noch  ziemlich  nahe  stehen,  so  muss  sich 
das  Bildliche  darin  wohl  deutlich  erkennen  lassen.  Man  denkt, 
diese  Folgerung  aus  seinem  System  setze  den  Verf.  in  Verlegen- 
heit, weil  die  Runen  sich  als  die  einfachsten  Zeichen  von  der 
Welt  darstellen,  aber  dies  ist  der  Fall  nicht,  er  geht  frisch  ans 
Werk.  Einige  Beispiele  wollen  wir  anführen,  wie  er  das,  was 
der  Name  der  Rune  aussagt,  auch  in  der  Gestalt  wieder  findet. 
Das  runische  F   bedeutet  ein  Stück  Vieh,  mit  den  zwei  Quer- 


330  BRYNJULFSEN,  PERICULUM  RUNOLOGICUM. 

strichen  werden  die  Vorder-  und  Hinterfüsse  bezeichnet.  N  ist 
«in  Seil  mit  einem  Knoten  und  erinnert  an  die  Quippus  der 
Peruaner,  und  diese  sind  §  22  zu  den  Anfängen  der  Zeichen- 
schrift gerechnet  worden.  Die  Yr-Rune  ein  Mann,  der  zu  Pferde 
sitzt,  dagegen  das  M  (dasselbe  Zeichen  umgekehrt)  einer,  der 
die  Hände  gen  Himmel  streckt.  B  (dem  lateinischen  gleich) 
ein  Birnbaum;  I  ein  Eiszapfen;  L  Meer,  in  das  ein  Fluss  sich 
ergiesst.  Ahnliches,  zum  Theil  dasselbe  schon  bei  Ol.  Worm. 
Reo.  glaubt  weder  an  hieroglyphische  Entstehung  der  Runen, 
noch  von  allen  hier  gegebenen  Erklärungen  ein  Wort;  er  wüsste 
kaum  etwas,  das  man  auf  diese  Art  nicht  in  den  Paar  Strichen 
finden  könnte. 

Bei  dem  angelsächsischen  und  deutschen  Runenalphabet 
stellt  der  Verf.  die  Behauptung  auf  (S.  99,  vgl.  103  Note  2), 
es  sei  nach  dem  lateinischen  aus  Liebe  zur  Neuerung  ver- 
ändert und  die  Buchstaben,  die  es  mehr  habe  als  das  nordische, 
seien  dorther  entlehnt,  ihnen  jedoch  dabei  etwas  Runisches  bei- 
gemischt worden.  Beides  ist  völlig  ungegründet,  wie  sich  jeder, 
der  eine  Vergleichung  anstellen  will,  überzeugen  kann  (sie  sind 
1025  bloss  zierlicher  auf  Pergament  geschrieben ,  als  sie  in  Stein 
konnten  gehauen  werden) ;  die  Runen  aber,  die  es  mehr  besitzt, 
sind  ganz  in  dem  Charakter  der  übrigen.  Bloss  sein  System 
verführte  Hrn.  Brynjulfsen  zu  der  Behauptung,  da  die  Caucasier 
von  diesen  dem  Norden  fehlenden  Runen  nichts  können  ge- 
wusst  haben.  Das  E  soll  ein  umgekehrtes  lateinisches  E 
sein,  wollte  sich  der  Verf.  bloss  an  das  Zeichen  halten,  so 
'  hätte  er  gesagt:  ein  umgekehrtes  griechisches  ^.  Allein,  will 
man  doch  eine  Vermuthung  wagen,  das  Zeichen  ist  eher  aus 
einem  doppelten,  gegen  einander  gestellten  nordischen  A  ent- 
standen; wenn  man  sich  dort  zur  Bildung  neuer  Buchstaben 
des  Punkts  bediente,  so  scheint  man  hier  Verdoppelung  der 
Zeichen  gewählt  zu  haben.  Die  Tag -Rune  ist  z.  B.  sichtbar 
aus  zwei  gegeneinander  gestellten  Dorn -Runen  entstanden,  so 
wie  auch  in  der  Gibu-Rune  sich  eine  Verdoppelung  kund  gibt. 

An  dieser  Stelle  wollen  wir  einen  besonderen  Tadel  ein- 
rücken. Nämlich  der  Verf.  hat  in  der  Ausarbeitung  seiner 
Schrift  nicht  die  Genauigkeit  gezeigt,   wozu  ein  solcher  Gegen- 


BRYNJULFSEN,  PERICULUM  RUNOLOGICUM.  331 

stand  doppelt  anmahnt.  Beispiele  zu  geben,  sehen  wir  nur 
einige  Blätter  durch.  S.  104  wird  den  Deutschen  ein  Verbum 
gewriten  zugeschrieben,  was  sie  niemals  gehabt  und  Hr.  Bryn- 
julfsen  aus  Verwechselung  mit  dem  angelsächsischen  writan  mag 
gebildet  haben ;  das  Richtige  wäre  rizan  gewesen.  Auf  derselben 
Seite  in  der  Note  fehlen  in  der  Stelle  des  Hraban.  Maurus  die 
Worte  „infra  scriptas  habemus".  S.  105  zweifelt  der  Verf.  gar 
nicht,  dass  die  Zeichen  auf  dem  Klingenberger  Thurm  in 
Böhmen  zu  den  deutschen  Runen  gehören ;  Rec.  meint,  das  Gegen- 
theil  falle  ziemlich  klar  in  die  Augen.  Es  ist  ferner  von  einer 
Abzeichnung  Mi  Hins  die  Rede;  die  Sache  ist,  dass  Grossigs 
Abbildung  und  Beschreibung  durch  eine  Übersetzung  von  Kraft 
in  Millins  annales  encyclopediques  gekommen  ist,  der  weiter 
nichts  dabei  gethan  hat.  Ausserdem  befand  sich  ja,  wie  wiri026 
aus  den  Antiquarischen  Annalen  III,  392  wissen,  eine  berichtigte 
Abzeichnung  von  Hammer  zu  Kopenhagen,  die  Hr.  B.  billig 
hätte  nachsehen  sollen.  S.  106  wird  von  der  Urne  bei  Bayer 
gesprochen,  da  die  Zeichen  rund  um  den  Bauch  laufen,  so  sind 
sie,  damit  man  sie  im  Zusammenhang  betrachten  könne,  auf 
einem  Ring  neben  dem  Gefäss  besonders  abgebildet.  Hr.  Bryn- 
julfsen  hat  nur  den  flüchtigsten  Blick  darauf  geworfen,  sonst 
würde  er  nicht  von  zwei  Dingen,  einer  Urne  und  einem  Ring, 
reden  und  die  Identität   der  Zeichen  sogleich  erkannt  haben. 

§  42  wird  die  Inschrift  auf  dem  einen  der  beiden  bei  Galle- 
huus  gefundenen  Goldhörner  vorgenommen;  hier  haben  wir  es 
also  mit  einem  wirklichen  Denkmal  zu  thun.  Darin  stimmt 
Rec.  mit  Hrn.  B.  überein,  dass  die  Buchstaben  darauf  Runen 
und  zwar  angelsächsisch  -  deutsche  sind  und  die  Hypothese  von 
dem  celtiberischen  Ursprung  dieser  Hörner,  die  P.  E.  Müller 
gelehrt  ausgeführt  hat,  sich  nicht  erhalten  kann.  Bis  jetzt 
kennen  wir  sieben  Erklärungen  dieser  Inschrift,  jede  völlig  ver- 
schieden und  jede  mühsam  herbeigeholt  und  wenig  ansprechend. 
Die  achte  hier  ist  gleichfalls  ganz  neu:  Tovido  ek  (ok)  Hlevo 
gortim  hol  tisom  horno  (Tovidus  et  Hlevur  fecimus  tumulum 
bis  cornibus).  Wir  übergehen  der  Kürze  wegen  ein  Paar  Ab- 
weichungen, die  der  Verf.  noch  vorschlägt.  Das  S  wird  nach 
einer  blossen  Vermuthung  gelesen.    Die  Formen  der  Worte  sind 


332  BRYNJÜLFSEN,  PERICULUM  RUXOLOGICUM. 

bis  auf  hol  (den  Accus,  von  holl)  unrichtig  oder  ungewöhnlich: 
horno  müsste  hornom  lauten,  indessen  finden  sich  in  den  Runen- 
inschriften nicht  selten  Beispiele,  wo  das  M  am  Ende  ausge- 
lassen ist,  das  wäre  also  wohl  statthaft,  ebenso  gördim  für 
gördum ;  aber  wo  sind  Belege  dafür,  dass  auch  das  R  am  Ende 
fehlen  dürfe,  also  Tovido  und  Hlevo  für  Thorvidur  und  Leifur 
stehen  könne?  Rec.  weiss  keine,  finden  sie  sich  irgendwo,  so 
sollten  sie  von  Rechtswegen  beigebracht  sein.  Und  nun  der 
1027  Sinn  des  Ganzen :  mit  zwei  Hörnern  einen  Hügel  errichten ! 
Wenn  es  noch  hiesse,  sie  wären  in  einen  Hügel  gelegt  worden. 
Es  gehört  aber,  damit  der  Sinn  verständlich  werde,  noch  eine 
Erzählung  dazu:  wahrscheinlich  waren  diese  kostbaren  Gold- 
hörner  ehemals  Eigenthum  eines  kleinen  jütländischen  Königs; 
bei  einer  herannahenden  Gefahr  oder  aus  irgend  einem  anderen 
Grund  verbarg  er  sie  in  einen  Hügel  und  fügte  zum  Andenken 
auf  eins  die  Inschrift  hinzu.  Woraus  denn  folgt,  dass  die 
Hörner  selbst  viel  älter  sind.  Dem  Rec.  deucht  nicht  nur  diese 
ganze  Voraussetzung  äusserst  gezwungen,  sondern  er  meint,  es 
sei  noch  ein  Anhang  zu  der  Erzählung  nöthig:  der  Eigenthümer 
der  Hörner  müsse  nämlich  hernach  mit  all  den  Seinigen  in  der 
Gefahr  umgekommen  sein,  so  dass  niemand  etwas  mehr  von 
den  vergrabenen  Kostbarkeiten  habe  wissen  können,  sonst  wären 
sie  wahrscheinlich  wieder  hervorgeholt  worden.  Wollte  man 
nun  alles  zugeben,  so  bleibt  immer  unwahrscheinlich,  dass  bei 
einer  bevorstehenden  grossen  Gefahr  noch  Lust  und  Zeit  zu 
einer  Inschrift  übrig  gewesen  wäre.  Endlich  widerlegt  die  Art, 
wie  die  Goldhörner  sind  gefunden  worden,  den  Verf.  völlig,  und 
man  begreift  nicht,  wie  er  das  hat  übersehen  können.  Keines- 
wegs in  einem  Hügel  haben  sie  gelegen,  sondern  auf  flachem 
Boden  und  nicht  beisammen,  sondern  25  Schritte  von  einander. 
Das  erste  konnte  kaum  unentdeckt  bleiben,  denn  die  Finderin 
hat  zwei  Mal  mit  dem  Fuss  daran  gestossen,  ehe  sie  es  auf- 
hob: und  das  zweite  lag  nur  einen  halben  Schuh  tief  in  dem 
Lehm.  —  Warum  ist  Hr.  Brynjulfsen  nicht  auf  den  einfachen 
Gedanken  gekommen,  die  Inschriften  anderer  Hörner  nachzu- 
lesen und  zu  vergleichen?  Dass  nicht  jede  verschieden  war, 
sondern  man  dabei  einer  gewissen  Sitte  und  Überlieferung  folgte, 


BRYNJULFSEX.  PKRICULUM  RUNOLOGICUM.  333 

scheint  eine  sehr  natürliche  Vermuthung.  So  findet  mau  den 
Spruch:  o  mater  Dei,  memento  meil  nicht  bloss  auf  dem  be- 
kannten Oldenburger,  sondern  auch  auf  einem  anderen  Hörn, 
welches  bei  Ol.  Worm  monum.  dan.  p.  395  abgebildet  ist.  In  1028 
den  Antiquar.  Annalen  III,  279  wird  eins  beschrieben,  worauf 
in  nordischer  Sprache  steht:  „trinket  mit  Frieden,  vergesset 
nicht  des  lebendigen  Gottes!^  Dazu  bemerkt  Nyerup  aus 
Humboldts  Reise  eine  deutsche  Inschrift  mit  alten  Buchstaben, 
die  dieser  auf  einem  irdenen,  nach  Quito  gekommenen  und  dort 
in  einem  Kloster  aufbewahrten  Topfe  las:  „wer  aus  mir  trinkt, 
vergesse  seines  Gottes  nicht  I"  Also  beinah  wörtlich  mit  jener 
nordischen  übereinstimmend.  Darf  man  nun  nicht  muthmassen, 
auch  die  Inschrift  des  Tondernschen  Hornes  beziehe  sich  am 
wahrscheinlichsten  auf  den  Gebrauch  desselben?  Wenn  nun 
darauf  stände:  „ich  bin  die  Lust  der  Gäste"  oder  dergleichen 
und  dann  eine  Ermahnung  zum  Trinken?  Das  wäre  doch  ein 
sehr  passender  Sinn.  Ausser  Zweifel  ist  uns  nur  das  Wort 
hörne,  das  Hr.  Brynjulfsen  fälschlich  horno  liest,  die  letzte 
Rune  ist  hier-  (wie  in  dem  schleswigischen  Stein  und  anderen 
Denkmälern)  kein  O,  sondern  ein  E.  Damit  aber  Rec.  nicht 
ganz  mit  leeren  Händen  erscheine,  will  er  eine  Vermuthung 
über  das  letzte  oder,  wie  man  abtheilt,  das  erste  Wort  äussern, 
dessen  feinere  oder  dünnere  Buchstaben  (vgl.  die  Abbildung  bei 
P.  E.  Müller),  wodurch  es  sich  von  dem  Übrigen  auszeichnet, 
vielleicht  einen  geschlossenen  Sinn  andeuten  und  welches  Hr.  B. 
Tovido  oder  auch  tovimo  liest.  Rec.  hält  die  zweite  Rune  für 
ein  E,  die  dritte  für  ein  TH  und  bekommt  demnach  das  Wort 
tethimo ;  darin,  glaubt  er  aber,  habe  eine  Versetzung  der  Runen 
stattgefunden ,  eine  Annahme,  die  nur  dem  zu  gewagt  und  kühn 
erscheinen  wird,  welcher  nicht  weiss,  wie  häufig  sie  bei  der 
Runenschrift  stattfindet  und  wie  verschieden  z.  B.  die  Buch- 
staben von  dem  einfachen  Wort  steinn  gestellt  sind.  Er  liest 
ohne  Veränderung  eines  Buchstaben  temitho,  nach  genauer 
Orthographie  toemi  thü!  welches  bedeutet:  leer'  aus!  trink  aus! 
der  Imperat.  toemi  für  das  gewöhnliche  toem  ist  ein  Archais-  1029 
mus,  den  man  in  der  alten  Edda  (II,  316,  Note  1-22)  angemerkt 
und  durch  weitere  Beispiele  erläutert  findet.     Toema,  evacuare. 


334  BRYNJCLFSEN,  PERICULUM  RUNOLOGICUM. 

steht  bei  Biörn  Haldorson  (nicht  ganz  genau  taema  geschrieben), 
und  die  Anwendung  des  Ausdrucks  beim  Leeren  des  Bechers 
verbürgt  das  noch  heute  übHche  dänische  toemme  glasset.  Und 
so  wäre  zugleich  eine  bestätigende  Übereinstimmung  mit  den 
vorhin  angeführten  Inschriften  und  am  nächsten  mit  den  auf 
dem  Oldenburger  Hörn  gleichfalls  vorkommenden  Worten :  drinc 
al  uit!  gefunden. 

§  45  soll  durch  die  Geschichte  des  Amleth  bei  Saxo  Gram- 
maticus  das  hohe  Alter  von  dem  Gebrauch  der  Runenschrift 
bewiesen  werden,  indem  Amleth  im  5.  oder  6.  Jahrhundert  ge- 
lebt habe.  Wir  glauben,  ein  solches  Zeugnis  beweise  fürs  erste 
nur  Saxos  Kenntnis  der  Runen  und  daher  eigentlich  nichts. 
Wer  wie  dieser  Geschichtschreiber  das  Einzelne  ausschmückt, 
wird  kein  Bedenken  tragen,  die  Verfälschung  eines  runischen 
Briefs  hinzuzudichten.  Zum  Uberfluss  hat  P.  E.  Müller  soeben 
in  seinen  Untersuchungen  über  Saxos  Quellen  die  ganze  Er- 
zählung vom  Amleth  als  eine  spätere  Dichtung  dargestellt. 

Bei  Betrachtung  der  nordischen  Runen  theilt  der  Verf. 
einiges  Neue  und  Merkwürdige  aus  isländischen,  sonst  noch  nicht 
benutzten  Handschriften  mit,  wofür  wir  ihm  Dank  wissen.  Da- 
hin gehört  S.  134.  135  die  Anmerkung  über  künstliche  Runen, 
deren  es  dreissig  und  mehrere  Arten  gab.  Das  runische  Alpha- 
bet wurde  in  drei  Theile  getheilt  (daher  thrideilur),  nämlich  in 
die  Fe-Reihe  oder  Geschlecht,  welche  die  Buchstaben  F  U  TH 
O  R  K,  in  die  Hagal-Reihe,  welche  H  N  I  A  S,  und  in  die 
Tyr-Reihe,  welche  T  B  L  M  R  enthielt.  Sollte  nun  ein  Buch- 
stabe bestimmt  werden,  so  wurde  immer  nur  F  geschrieben, 
aber  durch  vor-  und  nachgesetzte  Zahl  bestimmt,  aus  welcher 
Reihe  er  war  und  welchen  Platz  er  darin  einnahm.  Si- 
gurdr  hätte  also  folgendergestalt  müsssen  geschrieben  werden: 
1030  2F*  (S)  2F1  (I)  IF'^  (K  für  G)  IPi  (U)  IF*  (R)  IF'^  (D)  3F4  (uR). 
Das  Merkwürdigste  dabei  ist,  dass  diese  freilich  äusserst  un- 
beholfene Geheimschrift  schon  geradeso  in  einem  St.  Galler 
Codex  des  10.  Jahrhunderts  vorkommt,  woraus  sie  in  dem 
Grimmischen  Buche  über  Runen  S.  110.  111  mitgetheilt  ist. 

Eine  andere  schätzbare  Anmerkung  über  die  magischen 
Charaktere  der  Isländer  steht  S.  140.  141  und  S.  125  die  Nach- 


OM  RUNESKRIFTEXS  OPRINDELSE  AF  BREDSDORFF.  335 

rieht,  dass  zwei  Steine  mit  angelsächsisch -deutschen  Runen 
neuerdings  in  Norwegen  entdeckt  sind  und  nächstens  von  Klüwer 
sollen  bekannt  gemacht  werden. 

Was  in  der  anderen  Schrift  Hr.  Bredsdorff  über  Abstammung 
der  Runen  vorbringt,  ist  nicht  von  Bedeutung.  Er  macht  den 
unglücklichen  Versuch,  sie  aus  der  gothischen  Schrift  des  UI- 
filas  abzuleiten.  Dass  über  die  Verwandtschaft  beider  Alpha- 
bete bereits  ist  verhandelt  worden,  mag  ihm  unbekannt  ge- 
blieben sein,  wie  er  überhaupt  seines  Gegenstandes  noch  nicht 
hinlänglich  mächtig  erscheint.  Selbst  die  nöthigste  Grundlage 
zu  einer  solchen  Arbeit  hat  er  entbehrt,  indem  er  sich  an  die 
schlechte  und  völlig  unbrauchbare  Abbildung  der  gothischen 
Urkunden  zu  Neapel,  welche  in  Hrn.  Gräters  Bragur  vorkommt, 
hält;  darin  gleicht  z.  B.  das  A  der  umgekehrten  Ziffer  4,  wäh- 
rend in  der  genauen  und  schönen  Nachbildung  von  Sierakowskj^ 
es  eine  ganz  andere,  der  altgriechischen,  wie  wir  sie  etwa  in 
der  Sigeischen  Inschrift  sehen  können,  sehr  ähnliche  Gestalt 
zeigt,  wodurch  denn  Hrn.  Bredsdorffs  Vergleichung  des  gothi- 
schen A  mit  der  Arrune  sogleich  zerfällt.  Wie  gezwungen  und 
unnatürlich  er  das  runische  H  L  M  N  und  die  Osrune  aus  den 
gothischen  Buchstaben  entstehen  lässt,  mag  man  in  der  Schrift; 
nachsehen.  Angenommen  einmal,  die  Abstammung  habe  Grund, 
so  gäbe  es  zur  Überzeugung  keinen  anderen  (als  den  hier  ver- 
schlossenen) Weg,  Übergänge  in  Denkmälern  selbst  nachzu- 
weisen. Hr.  Bredsdorff  sucht  sich  noch  auf  eine  andere  Weise 
zu  schützen;  er  sagt:  wenn  nun  auch  diese  Buchstaben  aus 
dem  Gothischen  nicht  abzuleiten  wären,  so  bewiese  dies  in  Be-  I03l 
Ziehung  auf  die  übrigen  (übereinstimmenden)  nichts.  Rec.  denkt, 
es  beweise  genug,  um  die  UnStatthaftigkeit  der  ganzen  Hypo- 
these darzuthun;  sonst  dürfte  man  ja  die  Runen  von  jedem 
Alphabet,  mit  dem  es  Buchstaben  gemein  hat,  abstammen  lassen. 
Der  Grund  für  den  obigen  Schluss  ist  auffallend:  das  griechische 
Alphabet  enthalte  Zeichen,  die  nicht  in  dem  phönicischen  vor- 
kämen, und  doch  falle  es  niemand  ein,  die  Herkunft  von  daher 
zu  leugnen.  Als  wenn  man  dafür  keine  anderen  Gründe  hätte, 
als  eine  theilweise  Übereinstimmung  und  Abweichung,  keine 
ausdrücklichen  Zeugnisse.    Dann  hat  der  Verf.  noch  den  Einfall: 


336  OM  RUNESKRIFTENS  OPRINDELSE  AF  BREDSDORFF. 

das  gothische  H  und  O  habe  man  deshalb  nicht  beibehalten 
können,  weil  es  für  die  nordische  Art  zu  schreiben  nicht  wohl 
möglich  gewesen  wäre,  sie  nachzubilden,  ohne  dass  eine  grosse 
Ähnlichkeit  mit  anderen  Buchstaben  entstanden  wäre,  weshalb 
man  ihnen  habe  eine  andere  Gestalt  geben  müssen.  Dass  in 
den  Buchstaben  U  und  TH  das  gothische  und  runische  Alphabet 
gegen  das  griechische  und  lateinische  übereinstimmen,  ist  von 
anderen  schon  dargethan;  auch  sonst  haben  wir  unter  den 
richtigen  Bemerkungen  des  Hrn.  Bredsdorff  keine  neue  gefunden. 
Die  Verwandtschaft  aber  des  gothischen  O  und  V  mit  der 
deutschen  Othil-  oder  Wänrune  hat  er  nicht  gekannt,  überhaupt 
nichts  von  den  angelsächsisch  -  deutschen  Runen.  —  Einen 
schlagenden  Beweis  gegen  seine  Hypothese,  welcher  in  der 
grösseren  Vollständigkeit  des  gothischen  Alphabets  liegt,  be- 
rührt Hr.  Bredsdorff  kaum  und  hält  es  für  unnöthig,  dabei 
weitläuftig  zu  sein.  Man  habe  fortgeworfen,  was  man  nicht 
gebraucht,  und  die  unvollkommene  Art  zu  schreiben  (das  Ein- 
schneiden der  Buchstaben  in  Holz)  nur  mit  wenigen  Zeichen 
sich  zu  befassen  erlaubt.  Als  hätte  man  sich  nicht  das  E  G  P  V, 
wofür  doch  Ulfilas  Zeichen  liefern  konnte,  durch  punktirte 
Runen,  die  bereits  auf  einem  der  ältesten  Steine  vorkommen, 
verschafft!  Und  dann,  warum  unter  den  Runen  für  das  R  sogar 
zwei  Zeichen?  Das  zweite  R,  die  Yrrune,  meint  Hr.  Breds- 
dorff, habe  man  deshalb  neu  hinzu  erfunden,  weil  das  andere,  die 
Reidrune,  dem  B  zu  ähnlich  gesehen  vmd  sonst  leicht  eine  Ver- 
wechselungc  vorfallen  können.  Beide  werden  aber  neben  einander 
1032  gebraucht  und  sind  in  der  Bedeutung  nicht  völlig  gleich;  auch 
glaubt  der  nicht  an  solch  eine  Sorgfalt,  Miss  Verständnisse  ab- 
zuwenden, der  sich  erinnert,  wie  nachlässig  so  mancher  Runen- 
stein geschrieben  ist.  An  die  eigenthümliche  Ordnung  der 
Runen,  von  welcher  das  gothische  Alphabet  nichts  weiss,  wird 
nirgends  gedacht. 

Hat  also  vor  Ulfilas  der  Norden  keine  Schrift  gehabt?  Das 
möchte  Hr.  Bredsdorff  nicht  gerne  annehmen,  auch  nicht  gerne 
die  Tradition  Verstössen,  wornach  Odin  die  Runen  selbst  mit- 
brachte. Den  Odin  erst  zu  des  Ulfilas  Zeit,  am  Schluss  des 
4.  Jahrhunderts,  ankommen  zu  lassen,  ist  abermals  bedenklich; 


OM  RÜNESKRIFTENS  OPRINDELSE  AF  BREDSDORFF.  337 

also  entschliesst  er  sich  zu  dem  Ausweg,  dass  Odin  zwar 
Runen  könne  mitgebracht  haben,  aber  nicht  diese,  von  welchen 
hier  die  Rede  ist,  sondern  andere  von  unbekannter  Art,  wie 
z.  B.  jene  auf  dem  Leerager  und  Tuner  Steine.  Holten  sich 
also  die  Nordländer  ein  Alphabet  beim  Ulfilas,  während  sie 
schon  längst  eins  besassen?  während  das  frühere  vollständiger 
war  und  in  seiner  Grundlage  dem  anderen  ähnlich?  Denn  auf 
den  beiden  genannten  Denkmälern  ist  gerade  das  angelsächsisch-  . 
deutsche  Alphabet  zu  erkennen,  wie  in  der  Schrift  über  deutsche 
Runen  ausofeführt  ist.  Wir  wollen  es  bei  diesen  Einwänden 
gegen  des  Verf.  Hypothese  bewenden  lassen. 

Möchte  bald  ein  umfassendes  Werk  über  die  Runen  er- 
scheinen, welches  die  Forderungen  befriedigte,  die  man  heut 
-ZU  Tage  machen  darf.  Seit  Ol.  Worm,  dessen  monumenta  da- 
nica  und  litteratura  runica  sich  ebenso  selten  gemacht  haben, 
als  Göranssons  Bautil  und  andere  schwedische  Schriften  jener 
Periode,  sind  eine  Anzahl  Runensteine  und  darunter  sehr  merk- 
würdige  neu  entdeckt  und  im  Einzelnen  gelehrte  und  schätz- 
bare  Untersuchungen  angestellt  worden.  Skule  Theodor  Thor- 
lacius  hatte  eine  Abhandlung  über  Runen  mehrmals  angekündigt, 
aber  sie  ist  nicht  erschienen,  und  von  einer,  wie  es  scheint,  sehr 
inhaltsreichen  und  ausführlichen,  aber  auch  nicht  vollendeten 
Arbeit  des  John  Olaf  sen  von  Grunnevik  erhalten  wir  hier  erst 
durch  Hrn.  Brynjulfsen  Nachricht.  Die  Handschrift  davon, 
welche  auf  der  königl.  Bibliothek  aufbewahrt  wird,  hat  dieser 
bei  seiner  Abhandlung  benutzt,  wo  er  auch  (S.  10.  11)  ältere 
isländische  Manuscripte  anzeigt,  aus  denen  mancherlei  zu 
schöpfen  ist.  Es  wäre  also  wohl  an  der  Zeit,  dass  dieser 
Theil  der  altnordischen  liitteratur  mit  den  anderen,  die  bereits 
weit  fortgeschritten  sind,  in  eine  Linie  vorrückte:  die  dänische 
Regierung,  die  ohne  Prunk,  aber  auf  eine  grossartige  und  edle 
Weise  die  AVissenschaften  befördert,  würde  auch  einem  solchen 
Werke  die  nöthige  Unterstützung  nicht  versagen. 

[anonym.] 


W.  <;KI>I.M,  KL.  SCHmt-lK>.     11.  22 


338        FÄRÖISKE  QUADER,  OVERSATTE  AF  LYXGBYE. 


1417FÄRÖISKE    QUADER    OM   SIGURD    FOFNERSBANE 

OG  HANS  AT. 

Med  et  Anhang.    Samlede  og  oversatte  af  Hans  Christian  Lyngbye,  Sognepräst 

i  Gjesing.     Med  en  Indledning  af  P.  E.  Müller,  Dr,  og  Prof.  i  Theol.  Udgivne 

ved  kgl.  allernaadigst  Understöttelse.    Randers.     Bei  Elmenhof  1822.    XXII  S. 

Vorrede  und  592  S.  in  Octav. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  III,    143.  Stück,   den   4.  September  1824^ 

S.  1417—1428. 

VLiwischen  dem  61.  und  62.  Grad  nördlicher  Breite  liegert 
die  Färöer,  von  den  schetländischen  Inseln  45  Meilen,  von 
der  nächsten  norwegischen  Küste  84  Meilen  entfernt.  Der 
Mangel  an  Holz  erlaubt  nicht  Schiffe  zu  bauen,  und  die  geringen 
Erzeugnisse  des  Landes  locken  keine  Fremde  herbei;  somit 
leben  auf  23  Quadratmeilen  etwa  5000  Menschen  wie  in  völliger 
Abgeschiedenheit,  und  an  manchen  Orten  wird  oft  in  Jahr- 
zehnten kein  fremdes  Gesicht  erblickt. 

In  der  Heidenzeit  waren  diese  Inseln  ein  bequemer  Aufent- 
halt für  Seeräuber.  Als  dieser  Erwerbzweig  in  Abnahme  gerieth,. 
blieb  Viehzucht  und  Fischerei  das  Wichtigste,  denn  Kornbau 
war  immer  unbedeutend.  Unter  einem  warmen  Himmel  trennen 
1418  diese  Beschäftigungen  die  Menschen,  hier,  wo  es  so  kalt  ist, 
dass  an  einigen  Orten  der  Schnee  manchmal  den  ganzen  Som- 
mer über  nicht  völlig  wegthaut,  sind  sie  ein  Mittel  der  Ver- 
einigung. Seefischerei  kann  so  hoch  im  Norden,  wenn  sie 
Vortheil  bringen  soll,  nur  in  Gesellschaft  getrieben  werden; 
Viehzucht  leitet  zum  Ackerbau,  denn  um  hinlänglich  Futter  zu 
schaffen,  muss  das  Land  sorgfältig  bebaut,  das  Heu  in  Scheunen 
eingesammelt  werden.  Die  Schafe,  welche  den  grössten  Reich- 
thum  der  Bewohner  ausmachen  (daher  ohne  Zweifel  der  Name 
Färöer,  Schaf inseln)  suchen  sich  selbst  im  Winter  wie  im 
Sommer  ihre  Nahrung;  aber  die  Verarbeitung  der  Wolle  zu 
Kleidungsstücken  beschäftigt  die  Bewohner  in  den  Winter- 
monaten und  hält  sie  in  den  Häusern,  wo  ganze  Familien  in 
den  Rauchstuben   oder  den  allgemeinen  Arbeitsstuben  vereinigt 


FÄRÖISKE  QUADER,  OVERSATTE  AF  LYNGBYE.        339 

sind.  Hier  so  wenig,  als  ehemals  in  den  Trinkstuben  der 
alten  Nordbewohner  findet  sich  ein  Ofen  oder  eine  Zimmer- 
decke, sondern  der  Rauch  steigt  durch  eine  ÖflPnung  des  Dachs 
hinaus.  Auf  diesen  westlichen  Endpunkten  des  Nordens  mögen 
Lebensweise  und  Sitten  aus  alter  Zeit  sich  erhalten  haben,  wie 
auch  die  Sprache,  über  welche  Rask  in  der  dänischen  Ausgabe 
seiner  Grammatik  einen  besonderen  Abschnitt  geliefert  hat,  der 
altnordischen  sehr  nahe  steht.  Das  Stammland,  fremden  Ein- 
flüssen zugänglich  und  Ton  den  Begebenheiten  der  Jahrhunderte 
bewegt,  veränderte  nach  und  nach  Sitten  und  Sprache;  wo 
aber  ein  Volk  ohne  Geschichte  und  ohne  Berührung  mit  der 
Welt  fortdauert,  da  sind  oft  ein  Paar  Menschenleben  nöthig, 
um  die  geringste  Veränderung  einzuführen. 

Das  grösste  Vergnügen  auf  den  Färöer  besteht  im  Tanz. 
Alt  und  Jung  nimmt  Theil  daran,  denn  bei  der  stillsitzenden 
Arbeit  und  dem  feuchten  Wetter  ist  er  eine  Nothwendigkeit. 
Von  W'^eihnachten  bis  Ostern  ist  eigentliche  Tanzzeit,  allein 
auch  sonst,  an  Feiertagen  und  auf  Hochzeiten,  wird  getanzt. 
Bald  ist  der  eine,  bald  der  andere  Vorsinger,  aber  alle,  die  1419 
singen  können,  stimmen  bei  dem  Refrain  mit  ein.  Der  Tanz 
besteht  darin,  dass  Männer  und  Frauen  gemischt  einander  bei 
den  Händen  fassen  und  drei  Schritte  taktmässig  voran  und  zur 
Seite  thun,  worauf  sie  entweder  etwas  balanciren  oder  einen 
Augenblick  still  stehen.  Wer  dabei  nicht  Acht  gibt,  verwirrt 
den  ganzen  Tanz.  Der  Gesang  aber  dient  nicht  bloss,  wie 
Tanzmusik,  die  Schritte  zu  ordnen,  sondern  auch  durch  seinen 
Inhalt  den  Geist  anzuregen.  Man  kann  es  den  Tanzenden  an- 
sehen, dass  sie  nicht  gleichgültig  dabei  bleiben,  sie  bemühen 
sich  vielmehr  in  ihren  Mienen  den  verschiedenen  Inhalt  des 
Liedes  auszudrücken.  Dies  bringt  in  den  Tanz,  so  einförmig 
er  an  sich  ist,  eine  eigene  Lebendigkeit;  Jung  und  Alt  bleibt 
den  ganzen  Abend,  fast  ohne  Unterbrechung,  in  den  Reihen. 
Bei  den  Hochzeiten  werden  bestimmte  Lieder  gesungen,  wovon 
die  beiden  ersten  so  langsam  sind  und  der  Tanz  selbst  so  an- 
ständig und  ernsthaft  ist,  dass  sogar  die  älteren  Prediger  ihn 
in  ihrer  Amtskleidung  mitzutanzen  pflegten.  Die  Beschreibung 
davon,    sowie    eine    anschauliche    Darstellung    der    alten    und 

22* 


340  FÄRÖISKE  QUADER,  OVERSATTE   AF  LYNGBYE. 

merkwürdigen  Hochzeitsgebräuclie   von  Hrn.  Lyngbye   befindet 
sich  in  Nyerups  Reisejagttagelser  I,  202 — 221. 

Die  Zahl  der  Tanzlieder  ist  so  ansehnlich,  dass  in  den 
grösseren  Bauernhöfen  derselbe  Gesang  in  einem  Winter  kaum 
wiederholt  wird.  Die  meisten  sind  von  sehr  bedeutendem  Um- 
fang, demohngeachtet  ist  auch  nicht  ein  einziges  je  auf  den 
Inseln  aufgezeichnet  worden,  sondern  sie  werden  lediglich  im 
Gedächtnis  aufbewahrt.  Natürlich  weiss  nicht  jeder  alle  Ge- 
sänge, an  dem  einen  Ort  hat  man  Vorliebe  für  diese,  an  dem 
anderen  für  jene. 

Es  gibt  ein  schon  hundertundfunfzig  Jahre  altes  Zeugnis 
von  dem  Dasein  dieser  Lieder,  ihrer  gedenkt  nämlich  Lucas 
i42oDebes  in  seiner  Faeroa  reserata  Kopenhagen  1673.  Ein  noch 
jetzt  lebender  Färöbewohner,  Jens  Chr.  Svabo,  war  der  Erste, 
welcher  im  Jahre  1781  und  1782  einen  Theil  derselben  auf- 
zeichnete. Von  seiner  in  der  Königl.  Bibliothek  zu  Kopenhagen 
aufbewahrten  Sammlung  wird  hier  S.  10.  11  das  Verzeichnis 
mitgetheilt:  zum  Theil  alte,  zum  Theil  neuere  Lieder,  im  Ganzen 
52  Stück.  Im  Jahre  1817  unternahm  Hr.  Pf.  Lyngbye  eine 
Reise  nach  den  Inseln,  in  der  Absicht,  Beiträge  zu  seiner 
Hydrophytologia  danica  zu  sammeln.  Er  fand  Svabos  Besorg- 
nis über  den  Untergang  der  alten  Lieder  ungegründet,  sie 
waren  noch  so  frisch  im  Andenken  und  Gebrauch,  dass  er 
nicht  zweifelte,  Svabos  Handschrift  würde  sich  noch  jetzt  aus 
der  mündlichen  Überlieferung  ergänzen  lassen.  Bei  Regen- 
wetter, welches  botanische  Excurse  nicht  gestattete,  na'.im  Hr. 
Lyngbye  aus  dem  Munde  eines  alten  Mannes,  der  dafür  Tage- 
lohn empfieng,  die  Lieder  von  Sigurd  Fofnerstödter  auf, 
denn  diese  schienen  bei  ganz  richtigem  Takt  ihm  besonders 
merkwürdig  und  befanden  sich  nicht  in  der  Svaboischen  Samm- 
lung. Sie  sind  wie  die  ältesten,  so  den  Einwohnern  die  liebsten, 
und  keine  werden  so  häufig  gesungen,  ja  nicht  selten  hört  man 
Redensarten,  welche  daraus  in  das  tägliche  Leben  übergegangen 
sind;  z.  B.  „Du  bist  nicht  besser,  als  Reigin!"  Mit  einer 
Übersetzung  ins  Dänische  ausgestattet,  kamen  sie  hernach  in 
die  Hände  des  Hrn.  Prof.  P.  F.  Müller,  der  davon  bereits  in 
der    trefflichen    Sagenbibliothek    (II,    S.  420  —  430)    Gebrauch 


FÄRÖISKE  QUADER,  OVERSATTE  AF  LYNGBYE.        341 

machen  konnte.  Da  er  den  Werth  dieser  Überlieferungen 
wohl  erkannte,  bemühte  er  sich  deshalb  noch  weiter  und,  um 
die  Lieder,  deren  jener  Alte  sich  nicht  mehr  vollständig  erin- 
nerte, vervollständigen  zu  können,  wendete  er  sich  mit  schrift- 
licher Bitte  an  Hrn.  Pfarrer  Schröter  auf  Süderö  und  Hm 
Amtsprobst  Hentze.  Beide  ergänzten  nicht  nur  bereitwillig  das  1^21 
Fehlende,  sondern  schickten  auch  ganz  neu  Aufgefasstes  und 
endlich  ein  Verzeichnis  aller  noch  jetzt  gangbaren,  aus  alter 
Zeit  herrührenden  Lieder.  Dieses  ist  hier  S.  16 — 20  abgedruckt 
und  besteht,  wenn  man  die  einzelnen  Stücke,  aus  welchen  ein 
Fabelkreis  zusammengesetzt  ist,  wie  billig  mitzählt,  aus  178  Lie- 
dern. Welch  ein  Reichthum  von  Poesie  lebt  hier  auf  engem 
Raum  unter  einem  kleinen  Volkl  Wie  thut  sich  das  natürliche 
Verlangen  des  Menschen  darnach  kund!  Dabei  muss  man 
bedenken,  dass  einige  von  grossem  Umfang  sind,  wie  z.  B.  das 
Lied  von  Brjnhild  allein  220  vierzeilige  Strophen  enthält. 

Auch  neue  Lieder  dichten  die  Bewohner  der  Färöer  auf 
Begebenheiten,  die  ihnen  merkwürdig  scheinen,  besonders 
Spottlieder.  Soll  ein  solches  Lied  öflPentlich  gemacht,  d.  h.  als 
Tanzmelodie  eingeführt  werden,  so  richtet  man  es  ein,  dass  der 
Held  davon,  ohne  es  zu  wissen,  gegenwärtig  ist.  Zwei  hand- 
feste Bursche  fassen  ihn  dann,  wenn  der  Tanz  anhebt,  bei  den 
Händen,  und  so  muss  er  das  ganze  Lied,  er  mag  wollen  oder 
nicht,  durchmachen.  Findet  es  Beifall,  so  wird  es  dann  allere- 
mein  aufgenommen.  Die  alten  Lieder  heissen  Qveäir  (Quader), 
die  neuen  Taattir,  welches  von  dem  isländischen  Thättr,  Bruch- 
stück, abstammend  ein  kürzeres  Lied  bedeutet. 

Gewiss  wäre  ein  Abdruck  sämmtlicher  bereits  aufgefasster 
Lieder  erwünscht,  indes  erkennen  wir  es  dankbar  an,  dass 
königliche  Unterstützung  es  möglich  gemacht,  das  Wichtigste 
vorerst  durch  den  Druck  zu  sichern  und  zu  verbreiten.  Dem- 
nach erhalten  wir  die  Lieder  von  Sigurd  und  dessen  Geschlecht, 
einen  Theil  nach  Hrn.  Lyngbyes,  einen  anderen  nach  Hrn. 
Schröters  Aufzeichnungen;  doch  die  von  letzterem  nachgesen- 
deten Stücke  hat  Hr.  Lyngbye  erst  sorgfaltig  und  nicht  ohne 
Mühe  geordnet  und  gereinigt.  Von  ihm  allein  rührt  auch 
überall  die  dänische  Übersetzung,   die  ohne  Zweifel  ein  bedeu- 


342        FÄRÖISKE  QUADER,  OVERSATTE  AF  LYNGBYE. 

1422  tendes  Hilfsmittel  zum  Verständnis  des  Originals  ist.  Über- 
setzungen dieses  Art  haben  mehr  Schwierigkeit,  als  man 
glaubt,  da  es  gerade  nicht  leicht  ist,  bei  dem  schlichten  und 
ganz  kunstlosen  Ausdruck  ohne  Zwang  die  Reime  herbeizu- 
schaffen. Der  Verf.  hätte  wohl  besser  gethan,  diesen  ganz 
aufzugeben  und  sich  auf  wörtliche  Treue  zu  beschränken,  doch 
hat  er  vielleicht  billige  Rücksicht  auf  Leser  genommen,  die 
sich  mit  dem  Original  gerade  nicht  befassen  wollen  oder  können. 
Im  Ganzen  hat  er  sich  ziemlich  rein  gehalten  von  fremdartigen 
und  modern  zierlichen  Ausdrücken;  Beispiele  davon  wären 
folgende:  S.  49  „jeder  sank  in  des  Todes  Arm",  wo  im  Original 
steht:  keiner  kam  von  dem  Kampf  zurück.  S.  136  „so  lautet 
des  Skalden  Gesang"  für:  so  ist  mir  gesagt.  Dies  stört,  weil 
man  gleich  fühlt,  dass  es  dem  natürlichen  Ton  und  der  eigen- 
thümlichen  und  reinen  Farbe  der  Lieder  widersteht. 

Ganz  vollständig  besitzen  wir  indessen  den  Sagenkreis  von 
Sigurd,  zugleich  den  grössten  unter  allen  auf  den  Färöern,  noch 
nicht,  denn  Rec.  findet  in  dem  Schröter'schen  Verzeichnis 
S.  16  als  hierhergehörig  noch  angemerkt:  Angankaari,  Grujms 
Rujma  und  Dvörgamoijnar,  das  letztere  besteht  aus  vier  ein- 
zelnen Liedern  und  handelt  von  Zwergenmädchen,  welche  dem 
Sigurd  Geschenke  gegeben  haben,  in  dem  Riesen  von  Letraberg 
S.  470,  V.  93  kommt  sogar  eine  Beziehung  darauf  vor.  Diese 
Lieder  (wovon  das  erstere,  so  viel  sich  aus  der  Ferne  schliessen 
lässt,  schon  in  der  Svaboischen  Sammlung  Th.  11,  Stück  7 
vorzukommen  scheint)  sollte  Hr.  Lyngbye  noch  als  einen 
Nachtrag  zu  liefern  suchen,  damit  seinen  Verdiensten  um  die 
Poesie  nicht  das  Geringste  abgienge. 

In  der  wohlgeschriebenen  Einleitung  verweilt  die  Betrach- 
tung bei  dem,  was  eine  solche  Überlieferung  Merkenswerthes 
darbietet.  Hier  wird  auch,  wie  sich  von  Hrn.  P.  E.  Müller 
erwarten  Hess,  das  Verhältnis  derselben  zu  der  nordischen  und 

1423  deutschen  Sage  berücksichtigt.  Letztere  ist  in  ihrer  besonderen 
Bildung  (wir  sehen  dabei  nicht  auf  das  Gemeinsame,  auch 
nicht  auf  einzelne  Züge,  wie  z.  B.  der  ist,  dass  Sigurd  in  der 
Edda  schon  inn  sudraeni  der  Südliche,  d.  i.  der  Deutsche  heisst) 
schon    früh  in   den   Norden   gedrungen,    ausgemacht  schon   im 


FÄRÖISKE  QUADER,  OVERSATTE  AF  LYXGBYE.        343 

zwölften  Jahrhundert;  der  Sammler  der  Eddalieder  gedenkt 
ihrer  ausdrücklich.  In  diesen  färöischen  Gesängen  zeigt  sich 
zuvörderst  ein  offenbarer  Zusammenhang  mit  der  nordischen 
Sage,  daraus  erklären  sich  allein  die  jetzt  unverstandenen 
Namen  Malmaring  fiir  Rinar  mälmr,  Väoluo  für  Vafurlogi  und 
andere,  die  man  in  der  Vorrede  S.  XVI  Anm.  zusammengestellt 
ündet.  Nur  ist  überall  ein  Restreben  sichtbar,  das  Heidnische 
rmd  Mythische  zu  unterdrücken.  Die  Fabel  selbst  hat  anfangs, 
in  den  Liedern  von  Reigin  und  Brynhild  bis  zu  Sigurds  Mord, 
im  Ganzen  ziemliche  Übereinstimmung  mit  der  Volsungasaga, 
aber  auch  manches  ihr  allein  Zugehörige.  Dies  bezieht  sich  nicht 
bloss  auf  einzelne  Züge,  sehr  merkwürdig  trifft  man  hier  eine 
Episode,  die  sonst  nicht  bekannt  ist,  gleichwohl  in  den  Kreis 
der  Begebenheiten  passt  und  welcher,  wie  P.  E.  Müller  anmerkt, 
^in  eddisches,  jetzt  verlorenes  Lied  gar  wohl  zu  Grunde  liegen 
kann.  Es  ist  der  Gesang  von  Ismal,  aus  61  Strophen  be- 
stehend, welcher  die  Hochzeit  zwischen  Ismal  uud  einer 
Schwester  Sigurds,  die  den  Namen  Schwanhild  Sonnenblume 
führt,  beschreibt;  Sigurd  sieht  hier  zum  ersten  Mal  die  Brynhild 
imd  betroffen  von  ihrem  Anblick  zerbricht  er  den  goldenen 
Becher  in  seinen  Händen.  Ahnliche  Züge,  Erstaunen  und 
Selbstvergessen  anzudeuten,  könnten  aus  anderen  Sagen  daneben 
aufgestellt  werden.  Um  so  eher  aber  darf  man  hier  ein  eddisches 
Lied  vermuthen,  als  das,  welches  in  der  Edda  diese  Stelle 
einnehmen  sollte,  verloren  ist,  die  Volsungasaga  aber  in  der 
Art,  wie  Sigurd  die  Brynhild  kennen  lernt,  einen  Widerspruch 
•enthält.  Schwanhild  ist  zwar  nicht  als  Sigurds  Schwester  in  ii24 
der  Edda  bekannt,  wohl  aber  als  seine  Tochter,  und  einen 
Zusammenhang  zwischen  beiden  scheint  dem  Rec.  der  Name 
Sonnenblume  anzudeuten,  denn  von  der  Schwanhild  heisst  es 
zweimal  ausdrücklich  in  der  Edda:  „sie  war  weisser  als  der 
klare  Tag  und  den  Sonnenstrahlen  gleich"  (Kopenh.  Aus- 
gabe II,  S.  236,  Str.  52  und  S.  532,  Str.  14);  auch  in  der 
Volsungasaga  wird  sie  mit  der  Sonne  verglichen.  Der  Brynhild 
Mutter  wird  hier  Gunild  genannt  (S.  118  und  360),  welcher 
Name  sich  in  der  Edda  nicht  findet. 

Bei  der  Erzählung  von  Sigurds  Tod  folgen  die  färöischen 


344        FÄRÖISKE  QUADER,  OVERSATTE  AF  LYNGBYE. 

Lieder  dagegen  der  deutschen  Sage,  und  zwar  wie  sie  die  Vil- 
kinasaga  enthält.  Ebenso  im  Fortgange  der  Geschichte,  von 
der  Vermählung  der  Gudrun  mit  Atle,  dem  Zuge  der  Giukungen, 
Hagens  Gespräch  mit  dem  Meerweib  bis  zu  dem  letzten 
Kampfe.  Auch  Dieterich  von  Bern  tritt  auf,  und  sein  Feuer- 
athem  ist  in  Gift  verwandelt,  das  er  als  Drache  ausspeit. 
Die  Giukungen  rächt  Aldrian,  gleichfalls  der  deutschen  Sage 
gemäss,  aber  die  That  selbst  wird  hier  mit  Umständen  erzählt, 
die  Ähnlichkeit  haben  mit  der  Darstellung  der  hvenischen 
Chronik,  welches  beweiset,  dass  auch  diese  keine  willkürliche 
Umdichtung  enthält.  Abermals  der  nordischen  Sage  folgen  die 
Lieder  von  Ragnar  und  Aslaug.  Mit  diesen  endigt  der 
zusammenhängende  Kreis  und  die  letzten  drei  Stücke:  der 
Riese  von  Holmgard,  das  Lied  von  Quörfin  und  der  Riese  von 
Letraberg  erzählen  besondere  Begebenheiten  von  Sigurd,  Wittig 
und  Dieterich,  von  welchem  sonst  nichts  bekannt  ist.  Wittig 
zieht  hier  in  Gesellschaft  mit  Siegfried  auf  Abenteuer  aus. 
Besondere  Rücksicht  verdient  ein  Zug  in  dem  Liede  von 
Quörfin:  Dieterich  nämlich  ist  furchtsam  und  flieht  vor  dem 
Kampf  nach  Haus.  Gerade  so  erscheint  er  mehr  als  einmal 
in  den  deutschen  Gedichten.  Hildebrand  muss  ihn  erst  auf- 
1425  muntern,  ausschelten,  selbst  mit  ihm  kämpfen,  ehe  er  einen 
Entschluss  fasst  und  einen  gewissen  natürlichen  Widerwillen 
vor  der  Gefahr  überwindet,  ja  im  Rosengarten  gebraucht  der 
Alte  die  List,  sich  für  todt  ausgeben  zu  lassen,  um  seinen 
Herrn  in  Zorn  und  Eifer  zu  bringen,  in  welchem  er  dann 
alles  besiegt;  „mir  ist  erwärmet  nü  daz  bluot!"  ruft  er  selbst 
im  Biterolf  (V.  8159)  aus,  als  er  sich  zum  Kampf  mit  Siegfried 
entschlossen  hat.  Ohne  lebendige  Kenntnis  von  der  deutschen 
Sage  wäre  dieses  färöische  Lied  nicht  entstanden,  denn  eine 
solche  Übereinstimmung  im  Charakter  beweiset  nicht  weniger 
als  Übereinstimmung  in  der  Fabel. 

Aber  wir  müssen  etwas  von  Art  und  Weise  dieser  Lieder 
reden.  Äussere  Form,  Gang  der  Erzählung  haben  sie  mit  den 
dänischen  Kjämpeviser  gemein,  sonst  aber  sind  sie  diesen  an 
poetischem  Werth  und  innerem  Gehalt  nicht  gleichzustellen. 
Sie   haben   nicht  jene  Tiefe  der  Anschauung,   die  Freiheit  und 


FÄRÖISKE  QUADER,  OVERSATTE  AF  LYNGBYE.        345 

Kühnheit  der  Gedanken  und  das  Überraschende  der  \Yendungen. 
Die  Erzähhmg  ergiesst  sich  hier  in  einem  ruhigen,  gleich- 
massigen,  etwas  breiten  Fluss,  und  man  scheint  so  sehr  des 
Eindrucks  der  Fabel  selbst  auf  die  Gemüther  sicher  zu  sein, 
dass  man  auch  nirgends  das  Bestreben  bemerkt,  zu  überraschen 
oder  die  Neugierde  zu  spannen;  jedoch  ist  die  Darstellung 
überall  natürlich  und  angemessen.  Das  Lied  von  Quörfin 
unterscheidet  sich  von  den  übrigen  durch  eine  gewisse  Leb- 
haftigkeit, und  wahrhaft  poetisch  ist  darin  die  Beschreibung  der 
nächtlichen  Wirthschaft  der  Riesen  und  Zwerge.  Auch  manche 
epischen  Anklänge  haben  sie  mit  den  Kjämpeviser  gemein. 
Z.  B.  die  Jungfrau  lächelt  unter  dem  weissen  Linnen ;  ehe  dte 
Helden  eingehen,  ziehen  sie  ihr  Kleid  über  die  Schulter;  der 
Trauernde  wird  schwarz  wie  die  Erde;  die  Berufung:  „das  ist 
mir  in  Wahrheit  gesagt!"  oder  ^so  geht  die  Sage!*  Auch  der 
Name  Sjürur  sneare  (S.  139)  ist  das  dänische  Sivard  suaren-i42& 
svend.  Eddisch  ist  der  Spruch  (S.  32):  „die  Nornen  (Nodnar) 
haben  mir  das  bestimmt!",  „niemand  kann  dem  Tod  entfliehen!" 
und  der  tiefpoetische  Ausdruck  (S.  464):  „die  Zwergensprache 
(das  Echo,  in  den  Kenningar)  sang  bei  den  Schwertschlägen 
in  jedem  Berg".  Überraschend  dabei  eine  Übereinstimmung  in 
unserem  deutschen  Gedicht  von  Ecken  Ausfahrt,  wo  es  Str.  149 
heisst:  „ihr  Schlagen  war  so  stark,  dass  es  Berg  und  Thal 
Stimme  gab".  Jene  Warnung:  „der  junge  Wolf  (Rächer  des 
getödteten  Vaters)  wächst  auf  mit  scharfem  Zahn  im  Munde!" 
scheint  im  ganzen  Norden  verständlich  gewesen  zu  sein,  nicht 
nur  hier  (S.  62^  und  häufig  in  den  Kjämpeviser,  auch  in  der 
alten  Edda  (II,  217)  und  in  der  Volsungasaga  (Cap.  30)  kommt 
sie  vor.  —  S.  458,  Str.  63  heisst  es  von  Sigurds  Mannen:  «sie 
wussten  nicht,  wo  sie  waren,  im  Himmel  oder  auf  Erden"; 
ähnlicher  Weise  sagt  Sigurd  zu  Reigin  (Volsungasaga,  Cap.  28) : 
„du  wusstest  (vor  Schrecken)  nicht,  was  Himmel  oder  Erde 
war".  In  dem  entsprechenden  Eddalied  fehlen  diese  Worte. 
Das  Gleichnis:  „froh,  wie  der  Vogel  beim  hellen  Tag"  (S.  122) 
haben  wir  gerade  so  in  der  Vilkinasaga  (Cap.  39)  auf  Vidga 
angewendet  wiedergefunden,  aber  auch  einer  unserer  Minne- 
sänger   des    13.  Jahrhunderts    kennt    es:     „vröuwet    sich    min 


346        FÄRÖISKE  QUADER,  OVERSATTE  AF  LYNGBYE. 

gemuete  sam  diu  kleinen  vogellin  so  sie  sehent  des  tages  schin* 
(Man.  S.  II,  102'*).  Dagegen  gewiss  eigenthümlich  färöisch 
ist  Folgendes:  „Ismal  hatte  Wangen  roth  wie  eine  Hummer- 
scheere  und  Augen  wie  eine  Taube",  d.  h.  blaue,  erklärt  Hr. 
Lyngbye,  denn  die  wilden  Tauben  auf  den  Färöer  sind  blau, 
wenn  nicht  wirklich  das  sanftblickende  Taubenauge  gemeint 
ist.  Der  Ausdruck:  „ein  Kind  schön,  wie  ein  Tropfen  Blut  im 
Schnee"  (S.  128  Anmerkung)  lässt  das  Dasein  jener  alten  Sage 
1427  vermuthen,  die  im  Parcifäl  so  bedeutend  wirkt  und  noch  in 
deutschen  Märchen  fortdauert. 

Auch  über  die  Herkunft  dieser  Lieder  hat  P,  E.  Müller 
Untersuchungen  angestellt.  Schon  Svabo  bemerkte  in  der  Ein- 
leitung zu  seiner  Sammlung  und  Hentze  bestätigte  eine  auf 
den  Färöer  umgehende  Sage,  wornach  diese  Lieder  aus  einem 
Buche  herrühren,  welches  durch  ein  gestrandetes  isländisches 
Schiff  nach  Sandö  gekommen  und  so  gross  gewesen  sei ,  dass 
ein  Saumross  es  nicht  habe  auf  einer  Seite  tragen  können. 
Von  einem  solchen  Buche  findet  sich  aber  keine  Spur,  weder 
auf  den  Inseln  noch  in  Kopenhagen,  wohin  es  soll  gekommen 
sein  und  wo  es  unmöglich  der  Aufmerksamkeit  der  Sammler 
entgangen  wäre.  Mit  Recht  nimmt  Hr.  P.  E.  Müller  an  und 
führt  es  aus,  dass  die  Färöbewohner  gerade  diese  Lieder  von 
Sigurd  weder  von  Dänemark  aus  durch  die  Kjämpeviser,  die 
von  sehr  abweichendem  Inhalte  sind,  noch  von  den  Isländern 
haben  erhalten  können,  sondern  sie  aus  dem  Norden,  wo  von 
den  ältesten  Zeiten  her  diese  Sage  der  Hauptgegenstand  der 
Dichtung  gewesen  ist,  mitgebracht  haben.  Sie  zeigen  auch 
überall  Selbständigkeit,  und  während  sie  die  altnordische  Dar- 
stellung in  der  Hauptsache  beibehalten,  haben  sie  sich  aus  sich 
selbst  erweitert.  Die  deutsche  Sage  ist  hier  so  gut,  wie  in  den 
Kjämpeviser  und  der  hvenischen  Chronik,  mit  der  nordischen 
lebendig  vereinigt,  und  es  kann  gar  wohl  sein,  dass  sich  hier 
noch  Züge  aus  jener  erhalten  haben,  die  bei  uns  verloren  sind. 
Überall  hat  hier  die  Schrift  nichts  gewirkt,  sondern  lediglich 
mündliche  Überlieferung, 

Noch  eine  einzelne  Spur  von  hohem  Alter  hat  der  scharf- 
sichtige  Herausgeber  entdeckt.      Einige   Mal   kommt  hier    eine 


FÄRÖISKK  QUADER,  OVERSATTE  AF  LYXGBYE.        347 

Beziehung  vor  auf  ein  Lied,  welches  Bragdar  Thaat  genannt 
wird  und  worin  Schicksale  der  Gudrun  und  eine  von  ihr  aus- 
geübte List  müssen  erzählt  worden  sein,  welches  aber  die 
jetzigen  Bewohner  nicht  mehr  kennen.  Wir  besitzen  auch  kein  1428 
eddisches  Lied  darüber,  aber  in  der  Nornagestssage  wird  er- 
zählt, dass  Nornagest  vor  Oluf  Tryggvason  gesungen  habe 
Gunnarsslagr  und  Gudrünar  brögd  in  fornu,  das  alte  Lied  von 
der  List  der  Gudrun.  Ohne  Zweifel  wird  an  beiden  Orten 
dasselbe  verlorene  Lied  gemeint.  Wahrscheinlich  ist  es  dem- 
nach, dass  diese  Gesänge  über  Sigurd  schon  ein  Jahrtausend 
durch  mündliche  Überlieferung  sich  erhalten  haben,  wenn  auch 
mannigfach  Inhalt  und  Sprache  nach  verändert,  ein  für  die 
Geschichte  der  Poesie  wichtiger  Satz,  der  ohne  die  abgeschie- 
dene Lage  der  Färöer  schwerlich  so  einleuchtend  sich  darthun 
liesse. 

In  dem  Anhang  S.  480 — 564  wird  aus  der  Sammlung  der 
übrigen  Lieder  noch  eine  Auswahl  und  dann  eine  Anzahl  von 
Refrains  mitgetheilt.  Diese  Stücke  sind  sämmtlich  von  dich- 
terischem Werth,  den  Vorzug  verdienen  aber  die  beiden  ersten 
von  Skrymner  uud  Loke.  Besonders  das  letztere  ist  ausge- 
zeichnet schön  und  an  sich  merkwürdig  genug,  da  die  drei 
Götter  Odin,  Häner  und  Loke,  die  wir  schon  in  der  Edda  in 
Gesellschaft  finden,  hier  gemeinschaftlich  einen  Riesen  überlisten. 
Wahrscheinlich  haben  wir  eine  alte  Dämisaga  vor  uns,  denn 
selbst  der  Umstand,  dass  dieses  Lied  sonst  zu  singen  verboten 
war,  beweiset  die  Abstammung  aus  der  Heidenzeit.  Ein  anderes 
Beispiel  fortdauernder  Erinnerungen  von  Loke  gibt  eine  An- 
merkung in  der  Einleitung  S.  21.  Als  Beilage  erhalten  wir  von 
Hrn.  Lyngbye,  der  für  die  Liebe  und  Sorgfalt,  womit  er  dieses 
Buch  gepflegt  hat,  den  grössten  Dank  verdient,  noch  ein  Ver- 
zeichnis   jütländischer  Wörter    und    eine  faröische  Melodie   zu 

Sigurds  Lied. 

[anonym.] 


348      BIOGRAPHISCHE  DENKMALE  VON  VARNHAGEN  VON  ENSE. 


1428  BIOGRAPHISCHE  DENKMALE. 

Von  K.  A.  Varnhagen  von  Ense.     Berlin.    Bey  G.  Eeimer  1824.    408  S.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen,    Bdlll,    143.  Stück,  den  4.  September  1824. 

S.  1428-1431. 

1429  JL/rei  Cabinetsstücke  von  der  besten  Arbeit.  Der  Held, 
der  uns  entgegentritt,  weiss  unsere  Augen  gleich  zu  fesseln, 
seine  Züge  sind  gemässigt  und  aufgeheitert,  seine  Haltung  ist 
gefallig  und  ungezwungen,  während  die  mit  Sorgsamkeit  und 
versteckter  Kunst  um  ihn  her  geordneten  Gruppen  den  vor- 
theilhaften  Eindruck  des  Ganzen  erhöhen.  Der  Verf.  hat  zu 
reinen  Geschmack,  um  durch  gesteigerte  Farben,  künstliche 
Beleuchtung,  unverhältnismässig  ausgeführte  Beiwerke,  und  was 
es  sonst  noch  für  Mittel  gibt,  Eindruck  machen  oder  gewöhn- 
liche Beschauer  blenden  zu  wollen.  Alles  ist  in  gleichmässiger 
Behandlung  wohl  temperirt  und  lädt  zu  einer  ungestörten  Be- 
trachtung ein.  In  dieser  Ausbildung  steht  er  höher  als  andere 
Schriftsteller  seines  Fachs,  z.  B.  der  französische  Lacretelle,  der 
seinen  Gegenstand  schon  mehr  brillantirt,  glänzende  Gegensätze, 
Sentenzen,  überraschende  Wendungen  sucht  und  manchmal 
glücklich  findet.  Dies  kleine  Buch  scheint  dem  Rec,  um  nicht 
zu  sagen,  ganz  vollkommen  (weil  das  ein  gar  zu  grosses  Lob 
sein  würde),  doch  ganz  fertig  gearbeitet:  vielleicht  ist  der  Verf. 
im  Stand,  von  jeder  Zeile  Rechenschaft  zvi  geben.  Ein  Urtheil, 
das  an  dieser  glatten  Oberfläche  hier  und  da  nagen  wollte, 
würde  etwas  Unpassendes  und  Ungeschicktes  sein,  lieber  will 
Rec.  eines  Unterschiedes  gedenken,  der  auch  sonst,  doch  vor- 
züglich bei  Werken  dieser  Gattung  zum  Vorschein  kommt,  die 
neben  dem  nicht  mühelosen  Studium  des  Materials  zugleich 
einen  schaffenden  Geist  fordern,  der,  was  in  der  Seele  sich 
gebildet  hat,  vor  unsere  Blicke  heraufzuheben  Stärke  genug 
besitzt.  Es  gibt  Schriftsteller,  welche  in  steter  Übung  nach  und 
nach  ihrer  sämmtlichen  Kräfte  und  Gaben  sich  bewusst  werden 
und  sie  endlich  völlig  in  ihre  Gewalt  bekommen.  Dagegen 
andere   können   den  Genius,   der   ihnen   verliehen  ist,   nur  zum 


BIOGBAPHISCHE  DENKMALE  VON  VARNHAGEN  VON  ENSE.       349 

Theil  bezwingen:  halb  leiten  sie  ihn,  halb  werden  sie  von  ihm  14.30 
gelenkt  und  getrieben.  Gelingt  jenen  die  Arbeit,  so  verdient 
sie  gewiss  grosses  Lob,  aUes,  wohl  durchdacht,  wohl  geordnet, 
gestattet  ein  vollkommenes  Verständnis,  und  ohne  Anstoss  zu 
fühlen  oder  durch  etwas  Widerstrebendes  aufgehalten  zu  werden, 
eilen  wir  mit  Vergnügen  hindurch.  Die  Werke  der  anderen 
sind  nicht  so  zugänglich,  vielleicht  fallen  gleich  Unvollkommen- 
heiten  und  Missverhältnisse  in  die  Augen,  oder  uns  hemmt 
etwas  Unverständliches,  wenigstens  Befremdendes;  dagegen  das 
Herrliche,  das  unerwartet  uns  begegnet,  der  frische  Hauch  des 
Lebens,  der  auf  uns  einströmt,  erfreut  uns  auf  das  Höchste  und 
versetzt  uns  in  eine  Stimmung,  in  welcher  wir  das  Übrige  gern 
verzeihen,  selbst  geneigt  sind,  es  als  etwas  Noth wendiges  und 
dem  Menschenwerk  Anklebendes  zu  betrachten.  Jene  erfüllen 
im  besten  Fall  jede  billige  Erwartung,  diese  gewähren  etwas 
über  aller  Erwartung  Liegendes.  Auch  darin  zeigt  sich  der 
Unterschied,  dass  wir  zu  einem  verstandenen  und  überschauten 
Werk,  das  fiir  den  ersten  Eindruck  alles  gesammelt  zu  haben 
scheint,  nicht  leicht  zurückkehren,  wie  uns  ein  gelöstes  Räthsel 
nicht  weiter  reizt  und  die  Wiederholung  eines  Witzes  fast  ver- 
driesst.  Wo  aber  der  Genius  mit  eingesprochen  hat,  vielleicht 
zur  Überraschung  des  Verfassers  selbst,  da  fühlen  wir  uns  zu 
wiederholter  Betrachtung  angetrieben  und  kehren  niemals  zurück, 
ohne  einen  neuen  Blick  in  die  Tiefe  des  menschlichen  Daseins 
gethau  zu  haben;  solche  Werke  haben  wie  die  Natur  etwas 
Unerschöpfliches. 

Ob  die  Manier  des  Hrn.  Varnhagen  der  Geschichte  nach- 
theilig werden  könne,  mögen  andere  beurtheilen,  uns  kommt 
es  fast  undankbar  vor,  diese  Frage  in  Anregung  zu  bringen, 
gleich  nach  der  Unterhaltung,  die  uns  das  Buch  gewährt  hat 
Auch  ist  in  keinem  Falle  die  Gefahr  gross,  denn  solche  kunst- 
geübten Hände  bilden  sich  so  schnell  nicht  aus.  Ein  geistreicher 
Mann  hat  dem  Verfasser  vorgeworfen ,  er  sei  schalkhaft  und  I43i 
sage  Eins  und  das  Andere  mit  ernster  Miene,  was  er  selbst 
nicht  glaube.  Das  sollte  niemand  irre  führen  und  ist  nur  eine 
List,  der  Tadler  ist  der  Schalk  und  weiss  recht  gut,  dass  es 
für    einzelne  Punkte  keine   Ausnahme  gibt  und  Eins  so   wahr 


350  DEN  AELDRE  EDDA,   OVERSAT  VED  FINN  MAGNUSSEN. 

sein  muss,  als  das  Andere.  Haben  doch  Maler  längst  bei  ihren 
historischen  Compositionen  die  Erlaubnis  gehabt,  das  Wider- 
strebende und  Widerwärtige  in  den  Schatten  zu  stellen  oder 
auf  eine  ungezwungene  Art  zu  bedecken  und  dem  Auge  zu 
entziehen.  Dergleichen  und  wäre  es  ein  Klumpfuss  kann  ge- 
schickt weggeschafft  werden,  ohne  dass  man  es,  wenn  darnach 
gefragt  würde,  ableugnen  wollte;  auch  in  guter  Gesellschaft 
spricht  man  ja  nicht  davon  oder  nur  mit  mildernder  Wendung. 
Kommt  es  denn  hier  auf  etwas  Anderes  an,  als  die  eigenthüm- 
liche  Lebendigkeit  oder  kecke  Beweglicheit  einer  nicht  gemeinen 
Natur,  so  ansprechend  als  möglich  zu  schildern?  Auf  ein  ürtheil 
ist  es  gewiss  nicht  abgesehen.  Auch  den  Diplomaten  thut 
jener  Mann  Unrecht,  wenn  er  ihnen  noch  eine  besondere,  der 
geäusserten  etwa  entgegengesetzte  Meinung  zuschreibt;  wir 
denken  besser  von  ihnen  und  halten  sie  für  vollkommen  von 
derjenigen  überzeugt,  welche  zu  äussern  sie  sich  veranlasst 
fühlen.  Der  Grundton,  den  sie  etwa  aus  sich  selbst  mitbringen, 
ist  jenes  sanfte  Grau,  von  dem  schon  Goethe  in  der  Farbenlehre 
behauptet  hat,  dass  es  die  schreiendsten  Farben  vermittle. 

Wir  müssen  aber  nicht  vergessen  anzuzeigen,  dass  dieser 
Band  das  Leben  des  Grafen  Wilhelm  zur  Lippe,  des 
Grafen  Matthias  von  der  Schulenburg  und  des  Königs 
Theodor  von  Corsica  enthält.  Dass  es  unser  Ernst  sei, 
wenn  wir  um  die  in  der  Vorrede  angedeutete  Fortsetzung  bitten, 

wird  der  talentvolle  Verf.  selbst  nicht  bezweifeln. 

[anonym.] 

36  DEN  AELDRE  EDDA. 

En  Sämling  af  de  nordiske  Folks  aeldste  Sagn  og  Sänge,  ved  Saemund 
Sigfussön  kaldet  hin  Frode.  Oversat  og  forklaret  ved  Finn  Magnusen. 
Kopenhagen.  In  der  Gyldendalischen  Buchhandlung.  Erster  Band  1821. 
LI  und  274  S.  in  8.    Zweyter  Band  1822.    VI  und  319  S.    Dritter  Band  1822. 

VI  und  312  S.     Vierter  Band  1823.     IX  und  349  S. 
GÖttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  I,  3.  und  4.  Stück,  den  6.  Januar  1825. 

S.  36-39. 

-Ciiner  schwedischen,  gleichfalls  die  ganze  Säraun- 
discheEdda  begreifenden  Übersetzung  von  Afzelius,  welche 


DEN  AELDRE  EDDA,   OVERSAT  YED  FIXN  MAGNUSSEN.  35J 

im  Jahr  1818  bereits  erschienen  ist,  haben  diese  Blätter  schon. 
(1820,  S.  1443  — 1445)  Erwähnung  gethan.  Gegenwärtige 
dänische  ist  in  ähnlichem  Sinne  ausgearbeitet,  das  heisst,  sie 
trachtet  vor  allen  Dingen  nach  einem  genauen ,  selbst  feinen 
Verständnis  des  Originals.  Nachdem  in  der  Vorrede  die  ver- 
schiedenen Übersetzungen  berührt  sind,  sagt  der  Verfasser: 
„jeg  har  straebt  efter,  at  min  bliver  saa  nöjagtig  og  oplysende, 
fom  det  nu  er  mueligt."  Mit  Recht  hat  er  deshalb  auch 
keinen  Werth  auf  regelmässige  Beibehaltung  der  Alliteration 
gelegt,  noch  auch  ist  er  von  dem  schlichten  und  doch  so 
poetisch  gewaltigen  und  kraftvollen  Ausdruck  des  Originals 
abgewichen.  Beruf  zu  einer  solchen  Arbeit  wird  ihm  niemand 
abstreiten,  da  er  durch  seine  Theilnahme  an  der  grossen  Kopen-  37 
-hagener  Ausgabe  (denn  von  ihm  rührt,  die  lateinische  Über- 
setzung und  Vorrede  ausgenommen,  der  sämmtliche  gelehrte 
Apparat  des  zweiten  Theils)  Bekanntschaft  und  vertrauten  Um- 
gang mit  der  Edda  hinlänglich  bewährt  hat.  Das  Geringste 
also,  was  w^ir  hier  erwarten  dürfen,  ist  ein  eben  so  genaues 
Verständnis  des  Textes,  als  dort;  aber  bei  einem  so  eifrigen 
Gelehrten  versteht  sich  von  selbst,  dass  er  Berichtigungen  und 
neuerworbene  Aufklärungen  einzutragen  hatte. 

Einen  bedeutenden  Vorzug  vor  der  schwedischen  Über- 
setzung (die  freilich  auch  nur  einen  einzigen  Band,  nicht 
stärker  als  einer  von  diesen  vieren,  ausmacht)  gewähren  reich- 
liche Zugaben.  Erstlich  die  einleitende  Vorrede,  welche  eine 
kurze,  aber  klare  Auskunft  über  die  beiden  Edden  gibt,  worin 
unter  anderen  wahrscheinlich  gemacht  wird,  dass  Snorre  die 
jüngere  Edda  nur  nach  Sämunds  Sammlungen  redigiert,  nicht 
eigentlich  verfasst  habe  (so  wie  ihn  P.  E.  Müller  in  Beziehung 
auf  die  Heimskringla  darstellt);  ferner  zu  jedem  Lied  eine  be- 
sondere Einleitung  und  genaue  Inhaltsanzeige  (die  man  ungern 
an  der  grossen  Ausgabe  vermisst);  endlich  am  Schluss  ein 
dreifaches  Register,  dessen  Nützlichkeit  wir  nicht  weiter  rühmen 
wollen,  da  sie  in  die  Augen  leuchtet.  Das  alles  ist  mit  lobens- 
würdiger  Sorgsamkeit  und  sichtbarer  Neigung  ausgeführt  und 
verdient  dankbar  anerkannt  zu  werden.  Nur  hätten  wir  dem 
Verfasser   hier   und   da   etwas  mehr  Enthaltsamkeit   gewünscht, 


352     DEN  AELDRE  EDDA,  OVERSAT  VRD  FINN  MAGNUSSEN. 

er  schweift  gern  nach  verschiedenen  Richtunoren  aus  und  kann 
einer  blossen  Vermuthung  oder  einem  wenn  auch  sinnreichen 
Gedanken,  wozu  besonders  die  mythischen  Lieder  bei  ihrer 
dunkelen  Bedeutsamkeit  leicht  Anlass  geben,  nicht  widerstehen. 
Hätte  er  den  Kreis  der  Betrachtung  enger  abgeschlossen,  so 
würde  das  Ganze  gleichförmiger  und  reinlicher  ausgefallen  sein, 
gewiss  auch  ansprechender,  zumal  für  das  Publikum,  das  Hr. 
38  Finn  Magnussen  im  Sinne  hat.  Mehr  als  eine  schwache  Ver- 
muthung ist  es  zum  Beispiel  nicht,  wenn  er  annimmt,  dass  die 
Völuspä  bei  dem  Sonnenfest  und  Johannisfeuer  sei  vorgesungen 
worden,  oder  dass  Vidar  eine  Wasserhose,  Typhon,  bedeute, 
bei  welcher  Gelegenheit  drei  enggedruckte  Seiten  mit  Beschrei- 
bungen dieses  Meteors  angefüllt  sind.  Zu  Grimnismäl  wird  ein 
poetischer  Kalender  der  Heidenzeit  aufgestellt,  und  Rünacapituli 
begleitet  eine  20  Seiten  lange  Abhandlung,  welche  des  Ver- 
fassers Ansicht  über  Entstehung  und  älteste  Bildung  der  Runen 
vorträtrt.  Am  meisten  und  liebsten  verweilt  er  bei  Verglei- 
«hungen  der  Edda  mit  asiatischen  Mythen  und  Sitten,  und 
wiewohl  das  alles  viel  Raum  einnimmt,  muss  er  doch  über 
Mangel  daran  klagen  und  auf  ein  besonderes  Werk  verweisen, 
welches,  als  Seitenstück  zu  vorliegendem,  die  Eddalehre  in 
ihren  mannigfaltigen  Beziehungen  darstellen  soll.  Hätte  er 
nicht  besser  gethan,  alles  dafür  zurückzuhalten,  dagegen  aber 
die  beiden  Lieder  Rigsmäl  und  Grottasaungr ,  welche  ganz 
eigentlich  zur  Edda  gehören,  aufzunehmen?  Wir  müssen  die 
Auslassung  derselben  tadeln  und  wissen  sie  nicht  zu  erklären. 
Die  Anmerkung  in  der  Vorrede  des  ersten  Bandes  S,  XVHI 
gibt  doch  eigentlich  keine  Auskunft  darüber,  auch  steht  Rigsmäl 
in  der  schwedischen  Übersetzung. 

Werth  und  Einfluss  gegenwärtiger  Arbeit  erkennen  wir 
in  dem  Nutzen,  den  sie  dem  Studium  des  Originals  gewähren 
wird.  Es  sind  Stufen  in  den  Felsen  gehauen,  auf  welchen  wir 
zu  der  reinen  Quelle  mit  mehr  Sicherheit  und  Bequemlichkeit 
hinabsteigen  können.  Ein  allgemeineres  Eindringen  dieser 
Poesie  und  eine  Theilnahme  des  grösseren  Publikums  erwarten 
wir  nicht.  Wir  denken  gewiss  nicht  geringer  über  ihren 
inneren  Gehalt,   als   Hr.  Finn  Magnussen,   einige  dieser  Edda- 


VAN  HET  LETTERSCHRIFT  DOOR  MR.  W.  BILDERDIJK.  353 

lieder  dürfen  sich  kühn  mit  dem  Besten  vergleichen,  was  andere 
Völker  aus  ihrem  Alterthum  besitzen ;  aber  Sinn  und  Gefühl  39 
dafür,  wie  sollte  es  unsere  Zeit  erlangt  haben?  Diese  Lieder 
können  nur  historisch  verstanden  und  gewürdigt  werden,  Sie 
gleichen  einer  Alpenpflanze,  die  in  den  Thälern  nicht  gedeiht, 
in  welchen  das  jetzige  Geschlecht  seine  Wohnungen  aufgeschlagen 
hat.  Ebenso  wenig  können  an  sich  immerhin  wohl  ausgeführte 
Werke  der  Malerei  und  Bildhauerkunst,  die  dorther  ihren  Stoff 
genommen,  verständlich  werden  und  Eingang  finden,  auf 
welche  Lieblingsidee  Hr,  Finn  Magnussen  auch  hier,  in  der 
Vorrede  zum  vierten  Bande,  zurückkehrt. 

Wird  der  dritte  Theil  der  Kopenhagener  Ausgabe,  woran 
nach  der  Versicherung  des  dabei  thätigen  Verfassers  bereits 
gearbeitet  wird,  vollendet  sein*),  so  bleiben  für  die  Edda  keine 
grossen  Wünsche  mehr  übrig.  [anonym.] 


VAX  HET  LETTERSCHRIFT,  49 

door  Mr.  Willem  Bilderdijk.     Rotterdam.     Bei  J.  Immerzeel  dem  jung.  1820. 

X  und  208  S.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.    Bd  I,  6.  Stück,  den  8.  Januar  1825.    S.  -19 — 64. 

Jtlerr  Bilderdijk,  als  Dichter  und  Gelehrter  seinem  Vater- 
lande ein  Stern  erster  Grösse,  macht  hier  durch  den  Druck 
zwei  Abhandlungen**)  einem  weiteren  Kreise  bekannt,  die  er  in 
den  Sitzungen  des  holländischen  Instituts  vorgelesen  hatte.  Sie 
betreffen  einen  schwierigen  schon  mehrmals,  man  kann  aber 
nicht  sagen,  mit  Glück  berührten  Gegenstand.  Der  in  seinen 
Ansichten  und  seinem  Urtheil  immer  unabhäuoricre  Verf.  ver- 
spricht  dagegen  die  Frage  so  zu  beantworten,  dass  für  Gelehrte 
und  Ungelehrte  sie  als  völlig  gelöst  könne  betrachtet  werden. 
^Schlagen  wir  einen  ganz  anderen  Weg  ein,"  ruft  er,  „verlassen 
wir  alle  Vermuthungen  und  Voraussetzungen,  von  welchen  unsere 
Vorgänger  ausgegangen  sind!"  Es  ist  wahr,  eigen  ist  dem  Verf. 
alles,   was   er   vorbringt,    und    das  Meiste  ist  zugleich  originell. 

*)  [Vgl.  uDten  S.  39ti  f.] 
**)  [Änderung  für  ..Vorlesungen"  im  Handexemplar.] 

>v.  GKIMM,  KL.  SCHBIKTEN.  H.  23 


354  VAN  HET  LETTERSCHRIFT  DOOR  MR.  W.  BILDERDIJK, 

50  Die  erste  Abhandlung  betrifft  die  Gestalt  der  Buch- 
staben. Zuvorderst  werden  die  bisherigen  Meinungen  abge- 
fertigt: verderbte  und  entstellte  Hieroglyphen  können  sie  nicht 
sein,  denn  dies  setzt  die  falsche  Ansicht  voraus,  dass  den 
Hieroglyphen  ein  höheres  Alter  zukomme,  als  der  Buchstaben- 
schrift. Einen  Zufall  darf  man  bei  ihrer  Bildung  nicht  annehmen, 
denn  es  gibt  keinen  Zufall,  und  die  Berufung  darauf  ist,  nach 
Leibnitzens    Ausdruck,     nichts    Anderes     als    ein     argumentum 

"  pigritiae.  Deutet  man  auf  einen  mystischen  Grund,  so  sagt 
man  eigentlich  nichts,  was  diese  Sache  näher  angeht,  denn 
alles,  was  ist,  hat  einen  mystischen  Grund.  Abbildung  der 
Gegenstände,  von  welchen  sie  den  Namen  führen,  sind  es 
endlich  auch  nicht,  wiewohl  es  bei  einigen  allerdings  den  Schein 
hat,  vielmehr,  um  uns  am  Eingang  zu  überraschen,  behauptet 
Herr  Bilderdijk,  „die  Gegenstände  seien  nach  der  Gestalt  der 
Buchstaben  genannt  und  nicht  umgekehrt  diese  nach  den 
Gegenständen." 

Von  diesen  vier  Abwegen,  auf  welchen  die  zahlreichen 
Vorgänger  sämmtlich  wandelten,  will  der  Verf.  keinen  betreten. 
Man  kennt  Helmonts  Einfall,  welcher  in  den  Muskeln  der 
Wange  und  des  Mundes  die  Gestalt  der  Buchstaben  fand;  man 
hat  darüber  gelacht,  „und  in  der  That",  sagt  Hr.  Bilderdijk, 
„wenn  man  seine  Abbildungen  ansieht,  kann  man  sich  kaum 
des  Lächelns  enthalten."  Dennoch  ist  er  der  Einzige,  an  den 
sich  Hr.  Bilderdijk  gewissermassen  anschliesst:  „Helmont  hat 
von  der  Wahrheit  etwas  gesehen,  aber  umnebelt,  und  eben 
dieser  Nebel  hat  ihn  falsch  geleitet." 

Nach  diesem  Wink  stellt  er  nun  die  eigene  Behauptung 
auf,  von  deren  Wahrheit  er  vollkommen  überzeugt  ist:  nämlich 
die  Buchstaben  seien  nichts  Anderes,  als  Abbildungen  der 
Sprach  Werkzeuge  ;   was  den  Sprachlaut  hervorbringe,  diene 

51  zugleich  ihn  sichtlich  zu  bezeichnen.  Die  Labiallaute  werden 
also  durch  die  Lippen,  die  Gutturallaute  Jurch  die  Kehle  und 
die  Linguallaute  durch  die  Zunge  angedeutet;  und  diese  Unter- 
scheidung musste  dem  Alphabet  vorangegangen  sein.  Für  die 
Vocale,  da  bei  ihrer  Bildung  die  Sprachwerkzeuge  nicht  thätig 
sind  und   sie   in   einem   blossen  Aushauchen  bestehen,   kann  es 


VAN  HET  LETTERSCHRIFT  DOOR  MR.  W.  BILDERDIJK.  355 

nach  dieser  Ansicht  eigentlich  keine  Buchstaben  geben,  weshalb 
denn  auch  der  Verfasser  jener  (historisch  unbegründeten)  Ansicht 
zugethan  ist,  welche  die  ältesten  Alphabete  nur  aus  Consonanten 
bestehen  lässt.  Natürlich  nimmt  er  nur  ein  einziges  Alphabet 
an,  von  welchem  alle  übrigen  abzuleiten  sind.  Diese  aber  haben 
häufig  das  Ursprüngliche  entstellt,  woran  theils  die  Flüchtigkeit 
der  Schreiber,  die,  von  einem  Zug  zum  anderen  fibergehend, 
die  Feder  nicht  absetzen  wollten,  theils  die  Neigung  zur  Ver- 
zierung Schuld  hat.  Die  Keilschrift  z.  B.  betrachtet  der  Verf.  . 
als  aus  einem  solchen  Streben  nach  Gleichförmigkeit  entstanden. 

Die  Behauptung  selbst  wird  an  zwei  Alphabeten,  dem 
hebräischen  und  lateinischen,  ausgeführt,  weil  sie  Hrn.  Bilderdijk 
die  ältesten  und  ursprünglichsten  scheineö.  Das  lateinische 
stelle  das  altgriechische  reiner  und  vollkommener  dar,  als  das 
griechische,  wie  wir  es  kennen.  Mit  den  Gutturalbuchstaben 
wird  der  Anfang  gemacht.  Da  die  Kehle  eine  Höhlung  ist,  so 
bildet  das  C  am  einfachsten  das  Sprachwerkzeug  ab,  das 
hebräische  r  kehrt  das  Zeichen  nur  um,  so  wie  das  K  dadurch 
entsteht,  dass  der  Stab  (Standarte  sagt  der  Verf.  im  Hollän- 
dischen) vor  das  C  gestellt  wird.  Gleichfalls  ist  p  dasselbe 
Bild  der  Kehle,  jedoch  mit  zugefügtem  Stab.  Bei  dem 
G  wird  nur  die  Wurzel  der  Zunge  angehängt,  und  das  hebräische 
;;  besteht  aus  einem  r,  mit  welchem  ein  kleines  "7  als  Zeichen 
der  Zunge  verbunden  ist. 

Es  folgen  die  Zungenbuchstaben.  Hier  ist  T  die  Grund-  52 
gestalt  und  bildet  die  Zunge  ab,  als  einen  langen,  biegsamen, 
sich  schlängelnden  Körper;  nur  oben  und  unten  ist  der  Strich 
etwas  stärker  gezogen.  Mit  dem  lateinischen  L  wird  Hr.  Bil- 
derdijk  auch  fertig:  unten  der  Querstrich  ist  die  Hauptsache 
und  natürlich  nichts  Anderes,  als  die  Zunge  selbst,  oben  der 
Strich  gilt  nichts  und  ist  bloss  der  zugesetzte  Stab.  Bei  dem 
R  krümmt  sich  die  Zunge,  das  stellt  Kesch  vor:  "1,  wozu  im 
lateinischen  Buchstaben  nur  die  Standarte  kommt.  Späterhin 
wird  noch  angemerkt,  dass  L  und  R  eigentlich  nur  ein  Buch- 
stabe seien.  Durch  den  Stoss  der  Zunge  gegen  die  Zähne 
entstehen  die  Zahnlaute,  die  Abbildung  davon  ist  deutlich  in 
dem  lateinischen  T,  dem  hebräischen  Daleth  ~  und  dem  kleinen 

23* 


356  VAN  HET  LETTERSCHRIFT    DOOR  MR.  W.  BILDERDIJK. 

griechischen  x;  bei  dem  D,  einer  blossen  Nuance  des  Lautes, 
ist  der  Strich  nur,  ohne  die  Feder  abzusetzen,  herumgezogen; 
dieselbe  Erscheinung  im  hebräischen  12.  Das  S  zeigt  die  beim 
Zischen  gekrümmte  Zunge  nicht  bloss  in  dem  lateinischen  und 
griechischen  s,  auch  im  hebräischen  D,  wovon  das  griechische  a 
nur  die  umgekehrte  Figur  ist.  Das  spätere  griechische  ^  ist 
durch  Zufügung,  das  griechische  C  durch  Auslassung  eines 
Theiles  des  ursprünglichen  Zeichens  entstanden,  als  man  in 
den  Buchstaben  die  Bedeutung  nicht  mehr  sah.  Das  Z  ist 
nichts  als  ein  umgekehrtes  S.  Das  hebräische  1  und  ü  abermals 
dieselbe  Figur. 

Endlich  die  Labiallaute.  Das  B  Abbild  beider  Lippen,  die 
Unterlippe  dicker,  nur  der  Stab  ist  hinzugefügt.  Ein  Holz- 
schnitt, die  Lippen  in  groben  Umrissen  darstellend,  macht  alles 
noch  viel  anschaulicher.  Das  hebräische  2  soll  dieselbe  Ab- 
bildung liefern,  nur  ohne  Stab  und  ausgefüllt.  Das  P  schliesst 
die  Lippen  zusammen,  vielleicht  ist  es  auch  nur  eine  Verschie- 
denheit von  F.  Was  aber  das  F  betrifft,  so  bildet  es  ab  (und 
53  ein  Holzschnitt  versinnlicht  das  abermals  noch  mehr)  die  Aus- 
blasung, wobei  die  Unterlippe  eingezogen  wird;  das  hebräische 
r]  stellt  dasselbe  nur  umgekehrt  vor,  und  gibt  man  das  zu,  darf 
man  sich  auch  nicht  weigern,  im  arabischen  J>  wieder  den 
blasenden  Mund  zu  erkennen.  Das  M  zeigt  die  Lippe  von 
vorne,  nämlich  die  Stäbe  von  beiden  Seiten  fallen  weg,  und  was 
in  der  Mitte  bleibt,  der  Winkel,  wird  sanft  gekrümmt;  damit 
soll  man  den  althebräischen  Buchstaben  vergleichen.  Bei  dem 
N  gilt  auch  nur  der  Querstrich,  welchen  man  sich  gekrümmt 
vorstellen  muss,  der  dann  ein  Bild  der  Zunge  ist,  wie  sie  gegen 
den  Gaumen  drückt. 

Vocale  können,  wie  schon  vorhin  bemerkt  ist,  nach  diesem 
System  nicht  bezeichnet  werden,  weil  bei  einem  blossen  Aus- 
hauch die  Sprachwerkzeuge  nicht  thätig  sind.  Indessen  zeigt 
uns  Hr.  Bilderdijk  einen  Ausweg,  den  man  gefunden  habe. 
Ein  Strich  bezeichnet  die  Ausathmung,  und  zwei  Striche,  ent- 
weder parallel  laufend  oder  sich  mehr  und  weniger  erweiternd, 
bilden  den  allgemeinen  Vocal.  Bei  dem  A  zeigt  sich  dies 
deutlich,    noch   mehr,    wenn   man    an    die   liegende    Gestalt   im 


VAX  HET  LETTERSCHRIFT    DOOR  MR.  W.  BILDERDIJK.  357 

phönicischen  Alphabet  denkt,  das  H  liefert  die  beiden  gerad 
auslaufenden  Linien,  welche  bei  dem  V  (denn  beide  gehören 
als  Spiranten  zu  den  Vocalen)  von  einem  Punkt  ausgehen.  Das 
scheinbar  dieser  Ansicht  so  sehr  widerstrebende  hebräische  N 
beseitigt  Hr.  Bilderdijk  auf  folgende  Art:  die  beiden  krummen 
Züge  gelten  allein  und  sind  ursprünglich  die  beiden  geraden, 
der  Querstrich  drückt  nur  die  Verbindung  aus.  Auf  ähnliche 
Art  wird  denn  auch  das  griechische  r,  erklärt. 

Dies  wäre  das  Zeichen  für  den  allgemeinen  Vocal;  zwar 
kann  nun  durch  verschiedene  diakritische  Zusätze,  Vocalpunkte 
genannt,  das  E  I  O  U  angedeutet  werden,  aber  es  gibt  noch 
eine  sinnlichere  und  weniger  willkürliche  Art :  es  wird  nämlich  M 
die  Vorbereitung,  die  Beschafienheit  der  Röhre,  durch  welche 
der  Laut  des  Vocals  geht,  dargestellt.  Man  merkt  hier  schon, 
welche  Hilfe  Hr.  Bilderdijk  gefunden  hat.  A  bezeichnet  dem- 
nach die  einfache  Ausathmung;  E  das  platt  gegen  einander 
gestellte  Ober-  und  Untertheil  des  Mundes;  I  den  dünnen, 
schlichten  Laut;    O   den   gerundeten  Mund;    U   hat   etwas  vom 

0  und  I  wie  im  Laut,   so  auch  in  der  Gestalt.     Im  Y  ist  das 

1  unter  das  IT  gestellt.  —  Das  W  wird  zwar  angesehen  als 
diakritische  Verdoppelung  von  V,  aber  mehr  in  Übereinstimmung 
mit  dem  Übrigen  als  Abbildung  der  Lippen,  welche  die  um- 
gekehrte Gestalt  von  M  haben.  —  Was  noch  Ober  die  doppelten 
Buchstaben  gesagt  wird,  mag  man  im  Buche  selbst  nachsehen, 
wir  dürfen  es  hier  übergehen,  indem  dabei  keine  Nachbildung 
von  Sprach  Werkzeugen  vorkommt,  die  wir  nicht  schon  bei  den 
einfachen  Buchstaben  kennen  gelernt  hätten.  Es  kam  uns  nur 
darauf  an,  die  Hypothese  des  Hrn.  Bilderdijk  so  deutlich  dar- 
zustellen, als  es  ohne  die  vielen  Holzschnitte  möglich  ist;  an 
diese  scbliesst  sich  die  am  Ende  zugegebene  Kupfertafel,  worauf 
das  ursprüngliche  Alphabet  des  Hrn.  Bilderdijk  mit  den  ältesten, 
wirklichen  Alphabeten  zusammengestellt  ist. 

Wer  etwa  Hm,  Bilderdijk  vollen  Beifall  geben  sollte,  wird 
doch,  wenn  er  unbefangen  ist,  eingestehen  müssen,  dass  Manches 
sehr  widerstrebt  und  nur  mit  Noth  und  starkem  Zwang  in 
Übereinstimmung  gebracht  wird.  Bei  dem  L  z.  B.  wird  der 
Stab  für  unbedeutend   gehalten,   um   in  dem  Querstrich  unten 


358  VAN  HET  LETTERSCHRIFT    DOOR  MR.  W.  BILDERDIJK. 

die  Zunge  zu  erkennen  (der  eben  so  deutlich  noch  tausend 
•  andere  Dinge  bezeichnen  könnte),  während  jener  in  allen  semi- 
tischen Alphabeten,  wie  wir  aus  der  vergleichenden  Tafel  bei 
Kopp  (Bilder  und  Schrift  II,  388)  ersehen,  vorhanden  ist  und 
55  offenbar  zum  wesentlichen  Charakter  des  Buchstaben  gehört ;  ja 
gerade  in  der  ältesten  babylonischen  Schrift  ist  der  Haken 
unten  ganz  klein.  Dagegen  beim  T  gilt  dem  Verf.  der  Stab 
viel,  weil  das  gerade  zu  seiner  Meinung  passt.  Wie  kann  man 
auf  diesem  Wege  erkennen,  dass  das  lateinische  B  und  hebrä- 
ische 2  nur  eine  und  dieselbe  Figur  sind!  Bei  dem  A  und  H 
machen  die  Stäbe  wieder  die  Hauptsache  aus,  dagegen  beim 
^<  wird  der  Querstrich  für  Nebensache  gehalten,  wiewohl  er 
offenbar  einer  von  jenen  Hauptstrichen  ist. 

Ob  nun,  ungeachtet  solcher  der  einfachsten  Betrachtung 
in  die  Augen  fallender  Bedenklichkeiten,  diese  neue  Ansicht 
von  der  Gestalt  der  Buchstaben  vielen  ansprechend  und  ein- 
leuchtend (wir  wollen  nicht  sagen  überzeugend,  wie  Hr.  Bilder- 
dijk  selbst  glaubt)  sein  wird,  mag  dahin  gestellt  bleiben.  Soll 
Rec,  der  diesen  Erfolg  gar  sehr  bezweifelt,  seine  Stimme  ab- 
geben, so  scheint  ihm  wohl  Rücksicht  zu  verdienen,  was  in 
einer  so  dunklen,  ungewissen  Sache  ein  geistreicher  und  ge- 
lehrter Mann  für  eine  Meinung  hegt,  aber  diese  Meinung  selbst 
hat  so  wenig  Ansprechendes  für  ihn,  deucht  ihm  so  fremd  und 
seltsam,  ja  unnatürlich,  dass  er  das  Ganze  für  nichts  als  etwa 
einen  artig  und  witzig  durchgeführten  Einfall  halten  kann. 
Man  muss  sich  aber  verwundern,  wenn  man  sieht,  wie  Hr. 
Bilderdijk  als  ausgemachte,  zweifellose  Wahrheit  vorträgt,  was 
ihm  höchstens  eine  wahrscheinliche  Vermuthung  sein  sollte, 
zumal  wenn  man  sich  an  die  heftigen,  fast  bitteren  Äusserungen 
in  der  Vorrede  erinnert.  Nur  etwas  davon,  was  er  gleich  im 
Eingang  sagt,  wollen  wir  anführen:  „in  einer  Zeit,  wo  die  all- 
gemeine Sucht,  in  den  Wissenschaften  zu  glänzen,  die  alles 
verdüsternde  und  betäubende  Schwärme  von  Halbwissern  und 
ihren  Nachbetern  nothwendig  ins  Unendliche  und  in  allerlei 
Gestalten  vervielfältigen  muss,  sah  ich  es  von  Jugend  auf  für 
eine  Pflicht  an,  der  Benebelung  eines  blinden  Eigendünkels 
66  und  ihres  abgeschmackten  Anhangs  entgegenzuarbeiten,  und  all 


VAX  HET  LETTERSCHRIFT    DOOR   MR.  W.  BILDERDIJK.  359 

mein  Bestreben  gieng  dahin,  die  Wahrheit  aufzudecken,  die  rein 
und  unparteiisch  ist  und  sich  mit  keinen  Hirngespinsten  und 
Willkürlichkeiten  vereinigen  lässt."  Er  allein  scheint  sich 
gleichsam  aus  einer  Sündfluth  gerettet  zu  haben. 

Der  Verf.  ist  unerschöpflich  im  Lobe  der  von  ihm  ent- 
deckten Erfindung  und  betrachtet  sie  in  jeder  Hinsicht  als 
vollkommen.  Diese  Buchstaben  thun  alles,  sagt  er:  sie  belehren, 
«ie  zeigen,  bilden  ab,  drücken  aus.  Das  R  spricht  zu  dem 
Lesenden:  lass  deine  Zunge  beim  Ausathmen  erzittern!  das 
S:  lass  sie  gegen  die  Zähne  zischen!  das  T:  stosse  sie  gegen 
die  Zähne!  das  F:  ziehe  bei  dem  Ausgang  des  Lauts  die 
Unterlippe  ein!  das  B:  schliess  die  Lippen!  usw.,  ordentlich 
ein  militärisches  Exercitium.  Eine  Erfindung,  sagt  er  weiter, 
die,  einmal  verloren,  jeder  richtig  und  hell  sehende  menschliche 
Kopf  wieder  erfinden  musste.  Wie  lange  hat  die  blinde  Welt 
einen  solchen  entbehrt!  Denn  Hr.  Bilderdijk  hätte  doch  daran 
-denken  sollen,  dass  ein  Paar  tausend  Jahre  und  länger,  so  lange 
wir  mit  Sicherheit  den  Gebrauch  der  Schrift  annehmen  dürfen, 
«ie  verloren  gewesen  und  wahrscheinlich  gleich  nach  ihrer 
Oeburt  auch  wieder  abgestorben  ist.  Wo  findet  sich  nur  der 
leiseste  Wink,  dass  man  die  Buchstaben  je  anders  als  blosse 
Zeichen  betrachtet  und  ein  einziger  Mensch  den  Befehlen 
gemäss  gelesen  hätte,  die  nach  Hrn.  Bilderdijk  das  Alphabet 
beständig  ergehen  lässt?  Sind  nicht  auf  den  ältesten  Inschriften, 
die  wir  kennen,  die  Züge  so  gestaltet,  dass  man  sicher  sein 
kann,  der,  welcher  sie  eingehauen  oder  eingeritzt,  habe  auch 
nicht  entfernt  daran  gedacht,  sie  als  Abbildung  der  Sprach- 
werkzeuge zu  betrachten.  Diese  neue  Ansicht  erläutert  uns 
daher  nichts  und  wird  auch  jetzt  bei  niemand,  der  sich  der 
Schrift  bedient,  den  geringsten  Einfluss  haben.  Man  hat  durch 
sorgfältige  Beobachtung  gefunden,  dass  bei  Bildung  einiger  57 
Buchstaben  die  Kehle,  bei  anderen  Zunge  und  Lippe  einwirken, 
imd  darnach  sie  eingetheilt,  aber  das  gilt  doch  nur  von  vor- 
züglicher Thätigkeit;  alle  Sprachwerkzeuge  nehmen  auf  eine 
lebendige  und  schwerlich  ganz  genau  nachzuweisende  Art  Theil. 
Warum  ist  es  so  schwer,  oft  völlig  unmöglich,  gewisse  Laute 
fremder  Sprachen  zu  erlernen,  obgleich  die  Werkzeuge  überall 


360  VAN  HET  LETTERSCHRIFT    DOOR  MR.  W.  BILDERDIJK. 

dieselben  sind?  Ist  dem  Erfinder  des  Alphabets  ausser  der 
Einsicht  in  die  Sprachlaute  zugleich  eine  genaue  Einsicht  in 
die  Art  und  Weise,  wie  sie  hervorgebracht  werden,  zuzuschreiben, 
so  vergrössert  sich  das  Wunderbare  der  Erfindung  noch  mehr. 
Und  wie  soll  man  sich  denken,  dass  auf  diese  Weise  jemand 
das  Lesen  lerne?  Erst  müsste  ihm  die  Theilnahme  der  Sprach- 
werkzeuge deutlich  gemacht  und  die  ganze  Organisation  der 
Kehle,  Zunge,  Zähne  in  anatomischen  Vorlesungen  auseinander- 
gesetzt werden.  Und  das  würde  der  Lernende  doch  sogleich 
wieder  vergessen;  er  würde  sich  gewöhnen  mit  einem  be- 
stimmten Zeichen  ein&n  bestimmten  Sprachlaut  zu  verbinde» 
und  gewiss  nicht  der  Abbildunfj  und  dem  Commando  des^ 
Buchstaben  gemäss  seine  Werkzeuge  in  Thätigkeit  setzen.  Das 
ist  der  Grund,  warum  dem  Rec.  die  Erfindung  des  Hrn.  Bilder- 
dijk,  als  eine  überflüssige  und  unpraktische,  auch  so  unnatürlich 
erscheint. 

Endlich  die  Stützen  der  ganzen  Hypothese,  wie  gebrechlich 
sind  sie!  Die  hebräische  Quadratschrift,  welche  Hr.  Bilderdijk 
als  die  älteste  ansieht,  ist,  wie  Kopp  in  der  semitischen  Paläo- 
graphie  (Bilder  und  Schrift  H,  177)  bewiesen  hat,  sehr  jung^ 
und  etwa  erst  im  vierten  Jahrhundert  nach  Chr.  aufgekommen. 
Also  mit  dem  phönicischen  Alphabet  hätte  von  Rechtswegen 
der  Beweis  geführt  werden  müssen.  Das  lateinische  aber 
behandelt  der  Verf.  ganz  willkürlich,  indem  er,  wie  es  ihm  gut- 
58  dünkt,  den  Stab  bald  gelten  lässt,  bald  da  wegnimmt,  wo  er 
sichtlich  einen  wesentlichen  Theil  des  Lautzeichens  ausmacht, 
und  das  alles  nach  blossen  Voraussetzungen,  ohne  den  geringsten, 
geschichtlichen  Beweis. 

Die  andere  Abhandlung  hat  es  mit  der  Ordnung  der 
Buchstaben  zu  thun.  Warum  fängt  gerade  A,  B  an,  warum 
folgt  r,  A  oder  C,  D  usw.?  Noch  niemand  hat  bis  jetzt 
den  Grund  davon  eingesehen,  und  dadurch,  dass  die  Alphabete, 
welche  von  dem  phönicischen  abstammen,  wenn  sie  auch  im 
Ganzen  dieselbe  Ordnung  beibehalten,  doch  mehr  oder  weniger 
im  Einzelnen  abweichen  und  Veränderungen  eingeführt  haben, 
wird  jede  Untersuchung  sehr  erschwert.  Hr.  Bilderdijk  glaubt 
indessen  die  Regel  der  Folge  entdeckt  zu  haben   und   zeigt  sie 


VAN  HET  LETTERSCHRIFT    DOOR    MR.  W.  BTLDERDIJK.  361 

an  dem  hebräischen  Alphabet  als  dem  vollständigsten  und 
ursprünglichsten,  da  auch  schon  im  griechischen  und  latei- 
nischen Buchstaben  fehlen.     Er  theilt  es  in  sechs  Reihen: 


1) 

^      2 

(b) 

"1 

'-i) 

n    1 

n 

CO 

3) 

2< 

(w) 

-^ 

b 

■i) 

ü 

D 

5) 

(;*)    2 

«* 

> 

ü 

6) 

2 

F 

-1 

n 

Hier,  behauptet  er  nun,  herrsche  folgende  Ordnung:  Der 
Vocal  gehe  jedes  Mal  voraus,  und  ihm  folge  ein 
Labial-,  dann  ein  Guttural-,  endlich  ein  Lingual- 
buch Stabe,  so  dass  immer  viere  mit  einander  verbunden 
seien.  Die  erste  Reihe  passt  vollkommen  zu  der  Regel.  In 
der  zweiten  wird  .~  als  Vocal  betrachtet,  und  gewaltsame  Hilfe 
ist  es,  wenn  Sajin,  welches  hinter  "l  seinen  Platz  hat,  ganz 
herausgeworfen  und,  weil  es  in  das  System  nicht  passt,  als  ein  59 
später  eingefügter  Buchstabe  betrachtet  wird.  In  der  dritten 
Reihe  wird  Beth  wiederholt  und  als  W  hinter  Jod  eingerückt, 
dafür  hat  es  als  B  in  der  ersten  Reihe  einen  Punkt  erhalten. 
In  der  vierten  fehlt  der  Vocal,  doch  Hr.  Bilderdijk  betrachtet 
dies  nicht  als  einen  Mangel.  Die  Buchstaben  dieser  Reihe, 
sagt  er,  erfordern  einen  geschlossenen  Mund,  und  ein  solcher 
kann  keinen  Vocal  hervorbringen.  Ferner  wird  Nun  Z  unter 
die  Gutturallaute,  als  ein  ng,  gebracht,  obgleich  die  hebräischen 
und  griechischen  Grammatiken  den  Buchstaben  unter  die 
Linguallaute  stellen.  In  der  fünften  Reihe  wird  >  als  Vocal  O 
betrachtet,  dann  noch  einmal  als  Consonant  hinter  C  unter  den 
Gutturalen  wiederholt.  In  der  sechsten  Reihe,  iur  welche  es 
nun  keinen  Vocal  mehr  gibt,  muss  der  fehlende  Labialbuchstabe 
durch  ein  punktirtes  C  der  vorigen  Reihe  angeschaffi  werden. 
Endlich  r  und  n  sind  als  Varietäten  der  Lingualbuchstaben 
angehänort. 


362  VAN  HET  LETTERSCHRIFT    DOOR    MR.  W.  BILDERDIJK.  • 

Das  griechische  (sonst  aber  der  Regel  ausser  in  der  ersten 
Reihe  sich  nicht  fügende)  Alphabet  hat  eine  Reihe  mehr: 

T    <D    X    *r 

Sodann  gibt  Hr.  Bilderdijk  auch  noch  die  Gründe  an, 
warum  jedes  Mal  diese  und  keine  anderen  Buchstaben  in  einer 
Reihe  zusammengestellt  seien  wodurch  der  Platz,  den  jeder 
«innimmt,  so  nothwendig  erscheint,  dass  auch  die  geringste 
Versetzung  unzulässig  wäre  und  ursprünglich  alles  müsste  aufs 
Genaueste  bestimmt  worden  sein.  In  der  ersten  Reihe  nämlich 
zeige  sich  die  einfache  Wirkung  der  Stimme  und  Sprachwerk- 
zeuge, in  der  zweiten  die  blasende,  in  der  dritten  die  fliessende, 
€0  in  der  vierten  die  schliessende  und  klemmende ,  in  der  fünften 
die  stark  angesetzte,  in  der  sechsten  die  stossende. 

Von  den  übrigen  Alphabeten,  die  aus  dem  hebräischen 
(sollte  heissen  phönicischen)  sich  entwickelt,  bemerkt  der  Verf. 
nur,  dass,  hauptsächlich  weil  sie  nicht  alle  Buchstaben  aufge- 
nommen hätten,  ihre  Regelmässigkeit  verloren  gegangen  sei. 

Rec.  setzt  mehr  Werth  in  diese  Abhandlung,  als  in  die 
vorige,  gleichwohl  scheint  ihm,  wenn  man  die  Sache  kühl  und 
ohne  Vorliebe  betrachtet,  noch  sehr  wenig  gewonnen.  Eigentlich 
nur  die  er^te  Reihe  passt  ordentlich  zu  der  Regel,  bei  den 
übrigen  gibt  es  grössere  oder  geringere  Schwierigkeiten,  die 
auf  allerlei  Art  aus  dem  Wege  geschaflft  werden.  Der  V^ocal 
fehlt  dreimal,  und  diese  Noth  wird  einmal  als  eine  Tugend 
ausgelegt,  zweimal  wird  er  durch  Consonanten  ersetzt.  Ganz 
ausgeworfen  wird  der  Buchstabe  T.  Drei  werden  verdoppelt: 
2,  D  und  y,  und  einer  wird  aus  einem  Lingual-  zu  einem 
Gutturallaut  gemacht,  das  j.  Wie  bedenklich  ist  aber  das 
Vertilgen  von  Sajin,  da  nun  auch  das  griechische  Z  muss  weg- 
genommen werden,  so  wie  das  Einrücken  eines  Buchstaben  nach 
Jod  und  Lamed,  da  im  Griechischen  und  Lateinischen  dieselben 
Lücken  vorauszusetzen  wären.  Endlich  zwei  Buchstaben  bleiben 
übrig,  "{V  und  n,  und  müssen  als  ein  Anhang  sich  mit  fort- 
schleppen. 

So  höchst  ungewiss  durch  dies  alles,  wenigstens  nach 
unserer  Meinung,  die  Entdeckung  des  Hrn.  Bilderdijk  wird,  so 
müssen  wir  doch  anerkennen,  dass  sein  Scharfsinn  uns  gestattet, 


VAN  HET  LETTERSCHRIFT    DOOR   MR.  W.  BILDERDIJK.  363 

eine  gewisse  Ordnung  in  dem  Alphabet,  die  an  sich  nicht* 
unnatürlich  scheint  (die  freilich  abermals  das  Wunder  der  ersten 
Erfindung  steigern  würde),  wenigstens  zu  ahnen  oder  durch- 
schimmern zu  sehen.  Die  Beobachtimg,  dass  in  der  1.,  2.,  3. 
und  6.  Reihe  jedes  Mal  ein  Lingual-  nach  einem  Gutturalbuch-  Gl 
Stäben  kommt,  wollen  wir  immer  mit  Dank  annehmen,  wenn 
wir  sie  stets  fürs  erste  auch  noch  nicht  zu  gebrauchen  wüssten. 
Ebenso  verdient  Berücksichtigung,  dass  das  griechische  V,  O, 
X,  U'  der  aufgestellten  Regel  folgt. 

Weiter  ausführende  Anmerkungen  sind  den  beiden  Ab- 
handlungen reichlich  zugegeben  (S.  135  — 194);  den  Schluss 
macht  ein  Anhang  über  die  signa  diacritica.  Man  findet  hier 
auch  eine  Untersuchung  über  die  Charaktere  in  der  Sternkunde 
.und  (S.  179 — 183)  ein  ausftihrliches  Urtheil  über  das  Alphabet 
raisonne  von  Mdussaud,  welches  1803  erschienen  ist  und  nach 
Hrn.  Bilderdijks  Meinung  einiges  Gute  enthalten  soll,  wovon 
Rec.  aber  nicht  überzeugt  ist.  S.  142 — 145  wird  jene  im  Text 
schon  berührte,  dem  Verf.  gewiss  ganz  allein  zugehörige  Be- 
hauptung  sog^r  durch  Beispiele  auseinandergesetzt,  wornach  von 
der  Gestalt  der  Buchstaben  selbst  viele  Benennungen  und  zwar 
in  allen  Sprachen  sollen  entlehnt  sein,  die  dann  zugleich  den 
Laut  des  Buchstaben  in  der  Wurzel  haben  müssen.  Man 
denkt  immer  falsch  gelesen  zu  haben  oder  Hrn.  Bilderdijk  nicht 
zu  verstehen,  aber  es  ist  nicht  anders;  von  dem  runden  0  hat 
z.  B.  den  Namen  erhalten:  Ohr,  Hof,  hortus,  oculus;  von  dem 
P  die  birnfbrmige  Perle;  von  Q  das  holländische  Kolf  (Keule) 
und  französische  queue  usw.  Wer  hätte  sich  so  etwas,  wie 
man  sagt,  auch  nur  im  Traume  vorgestellt,  aber  es  gehört 
Phantasie  dazu  oder  vielmehr  Phantasterei  (dweepery  auf 
Holländisch),  um  solche  Ableitungen  zu  erfinden.  Und  welch 
ein  Glück,  dass  (wie  wir  daraus  abnehmen)  das  fertige  Alphabet 
schon  gleich  zur  Hand  war,  so  vielen  Dingen  ihren  Namen  zu 
geben,  die  sonst  lange  darauf  hätten  warten  können  oder  (man 
erlaube  den  Ausdruck)  namenlos  herumgelaufen  wären.  Gleich- 
wohl mögen  einige  nach  dem  O  benannte  ein  solches  Schicksal  62 
gehabt  haben,  als  dieser  höchst  wahrscheinlich  spätere  Vocal 
noch  nicht  existirte  und  in  dem  U  schlummerte. 


364  VAN  HET  LETTERSCHRIFT   DOOR  MR.  W.  BILDERDIJK. 

Wenn  man  in  vorliegenden  Untersuchungen  den  Gedanken 
und  Ansichten  des  Hrn.  Bilderdijk  aufmerksam  nachgefolgt  ist, 
mit  welchem  Erstaunen  liest  man  eine  zu  gleicher  Zeit  ausge- 
gebene Abhandlung  über  Dweepery  i).  Er  macht  anderen  darin 
schonungslos  die  härtesten  und  ungerechtesten  Vorwürfe,  er  will 
nichts  als  die  einzige,  unwandelbare  Wahrheit  und  sonnenklare 
Vernunft,  ja  er  schreit  gleichsam  darnach,  wie  ein  heftig 
Durstender,  und  dann  labt  er  sich  selbst  mit  Einfällen,  so  selt- 
sam und  phantastisch  als  möglich,  die  zu  keiner  Wahrheit 
werden,  wenn  sie  mit  Gelehrsamkeit  und  einem  gewissen  un- 
fruchtbaren Scharfsinn  ausgeziert  erscheinen.  W^as  würde  von 
seiner  Arbeit  übrig  bleiben,  wenn  jemand  Lust  hätte,  ihn  nach- 
zuahmen und  sie  mit  jener  ärgerlichen  Heftigkeit  und  dem 
vornehmen  Blick  von  oben  zu  beurtheilen?  Uns  gefallen  in 
dem  Munde  eines  jeden,  wenn  er  auch  nicht  Homer  wäre,  die 
Worte:  ouxot  £-,'«>YS  %  Yatrj?  ouvajiai  YXuxspwTspov  oKko  tSeoöai  [t,  27], 
und  Hr.  Bilderdijk  mag  mit  Recht  das  alte  Holland  preisen; 
wir  haben  mit  Theilnahme  gelesen,  was  er  gelegentlich  über 
die  echte  Aussprache  der  Amsterdamer  und  ihren  allmählichen 
Untergang  sagt,  und  wenn  er  erzählt,  dass  ihm  das  Herz  auf- 
gegangen sei,  als  er  einen  Alten  im  reinen  Klang  noch  einmal 
habe  reden  hören.  Aber  die  Herabwürdigung  eines  nahver- 
wandten Volkes  ist  nicht  ein  Theil  jenes  vaterländischen  Gefühls. 
6.S  Gewiss,  das  Urtheil  geistvoller,  frei  und  lebendig  beobachtender 
Fremden  hat  besonderen  Werth,  ihr  Auge  ist  nicht  durch 
Gewohnheit  abgestumpft,  die  Betrachtung  nicht  gehemmt  von 
Zuneigung  und  Abneigung,  die  sich  auf  dem  Boden,  dem  wir 
einmal  angehören,  für  die  nächsten  Umgebungen  und  Verhält- 
nisse zu  entwickeln  pflegt;  ein  Fremder  belehrt  immer,  selbst 
wo  er  irrt,  wenn  er  nur  wohlwollend  und  gerecht  ist.  Allein 
was  soll  man  zu  der  Weise  sagen,  womit  Hr.  Bilderdijk 
Deutschland,  seine  Gelehrten  und  Dichter  beurtheilt?  Welcher 
Deutsche  möchte  durch  Beantwortung  und  nähere  Beleuchtung 
Vorwürfe  und  Schmähungen  ehren,   die  Hr.  Bilderdijk  ganz  in 

')  Sie  steht  in  dem  ersten  Bande  seiner  Taai-en  dichtkundige  Yerscheiden- 
heden,  Rotterdam  1820.  Eine  Samnihmg  philosophischer  und  geschichtlicher 
Untersuchungen  über  Sprache  und  Poesie.     Der  vierte  Band  erschien  1823. 


VERZEICHNIS  DÄNISCHER  RUNENSTEINE  VON  NYERüP.  365 

dem  gemeinen  Ton  gereizter  Parteilichkeit  vorbringt?  Wir 
wollen  nur  einige  Stellen  ausheben  und  zwar  in  der  Original- 
sprache, damit  sie  nicht  sogleich  von  den  Tagesblättern  zu 
ihren  pikanten,  leerer  Unterhaltung  dienenden  Artikeln  wegge- 
rafft werden.  „Duitschland,  dat  —  in  zieh  al  de  gruwelen 
vereenigde,  die  het  laagste  gebrek  aan  de  eene,  en  de  dartelste 
uitsporigste  weelde  an  de  andere  zjide  wist  uit  te  broeden ;  men 
zond  dar  zjine  kindren  ter  opvoeding,  en  men  kreeg  hen  te  rüg, 
dom  als  Duitschers,  onwetend  als  zwijnen."  —  „Schiller,  wiens 
beste  bladzijde  hem  en  plaats  in  het  dolhuis  verdienen  zou,  en 
wiens  slechtste  dan  verdraaglijk  is,  als  zy  hem,  zonder  aan't 
gene  hy  schreef  te  denken,  ontslipte."  Am  deutlichsten  spricht 
sich  wohl  die  Ansicht  in  dem  Urtheil  über  die  Verehrung^  aus, 
die  Shakspear  bei  uns  findet.  Nachdem  es  ihm  eingefallen  ist, 
zu  behaupten,  bei  den  phantastischen  Deutschen  sei  Homer  ver- 
achtet, Sophokles  unverstanden  oder  verworfen,  fährt  er  fort: 
„Shakespear  is  hun  held:  maar  alleen  voor  zoo  verr'  hy  beneden 
alle  ordeelkunde,  en  de  tegenvoeteling  van  waarheid  en  goeden 
smaak  is.  Zijn  onzijn  alleen,  zijn  belachlyke  wildzang,  en  zijn  64 
tegendruischen  tegen  al  wat  gezond  verstand  heet  is  hun  wel- 
kom;  't  is  het  onkruid  op  den  akker  der  poezy  (dat  het  koren 
verstikt),  waar  zy  prijs  op  stellen." 

Dergleichen  zu  beschönigen  oder  dem  Verf.,  der  unter  uns 
gelebt  hat,  liebreich  nachzusehen,  finden  wir  durchaus  keinen 
Grund.  [anonym.] 


VERZEICHNISS  DER   IN  DÄNEMARK    1824   NOCH  825 
VORHANDENEN  RUNENSTEINE. 

Von  R.  Nyerup.     Nach   dem   dänischen  Manuscripte  des  Verfassers  übersetzt. 
Kopenhagen,  bey  Brummer  1824.     52  S.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  II,  83.  Stück,  den  23.  Mai  1825. 

S.  825—830. 

xjlIs  Rec.  vor  noch  nicHt  lange  bei  Gelegenheit  der  Bryn- 
julfischen  Schrift  über  Runen  (s.  Jahrg.  1824,  St.  103,  S.  1032  [oben 
S.  337] )  den  Wunsch  äusserte,  dass  bald  ein  umfassendes  Werk 


366  VERZEICHNIS  DÄNISCHER  IIUNENSTEINE  VON  NYERUP. 

über  diesen  Gegenstand  erscheinen  möchte,  dachte  er  nicht, 
dass  eine  Erfüllung  desselben,  wenn  auch  nur  eine  theilweise, 
bereits  nahe  wäre.  Es  wird  uns  hier  die  bevorstehende  Er- 
scheinung eines  Werkes  angekündigt,  welches  von  allen  in 
Dänemark  noch  vorhandenen  Runensteinen  genaue  Abbil- 
dungen sammt  Erklärungen  liefern  soll.  Ist  die  Abbildung 
eines  Denkmals,  die  hier  beiliegt,  zugleich  ein  Probeblatt,  so 
verdient  es  alles  Lob:  Charakter  des  Steins  und  der  Schrift 
scheint  getroffen,  jede  überflüssige  und  bei  diesen  rohen  Felsen- 
stücken zumal  lächerliche  Eleganz  der  Ausführung  vermieden, 
und  da  wir  nicht  zweifeln,  dass  für  die  Hauptsache,  nämlich 
823  für  ein  treues  und  richtiges  Lesen  der  Runenschrift  selbst,  hin- 
längliche Sorge  wird  getragen  werden  (das  verbürgen  schon 
die  Namen  der  Gelehrten,  welche  an  dieser  Ankündigungsschrift 
Theil  haben),  so  glauben  wir  iria  voraus  die  Befriedigung  jeder 
billigen  Erwartung  versprechen  zu  dürfen.  Die  Runensteine, 
die  Ol.  Worms  bekannte  Sammlung  enthält,  können  leider  nicht 
sämmtlich,  nicht  einmal  dem  grösseren  Theile  nach,  wieder  vor- 
kommen; denn  nicht  blos  fallen,  was  sich  von  selbst  versteht, 
nach  dem  Verlust  der  dänischen  Provinzen  in  Schweden  und 
der  politischen  Ablösung  Norwegens  von  Dänemark  alle  dort 
vorhandenen  Denkmäler  weg,  sondern  es  sind  auch  viele  seitdem 
verschwunden,  und  zwar  sind  sie  im  seltensten  Falle  verwittert, 
meistentheils  absichtlich  zerstört.  So  ist.  von  den  fünfen,  die 
sich  auf  Fühuen  zu  Worms  Zeiten  befanden,  auch  nicht  ein 
einziges  mehr  übrig.  Unter  Aufsicht  können  sie  kaum  gestellt 
werden,  da  sie  meist  auf  dem  Felde  liegen  und  der  gemeine 
Mann  einen  Runenstein  nur  darauf  ansieht,  wie  er  gespalten 
oder  zersprengt  etwa  in  eine  Mauer  oder  Gartenhecke  zu  ver- 
wenden sei.  Einer  Sammlung  dagegen  und  Anhäufung  auf 
einen  Platz,  die  immer  kostbar  ist,  drohen  andere  Gefahren; 
davon  haben  die  Runensteine,  die  bei  der  Trinitatis- Kirche  in 
der  Hauptstadt  lagen,  ein  betrübtes  Beispiel  gegeben:  der 
Küster  Hess  von  den  zwölfen  nicht  weniger  als  nenne  spalten 
und  in  sein  Haus  verbauen;  um  ihn  nur  einigermassen  zu  ent- 
schuldigen, nimmt  man  an,  sie  seien  vorher  durch  das  Feuer, 
welches  im  Jahre  1728  die  Kirche  verzehrte,  schon  beschädigt 


VERZEICHNIS  DÄNISCHER  RUNENSTEINE  VON  NTERUP.    367 

worden.  Man  sieht  also,  wie  sehr  es  an  der  Zeit  ist  (das  soll 
hier  S.  6  der  einem  Deutschen  unverständliche  Ausdruck:  „die 
Fülle  der  Zeit  scheint  jetzt  gekommen  zu  sein"  sagen),  die 
noch  vorhandenen  Runensteine  durch  treue  Nachbildungen  dem 
Studium  zu  erhalten.  Ihrer  sind  ungefähr  fünfzig,  und  da  hierin 
die  seit  Ol.  Worm,  d.  h.  seit  etwa  200  Jahren  entdeckten  mit82T 
begriffen  sind,  so  kann  man  berechnen,  wie  sich  die  neue  Aus- 
gabe der  Monumenta  Danica  zu  der  alten  verhalten  wird,  in 
welcher  etwa  hundertundfunfzig  abgebildet  sind,  wiewohl  man 
zum  Vortheil  jener  auch  in  Anschlag  bringen  muss,  dass  sich 
unter  den  neuentdeckten  verhältnismässig  viel  mehr  wichtigere 
befinden.  Diese  fünfzig  Runensteine  werden  von  dem  überall 
thätigen  und  das  Studium  des  Alterthums  fördernden  Nyerup 
in  treorenwärtificer  Schrift  nach  den  Geocenden,  wo  sie  sich 
befinden,  aufgezählt;  die  zu  Kopenhagen  vor  dem  Museum  der 
nordischen  Alterthttmer  mit  nöthiger  Sorgfalt  aufgestellten  gehen 
billig  voran.  Die  Steine  auf  der  Insel  Bornholm  beschreibt 
Thomsen  und  die  auf  Island  Finn  Magnussen;  diese  letzteren 
darf  man  um  <  so  weniger  übersehen ,  als  noch  vor  wenigen 
Jahren  (1812)  in  Deutschland  behauptet  und  wiederholt  wurde, 
es  seien  gar  keine  mit  Runen  beschriebene  Denkmäler  auf 
Island  vorhanden.  Finn  Magnussen  zählt  vierzehn  her  und 
glaubt  zwei  davon  mit  Sicherheit  in  die  heidnische  Zeit  stellen 
zu  dürfen.  Nebenbei  theilt  er  die  Nachricht  mit,  dass  Klüwer 
jene  norwegischen,  von  Brynjulf  schon  erwähnten  Runensteine 
in  Grabhügeln  über  Todtenurnen  gefunden  habe,  eine^ 
so  viel  wir  wissen,  ganz  neue  Erscheinung,  die  vielleicht  mehr 
zur  Aufklärung  der  für  die  Geschichte  der  Runen  wichtigen 
Fragen  beiträgt,  als  ein  neulich  in  dem  fremden  Grönland  ent- 
deckter Stein. 

Mögen  die  Schweden  der  Aufforderung,  welche  in  der 
Herausgabe  der  dänischen  Denkmäler  liegen  wird,  nicht  allzu- 
spät Folge  leisten  I  Dort  ist  die  Heimath  der  Runensteine,  und 
im  Bautil  allein  sind  1173  abgebildet.  Norwegen  hat  wenigstens 
eben  so  viel  als  jetzt  Dänemark  zu  bearbeiten. 

Der  Anhang  rührt  von  Rask  und  bespricht  den  schon  oft 
abgezeichneten,  erklärten  und  jetzt  nach  Kopenhagen  geschafften  828- 


368         VERZEICHNIS  DÄNISCHER  RUNENSTEINE  VON  NYERUP. 

Thirstedstein,  wovon  eine  neue  und  genauere  Abbildung  bei- 
gegeben ist.  Diese  Inschrift,  die  zu  den  schwierigsten  gehört, 
besteht  aus  sieben  langen  Zeilen,  welche  von  unten  nach  oben 
zu  lesen  sind  und  von  der  linken  zur  rechten  Hand  laufen;  es 
wird,  wahrscheinlich  durch  einen  Schreibfehler,  das  Gegentheil 
behauptet:  sie  liefen  von  der  rechten  zur  linken.  Eine  kurze 
Zeile  von  vier  oder  fünf  Buchstaben  ist  jetzt  erst  zum  Vorschein 
gekommen  und  fehlt  in  den  früheren  Abschriften.  Die  dritte 
und  vierte  Zeile  liest  Rask: 

aeft  Frotha  fraendi  sin 

sinian  .  han  vas  thä  fäink, 

sinian  erklärt  er  oder  vielmehr  stellt  er  hin  als  den  acc.  sing. 
eines  mit  dem  vorhergehenden  Frotha  in  Apposition  stehenden 
Adjectivs,  das  ihm  übrigens  unbekannt  sei  und  soviel  als  den 
theuern,  unvergesslichen  bedeuten  müsse.  Auch  fäink,  faeink, 
faeing,  wie  man  lesen  will,  bleibt  ihm  unverständlich.  Sollte 
aber  sinian  nicht  zu  trennen  und  sin  ian  zu  lesen  sein?  Das 
letztere  Wort  ian  stände  dann,  gerade  wie  es  in  der  nächsten 
Langzeile  vorkommt,  für  die  Partikel  enn;  sin  wäre  durch  Ver- 
sehen des  Runenschreibers  aus  der  letzten  Zeile  wiederholt  und 
zweimal,  unmittelbar  hinter  einander  geschrieben;  mithin  nicht 
mehr  zu  berücksichtigen,  als  'der  Zusatz  eines  überflüssigen  und 
unnöthigen  Buchstaben  oder  Verdoppelung  eines  anderen,  welche 
beide  Fälle  in  den  Runeninschriften  bekanntlich  nichts  Seltenes 
sind.  Um  fäing  zu  erklären,  nimmt  Rec,  was  gleichfalls  öfter 
vorkommt,  die  Umstellung  einer  Rune  an  und  bringt  das  i  aus 
der  Mitte  ans  Ende,  wodurch  er  das  Subst.  fängi,  captus,  er- 
hält. Wenigstens  wird  man  zugeben,  dass  diese  Erklärung  an 
sich  einen  guten  Sinn  liefert  und  in  den  Zusammenhang  wohl 
passt:  „Asrath  und  Hilde  errichtete  diesen  Stein  für  (Rask 
übersetzt  das  nordische  aeft  wörtlich  durch  nach,  aber  man  kann 
«29  im  Deutschen  unmöglich  sagen,  nach  jemand  einen  Stein 
errichten)  Frode,  ihren  Verwandten.  Und  er  war  Gefangener 
(soll  durch  die  Runen  der  kleinen  Zeile  eine  Jahrzahl  ausgedrückt 
werden,  wie  Rask  von  dem  unverständlichen  Wort  behauptet? 
Es  fügte  sich  ganz  gut,  dann  würden  die  Jahre  der  Gefangen- 
schaft angedeutet),  aber  er  starb  (ian  han  varth  dauthr)."     Das 


VERZEICHNIS  DÄNISCHER  RUNENSTEINE   VON  NYERUP.  369 

zunächst  folgende  asuaethiauthu  hat  man  erklärt:  ä  Svithjodu, 
in  Schweden.  Die  Bemerkung  von  Rask  dagegen:  man  habe 
thiauthu  und  nicht  thjödu  geschrieben,  während  es  vorher  richtig 
Frotha,  nicht  Frautha  heisse,  scheint  nicht  erheblich,  da  an 
Consequenz  in  der  Orthographie  bei  den  Runen  nicht  zu  denken 
ist;  und  wenn  z.  B.  gewöhnlich  stain  raisti  und  stin  risti 
beisammen  sich  finden,  so  wüsste  doch  Rec.  Beispiele  genug 
aus  dem  Bautil,  wo  risti  stän,  resa  stin  und  resa  stän  neben 
einander  steht.  Rask  indessen  weicht  ab  und  liest:  ä  sväthi 
authu,  auf  dem  wüsten  Svode,  versteht  aber  selbst  dies  Sub- 
stantiv weiter  nicht  und  nimmt  es  für  einen  jetzt  unbekannten 
Ortsnamen.  Also  Dunkelheiten  bleiben  auch  in  diesem  neuesten 
Erklärungsversuch,  in  welchem  sich  gleichwohl  des  Verf.  natür- 
licher Scharfsinn  nicht  verleugnet,  genug  übrig.  Vielleicht 
gewährt  der  Runenstein  No.  23  im  Bautil,  wenn  er  neu  unter- 
sucht wird,  Aufklärung  für  den  Thirstedstein;  jetzt  liest  Rec. 
darin  Folgendes:  han  var  thauthr  i  huitauathum.  Am  willkom- 
mensten ist  die  Bemerkung,  dass  das  Wort  vikingar,  welches 
am  Schlüsse  ganz  deutlich  steht,  dem  Stein  ein  hohes  Alter 
zusichere  und  man  bei  ihm  deshalb  bis  1060 — 1050  zurück- 
gehen müsse.  Rask  meint,  er  könne  leicht  noch  älter  sein, 
wenigstens  in  dem  Jahr  1160,  in  welches  ihn  Liliegren  setzt, 
habe  man  von  den  alten  Vikingen  aus  der  Heidenzeit  nichts 
mehr  gewusst.  Rec,  der  sonst  wohl  gegen  eine  allzugrosse 
Verehrunar  des  hohen  Alters  der  Runen  Einwendungen  macht, 
will  dergleichen  Zeugnisse  jetzt  denjenigen  zu  Gemüth  führen, 
welche  es  für  erlaubt  oder  gar  für  scharfsinnig  halten,  alle  830 
Runendenkmäler  in  das  13.  und  14.  Jahrhundert  zu  setzen,  und 
die  Sache  schnell  abzufertigen  denken,  wenn  sie  annehmen,  erst 
durch  das  Christenthum  habe  der  Norden  die  Schrift  empfangen 
—  vas  für  var  hat  übrigens  Rec.  auch  auf  Steinen  aus  christ- 
licher Zeit  gefunden.  Hier  ist  wohl  der  rechte  Ort,  den  Wunsch 
zu  äussern,  dass  dem  neuen  Runen  werk  ein  vollständiges  Ver- 
zeichnis aller  auf  den  Steinen  vorkommenden  Wörter,  zugleich 
in  ihren  verschiedenen  Formen,  beigefügt  werde. 

Vor   dem  Schluss   besinnt   sich  Rec.    noch  auf  eine  Pflicht 
und  rügt  die  Fehler  der  Übersetzung  (ohne  Zweifel  von  jemand. 

\V.  GRIMM,   KL.  SC'HKIKTEN.     II.  24 


370  '  FAIRY  LEGENDS  OF  IRELAND. 

verfertigt,  deren  Muttersprache  die  deutsche  nicht  ist),  deren 
mehr  sind,  als  man  nachsehen  darf.  Einige  Beispiele:  Ver- 
zeichnis der  Runenmonumenten;  Beschreibung  des  Stein;  der 
Hypothes;  auf  Räthseln  stossen;  unleidlich  lautet:  „das  For- 
schen eines  Paar  S ekeln,  ein  halbes  Stieg  Runen"  u.  dgl. 

[anonym.] 


49  FAIRY  LEGENDS  AND  TRADITIONS  OF  THE  SOUTH 

OF  IRELAND. 

London,  bei  John  Murray.     1825.     363  S.  in  8. 
Göttingische  gelehrte  Anzeigen.    Bd  I,  6.  Stück,  den  12.  Januar  1826.    S.  49—53. 

JL'ieses  kleine  Buch  verdient  einige  Aufmerksamkeit.  Schon 
das  Äussere  ist  einladend,  womit  wir  nicht  so  wohl  das  glatte 
Papier  und  den  eleganten  Druck  meinen,  weil  wir  daran  bei 
englischen  Werken  gewöhnt  sind,  als  geistreich  gedachte, 
äusserst  reinlich  ausgeführte,  auf  den  Inhalt  bezügliche  Vignetten 
von  Brooke,  welche  überhaupt  für  Bücher  die  passendsten 
Zieraten  sind  und  die  wir  bei  dieser  Gelegenheit  für  gefällige 
Ausgaben  deutscher  Werke  wieder  empfehlen  wollen.  Die 
Engländer  kehren  auch  hierin  zu  dem  Festen  und  Charakte- 
ristischen zurück  und  geben  die  verblasenen,  unbestimmten 
Nebelgestalten  auf.  Etwas  Manier  können  sie  kaum  los  werden, 
und  diese  schadet  auch  den  jetzt  so  berühmten  Bildchen  von 
Cruikschank,  die  sonst  an  das  in  den  kleinen  Formaten  unter- 
gegangene, an  sich  bewunderungswürdige  Talent  unseres  Chodo- 
wiecki  erinnern. 

50  Wer  blosse  Unterhaltung  sucht,  wird  sie  hier  so  gut  finden^ 
wie  etwa  in  der  1001  Nacht;  freilich  sind  es  nur  27,  jedoch 
Sehr  verschiedenartige  Stücke,  wovon  jedes  auf  eigene  Weise 
die  Theilnahme  anregt.  Aber  noch  in  anderer  Hinsicht  lassen 
sie  sich  mit  den  arabischen  Erzählungen  vergleichen:  sie  schil- 
dern nämlich  mit  vollkommener  Wahrheit  den  häuslichen  Zu- 
stand, Denkungsart,  Lebensweise  und  Sitten  eines  gerade  nicht 
sehr    bekannten    Landes.      Irländer    werden    die    dargestellten 


FAIRY  LEGENDS  OF  IRELAND.  371 

Scenen,  einzelne  Züge,  sprichwörtliche  Redensarten,  dem  Volk 
zucrehörige  Scherze  und  Gleichnisse,  unübersetzbare  Bulls 
schneller  und  mit  einem  besonderen  Vergnügen  wiedererkennen, 
doch  auch  Fremde  pflegen  dergleichen  zu  fühlen  und  zu 
schätzen.  Was  man  an  Geisteswerken  oft  vermisst,  ein  neuer 
und  eigenthümlicher  Beigeschmack  findet  sich  bei  diesem  Gegen- 
stande von  selbst  ein.  Dem  Irländer  ist  eine  gewisse  Be- 
schränkung des  Verstandes,  aber  innerhalb  dieser  Grenzen  viel 
List  und  Gewandtheit  angeboren:  er  ist  nicht  offenherzig,  aber 
seine  Verstellung  ohne  Bosheit. 

Sämmtliche  Märchen  beziehen  sich  auf  die  Elfen  und 
stellen  oft  anmuthig,  lebendig  und  überraschend  die  Sagen  dar, 
welche  in  Irland  darüber  bis  zu  dieser  Stunde  gehört  werden. 
Wunderbare,  halb  geisthafte,  halb  menschliche  Wesen  von 
entgegengesetzten  Eigenschaften,  beides  schön  und  hässlich, 
mild  und  boshaft,  zeigen  sie  sich  den  Menschen  bald  wohlthätig, 
bald  verderblich.  Sie  locken  sie  in  ihre  Gesellschaft  oder  fliehen 
vor  ihnen  in  Einöden  zurück.  Immer  aber  wird  ihnen  grosser 
Einfluss  zugestanden,  und  sie  wirken  auf  die  wichtigsten  Ereig- 
nisse des  Lebens  bedeutend  ein.  Dieser  Aberglaube  erweitert 
bald  die  Seele  des  Irländers  und  treibt  ihn  zu  guten  Handlungen, 
welche  den  Unterirdischen  gefallen,  bald  beschränkt  und  um- 
klammert er  ihn  mit  Angst  vor  ihrem  Zorn,  den  er  zu  erregen  51 
sorgfältig  vermeidet.  Der  ungenannte  Verfasser  [T.CroftonCroker] 
hat  die  Überlieferungen  an  Ort  und  Stelle  mit  sichtbarer  Treue 
erfasst  und  auf  die  Darstellung  nicht  gewöhnliche  Sorgfalt  ver- 
wendet; es  sind  kleine  wohlgearbeitete  Bilder,  auf  welchen  auch 
die  Beiwerke  mit  Fleiss  ausgemalt  sind.  Der  erste  Abschnitt 
enthält  Sagen  von  dem  guten  Volk  (Shefro),  so  nennt  man  die 
Elfen,  die  gesellig  das  Innere  von  Bergen,  Felsenklüften,  Riesen- 
gräbern bewohnen  und  ein  grosses,  weit  ausgedehntes  Reich 
bilden.  Sie  sind  von  einer  Pracht  und  einem  Glanz  umgeben,  mit 
dem  alles,  was  man  auf  der  Oberwelt  sieht,  keinen  Vergleich 
aushalten  kann.  Begünstigte  haben  sie  zuweilen  dort  oder  bei 
ihren  nächtlichen  Tänzen  im  Mondschein  erblickt  oder  die 
Musik  gehört,  die  zu  einem  endlosen  Taumel  der  Lust  erschallt ; 
anderen   ist   es  gefahrlich  gewesen,  mit  ihnen  in  Berührung  zu 

24* 


372  FAIRY  LEGENDS  OF  IRELAND. 

kommen.  Gleichwohl  scheint  das  Reich  der  Elfen  nur  ein 
Abbild  des  menschlichen  zu*  sein,  sie  haben  die  Sterblichen 
unter  sich  getheilt  und  feiern  ihren  Tod  wie  ein  Fest,  weil 
sie  einen  der  Ihrigen  dann  in  ihre  Gesellschaft  aufnehmen. 
Auch  keine  seligen  Geister  sind  sie,  von  Leidenschaften  und 
Begierden  frei;  schönen  Kindern  und  Jünglingen  stellen  sie 
nach,  ja,  sie  theilen  sich  selbst  in  Parteien  und  bekriegen  sich 
auf  das  Heftigste.  —  In  dem  zweiten  Abschnitt  wird  von  dem 
Hausgeist  (Cluricaune)  erzählt,  der  einsam  lebt,  oft  sich  an 
einen  Menschen  anschliesst  und  geschenktes  Vertrauen  mit  den 
eifrigsten  Dienstleistungen  belohnt.  Der  Elfe  ist  hier  körper- 
licher geworden  und  empfindet  menschlichere  Bedürfnisse,  gleich- 
wohl stehen  ihm  alle  Kräfte  eines  Geistes  zu  Gebot.  Artig 
und  ergötzlich  ist  der  Contrast,  welchen  in  den  Märchen  von 
ihm  die  kleine,  winzige  Gestalt,  eine  gewisse  Abhängigkeit  und 
Furcht  vor  dem  Menschen,  seine  Beschäftigung  mit  kleinlichen 
52  Dingen  und  auf  der  anderen  Seite  die  Macht,  womit  er  Felsen 
erschüttern  und  in  einem  Augenblick  über  Länder  hineilen 
kann,  beständig  bildet.  —  Die  Banshi  im  dritten  Abschnitt 
entspricht  der  bei  uns  bekannten  weissen  Frau;  an  gewisse, 
edle  Familien  gebunden,  erscheint  sie  bei  bevorstehenden  Todes- 
föllen  traurig  und  klagend.  Phuka  heisst  ein  nächtliches 
Traumgespenst,  das  die  Menschen  zu  abenteuerlichen,  wilden 
Fahrten  verlockt.  Ausgezeichnet  ist  hier  das  Märchen  von  dem 
Mann  im  Monde  und  auf  eine  alte,  weitverbreitete  Idee  ge- 
gründet; es  lässt  sich  den  besten  Sagen  an  die  Seite  setzen, 
welche  andere  Völker  von  wunderbaren  unglaublichen  Fahrten 
besitzen.  Der  letzte  Abschnitt  beschreibt  das  Leben  der  Geister 
in  der  Tiefe  der  Seen  und  das  orlückselinfe  und  reizende  Land, 
welches  sie  dort  bewohnen. 

Wer  Lust  hätte,  Shackespeares  Elfen  weit  mit  dieser  zu 
vergleichen,  würde  der  Geschichte  der  Poesie  einen  nicht  sehr 
schwierigen,  gewiss  angenehmen  Dienst  erzeigen.  Sie  ist  in 
allen  Hauptzügen  darauf  gebaut,  und  mau  könnte  sehen,  wie 
ein  Dichter  die  vorhandene  Sage  (wir  nehmen  hier  an,  dass  in 
England  dieselbe  herrschte)  nach  seinem  Bedürfnis  verändert, 
umgebildet    und    weiter    geführt    hat.      Wichtiger    würde    eine 


THE  POPULÄR  SUPERSTITIONS  OF  SCOTLAND.        373 

Untersuchung   sein,    welche    den   Glauben   an   Elfen   überhaupt 
zum  Gegenstand  hätte    und  seine  frühesten  Spuren  so  wie  sein 
Bereich   auszumitteln   suchte.     Er  ist  fast  über  ganz  Europa  in 
nicht     abzuleugnender    Übereinstimmung    verbreitet    und    ohne 
Zweifel  früher  als  das  Christenthum  vorhanden  gewesen ;  es  käme 
darauf  an,   dies  in  fruchtbarer  Ausführlichkeit  darzuthun,  dann 
hätten    wir    ein  Zeugnis    mehr   von  jenem   eigenthüralichen  Zu- 
sammenhang  der  Völker.     Es    würde  nicht  weiter  überraschen, 
wenn    man   in   diesen    irischen   Überlieferungen    mehrere   fände, 
welche    in    den    einsamsten    Gegenden    anderer    entfernten   und 
durch  Meere  getrennten  Länder  gleichfalls  zu  Hause  sind.    Das 
Christenthum    verdrängte   diesen   Glauben    nicht,    wie   hätte    es  53 
auch  die  vielfachen  darauf  gegründeten  Sagen  vernichten  wollen! 
Es  erniedrigte  ihn   nur  und  stellte  ihn  als  einen  heidnischen  in 
Schatten.      Man   näherte   sich   von   nun    an   mit   einer  gewissen 
Scheu,  und  die  weissen  und  schwarzen  Elfen,  welche  die  Edda 
noch  kennt  und  die  ursprünglich  dem  Tag  und  der  Nacht,  dem 
Sonnenlicht    und    der   Finsternis    angehörten,    wurden   als   gute 
und  böse  unterschieden;  da  man  jedoch  einen  Theil  ihrer  WoW- 
thaten  fortwährend  anerkannte,   so  fand  man  eine  Ver^nttelung 
und  hielt  sie  für  gefallene,  aus  dem  Himmel  verst'jgsene  Engel, 
die  ungewiss  über  ihre  Zukunft  und  ob  sie  Verzeihung  erhalten 
auf  der  Erde  rastlos  umherschweifen:  eiuQ  cjaffe,  die  nicht  bloss   - 
hier,    sondern    auch    in    Schottland,    Dänemark   und   Schweden 
vorkommt.  [anonym.] 


THE  POPULÄR  SüPERSTITIONS  ÄND  FESTIVE.    5^- 
AMÜSEMENTS  OF  THE  HIGtU.AXDERS 
OF  SCOTLAND. 

Edinburg  bei  Archibald  Constable  und  Comp,  and  London  bei  Hurst 
Robinson  und  Comp.  1823.     XVIIT  und  293  S.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  I,  6.  Stück,  deö  12.  Januar  1826. 

S.  53  —  öü. 

Wäre   dieses  Buch   in   dem  Geist   und  Sinne   des  vorigen 
abgefasst,    so    würde    es   vielleicht  wegen   eines   reich hajtigeiea 


374        THE  POPULÄR  SUPERSTITIONS  OF  SCOTLAND. 

und  vielseitigeren  Inhalts  den  Vorzug  verdienen.  So  v^ie  es 
ist,  lässt  es  sich  nicht  vergleichen.  Ein  gewisser  halberzwun- 
gener Humor  mit  einer  beständigen  Anstrengung  zum  Witz,  der 
in  England  weniger  auffallen  mag,  weil  er  mit  einem  längst 
dort  üblichen,  gleichsam  nationalen  Stil  Zusammenhang  hat, 
stört,  zumal  in  diesen  Dingen,  deutsche  Leser  vielleicht  mehr 
als  billig  ist.  Wie  sehr  würde  das  Buch  durch  ruhige,  unge- 
suchte Darstellung  und  einfache  Erzählung  gewinnen,  sollte  es 
54  auch  die  Hälfte  seines  Umfangs  verlieren.  Gleichwohl  hat  es 
auch  in  dieser  Gestalt  einen  Werth,  den  wir  nicht  verkennen, 
im  Gegentheil  rühmend  anerkennen  wollen.  Der  Verfasser 
(W.  Grant  Stewart)  hat  mit  Fleiss  und  Sorgfalt  gesammelt. 
Verbindet  man  damit,  was  Walter  Scotts  auch  in  dieser  Hinsicht 
reichhaltige  Dichtungen  und  David  Stewarts  schon  mehrmals 
aufgelegtes  Werk:  Sketches  of  the  character,  manners  and  preseut 
State  of  the  Highlanders  of  Scotland  gewähren,  so  sind  wir 
im  Stande,  uns  einen  anschaulichen  und  lebendigen  Begriff  von 
dem  Leben  eines  der  merkwürdigsten  Gebirgsvölker  zu  machen. 
Der  erste  Abschnitt  redet  von  dem  Geist,  der  jeden 
Menschen  nach  dem  Glauben  der  Hochländer  begleitet,  gleiche 
Gestalt  hat,  dieselbe  Kleidung  trägt,  sich  mit  ihm  ins  Grab  legt 
und  gleichwohl  auch  gesondert  sich  zeigt  und  handelt,  mächtiger 
als  der  Mensch  und  zugleich  ihm  dienend.  Man  hört,  wie 
unsichtbare  Hände  Hammer  und  Säge  gebrauchen,  einen  Sarg 
für  den  Geist  zu  verfertigen.  Wenige  Tage,  ehe  der  Mensch 
begraben  wird,  hält  jener  seinen  Leichenzug.  Wer  diesen 
nächtlich  erblickt,  kann  hernach  dasselbe  noch  einmal  wieder- 
holt sehen,  denn  alle  Geister  ziehen  mit,  deren  sterbliche  Ge- 
nossen hernach  die  menschliche  Leiche  begleiten.  Es  ist 
eine  vollkommene  grausenhafte  Vorgeschichte:  nicht  bloss  die 
Gestalten,  auch  die  Reden  und  Bewegungen  sind  dieselben, 
und  überhaupt  scheint  in  dem  Dasein  des  Menschen  nichts,  das 
nicht  in  einem  aus  einer  übersinnlichen  Welt  herübergehaltenen 
Spiegel  seinen  Widerschein  und  Abglanz  habe.  Nach  dem 
Tode  ist  der  Geist  mit  dem  Menschen  noch  inniger  verbunden, 
er  bringt  seine  irdischen  Geschäfte  zu  Ende,  doch  zu  reden 
vermag  er  nicht,  bevor  er  in  die  Höhe  gehoben  wird,  dass  der 


THE  POPULÄR  SÜPERSTITIONS  OF  SCOTLAND.        375 

Wind  unter  seinen  Fusssohlen  herstreichen  kann;  seine  Stimme 
klingt  aber  dumpf,  als  komme  sie  aus  dem  Grabe.  —  Die  zweite 
Abhandlung  über  die  Elfen  ist  nicht  weniger  reichhaltig  und 55 
vielleicht  die  werthvollste.  Sie  stellt  den  Glauben  an  diese 
Wesen,  wenn  auch  in  seltsamer  und  gesuchter  Ordnung,  doch 
jnit  grosser  Vollständigkeit  dar,  und  das  muss  für  den  Mangel 
^iner  natürlichen  und  lebendigen  Erzählung  der  an  sich  mannig- 
faltigen Sagen  entschädigen.  Grosse  Übereinstimmung  zeigt 
sich,  wie  zu  erwarten,  zwischen  den  irischen  und  schottischen 
Elfen,  und  nimmt  man  dazu,  was  dänische  und  schwedische 
Werke  über  diesen  Gegenstand  enthalten,  so  kann  man  zu 
«iner  ziemlich  klaren  Einsicht  über  diesen  Glauben  gelangen.  — 
Dann  folgen  kleine  Abschnitte  über  einzelne  Geister:  Brownies, 
Waterkelpies,  Spunkies.  Hierauf  ein  grösserer  über  Zauberei 
und  Hexen  wesen.  Man  sieht  durch,  wie  ein  milderer  Glaube 
entstellt  worden  ist  und  eine  an  sich  gute  Absicht  erst  ein 
Keich  des  Teufels  gestiftet  hat,  das  ursprünglich  nicht  vorhanden 
war.  Das  Entsetzliche,  das  sich  daraus  aller  Orten  entwickelte, 
zeigt  sich  auch  hier  in  der  rührenden  Sage  von  einem  unschul- 
digen  Kinde,  das  sein  Vater  durch  einen  gewaltsamen  Tod  von 
dem  ewigen  Verderben  glaubt  retten  zu  müssen.  —  Den 
letzten  Abschnitt  über  Sitte  und  Gebräuche  an  feierlichen 
Tagen  nehmen  wir  gleichfalls  dankbar  an,  wiewohl  er  uns 
weniger  reichhaltig  als  die  vorigen  scheint.  Merkwürdig,  dass 
von  den  Hochländern  zu  W^eihnachten  das  hölzerne  Bild  einer 
alten  Frau  in  das  Feuer  geworfen  wird,  ohne  Zweifel  in  dem- 
selben Sinne,  in  welchem  man  in  Deutschland  hier  und  da  am 
L/ätare-Sonntag  den  Tod  in  einem  Strohbild  ins  Wasser  wirft 
oder  in  Spanien  die  allerälteste  Frau  entzwei  sägen  will.  Es 
soll  damit  der  besiegte  Winter  und  die  neuaufsteigende  Sonne 
angedeutet  werden. 

[anonym.] 


376     NORDISKA  FORNLEMNINGAR  AF  LILJEGREEN  OCH  BRUNIUS. 


361  NORDISKA  FORNLEMNINGAR,  UTGIFNE  AF 

J.  G.  LILJEGREEN  OCH  C.  G.  BRüNIÜS. 

Stockholm,  bei  Zacharias  Häggström.     1823.     Zwei  Bände.     8. 

GÖttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bdl,  37.  Stück,  den  6.  März  1826. 
S.  361—366. 

JCiin  lobenswerthes  Unternehmen.  Die  Herausgeber  haben 
sich  vereinigt,  unbekannte  nordische  Alterthümer  theils  aua 
Sammlungen,  theils  wie  sie  neu  entdeckt  und  ausgegraben 
werden  oder  sonst  zum  Vorschein  kommen,  in  einfachen,  un- 
verschönerten ,  zugleich  wenig  kostbaren  Abbildungen  mitzu- 
theilen,  wozu  der  gewählte  Steindruck  in  jeder  Hinsicht  bequem 
und  dienlich  ist.  Daher  enthalten  die  hundert  Tafeln,  welche 
in  12  Heften  von  1819  — 1823  erschienen  sind  (eine  wahr- 
scheinlich vorhandene  Fortsetzung  ist  noch  nicht  angelangt), 
die  Hauptsache,  und  der  zugegebene,  nicht  einmal  paginirte 
Text  gibt  nur  Nachricht,  wo  das  abgebildete  Stück  gefunden 
ist  oder  aufbewahrt  wird,  sodann  die  nöthigsten  Erläuterungen, 
damit   Liebhaber    und    Sammler    wenigstens    einen    Begriff  von 

362  der  Sache  bekommen.  Lobenswerth  deucht  den  Rec.  das 
Unternehmen,  weil  auf  diese  Art  ein  dem  Studium  nützliches 
Magazin  gebildet  und  der  festere  Gang  der  künftigen  For- 
schungen nicht  durch  voreilige  Hypothesen  und  Vermuthungen 
gestört  wird.  Ein  Register  bei  dem  Schlüsse  des  Werks  würde 
den  Gebrauch  sehr  erleichtern.  Man  findet  in  diesen  beiden 
Bänden  schon  Gegenstände  der  verschiedensten  Art,  wichtige 
und  merkwürdige  ebensowohl  als  unbedeutende.  Was  jene 
eigenthümlichen  und  seltsamen  Steinsetzungen  und  Steinlagen 
in  runder,  schiffförmiger  und  viereckiger  Form  (z.  B.  No.  25,  26. 
27.  61.  65.  68)  betriflft,  so  werden  hier  schon  genauere  Abbil- 
dungen nöthig,  und  sie  sind  auch  viel  besser  geliefert  in  einem 
demnächst  anzuzeigenden  Werk  von  Sjöborg.  Eine  Anzahl  neu 
entdeckter  oder  noch  nicht  abgebildeter  Runensteine  (No.  3.  4. 
31.  32.  40.  54.  64.  72.  79.  87.  88.  94.  98.  99)  würde  allein  dieser 
Sammlung  schon  Werth  verleihen.    Sie  sind  meist  aus  späterer 


NORDISKA  FöRNLEMNINGAR  AF  LILJEGREEN  OCH  BRüNIüS.     377 

Zeit,  einige  in  ungewöhnlicher  Gestalt.  Auf  No.  4  findet  man 
eine  Glocke  und  ein  Taufbecken  mit  Runen.  Auf  No.  32  neben 
lateinischer  Inschrift  mit  sogenannter  Mönchsschrift  von  1350 
eine  runische  Zeile,  die  denselben  Inhalt  kurz  ausdrückt.  Auf 
No.  87  sogar  dieselben  Worte,  an  der  einen  Seite  des  Steins 
mit  Runen,  an  der  anderen  mit  Mönchsschrift,  wovon  schon 
ein  Paar  andere  Beispiele  im  Bautil  vorkommen;  die  Runen 
sollen  ohne  Zweifel  das  Lesen  der  unbekannten  Mönchsschrift 
erleichtern  und  sie  waren  die  allgemein  verständlichen  Zeichen. 
Am  wichtigsten  ist  No.  45  ein  in  Bohuslän  gefundener  Stein 
mit  jenen  merkwürdigen  angelsächsischen  Runen:  er  ist 
wie  fast  alle  die  übrigen  wenigen  Denkmäler  dieser  Schrift  von 
der  rechten  zur  linken  beschrieben  und  um  so  schwerer  zu 
enträthseln,  als  wahrscheinlich  ein  Theil  der  Inschrift  zu  Grunde 
gegangen  ist.  Die  Herausgeber  sind  also  wohl  zu  entschuldigen,  363 
wenn  sie  ihnen  unverständlich  geblieben,  dagegen  darf  man 
auch  behaupten,  dass,  was  sie  darüber  vermuthen,  gewiss  falsch 
ist.  —  Unter  den  übrigen  Stücken  merken  wir  noch  die  Ab- 
bildung eines  Halsbandes  und  einer  Spange  von  Silber  an 
(No.  7),  sowie  eines  Schmuckes,  der  wahrscheinlich  vergoldet 
war  (No.  71).  Würfel  von  Knochen,  ganz  wie  die  heutigen 
gezeichnet,  sind  in  einem  norwegischen  Grabhügel  gefunden 
worden.  Alte  Schilde  auf  No.  63  und  eine  auf  einen  Schild 
gehörige,  aber  abgelöste  ziemlich  grosse  ^buckel".  —  Endlich 
an  Abbildungen  von  Waffen  aller  Art,  theils  aus  Stein,  theils 
aus  Metall,  ist  kein  Mangel;  man  findet  Hämmer,  Schwerter, 
Spitzen  von  Pfeilen  und  Lanzen  und  dergleichen.  Angehängt 
ist  eine  kleine  Abhandlung  über  das  Schleifen  und  Schärfen 
der  Waffen  bei  den  alten  Nordbewohnern.  Möge  in  Deutsch- 
land bald  ein  ähnliches,  anspruchloses  Magazin,  von  dem  man 
hoffen  darf,  dass  es  nicht  stecken  bleibt,  weil  kein  unnöthiger 
Luxus  es  theuer  macht,  zu  Stande  kommen;  an  Materialien 
fehlt  es  gewiss  nicht. 

Ich    benutze    die    Gelegenheit    dieser   Anzeige   zu   einer  in 
dieses  Fach   einschlagenden  Mittheilung. 

Bekanntlich    werden    in    Hessen    an    verschiedenen    Orten 
alte  Grabhügel  gefunden.     Genauere  Nachrichten  darüber  habe 


378     NORDISKA  FORNLEMNINGAR  AF  LILJEGREEN  OCH  BRUNIUS. 

ich  in  dem  Anhange  zu  der  Schrift  über  deutsche  Runen 
gegeben.  Seitdem  sind  südöstlich  bei  Cassel  auf  dem  soge- 
nannten Forst  bei  zufälliger  Aufgrabung  des  flachen  Bodens 
gleichfalls  Scherben  einer  zerbrochenen  Urne  und  zwar  in 
geringer  Tiefe  zum  Vorschein  gekommen.  Merkenswerther  ist 
ein  anderer  Fund.  Durch  die  Güte  des  Herrn  von  Schwertzell 
«rhalte  ich  eben  aus  einem  bei  Willingshausen  geöffneten  Hügel 
einen  Hammer,  welcher  folgende  Gestalt  hat; 

364 


4  Zoll  lang  und  unten  21/2  Zoll  breit  ist.  Dergleichen  hat  man 
siebene  bei  eben  so  viel  Urnen  gefunden.  Nähere  Umstände 
kann  ich  nicht  angeben.  Das  an  dem  spitzen  Ende  flach  ein- 
gedrückte Kreuz  habe  ich  sonst  noch  nicht  bemerkt,  und  es 
könnte  eben  so  wohl  bedeutend,  als  ein  blosser  Zierat  sein, 
das  Letztere  ist  insofern  wahrscheinlicher,  als  es  sich  nicht  auf 
allen  befindet.  Aber,  und  das  ist  das  Auffallendste,  dieser  Ham- 
mer besteht  nicht  aus  Stein  oder  etwa  einer  harten  Masse, 
sondern  aus  blossem,  an  der  Luft  getrocknetem,  durch  Wasser 
auflösbarem,  feinem  Lehm  oder  Letten.  Gebraucht  ist  er 
niemals  worden,  weder  als  Waffe  noch  als  Geräth,  davon  über- 
zeugt man  sich  leicht,  denn  nicht  nur  ist  die  Öffnung  so  enge, 
dass  sich  höchstens  die  Spitze  eines  kleinen  Fingers  hinein- 
zwängen lässt  und  der  Stiel  nur  aus  einem  Stäbchen  hätte 
bestehen  können,  sondern  er  würde  auch  bei  dem  geringsten 
Widerstände  in  tausend  Stücke  zersprungen  und  selbst  fiir 
einen  hölzernen  Pflock  zu  kraftlos  gewesen  sein. 

So  viel,  glaube  ich,  darf  man  mit  einiger  Gewissheit 
schliessen:  er  repräsentirt  nur  einen  Hammer,  und  der  Um- 
stand, dass  man  sonst,  namentlich  in  nordischen  Gräbern,  Stein- 
waffen und  Hämmer  gefunden  hat,  deren  Tauglichkeit  zu  wirk- 
lichem Gebrauch  aus  verschiedenen  Gründen  zweifelhaft  ist, 
z.  B.  weil  sie  zu  klein  sind,   könnte  durch  diese  neue  Erschei- 


NORDISKA  FORNLEMXIXGÄR  AF  LILJEGREEN  OCH  BRUNIUS.     379 

nunff  unerwartetes  Licht  erhalten.    Entweder  man  besass  keinen 
echten   Hammer    oder   wollte    ihn  nicht  gern  verlieren,    und  da 365 
man  sich  scheute,  die  herkömmliche  Sitte  zu  verletzen,  so  legte 
man  ein  blosses  Bild  davon  zu  der  Urne  des  Todten. 

Aus  der  heidnischen  Zeit  mögen  diese  Hämmer  von  Lehm 
sein,  gleichwohl  scheinen  sie  mir  verhältnismässig  nicht  sehr 
alt.  Sorgfaltige  Beachtung  der  Sitten  und  Ceremonieen  geht  der 
Vernachlässigung  derselben  voran,  und  in  den  Hflnenbetten, 
welche  die  ältesten  Gräber  zu  sein  scheinen,  findet  man  die 
schönsten  Waffen  j  die  in  ihrer  Zeit  ohne  Zweifel  von  dem 
höchsten  Werth  waren.  Als  man  dieser  plumpen,  roh  geformten, 
an  sich  widersinniocen  Nachbildungen  sich  bediente,  war  die 
Achtung  vor  der  Feierlichkeit  des  Begräbnisses  schon  sehr  ver- 
mindert, und  während  man  früher  alles  Kostbare,  was  der  Todte 
besessen  hatte,  mit  ihm  verschwinden  liess,  hat  man  späterhin 
immer  mehr  davon  zurückbehalten,  und  am  Ende  sollte  ein 
blosser  Schein  genügen. 

Doch  das  ist  nur  Eine  Vermuthung,  auf  weitere  will  ich 
mich  nicht  einlassen,  da  es  bei  Gegenständen  dieser  Art  eben 
so  leicht  ist,  eine  nach  der  anderen  aufzubringen,  als  schwer, 
eine  einzige  zu  beweisen.  Ich  wollte  nur  diese  seltsame  Er- 
scheinung, von  der  ich  wenigstens  kein  anderes  Beispiel  weiss, 
sogleich  bekannt  machen,  weil  gerade  eben  jetzt  zu  Nachfor- 
schungen über  die  Grabhügel  Veranlassung  gegeben  ist. 

Ich  merke  bei  dieser  Gelegenheit  an,  dass  bei  keinem 
Dichter  des  Mittelalters,  so  weit  ich  sie  kenne,  eine  Anspielung 
auf  diese  Denkmäler  vorkommt;  der  Zufall  wird  doch  damals, 
so  gut  wie  jetzt,  dann  und  wann  eine  Urne  an  den  Tag  ge- 
bracht haben,  denn  des  Begräbnisses,  des  Sarges   gedenken  sie. 

Vridanc  sagt: 

ein  hüs  von  siben  vuezen, 
da  kan  man  suhte  buezen; 
der  vrithof  ist  ein  saelic  wirt, 
dem  manic  gast  zeteile  wirt. 
Und   ganz   ähnlich,   so   dass   man   sieht,   es  ist  sprichwörtliche  366 
Redensart,  ein  Minnesänger  (I,  98''): 

unt  enwirt  mir  danne  niht  wan  siben  vueze  lanc. 

Wilh.  Grimm. 


38Ö  PETRI  ALFONSI  DISCIPLINA  CLERICALJS  VON  SCHMIDT. 


1642  PETRI  ALFONSI  DISCIPLINA  CLERICALIS. 

Zum    ersten    Mal   herausgegeben   mit  Einleitung   und  Anmerkungen  von  Fr. 

Wilh.  Val.  Schmidt.    Ein  Beytrag  zur  Geschichte  der  romantischen  Literatur. 

Berlin,  bey  Theod.  Christ.  Enslin.     1827.     172  S.  in  4. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  III,  165  Stück,  den  15.  October  1827^ 

S.  1642—1647. 

jyj-Oses,ein  spanischer  Jude  ausHuesca  in  Aragonien,  empfieng 
1106,  in  einem  Alter  von  44  Jahren,  die  Taufe  und  den  christ- 
lichen Namen  Petrus  mit  dem  Beinamen  Alfonsi,  weil  der 
König  Alfons,  dessen  Arzt  er  war,  Pathenstelle  bei  ihm  ver- 
trat. Er  schrieb  hierauf  dialogi  contra  Judaeos,  welche  bekannt 
und  mehrmals,  auch  in  der  bibl.  max.  patr.  abgedruckt  sind. 
Ein  zweites  Werk,  disciplina  clericalis  genannt,  enthält  etwas 
ganz  Anderes,  als  der  Titel  vermuthen  lässt,  nämlich  eine  Samm- 
lung von  Sprüchen,  Fabeln  und  kleinen  Erzählungen.  Obgleich 
im  Mittelalter  viel  gelesen,  ins  Französische  übersetzt  (Chastoie- 
ment  du  pere  au  fils),  in  den  Gestis  Romanorum,  dem  Steinhöwel- 
schen  Aesop  und  anderwärts  benutzt,  gerieth  es  doch  hernach 
in  Vergessenheit  und  wird  hier  zum  ersten  Mal  abgedruckt. 
Gewiss  eine  dankenswerthe  Gabe,  denn  ob  wir  gleich  dem  In- 
halt nach  wenig  Neues  erfahren,  da  diese  Apologe  in  andere 
mehr  oder  minder  bekannte  Sammlungen  übergegangen  sind, 
so  ist  es  doch  nicht  bloss  angenehm,  sondern  kann  in  einzelnen 
Fällen  wichtig  sein,  zu  wissen,  woher  sie  genommen  sind,   und 

1643  dies  um  so  mehr,  als  wir  zugleich  die  Quelle  erfahren,  aus 
welcher  Petrus  schöpfte.  Er  übersetzte  nach  seinem  Geständnis 
aus  dem  Arabischen,  und  man  erkennt  auch  leicht,  wie  der 
Herausgeber  bemerkt,  den  orientalischen  Ursprung  an  der  Ein- 
kleidung. Ein  Vater  ertheilt  seinem  Sohn  vor  dem  Eintritt  in 
die  Welt  Ermahnungen  und  gute  Lehren  und  flicht,  um  sie 
desto  eindringlicher  zu  machen,  Beispiele  und  Fabeln  ein.  Ohne 
gerade  ausgezeichnet  zu  sein,  ist  die  Darstellung  doch  schlicht 
und  angemessen.  Orientalisten  mögen  nun  untersuchen,  aus 
welchen    noch    älteren   Quellen   der  arabische   Verfasser   seinen 


PETRI  ALFONSI  DISCIPLINA  CLERICALIS  VON  SCHMIDT.  381 

StoflF  holte;  uur  sehr  unbefriedigend  ist,  was  selbst  Sylvester  de 
Sacy  darüber  zu  sagen  weiss. 

Hr.  Prof.  Schmidt  hat  eine  von  ihm  selbst  in  Breslau  ent- 
deckte Handschrift  zu  Grund  gelegt,  von  einer  zu  Paris  in  der 
königl.  Bibliothek  befindlichen  durch  Vermittelung  der  Preuss. 
Regierung  Abschrift,  aus  einer  anderen  in  der  Bibliothek  St. 
Germain  durch  die  Güte  des  Hrn.  Hase  Vergleichunoren  schwieri- 
ger  Stellen  erhalten.  Er  hat  die  ganze  Ausgabe  mit  dem  löb- 
lichen Fleiss,  den  man  an  ihm  gewohnt  ist,  behandelt,  mit  einer 
sorgföltigen  und  ausftihrlichen  Einleitung  über  den  Petrus  Alf. 
und  reichlichen  Anmerkungen  (S.  89 — 169)  ausgestattet,  die  eine 
Menge  willkommener  Nach  Weisungen  und  Aufklärungen  enthal- 
ten, so  wie  sie  von  grosser  Belesenheit  und  unermüdlicher  Auf- 
merksamkeit zeugen.  Wir  hegen  nur  den  "Wunsch,  dass  der 
Verfasser  die  Masse  durch  Hervorhebung  des  Wichtigeren  und 
Scheidung  von  dem  Geringfügigeren  mehr  belebt  hätte.  Nicht 
bloss  wäre  dadurch  an  Raum  gewonnen,  sondern,  was  wir  noch 
höher  anschlagen,  eine  schnellere  Übersicht  würde  den  Gebrauch 
des  Buchs  au-ch  sehr  erleichtert  haben.  Doch  am  besten  ma- 
chen wir  unseren  Wunsch  an  einem  Beispiel  deutlich.  Das  fünfte  ism 
Capitel  enthält  §  4  die  artige  Fabel  von  dem  Maulthier,  das, 
vom  Fuchs  über  Vater  und  Mutter  befragt ,  keine  gerade  Ant- 
wort gibt,  sondern  nur  sagt:  mein  Oheim  ist  das  edle  Ross. 
Statt  die  Untersuchung  gleich  auf  den  Punkt  zu  richten,  wel- 
cher der  wichtigste  ist,  nämlich  wo  wir  die  Fabel  früher  finden 
und  wo  nach  Petrus  zuerst  wieder,  führt  uns  der  Herausoreber 
zu  Abraham  a  St.  Clara,  dessen  Bearbeitung,  so  artig  sie  sonst 
sein  mag  (was  uns  eigentlich  hier  gar  nichts  angeht),  doch  wie 
fast  alle  spätere  wenig  Aufschluss  geben  kann;  dann  wird  der 
Renner  und  die  altfranzösische  Übersetzung  im  Chastoiement 
citirt  und  nun  erst  behauptet,  Aesop  sei  die  erste  Quelle;  hierauf 
folgt  eine  Stelle  aus  Lafontaine  und  den  Schluss  macht  Hans 
Sachs.  Rec.  hätte  an  die  Spitze  die  Frage  gestellt,  ob  Aesop 
wirklich  als  Quelle  gelten  könne?  Er  erzählt  bloss,  dass  der 
Maulesel,  als  er  fett  geworden,  sich  an  seine  Mutter,  das  Pferd 
erinnert  habe,  als  er  aber  laufen  sollen,  an  seinen  Vater,  den 
Esel.     Die  Fabel   hat  Verwandtschaft,    könnte   aber  auch   ganz 


382  PETRI  ALFONSI  DISCIPLINA  CLERICALIS  VON  SCHMIDT, 

unabhängig  von  der  unsrigen  bestehen,  die  offenbar  eine  andere 
eigenthümliche  Wendung  hat;  die  Abstammung  bleibt  also  nur 
Vermuthung.  Der  indische  Bidpai  gewährt  nichts  Ähnliches, 
wenigstens  hat  ihn  Rec.  vergeblich  nachgesehen.  Jetzt  waren 
die  verwandten  Werke  des  Mittelalters  zu  beachten,  den  Frei- 
dank hat  Hr.  Prof.  Schmidt  vernachlässigt,  sonst  hätte  er  ge- 
wiss folgende  Stelle  darin  gefunden:  Wer  den  mül  wil  vrägen 
von  sinen  höhesten  mägen.  So  nennet  er  e  den  ohein  Dann  vatter 
oder  friunde  dehein  2585 — 2588.  W^oher  hat  er  die  Fabel?  Aus 
dem  Aesop  gewiss  nicht,  denn  mit  ihm  stimmt  er  nicht,  sondera 
mit  dem  Petrus  Alfonsi.  Also  aus  diesem?  Es  wäre  möglich, 
1645  denn  Freidank  ist  über  ein  Jahrhundert  jünger,  aber  er  ist 
selbst  in  Palästina  gewesen,  er  könnte  die  Fabel  dort  gehört 
haben.  Die  wörtliche  Mittheilung  einer  hierher  gehörigen  Stelle 
aus  dem  Renner  lässt  sich,  da  das  Buch  selten  ist,  rechtfertigen,, 
nicht  aber  eines  schlechten  Zusatzes,  den  Lafontaine  der  Fabel 
gegeben,  weil  wir  ihn  gar  nicht  zu  wissen  brauchen  und  jeder- 
mann, der  darnach  Lust  trägt,  ihn  nachschlagen  kann.  Auch 
Hans  Sachs  ist  so  selten  nicht,  um  eine  halbe  Seite  zu  füllen, 
zumal  reichte  die  Bemerkung  hin,  dass  er  nichts  Neues  enthalte 
und  eine  andere  Fabel  damit  verbinde.  Spätere,  deren  Quelle 
man  mit  Sicherheit  angeben  kann,  sind  unwichtig.  So  hätten 
wir  in  wenig  Zeilen  den  Ertrag  zusammengefasst,  den  sich  der 
Leser  aus  beinahe  zwei  Seiten  heraussuchen  muss.  —  Aber 
Freidank  hat  noch  einen  Spruch  mit  der  disciplina  clericalis 
gemein.  Es  heisst  darin  H,  7:  Fili,  ne  sit  gallus  fortior  tc, 
qui  decem  uxores  suas  justificat,  tu  autem  solam  non  pote& 
castigare,  wozu  Hr.  Prof.  Schmidt  ohne  Noth  und  Gewinn  eine 
Stelle  aus  dem  Forschmeuseler  abdrucken  lässt.  Bei  dem  deut- 
schen Dichter  heisst  es  2812:  So  stolzen  muot  nieman  getruoc,. 
Ern  hete  an  einem  wibe  gnuoc:  So  wilz  der  haue  bezzer  hän. 
Dem  sint  zwelf  hennen  undertän.  Daz  er  der  zweifer  meister 
ist,  Daz  gät  vür  Sälomones  list.  Geradezu  aus  der  discipl.  der. 
entlehnt  ist  diese  Stelle  schwerlich,  das  zeigt  die  abweichende 
Aufnahme  und  Wendung,  aber  durch  welche  Vermittelung  hat  sie 
Freidank  empfangen?  Dieser  Punkt  wäre  einer  Aufkärung  werth. 
Wir  heben  noch  Cap.  24  heraus.  Erst  die  aus  Aesop  und 
Avian  herzuleitende  Fabel  von  dem  Bauer,  der  seinen  Ochsen, 


PETRT  ALFONSI  DISCIPLIXA  CLERICALIS  VON  SCHMIDT.  383 

weil  sie  nicht  recht  am  Pflug  ziehen  wollen,  zuruft,  die  Wölfe  164S 
sollten  sie  fressen,  einem  Wolf  aber,  der  das  gehört  hat  und 
darauf  Ansprüche  gründet,  nicht  Wort  halten  will.  Der  Fuchs, 
zum  Richter  erwählt,  spricht  heimlich  zum  Bauer:  gib  mir  und 
meiner  Frau  zwei  Heunen,  so  sollst  du  deine  Ochsen  behalten; 
zum  Wolf  aber:  der  Bauer  verspricht  dir  einen  Käs,  gross  wie 
ein  Schild,  wenn  du  auf  die  Ochsen  verzichtest.  Er  lässt  den 
Wolf  hin-  und  herlaufen,  bis  die  Nacht  eingebrochen  ist,  da 
führt  er  ihn  zu  einem  tiefen  Brunnen,  zeigt  ihm  den  Mond  auf 
dem  Spiegel  des  Wassers  und  ruft:  das  ist  der  Käse,  steige 
hinab  und  sättige  dich.  Der  Wolf  aber  heisst  ihn  zuerst  hinab- 
steigen. Es  hängen  zwei  Eimer  an  dem  Brunnen,  der  Fuchs 
gehorcht  und  lässt  sich  in  dem  einen  hinab.  Nun  folgt  die  be- 
kannte Entwickelung:  der  Fuchs  klagt,  der  Käse  sei  zu  schwer, 
der  Wolf  setzt  sich  hierauf  in  den  anderen  Eimer  und  hebt 
durch  seine  Schwere  den  Fuchs  in  die  Höhe,  der  entspringt. 
Diese  Fabel  zeigt  Zusammenhang  mit  der  grossen  Sage  von 
Reinhart  Fuchs,  welchen  auch  der  Herausgeber  angemerkt  hat, 
der  nur  statt  des  deutschen  Gedichtes  des  Glichsener  die  ältere 
und  vollständigere  Quelle,  den  altfranzösischen  Roman  du  Re- 
nard, zu  Rathe  hätte  ziehen  sollen,  wo  I,  240  ff.  nach  der  Aus- 
gabe von  Meon,  welche  S.  19  in  der  Anmerkung  citirt  wird, 
das  Hierhergehörige  vorkommt.  Der  Zufall  fiihrt  hier  den  Wolf 
zu  dem  Brunnen,  in  welchem  Reinhart  steckt,  und  er  glaubt  ihn 
unten  in  Gesellschaft  der  Wölfin  zu  erblicken.  Der  Fuchs  aber 
macht  ihm  weiss,  er  sei  gestorben  und  befinde  sich  da  unten 
im  Paradies,  und  reizt  ihn  durch  Schilderungen  von  den  Herr- 
lichkeiten desselben  so  sehr,  dass  er  auch  Verlangen  nach  dem 
glückseligen  Aufenthalt  fühlt,  in  dem  leeren  Eimer  hinabfährt  und 
den  Fuchs  in  dem  anderen  Eimer  in  die  Höhe  hebt.  Obgleich  auch  1647 
diese  Erzählung  über  hundert  Jahre  jünger  ist,  als  die  disc.  der., 
denn  Zeugnisse  vom  Jahre  1233  reden  von  dem  allgemein  be- 
liebten Roman  du  Renard,  so  lautet  sie  darin  doch  besser  und 
vollständiger,  und  es  liegt  an  dem  Tage,  dass  sie  nicht  dorther 
geborgt  ist.  Merkenswerth  bleibt  die  Thatsache,  dass  im  An- 
fang des  12.  Jahrhunderts  Spuren  jener  Sage  sich  im  Arabischen 
finden.  [anonym.] 


384  NORDISCHE  MYTHOLOGIE  VON  J.  L.  HEIBERG. 


1647  NORDISCHE  MYTHOLOGIE 

Aus  der  Edda   und    Oehlenschlägers    mythischen  Dichtungen    dargestellt    von 

Johann  Ludwig  Heiberg.     Mit  Kupfern.     Schleswig,  gedruckt  und  verlegt  im 

königl.  Taubstummen -Institut.     1827.  VI  und  332  S.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  111,  165  Stück,  den  15.  October  1827. 

S.  1647—1648. 

XJen  litterarischen  Handlangern,  welche  Artikel  in  die  zahl- 
reichen Encyclopädieen,  Conversationsblätter  und  Real  Wörterbuch  er 
unserer  Zeit  zu  liefern  haben,  den  Decorationsmalern,  bei  wel- 
chen Arabesken  aus  der  nordischen  Mythologie  bestellt  werden, 
angehenden  Poeten,  welche  einiger  Anspielungen  auf  Thor, 
Odin,  Baidur  etc.  bedürfen,  allen  diesen  empfehlen  wir  so  an- 
gelegentlich, als  wir  an  ihren  Bemühungen  Theil  nehmen,  oben- 
genanntes Buch.  Sie  werden  darin  leicht  nachschlagen  können 
und  was  sie  suchen  mit  Sicherheit  und  dem  Lächeln  des  Ken- 
ners vorgetragen  finden.  Die  Vergangenheit  ist  hier,  wie  sie 
nach  einer  geistreichen  Note  S.  16  wohl  muss,  bereits  zur  Gegen- 
wart geworden,  und  wie  wird  sich  der  alte  olympische  Jupiter, 
den  wir  auf  dem  Titelkupfer  als  Othin  erblicken,  freuen,  einen 
so  raschen  Sprung  vorwärts  gethan  zu  haben !  Nur  noch  etwa 
zweitausend  Jahre  und  nicht  einmal  so  viel  (denn  wir  hören 
von  Gelehrten,  dass  Othin  mit  Beginn  der  christlichen  Zeit- 
rechnung soll  eingewandert  sein),  so  steht  er  mitten  unter  uns, 

1648  wie  Apollo  schon  ganz  in  der  Nähe  ist  und  unserem  Verfasser 
bereits  die  Feder  geschnitten  hat.  Für  einen  ernsten,  wissen- 
schaftlichen Zweck  dagegen  ist  dieses  Buch  völlig  unbrauchbar, 
es  müssten  denn  Philosophen  in  der  Einleitung  mehr  finden,  als 
der  Rec,  der  sie  vorzüglich  auf  S.  8  und  9  aufmerksam  macht 
und  auf  „den  kühneu  Sprung,  den  wir  in  unserer  Sehnsucht, 
in  unserer  Ungeduld  wagen,  um  die  allgemeine  Freude,  die  wir 
nicht  erleben  werden,  durch  Anticipation  zu  gemessen";  denn 
dieser  Sprung  ist  nichts  Anderes  als  die  Kunst.  Schade  nur, 
dass  bei  dem  kurzen  Leben,  das  unser  Verfasser  mit  Recht 
bejammert,  keine  Hofiiiung  da  ist,  die  Früchte  jener  Anticipation 
per  subsequens  matrimonium  legitimirt  zu  sehen.    —    Der  Ver- 


GEDICHTE  WALTHERS  VON  DER  VOGELWEIDE  VON  LACHMANN.  385 

fasser  sagt  auf  dem  Titel  und  im  Eingang,  er  habe  aus  der 
Edda  und  Oeblenschläger  geschöpft,  aber  wir  haben  nirgends 
eine  Spur  von  Studium  der  Quellen  oder  Kenntnis  der  nordischen 
Sprache  gefunden  (Oeblenschläger  fallt  nicht  einmal  '\  alhalla* 
zur  Last),  gar  wohl  aber  das  Gegentheil.  Wie  dürfte  sich  auch 
jemand,  der  so  klug  ist  zu  behaupten,  es  gebe  nichts  Einför- 
migeres und  Langweiligeres,  von  aller  Poesie  mehr  Entblösstes, 
als  die  nordischen  Sagen,  darauf  einlassen.  Die  Mythologie 
aus  einem  modernen  Dichter  darstellen  heisst  etwa  so  viel  als 
Alexanders  Geschichte  aus  Lebrüns  Gemälden  entnehmen.  So 
sehr  wir  den  Dichter  achten,  so  glauben  wir  doch  nicht,  dass 
er  wohl  thut,  alte  Mythen,  an  deren  Erklärung  Scharfsinn  und 
Gelehrsamkeit  arbeiten  sollen,  mit  frischen  Farben  und  nach 
seiner  Manier  zu  übermalen;  es  mögen  leidliche,  selbst  artige 
Einzelheiten  zum  Vorschein  kommen,  das  Ganze  bleibt  ein  miss- 
lungenes  Unternehmen  und  unleidliches  Zwitterding,  und  er  thut 
besser,  seine  Kraft  an  Gegenständen  zu  üben,  welche  fähig  sind, 
seine  und  des  Lesers  Seele  ganz  zu  erfüllen.  [anonym.] 


DIE  GEDICHTE  WALTHERS  VON  DER  2025 

VOGELWEIDE. 

Herausgegeben  von   Karl  Lachmann.     Berlin,  bey  C.  Reimer.     1S27. 
Xn  und  227  S.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  HI,  204.  Stück,  den  22.  December  1827. 

S.  2025-2038. 

Walthers  Werke  laden  zu  einer  besonderen  Bearbeitung 
ein.  Unter  den  Dichtern  dieser  Periode  einer  der  ersten,  hat 
er  sich  bloss  auf  lyrische  Ergüsse  seines  Geistes  beschränkt, 
dessen  grosse  Beweglichkeit  ihm  wie  es  scheint  die  Ruhe  zu 
erzählenden  Dichtungen  versagte.  Dazu  überall,  man  kann 
sagen,  in  jedem  Gedanken,  eine  leicht  erkennbare,  scharf  aus- 
gesprochene Eigenthümlichkeit,  eine  schöne  Sprache,  endlich  die 
Fähigkeit,  uns  sogleich  zu  reizen  und,  was  noch  mehr  ist,  fest- 
zuhalten; wir  wenigstens  haben  bei  dieser  Veranlassung  sämmt- 
liche  Gedichte  abermals  mit  dauernder,  gleich  starker  Theilnahme 

W.  GRIMM,  KL.  SCHIUFTES.     II.  25 


386  GEDICHTE  WALTHERS  VON  DER  VOGELWEIDE  VON  LACHMANN. 

gelesen.  Er  hat  auch  jene  Oflfenheit  und  Sicherheit  des 
Geistes,  die  dem  Dichter  geziemt,  und  äussert  sich  unverhohlen 
über  alles,   was   ihn  eben  bewegt,   sei   es  sein  innerer  Zustand, 

2026  seine  Lage  zur  Welt,  seine  trübe  oder  heitere  Stimmung  oder 
beider  Streit  in  seiner  Seele.  Mag  es  sein,  dass  er  durch  diese 
Einmischung  der  Wirklichkeit  den  Anfang  zum  Verderben  der 
Poesie  gegeben,  wie  man  ihm  vorgeworfen  hat,  denn  er  zehrt 
das  Kapital  auf,  von  dessen  Zinsen  sie  leben  soll,  so  thut  man 
doch  wohl,  eine  solche  Betrachtung  hier  noch  bei  Seite  zu 
setzen  und  erst  da  geltend  zu  machen,  wo  Nachahmer  oder  Dich- 
ter von  geringeren  Gaben  sich  durch  ein  solches  Beispiel  be- 
rechtigt glauben,  den  falschen  Weg  einzuschlagen.  Ursprüng- 
liche Dichter  haben  so  zu  sagen  das  Vorrecht,  zu  irren  und  das 
Mangelhafte  der  menschlichen  Natur  neben  dem  Herrlichsten, 
was  sie  gewährt,  zu  offenbaren.  —  Ein  anderer  Antrieb,  Wal- 
thers Gedichte  in  reinerem  Text  herzustellen,  lag  in  der  ver- 
dienstvollen Schrift  ühlands,  der  durch  ein  mit  Sorgfalt  und 
feinem  Sinn  zusammengestelltes  Leben  des  Dichters  die  Auf- 
merksamkeit für  ihn  geweckt  hatte  und  den  besten  Lohn  für 
seine  Bemühung  hier  empfängt,  wo  ein  genauer  und  kritischer 
Text  ihm  die  Möglichkeit  gewährt,  seine  verdienstvolle  Arbeit 
nochmals  mit  sicherem  Erfolge  vorzunehmen  und  ihr  eine  feste 
Grundlage  zu  geben.     Sei  er  schönstens  dazu  eingeladen ! 

Schon  vor  elf  Jahren  hatte  Hr.  Prof.  Lachmann  den  Vor- 
satz zu  cregenwärtigrem  Buch  orefasst,  und  bereits  waren  Proben 
seiner  Arbeit  erschienen.  Ein  Mitarbeiter,  Hr.  Prof.  Köpke, 
ist  abgetreten,  und  er  selbst  wohl  durch  die  Entwickelung  der 
deutschen  Philologie,  an  der  er  den  thätigsten  Antheil  genom- 
men, in  seinem  Vorhaben  ebensowohl  aufgehalten,  als  gefördert 
worden.  Während  dieser  Zeit  haben  sich  auch  die  Quellen 
erweitert,  und  dass  Hr.  Prof.  Lachmann  nicht  versäumt  hat, 
sich    den   Zugang   zu    verschaffen,    beweist   das  in  der  Vorrede 

2027  gelieferte  ziemlich  ansehnliche  Verzeichnis.  An  uns  wäre  es 
jetzt,  auseinanderzusetzen,  wie  der  Verfasser  diese  Quellen  be- 
nutzt und  überhaupt  seine  Aufgabe  gelöst  hat;  allein  Rec.  fühlt 
seine  Ungeschicklichkeit  im  Loben,  die  um  so  grösser  ist,  als  er 
gerade   sehr  viel   zu   loben   hätte.      Er  würde   auch   nur  denen 


GEDICHTE  WALTHERS  VON  DER  VOGELWEIDE  VON  LACHMANN.  387 

verständlich  werden,  welche  in  die  Sache  einzudringen  Lust 
haben,  und  diese  zu  überzeugen  hält  er  für  unnöthig,  sie  wer- 
den längst  die  Trefflichkeit  dieser  Arbeit  einsresehen  haben. 
Zudem  gehört  Reo.  zu  jenen,  welche  einen  Einfluss  der  eigen- 
thümlichen  Natur  eines  Schriftstellers  auf  sein  Werk  gerne 
sehen,  einen  gewissen  Beigeschmack  lieben  oder  wenigstens, 
wo  dies  nicht  überall  angeht,  zu  sehr  achten,  als  dass  sie  darin 
Ursache  zu  einem  Tadel  fänden.  Mag  jemand  Recht  haben,  der 
sich  den  Verfasser  etwas  mittheilender  wünscht,  etwas  weniger 
künstlich  oder  versteckt  in  seinen  Äusserungen  (beide  Ausdrücke 
sind  nicht  ganz  treffend  und  tadeln  mehr,  als  sie  sollen,  aber 
etwas  davon  ist  wahr:  der  Verfasser  liebt  es,  von  seinen  Ent- 
deckungen oft  nur  die  Segelspitze  zu  zeigen,  und  zumal,  wer 
am  Ufer  steht,  muss  genau  Acht  geben  und  scharf  sehen),  etwas 
mehr  gerade  heraus  und  weniger  neckend;  Rec.  und  wenn  er 
selbst  einen  solchen  Wunsch  hegte,  will  ihm  daraus  keinen 
Vorwurf  machen,  obgleich  er  sich  erinnert,  dass  er  hier  Rich- 
ter sein  soll.  Muss  denn  alles  herausgesagt  werden  oder  jede 
dunkele  Stelle  erklärt?  Ist  ircjend  ein  Herausgeber  dazu  ver- 
pflichtet  und  kann  er  sich  nicht  gut  mit  der  Hoffnung  ent- 
schuldigen, ein  späterer  werde  auf  seiner  Grundlage  weiter 
schreiten?  Wir  empfangen  hier  den  besten,  reinlichsten  und 
bescheidensten  Text,  der  unter  den  Umständen  möglich  war; 
in  der  That,  diese  Sicherheit,  mit  der  wir  ein  so  vorzügliches 
Denkmal  durchlesen  können,  ist  ein  höchst  angenehmes  Gefühl.  2028 
Genauigkeit,  Gründlichkeit,  Erwägung  verschiedenartiger  Rück- 
sichten, sorgsame  und  gleichförmige  Ausführung,  das  konnte 
man  auch  von  anderen  erwarten,  aber  wir  finden  ausserdem  ein 
eigenthümliches,  angeborenes  Geschick  zur  Beobachtung,  das 
oft  da,  wo  wir  sie  nicht  erwarten,  zu  neuen  und  scharfen  Be- 
merkungen Anlass  gibt,  Bemerkungen,  die  nicht  selten  in  der 
Folge  grössere  Bedeutung  erhalten,  als  der  Augenblick  einzu- 
sehen gestattet.  Wer  würde  z.  B.  eine  Abänderung  gegen  alle 
Handschriften,  wie  40,  30,  vorschlagen,  der  nicht  in  einem 
scharfsinnig  entdeckten  metrischen  Gesetz  dazu  eine  Nöthigung 
sähe?  Der  Verfasser  hat  nicht  dahin  gestrebt,  durch  einen  Text, 
der  keinen  Anstoss  gewährt,    uns   zu   blenden    und    sorglos   zu 

25* 


388   GEDICHTE  WALTHERS  VON  DER  VOGELWEIDE  VON  LACHMANN. 

machen,  sein  Bestreben  war,  den  besten  Text,  nicht  wie  er 
etwa  sein  könnte,  sondern  so  weit  er  sich  erkennen  Hess,  her- 
zustellen. Es  könnte  jemand,  der  sich  mit  dem  bereits  Erlern- 
ten und  der  daraus  gebildeten  Theorie  vertraut  gemacht  hätte, 
was  die  Handschriften  gewähren,  als  eine  rohe  Masse  betrach- 
ten, in  die  er  kritisch  einzuschneiden  und  die  regelrechte  Form 
herauszubilden  befugt  sei.  Ein  solches  Verfahren  würde  eine 
gewisse  Befriedigung  gewähren  und  im  besten  Falle  ein  wohl- 
gerathenes  Exercitium  aufstellen;  aber  auf  solche  Weise  behan- 
delte Denkmäler  hören  auf,  Quelle  des  Sprachstudiums  zu  sein; 
wir  reden  nicht  von  einem  anderen  Falle,  wo  ungefähre,  für  den 
Nothbehelf  dienende  Kenntnis  der  Grammatik  so  etwas  unter- 
nimmt und  unter  dem  Schein  einer  kritischen  eine  für  den 
lebendigen  Gebrauch  völlig  werthlose  Fabrikarbeit  liefert. 

Nach  diesem  Grundsatz  verschmäht  L.  jede  Verbesserung, 
selbst  die  glänzendste,  von  der  nicht  zu  erweisen  steht,  dass  sie 
zugleich  die  wahre  ist,  und  bloss  wahrscheinliche  Vermuthungen 
2029  haben  niemals  im  Text  selbst ,  nur  in  den  Anmerkungen  einen 
Platz  erhalten ;  er  lässt  lieber  das  Unverständliche  und  Verderbte 
stehen,  bis  sich  einmal  bessere  Auskunft  fiudet.  Hier  also  ist 
noch  immer  zu  lernen,  Fehler  werden  an  den  Tag  kommen, 
wo  wir  noch  keine  erblicken,  und  scheinbar  Fehlerhaftes  wird 
sich  rechtfertigen;  kurz  die  Quelle  für  weitere  Forschungen  ist 
uns  erhalten.  Auf  der  anderen  Seite  setzt  er  entschieden  durch, 
was  er  als  sichere  Regel  anerkannt  hat,  er  ändert  die  Ortho- 
graphie, um  Gleichheit  im  Auftakt  zu  erlangen,  führt  z.  B.  deich 
ein,  wo  die  Handschriften  daz  ich  haben,  tilgt  die  spätere  Form 
beschehen,  die  alemannische  in  kilche;  und  aus  diesem  Grunde 
erscheint  in  seiner  Behandlung  des  Textes  eine  eigene  Mischung 
von  Kühnheit  und  Furchtsamkeit,  welche  dem,  der  die  Lage 
der  Dinge  nicht  jedes  Mal  genau  kennt,  noch  mehr  auffallen 
muss.  Überlegt  hat  es  der  Verfasser  gewiss,  wo  er  ändert 
und  wo  er  stehen  lässt;  glaube  niemand,  dass  flüchtige  Keck- 
heit oder  Nachlässigkeit  dabei  wirkten.  Aber  wie  leicht  jeder 
Verständige  in  Ansehung  des  Grundsatzes  selbst  übereinstimmt, 
und  wie  trefi'lich  er  sich  hier  bewährt  hat,  denn  man  braucht 
nur  das   erste    beste  Lied   der  Bodmer'schen  Ausgabe   mit  der 


GEDICHTE  WALTHERS  VON   DER  VOGELWEIDE  VON  LACHMANN.     389 

gegenwärtigen  zu  vergleichen,  um  davon  überzeugt  zu  sein,  so 
wird  doch  bei  der  Frage  nach  der  Grenze,  wo  man  anfangen 
dürfe  und  aufhören  müsse,  eine  Regel  einzuführen,  eine  natür- 
liche Verschiedenheit  der  Ansicht  sich  äussern.  Wiederum  gilt 
dies  am  meisten  von  orthographischen  Kleinigkeiten,  wo  es  kaum 
Einer  dem  Anderen  ganz  zu  Dank  machen  wird.  Der  Verfasser, 
allem  pedantischen  Gleichmachen  entgegen,  glaubt  wohl  nur  die 
lebendige,  der  Natur  gemässe  Verschiedenheit  zu  erhalten 
oder  will  nicht  entscheiden,  was  für  Walther  das  Richtige  sei, 
wenn  er  aus  den  Handschriften  beides  jamerlich  und  jämmerlich,  2030 
werlt  und  weit,  tiutschen  und  tiuschen,  tievels  und  tiefeis,  rugge 
und  rügge,  vogellin  und  vogelin  beibehält,  wenn  er  ein  gg  in 
egge,  gloggen,  muggen,  linggen  oder  statt  öu  ein  öi  statuiert, 
ein  osterrich  und  osterrich,  ein  ö  in  frömde  neben  fremede. 
Reo.  würde  hier,  ohne  Gewissensbisse  zu  empfinden,  das,  wofür 
sich  die  Grammatik  entscheidet,  vorgezogen  haben,  freilich  auch 
ohne  zu  glauben,  etwas  Besonderes  gethan  zu  haben.  L.  wagt 
es,  nicht  das  -ent  der  2**'*  pl.  praes.  in  -et  zu  ändern  (S.  134), 
wenn  nicht  eine  Handschrift  Veranlassung  gibt,  sollte  aber  der 
häufige  Gebrauch  beider  Formen  neben  einander,  wie  er  nun 
hier  erscheint,  dem  Dichter,  überhaupt  jemand,  der  die  Sprache 
lebendig  gebrauchte,  eigen  gewesen  sein?  Rec.  glaubt  es  nicht, 
und  eine  Mischung  dieser  Art  bleibt  etwas  Unnatürliches.  Wa- 
rum tritt  die  eine  Form  niemals  im  Reime  hervor,  die  an- 
dere mehrmals?  Warum  soll  geruochet  im  Reim  auf  das  part. 
praet.  vervluochet  (11,  4)  nicht  auch  gegen  das  daneben  stehende 
bedenckent  entscheiden?  Wo  es  bei  anderen  Dichtern  ein  Reim 
schützt,  erscheint  es  nur  als  Ausnahme,  als  eine  entschlüpfte 
Kachlässigkeit.  Manigem  für  mengem  zu  setzen,  getraut  er  sich 
ebenfalls  nicht  (S.  132),  wenn  nicht  eine  Handschrift  dazu  be- 
rechtigt; wie  gering  ist  die  Hoffnung,  in  solchen  Dingen  das 
Ursprüngliche  in  einer  Handschrift  erhalten  zu  sehen!  Weiter 
kann  man  die  Sorgfalt  nicht  treiben,  und  mehr  wurde  gewagt, 
wenn  ein  wunderlicher  Zufall  (s.  Anm.  zu  45,  27)  im  Text 
keinen  Platz  erhielt,  Rec.  glaubt  mit  Recht,  obgleich  er  an 
einem  anderen  Ort  gerade  denselben  beobachtet  hat.  Dagegen 
hätte  Rec,   weil   doch   einmal   von   Kleinigkeiten  die  Rede    ist. 


390  GEDICHTE  WALTHERS  VON  DER  VOGELWEIDE  VON  LACHMANN. 

2031  wan  vindet  (107,  4),  wie  nach  Rec.  Abschrift  dieser  Stelle  A  liest, 
nicht  in  man  vindet  verändert;  er  hätte  überhaupt  nicht  ein  üe, 
dessen  Aussprache  doch  bedenklich  ist  und  wozu  die  Hss.  keinen 
Anlass  geben,  eingeführt,  vielleicht  das  e  in  den  sicheren  Fällen, 
gewiss  aber  die  beiden  z  unterschieden. 

Die  Varianten  stehen  nicht  unter  dem  Text,  sondern  in  den 
Anmerkungen,  was  auch  seinen  Vortheil  hat.  Alles  ist  bequem 
geordnet  und  mit  Nachweisungen  versehen,  wornach  man  sich 
in  den  Quellen  leicht  zurecht  finden  kann,  auch  für  ein  äusserst 
nützliches  Verzeichnis  der  Strophenanfänge  und  eine  Verglei- 
chung  der  Seitenzahlen  bei  Bodmer  haben  wir  Ursache  dank- 
bar zu  sein.  Rec.  muss  der  Sitte  gemäss  einen  kleinen  Nach- 
-trag  zu  den  Anmerkungen  als  Zeugnis  seiner  Aufmerksamkeit 
liefern.  In  dem  schönen  Lied  (8,  4),  worin  Walther  den  trauri- 
gen Zustand  des  Reichs  bedenkt  und  in  der  ganzen  Natur  Hass 
und  Zwietracht  erblickt,  beschreibt  er  am  Eingange  seinen 
eigenen  Zustand:  Ich  saz  üf  einem  steine:  do  dahte  ich  bein 
mit  beine,  darüf  sazt  ich  den  ellenbogen:  ich  hete  in  mine  haut 
gesmogen  daz  kinne  und  ein  min  wange.  In  dieser  Beschrei- 
bung folgt  er  einer  herkömmlichen  Überlieferung,  auch  der 
Dichter  des  welschen  Gastes  sagt  135b:  so  sitzet  er  mit  bein 
über  bein  In  einem  winkel  altersein,  und  die  Bilder  im  Cod. 
Pal.  dieses  Gedichts  zeigen  den  Sorgenden  und  Leidtragenden 
mehrmals  in  ähnlicher  Stellung,  die  eine  Wange  in  der  Hand 
ruhend;  aber  schon  in  einem  früheren  Gedicht,  im  Cod.  Pal. 
des  Pfaffen  Konrad  aus  dem  12.  Jahrhundert,  ist  der  Kaiser 
ebenso  abgebildet  (fol.  84  a),  wie  er  über  Rolands  Schicksal  be- 
kümmert nachdenkt.  Ein  anderer  Zeitgenosse  W^althers,  Hart- 
mann, sagt  im  Gregor  287:  er  begunde  sere  weinen,  daz  lioubet 

2032  underleinen  so  riuwecliche  mit  der  haut;  und  dann  bei  Späteren, 
Konrad  von  Würzburg  im  Trojanischen  Krieg  (137  c),  im  Amur 
und  Titurel  findet  man  noch  dieselbe  Redensart.  —  26,  5.  die 
Worte:  Vil  wol  gelobter  got  —  wie  getar  ich  so  gefrevein  un- 
der  dime  rise?  versteht  Rec:  wie  darf  ich  sündigen  unter 
deiner  Herrschaft,  deinem  Scepter?  und  bemerkt  dazu  die 
Stelle  aus  dem  Otnit  44,  2:  herre,  ich  sitze  in  dinem  gewalte 
(so  ist   mit  Hs.  B  und  0  zu  lesen,   nicht   wie  im  Text  steht: 


GEDICHTE  AVALTHERS  TON  DER  VOGELWEIDE  VON  LACHMANN.     391 

im  gewilde),  du  bist  min  oberstez  ris.  Ein  Reis  als  Symbol 
bei  der  Cxüterübergabe  (worüber  eine  Stelle  bei  Haltaus  nach- 
zusehen ist)  scheint  gleichfalls  die  höchste  Gewalt  zu  bezeichnen. 
—  29,  13.  14:  Sin  wolkenlosez  lachen  bringet  scharpfen  hagel. 
Swä  man  daz  spürt,  ez  kert  sin  haut  und  wirt  ein  swalwen 
zagel:  merkt  man,  dass  hinter  seiner  Freundlichkeit  die  Bosheit 
verborgen  liegt,  so  hebt  das  Ungeheuer  die  Hand,  kehrt  sie 
aufwärts  und  macht  einen  Schwalbenschwanz,  d.  h.  der  Böse 
schwört,  dass  er  nichts  Böses  im  Schilde  führe.  In  der  Volks- 
sprache heisst  nämlich  noch  jetzt  einen  Schwalbenschwanz*) 
machen  so  viel  als  die  beiden  Finger  ausstrecken,  einen  Eid 
ablegen.  Walther  beschreibt  einen  Heuchler,  dessen  Freundlich- 
keit auf  dem  Probierstein  der  Treue  das  falsche  Metall  zeigre 
und  gegen  den  er  sich  30,  12.  13  nochmals  äussert.  Ein  sol- 
cher spricht  mit  zwei  Zungen,  und  da  diese  anderwärts  (13,  4) 
den  Pfajäen  vorgeworfen  werden,  so  mögen  sie  auch  wohl  hier 
gemeint  sein,  und  der  Dichter  drückt  sich  nur  in  einer  Art 
Käthsel  darüber  aus.  —  32,  27.  Zu  der  Strophe  lehn  weiz 
wem  ich  geliöhen  muoz  die  hovebellen  liefert  eine  Stelle  im 
A.  Meisterg.  -  B.  34''  weitere  Aufklärung:  Ich  wolde,  daz  den 
argen  hienge  ein  schelle  vür  an  der  nasen,  diu  da  klunge  2033 
helle,  da  man  sie  bi  erkente:  seht,  daz  wasre  ir  reht.  Und 
im  welschen  Gast  S.  30:  Swer  dem  weife  (al.  wolf)  zem  zagel 
bint  Ein  schellen,  er  loufet  unde  wint  Sich  hin  und  her  und 
enweiz  niut  Daz  er  da  treit  daz  er  da  fliuht.  Dem  Bösen  als 
Warnungszeichen  bindet  man  eine  Schelle  an  oder,  wo  dies 
nicht  geht,  wünscht  man,  dass  sie  an  ihm  hänge.  —  33,  3.  liest 
Rec.  folgendermassen :  Saget  ihr  uns  daz  er  sant  Peters  slflzzel 
habe,  so  saget  warumbe  er  sine  lere  von  den  buochen  schabe, 
daz  man  gotes  gäbe  iht  koufe  oder  verkoufe;  daz  wart  uns 
verboten  bi  der  toufe.  Sagt  ihr  uns,  dass  er  St.  Peters 
Schlüssel  habe,  binden  und  lösen  könnte,  so  sagt,  warum  er  des 
Apostels  (sine)  Lehre  in  der  heiligen  Schrift  auslösche  (von  den 
buochen  schabe,  vergleiche  unten  100,  27  und  Freidank  3891. 
4139),  wornach  man  Vergebung  der  Sünden  (gotes  gäbe)  nicht 

*)  gabeln,  Schm[eller]  2,  10.    [Anmerkung  Jacobs  im  Handexemplar.] 


392  GEDICHTE  WALTHERS  VON  DER  VOGELWEIDE  VON  LACHMANN. 

kaufe  und  verkaufe.  Das  ward  schon  bei  der  Taufe  verboten, 
wo  wir  in  die  Lehre  des  Evangeliums  eingeweiht  wurden.  Nu 
leretz  in  sin  swarzez  buoch,  solche  unchristliche  Dinge  lehrt  in 
sein  Zauberbuch  —  und  üz  im  leset  siniu  rör,  ir  kardenäle,  ir 
decket  —  und  aus  diesem  schwarzen  Buch  müsst  ihr,  Kardinäle, 
lesen,  erklären  seine,  des  Papstes,  Schrift,  Briefe.  Die  Er- 
klärung von  rör  durch  Schrift  ist  freilich  nur  eine  Vermuthung, 
aber  Rec.  kann  dafür  eine  Stelle  aus  Carpentier  suppl.  ad  Du 
Gange  anführen:  arundo  scripturam  significat,  quae  eadem  sie 
scribitur,  sicut  sonus  vocis  lingua.  Gloss.  vet.  ex  cod.  reg.  7613. 
Walther  braucht  das  ungewöhnliche  Wort,  die  Zaubercharaktere 
damit  anzuzeigen,  vielleicht  wäre  auch  besser:  und  üz  im  list 
er  siniu  rör:  ir  kardenäle.  —  Diu  ror  (schon  der  PI.  wäre 
2034  auffallend)  auf  den  stoc,  truncus  in  ecclesia,  zu  beziehen,  scheint 
deshalb  unpassend,  weil  dieser  gar  nicht  ein  schwankes,  dünnes 
Rohr  war  (in  diesem  gewöhnlichen  Sinn  braucht  Walther  das 
Wort  8,  31),  sondern  nothwendig  stark,  da  er  so  viele  Gaben 
fassen  sollte.  Gleich  hernach  (34,  14)  kommt  er  vor,  er  heisst 
her  stoc,  und  von  Zauberei  ist  dabei  keine  Rede.  In  der  darauf 
bezüglichen  Stelle  aus  dem  welschen  Gast  S.  257  ist,  V.  66 
statt  tuon  zu  lesen  nuo  nach  dem  Dresdner  Codex.  —  Die 
schwierige  Strophe  an  Leopold  von  Ostreich  35,  17  erklärt 
Rec.  abermals  auf  andere  Art.  Der  Herzog  hat  dem  Dichter 
ein  Lehen  zugedacht,  vielleicht  im  Scherz,  mitten  im  Walde, 
das  solle  er  anbauen  und  urbar  machen.  Walther  will  aber 
dort  nicht  in  der  Einsamkeit  wohnen,  sondern  unter  Menschen, 
wo  der  Boden  also  schon  angebaut  ist  (ze  velde).  Wald  und 
Heide  sei  zu  preisen  für  den  Herzog,  wenn  er  da  jage.  Jedem 
nach  seiner  Lebensweise.  Als  Dichter  rühmt  er  doch  den 
Wald  in  einem  anderen  Lied  (64,  14)  über  alles.  —  82,  9. 
10.  Die  Worte:  minn  ist  ze  himel  so  gefuege,  daz  ich  si  dar 
geleites  bite,  glaubt  Rec,  sind  ein  Nachklang  von  Wolframs 
Titurel  46,  2:  minne  hat  üf  erde  unde  üf  himele  vür  got  ge- 
leite. Dadurch  würde  Lachmanns  Vermuthung,  dass  Walther 
seinen  berühmten  Zeitgenossen  in  einem  Liede  nachgeahmt  habe 
(S.  199),  eine  äussere  Bestätigung  erhalten.  —  106,  15.  16. 
Das  Sprichwort  hat  auch  Vriberg  im  Tristan  (36")  sammt  der 


GEDICHTE  WALTHERS  VON  DER  VOGELWEIDE  VON  LACHMANN.  393 

Erklärung:  Wan  manch  dinc  verdirbet  Des  man  niht  enwirbet, 
Daz  niemer  verdürbe  Der  ez  mit  vlize  würbe.  Er  ahmt  Frei- 
dank 1225  nach. 

Wir  haben  noch  die  Bemerkung  nachzuholen,  dass  sämmt- 
liche  Gedichte  in  vier  Bücher  abgetheilt  sind,  einigermassen 
nach  dem  Inhalt,  doch  nicht  mit  strenger,  an  sich  weder  ange-  sos* 
nehmer  noch  natürlicher  Absonderung.  Das  erste  Buch  enthält 
meist  die  politischen  oder  geschichtlichen  und  die  moralischen 
oder  wenn  man  lieber  will  philosophischen  Gedichte;  ein  geist- 
licher Deich  eröffnet  die  Sammlung.  Das  zweite  und  dritte 
Buch  begreift  vorzugsweise  Minnelieder,  in  dem  vierten  stehen 
die  äusserlich  unbeglaubigten,  es  dürfte  auch  wohl  Einiges  dar- 
unter sein,  was  nicht  von  Walther  herrührt:  mögen  es  die  mit 
Sicherheit  herausfinden,  die  mehr  Vertrauen  auf  ihren  Scharf- 
sinn haben  I  Anderes  Ungewisse  ist  an  schicklichen  Stellen  in 
den  Anmerkungen  eingerückt,  das  Übergangene  in  der  Vorrede 
angezeigt.  Auf  eine  vollständige  Sammlung  konnte  es,  so  lange 
noch  nicht  alles  wiedergefunden  ist,  nicht  abgesehen  sein. 

Dürfen  wir  noch  einmal  auf  den  Dichter  zurückkommen? 
Wir  vernehmen  ihn  am  liebsten,  wenn  er  die  Welt  und  ihre 
Geschicke  betrachtet  und  über  das  Wunder  des  menschlichen 
Daseins  nachsinnt.  Der  Blick  ist  frei  und  kühn,  es  liegt  etwas 
Grossartiges  in  seiner  Betrachtung  und  das  Gefühl  einer  edlen 
und  vornehmen  Natur,  die  jeden  Schein  verschmäht.  Er  zeigt 
nirgends  Lust,  sich  in  ein  günstiges  Licht  zu  stellen  oder 
Schwächen  zu  verbero;en,  obgleich  er  sich  seines  Werthes  wohl 
bewusst  ist.  Dieser  feste,  männliche  Sinn  macht  die  Eigen- 
thümlichkeit  seiner  Natur  aus,  und  seine  Minnelieder  entbehren 
daher  jenes  schwärmerische,  sehnsüchtige,  oft  weiche,  manchmal 
überzarte  Gefühl  anderer  Dichter,  aber  sie  sind  naiv,  höchst 
anmuthig,  überraschend  und  glücklich  in  den  Wendungen  und 
auch  da,  wo  sie  an  das  Sinnliche  streifen,  voll  Grazie.  Er 
ist  ein  Mann,  dem  es  auf  der  W^elt  wohl  gefallen  könnte,  weil 
er  es  versteht,  ihre  Freuden  zu  gemessen,  aber  er  fühlt  sich 
gedrungen,  in  die  Tiefe  und  Höhe,  in  die  Vergangenheit  und  203& 
Zukunft  zu  schauen :  liezen  mich  gedanke  fri,  son  wiste  ich  niht 
umb  Ungemach,  ruft  er  selbst  aus.    Eine  grosse  Anhänglichkeit 


394     GEDICHTE  WALTIIERS  VON  DER  VOGELWEIDE  VON  LACHMANN. 

an  das  Vaterland  bricht  überall  durch:  Ich  hän  lande  vil  ge- 
sehen unde  nam  der  besten  gerne  war:  übel  mueze  mir  ge- 
schehen, künde  ich  ie  min  herze  bringen  dar,  daz  im  wol  ge- 
vallen  wolde  fremeder  site.  nü,  waz  hülfe  mich,  ob  ich  un- 
rehte  strite?  tiuschiu  zuht  gät  vor  in  allen.  Von  der  Elbe 
unz  an  den  Rin  und  her  wider  unz  an  Ungerlant,  so  mugen 
wol  die  besten  sin,  die  ich  in  der  werlte  hän  erkant.  Und: 
tugent  und  reine  minne,  swer  die  suochen  will,  der  sol  koraen 
in  unser  lant:  da  ist  wünne  vil:  lange  mueze  ich  leben  dar  inne! 
Die  politischen,  vielfach  wechselnden  Verhältnisse  jener  Zeit 
beurtheilt  er  frei  und  ohne  Zurückhaltung;  Unwille,  Vorliebe 
äussert  er  nach  jedesmaliger  Stimmung,  doch  bitter  zeigt  er  sich 
iiur,  wenn  er  auf  die  Missbräuche  der  Geistlichkeit  zu  reden 
kommt.  —  Die  Gedanken  sind  überall  reinlich  und  vollständig 
Ausgedrückt,  die  Rede  klar,  wo  sie  nicht  etwa  absichtlich  dunkel 
gestellt  ist;  und  wie  zierlich  weiss  er  sich  zu  fassen!  Als  das 
Widerwärtige  ihm  unerwartet  begegnet,  sagt  er:  des  min  fröide 
erschrocken  ist,  min  trüren  worden  munder,  als  schlafe  der 
Schmerz  in  einem  freudigen  Gemüth,  erwache  aber  und  richte 
sich  auf,  wenn  das  Böse  zu  nahe  herantritt.  Sich  selbst  er- 
mahnt er:  diu  meiste  menege  enruochet  wies  erwirbet  guot. 
Sol  ichz  also  gewinnen,  so  gang  släfen,  hoher  muot!  Die 
schöne  Gestalt  einer  Frau  vergleicht  er  mit  einem  köstlichen 
Kleide,  das  sie  angethan  habe,  und  fügt  hinzu:  getragene  Kleider 
nahm  ich  nie  (als  Sängerlohn)  zum  Geschenk,  dieses  aber  nahm' 
^037  ich  ums  Leben  gerne,  und  dafür  möchte  ein  Kaiser  Spielmann 
werden.  Wer  Sittensprüche  ebenso  trefflich  ausgedrückt  als 
gedacht  lesen  will,  dem  empfehlen  wir  das  Lied  37,  24:  tumbiu 
werlt,  ziuch  dinen  zoum,  wart  umbe,  sich. 

Wir  würden  es  dem  Leser  selbst  überlassen  haben,  die 
Vorzüge  Walthers  aufzufinden  oder  auf  die  Ausführung  in 
Uhlands  Schrift  verweisen,  wenn  wir  nicht  noch  eine  Bemer- 
kung daran  knüpfen  wollten.  Das  Talent  Walthers  erregt  unsere 
Theilnahme  nicht  bloss  als  merkwürdige  Erscheinung  einer  ge- 
wissen Periode  oder  als  Hilfsmittel,  uns  über  den  geistigen 
Zustand  seiner  Zeit  aufzuklären;  es  ist  an  sich  so  ausgezeichnet, 
dass   wir  Vortheil   für  uns  selbst,   unmittelbar  Genuss  und  Be- 


GEDICHTE  WALTHERS  YOX  DER  VOGELWEIDE  VON  LACHMANN.  395 

friedigung  daraus  schöpfen  können.  Er  ist  Dichter  in  vollem 
Sinne  des  Wortes.  Seine  Stimme  tönt  mit  in  jenem  grossen 
Chor,  der  aus  allen  Zeiten  uns  entgegenschallt  und  niemals 
verstummen  wird.  Neben  jener  ursprünglichen  Gabe,  die,  an 
keine  Bildungsstufe  gebunden,  sich  als  ein  freies  Geschenk  des 
Himmels  äussert,  finden  wir  bei  Walther  jenen  Scharfsinn  und 
jene  Feinheit  der  Gedanken,  jenes  Selbstbewusstsein ,  welches 
den  vorzügrlichsten  Dichtern  des  13.  Jahrhunderts  eigen  ist  und 
über  den  geistigen  Zustand  desselben  das  wahrste  und  sicherste 
Zeuarnis  ablesrt.  Es  war  kein  erborgter  Glanz,  keine  für  wenig: 
Augenblicke  hervorgelockte  Blüthe,  sondern  eine  auf  breiter 
Grundlage  ruhende,  in  allen  Verhältnissen  jener  merkwürdigen 
Zeit  begründete  Bildunsr,  die  ohne  Zweifel  ihre  Irrthümer  und 
Einseitigkeit  mit  sich  trug,  aber  selbständig  auftrat  und  der 
Achtung  nicht  bloss  werth  ist,  sondern  sie  fordert.  Freilich  mit 
einer  ungefähren  Kenntnis  der  Sprache  kommt  man  nicht  fort, 
und  wer  etwa  hier  und  da  eine  Strophe  lesen  und  den  äusseren  2038 
Zusammenhang  errathen  kann,  versteht  gerade  am  wenigsten. 
Wer  aber  das  Ganze  wirklich  versteht,  kann  unmöglich  auf  die 
Behauptung  gerathen,  die  wir  mit  Erstaunen  in  einer  vor  kur- 
zem öflentlich  gehaltenen,  an  sich  wohlmeinenden  Rede  gelesen: 
dass  die  Dichtungen  dieser  Zeit  nur  für  die  Geschichte  der 
Sprache  und  poetischen  Entwickelung  Werth  hätten,  nicht  aber, 
wie  die  Erzeugnisse  des  klassischen  Alterthums,  an  und  für 
sich  selbst  den  Geist  reizen  und  beschäftigen  könnten.  Ver- 
glichen werden  mit  jenen  unsterblichen  Werken  sollen  sie  nicht, 
das  würde  auf  beiden  Seiten  keinen  rechten  Vortheil  bringen, 
aber  an  einer  Stelle  dürfen  sie  sich  wie  jene  aufrichten  und 
ihren  Werth  geltend  machen.  Und  um  nicht  mit  bloss  all- 
gemeinen Betrachtungen  zu  schliessen,  so  fragen  wir  ohne 
lange  Wahl,  ob  wohl  das  griechische  Alterthum  ein  Lied  von 
der  innigen  und  grossartigen  Gesinnung  wie  das  letzte  hier  in 
Walthers  Sammlung:  owe  war  sint  verswunden  alliu  miniu  jär! 
von  sich  weisen  würde?  ob  Epimenides  Klage  edler  lauten 
könne?  und  ob  die  römische  Litteratur  etwas  dagegen  zustellen 
habe?  WUh.  Grimm. 


396  EDDA  SAEMUNDAR  III. 


1557  EDDA  SAEMUNDAR  HINS  FRODA. 

Edda  rhythmica  seu  antiquior  vulgo  Saemundina  dicta.  Pars  III.  continens 
carmina  Völuspa,  Hävamäl  et  Ri'gsmäl.  ex  codice  bibliothecae  regiae  Hafniensis 
pergameno,  necnon  diversis  legati  Amaemagnaeani  et  alionim  membraneis 
chartaceisque  melioris  notae  manuscriptis.  cum  interpretatione  latina,  lectioni- 
bus  variis,  notis,  glossario  etc.  accedit  locupletissimum  priscorum  borealium 
theosophiae ,  mythologiae  lexicon  addito  denique  eorundem  gentili  calendario, 
jam  primum  indagato  ac  exposito.  Hafniae.  Sumtibus  legati  Amaemagnaeani 
et  librariae  Gyldendalianae.    182S.     1146  S.  in  4. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  III,  156.  Stück,  den  26.  September  1829. 

S.  1.557  —  1559.*) 

Jl/ndlich  ist  mit  vorliegendem  dritten  Bande,  der  dem 
zweiten  im  Jahr  1817  herausgekommenen  schneller  gefolgt  ist,  als 
dieser  dem  ersten,  welcher  1787  erschien,  die  grosse  Ausgabe 
der  alten  Edda  vollendet.  Ein  Werk,  das  die  dänische  Litte- 
ratur  ehrt  und  in  Verbindung  mit  der  den  blossen  Text  in  einer 
eigenthümlichen  Recension  liefernden  Handausgabe  von  Rask 
keinen  billigen  Wunsch  unerfüllt  lässt.  Ref.  begnügt  sich  die 
Erscheinung  dieses  Bandes  mit  der  Versicherung  anzuzeigen, 
dass  er  ganz  in  dem  Geiste  des  vorigen  ausgearbeitet  ist.  Auch 
von  dem  Werthe  dieser  ältesten  Denkmäler  der  nordischen 
Vorzeit,  die  mit  der  deutschen  so  vieles  gemeinschaftlich  hatte, 
braucht  nicht  die  Rede  zu  sein,  er  wird  von  niemand,  der  in 
die  Sache  selbst  Einsicht  hat,  bezweifelt.  Möchten  nun  die 
endlich  gehobenen  Schätze,  so  wie  sie  es  verdienen,  benutzt 
werden!    Wir    meinen,  mit    gesunder  Kritik,    ohne    künstliche 

1558  Zweifelsucht,  mit  Anerkennung  des  lebendigen  und  höchst  eigen- 
thümlichen Geistes  des  Alterthums,  der  hier  glücklich  erhalten 
ist  und  unverkennbar  zu  uns  spricht,  aber  ohne  Träumereien 
über  einen  geheimen  und  verborgenen  Sinn,  welche  dann  am 
verderblichsten  wirken,  wenn  sie  nicht  zugleich  abgeschmackt 
und  lächerlich  sind.  Es  bleibt  des  Bedeutenden  und  Geheimnis- 
vollen noch  genug  neben  dem  Klaren  und  Verständlichen  zurück, 
an  dessen  Erklärung  sich  der  Scharfsinn  üben  kann. 

*)  [Vgl.  hierzu  tlie  Anzeige  des  zweiten  Theils  =  oben  S.  250—265.] 


EDDA  SAEMUNDAR  III.  397 

Dieser  Band  enthält  die  noch  übrigen  drei  eddischen  Lieder: 
Völuspa,  Havamal  und  Rigsmal,  die  gerade  zu  den 
wichtigsten  gehören.  Der  Text  ist  mit  Sorgfalt  behandelt  und 
mit  einem  reichlichen  kritischen  Apparat  ausgestattet :  vor  jedem 
einzelnen  Liede  steht  eine  gelehrte  Einleitung  und  am  Schluss, 
wie  in  den  vorhergehenden  Bauden,  ein  specimen  glossarii  und 
noch  ein  besonderer  index  onomasticus  für  Rigsmal.  Überall 
thut  sich  die  glückliche  Lage  des  Verfassers  kund,  dem  die 
reichsten  Sammlungen  zugänglich  sind;  nur  als  Beispiel  nennen 
wir  die  merkwürdige  Stelle  aus  einer  noch  ungedruckten  Sage 
über  die  Art  und  Weise,  wie  eine  Vola  ihre  Kunst  ausübte, 
die  in  der  Einleitung  zu  Völuspa  mitgetheilt  ist.  —  Hierauf 
folgt,  was  den  grössten  Raum  dieses  Baudes  einnimmt  (S.  275 
—^996),  ein  lexicon  mythologicum  in  vetusta  septentrionalium 
carmina,  quae  in  Edda  Saemundina  continentur.  Es  ist  sehr 
ausführlich  und  liefert  auf  jeder  Seite  Proben  von  dem  Fleiss 
und  der  Belesenheit  des  Verfassers.  Das  Bequeme  und  Ver- 
dienstliche einer  solchen  alphabetischen  Aufstellung  springt  in 
die  Augen,  aber  auch  der  Nachtheil,  wenn,  wie  hier,  der  ganze 
Inhalt  der  Mythen  darin  aufgenommen  wird.  —  Den  Schluss 
macht  noch  eine  Zugabe:  specimen  calendarii  gentilis  veterum  1559 
Gothorum,  Danorum  aut  Scandinavorum  ex  Asia  oriundi,  ductu 
carminis  Grimeciani  ac  antiquissimorum  reipublicae  Islandicae 
breviter  adumbratum.  Die  Überschrift  zeigt  schon  die  Richtung 
des  Verfassers  und  dass  man  auf  Vermuthungen  und  kühne 
Combinationen  gefasst  sein  müsse;  jeder  aber  wird  die  reich- 
haltige Zusammenstellung  dankbar  empfangen. 

Die  ganze  Ausarbeitung  auch  dieses  Bandes  rührt  von  Hrn. 
Prof.  Finn  Magnussen,  den  wir  jetzt  unter  den  Ephoren  des 
Arnämagnäanischen  Legats  finden;   eine  gerechte  Anerkennung 

seines  Eifers  und  seiner  Gelehrsamkeit, 

[anonym.] 


398    SAMLINGAR  FÖR  NORDENS  FORNÄLSKARE  AF  N.  H.  SJÖ80RG. 


1817  SAMLINGAR  FÖR  NORDENS  FORNÄLSKARE, 

innehallande  Inskrifter,  Figurer,  Ruiner,  Verktyg,  Högar  och  Stensättningar  i 
Sverige  och  Norrige,  med  Plancher,  Tomen  I.  Pa  Archäologiska  Sällskapets 
kostnad  och  Förlag  af  N.  H.  Sjöborg,  Professor  och  i  näder  förordnad  att 
hafva  inseende  og  vard  öfver  Rikets  Antiqviteter  etc.  Stockholm,  bei  Fr.  B. 
Nestius  1822.     140  S.  in  4.  —  Das.  1824:   Andra  Tomen  204  S.  in  4. 

GÖttingische  gelehrte  Anzeigen.    Bd  III,  183.  184.  Stück,  den  14.  November  1829. 

S.  1817—  1839. 

Werth  und  Bedeutung  des  nordischen  Alterthums  an  sich 
und  in  Beziehung  auf  Erklärung  des  nah  verwandten  ein- 
heimischen setzen  wir  als  anerkannt  voraus.  Das  Studium  der 
Denkmäler,  von  welchen  in  dieser  Sammlung  die  Rede  ist,  war 
bisher  erschwert;  es  fehlte  an  Abbildungen.  In  den  Anti- 
quarischen Annalen,  die  in  Kopenhagen  erscheinen,  war  Einiges 
zu  finden,  hier  und  da  in  anderen  Werken  Einzelnes;  das  alles 

1818  blieb  aber  unzureichend,  und  blosse  Beschreibungen ,  auch  die 
ausführlichsten,  genügen  nicht.  Hier  erhalten  wir  nun  auf 
41  Platten  des  ersten  und  60  Platten  des  zweiten  Theils  Ab- 
bildungcen  von  nahe  vierhundert  Denkmälern  aus  Schweden  und 
Norwegen.  Dass  sie  der  verschiedensten  Art  sind,  lehrt  schon 
der  Titel,  nicht  ist  gesagt,  dass  sie  auch  aus  den  verschiedensten 
Zeiten  rühren  und  bis  in  das  18.  Jahrhundert  herabgehen.  Neben 
den  wichtigsten  kommen  auch  unbedeutende  Dinge  vor ;  wir 
wollen  das  vorerst  nicht  tadeln,  wo  die  Urtheile  über  den  Werth 
noch  nicht  ganz  sicher  sind,  in  keinem  Falle  uns  dadurch  ab- 
halten lassen,  das  grosse  Verdienst  dieser  Abbildungen  anzu- 
erkennen. Wir  empfehlen  sie  den  deutschen  Alterthumsforschern 
angelegentlich.  Gleich  in  einem  Punkt,  bei  den  eben  ange- 
regten Untersuchungen  über  Grabhügel,  haben  sie  Gelegenheit 
sich  zu  überzeugen,  dass  sich  die  Denkmäler  dort  ungleich 
vollständiger  und  reichlicher  erhalten  haben  als  bei  uns  und 
erst  durch  jene  eine  genaue  Einsicht  und  durchgreifendes  Ver- 
ständnis zu  erlangen  steht.  Auch  für  die  Runeninschriften  ist 
durch  Bekanntmachung  einer  nicht  geringen  Anzahl  neuent- 
deckter Steine    etwas   geschehen.      Überhaupt  scheint   uns   das 


p,       SAMLINGAR  FÖR  NORDENS  FORNÄLSKARE  AF  N.  H.  SJÖBORG.    399 

Verdienst  des  Hrn.  Sjöborg  in  dem  Aufspeichern  und  Zusammen- 
stellen (ganz  seinem  Beruf  als  Vorstand  der  Sammlung  der 
Alterthümer  zu  Stockholm  gemäss)  noch  grösser,  als  in  der 
Erklärung  der  Denkmäler,  wiewohl  sich  von  selbst  versteht, 
dass  einem  so  einsichtsvollen  Manne,  der  sich  in  der  vortheil- 
haftesten  Lage  befindet,  vieles  selbst  gesehen  und  alles  mit  un- 
ermüdlicher Aufmerksamkeit  berücksichtigt  hat,  manche  schöne 
Bemerkunor  von  selbst  zufallen  musste  und  er  Nachweisunsfen 
geben  konnte,  wozu  ein  Anderer  nicht  leicht  im  Stande  war. 

Den  ersten  Band  eröflFnet  und  füllt  grösstenheils  eine  1819^ 
Klassification  der  nordischen  Alterthümer,  bei  welcher  wir,  da 
die  Resultate  der  Untersuchungen  des  Verfassers  darin  nieder- 
gelegt sind,  vorzugsweise  verweilen  müssen.  Er  hat  alles  zu- 
sammenfassend sieben  Klassen  angenommen.  Die  erste  be- 
greift: die  schriftlichen  Denkmäler.  Die  Litteratur  der 
beiden  Edden,  sowie  der  nordischen  Sagen,  da  sie  an  anderen 
Orten  und  zumal  besser  vorkommt,  hätte  füorlich  wegrbleiben 
können.  Eine  Aufzählung  der  Unterstützungen,  welche  dieser 
Theil  der  Alterthümer  in  Schweden  erfahren,  würde  in  einer 
Litteraturgeschichte  mehr  an  ihrem  Platz  gewesen  sein.  Es 
wird  anerkannt ,  dass  Dänemark  voraus  geeilt  sei ,  und  dieser 
Vorzug  aus  der  Unterstützunac,  welche  die  Regierung  dem 
Studium  angedeihen  lassen,  und  dem  Umstände  abgeleitet,  dass 
geborne  Isländer  dort  thätig  gewesen  seien.  Die  altschwe- 
dischen Gesetze  werden  in  Landes-,  Stadt-  imd  Provinzial- 
gesetze  eingetheilt.  Die  letzteren,  zwar  in  christlicher  Zeit  ab- 
gefasst,  werden  ihrem  L^rsprunge  nach  in  das  6.  Jahrhundert 
gesetzt.  Wiger  der  Weise,  der  das  Uplandische  Gesetzbuch 
sammelte,  soll  unter  Ingiald  gelebt  haben,  wenigstens  600  Jahre 
früher  als  König  Birger,  der  es  1296  in  der  Gestalt,  in  welcher 
wir  es  besitzen,  bekannt  machte.  Über  das  Alter  von  Lumber^ 
Lagmann  in  Westgothland  und  Urheber  des  westgothischen 
Gesetzbuches,  wird  gestritten,  Burmann  setzt  ihn  ins  achte  Jahr- 
hundert, aber  Tidgren  hat  dargethan,  dass  er  in  den  Anfang 
des  6.  Jahrhunderts  gehört.  Die  übrigen  Litterarnotizen  über- 
gehen wir,  da  sie  nur  das  Bekannte  enthalten.  Seitdem  ist 
(Stockholm  1827)  der  erste  Band  eines  Corpus  juris  Sveo-goto- 


400    SAMLIKGAR  FÖR  NORDENS  FORNÄLSKARE  AF  N.  H.  SJÖBORG. 

rum  von  H.  S.  Collin   und  C.  J.  Schlyter  erschienen,   welcher 

1820  das  westgothische  Gesetzbuch  enthält.  Die  alten  Reim- 
chroniken verdienen  Berücksichtigung  und  sind  in  einigen 
Theilen  glaubwürdig.  Es  entsteht  dabei  die  Frage  nicht  nach 
einem,  sondern  nach  mehreren  Verfassern,  welche  zu  verschie- 
denen Zeiten  geschrieben  haben,  wenigstens  lässt  sich  das  Zeit- 
alter des  letzten,  der  daran  gearbeitet  hat,  bestimmen,  wenn 
man  annimmt,  dass  er  unter  der  Regierung  des  Königs  gelebt 
hat,  die  zuletzt  beschrieben  wird.  Die  kürzere  Reimchronik 
enthält  die  Geschichte  von  62  Königen,  beginnt  mit  Erich,  der 
für  einen  Sohn  Odins  Heimdaller  ausgegeben  wird,  und  schliesst 
mit  Karl  Knutson.  Die  grössere  hebt  an  mit  einem  Lobliede 
auf  Schwedens  Herrlichkeit  und  beschreibt  dann  die  Thaten 
von  22  Königen,  Erich  Läspe  (Stammler)  macht  den  Anfang, 
Christian  Tyrann,  der  hier  Christiern  Klipping  heisst,  den 
Schluss.  Eine  wichtige  Sammlung  von  Urkunden  aus  dem 
Mittelalter,  königliche  Briefe,  Verträge,  Lehnbriefe  und  dergl. 
enthalten  die  Handlingar  rörande  Skandinaviens  Historia,  wo- 
von der  erste  Theil  im  Jahre  1816  erschien  und  die  gegen- 
wärtig von  einer  Gesellschaft  in  Stockholm  fortgesetzt  wird. 
Das  beigefügte  Verzeichnis  der  bereits  gedruckten  Urkunden 
in  chronologischer  Ordnung  ist  von  Fant  trefflich  und  voll- 
ständig ausgearbeitet,  und  es  wäre  ein  grosser  Verlust,  wenn 
es  nicht  fortgesetzt  würde.  Urkunden,  die  sich  auf  kirch- 
liche Angelegenheiten  vor  der  Reformation  beziehen, 
päpstliche  Bullen,  Concilienschlüsse,  Ritualen,  Legenden,  findet 
man  in  Er.  Benzelii  monum.  veteris  eccles.  Sveog.  Die  aus 
2200  Bänden  bestehende  Sammlung  des  Bischofs  Nordin  besitzt 
gegenwärtig  die  Universitätsbibliothek  zu  Upsala.  Fant  hat 
einen  Plan   zur  Herausgabe    der  Urkunden    gemacht,    aber  von 

1821  seinen  scriptores  rerum  suecicarum  ist  nur  der  erste  Band  er- 
schienen. —  Unter  den  allgemeinen  paläographischen  Bemer- 
kungen, welche  diesen  Abschnitt  schliessen,  hat  Rec.  sich  ge- 
wundert, die  Behauptung  zu  finden,  dass  die  beiden  Gesetz- 
bücher Wigars  flockar  und  Lumbs  lag  wahrscheinlich  auf 
hölzerne  Tafeln  mit  Runen  seien  eingeschnitten  worden.  Dieser 
Einfall  Burmanns,  für  den  sich  nicht  der  geringste  Beweis  findet, 


SAMLINGAR  FÖR  NORDENS  FORNÄLSKARE  AF  N.  H.  SJÖBORG.    401 

hätte  in  einem  solchen  Buch  nicht  sollen  wiederholt  werden.  — 
Das  älteste  Document  auf  Lumpenpapier,  das  man  kennt,  ist 
vom  Jahre  1445,  die  Buchdruckerkunst  wurde  1482  von  Sten 
Sture  dem  Älteren  in  Schweden  eingeführt. 

Zweite  Klasse:  Inschriften  mit  Runen  und  im 
Mönchsstil.  Rec.  übergeht,  was  über  die  Abstammung  der 
Runen  aus  dem  phönicischen  Alphabet  gesagt  wird,  ebenso  die 
durchgeführte  Yergleichung  der  einzelnen  Zeichen;  man  findet 
sie  in  Brynjulfsens  Schrift  vollständiger.  Rec.  mag  auch  nicht 
gern  einen  Streit  berühren,  der  das  Schicksal  hat,  fast  immer 
mit  einer  Art  Heftigkeit  und  Bitterkeit  geführt  zu  werden.  Er 
sieht  in  der  Angabe,  dass  Odin  die  Runen  in  den  Norden  ge- 
bracht habe,  schon  deshalb  keine  historische  Wahrheit,  weil  er 
den  Odin  für  keine  historische  Person  hält,  er  bezweifelt  auch 
nicht  den  Zusammenhang  und  die  Verwandtschaft  der  Runen 
mit  dem  griechisch -lateinischen  Alphabet,  aber  er  kann  nicht 
glauben,  dass  das  runische  Alphabet  ohne  alle  Selbstständigkeit 
nichts  als  eine  Anhäufung  entstellter  lateinischer  Buchstaben 
sei,  denn  das  müsste  bewiesen  werden,  geschieht  aber  nicht, 
wenn  man  aus  der  unendlichen  Menge  lateinischer  Inschriften 
ähnliche  Zeichen  einzeln  heraussucht,  was  durchaus  nicht  schwer 
sein  kann.  Eine  solche  Zusammenstellung  blendet  nur  bei  dem 
ersten  Anblick,  wer  erklärt  aber  den  Zufall,  dass  diese  un- 1822 
gewöhnlichen,  zerstreuten  Zeichen  sich  gerade  in  dem  Runen- 
alphabet versammeln  und  obendrein  festsetzen  mussten,  so  dass 
das  Gewöhnliche  dort  gar  nicht  zum  Vorschein  kam?  Das  Alter 
der  Runenschrift  beweist  die  bekannte  Stelle  des  Venantius 
Fortunatus  unwidersprechlich,  und  sie  kann  nur  durch  künst- 
liche Verdrehung  entfernt  werden.  Die  Frage,  wann  die  Runen 
nach  Skandinavien  gekommen  seien,  wird  hier  mit  Recht  als 
eine  solche  betrachtet,  die  nicht  mit  Sicherheit  könne  beant- 
wortet werden.  Ganz  anders  verhält  es  sich  mit  der  P'rage 
nach  dem  Alter  der  mit  Runen  beschriebenen  Steine.  Hr.  Sjö- 
borg  ist  der  Meinung,  dass  sie  als  eine  Nachahmung  der  In- 
schriften auf  Gräbern  bei  den  Römern  und  anderen  Völkern 
entstanden  seien;  man  habe  eingesehen,  dass  die  Schrift  länger 
als    ein    blosser    Bautastein    das   Andenken    bewahre,    und    die 

\V.   (illlMM,     KL..  SCIlltlKlK.N.       II.  26 


402  SAMLTNGAR  FÖR  NORDENS,  FORNÄLSKARE  AF  N.  H.  SJÖBORG. 

Runenzeichen,  als  jedermann  im  Lande  bekannt,  dazu  gebraucht. 
Leicht   möglich,    dass  man    die    aus  heidnischer  Zeit  rührenden 
Bautasteine  vorzugsweise  wählte,   um  darauf  die  Runen  einzu- 
hauen.    Nach    dem   Verf.    (der   darin    den   dänischen   Gelehrten 
widerspricht)   findet  man  keinen  einzigen  Runenstein,    von  dem 
zu    erweisen    stände,    dass    er   von    einem   Heiden   sei   errichtet 
worden  oder  vor  dem  Christenthum,    welches  um  das  Jahr  830 
zuerst   in    Schweden   gepredigt   und,    nachdem    es   immer   mehr 
Anhänger    gewonnen,    im    Jahre  1008    von    dem   schwedischen 
Könige    angenommen    wurde.      Die    Runensteine    entstanden  in 
der    ersten    christlichen  Zeit,    als    die  neue  Lehre  mit  der  alten 
gemischt  um  die  Herrschaft  kämpfte,  und  ihre  Periode  geht  mit 
dem  12.  Jahrhundert  zu  Ende.    Höchst  selten  sind  die  Personen 
bekannt,    deren  Andenken   der  Runenstein  bewahren  soll.     Ein 
Beispiel    ist    der  Erzbischof  Absalon,    der   auf  einem  Stein   in 
1823  Schonen   vorkommt.     Zufiillig   können  die  alten  Wäringer  oder 
Griechenlandsfahrer    genannt    sein,     die    aus    Schweden    haupt- 
sächlich um  das  Jahr  1070  dorthin  zogen.     Reisen  nach  Westen 
werden    gleichfalls    erwähnt,    die    sich   auf  die   Wikingsfahrten 
beziehen;    diese   fiengen   im  8.  Jahrhundert   von  Norwegen   und 
Dänemark    aus   an    und   kamen   in   dem    folgenden   Jahrhundert 
in  vollen  Gang,  wo  auch  Schweden  bedeutenden  Antheil  nahm. 
Ein  Uppländischer  Runenstein  gedenkt  der  Pilgerfahrt  einer  Frau 
nach  Jerusalem.     Christliche  Gesinnung  beweisen  folgende  Aus- 
drücke: Christus,  Gottes  Mutter,  Jesus,  Gott  helfe  seiner  Seele 
und   seinem    Geist,    Himmelreich,   Pater   noster.   Brücke    bauen 
für   seine  Seele   (denn    man   gab    es   bei   dem  Volk   für    ein  die 
Seligkeit  verdienendes  Werk  aus.  Brücken  zu  bauen),  er  starb 
in  weissen  Gewändern,  womit  nämlich  die  weissen  Taufkleider 
gemeint    sind,    welche    man    bewahrte,    um    die   Bekehrten   bei 
ihrem  Tode  hinein  zu  kleiden.    Auf  einem  Runenstein  in  Laland 
wird  St.  Michael   genannt.  —   Figuren  verrathen  bisweilen  das 
Alter   eines    Denkmals.      Auf  einem  Uppländischen   Runenstein 
(Bautil  558)  sieht  man  einen  Kirchendiener,  der  die  Glocke  läutet. 
Das  häufig  vorkommende  Kreuz  ist  um  so  gewisser  das  christ- 
liche,   als    es    sich    auf   einer   Menge    unbezweifelt    christlicher 
Steine    befindet.     Zwar    kann    es   der   Gestalt   nach   mit   Thors 


SAMLIXGAR  FÖR  NORDENS  FOENÄLSKARE  AF  N.  H.  SJÖBORG.    403 

Hammer  verglichen  werden,  man  weiss  aber  nichts  davon,  dass 
die  Heiden  das  Hammerzeichen  als  ein  beschützendes  ansresehen, 
am  allerwenigsten  bei  den  Todten,  die  mit  Odin,  aber  nicht 
mit  Thor  in  Verbindunoj  kamen.  Die  Grabhügel  von  Gorm 
dem  Alten  und  seiner  Gemahlin  Tyra  Danabot  in  Jütland  ge- 
hören ohne  Zweifel  zu  den  letzten  aus  der  heidnischen  Zeit, 
dagegen  enthalten  die  darauf  gesetzten  Bautasteine,  auf  welche 
Harald  Blätand  zum  Andenken  an  seine  Voreltern  eine  Inschrift  iS2i 
hauen  liess,  die  älteste  Runeninschrift,  wenigstens  die  älteste, 
deren  Zeit  man  bestimmen  kann,  denn  sie  fallt  in  den  Schluss 
des  9.  Jahrhunderts,  gehört  indessen  zu  den  unbezweifelt  christ- 
lichen Denkmälern.  Frösöstein  in  Jämtland  (Bautil  1112)  kann 
als  einer  der  ältesten  betrachtet  werden ,  denn  er  spricht  von 
einem  Gudfastsson  aus  Osten,  der  Jämtland  bekehrte.  Von 
hohem  Alter  ist  der  Edsvärastein  in  Westgothland,  worauf  von 
einem  tapferen  Jüngling  die  Rede  ist,  welcher  zog:  västrvägum 
i  vikingu,  und  ein  anderer  in  Südermannland,  worauf  steht, 
dass  er  auf  einem  Dingplatze  zum  Andenken  an  einen  Wächter 
der  Weststrasse  sei  gesetzt  worden.  Merkenswerth  ist,  dass 
der  genannte  Dinghügef  sich  ganz  in  der  Nähe  befindet  und 
beide  Steine  keine  Spur  der  christlichen  Zeit  enthalten;  gleich- 
wohl kann  man  sie  nicht  weiter  zurücksetzen,  als  etwa  in  das 
Jahr  1000.  Aus  dieser  Zeit  sind  auch  die  vorhin  erwähnten 
Steine,  welche  der  Wikingsfahrten  gedenken.  Ein  isländischer 
Stein  nennt  Kjartan  Olofson  in  Borg,  der  ein  bekannter  Mann 
war  und  um  das  Jahr  1003  lebte.  Nach  Celsius  Berechnunor 
lebten  die  berühmtesten  Uppländischen  Runenhauer,  die  man 
kennt,  Ubbe  und  Bale,  am  Schlüsse  des  9.,  dagegen  nach  Broc- 
inann  im  11.  Jahrhundert.  Nimmt  man  ein  Mittel  an,  so  fallen 
sie  in  das  10.  Jahrhundert;  so  viel  ist  gewiss,  sie  waren  Christen. 
Der  Karlevistein  in  Oland,  für  Sibbe  Udsson  errichtet,  ist  wahr- 
scheinlich ein  Denkstein  auf  des  dänischen  König  Erik  Ejegods 
Kriegszug  nach  Oland  am  Schlüsse  des  10.  Jahrhunderts. 

Aus  dem  12.  Jahrhundert  gibt  es  viele  Runensteine.    Eineri825 
darunter   verdient  ausgezeichnet  zu  werden:    Atark,    ein  Christ, 
errichtete   diesen  Stein    für  Thora   seine  Ehefrau.     Sie  starb  in 
Akit  (Akre),    während   wir   alle,    auch   die   geliebte   Frau,   die 

26* 


404    SAMLINGAR  FÖR  NORDENS  FORNÄLSKARE  AF  N.  H.  SJÖBORG. 

Türken  (Tiraka)  bekämpften.     Es  ist  die  Schlacht  bei  Akre  im 
Jahre  1190  gemeint,  woran,  wie  man  weiss,  mehrere  Schweden 
nicht  bloss  Theil  nahmen,  sondern  wo  sie  sich  auch  auszeichneten. 
Aus    dem    13.  Jahrhundert    gibt    es   verschiedene    Runensteine, 
deren  Alter   sich  bestimmen  lässt.     Der  Stein  bei  Christianstad 
in    Schonen    nennt   den  Erzbischof  Absalon   und  Esbjörn  Mule, 
jener    starb    1201    (es    steht    hier,    wahrscheinlich    durch    einen 
Druckfehler,   1204,  vergl.  Worm  monim.  Dan.  p.  172)  und  dieser 
1232,  und  früher  kann  die  Inschrift  nicht  verfertigt  sein.    Runen 
auf  der  Glocke  zu  Saleby  in  Westgothland  geben  das  Jahr  1228, 
1826  auf  der   Glocke    zu  Burseryd  in   Smäland    das  Jahr  1238   an. 
Aus  diesem  Jahrhundert  ist  auch  ein  kupferner  Löwe  aus  Island, 
zwölf  Zoll  lang,  ebenso  hoch,  auf  dessen  Kopf  sich  eine  Öffnung 
und   in    dessen   Zunge    sich    zwei   Löcher   befinden,    um   daraus 
Wasser  zu   spritzen.      Er   hat  als    Gefäss  für   Weihwasser  ge- 
dient, und  die  Runen   auf  der  Brust  enthalten,   dass  Thorwald 
(Einar  Thorwaldsson)  und  Thordis  diesen  Löwen  Gott  und  dem 
heiligen   Olof   zu   Ehren    schenkten.      Er    hat    der  Wassfjords- 
kirche  in  Island  gehört,  welche  dem  heiligen  Olof  geweiht  war. 
Dieser  Thorwaldsson  besass  Wassfjord  und  ward  1224  mit  der 
Thordis,    einer   Tochter   des    berühmten    Snorre  Sturlespn,   ver- 
heirathet.     Der  jüngste  Runenstein  ist  wohl   der  Aspöstein   am 
Mälar  vom  Jahre  1330;    darauf  der  Ausdruck  gjarva  sentier, 
welches   wahrscheinlich   das   französische  Wort  ist;   auch  findet 
sich    in    der   Nähe    wirklich    ein    Fusssteig.      Zwar    findet  man 
noch   spätere  Runeninschriften    auf  Grabsteinen,    die   in   Kirch- 
höfen   von    Gothland   liegen,    z.  B.    vom   Jahr  1444   und  1449, 
indessen  gehören  diese  nicht  zu  den  eigentlichen  Runensteinen, 
welche    von    dem    ersten  Anfange    bis  zu  dem  letzten  Gebrauch 
etwa  vier  Jahrhunderte  (950  — 1350)  lang  üblich  waren.     Schon 
im  11.  Jahrhundert  begann  die  sogenannte  Mönchsschrift,    und 
späterhin   gebrauchte   man    sie    zugleich    mit    den  Runen.     Eine 
solche  doppelte  Inschrift  sieht  man  z.  B.  auf  einem  Sarkophag, 
von  dem  Kirchhof  der  Botkyrka  in  Südermannland  nach  Stock- 
holm gebracht.     Ein  Runenstein,   der  imbezweifelt  in  die  heid- 
nische Zeit  gehörte,  würde  freilich  ein  merkwürdiger  Fund  sein. 
Es   müsste    darin    von   Personen   die   Rede  sein,    die   vor  oder 


SAMLIXGAR  FÜR  NORDENS  FORNÄLSKARE  AF  N.  H.  SJÖBORG.    405 

wenigstens  während  des  8.  Jahrhunderts  gelebt  haben,  oder  von 
Begebenheiten  aus  dieser  Zeit,  oder  es  müssten  Ausdrücke  vor- 
kommen, die  heidnische  Sitten  und  religiöse  Begriffe  bezeugten,  1827 
oder  bildliche  Darstellungen,  nur  aus  der  nordischen  Mythologie 
erklärbar.  Statt  Gott  und  Gottes  Mutter  müsste  Thor,  Odin, 
Freyr  oder  ein  anderer  von  den  Äsen  angerufen  sein.  Statt 
des  Himmelreichs  müsste  Walhall  genannt  sein,  statt  der  weissen 
Gewänder,  des  Pater  noster  und  der  Bitte  für  die  Seele  Altäre, 
Haine,  blothof  ued  blötmenn  (Tempel  und  Götzendiener),  Geirs 
oddr  (womit  Sterbende  sich  ritzten,  um  sich  dem  Odin  zu 
weihen).  Es  ist  unmöglich  Zufall,  dass  man  unter  den  vielen 
Runensteinen,  die  man  kennt,  nicht  einen  hat  entdecken  können, 
auf  welchem  sich  eins  jener  Merkmale  gefunden  hätte,  während 
eine  bedeutende  Anzahl  unbezweifelt  christlich  ist.  Was  man 
in  guter  Absicht  für  heidnisch  gehalten,  kann  man  zu  längst 
ausser  Credit  gesetzten,  ungereimten  Einbildungen  oder  zu 
neueren,  ungecrründeten  Vermuthungen  rechnen.  In  Dänemark 
glaubt  man  einen  Runenstein  aus  heidnischer  Zeit  gefunden 
zu  haben ,  auf  dem  man  nach  Abrahamsons  Erklärung  liest : 
Thor  vigi  thisi  runor,  Thor  weihe  diese  Runen  I  Aber  Thor 
war  kein  Gott  der  Todten,  sondern  ein  Schrecken  der  Leben- 
digen, und  uggi  oder  iggi  heisst  nichts  weiter,  als:  grub  ein. 
Also  bedeuten  diese  Worte  nichts  als:  Thor  grub  diese  Runen 
ein.  (Rec.  bemerkt,  dass  auch  dänische  Gelehrte  eine  gleiche 
Vermuthung  geäussert,  sie  aber  aus  anderen  Gründen  nicht  für 
statthaft  gehalten.)  Da  Hr.  Sjöborg  die  Sitte  Runensteine  zu 
errichten  im  Zusammenhang  mit  der  christlichen  Zeit  betrachtet, 
so  hält  er  es  für  sehr  unwahrscheinlich,  dass  jemals  eine  In- 
schrift aus  dem  Heidenthum  entdeckt  werde.  Über  Medalpad 
hinaus  findet  man  keine  Runensteine,  mithin  keine  in  Lappland 
und,  seltsam  genug,  keinen  in  Finnland.  Dagegen  in  Schweden 
gegen  1300,  wovon  700  auf  Uppland  kommen,  50  in  Norwegen,  1328 
30  auf  den  dänischen  Inseln  (davon  10  auf  Bomholm,  4  in 
Jütland,  2  in  Schleswig).  Auf  der  Insel  Mann  erblickt  man 
mehrere  Grabsteine  in  Kreuzgestalt  mit  Runen.  Dagegen  sind 
die  beiden  Runensteine  auf  dem  Museum  zu  Oxford  von 
Schweden    dorthin    gebracht.     Am   Schluss  befremdet    es,    den 


406    SAMLINGAR  FÖR  NORDENS  FORNÄLSKAUE  AF  N.  H.  SJÖBORG. 

längst  widerlegten  Irrthum  zu  finden,  wornach  die  Buchstaben 
auf  den  eben  nicht  so  seltenen  celtiberischen  Münzen,  die  frei- 
lich bis  jetzt  noch  niemand  hat  lesen  können,  für  Runen  aus 
der  westgothischen  Zeit  angesehen  werden. 

Inschriften  im  Mönchsstil  sind  mit  lateinischen  oder  deutschen 
Buchstaben  geschrieben.  Auf  Glocken  haben  sie  früher  ange- 
fangen und  später  aufgehört,  als  auf  Grabsteinen:  mit  den 
Runensteinen  haben  sie  das  gemein,  dass  sie  je  älter,  desto 
besser  und  richtiger  sind.  Dergleichen  Glocken  hat  man  von 
den  Jahren  1107.  1130.  1199.  Der  Verf.  hat  an  hundert 
solcher  Inschriften  gesammelt..  Wenige  sind  aus  dem  13.  Jahr- 
hundert, die  meisten  aus  dem  14.,  einige  aus  dem  15.  Die 
jüngste  in  der  Peterskirche  zu  Malmö  vom  Jahre  1675  ist 
schlecht  gemacht,  doch  aber  der  Sinn  herauszubringen.  Unter 
den  Mönchsinschriften  auf  Grabsteinen  ist  die  von  Bischof  Her- 
man  in  der  Kraftskirche  zu  Lund  die  älteste.  Er  war  Bischof 
in  Schleswig  und  leistete  dem  Erzbischof  Eskil  Beistand  bei  der 
Einweihung  der  Domkirche  im  Jahre  1145  oder  doch  bald  dar- 
nach. Der  Stein  hat  das  Eigene,  dass  sich  einige  kleine  Buch- 
staben unter  den  grösseren  befinden,  die  mitgelesen  werden 
sollen.  Aus  dem  13.  14.  und  15.  Jahrhundert  rühren  die  vielen 
Grabsteine  mit  Mönchsinschriften,  die  man  in  der  Wadstena- 
klosterkirche  und  in  den  Domkirchen  zu  Upsala,  Lund  und 
Trondheim  findet.  Ein  Grabstein  der  Isabella  von  Joigny,  der 
1829  jetzt  in  Christiania  aufbewahrt  wird,  mag  ins  Jahr  1295,  und 
ein  anderer  des  Bischof  Jon  ins  Jahr  1385  gehören;  beide  sind 
hier  No.  100  und  111  angebildet.  Grossentheils  sind  diese  In- 
schriften, sowohl  mit  lateinischen  als  deutschen  Buchstaben  ge- 
schrieben, lateinisch  abgefasst,  manchmal  in  Versen  und  Reimen. 
Plattdeutsche  findet  man  in  Lund  bei  und  in  der  Domkirche, 
besonders  in  der  unterirdischen  Kraftskirche  und  auch  auf  den 
Glocken.  Mischung  von  Lateinisch  und  Plattdeutsch  auf  einigen 
Glocken  in  Schonen.  Schwedische  unter  anderen  in  Uppland 
und  dänische  in  Schonen.  Auch  gibt  es  Glocken  mit  slavischen 
oder  russischen  Inschriften ,  die  wahrscheinlich  unter  Carl  IX 
als  Beute  aus  Russland  mitgebracht  wurden.  Auf  einer  solchen 
in  Dörarp  in  Smäland  erblickt  man  zwischen  den  Worten  Thier- 


SÄMLINGAR  FÖR  NORDENS  FORNÄLSKARE  AF  N.  H.  SJÖBORG.    407 

gestalten,  Männer  und  Frauen,  welche  die  Arme  über  den  Kopf 
ausstrecken.  In  Uppland  zwei  Glocken  mit  russischen  In- 
schriften, eine  in  Solina,  die  andere  in  Ryd.  Die  letztere  ist 
vom  Jahre  1567,  und  darauf  wird  genannt  Ivan  Wasiljewitz. 
Russlands  Selbstbeherrscher,  seine  Söhne  Ivan  und  Feodor. 
ferner  der  heilige  Metropolitan  Philipp  und  Erzbischof  Pimin. 
Novoo-orods  und  Plescovs  Vorbitter  bei  Gott.  Es  ist  Ivan  I^  , 
der  Eroberer  Siberiens,  der  1585  ein  Mönch  ward.  Auch  auf 
anderen  Kirchengeräthen,  Taufsteinen,  Kelchen  kommen  manch- 
mal Mönchsinschriften  vor. 

Die  alten  Inschriften  tragen  völlig  das  Gepräge  ihrer  Zeit 
an  sich.  Sie  gewähren  neue  Aufklärungen  oder  bekräftigen 
schon  Bekanntes,  doch  darf  man  sich  nicht  wundern,  wenn  man 
sie  manchmal  unbedeutend  oder  unrichtig,  manchmal  unbegreif- 
lich, ja  völlig  unlesbar  findet.  Man  dachte  am  wenigsten  daran, 
als  sie  verfasst  wurden,  dass  sie  in  die  Hände  der  Antiquare 
kommen,  die  Neugierde  der  zukünftigen  Jahrhunderte  rege 
machen  und  der  Gegenstand  historischer  Forschungen  werden  i8.so 
sollten.  Die  Jahreszahl  anzugeben  oder  den  König  zu  nennen, 
unter  dessen  Regierung  sich  die  Begebenheit  zugetragen,  schien 
dem  Runenschreiber  ein  hochmüthiger  Uberfluss,  sich  deutlicher 
auszudrücken,  als  in  dem  Augenblick  nöthig  war,  ein  lächer- 
licher Einfall.  Der  Mönchsstil  ist  mehrentheils  ausführlicher, 
aber  im  Allgemeinen  betrachtet  waren  es  besondere  Zuföllior- 
keiten  und  eigene  Empfindungen,  die  man  ausdrücken  woUte, 
selten  dass  jemand  daran  dachte,  Witz  an  den  Tag  zu  legen. 
Manchmal  hat  man  in  späteren  Inschriften  dieser  Art  einen 
.satyrischen  Zug  bemerkt. 

Dritte  Klasse:  Bilder  und  Figuren  ohne  alle  In- 
schrift. Dahin  Bildhauerarbeiten,  Zeichnungen  in  Felsenwände, 
Schildzeichen,  Siegel  und  dergl.  Von  Bildhauerarbeit  ist  aus  der 
Heidenzeit  nichts  mehr  übrig.  Der  Holzklotz  in  der  Domkirche 
zu  Upsal,  welcher  in  der  Suecia  antiqua  et  hodierna  abgebildet 
ist  und  den  man  für  Thors  Bild  aus  dem  alten  heidnischen 
Tempel  zu  Upsala  ausgegeben,  verdient  keine  Rücksicht.  An 
den  alten  Schiffen  waren  Drachen  und  andere  Thiere  ausge- 
hauen,  womach  sie  benannt  wurden.    Die  zwei  Ritterbilder  aus 


408    SAMLINGAR  FÖR  NORDENS  FORNÄLSKARE  AF  N.  H.  SJÖBORG. 

Holz  auf  dem  Kirchendach  zu  Kimstad  zum  Andenken  an  die 
zwei  Eriche,  die  sich  nach  König  Stenkils  Tod  im  Jahre  1066 
um  die  Herrschaft  stritten,  sind  in  späterer  Zeit  zerstört  und 
an  ihre  Stelle  andere  aus  Eisenblech  gesetzt  worden.  Desto 
grösser  ist  die  Anzahl  der  aus  katholischer  Zeit  erhaltenen 
Bildhauerarbeiten:  Bilder  von  Heiligen,  Darstellungen  aus  Le- 
genden und  der  biblischen  Geschichte,  Statuen  von  Rittern  und 
Bischöfen.  Der  Verf.  will  nur  Bilder  anführen,  welche  in  den 
ersten  christlichen  Jahrhunderten  schon  eine  bestimmte  Be- 
deutung hatten. 
1831  Christus  wird  dargestellt   als  der  gute  Hirte ,  indem  er  auf 

den  Schultern  ein  Lamm  trägt  oder  eins  oder  mehrere  zur 
Seite  hat,  als  Weinstock,  Leuchter,  als  Felsen,  an  welchen 
Moses  mit  seinem  Stab  schlägt  und  aus  dem  Wasser  springt, 
endlich  auch  als  Lamm,  oft  mit  dem  Kreuz.  Lauter  bekannte 
biblische  Darstellungen.  Das  Kreuzzeichen  auf  den  Runen- 
steinen gleicht  oft  völlig  dem  Kreuz  der  Kreuzfahrer  und 
Tempelherrn,  und  dieselbe  Gestalt  hat  auch  das  Kreuz,  welches 
in  den  Mönchsstilinschriften  die  einzelnen  Wörter  trennt  oder 
den  Schluss  des  Sinnes  anzeigt.  Die  von  einem  dänischen 
Gelehrten  in  den  Antiquarischen  Annalen  ausgeführte  Meinung, 
wonach  die  Kreuzzeichen  auf  den  Runensteinen  ins  Kreuz  ge- 
legte Donnerkeile  Thors  sein  sollen,  bedarf  nach  dem  Verf. 
keiner  besonderen  Widerlegung.  Er  bemerkt  noch,  dass  das 
Kreuz  auf  den  Münzen  des  Mittelalters  dem  Kreuz  auf  den 
Runensteinen  sehr  ähnlich  sehe.  Ebenso  wenig  als  das  Kreuz 
auf  Münzen,  Schilden,  Gräbern  usw.  Thors  Hammer  be- 
deutet, ebenso  wenig'  findet  sich  ein  Kreuz  auf  einem  Runen- 
stein, das  damit  in  Zusammenhang  stände.  Das  Kreuz  auf  dem 
sogenannten,  jetzt  zerstörten  Odinsgrab  auf  der  Axwallaheide 
(Abbildung  davon  liefert  Taf.  7),  obgleich  über  1000  Jahre 
älter  als  irgend  ein  Runenstein,  kann  doch  nicht  auf  Thor  be- 
zogen werden.  Es  würde  Aufmerksamkeit  verdienen,  wenn  es 
an  einem  in  der  verschlossenen  Grabkammer  aufgerichteten 
Stein  sich  gezeigt  hätte,  aber  da  man  nur  auf  einem  kleinen, 
aussen  liegenden  (angenommen,  dass  dieser  gleichzeitig  sei)  als 
eine   Art   Zierat    zwei   Linien    eingehauen    findet,    welche   sich 


SAMLINGAR  FÜR  NORDENS  FORNÄLSKARE  AF  N.  H.  SJÖBORG.    409 

zufällig  in  rechten  Winkeln  schneiden,  so  ist  es  ebenso  passend, 
darin  Thors  Hammerzeichen  zu  sehen,  als  zu  glauben,  dass 
jeder  Cirkel,  wo  nicht  die  Ewigkeit,  doch  zum  wenigsten  die 
Sonne,  das  llad  an  Phöbus  Wagen  oder  Thors  Gürtel  bedeuten  1832 
solle.  Die  in  Kreuzform  gearbeiteten  Platten ,  die  an  den  in 
Smäland  ausgegrabenen  Urnen  befestigt  sind,  haben  keine  sym- 
bolische Bedeutung  und  sind  nichts  als  ein  gleichgültiger 
Zierat. 

Eine  Taube  bedeutet  Unschuld  und  Einfalt,  Fische  Christen, 
welche  die  Lehre  des  Evangeliums  annehmen;  dagegen  sollen 
zwei  Fische  und  zwei  Tauben  christliche  Eheleute  bedeuten. 
Die  vier  Evangelisten  werden  dargestellt  mit  vier  Büchern,  mit 
vier  Quellen,  die  aus  einem  Berge  springen,  mit  vier  Schafen, 
am  meisten  -aber  mit  den  vier  Thieren,  welche  Hesekiel  I,  5,  10 
und  Offenb.  Job.  4,  7  genannt,  jedoch  von  den  Kirchenvätern 
nicht  gleich  gedeutet  werden.  Schiff  in  der  Sündfluth  bedeutet 
die  christliche  Versammlung,  ebenso  ein  Haus,  Krone  Macht 
und  Stärke,  Sieg  und  Freude,  Ochsen  Priester  und  verordnete 
Lehrer.  Manchmal  findet  mau  einen  Kelch  auf  den  Gräbern 
der  Priester. .  Ein  Anker  zeigt  die  Hoffnung  der  Christen  an, 
ein  Hirsch  das  innerliche  Verlangen  nach  Vereinigung  mit 
Gott,  ein  oder  mehrere  Füsse,  dass  man  in  Christi  Fussstapfen 
wandelt.  Pferde  bedeuten  Menschen,  die  zum  Ziele  eilen, 
Wagen  einen  zu  Ende  gebrachten  Lebenslauf;  doch  ein  Wagen 
mit  einem  Weinfass,  von  zwei  Ochsen  gezogen,  soll  Eintracht 
und  gegenseitige  christliche  Liebe  darstellen.  Hahn,  Symbol 
der  Wachsamkeit,  steht  in  einer  gewissen  Verbindung  mit  dem 
Apostel  Petrus  und  befindet  sich  vielleicht  in  dieser  Eigenschaft 
oben  auf  dem  Kirchthurm,  ihm  nämlich  gehören  die  Schlüssel 
der  Kirche  wie  des  Himmelreichs.  Zwei  streitende  Hähne 
werden  als  geistlicher  Streit  gedeutet.  Ölbaum  bezeichnet 
immer  den  Frieden,  wie  Palme  den  Sieg.  Ein  Pfau,  glaubt 
man,  stelle  die  Unsterblichkeit  dar,  weil  Augustin  sagt,  dass 
sein  Fleisch  nicht  verwese.  Münters  Programm  (Symbola  183:; 
veteris  ecclesiae  artis  operibus  expressa)  über  diesen  Gegenstand 
ist  bekannt. 

Figuren    en  basrelief  mit   oder  ohne  Inschriften  sieht  man 


410    SAMLINGAR  FÖR  NORDENS  FORNÄLSKARE  AF  N.  H.  SJÖBORG. 

auf  Trinkhörnern  und  anderen  Alterthümern.  Eingeliauene 
Zeichnungen  findet  man  nicht  bloss  auf  Felsenwänden,  sondern 
auch  auf  Runensteinen.  Figuren  auf  Felsen  kommen  meist  am 
Strand  und  in  der  Nähe  des  Meers  vor,  in  Bohuslän  und  Ble- 
king,  sie  mögen  von  Seeräubern  herrühren,  denn  man  sieht 
SchiflFe,  ja  ganze  Flotten,  zugleich  Menschen  und  Thiere,  die 
ans  Land  geführt  vrerden.  Unter  den  Figuren  auf  Runensteinen 
befindet  sich  auch  ein  Troll  (Bautil  No.  1157),  er  hat  einen 
Pfeil  in  der  Hand  und  einen  im  Mund,  v^^ährend  er  auf  einem 
AVolf  reitet,  den  er  mit  einem  gekrümmten  Zweig  statt  eines 
Zaumes  lenkt.  Auf  einem  anderen  Stein  ein  Mann,  der  auf 
der  Schulter  eine  Axt  trägt,  in  derselben  Rüstung,  in  welcher 
man  die  alten  Wäringer  in  Constantinopel  und  die  Engländer 
und  Dänen  beschreibt,  welche  den  Kreuzzügen  beiwohnten.  In 
Schonen  befindet  sich  ein  Runenstein,  auf  welchem  man  einen 
Wolf  sieht  und  darunter  ein  SchiiSf  mit  Ruder  und  in  dem 
Schiffe  vierzehn  Menschen.  Der  Wolf  deutet  an,  dass  der 
Todte  ein  Seeräuber  war.  Das  merkwürdigste  von  allen  in 
Stein  gehauenen  Bildern  ist  in  einem  Hünenbett  in  Schonen 
gefunden  und  unter  dem  Namen  Kivike  Monument  bekannt. 
Hier  sieht  man  Schiffe,  Pferde,  Streitäxte,  Spiesse,  Siegeswagen, 
Siegeszug  von  Kriegern,  Gefangenen,  Hornbläsern,  Triumph- 
bogen, Altäre  mit  Opferpriester.  Es  ist  die  Darstellung  eines 
wirklichen  Ereignisses.  Eine  Flotte  ist  gelandet,  hat  Waffen, 
Pferde  und  Wagen  mit  sich  geführt;  man  hat  gesiegt  und  den 
Sieg  mit  Opfer  gefeiert.  An  hieroglyphische  Bilderschrift  ist 
1834  dabei  nicht  zu  denken.  —  Spuren  von  Menschenfüssen  hat  man, 
glaubt  der  Verf.,  eingehauen,  entweder  um  das  Mass  der 
eigenen  Füsse  zu  zeigen  oder  um  mit  Riesenstärke  zu  prahlen. 
In  Blekingen  sieht  man  die  Spuren  von  Menschenfüssen  und 
Rosshufen  und  dabei  geht  die  Sage,  zu  der  Zeit,  wo  der  Stein 
noch  weich  gewesen,  hätten  zwei  Riesen  an  dieser  Stelle  mit 
einander  gekämpft,  der  eine  zu  Pferd,  der  andere  zu  Fuss. 

Vierte  Klasse:  Ruinen  von  alten  Tempeln,  Städten, 
Schlössern,  Kirchen,  Klöstern.  Aus  den  Ruinen  des  alten 
heidnischen  Tempels  zu  Upsala  hat  man  die  noch  jetzt  dort 
stehende  Kirche   aufgebaut,   in    deren   Mauer  man   die  uralten 


SAMLIXGAR  FÖR  NORDENS  FORNÄLSKARE  AF  X.  H.  SJÖBORG.    411 

Überbleibsel  erkennt.  Man  hat  nach  genauer  Untersuchung 
des  Denkmals  selbst  mit  Hilfe  der  ältesten  Beschreibung  einen 
Versuch  gemacht,  diesen  Tempel  in  seiner  ursprünglichen  Gestalt 
darzustellen:  die  Abbildung  davon  auf  Taf.  25.  —  Die  alten 
Klöster  in  Schweden  hat  der  Bischof  Rjzelius  in  seiner  Mona- 
steriologia  sviogothica  beschrieben,  so  wie  die  alten  Schlösser 
imd  Burgen  in  der  Sviogothia  munita.  Man  sieht  in  diesem 
Werke  verschiedene  Abbildungen  von  alten  Schlössern  und 
Wikinffsraubnestem.  Übrigens  sind  neben  der  Darstellunsc  des 
ehemaligen  Tempels  zu  Upsala  auch  Ruinen  bei  Sigtuna  ab- 
gebildet. 

Fünfte  Klasse:  Bracteaten  und  Münzen.  Ein  Theil 
der  alten  Münzen  sind  nicht  zweiseitig,  sondern  bestehen  aus 
einer  dünnen  Platte,  die  meist  von  Silber  ist  und  in  welche 
Ficfuren  eingedrückt  sind.  Ob  man  orleich  auf  einioren  der  alten 
Münzen  Runen  sieht,  so  kann  mau  doch  mit  Sicherheit  nicht 
behaupten,  dass  vor  König  Olof  Schosskönig  Münzen  in  Schweden 
seien  geschlagen  worden,  und  die  man  ihm  gewöhnlich  zu- 
schreibt, scheinen  englische  zu  sein.  Merkwürdigkeiten  dieser  1S35 
Art  findet  man  beschrieben  in  Berchs  thesaurus  numm.  sviogoth. 

Sechste  Klasse:  Werkzeuge,  Waffen  und  Schmuck, 
Opfergeräthe,  Heiligthümer,  Trinkhörner,  Urnen. 
Der  Verf.  übergeht  diese  Klasse  hier  und  verweist  auf  seine 
früheren  Werke,  die  Einleitung  in  die  Kenntnis  der  vater- 
ländischen Alterthümer  und  die  Nomenclatur  nordischer  Alter- 
thümer. 

Siebente  Klasse.  Sie  befasst  die  Alterthümer,  die  in 
Museen  nicht  aufstellbar  sind  und  deren  Kenntnis  nur  durch 
eine  Reise  in  das  Innere  des  Landes  kann  erlangt  werden.  Die 
Wenigsten  haben  sie  mit  eigenen  Augen  zu  sehen  Gelegenheit 
Gcehabt,  und  sorgfaltige  Abbildungen  sind  hier  vorzüglich  ein 
Bedürfnis.  Der  Verf.  hatte  sie  früher  in  Hügel  und  Stein- 
setzungen eingetheilt,  da  aber  beide  Manches  gemein  haben  und 
die  Steinsetzungen  oft  nur  zur  Verzierung  der  Hügel  dienen, 
so  trennt  er  hier  beiderlei  Denkmäler  nicht  und  nimmt  Rück- 
sicht auf  den  Zweck  ihrer  Errichtung.  Zuerst  also  betrachtet 
er  die  Denkmäler,  welche  auf  den  Gottesdienst  Bezug  haben. 


412    SAMLINGAR  FÖR  NORDENS  FORNÄLSKARE  AF  N.  H.  SJÖBORG. 

Wer  aus  Altersschwäche  zum  Kriegsdienst  untauglich  sich  und 
anderen  zur  Last  fiel,  weihte  sich  dem  Odin,  indem  er  sich 
von  einer  bedeutenden  Höhe  herabstürzte.  Ein  solcher  Platz 
hiess  in  der  altnordischen  Sprache  ätternistapi.  Die  Rede  da- 
von ist  in  der  Gotr.  und  Rolf'ssage,  und  in  vielen  schwedischen 
Provinzen  gibt  es  Orte,  welchen  uralte  und  beständige  Tradition 
eine  solche  Bestimmung  beilegt.  Ein  besonderer  Gang  führte 
zu  einer  Fläche,  von  welcher  man  sich  herabstürzte.  Häufig 
findet  man  ein  Wasser  in  der  Nähe,  welches  zur  Abwaschung 
der  Leiche  diente.  Obgleich  der  Verf.  mehrere  solcher  Felsen 
nachweist,  so  scheint  doch  ein  solcher  religiöser  Gebrauch  noch 
1836  zweifelhaft  und  die  Annahme  sich  bloss  auf  mündliche  Über- 
lieferung zu  stützen.  Seltsam,  dass  sich  diese  Felsen,  wie  der 
Verf.  dänischen  Gelehrten  nachgibt,  nur  in  Schweden  be- 
finden. —  Sodann  gehören  zu  den  Alterthümern  dieser  Art: 
Tempel,  Altarhügel,  Opferhügel,  Opferfelsen,  Schutzfelsen  (nicht 
sowohl  der  Stein,  als  der  darin  wohnende  Elfe  ward  verehrt, 
ebenso  verhält  es  sich  mit  den  Schutzpfeilern),  Andachtsorte 
verschiedener  Art.  Gründe  zu  diesen  Benennungen  findet  der 
Verf.  auch  hier  oft  in  der  Volkssage.  Rücksicht  darauf  ist 
nicht  zu  verwerfen,  im  Gegentheil  anzuempfehlen,  allein  sie 
bleibt  immer  ungewiss,  und  Rec.  gesteht,  dass  ihm  bei  dieser 
Eintheilung  und  Bestimmung  der  Denkmäler  Manches  gewagt 
und  höchst  zweifelhaft  vorkommt.  Zweitens:  Denkmäler  in 
Beziehung  auf  das  Kriegswesen.  Hier  werden  abgehandelt 
die  besonderen  Plätze,  wo  man  sich  in  dem  Gebrauch  der 
WaflPen  übte,  gymnastische  Bahnen,  wie  der  Verf.  sie  nennt, 
Kreise  für  Zweikämpfe,  grosse  Kampfplätze.  Es  versteht  sich 
von  selbst,  dass  jedes  Mal  durch  Abbildungen  die  Beschreibung 
deutlich  gemacht  wird.  Drittens:  Denkmäler  in  Bezug  auf  die 
Verwaltung  des  Reichs  und  Rechtspflege.  Hier  werden  die 
Dingstätten  und  Dinghügel  in  ihren  verschiedenen  Arten  und 
Formen  abgehandelt,  und  da  man  bei  diesem  Gegenstand  schon 
mit  mehr  Sicherheit  auftreten  kann,  so  sind  die  Nachweisungen 
des  Verf.  über  die  verschiedene  Grösse  dieser  Gerichtsplätze 
und  die  dabei  aufgerichteten  Steine  von  besonderem  Werth. 
Viertens:    Gräber.     Die   ältesten   sind  in  Gestalt  eines  halben 


SAMLINGAR  FÖR  NORDENS  FORNÄLSKARE  AF  N.  H.  SJUBORG.    41-3 

Kreuzes  (Halfkorsgrafvar),  dann  folgen  Stammhügel  (ätthogar), 
welche  indessen  auch  aus  der  spätesten  heidnischen  Zeit  sein 
können,  also  zu  den  ältesten  und  jüngsten  Denkmälern  dieser 
Art  gehören;  sie  sind  sehr  häufig  und  noch  jetzt  zu  tauseiiden 
vorhanden.  Die  grössteu  können  dreihundert  Ellen  im  Umkreis  isiT 
haben  und  dreissig  Ellen  Höhe,  sie  sind  fast  immer  rund  und 
von  Erde  aufgeworfen.  Die  kleinsten  heissen  ättkullar,  bestehen 
aus  Erde,  Stein  oder  Gries  und  haben  eine  Höhe  von  1  bis 
3  Ellen  und  3  bis  6  Ellen  im  Umfang.  Zu  den  äusseren  Be- 
standtheileu  eines  vollständigen  Stammhügels  gehört:  1)  der 
Stammfelsen  (ätthäll)  oder  Bautastein,  auf  der  Spitze  des  Hügels 
errichtet,  2)  das  Diadem,  ganz  oben  auf  den  Hügel  gestellte 
Steine,  3)  die  Krone,  ein  Kreis  von  Bautasteinen,  welcher  den 
obersten  Theil  des  Hügels  umgibt,  4)  der  Gürtel,  ein  solcher 
Steinkreis  in  der  Mitte,  5)  die  Fusskette,  ein  solches  am  Fuss 
des  Hügels.  Ein  Grabaltar  findet  sich  manchmal  auch  am 
Fusse  des  Hügels,  auf  welchem  zu  Ehren  des  Todten  Opfer 
gebracht  wurden.  Endlich  6)  die  Einfriedigung,  eine  Stein- 
setzung, die  den  Hügel  umgibt.  Die  inneren  Bestandtheile 
eines  Grabhügels  sind  folgende:  1)  der  innere  Steinhaufen,  der 
vier  Ellen  von  der  Spitze  des  Hügels  anfängt  und  in  dessen 
Mitte  sich  2)  der  Behälter  befindet,  worin  die  Urne  steht. 
Diese  ist  in  der  Regel  von  Thon,  manchmal  von  Kupfer,  Eisen, 
Holz,  in  höchst  seltenen  Fällen  von  Gold  und  Krystall.  Sie 
hat  einen  Deckel  von  gleicher  Art,  oder  statt  dessen  liefet  ein 
flacher  Stein  darauf,  oder  sie  ist  auch  unbedeckt.  In  der  Urne 
findet  man  Asche,  verbrannte  Knochen,  manchmal  Perlen,  Bern- 
stein, Weihrauch,  Steinmesser,  Stücke  von  Kupfer  oder  Eisen, 
Schmuck  und  dergl.  In  einigen  Gräbern  hat  man  zwei  über 
die  Urnen  kreuzweis  gelegte  Steinmesser  gefunden.  Aschen- 
behälter und  Urne  weisen  auf  einen  Zeitraum,  der  mit  Odin 
beginnt  und  etwa  mit  dem  7.  Jahrhundert  endigt.  HüW  mit 
unverbrannten  Leichen  können  bis  zum  11.  Jahrhundert  herab- 
gehen, aber  möglicherweise  bis  zum  1.  Jahrhundert  hinauf,  in 
der  Regel  jedoch  sind  sie  jünger,  als  die  mit  verbrannten  1S38 
Leichen.  Zu  den  unverbrannten  gehört  eigentlich  3)  die  Stein- 
kiste, die  länglich  ist,  viereckig  und  an  allen  Seiten  eben.    Der 


414    SAMLINGAR  FÖR  NORDENS  FORNÄLSKARE  AF  N.  H.  SJÖBORG. 

Boden  wird  meist  aus  Felsengrund  gebildet,  oben  liegen  mehrere 
Decksteine.  Sie  enthält  die  unverbrannte  Leiche,  Waffen, 
Schmuck,  manchmal  aber  zugleich  Asche  und  verbrannte  Ge- 
beine, doch  meist  ohne  Urnen.  Eine  solche  Mischung  beider 
Gebräuche  deutet  eine  Übergangszeit  an.  —  Je  vollständiger 
die  äusseren  Zieraten  eines  Hügels,  je  kostbarer  die  Urne, 
desto  älter  der  Hügel.  Die  Thonurnen  sind  demnach  jünger 
als  die  seltneren  aus  Metall.  Endlich  kann  noch  4)  zu  den 
inneren  Verzierungen  gezählt  werden  ein  Kreis  von  Steinen, 
welcher  der  äusseren,  Fusskette  genannt,  entspricht  und  Drak- 
ring  heisst.  —  Die  meisten  Grabhügel  findet  man  in  Schweden, 
die  ältesten  in  der  Nähe  von  Upsala.  In  Norwegen  hat  sich 
der  Gebrauch  rein  erhalten,  in  Dänemark  dagegen  ist  er  aus- 
geartet. In  Island  sind  nur  wenige  und  können,  als  aus 
späterer  Zeit  rührend,  nicht  klassisch  sein.  Noch  geschieht 
Erwähnung  der  Gräber,  Hügel,  in  Gestalt  eines  Schiffs  (Skepps- 
högar),  der  Grab  wälle  in  Form  eines  rechten  Winkels  oder 
einer  Gabel  oder  in  einer  geraden  Linie  und  anderer  eigen- 
thümlicher  Erscheinungen  dieser  Art. 

Auf  diese  Klassification  der  sämmtlichen  Alterthümer  folgt 
nun  eine  den  dort  entwickelten  Ansichten  gemässe  Beschreibung 
der  einzelnen  hier  abgebildeten  Denkmäler,  welche  den  übrigen 
Theil  des  Werkes  füllt.  Sie  ist  ausführlich,  beurkundet  die 
vertraute  Bekanntschaft  des  Verf.  mit  seinem  Gegenstande  und 
enthält  eine  Menge  schätzbarer  Nachweisungen,  freilich  auch 
Manches,  was  blosse,  mehr  oder  minder  scharfsinnige  Vermuthung 
ist.  Der  zweite  Band  beschreibt  gleicherweise  eine  Anzahl 
Denkmäler,  die  jedoch  im  Ganzen  betrachtet  meist  aus  späterer 
1839  Zeit  und  von  geringerem  Belang  sind.  Doch  werden  die  Auf- 
klärungen, welche  die  auch  in  Deutschland  besprochenen  Tauf- 
becken durch  Abbildungen  noch  unbekannter  Exemplare  er- 
halten, willkommen  sein.  Dem  zweiten  Bande  ist  eine  chrono- 
logische Einleitung  vorangestellt  mit  einzelnen,  den  Kalender 
betreffenden  Abhandlungen.  Auch  ein  Versuch  ist  (S.  48)  ge- 
macht, die  nordischen  Denkmäler  nach  der  Zeit,  so  weit  sie 
sich  bestimmen  lässt,  zu  ordnen.  Für  die  ältere  Zeit  kann  nur 
von  Wahrscheinlichkeit    die   Rede    sein,    und   Manches   deucht 


NORSKE  MINDESMAERKEK  AF  L.  D.  KLÜWER.  415 

dem  Rec.  sehr  bedenklich;  wer  z.  B.  würde  das  Grab,  das  die 
Sage  dem  Wittich,  Wielands  Sohn,  [zuschreibt],  für  das  wirkliche 
Grab  des  Helden,  der  freilich  schon  sehr  früh  in  der  Dichtunor 
vorkommt,  ernstlich  zu  halten  und  es  in  das  5.  Jahrhundert  zu 
setzen  den  Muth  haben?  Demungeachtet  bleibt  der  Versuch  ver- 
dienstlich, weil  er  diesen  schwierigen  Gegenstand  wenigstens  an- 
zurühren wagt  und  ohne  Zweifel  zu  weiteren  Untersuchungen 
reizen  wird.  Schliesslich  empfiehlt  Rec.  nochmals  den  deutschen 
Alterthumsforsehern  dieses  Werk,  welche  ähnliche  Denkmäler 
der  deutschen  Vorzeit  zum  Gegenstand  ihrer  Untersuchungen  ge- 
macht haben,  und  warnt  nur,  die  Vermuthungen  des  Verf. 
nicht  zur   Grundlage  noch  gewagterer  Behauptungen  und  leerer 

Phantasieen  zu  missbrauchen. 

[anonym.] 


NORSKE  MINDESMAERKER,  1839 

aftegnede  paa  en  Reise  igjennem  en  Deel  af  det  Nordenfjeldske,  og  beskreme 

af  Lorentz  Diderich  Klüwer.     Udgivne  af  det  kongelige  Norske  Widenskabers 

Selskab  i  Trondhjem.      Med  35   Steentryk.     Christiania.     Trykt  i  det  Wulfs- 

bergske  Bogtrykkerie,  af  R.  Hviid.    1823.     152  Seiten  in  Quart. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.    Bd  III,  184.  Stück,  den  14.  November  1829. 

S.  1839-1840. 

JL/ieses  Werk  kann  als  ein  Anhang  des  vorhergehenden  isio 
betrachtet  werden.  Die  Beschreibung  der  norwegischen  Alter- 
thümer  ist  umständlich,  die  Zeichnungen,  wie  aus  allem  hervor- 
geht, sind  höchst  sorgfaltig  und  genau,  und  sollte  eine  solche 
Ausführlichkeit  nicht  überall  möglich  oder  auch  nur  wünschens- 
werth  sein,  so  verdient  sie  doch  hier  Lob  und  erhöht  den  Werth 
der  Arbeit.  Zu  dem  Merkwürdigsten  gehört  ein  neuentdeckter 
Runenstein  (Taf.  12),  schwer  zu  lesen  und  ebenso  schwer  zu  er- 
klären. Finn  Magnussen  findet  darin  eine  Anrede  an  einen  Berg- 
geist und  Beziehung  auf  den  Glauben,  dass  neun  Ellen  tief  unter 
der  Erde  ein  Schatz  liege.  Diese  Deutung  ist  scharfsinnig,  wenn 
auch  nicht  gewiss.  Sodann  werden  hier  (Taf  10  und  29)  die  beiden 
schon  früher  verkündigten  Steine  mit  angelsächsischen  Runen  be- 
kannt gemacht,   die,   wovon   sonst  kein  Beispiel  vorhanden  ist, 


416     DIE  DEUTSCHE  HELDENSAGE  VON  WILHELM  GRIMM. 

unter  der  Erde  in  einem  Grabe,  das  verbrannte  Knochen  enthielt, 
gefunden  worden  sind.  Leider  sind  es  jedes  Mal  nur  einige  an 
sich  deutliche  Buchstaben,  über  deren  Sinn  man  zwar  Ver- 
muthungen  haben  kann,  wie  die  hier  niitgetheilten,  aber  keine 
Gewissheit,  so  dass  kein  eigentliches  Resultat  gewonnen  wird. 
Alt  sind  diese  Runen,  da  sie  ofi'enbar  noch  in  die  Periode 
fallen,  wo  man  die  Leichen  verbrannte,  welche,  wie  wir  vorhin 
gesehen,  Sjöborg  mit  dem  7.  Jahrhundert  zu  Ende  gehen  lässt. 
Ein  Drache  von  Messing  (Taf.  11),  der  einen  geharnischten 
Ritter  im  Rachen  hält  und  als  Schenkgefäss  diente,  erinnert  an 
so  manche  Erzählung  in  den  Heldengedichten  des  Mittelalters. 
Zwei  hübsche,  aus  mündlicher  Überlieferung  gewonnene  Volks- 
lieder  sammt  den  Melodieen    sind  eine  dankenswerthe  Zugfabe. 

[anonym.] 


49  DIE  DEUTSCHE  HELDENSAGE 

von  Wilhelm  Grimm.    Göttingen,  in  der  Dieterich'schen  Buchhandlung.    1829. 
VI  und  425  S.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  I,  6.  7.  Stück,   den   14.  Januar  1830. 

S.  49  —  58. 

Untersuchungen  über  die  Entstehung  und  Fortbildung 
des  deutschen  Epos  sind  für  die  Geschichte  des  menschlichen 
Geistes  so  wichtig,  als  ähnliche  über  den  Homer.  Es  würde 
unbillig  sein,  allgemeine  Anerkennung  dieser  Behauptung  schon 
jetzt  zu  fordern;  wir  begnügen  uns  einstweilen  damit,  dass 
griechische  Philologen,  und  darunter  gerade  die  geistreichsten, 
Theilnahme  an  Untersuchungen  dieser  Art  zeigen,  wenigstens 
auf  Resultate  derselben  zu  hören  geneigt  sind.  Gegenwärtiges 
Buch  besteht  aus  zwei  Abhandlungen,  wovon  die  erste  bei 
weitem  den  grössten  Raum  einnimmt,  Sie  enthält  Zeugnisse 
über  die  deutsche  Heldensage  durch  einen  Zeitraum  von  mehr 
als  tausend  Jahren.  Dieser  geschichtliche  Überblick  ist  ein 
Vortheil,  dessen  sich  das  deutsche  Alterthum  allein  in  diesem 
^0  Grade  erfreut,  und  niemand  wird  zweifeln,  dass  die  Beob- 
achtung der  Veränderungen,  welche  die  Sage  auf  diesem  langen 


DIE    DEUTSCHE   HELDENSAGE  VON  WILHELM  GRIMM.  4.]  7 

Wege  erlitten,  zu  überraschenden  Resultaten  führen  muss.  Die 
Zeugnisse,  meist,  doch  nicht  streng,  chronologisch  geordnet, 
sind  in  drei  Perioden  eingetheilt.  Die  erste  fängt  mit  Jomandes 
an,  die  zweite  mit  den  Gedichten  des  Mittelalters  im  12.  Jahr- 
hundert, die  dritte  mit  dem  16.  Jahrhundert;  sie  verfolgt  die 
letzten  Spuren  der  allmählich  schwindenden  Sage.  Die  Zeug- 
nisse sind  theils  äussere,  theils  innere.  Diese  sind  aus  Be- 
trachtung der  Natur  und  des  Wesens  der  Dichtungen  selbst 
gewonnen,  jene  hatte  der  Verf.  schon  früher  in  den  altdeutschen 
Wäldern  zusammengestellt,  sie  sind  aber  hier  nicht  bloss  neu 
bearbeitet  und  berichtigt,  sondern  auch  sehr  vermehrt.  Die 
Reihe  eröfiiiet  Jornandes,  in  dessen  Erzählungen  wir  bis  zu 
einem  gewissen  Punkt  in  der  gothischen  Geschichte  durchaus 
keine  Historie,  sondern  nur  Dichtung  erblicken  dürfen.  Unbe- 
zweifelt  bezieht  er  sich  in  einigen  Stellen  über  Ermanarich  auf 
unseren  Fabelkreis,  und  glücklicherweise  zeigt  die  wahrhafte 
Geschichte  bei  Ammian  den  Gecrensatz.  Die  scharfsinniofen 
Vermuthungen  derer,  welche  die  Entstehung  der  Heldensage 
in  das  11.  Jahrhundert  verlegen,  werden  nicht  bloss  durch  Jor- 
nandes, sondern  noch  durch  eine  ganze  Reihe  anderer  Zeugnisse, 
unter  denen  sich  wichtige,  durch  Conybeare  jetzt  erst  bekannt 
gewordene  angelsächsische  befinden,  vernichtet.  Merkwürdig 
sind  die  hier  gleichfalls  zum  ersten  Mal  mitgetheilten  Stellen 
aus  altfranzösischen  noch  ungedruckten  Gedichten,  über  die 
Verbreitung   der  Wielandssage  in  dem  alten  Karlingen. 

Die  inneren  Zeugnisse  hefern  Untersuchungen  über  sämmt- 
liche  zu  dem  Fabelkreise  gehörige  Dichtungen.  Hier  stehen  51 
die  eddischen  Lieder  obenan.  Man  findet  nicht  die  Ver- 
muthung,  sondern  die  Behauptung  ausgesprochen,  dass  sie  eine 
Übersetzung  ursprünglich  deutscher  Gedichte  enthalten;  und 
der  Beweis  wird  zunächst  aus  den  geographischen  Angaben 
geführt.  Bei  dem  Hildebrandslied  wird  der  Versuch  ge- 
macht, eine  schwierige  Stelle  durch  Hilfe  angelsächsischer  Ge- 
dichte aufzuhellen.  Waltharius  manu  fortis  ist  jetzt  ent- 
schieden dem  sonsther  bekannten  Eckehard  I.  zu  St.  Gallen 
beigelegt,  fällt  demnach  in  die  erste  Hälfte  des  10.  Jahrhunderts. 
Bei   dem  Könige  Ruth  er,  wo  wegen  des  unzuverlässigen  Ab- 

W.  GRJMM,  KL.  SCHRIFTEN.     U.  27 


418     l^IE  DEUTSCHE  HELDENSAGE  VON  WILHELM  GRIMM. 

druckes,  den  wir  besitzen,  der  cod.  Palat.  zum  Grunde  liegt, 
sind  Quelle  und  Verknüpfungen  mit  anderen  Sagen  erörtert. 
Am  ausführlichsten  abgehandelt  sind  Nibelunge  Noth,  Klage 
und  Biterolf,  welche  bloss  zum  Vortheil  der  Untersuchung  in 
dieser  Ordnung  folgen;  es  soll  nicht  behauptet  werden,  dass 
darnach  auch  ihr  Alter  zu  bestimmen  sei.  Bei  der  Nibelunge 
Noth  wird  die  von  Lachmann  schon  begründete  Ansicht  durch- 
geführt, dass  sie  nicht  das  Werk  eines  Einzigen  sein  könne 
und  in  zwei  Theile  zerfalle,  die  in  mehr  als  einer  Rücksicht 
von  einander  sich  unterscheiden.  Bei  der  Klage  war  vorerst 
zu  erläutern,  was  sie  selbst  über  ihre  Quelle  und  verschiedene, 
vorangegangene  Bearbeitungen  aussagt.  Dann  wird,  gestützt 
auf  Lachmanns  Untersuchungen,  ausgeführt,  dass  der  Verf. 
dieses  Gedichts  unsere  Nibelunge  Noth  nicht  vor  sich  hatte. 
Biterolf  erscheint  durch  seine  Beziehungen  als  eins  der  wich- 
tigsten Denkmäler.  Zuerst  über  die  Quelle,  insoweit  der  Dichter 
selbst  sich  darüber  äussert;  hierauf  wird  die  Behauptung  auf- 
gestellt, dieses  Werk  als  Ganzes  betrachtet  liefere  keine  echte 
52  Sage ,  sondern  sein  an  sich  ziemlich  unbedeutender  Inhalt  sei 
als  eigenmächtige  Erfindung  in  den  Fabelkreis  eingezwängt. 
Allein  da  der  Dichter  seine  Personen  dorther  genommen  hat 
und  häufig  ihre  anderweitigen  Verhältnisse  einmischt,  wovon 
er  eine  ziemlich  vollständige  Kenntnis  mag  besessen  haben,  so 
erhalten  wir  gewissermassen  eine  Übersicht  jenes  Kreises,  welche 
hier  ausgezogen  und  zusammengestellt  ist.  Wir  finden  An- 
deutungen über  mehr  als  ein  verlorenes  Gedicht.  Angehängt 
ist  eine  Untersuchung  über  den  Dichter,  deren  Resultat  die 
höchst  wahrscheinliche  Vermuthung  gewährt,  dass  er  und  der 
Dichter  der  Klage  eine  und  dieselbe  Person  sei.  Bei  der 
Überarbeitung  des  Nibelungeliedes  und  der  Klage 
sind  die  wenigen  Zusätze,  die  den  Inhalt  der  Sage  selbst  be- 
rühren, aufgesucht,  und  über  die  Stelle,  wo  Siegfried  ermordet 
wurde,  ist  eine  Vermuthung  geäussert.  Die  Vilkinasaga 
liefert  reichliche  Aufschlüsse;  die  seitdem  aufgefundene  alt- 
schwedische Abfassung  ist  benutzt,  gleicherweise,  was  P.  E. 
Müllers  Sagenbibliothek  Neues  mittheilte.  Neben  einander  ge- 
stellt   sind  Dieterichs    Flucht,    die    Rabenschlacht    und 


DIE   DEUTSCHE   HELDENSAGE  VON  WILHELM  GRIMM.  419 

Alp  hart  und  ihre  Quellen  und  zugleich  die  Veränderungen 
angegeben,  welche  die  Sage  in  den  Punkten,  auf  welche  hier 
Rücksicht  genommen  ist,  erfahren  bat.  Bei  Otnit  und  Wolf- 
dieterich ist  die  Frankfurter  Handschrift  benutzt,  aber  zur 
Erörterung  der  Stelle,  welche  von  der  Quelle  redet,  konnte 
auch  die  Heidelberger  und  Strassburger  zu  Rath  gezogen  wer- 
den. Dagegen  bei  Wolfdieterich  und  Sahen  war  dem  Verf. 
nur  die  Bearbeitung  Caspars  von  der  Röhn  zugänglich;  die 
Wiener,  von  Hormayr  angezeigte  Handschrift  wird  ohne  Zweifel 
neue  Aufschlüsse  liefern.  Vier  abweichende  Darstellungen  des 
Rosengarten  werden  unterschieden  und  von  einer,  gerade  53 
der  reinsten,  aus  einer  Frankfurter  Handschrift  wird  Nachricht 
gegeben.  Das  spätere  Hildebrandslied  folgt  und  das 
Lied  von  Siegfried,  bei  welchem  zwei  alte,  bisher  unbe- 
kannte I>rucke,  wovon  einer  eine  plattdeutsche  Übersetzung 
enthält,  benutzt  werden  konnten.  Bei  der  Blomsturvalla- 
saga  wird  wahrscheinlich  gemacht,  dass  sie  ihre  Kenntnis  der 
Fabel  aus  der  Vilkinasaga  geschöpft  habe.  Der  Cod.  pal.  von 
Dieterichs  Drachenkämpfen  liefert  eine  wichtige  Stelle, 
wodurch  eiüe  sonst  nicht  vorkommende  Angabe  der  Vilkina- 
saga bestätigt  wird.  Caspars  von  der  Röhn  Bearbeitung  des- 
selben Gegenstandes  setzt  eine  andere  Quelle  voraus.  Siege  not, 
Laurin  und  Etzels  Hofhaltung  folgen,  und  den  Schluss 
der  zweiten  Periode  macht  die  dem  Heldenbuch  zugrefüsTte 
Übersicht  der  Sage.  In  der  dritten  Periode  sind  die  späterhin 
in  den  Norden  eingedrungenen  Darstellungen  der  Sage,  also 
die  Hvenische  Chronik,  die  dänischen  Kjämpeviser  und 
Färöischen  Lieder  betrachtet.  Als  Zugabe  sind  die  Zeug- 
nisse über  das  Gedicht  von  Gudrun  zusammengestellt,  das 
durch  seinen  hohen  Werth  den  besten  Gedichten  des  Fabel- 
kreises so  nahe  steht.  Sie  gehen  im  Norden  bis  in  die  Mitte 
des  9.  Jahrhunderts  zurück,  eine  in  einem  angelsächsischen 
Gedicht  vorkommende  Stelle  möchte  leicht  noch  älter  sein;  die 
deutschen  Zeugnisse  beginnen  in  dem  12.  und  verschwinden 
im  14.  Jahrhundert. 

Der   Verfasser   hatte   bei  Erklärung    der   Zeugnisse    ander- 
weitige Betrachtungen  zurückgewiesen,  weil  er  nicht  vorgreifen 

27* 


420  DIE    DEUTSCHE    HELDENSAGE  VON  WILHELM  GRIMM. 

und    zukünftigen    Forschungen    eine    reine    Grundlage    liefern 

54  wollte.  Indessen  konnte  er  sich,  als  der  ziemlich  lange,  mit- 
unter unbequeme  Weg  zurückgelegt  war,  nicht  versagen,  eine 
Übersicht  der  Resultate,  die  er  glaubte  gewonnen  zu  haben, 
anzufügen.  Andere  werden  weiter  gehen,  glücklicher  und 
scharfsinniger  beobachten.  Die  zweite  Abhandlung  beschäftigt 
sich  also  mit  dem  Ursprünge  imd  der  Fortbildung  des 
deutschen  Epos.  Sie  enthält  sich  des  überwiegenden  Vor- 
theils  wegen,  den  eine  solche  scharf  begrenzte  Untersuchung  in 
der  gegenwärtigen  Lage  der  Dinge  gewähren  musste,  aller  Ver- 
gleichung  mit  ähnlichen  Erscheinungen  bei  anderen  Völkern. 
Der  Verf.  unterscheidet  zuvorderst  die  Heldensage  von  der 
Göttersage,  der  bildlichen  Darstellung  des  Übersinnlichen,  und 
berührt  die  zwei  verschiedenen  Ansichten,  die  sich  über  die 
ersten  bemerklich  gemacht  haben.  Die  eine  sieht  in  det  Helden- 
sage abermals  eine  nur  noch  tiefer  verhüllte  Göttersage,  die 
andere  völlig  entgegengesetzte  nimmt  eine  rein  geschichtliche, 
nur  poetisch  ausgeschmückte  Grundlage  an.  Nachdem  die  Ver- 
legenheit, in  welche  jede  dieser  Meinungen  sehr  bald  geräth, 
angedeutet  ist,  bezeichnet  der  Verf.  den  Weg,  den  er  einzu- 
schlagen gedenkt.  Er  setzt  die  Entscheidung  noch  aus  und 
legt  eine  Reihe  von  Beobachtungen  vor,  in  der  HoflFnung,  dass 
diese  uns  dem  noch  verborgenen  Ziele  näher  bringen.  Eine 
Übersicht  der  ganzen  Sage,  wie  sie  sich  in  den  erhaltenen 
Denkmälern  darstellt,  musste  vorangehen.  Die  nordischen 
Dichtungen,  denen  ein  deutscher  Ursprung  beigelegt  wird, 
treten  dabei  nur  in  die  Lücken  ein.  Jetzt  wird  die  historische 
Anlehnung  betrachtet,  und  hier  ergibt  sich  das  Resultat,  dass 
die  Sage  das  Frühere  ist,  die  Einmischung  der  Geschichte  das 
Spätere.     Sodann  werden  Beispiele  von  Anknüpfung  und  Ver- 

55  Schmelzung  verschiedener  Sagen  nachgewiesen.  Manchmal  ist 
die  Scheidung  in  das  Ursprüngliche  leicht,  manchmal  dringt 
die  aus  einer  solchen  Verknüpfung  erwachsene  Veränderung 
bis  zu  der  ersten  Grundlage,  zerstört  den  alten  Zusammenhang, 
schafft  aber  einen  neuen.  Verschieden  hiervon  sind  Erweite- 
rungen der  Sage  ohne  Einmischung  einer  anderen.  Sie  stellen 
sich   meist   als   spätere   Zusätze   dar,   aber   es   gibt  auch   Fälle, 


DIE    DEUTSCHE    HELDENSAGE  VON  WILHELM  GRIMM.  421 

WO  ein  anderwärts  lange  vergessener  Zug  der  ältesten  Dichtung 
plötzlich  wieder  hervordringt.  Dass  blosse  Einkleidungen  in 
das  Gewand  des  Epos  stattgefunden,  wird  behauptet  und 
mehreren  Gedichten,  wie  Laurin,  Siegenot,  Etzels  Hofhaltung, 
Dieterichs  Drachenkämpfen  ein  solcher  Ursprung  beigelegt. 
Aber  auch  innerhalb  des  Kreises  selbst  finden  wir  Übertragung 
einer  und  derselben  Fabel  in  andere  äussere  Verhältnisse,  wo- 
von König  Ruther  das  merkwürdigste  Beispiel  gibt.  Die  Partei- 
lichkeit, die  sich  für  einen  Helden  der  Sage  zu  entwickeln 
pflegt,  zumal  wenn  eine  unfreie  Ansicht  erst  die  Kraft  der 
Poesie  hemmt,  hat  einen  grossen  Einfluss  auf  die  Dieterichssage 
ausgeübt  und  durch  das  Bestreben,  alles,  was  seinem  Ruhm 
schaden  konnte,  zu  entfernen,  den  inneren  Zusammenhang  und 
Verstand  der  Sage  gestört.  Dass  Veränderung  der  Sitten  be- 
deutend eingewirkt,  ist  ein  Satz,  der  erst  durch  Nachweisung 
merkwürdiger  Beispiele  Interesse  erhält.  Wie  dadurch  die 
Grundlage  des  Nibelungeliedes  sich  völlig  umgewandelt,  ist 
dargethan,  aber  eine  noch  genauere  und  lehrreichere  Durch- 
führung  des  Satzes  machten  die  aus  verschiedenen  Zeiten 
rührenden  Recensionen  des  Liedes  von  Hildebrand  möglich. 
Auch  der  poetische  Werth  der  Dichtungen  musste  berücksichtigt 
werden,  insoweit  nämlich  die  verschiedene  Auffassung  den  Geist 
eines  jeden  Zeitalters  kund  gibt.  Die  eddischen  Lieder  werden  56 
erhaben  genannt  und  ihre  dramatische,  bei  einzelnen  Momenten 
beharrende,  den  Zusammenhang  nur  in  grossartigen  Andeu- 
tunoren bewahrende  Darstellunsr  der  des  Nibelunoreliedes  ent- 
gegengesetzt,  wo  wir  einer  ruhigen,  gleichförmigen,  an  epischer 
Breite  und  Ausführlichkeit  Wohlgefallen  tragenden  Erzählung 
begegnen.  Dem  Nibelungeliede  an  die  Seite  gestellt  wird 
Gudrun,  ein,  wie  es  scheint,  bis  jetzt  ziemlich  unbeachtet  ge- 
bliebenes Gedicht  von  seltener  Trefi'lichkeit,  das  längst  alle 
Freunde  der  Poesie  würde  entzückt  haben,  wenn  es  in  einer 
anderen  als  der  einheimischen  Sprache  gedichtet  wäre.  Der 
Geist  des  jSibelungeliedes  herrscht  noch  in  Otnit,  Wolfdieterich, 
Rosengarten  und- Alphart,  ist  aber  schon  einige  Stufen  herab- 
gestiegen. In  der  Rabenschlacht  und  Eckenausfahrt  ist  die  Dar- 
stellung  wortreich,    hier   und   da   kraftlos,    doch  eine  Ader  von 


422  DIE    DEUTSCHE    HELDENSAGE  VON  WILHELM  GRIMM. 

edlerem  Metall  aus  früherer  Zeit  läuft  noch  hindurch.  In  dem 
•  Liede  von  Siegfried  ist  jener  alte  Geist  erstarrt,  ohne  lebendige 
Bewegung,  dem  Erlöschen  nah,  endlich  in  der  Bearbeitung 
Caspars  von  der  Röhn  die  Poesie  völlig  abgestorben.  Das  elfte 
Kapitel  behandelt  einen  schwierigen  Gegenstand,  die  Erhaltung 
und  Portbildung  des  Epos  durch  die  Sänger  und  durch  die 
Schrift.  Der  Verf.  hat  zusammengestellt,  was  er  darüber  auf- 
finden konnte,  ohne  Zweifel  werden  sich  in  der  Folge  noch 
weitere  Aufklärungen  ergeben.  Hieran  schliesst  sich  eine  ge- 
schichtliche Übersicht  des  Verhältnisses,  in  welchem  das  Epos 
zu  der  jedesmaligen  Bildung  der  Zeit  stand.  Es  genoss  frühe 
und  lange  Zeit  hindurch  der  höchsten  Achtung,  begann  mit 
dem  Aufkommen  der  höfischen  Dichter  zu  sinken  und  fiel  zu- 
letzt noch  in  die  Hände  der  geistesarmen  Meistersänger,  In 
57  dem  dreizehnten  Kapitel  wird  eine  wichtige,  bis  dahin  aufge-- 
schobene  Untersuchung  über  das  Wunderbare  in  dem  Epos  vor- 
genommen. Das  Übernatürliche  scheint  allerdings  in  früherer 
Zeit  mächtiger  gewesen  zu  sein  und  sich  allmählich  zurückgezogen 
zu  haben ,  obgleich  es  nicht  ganz  entbehrt  werden  konnte  und 
sogar  in  einigen  Stücken  auf  eine  gröbere  Weise  wieder  ein- 
geführt wurde.  Einige  allgemeine  Bemerkungen  machen  den 
Schluss.  Hier  wird  die  Frage  über  den  Ursprung  der  Sage 
wieder  aufgenommen.  Die  Entwickelung  aus  der  Geschichte, 
auf  welche  Beziehungen  vorkommen,  wird  bestimmt  geleugnet, 
dagegen  nicht  in  Abrede  gestellt,  dass  wirkliche  Ereignisse,  in- 
sofern sich  in  ihnen  der  Geist  des  Lebens  oder,  wem  dies  deut- 
licher ist,  das  ideale  Dasein  kund  gab,  Anlässe  der  Dichtung 
mögen  gewesen  sein.  Nur  an  das,  was  wir  historische  That- 
sachen  nennen,  kann  dabei  nicht  gedacht  werden.  Ausser  die- 
sem geschichtlichen,  gleichsam  leiblichen  Element  wird  aber 
auch  ein  geistiges  anerkannt.  Das  Epos  hat  den  Glauben  an 
das  Wunderbare,  die  bildlichen  Ausdrücke  für  das  Übersinnliche, 
in  sich  aufgenommen.  Beides  einigt  sich  in  dem  Begriffe  des 
vollen  Lebens,  welches  abzuspiegeln  zu  allen  Zeiten  und  bei 
allen  Völkern  der  Beruf  der  Poesie  war,  welche  eben  deshalb 
niemals  ohne  innere  Bedeutung,  einen  geistigen  Mittelpunkt  be- 
stehen  konnte.     Vorerst  also    nimmt   der  Verf.  einen   rein   poe- 


DE  HILDEBRANDO  CARMINIS  FRAGMENTUM  EDIDIT  GU.  GRIMM.   423 

tischen  Ursprung  des  Epos  an  und  sieht  keine  Veranlassung,  zu 
glauben,  dass  es  eine  Umbildung  der  Göttersage  sei.  Eine  merk- 
würdige Stelle  bei  Ammian  zeigt,  dass  bei  den  Galliern  die  poe- 
tische Darstellung  der  Heldenzeit  von  der  Betrachtung  göttlicher 
Dinge  sehr  bestimmt  geschieden  war.  Ob  es  sich  mit  dem  Epos 
anderer  Völker  ebenso  verhalte,  möge  von  Unbefangenen  mit  aller 
Freiheit  der  Meinung  imtersucht  w^erden. 

Dass  ein  vollständiges  Register  angehängt   ist,   scheut  sich 
der  Verf.  selbst  nicht  zu  loben.  ^Y.  g. 


DE  HILDEBRANDO  ANTIQUISSIMl  CARMINIS       465 
TEUTONICI  FRAGMENTUM 

edidit  Guilelmus  Grimm.     Sumtibus  editoris.     Göttingen  MDCCCXXX. 
Fünf  Blätter  in  Fol. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.  Bdl,  48.  Stück,  den  27. März  1830.    S.4G5— 469. 

Jjevor  der  Herausgeber  von  der  Casseler  Bibliothek  Ab- 
schied nahm,  glaubte  er  eins  ihrer  Kleinode  noch  einmal  auf 
das  Sorgfältigste  untersuchen  und,  da  es  eiuigermassen  in  seinen 
Kräften  stand,  für  dessen  Erhaltung  sorgen  zu  müssen.  Das 
Bruchstück  von  Hildebrand  ist  der  einzige  Überrest  epischer 
Gedichte  aus  der  Carolingischen  Zeit  und  er  ist  nur  in  dieser 
einzigen  Handschrift  vorhanden.  Da  die  grösste  Vorsicht  nicht 
jeden  möglichen  Zufall  abwendet  (im  Jahre  1813  schlug  eine 
russische  Granate  in  den  Bibliothekssaal),  so  würde  mit  diesem 
Codex  eins  der  merkwürdigsten  Denkmäler  des  einheimischen 
Alterthums  untergehen.  Der  Abdruck  in  der  Ausgabe  von  1812 
(selbst  wenn  er  nicht  an  drei  Stellen  berichtigt  werden  müsste) 
reicht  nicht  aus ,  weil  einige ,  und  darunter  wichtige  Wörter  466 
verblasst  oder  verwischt,  mithin  zweifelhaft  sind  und  durch 
den  Druck  unmöglich  können  dargestellt  werden.  Wer  eine 
kritische  Ausgabe  liefern  will,  muss  nothwendig  die  Handschrift 
selbst  ansehen.  Ausserdem  aber  hat  die  Diplomatik  gerechte 
Ansprüche  auf  ein  Denkmal,  das  seines  gleichen  nicht  findet 
und  schon  eine  Stelle  in  einem  Lehrbuche  dieser  Wissenschaft 
verdient,    selbst    wenn    nur    das    Wichtigste    sollte   ausgehoben 


424  DE  HILDEBRANDO  CARMINIS  FRAGMENTUM  EDIDIT  GU.  GRIMM. 

werden.  Das  Facsimile,  welches  Eckhart  in  der  Francia  orientalis 
von  den  14  ersten  Zeilen  lieferte,  scheint  flüchtig  und  aus  freier 
Hand  gemacht:  nicht  bloss  hat  die  Schrift  darin  ihren  eigen- 
thümlichen  Charakter  verloren,  und  ist  genau  genommen  kein 
einziger  Buchstabe  richtig,  sondern  es  finden  sich  auch  in 
diesem  kleinen  Stücke  nicht  weniger  als  fünf  grobe  Fehler. 
Z,  5  steht  rrtun  für  ritun,  Z.  8  firet  für  fireo,  Z.  10  chunine 
für  chunine,  Z.  14  herttu  für  heittu,  und  oftar  für  ostar.  Mit 
Hilfe  des  trefflichen  Pariser  Pflanzenpapiers  verfertigte  der 
Herausgeber  eine  Durchzeichnung  des  Ganzen,  bei  welcher  er 
sich  keine  Mühe  verdriessen  liess  und  von  welcher  er  glaubt 
ohne  Anmassung  behaupten  zu  dürfen,  dass  sie  im  Stande  sei, 
das  Original  völlig  zu  vertreten.  Jede  Zeile,  jeder  Buchstabe 
hat  seinen  richtigen  Platz,  kein  Strich  fehlt,  keine  verwischte 
oder  abgesprungene  Stelle  ist  ausgefüllt,  und  blasse  und  schwarze 
Dinte  unterscheiden  sich  wie  im  Original.  In  der  Übertragung 
der  Zeichnung  auf  den  Stein  ist  geschehen ,  was  möglich  war, 
und  schwerlich  würde  ein  Kupferstich  dieser  so  nahe  gekommen 
sein,  der  leichter  auf  den  Abweg  geräth,  die  Formen  der  Buch- 
staben eleganter  und  dem  Auge  gefälliger  zu  machen.  Der 
467  Herausgeber  empfiehlt  hier  das  lithographische  Institut  des 
Herrn  Arnold  in  Cassel,  welches  eine  für  Arbeiten  dieser  Art 
geschickte  Hand  besitzt.  Um  den  Eindruck  des  Originals  noch 
vollkommener  zu  erreichen,  wurde  durch  eine  zweite  sogenannte 
Tonplatte  die  Farbe  des  alten,  gebräunten  Pergaments  wieder 
gegeben.  Die  Löcher  darin  sind  durch  Striche  angedeutet  und 
können  zu  völliger  Täuschung  ausgeschnitten  werden.  Nur  die 
Ziffern  sind  zugesetzt. 

Das  Reagens  ist  an  zwei  Stellen  angewendet  worden:  vor 
den  Zeilen  10 — 12  und  am  Ende  bei  der  Glosse  von  Christus; 
die  letztere,  schon  früher  richtig  gelesen,  ward  nur  deutlicher, 
dort,  wo  sich  eine  schwache,  kaum  sichtbare  Spur  von  Schrift 
zeigte,  traten  ein  Paar  Buchstaben  hervor,  die  man  in  dieser 
Abbildung  erblickt,  die  jedoch  ohne  Bedeutung  zu  sein  scheinen. 

Eine  so  genaue  Betrachtung  der  alten  Handschrift,  wie  sie 
hier  nöthig  war,  verdiente  wohl,  etwas  bisher  Übersehenes  zu 
finden.     Die   acht   ersten  Zeilen   der   zweiten  Seite   rühren  von 


DE  HILDEBRANDO  CARMINIS  FRAGMENTÜM  EDIDIT  Gü.  GRIMM.  425 

einer  anderen  Hand.  Diese  zweite  Hand  ist  weniger  fest,  die 
Buchstaben  sind  ungleicher  und  krauser,  und  als  eine  Ver- 
schiedenheit in  der  Gestalt  derselben  kann  noch  angemerkt 
werden,  dass  der  Kopf  von  g  allzeit  völlig  geschlossen  erscheint, 
während  der  erste  Schreiber  daneben  noch  ein  anderes  g  ge- 
braucht, dessen  Kopf  unten  nicht  ganz  zugezogen  ist.  Mit  dem 
Worte  inwit  Z.  32  hat  dieser  wieder  die  Feder  genommen. 
Ausser  Zweifel  gesetzt  wird  die  Behauptung  durch  die  Ver- 
schiedenheit der  Orthographie  in  jenen  acht  Zeilen,  wovon  die 
Beweise  in  der  Vorrede  zusammengestellt  sind. 

Diese  Entdeckung  scheint  vielleicht  auf  den  ersten  Anblick 
ziemlich  unwichtig,  indessen  ergeben  sich  daraus  einige  nicht  46* 
gleichgültige  Folgerungen.  Erstlich  wird  es  unwahrscheinlich, 
dass  das  Lied  aus  einem  Codex  abgeschrieben  sei:  warum  sonst 
eine  Veränderung  in  der  Orthographie?  Dies  ist  auch  deshalb 
nicht  zu  vermuthen,  weil  man  sonst  hätte  voraussehen  müssen, 
dass  der  übrige  Raum  nicht  genüge;  ein  grosser  Theil  des 
Liedes  scheint  noch  zurück,  denn  es  fehlt  die  ganze  Entwicke- 
lung  der  Erzählung.  Zweitens  kann  man  sich  nicht  vorstellen, 
dass  der  Schreiber  aus  eigener  Erinnerung  das  Lied  aufge- 
schrieben habe,  denn  sollte  er  mitten  in  der  Arbeit  aufgestanden 
sein  und  einem  anderen  einige  Zeilen  dictiert  haben?  Der  Fall, 
dass  beide  Schreiber  das  Lied  auswendig  gewusst  und  daher 
der  zweite,  als  der  erste  gestört  worden,  habe  fortfahren  können, 
ist  bloss  möglich,  aber  schon  an  sich  nicht  sehr  wahrscheinlich 
und  wird  völlig  abgewiesen  durch  die  Übereinstimmung  beider 
in  einer  auffallenden  Eigenthümlichkeit.  Beide  gebrauchen  näm- 
lich —  braht  und  —  brant  in  der  Zusammensetzung  der  Eigen- 
namen Hiltibrant  und  Hadubrant  als  völlig  gleich.  Darf  man 
nach  den  späteren  Gedichten  urtheilen,  so  verdient  — brant  den 
Vorzug. 

Auf  eine  und  dieselbe  Quelle  werden  wir  also  hingewiesen, 
und  die  kann  nicht  leicht  etwas  Anderes  als  mündliche  Über- 
heferung  gewesen  sein.  Das  wird  auch  wohl  durch  eine 
kritische  Untersuchung  bestätigt  werden,  welche  die  Eigen- 
thümlichkeit solcher  Auffassungen  nachweist,  ich  meine  eben 
so  wohl  Lücken   des  Textes,   als   überflüssige  Zusätze.     Ob   es 


426  DER  ARME  HEINRICH  ÜBERSETZT  VON  SIMROCK. 

aber  ein  Sänger  von  Gewerbe  war,  der  sein  Lied  vortrug,  oder 
nicht,  wer  wollte  das  entscheiden? 

Es  ist  nur  eine  geringe  Anzahl  von  Exemplaren  abgezogen, 
469  welche  die  Dieterich'sche  Buchhandlung  übernommen  hat;  nach 
Verlauf  eines  Jahres  wird  der  Stein  abgeschlijöfen.  w.  Gr. 


967  DER  ARME  HEINRICH,       . 

ein  erzählendes  Gedicht  des  Hai-tmann  von  Aue,  metrisch  übersetzt  von  Karl 
Simrock.     Nebst  der  Sage  von  'Amieus  und  Amelius'   und  verwandten  Ge- 
dichten   des   Übersetzers.      Berlin,   in   der    Laue'schen  Buchhandlung,    1830. 
XXXII  und  HOS.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  II,  97.  Stück,  den  20.  Juni  1831. 
S.  967—968. 

968  JjLartmanns  Gedichte  von  dem  armen  Heinrich  kann  nicht 
leicht  ein  anderes  von  gleichem  Werthe  aus  der  doch  auch  in 
kleinen  Erzählungen  reichhaltigen  Litteratur  des  Mittelalters  an 
die  Seite  gesetzt  werden.  Es  schildert  eine  rührende  Begeben- 
heit aus  dem  häuslichen  Leben,  in  welche  das  Wunderbare  und 
Unglaubliche  auf  eine  überraschende  Weise  eintritt,  und  ist  mit 
einer  Innigkeit  und  Wärme,  zugleich  mit  einer  leichten  und 
ungesuchten  Anmuth  erzählt,  wie  es  in  solcher  Verbindung  nur 
einem  Dichter  von  entschiedenem  Talente  möglich  ist.  Kein 
Wunder  also,  dass  hier  der  dritte  Versuch  gemacht  wird,  auch 
diejenigen  zum  Genüsse  einzuladen,  denen  das  Original  ver- 
schlossen ist.  Hr.  Simrock  versteht  die  alte  Sprache,  hat  Sinn, 
Geschmack  und  Takt,  wie  er  das  alles  schon  bei  Übersetzung 
des  Nibelungeliedes  bewiesen,  und  uns  deucht,  er  habe  auch 
hier  seine  Sache  so  gut  gemacht,  als  möglich  ist,  wenn  man  in 
die  heutige  Sprache  übersetzen,  dabei  die  ursprüngliche  Dar- 
stellungsweise, die  kurzen  Reime,  überhaupt  das  beibehalten  will, 
w:as  den,  der  mit  der  Kunst  jener  Zeit  unbekannt  ist,  zumeist 
befremdet  und  geniert.  Was  der  Verfasser  sonst  hinzugethan 
hat:  die  Einleitung  über  die  Verbreitung,  das  Alter  und  den 
Gehalt  der  Sage,  die  eigenen  poetischen  Auffassungen  derselben, 
endlich    die   Abhandlung    eines   Freundes    über   Charakter  und 


QUELLEN  D.  SHAKESPEARE  V. ECHTERMEYER,  HENSCHEL,  SIMROCK.     427 

Bedeutung  des  Hartmann'schen  Gedichtes,  das  ist  alles  ange- 
messen, nicht  oberflächlich,  nicht  abschreckend  durch  trockene 
Gelehrsamkeit,  kurz,  es  hält  sich  in  einer  gefälligen  Mitte. 
Wohlan,  wir  empfehlen  das  artige  Büchlein;  vielleicht  findet  es 
bei  dem  mächtigen  Herrn,  den  wir  das  grosse  Publikum  nennen, 
eine  gute  Stunde,  in  welcher  ihm  1522  Verse  dieser  Art  ehr- 
lich durchzulesen  keine  zu  starke  Anstrengung  scheint. 

[anonym.] 


QUELLEN  DES  SHAKESPEARE  252 

IN  NOVELLEN,  MÄRCHEN  UND  SAGE^\ 

Herausgegeben  von  Dr  Theodor  Echternieyer,  Ludwig  Henschel  und  Karl 
Simrock.  Berlin,  in  der  Fincke'schen  Buchhandlung,  1831.  Erster  Theil, 
YIII  und  266  S.    Zweiter  Theil,  YI  und  268  S.    Dritter  Theil,  VEI  und  288  S. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen,  Bd  I,  26  Stück,  den  16.  Februar  1832. 

S.  252—255. 

-LJas  Eigenthümliche  dieses  Buches  besteht  nicht  darin, 
dass  die  Quellen,  Shakespeares,  d.  h.  die  Erzählungen  und  Sagen, 
die  ihn  zu  seinen  dramatischen  Dichtungen  veranlassten,  auf- 
gesucht sind,  denn  das  haben  schon  Engländer  und  Deutsche 
von  der  Mistress  Lennor  und  Eschenburg  an  bis  auf  Douce 
und  Dunlop  gethan,  obgleich  auch  hier  Einiges  nachzutragen 
und  zu  berichtigen  war  und  eine  solche  Zusammenstellung  in 
eleganten  Übersetzungen,  wie  die  hier  gelieferten  sind,  fehlte. 
Es  besteht  vielmehr  darin,  dass  die  tiefer  liegende  Quelle,  näm- 
lich die  in  jenen  Erzählungen  enthaltene  allgemeine  Volkssage, 
zum  Gegenstande  der  Untersuchung  gemacht  ist.  Veranlassung 
dazu  fanden  die  Verfasser  oder  vielmehr  Herr  Simrock,  der  in 
dieser  Hinsicht  die  Arbeit  allein  übernommen,  so  wie  er  bei 
den  Übersetzungen  das  Meiste  gethan,  in  den  Fortschritten, 
welche  die  Erklärung  der  Sagen  und  Mythen  in  Deutschland 
gemacht  hat;  allerdings  ist  der  Gesichtspunkt  erweitert  und  die 
Zusammenstellung  des  Ahnlichen  und  Verwandten  etwas  Besseres 
geworden,  als  ein  unfruchtbares  Verzeichnis.  Was  Herr  Simrock 
in  den  Anmerkungen,  welche  die  ganze  Hälfte  des  dritten  Theiles 


428     QUELLEN  D.SHAKESPEARE  V. ECHTERMEYER,  HENSCHEL,  SIMROCK. 

253  füllen,  geleistet  hat,  ist  in  der  That  dankenswerth.  Er  hat 
mit  Sinn  und  Geist,  mit  sichtbarem  Fleiss  und  Liebe  zur  Sache 
Inhalt  und  Zusammenhang  der  alten  Überlieferungen  erörtert 
und  die  ursprüngliche  Idee  darin  aufgesucht.  Das  Interesse, 
das  dadurch  erregt  wird,  gleicht  dem,  welches  grammatischen 
Untersuchungen  eigen  ist,  die  die  Wurzel  eines  vielfach  umge- 
stalteten Wortes  zu  entdecken  streben;  denn  die  Sage  ist  wie 
die  Sprache  etwas  Lebendiges,  das  sich  zwar  die  Willkür  der 
Menschen  muss  gefallen  lassen,  aber  doch  niemals  ganz  von  ihr 
unterjocht  werden  kann.  Herr  Simrock  hat  manches  Neue, 
einiges  Überraschende  und  Glückliche  vorgebracht,  und  zwar 
in  einer  belebten  und  anziehenden  Darstellungsweise.  Wir 
können  in  das  Einzelne  nicht  eingehen;  als  das  Vorzüglichste 
nennen  wir  die  Anmerkungen  zu  Julie  und  Romeo,  Hamlet  und 
dem  Kaufmanne  von  Venedig;  bei  dem  Letzteren  ist  die  Ansicht 
ausgeführt,  dass  durch  die  Sage  von  dem  Ausschneiden  des 
verpfändeten  Fleisches,  der  Gegensatz  zwischen  dem  alten,  strik- 
ten und  dem  mildernden  prätorischen  Rechte  ursprünglich  sei 
dargelegt  worden.  Diese  Idee  ist  mit  Scharfsinn  und  Gewandt- 
heit entwickelt,  wir  haben  nur  dabei  zu  bemerken,  dass,  da  die 
gelehrte  Kenntnis  der  römischen  Rechtsgeschichte  und  jenes 
Unterschieds,  der  allerdings  den  Hauptinhalt  derselben  ausmacht, 
schwerlich  eine  wahre  Volkssage  (und  eine  solche  haben  wir 
gewiss  vor  uns)  veranlasst  hat,  der  Ursprung  derselben  in  eine 
Zeit  fallen  müsste,  wo  jener  Unterschied  lebendig  gefühlt  wurde, 
ihr  also  ein  ausserordentliches  Alter  zukäme,  wofür  einige  ältere 
Zeugnisse    noth wendig    sind,    wenn    die    Hypothese   nicht  allzu 

254  gewagt  sein  soll.  Rec.  ist  also  geneigt,  vorerst  noch  für  das 
Wahrscheinlichste  zu  halten,  dass  bei  der  Entstehung  dieser 
Sage  der  jüdische  Glaube  an  die  reinigende  Kraft  des  Christen- 
blutes, der  jüdische  Christenhass ,  endlich  auch  das  Bestreben, 
die  jüdische  List    und  Verschlagenheit  als  eine  niedrige  darzu- 

.  stellen,  die  vor  der  höheren  Klugheit  der  Christen  zu  Schanden 
werde,  gewirkt  habe. 

Noch  eine  Bemerkung  über  das  ganze  Buch.  Man  liest 
in  Beziehung  auf  Shakespeare  diese  Sammlung  mit  einem  eigenen 
Gefühle   von  Bewunderung   und  Erstaunen.      Das  Verschieden- 


QUELLEN  D.  SHAKESPEARE  V.  ECHTERMEYER,  HENSCHEL,  SIMROCK.     429 

artigste  hat  ihm  Stoff  dargeboten,  und  nur  ein  Geist  von  solcher 
dichterischer  Kraft  und  solchem  Umfange  war  fähig,  auf  einem 
scheinbar  oft  flachen  und  unfruchtbaren  Boden  Wurzel  zu 
schlaffen  und  zu  solcher  Herrlichkeit  sich  zu  entfalten.  Er  hat 
den  Samen  manchmal  zwischen  Steine  geworfen,  und  ein  mächti- 
ger Baum  ist  aufgewachsen.  Wie  hat  er  z.  B.  die  Geschichte 
von  Julie  und  Romeo,  die  hier  ziemlich  unbedeutend  erscheint, 
mit  dem  höchsten  Leben  zu  durchdringen  gewusst.  Der  Sage 
von  Amleth,  die  Saxo  nicht  ohne  Kunst  erzählt,  die  aber  doch 
etwas  Steinernes  oder  Metallenes  an  sich  trägt,  hat  er  gleichsam 
die  Fesseln  gesprengt,  freie,  reiche  und  edle  Bewegung  gegeben. 
Immer  hat  er  das  Überlieferte  für  seinen  Zweck  mit  sicherem 
Takt  gefasst,  abgeändert  oder  fortgebildet;  er  ist  ihm  manchmal 
mit  Treue  bis  in  das  Einzelne  gefolgt,  ein  ander  Mal  hat  er  es 
ganz  aufgegeben  und  ist  seinen  eigenen  Weg  gegangen.  Aber 
jeder  bedeutende  Mensch,  sagt  Goethe,  muss  auch  gesetzgeberisch 
verfahren,  und  wir  sind  verbunden,  den  Dichter  anzuerkennen, 
wenn  wir  auch  sein  Eingreifen  nicht  überall  billigen.  Kein  255 
Zweifel  also,  dass  alle,  welche  in  diesem  Sinne  die  vorliegende, 
wohlausgestattete  Sammlung  benutzen,  dankbar  sie  aufnehmen 
werden;  dagegen  als  ein  blosses  Unterhaltungsbuch  (und  deren 
gibt  es  ohnehin  genug)  wissen  wir  es  nicht  zu  empfehlen.  Die 
meisten  dieser  Novellen  gehen  kaum  über  das  Mittelmässige 
hinaus,  einige  verletzen  den  Anstand  nach  den  Sitten  unserer 
Zeit,  welchen  wir  Achtung  schuldig  sind,  und  die  Erzählung 
Bandellos  von  den  Zwillingsgeschwistern  gefällt  sich  in  scham- 
loser Lüsternheit,  die  durch  die  Bemerkung  nicht  getilgt  wird, 
dass  man  über  die  Freiheit  italienischer  Sitte,  die  dem  Verfasser 
(der  noch  obendrein  Bischof  war)  solche  Schilderung  erlaubte, 
erschrecken  werde.  In  der  Vorrede  zu  dem  ersten  Theile  steht, 
dass  dieses  Werk,  bloss  für  die  Unterhaltung  und  das  Vergnügen 
der  Leser  bestimmt,  ihre  Belehrung  niemals  zum  Zweck,  wenn 
auch  mittelbar  zur  Folge  habe.  Vielleicht  ist  gerade  das  Gegen- 
theil  wahr,  und  die  wissenschaftliche  Zugabe,  die  als  Neben- 
sache gelten  soll,  dem  Verfasser  der  Hauptzweck  gewesen. 
Wir  loben  das  so  sehr,  dass  wir  ihm  rathen,  bei  der  Fortsetzung, 
welche  die  Vorrede  und  der  zweite  Titel  des  Buchs:  Bibliothek 


430  SAMMLUNG  HISTORISCHER  VOLKSLIEDER  VON  WOLFF, 

der  Novellen,  Märchen   und   Sagen   verheisst,   entschieden  auf 
diese  Seite  überzugehen.  [anonym.] 


301  SAMMLUNG  HISTORISCHER  VOLKSLIEDER  UND 

GEDICHTE  DER  DEUTSCHEN. 

Aus  Chroniken,  fliegenden  Blättern  und  Handschriften  zusammengetragen  von 
Dr  0.  L.  B.  Wolff.     Stuttgart  und  Tübingen,  bei  J.  G.  Cotta,  1830, 

769  S.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.    Bd  I,  30.  31.  Stück,  den  23.  Februar  1832. 

S.  301—304. 

JCiine  Sammlung,  wie  der  Titel  des  vorliegenden  Buches 
sie  ankündigt,  wird  weder  der  Geschichtsforscher  noch  der 
Geschichtschreiber  von  sich  weisen.  Diesem  gewährt  sie  hier 
und  da  einen  lebendigen  Blick,  wo  es  die  gewöhnlichen  Quellen 
nicht  vermögen,  jenem  manche  sonsther  nicht  bekannte  Einzeln- 
heiten, genauere  Angaben,  Berichtigungen.  Mit  Vorsicht  und 
Geschick  wollen  freilich  solche  Lieder  immer  benutzt  sein,  und 

302  kommt  es  auf  die  darin  herrschende  Gesinnung  an,  so  wird 
man  bedenken  müssen,  dass  es  fast  immer  eine  Partei  ist,  welche 
spricht  und  in  der  poetischen  Form  keinen  Anlass  zur  Mässi- 
gung  findet.  Einen  epischen  Charakter  trägt  nicht  leicht  eins, 
das  ein  wirklich  historisches  Factum  erzählt;  auch  den  poeti- 
schen Werth  darf  man  in  der  Regel  nicht  hoch  anschlagen, 
wiewohl  man  nicht  selten  einem  frischen,  kräftigen  Ausdrucke 
begegnet  und  gleich  in  dieser  Sammlung  Mehreres  der  Art 
vorkommt,  so  ist  z.  B.  S.  102  die  Ermahnung  an  kaiserliche 
Majestät  des  Evangelium  halben  in  seinen  Erblanden  mit  wohl- 
meinendem Sinne  lebendig  ausgesprochen,  wie  überhaupt  die 
aus  dem  Religionskriege  stammenden  Lieder  in  dieser  Hinsicht 
den  Vorzug  verdienen.  Aufzusuchen  waren  sie  in  allgemeinen 
Sammlungen,  in  Chroniken,  die  man  nicht  überall  findet,  end- 
lich in  den  sehr  seltenen,  in  alten  Bibliotheken  meist  versteck- 
ten fliegenden  Blättern.  Wäre  dem  Recensenten  die  Aufgabe 
gestellt,  ein  Buch  dieser  Art  zu  verfertigen,  so  würde  er  vorerst 
sich  ein  Verzeichnis  alles  bisher  schon  Bekannten  und  in  neuerer 


SAMMLUNG  HISTORISCHER  VOLKSLIEDER  VON  WOLFF.  431 

Zeit  Gedruckten  mit  aller  Genauigkeit,  welche  Arbeiten  dieser 
Art  erfordern ,  gemacht  und  dann  aus  den  seltenen  und  selten- 
sten Quellen  das  Unbekannte  aufgesucht  und  gesammelt  haben. 
Ohne  Benutzung  grosser  Bibliotheken,  nicht  bloss  einer  oder 
zweier,  würde  das  Resultat  nicht  bedeutend  ausfallen,  denn 
solche  Kleinigkeiten  verstecken  sich  und  wollen  aufgesucht  sein; 
allein  wo  sich  handschriftliche  Chroniken  oder  Sammlungen  der 
im  17.  Jahrhunderte,  namentlich  zur  Zeit  des  dreissigjährigen 
Krieges  häufigen  fliegenden  Blätter  und  kurzer  Berichte,  wie 
z.  B.  in  Dresden  und  Cassel  vorfinden,  da  dürfte  man  auf  eine  30S 
gute  Ernte  und  auch  wohl  auf  manche  überraschende  Ent- 
deckung hoffen.  Ein  solches  Unternehmen  erfordert  Zeit  und 
ein  behagliches  Fortführen,  und  da  nicht  leicht  ein  Zweiter  so- 
bald wieder  daran  geht,  so  hat  der,  welcher  sich  ihm  unterzieht, 
die  Pflicht,  ohne  einen  gewissen  Grad  von  Vollständigkeit  nicht 
hervorzutreten,  sehr  accurat  bei  der  Ausarbeitung  zu  sein  und 
das  Werk  dem  Gebrauche  so  bequem  als  möglich  zu  überliefen. 
Litterarische  Nachweisungen,  historische  Erörterungen,  sorgfaltige 
Resrister  sind  hier  mehr  als  irfjendwo  an  ihrem  Platze.  Freilich 
eine  mühsame  Arbeit  wird  es  sein,  aber  die  Lust  zur  Sache 
muss  dabei  helfen,  ohne  welche  sie  niemand  anfangen  sollte. 
Was  die  äussere  Anordnung  betrifft,  so  räth  Rec.  zu  der  chrono- 
logischen, die  freilich  nicht  so  streng  und  pedantisch  zu  sein 
braucht,  dass  nicht  das  Zusammengehörige  neben  einander 
dürfte  aufgestellt  werden.  Sodann  hätte  das  Verzeichnis  des 
bereits  in  leicht  zugänglichen  Sammlungen  oder  Büchern  Vor- 
handenen  vorangeschickt,  in  das  Werk  selbst  aber  nur  das 
Seltene  oder  völlig  Unbekannte  aufgenommen  werden  müssen, 
also  nur  was  aus  Handschriften,  alten  Chroniken,  fliegenden 
Blättern  usw.  geholt  war. 

Herr  Wolff"  zeigt  Eifer  und  Liebe  für  seine  Arbeit,  was 
wir  gerne  und  rühmend  anerkennen  wollen;  hätte  er  seine 
Sache  nur  etwas  besser  gemacht!  Von  allem,  was  Rec.  filr 
ine  solche  Sammlung  empfehlen  zu  müssen  glaubte,  hat  er 
ao  viel  als  nichts  gethan.  Sein  Verdienst  beschränkt  sich  darauf, 
zum  Abdrucke  gegeben  zu  haben,  was  er  in  einer  gewissen 
Zeit    zusammengebracht    hatte;    darunter    befindet    sich    einiges 


432        AF  SAXOS  HISTORIES  SYV  SIDSTE  BÖGER  VED  MÜLLER. 

30i  Schätzbare,  aber  viel  mehr  noch,  was  in  allbekannten  Büchern 
steht.  Wie  wenig  er  sich  um  litterarische  Untersuchungen 
und  bessere  Einsicht  bemüht  hat,  beweist  gleich  der  Eingang, 
wo  sechs  Seiten  mit  einer  schlechten,  irgendwoher  erborgten 
Übersetzung  einiger  historischen  Lieder  Walthers  von  der 
Vogelweide  angefüllt  sind,  deren  Verfasser  Herr  Wolff  nicht 
kannte  und  die  er  vornen  in  dem  Inhaltsverzeichnisse  frisch 
weg  um  hundert  Jahre  wenigstens  jünger  macht,  als  sie  wirk- 
lich sind.  Andere  Lieder  Walthers  in  ähnlicher  kläglicher 
Bearbeitung  stehen  unter  S.  596 — 599.  In  ihrer  Nähe  findet 
man  auch  das  Ludwigslied  aus  dem  9.  Jahrhundert,  man  kann 
sich  denken,  in  welchem  erbaulichen  Texte;  da  kommt  thananaa 
vor  und  fanonuf  zusammengedruckt;  er  scheint  neuere  Bemü- 
hungen um  diesen  Text  nicht  gekannt  zu  haben.  Wer  soll  das 
nun  gebrauchen?  Das  Hildebrandslied  ist  S.  688 — 693  als  ein 
historisches,  Gott  weiss  warum,  aufgeführt,  versteht  sich  aus 
dem  entstellten  Texte  des  Wunderhorns  (das  zeigt  das  unerhörte 
schriemenschlag) ;  von  dem  alten  Bruchstück  mag  der  Verfasser 
nichts  wissen.  Eine  weitere  Kritik  wäre  überflüssig.  Werth 
verleiht  dem  Buche  der  Abdruck  fliegender  Blätter  aus  der 
Grossherzoglichen  Bibliothek  zu  Weimar,  nur  leider  ist  der 
Text  nicht  bloss  in  der  Quelle  selbst  sehr  verderbt,  es  kommen 
auch  noch  Druckfehler  in  solchem  Überflüsse  hinzu,  dass  man 
oft  keine  sechs  Zeilen  lesen  kann,  ohne  auf  ganz  unverständ- 
liche Worte  zu  stossen. 

[anonym.] 


724  CRITISK  UNDERSÖGELSE 

AF  SAXOS  HISTORIES  SYV  SIDSTE  BÖGER. 

Ved  D.   Peter  Erasmus  Müller,  Biskop  i  Siälland.     Saerskilt  aftrykt  af  det 
kongelige  danske  Videnskabernes  Selskabs  Skrifter.     Copenhagen.     1830. 

260  S.  in  4. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.   Bd  II,  73.  Stück,  den  7.  Mai  1832.    S.  724—728. 

JL/en  ersten  Theil  dieses  Werkes,  welcher  die  neun  ersten 
Bücher  Saxos   untersucht,   hat  Rec.  im  Jahre  1824   St.  41.  42 


AF  SAXOS  HISTORIES  SYV  SIDSTE  BÖGER  VED  MÜLLER.         433 

[oben  S.  294 — 302]  und  zwar  mit  gebührendem  Lobe  angezeigt, 
der  georeuwärtiffe  zweite  befasst  nun  die  sieben  letzten  Bücher 
dieses  vielbesprochenen  Geschichtscbreibers.  Dort  war  die  Sagen- 
zeit mit  dem  ersten  dämmernden  Lichte  der  historischen  Wahr- 
heit der  Gegenstand  der  Abhandlung ,  hier  bricht  dieses  Licht  720 
immer  heller  ein,  so  dass  die  letzten  Bücher  als  eine  unbe- 
zweifelt  echte  und  wichtige  Quelle  der  Geschichte  zu  betrachten 
sind.  Die  Kritik  also,  die  es  dort  nur  mit  der  Echtheit  der 
Sage  zu  thun  hatte,  ist  hier  auf  die  Wahrheit  der  erzählten 
Begebenheiten  selbst  gerichtet  und  geht  festen  Schrittes,  da  sie 
gleichzeitige  Zeugen,  wie  Adam  von  Bremen,  Helmold  und  nicht 
viel  spätere,  wie  Snorre  Sturleson,  die  Knytlingasaga  und 
andere  anhören  kann.  Unser  Verfasser,  der,  wie  sich  von  selbst 
versteht,  seine  Arbeit  mit  gleicher  Unbefangenheit,  Wahrheits- 
liebe und  feinem  Takte,  der  sich  nicht  erlernen  lässt,  fortge- 
führt, hat  doch  mitunter  Gelegenheit  gehabt,  Saxos  Genauigkeit 
und  Unparteilichkeit  in  der  Darstellung  der  Begebenheiten  zu 
bemerken.  Kec.  begnügt  sich  anzuzeigen,  dass  in  dieser  zweiten 
Abtheilung  die  dänische  Geschichte  von  Harald  Gormsen  bis 
auf  Waldemar  I,  also  bis  auf  Saxos  Lebenszeit  abgehandelt 
wird  und  Aufklärungen  gewonnen  sind,  welche  auch  der  deut- 
schen Geschichte  in  den  merkwürdigen  Verhältnissen  Waide- 
mars zu  Friedrich  I  und  Heinrich  dem  Löwen  zu  gut  kommen. 
Rec.  meint,  dass  wir  uns  jetzt  auf  dem  Standpunkte  befinden, 
wo  ein  schliessliches  Urtheil  über  Saxo  möglich  ist.  Dahlmann, 
der  in  seiner  Kritik  der  altdänischen  Geschichte  trefflich  auf- 
geräumt hat,  thut  unserem  Saxo,  obgleich  er  ihn  ironisch  genug 
behandelt,  von  seinem  Standpunkte  aus  kein  Unrecht  an,  am 
wenigsten  denkt  er  daran,  das  lebensvolle  und  geistreiche  Werk 
in  seinem  natürlichen  Werthe  zu  kränken.  Denn  Rec.  gesteht, 
dass  er  diejenigen,  welche,  Bedeutung  und  Gehalt  der  Sage 
leugnend,  nur  einen  abgeschmackten  Tand  darin  erblicken  und  726 
die  Ratten,  welche  die  schon  gedruckte  Knytlingasaga  gleich- 
sam ibit  kritischem  Instinkte  völlig  auffrassen,  als  die  ver- 
nünftigsten Beurtheiler  geltend  machen  möchten,  dass  er  diese 
für  nicht  besser  hält,  sondern  für  schlechter,  als  die  anderen, 
welche  ohne  Kritik  sich   dem  Glauben   an   eine  unverwüstliche 

W.  GRl.MM.  KL.  SCHRIFTEN.     II.  28 


434         AF  SAXOS  HISTORIES  SYV  SIDSTE  BÖGER  VED  MÜLLER. 

historische  Wahrheit  darin  überlassen;  denn  diesen  kann  doch 
Gemüth,  Sinn  und  Gefühl  für  die  nach  freien  Gesetzen  wirkende 
poetische  Kraft  des  menschlichen  Geistes  eigen  sein.  Dass  der, 
welcher  nach  den  Forderungen  unserer  Zeit  Geschichte  schreibt, 
von  der  Sage,  da  wo  keine  Vergleichung  mit  historischen 
Denkmälern  möglich  ist,  wenig  Gebrauch  machen  könne,  darf 
man  zugeben,  ohne  dass  man  damit  behauptet,  es  sei  ganz  und 
gar  nichts  Geschichtliches  darin  enthalten.  Mag  auch  das 
historische  Element,  das,  wie  man  doch  wohl  annehmen  muss, 
bei  ihrer  Entstehung  mitwirkte,  sich  sehr  bald  verflüchtigt 
haben  und  völlig  unkenntlich  geworden  sein,  so  ist  doch  nicht 
einzusehen,  warum  sie  bei  ihrer  Fortdauer  und  weiteren  Ent- 
faltung, eben  weil  sie  allem,  was  das  menschliche  Leben  be- 
rührte, offen  stand,  nicht  auch  geschichtliche  Ereignisse  wie- 
derum habe  aufnehmen  können.  Ein  Beispiel  gewährt  unsere 
Nibelungensage.  Sie  kennt  den  Hunnenkönig  Attila  als  einen 
mächtigen,  aber  halbbarbarischen  Herrscher,  wie  ihn  sein  Zeit- 
genosse Priscus  beschreibt,  und  erzählt  den  Untergang  des  bur- 
gundischen  Königs  Gundichari  und  seines  ganzen  Geschlechts 
durch  die  Hunnen,  was  als  historisches  Factum  hinlänglich  ver- 
bürgt ist;  von  allem  dem  aber  weiss  die  ältere  Sage  in  den 
727  eddischen  Liedern  noch  nichts,  und  dass  es  nicht  auf  gelehrtem 
Wege  in  das  deutsche  Gedicht  gekommen  sei,  glaubt  Rec.  aus 
mehr  als  einem  Grunde.  Auf  diese  Weise  mögen  in  Saxos  [Werke], 
wie  in  den  altnordischen  Sagen,  selbst  in  den  verachteten  Stamm- 
tafeln des  Langfedgatal ,  wirkliche  Helden  und  ihre  Thaten  so 
gut  wie  mythische  einen  Platz  gefunden  haben,  und  es  ist  ein 
Irrthum,  wenn  man  glaubt,  eine  erweislich  spätere  Einmischung 
habe  eine  gleichmässige  Umwandlung  des  Ganzen  zur  Folge 
gehabt.  Und  dass  sie  in  diesem  Zustande,  in  welchem  Altes 
und  Neues  noch  neben  einander  stehen  können,  dennoch  über 
andere  Dinge,  die  keine  Geschichte  sind,  z.  B.  Privatleben, 
innere  Verhältnisse,  Rechtszustand  überraschende  Aufschlüsse 
geben  können,  wenn  man  sich  von  Ungläubigkeit  ebenso  wie 
von  einer  schwächlichen  Gläubigkeit  frei  hält,  davon  ist  Rec. 
überzeugt. 

Die   Vorrede    enthält    die   erfreuliche   Nachricht,    dass  der 


LE  PANTCHA-TANTRA  PAR  J.  A.  DüBOIS.  435 

Verf.  ernstlich  daran  denkt,  eine  neue  Ausgabe  des  Saxo  zu 
besorgen,  wozu  er  gegenwärtiges  Werk  als  eine  Vorarbeit  be- 
trachtet. Der  Commentar,  der  sie  begleiten  wird,  soll  für  unsere 
Zeit  das  sein,  was  Stephanius  der  seinigen  gewährte.  Schon 
Dahlmann  hatte  das  Bedürfnis  einer  solchen  Ausgabe  auseinander- 
gesetzt; da  keine  Handschrift  mehr  existirt,  so  muss  die  princeps 
Ascensiana  zu  Grund  gelegt  werden;  Klotz  hatte  sogar  die 
Druckfehler  aus  Stephanius  beibehalten.  Möge  es  dem  Verf., 
dem  nach  Münters  Tode  der  Bischofstuhl  von  Seeland  zu  Theil 
geworden  ist,  nicht  an  der  Müsse  fehlen,  die  nöthig  ist,  ein 
solches  Unternehmen  zu  Ende  zu  führen.  Zu  den  grossen  Ver- 
diensten, die  sich  Herr  P.  E.  Müller  um  die  nordische  Vorzeit  728 
bereits  erworben  hat,  wird  sich  ein  neues  gesellen,  das  die 
deutschen  Alterthumsforscher  ebenso  bereitwillig  und  dankbar 
anerkennen  werden.  [anonym.] 


LE  PANTCHA-TANTRA,  755 

ou  les  cinq  ruses,  fables  du  Brahme  Vichnou-Sarma:   aventures  de  Paramarta 

et  autres  contes, 'le  tout  traduit  pour  la  prämiere  fois  sur  les  originaux  Indiens; 

par  M.  l'abbe  J.  A.  Dubois.     Paris,  bei  J.  S.  Merlin,  1826.    415  S.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  II,  76.  Stück,   den  12.  Mai  1832. 
S.  756—760. 


n 


'er  durch  sein  Werk  über  die  Sitten  und  Gebräuche 
der  Indier  bekannte  Verfasser  erfüllt  ein  dort  gegebenes  Ver- 
sprechen,  indem  er  eine  Sammlung  von  Fabeln  und  Erzählungen, 
wie  sie  noch  heutzutage  unter  den  Indiern  umgehen,  und  die 
er  aus  drei  in  verschiedenen  Mundarten  abgefassten  Originalen 
übersetzt  hat,  mittheilt.  Die  erste  Abtheilung,  le  Pantcha-Tantra, 
d.  h.  die  fünf  Listen,  nimmt  den  grössten  Raum  ein  und  ent- 
hält nichts  Anderes,  als  eine  Übertragung  oder  vielmehr  er- 
weiternde Überarbeitung  der  alten  und  berühmten,  unter  dem 
Namen  Hitopadesa  bekannten  Fabelsammlung  in  Sanskrit,  die 
nach  der  Meinung  des  Verfassers  in  der  Absicht  unternommen 
worden  ist,  um  dem  Volke,  welches  kein  Sanskrit  versteht,  das 
Buch    zugänglich    zu    machen;    denn   diese  Fabeln    gehören   zu 

28* 


436  LE  PANTCHA-TANTRA   PAR  J.  A.  DUBOIS. 

den   wenigen  Werken,   deren   Leetüre  von   den  Brahminen   all- 
gemein erlaubt  wird.    Von  den  fünf  Abschnitten,  in  welche  das 

757  Ganze  abgetheilt  ist,  findet  sich  der  fünfte  nicht  in  Hitopadesa 
und  gibt  sich  auch  durch  den  verschiedenen  Stil  als  Zusatz  zu 
erkennen.  Die  dritte  Abtheilung  liefert  sechs  Erzählungen,  die, 
wie  der  Übersetzer  sagt,  durch  ganz  Indien  bekannt  sind  und 
in  welchen  man  nur  eine  Einkleidung  wirklicher  Begebenheiten 
erblickt.  Darin  irrt  man  wohl,  aber  die  Erz'ählungen  sind  sehr 
artig,  und  gleich  die  erste,  wo  vier  Taube  in  die  schönste  Ver- 
wirrung gerathen,  hat  wahrhaft  komische  Kraft;  alle  werden 
ohne  Zweifel  auf  mannigfache  Weise  in  Europa  wuchern.  Es 
fällt  auf,  dass  die  meisten  dazu  dienen,  die  Brahminen  zu  ver- 
spotten, und  in  einer,  gerade  nicht  der  schlechtesten,  wird  die 
Verehrung  der  büssenden  Heiligen  als  eine  lächerliche  Täu- 
schung dargestellt.  Von  der  mittelsten  Abtheilung  redet  Rec. 
zuletzt,  weil  sie  ihm  gerade  die  wichtigste  ist.  Sie  führt  den 
Titel:  aventures  de  gourou  Paramarta  und  ist  in  acht  Aben- 
teuer eingetheilt.  Ein  Missionär,  P.  Beschie,  hatte  sie  in  tamu- 
lischer  Sprache  geschrieben  und,  wie  einige  vermutheten,  bloss 
in  der  Absicht,  die  Brahminen  und  ihre  Gebräuche  lächer- 
lich zu  machen,  selbst  erfunden.  Allein  diese  Voraussetzung 
ist  falsch,  Abbe  Dubois  hat  selbst  Gelegenheit  gehabt,  sich  zu 
überzeugen,  dass  in  Gegenden  Indiens,  wohin  der  Name  und 
die  Schriften  des  P.  Be[s]chie  niemals  gedrungen  waren,  der 
Grund  dieser  Erzählungen  verbreitet  war.  Wir  haben  also  eine 
allgemeine  indische  Volkssage  vor  uns,  und  als  solche  erweist 
sie  sich  auch  so  sehr,  dass,  wer  mit  der  Natur  solcher  Über- 
lieferungen bekannt  ist,  keinen  Augenblick  an  ihrer  Echtheit 
zweifelt.      Es   tritt   darin   ein   Meister   oder   Priester   Paramarta, 

758  d.  h.  Einfaltspinsel  auf,  von  fünf  Schülern  umgeben,  deren  alle- 
gorische Namen  (Stupide,  Idiot,  Hebete,  Badaud,  Lourdaud) 
schon  hinlänglich  ihre  Natur  andeuten.  Sie  erzeigen  ihm  eine 
ungemessene  Verehrung  und  folgen  seinen  Lehren  mit  einem 
blinden  Gehorsam;  die  Abenteuer,  die  sie  gemeinschaftlich  be- 
stehen und  die  mit  seinem  tragikomischen  Tode  endigen,  machen 
den  Gegenstand  des  kleinen,  wohlgeordneten  Epos  aus.  Das 
Charakteristische    besteht    darin,    dass    unter  dem    Scheine  der 


LE  PANTCHA-TANTRA   PAR  J.  A.  DUBOIS.  437 

höchsten  Weisheit,  die  mit  besonnenem  Ernste  und  mit  reicher 
Erfahrung  den  Weltereignissen  begegnet,  die  unbeschreiblichsten 
Albernheiten  ausgeführt  werden.  Betrachtet  man  es  als  eine 
humoristische  Liebhaberei  an  der  Dummheit,  so  wird  man  das 
Ganze  höchst  ergötzlich,  die  Ausführung  trefflich  finden ;  um  die- 
ses Urtheil  zu  rechtfertigen  und  einen  deutlichen  Begriff  von  dem 
Wesen  dieser  Poesie  zu  geben,  müssen  wir  eine  kleine  Probe 
ausheben.  Meister  Paramarta  befindet  sich  mit  seinen  Schülern 
auf  einer  Reise  und  gelangt  zur  Mittagszeit  zu  einem  kleinen 
Flusse,  wo  sie  eine  seichte  Stelle  aufsuchen.  Als  sie  glücklich 
gefunden  ist  und  die  ganze  Gesellschaft  eben  im  Begriffe  steht 
durchzuwaten,  wird  der  Meister  bedenklich,  und  indem  er  sich 
der  Tücken  erinnert,  die  das  Wasser  schon  oft  ausgeübt,  er- 
theilt  er  den  weisen  Rath,  nur  dann  erst  in  den  Fluss  zu  treten, 
wenn  er  sich  in  dem  Zustande  des  Schlafes  befinde.  Dumm- 
kopf wird  ausgeschickt,  darüber  Nachforschungen  anzustellen, 
ihm  aber  dabei  die  grösste  Vorsicht  empfohlen.  Er  nähert  sich 
also  sachte  und  berührt  endlich  mit  einem  Stückchen  brennen- 
den Holz  die  Oberfläche  des  Wassers.  Da  das  Feuer  sogleich 
mit  Zischen  verlischt  und  der  Rauch  ihm  ins  Gesicht  steigt,  so  759 
läuft  er  erschreckt  zurück  und  meldet  dem  Meister,  das  Wasser 
sei  in  heftigen  Zorn  gerathen:  als  er  es  nur  leise  berührt,  habe 
es  um  sich  gesprüht  und  gleich  einer  Schlange  gezischt,  ihn 
selbst  habe  es  durch  einen  gewaltigen  Rauch  ersticken  wollen, 
und  nur  durch  ein  Wunder  sei  er  entronnen.  Ohne  Lebens- 
gefahr könnten  sie  in  diesem  Augenblicke  den  Fluss  nicht  pas- 
sieren. Paramarta  ergibt  sich  in  die  Fügung  des  Schicksals, 
iässt  sich  mit  seinem  Gefolge  an  dem  Ufer  nieder,  um  geduldig 
den  Zeitpunkt  zu  erwarten,  wo  der  Fluss  in  Schlaf  fallen  werde. 
Erst  als  sie  sehen,  dass  ein  anderer  Reisender  mit  seinem  Pferde 
ruhig  durchreitet,  fassen  sie  neuen  Muth,  und  nach  abermaligen . 
weisen  Reden  und  Berathungen  wird  Dummkopf  zum  zweiten 
Male  abgesendet,  den  Zustand  des  Flusses  zu  erforschen.  Mit 
zitternder  Hand  hält  er  das  ausgelöschte  Holz  an  den  Spiegel 
des  Wassers,  der  sich  jetzt  nicht  regt.  Er  wiederholt  die  Probe 
noch  einige  Mal  und  läuft  dann  voll  Freude  zu  seinem  Meister, 
um  ihm  anzukündigen,  dass  das  Wasser  in  tiefem  Schlafe  liege. 


438  LE  PANTCHA-TANTRA  PAR  J.  A.  DUßOIS. 

Auf  diese  günstige  Nachricht  wagen  sie  endlich,  jedoch  nur, 
wie  der  Meister  vorsichtig  empfiehlt,  unter  tiefem  Schweigen, 
um  den  Schlaf  nicht  zu  stören,  hindurchzugehen.  An  die 
Abderiten  denkt  hier  jeder,  aber  wem  die  deutsche  Sage  nicht 
fremd  ist,  der  wird  sich  an  die  Bürger  von  Schiida  und,  wer 
die  Litteratur  des  sechzehnten  Jahrhunderts  kennt,  an  das  Laien- 
buch und  seine  meisterhafte  Darstellung  einer  solchen  selbst- 
zufriedenen, glückseligen  Albernheit  erinnern.  Es  ist  in  der 
760  That  unserem  indischen  Gedicht  nicht  bloss  verwandt,  sondern 
es  beruht  völlig  auf  derselben  Grundlage,  und  so  verschieden 
die  Ausführung  der  Idee  hier  ist,  so  kommen  doch  auch  mehr 
oder  minder  übereinstimmende  Züge  vor,  z.  B.  der  eine  Schüler 
Paramartas  setzt  sich  auf  den  Ast,  den  er  abhauen  will,  und 
wundert  sich,  als  er  mit  herabfällt.  Auch  die  wohlgefällige 
Breite  der  Darstellung  ist  dieselbe.  Allein  Rec.  ist  im  Stande, 
ein  noch  viel  höher  hinaufgehendes  Alter  der  deutschen  Sage 
nachzuweisen.  Freidank,  der  im  Jahr  1229  sein  gnomologisches 
Werk  beendigte,  spielt  ohne  Zweifel  darauf  an,  wenn  er  sagt: 
wisiu  wort  unt  tumbiu  werc,  diu  habent  die  von  Gouchesberc, 
womit  der  Inhalt  der  Sage  vollkommen  bezeichnet  wird.  Also 
ein  abermaliges  Beispiel  von  dem  Alter  und  der  Gemeinschaft 
der  Sage  bei  den  verschiedensten  Völkern;  es  versteht  sich  da- 
bei von  selbst,  dass  sie  zu  Freidanks  Zeit  nicht  erst  erfunden 
wurde.  Nirgends  aber  ist  sie  auf  persönliche  Satyre  angelegt, 
sondern  verdankt  der  freien  poetischen  Lust  ihr  Dasein. 

Die  Angabe  des  Titels,  dass  die  Abenteuer  Paramartas  hier 
zum  ersten  Mal  übersetzt  seien,  ist  unrichtig.  Schon  im  Jahre 
1822  war  in  London  erschienen:  the  adventures  of  the  Gooroo 
Paromarton,  a  tale  in  the  tamul  language  by  B.  Babington, 
wovon   der  französische  Übersetzer  billigerweise  hätte  Kenntnis 

haben  sollen. 

[anonym.] 


RÜN-LÄRA  AF  JOH.  G.  LILJEGREN.  439 


RüN-LÄRA  AF  JOH.  G.  LILJEGREN.  ns 

Stockholm.     Trjkt  hos  P.  A.  Xorstedt  et  Söner.     1832.     220  S.  in  Octav, 
mit  12  Steindrücken. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  I,  18.  Stück,  den  31.  Januar  1833. 

S.  175—176. 

-l-is  ist  lobenswerth,  dass  von  Zeit  zu  Zeit  Bücher  er- 
scheinen, welche  die  in  einem  bestimmten  Gebiete  der  Wissen- 
schaft bis  dahin  gewonnenen  Resultate  verständig  und  fleissig 
zusammenstellen.  Bei  einer  leichten  Übersicht  des  Ganzen 
schreitet  man  mit  mehr  Sicherheit  und  Bequemlichkeit  weiter, 
bis  wieder  ein  Ruhepunkt  kommt,  wo  jene  Arbeit  aufs  Neue 
muss  vorgenommen  werden.  Ein  solches  Buch  ist  das  vor- 
liegende, welches  von  der  Königl.  Akademie  der  Wissenschaften 
zu  Stockholm  im  Jahre  1821  den  Preis  erhielt,  jedoch,  seines  17G 
Umfangs  wegen  und  weil  es  durch  spätere  Zusätze  und  Um- 
arbeitungen Veränderungen  erlitten  hatte,  nicht  in  die  Schriften 
der  Akademie  konnte  aufgenommen  werden.  Jetzt  erscheint  es 
auf  Veranlassung  und  mit  Unterstützung  der  Akademie  beson- 
ders gedruckt.  Die  Einleitung  erörtert  den  Begriff  der  Runen; 
der  erste  von  den  beiden  Hauptabschnitten  stellt  das  runische 
Alphabet  dar,  der  zweite  zählt  die  Runendenkmäler  auf  und 
erklärt  sie.  Hr.  Liljegren,  dessen  Thätigkeit  für  das  nordische 
Alterthum  wir  schon  früher  in  diesen  Blättern  (1826.  St.  37 
[oben  S.  376 — 379])  rühmend  anerkannt,  hat  mit  Fleiss  und 
Sorgfalt  seine  Aufgabe  gelöst,  auch  nicht  versäumt,  die  zum 
Verständnis  nöthigen  Denkmäler  auf  den  hinzugegebenen  Tafeln 
abbilden  zu  lassen.  Neue  Forschungen  und  Entdeckungen  darf 
man  hier  nicht  suchen,  eine  belebtere  Darstellung,  freiere  Auf- 
fassung und  etwas  mehr  Kritik  hätten  wir  gewünscht,  indessen 
wird  jeder,  der  sich  mit  diesem  Gegenstande  beschäftigt,  dieses 
neue  Hilfsmittel  dankbar  zur  Hand  nehmen,  welches  schon 
seines  praktischen  Nutzens  wegen  keiner  besonderen  Empfehlung 
bedarf.  Wahrscheinlich  ist  das  vorliegende  Exemplar  das  ein- 
zige,  welches  bis   jetzt    aus   Schweden    herübergekommen    ist; 


440    BÄUMLEIN,  DAS  GRIECHISCHE  UND  DAS  GOTHISCHE  ALPHABET. 

wir  verdanken  die  Mittheilung  desselben  Hrn.  E.  F.  Mooyer  in 
Minden,  der  selbst  nordische  Alterthümer  eifrig  sammelt  und 
den  antiquarischen  Nachlass  des  bekannten  Arendt  an  sich  ge- 
kauft hat.  Wir  haben  einen  Theil  seiner  Papiere  durchgesehen, 
sie  enthalten  meist  die  Originalzeichnungen  von  den  in  ver- 
schiedenen älteren  Werken  abgebildeten  Runensteinen,  sind 
mithin  von  Werth;  wie  gross  dieser  sei,  wird  sich  freilich  erst 
bei  einer  Beschäftigung  mit  dem  Einzelnen  ergeben. 

[anonym.] 


569  UNTERSUCHUNGEN 

über  die  ursprüngliche  Beschaffenheit  und  weiteren  Entwickelungen  des  grie- 
chischen und  über  die  Entstehung  des  gothischen  Alphabets.    Von  W.  Bäum- 
lein, Prof.,    Lehrer  an  der  lat.  Schule  zu  Biberach.     Mit  zwei  vergleichenden 
Schrifttafeln.     Tübingen.     Bey  H.  Laupp.     1833.     IIG  S.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  I,  58.  59.  Stück,  den  10.  April  1834. 

S.  569—578. 

-L/as  Resultat  der  ersten  Abhandlung  gibt  der  Verf.  selbst 
am  Schlüsse  derselben  folgendergestalt  an  (S.  54.  55): 

„Durch  eine  phönizische,  wahrscheinlich  unter  ägyptischem 
Einfluss  gestandene  Kolonie  wurde  das  semitische  Alphabet  in 
das  (nachherige)  Böotien  gebracht.  Nachdem  es  bereits  einige 
Änderungen  erfahren  hatte,  nahmen  die  benachbarten  Pelasger, 
lonier  (d.  h.  Attiker)  wahrscheinlich  geraume  Zeit  nach  der 
Verdrängung  der  ägialischen  Pelasger  (lonier)  aus  dem  Pelo- 
ponnes    dieses    semitische  Alphabet  im  Ganzen  vollständig,    mit 

570  denselben  Namen  und  in  derselben  Folge  der  Buchstaben,  von 
den  Phöniziern  an.  Einige  Zeichen  giengen  den  Griechen  ent- 
weder gleich  anfangs,  wie  etwa  das  T,  oder  allmählich,  wie  aav, 
ßau,  xoTTTra  für  den  Schriftgebrauch  verloren,  andere  änderten 
ihre  Bedeutung  und  mit  dieser  ihre  Namen  gleich  anfangs,  wie 
n  und  Vi  welche  von  den  Griechen  bei  Annahme  des  phö- 
nizischen  Alphabets  in  die  Vocale  E  und  O  mit  den  Namen  sT 
und  ou  verwandelt  wurden,  oder  allmählich  durch  die  Fortbildung 
und  Erweichung  der  griechischen  Sprache,  wie  1,  %  n,  D  und 


BÄÜMLEIN,  DAS  GRIECHISCHE  UND  DAS  GOTHISCHE  ALPHABET.   441 

wohl  auch  die  Zischlaute.  Die  mit  den  letzten  vorgegangenen 
Veränderungen  zogen  auch  eine  Veränderung  in  ihrer  Stellung 
nach  sich. 

Zu  dem  ursprünglichen  Alphabet  kam  sehr  frühe  das  aus 
dem  ßaij  hervorgegangene  1*  oder  V,  darauf  q,i  in  der  Figur 
eines  Kreuzes  im  italischen  Griechenland,  yX  in  der  Figur  eines 
'l)  im  äolisch-dorischen  Dialekte,  yl  in  gewöhnlicher  Gestalt  bei 
den  übrigen  Griechen  und  o  im  eigentlichen  Hellas.  Zuletzt 
fügte  dem  griechischen  Alphabete  Simonides  aus  Keos  um  das 
Jahr  500  noch  Z  (mit  dem  mitten  herabgezogenen  Verticalstrich), 
^V  (für  ^i)  und  ß  bei  und  gab  dem  H  die  Bedeutung  eines  e. 
Dieses  von  Simonides  erweiterte  und  veränderte  Alphabet  brachte 
zur  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  unter  dem  Archonten 
Euklides  im  2.  Jahre  der  94.  Olympiade  (=  403  vor  Chr.)  der 
Samier  Kallistratos  nach  Athen,  worauf  dann  das  alte,  ein- 
heimische Alphabet,  dp/aia,  TrotXaia,  s-iy^tupiot,  nach  seinem  ersten 
Ursprünge  OoivixT^iot,  KotStxr/ia,  nach  den  griechischen  Stämmen, 
die  es  zuerst  annahmen,  Attixa,  Iwvix«,  UsXaa'^v/.a  -ypajxfAa-a  ge- 
nannt, gegen  das  bequemere  neuere  (  Icuvtxä  -(pd^iiioL-a,  weil  diese  571 
Stammesbenennung  nur  dem  nach  Asien  ausgewanderten  Theile 
geblieben  war)  vertauscht  ward." 

Nachdem  wir  noch  angemerkt  haben,  dass  Hr.  Prof.  Bäumlein 
einer  der  geschichtlichen  Betrachtung  sich  empfehlenden,  neuer- 
dings von  Bopp  (vergleichende  Grammatik  S.  3)  angenommenen 
Behauptung  Jac.  Grimms,  die  Vocale  E  und  O  seien  späteren 
Ursprungs,  entschieden  und  mit  der  Äusserung  entgegentritt 
(S.  43.  44):  „diese  Annahme  sei  von  dem  Standpunkte  der 
reinen  Sprachlehre"  (das  heisst  doch  wohl  der  philosophischen?) 
„betrachtet  so  sonderbar  und  setze  eine  so  wunderliche  Vor- 
stellung von  dem  Leben  der  Sprachen  voraus,  dass  er  nicht 
umhin  könne,  sich  zu  verwundern,  wie  denkende,  mit  dem  or- 
ganischen Leben  der  Sprache  vertraute  Forscher  sie  aufstellen 
oder  annehmen  möchten" :  so  überlassen  wir  die  Beurtheilung 
dieses  Abschnittes  anderen  und  wenden  uns  zu  dem  zweiten, 
der  den  Rec.  näher  angeht,  über  die  Entstehung  der  gothischen 
Schrift  (S.  56—116). 

Hr.  Prof.  Bäumlein   stimmt   mit   dem   Rec,   der  in   seinem 


442    BÄÜMLEIN,  DAS  GRIECHISCHE  UND  DAS  GOTHISCHE  ALPHABET. 

Buche  über  deutsche  Runen  diesen  Gegenstand  behandelt  hatte, 
darin  überein,  dass  er  das  gothische  Alphabet  nicht  als  eine 
Erfindung  und  eigenmächtige  Composition  des  berühmten  gothi- 
schen  Bischofs  ansieht,  sondern  als  ein  eigenthümliches,  bereits 
vorhandenes  Alphabet,  dessen  sich  Ulfilas  sehr  natürlich  be- 
diente. Er  erkennt  ferner  eine  Übereinstimmung  des  gothischen 
Alphabets  mit  dem  griechischen,  lateinischen  und  runischen  [an], 
weicht  jedoch  von  dem  Rec.  insofern  ab,  als  er  einige  Buch- 
staben bloss  aus  dem  lateinischen  abstammen  lässt.  Runische 
572  Zeichen  nimmt  er  nur  drei  an,  Th,  U,  O;  das  gothische  V  er- 
klärt er  für  das  griechische  T,  mit  dem  es  im  Cod.  arg.  gleiche 
Gestalt  hat,  näher  kommt  es  in  den  neapolitanischen  Urkunden 
der  angelsächsischen  Rune  Wen,  mit  vrelcher  es  Rec.  für  iden- 
tisch hält. 

Rec.  hatte  sich  begnügt,  die  Übereinstimmung  des  gothischen 
mit  den  drei  genannten  Alphabeten  als  eine  Eigenthümlichkeit 
desselben  nachzuweisen.  Hr.  Prof.  B.  geht  weiter  und  erklärt 
diese  Erscheinung  theils  durch  Annahme  eines  alten  gemeinsam 
germanischen  Alphabets,  theils  durch  eine  ausgebildete  Hypo- 
these von  der  geschichtlichen  Entwickelung  des  gothischen  Al- 
phabets. Darnach  haben  mehrere  Jahrhunderte  vor  Christus 
die  Griechen  ihr  (ursprünglich  aus  Hieroglyphen  entsprungenes) 
Alphabet  den  germanischen  Völkern  mitgetheilt.  Ulfilas  hat 
dieses  vorgefundene  Alphabet,  da  es  zum  genaueren  Ausdrucke 
der  gothischen  Laute  ungenügend  erschien,  theilweise  umge- 
staltet und  den  Buchstaben  ihre  Reihenfolge  und  ihren  Zahlen- 
werth  gegeben.  Das  Umgestalten  wird  dahin  erklärt,  dass  er 
diejenigen  Buchstaben,  deren  Verwandtschaft  mit  den  griechischen 
und  lateinischen  deutlich  war,  zu  grösserer  Ähnlichkeit  damit 
abgeändert  habe.  Die  drei  runischen  Buchstaben  behielt  aber 
Ulfilas  nur  aus  dem  Grunde  bei,  „weil  er  ihren  Zusammenhang 
mit  den  griechischen  nicht  mehr  ahnte'^. 

Die  Voraussetzung  eines  alten  gemeinsam  germanischen 
Alphabets,  insofern  sie  sich  auf  den  wahrscheinlichen  Gebrauch 
der  Runen  in  Deutschland  stützt,  will  Rec.  gelten  lassen,  doch 
nur  als  eine  Vermuthung,  da  wir  nirgends  vorsichtiger  als  hier 
vorschreiten  sollten.     Dagegen  von  allen  übrigen  Behauptungen 


BÄUMLEIX.  DAS  GRIECHISCHE  UND  DAS  GOTHISCHE  ALPHABET.    4,43 

des  Verf.  dünkt  den  Rec.  keine  auch  nur  wahrscheinlich.  Er 
glaubt  weder,  dass  die  Germanen  das  Alphabet  von  den  Griechen  573 
in  früheren  Jahrhunderten  vor  Christus  empfangen,  noch  dass 
es  nachher  der  gothische  Bischof  wieder  umgearbeitet  und 
gleichsam  zurückübersetzt  habe.  Wo  ist  nur  ein  Schein  von 
Beweis  für  die  Behauptung,  dass  ülfilas  dem  gothischen  Alpha- 
bet erst  diese  Reihenfolge  und  den  davon  abhängenden  Zahlen- 
werth  beigelegt  habe?  Es  ist  blosse  Voraussetzunsj  des  Verf., 
damit  seine  Hypothese  nicht  sogleich  zusammenfalle.  Gieng 
Ulfilas  auf  diese  VTeise  zu  Werk,  so  schuf  er  in  der  That  etwas 
Neues,  denn  er  warf  die  alte  runische  Reihenfolge,  die  von  der 
scriechischen  völlig  abweicht,  über  den  Haufen:  wir  beerreifen 
aber  nicht,  wie  ihm  der  Gedanke  zu  einer  solchen  Gewalt- 
thätigkeit  kommen  konnte,  oder  wie  sie  praktisch  durchzusetzen 
war,  denn  warum  sollen  wir  glauben,  dass  er  jetzt  erst  die 
Gothen  den  Gebrauch  der  Buchstaben  als  Zahlen  gelehrt  habe, 
der  an  sich  so  natürlich  ist?  Auch  gewährt  für  die  Verwendung 
der  Runen  in  diesem  Sinne  der  runische  Kalender  ein  Beispiel, 
wo  die  sieben  Wochentage  mit  den  sieben  ersten  Buchstaben 
des  runischen  Alphabets  bezeichnet  werden,  versteht  sich  nach 
ihrer  eigenthümlichen  Ordnung,  welche  F  den  ersten  Platz  zu- 
theilt.  Man  begreift  ferner  nicht,  was  Ulfilas  habe  bewegen 
können,  bei  seiner  vorgeblichen  Umarbeitung  des  Alphabets  mit 
den  Paar  Runenbuchstaben  eine  Ausnahme  zu  machen:  nichts 
natürlicher,  wenn  er  das  germanische  Alphabet  dem  griechischen 
näher  bringen  wollte,  als  auch  hier  consequent  zu  bleiben.  Der 
Grund,  er  habe  den  Zusammenhang  nicht  mehr  geahnt,  ist  an 
sich  schwach  und  gesucht,  aber,  wenn  man  ihn  auch  wollte 
gelten  lassen,  hier  ganz  unanwendbar.  Die  Thorrune  konnte 
ohne  grosse  Veränderung  in  das  griechische  0  übergehen,  Othil  574 
lag  dem  ß  noch  näher,  und  die  Ähnlichkeit  der  Gestalt  ist  kaum 
zu  übersehen,  die  Urrune  umzuändern  war  sogar  gerechte  Ver- 
anlassung da,  weil  sie  mit  dem  11  so  leicht  konnte  verwechselt 
werden.  Die  angebliche  Erweiterung  des  gothischen  Alphabets 
müsste  bloss  in  dem  Zeichen  für  HV  bestanden  haben,  welches 
uns  bis  jetzt  noch  geradezu  überflüssig  erscheint,  dessen  Grund 
wir  vielleicht  noch   einsehen  lernen.     Rec.   ist  ganz  entgegen- 


444   BÄUMLEIN,  DAS  GRIECHISCHE  UND  DAS  GOTHISCHE  ALPHABET. 

gesetzter  Meinung  und  glaubt,  dass  Ulfilas  in  dem  vorhandenen 
gothischen  Alphabet  gar  nichts  änderte,  sondern  alles  so,  wie 
er  es  vorfand,  beibehielt,  womit  er  natürlich  nicht  leugnet,  dass 
das  griechische  Alphabet  schon  längst  Einfluss  auf  das  gothische 
ausgeübt  habe. 

Hr.  B.  baut  auf  den  Ursprung  des  Alphabets  aus  hiero- 
glyphischen Zeichen  allzuviel,  wenn  er  annimmt,  die  semitischen 
Buchstabennamen  seien  in  dem  runischen  Alphabet  mit  natio- 
nalen vertauscht,  dabei  aber  der  alte  auf  den  hieroglyphischen 
Ursprung  zurückweisende  Grundsatz  festgehalten  worden,  dass 
der  Laut  des  zu  benennenden  Buchstaben  im  Anlaute  des  Buch- 
stabennamens müsse  enthalten  sein.  Eine  wunderbare,  unbe- 
greifliche Erhaltung  des  Bewusstseins  von  der  ersten  Ent- 
stehung! Rec.  kann  keinen  so  tiefliegenden  Grund  darin  er- 
blicken, sondern  nichts  als  eine  ganz  natürliche  Andeutung  des 
Zusammenhangs  des  Namens  mit  dem  Zeichen:  wer  es  für 
nöthig  hält,  den  Buchstaben  Namen  beizulegen,  wird  wahr- 
scheinlich immer  auf  diese  Weise  verfahren.  Übrigens  ist  Rec. 
im  vollen  Ernste  der  Meinung,  dass  der  Ursprung  des  Alpha- 
bets vorgeschichtlich  sei.  Es  ist  eine  sinnreiche,  aber  immer 
575  noch  zweifelhafte  Vermuthung,  dass  hieroglyphische  Bilder  auf 
die  Gestalt  der  Buchstaben  eingewirkt  haben:  doch  einmal  das 
Factum  zugegeben,  so  ist  eine  solche  Einwirkung  Nebensache, 
die  Hauptsache  bei  dem  Alphabet  ist  die  Scheidung  der  Laute 
in  ihre  wahre  und  natürliche  Bestandtheile,  welche  nicht  eine 
stückweise,  durch  Zufall  zu  erlangende,  sondern  vollkommene 
und  tiefe  Einsicht  in  den  Organismus  der  Sj^achlaute  voraus- 
setzt. Welchem  Jahrhundert  der  bekannten  Geschichte  denkt 
man  wohl  eine  so  ungemeine,  durch  blosses  Nachsinnen  und 
grammatische  Forschung  gewonnene  Einsicht  beizulegen? 

Aus  dem  Bisherigen  ergibt  sich,  wie  sehr  die  allgemeinen 
Ansichten  des  Rec.  von  denen  des  Verf.  abweichen.  Jetzt 
wäre  Rec.  wohl  verpflichtet,  dem  gelehrten  Detail  der  Abhand- 
lung zu  folgen,  den  einzelnen  Behauptungen  beizustimmen  oder 
zu  widersprechen:  bei  aller  Bereitwilligkeit  indessen  vermag  er 
es  nicht:  die  Grundlage  ist  leider  ungenügend,  die  Acten  zur 
Schlichtung  des  Streits   sind  unvollständig,   ein   Stück  darunter 


BÄÜMLEIN.  DAS  GRIECHISCHE  UND  DAS  GOTHISCHE  ALPHABET.    445 

ist  sogar  falsch.  Erstlich  hat  Hr.  B.  einer  im  litterarischen  An- 
zeiger von  1806  durch  Aretin  bekannt  gemachten  Urkunde,  die 
ein  Fragment  eines  lateinischen  mit  gothischen  Buchstaben  ge- 
schriebenen Sendschreibens  des  Kaisers  Glycerius  an  den  ost- 
gothischen  Feldherrn  Widemir  vom  Jahre  473  enthalten  soll, 
Vertrauen  geschenkt,  und  die  Echtheit  derselben  scheint  ihm 
durch  die  ,. vielseitige  und  gründliche"  Prüfung  Aretins  hin- 
reichend erwiesen.  Weitläuftig  ist  allerdings  der  genannte  Com- 
mentar,  aber  so  ungründlich,  dass  eine  oberflächliche  Betrach- 
tung der  vorgeblichen  Urkunde,  der  Gebrauch  des  U  in  der 
Gestalt  des  lateinischen  Buchstaben,  des  J  als  G  usw.  schon  576 
das  erbärmliche  Machwerk  darthut.  Indessen  ist  der  Schade, 
der  daraus  der  Abhandlung  erwächst,  nicht  bedeutend:  diese 
vielleicht  noch  kein  Jahrhundert  alten  gothischen  Buchstaben 
figuriren  fast  nur  in  der  einen  Tabelle,  und  es  ist  nichts  von 
Belang  daraus  geschlossen.  Folgenreicher  ist  der  zweite  Fehl- 
griff des  Verf.  Er  hat  sich  bei  den  neapolitanischen  Urkunden 
der  ganz  elenden  Nachbildung  in  Gräters  Bragur  bedient,  von 
welcher  man  ohne  Übertreibung  behaupten  kann,  dass  sie  nicht 
einen  einzigen  Buchstaben  genau  und  richtig  darstelle.  Da  das 
schöne  Facsimile  von  Sierakowsky  nicht  in  den  Buchhandel 
gekommen  und  schwer  zu  erlangen  ist,  so  kann  die  Vernach- 
lässigung davon  Hrn.  Prof  B.  nicht  eigentlich  zum  Vorwurf 
gereichen;  allein  Rec.  meint,  dass  Hr.  Prof  B.  das  Alphabet, 
das  Rec.  daraus  in  der  vergleichenden  Tabelle  zu  seinem  Buche 
über  die  Runen  zusammengestellt,  nicht  so  gänzlich  durfte  un- 
berücksichtigt lassen:  der  Widerspruch  mit  der  früheren  Nach- 
bildung konnte  ihm  nicht  entgangen  sein.  Natürlich  irrt  der 
Verf.  fast  in  allen  Behauptungen,  die  sich  auf  die  Gestalt  der 
Buchstaben  in  den  neapolitanischen  Urkunden  gründen.  Nur 
einige  Beispiele.  In  den  neapolitanischen  Urkunden  kommt 
nicht  weniger  als  viermal  und  ganz  deutlich  das  Wort  SKIL- 
LIGGANS  vor,  der  acc.  pl.  von  SKILLIGGS  (Schüling). 
Weil  das  anlautende  S  umgewendet  steht,  so  ist  es  in  der  alten 
Nachbildung  entweder  ganz  ausgelassen  oder  ein  blosser  sinn- 
loser Streich  abgesondert  hingestellt.  Auf  diesem  Wege  er- 
wächst   ein   unerhörtes  Zeichen   für  S   und   das   abenteuerliche 


446    BÄÜMLEIN,  DAS  GRIECHISCHE  UND  DAS  GOTHISCHE  ALPHABET. 

Wort   Killiggans   (im   Bragur    steht   obendrein,    weil    das    aus- 
577  lautende  S  dem  lateinischen  E   gleicht,   Killiggane),   das  unser 
Verfasser    mit   einem   abermaligen    Fehler    „Killigans"    schreibt. 
Man  könnte  zur  Entschuldigung  anführen,  dass  in  der  Urkunde 
von  Arezzo  nach  der  Abbildung  bei  Knittel  das  Wort  ebenfalls 
in  dieser  Form    vorkomme,    aber   auch    diese    Abbildung   ist   so 
schlecht,  dass  kein  Zweifel  übrig  bleibt,  in  dem  Original  stehe 
das  Richtige.     Das  zweite  Beispiel  ist  noch  wichtiger.    Das  U, 
gerade    einer    der   merkwürdigsten   Buchstaben    des    gothischen 
Alphabets,    weil    er    unveränderlich    in    der   Gestalt    der   unten 
oflfenen  Urrune    erscheint,    ist   im  Bragur  geradezu   wie   das   U 
der  lateinischen  Uncialschrift,    d.  h.    unten   geschlossen,   darge- 
stellt: davon  weiss  das  Sierak.  Facsimile  nichts,  wo  nur  häufig 
die    beiden    Striche    oben    nicht   verbunden,    unten   aber  immer 
offen  sind.    Hr.  B.,  seiner  trüben  Quelle  folgend,  sieht  sich  ge- 
nöthigt,  ein  zweites  gothisches,  dem  lateinischen  gleiches  U  an- 
zunehmen, und  zieht  daraus  S.  88 — 90  Folgerungen,  die  natür- 
lich ohne  allen  Grund  sind.  —   Der  letzte  Vorwurf,  den  wir  dem 
Verf.  machen,    hätte  eigentlich  der  erste    sein  sollen:    ihm  sind 
gothische    Denkmäler,     die    gerade    für    seine    Untersuchungen 
wichtig,    ja    unentbehrlich   waren,    unbekannt    geblieben.     Wir 
meinen  drei  verschiedene,  sehr  eigenthümliche  gothische  Alpha- 
bete  mit   besonderen   Benennungen    der    Buchstaben,    gothische 
Fragmente,  gothische  Zahlen,    und  endlich  noch  ein  gothisches 
Alphabet  mit  beigesetzten  Ziffern,  welche  merkwürdigen  Über- 
reste aus  Wiener  und  einer  vaticanischen  Handschrift  Rec.  schon 
im  Jahre  1828  in  den  Wiener  Jahrbüchern  der  Litteratur,  einer 
allgemein  zugänglichen  Zeitschrift*),  in  sorgfältigen  Nachbildungen 
578  bekannt  gemacht  und  erläutert  hat.     Es  gibt   kaum    einen  Satz 
dieser   Abhandlung,    den    der   Verf    nicht  selbst,    wenn    er   mit 
diesen  Quellen  bekannt  gewesen   wäre,    anders   aufgestellt   oder 
völlig  umgeändert  hätte.     Man  wird  dies  an  sich  schon   so  na- 
türlich   finden,    dass   es   genügt,    wenn   wir   ein   einziges    weiter 
nicht  ausgesuchtes  Beispiel   anführen.     Der  Verfasser   legt   Ge- 
wicht darauf,    dass  sich  die  griechische  Form  des  S    zu  Ulfilas 
Zeit  (nämlich  C)  in  dem  gothischen  Alphabet  nicht  finde,  welches 

*)  [Vgl.  den  zweiten  Aufsatz  im  dritten  Band  der  Kl.  Sehr.] 


HARZGEDICHTE  VON  G.  SCHULZE.  447 

also,  schliesst  er,  in  Beziehung  auf  diesen  Buchstaben  nur  mit 
dem  römischen  und  altgriechischen  im  Zusammenhange  stehe: 
indessen  kommt  diese  Form  in  dem  einen  Wiener  Alphabet 
nur  eckig,  wie  sie  aber  auch  im  griechischen  bekannt  war,  vor. 
Wir  können  nicht  umhin,  am  Schlüsse  dieser  Anzeige  unser 
Bedauern  auszudrücken,  dass  die  Gelehrsamkeit  des  Verfassers 
und  die  sichtbare  Liebe  zur  Sache  nicht  den  Erfolg  aehabt 
haben,  den  sie  verdienen. 

Wilh.  Grimm. 


HARZGEDICHTE.  575 

Nach    einer    bessern  Orthographie    geschrieben   und    mit  einem  Wortregister 
versehen  von  G.  Schulze.    Clausthal,  bey  Schweiger  1833.   VI  und  90  S.  in  12. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  I,  58.   59.  Stück,   den    10.  April   1834. 

S.  578— 581.    . 

JL/ie  Bewohner  des  Harzes  gehören  bekanntlich  nicht  zu 
dem  niedersächsischen  Stamme,  der  sie  umgibt,  sondern  sind 
zu  Betreibung  des  Bergbaues  aus  anderen  Gegenden  Deutsch- 
lands herbeigezogen.  Sie  halten  fest  an  den  überlieferten 
Sitten  und  Gebräuchen,  wie  an  der  eigenthümlichen  Mundart- 
weiche entschieden  zu  den  oberdeutschen  gehört.  Die  gelegent, 
lieh  darin  abgefassten  Gedichte  hat  Herr  Schulze  gesammelt  57» 
und  macht  hier  eine  Auswahl  bekannt,  deren  Orthographie  er 
geregelt  und  deren  Verständnis  er  durch  das  beigefügte  Wörter- 
buch erleichtert  hat.  Für  deutsche  Sprachforscher  ist  also  zu- 
nächst dieses  Büchlein  bestimmt,  denen  es  ohne  Zweifel  will- 
kommen sein  wird.  Aber  auch  die  Poesie,  die  darin  herrscht, 
wenn  sie  gleich  nicht  sehr  tief  geht,  ist  gar  nicht  zu  verachten: 
zwar  sind  auch  blosse  Gelegenheitsgedichte  darunter,  die  meisten 
jedoch  enthalten  idyllische  Gemälde  von  dem  häuslichen  Leben 
der  Harzer,  und  Manches  davon,  wie  z.  B.  das  Sonnabends- 
vergnügen wird  auch  jemand,  der  die  Wahrheit  davon  nicht 
aus  Erfahrung  kennt,  gerne  lesen  und  sich  daraus  ein  Bild  von 
einem   lustigen   Abend   der   Bergleute   zusammensetzen  können. 

Die  Mundart  weist  entschieden  nach  Thüringen,   Franken 
und  den  Maingegenden.    Wir  wollen  Einiges  anführen,    a  wird 


448  HARZGEDICHTE  VON  G.  SCHULZE. 

durch  o  ausgedrückt:  voter,  tohk  (Tag),  beklohng  (beklagen); 
ebenso  ä:  schlof,  host,  blosen.  e  durch  a:  lader,  barcmann, 
assen,  baten,  harr,  flahn  (pflegen),  farn,  besahn,  e  durch  ie: 
beschtiehn  (bestehen),  giehn.  ei  durch  ä:  an,  käns,  bade,  nä, 
häm,  äer  (Eier),  mäster,  ränklich.  o  und  6  durch  u:  gruss, 
stuss,  hulen;  luhn,  lus,  tud.  oe  durch  ie  in  bies,  durch  ä  in 
hären,  schänste,  und  durch  e  in  heh.  ou  durch  ä:  fra,  bahm. 
öu  durch  ae:  frähd.  u  vor  r  durch  o:  storm,  dorscht,  worscht, 
forsch  (fürs),  ü  vor  r  durch  e:  ferst;  das  alte  u  ist  in  dunner 
erhalten,     ü  sonst  durch  ie  und  i:    biegel,    miehl,  kienig;   mitz, 

ösokich,  hibsch,  glicklich.  üe  durch  ie:  fiehren,  frieh.  Bei  den 
Consonanten  ist  anzumerken,  dass  die  med.  d,  b,  g  härter  aus- 
gesprochen werden,  aber  doch  nicht  wie  tenues:  nur  das  an- 
lautende g  klingt  vor  einer  liq.  fast  wie  k.  Ebenso  zischt  s 
stärker,  doch  nicht  wie  z;  geschrieben  ist  zaldat,  zallat. 

Auf  jene  oberdeutschen  Mundarten  deuten  die  Kürzungen 
arpt  (Arbeit),  braung  (brauchen),  darkleing  (dergleichen),  flahng 
(pflegen);  rimmer  (umher),  rob  (herab);  die  Zusammenziehungen 
merbleim  (wir  bleiben),  hamersch  (haben  wirs),  gahremer  (gebe 
er  mir),  merwolln;  die  Ausdrücke  ebs,  iwest  (irgend  nur), 
itzuner;  nn  für  nd:  hannein,  anner,  kinnskinner;  die  Partikel 
ter-  vor  dem  Verbum  statt  er-:  terlaubt,  terwischt  (vgl.  Grimm 
Gr.  2,  819).  Auch  der  Infinitiv  auf  a  zeigt  sich:  schreia. 
Gewandlich  ist  eine  fränkische  Diminutivform  (Gramm.  3,  674); 
zusrleich  aber  erscheint  merkwürdigerweise  auch  eine  meklen- 
burgische  und  pommersche  (Gr.  3,  683)  in  breiting  (Bräutigam), 
Rosining,  Katrining.  Sonst  die  oberdeutschen  Diminutive  Dor- 
tel,  Gretel,  Kunradsel,  hemmel  (Hemdlein),  kriekel  (Krüglein), 
liehnel  (kleiner  Lohn),  miesel  (Mäuslein),  presel  (Bröslein,  nicht 
Prieschen,  wie  der  Herausgeber  übersetzt);  guschle  Küsscheu, 
wörtlich  Mäulchen:  gusche,  guschel  ist  in  Franken,  im  Hanaui- 
schen in  vertraulicher  Rede  sehr  gebräuchlich.  Der  Ausruf 
kranket,  plattd.  krankt,  oberdeutsch  kränk  heisst  nichts  Anderes 
als  die  fallende  Sucht.  Alle  riet  wird  auch  im  Hennebergischen 
gesagt  (Reinwald  Idiotikon  2,  104).  Seltsam  ist  die  Redensart 
namm  dei  geripp,  wohlan,  triff"  Anstalten,  besorge  das  Nöthige. 

581  Sollte  sie  aus  dem  Plattdeutschen,  wo  man  sagt:  ik  hebbe  mien 


VRIDANKES  BESCHEIDENHEIT  VON  WILHELM  GRIMM.  449 

geriev,    ich    habe    was   ich   brauche,    das   Nöthige,    ein   einge- 
drungen sein? 

Es  würde  löbhch  sein,  wenn  Herr  Schulze  sich  weiter  mit 
den  Dialekten  des  Harzes  beschäftigen,  dabei  Sagen,  Sitten  und 
Gebräuche,  wie  sie  dort  herrschen,  sammeln  wollte:  die  eigen- 
thümliche  Beschäftigung  wie  die  grossartige  Natur  muss  auf  die 
Gedanken  und  das  geistige  Leben  des  Menschen  entschiedenen 
Einfluss  ausüben.  [anonym.] 


VRIDANKES  BESCHEIDENHEIT  402 

von  Wilhelm  Grimm.     Göttingen.     In  der  Dieterich'sclien  Buchhandlung. 
CXXX  und  438  S.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  I,  41.  42.  43.  4.5.  Stück, 
den  16.  19.  23.  März  1835.  S.  402—424.  445—448. 

xxls  Kaiser  Friedrich  II  nach  langem  Zaudern  endlich 
gegen  den  Willen  des  Papstes  im  Jahre  1228  den  kurzen  aber 
merkwürdigen  Kreuzzug  unternahm,  befand  sich  unter  seinem 
Gefolge  ein  höfischer  Dichter,  den  die  Sehnsucht,  das  heilige 
Grab  zu  sehen,  vielleicht  auch  Vasallenpflicht  bewogen  hatte, 
sich  anzuschliessen.  Nachdem  der  Kaiser,  bei  an  sich  geringen 
Mitteln  und  durch  den  Bannstrahl  des  erzürnten  Papstes 
gelähmt,  einen  in  jedem  Falle  günstigen,  nur  durch  die  seltsam 
verwickelten  Umstände  erklärbaren  Frieden  schnell  und  uner- 
wartet abgeschlossen  hatte,  eilte  er  nach  Jerusalem,  wo  er  die 
neu  erworbene  Krone  sich  selbst  aufs  Haupt  setzte.  Während 
dieser  Abwesenheit  des  Kaisers  verfasste  der  zu  Ackers  oder 
Ptolemais  zurückgebliebene  Dichter,  der  sich  selbst  VRIDANC 
nennt,  ein  Gedicht,  dem  er  den  Titel  BESCHEIDENHEIT 
gab.  Dieses  Wort  bezeichnete  damals  so  viel  als  richtige  Ein- 
sicht und  Beurtheilung  der  Dinge,  also  etwas  ganz  Anderes  als 
was  wir  heutzutage  darunter  verstehen,  so  dass  unsere  modestia 
dabei  nicht  ins  Spiel  kam,  obgleich  man  einsieht,  wie  sie  aus 
jenem  Begriffe  sich  entwickelte,  indem  sie  bilHgerweise  immer 
die  Folge  davon  sein  sollte.  Freidank  gedenkt  der  historischen 
Ereignisse,  von  denen  er  Zeuge  war,  und  sein  Gedicht  ist  auch 

W.  GRIMM,   KL.  SCIiniFTES.     II.  29 


450  VRIDANKES  BESCHEIDENHEIT  VOX  WILHELM  GRIMM. 

in  dieser  Beziehung  dem  Geschichtsforscher  von  Werth:  er 
schildert  Syrien  und  spricht  über  Rom  auf  eine  Weise,  dass 
man  glauben  muss,  er  habe  auf  der  Hinfahrt  dort  verweilt,  denn 

403  seine  Äusserungen  verrathen  eigene  Anschauung.  Indessen 
macht  den  eigentlichen  Haupttheil  seines  Gedichtes,  das  von 
massigem  Umfange  ist  (es  beträgt  in  gegenwärtiger  Gestalt 
noch  nicht  5000  Verse),  eine  Betrachtung  von  dem  geistigen 
Zustande  seiner  Zeit  aus,  ein  Weltspiegel,  in  welchem  die 
verschiedenen  Stände  von  dem  Papste  und  Kaiser  bis  herab  zu 
den  Knechten,  die  öffentlichen  und  häuslichen  Verhältnisse,  der 
religiöse  Glaube,  Tugenden  und  Laster  in  mannigfaltiger  Ab- 
wechselung berührt  und  dargestellt  werden.  Allein  es  sind  nicht 
Aussprüche  individueller  und  einseitiger  Betrachtung  (die  wir 
von  diesem  Dichter  auch  mit  Dank  hinnehmen  würden),  sondern 
die  Ausfüllung  des  Werkes  besteht  grossentheils  aus  den  dem 
ganzen  Volke  zugehörigen  Sprichwörtern,  die  frisch  und  lebendig, 
frei  und  geistreich,  häufig  mit  Anmuth  und  Zierlichkeit  ausge- 
drückt werden.  Wir  besitzen  also  zugleich  eine  Blumenlese  von 
Sprichwörtern,  wie  sie  im  Anfange  des  13.  Jahrhunderts  vor- 
züglich im  südlichen  Deutschland  gäng  und  gäbe  waren,  oder, 
wenn  man  will,  eine  Popularphilosophie,  die  freilich  ohne 
System  und  wissenschaftliche  Consequenz  ist,  aber  doch  von  der 
Einheit  zusammengehalten  wird,  die  in  der  eigenthümlichen  und 
lebensvollen  Bildung  jenes  Zeitalters  lag.  In  der  Einleitung 
habe  ich  untersucht,  ob  und  in  wie  weit  Freidank  etwas  von 
dem  Seinigen  hinzugethan  habe.  Meiner  Ansicht  nach  ist  er 
auch  in  dieser  Hinsicht  auf  die  beste  und  natürlichste  Weise, 
gerade  so  wie  ein  Dichter  muss,  zu  Werke  gegangen,  ich  meine, 
wir  besitzen  zwar  alte  und  älteste  Überlieferung,  allein  der 
Dichter  hat  sie  als  freies  Eigenthum  betrachtet  und  dem  em- 
pfangenen Gedanken  das  Siegel  des  eigenen  Geistes  aufgedrückt. 

Ein    Gedicht    dieses   Art    musste    bei    der    verschiedensten 

404  Gesinnung  Anklang  finden,  und  die  Zeugnisse,  die  ich  zusam- 
mengestellt habe,  bewähren,  in  welchem  Ansehen  es  durch  das 
ganze  13.  Jahrhundert  stand.  Es  wurde  nicht  bloss  gepriesen, 
auch  einzelne  Sprüche  wurden  dorther  geholt.  Hugo  von  Trim- 
berg   am  Schlüsse   des  Jahrhunderts   rühmt  es  dankbar;   Boner 


VRIDANKES   BESCHEIDENHEIT  VON  WILHELM  GRIMM.  45 1 

im  14.  Jahrhundert  verschweigt  die  Quelle.  Fortdauer  durch 
die  folgende  Zeit  beweisen  die  vorhandenen  Papierhandschriften. 
In  dem  16.  Jahrhundert  ward  es  durch  eine  trocken  moralische 
Überarbeitung  von  Sebastian  Brant  der  herrschenden  Gesinnung 
näher  gebracht  und  in  dieser  Gestalt  in  einem  Zeitraum  von 
75  Jahren  nicht  weniger  als  siebenmal  aufgelegt.  In  dem 
nächstvergangenen  Jahrhundert  erkannten  Lessing  und  Herder 
seinen  Werth,  und  der  Abdruck  in  der  Müllerschen  Sammlung 
half  zwar  dem  nächsten  Bedürfnis  ab,  erschwerte  aber  durch 
den  schlechten,  häufig  verderbten  Text  die  Einsicht  in  die 
wahre  Gestalt  und  den  wahren  Werth  des  Werkes.  Dass  die 
gegenwärtige  Ausgabe  dazu  beitrage,  es  wieder  in  seine  alte 
Würde  einzusetzen,  darf  ich  wünschen,  ohne  dieses  Erfolges 
gewiss  zu  sein.  Zwar  bei  den  Kennern  der  altdeutschen 
Litteratur  wird  es  an  Theilnahme  dafür  nicht  fehlen,  und  dies 
genügt  einstweilen,  ob  aber  auch  andere,  welche  das  Mittelalter 
zum  Gegenstande  ihrer  Studien  gemacht  haben  und  wohl  zu 
thun  glauben,  wenn  sie  an  seinen  Denkmälern  vorübergehen, 
sich  mit  einiger  Geneigtheit  zu  dieser  Quelle  herablassen  wollen, 
mag  dahin  gestellt  bleiben  und  lässt  sich  ruhig  erwarten.  Zu 
akademischen  Vorlesungen  scheint  mir  Freidank,  eben  weil  er 
so  unmittelbar  zur  Anschauung  seiner  Zeit  hinleitet,  besonders 
geeignet. 

Es  ist  kein  grosses  Verdienst,  wenn  meine  Bearbeitung  des 
Textes  leidlich  ausgefallen  ist,  es  würde  aber  ein  grosser  Vor- 
wurf daraus  erwachsen,  wenn  sie  ohne  Werth  wäre,  denn  ich 
hatte  bis  auf  zwei  unbedeutende  Handschriften  alle  bekannt  405 
gewordenen  Quellen  und  Hilfsmittel  nach  und  nach  zusammen- 
gebracht, nämlich  ausser  den  wichtigsten  gedruckten  Ausgaben 
des  IG.  Jahrhunderts  achtzehn  Codices,  von  welchen  freilich 
einige  blosse  Bruchstücke  enthielten.  Es  waren  gute  und  sehr 
brauchbare  darunter,  aber  leider  kein  einziger  ausgezeichnet 
treflflicher,  und  in  der  glücklichen  Lage,  der  sich  Lachmann 
bei  der  Herausgabe  des  Parzival,  die  in  aller  Hinsicht  ein 
Muster  bleiben  wird,  erfreute,  befand  ich  mich  nicht.  Die 
Handschriften  theilten  sich  in  vier  Klassen,  wovon  jede  eine 
besondere  Ordnung  in  der  Folge  der  einzelnen  Sprüche  zeigte. 

29. 


452  VRIDANKES  BESCHEIDENHEIT  VON  WILHELM  GRIMM. 

Die  Untersuchung  lehrte,  dass  keine  die  echte  und  ursprüng- 
liche Folge  des  Dichters  bewahrt  hatte  und  alle  zusammen- 
genommen noch  nicht  alles  enthielten,  was  von  dem  Dichter 
ausgegangen  war  (wenn  auch  nichts  Bedeutendes  fehlen  sollte), 
dagegen  hier  und  da  Einmischungen  sich  erkennen  Hessen,  auf 
welche  der  Dichter  keine  Ansprüche  würde  gemacht  haben. 
Es  ergibt  sich  also  schon  hieraus,  dass  mit  mancherlei  Schwie- 
rigkeiten und  Bedenklichkeiten  zu  kämpfen  und  doch  das  letzte 
Ziel  nicht  zu  erreichen  war.  Die  Arbeit  habe  ich  mehrmals 
gegen  meinen  Willen  unterbrechen  und  Jahre  lang  liegen  lassen 
müssen ;  hoffentlich  nicht  zu  ihrem  Nachtheil.  Sie  kostete  mehr 
Mühe  und  zeitraubende  Vorarbeiten,  als  vorauszusehen  war: 
machte  doch  oft  die  Vergleichung  von  zwei  Zeilen  in  allen 
diesen  verschieden  geordneten  Handschriften  mehr  Umstände 
als  bei  anderen  Werken  von  einer  Seite.  Die  Lesarten  habe 
ich  so  vollständig  als  nöthig  war  aufgezeichnet,  es  versteht  sich 
von  selbst,  nicht  blosse  gleichgültige  Abweichungen.  In  der 
Einleitung  glaube  ich  keine  der  Hauptfragen,  wozu  der  Inhalt 
des  Gedichtes  Veranlassung  gibt,  übersehen,  überhaupt  nichts 
406  versäumt  zu  haben ,  um  es  zugänglich  zu  machen ,  denn  auch 
das  Einzelne  ist  in  den  Anmerkungen  besprochen,  und  das 
hinzugegebene  Reimregister  wird  unter  andern  auch  dazu  dienen 
können,  neue  Quellen,  die  in  Zukunft  entdeckt  werden,  bequemer 
und  sicherer  zu  benutzen. 

Widerspruch  erregen  wird  die  freilich  auffallende  Ver- 
muthung,  dass  unter  dem  Namen  Freidank  sich  der  bekannte 
und  berühmte  Walther  von  der  Vogelweide  verborgen  habe. 
Die  Gründe  dafür  scheinen  mir  von  Gewicht,  es  fragt  sich,  ob 
nicht  noch  stärkere  Gegengründe  sich  finden,  welche  die  Wage 
auf  die  andere  Seite  herabziehen?  Zur  Gewissheit  wird  man, 
ohne  ein  neues  entscheidendes  Zeugnis  zu  entdecken,  kaum 
gelangen;  mir  ist  natürlich  nur  daran  gelegen,  dass  die  Wahr- 
heit an  den  Tag  komme,  nicht  dass  ich  Recht  behalte.  Die 
Sache  selbst,  wenn  sie  sich  ausser  Zweifel  setzen  Hesse,  wäre 
in  mehr  als  einer  Beziehung  merkwürdig.  Bereits  habe  ich 
eine  öffentliche  Stimme  darüber  vernommen  und  zwar  in  einem 
durch   geistreiche  Behandlung  und  unbefangenes  Urtheil  ausge- 


VRIDANKES  BESCHEIDENHEIT  VON  WILHELM  GRIMM.  453 

zeichneten  Buche,  in  der  Geschichte  der  poetischen  National- 
litteratur  der  Deutschen  von  Dr  G.  G.  Gervinus  (Leipzig  1835). 
Der  Verf.  erklärt  sich  sehr  entschieden  gegen  meine  Vermuthung; 
ich  will  die  Stelle  aus  der  Vorrede  hierhersetzen,  weil  es  mir 
angemessen  scheint  sie  näher  zu  beleuchten.  „Der  Meinung, 
dass  Walther  der  Dichter  dieser  Sprüche  sei,  hätte  ich  mich 
nicht  anofeschlossen.  Dieser  Dichter  ist  ein  Sammler  und 
borgt;  jene  Zeit  aber  fängt  gerade  jetzt  an  sehr  unverschämt 
zu  borgen;  Sprüche  dazu  und  spruchähnliche  Ansprüche  lassen 
sich  nicht  so  vom  Worte  trennen,  dass  ein  freieres  Borgen 
leicht  möglich  sei.  Wie  sehr  aber  Walther  von  allen  Dichtern 
benutzt  und  ausgeschrieben  ward,  liegt  am  Tage :  keinem  lag 
er  aber  näher  als  dem  Freidank.  Eine  allgemeine  Ähnlichkeit  407 
der  Beurtheilung  setzte  auch  ich  zwischen  Freidank  imd  Walther 
voraus,  man  nehme  hinzu,  dass  beide  in  gleicher  Zeit  lebten 
und  gleiche  Schicksale  theilten,  dass  der  Eine  ein  ganz  pro- 
ductiver  Kopf,  der  Andere  ein  ganz  leidendes  Talent  ist,  so  ist 
das  übergenug,  um  die  grossen  und  kleinen  Ähnlichkeiten  zu 
erklären.  Wie  könnte  sich  ein  solcher  feuriger,  unruhis-thätiger 
Geist  wie  Walther,  der  voll  von  Bildern  einer  rastlosen  Phan- 
tasie ist,  je  in  die  platte  Form  solcher  Lehrdistichen  haben 
zwängen  lassen!  Zwischen  dem,  was  ein  genialer  Dichter  in 
seiner  besten  Zeit  und  was  er  in  Alter  und  Abnahme  vorbringt, 
ist  freilich  oft  ein  himmelweiter  Unterschied.  Allein  wir  be- 
sitzen doch  unstreitig  manches  unter  Walthers  Gedichten,  was 
aus  seinem  hohen  Alter  ist  und  was  immer  toto  coelo  von 
diesem  Freidank  absteht.  Auch  das  Urtheil  des  Herausgebers 
über  Thomasin  wird  niemand  theilen  mögen,  der  das  Grosse 
eines  schöpferischen  Kopfes  der  bloss  passiven  Empfänglichkeit 
vorzuziehen  weiss." 

Dies  alles,  befürchte  ich,  hält  nicht  Stich.  Gleich  die  ein- 
leitende Bemerkung,  dass  man  zu  Freidanks  Zeit  angefangen 
habe  zu  borgen  und  zwar  unverschämt  zu  borgen,  ist  ohne 
Grund.  Nachgeahmt  hat  man  zu  allen  Zeiten;  Wirnt  hatte 
früherhin  sich  den  Hartmann  von  der  Aue  zum  Muster  ge- 
nommen, und  unter  Wolframs  Lieder  hat  sich  eins  eingedrängt, 
das   aus   lauter   von    ihm   erborgten  Gedanken  und  Redensarten 


454  VRIDANKES    BESCHEIDENHEIT  VON  WILHELM  GRIMM. 

zusammengesetzt  ist.  Dergleichen  könnte  auch  in  Freidanks 
Zeit  geschehen  sein,  müsste  aber  doch  erst  nachgewiesen  werden. 
Unverschämt  war  eigentlich  erst  hundert  Jahre  später  Boner, 
der,  ohne  seine  Quelle  zu  nennen,  eine  gute  Anzahl  Sprüche 
aus  Freidank  in  seine  Fabeln  einfügte.  Mehr  Gewicht  legt 
aber  Hr.  Dr  Gervinus    wohl  selbst   auf  die  Behauptung,   dass 

408  gerade  Walther  von  allen  nachfolgenden  Dichtern  sei  ausge- 
schrieben und  benutzt  worden.  Was  Wunder,  wenn  Freidank 
es  nicht  besser  machte  als  die  anderen  alle!  Wie  ungeschickt, 
daraus  für  einen  Einzelnen  etwas  zu  folgern!  Allein  was  so 
deutlich  am  Tage  liegen  soll,  ich  kann  es  nicht  entdecken. 
Wer  hat  Walther  (ich  will  das  in  jedem  Falle  hier  unpassende 
Wort  beibehalten)  ausgeschrieben?  Etwa  Neidhart,  Bruder 
Wernher,  der  Marner,  Rumland,  Boppo  oder  späterhin  Konrad 
von  Würzburg,  die  fürstlichen  Dichter  oder  endlich  Hadloub? 
Ich  finde  es  nicht.  Hr.  Gervinus  nennt  in  dem  Buche  selbst 
den  Reinmar  von  Zweter,  aber  ich  behaupte,  mit  Unrecht; 
Reinmar  hat  in  seinem  Urtheile  und  in  seinen  Ansichten  über 
die  Zeit  Übereinstimmung  mit  Walther,  wie  ich  selbst  bemerkt 
habe,  aber  als  Dichter  eine  ganz  andere  Farbe.  Er  neigt  sich 
schon  herab  zu  dem  trockenen  und  bloss  verständigen  Ausdruck 
der  späteren  Zeit,  steht  aber  sonst  auf  eigenen  Füssen  und  hat 
nichts  aus  Walther  ausgeschrieben:  er  soll  die  Bitterkeit  gegen 
den  Papst  jenem  abgelernt  haben,  als  wenn  wir  sie  nicht  auch 
bei  anderen  Dichtern,  noch  heftiger  bei  den  Troubadours, 
überhaupt  bei  der  gibellinischen  Partei  fanden.  Die  Anklage 
bleibt  also  bloss  auf  Singenberg,  dem  Truchsess  von  St.  Gallen, 
den  Hr.  Gervinus  nicht  nennt,  haften:  von  ihm  ist  es  bekannt, 
dass  er  Walther  nachahmte  (Uhland  60.  111.  155,  Lachmann 
108.  149,  Wackernagel  zu  Simrock  1,  181.  2,  156.  198),  aber, 
wie  es  einem  Schüler,  der  seinen  Meister  anerkennt,  wohl 
erlaubt  ist,  mit  Geschick,  keineswegs  unverschämt  ausschreibend. 
Was  soll  dies  eine  Beispiel,  oder,  wenn  Hr.  Gervinus  bei  seiner 
Ansicht  von  Reinmar  beharren  will,  was  sollen  zwei  für  seine 
Behauptung  beweisen? 

409  Weiter  erklärt  sich  mein  Gegner  die  grossen  und  kleinen 
Ähnlichkeiten    zwischen    Walther    und    Freidank    durch     ihre 


VRIDAXKES  BESCHEIDENHEIT  VON  WILHELM  GRI»rM.  455 

Gleichzeitigkeit  und  gleiche  Schicksale.  Sind  es  zwei  verschie- 
dene Dichter,  so  sind  sie  in  dem  Verhältnis,  von  welchem  hier 
nur  die  Rede  sein  kann,  nicht  als  s^leichzeitige  zu  betrachten, 
denn  Freidank  hat  erst  gedichtet,  als  Walther  an  dem  Ende 
seiner  Laufbahn  war,  oder  man  müsste  dann  auch  Heinrich 
von  Veldeke  oder  gar  den  Pfaffen  Konrad  für  einen  Zeitgenossen 
von  Walther  erklären.  Von  einem  gleichen  Schicksal  aber  weiss 
niemand  etwas.  Wer  sagt  uns,  dass  Freidank  wie  Walther  an 
den  Höfen  der  Fürsten  umhergezogen  sei  und  das  Leben  eines 
wandernden  Sänsrers  geftihrt  habe,  das  von  so  crrossem  Einfluss 
auf  seine  Gedichte  sein  musste?  Das  einzige  Gemeinschaftliche, 
die  Anwesenheit  Walthers  bei  dem  Kreuzzuge,  wird  von  Lach-  410 
mann  sogar  bezweifelt.  Die  Behauptung,  dass  Freidank  der 
Natur  der  Sache  nach  wörthch  habe  borgen  müssen,  beweist, 
.dass  Hr.  Gervinus  die  Ähnlichkeit  mit  Walther  selbst  nicht 
näher  berücksichtigt  hat.  Warum  sollte  Freidank,  der  bei 
bibUschen  Stellen  sogar  Zusätze  und  Änderungen  sich  erlaubte, 
bei  einem  anderen  Dichter  sich  dieses  Rechts  begeben  haben? 
Gibt  es  doch  eine  nicht  geringe  Anzahl  Sprichwörter  bei 
anderen,  mit  welchen  Freidank  völlig  dem  Inhalte  aber  nicht 
den  Worten  nach  übereinkommt;  zudem,  und  das  ist  ein 
Hauptpunkt,  besteht  ein  grosser  Theil  der  Übereinstimmung  mit 
Walther  gar  nicht  in  Sprichwörtern,  sondern  in  zufälligen 
Redensarten  und  Ausdrücken,  welche  ebenso  gut  durch  andere 
konnten  ersetzt  werden.  Vor  einem  blossen  Hauche  von  oben, 
glaube  ich,  schmelzen  meine  Gründe  nicht  gleich  zusammen. 
Allein  Walthers  Geist,  wie  wir  ihn  aus  seinen  Liedern  kennen, 
zeigt  er  sich  auch  in  Freidanks  Werk?  Ich  lasse  den  Ein- 
wurf gelten,  ich  habe  mir  ihn  selbst  gemacht,  aber  durch  die 
Bemerkung  beseitigt,  dass  strophische  Gedichte  mit  reicher 
Bewegung  keinen  Schluss  auf  ein  Gedicht  in  kurzen  einfachen 
Reimen  erlauben.  Der  Unterschied  zwischen  Walther  und 
Freidank  ist  verhältnismässig  nicht  grösser  als  zwischen  den 
Liedern  von  Heinrich  von  Veldeke,  Wolfram,  Gotfried  von 
Strassburg  und  ihren  erzählenden  Gedichten;  in  Lichtensteins 
Frauendienst  ist  der  Gegensatz  sogar  noch  stärker.  Mein 
Gegner   hält   es  für  unmöglich ,   dass  ein  feurig  -  thätiger  Geist 


456  VRIDANKES  BESCHEIDENHEIT  VON  WILHELM  GRIMM. 

wie  Walther  sich  in  die  platte  Form  von  Lehrdistichen  habe 
zwängen  lassen.  Platt  ist  eine  ungewöhnliche  und  seltsame 
Bezeichnung  für  die  Einfachheit,  wie  sie  Sprüchen  angemessen 

411  und  natürlich  ist,  in  welchen  gleichwohl  grosse  Geister  sich 
auszudrücken  nicht  verschmähten.  Bei  Walther  selbst  findet 
sich  ein  Spruchgedicht  (87.  88),  wovon  ein  Paar  Zeilen  bei 
Freidank  wieder  erscheinen,  welches  mit  einer  etvs^as  mühsamen 
Künstelei  auszuzieren  der  Geist,  so  feurig  er  sonst  war,  gerade 
hier  Gefallen  trug.  Aber  auch  bei  Dichtern,  denen  man  wohl 
eine  noch  grössere  Glut  der  Phantasie  beilegen  darf,  begegnet 
man  gnomologischen  Stellen,  die  ohne  Abänderung  einen  Platz 
in  Freidanks  Werk  einnehmen  könnten,  z.  B.  die  Lehren,  die 
Parzifal  von  seiner  Mutter  (127,  15 — 128,  2)  und  Gurnemanz 
(170,  15  —  173,  6)  oder  die  Tristan  von  Marke  (8400  —  8431 
Groote)  empfangt;  auch  in  der  Eneide  steht  (9711 — 28)  Einiges 
der  Art.  Allein,  wird  Hr.  Gervinus  erwidern,  diese  Dichter 
brachten  gelegentlich  bei  schicklicher  Veranlassung  Sprichwörter 
vor,  dagegen  ist  Freidank  nichts  als  ein  Sammler,  dessen  ganz 
leidendes  Talent  aller  Productionskraft  ermangelt.  Dieser  Ein- 
wurf gründet  sich  auf  eine  irrige  Voraussetzung.  Freidank  hat 
nicht  daran  gedacht,  Sprichwörter  zu  sammeln:  das  wäre  eine 
dürftige  Sammlung  zu  nennen,  die  bei  der  geringsten  Sorgfalt 
leicht  zehnfach  grösser  hätte  ausfallen  können;  beträgt  doch, 
was  ich  bloss  bei  anderen  Dichtern  jener  Zeit  gefunden  habe 
und  bei  Freidank  fehlt,  leicht  ebenso  viel  als  was  in  seinem 
Werke  vorkommt;  endlich,  wie  ungeschickt  wäre  die  Ein- 
mischung religiöser  und  historischer  Betrachtungen,  die  gar 
nichts  mit  Sprichwörtern  gemein  haben,  in  eine  solche  Samm- 
lung gewesen.  Seinem  Werke  lag,  ich  glaube  das  bewiesen  zu 
haben,  ein  Plan  zu  Grunde,  zu  dessen  geistreicher  Ausführung 
er   die   ihm   bekannten  Sprichwörter   verwendete.      Er  hatte  sie 

412  gesammelt  und  erworben,  nicht  anders  als  man  etwa  Rechts- 
sprüche, Sagen,  Volkspoesie,  ja  den  Reichthum  der  Mutter- 
sprache überhaupt  erwirbt:  ich  meine,  wer  dafür  empfanglich 
ist,  dem  fallen  diese  Dinge  im  Leben  von  selbst  zu.  Er  war 
also  zunächst  seine  eigene  Quelle,  und  was  er  vorbringt,  darf 
als   sein   Eigenthum   gelten.     Wie   viel  oder  wie   wenig  selbst- 


VRIDANKES  BESCHEIDENHEIT  VON  WILHELM  GRIMM.  457 

schöpferische  Kraft    man   dem    Dichter    in   diesem    Verhältnisse 
beilegen  will,  lasse  ich  dahingestellt  sein. 

Was  Hr.  Gervinus  dem  Freidank  abspricht,  Geist  und  Ori- 
ginalität, das  ertheilt  er  mit  vollen  Händen  einem  anderen,  etwas 
früheren  Dichter,  dem  Thomasin  aus  Friaul,  der  ein  ähnliches, 
nur  viel  grösseres  Werk  schrieb.  Sein  welscher  Gast  ist  einer 
von  den  vorragenden  Lichtpunkten,  an  welchen  Hr.  Gervinus  die 
Geschichte  der  deutschen  Poesie  entwickelt.  Da  ich  in  der 
Einleitung  zu  Freidank  CXVH  ein  abstechendes,  meinem  Gegner 
sehr  missfälliges  Urtheil  über  Thomasin  geäussert  habe,  so  will 
ich  mich  zur  Begründung  desselben  über  diesen  noch  wenig 
gekannten  Dichter  hier  etwas  ausführlicher  äussern.  Thomasin 
ist  ein  unterrichteter,  für  seine  Zeit  sogar  gelehrter  Mann,  der 
an  der  Betrachtung  der  Vergangenheit  und  Gegenwart  Gefallen 
findet.  Ihm  ist  die  griechische  und  römische,  überhaupt  die 
alte  Geschichte  nicht  fremd:  er  weiss  nicht  bloss  von  Plato, 
Aristoteles  und  Socrates,  er  nennt  auch  andere  griechische  Phi- 
losophen (Bl.  JOO,  ich  eitlere  nach  der  pfälz.  Pergamenthand- 
schrift No.  389,  von  der  ich  eine  Abschrift  genommen  habe), 
ja  er  liefert  ein  Register  von  den  griechischen  Schriftstellern 
(Bl.  139),  die  sich  in  den  bekannten  sieben  Künsten  ausgezeichnet 
haben.  Vielleicht  hat  er  ausserdem  juristische  Kenntnisse  be- 
sessen, denn  er  sagt  (Bl.  142*):  daz  wir  decret  und  leges  hören, 
kumt  dick  da  von  daz  wir  die  tören  mugen  effen  deste  baz.  413 
Kenntnisse  sich  zu  erwerben  sieht  er  bei  Männern  für  ebenso 
noth wendig  au,  als  bei  Frauen  feine  Sitten  (IS"*.  lA").  Alexander 
hat  seine  Erfolge  bloss  dem  Unterricht  des  Aristoteles  zu  danken 
(101''),  er  was  der  schrift  gelert,  wie  Julius  Caesar,  der  das 
römische  Reich  sich  unterwarf  (143).  Deshalb  sieht  auch  Tho- 
masin auf  die  Ungelehrten  herab:  gern  möchte  er  ihnen  das 
Verhältnis  der  Wissenschaften  auseinandersetzen  (143''),  ez  möht 
ave  niht  gezemen,  den  diez  niht  kunnen  vememen;  tc-et  ichz 
min  rede  wajr  unwert,  die  der  buoche  sint  ungelert.  Sein 
oberistez  guot  (89'')  ist  eine  Übersetzung  von  summum  bonum: 
ein  Deutscher  würde,  glaube  ich,  hoehstez  guot  gesagt  haben; 
die  vier  Kräfte,  welchen  alle  Weisheit  und  Tugend  dient,  haben 
noch  ihre   lateinische  Benennung  beibehalten,  imaginatio,  ratio, 


458  VRIDANKES  BESCHEIDENHEIT  VON  WILHELM  GRIMM. 

memoria,  intellectus.  War  Freidank  ein  Mann  wie  Walther 
oder  war  er  Walther  selbst,  so  hat  er  wenig  Müsse  gehabt  in 
Büchern  zu  lesen,  wenn  er  überhaupt  lesen  konnte:  er  suchte 
seine  Weisheit  im  Leben  und  bei  dem  Volke;  ich  finde  nicht, 
dass  er  sagt:  ich  hän  gelesen,  aber  wohl:  jehent  diu  kint,  wie 
andere:  jehent  die  wisen  oder  min  vater  sagete  mir  daz.  Tho- 
masin dagegen  rühmt  sich  oft  seiner  Leetüre,  ich  hän  gelesen 
unt  vernomen  (11 7\  120'\  130\  162^  210"),  oder  ich'  hän  ge- 
hoeret  und  gelesen  (3*.  49*.  12P).  Man  weiss,  dass  die  Dichter 
jener  Zeit  mit  der  Feder  umzugehen  nicht  verstanden,  Thomasin 
dagegen  hält  am  Eingange  des  9.  Buches  (187 — 189)  eine  lange 
Unterredung  mit  der  seinigen,  die  ihn  bittet,  ihr  von  der  An- 
strengung acht  Monate  hindurch  Tag  und  Nacht  einige  Ruhe 
und  Erholung  zu  gönnen.  Was  man  von  dem  Werke  zu  er- 
4ld  warten  hat,  lässt  sich  aus  dem  Gesagten  schon  abnehmen,  es  ist 
der  Ertrag  seiner  Studien.  Er  sagt  das  zum  Überfluss  selbst 
am  Eingange  mit  klaren  und  deutlichen  Worten:  Swaz  er  (der 
Dichter)  spricht,  er  hat  ez  niht  genomen  von  weihischer  schrift, 
doch  ist  der  ein  guoter  zimberman,  der  in  sime  werke  kan  stein 
und  holz  legen  wol  da  erz  von  rehte  legen  sol.  daz  ist  un- 
tugende  niht,  ob  ouch  mir  lihte  geschiht  daz  ich  in  mins  ge- 
tihtes  want  ein  holz,  daz  ein  ander  haut  gemeistert  habe,  lege 
mit  dem  list,  daz  ez  gelich  dem  andern  ist.  Da  von  sprach  ein 
wise  man:  „swer  gevüegelichen  kan  setzen  in  sime  getihte  ein 
rede,  dier  machet  nihte,  der  hat  also  vil  getan  (da  zwtvelt  nihts 
niht  an)  als  der  vor  im  erste  vant;  der  funt  ist  worden  sin 
zehant."  Ez  ist  in  minem  willen  wol,  daz  man  sin  rede  stsetigen 
sol  mit  ander  frumer  liute  lere:  niemen  versmäher;  daz  ist  ere. 
Zu  dem,  was  er  aus  anderen  geschöpft  hat,  fügt  er  eigene  Be- 
trachtungen, Beziehungen  auf  die  Ereignisse  seiner  Zeit,  man- 
cherlei Redensarten  und  Sprichwörter  aus  dem  Volke:  was  er 
mit  Freidank  gemein  hat,  habe  ich  in  der  Einleitung  und  in 
den  Anmerkungen  angeführt,  die  Abfassung  ist  bei  Freidank 
immer  verschieden,  und  er  hat.Thomasins  Werk,  das  dreizehn 
Jahre  früher  beendigt  wurde,  offenbar  nicht  gekannt.  Ohne 
Zweifel  ist  der  welsche  Gast  in  mehr  als  einer  Beziehung  für 
die  Kenntnis  jener  Zeit,   vielleicht  auch  für  die  Geschichte  der 


VRIDANKES  BESCHEIDENHEIT  VON  WILHELM  GRIMM.  459 

Philosophie  von  Werth  und  verdiente  gedruckt  zu  werden,  nur 
hat  eine  kritische  Ausgabe  grosse  Schwierigkeiten  i).  Was  aber  415 
den  inneren  unabhängigen  Werth  betriffi,  so  muss  ich  meinem 
früheren  Urtheile  treu  bleiben:  Thomasin  ist  ein  verständiger, 
wohlmeinender,  praktischer  Mann,  der  nur  einmal  bei  dem  un- 
barmherzigen Spott  über  die  grausamen  Strafen  der  Ketzer 
strauchelt,  sonst  überall  eine  ehrenwerthe  menschliche  Gesinnung 
zeigt:  aber  ich  kann  bei  ihm  weder  besondere  Tiefe  der  Be- 
trachtung noch  Originalität  der  Gedanken  oder  frische  und  be- 
lebte Rede  finden.  Spräche  ein  genialer  Geist  zu  uns,  irgend- 
wo müsste  er  durchbrechen,  wenn  ich  auch  zugebe,  dass  man, 
von  dem  Gitterwerk  eines  Systems  befangen  oder  von  dem  Ge- 
wicht sittlicher  Ideen  bewegt,  wenig  um  den  Ausdruck  sich  be- 
kümmert. Mich  weht  Stubenluft  aus  dem  Gedichte  an:  wo  es 
etwas  lebendiorer  wird,  hat  es  sicher  volksmässisre  Grundlaore. 
Die  Gedanken  wollen  nicht  fortschreiten:  Thomasin  hat  eine 
eigene  Liebhaberei  an  der  Wiederholung  und  kann,  was  er  ein- 
mal gefasst  hat,  nicht  wieder  los  werden,  z.  B.  den  sehr  massigen 
Witz  über  den  halben  Adler  Ottos  (das  Schildzeichen  der 
sächsischen  Herzöge),  welcher  nicht  fliegen  könne,  holt  er,  nach- 
dem er  in  aller  Breite  ist  abgehandelt  worden,  im  vorletzten 
Buche  nochmals  herbei.  Besonders  geschickt  ist  er  mit  geringer  4i6 
Veränderung  des  Standpunktes,  das  eben  Gesagte  noch  einmal, 
ohne  uns  das  Geringste  zu  schenken,  vorüberziehen  zu  lassen. 
Er  gehört  zu  den  Schriftstellern,  die  sich  in  einem  Auszuge, 
der  das  Beste  auswählt  und  zusammendrängt,  viel  erträglicher 
ausnehmen  als  in  dem  Original.     Wie   ganz    anders  weiss  Ber- 


*)  Es  ist  nur  eine  Handschrift  aus  dem  13.  Jahrhundert  bekannt,  die 
pfälzische  No.  389;  sie  ist  alt  und  deshalb  der  Berücksichtigung  werth,  aber 
man  kann  sie  durchaus  nicht  eine  gute  nennen.  Die  Sprachformen  sind  durch 
Einführung  einer  Mundart  entstellt,  und  die  häufige  Verwilderung  des  Metrums 
erweckt  geringes  Vertrauen.  Ich  besitze  ein  Blatt  aus  einer  etwas  jüngeren 
Handschrift,  die  häufig  und  fast  immer,  wo  sie  abweicht,  bessere  Lesarten 
zeigt.  Die  pfälzische  ist  ausserdem  unvollständig,  es  fehlen  mehrmals  kleinere 
und  grössere  Stellen  von  50 — 80  Zeilen.  Wie  weit  man  mit  den  nicht  seltenen 
Papierhandschriften  kommt,  weiss  jeder;  die,  welche  unsere  Bibliothek  besitzt, 
enthält  einen  schon  überarbeiteten  Text;  brauchbarer  ist  eine  zu  Dresden  aus 
Gottscheds  Nachlass,  die  ich  verglichen  habe. 


460  VRIDANKES  BESCUEIDENHEIT  VON  WILHELM  GRIMM. 

thold  in  seinen  Predigten,  wenn  er  Tugenden  und  Laster 
schildert,  mit  feuriger  Rede  die  Zuhörer  zu  ergreifen  und  zu 
bewegen. 

Das  Ganze  besteht  aus  zehn  Büchern.  Das  erste  enthält 
gleichsam  als  Einleitung  allerlei  Regeln  für  das  gesellige  Leben, 
wie  man  zu  Pferde  sitzen  soll,  bei  Tische  sich  betragen,  handelt 
dann  von  der  Minne  und  gibt  sehr  vernünftige  Lehren,  wo- 
durch wir  manche  willkommene  Aufklärung  über  die  Sitten  der 
Zeit  gewinnen.  Buch  9  und  10  enthalten  ähnlicherweise  nach 
Beendigung  des  Hauptwerks  einen  Anhang;  in  dem  9.  Buche 
wird  zumeist  über  das  Richteramt,  weltliches  und  geistliches 
Gericht,  geredet.  Ich  will  hier,  wo  Thomasin  gewiss  eigene  Be- 
trachtungen anstellt,  ein  kurzes  Beispiel  seiner  Art  und  Weise 
zu  philosophieren  geben.  Indem  er  einen  Herrn  belehren  will, 
wie  man  guten  Rath  beachte,  empfiehlt  er  ihm  dreierlei  zur 
Berücksichtigung  und  führt  aus  erstlich,  dass  er  vernehme,  was 
man  ihm  rathe ;  zweitens,  dass  er  beurtheile,  wer  ihm  am  besten 
gerathen  habe;  drittens,  dass  er  schnell  einen  Entschluss  fasse, 
was  er  nun  thun  wolle.  Zu  diesen  sehr  gewöhnlichen  Gedanken 
fügt  er  ein  ungewöhnliches,  aber  nicht  glückliches  Gleichnis. 
Auf  diese  Weise  nämlich  solle  der  Herr  den  Löwen  nachahmen, 
der  nach  seiner  Geburt  drei  Tage  schlafe,  am  dritten  aber  er- 
417  wache.  Das  letzte  Buch  enthält  in  ähnlichem  breitem  Stil  wohl- 
gemeinte Lehren  über  Freigebigkeit  und  Geiz  (das  heisst  näm- 
lich milde  und  erge,  nicht  Milde  und  Argheit,  wie  Hr.  Gervinus 
übersetzt),  obgleich  dieser  Gegenstand  schon  früher  zur  Genüge 
erörtert  war.  Das  eigentliche  System,  wenn  man  es  so  nennen 
will,  erfüllt  Buch  2 — 8.  Es  ist  bekanntlich  kein  grosses  Kunst- 
stück, aus  einer  Tugend  alle  übrigen  abzuleiten,  aber  den  Ge- 
danken, die  Beharrlichkeit  (staete,  staetekeit)  oben  hinzustellen 
und  die  Unveränderlichkeit  in  dem  Leben  der  Thiere  und 
Pflanzen  und  den  Bewegungen  der  Planeten  der  sündhaften 
Veränderlichkeit  des  menschlichen  Geistes  entgegenzusetzen,  wie 
Thomasin  thut,  kann  man  weder  glücklich  noch  tiefsinnig  nennen. 
Ich  lasse  unerörtert,  ob  das  eigene  Erfindung  von  ihm  ist  oder 
er  dieses  höchste  Princip  von  anderen  angenommen  hat.  Adam 
fiel  durch  unstsetekeit  (^O*"),  und  so  ist  es  weiter  nicht  schwer, 


VEIDANKES  BESCHEIDENHEIT  VON  WILHELM  GRIMM.  461 

alle  übrigen  Untugenden  davon  ausgehen  zu  lassen  und  an 
diesen  Faden  jeden  Einfall  und  jede  moralische  Bemerkung  zu 
knüpfen:  umgekehrt  ist  dann  (68)  die  staste  aller  tugende  rät- 
webinne,  aller  grüete  ervollunge.  Hr.  Gervinus  sieht  freilich  in 
dieser  Anmahuung  zur  Beharrlichkeit  einen  nothwendig  durch 
die  Zeit  hervorgerufenen  Gegensatz  zu  der  Zerfahrenheit  in  der 
Lebensansicht,  welche  in  den  Gedichten  der  höfischen  Dichter 
sich  darthut.  Ich  kann  aber  nirgends  eine  nähere  Beziehung 
darauf  entdecken:  Thomasin  handelt  die  abstracten  Tugenden 
und  Laster  ab,  die  in  jedem  Compendium  der  Moral  ihren 
Platz  haben,  und  nimmt  die  Beispiele  zu  letzteren  nicht  aus 
jenen  Gedichten,  wohl  aber  öfter  aus  der  alten  Geschichte  und 
aus  dem  Leben  aller  Stände,  der  Fürsten,  Geistlichen,  Ritter,  418 
Handwerksleute,  Bauern,  an  welche  insgesammt  seine  löblichen 
Ermahnungen  auch  gerichtet  sind;  zudem  glaube  ich,  dass  die 
Philosophie,  welche  die  höfischen  Dichter  entwickeln,  zumal  bei 
der  grossen  Verschiedenheit  unter  sich,  nicht  als  etwas  Gemein- 
gültiges oder  nur  einigermassen  in  der  Nation  Verbreitetes  kann 
betrachtet  werden:  ist  doch  das  volksmässige  Epos,  selbst  in 
seinen  in  der  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  erst  entstandenen  Bil- 
dungen, niemals  davon  berührt  worden.  Hr.  Gervinus  möchte 
dem  Thomasin  deshalb  auch  gerne  einige  Abneigung  gegen 
ihre  Werke  beilegen,  allein  wir  finden  bei  ihm  nur  die  zu  allen 
Zeiten  und  gewiss  auch  damals  nicht  seltene,  blosser  Ver- 
ständigkeit so  natürliche  Ansicht,  wonach  die  Poesie  nichts  als 
eine  herausgeputzte  Lüge  ist.  Er  ertheilt  daher  den  guten 
Rath,  wenn  man  zu  Verstand  gekommen  sei,  sich  nicht  weiter 
mit  den  Abenteuern  der  Dichter  zu  befassen,  welche  durch  ihre 
Einkleidung  der  Wahrheit  in  Lüge  nur  dienlich  seien,  den  Geist 
vorzubereiten,  und  bloss  ein  Abbild  des  Menschen,  nicht  den 
Menschen  selbst  darstellten.  Ich  glaube,  diese  nüchterne  An- 
sicht hat  der  gute  Thomasin  nicht  bloss  von  den  höfischen 
Dichtern  seiner  Zeit,  sondern  von  allen  epischen  Dichtern  über- 
haupt gehegt,  deren  Werke  er  etwa  nicht  für  historische  Wahr- 
heit nahm.  Ihr  eigentlicher  Gegner  aus  einem  tieferen  Grunde 
ist  er  nicht,  so  wenig  als  Freidank  ein  Gegner  von  Marolts 
Parodie  der  Salomonischen  Weisheit,  dessen  Worte  Hr.  Gervinus 


462  VRIDANKES  BESCHEIDENHEIT  VON    WILHELM  GRIMM. 

unrichtig  verstanden  hat:  Freidank  sagt  nichts  Anderes  als:  Marolt 
verwandelte  (verkerte)  die  Weisheit  Salomons  in  das  Entgegen- 
gesetzte, d.  h.  parodierte  sie,  ohne  im  Geringsten  sein  Missfallen 
darüber  zu  äussern. 

419  Wäre  Thomasins  welscher  Gast  ein  solches  leuchtendes, 
Epoche  machendes  Gedicht,  wie  Hr.  Dr  Gervinus  glaubt,  so 
bleibt  es  unbegreiflich,  wie  das  13.  Jahrhundert  so  gleichgültig 
daran  vorübergehen  oder  vielmehr  gar  keine  Notiz  davon  nehmen 
konnte.  Freidank,  der  es  doch  billig  hätte  kennen  sollen,  weiss, 
wie  schon  gesagt,  nichts  von  ihm,  aber  ich  erinnere  mich  auch 
nicht,  bei  einem  einzigen  Dichter  jenes  Zeitraums  eine  Er- 
wähnung oder  Hindeutung  gefunden  zu  haben.  Nicht  einmal 
der  belesene  Hugo  von  Trimberg  am  Ende  des  Jahrhunderts 
hat  es  gekannt,  wenigstens  nicht  nach  den  Handschriften,  die  ich 
eingesehen  habe.  Selbst  der  Mangel  an  Codd.  des  welschen 
Gastes  aus  jener  Zeit  scheint  mir  daher  nicht  zufallig.  Wir 
sollen  uns  zwar  von  dem  damaligen  Urtheile  nicht  imponieren, 
es  aber  auch  nicht  unbeachtet  lassen;  nicht  leicht  hat  ein  aus 
der  Mitte  der  Gesinnung  eines  Volkes  hervorgegangenes  Werk, 
wie  Hr.  Gervinus  den  welschen  Gast  charakterisiert,  völlige 
Gleichgültigkeit  erfahren.  Die  vorhandenen  Papierhandschriften 
zeigen,  zu  welcher  Zeit  man  es  hervorgesucht  hatte.  Püterich 
also  kennt  es  und  Diebold  Louber,  der  in  der  Mitte  des  15.  Jahr- 
hunderts zu  Hagenau  Abschriften  von  Gedichten  verfertigte, 
nennt  es  unter  denen,  die  käuflich  bei  ihm  zu  haben  sind  („item 
diu  himelsträze  genant  der  welsche  gast" ;  dieser  Titel  ist  passend, 
ich  weiss  nicht,  ob  er  alt  ist).  Mit  Freidank  war  es  anders, 
und  die  Achtung,  in  welcher  er  stand  und  welche  durchaus 
nicht  von  dem  Bürgerthum  abhieng,  beweist  auch  für  jemand, 
der  ihn  weniger  schätzt,  dass  es  an  Sinn  für  Gedichte  dieser 
Art   nicht  fehlte.      Kann   ich  also   in  Hrn.  Dr  Gervinus  Urtheil 

420  über  beide  Dichter  nur  einen  Missgriff  sehen,  so  fällt  mir  doch 
nicht  ein,  ihm  deshalb  die  Fähigkeit  abzusprechen,  ein  originelles, 
frisch  aus  dem  Leben  geschöpftes  Werk  von  einem  durch  Studium 
und  Leetüre  erworbenen  zu  unterscheiden. 

Ebenso    kann    ich    einer    allgemeinen    geschichtlichen    Be- 
merkung,  die   er  in  Beziehung  auf  beide  Dichter  macht,   nicht 


VRIDANKES    BESCHEIDENHEIT  VON  WILHELM  GRIMM.  463 

beitreten.  Er  findet  bei  ihnen  das  eben  auftauchende  bürger- 
liche Element.  Indessen  besorge  ich,  muss  er  sich  dabei  bloss 
auf  die  Nothwendigkeit  stützen,  die  aus  seiner  Ansicht  hervor- 
geht; die  Denkmäler  selbst  fügen  sich  dieser  Annahme  nicht. 
Dass  moralische  Gedichte  schon  dem  12.  Jahrhundert  nicht 
fremd  waren,  beweist  ein  Bruchstück,  welches  Docen  in  Mass- 
manns Denkmälern  bekannt  gemacht  hat,  ferner  das  noch  un- 
gedruckte (nach  1173  verfasste)  Gedicht  von  der  heiligen  Veronica, 
das  meist  aus  sittlichen  Betrachtungen  besteht.  Da  ich  die 
Stellen,  worin  Freidank  sich  zu  Gunsten  des  Adels  äussert,  in 
der  Einleitung  zusammengestellt  habe  und,  wenn  er  Walther 
ist,  gar  über  seinen  Stand  kein  Zweifel  sein  kann,  so  habe  ich 
nur  zu  zeigen,  dass  auch  Thomasin  kein  Gegner  des  Adels 
war.  Es  ist  nicht  zu  erwarten,  da  er  selbst  dazu  gehörte.  Be- 
SHSsen  wir  sein  welsches  Buch  über  höfisches  Leben  und  höfische 
Sitten,  so  würden  wir  wohl  aus  den  Belehrungen,  die  es  ent- 
hielt, seine  Anhänglichkeit  an  das  Ritterthum  abnehmen  können. 
Allein  sie  spricht  sich  schon  hinlänglich  im  welschen  Gaste 
aus.  „Wenn  die  unadelichen  Jünglinge  (die  unedelen  kint),  sagt 
er  (Bl.  6*^),  auch  an  Höfe  kommen,  so  lernen  sie  doch  nicht 
feine  Sitten:  sie  achten  nur  auf  das  Böse,  nicht  auf  das  Gute", 
und  das  bekräftigt  er  mit  einem  sehr  deutschen  Sprichwort:  421 
ich  wil  iu  sagen  daz  der  ber  wirt  nieraer  guot  singer.  Weiter 
sagt  er :  ich  wil  ouch  daz  miniu  kint,  diu  von  adel  komen  sint, 
handeln  ir  gesellen  wol.  ein  ieglich  edel  kint  sol  mit  werken 
unt  mit  muote  sime  gesellen  tuon  ze  guote.  Anderwärts  beklagt 
er  sich  über  einen  Ritter  (173),  im  sult  hern  Keii  volgen  niht, 
von  dem  mir  vil  unwirde  geschiht,  der  tuot  mir  allenthalben 
not.  ja  ist  Keii  noh  niht  tot,  und  hat  darzuo  erben  vil.  Auf 
die  Ansicht  und  das  Sprichwort,  dass  der  Adel  in  der  Tüchtig- 
keit bestehe,  bei  Thomasin  wie  bei  Freidank,  sollte  mein  Gegner 
kein  Gewicht  legen,  dem  geringsten  unbefangenen  Nachdenken 
kann  diese  Betrachtung  nicht  entgehen;  sie  findet  sich  schon 
bei  Juvenal,  aber  auch  bei  dem  ganz  ritterlichen  Winsbeke  und 
anderen  Dichtern  des  13.  Jahrhunderts  (vgl.  Einl.  z.  Freidank 
XCII.  XCIII.  CV'I)  und  erlaubt  durchaus  keinen  Schluss  auf 
eine  besondere  Stimmung  oder  irgend  einen  Gegensatz. 


464  VRIDANKES  BESCHEIDENHEIT  VON  WILHELM  GRIMM. 

Endlich  gibt  Freidank  Hrn.  Gervinus  Veranlassung  zu  all- 
gemeinen Bemerkungen  über  das  deutsche  Sprichwort.  Er  stellt 
es  dem  griechischen  gegenüber,  als  dessen  Grundzug  er  Selbst- 
erkenntnis, Mass  und  Besonnenheit  im  Wandel  bezeichnet, 
während  der  Deutsche,  der  sich  bloss  durch  die  Menschen 
durchschlagen  wolle,  nur  daran  denke,  in  dem  Sprichwort 
Lebensklugheit  zu  lehren.  Ein  solcher  Gegensatz,  der  mit  der 
Nadelspitze  den  Punkt  bezeichnet,  aus  welchem  sich  das  Ver- 
ständnis eröflfnet,  ist  freilich  willkommen,  weil  man  damit  so 
leicht  die  Masse  bewältigt.  Könnte  ich  nur  mehr  als  einen 
422  blossen  Einfall  darin  sehen.  Lebensklugheit  wird  freilich  auch 
in  deutschen  Sprichwörtern  gelehrt,  wiewohl  bei  allen  Völkern, 
die  Griechen  nicht  ausgeschlossen,  aber  es  ist  in  keiner  Weise 
das  Eigenthümliche  derselben,  ja  sie  scheint  mir  insofern  gar 
nicht  im  deutschen  Charakter  zu  liegen,  als  man  Behendigkeit 
den  Augenblick  zu  benutzen  darunter  versteht:  eher  dürfte  man 
sie  in  französischen  Sprichwörtern  erwarten.  Sollte  der  Deutsche 
die  ihm  eigene  Beschaulichkeit,  den  Trieb  zur  Erkenntnis,  die 
Neigung,  die  Tiefe  der  Seele  zu  erforschen,  gerade  hier,  wo 
sich  die  angeborene  Natur  am  unbefanorensten  äussert,  verleugnen? 
Die  lebensfrohe  Heiterkeit  der  Griechen  scheint  sogar  noch 
weniger  dahin  zu  neigen.  Freidanks  Werk  widerlegt  nicht  bloss 
durch  den  deutlich  ausgesprochenen  Zweck,  sondern  auch  im 
Einzelnen,  wo  man  es  aufschlägt,  jene  Behauptung,  ja  der 
Dichter  spricht  ausdrücklich  den  Wunsch  aus,  dass  Gott  ihm 
Selbsterkenntnis  verleihen  -möge.  Hier  ist  nicht  einmal  ein 
Grund  vorhanden,  die  Griechen  auf  Kosten  der  Deutschen  zu 
erheben.  Eine  geistige  Verwandtschaft  scheint  mir  sogar  in 
dieser  Hinsicht  unverkennbar:  ich  habe  dies  schon  in  der  Ein- 
leitung bemerkt  und  will  hier  nur  hinzufügen,  dass  auch  histo- 
rische Beziehungen  im  deutschen  Sprichwort  nicht  ganz  unbekannt 
sind,  wenn  auch  aus  begreiflichen  Ursachen  nicht  so  häufig 
als  bei  einem  kleinen  Volke;  ich  erinnere  an  Karies  16t  und 
keiser  Otte,  der  den  widerslac  nicht  verbieten  kann. 

Die  Natur  des  Sprichworts  verlangt  Stätigkeit  der  Form, 
ohne  welche  es  sich  selbst  aufgeben  würde.  Herr  Dr  Gervinus 
aber  sagt:  „das  Sprichwort  ist  bei  uns  im  Ganzen  nicht  zu  einer 


VRIDANKES   BESCHEIDENHEIT  VON  WILHELM  GRIMM.  465 

festen  Form  gediehen ;  wir  bevorzugen  für  den  Ausdruck  dieses  423 
oder  jenes  Gedankens  nicht  das  eine  Sprichwort,  sondern  wir 
freuen  uns  der  Veränderung  und  des  Neuen:  wir  begnügen 
uns  an  der  sprichwörtlichen  Redensart  und  am  figürlichen  Aus- 
druck, schafien  deren  noch  jeden  Tag  neue,  wie  andere  Natio- 
nen oder  Städte  ihre  Modewitze  haben,  und  es  ist  vielleicht 
bezeichnend,  dass  wir  jene  Redensarten  oft  mit  dem  Sprichworte 
selbst  verwechseln."  Mir  scheinen  die  in  der  Einleitung 
zusammengestellten  Sprichwörter  aus  dem  12.  und  13.  Jahr- 
hundert, die  sich  bei  Freidank  wiederfinden,  sodann  die  bedeu- 
tende Anzahl  derer,  die  bei  Seb.  Frank  [Brant?]  und  anderen  im 
16.  und  17.  Jahrhundert  imd  in  den  Sammlungen  von  Sailer 
und  Kirchhofer  noch  heutzutage  und  zwar  so  genau,  als  es  in 
solchen  Dingen  nur  möglich  ist,  mit  ihm  übereinstimmen,  jene 
Behauptung  so  vollkommen  zu  widerlegen,  dass  ich  nichts 
weiter  hinzufügen  will. 

Da  ich  glaube,  dass  die  vorangegangenen,  durch  das  Werk 
des  Herrn  Dr  Gervinus  veranlassten  Erörterungen  für  das  Ver- 
ständnis Freidanks  Einiges  beitragen,  so  will  ich  mich  nicht 
weiter  entschuldigen,  dass  ich  die  Grenzen  einer  Selbstanzeige 
überschritten  habe.  Ich  kehre  zu  dieser  zurück,  indem  ich 
noch  Einiges  mitzutheilen  habe.  In  der  Anmerkung  zu  39,  10 
wird  gefragt,  was  das  für  ein  vierfacher  Lohn  sei?  Es  scheint, 
die  Stelle  ist  unvollständig  oder  verderbt.  Herr  Hofrath  Benecke 
hat  eine  kühne,  aber  zugleich  eine  schöne  Erklärung  gewäh- 
rende Herstellung  versucht,  die  darauf  beruht,  dass  V^.  39,  6 — 15 
als  ursprünglich  zusammengehörig,  in  ihrer  richtigen  Folge 
aber  durch  Abschreiber  verwirrt  betrachtet  werden.  Ich  mache 
sie  hier  mit  seiner  Erlaubnis  bekannt. 

Vier  groze  loene  almuosen  hat:  424 

vro  ist  derz  git  als  derz  enpfät; 

als  vil  sin  ist  des  man  da  git, 

als  dürft  sin  ist  in  hungers  zit; 

wazzer  laschet  fiures  gluot 

alsam  almuosen  sünde  tuet; 

almuosen  bitet  vür  den  man, 

der  selbe  niht  gebiten  kan: 

W.  GRIMM,  KL.  SCHRII'TEN.  II.  80 


466  VRIDANKES  BESCHEIDENHEIT  VON  WILHELM  GRIMM. 

swerz  git  mit  guotem  willem  dar, 

dem  werdent  die  vier  loene  gar.  • 

Das  Schwierige  dieser  Emendation  beruht  darin,  dass  die 
erste  Ordnung  der  Handschriften  V.  10  — 17  gar  nicht  kennt 
und  der  allerdings  selbständige  Satz  V.  6  —  9  auch  nur  in  a 
vorkommt:  sodann  dass  in  der  zweiten  Ordnung,  in  BCbcde, 
dieser  Satz  6 — 9  von  dem  folgenden  weit  getrennt  steht.  Nur 
die  dritte  Ordnung  zeigt  die  Verbindung  von  6 — 9  mit  10 — 17, 
allein  diese  dritte  Ordnung  weiss  nichts  von  dem  vierfachen 
Lohn,  sondern  sagt  bloss  gröz  Ion.  —  53,  15.  16  kann  ich  jetzt 
nach  einer  Stelle  aus  dem  welschen  Gast  genauer  erklären:  der 
lewe  enpfindet  wol  s wanne  man  in  jagen  sol,  so  verstreichet  er 
sin  spor  gar  mit  dem  zagel;  daz  ist  war.  da  mite  wil  er  daz 
erwinden,  daz  in  nin  müg  der  jeger  vinden  (198  b).  Der  Aus- 
druck eren  besme  bei  Freidank  bezieht  sich  also  zugleich  auf 
den  Büschel  an  des  Löwen  Schweif.  —  XCII,  1 1  ist  Heinrich 
V.  Veldeke  zu  streichen,  vgl.  Lachmann  über  Singen  und  Sagen 
p.  12  [Kl.  Sehr.  I,  472].  —  20,  2  ist  und  einzuklammern. 

M5  In   dem  Archiv  für   die  Geschichtskunde  des  Preussischen 

Staates  von  Ledebur  Bd  14,  S.  174  wird  Nachricht  gegeben 
von  hölzernen  Scheiben,  jede  mit  einem  Brustbilde  und  einer 
Umschrift,  die  sich  auf  dem  Rathhause  zu  Erfurt  befinden. 
Möglich  dass  sie  noch  in  das  13.  Jahrhundert  gehören,  die 
Sprachformen  lassen  das  wohl  zu.  Die  Umschriften  enthalten, 
so  weit  sie  lesbar  sind,  und  das  gilt  von  etwa  der  Hälfte  (es 
sind  im  Ganzen  mehr  als  30  Scheiben),  jedes  Mal  einen  Spruch 
von  zwei  Zeilen  aus  dem  Freidank  und  beweisen  abermals,  wie 

446  verbreitet  das  Gedicht  war.  Unter  den  mitgetheilten  19  Sprüchen 
findet  sich  nichts  Neues,  wohl  aber  175,  16.  17  ein  Spruch,  der 
in  der  ersten  und  zweiten  Ordnung  der  Hss.  unbekannt  ist 
und  nur  in  aABrant  sich  zeigt;  die  Lesarten  stimmen  sehr 
unabhängig  bald  mit  dieser,  bald  mit  jener  Ordnung,  in  48,  9 
nur  mit  '(,  in  164,  3  nur  mit  B  und  in  63,  23  abweichend 
von  allen. 

In  dem  Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit  von 
Mone  1835  gibt  der  Herausgeber  S.  57 — 60  Nachricht  von  der 
Karlsruher,    aus   Ettenheim  -  Münster    stammenden    Handschrift 


VRIDANKES   BESCHEIDENHEIT  VON  WILHELM  GRIMM.  467 

des  Freidank,  welche  ich  nicht  eingesehen  habe.  Sie  ist  im 
15.  Jahrhundert  auf  Papier  in  Folio  geschrieben  und  gewährt 
nur  981  Verse,  würde  aber,  wenn  der  Schluss  auch  nicht  fehlte, 
doch  nicht  über  1200  enthalten  haben.  Also  nur  ein  Auszug. 
Nach  den  mitgeth eilten  Proben  zu  urtheilen,  gehört  sie  weder 
zu  der  ersten  noch  der  zweiten  Ordnung,  sondern  scheint  einen 
mit  der  Berliner  Handschrift  a  verwandten  Auszug  zu  liefern, 
und  zwar  so,  dass  sie  wie  n  aus  einem  unbekannten  Text,  der 
seine  eigene  Ordnung  hatte,  abstammt,  aber  in  ihrer  Auswahl 
nicht  a  gefolgt,  sondern  ihren  eigenen  Weg  gegangen  ist,  d.  h. 
sie  hat  Anderes,  und  mehr  als  a,  ausgelassen.  Anderes  beibehalten. 
Sie  enthält  75,  22.  23,  was  sonst  nur  aus  a,  97,  26.  27,  was 
sonst  nur  aus  Ab,  und  35,  4.  5,  was  sonst  nur  aus  aABBrant 
bekannt  war:  sie  folgt  58,  12.  13  der  Lesart  von  A  gegen  die 
übrigen,  zeigt  aber  auch  47,  10.  11  die  verderbte  Lesart  der 
zweiten  Ordnung.  Mone  hat  über  100  Verse  ausgehoben,  ein- 
zelne Sprüche,  die  in  meiner  Ausgabe  fehlen  sollen,  allein  er 
irrt,  sie  stehen  bis  auf  zwanzig  sämmtlich  darin,  nur  hat  er  sie 
bei  der  grossen  Verderbnis  dieses  Textes  in  dem  Reimregister  427 
nicht  auffinden  können.  Von  den  acht  Sprüchen,  welche  jene 
zwanzig  Zeilen  ausmachen,  scheinen  mir  aber  nur  ein  Paar  echt 
zu  sein.  V.  23.  24  (nach  Mones  Zählung)  wird  schon  durch 
das  abgekürzte  Adv.  reht  für  rehte,  das  sich  Freidank  im  Reim 
nicht  würde  erlaubt  haben,  verdächtigt,  ebenso  933.  934,  wo 
ausserdem  die  erste  Zeile  ohne  Metrum  ist.  V.  311.  312  scheint 
mir  nichts  als  eine  Entstellung  von  34,  15.  16.  V.  315  —  319 
und  321.  322  sind  unklar  im  Ausdruck  und  trivial  in  den  Ge- 
danken. V.  493.  494  sind  wohl  aus  135,  20  und  94,  2  zusam- 
mengeflickt. Also  möchten  nur  zwei  Sprüche  von  Freidank 
herrühren   und   einen   echten  Nachtrag  enthalten.     V.  155.  156. 

Gedanc,  beeren  unde  sehen 

diu  wellent  (den  wil?)  nieman  stfete  jehen. 

Und  V.  249—252. 

Driu  dinc  sint  al  eine 
aller  manne  gemeine, 
pfaffen  wip,  unt  spiler  win, 
begozzen  brot  magz  dritte  sin. 

80* 


468  WOLFRAM  VON  ESCHENBACH    VON    SAN-MARTE. 

Unter  pfaflFen  wip  wird  wohl  meretrix,  unter  spiler  win  der 
gewöhnliche  Wein  verstanden;  begozzen  brot  ist  mit  Fett 
beträufeltes  Weissbrot,  eine,  wie  es  scheint,  häufige  Näscherei. 
MS.  2,  191  so  der  haven  walle,  unt  daz  veizte  drinne  swimme, 
so  begiuz  in  wiziu  brot.     Fragm.  30  a  betröifete  wecke. 

Mone  hat  ebendaselbst  S.  56.  57  ein  von  ihm  in  Köln 
gefundenes  Fragment  von  zwei  Pergamentblättern  in  Duodez 
aus  dem  14.  Jahrhundert  abdrucken  lassen.  Es  enthält  290 — 
337  Müller  (nur  303  ist  weggeschnitten),  aber  darunter  ist 
nichts  Neues,  denn  die  vier  Zeilen,  die  der  Herausgeber  dafür 
ansieht  und  besternt  hat,  finden  sich  in  meiner  Ausgabe  50,  16.  17 
448  und  78,  13.  14,  ja  auch  bei  Müller,  wo  nur  78,  14  ganz 
entstellt  ist. 

Druckfehler  habe  ich  im  Buche  nicht  anzeigen  können  und 
hole  es  hier  nach.*)  W.  Grimm. 

647  LEBEN  UND  DICHTEN 

WOLFRAMS  VON  ESCHENBACH. 

Herausgegeben  von   San-Marte.     Erster  Band.     Parcival.     Mit  dem  zweiten 
Titel:  Parcival,  Rittergedicht  von  Wolfram  von  Eschenbach.    Aus  dem  Mittel- 
hochdeutschen zum  ersten  Male  übersetzt.    Magdeburg,  Verlag  der  Creutz'schen 
Buchhandlung  1836.     LIX  und  672  S.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  I,  Stück  65,   den  25.  April  1836. 

S.  647-648. 

i.M  achdem  man  das  Nibelungelied  von  sehr  verschieden- 
artigen Gesichtspunkten  aus  übersetzt  und  Walthers  Lieder  in 
einer  ansprechenden  Bearbeitung  dem  grossen  Publikum  vorge- 
führt hat,  kommt  nun  auch  die  Reihe  an  Wolfram  von  Eschen- 
bach. Lachmanns  treffliche  Ausgabe  hat  freilich  den  Gedanken 
erst  möglich  gemacht,  allein  die  Aufgabe  ist  doch  hier  viel 
schwieriger.  Das  Verständnis  des  Textes  eröffnet  sich  nicht  so 
leicht,  und  selbst  wenn  der  Übersetzer  glücklich  dazu  gelangt 
ist;,  hat  er  zu  befürchten,  dass  der  gewöhnliche,  poetischen 
Genuss  ohne  Mühe  suchende  Leser  ihm  nicht  treu  bleibt,  weil 
er  sich  schon  etwas  anstrengen  muss,  wenn  er  dem  sinnreichen 

*)    [Sie  sind  weggelassen  worden.] 


WOLFRAM  VON  ESCHEXBACH  VON  SAN-MARTE.  469 

und  tiefdenkenden  Dichter  folgen  und  das  verschlungene  Gewebe 
der  Fabel  gegenwärtig  behalten  will.  Am  dankbarsten  werden 
diejenigen  eine  t^ersetzung  aufnehmen,  welche  sich  mit  der  648 
alten  Sprache  nicht  gerne  befassen  wollen,  aber  Einsicht  in  den 
Inhalt  und  Geist  von  Wolframs  Gedichten  zu  erlangen  wünschen. 
Hier  empfangen  sie  vorerst  sein  grösstes,  mit  einer  Fülle  von 
poetischem  Leben  ausgestattetes  Gedicht,  den  Parcival.  Herr 
San-Marte  (wie  sich  der  Übersetzer  nennt)  hat  mit  Takt  und 
Geschick  die  Sache  angegriffen :  er  hat  sehr  richtig  eingesehen, 
dass  eine  wörtliche,  dem  Inhalte  und  Sinn  streng  folgende 
Übersetzung  gar  nicht  möglich  sei ,  und  sich  daher  mit  vollem 
Rechte  die  Freiheit  genommen,  das  alte  Gedicht  Form  und 
Inhalt  nach,  darf  ich  so  sagen?  mundrecht  zu  machen.  Es  kann 
jetzt  mit  viel  grösserer  Bequemlichkeit  genossen  werden.  Wolf- 
ram sucht  einsame,  von  anderen  noch  niemals  betretene  Pfade, 
hier  ist  der  Weg  gebahnt,  auf  welchem  man,  ohne  aufgehalten 
zu  werden,  fortschreiten  kann.  Ob  im  Einzelnen  der  Sinn 
jedes  Mal  genau  getroffen  sei,  würde  eine  überflüssige  Unter- 
suchung nöthig  machen :  wir  vertrauen,  dass  der  Übersetzer  im 
Ganzen  sein  Original  verstanden  hat;  und  da  er,  wo  er  es 
angemessen  findet,  eine  Reihe  von  Versen  auslässt  oder  umstellt, 
um  den  Gang  der  Erzählung,  den  Wolfram  so  gerne  unterbricht, 
regelmässiger  zu  machen,  so  kommt  es  auf  den  grammatischen 
Sinn  von  ein  Paar  Zeilen  oder  eines  Satzes  gerade  nicht  an. 
Da  eine  mit  Einsicht  und  sichtbarer  Liebe  zur  Sache  ausge- 
führte Einleitung  den  Geist  jener  Zeit  in  allgemeinen  Umrissen 
darstellt,  für  das  Verständnis  im  Einzelnen  ausserdem  Anmer- 
kungen hinzugefügt  sind,  endlich  durch  Abtheilungen  und  kurze 
Angabe  des  Inhalts  die  Übersicht  des  Ganzen  erleichtert  wird, 
so  ist  es  kaum  nöthig  das  Buch  zu  empfehlen:  es  wird  sich 
denen,  deren  Bedürfnis  es  mit  Sinn  und  Geschmack  befriedigt, 

von  selbst  empfehlen. 

W.  Grimm. 


470         DER  ROSENGARTE  VON  WILHELM  GRIMM. 


405  DER  ROSENGARTE  VON  WILHELM  GRIMM. 

Göttingen  in  der  Dieterich'schen  Buchhandlung.    1836.    LXXXIV  und  94  S.  in  8. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  I,  Stück  41,  den  13.  März  1837. 
S.  405—407. 

Ochon  lange  in  dem  Besitze  eines  noch  unbekannten  Textes 
des  Rosengartenliedes,  habe  ich  doch  mit  der  Herausgabe 
desselben  gezögert,  weil  ich  auf  Entdeckung  einer  älteren 
Handschrift  hoflFte.  Da  das  in  dem  Munde  der  Überlieferung 
beständig  sich  umwandelnde  Epos  keine  Zurückführung  auf 
einen  ursprünglichen  Text  gestattet  und  jede  eigenthümliche 
Auffassung  Berücksichtigung  verdient,  so  wäre  gegenwärtige  in 
das  15.  Jahrhundert  fallende  Handschrift  auch  neben  einer 
früheren  und  besseren  der  Bekanntmachung  immer  noch  werth 
gewesen;    allein    ich   wollte   die  Untersuchung  über   die  Fabel 

406  nicht  übergehen,  und  diese  würde  durch  einen  älteren  Text 
ohne  Zweifel  sehr  gefördert  worden  sein.  Indessen  schwand 
jene  Hoffnung  nach  so  manchen  vergeblichen  Nachforschungen 
immer  mehr,  und  da  überdies  die  Handschrift,  von  welcher  ich 
Abschrift  genommen  hatte,  nach  England  gewandert  war,  so 
entschloss  ich  mich,  die  mehrmals  zurückgelegte  Arbeit  wieder 
vorzunehmen  und  zu  beendigen.  Ob  meine  in  der  vorange- 
stellten Abhandlung  dargelegte  Ansicht  von  der  Entstehung  und 
Fortbildung  des  Liedes,  das  poetischen  Werth  hat  und  sich 
Form  und  Inhalt  nach  näher  als  ein  anderes  an  das  Nibelunge- 
lied  anschliesst,  die  richtige  ist,  muss  ich  freilich  anderen  zu 
beurtheilen  überlassen;  indessen  kann  die  Vergleichung  der 
verschiedenen  Darstellungen  der  Fabel  und  was  ich  sonst  zu 
ihrem  Verständnis  beigebracht  habe  auch  dem,  der  eine  von 
der  meinigen  ganz  verschiedene  Vorstellung  hat,  noch  immer 
brauchbar  sein.  Ein  Text,  wie  der  vorliegende,  erlaubte  keine 
kritische  Behandlung,  wie  das  Werk  eines  bekannten  Dichters; 
ich  habe  also  nur  Einiges  verbessert  und  ergänzt,  und  im  Übrigen 
mich  begnügt,  die  schlechten  Sprachformen  des  15.  Jahrhunderts 
zu  beseitigen,  jedoch  beibehalten,  was  der  geschichtlichen 
Grammatik  von  Nutzen  sein  konnte. 


BRÜDER  GRIMM,    KINDER-  UND  HAUSMÄRCHEN.  471 

V.  567  und  570  lies  daz  für  das.  V.  569  waz  für  was. 
V.  881  trütgesellen.  V.  956.  957  diu  für  die.  V.  1725  anderz 
für  anders.  Der  Eigenname  Versähe  49.  55,  obgleich  in  Aa 
Bersähe  vorkommt,  ist  doch  wohl  nur  Entstellung  von  ver 
(vrou)  Sähe,  und  Ab  enthält  das  Richtige,  ze  sunnegihten 
(Einleit.  XXX)  heisst  nicht  vor  Sonnenuntergang,  sondern  zu 
Johanni ,  wenn  die  Sonne  ihren  höchsten  Stand  erreicht  hat  407 
und  wieder  zu  sinken  beginnt;  mithin  fallt  auch  die  Folgerung 
S.  LXVI  weg.  Wilh.  Grimm. 


KIXDER-  UXD  HAÜSMÄRCHEN.  1342 

Gesammelt   durch   die  Brüder  Grimm.     Grosse  Ausgabe.     Mit   zwev  Kupfern. 

Dritt«   vermehrte  und  verbesserte  Auflage.     Göttingen,  bey  Dieterich,    1837. 

Erster  Band  XXVIII  und  513  Seiten.     Zweiter  Band  385  Seiten  in  Duodez. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.    Bd  III.  Stück  185,  den  20.  November  1837. 

S.  1842— 1&44. 

XJieses  Buch  enthält  eine  Sammlung  mündlicher,  grossen- 
theils  von  uns  selbst  aufofefasster  Überlieferungen,  welche  zu 
vervollständigen  wir  seit  "25  Jahren  keine  Gelegenheit  versäumt 
haben.  Gegenwärtige  Ausgabe  ist  nicht  nur  durch  eine  Anzahl 
neuer  Märchen  (unter  welchen  sich  einige  in  Schweizer  Dialekt 
durch  Sprache  und  Inhalt  auszeichnen)  vermehrt,  sondern  viele 
der  schon  bekannten  sind  umgearbeitet  und  durch  einzelne 
Züge  verbessert  oder  vervollständigt  worden.  Was  noch  jetzt  1*43 
von  Dichtungen  dieser  Art  in  Deutschland  sich  erhalten  hat, 
davon  hoflfen  wir  das  Wichtigste  und  Beste  zusammenorebracht 
zu  haben.  Wir  glauben  der  Sammlung  auch  in  diesen  gelehrten 
Anzeigen  Erwähnung  thun  zu  dürfen,  da  sich  der  wissenschaft- 
liche Werth  derselben  in  mancher  überraschenden  Verwandt- 
schaft mit  alten  Sagen  bewährt  hat  und  die  deutsche  Mythologie 
sie  nicht  unberücksichtigt  lassen  konnte. 

Der  dritte  Theil,  dessen  Inhalt  sich  lediglich  auf  den 
gelehrten  Gebrauch  der  Sammlung  bezieht  und  daher  nur  in 
einem  viel  engeren  Kreis  Eingang  finden  konnte,  ist  dies  Mal 
nicht  mit  abgedruckt  worden,  weil  noch  Exemplare  in  der 
Reimer'schen  Buchhandlung  in  Berlin   vorräthig   sind.     In   der 


472  LA  CHANSON   DE  ROLAND   PAR  FRANCISQUE   MICHEL. 

Folge  soll  dieser  Theil  als  ein  für  sich  bestehendes  Werk 
erscheinen,  in  welchem  auch  die  der  vorigen  Ausgabe  voran- 
gesetzten Einleitungen  von  dem  Wesen  der  Märchen  und  von 
Kindersitten  einen  Platz  finden  werden. 

Eine  Auswahl  als  kleinere  Ausgabe  in  einem  Bändchen 
ward  1825  veranstaltet,  neue  Auflagen  davon  sind  1833  und 
1836  in  Berlin  erschienen. 

Die  Sammlung  ist  auch  im  Auslande  beachtet  und  in 
mehrere  Sprachen  übersetzt  worden,  am  besten  und  vollstän- 
digsten ins  Englische.  Die  französische  Übersetzung  von  Gerard 
enthält  nur  eine  Auswahl,  eine  andere  so  eben  angekündigte 
von  Theil  scheint,  da  sie  aus  zwei  Bänden  bestehen  soll,  das 
Ganze  zu  umfassen. 

Auf  die  Correctur  ist  Sorgfalt  verwendet,  nur  Theil  1, 
S.  XXIV,  Zeile  5  von  oben  lies  „für  Kinder"  und  Zeile  5  von 
unten  „enthielt";  Zeile  4  von  unten  ist  „eisernen"  statt  „armen" 
zu  setzen. 

Die    beiden   Stahlstiche    und    die   Titelblätter    in    farbigem 

Steindruck  mit  goldenen  Arabesken  werden  hoffentlich  gefallen, 

1844  überhaupt  gereicht  die  äussere  Ausstattung  der  Dieterich'schen 

Buchhandlung,  auf  welche  der  Verlag  dieser  grösseren  Ausgabe 

übergegangen  ist,  zur  Ehre.  W.  Gr. 


489  LA  CHANSON  DE  ROLAND  OU  DE  RONCEVAUX 

du  XIP    siecle    publiee    pour    la    premiere    fois    d'apres    le    manuscrit  de  la 

bibliotheque  Bodleienne  ä  Oxford  par  Francisque  Michel.    Paris,  bei  Silvestre 

1837.     LXIX  und  317  Seiten  in  gross  Octav. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  I,   50.  51.  Stück,   den  29.  März  1838. 

S.  489-498. 

TT  ir  halten  es  für  ein  gutes  Zeichen,  dass  auch  in  Frank- 
reich ein  neuer  Eifer  für  Erforschung  des  Mittelalters  und 
seiner  Dichtungen  sich  regt.  Vielleicht  lenkt  auch  dort  die 
endlose  Bewegung  der  Gegenwart  den  Geist  auf  die  Betrachtung 
früherer  Jahrhunderte,  denn  eine  Zeit,  die  mit  der  einen  Hand 
immer   wieder  nimmt,    was  sie  mit  der  anderen  gegeben  hatte, 


LA  CHANSON  DE  ROLAND  PAR  FRANCISQUE  MICHEL.     473 

sucht  von  selbst,  im  Gefühle  ihres  Mangels,  ein  Bild  dauernder 
naturgemässer  Zustände.  Möge  sie  daraus  eine  Stärkung  em- 
pfangen. In  Deutschland  war  es  der  Druck  fremder  Gewalt, 
der  dem  Studium  des  Mittelalters  neue  Kraft  gab,  und  der 
damals  gelegte  Keim  ist  herangewachsen  und  trägt  schon  jetzt  490 
nicht  verächtliche  Früchte.  Mit  den  Gesängen  der  Troubadours 
war  man,  wie  etwa  in  Deutschland  mit  den  Minneliedern, 
immer  in  einiger  Bekanntschaft  geblieben;  an  sie  knüpfte  sich 
in  der  Ausgabe  von  Raynouard  (Paris  1816  — 1821)  das  neu 
beginnende  Studium,  an  welchem  auch  Deutschland  in  den 
gelehrten,  aus  den  Quellen  geschöpften  Werken  von  Diez  den 
würdigsten  Antheil  nahm.  Zunächst  kam  an  die  Fabliaux,  von 
welchen  Meon  eine  neue  Ausgabe  lieferte,  an  die  Poesieen  der 
Marie  de  France,  an  den  von  den  Franzosen  überschätzten 
Roman  von  der  Rose  und  kleinere  Gedichte,  die,  weil  sie  keck, 
witzig,  heiter  und  frivol  sind,  dem  französischen  Geiste  besonders 
zusagen,  die  Reihe.  Der  Roman  du  Renard  verdankt  viel- 
leicht seine  Herausgabe  durch  Meon  (1826)  der  so  verbreiteten 
Ansicht,  dass  er  eine  politische  Satyre  enthalte,  die  auf  alle 
Zeiten  anwendbar  sei.  Nicht  eigentlich  der  Sagenpoesie  zuge- 
hörig ist  der  Roman  de  Rou  et  des  ducs  de  Normandie  von 
Robert  Wace,  den  Pluquet  (Ronen  1827  in  zwei  Bänden)  heraus- 
gab. Die  Geschichte  des  Chatelain  de  Coucy  und  der  Dame 
Fayel  hat  Crapelet  (1829)  bekannt  gemacht.  Auch  die  Anfange 
der  dramatischen  Kunst,  die  Mysterien,  sind  so  eben  bedacht 
worden.  Die  erste  epische  Dichtung  ward  am  längsten  zurück- 
geschoben. Der  grosse  Umfang  der  vorhandenen  Denkmäler 
und  die  daraus  entspringende  Schwierigkeit,  sich  des  materiellen 
Inhalts  zu  bemächtigen,  die  ein  anhaltendes  Studium  und  ein 
volles  Hingeben  an  den  Gegenstand  verlangt,  mögen  die 
Ursache  gewesen  sein.  Und  doch  waren  hier  Schätze  an  das 
Licht  zu  ziehen,  die  durch  ihren  inneren  Werth  ebenso  wie 
durch  ihre  Wichtigkeit  für  die  Geschichte  der  Sage  sich  aus- 
zeichnen. Wenn  die  rein  lyrische  Dichtung,  menschliche  Gefühle  491 
und  Empfindungen  offenbarend,  nach-Jahrhunderten  noch  wahr 
und  eindringlich  bleibt  und  sogar  der  Gesang  eines  in  Wäldern 
hausenden    Wilden    dem    zusagen    kann,    der    an    die    feinsten 


474     LA  CHANSON  DE  ROLAND  PAR  FRANCISQUE  MICHEL. 

Früchte  langer  Cultur  gewöhnt  ist,  so  hängt  das  Epos  dagegen 
mit  der  geschichtlichen  Entwickelung  des  Volkes  und  der 
äusseren  Erscheinung  seines  Lebens  zusammen  und  kann  erst 
durch  Einsicht  in  die  Umgebvmgen,  in  welchen  es  aufwuchs, 
vollständig  und  in  seinem  Werthe  erkannt  werden.  Fauriels 
Vorlesungen  (de  l'origine  de  l'epopee  chevaleresque  du  moyen 
age.  Paris  1832),  denen  Uhlands  schöne  Abhandlung  über  das 
altfranzösische  Epos  (1812)  vorangegangen  war,  gewähren  eine 
passende  Einleitung  in  dies  Studium.  Fauriel  geht  von  gesunden 
Ansichten  aus  und  hat  sie  auf  eine  geistreiche  Weise  mit  der 
seiner  Nation  eigenthümlichen  Behendigkeit  dargelegt.  Hat  er 
auch  die  Quellen  nicht  mit  der  Genauigkeit  und  Gründlichkeit, 
an  welche  wir  Deutsche  gewöhnt  sind,  untersucht,  so  hat  er 
doch  mit  natürlichem  Takt  und  einem  scharfen  Auge  das 
Bedeutende  glücklich  herauszufinden  gewusst.  Für  mehr  als 
eine  einladende  Vorarbeit  kann  das  Buch  freilich  nicht  gelten. 
Indessen  ist  auch  die  histoire  litteraire  de  France  in  ihrem 
18.  Bande  (1835)  bis  in  die  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  fort- 
gerückt. Da  die  Wege  also  abgesteckt  sind,  so  war  es  Zeit, 
die  eigentliche  Arbeit  zu  beginnen,  und  schon  jetzt  haben  wir 
Ursache,  uns  des  Fortschritts  darin  zu  erfreuen.  In  wenigen 
Jahren  sind  wichtige  Quellen  der  epischen  Poesie  bekannt 
gemacht  worden.  Paulin  Paris  hat  Berte  aus  grans  pies  (Paris 
1832)  und  Garin  le  Loherain  (2  Bände,  Paris  1833.  1835), 
492  Francisque  Michel,  der  sich  besonders  thätig  zeigt,  the  poetical 
Romances  of  Tristan  (2  Bände,  London  1835)  und  Charlemagne 
(London  1837)  herausgegeben,  wozu  die  oben  genannte  chanson 
de  Roland  kommt  ^).  Auch  in  dieser  Richtung  hat  Deutschland 
seine  Theilnahme  durch  von  J.  Bekker  besorgten  provenzalischen 
Fierabras,  dessen  Werth  von  französischen  Gelehrten  anerkannt 
wird,  bethätigt.  Wird  es  dort  jemand  übernehmen,  uns  ein 
altdeutsches  Gedicht  zuzuführen? 

Ich  glaube  mich  nicht  zu  täuschen,  wenn  ich  das  Rolands- 
lied   als    das    wichtigste    unter   allen   bisher   bekannten   altfran- 

1)  Die  hiesige  Bibliothek  hat  nicht  gesäumt,  sich  mit  diesen  Schätzen, 
die  meist  nur  in  einer  geringen  Anzahl  von  Exemplaren  abgedruckt  sind,  zu 
bereichern. 


LA   CHA.XSOX  DE  ROLAND    PAR  FRANCISQIJE  MICHEL.  475 

zösischen  Denkmälern  der  epischen  Dichtung  betrachte,  ja  ich 
bezweifle,  dass  sich  unter  den  ungedruckten,  so  wünschenswerth 
die  Bekanntmachung  mancher  anderen,  z.  B.  Gerhards  von 
Roussillon,  wäre,  sich  noch  eins  befindet,  das  ihm  an  die  Seite 
gesetzt  zu  werden  verdient.  Es  ist,  wie  verschieden  im  Geiste, 
das  Nibekingehed  der  welschen  Sage:  es  besingt  die  Thaten, 
die  fränkische  Helden  unter  Karl  dem  Grossen  vollbrachten, 
mit  der  Kraft,  dem  Ernste,  der  Einfachheit  und  Unschuld  des 
ursprünglichen  Volksepos.  Weit  ab  liegt  es  im  Geiste  von 
jenem  mit  der  Leichtfertigkeit  französischer  Galanterie  reichlich 
ausgestatteten  Gedichte  von  Charlemagne,  das  Karls  mit  den 
zwölf  Pairs  unternommenen  Zug  nach  Jerusalem  beschreibt. 

Es  befinden  sich  in  Frankreich  mehrere,  darunter  auch 
alte  Handschriften  des  Rolandsliedes,  aus  welchen  Monin  in 
seiner  Dissertation  (sur  le  roman  de  Roncevaux,  Paris  1832, 
wozu  Michels  examen  critique,  das  in  demselben  Jahre  erschien, 
gehört)  einen  Auszug  mit  eingerückten  Stellen  geliefert  hat ;  im 
auch  wurde  schon  damals  der  Abdruck  einer  Handschrift  durch 
Bourdillon  angekündigt,  der  aber  nicht  zu  Stande  kam.  Ein 
älterer  und,  schon  nach  dem  Auszuge  in  der  bist.  litt,  de 
France  18,  714 — 720  zu  urtheilen,  besserer  Codex  wurde  in 
der  Bodleianischen  Bibliothek  zu  Oxford  aufbewahrt.  Durch 
die  dankbar  anzuerkennende  Unterstützung  des  französischen 
Ministeriums,  an  dessen  Spitze  Guizot  stand,  ward  es  Hrn.  Michel 
möglich  gemacht,  nach  England  zu  reisen  und  eine  auch  äusser- 
lich  würdig  ausgestattete  Ausgabe  zu  liefern.  Wir  erhalten  hier 
seine  eigenhändige  Abschrift  des  Bodleianischen  Manuscripts, 
dem  ein  Facsimile  beiliegt.  Auf  eine  kritische  Behandlung  des 
Textes  hat  sich  der  Herausgeber,  wohl  mit  Recht,  nicht  einge- 
lassen: es  ist  ein  einfacher  Abdruck,  dem  er  einige  Anmer- 
kuncren  und  ein  brauchbares  Glossar  mit  eingemischten  anti- 
quarischen  Erläuterungen  zugegeben  hat.  Die  Vorrede  enthält 
litterarische  Nachweisungen  und  eine  durch  reichliche  Mittheilung 
einzelner  Stellen  schätzbare  Übersicht  aller  bis  dahin  bekannt 
gewordenen  Handschriften  des  Liedes.  Endlich  gibt  der  Heraus- 
geber, unterstützt  von  anderen  Gelehrten,  in  einem  Anhange 
Auskunft  über  alle  ihm  bekannt  gewordenen  Darstellungen  der 


476  LA  CHANSON  DE  KOLAND    PAR  FRANCISQDE  MICHEL. 

Sage,  unter  welchen  der  Abdruck  eines  lateinischen  Gedichts 
aus  einer  Cotton.  Handschrift  und  ein  Auszug  aus  einem  alt- 
englischen Gedichte  als  bisher  unbekannt  die  wichtigsten  sind. 
Fleiss  und  Thätigkeit  des  Hrn.  Michel  verdienen  rühmliche 
Anerkennung. 

Der  Text  dieser  Oxforder  Handschrift  entfernt  sich  von 
dem  der  anderen  vielfach  und  in  verschiedenen  Abstufungen. 
Im  Ganzen  ist  er  älter,  einfacher  und  kürzer.  Zuweilen  stimmt 
494  er  mit  den  übrigen  wörtlich,  öfter  dem  Sinne  nach,  nicht  selten 
weicht  er  ab,  indem  jene  nicht  bloss  ausführlicher  und  umständ- 
licher erzählen,  sondern  den  Inhalt  der  Sage  selbst  erweitern, 
sei  es  durch  Fortbildung  des  Einzelnen,  oder  durch  ganz  neue 
Zusätze.  Ein  ziemlich  ähnliches  Verhältnis  gewähren  auch 
Gedichte  der  deutschen  Heldensage,  aber  eine  ganz  eigenthüm- 
liche  Erscheinung,  und  zwar,  so  weit  sich  urtheilen  lässt,  aller 
älteren  Handschriften  ist  hier,  dass  bedeutende,  vorragende 
Stellen  nicht  bloss  in  einer,  sondern  manchmal  in  mehrfach 
abweichender  Erzählung  vorkommen  und  diese  verschiedenen 
Auffassunoen  ohne  Verbinduno^  hinter  einander  folgen. 

Diese  innere  Beschaffenheit  der  verschiedenen  Texte  an 
sich,  wie  die  bemerkte  Übereinstimmung  im  Grossen,  neben  der 
auffallendsten  Verschiedenheit  im  Einzelnen,  machen  es  unmöglich, 
das  Rolandslied  als  das  Werk  eines  und  desselben  Dichters 
anzusehen.  In  dem  Oxforder  Codex  wird  zwar  am  Schlüsse 
ein  Turold  genannt,  und  die  hist.  litt,  de  France  trägt  kein 
Bedenken,  ihn  als  den  Dichter  aufzuführen,  allein  die  undeut- 
lichen Worte  berechtigen  an  sich  noch  nicht  zu  einer  solchen 
Annahme;  welchen  Antheil  aber  auch  dieser  Turold  an  der 
Auffassung  des  Gedichtes  mag  gehabt  haben  (vielleicht  war  er 
sehr  gering  und  unbedeutend),  in  keinem  Falle  darf  er  als  der 
Urheber  der  in  sich  so  verschiedenen  Darstellungen  betrachtet 
werden.  Zudem  beruft  sich  das  Gedicht  selbst  nicht  bloss  auf 
die  Sage  (90  dist  la  geste),  sondern  auch  schon  auf  eine  schrift- 
liche Quelle  (il  est  escrit  en  l'ancienne  geste  272,  19).  Wir 
können  also  hier  nichts  Anderes  annehmen,  als  was  wir  bei  dem 
Volksepos  schon  so  oft  bemerkt  haben,  ein  Urheber  ist  nicht 
bekannt,  es  lebt  nur  in  der  Überlieferung  der  Sänger. 


LA  CHANSON  DE  ROLAND    PAR   FRANCISQUE  MICHEL.  477 

Zeugnisse  von  dem  lebendigen  Dasein  der  Dichtung  fangen  495 
mit  dem  12.  Jahrhundert  an,  und  schon  um  1100  geschieht  der 
Lieder  der  Volkssänger  von  Roland  Erwähnung.  Reichlich  sind 
die  Anspielungen  darauf  bei  den  Troubadours  jener  Zeit,  und 
man  kann  ohne  Gefahr  eines  bedeutenden  Irrthums  die  älteste 
erhaltene  Darstellung  des  Gedichts  in  die  Mitte  des  zwölften 
Jahrhunderts  setzen.  Die  eigene  Erscheinung,  dass  es  nur  in 
nordfranzösischer  Sprache  sich  vorfindet,  will  man  dahin  er- 
klären, dass  es  ursprünglich  provenzalisch  abgefasst,  hernach  in 
jene  Mundart  sei  übertragen  worden,  gewiss  unrichtig,  wie 
schon  die  Mannigfaltigkeit  der  Auffassungen  beweist. 

Von  dem  Ursprünge  und  der  allmählichen  Fortbildung  der 
Sage  habe  ich  Gelegenheit  bei  der  bevorstehenden  Herausgabe 
des  deutschen  Rolandsliedes  zu  reden,  das  den  Geistlichen 
Konrad  zum  Verfasser  hat,  der  schon  in  der  zweiten  Hälfte 
des  zwölften  Jahrhunderts  ein  französisches  Original  übersetzte 
und  dessen  Arbeit  die  Grundlage  einer  späteren  Überarbeitung 
durch  Stricker  ward.  Dort  wird  sich  auch  das  Verhältnis  der 
deutschen  Gedichte  zu  den  erhaltenen  altfranzösischen  darleo^en 
lassen. 

Ich  habe  schon  vorhin  den  poetischen  Werth  des  Liedes 
gerühmt,  man  wird  ihn  am  besten  erkennen,  wenn  ich  ein  für 
sich  verständliches  Bruchstück  heraushebe  und  in  einer  einfachen 
und  ungekünstelten  Übersetzung  mittheile.  Man  wird  hier 
schon  die  Unschuld  und  Reinheit  der  Gedanken,  die  niemals 
von  ihrem  Gegenstande  abschweifen,  wie  die  einfache  Schönheit 
und  Eindringlichkeit  des  Ausdrucks  erkennen.  Zur  Einleitung 
dient  Folgendes. 

Kaiser  Karl,  im  Begriflfe  nach  Frankreich  heimzukehren,  496 
war  durch  den  weittönenden  Schall  von  Rolands  Hörn  zurück- 
gerufen. Als  er  mit  seinem  Heere  in  Runzival  anlangt,  ist 
Roland  mit  allen  Franken  todt  imd  das  Feld  mit  den  Leichen 
der  Christen  und  Heiden  bedeckt.  Er  ruft  seine  Helden,  die 
zwölf  Pairs,  mit  Namen,  aber  keiner  antwortet.  Gross  ist  seine 
Trauer.  Herzog  Naimes  sagt  ihm,  in  einer  Entfernung  von 
zwei  Meilen  könne  man  den  Staub  auf  dem  Wege  der  Heiden 
sehen,  die  bei -seiner  Ankunft  geflohen  waren.     Karl  lässt  eine 


478  LA  CHANSON  DE  ROLAND    PAR   FRANCISQUE  MICHEL. 

Wache  bei  den  Todten  und  eilt  den  Feinden  nach.  Als  er 
sieht,  dass  der  Abend  herannaht,  steigt  er  ab,  kniet  auf  die 
Erde  und  bittet  Gott,  die  Sonne  stehen  zu  lassen.  Ein  Engel 
erscheint  ihm  und  heisst  ihm  weiter  reiten :  es  werde  ihm  nicht 
an  Tageshelle  fehlen,  Gott  wisse,  dass  die  Blüthe  von  Frank- 
reich verloren  sei,  er  solle  an  dem  verbrecherischen  Volke 
Rache  nehmen.  Die  Sonne  bleibt  stehen.  Die  Feinde  fliehen,  die 
Franken  erreichen  sie  vor  dem  Ebro.  Die  Sarazenen,  ihren  Gott 
Tervagant   anrufend,   springen  in  den  Fluss  und  ertrinken  alle. 

Als  Karl  nun  todt  die  Heiden  alle  sieht, 
erschlagen  viel,  doch  mehr  im  Fluss  ertränkt, 
(gross  war  die  Beute,  die  die  Franken  fanden), 
so  steigt  vom  Ross  herab  der  edle  Kaiser, 
wirft  nieder  sich  zur  Erde,  dankt  dem  Herrn: 
und  als  der  aufsteht,  sinkt  die  Sonne  erst  hinab. 
Der  Kaiser  spricht:  „jetzt  ist  es  Zeit  zu  rasten, 
wir  können  nicht  nach  Runzival  zurück: 
die  Rosse  sind  ermüdet  und  erschöpft, 
hebt  ab  die  Sättel,  zieht  vom  Kopf  die  Zügel 
und  lasst  sie  auf  den  Wiesen  sich  erkühlen. " 
Die  Franken  sagen:  „Herr,  wie  ihr  befehlt." 

Der  Kaiser  nimmt  da  seine  Lagerstätte, 
497  auf  das  zerstampfte  Feld  zerstreuen  sich  die  Franken,^ 

den  Rossen  haben  sie  die  Sättel  abgezogen, 
die  goldenen  Zügel,  dass  den  Kopf  sie  senken 
und  auf  den  Wiesen  frisches  Gras  sich  suchen. 
Sie  können  hier  nicht  bessre  Pflege  finden. 
Wer  müd  ist,  legt  zur  Erde  sich  und  schläft, 
und  unbewacht  sind  sie  in  dieser  Nacht. 

Der  Kaiser  legt  sich  nieder  auf  die  Wiese, 
bei  seinem  Haupte  ruht  sein  mächt'ger  Speer: 
in  dieser  Nacht  will  er  sich  nicht  entwaffnen. 
Er  trägt  am  Leib  den  schön  gezierten  Panzer, 
den  goldnen  Helm,  den  reich  gesteinten,  auf  dem  Haupt„ 
umgürtet  mit  Joiuse:  seines  gleichen  gibt  es  nicht, 
ihm  muss  an  Glanz  der  Strahl  der  Sonne  weichen. 
Wir  wissen  Sagen  viel  von  jener  Lanze, 
womit  der  Herr  am  Kreuze  ward  verwundet: 
Karl  hat  den  Stahl,  sei  Gott  dafür  gedankt, 
an  einen  Griff  von  Gold  hat  er  ihn  setzen  lassen. 


RUOLANDES  LIET  VON  WILHELM  GRIMM.  479 

Ob  solcher  Ehr  und  solcher  Herrlichkeit 
ward  dieses  Schwert  Joiuse  dann  geheissen. 
Die  fränk'schen  Ritter  diirfen"s  nicht  vergessen, 
dass  Munjoi  ihr  Ruf  ist  in  der  Schlacht. 
Kein  Volk  kann  ihnen  darum  widerstehn. 

Klar  ist  die  Nacht,  der  Mond  ist  leuchtend. " 
Karl  legt  sich,  aber  Roland  macht  ihm  Qual, 
um  01i\'ier  ist  er  in  tiefen  Schmerzen, 
um  die  zwölf  Pairs.  um  all  die  Franken, 
die  er  hat  todt  in  Runzival  gelassen. 
Da  hebt  er  an  zu  weinen  und  zu  jammern, 

er  bittet  Gott  um  Gnade  für  die  Seelen.  49* 

Müd  ist  der  Kaiser,  denn  der  Schmerz  ist  gross. 
Da  schläft  er  ein,  nichts  konnte  er  weiter  thun. 
Auf  allen  Feldern  schlafen  rings  die  Franken: 
kein  Ross,  das  länger  aufrecht  bliebe; 
das  Gras  verlangt,   das  frisst  im  Liegen. 
Viel  hat  gelernt,  wer  recht  erkennt  die  Noth. 

Karl  schläft  als  ein  erschöpfter  Mann, 
Sanct  Gabriel  hat  Gott  herabgesendet 
mit  dem  Geheiss.  den  Kaiser  zu  bewachen. 
Der  Engel  steht  die  Nacht  an  seinem  Haupt, 
und  ein  Gesicht  zeigt  ihm  im  Bild  voraus 
die  grosse  Schlacht,  die  ihn  am  Tag  erwartet. 

Wilhelm  Grimm. 


RUOLANDES  LIET  VON  WILHELM  GRIMM.         1129 

Mit  einem  Facsimile  und  den  Bildern  der  pfälzischen  Handschrift.    Göttingen 

In  der  Dieterich'schen  Buchhandlung.     1838.    CXXVIU  und  346  Seiten 

in  gr.  8.     Die  Steindrucktafeln  besonders  in  Folio. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  II,  114.  115.  Stück,  den  19.  JuH  1838. 

S.  1129—1131. 

-Cindlich  erscheint  das  lange  versprochene  Rolandslied, 
wovon  bisher  nur  die  Hälfte  und  auch  diese  nur  in  den  Bruch- 
stücken, aus  welchen  die  Strassburger  Handschrift  besteht, 
bekannt  geworden  war.  Der  aus  Rom  zurückgekehrte  pfäl- 
zische Codex  enthält  allein  das  Ganze,  freilich  noch  immer  mit 


480  RUOLANDES  LIET   VON  WILHELM  GRIMM. 

einer  Lücke  von  zwei  Blättern,  welche  auch  ein  Schweriner 
und  ein  Stuttgarter  Bruchstück,  wie  sich  doch  glücklicherweise 
hätte  treffen  können,  nicht  ausfüllen.  Ich  liefere  hier  einen 
sorgfältigen  Abdruck  die  Pfälzer  Handschrift  mit  den  Lesarten 
der  übrigen;  zu  einer  durchgreifenden  kritischen  Bearbeitung 
reichten   die   vorhandenen  Hilfsmittel  nicht  aus:    was    ich  dafür 

1130  thun  konnte,  habe  ich  in  den  Anmerkungen  zusammengestellt. 
Die  Bilder  der  pfälzischen  Handschrift  waren  in  mehr  als  einer 
Beziehung  zu  wichtig,  als  dass  ich  sie  hätte  zurücklassen 
dürfen;  ihre  Nachbildung  ist  treu  und  durchaus  nicht  verschönert. 
Auch  eine  Schriftprobe  von  zwei  Handschriften  hielt  ich  für 
nöthig,  weil  es  schwierig  ist,  genau  ihr  Alter  zu  bestimmen, 
wiewohl  ich  der  Meinung  bin,  dass  sie  noch  ins  zwölfte  Jahr- 
hundert gehören ;  und  dahin  sind  auch,  wie  es  scheint,  die  zwei 
anderen  zu  setzen,  von  welchen  ich  ein  Facsimile  zu  liefern 
nicht  im  Stande  war. 

•  Das  Gedicht  ist  dem  Epilog  zufolge  durch  einen  Geistlichen 
(pfaffen),  Namens  Konrad,  aus  dem  Französischen  übersetzt; 
der  Herzog  Heinrich,  dessen  Gemahlin  die  Übersetzung  veran- 
lasste, war,  wie  ich  glaube  überzeugend  dargethan  zu  haben, 
Heinrich  der  Löwe.  Die  Zeit  der  Abfassung  fällt  nach  meiner 
Meinung  in  das  Jahr  1173—77. 

Die  Fragen,  zu  welchen  die  Natur  des  Gedichts  Veran- 
lassung gab,  habe  ich  in  der  Einleitung  zu  beantworten  gesucht. 
Dass  ich  dabei  noch  das  vor  kurzem  in  Paris  bekannt  gemachte 
altfranzösische  Lied  von  Roland,  von  dem  ich  in  diesen  Anzeigen 
■  No.  50.  51.  (oben  S.  472 — 479)  gesprochen  habe,  benutzen 
konnte,  war  mir  sehr  förderlich.  Ich  habe  also  das  Verhältnis 
des  deutschen  Gedichts  zu  diesem  und  den  übrigen  bekannt 
gewordenen  Darstellungen  des  Mittelalters  untersucht,  wobei  ich 
Strickers  im  13.  Jahrhundert  unternommene  Überarbeitung  am 
ausführlichsten  behandeln  musste;  sodann  habe  ich  über  Ent- 
stehung, Fortdauer,  ursprüngliche  Gestalt  und  poetische  Auf- 
fassung der  Sage  meine  Ansicht  geäussert. 

Die    Erklärung    eines    Bildes    ist    ausgefallen    und    daher 

1131  S.  XXVIII  zuzufügen:  „16.  König  Cursable  bittet  den  König 
Marsilie,  ihm  den  Kampf  mit  Roland  zu  gestatten". 


WELTCHRONIK  RUDOLFS  VON  EMS  VON  A.  F.  C.  VILMAR.         481 

Wenn  ich  mich  über  den  inneren  Werth  und  die  Wichtig- 
keit dieses  Denkmals  für  die  Geschichte  d6r  epischen  Poesie 
nicht  täusche,  so  habe  ich  doppelte  Ursache  zu  wünschen,  dass 
Kenner  mit  meiner  Arbeit  nicht  unzufrieden  sein  mögen. 

Wilh.  Grimm. 


DIE  ZWEI  RECENSIONEN  UND  DIE  HAND-         645 
SCHRIFTEXFAMILIEN    DER   WELTGHROXIK 
.  RUDOLFS  VON  EMS 

mit  Auszügen  aus  den  noch  ungedruckten  Theilen  beider  Bearbeitungen.    Von 
Dr  A.  F.  C.  Vilmar,  Gymnasialdirector.     Marburg,   1839.     80  S.  in  4. 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  I,  65.  Stück,  den  22.  April  1839. 
S.  645-648. 


D. 


'em  diesjährigen  Programme,  welches  zu  der  öffentlichen 
Prüfung  der  Schüler  des  kurfürstlichen  Gymnasiums  einlädt, 
hat  Herr  Gymnasialdirector  Dr  A.  F.  C.  Vilmar  eine  Abhand- 
luncr  beisceofeben.  welche  den  Titel  führt:  Die  zwei  Recensionen 
und  die  Handschriftenfamilien  der  Weltchronik  Rudolfs  von 
Ems  mit  Auszügen  aus  den  noch  unojedruckten  Theilen  beider  646 
Bearbeitungen,  80  Seiten  in  Quart,  und  einen  erfreulichen  Be- 
weis liefert,  wie  solche  Gelegenheitsschriften  zum  Vortheile  der 
Wissenschaft  können  verwendet  werden. 

Mit  Rudolfs  Weltchronik  hatte  sich  bisher  nur  Herr  Pro- 
fessor Massmann,  den  die  längst  verkündigte,  immer  noch  nicht 
zu  Stande  gekommene  Herausgabe  der  Kaiserchronik  darauf 
führte,  beschäftigt  und  sich  durch  Nachweisung  der  zahlreichen 
Handschriften  bereits  ein  Verdienst  erworben.  Er  hatte  die 
Meinung  geäussert,  dass  nur  eine  Recension  vorhanden  sei, 
aber  ein  doppelter  Prolog.  Herr  Gymnasialdirector  Vilmar  be- 
weist, dass  diese  Ansicht  unrichtig  ist  und  zwei  gänzlich  ver- 
schiedene Bearbeitungen  desselben  Gegenstandes  auf  uns  ge- 
kommen sind.  Die  ältere  Recension  umfasst  die  Bücher  des 
alten  Testaments  bis  auf  Salomons  Tod,  die  jüngere  nur  den 
Pentateuch,  das  Buch  Josua  und  das  Buch  der  Richter,  doch 
dieses  nur  zum   geringsten  Theile,   und   weicht   nicht   bloss   im 

W.  GRIMM,   KL.  SCHRIFTEN.     II.  3  1 


482        WELTCHRONIK  RUDOLFS  VON  EMS  VON  A.  F.  C.  VILMAR. 

Prologe,  sondern  auch  in  den  gemeinschaftlichen  Stücken,  so- 
wohl dem  Inhalte  als  der  Darstellung  nach,  gänzlich  von  der 
älteren  ab.  Die  ältere  Bearbeitung  rührt  ohne  Zweifel  von 
Rudolf  von  Ems  her,  wie  schon  der  akrostichische  Anfang  seines 
Prologs  beweist.  Ich  bemerke  hier,  dass  in  der  ersten  Zeile, 
obgleich  alle  nachgesehenen  Handschriften  Richter  got  herre 
über  alle  kraft  lesen,  doch,  da  sich  der  Vers  nicht  scandieren 
lässt,  ein  Fehler  stecken  muss;  wahrscheinlich  ist  Richtasre  über 
alle  kraft  zu  bessern.  Rudolfs  Prolog  ist  dem  König  Konrad  IV 
gewidmet.  Die  jüngere  Bearbeitung  dagegen,  deren  Prolog  mit 
Christ  herre  anfängt,  ist  ausschliesslich  dem  Landgrafen  Hein- 
rich von  Thüringen  zugeeignet,  und  ihr  Verfasser  nennt  sich 
nicht,  auch  nicht  seinen  Vorgänger,  obgleich  er  ihn  gekannt 
647  hat.  Endlich  ist  Rudolfs  Werk  abermals  von  anderen  fortge- 
setzt  und  auch  durch  Zusätze  im  Innern  erweitert  worden. 
Die  bis  jetzt  aufgefundenen  42  Handschriften,  wozu  noch  einige 
Bruchstücke  kommen,  enthalten  entweder  eine  von  den  beiden 
Bearbeitungen  rein  oder  einen  aus  beiden  verschiedentlich  ge- 
mischten Text;  sie  sind  nach  ihren  Bestandtheilen  in  Klassen 
abgetheilt  und  näher  beschrieben.  Die  aus  den  Handschriften 
mitgetheilten  Stellen  sind  mit  Einsicht  gewählt  und  lesbar  her- 
gestellt, wenn  auch,  besonders  durch  sorgfältigere  Beachtung 
der  metrischen  Gesetze,  noch  Manches  zu  bessern  wäre.  So 
ist  z.  B.  60,  10  zu  lesen  unde  hört;  61,  75  von  erst  mit  diner 
kraft;  63a,  211  der  umbejage  geschuof  got;  69,  73  eigenliches; 
7Jb,  11  bevant;  72b,  42  ist  „wol"  zu  streichen;  73b,  15  als; 
73b,  20  wahrscheinlich  al  ze  kurz;  74b,  38  der  dühte  sich  an 
sailden;  77a,  182  des  ern  baete.  Noch  Eins  und  das  Andere 
wäre  anzumerken,  z.  B.  S.  22  ist  gegen  den  Reim  lande:  viande 
nichts  einzuwenden;  S.  25  ist  namen  (namon)  als  Infinitiv  von 
genamet  zu  setzen.  Die  öfter  mangelnde  Bezeichnung  der 
langen  Vocale  ist  leicht  nachzuholen. 

Die  ganze,  schon  durch  Herbeischaffung  der  wichtigeren 
Handschriften  schwierige  Untersuchung  ist  gründlich,  mit  Scharf- 
sinn und  Geschick  geführt  und  gewährt  klare  Ergebnisse.  Es 
ist  hier  wieder  ein  Beispiel,  wie  genaue,  keine  Einzelnheit  ver- 
schmähende   Arbeit   erst   zur   wahren  Erkenntnis    auch   der   all- 


THE  RUNES  OF  ANGLO-SAXONS  BY  JOHN  M.  KEMBLE.     483 

gemeineren  Verhältnisse  leitet.  Mit  Geist  und  freiem  Blick  be- 
zeichnet der  Verf.  die  Stelle,  welche  dem  einen  festen  Plan  ver- 
folgenden Gedichte  in  der  Geschichte  der  Poesie  zukommt,  und 
siegreich  bekämpft  er  das  ungerechte,  zum  Theil  auf  falschen  Vor- 
aussetzungen beruhende  ürtheil,  das  Gervinus  über  den  nicht 
ausgezeichneten,  aber  sinnvollen  und  achtungswerthen  Dichter  &48 
ausgesprochen  hat. 

Eine    Ausgabe    von   Rudolfs    reinem    Text    wäre   jetzt    an 

der  Zeit. 

"Wilhelm  Grimm. 


THE  RUNES  OF  ANGLO-SAXOXS.  1129 

By  John  M.  Kemble.     From  the  Archaeologia   vol.  XXYIH,   pp.  327  —  372. 

London.     Printed  by  J.  B.  Nichols  and  son.     1840.      46  Seiten  in  Quart  mit 

sechs  Steindrucktafehi.  ^) 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.     Bd  11,  114.  115.  Stück,  den  22.  Juli  1841. 

S.  1129—1138. 

-LJndlich  eine  Schrift  über  die  angelsächsischen  Runen,  wie 
sie  schon  längst  ein  jeder,  der  an  diesem  Gegenstande  Antheil 
nimmt,  gewünscht  hatte.  Nur  ein  in  England  einheimischer 
Gelehrter,  dem  die  angelsächsischen  Handschriften  nicht  fern 
lagen,  der  die  angelsächsischen  Denkmäler  und  Alterthümer  mit 
eiorenen  Augen  betrachten  oder  leicht  darüber  Auskunft  erlangen 
konnte,  war  im  Stande,  eine  genügende  Arbeit  zu  liefern.  Er 
musste  aber  neben  gründlicher  Kenntnis  der  angelsächsischen 
Sprache  auch  Takt  und  Scharfsinn,  neben  Eifer  und  Behendig- 
keit des  Geistes  auch  ruhige  Besonnenheit  besitzen,  um  sich 
nicht  in  luftigen,  gewagten  Vermuthungen  zu  verlieren.  Allen  ii30 
diesen  Anforderungen  genügt  Kemble  in  vollem  Masse;  wohl 
hat  er  ein  Recht,  sich  zu  freuen,  dass  die  Ehre,  in  dieser  An- 
gelegenheit die  rechte  Bahn  gezeigt  und  so  wichtige  Aufklärungen 
gegeben  zu  haben,  keinem  Ausländer  zu  Theil  geworden  ist. 
Ich  will  Bericht  über  die  treffliche  Schrift  abstatten. 

0   Die  besonderen  Abdrücke  kommen  nicht  in  den  Buchhandel,  und  ich 
verdanke  mein  Exemplar  dem  Verf. 

31* 


4g4     THE  RUNES  OF  ANGLO-SAXONS  BY  JOHN  M.  KEMBLE. 

Zuerst  eine  Einleitung.  Nachdem  der  Verf.  die  ursprüng- 
liche Bedeutung  des  Wortes  Rune  angemerkt  hat,  berührt  er 
die  Frage,  in  welcher  Zeit  die  Deutscheii  das  Runenalphabet 
mögen  empfangen  haben,  und  weist  ihre  Beantwortung  mit 
Recht  als  unfruchtbar  zurück.  Es  genüge  zu  wissen,  dass  die 
Deutschen  diese  Schrift  schon  besessen  hätten,  als  sie  den 
Römern  bekannt  wurden.  Er  führt  dafür  die  Aurinia,  die 
weise  Frau,  aus  Tacitus  an  und  ^^erklärt  sie  nach  Vorgang 
der  deutschen  Mythologie  (S.  227)  durch  Aliruna.  Auch  mir 
ist  es  aus  inneren  Gründen  höchst  wahrscheinlich,  um  nicht  zu 
sagen  gewiss,  dass  die  Deutschen  zu  jener  Zeit  schon  die 
runische  Schrift  besassen,  allein  streng  beweisen  lässt  es  sich 
durch  jenen  Eigennamen  noch  nicht,  zu  dessen  Erklärung  der 
ursprüngliche  BegriflF  von  rüna  ausreicht,  ohne  dass  man  Bezug 
auf  die  Schrift  zu  nehmen  braucht:  es  war  eine  weise,  mit  den 
religiösen  Geheimnissen  bekannte  Frau.  Indem  der  Verf.  be- 
merkt, dass  man  zu  der  Zeit,  wo  man  weder  Feder  und  Tinte 
noch  Pergament  kannte,  die  Buchstaben  auf  Holz  oder  Stein 
einschnitt,  gedenkt  er  neben  den  hölzernen  Tafeln  auch  der 
Reiser,  auf  welche  man  sie  ritzte,  wenn  man  das  Los  damit 
werfen  wollte.  Dies  beruht  indessen  nur  auf  einer  muthmass- 
lichen  Auslegung  einer  Stelle  bei  Tacitus,  über  welche  ich  einen 
Excurs  in  meiner  Schrift  über  deutsche  Runen  (1821)  geliefert 
1131  habe.  Die  Grundidee  bei  dieser  Auslegung  gehört  Hrn.  Prof. 
Finn  Magnussen,  ich  erkläre  dies  hier  um  so  lieber,  als  ich 
dessen  nachher  (1822)  in  der  dänischen  Übersetzung  der  alten 
Edda  3,  76 — 96  gedruckte  Abhandlung,  die  mir  damals  schon 
zugänglich  war,  nicht  angeführt  habe,  weil  vor  mir  in  diesen 
Anzeigen  (1819,  St.  143)  von  einem  anderen  und  zwar  von  dem- 
selben Gelehrten,  der  mir  die  dänische  Abhandlung  mitgetheilt 
hatte,  diese  Idee  bereits  bekannt  gemacht  war.  Was  ich  sonst 
Hrn.  Finn  Magnussen  verdanke,  wird  man  bei  einer  Ver- 
gleichung  herausfinden.  Wichtig  für  das  Alter  der  Runen  ist 
die  Nachweisung  Kembles,  dass,  wie  die  Edda  dem  Odin  die 
Erfindung  der  Runen  beilegt,  so  auch  ein  angelsächsisches 
Denkmal  sagt,  dass  Wodan  zuerst  Runen  geschrieben  habe: 
eine  den  Germanen   also    wie   den  Scandinaviern  gemeinschaft- 


THE  RÜNES  OF  AXGLO-SAXONS  BT  JOHN  M.  KEMBLE. .    435 

liehe  und  daher  gewiss  uralte  Überlieferung,  die  nur  ausdrucken 
will,  dass  die  Erfindung  des  Alphabets  menschliche  Kräfte  zu 
übersteigen  scheine.  Es  ist  überhaupt  bei  dem  hohen  Alter 
des  Alphabets  schwer,  eine  Zeit  ausfindig  zu  machen,  in  welche 
man  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  eine  Erfindung  setzen  könnte, 
die  mit  der  inneren  Natur  und  dem  Organismus  der  Sprach- 
laute nothwendig  schon  musste  bekannt  gewesen  sein,  ehe  sie 
auf  den  Gedanken  kommen  konnte,  diesen  Organismus  durch 
Zeichen  darzustellen.  Etwas  wesentlich  Verschiedenes  sind 
Zeichen  für  Begriffe,  selbst  Silbenschrift  ist  gar  nicht  damit  zu 
vergleichen  und  fordert  eben  keine  grosse  Anstrengunor  des 
Geistes. 

Lässt  sich  nicht  bezweifeln,  dass  Runen  in  heidnischer  Zeit 
vorhanden  waren,  so  wurden  sie  doch  wahrscheinlich  nur  selten 
in  Anwendung  gebracht  und  immer  nur  von  einzelnen,  welche 
Kenntnis  davon  besassen.  Allgemein  verbreitet  war  die  Schrift  11.32 
in  jener  Zeit  gewiss  nicht.  Heidnische  Inschriften  auf  Steinen 
sind  noch  nicht  gefunden,  man  darf  zweifeln,  ob  sie  überhaupt 
jemals  dagewesen  sind.  Die  Holztafeln,  auf  welche  man  die 
Runen  einschnitt,  haben  sich  nicht  erhalten  können,  allein  auch 
sie  gestatteten  ihrer  Natur  nach  nur  einen  eingeschränkten  Ge- 
brauch. Dass  man  den  Runen  übernatürliche  Kräfte  beilegte 
und  Zaubereien  damit  vollbrachte,  ist  an  sich  schon  glaublich 
genug,  aber  Kemble  bringt  auch  willkommene  Zeugnisse  aus 
Beda  und  Beowulf  bei.  Wenn  er  ferner  meint,  das  Christen- 
thum  habe  sich  feindselig  gefjen  die  Runen  verhalten,  so  ver- 
steht sich  das  von  selbst,  insofern  man  sie  bei  heidnischen  Ge- 
bräuchen in  Anwendung  brachte  und  man  dadurch  übernatür- 
liche Dinge  bewirken  zu  können  glaubte,  aber  den  äusseren 
Zeichen,  den  Buchstaben  selbst  teuflischen  Ursprung  beizulegen, 
so  weit  ist  schwerlich  der  Widerwillen  gegangen ;  man  durfte 
es  schon  deshalb  nicht,  weil  bei  aller  Verschiedenheit  die  Runen 
immer  noch  Ähnlichkeiten  genug  mit  dem  lateinischen  Alphabete 
hatten  und  man  dieses  zugleich  mit  würde  verdächtigt  haben. 
Wie  hätte  man  das  runische  FIASTBR  verdammen  und  das 
lateinische,  das  die  Züge  abrundete,  weil  man  sie  mit  der  Feder 
auf  Pergament  leicht  hinschrieb,  während  die  eckige  Form  der 


486     THE  RUNES  OF  AXGLO-SAXOXS  BY  JOHN  M.  KEMBLE. 

Runen  für  das  Einritzen  in  Stein  und  Holz  viel  bequemer  war, 
daneben  gebrauchen  können?  Dann  aber,  wie  will  man  den 
Umstand  erklären,  dass  alle  Runen,  die  wir  besitzen,  in  Scan- 
dinavien  wie  in  Deutschland  und  England,  unbezweifelt  aus 
christlicher  Zeit  herrühren?  Konnte  man  Runen  und  lateinische 
Schrift  auf  einem  und  demselben  Denkmale  anwenden?  Durfte 
man,  was  ganz  christlichen  Inhalt  hatte,  mit  Runen    schreiben? 

1133  Kemble,  dem  diese  Einwürfe  nicht  alle  entgehen  konnten,  ant- 
wortet, man  müsse  annehmen,  die  am  frühesten  zum  Christen- 
thum  Bekehrten  seien  gerade  Priester,  mithin  im  Stande  ge- 
wesen, die  eigentliche  Natur  der  heidnischen  Zeichen  zu  be- 
urtheilen :  diese  hätten  kein  Bedenken  getragen,  sich  der  Runen 
allein  oder  in  Verbindung  mit  lateinischer  Schrift  zu  bedienen. 
Ich  will  das  gern  eine  scharfsinnige  Vermuthung  nennen,  aber 
wie  ist  sie  zu  beweisen?  Diese  Priester  schrieben  nicht  für  sich 
allein  die  Runen  nieder,  mussten  sie  nicht  bei  allen,  die  nicht, 
wie  sie.  Neubekehrte  waren,  damit  Anstoss  erregen?  Kann  man 
in  den  Jahrhunderten,  in  welchen  Runen  eingegraben  und  ge- 
schrieben wurden,  jedes  Mal  neubekehrte  Priester  voraussetzen? 
Dazu  kommt,  dass  kein  einziges  altes  Zeugnis  von  dem  Wider- 
willen der  christlichen  Zeit  gegen  die  runischen  Buchstaben 
anzuführen  ist.  Was  der  Bischof  Brynolf,  der  nach  der  Re- 
formationszeit lebte,  sagt,  ist  nichts  als  eine  spätere  Vermuthung, 
auf  die  ich  kein  Gewicht  legen  kann.  Das  Natürlichste  ist 
doch,  anzunehmen,  dass  man  gegen  die  Runen  als  blosse  Buch- 
staben nicht  das  Geringste  einzuwenden  hatte,  sondern  dass 
man  sie  aus  keinem  anderen  Grunde  zurücksetzte,  als  weil 
mit  dem  Christenthume  zugleich  Kenntnis  der  lateinischen 
Sprache  und  Schrift  eindrang.  Diese,  wie  vorhin  bemerkt,  be- 
quemere Schrift  breitete  sich  aus  und  wurde  auch  bei  der  ein- 
heimischen Sprache  neben  den  alten  Runen  angewendet.  Die 
angelsächsischen  Runeninschriften  gehören,  wie  K.  bemerkt,  fast 
alle  nach  Northumberland  (das  Wort  in  der  angelsächsischen 
Bedeutung  genommen),  weil  dort  vor  Ende  des  8.  Jahrhunderts 
die  Bildung  weiter  als  in  irgend  einem  Theile  von  Germanien 
vorgerückt  war. 

1134  Die  Untersuchung  gelangt  jetzt  zu  den  mit  angelsächsischen 


THE  RÜXES  OF  ANGLO-SAXONS  BY  JOHX  M.  KEMBLE.  487 

Runen  geschriebenen  Überbleibseln.  Kemble  gibt  zunächst  ein 
Verzeichnis  von  den  verschiedenen  Darstellungen  des  marko- 
mannischen,  mit  dem  angelsächsischen  im  Ganzen  überein- 
stimmenden Alphabets;  die  schon  früher  in  Abbildungen  be- 
kannt gemachten  sind  durch  einige  von  dem  Verf.  selbst  in 
Handschriften  gefundene  vermehrt.  Dann  theilt  er  das  angrel- 
sächsische  Gedicht  iiber  Runen  mit,  welches,  obgleich  zu  den 
späteren  Denkmälern  dieser  Sprache  gehörig,  doch  durch  seinen 
Inhalt  von  Wichtigkeit  ist.  Der  Codex,  in  dem  es  stand,  ist 
leider  verloren,  Kemble  konnte  sich  also  nur  des  Abdrucks  bei 
Hickes  bedienen.  Dass  hier  Text  und  Übersetzung  besser  ist, 
als  ich  beides  vor  20  Jahren  liefern  konnte,  versteht  sich 
von  selbst. 

Von  den  sieben  mit  angelsächsischen  Runen  in  angel- 
sächsischer Sprache  (denn  Kemble  lässt  sich  nicht  auf  das  ein, 
was  mit  diesem  Alphabete  in  anderer  Sprache  geschrieben  ist) 
abgefassten  Inschriften  konnte  ich  in  meiner  Schrift  nur  zwei 
anführen,  die  eine  zu  Bewcastle,  die  andere  auf  dem  Kreuz  zu 
Ruthwell.  Jene  hatte  ich  richtig  gelesen,  aber  Kembles  Er- 
klärung verdient  den  Vorzug,  diese,  die  ich  nur  aus  der  Ab- 
bildung bei  Hickes  kannte,  hatte  ich  unerklärt  lassen  müssen. 
Zu  diesen  zweien  kommen  vier  Inschriften,  die  seitdem  in  der 
Archaeologia  Brittanica  sind  bekannt  gemacht  worden  und  hier 
ebenfalls  von  Kemble  besser  als  von  seinen  Vorgängern  erklärt 
werden,  endlich  noch  eine,  die  in  Whi tackers  history  of  Rich- 
mondshire  abgebildet  ist,  über  welche  Kemble  hinweggeht,  weil 
es  vielleicht  keine  angelsächsische  Inschrift  ist  und  weil  ihre 
Genauigkeit  zweifelhaft  scheint;  es  muss  vor  allen  Dingen  erst 
eine  bessere  Abschrift  vorliegen. 

Die  Erklärung  der  Inschrift  zu  Ruthwell  (an  der  schottischen 
Grenze)  ist  der  eigentliche  Glanzpunkt  dieser  Schrift.  Sie  be-  1135 
findet  sich  auf  einem  etwa  17  Fuss  hohen  steinernen  Kreuz, 
welches  im  Jahre  1642  von  den  bilderstürmenden  Presbyterianem 
in  der  Kirche,  wo  es  stand,  umgestürzt  wurde,  wobei  es  in 
mehrere  Stücke  zerbrach  und  die  Inschrift  Schaden  nahm. 
Diese  Stücke  blieben  in  der  Kirche  liegen  und  dienten  als  Sitze, 
bis  sie  im  Jahre  1772  auf  den  Kirchhof  geschafft  und  dadurch 


488     THE  RÜNES  OF  ANGLO-SAXONS  BY  JOHN  M.  KEMBLE. 

der  Zerstörung  noch  mehr  ausgesetzt  wurden.  In  dem  Jahre 
1802  liess  Duncan  den  Stein  wieder  aufrichten  und  die  beiden 
verlorenen  Querarme  des  Kreuzes  ergänzen.  Leider  ist  vor  der 
Zerstörung  keine  Abbildung  des  Denkmals  gemacht  worden. 
Die  älteste,  die  man  besitzt,  ist  die  bei  Hickes  vom  Jahre  1702; 
eine  zweite  lieferte  zwanzig  Jahre  später  Gordon  in  seinem 
itinerarium  septentrionale.  Die  letzte  genaue  und  sorgfältige 
von  Duncan  erschien,  prächtig  in  Kupfer  gestochen,  in  der 
Archäologie  1834.  Alle  vier  Seiten  des  Steines  enthalten  In- 
schriften und  Bildwerke.  Auf  den  zwei  breiteren  Seiten  erblickt 
man  basreliefartige  Darstellungen  aus  der  heiligen  Geschichte 
und  auf  den  Rändern,  welche  die  Bilder  einfassen,  lateinische 
Inschriften  mit  lateinischen  Buchstaben:  die  zwei  schmäleren 
Seiten  sind  mit  ausgehauenen  Blumenranken,  zwischen  welchen 
Vögel  und  andere  halbphantastische  Thiere  sitzen,  ausgeziert, 
gleichfalls  auf  den  Rändern  stehen  die  Runen.  Auf  die  Er- 
klärung der  Runen  kommt  es  aber  allein  an,  da  die  lateinische, 
die  biblischen  Bilder  erklärende  Inschrift,  so  weit  sie  lesbar 
ist,  keine  Schwierigkeit  macht.  Kemble  zeigt,  dass  die  Sprache 
keine  andere  ist,  als  die  angelsächsische,  und  zwar  wie  sie  in 
Northumberland  in  dem  achten  und  neunten  Jahrhundert  ge- 
sprochen wurde,  und  dass  die  lesbaren  Stücke  Zeilen  eines 
1136  alliterierenden  Gedichtes  enthalten,  welches  sich  ebenfalls  auf 
die  bildlichen  Darstellungen  der  anderen  beiden  Seiten  bezieht, 
nämlich  auf  die  Fusswaschung  des  Heilands  durch  Maria  Magda- 
lena und  auf  die  Verherrlichung  Christi  durch  seine  Leiden. 
Das  Wenige,  was  ich  damals  im  Allgemeinen  über  das  Denk- 
mal sagen  konnte,  war  demnach  nicht  unrichtig.  Man  hat  so- 
gleich bei  Kembles  Erklärung  das  Gefühl,  dass  er  auf  dem 
rechten  Wege  ist,  geht  man  genauer  ein,  so  wird  man  bald 
überzeugt,  dass,  wenn  man  auch  über  eine  Einzelheit  hier  und 
da  noch  streiten  könnte,  im  Ganzen  sich  nichts  dagegen  wird 
aufbringen  lassen ;  diese  Erklärung  erfreut  ebenso  durch  ge- 
sunden Sinn  und  Gewandtheit  des  Geistes,  als  durch  feine 
Kenntnis  der  angelsächsischen  Sprache  und  der  hier  erscheinen- 
den eigenthümlichen  Sprachformen.  Kemble  äussert  sich  zu- 
gleich, nicht  ohne  polemische  Schärfe,   gegen  die  Auslegungen 


TUE  RUNES  OF  ANGLO-SAXONS  BY  JOHN  M.  KEMBLE.     489 

zweier  dänischen  Gelehrten,  welche  allerdings  Seltsames  und 
Befremdendes  genug  haben  und  bei  welchen  besonders  das  Be- 
streben,, die  altnordische  Sprache  hier  wieder  zu  finden,  nach- 
theilig wirkte;  es  lässt  sich  davon  nichts  mehr  aufrecht  erhalten. 
Indessen  bedarf  doch  ein  Umstand  noch  der  Aufklärung.  Nach 
Kemble  ist  die  Abbildung  des  Denkmals  bei  Hickes  die  erste, 
Finn  Magrnussen  stützt  sich  aber  in  seiner  ausführlichen  Er- 
klärung  desselben  (Annaler  for  nordisk  oldkyndighed,  Kiöbenhavn 
1836—1837,  p.  243—337)  auf  eine  ältere.  Er  kennt  sie  durch 
einen  Kupferstich  in  Folioformat,  den  er  von  Thorkelin  empfangen 
und  den  dieser  bei  seinem  Aufenthalte  in  Grossbritannien,  er 
wusste  nicht  von  wem,  erhalten  und  mitgebracht  hatte.  Weder 
Kemble  noch  sonst  jemand  in  Grossbritannien  weiss  etwas  von 
diesem  Kupferstich.  Das  Merkwürdigste  aber  ist,  dass  diese 
Abbildung  noch  die  Inschrift  neben  den  beiden  Bildern  auf  der  ii37 
Spitze  des  Kreuzes  enthält,  die  man  sonsther  nicht  kennt  und 
von  welcher  Duncan  sagt,  sie  sei  unlesbar.  Finn  Magnussen 
liefert  eine  Nachbildung  von  diesem  unbekannten  Theile  jenes 
Kupferstichs,  was  um  so  nöthiger  war,  als  er  gerade  darauf 
seine  Erklärung  des  Denkmals  hauptsächlich  stützt.  Auf  der 
einen  Seite  zeigen  sich,  nach  meiner  Meinung,  deutlich  lateinische 
Buchstaben,  und  das  lateinische  VERBUM  kann  kaum  bezweifelt 
werden. 

Der  Verf.  bespricht  jetzt  die  angelsächsischen  Runen,  die 
in  angelsächsischen  Handschriften  vorkommen.  Sie  erscheinen 
zumeist  in  Handschriften  der  späteren  Zeit.  Zuerst  dienten  sie 
als  eine  Art  von  Abbreviatur,  indem  nämlich  die  Rune  statt 
des  Wortes  geschrieben  ward,  aus  welchem  ihr  Name  besteht. 
So  wird  z.  B.  die  Rune  M  gesetzt,  um  man,  im  Beowulf  E ,  um 
edel  auszudrücken,  denn  so  heissen  beide  Runen.  Dies  geschah 
nicht  in  der  Absicht,  etwas  Geheimes  anzudeuten,  sondern  bloss 
aus  Bequemlichkeit.  Sodann  wird  aus  drei  Handschriften  (eine 
Stelle  davon  ist  seitdem  auch  in  Andreas  und  Elene  S.  88  ge- 
druckt; vgl.  das.  S.  167)  ein  Beispiel  angeführt,  wo  ein  solcher 
Gebrauch  der  Runen  den  bestimmten  Zweck  hatte,  den  Namen 
des  Dichters  auszudrücken,  denn  sie  bilden,  wenn  man  sie  an- 
einanderreiht, den  Eigennamen  CYNEWULF.     Hier  hat  doch 


490     THE  RUNES  OF  ANGLO-SAXONS  BY  JOHN  M.  KEMBLE. 

wohl  die  Ansicht  gewirkt,  dass  es  schicklich  sei,  den  Dichter 
nur  nebenbei  und  halb  versteckt  zu  nennen.  Ferner  finden  sich 
Runen  bei  Räthseln  angewendet,  indem  das  Wort  des  Räthsels 
umgekehrt  geschrieben  ward,  z.  B.  SROH  für  HORS,  DNÜH 
für  HUND.  Endlich  kommt  es  vor,  dass  Runen  bloss  zur  Er- 
haltung, vielleicht  auch  zur  Übung  in  der  wenig  gebrauchten 
1138  Schrift  niedergeschrieben  wurden,  ohne  dass  ein  Sinn  darin 
läge:  manchmal  ist  es  eine  blosse  Anhäufung  von  Consonanten 
ohne  Vocale  oder  von  Vocalen  ohne  Consonanten.  Den  Schluss 
macht  ein  Stück  aus  einem  noch  ungedruckten  angelsächsischen 
Gedichte  von  Salomon  und  Saturn,  in  welchem  die  Kraft  des 
Pater  noster  beschrieben  und  worin  jedem  Buchstaben,  aus 
welchem  das  Gebet  zusammengesetzt  ist,  eine  gewisse  Wirkung 
beigelegt  wird.  Die  Runen,  mit  welchen  das  ganze  Gebet  kann 
ausgedrückt  werden,  sind  eingerückt. 

Man  sieht,  wie  reichhaltig  diese  Schrift  ist  und  wie  grossen 
Dank  wir  dem  Verf  für  den  Fortschritt  schuldig  sind,  den  wir 
dadurch  in  der  Kenntnis  der  angelsächsischen  Runen  gemacht 
haben.  Wilhelm  Grimm. 


ANHANG. 


ANKÜNDIGUNG.  57 

Heidelbergische  Jahrbücher  der  Litteratur.    Jahrgang  IV  (1811)  Intelligenz- 
blatt  No.  Vni,  S.  57—58. 

[Mit  Jacob  Grimm.] 

J.  m  Vertrauen  auf  die  Neigung,  mit  welcher  die  Einsichts- 
vollen den  Denkmälern  altdeutscher  Poesie  begegnen,  und  be- 
stimmt von  unserer  eigenen  Lust  an  dem  Studium  derselben, 
kündigen  wir  eine  Sammlung  altnordischer  Sagen  an.  Wer 
eine  leichte  Kenntnis  der  Sache  hat,  dem  wird  es  nicht  ent- 
gangen sein,  wie  zwischen  einheimischer  und  nordischer  National- 
dichtung ein  Zusammensang  gewesen  und  wie  wir,  wenn  wir 
die  Geschichte  jener  erforschen  wollen,  auf  diese  angewiesen 
werden.  Den  Fabelkreis  der  Nibelungen  finden  wir  nicht  nur 
in  einer  eigenthümlichen  Gestalt  im  Norden  wieder,  sondern 
auch,  was  uns  einst  zugehört  hat,  was  aber  in  der  Unachtsam- 
keit einer  übermüthigen  Zeit  verloren  gegangen,  in  Übersetzungen 
aus  dem  13.  Jahrhundert  erhalten.  So  müssen  wir  die  nor- 
dischen Sagen  einer  sorgfältigen  Untersuchung  unterwerfen, 
theils  um  auf  die  erste  Entstehung  des  grossen  Epos,  auf  den 
Keim  desselben,  zu  gelangen,  theils  um  so  soviel,  als  es  ver- 
stattet ist,  unser  verlorenes  Eigenthum  wieder  zu  gewinnen. 
Nach  dieser  doppelten  Rücksicht  wird  die  Sammlung  geordnet 
werden.  Die  Quelle  derselben  wird  erstlich  die  in  Deutschland 
äusserst  seltene  und  soviel  uns  bekannt  nur  auf  der  Göttingischen 
Bibliothek  vorhandene  gedruckte  Sammlung  von  Biorner  (Nor- 
diska  Kampa  Dater.  Stockholm  1737.  Fol.)  sein;  wir  wer- 
den daraus  die  vor  allen  wichtige  Wolsunga,  Norna  Gestur 
und  Ragnar  Lodbroks  Saga  entnehmen.  Sodann  befinden 
wir  uns  in  der  glücklichen  Lage,  Abschriften  von  nordischen 
Manuscripten  erhalten  zu  können,  so  wie  uns  der  Katalog  von 


494      ANKÜNDIGUNG  EINER  SAMMLUNG  ALTNORDISCHER  SAGEN. 

den  Schätzen  des  Magnäischen  Instituts  in  Kopenhagen  zuge- 
kommen ist.  Schon  ist  eine  vollständige  Abschrift  von  der 
Blomsturwalla  Saga  in  unseren  Händen,  einem  merkwürdigen 
Gedicht,  welches  im  13.  Jahrhundert  von  einem  norwegischen 
58  Meister  Biorn  nach  einem  deutschen  Gedicht,  das  er  lesen 
hörte,  aufgeschrieben  ist.  Eine  Abschrift  der  Magus  Jarl 
Saga,  die  gleichfalls  in  den  Cyklus  des  Nibelungenlieds  ge- 
hört, wird  eben  besorgt.  Und  so  glauben  wir,  dass  unsere 
Sammlung  reichlich  könne  ausgestattet  werden.  Wird  sie  be- 
günstigt, so  soll  auch  die  Wilkina  Saga,  die  immer  selten 
ist,  ihr  einverleibt  werden. 

*)Wir  geben  den  nordischen  Text  und  eine  ganz  treue 
Übersetzung  ins  Deutsche,  weil  jene  Sprache  ihre  Schwierig- 
keiten hat  und  die  Hilfsmittel  zu  ihrer  Erlernung  äusserst  be- 
schränkt sind,  wir  aber  diese  Gedichte  jedem  Freund  der  alten 
Poesie  zugänglich  zu  machen  wünschen.  Zu  einer  jeder  diesen 
Sagen  werden  wir  eine  historische  Abhandlung  schreiben,  die 
alles  erläutert,  was  für  die  Geschichte  der  Poesie  von  Bedeu- 
tung ist.  Indem  wir  hierdurch  erklären,  dass  das  Buch  ganz 
eigentlich  Gelehrten  bestimmt  sei,  so  müssen  wir  doch  be- 
merken, dass  unabhängig  von  ihrer  wissenschaftlichen  Bedeu- 
tung in  diesen  Sagen,  namentlich  in  der  Wolsunga  und  Ragnar 
Lodbrok  Saga,  eine  Poesie  eingeschlossen  sei,  die  wir,  ohne  zu 
zweifeln,  zu  der  grössten  rechnen,  welche  eine  gewaltige  thaten- 
reiche  Zeit  erzeugt  hat,  denn  aus  dieser  ist  sie  entsprungen, 
nicht  das  Werk  eines  Menschen. 

Jeder  Band  wird  zwei  Sagen  mit  der  deutschen  Übersetzung, 
die  besonders  gedruckt  wird ,  begreifen.  Der  erste  Band  wird 
in  diesem  Sommer  erscheinen  und  wahrscheinlich  mit  der  Wol- 
sunga und  Blomsturwalla  Saga  beginnen. 

*)  [Die  zwei  nächsten  Abschnitte  hat  Gräter  im  Anzeiger  zu  Idunna  und 
Hermode,  No.  2,  den  18.  Januar  1812,  Seite  B  unter  dem  Titel:  „Von  einer  Samm- 
lung altnordischer  Sagen"  mit  Grimms  Unterschriften  allein  abgedrucict  nach  den 
Worten:  „Nachdem  die  Verfasser  die  Veranlassung,  den  Nutzen  und  die 
Quellen  ihrer  Arbeit  angegeben  haben,  fahren  sie  fort":  —  Auf  demselben 
Blatt  werden:  Lieder  der  älteren  Edda,  zum  erstenmal  aus  der  kopenhagener 
Handschrift  herausgegeben  durch  Friedr.  Heinr.  von  der  Hagen,  als  näclistens 
erscheinend  angezeigt.] 


ANKÜNDIGUNG  DER  EDDA  UND  DES  REINERE  FUCHS.  495 

Wir  können  diese  Gelegenheit  nicht  vorbeigehen  lassen, 
ohne  die  Hoffnung  mitzutheilen,  die  wir  haben,  in  sehr  kurzer 
Zeit  eine  vollständige  Abschrift  der  noch  ungedruckten  Lieder 
der  älteren  rhythmischen  oder  Edda  Saemundar  zu  besitzen, 
welche  unstreitig  die  wichtiarsten  Denkmäler  der  altnordischen 
Poesie  sind,  und  die  wir,  sobald  es  die  schwierige  Arbeit  er- 
laubt, mit  einer  Übersetzung  bekannt  machen  wollen. 

Cassel,  am  11.  Februar  1811. 

Wilhelm  Carl  Grimm.     Jacob  Grimm. 


ANKÜNDIGUNG  DER  HERAUSGABE  DER  EDDA     85» 
SAEMUNDAR  UND  DES  REINEKE  FUCHS. 

[Hallisclie]  Allgemeine  Litteraturzeitung  vom  Jahre  1811.   Halle.  Bell,  No.  107. 

Donnerstags,  den   18.  April    1811.     S.  853  —  854  =^  Anzeiger  zu   Iclunna  und 

Hermode.     Herausgegeben   von  Gräter.     No.  2,   den    18.  Januar   1812,   S.  A. 

[Mit  Jacob  Grimm.] 


^ 


T 

ir    verbinden    hier    die   Anzeige    zweier    von    einander 


selbst  unabhängiger  und  nur  an  ihrer  Wichtigkeit  gleicher 
Werke,  welche  wir  uns  freuen  baldigst  herausgeben  und  bear- 
beiten zu  können. 

Erstens  des  zweiten  ungednickten  Theils  der  Edda  Sae- 
mundar, eines  der  kostbarsten  Liedercyklus  aller  Zeiten. 
Wir  haben  den  nordischen  Text  bereits  vollständig  in  Händen 
und  werden  ihn,  als  die  Hauptsache,  sorgfältig  abdrucken, 
commentiren  und  mit  einer  treuen  deutschen  Übersetzung  be- 
gleiten. Welches  Licht  durch  diese  ebenso  einfacher  als  wahrer 
Poesie  vollen  Gesänge  auf  den  Nibelungen-  und  altdeutschen 
Heldenkreis  geworfen  wird,  bedarf  vielleicht  weniger  angemerkt  Söi 
zu  werden,  als  dass  sie  uns  eben  dieser  Beziehung  wegen,  so 
auch  in  Rücksicht  der  Sprache,  näher  und  leichter  liegen,  wie 
der  bereits  gedruckte  erste  Theil  der  saemundischen  Edda. 
Es  sind  diese  Lieder  Stücke  aus  dem  uralten  Epos  des  Nordens, 
noch  in  der  Gestalt  früher  Jahrhunderte  auf  uns  gekommen 
und   an    innerem   Werth   durchaus   dem  Homer   zu   vergleichen» 


496  ÜBER  DIE  EDDA. 

Zweitens  des  in  Rom  glücklich  aufgefundenen  altdeutschen 
Iteinhart  Fuchs,  wovon  wir  die  von  Glöckle  genommene 
Abschrift  ebenfalls  schon  besitzen.  Erst  durch  dieses  von  dem 
plattdeutschen  in  Form  und  Inhalt  gänzlich  abweichende  Ge- 
rücht wird  eine  historische  Kritik  dieser  herrlichen,  selbst  noch 
in  deutscher  Volkssage  stückweise  und  bisher  unerkannt  fort- 
lebenden Fabel  möglich  gemacht;  wir  hoflfen  aber,  um  diesen 
Zweck  noch  genauer  zu  erreichen,  zugleich  die  altfranzösischen 
•Gedichte  mit  abdrucken  lassen  zu  können,  zu  deren  Hand- 
schriften uns  der  Zugang  gemacht  worden  ist.  Das  deutsche 
Publikum,  welches  diesen  Sagencyklus  seit  Goethes  neuer 
Bearbeitung  von  neuem  gewürdigt  hat,  wird  ohne  Zweifel  der 
viel  älteren  und  ganz  neue  Seiten  aufweisenden  Quelle  Beifall 
und  Unterstützung  angedeihen  lassen.  Ein  ausführlicher  Com- 
mentar  ist  unerlässlich. 

Cassel,  im  März    1811.  Gebrüder  Grimm. 


59  ÜBER  DIE  EDDA. 

Erklärung,   die  Collision  in  der  Herausgabe  der  alten  Edda  und  der  altnor- 
dischen Sagen  betreffend. 

Morgenblatt    für    gebildete    Stände.      Sechster   Jahrgang.      1812.      Tübingen. 

J.  G.  Cotta.      4.      No.  221.      Montag,    14.   September   1812.      Übersicht    der 

neuesten  Litteratur.     1812.     No.  10.     S.  39—40. 

[Mit  Jacob  Grimm.] 

Xlerr  Professor  von  der  Hagen  zu  Breslau  behauptet  in 
^ier  Vorrede  zu  seinem  (schon  in  der  Ostermesse  als  fertig 
angekündigten,  jetzt  erst  ausgegebenen)  Abdruck  der  eddaischen 
Lieder,  ihm  falle  bei  der  Collision  mit  uns  nichts  zur  Last. 
Wenn  damit  die  Schuld  auf  uns  gewälzt  wird,  sind  wir  ge- 
nöthigt,  sie  öffentlich  abzuwenden.  Die  Sache  ist  klar  und 
leicht  abzuthun. 

I.    In  Hinsicht  der  eddaischen  Lieder. 

Das  öffentliche  Vorrecht  zu  einer  litterarischen  Unterneh- 
mung hängt  nach  der  Sitte  von  der  früheren  Ankündigung  ab. 


ÜBER  DIE  EDDA.  497 

Wir  haben  unsere  Ausgabe  im  März  1811  (S.  Hallische  Lit.-Z. 
1811,  No.  107   [=  oben  S.  495])  bestimmt  angekündigt,    gleich 
darauf  in  einer  Nachschrift  zu  der  Übersetzung  der  altdänischen 
Heldenlieder  [=  Bd  I,  S.  203].     Das  Buch  des  Hrn.  v.  d.  Hagen 
ist  erst  kurz  vor  der  Ostermesse  1812,  also  ein  Jahr  später,  in 
Gräters  Alterthumszeitung  [s.  oben  S.  -1 94]  angezeigt  worden ;  von 
einer  blossen  Übersetzung  der  eddaischen  Lieder  war  in  der 
Vorrede  des  im  Herbst  1811  erschienenen  Heldenbuchs  [S.  IX  f.] 
als    einer   zukünftigen  Arbeit    die  Rede;  mithin  ist  vor  unserer 
Ankündigung   kein  Wort  des  Hrn.  v.  d.  Hagen,   das   von  einem 
solchen   Vorhaben    spräche,    gedruckt    worden,    und    dies    ent- 
scheidet;   irren   wir,   so   ist    es   leicht,    uns  durch  Nachweisung 
zu   berichtigen,   bis   dahin   ist   es    erlaubt   zu   zweifeln,    dass    es 
möglich  sei.     Was  briefliche  Mittheilung  betrifil,  so  haben  wir 
von  Hrn.  v.  d.  Hagen  nichts  empfangen,  als  ein  Mal  die  kurzen 
Worte,    er   habe   die  eddaischen  Lieder   aus   dem  Nibelungen- 
cyklus     erhalten    und    werde    „nächstens    einige    davon    (also 
nicht   einmal   alle    aus  diesem  Cyklus)  bekannt  machen",   wo- 
von sich  auf  keine  Ausgabe,   etwa  nur  auf  Auszug  oder  Über- 
setzung   schliessen   lässt.      Die  Worte   enthalten,    wie   man   zu- 
geben  wird,    nichts   als   eine    vage   Äusserung,    auf  die    weiter 
nichts   erfolgte.      Noch   ist   das    zu  bemerken,  dass  im  Sommer 
dieses   Jahres,    also    ein  Jahr   nach   unserer   Ankündigung,    ein 
kurzer    Brief   anlangte,    worin   Hr.  v.  d.  Hagen    eines   anderen 
ausführlichen  gedenkt,  den  die  Unger'sche  Buchhandlung  etwa 
im  Herbst  1811  habe  besorgen  sollen,  und  dieser  habe  von  der 
Ausgabe    der  Edda   geredet.     Da  er  selbst  hinzusetzt,    er  halte 
ihn    für   verloren,    so    wird   man   uns  nicht  zumuthen,   ihn  em- 
pfangen zu  haben,  zumal  Hr.  Professor  v.  d.  Hagen  das  Unglück 
oder  Glück  hat,  dass  ihm  viele  Briefe  und  Pakete  verloren  oder 
sonst    zu   Grunde    gehen,    eh    sie    am    rechten    Ort    eintreffen. 
Ohnehin    später,    als    unsere    Ankündigung,    war    es    durchaus 
einerlei,  ob  er  geschrieben  wurde  oder  nicht,  und  wir  erwähnen 
des  Umstands  nur  der  Vollständigkeit  halber  und   um  des  Hrn. 
V.  d.  Hagen  Behauptung  in  etwas  zu  entschuldigen. 

Was   die   von   dem   Hrn.  v.  d.  Hagen   erwähnte   theilweise 
Mittheilung  betriffit,    so  verhält  es  sich  damit,  wie  folgt.     Herr 

W.  GUIMM,   KL.  SCHRIFTEN.     11.  32 


498  ÜBER  DIE  EDDA. 

Professor  Nyerup  in  Kopenhagen  machte,  wie  ein  Brief  desselben 
bezeugen  könnte,  der  leichteren  Communikation  wegen  (denn 
schon  im  Sommer  1809  hatte  ein  Freund*)  für  uns  in  Kopenhagen 
die  eddaischen  Lieder  verlangt),  dem  Hrn.  v.  d.  Hagen  die  Be- 
dingung, uns  eine  Copie  der  Lieder  mitzutheilen.  Als  Er- 
füllung kam  nach  mehreren  Monaten  erst,  so  dringend  vielfache 
Bitten  waren,  um  bei  der  Übersetzung  der  Kämpeviser  diese 
Lieder  benutzen  zu  können,  die  verstümmelte  Abschrift  von 
zwei  herausgewählten,  worauf  wir  uns  natürlich  die  Fortsetzung 
dieser  Abschrift  verbaten,  da  wir  zudem  durch  den  Grafen 
von  Hammerstein  eine  andere  erlangt  hatten,  so  dass  wir 
Hrn.  V.  d.  Hagen  wahrhaftig  auch  keinen  Buchstaben  verdanken. 
Eher  können  wir  mit  ihm  übereinstimmen,  wenn  er  be- 
hauptet, es  sei  eigentlich  keine  Collision  vorhanden,  nur  haben 
wir  dazu  eigene  Gründe i).  Wir  behaupten,  die  Schwierigkeit 
und  ganze  Arbeit  der  Sache  beruhe  in  einer  wörtlichen  Über- 
setzung als  der  besten  Erklärung,  in  einem  reinen  und  inter- 
punktirten  Text,  in  Feststellung  der  Alliteration  und  in  einem 
hinzugefügten  Glossar,  das  ein  jedes  der  vielen  Wörter  erläutert, 
die  sich  in  keinem,  geschweige  leicht  zugänglichen  Hilfsmittel 
finden.  Das  sind  wir  nach  unserer  Ankündigung  zu  leisten 
gesonnen.  Was  Hr.  Professor  v.  d.  Hagen  hier  gibt,  ist  nichts 
als  ein  blosser  Abdruck  seiner  Abschrift  mit  deren  wenigen 
metrischen  Punkten,  aber  sonst  ohne  alle  gewöhnliche  Inter- 
punktion, festgestellte  Abtheilung  und  Bezifferung  in  Strophen, 
und  offenbar  haben  Setzer  und  Corrector  die  schwerste  und 
eigentliche  Arbeit  gehabt;  wie  schlecht  aber  auch  diese  ihr  Amt 
versehen,   wird   sich  gleich  zeigen.     Wäre  die  Einleitung  (über 

*)  [Steffens.  Man  vgl.  Wilhelms  Brief  aus  Halle  vom  28.  August  1809  in 
den  Jugendbriefen  S.  158, 159  und  ausserdem  den  Brief  Jacobs  an  v.  d.  Hagen 
im  Anzeiger  für  Deutsches  Alterthum  und  Deutsche  Litteratur  VH  (1881), 
Heft  4,  wo  diese  Erklärung  für  die  Einleitung  zu  wenig  benutzt  ist.] 

1)  In  einem  früheren  Aufsatze,  gerichtet  gegen  einige  Bemerkungen  des 
Hrn.  Professor  Gräter,  womit  er  unsere  Abhandlung  über  die  Edda  im 
Morgenblatt  begleitet  hat,  haben  wir  schon  auf  diese  Weise  uns  über  die 
Collision  OTklärt.  Es  ist  schon  am  18.  Mai  in  den  Händen  des  Hrn.  Gräter 
gewesen,  der  versprochen,  ihn  in  derselben  Zeitschrift  erscheinen  zu  lassen, 
bisher  aber  noch  immer  zurückgehalten  worden. 


ÜBER  DIE  EDDA.  499 

welche  wir  hier  nicht  urtheilen  wollen,  obgleich  es  jedem  Kenner 
auffallen  muss,  dass  das  Verhältnis  der  nordischen  und  deutschen 
M}-the  nicht  nach  den  hinten  folgenden  eddaischen  Liedern 
selbst,  die  so  viele  feine  Punkte  an  die  Hand  bieten,  sondern 
nach  der  Wolsungasaga ,  Torfäus  und  Suhm  im  Allgemeinen 
angegeben  ist),  schon  bei  zwei  Büchern  versprochen  und  zurück- 
irezosen,  hier  auch  gewiss  an  ihrem  vortheilhaftesten  Platz,  wäre 
diese  nicht  dabei,  so  würden  kaum  mehr  als  drei  oder  vier 
Exemplare  an  wirkliche  Leser  in  ganz  Deutschland  abgesetzt 
werden  können.  Dass  Hr.  v.  d.  Hagen  die  Übersetzung  selbst 
als  Hauptsache  anerkennt,  ist  klar,  weil  er  sie  erst  in  Zukunft 
geben  will.  Wenn  er  daran  geht,  hat  er  wohl  Gelegenheit,  aus 
anderen  mittlerweile  erwarteten  Hilfsmitteln  die  Interpunktion 
nachzuliefern,  so  wie  den  von  Fehlern  wimmelnden  Text  zu 
-verbessern.  Wie  er  hier  geliefert  worden,  ist  er  ganz  un- 
brauchbar; es  klingt  vielleicht  in  unserem  Munde  parteiisch: 
indes  wünschen  wir,  dass  jemand,  der  nur  die  Sache  versteht, 
darüber  entscheiden  möge.  Als  Beweis  wollen  wir  gleich  von 
dem  ersten,  dem  leichtesten  und  schon  einmal  übersetzten  Lied 
die  Fehler  angeben:  Pag.  1  og.  annar.  their  qvamo  i  Ulfdali, 
daetur  Landves  enn  Slagfithur  Svanhvitar  alvitrar,  mehr- 
mals auch  p.  3  dyr  lin  spunno.  —  P^vg-  2  Svanfiathrar  dro.  40 
ouondar.  enn  en  niunda.  sian  hündroth.  vithr  enn  van- 
thurri  (?I)  —  Paj5-  3  oc  mic  brude  (ebenfalls  ganz  ohne  Sinn) 
enn  längan  sal.  toc  af  bastim.  gorsimar.  or  hann  Baul- 
hvildar  bang  umthenir  (?I)  sem  es  hagazt  kvuina.  Pag.  4 
Fecca  er  than  Volundi.  Wie  käme  die  Alliteration  heraus? 
Nithathur  beständig,  bithia  ec  thes  bot.  ger  laet  ec  that 
gidl.  Pag.  5  i  vith  giarnra  (giaura,  giaura).  Wir  wünschen 
die  Übersetzung  davon  zu  hören.  Kell  mic  i  haufut.  gen  or 
eyio.  oc  hon  inn  um  gen  endlangan  sal.  eth  iöth  ei  ginn. 
Pag.  6  Senda  ec  Bauthvildr.  at  thic  af  hefti  taca.  er  mic  mei 
er  tregi.  upristu  thacrathr.  gange  fagr  warith.  eina  augur 
stund.  So  sind  sechs  Seiten  allein  schon  voll  von  den  gröbsten 
und  sinnzerstörendsten  Fehlern;  von  geringeren  Dingen,  dass 
die  Substantiva  in  den  Prosazeilen  bald  gross  bald  klein  gedruckt 
sind,   reden  wir  nicht;    auch  haben  wir  uns  bloss  auf  die  Ver- 

32« 


500  ÜBER  DIE  EDDA. 

gleichung  mit  derselben  Kopenhagener  Handschrift  eingelassen, 
wiewohl  das  darin  vorkommende  und  hier  wiederholte:  nottom 
voro  segir  negldar  voro  brynior  p.  2  keinen  Sinn  gibt  und 
einer  Emendation  bedarf.  Bei  dem  folgenden  Lied  fra  Hiorvarthi 
geht  es  so  weiter,  gleich  nach  pag,  6  ist  gar  eine  Zeile  aus- 
gelassen. 

Von  einem  Theil  dieser  Fehler  können  wir  kaum  anders 
glauben,  als  dass  es  Druckfehler  sind  (bei  den  sonst  so  correct 
gedruckten  Büchern  des  Hrn.  v.  d.  Hagen,  und  während  die 
Einleitung  voll  ausländischer  Wörter  und  Namen  ohne  allen 
Vergleich  genauer  ist,  sind  sie,  seltsam  genug,  nur  so  unmässig  auf 
die  Hauptsache  herabgeregnet),  aber  wenn  auch  Hr.  Professor 
V.  d.  Hagen  gesonnen  wäre,  sie  sämmtlich  als  solche  einmal 
anzugeben,  so  wird  doch  dies  Verzeichnis  allzugross- ausfallen, 
und  er  sich  entschliessen  müssen,  einen  ganz  neuen  Text  zu 
liefern,  dies  wird  dem  gegenwärtigen  zwar  nicht  das  Recht  der 
Erstgeburt  nehmen,  aber  doch  die  Ehre  davon. 

Sollte  indes  unsere  Ausgabe  dazwischen  erscheinen  (wir 
wollen  uns  mit  dem  Ruhm  begnügen,  die  erste  treue  Über- 
setzung und  den  ersten  reinen  Text  geliefert  zu  haben),  so 
bitten  wir  Hrn.  v.  d.  Hagen  die  Hilfe  nicht  zu  verschmähen, 
die  sie  vielleicht  in  einigen  zweifelhaften  Fällen  liefert,  sowohl 
für  den  Text,  als  für  die  elegante  Übersetzung  im  Silbenmasse 
des  Originals.  Zu  beklagen  aber  bleibt  es  immer  und  den 
nordischen  Gelehrten  ein  Stein  des  Anstosses,  dass  diese  Lieder, 
eins,  der  herrlichsten  und  ältesten  Denkmäler  des  germanischen 
Stammes,  zum  ersten  Male  auf  eine  solche  unerlaubt  leicht- 
sinnige und  unwürdige  Weise  in  Deutschland  gedruckt  sind. 

IL     In    Hinsicht    der    altnordischen    Sagen. 

Unsere  Ankündigung  erschien  gleich  Anfangs  des  Jahres 
1811  in  dem  Intelligenzblatt  der  Heidelberger  Jahrbücher  [=  oben 
S.493 — 495].  Deutlich  wurde  darin  genannt  die  Blomsturwalla 
JarlMagus,  ebenso  die  Wolsungasaga.  Die  Manuscripte  von 
beiden  erstereu^  hat  Hr.  Prof.  v.  d.  Hagen  bei  der  Ausarbeitung 
des  gegenwärtigen  Buchs  noch  nicht  gehabt,  also  sind  sie,  wenn 
er  doch  darauf  Gewicht  legt,  anderthalb  Jahr  früher  in  unseren 


ANKÜNDIGUNG  DER  ALTDEUTSCHEN  WÄLDER.  501 

Händen  gewesen,  indes  soll  nur  die  Ankündigung  entscheiden. 
Von  seiner  Seite  haben  wir  keine  gelesen,  als  vor  ganz  kurzem 
in  diesem  Jahr,  und  demnach  ist  auch  hier  alles  Recht  auf 
unserer  Seite.  Lässt  Hr.  v.  d.  Hagen  wirklich  diese  Sagen 
drucken  und  übersetzt  sie,  was  freilich  viel  leichtere  Arbeit  ist, 
als  bei  der  Edda,  so  tritt  eine  Collision  ein,  die  wir  ihm  hier- 
mit förmlich  zur  Last  legfen.  Ein  solches  illiberales  Betraoren 
wird  uns  berechtigen,  irgend  eins  von  den  Gedichten,  das  er 
zuerst  hat  drucken  lassen,  in  einer  verbesserten  Gestalt  heraus- 
zugeben, wie  wir  in  Betracht  des  von  ihm  etwas  gemisshandelten 
König  Rother  und  Morolf  gar  keine  üble  Lust  hätten. 

Bloss  in  Ansehung  der  Jarl  Magus-Sage  machen  wir  in 
etwas  eine  Ausnahme.  Wir  werden  nur  ein  Stück  daraus 
mittheilen,  die  Versicherung  des  Hrn.  v.  d.  Hagen,  sie  ganz 
abdrucken  zu  lassen,  macht  uns  doch  zweifelhaft,  ob  er  sie  so 
eben  erhalten,  wie  eine  Note  versichert;  wahrscheinlich  hat  er 
sie  noch  nicht  gelesen. 

Schliesslich  bitten  wir  Hrn.  Dr  Cotta,  zu  bezeugen i), 
dass  allein  sein  Wunsch,  das  Werk  in  einer  äusserlich  gün- 
stigeren Zeit  erscheinen  zu  lassen,  Schuld  an  der  Verzögerung 
der  Herausgabe  gewesen  und  dass  wir  ihn  schon  mehrmals 
gebeten,  nur  die  Zeit  zu  bestimmen,  wo  der  Druck  anfangen 
könne. 

Kassel,  am  27.  August  1812. 

Brüder  Grimm. 


ANKÜNDIGUNG. 

Heidelbergische  Jahrbücher  der  Litteratur.     Jahrgang  VI   (1813)    Intelligenz- 
blatt No.  II,  S.  16. 
[Mit  Jacob  Grimm.] 

iTiit  Anfang  des  Jahres  1813  erscheint  in  dem  Verlage 
des  Unterzeichneten  eine  Zeitschrift  unter  dem  Titel:  Alt- 
deutsche Wälder  durch  die  Brüder  Grimm.  Sie  hat 
den  Zweck,   das  Studium   und  den  Geist   des  deutschen  Alter- 

')  Die  Wahrheit  dieser  Angabe  bezeugt  Cotta. 


502  LITTERARISCHE  ANZEIGE. 

thums,  dessen  Werth  jetzt  von  mehr  als  einer  Seite  scheint 
anerkannt  zu  werden,  beleben  zu  helfen.  Es  ist  dabei  nicht 
die  Absicht,  leichte  Bemerkungen,  trockene  litterarische  Notizen 
mit  ein  Paar  irgendwo  aufgefundenen  Zeilen  oder  was  an  sich 
geringfügig  mit  einigen  zur  Unterhaltung  zugerichteten  Stücken 
zusammenzuwerfen,  sondern  es  sollen  allein  Quellen,  bedeutend 
in  ihrem  Verhältnis  zur  Geschichte  der  Poesie,  herrlich  in  ihrem 
unabhängigen  Werth;  Untersuchungen  über  den  Zusam- 
menhang jener  Dichtungen  untereinander,  welche 
Forderungen  an  wissenschaftliche  Strenge  und  Gründlichkeit 
gern  befriedigen  möchten;  Erläuterungen  über  den  deut- 
schen und  nordischen  Heldenmythus  der  Nibelungen; 
Mittheilungen  aus  nicht  armen  Sammlungen  noch 
lebendiger  Volkssage  den  Inhalt  dieses  Werks  ausmachen. 
Wie  die  devitschen  Poesieen  jener  Zeiten  mit  denen  nordischer 
und  südlicher  Völker  in  Verbindung  gestanden,  so  werden  auch 
die  letzteren  nicht  ausgeschlossen  sein.  Glück  und  günstige 
Verhältnisse  haben  den  Herausgebern  manches  Schätzbare  aus 
den  verschiedensten  Gegenden  zugeführt,  wovon  sie  hier  mitzu- 
th eilen  gedenken.  Möchten  darum  Freunde  des  Alterthums, 
seiner  Sprache,  Dichtung  und  Sitten  dieses  Unternehmen 
unterstützen,  wozu  wir  sie  hiermit  einladen. 

Was  die  äussere  Einrichtung  betrifft,  so  wird  alle  Monat 
regelmässig  ein  Heft  von  2^  o  oder  3  Bogen  versendet  werden, 
jedes  zu  8  Groschen,  so  dass  der  ganze  Jahrgang  4  Thaler 
beträgt.  Sechs  Hefte  machen  halbjährig  einen  Band  (2  Thlr.), 
zu  welchem  man  sich  verpflichtet.    Alle  guten  Buchhandlungen 

nehmen  Bestellungen  an. 

Thurneissen  in  Cassel. 


LITTERARISCHE  ANZEIGE. 

Einzelnes  Blatt. 
[Mit  Jacob  Grimm.] 


Di, 


ie  Altdeutschen  Wälder  durch  die  Gebrüder 
Grimm  sind  durch  die  Zeitereignisse  gestört  worden.  Mit 
Anfang  des  folgenden  Jahres  1815  werden  sie  wieder  regelmässig 


LITTERARISCHE  ANZEIGE.  503 

bei  Bernhard  Körner  in  Frankfurt  a.  M.  fortgesetzt  und  mit 
dem  zweiten  Band  angefangen  werden.  Das  1.  Heft  vom  2.  Bd 
oder  das  7.  des  Ganzen  ist  bereits  fertig  und  enthält:  1)  Vier 
Fabeln  aus  Strikers  Fabelbuch,  von  Docen.  2)  Trage- 
mundes-Li  ed.  3)  Lateinische  Heldenlieder  der  Fran- 
ken. 4)  Ospirn,  die  Herben  und  Hagenon.  5)  Zwei 
holländische  Volkslieder. 

Das  2.  Heft  erscheint  noch  in  diesem  Jahr. 

Die  Gebrüder  Grimm. 

Von  den  Herren  Gebrüder  Grimm  habe  ich  die  Fortsetzung 
der  Altdeutschen  Wälder  übernommen,  so  dass  noch  im  Laufe 
dieses  Jahres  das  8.  Stück  erscheint  und  die  übrigen  4  Hefte 
schnell  nachgeliefert  werden  sollen. 

Die  Theilnahme  der  Freunde  alter  Litteratur  und  vorzüglich 
älter  Poesie  wird  dann  bestimmen,  ob  auch  die  anderen 
12  Hefte  im  Laufe  des  Jahres  1815  pünktlich  erscheinen  sollen 
Die  Einrichtung  bleibt  wie  solche  bereits  bekannt  —  so  auch 
der  Preis. 

Ich  bin  zwar  im  Besitz  der  Fortsetzungsliste,  allein  so 
vieles  ist  seit  Jahr  und  Tag  (und  Gott  sei  dafür  gedankt!) 
vom  alten  Standpunkt  verrückt  worden,  dass  mir  manche  Adresse 
unsicher  vorkommt  —  ich  würde  daher  auch  gerne  unfrankirte 
Briefe  zur  Bestellung  des  2.  Bandes  bei  mir  ankommen  sehen. 
Schliesslich  erinnere  ich  noch,  dass  auch  die  ersten  6  Hefte 
oder  der  I.  Band  ä  2  Rthlr.  oder  3.  fl.  36  kr.  so  wie  in  Com- 
mission  : 

Die  beiden  ältesten  deutscheu  Gedichte  aus  dem  achten 
Jahrhundert : 

Das  Lied  von  Hildebrand  und  Hadubrand. 

Das  Weissenbrunner  Gebet,  zum  erstenmal  in  ihrem  Metrum 
dargestellt  und  herausgegeben  durch  die  Gebrüder  Grimm, 
gr.  4.     1812.     1  Rthlr.  oder  1  £1.  48  kr. 
bei  mir  zu  haben  sind. 

Frankfurt  a.  M.,  im  November  1814. 

Bernhard  Körner. 


504  AUFRUF. 

105  AUFRUF. 

Pränumeration  zum  Besten  der  Hessischen  Freiwilligen. 

Heidelbergische  Jahrbücher  der  Litteratur.     Jahrgang  VI  (1813)  Intelligenz- 
blatt XII,  S.  105.  106. 
[Mit  Jacob  Grimm.] 

J.n  der  glücklichen  Zeit,  wo  jeder  dem  Vaterlande  Opfer 
bringt,  wollen  wir  das  altdeutsche  schlichte,  tiefsinnige  und 
herzliche  Buch  vom  armen  Heinrich,  worin  dargestellt  ist: 
wie  kindliche  Treue  und  Liebe  Blut  und  Leben  ihrem 
Herrn  hingibt  und  dafür  herrlich  von  Gott  belohnt 
wird,  neu  herausgeben.  Ihro  Königlichen  Hoheiten,  die  Kur- 
fürstin und  Kurprinzessin,  haben  erlaubt,  dass  es  ihnen  zugeeignet 
werde,  und  der  Ertrag  ist  zur  Ausrüstung  der  Freiwilligen 
bestimmt.  Man  zahlt  1  Rthlr.  für  das  Exemplar  auf  ordinair 
und  2  Rthlr.  für  das  auf  Velinpapier;  die  Namen  der  Pränu- 
meranten  werden  vorgedruckt.  Eine  noch  zu  bestimmende 
Buchhandlung  wird  das  Buch  in  Commission  nehmen. 

Eine  Übertragung  in  die  heutige  Sprache  wird  diese  alt- 
deutsche Sage  zu  einem  allgemein  lesbaren  Volksbuch  machen. 

106  Für  Gelehrte  dieses  Fachs  aber  bemerken  wir,  dass  der  fehler- 
hafte Originaltext  (auch  mit  Beihilfe  einer  vor  kurzem  zu 
Rom  gefundenen  Handschrift)  neu  recensirt  und  kritisch  erläutert, 
endlich  der  zum  Grund  liegende  Mythus  untersucht  werden  soll. 

Wir  vertrauen  zu  den  braven  Hessen  und  allen  Deutschen, 
dass  sie  unsere  Absicht  bereitwillig  aufnehmen  und  unterstützen 
werden.  Die  sämmtlichen  Prediger  des  Landes  bitten  wir  be- 
sonders die  Ankündigung  zu  verbreiten  und  sich  der  Mühe  des 
Sammlens  zu  unterziehen.  Hier  geschieht  die  Vorausbezahlung 
an  uns  selbst. 

Cassel,  am  10.  December  [1813]. 

J.  Grimm.      W.  C.  Grimm. 
Johannesstrasse    bei   Simon   Wille. 

Mohr  und  Zimmers  Buchhandlung  nimmt  Pränumeration  an. 


[Dazu  stehe  hier  noch  folgende  Vorrede.] 


VORREDE  ZUM  ARMEN  HEINRICH.  505 


VORREDE. 

Der  Anne  Heinrich  von  Hartmann  von  der  Aue.     Aus  der  Strassburgischen 

imd  Vatikanischen  Handschrift   herausgegeben   und   erklärt  durch   die  Brüder 

Grimm.    Berlin.    1815.    In  der  Realschulbuchhandlimg.    8.    2  Seiten. 

[Mit  Jacob  Grimm.] 

I.  I.  königlichen  Hoheiten  der  Kurfürstin  und  Kurprinzessin  von 
Hessen  in  tiefster  Ehrerbietung  zugeeignet. 

-t\.ls  Gott  und  deutsche  Tapferkeit  unsere  Fürsten  wieder 
vor  das  Stadtthor  von  Kassel  geführt,  da  spannte  das  Volk  die 
Pferde  aus  und  rief:  „Hessenblut  soll  sie  hereinziehen,  das  lebt 
immerdar!''  Und  als  die  Männer  hinauszogen,  hielten  sie  das 
Schwert  in  der  Hand,  im  Herzen  den  Gedanken  fest:  „Hessen- 
Blut  soU  fürs  Vaterland  kämpfen,  das  lebt  immerdar!"  So  hat 
sich  Liebe  und  Treue,  selbst  unter  dem  Schutt,  den  fremde 
Gewalt  darüber  geworfen,  wie  Gold  in  der  Erde,  unverringert 
und  unversehrt  erhalten. 

In  dieser  Zeit,  deren  Freude  zu  erleben  sieben  Jahre  Leid 
uns  reinigten,  ward  die  Bearbeitung  eines  alten,  in  sich  deut- 
schen Gedichts  als  ein  geringes  Opfer  dargebracht.  Jetzt  hat 
sich  unser  gesammtes  Vaterland  in  seinem  Blut  von  dem  fran- 
zösischen Aussatz  wieder  geheilt  und  zu  Jugendleben  gestärkt. 
L^m  diesen  Preis  gebe  nun  fortan  jeder  Deutsche  alles  Andere 
hin  und  sei  stets  bereit,  als  ein  freudig  Opfer  zu  fallen.  Und 
keiner  stehe  von  der  Gefahr  ab,  sondern  denen,  die  aus  Furcht 
oder  Liebe  ihn  zurückhalten  wollen,  antworte  er  mit  den 
schönsten  Vv'orten  der  reinen  Jungfrau:  „nun  gönnet  mir's,  denn 
es  muss  sein!" 


506   ANZEIGE.     ERKLÄRUNG.    ZU  DEN  KINDER-  UND  HAUSMÄRCHEN. 


ANZEIGE. 

Heidelbergische  Jahrbücher  der   Litteratur.     Jahrgang  IX   (1816)   Intelligenz- 
blatt Nr.  V,  S.  45. 

JLjine  Antwort  auf  die  Schlegel'sche  Recension  des  ersten 
Bandes  der  Altdeutschen  Wälder  in  den  Heidelbergischen  Jahr- 
büchern 1815  Stück  46,  47  und  48  finden  die  Freunde  dieser 
Litteratur  in  dem  neuesten  Stück  (Bd  III,  Heft  6)  jener  Zeit- 
schrift [=  oben  S.  156—161]. 

Cassel,  am  12.  August  1816. 

W.  C.  Grimm. 


ERKLÄRUNG. 

Zeitschrift   für  Deutsches  Alterthum.     Herausgegeben  von    Moriz  Haupt. 
Neunter  Band.   Leipzig,  Weidmann'sche  Buchhandlung.    1853.    S.  192. 

Xrrthümlich  habe  ich  in  meiner  Schrift  über  Freidank  S.  22 

eine  Bemerkung   über    Helbling   Herrn  Professor  Moriz  Haupt, 

in   dessen  Zeitschrift  4,    246    sie  steht,   beigelegt:   sie  ist  volles 

Eigenthum   des  Herrn  Professors  Theodor  Georg  von  Karajan. 

Berlin  im  März  1851. 

Wilhelm  Grimm. 


ZU  DEN  KINDER-  UND  HAUSMÄRGHEN. 

Literarisches  Centralblatt   für    Deutschland.      Herausgegeben    von    Friedrich 

Zarncke.     Leipzig,  Eduard  Avenarius.     4.     No.  21.     23.  Mai  1857. 

S.  335  —  336. 

-Oerr  Professor  Felix  Liebrecht  hat  in  dem  2.  Bande  der 
Germania  von  Franz  Pfeiffer  eine  Beurtheilung  von  dem  3.  Bande 
der  Kinder-  und  Hausmärchen  geliefert,  die  einiger  Aufklärungen 
bedarf.  Die  erste,  gemeinschaftliche  Ausgabe  des  Buches  er- 
schien in  zwei  Bänden  1812,  1815.  Die  zweite  (1819)  besorgte 
ich,  wie  die  folgenden,  allein.  Diesmal  waren  die  Anmerkungen 
zurückgelassen,  ich  nahm  sie  aber  in  einen  dritten  Band  (1822) 


zu  DEN  KINDER-  UND  HAÜSMÄRCHEN.  507 

auf,  wovon  eben  (1856)  eine  neue  Auflage  erschienen  ist.  Die 
erste  Ausgabe  enthielt  155  Märchen,  die  letzte  (1850)  210, 
ausserdem  habe  ich  von  den  155  eine  beträchtliche  Anzahl 
durch  neue  oder  bessere  ersetzt,  andere  vervollständigt;  auch 
in  der  nächsten  Auflage  werden  einige  neue  vorkommen.  Die 
Sammlung  ist  also  beständig  gewachsen.  Die  Anmerkungen 
nahmen  in  der  ersten  Ausgabe  130  Seiten  ein,  die  gegenwärtige, 
in  welcher  ich  auch  Nachträge  meines  Bruders  benutzt  habe, 
enthält  418  Seiten;  hätte  ich  nicht  einen  bedeutenden  Theil  der 
vorigen  (S.  280 — 369)  auslassen  können,  so  wäre  der  Band  noch 
viel  stärker  geworden. 

Hm.  Liebrecht  danke  ich  für  schätzbare  Nachträge  zu  den 
einzelnen  Anmerkungen;  solche  werden  sich  immer  noch  ergeben, 
wie  ich  sie  selbst  schon  zu  den  spanischen  Märchen  [s.  Bd  III] 
geliefert  habe;   ein   gänzlicher   Abschluss   ist  nicht  zu  erwarten. 

Hr.  Liebrecht  gibt  aber  auch  ein  Urtheil  über  das  Buch 
ab,  wofür  ich  ihm  nicht  danken  kann,  so  gütig  er  sich  dabei 
über  mich  äussert.  Er  meint,  das  Buch  habe  ein  ganz  anderes 
Aussehen  annehmen  müssen,  ja  er  geht  so  weit,  zu  sagen,  „ich 
selbst  würde  es  mit  Recht  jemand  verargen,  der  behaupte,  ich 
hätte  hier  alles  geleistet,  was  ich  hätte  leisten  können.  Das 
Buch  mache  den  Eindruck,  als  seien  nur  Randbemerkungen, 
hier  und  da  einzelne  Zusätze  zugefügt  worden'*.  Ein  jeder 
muss  glauben,  es  sei  nichts  als  ein  Abdruck  der  vorigen  Aus- 
gabe mit  ein  Paar  gelegentlichen,  nicht  sehr  bedeutenden  Ver- 
besserungen. Das  ist  nicht  der  Fall.  Kleine  Zusätze  und 
weitere  Citate,  die  wenig  Raum  einnehmen  und  doch  Mühe 
machen,  sind  nicht  alles.  Ich  hatte  früher  in  einem  Abschnitte 
über  die  Litteratur  jedes  einzelne  Märchen  erläutert;  das  war, 
nach  so  ausserordentlichem  Zuwachs,  in  dieser  Weise  nicht 
mehr  durchzuführen.  Ich  hal)e  daher  eine  Übersicht  gegeben, 
die  das  neu  Erschienene  bespricht,  das  Wichtigere  hervorhebt 
und  auf  das  Verwandte  hinweist.  Diese  Arbeit,  die  ohne  ge- 
naue Forschung  nicht  möglich  war  und  die  mir  nicht  misslungen 
scheint,  beweist  hinlänglich,  dass  ich  mich  fortwährend  mit  dem 
3.  Bande  beschäftigt  habe;  ich  musste,  wenn  ich  sie  nicht  ganz 
zurückbehalten  wollte,  sie  vorerst  als  Zugabe  zum  ersten  Bande 


508  ÜBER  BERNHARD  FREIDANK. 

(1850)  abdrucken  lassen;  jetzt  erscheint  sie  an  ihrem  rechten 
Platze  (S.  352  —  414)  und  abermals  nicht  bloss  mit  einzelnen 
Zusätzen,  sondern  auch  mit  einer  ausführlichen  Nachricht  von 
den  Negermärchen  (S.  361  —  379)  vermehrt.  Hr.  Liebrecht 
übersieht  das  alles,  wie  er  auch  die  mitgegebenen  Erläuterungen 
zu  den  neuen  Märchen  (S.  243 — 262)  übersieht,  die  doch  keine 
Randbemerkungen  sind.  Ich  begreife  nicht,  wie  er  bei  der 
flüchtigsten  Vergleichung  mit  der  vorigen  Ausgabe  zu  einem 
solchen  Urtheile  hat  gelangen  können.  Wie  ganz  anders,  billig 
und  gerecht,  urtheilt  A.  Kuhn  im  Centralblatt  1856,  No.  52, 
Ich  habe  gethan,  was  in  meinen  Kräften  stand,  und  zwar  mit 
Sorgfalt,  ja,  neben  anderen  drängenden  Arbeiten,  mit  An- 
strengung. 

Doch  eine  Ausstellung  ist  begründet,  ich  habe  die  Deutsche 
Mythologie  nicht  citiert.  Ich  bin  zu  entschuldigen;  bei  der 
Abfassung  des  Buches  (1822)  konnte  ich  nicht  darauf  verweisen, 
da  sie  erst  16  Jahre  später  erschien.  Ich  hatte  dem  1.  Bande 
(1819)  eine  Abhandlung  über  die  Spuren  des  heidnischen 
Glaubens  beigegeben,  die  ich  wegliess,  weil  die  Deutsche  My- 
thologie vorhanden  ist  und  gewiss  jeder  bei  Untersuchungen 
dieser  Art  zuerst  nach  dem  treflFlichen  Buche  greift,  wo  er  die 
nöthigen  Hinweisungen  auf  die  Märchen  findet. 

Wilhelm  Grimm. 


ÜBER  BERNHARD  FREIDANK. 

Literarisches    Centralblatt    für    Deutschland.      Herausgegeben    von    Friedrich 

Zarncke.     Leipzig,  Eduard  Avenarius.     4.     No.  26.     27.  Juni  1857. 

S.  413  —  414. 

U  ber  Bernhard  Freidank  ist  der  Titel  einer  gegen  mich 
gerichteten  Abhandlung  von  Franz  Pfeiffer  in  der  Germania  2, 
129 — 163.  Es  ist  nicht  nöthig,  etwas  darauf  zu  erwidern;  ich 
muss  nur  Einiges  abwehren. 

In  einer  Grabschrift,  die  nach  meiner  Überzeugung  in  das 
15.  Jahrhundert  gehört  und  der  schon  alweg  ihre  Zeit  anweist, 


ZUKECHTWEISUSG.  509 

kommt  ein  Vers  ohne  Senkungen  vor.  Ich  sagte,  das  sei  Roh- 
heit, nicht  alte  Kunst,  d.  h.  Rohheit  für  diese  Zeit,  nicht  alte, 
längst  vergessene  Kunst,  wo  solche  Zeilen  bekanntlich  zulässig 
waren.  So  wird  es  ein  jeder  verstehen;  aber  mein  Gegner, 
der  hier  ein  Recht  hätte,  seine  Kurzsichtigkeit  zu  beklagen, 
meint,  ich  hätte  die  alte  Kunst  selbst  für  Rohheit  erklärt.  Er 
belehrt  mich  nun  über  das,  was  ich  schon  zum  Grafen  Rudolf 
(1844,  S.  12)  mit  reichlichen  Beispielen  nachgewiesen  habe. 

Der  unglückliche  Gedanke,  dass  Freidank  den  Walther 
ausgeschrieben,  ja  sich  selbst  bestohlen  habe,  scheint  bei  Seite 
gelegt,  aber  der  scharfsinnige  Mann  hat  eine  Entdeckung  ge- 
macht, wonach  sich  die  Übereinstimmung  mit  Leichtigkeit  er- 
klären lässt:  Freidank  hat  Walthers  Lieder  auswendig  gewusst. 
Diese  Entdeckung  ist  nicht  neu.  Ich  selbst  (obgleich  mein 
Gegner  sich  verwundert,  dass  ich  nicht  darauf  verfallen  bin) 
habe  sie  nicht  bloss  vorgebracht  (zweiter  Nachtrag  S.  16.  17), 
sondern  auch  die  Gründe  angegeben,  warum  sie  nicht  anwend- 
bar ist. 

Wilhelm  Grimm. 


ZURECHTWEISUNG. 

Literarisches    Centralblatt    für    Deutschland.      Herausgegeben    von    Friedrich 
Zaincke.     Leipzig,  Eduai-d  Avenarius.     4.     Xo.  4S.     27.  ^'ovember  1858. 

S.  771—772. 

XXr.  Prof.  Franz  Pfeiffer  hat  eine  Stelle  in  der  Germania 
(2,  155.  156),  worin  meine  Ansicht  erweitert  und  übertrieben 
ist,  in  solchem  Zusammenhange  vorgebracht,  dass  ein  jeder 
glauben  muss,  sie  rühre  in  dieser  Fassung  von  mir.  Ich  be- 
klagte mich  deshalb,  und  jetzt  erklärt  er  (Germ.  3,  367.  368), 
dass  sie  aus  Wackernagels  Litterat  Urgeschichte  genommen  sei. 
Warum  hatte  er  das  verschwiegen?  Warum  nicht  meine  eigenen 
Worte  angeführt,  denen  nichts  anzuhaben  ist?  Sollte  die  Be- 
merkung: „es  gehöre  ein  Muth  dazu,  den  man  bewundern  dürfe, 
wenn  man  so  etwas  behaupte",  nicht  mir,  sondern  Wackernao-el 


510  ZURECHTWEISUNG. 

gelten?  Alle  Schuld  fällt-''iauf  ihn.  Damit  wäre  die  Sache  ab- 
gethan,  aber  er  fügt  noch  etwas  hinzu,  das  ich  nicht  übergehen 
darf,  so  gerne  ich  auch  gleich  Abschied  von  ihm  nehmen 
möchte.  Er  behauptet,  ich  hätte,  wohl  wissend,  von  wem  die 
Stelle  herrühre,  sie  dennoch  ihm  zugeschoben.  Ich  soll  hinter- 
listig eine  Unwahrheit  gesagt  haben,  ihm  gegenüber,  der  sie 
sogleich  aufdecken  konnte?  Und  zu  welchem  Zwecke?  bloss 
um  ein  Paar  unaufmerksame  Leser  hinters  Licht  zu  führen. 
Jemand,  den  die  Unwahrheit  nicht  anwidert,  wie  mich,  würde 
doch  so  unklug  nicht  gewesen  sein.  Ich  war  vollkommen  in 
bona  fide  und  dachte  dabei  nicht  an  Wackernagel,  denn  ich 
behalte  nicht  jede  Äusserung  eines  Werkes,  auch  wenn  ich  es 
hochschätze.  Hrn.  Prof.  F.  Pfeiffer  war  es  möglich  zu  sagen. 
„ich  streue  minder  aufmerksamen  Lesern  Sand  in  die  Augen". 
Die  Redensart  muss  bei  ihm  beliebt  sein,  denn  er  hat  sie  schon 
einmal  und  eben  so  würdig  vorgebracht. 

Wilhelm  Grimm. 


DREI  NICHT  SICHER  BELEGTE 
RECEXSIONEN. 


ARIUS  MÜLTISCIüS  PRIMUS  ISLANDORÜM 
HISTORICUS. 

Monographia  auctore  Mag.  Erico  Christiano  "Werlaaff.     Bibl.  r^.  ab  epistolis 
etc.     Ha&iae  1808.     Tjpis  Andr.  SeidelinL     106  S.    kl.  8. 

Heidelbergische  Jahrbücher  der  Litteratxir.  Jahrgang  IQ  (1810).  Fünfte 
Abtheilung,  Philologie,  Historie,  schöne  Litteratnr  und  Kunst.     I.  Bd,  6  Heft. 

TT  ir  erhalten  in  dieser  kleinen  Schrift  eine  recht  fleissige 
und  srelehrte  Litterärnotiz  über  Ari  inn  frode,  d.  i.  vielkundia: 
(vornehmlich  in  der  Geschichte),  geboren  im  Jahre  1067  auf 
dem  westlichen  Viertel  von  Island,  und  über  seine  verlorenen 
und  vorhandenen  Schriften,  über  die  Werke,  welche  unstreitig 
ihn  zum  Verfasser  haben,  und  über  solche,  welche  ihm  ohne 
hinreichenden  Grund  zugeschrieben  werden.  Die  beiden  ver- 
lorenen Werke:  grössere  Geschichte  von  Island  und  Geschichte 
der  Könige  von  Norwegen  hält  der  Verf.  für  ein  Werk  und 
belecrt    seine   Meinung    mit    sehr   triftioren    Gründen.      Bei    dem 

ö  o  o 

vorhandenen  Werke:  Schedae  s.  libellus  de  Islandia  verweilt 
der  Verf.  am  längsten;  die  Ausgaben  und  Handschriften  werden 
beurtheilt,  mit  kritischen  Anmerkungen  über  einzelne  Stellen. 
Über  die  Sprache  Aris,  seine  Glaubwürdigkeit,  seine  Quellen, 
über  die  Anfuhrung  seiner  Schriften  bei  alten  nordischen  Schrift- 
stellern wird  viel  Nützliches  beigebracht.  Die  Untersuchung 
über  die  Schriftzüge,  deren  sich  Ari  bediente,  fiihrt  zu  einer 
Untersuchung  über  Runen  (welche,  wie  hier  uns  mit  einer  Stelle 
der  unedirten  Skalda  bewiesen  wird,  eine  Verbesserung,  wahr- 
scheinlich durch  eine  dem  lateinischen  Alphabet  nachgeahmte 
Anordnung    und    Bestimmung    der    Buchstaben,    eben    diesem 


512  BÜSCHING,  WÖCHENTLICHE  NACHRICHTEN. 

Geschichtsschreiber  verdankten)  und  über  Einführung  der  römi- 
schen Schrift.  Der  Verf.  entscheidet  für  die  Meinung,  Ari  habe 
seine  Werke  in  der  verdorbenen  römischen  oder  angelsächsischen 
Schrift  niedergeschrieben.  Die  Fabel  von  der  Chronik  des 
Isleifi,  welche  nach  einigen  den  historischen  Werken  Aris  vor- 
angegangen sein  soll,  wird  verworfen  und  ihrer  Entstehung 
nachgespürt.  Zuletzt  als  Anhang  eine  kurze  Nachricht  über  die 
•Jbe.iden  mit  Ari  gleichzeitigen  Schriftsteller  Kolskegg  und  Sämund. 

[anonym.     Von  W.  Grimm?] 


657  WÖCHENTLICHE  NACHRICHTEN 

für  Freunde  der  Geschichte,  Kunst  und  Gelehrsamkeit  des  Mittelalters  von 
Dr  Joh.  Gustav  BüSthing.  Erster  Band  (mit  einem  ausgemalten  und  fünf 
schwarzen  Kupferstichen).      Breslau    1816.     VIII  und  424  S.    in  8.      Zweiter 

Band.     Das.  1816. 

Heidelbergische  Jahrbücher  der  Litteratur.    Jahrgang  V  (1812)  Bd  II,  No.  45. 

S.  657—665. 

Wenn  zwei  Bände  einer  Zeitschrift  fertig  geworden,  so 
pflegt  sich  ihr  Charakter  ziemlich  festgesetzt  zu  haben,  und  es 
ist  ein  Urtheil  darüber  schon  zulässig.  Der  rühmliche  Eifer  des 
Hrn.  Büsching  für  das  deutsche  Alterthum  ist  auch  hier  nicht 
zu  verkennen  und  mit  Lob  zu  erwähnen,  doch  scheint  es  uns, 
habe  er  sich  die  Sache  etwas  zu  leicht  scemacht,  wenigstens 
gibt  es  nach  unserer  Meinung  keine  altdeutsche  Zeitschrift  oder 
Sammlung,  wo  die  Halmen  so  dünn  ständen  und  welche  so 
arm  an  bleibendem  Inhalt  wäre,  wie  diese;  selbst  der  vor 
zwanzig  Jahren  herausgekommene  Bragur  des  Hrn.  Gräter  war 
zugleich  reichhaltiger  und  sorgfaltiger  redigirt  und  mit  dem 
altdeutschen  Museum,  das  Hr.  Büsching  mit  Hrn.  von  der 
Hagen  und  Docen  vor  einigen  Jahren  herausgab,  lässt  sich 
diese  neueste,  leicht  heranschwellende  Zeitschrift  nicht  verglei- 
chen. Es  ist  gewiss  gut.  Eins  und  das  Andere  bloss  anzuregen, 
aber  hier  und  dort  nach  Bequemlichkeit  ein  Stückchen  oder 
Läppchen  aus  dem  Fache  herauszuholen,  das  längst  angeregt 
ist,    ja  ordentlich  bearbeitet  wird,    ist  kein  Verdienst  oder  ein 


BÜSCHING,  WÖCHENTLICHE  NACHRICHTEN.  513 

sehr  kleines:  es  ist  ferner  löblich,  auch  die  allgemeine  Theil- 
nahme,  nicht  bloss  die  Gelehrten  von  Profession  zu  berücksich- 
tigen und,  um  jene  zu  gewinnen,  auf  etwas  jeden  Ansprechendes, 
auch  wohl  auf  etwas  bloss  Unterhaltendes  zu  denken,  zumal  für 
den,  der  zu  dieser  vermittelnden  Arbeit  so  viel  Neigung  hat, 
wie  Hr.  Büsching,  welcher  ihr  seine  hauptsächlichsten  Bemü- 
hungen widmet  (man  denke  nur  an  sein  erneuertes  Nibelungen- 
lied, seinen  erneuerten  Hans  Sachs,  seine  Erzählungen,  Dichtun- 
gen, Fastnachtsspiele  und  Schwanke  des  Mittelalters),  aber  ein  658 
gewisses  Mass  muss  doch  darin  gehalten  werden.  Wenn  nun 
jemand,  welcher  nach  dem  die  Wissenschaft  wirklich  Erweitern- 
den fragt,  in  den  vielen  bedruckten  Blättern  so  gar  wenig  ftir 
sich  findet,  so  ist  ihm  die  Klage  wohl  nicht  zu  verargen,  dass, 
während  in  der  deutschen  Alterthumswissenschaft  die  nöthigsten 
-Arbeiten  von  allen  Seiten  drängen,  er  hier  antrifil:  Über- 
setzungen von  englischen  Büchern,  von  schottischen  Balladen, 
Bücheranzeigen  mit  trockener  Angabe  des  Inhalts  (z.  B.  Th.  I, 
S.  364 — 366),  AViederabdruck  aus  ganz  neuen  oder  leicht  zu- 
sränülichen  Büchern  (z.  B.  aus  der  Sander  sehen  Ubersetzuncr 
dänischer  Balladen  Th.  H,  S.  124,  aus  Lucas  David  Preussischer 
Chronik,  aus  Thomas  Platers  Leben)  und  dergleichen.  Wir 
können  nicht  sagen,  dass  sich  der  zweite  Band  gebessert  hätte ; 
im  Gegentheil,  die  Körner  sind  noch  sparsamer  gesäet,  und 
gleich  der  ausführliche  Inhalt  des  Trauerspiels  Chriemhilden- 
rache  sammt  Proben  daraus  nehmen  so  ungebührlich  viel 
Raum  weg,  dass  ihn  wahrscheinlich  schon  die  Zeitung  für  die 
elegante  Welt  dafür  versagt  hätte. 

Der  Plan  geht  auf  Geschichte,  Kunst  und  wie  es  heisst: 
Gelahrtheit  des  Mittelalters,  ist  also  von  dem  grössten  Umfang. 
In  solchen  Fällen  pflegt  sich  bei  der  wirklichen  Ausfuhrung 
eine  Beschränkung  von  selbst  einzufinden,  so  ist  denn  auch  die 
Geschichte  einstweilen  bei  Seite  gesetzt,  wenigstens  ganz 
unbedeutend,  was  darüber  vorkommt.  Dagegen  für  die  Kunst 
etwas  zu  thun,  ist  guter  Wille  sichtbar,  aber  hier,  scheint  es 
uns,  liegt  das  Hindernis  in  den  von  den  Denkmalen  derselben 
so  sehr  entblössten  Gegenden  des  Nordostens;  auch  scheint  uns 
die  Manier   des  Verfassers,   die   bloss  eine  jede  Einzelheit  mit- 

W.  GRIMM,  KL.  SCHRIl-TEX.     II.  83 


514  BÜSCHING,  WÖCHENTLICHE  NACHRICHTEN. 

nehmende,  übergenaue  Angabe  von  dem  Inhalt  eines  Bildes 
wie  ein  Inventarium  liefert,  nicht  geeignet,  lebendige  Anschau- 
ung in  dem  Leser  zu  erwecken.  Was  diese  Zeitschrift  mit- 
theilt, wird  ohne  Zweifel  von  dem  übertrofFen,  was  irgend  eine 
Stadt  am  Rhein  besitzt.  Die  Kunstwerke  im  Dom  zu  Breslau, 
worunter  so  viel  Mittelmässiges  sich  befindet  (nach  dem  bei- 
gefügten Umriss  begreift  man  das  Lob  nicht,  das  einem 
albasternen  Grabmahl  beigelegt  wird,  Erfindung  und  Anordnung 
659  des  Ganzen  deuten  auf  eine  geschmacklose  Zeit) ,  Bilder  aus 
Handschriften,  wie  der  heilige  Lucas  (II,  49),  zu  beschreiben 
und  bekannt  zu  machen,  wollen  wir  an  sich  nicht  tadeln,  aber 
wer  das  Grosse  und  Herrliche,  das  Merkwürdige  der  altdeutschen 
Kunst  gesehen  und  weiss,  dass  noch  die  ersten  und  noth wen- 
digsten Arbeiten  in  diesem  Fache  zu  thun  sind,  wird  uns  Recht 
geben,  wenn  wir  glauben,  dass  zur  Zeit  wenig  Aufklärung  und 
Gewinn  aus  jenen  Bemühungen  erwachsen  kann.  Es  ist  ge- 
rade, als  wollte  man  sich  damit  beschäftigen,  einzelne  beschrie- 
bene Pergaraentblätter  und  Stückchen  von  bekannten  und  nicht 
sehr  bedeutenden  Gedichten  herauszugeben,  während  vollstän- 
dige Codices  noch  unbekannter  und  wichtiger  dringend  eine 
Herausgabe  und  Bearbeitung  fordern.  Herr  Büsching  indessen 
ist  insofern  zu  entschuldigen,  als  er  wahrscheinlich  noch  nichts 
Bedeutendes  von  der  altdeutschen  Kunst  selbst  zu  sehen  Gelegen- 
heit gehabt.  Der  Lucas  Cranach  im  zweiten  Bande  scheint 
(so  viel  man  nach  dem  schlecht  gemachten  Umriss  urtheilen 
kann)  nicht  zu  den  guten  Werken  dieses  Meisters  zu  gehören 
oder  vielmehr  ist  er  Schülern  oder  Gehilfen  beizuschreiben, 
denn  so  etwas  muss  man  annehmen,  wenn  man  sich  die  fast 
unglaubliche  Verschiedenheit  in  den  Bildern  dieses  Meisters 
erklären  will;  schon  an  den  in  Leipzig  entdeckten  kann  man 
sie  beobachten.  Übrigens  ist  auch  in  dem  Trefflichsten,  wenig- 
stens das  wir  von  ihm  gesehen,  jene  Vollendung  und  Reinheit 
der  Gedanken  und  Ausführung,  die  wir  an  Eyh  und  Hämmling 
bewundern,  schon  verschwunden,  und  wie  seine  Farbe  gegen 
jene  gedämpft  und  getrübt,  so  ist  der  Ausdruck  bei  dem  Suchen 
nach  einem  Ideal  manchmal  geziert  und  unnatürlich.  Was 
nun  die  altdeutsche  Litteratur  betrifft,  so  sind  verschiedene 


BÜSCHIXG,  WÖCHENTLICHE  NACHRICHTEN.  515 

Nachrichten  von  Handschriften,  namentlich  die,  welche  Herr 
V.  d.  Hasren  und  Primisser  über  die  zu  Wien  befindlichen  sje- 
liefert  haben,  mit  Dank  anzunehmen;  jene  von  einer  altschlesi- 
schen  Liedersammlung,  die  von  Hrn.  Büsching  rührt,  ist,  wenn 
wir  den  inneren  Werth  der  Gedichte  betrachten,  doch  etwas  zu 
ausführlich.  Was  die  übrigen  Aufsätze  Gutes  enthalten,  wollen 
wir  gern  anerkennen,  nur  ist  dessen  wirklich  nicht  viel,  und 
dann  müssen  wir  gestehen,  dass  wir  im  Ganzen  weder  etwas- 
besonders  Merkwürdiges  aus  unbekannten  Quellen  noch  weni- 
ger etwas  gefunden ,  das  eine  bisher  nicht  beachtete  Seite  der  660 
deutschen  Alterthumswissenschaft  oreistreich  anoreregt  hätte.  Wir 
müssen  als  Recensent  die  hauptsächlichsten  näher  angeben. 
Seite  34  und  35  ein  Paar  Strophen  aus  dem  Titurel  zur  Er- 
klärung des  Bildes  von  der  klagenden  Sigune  in  einer  Wiener 
Handschrift.  —  „Wolt  ir  gemaches  vil  durch  wirde  ge- 
schaffet han"  heisst  nicht  mit  Würde,  sondern  ihrer  Würde 
gemäss,  weil  es  ihre  Würde,  ihr  edler  Stand  erforderte.  Das 
ist  nicht  bedeutend,  aber  gleich  darauf  hätte  Hr.  Büsching  eine 
schöne  Zeile  durch  eine  Erklärung  nicht  dunkel  machen  sollen, 
zumal  wenn  ,er  sich  noch  später  S.  61  über  ein  fremdes,  ge- 
ringeres Miss  Verständnis  auslassen  wollte.  Es  ist  von  einem 
Mund  die  Rede: 

der  nach  den  rosen  stund  mit  strite  ze  vare. 
d.  h.    der    mit  Rosen    den   Kampf   nicht    scheute,    der    sie   im 
Streit   zu  Schanden    machte;    vergleiche  über   ze  vare   Docens 
Titurel  No.  160,   sonst  steht  das  Wort  auch  wohl  pleonastisch, 
wie  in  folgender  Stelle: 

es  hat  mit  strittes  var 
bi  nacht  den  beiden  angesigt, 

(vergl.  Nibelungen  413*)  [102,  6]).  Hr.  Büsching  erklärt  aber 
ze  vare  durch  gefärbt!  S.  51  —  55  macht  Hr.  v.  d.  Hagen 
eine  merkwürdige  Stelle  aus  Staricii  Heldenschatz  bekannt.  — 
S.  56  —  60  Thierfabeln  in  Prosa  aus  einer  Handschrift  des 
15.  Jahrhunderts.  Wären  doch  erst  die  älteren,  der  Sache  und 
Sprache  nach  besseren  gedruckt!    Man  weiss,  wie  späterhin  der 

•)  [Zusatz  von  Wilhelm  Grimm  im  Handexemplar.] 

33* 


516  BÜSCHING,  WÖCHENTLICHE  NACHRICHTEN. 

Inhalt  auch  zu  Grunde  gieng.  Die  nähere  Nachricht  davon, 
welche  die  Anmerkung  verspricht,  ist  noch  nicht  gegeben,  zw 
plikch  (Anm.  28)  heisst  nicht  zum  Anblick,  sondern:  zum 
Glanz.  Vgl.  Eneidt  6682:  den  Helm  sah  man  „blichen"  und 
Docens  Titurel  No.  100  die  „blichlichen"  Blumen.  S.  59. 
Anm.  49.  wird  mest  bellisch  durch  übel  (?)  bellisch  erklärt, 
es  ist  aber  ein  Wort  und  nichts  Anderes  als  mistb ellisch, 
■wahrscheinlich  auf  dem  Miste  bellend,  d.  h.  hündisch;  vgl.  gl. 
lindenbrog  996.  (das  übrigens  schwierige)  onstbella,  lycisca, 
Hündin  (lies  mistbella  licisca,  Gisbert  1  Th.  v.  66)*).  S.  60. 
Anm.  64.  der  Pilgrim  gieng  „verret"  heisst  nicht  ferner,  son- 
dern: weiter.  S.  61  wird  eine  schwierige  Stelle  im  Parcifal 
661  nach  der  Hamburger  Handschrift  mitgetheilt.  Die  erste  Zeile, 
worauf  es  hauptsächlich  ankommt,  heisst  im  Müller.  Druck  8988 
(durch  einen  Druckfehler  bei  Hrn.  B.  9888)  [301,  28]: 

eine  seilen  ruches  von  Salin 
und  dort  ganz  anders,  vielleicht  richtiger: 

ein  valen  tuches  von  Surin. 
Hr.  Büsching,  indem  er  die  Vermuthung,  die  Hr.  J.  Grimm 
darüber  in  den  altdeutschen  Wäldern  äusserte,  doch  mild  und 
nicht  mit  störrischem  Besserwissenwollen  abweist,  hat  jene  Va- 
riante des  Drucks  mit  angeführt;  diese  Genauigkeit  ist  gewiss 
nicht  überflüssig,  weil  sonst  jemand  durch  die  Stellung  der 
Worte  veranlasst  werden  könnte,  zu  glauben,  es  sei  dort  ohne 
Ursache,  aus  einem  blossen  grausamen  Missverständnis  von  dem 
Geruch  einer  Blume  gesprochen  worden.  Der  weitere  Grund 
gegen  jene  Vermuthung,  den  Hr.  Büsching  aus  der  Sache  selbst 
nimmt,  dass  nämlich  das  Pflücken  eines  Veilchen  auf  dem 
Schnee  wirklich  wunderbar  sei,  zeigt  jedoch  nur  Scharfsinn  bei 
jemand,  der  den  Parcifal  nicht  selbst  gelesen,  denn  darin  heisst 
es  ausdrücklich: 

8372  [281,  13].     ez  en-was  iedoch  niht  snewes  zit 
und 

8376  [281,  17 — 19].     swaz  man  ie  von  dem  (Artus)  gesprach, 
zeinem  pfinxten  daz  gescach, 
oder  in  des  nieien  blunien-zit. 

*)  [Zusatz  von  Wilhelm  Grimm  im  Handexemplar.] 


BÜSCHIXG,  WÖCHENTLICHE  NACHRICHTEN.  517 

Dass  nach  der  Leseart  des  Drucks  von  1477  dort  auch  schon 
eingesehen  wurde,  es  könne  von  einem  Tuche  die  Rede  sein, 
das  auf  die  Bhitstropfen  geworfen  worden,  hat  Hr.  Büsching 
gleichfalls  anzumerken  nicht  vergessen,  und  so  befolgt  er  selbst 
jene  löbliche  Gesinnung,  die  ohne  Parteilichkeit  nur  die  Sache 
selbst  im  Auge  hat  und  die  er  verschiedentlich  so  sehr  schön 
empfiehlt.  Übrigens  ist  bei  der  eigenthflmlichen  Vermuthung 
dieses  Gelehrten,  wornach  vale,  faile  einen  Waffenschurz 
bedeuten  soll,  zu  erwägen,  dass  solch  ein  grosses,  den  ganzen 
Unterleib  eines  Gepanzerten  bedeckendes  Stück  der  Rüstung 
nicht  wohl  passend,  nämlich  zu  ungefflg  war.  um  über  drei 
Blutstropfen  geworfen  zu  werden;  Parcifal  hätte  alsbald  sehen 
müssen,  was  man  da  vor  ihm  hingeworfen,  und  doch  fragt  er 
gleich,  wie  es  zugegangen,  und  wer  ihm  den  Anblick  benommen.  662 
Am  natürlichsten  ist  wohl,  sich  unter  faile  ein  kleines  Tüchlein 
zu  denken,  aussen  vielleicht  weiss,  um  die  rothen  Tropfen  da- 
mit gleichsam  wieder  zuzuschneien.  Auch  konnte  ein  Waflen- 
schurz  schwerlich  wie  eine  Weiberschürze  leicht  abgebunden 
werden.  —  S.  92 — 96  der  Nibelungenhort  im  Reinecke  Fuchs 
von  Hrn.  v.  d.  Hagen.  Die  hier  bemerkten  Stellen  sind  schon 
früher  in  den  altdeutschen  Wäldern  I,  293  und  den  Zeugnissen 
über  die  Heldensage  angeführt  worden,  selbst  die  Verbesserung 
von  heimeliken  in  Ermelink  in  dem  flammländischen  Ge- 
dicht; zuzufügen  wäre,  dass  in  dem  Reinhart  Fuchs  des 
Gleichsener  folgende  Stelle  vorkommt: 

wir  manche  sprechen  niht  ein  wort 
umbe  der  nybelunge  hört. 

Zwei  Gleichnisse  aus  dem  Barlaam  und  Josaphat;  das  erste 
ist  grösstentheils  schon  in  den  altdeutschen  Wäldern  abgedruckt, 
doch  können  ein  Paar  Stellen  aus  dieser  Handschrift  dort  be- 
richtiort  werden.  Zu  den  Erklärungen  des  Hrn.  Büschinor  ist 
anzumerken:  in  dem  ersten  Gleichnis  V.  23  heisst  habit  nicht 
hebet  (?)  hob,  sondern:  hielt,  so  auch  V.  103.  V.  49  strich 
heisst  gewiss  nicht  Augenblick  oder  Zeitpunkt,  wie  es  auch  in 
den  altdeutschen  Wäldern  erklärt  wird,  sondern  Umstrickung, 
vgl.  hernach  115.  „die  weite  —  diu  mit  so  grozer  arbeit  uns  ir 


518  BÜSCHING,  WÖCHENTLICHE  NACHRICHTEN. 

strich    hat   geleit."     Auch  kommt  in  einer   anderen  Stelle   des 
Barlaam  vor: 

der  stric,  der  da  van  im  geleit 

was  und  van  der  heidenschaft, 

da  was  er  inne  behaft. 

V.  86  war  es  noth wendig  ein  slang'e  zu  lesen,  weil  der  folgt 
und  das  Wort  oft  als  Masc.  gebraucht  wird,  vielleicht  nach 
dem  lateinischen  anguis.  V.  88.  leb  indez,  gewiss  ein 
Wort:  lebindez.  S.  239,  V.  179.  gesiht  heisst  nicht  Ge- 
sicht, Umsicht,  sondern  das  Schauen,  Sehen.  —  Band  II, 
S.  64.  Die  Sage  von  Attilas  Schwert  aus  dem  Lambert 
von  Aschaffenburg  findet  man  schon  in  den  altdeutschen  Wäl- 
dern I,  212.  Dort  ist  auch  angegeben,  dass  die  Erzählung  von 
jenem  Fund  des  Schwerts  durch  einen  Hirten  aus  dem  Priscus 
663  genommen  sei,  ferner  S.  319.  die  merkwürdige  Erneuerung 
der  Sage  bei  Fischart.  —  Die  Bemerkungen  zur  deutschen 
Bildungsgeschichte  aus  den  Minnesängern  von  Hrn.  Pescheck 
S.  218  ff.,  S.  269  ff*,  und  393  ff.  sind  eine  nützliche  Arbeit; 
freilich  würde  es  besser  sein,  sich  nicht  bloss  dabei  auf  das  eine 
Werk  zu  beschränken,  sondern  die  anderen  Gedichte  auch  zu  Hilfe 
zu  nehmen,  so  Manches  würde  sich  dann  ergänzen  und  ver- 
ständlicher sein;  indessen  behält  auch  das  Gelieferte  immer 
seinen  Werth.  Auffallend  ist,  dass,  wenn  Rumslant  Man.  II,  225. 
von  '„lieben,  süssen,  milden"  —  von  „getreuen  —  Herren" 
spricht  und  schliesst:  mehr  als  Sonnenschein  freue  ihn: 

„ein  genoz  von  eines  süzen  herren  munde", 
Hr.  Pescheck  diesen  Ausdruck  unerwartet  findet  und  darin  die 
süssen  Herrn  der  heutigen  Zeit  zu  erkennen  scheint.  Es  ist 
von  milden  gütigen  Herrn  die  Rede.  Auch  S.  270  das  Frag- 
zeichen hinter  unbewollen  erfodert  ein  weiteres  oder  eigent- 
lich zwei;  was  es  hinter  dem  bekannten  und  richtigen  Wort 
solle  und  warum  es  die  Redaction  habe  stehen  lassen?  Würde 
übrigens  zu  solchen  oder  ähnlichen  Vorarbeiten  die  Zeitschrift 
benutzt  und  mit  einem  genauen  Register  versehen,  so  könnte 
sie  eine  schätzbare  Materialiensammlung  werden,  während  sie 
jetzt  nach  allen  Seiten  umspringt.  —  S.  320  wird  bekannt  ge- 
macht,   dass   Hr.   v.   d.  Hagen   auf  seiner   Reise   den  Verfasser 


BÜSCHING,  WÖCHENTLICHE  NACHRICHTEN.  519 

des  AValther  von  Aquitanien  entdeckt.  Bis  das  Nähere  kommt, 
will  Recensent  einstweilen  mittheilen,  was  er  darüber  anzuführen 
hätte*).  Ekkehardus  Monachus  (f  1071)  sagt  bei  Goldast  (script. 
rer.  ger.  I,  39.):  ,.Ekkehardus  Decanus  scripsit  et  in  scolis 
metrico  magistro  vacillanter  quidem,  quia  in  affectione  nou  in 
habitu  orat  puer,  vitam  Waltherii  manuforis  (1.  manufortis) 
quam  Magontiae  positi,  pro  posse  et  nosse  nostra  correximus 
(i.  e.  ego  Ekkehardus  junior).  Barbaries  enim  et  idiomata  ejus 
teutonem  adhuc  affectantem  repente  latinum  fieri  non  patiuntur 
—  quae  deceptio  Ekkehardum  in  opere  illo  adhuc  puerum  fe- 
fellit."  Bei  Leyser  bist,  poetar.  med.  aevi  p.  310  steht:  „Ekke- 
hardus sangallensis  floruit  circa  1040.  scripsit  gesta  Walt- 
harii  metro  heroico";  und  dasselbe  bei  Jöcher  I,  275.  Von  664 
diesen  Angaben  weicht  nun  der  merkwürdiore  noch  unbekannte 
Prolog  in  einer  Pergamenthandschrift  des  Gedichts  ab.  welchen 
Recensent  hier  folgen  lässt: 

omnipotens  geuitor,  summae  virtutis  amator, 

jure  pari  natusque  ambornm  Spiritus  almus. 

personis  trinus  vera  deitate  sed  luius, 

qui  vita  vivens  cuncta  et-  sine  fine  tenebis, 

pontificem  summum  tu  salva  nunc  et  in  aevuni 

claro  erkambaldum  fulgentem  nomine  dignum: 

crescat  ut  interius  sancto  spiramine  plenus, 

multis  ut  infictum  quo  sit  medicamen  in  aevuni. 

Presul  sancte  dei.  nunc  accipe  munera  servi, 

quae  tibi  decrevit  de  larga  promere  cura 

peccator  fragihs  Geraldus,  nomine  vilis. 

qui  tibi  nam  certus  fidus  cordeque  fidelis  alumnus, 

quod  precibus  dominum  jugiter  precor  omnipotentem, 

ut  nanciscaris  factis  quae  promo  loquelis, 

det  pater  ex  summis  caelum  terramque  gubernans. 

Serve  dei  summi,  ne  despice  verba  libelli. 

non  canit  alma  dei,  resonat  sed  mira  tironis. 

nomine  uualtharius  per  praelia  multa  resectus  (sie) 

ludendum  magis  est  dominum  quam  sit  (rogitandum?) 

per  leclus  [?]  longeui  stringit  in  ampla  diei. 

Sis  felix.  sanetus  per  tempora  plura  sacerdos! 

sit  tibi  mente  tua  Geraldus  carus  adolfus! 

*)  [Am  Rand  steht  im  Handexemplar  von  Wilhelm  Grimms  Hand:    cfr. 
Arx  I,  179.  Eckeh.  IV  f  1070. J 


520  NYERUP,  ALMINDELIG  MORSKABSLÄSNING. 

Die  Beschreibungen  von  Gebräuchen,  die  Sagen  und  Mär- 
chen, welc)ie  hier  vorkommen,  rühren  meist  von  ebendiesem 
Hrn.  Pescheck,  die  Lieder  mit  Melodien  von  Hrn.  Dr  Hohen- 
baum;  dies  ist  nach  unserem  Urtheil  das  Schätzbarste  in  der 
ganzen  Sammlung,"  obgleich  der  Titel  davon  eigentlich  nicht 
spricht.  Gut  sind  die  Sagen  von  den  Querxen,  das  Märchen  von 
den  fleissigen  Spinnerinnen  im  ersten  Band,  noch  schöner  das 
vom  Einäuglein  im  zweiten;  wir  hoflFen,  in  der  Folge  noch  mehr 
dieser  Art  zu  finden.  —  Was  die  Litteratur  betriflFt,  so  ist  sie 
nicht  vollständig  angeführt,  wie  es  doch  ein  Verdienst  solcher 
Zeitschriften  sein  sollte;  aber  man  erfährt  bei  vorkommender 
665  Gelegenheit  weder  was  in  Deutschland  in  diesem  Fache  ge- 
schehen, noch  auch  was  neu  erschienen  ist.  Zum  Theil  mag 
Schuld  haben,  dass  Hr.  Büsching  regelmässig  nur  die  Werke 
seiner  Freunde  citirt  und  ankündigt,  dazu  wird  er  seine  Gründe 
haben,  und  es  kann  ihm  vortheilhaft  sein,  so  dass  wir  ihn 
nicht  davon  abmahnen  wollen,  aber  anderen,  welchen  bloss  die 
Sache  nah  liegt  und  die  etwa  jene  Bd  H,  S.  176  so  edel  darge- 
stellte Gesinnung  hegen,  wird  unmöglich  dadurch  ein  Gefallen 
geschehen;  es  könnte  aus  dem  Übergangenen  doch  Eins  und 
das  Andere  zu  lernen  sein.  So  ist  z.  B.  Lachmanns  seit  einem 
Jahr  herausgekommene  kleine  Schrift  (obgleich  nur  ein  Paar 
Worte  gegen  Hrn.  v.  d.  Hagen  darin  vorkommen)  bis  jetzt  noch 
nicht  in  diesen  wöchentlichen  Nachrichten  erschienen;  doch  das 
wird  auf  unsere  Erinnerung  vielleicht  noch  nachgeholt. 

o  [y  oder  yp  •''  =  W.  Grimm?] 


665  ALMINDELIG  MORSKABSLÄSNING 

i  Danmark  og  Norge  igjennem  Aarhundreder.     Beskreven  af  Rasmus 
Nyerup.     Kjöbenhavn  1816. 

Heidelbergische  Jahrbücher  der  Litteratur.    Jahrgang  X  (1817)  Bd  II,  No.  42, 

S.  665—670. 

Xlr.  Professor  Nyerup  war  zum  Mitglied  der  im  Jahr 
1793  zu  Copenhagen  gestifteten  Gesellschaft  für  die  Nachwelt 
(Efterslägtselskab)  gewählt  worden.  Da  es  unter  anderem  in 
dem  Plan   derselben   lag,   die   Ausgaben    von  Volksbüchern  zu 


NTERüP,  ALMINDELIG  MORSKABSLÄSNING.  521 

leiten  und  zu  besorgen,  so  verfertigte  er  sich,  um  ein  Urtheil 
über  das  Vorhandene  zu  erlangen,  ein  Verzeichnis  von  den  bis- 
herigen, in  den  beiden  Reichen  umgehenden  Büchern  solcher 
Art  und  theilte  diese  Vorarbeit,  mit  mancherlei  schätzbaren 
Nach  Weisungen  ausgestattet,  in  der  Monatsschrift  Iris  Jahrgang 
1795  und  1796  mit.  Der  späterhin  in  Deutschland  erwachende 
Eifer  für  die  alte  einheimische  Litteratur,  so  wie  das  Gefühl 
von  dem  Werthe  des  Lebendigen  in  dem  Volk  brachte  ein 
diesem  Gegenstande  ausschliesslich  gewidmetes  Buch,  Görres' 
geistreiche  Schrift  über  die  deutschen  Volksbücher,  hervor; 
ausserdem  ergaben  sich  hier  und  da  einzelne  Aufklärungen  und 
Beiträge. 

Dies  veranlasste  den  unermüdet  thätigen  Nyerup,  jetzt  nach  666 
länger  als  zwanzig  Jahren  seine  Sammlungen  über  diese  Litte- 
ratur wieder  vorzunehmen.  Wie  viel  ansehnlicher  diese  neue 
Umarbeitung  ausgefallen,  kann  man  sich  leicht  durch  Verglei- 
chung  überzeugen:  ausser  der  28  Seiten  Einleitung  enthält  das 
Buch  313  enggedruckte  Seiten,  mit  zweien  den  Gebrauch  sehr 
erleichternden  Registern.  Die  Volksbücher  erregen  nicht  bloss 
bei  einem  einzelnen  Volke  Theilnahme,  ihr  Gegenstand  ist,  wie 
die  Einleitung  richtig  voranstellt,  ein  allgemein  europäischer; 
uns  Deutschen  lieort  das  Volksthümliche  des  verwandten  nor- 
dischen  Stammes  ohnehin  noch  näher.  Was  aber  so  viele 
Völker  durch  sein  Gemeinsames  verbindet,  verdient  gewiss  jede 
Aufmerksamkeit  und  kann  von  mehr  als  einer  Seite  betrachtet 
und  aufgehellt  werden.  Eine  Würdigung  des  inneren  Gehaltes 
und  poetischen  Werthes,  wie  sie  Görres  in  jener  Schrift  lebendig 
und  eindringlich  gegeben,  lag  nicht  in  der  Absicht  des  Ver- 
fassers; er  wollte  bloss  das  Litterargeschichtliche  und 
Bibliographische  bearbeiten,  und  so  muss  gegenwärtiges 
Buch  als  eine  gelehrte,  leicht  übersehbare  Zusammenstellung 
des  bisher  in  diesem  Fache  Geleisteten,  woran  der  Verfasser 
selbst  einen  grossen  Antheil  hat,  betrachtet  werden.  Aus  den 
Büchern  selbst  sind  erstlich  Auszüge  ohne  Kargheit  gegeben; 
dann  ist  nicht  leicht  ein  einzelnes  Urtheil,  eine  Nachweisung, 
ja  eine  blosse  Anspielung  vergessen;  die  Hauptstellen  von  Gör- 
res, die  Ansichten  von  Bouterweck,  Schlegel  u.  a.  sind  übersetzt 


522  NYEIiüP,  ALMINDELIG  MORSKABSLÄSNING. 

und  entgegenstehende  Meinungen  sind  unparteiisch  angeführt, 
indem  der  Verfasser  sich  zu  einer  gemässigten,  friedlichen  Mitte 
bekennt.  In  dieser  Gesinnung  stellt  gleich  die  Einleitung  die 
verschiedenen  Ansichten  von  dem  poetischen  Werth  dieser 
Dichtungen  gegen  einander,  erst  die  neueren  günstigen,  und  schon 
hier  zeigt  sich  die  genauere  Bekanntschaft  mit  der  deutschen 
Litteratur,  hernach  auch  ein  Paar  ältere  ungünstige,  deren  Ein- 
druck jedoch  der  Verfasser  selbst  nicht  zu  fürchten  scheint. 

Da  der  Umkreis  der  Schrift  bestimmt  abgesteckt  ist,  so 
dass  z.  B.  der  Ursprung  eines  Gedichts  meist  nur  anzudeuten, 
nicht  eigentlich  zu  untersuchen  war,  so  kann  es  nicht  die  Ab- 
sicht dieser  Anzeige  sein,  durch  weiter  gehende  Fragen  ihn  zu 
vergrössern ;  Nachträge .  werden  sich  nicht  gar  viele  bei  dem 
€67  Sammlerfleiss  des  Verfassers  finden.  Die  Abtheilungen,  unter 
welchen  das  Ganze  aufgestellt  worden,  sind  folgende.  I.  Fa- 
beln, drei  Stücke.  Wenn  der  Verfasser  S.  17  den  Reinhart 
Fuchs  für  alt,  aber  doch  nicht  so  alt,  als  den  Pilpai  hält,  so 
darf  behauptet  werden,  dass  das  von  dem  Grundstoff  nicht  gilt; 
die  Thiersagen  haben  sämmtlich  einen  gemeinschaftlichen  Ur- 
sprung und  inneren  Zusammenhang.  Dagegen  lässt  sich,  was 
äussere  Abfassung  betrifft,  von  früher  und  später  reden.  II.  Ro- 
mane. 1)  Antike,  historische:  zwei  Stücke,  der  Tro- 
janische Krieg  und  Alexander  der  Grosse.  Bei  jenem  wird 
S.  37  ff.  schätzbare  Nachricht  gegeben  von  der  in  Handschrift 
vorhandenen  isländischen  Trojamanna-Saga,  welche  merk- 
würdiger Weise  sich  an  die  Bertasögur  anknüpft,  nämlich  an 
die  Niederlassung  des  Brutus  in  Brittannien;  die  Quelle  dieser 
Bearbeitung  ist  zur  Zeit  noch  nicht  ausgemittelt.  Das  dänische 
Buch  von  Alexander  dem  Grossen  ist  eine  Übersetzung  des 
Curtius;  es  wird  aber  zugleich  Nachricht  von  einer  handschrift- 
lichen isländischen  Sage  nach  der  Alexandreis  des  Walter  Iri- 
sulanus  mitgetheilt.  2)  Ritterromane.  Neun  Stücke.  Die 
zu  dem  Fabelkreis  der  Nibelungen  gehörigen  Gedichte  stehen 
voran,  und  es  findet  sich  hier  ein  vollständiger  Abdruck  von 
dem  Hildebrandslied  und  dem  kleinen  Laurin.  Beide  sind  aus 
Deutschland  hinübergekommen.  Kaiser  Karls  Chronik,  eins 
der     merkwürdigsten     dänischen    Volksbücher     (seines    Inhalts 


NTERCP,  ALMINDELIG  MORSKABSLÄSNING.  523 

wegen,  denn  die  Erzählung  ist  gar  zu  kurz  und  auszugsmässig), 
ist  nicht,  wie  der  Verfasser  in  der  Iris  vermuthete,  aus  dem 
Französischen,  sondern  sehr  wahrscheinlich  aus  dem  Isländischen 
übersetzt:  zugleich  wird  eine  Probe  aus  dem  letzteren,  in  Hs. 
einer  [?]  vorfindlichen,  gegeben;  es  kommt  darin  gleichfalls  die 
Geschichte  von  dem  Dieb  Alegast  vor.  Dagegen  rührt  das  am 
meisten  verbreitete  Volksbuch  Olger  Danske  ohne  Zweifel  aus 
dem  französischen;  die  deutsche  Übersetzung  nach  dem  Däni- 
schen hat  den  Conrad  Es^enberorer  von  Werthheim  zum  Ver- 
fasser  und  befindet  sich  auf  der  Göttingischen  Bibliothek.  Bei 
dem  Tristan  ist  die  deutsche  noch  ungedruckte  Bearbeitung  von 
Eilhart  von  Hobergen  nicht  angemerkt.  3)  Liebesromane, 
acht  Stücke.  4)  Novellen,  sechs  Stücke.  Zu  der  Sage  von 
Amicus  und  Amelius  S.  156.  157  würden  sich  mancherlei  Zu- 
sätze in  der  Ausgabe  des  armen  Heinrichs  von  den  Brüdern  668 
Grimm  finden.  5)  Biblische  Geschichten,  fünf  Stücke. 
6)  Zauberbücher  und  moralische  Schriften,  acht  Stücke. 
S.  196  Nachricht  von  dem  bloss  handschriftlichen  dänischen 
Cjprianus;  Zauberformeln,  darunter  einige  kräftig  und  poetisch 
ausscedrückt .  sind.  Hier  kommen  auch  Übersetzungen  nach 
Hans  Sachs  vor.  7)  Robinsonaden,  zehn  Nummern.  lU.  Mär- 
chen. Zwölf  Stücke,  darunter  die  meisten  Originale.  Bei 
dem  Bruder  Rus  ist  eine  holländische  Ausgrabe  zu  bemerken. 
(Een  schoon  Historie  vom  Broeder  Ruyssche,  die  een  Koc  was 
in  een  klooster  ende  een  Duyvel  di  hem  in  menschelyker  Ghe- 
daente  verschapen  hadde.  T  Hantwerpen  by  Jan  von  Ghelen 
1596.  in  4.  Auf  der  Göttingischen  Bibliothek.)  —  Merkwürdig 
ist  das  letzte,  Höibergs  Gubbe,  aus  dem  Schwedischen 
übersetzt  und  durchaus  dem  Norden  eigenthümlich.  Das  alte 
Heidenthum  erscheint  hier  mit  dem  Christenthum  im  Gegen- 
satz und  Streit;  es  ist  eine  echte  Volkssage  voll  natürlicher, 
lustiger  und  guter  Züge,  so  dass  wir  dem  Verfasser  für  seinen 
ausführlichen  Auszug  Dank  wissen.  Ein  Bauer  will  bei  dem 
Kindelbier  (Barseigilde)  den  alten  Bergriesen  nicht  gerne  über- 
gehen und  scheut  doch  den  ungefügen,  nicht  zu  ersättigen- 
den. Da  befreit  ihn  sein  Knecht  listig  davon,  indem  er  jenen 
zwar  zum  Schmaus   einlädt,   aber   auch  nebenbei  erzählt,   dass 


524         NYERUP,  ALMINDELIG  MORSKABSLÄSNING. 

Unser  Herr,  der  Apostel  Petrus  und  die  Jungfrau  Maria  kom- 
men würden,  ferner  Spielleute,  deren  Trommel  den  Trold  an 
Thors  Donner  erinnert,  so  dass  er  gerne  absagt.  IV.  Scherze 
und  Possen,  neunzehn  Stücke.  Das  merkwürdigste  ist  das 
dänische  Laienbuch,  Molboernes  Bedrifter,  sie  enthalten  bekannt- 
lich eigenthümliche,  in  Deutschland  zum  Theil  unbekannte  Sa- 
gen, die  aber  nicht  geringeren  Werth  haben.  Nicht  zu  über- 
sehen, S.  274,  dass  dieses  Volksbuch  allein  in  Jütland  ein- 
heimisch zu  sein  scheint  und  in  Copenhagen  lange  Zeit  eine 
grosse  Seltenheit  war,  weil  keine  von  den  dort  gedruckten 
Exemplaren  herüberkamen.  Was  weiss  man  in  Norwegen  und 
Schweden  davon? 

Zu  dieser  Übersicht  des  Buchs  wollen  wir  ein  Paar  Be- 
merkungen fügen.  Von  den  86  Stücken,  die  es  etwa  enthält, 
wird  ohngefähr  die  Hälfte  als  Übersetzuno;  aus  dem  Deutschen 
669  ausdrücklich  angegeben,  man  kann  aber  annehmen,  dass  noch 
mehr  dorther  gekommen,  beinahe  zwei  Drittel.  Das  Übrige 
sind  zum  Theil  Übersetzungen  aus  dem  Welschen,  Lateinischen 
und  Isländischen;  unter  den  Originalen  sind  die  Thaten  der 
Molboer  das  wichtigste.  Das  aus  dem  Schwedischen  übersetzte 
Stück,  Höibergs  Gubbe,  sehen  wir  insofern  auch  wie  ein 
Original  an,  als  in  Schweden  ohngefähr  dieselben  Volksbücher, 
wenigstens  keine  anderen  von  Bedeutung  bekannt  sind.  Wir 
nehmen  dies  nach  den  Bemerkungen  unseres  Verfassers  an,  der 
auch  auf  dieses  Reich  Rücksicht  genommen;  das  Hierhergehörige 
ist  in  dem  Register  zusammengestellt  und  kann  darnach  leicht 
herausgesucht  werden.  Merkenswerth  ist,  dass  einige  der  be- 
liebtesten deutschen  fehlen,  wie  die  Haimonskinder,  Genoveva, 
Siegfried;  wenn  aber  hier  beinah  noch  einmal  so  viel  Stücke 
vorkommen,  als  bei  Görres,  so  kann  deshalb  doch  die  dänische 
Volkslitteratur  nicht  als  reicher  angesehen,  vielmehr  ohne 
Parteilichkeit  das  Gegentheil  behauptet  werden.  Görres  be- 
schränkte sich  auf  das  jetzt  noch  Gangbare  und  hat,  da  hier 
die  verschiedenen  Gegenden  Deutschlands  schon  einigen  Unter- 
schied machen,  wohl  Eins  und  das  Andere  mit  Unrecht,  z.  B. 
den  Reinecke  Fuchs,  übergangen.  Bei  seinem  Zweck  indessen 
war  eine  solche  Grenze  natürlich,   bei   unserem  Verfasser  aber, 


XTERUP,  ALMINDELTG  MORSKABSLÄSSIXG.  525 

dem  es  auf  das  Litterarische  zumeist  ankam,  ist  im  Gegentheil 
Manches  angeführt,  was  wohl  jetzt  als  Volksbuch  nicht  mehr  im 
Gebrauch  ist  oder  es  eigentlich  nie  recht  war.  In  den  ersten 
Zeiten  der  Druckerei  war  der  Unterschied  noch  gar  nicht  oder 
lange  nicht  so  scharf,  wie  späterhin,  und  was  überhaupt  da- 
mals von  poetischen  Werken  gedruckt  wurde,  kann  in  gewissem 
Sinne  als  ein  Volksbuch  betrachtet  werden,  an  sich  unstreitig 
ein  grosser  Vorzug  jener  Zeit.  So  verhält  es  sich  z.  B.  mit 
dem  deutschen  Heldenbuch,  dessen  verschiedene  Ausgaben  so 
vergriffen  sind,  dass  sie.  jetzt  mehr  oder  weniger  zu  den  Selten- 
heiten gezählt  werden.  Daher  findet  man  mit  Recht  bei  Görres 
nicht  den  Iwain,  Wigolais,  Euriolus  imd  Lucretia,  welche  hier, 
und  doch  nur  als  Übersetzungen  aus  dem  Deutschen,  vor- 
kommen. Der  Roman  von  Persenober  ist  seit  1572  nicht 
wieder  in  Dänemark  aufgelegt  worden,  der  Liebe  Gefangen- 
schaft seit  1687,  Besättelsen  i  Tisted  seit  1699.  Die  Robin- 670 
sonaden,  aus  dem  Deutschen  übersetzt,  sind  auch  keine  eigent- 
lichen Volksbücher;  wollten  wir  die  im  16.  und  17.  Jahrhundert 
herausgekommenen  Romane  dazu  zählen,  so  wird  Kochs  Com- 
pendium  allein  schon  zeigen,  was  sich  dann  fiir  ein  grosses 
Werk  darüber  schreiben  Hess.  Der  Verfasser  könnte  leicht 
das  Register  neu  zuliefern  und  darin  das  noch  Gangbare  mit 
einem    Stern    bezeichnen,    um    auch    davon    eine    Übersicht   zu 

geben. 

[anonvm.     Von  W.  Grimm?] 


A.W.  Schade's  Bucbdruckerei  (L.  Schade)  in  Berlin,  Stallschreiberstr.  45/46^ 


In  deinselben  Verlage  sind  ferner  erschienen : 

Grimm,  Jacob,  Deutsche  Grammatik.  Neuer  vermehrter  Abdruck, 
besorgt  durch  Wilhelm  Scherer.  Erster  und  zweiter  Theil. 
1869—78.     gr.  8.     geh.  JC  36.— 

Grimm,  Jacob,  Deutsche  Mythologie.  Vierte  Ausgabe,  besorgt  von 
•  Elard  Hugo  Meyer.    3  Bände.     1875—78.    gr.  8.    geh.    JC  "iQ. — 

Grimm,  Jacob,  Rede  auf  Wilhelm  Grimm  und  Rede  über  das  Alter. 
Gehalten  in  der  K.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin. 
Herausgegeben  von  Her  man  Grimm.  Dritte  Auflage.  1865. 
gr.  8.     geh.  Jt   1.— 

Grimm,  Jacob,  Rede  auf  Schiller.  Gehalten  in  der  feierlichen  Sitzung 
der  K.  Akademie  der  Wissenschaften  am  10.  November  1859. 
Vierter  Abdruck.      1871.     gr.  8.     geh.  60  Pf. 

Grimm,  Jacob,  Ueber  den  Personenwechsel  in  der  rede.  Aus  den 
abhandlungen  der  k.  akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin. 
1856.     gr.  4.     cart.  M  2.20 

Grimm,  Jacob,  Ueber  den  Ursprung  der  spräche.  Aus  den  abhand- 
lungen der  k.  akademie  der  Wissenschaften  vom  jähr  1851. 
Siebente  und  unveränderte  Auflage.     1879.    gr.  8.    geh.     JC  1. — 

Grimm,  Jacob,  Ueber  einige  fälle  der  attraction.  Aus  den  abhand- 
lungen der  k.  akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin.  1858. 
gr.  4.     geh.  JC   1.20 

Grimm,  Jacob,  Von  Vertretung  männlicher  durch  weibliche  namens- 
formen. Aus  den  abhandlungen  der  k.  akademie  der  Wissen- 
schaften zu  Berlin.     1858»     gr.  4.     cart.  JC  2. — 

Grimm,  Jacob  und  Adolph  Pictet,  Ueber  die  Marcellischen  Formeln. 
Aus  den  Abhandlungen  der  K.  Akademie  der  Wissenschaften  zu 
Berlin.      1855.     gr.  4.     geh.  80  Pf. 

Grimm,  Wilhelm,  Bruchstücke  aus  einem  unbekannten  gedieht  vom 
rosengarten  mitgetheilt.  Aus  den  abhandlungen  der  k.  akademie 
der  Wissenschaften  zu  Berlin   1859.     1860.     gr.  4.     geh.       80  Pf. 

Grimm,  Wilhelm,  Die  deutsche  Heldensage.  Zweite  vermehrte  und 
verbesserte  Ausgabe.      1867.     gr.  8.     geh.  JC  8. — 

Grimmi,  Wilhelm,  Die  sage  vom  Polyphem.  Aus  den  abhandlungen 
der  k.  akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin.  1857.  gr.  4r 
geh.  JC   \. — 

Grimm,  Wilhelm,  Thierfabeln  bei  den  meistersängern.  Aus  den  ab- 
handlungen der  k.  akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin.  1855. 
gr.  4.     cart.  JC  1.20 

Ferd.  Dümmlers  Verlagsbuclihandlnng 

(Ilarrwitz  und  Gossmann)  in  Berlin. 


In  demselben  Verlage  sind  ferner  erschienen: 

Jacob  Grimm,  Kleinere  Sclirifteii. 

Band  I— V.     gr.  8.     geheftet.     45  Jt. 

Erster  Band.  Reden  und  Abhandlungen.  Zweite  Auf- 
lage.    1879.  Jt  9 

Inhalt:  Selbstbiographie.  —  lieber  meine  entlassung.  —  *Ita!ienische  und 
skandinavische  eindrücke.  —  Frau  Aventiure  klopft  an  Beneckes  thür.  —  Das 
■wort  des  besitzes  (jubelschrift  zu  Savigny's  doctorjubiläum).  —  Rede  auf 
Lachmann.  —  Rede  auf  Wilhelm  Grimm.  —  Rede  über  das  alter,  —  Ueber 
schule,  Universität,  akademie.  —  Ueber  den  Ursprung  der  spräche.  —  f  Ueber 
etymologie  und  Sprachvergleichung.  —  *  Ueber  das  pedantische  in  der  deutschen 
spräche.  —  Rede  auf  Schiller.  —  Anhang  von  kleineren  aufsätzen. 

Zweiter  Band.  Abhandlungen  zur  Mythologie  und 
Sittenkunde.  Mit  1  photolithographirten  Tafel.  1865.  JC%. — 
Inhalt:  *Ueber  zwei  entdeckte  gedichte  aus  der  zeit  des  deutschen  hei- 
denthums.  —  *  Deutsche  grenzalterthümer.  —  Ueber  das  finnische  epos.  — 
Ueber  Marcellus  Burdigaiensis.  —  Ueber  die  Marcellischen  formein.  —  *  Ueber 
schenken  und  geben.  —  Ueber  das  verbrennen  der  leichen.  —  Ueber  den 
liebesgott.  —  *Ueber  eine  Urkunde  des  X.  Jahrhunderts.  —  Ueber  frauennamen 
aus  blumen.  —  Ueber  die  namen  des  donuers.  —  Ueber  das  gebet. 

Dritter  Band.  Abhandlungen  zur  Litteratur  und 
Orainraatik.   Mit  einer  photolithographirten  Tafel.  1866.  Jt^. — 

Inhalt:  Gedichte  des  mittelalters  auf  könig  Friedrich  I.  den  Stauten  und 
aus  seiner  sowie  der  nächstfolgenden  zeit.  —  Ueber  diphtongen  nach  wegge- 
fallnen  consonanten.  —  *  Ueber  Jemandes  und  die  Geten.  —  Ueber  den  Per- 
sonenwechsel in  der  rede.  —  Ueber  einige  fälle  der  attraction.  —  Von  Vertretung 
männlicher  durch  weibliche  namensformen.  —  f  Der  träum  von  dem  schätz 
auf  der  brücke. 

Die  mit  einem  *  bezeichneten  Abhandlungen  sind  nur  in  den  Schriften 
der  Akademie  veröffentlicht  worden,  die  mit  ©inem  f  bezeichneten  waren  bisher 
ungedruckt;  die  übrigen  Abhandlungen  sind  gröfstentbeils  nur  in  einer  sehr 
kleinen  Zahl  von  Einzelabdrücken  in  den  Buchhandel  gekommen. 

Vierter    und    fünfter    Band.       Recensionen    und    ver- 
mischte Aufsätze.     2  Bde.     1869.     1871.  ./^  19.50 
(Band  VI  ist  unter  der  Presse.) 

Jacob  Grimm,  Auswahl  aus  den  kleineren  Schriften. 

Zweite    Ausgabe,      1874.     Velinpapier,     gr.  8.     geh.      Jt  4. — 
In  Leinwand  gebunden  Jt  5. — 

Inhalt:  Selbstbiographie.  —  Ueber  meine  Entlassung,  —  Italienische 
und  scandinavische  Eindrücke.  —  Das  Wort  des  Besitzes.  —  Rede  auf  Lachmann. 

—  Rede  auf  Wilhelm  Grimm.  —  Rede  über  das  Alter,  —  Ueber  Schule,  Uni- 
■versität,  Akademie.  —  Ueber  den  Ursprung  der  Sprache.  —  Ueber  das  Pe- 
dantische in  der  deutschen  Sprache.  —  Die  Sprachpedanten.  —  Rede  auf 
Schiller.   —   Anhang:    Reden   bei   der   Frankfurter   Germanisten-Versammlung, 

—  Wesen  der  Thierfabel,  —  Anzeige,  —  Widmung  an  Wilhelm  Grimm,  — 
"Widmung  an  Gervinus.   —  Vorwort. 

Ferd.  Dümmlers  Verlagsbuchhandlung 

(Ilarrwitz  und  Gossmann)  in  Berlin. 


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